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Biologisches Centralblatt.
1913.
iologisches Gentralblatt
Unter Mitwirkung
von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professoren in München,
herausgegeben
von
Dr. J. Rosenthal,
Professor der Physiologie in Erlangen.
Dresunddreissigster Band.
1913.
Mit ı2ı Abbildungen und 5 Tafeln.
Leipzig 1913.
Verlag von Georg Thieme.
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Inhaltsübersicht
des
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Or, Or mal: Rn =uReferat.
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— Handbuch der biochemischen Arbeitsmethoden. AR
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— Das Verhalten der Kerne bei Ner' en etrönung in den Eind
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Baunacke, W. Studien zur Frage nach den Sl 0 j
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ÖOrganie Nature. O0
Berichtigung .
Bernstein, ling, RE ne te m 3 en
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VI Inhaltsübersicht.
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Kindtiüi (Focke) unter dem Einfluss von Nahrungsentziehung. ©.
VIII Inhaltsübersicht.
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Wasmann, E, 8. J. Lasius emarginatus Ol., eine kartonnestbauende
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— Hildegard von Bingen eik ee deneche en) 0)
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sanguinea. (0
Weigl,R. Ver Becher: Er oloeteche Unterstiohumeen aber dan Golei- Kupsch -
schen Apparat und dessen Verhältnis zu anderen Strukturen in den
somatischen Zellen und Geschlechtszellen verschiedener Tiere. A
Wiesner, J. R. v. Biologie der Pflanzen mit einem Anhange: Die historische
Entwickelung ders Botanik. 2a 2: A Os WAHRER IR
Wille, N. Über die Veränderungen der Bilanzen in nördlichen Breiten.
Eine Antwort an Herrn Richard Semon. O0. ua 2 2
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Yakowleff, N.N. Biologische Parallelen zwischen den Korallen und Dane
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104
Zah:
Biolosisches Gentralblatt
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
20. Januar 1913. Mi
Bd. XXXIIL.
Inhalt: East and Hayes, Heterozygosis in Evolution and in Plant Breeding. — Saint-Hilaire,
Das Biologische Museum des Zootomischen Instituts der Universität Dorpat. — Dewitz, Uber
N die experimentelle Abänderung von Organismen durch die chemische Beeinflussung ihrer
Fortpflanzungskörper. — Krüger, Weitere Mitteilungen zur Kenntnis der Scehlafstellungen
bei Süß wasserfischen. — Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete — Robertson,
Further Explanatory Remarks Concerning the Normal Rate of Growth of an Individual
and its Biochemical Significanee. — Woodruff, Dreitausend und dreihundert Generationen
von Paramaecium ohne Konjugation oder künstliche Reizung. — Leontowitsch, Das
„Syneellium‘ als dominierende zelluläre Struktur des tierischen Organismus. — De Vries,
Die Mutationen in der Erblichkeitslehre. — Fischer, Die Nephritis.
. East, E.M. and Hayes, H.K. Heterozygosis in Evolution
and in Plant Breeding.
U. S. Dept. Agr., Bur. Plant Industry Bull. 243: 1—58. 1912. Plates 8.
This paper is a resume of experiments on the effects of
erossbreeding and inbreeding begun in 1906 by the senior author
at the Connecticut Agricultural Experiment Station and since
prosecuted both there with the aid of the junior author and at
Harvard University. The material used was maize, representing a
typical cross-fertilized plant, and various species of Nicotiana,
representing self-fertilized plants.
The thesis defended is that 1. the effect of inbreeding is merely
an isolation of homozygous types when from natural or artificial
cross breeding there has arisen a physiological mixed race, and
that 2. the effect of erossbreeding is to bring about greater vigor
through a stimulus to development which is the direct effect of
characters being present in the heterozygous condition. This stimulus
to development is found to be “cumulative up to a limiting point
and varies directly with the number of heterozygous factors in the
organısm, although it is recognized that some of the factors may
XXXII. I
2 East and Hayes, Heterozygosis in Evolution and in Plant Breeding
have a more powerful action than others”. Granting the truth of
this conclusion, every phenomenon observed in inbreeding and
crossbreeding is that which is to be expected from the action of
Mendel’s law of heredity.
The extraordinary frequency of observations of hybrid vigor
by early authors, including as they do the pteridophytes, the
gymnosperms and 59 out of 85 families of the angiosperms in
which artificial hybrids have been made, is fully discussed in the
historical abstract. Darwın's work is shown to agree with the
authors’ hypothesis, by a fairly detailed analysis of the results
published in “Cross and Self Fertilisation in the Animal Kingdom”.
The experiments on the effects of inbreeding included the seltf-
ing of over 30 varieties of maize for from 1 to 7 generations, and
the crossing of selfed strains with each other. Selfing was always
followed by a loss of vigor, using that term to mean a somewhat
less rapid cell division or slower growth and a smaller total amount
of cell division resulting in smaller plants and plant organs, but
not to mean a pathological degeneration. This should be the result
if vigor is an accompanıment of heterozygosis through the ten-
dency of inbreeding to produce homozygosis, the probable
number of homozygotes and any particular class of heterozygotes
in any generation r being found by expanding the binomial
[1 + (2"— 1)" where » represents the number of character pairs
involved.
It was concluded that inbreeding a naturally crossbred plant,
has these results:
“1. There is a partial loss of power of development, causing
a reduction in the rapidity and amount of cell division. This
phenomenon is universal and therefore cannot be related to inher-
itance. Further, it continues only to a certain point and is in no
sense an actual degeneration.
2. There is an isolation of subvarieties differing in morphological
characters accompanying the loss of vigor.
3. There is often regression away from instead of toward the
mean of the general population.
4. As these subvarieties become more constant in their char-
acters the loss of vigor ceases to be noticeable.
5. Normal strains with such hereditary characters that they
may be called degenerate strains are sometimes, though rarely,
isolated.
6. It is possible that pure strains may be isolated that are so
lackıng in vigor that the mechaniısm of cell division does not
properly perform its funetion, and abnormalities are thereby
produced.”
East and Hayes, Heterozygosis in Evolution and in Plant Breeding. 3
Crossing these inbred types invariably produced a great increase
in vigor ın the first hybrid generation, vigor that again decreased
with self fertilization.
Experiments on plants naturally self fertilized showed that
there existed: a) plants so different that they will not cross; b) cerosses
that produce seed that contain no proper embryo; c) crosses that
produce seed with embryo, but which go no further than the rest-
ing stage of the seed; d) crosses less vigorous than either parent;
e) crosses more vigorous than the average of the parents; and
f) crosses more vigorous than either parent. Fertile crosses are
nearly always more vigorous than the average of the parents,
sterile crosses are often more vigorous than the average of the
parents, but as the differences between the parent types becomes
greater a critical point is reached beyond which the cross is less
vigorous than either parent. The phenomenon of vigorous hybrids,
exhibited by erosses between plants usually self-fertilized naturally
is therefore the same phenomenon as the decline in vigor of plants
naturally cross-fertilized when they are inbred.
The characters affected by hyterozygosis are only those which
are an expression of rapıdıty and amount of cell division. Even
some of these, such as size of flower, which might be expected
to respond to the action of heterozygosis, are not affected.
After an analysis of the results in terms of modern genetics
is given, the same theories are shown to hold for the anımal
kingdom.
The value of the vigor due to heterozygosis during the process
of evolution is thought to be as follows: “It can hardly be doubted
that heterozygosis did aid in the development of the mechanisms
whereby flowers are cross-fertilized.. Variations must have ap-
peared that favored cross-fertilization. These plants producing a
cross-fertilized progeny would have had more vigor than the self-
fertilized relatives. The crossing mechanism could then have become
homozygous and fixed, while the advantage due to cross-fertilization
continued. But was this new mechanism an advantage? It must
have been often an advantage to the species as a whole. In
competition with other species, the general vigor of those which
were cross-fertilized would aid in their survival. But the mechanism
may not have been useful in evolving real vigor in the species,
because of the survival of weak strains in combination. In self-
fertilized species, new characters that weakened the individual
would have been immediately eliminated. Only strains that stood
by themselves, that survived on their own merits, would have been
retained. On the other hand, weak genotypes in cross fertilized
species were retained through the vigor that they exhibited when
erossed with other genotypes. The result is, therefore, that selt-
1*
4 Saint-Hilaire, Das Biolog. Mus. des Zootom. Instituts der Universität Dorpat.
fertilized strains that have survived competition are inherently
stronger than ceross-fertilized strains. On this account weak geno-
types may often be isolated from a cross-fertilized species that as
a whole is strong and hardy.”
The paper closes with an account of the praetical utilization
of the vigor of heterozygosis in practical plant breeding.
The experiments and conclusions reported in this paper are
paralleled by the excellent work of Dr. G@. H. Shull. Shull’s
work and that of the writers, started at about the same time and
kept up until the present date, have been corroborative in every
detail.
The authors’ wish to express their regret that they were
ignorant of the paper by Burck!). Our attention was called to
the oversight by the kindness of Prof. Dr. Goebel.
Das Biologische Museum des Zootomischen Instituts
der Universität Dorpat.
Von Prof. K. Saint-Hilaire.
Wenn ein naturhistorisches Museum wirklich ein Bildungs-
institut sein soll, so muss man sich bei seiner Einrichtung von
vornherein von irgendeiner grundlegenden Idee leiten lassen. Die
Zeiten der Raritätenkammern, die vornehmlich die Phantasie der
Besucher zu beflügeln geeignet waren, die Kenntnisse des Publı-
kums aber auf keinem Gebiete der Naturwissenschaften erweiterten,
sind ja längst vorbei. Solche grundlegende Ideen sind denn auch
tatsächlich in jüngster Zeit bei der Einrichtung von Museen aus-
schlaggebend gewesen. Ich nenne nur das Museum für Meeres-
forschung in Berlin und das Ozeanographische Museum- in Monaco,
in denen alles zusammengetragen ist, was auf die Erforschung des
Meeres Bezug hat, und das Phylogenetische Museum in Jena, das
der Abstammungslehre dient.
Auch bei der Rinriehtung meiner Sammlung, die namentlich
für die Demonstration in den Vorlesungen über „Allgemeine
Zoologie“ in Betracht kommt, habe ich mich an den obigen Grund-
satz gehalten. Ich habe mir zunächst den ganzen Plan der Samm-
lung ausgearbeitet, von dem ich mich leiten lassen wollte. Im Sinne
dieses grundlegenden Planes arbeitete ich mir einen Katalog aus,
dem ich nun bei der Anfertigung der Präparate und bei dem An-
kauf neuer Museumsgegenstände stets folge. Der Einrichtung meiner
Sammlung liegt das „biologische“ Prinzip zugrunde. Die Objekte
1) Burck, W. Darwin’s Kreuzungsgesetz und die Grundlagen der Blüten-
biologie. Biol, Centralbl. XXVIII: 177-—195, 1908.
Saint-Hilaire, Das Biolog. Mus. des Zootom. Instituts der Universität Dorpat. 5
sind nicht nach dem System gruppiert, sondern nach den einzelnen
Abschnitten der Biologie, in dem Sinne, dass der Beschauer eine
möglichst lückenlose Vorstellung von den in Betracht kommenden
biologischen Erscheinungen bekommen soll.
„Biologische“ Abteilungen gibt es auch in den verschiedenen
Museen, die ich in Europa besucht habe: in Berlin, London, Paris,
Prag, Hamburg u. s. w. Sie haben mir als Muster für meine
Sammlung gedient. Soweit ich die Sache überblicke, ist aber
nirgends das von mir betonte Prinzip ın der Einrichtung natur-
historischer Museen mit aller Konsequenz durchgeführt. Darum
glaube ich, dass ich doch Anlass habe, an dieser Stelle eine Be-
schreibung meiner Sammlung zu geben!). Ich will dabei nicht die
einzelnen Objekte sämtlicher Abteilungen aufzählen, sondern zunächst
nur die großen Abteilungen:
1. Gewebe. Stoffe, aus denen der Tierkörper besteht.
2. Äußere Hüllen und Anhänge dieser: Hautskelette, Muscheln,
Schuppen (bei Fischen), Haut, Hautschilder, Hautanhänge, wie
Federn, Haare, Hörner, Krallen, Hufe, Schnabel.
3. Färbung der Tiere: Farbe und Musterung, Variationen in
der Färbung der Tiere. Abhängigkeit der Farbe von der Zeit: von
den Jahreszeiten und vom Alter der Tiere. Albinismus und Mela-
nısmus. Farbwechsel. Schutzfärbung: Meerestiere, Tiere, die die
1) Ein mehr zufälliges Moment bekräftigt mich darin: im XX. Bd. der „Er-
gebnisse der Anatomie und Entwickelungsgeschichte“ von F. v. Merkel und
R. Bonnet (1911) kommt Prof. Stieda in seinem „VIII. Bericht über die anato-
mische, histologische und embryologische Literatur Russlands“ auch auf meinen
Katalog des Museums des zootomischen Instituts zu sprechen. Leider hat der Ver-
fasser die Stellung des zootomischen Instituts im Unterrichtsbetrieb ganz unzu-
treffend dargestellt, so dass sich der Leser auch keine Vorstellung von der Rolle
machen kann, die ich meiner Sammlung für den Unterricht beimessen wollte. Aus
diesem Grunde will ich auch einige Bemerkungen zu der Besprechung von Prof.
Stieda machen. Prof. Stieda schreibt: „In Dorpat bestand von früher her und
besteht auch jetzt noch neben dem anatomischen Institut ein Institut für ver-
gleichende Anatomie und Embryologie. Ein Teil der Sammlungen dieses vergleichend-
anatomischen Instituts ist nun abgetrennt worden und hat den Grundstock eines
(neuen) zootomischen Instituts gegeben, das an einem anderen Ort seinen Platz
erhalten hat.“ Das trifft aber nicht zu: das zootomische Institut war eine selbständige
Neugründung, die zum vergleichend-anatomischen Institut in gar keiner Beziehung
stand. Das vergleichend-anatomische Institut ist der medizinischen Fakultät ange-
gliedert, das zootomische der „physiko-mathematischen“. Es würde uns zu weit
führen, wenn ich auf die Frage eingehen wollte, die Prof. Stieda aufwirft: „Wozu
ein besonderes zootomisches Institut?“ Nur so viel will ich sagen, dass ich dem
Rate von Prof. Stieda, ‚die vergleichend-anatomische Sammlung zu benutzen“,
nicht folgen kann, erstens, weil ich zu ihr keinen Zutritt habe, zweitens, weil sie
in einem anderen Gebäude untergebracht ist, und drittens, weil ich nicht nur ver-
gleichende Anatomie der Wirbeltiere, sondern auch Zoologie der Wirbellosen und
Allgemeine Zoologie lese. Namentlich das letztere ist es gewesen, was mich zur
Einrichtung einer neuen Sammlung für Demonstrationszwecke veranlasst hat.
6 Saint-Hilaire, Das Biolog. Mus. des Zootom. Instituts der Universität Dorpat. ia
Farbe von Laub haben, Nachttiere, die die Farbe von Sand oder
Boden haben, und andere Beispiele für Schutzfärbung. DBlatt-
schmetterlinge, Stabheuschrecken und ähnliche. Mimätismus.
4. Nervensystem: Zentrales und peripheres Nervensystem,
Sinnesorgane.
5. Stützorgane: das Skelett der Schwämme; Knorpel- und
Knochenskelett der Wirbeltiere, Entwickelung des Skeletts, Gelenke
und andere Knochenverbindungen.
6. Bewegungsorgane: Organe, die der Bewegung auf festem
Boden dienen, Muskeln, Extremitäten, andere Hilfsorgane der Be-
wegung; springende Tiere, grabende Tiere; Organe, die der Bewegung
ım Wasser dienen; Organe, die der Bewegung in der Luft dienen;
wandernde Tiere.
7. Festsitzende Tiere, Haftmittel.
8. Organe, die dem Festhalten der Nahrung dienen.
9. Organe, die der mechanischen Bearbeitung der Nahrung
dienen.
10. Verdauungsorgane.
11. Kreislaufsorgane.
12. Atmungsorgane: Wassertiere, Landtiere, Dipneuster.
13. Exkretionsorgane.
14. Leuchtorganismen; Organismen, die Elektrizität produzieren.
15. Ungeschlechtliche Fortpflanzung: Knospung, Teilung, Stock-
bildung, Autotomie, Regeneration.
16. Geschlechtliche Fortpflanzung: Geschlechtsorgane und Ge-
schlechtsprodukte.
17. Sekundäre Geschlechtsmerkmale.
18. Komplizierte Fortpflanzungsarten: Metagenesis, Hetero-
genesis, Pädogenesis.
19. Brutpflege: Brutkammern, Nestbildungen und ähnliches.
20. Ontogenese: die verschiedenen Arten der Öntogenese —
direkte Entwickelung und Metamorphose; Embryonalhüllen; vivipare
Tiere; Embryonalorgane.
21. Beziehungen zwischen den Organen: Beziehungen der Lage
— Radialsymmetrie, Metamerie, bilaterale Symmetrie, Asymmetrie;
Homologie, Analogie; korrelative Beziehungen der Organe.
22. Organe, die in Rückbildung begriffen sind; rudimentäre
Organe.
23. Beziehungen der Tiere zu den äußeren Lebensbedingungen:
Einfluss der Nahrung, der Bodenbeschaffenheit, der Temperatur,
der Größe des Wasserbeckens, des Lichtes; Anpassung der Tiere
an die äußeren Lebensbedingungen: an das Leben im Wasser, auf
Bäumen, in der Luft u. s. w.
Saint-Hilaire, Das Biolog. Mus. des Zootom. Instituts der Universität Dorpat. 7
24. Bautätigkeit der Tiere: Mittel zum Schutz von den Ein-
wirkungen der Außenwelt, Nestbau und andere Bauten; bohrende
Tiere; Organe, die der Bautätigkeit dienen; Veränderung der Erd-
oberfläche durch Tiere.
25. Aktive Verteidigungsmittel: Scheren, Hörner, Stinkstoffe,
Dornen etc.
26. Giftige Tiere und giftbereitende Organe.
27. Koloniebildung bei Tieren und Symbiose.
28. Parasiten.
29. Beziehungen zwischen Tieren und Pflanzen: auf Pflanzen
parasitierende Tiere, Beziehungen zwischen Blüte und Insekten;
Gallen.
30. Größe der Tiere.
31. Stammesgeschichtliche Beziehungen bei Tieren: das Variieren
der Tiere, Polymorphismus, Kreuzung, Haustiere, phylogenetische
Entwickelung der einzelnen Organe, Übergangsformen, geographische
Verteilung u. s. w.
32. Dem Menschen nützliche Tiere.
33. Schädliche Tiere.
34. Heilige Tiere.
Damit der Leser sich auch ein Bild von den Objekten machen
kann, aus denen die einzelnen Abteilungen, wie sie oben aufgezählt
sind, bestehen, sei im folgenden das Verzeichnis der Objekte zweier
Abteilungen wiedergegeben.
Abteilung 6: Bewegungsorgane.
Organe, die der Bewegung auf festem Boden dienen: Fuß-
scheibe der Actinie, die Turbellarie Yungia aurantiaca, die gleitende
Bewegungen ausführen; Fuß von Haliotis, Fuß von Buceinum,
freipräparierte Muskeln des Kaninchens, freipräparierte Antagonisten,
Befestigung der Sehne am Knochen, die Muskulatur des Frosches,
Sehnen der Zehen der Katzenpfote, Befestigung der Muskeln am
Hautskelett beim Krebs; Arme von Amphiura squamata, Ambulakral-
füßchen von Cucumaria, Ambulakralfüßchen des Seeigels, Ambula-
kralfüßchen des Seesterns, freipräpariertes Ambulakralsystem des
Seesterns, Echinus melo — Fortbewegung mit Hilfe von Stacheln,
Saugnäpfe von Ichthyobdella, Parapodien von Aphrodite, Be-
wegungen des Regenwurmes, Extremitäten der Languster, Extremi-
täten des Tausendfüßlers, Extremitäten von Nymphon, Extremitäten
von Tarantula, — der Grille, Raupe von Amphydasys, Fuß von
Unio, — Cardium, Saugnäpfe an den Fangarmen des Tintenfisches,
der kletternde Fisch Periophthalmus, der Schwanz als Bewegungsorgan
beim Seepferdchen, fingerähnliche Extremitäten des Fisches Trigla,
Extremitäten der Eidechse, -— des Chamäleons, der Schwanz als Be-
wegungsorgan beim Chamäleon, Extremitäten von Gecko; austra-
S Saint-Hilaire, Das Biolog. Mus. des Zootom. Instituts der Universität Dorpat.
lische Wassereidechse, auf den Hinterfüßen gehend; Extremitäten
der Schildkröte; Bewegung der Schlange; die Füße des Vogels
Porphyrio hyacinthius, der über Sümpfe wandert; Füße des Vogels
Numenius arcuatus, Füße des Rebhuhnes, Füße des Spechtes,
Schnabel des Papageis als Kletterorgan, Extremitäten des Zehen-
und Sohlengängers — Dachs und Schwein, Katzenpfote, Fuß der
Kuh, — des Pferdes und des Schweines, Extremitäten des Affen,
Skelett eines aufrecht stehenden Tieres — des Menschen, Skelett
eines kletternden Tieres — des Affen, Skelett eines Vierfüßers —
des Schafes, Skelett eines hängenden Tieres — des Faultieres; der
Schwanz als Bewegungsorgan beim Affen; springende Tiere: Ela-
teriden, Grillen, Strombus, Frosch, Känguruh,Skelett eines Känguruh,
Dipus, springender Affe Callithrix; grabende Tiere: Maulwurf,
Dasypus (Edentata), Gryllotalpa (Maulwurfsgrille), grabende Käfer
— Scarites, Rhizotrogus, Euryctus u. a., Käfer, die den Sand weg-
wischen — Sympiezocnemis, Argyrophana.
Bewegung im Wasser: Bewegung mit Hilfe von Ruderplättchen
bei Ctenophoren, Schirm der Medusen; Ringelwurm Heteronereis,
der an der Oberfläche des Meeres schwimmt; Flossen von Sagitta;
Extremitäten von Gommarus, — Squilla mantis, — Mysis, — Palae-
mon, — Cycelops, — Hydrophilus, — Notonecta, Schwimmorgane
der Larven der Ephemeridae; Hydrometra — Insekt, das auf der
Oberfläche des Wassers lebt; ebenso der Käfer Gyrinus; die Spinne
Dolomedes fimbriata, die auf dem Wasser gehen kann; Mantel von
Octopus; die schwimmende Muschel Pecten; die Pteropode Qlio
borealis; Loligo mit großen Schwimmflossen, Pterotrachea, Gastrop-
teron mit Flügelanhängen; der schwimmende Mollusk Thetys lepo-
rina; eine durch Kontraktionen ihres Körpers sich fortbewegende
Salpe; die Tunicate Appendicularia, die mit einem Scehwanze ver-
sehen ist; Flossen des Fisches, Schwimmblase des Fisches, Skelett
des Fisches. Krokodil, Seeschildkröte, Pinguin, Alca, Beine des
Schwanes, — von Fulca atra, Seehund, Skelett eines Seehundes,
Delphin, vordere Extremitäten des Delphins, Skelett des Delphins;
Tiere, die passiv im Wasser fortbewegt werden — Velella, Porpita,
Physalia; die Schnecke Janthina, die einen eigenen Apparat für das
Schwimmen auf der Wasseroberfläche besitzt; der kugelförmige
Fisch Tetrodon fahaka.
Fortbewegung in der Luft: Dytiscus mit ausgebreiteten Flügeln,
Zweiflügler — Bremse, Geradflügler — Heuschrecke, Schuppen-
flügler — Schmetterling, Spinnen auf dem Spinngewebe fliegend,
fliegende Fische, fliegender Frosch — Racophorus reinwardti;
fliegende Eidechse — Draco volans; Flügel eines Vogels, Luftsäcke
eines Vogels, Skelett des Flügels mit Schwungfedern, Muskulatur
des Flügels, Brustkorb des Vogels, schlecht fliegender Vogel —
Rebhuhn, gut fliegende Vögel — Falke, Schwalbe; das fliegende
Saint-Hilaire, Das Biolog. Mus. des Zootom. Instituts der Universität Dorpat. (
Eichhorn Pteromys volans, Galeopithecus volans mit Flughaut,
Skelett der Fledermaus, Fledermaus.
Wandertiere: Wanderheuschrecken, der Häring Alosa pontica,
Aal, Heerwurm Sciara miliarıs, Wanderameisen Anomma und Eeiton,
Wandertaube, Lemming.
Abteilung 21: Beziehungen zwischen den einzelnen
Organen.
Die Anordnung der Organe: die radiale Anordnung der Organe
bei der Meduse, die radıale Anordnung der Organe en Seestern,
Übergang von der radialen Symmetrie zur lien beim Polypen,
— bei der Ötenophore, — bei der Holothurie, Seeigel, — regulär
und irregulär; metamere Anordnung der Organe bei den Anneliden,
die Segmentierung des Körpers bei Idotea, metamere Anordnung
der Organe beim Tausendfüßer, — bei den Insekten, unvollständige
Metamerie bei der sitzenden Annelide, Verschmelzung metamer an-
geordneter Organe — der nervösen Ganglien bei den Krabben, Ver-
schmelzung der Körpersegmente bei den Insekten, — Urustaceen, —
Arachnoiden, metamere Anordnung der Organe bei den Wirbeltieren,
Metamerie beim Huhnembryo, bilaterale Symmetrie des Fisches,
Asymmetrie bei der Scholle, Entwickelung der asymmetrischen An-
ordnung der Organe bei der Scholle aus der symmetrischen Anord-
nung beı jungen Schollen, Asymmetrie des Schädels bei der Eule,
ungleichmäßige Entwickelung der Scheren bei der Krabbe Gelasimus,
Asymmetrie beim Einsiedlerkrebs, Asymmetrie des Körpers und des
Gehäuses bei den Gastropoden.
Homologie und Analogie: Homologie der vorderen Extremi-
täten der Säugetiere, Vögel und Fische; Analogie des Flügels der
Fledermaus, des Flügels des Vogels, der Flossen des fliegenden
Fisches, der Insektenflügel; Homologie der Schuppen und Zähne,
Homologie der Lungen der Säugetiere und der Schwimmblase der
Fische; Analogie der Kiemen der Fische, Kaulquappen, Mollusken,
Ascidien u. s. w.; Homodynamie der Extremitäten beim Krebs.
Korrelative Beziehungen der Organe: Beziehungen in der Fär-
bung -— die gelben Flecken bei schwarzen Hunden; die Schnauze
von Rhinolophus, die Ohrmuschel von Plecotus auritus, korrelative
Beziehungen zwischen der Länge der Beine und des Halses, Kapaun,
Kastraten, das Geweih eines kastrierten Hirsches.
Auf Grund dieser beiden Beispiele kann sich der Leser eine
Vorstellung machen von der Art und Weise, wie wir unsere Samm-
lung eingerichtet haben. Es sei bemerkt, dass ich bei der Aus-
arbeitung des Katalogs für das biologische Museum des zootomischen
Instituts mich notwendigerweise auf diejenigen Objekte beschränken
musste, die ich wirklich anschaffen konnte. In dieser Beziehung
musste ich mir große Beschränkung auferlegen, da der Etat
10 Dewitz, Über die experimentelle Abänderung von Organismen etc.
des Instituts sehr gering ist. Auch sind die mir zur Verfügung
stehenden Räumlichkeiten sehr klein. Von größerem Werte wäre
es wohl, einen mehr ausführlichen Katalog eines biologischen Mu-
seums auszuarbeiten, ohne sich mit Bezug auf die ın Betracht
kommenden Objekte Beschränkung auferlegen zu müssen. Zu diesem
Zwecke arbeite ich den Katalog meiner Sammlung weiter aus, in-
dem; ıch ıhn durch das ın den Lehrbüchern, Monographien und
Originalarbeiten niedergelegte biologische Tatsachenmaterial zu er-
gänzen suche. Ich hoffe, dass ein solcher Katalog einer biologischen
Sammlung von einigem Werte für alle diejenigen sein wird, die
im Unterrichtsbetriebe der Biologie tätig sind.
Was ich bisher von den ın Betracht kommenden Objekten
gesammelt habe, ist allerdings verhältnismäßig wenig. Jedoch hoffe
ich, dass ıch in der Zukunft die Sammlung unseres Instituts noch
werde vervollständigen können. Das wird um so eher möglich sein,
als zurzeit ein neues Institut gebaut wird, das auch schöne Museums-
räume enthalten wird. Große Neuanschaffungen an Museumsobjekten
wird mir allerdings der Etat des Instituts nicht erlauben. Ich hoffe
aber, dass verschiedene wissenschaftliche Institute und einzelne
Kollegen mich in der Vervollständigung unserer biologischen Samnı
lung unterstützen-werden. Diese Hoffnung ist vielleicht nicht ganz
grundlos, einmal, weil, wie ich glaube, eine Sammlung, wie ich
sie im Auge habe, von allgemeiner Bedeutung wäre, und dann,
weil die Kollegen, an die ich mich bisher in dieser Sache gewandt,
mich stets ın größter Bereitwilligkeit mit geeigneten Objekten
unterstützt haben.
Über die experimentelle Abänderung von Organismen
durch die chemische Beeinflussung ihrer
Fortpflanzungskörper.
Von J. Dewitz.
Vor etwa 11 Jahren begann ich!) Versuche, die den Zweck
hatten, durch chemische oder physikalische Beeinflussung der Fort-
pflanzungskörper eine Veränderung der aus ihnen hervorgehenden
Organismen zu erzielen. Ich wandte mich damals zunächst an die
Pflanzensamen als ein Objekt, mit dem am leichtesten zu operieren
war. Die Samen wurden in Lösungen von Chemikalien gelegt, ver-
blieben hier eine gewisse Anzahl von Tagen, wurden dann in Wasser
abgespült und in Erde gelegt.
In den verschiedenen Versuchen, ın denen sowohl verschiedene
Chemikalien als auch verschiedene Samen zur Anwendung kamen,
1) J. Dewitz. Sur un cas de modification morphologique experimentale.
Compt. rend. Soc. Biol. 7 mars 1903, T. 55 (1903), p. 302—304.
Dewitz, Uber die experimentelle Abänderung von Organismen etc. 1
erhielt ich ein positives Resultat nur mit Kernen von Gurken und
mit Borsäure.
Etwa 12 Gurkenkerne (Petits cornichons de Paris) wurden in
!/,l einer 0,5°/,igen Borsäure gelegt und blieben hier 9 Tage. Darauf
wurden sie in Wasser abgespült und in einen großen Blumentopf
Fig. 1.
gesät. Nur zwei Kerne gingen auf; eine dritte Pflanze erschien
nach 3 Wochen, blieb aber vollkommen zwerghaft (Fig. 1).
Die beiden Pflanzen wichen in ihrem Habitus stark von den
normalen Pflanzen (Fig. 2) ab. Die Blätter waren sehr groß, zu-
gespitzt und häufig, besonders die ersten Blätter, unsymmetrisch,
schief, wie man es oft an Liudenblättern wahrnimmt. Der Habıtus
1? Dewitz, Über die experimentelle Abänderung von Organismen ete.
der Borsäurepflanze war gedrungen, stämmig. Die Pflanze kroch
nicht wie die Kontrollpflanze, sondern war aufrecht. Ihr Wachs-
tum war sehr verlangsamt.
Die Borsäurepflanzen waren am 18. August gesät und am
14. Oktober photographiert. Die Kontrollpflanzen waren am 13. August
bezw. am 15. Oktober gesät und photographiert.
u
Fig. 2.
In diesem Sommer (1912) habe ich den obigen Versuch kon-
trollieren können, indem ich Gurkenkerne einer anderen Sorte in
gleicher Weise behandelte.
Behandelte sowie nicht behandelte Kerne wurden im Kasten aus-
gesät. Unter den jungen Pflanzen der behandelten Samen bemerkte
man sehr bald viele Exemplare, welche den charakteristischen Wuchs
der Borsäurepflanzen besaßen, während andere mehr wie normale
Dewitz, Über die experimentelle Abänderung von Organismen ete, 13
Pflanzen aussahen. Von den ersteren wurden zwei recht typische
Exemplare ausgehoben und in je einen großen Topf gesetzt. Das-
selbe geschah mit einigen Kontroll-
pflanzen. Als an den Borsäure-
pflanzen und an den normalen Pflan-
zen ausgewachsene Gurken vorhan-
den waren, wurde je ein Exemplar
photographiert. In Fig. 3 befindet
sich die normale Pflanze rechts,
die Borsäurepflanze links. Diese
letztere ist auch in Fig. 4 darge-
stellt. Beide Pflanzen tragen je eine
bereits gelbe Gurke.
Die Borsäurepflanzen hatten
wieder den niedrigen Wuchs und
zeigten keine Neigung zum Kriechen.
Man konnte sie mit solchen Ge-
müsearten (Erbsen, Bohnen) ver-
gleichen, welche man mit dem
Ausdruck „Krup“ (z. B. Krupbohne;
franz. nain, engl. dwarf) bezeichnet.
Neigung unsymmetrische Blätter
zu bilden, war gleichfalls vorhanden.
Leider hat mich meine Beschäf-
tigung gehindert, von den Borsäure-
pflanzen reife Samen zu ziehen und
zu beobachten, ob
sich die Abände-
rungen auf die
Nachkommen über-
tragen. In einem
solchen Falle hätte
man einen Weg für
die praktische Er-
zeugung von Varie-
täten. Man kann
glauben, dass Bor-
säure eine Affinität
für das Plasma der
Gurke besitzt und
sich mit diesem ver-
bindet, so dass der
ganze Organısmus
Abänderungen er-
leidet. Dass es nicht Fig. 4.
Rs na |
j
14 Krüger, Weitere Mitteil. zur Kenntnis d. Schlafstellungen b. Süßwasserfischen.
die „Giftigkeit“ der Borsäure ist, welche den Habitus der Pflanze
verändert, geht daraus hervor, dass durch die Einwirkung anderer
giftigen Verbindungen (Salıcylsäure, Essigsäure, Cyankali, Formalin)
solche Abänderungen nicht hervorgerufen wurden. Andererseits
übte aber auch die Borsäure auf andere Pflanzenarten, deren Samen
mit ihr behandelt wurden, einen solchen Einfluss nicht aus. Bei
Lein z. B. wuchsen die behandelten Pflanzen höher und gleich-
mäßiger als die nicht behandelten Pflanzen.
Weitere Mitteilungen zur Kenntnis der Schlafstellungen
bei Sülswasserfischen.
Von Berthold Krüger, Leipzig.
Im Anschluss an die Arbeiten von F. Werner (1) und B. Ro-
meis (2) ım Biolog. Uentralblatt 1911, in denen über Schlaferschei-
nungen bei Süßwasserfischen der Gattungen Syndontis, Ameiurus,
Misgurnus, Cobitis und Paratilapia!) berichtet wurde, möchte ich
nicht versäumen, einige andere, in der freien Natur und im Aqua-
rıum gemachte, diesbezügliche Beobachtungen zu veröffentlichen. —
Meine ersten Wahrnehmungen machte ich an Fitzroya lineata
Jenyns, einem kleinen viviparen Cyprinodonten, im ostargen-
tinischen Territorium Neuquen. Dort fand ich oft an ganz flachen
Ufern einiger Altwässer des Rio Limay diesen kleinen Zahnkarpfen
in großen Mengen den heißen Strahlen der Mittagssonne ausgesetzt
in völliger Ruhestellung vor. Von den Tieren, die halb auf der
Seite lagen, waren besonders die die Männchen nicht nur an Größe,
sondern auch an Individuenzahl weit überragenden, fast immer
trächtigen Weibchen an ihren dicken, hellfarbigen Bäuchen schon
einige Meter vom Ufer aus zu erkennen. Weder ein starkes Auf-
treten mit dem Fuße noch das Einwerfen eines ziemlich großen
Steines ins Wasser konnte die wie tot daliegenden Fischchen be-
wegen das rettende tiefere Wasser aufzusuchen. Nur beim Berühren
oder beim kräftigen Wellenschlagen flüchteten die Tiere eiligst,
indem sie dem tieferen Wasser zuschwammen oder — sich in
kühnen etwa 30 cm langen Sprüngen aufs freie Ufer retteten.
Diese zweite Art die Flucht zu ergreifen ist auch schon früher von
einem englischen Forscher bei oviparen Cyprinodonten in West-
Afrika beobachtet worden. Die eben beschriebene Art Schlafstellung
wurde von mir nur in den Mittagsstunden in den Monaten Oktober
und November, also im dortigen Frühjahr beobachtet. Noch be-
merken möchte ich außerdem, dass diese Zahnkarpfen in unseren
gewöhnlichen Glasaquarien im Gegensatz zum Freileben den warmen
1) Der von Romeis beobachtete Fisch wurde damals fälschlich Paratelapia
multicolor Hilgend. genannt; richtig ist Paplochromis strigigena Pfeffer,
Krüger, Weitere Mitteil. zur Kenntnis d. Schlafstellungen b. Süßwasserfischen. 15
Strahlen des Sonnenlichts fliehen. Im nur einseitig beleuchteten
Zementbecken dagegen setzen sie sich auch gern den Sonnenstrahlen
aus. In Gefangenschaft habe ich nie eine Schlafstellung bei Fitx-
roya beobachten können. —
Die zweite Schlaferscheinung konnte ich bei einem Siluriden
der Gattung Rhinodoras ın Paraquay feststellen. Hier bemerkte
ich oft diese Welse am hellen Tage auf dem Rücken scheinbar leblos
den Rio Negro, einen Fluss, der aus dem Gran Ohaco kommend,
etwas nördlich vom südlichen Wendekreis in den Rio Paraquay
fließt, hinabtreibend. Diese Beobachtung ist denen Boulenger’s (3)
und Werner’s (1) bei verschiedenen Syndontis-Arten im Nil ähn-
lich. Die Flossen waren gespreizt und die langen Barteln ohne
jede selbständige Bewegung. Nur war es bedeutend leichter, die
Tiere zur Flucht zu bewegen. Nie kamen die Welse näher als
etwa 10 m an das geruderte Boot. Wenn wir das Boot treiben
ließen, trieben die Fische jedoch vorbei olıne uns zu bemerken.
Ein Schuss vom Ufer aus ın die Luft abgegeben wirkte ebenso
wenig. Dagegen verscheuchte ein ins Wasser geworfener Stein die
Welse. Gleichfalls erwachten sie, wenn sie an der Mündung in
das reine, klare Wasser des Rio Paraquay gelangten. Im letzten
Falle sammelte ich wieder einen schönen Beitrag zu der zuerst von
R. Woltereck gemachten Beobachtung in bezug auf die „Flucht
der Organismen vor dem Ausgange eines Gewässers.“ Dass diese
Welse durch künstliche Bewegung des Wassers leichter aus der
Schlafstellung zu bringen sind als die im Nil beobachteten Siluriden,
versuche ich unter Hinweis auf die im Rio Negro del Paraquay
massenhaft vorkommenden Yagares (Caiman latirostris Daud.) und
Fischottern (Lutra paranensis Azarra), die auf die Fische Jagd
machen, zu deuten. Die feinen Tastorgane, die nicht nur ım Seiten-
linienorgan sondern auch in den sehr langen Barteln zu suchen
sind, sind bei diesen Welsen eben besonders scharf auf derartige
Geräusche abgestimmt. Alle Vorgänge, die sich jedoch außerhalb
des Wassers abspielen, haben wenig Einfluss auf diese schlafenden
Tiere. Kein Raubvogel wagt sich an einen derartigen Wels, und
auch der Mensch greift nur einmal nach diesen kleinen Fischen,
denn bei der geringsten Berührung lernt man die furchtbare Waffe,
die diese Fischehen in den mit Widerhaken und Sperrvorrichtungen
versehenen Flossen besitzen, kennen. — Bei in Aquarien gehaltenen
Welsen habe ich nur beim Ameiurus nebulosus Schlaferscheinungen
beobachten können, die sich mit denen von Werner (1) beobach-
teten vollkommen decken. Ich schreibe dies zum großen Teil der
Unbrauchbarkeit unserer Glasaquarien bei derartigen biologischen
2) Auf Grund einer Revision dieser Fischgattung durch Boulenger muss
dieser Fisch Rivulus urophthalmus G. Günther heißen.
16 Krüger, Weitere Mitteil. zur Kenntnis d. Schlafstellungen b. Süßwasserfischen.
Versuchen zu. In nur mit Oberlicht versehenen Becken, die der
Natur in bezug auf Lichtverhältnisse am ähnlichsten sind, zeigen sich
viele Fische ganz anders als in einer Lichtfülle, wie sie ein vier-
eckiges oder rundes Glasaquarium bietet. Manche an Fischen in
der Freiheit beobachteten Erscheinungen degenerieren direkt ın
einem auf diese Weise veränderten Milieu. —
Die dritte Schlaferscheinung machte ich an verschiedenen ovi-
paren Cyprinodonten der wiederum in Amerika beheimateten Gat-
tung Rivulıs. Dank der deutschen Aquarienliebhaberei werden
jetzt von dieser Fischgattung R. elegans Steind., R. elegans var.
santensis Steind., R. Poeyi?), R. ocellatus Hensel, R. tenius Meek
und R. Harti Blgr. bei uns gehalten und gezüchtet. Alle diese
Rivuli hängen oft stundenlang mit ganz gekrümmtem Rücken und
fast unbeweglich an der Oberfläche des Wassers. Einen derartigen
Fisch beobachtete ich einmal 4 Stunden in dieser Ruhelage .am
Tage. In der Nacht sah ıch einen nur 2 Stunden ruhend beim
Mondenschein. In den langsam fließenden Gewässern des Gran
Chaco sind derartig schlafende Rivuli oft zu beobachten und zwar
immer nur an den seichten Ufern, wo ihnen die gefräßigen größeren
Fische, vor allem aber die immer hungrigen Pirayas (Serrasalmo),
nicht folgen können. Da ich sehr oft in den Magen der Nachtreiher
(Nyeticorax nyeticorax) solche Rıvulı fand, nehme ich an, dass diese
Fische, die sonst nur ım tiefen Wasser leben, zu verschiedenen
Tageszeiten ruhen. —
Zuletzt beobachtete ich bei einem kleinen Characiniden des Ama-
zonenstromes Leporinus melanopleura, Schlaferscheinungen im Aqua-
rıum, die um so interessanter sind, als sie nicht wie bei allen anderen
bis jetzt von mir daraufhin beobachteten Fischen an der Wasser-
oberfläche, sondern am Aquariumboden stattfinden. Um zu ruhen,
vergraben sich diese Fische halb in den Bodenmulm des Aquariums.
Sıe liegen dann auf der Seite, legen alle Flossen an den Körper
an und nur die ganz ruhigen Kiemendeckelbewegungen deuten an,
dass noch Leben in den Fischehen ist. Diese Schlaferscheinung
tritt in ganz unbestimmten Zeiträumen auf, so dass gewöhnlich
immer nur 50°/, schliefen, während die anderen umherschwammen.
Dies war auch in der Nacht der Fall. Niemals fand ich alle Tiere
zu gleicher Zeit schlafend. In der Nacht reagierten die schlafenden
Fische auf keinerlei plötzliche Liehteinwirkungen. Nur ein leises
Klopfen an die Aquariumscheibe ließ die Tiere sofort erwachen
und im Pflanzengewirr verschwinden. —
Zum Schluss möchte ich noch bemerken, dass es wohl ganz
gleich ist, ob man mit Werner(1) von Schlaferscheinungen oder
von Ruhestellungen mit Romeis (2) bei diesen Fischen spricht,
denn Aufspeicherung neuer Energie ist ja der Zweck jeder Ruhe-
lage bei allen Organismen.
Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete. 17
Literatur.
1. Werner, Dr. F.: Über die Schlafstellung der Fische. Biol. Centralbl., 1911.
2. Romeis, B.: Zur Frage der Schlafstellung bei Fischen. Biol. Centralbl., 1911.
3. Boulenger, G. A.: The fishes of the Nile. (Zoology of Egypt, 1907.)
Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete,
Von Edgar Brun
(z. Zt. in St. Petersburg).
Zusammengestellt und mit kritischen Bemerkungen veröffentlicht
von Dr. med. R. Brun (Zürich).
Während eines vierjährigen Aufenthaltes inKemptthal (Kanton
Zürich) hatte mein Bruder Edgar beste Gelegenheit, die auf den
waldigen Höhen zwischen der Kempt und der Töss sehr reich ver-
tretene Ameisenfauna in ihren natürlichen Lebensbedingungen zu
beobachten und dabei auch ın großem Maßstabe in freier Natur
zu experimentieren. Durch die bedeutende praktische Erfahrung,
die er dabei gewann, hat mir mein Bruder auch bei manchen von
uns gemeinsam oder von mir allein unternommenen Versuchen
wertvolle Dienste geleistet, ganz besonders durch prompte Be-
schaffung des dazu notwendigen, oft schwer erhältlichen lebenden
Materiales. Manche seiner zum Teil neuen und wichtigen Beobach-
tungen habe ich schon in früheren Arbeiten!) in entsprechendem
Zusammenhange verwertet, — zahlreiche andere Notizen dagegen,
welche eines solchen Zusammenhanges entbehrten, vorläufig ungenützt
beiseite gelegt. Heute aber, wo die Zahl der Forscher, die ıhr
Interesse der biologischen Ameisenkunde zuwenden, stetig wächst
und wo beinahe jeder Tag neue wichtige Aufschlüsse bringt, halte
ich es für meine Pflicht, auch dieses Material, — soweit es Neues
zu bieten oder zur Klärung und Befestigung neuer Anschauungen
beizutragen vermag, der Öffentlichkeit zu übergeben. Ich werde
mich bei der Redaktion dieser Notizen, wo immer möglich, wört-
lich an den Text der Aufzeichnungen halten; — dabei wird aller-
dings manches Merkwürdige, worüber mein Bruder (der sich meist
mit der getreuen Beobachtung der Tatsachen begnügte) sich theo-
retisch nicht näher äußern mochte, noch der Erklärung und nament-
lich des Hinweises auf bereits bekannte Zusammenhänge bedürfen.
Diese kritischen Ergänzungen zu geben habe ich mich im folgenden
bemüht. Deo R. Brun.
I. Allgemeine Bemerkungen (Forschungsmethoden).
Man kann leicht beobachten, wie sehr die Ameisen in
ihrem Verhalten von teilweise ganz unberechenbaren
1) Biolog. Centralbl. 1910, S. 524ff. Ibid. 1912, S. 154 ff.
XXXIl,
DD
18 Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete.
äußeren Faktoren abhängig sind. Eine große Rolle spielt
namentlich die Witterung: Verschiedene Feuchtigkeit der Luft,
Sonnenlicht, Bewölkung, Windstärke — all das dürfte hier in
Betracht kommen. Es hält aber meist schwer, den wirklichen
physischen (oder psychischen?) Einfluss, den diese Faktoren aus-
üben, im Einzelfalle jeweilen richtig abzuwägen; so kann man oft
ungemein irren, indem man viele Experimente unter anscheinend
gleichen äußeren Bedingungen vorzunehmen glaubte, während in
Wirklichkeit bei jedem Versuche ganz verschiedene Umstände
walteten. Ich selbst habe da oft merkwürdige Erfahrungen machen
müssen: Versuche, unter scheinbar ganz ähnlichen äußeren Be-
dingungen gemacht, schlugen bei Wiederholung fehl oder ergaben
ganz andere Resultate.
Von großem Einfluss ist natürlich auch die Größe und das
Gedeihen der Staaten, mit denen man experimentiert und man wird
im allgemeinen kaum fehlgehen, wenn man hier als bestimmte
Regel ausspricht: Je mehr Einwohner ein Staat hat und je älter
eingesessen er ist, um so mutiger, unternehmender, unversöhnlicher
sind seine Einzehnde dee Ganz besonders bei F. rufa hatte ich
unzählige Male Gelegenheit, das zu beobachten, und ich bin dabei
zur Überzeugung gekommen, dass man bei dieser Art (sofern man
ihr normales Verhalten kennen lernen will) überhaupt nur mit
Massenexperimenten in freier Natur zum Ziele kommt. (Die
meisten Experimente wurden mit Mehlsäcken von 5—25 kg Inhalt
ausgeführt!) Weniger trifft die Regel für f. sanguinea zu und bei
den Myrmicinen kommt sie am wenigsten in Betracht, — schon
wegen ihrer ganz anderen Lebensweise. —
Es sei mir gestattet, an diese allgemeinen Bemerkungen einen
prinzipiellen Exkurs zu knüpfen. Dieselben möchten viel-
leicht manchem beinahe selbstverständlich und daher überflüssig
scheinen; — an sich betrachtet sind sie es auch. Dennoch konnte
ich mirs nicht versagen diese Bemerkungen hier anzuführen angesichts
der heute überall eingetretenen Verschiebung in der Wahl der
biologischen Forschungsmethoden, auch auf diesem Spezial-
gebiete. Wer hat heute noch den Mut oder die Geduld, wie jene
Forscher vom Schlage Forel’s stundenlang in Sonnenbrand oder
Regen vor einem Ameisenhaufen auszuharren, um das Treiben der
merkwürdigen Tiere in freier Natur zu belauschen? Diese „direkte“
Methode der Beobachtung und des Experimentes in freier
Natur gilt heute beinahe als veraltet und hat einer mehr indirekten
fast vollständig weichen müssen: Der experimentellen Beob-
achtung im künstlichen Neste. So fern es mir liegt, die ge-
waltigen Erfolge dieser modernen Methode schmälern zu wollen
— verdanken wir doch erst ihr die tiefsten und entscheidendsten
Einblicke in das feinere Geschehen im Ameisenstaate —, so muss
Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete. 19
doch meines Erachtens heute, wo sie fast allein noch geübt wird,
immer aufs neue auch auf ihre Fehlerquellen hingewiesen und vor
kritiklos schematischer Anwendung und einseitiger Überschätzung
derselben gewarnt werden. Was Escherich?) in seinem vortrefl-
lichen Leitfaden über dieses Kapitel sagt, kann Wort für Wort
unterschrieben werden. Und wenn neuerdings sogar ein Experi-
mentator vom Range Viehmeyer’s, der sich der künstlichen
Methoden mit größtem Erfolge bedient hat, anlässlich seiner Ver-
suche über die Koloniegründung von F. sangwinea?) zu der pessi-
mistischen Überzeugung gekommen ist, dass hier nur noch die freie
Naturbeobachtung entscheiden kann, so muss ein solches Votum
um so ernstlicher berücksichtigt werden.
Welches sind nun diese Fehlerquellen? Ich glaube, es mir
ersparen zu dürfen, sie hier im einzelnen aufzuzählen: Wer das von
meinem Bruder Gesagte nur einen Augenblick überlegt, oder wer
jemals die sozialen Instinkte einer kleinen, seit längerer Zeit aus
ihrem gewaltigen Staatsverbande herausgerissenen Aufa-Kolonie im
künstlichen Neste allmählich vollständig degenerieren sah, — der
weiß, was man damit sagen wıll. Dass aus dem Verhalten derartig
degenerierter „Kolonien“ auch nicht der geringste Schluss mehr auf
die normale Biologie der betreffenden Spezies gezogen werden
darf, ist wohl einleuchtend. Wer sagt uns aber, wo die künstliche
Degeneration anfängt? Wer garantiert uns denn, dass bei diesen
äußerst „nervösen* Tierchen nicht schon der bloße Entzug ihrer
normalen Bewegungsfreiheit, von Sonne und all den anderen ge-
wohnten Witterungseinflüssen genügt, um tiefgreifende Verände-
rungen in ihrem gesamten Psychismus zu erzeugen?
Ganz etwas anderes ist es natürlich um das künstliche Experi-
ment, wenn es sich um gewisse allgemeine Fragestellungen
handelt, — um die Erforschung bestimmter physiologischer, allge-
mein-biologischer und namentlich psychischer Reaktionen oder
Fähigkeiten. Hier kann oft genug allein das künstliche Experi-
ment genügenden Aufschluss geben, und zwar auch dann noch,
wenn die betreffende Kolonie einer Degeneration im oben ange-
deuteten Sinne sollte anheimgefallen sein. Drei Beispiele mögen
das zeigen:
Wenn beispielsweise die Wirkung des Röntgenlichtes auf die
Ameisen studiert werden soll, so kann dies natürlich an jeder
beliebigen Art in jeder beliebigen psychischen Disposition ge-
schehen; ganz dasselbe ist der Fall, wenn man ergründen yıll, ob
aus parthenogenetischen Eiern nur Männchen oder auch weibliche
2) Escherich, Die Ameise, Braunschweig 1006. — 4. Kap. „Untersuchungs-
methoden“, S. 10.
3) Viehmeyer, Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiologie 1909, S. 353 u. 390ff,
DE
0 Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete.
Tiere hervorgehen können. Und wenn es sich darum handelt, den
Grad der plastischen Fähigkeiten eines Ameisengehirnes festzu-
stellen, so sind wir schon durch die Fragestellung gezwungen, die
Versuchstiere gerade unter möglichst abnorme psychische Be-
dingungen zu setzen: Ziehen sie sich dann aus der Affäre, indem
sie ihre automatischen Instinktreaktionen ändern, so beweisen sie
uns gerade durch diese Abnormität, was wir sehen wollten —
ihre Plastizität; bei geringer oder fehlender plastischer Anpassungs-
fähigkeit werden sie ganz einfach zugrunde gehen.
Überall da aber, wo es sich darum handelt, die nor-
male Biologie einer bestimmten Spezies festzustellen,
ist m. E. die direkte Beobachtung in freier Natur, — be-
ziehungsweise —, wo diese nicht voll ausreicht — das
Experiment in freier Natur die wichtigste, weil exakteste
und sicherste Forschungsmethode, der gegenüber die experi-
mentelle Beobachtung im künstlichen Neste stets nur als ergän-
zendes und in jedem Einzelfalle mit Vorsicht zu verwertendes
Hilfsmittel in Betracht kommen kann. Die Gründe sind nach
dem Gesagten klar: Sie liegen einmal darin, dass (wie oben ge-
zeigt wurde) normalerweise stets zahlreiche in ihren Wir-
kungen nur schwer oder nicht übersehbare äußere Ein-
flüsse das spezielle Verhalten der Ameisen mitbestimmen,
-— zum zweiten aber auch umgekehrt darin, dass im künstlichen
Neste an die Plastizität der Ameisenpsyche ganz andere und meist
viel höhere Anforderungen gestellt werden, als ın freier Natur.
Oder kurz ausgedrückt: In der durch die künstliche Ge-
fangenschaft in unübersehbarer Weise veränderten äuße-
ren und inneren energetischen Situation. Die Ameisen
sind eben keine Bakterien oder Infusorien, mit denen man nach
Belieben schalten und walten kann, sondern sie besitzen eine ganz
komplizierte Psychologie, die man stets mit in Berechnung zu
ziehen hat. |
Nun sind aber solche Beobachtungen in freier Natur — be-
sonders, wo es sich um Feststellung feinerer Details handelt —
nicht allein sehr mühsam, sondern meist auch ungemein zeit-
raubend; selten hat man die gewünschten Arten in der Nähe,
sondern muss oft stundenweit gehen, bis man geeignete Kolonien
findet. Diesem Nachteile haben wir früher mit Erfolg dadurch
abgeholfen, dass wir wie weiland Nebukadnezar ganze Riesenstaaten
von F. rufa, sanguinea, ©. ligniperdus, L. fuliginosus u. a. zur be-
quemen Beobachtung in unsern Garten verpflanzten; die Schwierig-
keit dieser besonders Anfängern warm zu empfehlenden Methode
bestand jeweilen nur darin, dass es nicht immer gelang, eine
Königin mit zu erwischen, was dann natürlich eine längere Fort-
dauer der betreffenden Kolonie in Frage stellte (um so mehr
Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete. 22 |
als die Fremdlinge meist durch die überall wimmelnden Zasius
niger noch erheblich dezimiert wurden). Auch waren die neuen
Kolonien natürlich ganz auf die oft kaum genügenden Einkünfte
eines Ziergartens angewiesen, was dann schließlich doch manchmal
eine rasche Degeneration infolge chronischer Unterernährung be-
wirkt haben mochte, — falls die Tiere es nicht vorzogen, vorher
auszuwandern und so eines Tages spurlos verschwanden!
Ein Ideal, das allen Ansprüchen gerecht zu werden vermöchte,
das aber m. W. bisher noch nirgends verwirklicht ist, wäre die Er-
richtung eigentlicher biologischer Versuchsstationen für
Ameisen, wo auf genügend großen und je nach Bedürfnis durch
Wassergräben voneinander abgetrennten Landparzellen mit natür-
lichem Pflanzenbestande die verschiedensten Arten gehegt werden
könnten. Solche „Ameisengärten“ könnten beispielsweise mit ge-
ringen Kosten forstwissenschaftlichen Versuchsstationen
angegliedert werden. Aber freilich, da sie ausschließlich wissen-
schaftlichen Zwecken, ohne jede praktische Nutzanwendung für
menschliche Ausbeutung dienen würden, so wird es damit wohl
seine Schwierigkeiten haben.
II. Camponodus ligniperdus.
1. Auffallend ist, dass von dieser Art bei Tage fast immer
nur wenige FEinzelindividuen ausschwärmen, während das Gros ım
Neste zu bleiben scheint (außer bei besonderen Anlässen und bei
sehr großen Kolonien). Dabei entzieht es sich aber allerdings der
Schätzung, wieviele Individuen das Nest in Wirklichkeit verlassen
haben; — vielleicht doch mehr als man glaubt. Diese einzelnen
Tiere gehen dabei oft sehr weit, bis 100 und mehr Meter vom
Neste weg.
Sowie die Nacht hereinbricht, ist das Benehmen ein völlig
anderes: Nun kommen sie in relativ bedeutenden Scharen hervor,
halten sich zahlreich auf der Oberfläche ihres Nestes und in dessen
Umgebung und steigen auf die Bäume, — aber auch jetzt immer
nur als Einzelreisende, nie in Kolonnen. ©. ligniperdus führt
also ein eigentliches Nachtleben. Da merkwürdigerweise alle
Ameisen gegen plötzlich aufflammendes Licht gänzlich
unempfindlich zu sein scheinen, kann man dieses nächtliche
Treiben mit elektrischen Taschenlampen sehr gut beobachten.
2. Beraubung eines Beutezuges von F. sanguinea durch
C. ligniperdus.
Anfang August 1907. Ich kam gerade dazu, wie ein Fusca-
Nest (F. fusca i. sp.) von sangwinea geplündert wurde. Dicht an
das ziemlich volkreiche Sanguinea-Nest stößt, auf derselben Böschung
gelegen, eine riesige liyniperdus-Kolonie, — an Individuenzahl wohl die
mächtigste, die ich je sah. Sowie nun die ersten mit Beute be-
>» Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete.
ladenen sanywinea unten an diesem Neste vorbeikamen, stürzten
sich die ligniperdus (die sich schon vorher in auffallender Zahl am
Abhange herumgetrieben hatten) sehr geschickt auf die bepackten
sanguinea, bissen sie buchstäblich entzwei und raubten die Fusca-
Puppen! Infolgedessen stockte die Plünderung bald fast gänzlich,
indem sich die sangwinea nun in Mengen gegen die Wegelagerer
wandten und deren Nest zu stürmen suchten. Nachdem nun etwa
50 sangwinea zerstückelt worden waren, ohne dass ein einziger ligni-
perdus hätte ins Gras beißen müssen, hielten es die letzteren aber
doch für angezeigt, sich zurückzuziehen und es begann eine gänz-
lich resultatlose Belagerung des lgniperdus-Nestes durch die san-
guinea, welche erst spät am Abend wieder aufgehoben wurde. —
Diese Episode ist nicht so sehr wegen ihres Ausganges*) als
wegen der Begleitumstände interessant. Auffallend ist namentlich,
dass die kgniperdus erst die mit Beute zurückkehrenden sangzinea
angriffen; — sie schienen es somit in der Tat auf die Fusca-Puppen
abgesehen zu haben! Aber wohl kaum zu anderen als zu Fraß-
zwecken.
Was das Nachtleben von (. ligniperdus betrifft, so konnte
ich die Angaben meines Bruders an einer vor 3 Jahren von uns
in den Garten verpflanzten Kolonie vollauf bestätigt finden: Auch
bei dieser Kolonie, die 2 Königinnen besitzt (eine vor 2 Jahren
nachträglich adoptiert) und diesen Sommer (1912) zahlreiche Puppen
und sicher mehrere hundert Arbeiter zählte, habe ich selbst an den
wärmsten Tagen kaum je einen einzelnen Arbeiter außerhalb des
Nestes entdecken können, wogegen in warmen Nächten ganz ge-
wöhnlich zwischen 30 und 50 Individuen sich in der Umgegend
herumtrieben. Auch die geringe Empfindlichkeit dieser Ameisen
gegen künstliches Licht konnte ich dabei feststellen.
III. Arten der Gattung Formica.
(F. fusca, sanguinea, rufa, pratensis, exsecta.)
1. Mischungsexperiment zwischen F. sangwinea und
pratensıs.
Ende Juni 1907, bei schönem Wetter. Ich warf einige hundert
pratensis mit ungefähr ebenso vielen (etwas weniger) sanguwinea in
einen Sack. Nach knapp 20 Minuten wurde der Inhalt auf einem
ameisenfreien Platze ausgeleertte Resultat: Vollkommener
Friede! Pratensis sowohl wie sangıinea begannen gemeinsam ein
provisorisches Nest einzurichten und sammelten auch ihre Puppen
gemeinsam auf einen Haufen. Nur die Sklaven der sangwinea
(fusca 1.sp.) wurden sonderbarerweise von den pratensis von
4) Forel (Fourmis de la Suisse, p. 355) erwähnt allerdings einen Kampf
zwischen C. herculeanus und F. sanguinea, in welchem die letzteren Sieger blieben.
Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete. 93
?
Anbeginn nicht geduldet, sondern überall heftig ver-
folgt, ohne dass ihnen die „Herren“ halfen! — Ich nahm ein
Buch und las. Da —- ungefähr nach Ablauf einer Stunde —
begann plötzlich und ohne sichtbare Veranlassung ein erbitterter
Kampf auch zwischen den sangwinea und den pratensis, der
mit der Vernichtung und Flucht der sangwinea endete. Angefangen
zu kämpfen hatten die pratensis, indem sie sich plötzlich, wie auf
Kommando, auf die friedlich unter ihnen weilenden sangwinea
stürzten. —
Dieses interessante Experiment bestätigt vollkommen meine
Anschauungen über Wesen und Zustandekommen jener künstlichen
Mischkolonien (sogen. „Schüttelnester“, der Ausdruck ist übrigens
schlecht gewählt!). In einer vor kurzem erschienenen Arbeit?) habe
ich auf Grund eingehender Analyse zahlreicher eigener Beobach-
tungen und Versuche nachgewiesen, dass diese durch Mischung der
Parteien erzielbaren Allianzen nicht auf der Entstehung eines „Misch-
geruches“ beruhen, der die Gegner gleichsam dauernd voreinander
maskiert, sondern vielmehr das Resultat komplizierter psycho-
plastischer Anpassungen sind, bedingt durch die in der engen
Gefangenschaft (zumal im Sacke, aber auch nachher im künstlichen
Nest) gegebene Zwangslage. Wenn nun dem so ist, so müsste
man, würde man diese Zwangslage jeweilen bald nach Entstehung der
Allianz (nämlich bevor dieselbe zum sekundären Automatismus
geworden ist) wieder aufheben und die Tiere annähernd in ıhre
natürlichen Lebensbedingungen zurückbringen, auch alsbald eine
nachträgliche Wiederaufhebung der guten Beziehungen
zwischen den verschiedenen Parteien beobachten. Diese
Versuchsanordnung war nun im obigen Experimente verwirklicht
und sie hatte auch genau das erwartete Resultat. Gerade
das eigentümlich unduldsame Verhalten, das die pratensis den
fusca gegenüber von Anfang an zeigten, spricht mehr als alles
andere gegen die eben angedeutete Mischgeruchtheorie, indem nicht
einzusehen ist, weshalb denn allein den fasca dieser supponierte
Mischgeruch nicht sollte zugute gekommen sein. Allerdings könnten
sich die fusca den pratensis auch rein visuell, gegenüber den viel
ähnlicheren sanguinea, noch als Freunde verraten haben, — diese
Annahme steht aber mit dem Verhalten der gleichen Arten in zahl-
reichen anderen Fällen im Widerspruch. Wir werden also besser
den Fall so erklären, dass die fusca, obschon sie ja ım sanguwinea-
Neste aus der Puppe schlüpften, eben nur eine, nämlich die
„Lokalkomponente“ dieses fremden „Koloniegeruches“ über-
kommen haben, während sie andererseits die ihnen erblich (von
5) Zur Psychologie der künstlichen Allianzkolonien bei den Ameisen. — Biol.
Centralbl. 1912, S. 308 ff.
94 Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete.
De 5
der Stammkönigin ihres Heimatnestes) übertragene Komponente,
welche ich als die „spezifische“ bezeichnet habe, unverändert
beibehielten °).
Auffallen könnte noch, dass die nachträgliche Entfremdung
auch zwischen den sanguinea und den pratensis hier erst so spät,
nach etwa einer Stunde, eingetreten war. Wahrscheinlich beruht
das auf dem nahezu gleichen Zahlenverhältnis zwischen den beiden
Parteien. (Eben deshalb wurden ja auch die fusca von den pra-
tensis schon gleich von Anfang an verfolgt, da sie sich ın starker
Minderzahl befanden!) Keinesfalls aber darf in dieser Verspätung
ein Beweis für das anfängliche Vorhandensein eines Mischgeruches
(der sich dann allmählich verflüchtigt hätte) erblickt werden, denn
nach meinen Versuchen (a. a. ©.) entsteht ein solcher selbst im
engen Verbande des künstlichen Apparates erst nach mehreren
Tagen und ist auch dann noch so flüchtig, dass im vorliegenden
Falle (wo kaum 20 Minuten seit der Mischung verstrichen waren)
diese Maske schon nach wenigen Minuten hätte fallen müssen.
2. Kampf zwischen F! rufa und sanguinea.
Anfang Juni 1908. Ich füllte einen 5 kg-Mehlsack ausschließ-
lich mit Arbeitern aus einem großen rufa-Neste A. Ein zweiter
ebensolcher Sack wurde mit Arbeitern und massenhaft Brut
(Puppen) aus einem zweiten, unabhängigen Rufa-Neste B gefüllt;
drei in diesem letzteren gefundene Königinnen kamen vorläufig in
ein separates Glas.
Um 1 Uhr nachmittags wurde der erste Sack (nur Arbeiter)
10 m von einer mächtigen sanguinea-Kolonie an einem Abhange aus-
geleert, — mitten auf die lebhaft begangene Verkehrsstraße, welche
diese sanguinea mit einem kleineren, etwa 30 m vom Hauptnest
entfernten Zweigneste unterhielten. (Dieses Nebennest blieb merk-
würdigerweise während der ganzen Episode völlig passiv, — nur
die Heerstraße wurde eingestellt.)
Resultat: Die sanguinea des Hauptnestes rücken massenhaft
aus und bedecken bald das Terrain zwischen ihrem Nest und den
rufa; diese werden zurückgedrängt und haben sehr viele Tote. Die
rufa werden nun allmählich halbkreisförmig umzingelt; sie benehmen
sich ängstlich, ja feige. Nun leerte ich den zweiten Sack rufa mit
den Puppen an gleicher Stelle aus, obenauf zuletzt die drei Weib-
chen. Völlig verändertes Benehmen der rufa, unter denen, ob-
wohl sie zwei verschiedenen Staaten angehören, von An-
fang an nicht die geringste Zwietracht zu bemerken ist.
Sie rücken jetzt in konzentrierten Massen gemeinsam vor und
6) Vgl. mein Referat: „Über die Ursachen der künstlichen Allianzen bei den
Ameisen“, am III. internat. Kongress für medizin. Psychologie ete.... in Zürich,
September 1912.
Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete. 35
<
drängen die sanguinea nun ihrerseits unaufhaltsam zurück. Um
ihre Brut kümmern sie sich nicht. Desto mehr tun dies die san-
guinea, von denen manche trotz ihrer misslichen Lage zahlreiche
rıfa-Puppen tollkühn mitten aus dem dichten Haufen der Feinde
herausholen und auf Umwegen ın das andere, unbeteiligte Nest
bringen! — Nach langem Kampfe Ankunft des rufa-Heeres beim
sanguinea-Nest. Um 5 Uhr ist der obere Teil des Nestes erobert;
— aus einem unteren Ausgang desselben werden nun massenhaft
Eierpakete, Larven und vier sanguinea-Königinnen, vorwiegend
durch fusca, geflüchtet. Um 6 Uhr haben die rufa das ganze Nest
im Besitze; die sanguinea kampieren in ziemlicher Entfernung im
Freien. —
Das Experiment zeigt:
1. Die unmittelbare und fast mit Selbstverständlich-
keit erfolgende Allianz zwischen gewaltigen, aber aus
ihrem Zusammenhange gerissenen Abteilungen zweier
fremder rufa-Staaten angesichts einer gemeinsamen
Gefahr.
2. Den großen Einfluss, den die Gegenwart von Brut und von
Königinnen, sowie das Bewusstsein numerischer Übermacht auf den
Kampfesmut der rufa hat.
3. Die Kühnheit im Angriff, aber auch den völligen Mangel
an Zusammenhang bei den sanguinea.
4. Die unwiderstehliche Macht des Puppenraubinstinktes bei
dieser Art, endlich
5. ihre Pleometrose (4 Königinnen in einem Neste!).
3. Eine natürliche Mischkolonie F. sanguwinea mit
Ruf, 1. Sp. |
Sommer 1908. Auf einer sonnigen Waldlichtung in sehr
sanguinea-reicher Gegend entdeckte ich ein mittelgroßes, längs der
Wurzel einer alten Tanne etabliertes sanguwinea-Nest, „welches
Tausende von rufa(i. sp.)-Arbeitern, mit den sanguinea un-
gefährzu gleichen Teilen gemischt, enthielt. Keine fusca-
Sklaven! massenhaft Eier und Puppen (welcher Art?), keine
Larven, dagegen zahlreiche geflügelte sangwnea-Männchen.
Eine Königin zu finden gelang mir nicht. Die r«fa machten einen
ziemlich degenerierten Eindruck, hielten sich ausschließlich in oder
auf dem Neste; bei Störung verteidigten die sanguinea dasselbe
weit mutiger als die r«fa. Doch schien die ganze Kolonie sehr
zurückgezogen zu leben; sıe unterhielt keine Ameisenstraße, ver-
hielt sich gegen die benachbarten sangwinea-Nester feindlich. Das
nächstgelegene rufa-Nest — eine sehr starke Kolonie — befindet
sich etwa 70 m entfernt, von der Mischkolonie durch Schlagwald
getrennt, ihr aber am nächsten unter allen benachbarten sangwnea-
26 Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete.
Nestern gelegen. 1907 bestand an jener Tannenwurzel sicher noch
keine Kolonie. —
Die Erklärung dieses Falles macht einige Schwierigkeiten. An
eine sozialparasıtische Entstehung der Mischkolonie — etwa so,
dass eine junge sanguinea-Königin in einem weisellosen rufa-Neste
adoptiert worden wäre — ist kaum zu denken; dagegen spricht
vor allem das Zahlenverhältnis zwischen den beiden Arten: Eine
so alte sangwinea-Kolonie, welche schon zahlreiche geflügelte Männ-
chen erzeugt, könnte unmöglich noch so viele Individuen der ehe-
maligen Wirtsameise beherbergen! Aber anderseits ist es doch
auch kaum denkbar, dass jene 70 m entfernte Riesenkolonie von
F. rufa von den sanguwinea geplündert worden wäre’). Am wahr-
scheinlichsten ıst mir, dass es sich ursprünglich um eine noch
schwache, erst 1908 gegründete Zweigkolonie jenes großen rufa-
Nestes gehandelt hat, dıe dann kurz nach ıhrer Etablierung von
einem benachbarten sanguinea-Stamm überfallen und erobert wurde,
wobei den sanguinea ein großer Teil der rufa-Puppen als Beute
zufiel. —
4. Von F. exsecta, die ım Kanton Zürich überhaupt selten zu
sein scheint, beobachtete mein Bruder im Kemptthaler Revier nur
wenige kleinere Nester, darunter mehrere mit fasca.
IV. Polyergus rufescens.
Im August 1907 fand mein Bruder an sehr sonniger Halde
ein einziges Exemplar der Amazonenameise. Dieser Fund ist
um so beachtenswerter, als diese südliche Art ın den Kantonen
der Nord- und Ostschweiz, wenn sie dort überhaupt vorkommt,
doch extrem selten zu sein scheint. Forel‘®) erwähnt im Kapitel
über die Verbreitung der Arten in der Schweiz überhaupt nur zwei
Fälle: Einmal habe Heer das Tier auf der Wollishofer Allmend
(bei Zürich) entdeckt; ein anderes Mal sei sie bei Basel gefunden
worden, wie ein Exemplar in der M. G. Haller’schen Sammlung
beweise (nach Imhoff),
V. Zum Nestbau von Lasius fuliginosus.
Zahlreiche fuliginosus-Nester in den Kemptthaler Wäldern sind
nicht in morsche Bäume eingebaut, sondern finden sich rein unter-
irdisch, in einiger Entfernung von den Bäumen an deren letzten
Wurzelausläufern, und zwar, wie es scheint, in großen natür-
lichen Höhlungen. Diese Höhlungen dürften (laut Angaben von
Herrn stud. forest. Haemmerli) ursprünglich von kleinem Raub-
7) Dass der Fall an sich vorkommt, habe ich a. a. O., Biolog. Centralbl. 1910,
zuerst gezeigt.
8) Forel, Fourmis de la Suisse 1874.
Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete. an
wilde (Wiesel, Iltis, Marder?) herrühren. Die Stelle, wo das Nest
zu suchen ist, verrät sich oft nur durch eine eigentümliche elastische
Nachgiebigkeit des Bodens beim Darüberhingehen. Der meist sehr
unauffällige und enge Nesteingang liegt nämlich gewöhnlich am
Fuße des Baumes; gräbt man hier nach, so kommt man auf einen
breiten Schacht, dem Tausende von Ameisen in schwarzem Ge-
wimmel entquellen und welcher schräg abwärts vom Baume weg
verlaufend unter trichterförmiger Verbreiterung in die Höhle ein-
mündet. In dieser befindet sich das eigentliche Nest aus brüchigem,
schwarzbraunem Karton, der an verschiedenen Stellen rings an der
Höhlenwand angeklebt ist; — das Ganze bildet eine in der Höhle
ziemlich frei suspendierte kompakte Masse, die man, wäre sie nicht
so brüchig, leicht in toto aus der Höhle herausheben könnte. —
Die Tatsache, dass L. fuliginosus auch gelegentlich rein unter-
irdisch nistet, ist nicht neu; sie wurde schon von Forel?) erwähnt.
So beschrieb dieser Forscher u. a. ein von Dr. Marcel in Lausanne
entdecktes Nest, das an einer Mauer zwischen dem Wurzelwerke
eines Weißdornstrauches rein unterirdisch gelegen war; Forel
wundert sich mit Recht, dass diese Ameisen somit, bevor sie ıhr
eigentliches Kartonnest zu konstruieren beginnen können, erst eine
geräumige Höhle ausminieren müssen. Vielleicht wirft die Erklärung,
die mein Bruder über seine unterirdischen Nester gibt, dass die-
selben nämlich in präformierten Höhlungen angelegt seien,
auch auf diesen alten Forel’schen Fall ein neues Licht; — jeden-
falls fällt damit die obige Schwierigkeit — die Annahme einer vor-
gängigen umfangreichen Minierarbeit der Ameisen — ohne weiteres
dahin. -— Auffallend ist ja auch, dass man in der Umgebung solcher
Nester niemals aufgehäufte Erdwälle sieht!
Eine ganz ähnliche Nestanlage, wie sie mein Bruder von ful-
ginosus beschreibt, nur mit dem Unterschiede, dass das Innere der
Höhle nicht aus echtem Karton, sondern aus lockeren, wie fein
gekitteten Erdlabyrinthen bestand, fand ich kürzlich in unserm
Garten, am Fuße einer mächtigen älteren Föhre, bei einer riesigen
Kolonie von L. mixto-umbratus Forel. Dabei fiel mir auch zum
erstenmal die frappante Ähnlichkeit des Geruches dieser
Ameisen mit dem spezifischen fuliginosus-Geruche auf, —
eine Tatsache, die m. W. bisher noch nirgends hervorgehoben
worden ist. Ich konnte mich auch leicht durch Experiment davon
überzeugen, dass der Geruchstoff — wie bei fuliginosus — seinen
Sitz im Kopfe der Tiere hat. Vielleicht handelt es sich da um
eine Vorstufe zum Kartonbau der fuliginosus'?).
Ama: O5,:p:u185£
10) Kürzlich teilte mir F. H. Donisthorpe (London) mündlich mit, dass er
in der Tat auch echten Karton bei Z. umbratus gefunden und beschrieben habe!
25 Brun, Beobachtungen im Kemptthaler Ameisengebiete.
VI. Tapinoma erraticum.
1907. Von dieser Art existieren in der Umgebung von Kempt-
thal einige Haufen von gewaltiger Ausdehnung und Einwohnerzahl.
1908. Es ıst auffallend, wie leicht die Tapinoma ıhr Nest
wechseln; bei der geringsten Störung ziehen sie aus, oft aber erst
nach einem Tage. Auf die Lokalität der Nester scheinen sie nur
geringen Wert zu legen, auch machen die kleineren Ansiedlungen
durchweg den Eindruck ganz oberflächlicher, gleichsam nur provi-
sorischer Anlagen. (Mein Bruder beschreibt nun die charakte-
ristische Kampfesweise dieser Tiere und kommt dann auf einen
von ihm künstlich herbeigeführten Auszug, im Anschluss an einen
Kampf mit ZL. niger, zu sprechen.)
„Dabei beteiligen sich auch die Männchen vielfach
aktiv durch Tragen von Brut und scheinen sich überhaupt
ganz selbständig zu orientieren. Das gleiche gilt von den ge-
flügelten Weibchen und den stets zahlreich in einem Neste vor-
handenen Königinnen. Getragen wird überhaupt meist nur die Brut.
Die Tiere folgen einander in eng aufgeschlossenen Einerkolonnen,
mehrere parallel zueinander. Während des Marsches beob-
achtete ich mehrmals Befruchtung der marschierenden
geflügelten Weibchen: Sie standen einen Moment still, wurden
von einem Männchen bestiegen und gingen dann mit dem Männchen
auf dem Rücken weiter. — Die Orientierung während des Marsches
ist eine ungemein rasche.“ —
Was den Tapinoma diese Art zu marschieren erlaubt, ist offen-
bar ıhr ungemein starker Eigengeruch, der, da er von dem Gift-
sekrete stammt, wohl der Abdomenspitze jedes Arbeiters in Spuren
anhaftet und dort selbst von den blödsinnigen Männchen mit
Leichtigkeit wahrgenommen und als Wegweiser benutzt werden kann.
VI. Myrmica rubida.
1. Diese Art plündert nicht selten die Nester der viel kleineren
rubra (laevinodis?), deren Eier und Larven sie holt, dagegen keine
Puppen (?). Solche Raubzüge erfolgen aber nicht aus eigener Initia-
tive, sondern nur im Anschluss an Kämpfe mit den rubra.
2. Im Herbste 1908 gab ich einer rubida-Kolonie eine große
Menge Larven von M. rubra. Im Sommer 1909 enthielt das be-
treffende Nest eine ganze Anzahl rubra. Bemerkenswert ist dabei,
dass diese „Sklaven“ nach menschlichem Geruchsempfinden ihren
charakteristischen Eigengeruch beibehalten haben. —
Ich gestehe, dass ich zunächst diesen Angaben meines Bruders
starke Zweifel entgegenbrachte, bis ich selbst Gelegenheit hatte,
dasselbe an einer in unseren Garten verpflanzten rubida-Kolonie
zu beobachten. Diese Kolonie, die sich 2 Jahre lang auf einer
Wiese hielt, hatte im selben Jahre ihrer Etablierung verschiedent-
Robertson, Further Explanatory Remarks Concerning ete. 99
lich heftige Kämpfe mit den zahlreichen laevenodis-Kolonien unseres
Gartens zu bestehen; sie trugen dabei wiederholt Brut der letzteren
(auch Puppen) in ıhr Nest. Im nächsten Jahre sah ich unter
den rubida auch einige Exemplare der viel kleineren laewinodis aus
den Eingangslöchern des Nestes kommen. — Es wäre wünschbar,
die Sache experimentell nachzuprüfen.
Further Explanatory Remarks Concerning the Normal
Rate of Growth of an Individual and its Biochemical
Significanee.
By T. Brailsford Robertson.
(From the Rudolph Spreckels Physiological Laboratory of the University of California.)
In a recent article!) Moeser has called in question the cor-
rectness of my representation?) of the autocatalytic character of
the growth-process. The chief objections which he raises are the
following:
A. According to my formula the maximum velocity of growth
(= yearly, daily or hourly inerement) occurs in the middle of the
growth-eycle. Moeser points out that this is, in actual experience,
frequently not the case.
B. My formula, according to Moeser, represents growth purely
as a function of time. He points out that it is also a function of
temperature, light, moisture ete. Since these factors are not without
effect upon growth, therefore, Moeser argues, it is not correct to
speak of growth as a simple autocatalytie process.
I will deal with these objections separately:
A. As examples of the fact that the maximum rate of growth
frequently does not oceur in the middle of a cycle, Moeser cites
measurements made by Sachs of the daily increment in the length
of a root of Vicia faba, of the elongation of three internodes of
Dahlia variabilis and of the elongation of four internodes of Fri-
tillaria imperialıs.
In this connection it appears necessary to point out:
a) that increments of length are very unsafe measures of
increment in mass, since the diameter of the body measured may
alter as well as the length, and, moreover, even if the diameter
remains constant, the specific gravity of the substance composing
the body measured may also alter from time to time. Now chemical
reaction-formulae deal solely with the relation of mass to time or
1) W. Moeser. Biolog. Centralbl., Bd. XXXII (1912), p. 365.
2) T. Brailsford Robertson. Arch. f. Entwicklungsmech., Bd. XX V (1908),
p- 581, Bd. XXVI (1908), p. 108. Biolog. Centralbl., Bd. XXX (1910), p. 316.
mi) Robertson, Further Explanatory Remarks Concerning ete.
temperature or mass, and consequently the autocatalytic formula
of growth can only legitimately be applied to the growth of mass.
b) Since, as Moeser very justly points out, temperature,
moisture, and a number of other factors have an influence upon
growth, and we usually possess little certainty all that of these factors
are maintained constant during the growth of a single individual,
it ıs safer, in order to eliminate fluctuating varıations due to these
uncontrolled varıables, to measure and average the growth of a
very large number of individuals, rather than to depend as Moeser
does, upon measurements made upon a single individual.
c) In order to avoid assuming that the maximum inerement
in growth oceurs at the middle of a growth-cyele (i. e. when the
total growth due to the cycle ıs half completed) Moeser suggests
the following modification of my formula.
The differential equation which expresses the progress of an
autocatalytie (monomolecular) reaction ıs the following:
—eKz Ace) er Dez
in which x is the mass which has undergone transformation (= growth)
at time tand A ıs the final mass which has undergone transformation
at the end of the reaction (1. e. the total growth at the end of the
growth-cycle).
Integrating, we obtain:
X
In- na
where © is the constant of integration.
In my derivation of the growth formula I proceeded as follows:
Since the value of © must be the same for all values of x let us
make x —=!/, A and let t, be the corresponding value of t, then
from equation (2) we have:
= KALI OS aa
KAt, .- BE ee re (3)
hence:
C=ereRAE RAT era)
and equation (2) becomes:
e
In Er ec aa ae)
Moeser, however, proceeds from equation (2) as follows:
When t=o let x=v, then when t=o we have:
el
hence (2) becomes?):
(A — V)x
In ey
RA A,)e 2 Be
3) For the constant A, Moeser employs the symbol V.
Robertson, Further Explanatory Remarks Concerning etc. 2
Moeser thinks that this equation is superior to my equation (5)
; dt
because, he believes, it avoids the assumption that 1 (daily
dt
inerement) is a maximum when growth is half completed (x=!/, A).
In this belief he is mistaken, however, as the following considera-
tions show:
Differentiating equation (7) we obtain:
dx
a B&aA-% Re ge (8)
which is identical with equation (1).
Differentiating again we obtain:
d’x 3
dx ’
hence ir is zero when x = !/,A, and for that and all values
d’x. - Re E i I
of X og 38 negative, hence p 5 a maxımum when? x 2, A):
Consequently Moeser’s equation involves, just as much as
mine does, the assumption that the rate of growth is a maxımum
when the growth-ceycle is half completed. Now it is to be recol-
lected that, especially when we rely upon observations upon the
growth of a single individual, any single measurement may chance
to be erroneous, and if we incorporate into our equation such a
measurement our equation will also be erroneous. In employing
my equation it is possible to eliminate this source of error to the
greatest possible extent, for K and t, are determined, not from
any single observation but from all of the observations by the
method of least squares. By employing this method the + errors
attaching to certain observations are cancelled by the — errors
attaching to others and the constants thus computed, as all physicists
know, are much more nearly ideally correct that constants computed
from single observations. In employing Moeser’s equation, how-
ever, we are forced to rely absolutely upon the accuraey of a sıngle
observation, namely, the measurement of the length, volume or
weight when t=o, and then, if this observation should chance to
be erroneous (owing to the intrusion of adventitious variables such
as fluctuations of temperature etc.) the whole equation will share
in the error and the experimental results may not fit the equation
at all owing to a single experimental error.
Moeser states that „Die Robertson’sche Interpretation der
autokatalytischen Formel ist direkt falsch. Daher ist es nicht
wunderbar, dass seine Zuwachswerte manchmal um die Hälfte von
4) ©. J. Todhunter „Differential Culeulus“ 7th Edn. London 1875, Chapter 13,
32 Robertson, Further Explanatory Remarks Concerning etc.
den wirklichen abweichen.“ This statement contains two inaceuracies.
In the first place my interpretation of the autocatalytie formula is,
as we have seen, correct and identical with Moeser’s while my
employment of it ıs accurate in principle and Moeser’s is not. In
the second place in all cases in which I have stated that the
autocatalytic formula certainly applies the deviations between theory
and experiment never exceed 20°/, and are in almost every instance
much less than this. This is especially true when the data are
derived from the average of a large number of individual measur-
ements. The large deviations to which Moeser refers occeur in
cases to which, as l have expressly pointed out in each of the
articles to which I have referred, the autocatalytic formula
does not apply. In fact I refer to these deviations as direct
proof that the formula does not apply. It appears necessary once
more to reiterate my statement that the autocatalytie growth-formula
does not apply in the following instances:
1. To the decrease of weight which occurs in senile decay,
from which Loeb‘*) and I have argued that the processes underlying
senile decay are essentially different from those which underlie
growth.
2. To the growth of the Mineral Content of plants. This
has recently been confirmed by Chodat and Monnier?) who have
shown that it is due to the fact that at certain periods in the
growth of plants there is a „negative Migration“ of mineral constit-
uents from the plant into the soil.
In passing I wish to correct yet a third mis-statement made
by Moeser. He asserts (p. 370), without citing any article, that I
have employed two autocatalytic curves to represent the complete
curve of muscular contraction, the one representing tbe ascending
portion of the curve, the other the descending portion of the curve.
I have never done so and in no publication have I attempted to
apply the autocatalytie formula to the curve of muscular contraction.
I have, it is true, ventured to assert that autocatalytie processes
underlie muscular contraction”), but I cited, in support of this
view, not the form of the curve of muscular contraction, but the
fact that muscular contraction is rendered more energetic by
perfusing the muscle with a weak solution of the products of
muscular activity, and less energetic by perfusing it with a stronger
5) J. Loeb. „Die chemische Entwicklungserregung des tierischen Eies“.
Berlin 1909, p. 246.
6) R. Chodat and A. Monnier. Arch. d. Sciences physiques et naturelles.
Soc. de physique et d’histoire naturelle de Gentve. 4we Ser. tome 33, p. 101 (1912).
7) T. Brailsford Robertson. “On the Biochemical Relationship between
the ‘Staircase phenomenon and Fatigue”. Festband der Biochem, Zeitschr. f.
H. T. Hamburger, 1908, p. 287.
Robertson, Further Explanatory Remarks Concerning etc. 33
solution of the same products. I have expressly refrained from
attempting to apply the autocatalytic formula to the curve of
muscular contraction because I am of the opinion that the time-
relations in muscular contraction are determined by changes of
capillarity and by the elastieity of the muscle-elements rather than
by the chemical reactions which underlie and cause these changes®).
It must be recollected, yet again, that the autocatalytic formula
expresses a relationship between mass and time and that before
attempting to apply it to a relationship between length and time
we must first ascertain that the observed changes in length are
directly proportional to changes in the mass of some chemical
product. Now we have no proof whatever that during the course
of a single muscular contraction the shortening of the muscle is
directly proportional to the mass of carbohydrate which is trans-
formed into CO, and H,O or other products. Until we possess
such proofs, any attempt to apply the autocatalytic formula to
curves of museular contraction is of very doubtful utility. In ap-
plyıng the formula to growth, on the contrary, we have in the
weight of the animal or plant a direct measure of the mass of
the products of the chemical reactions underlying the process. The
application of the formula to growth in weight is therefore
rational.
B. Moeser, as I have stated, raises the further objection that
the autocatalytie reaction-formula expresses only a relation between
mass and time and fails to incorporate the influence of tempera-
ture, moisture, etc. It ıs for this reason, he asserts, that the
deviations between the autorcatalytic curve and the empirical eurve
oceur. I do not question that this is the case, but it may be
pointed out that it is also the case in all chemical reactions. In
ascertaining the relationship between mass and time in a chemical
transformation we endeavor to keep such factors as temperature,
pressure, etc. constant. If the temperature varies, the velocity
of the reaction varies, and, in fact Karl Peter and I°) have utilised
the fact that growth is accelerated by a rise of temperature in
support of the view that the velocity of growth is determined by
the velocity of a chemical reaction !%). But because an autocatalytie
chemical reaction is accelerated by a rise of temperature, it does
not cease to be an autocatalysed chemical reaction and to display
the characteristic time-relations of an autocatalysed reaction at a
8) T. Brailsford Robertson: “Remarks on the Theory of Protoplasmie
Movement and Excitation”. Quarterly Jour. of Exper. Physiol. 2 (1909), p. 303.
Cf. also T. Bernstein. Arch. f. d. ges. Physiol. 122 (1908), p. 129.
9) K. Peter. Arch. f. Entwicklungsmech., Bd. 20 (1906), p. 130.
10) T. Brailsford Robertson. Arch. f. Entwicklungsmech.. Bd.25 (1908),
p- >81.
XXXII. | 3
34 Woodruff, Dreitausend und dreihundert Generationen von Paramaecium ete.
given constant temperature. In order to obtain a reliable comp-
arıson between the empirical growth curve and the autocatalytie
curve, we must so far as possible exclude such adventitions var-
iables either by taking the average of a very large nwmber of
observations, or by keeping the conditions of temperature, moisture,
supply of nutrition, etc. under which the organism is growing as
strictly constant as possible.
Dreitausend und dreihundert Generationen von
Paramaecium ohne Konjugation oder künstliche Reizung.
Von Prof. Lorande Loss Woodruff, Ph. D.
(Aus dem Sheffield Biologischen Laboratorium der Yale Universität, New Haven,
Conn., U. S. A.)
Die einzelligen Organısmen bieten eine natürliche Methode dar,
dem Problem der Befruchtung näher zu kommen; die Durchmuste-
rung der in einer Reihe sorgfältig ausgeführter experimenteller
Studien von verschiedenen Forschern an diesen Formen gewonnenen
Tatsachen zeigt, dass die wichtigste Aufgabe der Konjugation bei
den Protozoen die Erfüllung eines unausbleiblichen periodischen
physiologischen Bedürfnisses der lebendigen Substanz ist, die eine
Erneuerung der Lebenskraft der Zelle zur Folge hat. Diese „dyna-
mische“ Ansicht der Befruchtung hat sich allmählich eine herrschende
Stelle erobert, obwohl sie der Ansicht, dass die Befruchtang, die
mit einer Amphimixis endet, in irgendeiner Weise mit dem Phä-
nomen der Variation verbunden oder ein Prozess ist, wodurch
einige Formen veränderten äußeren Umständen widerstehen können,
weder widerspricht, noch mit ihr übereinstimmt.
Die vorliegende Abhandlung zeigt kurz die Resultate eines
intensiven Studiums einer von einem bekannten Stamm herge-
kommenen Rasse von Paramaecium aurelia ın bezug auf das Pro-
blem des protoplasmatischen Alterns und die Funktion der Kon-
jugation. Ich habe die bis zum September 1910 gewonnenen
Resultate schon publiziert!) und mit Rücksicht auf die genauen
Einzelheiten der Kultur und die allgemeine Diskussion der ver-
schiedenen Phasen der Arbeit verweise ich auf meine frühere
Abhandlungen.
Diese Kultur wurde am 1. Mai 1907 mit einem „wilden“ aus
einem im Laboratorium stehenden Aquarium isolierten Paramaeceium
aurelia angefangen. Dieses Individuum wurde ın etwa fünf Tropfen
Kulturmedium auf einem vertieften Objektträger aufgestellt und als
das Tier sich in vier Individuen geteilt hatte, wurden diese
vier je eines auf einem Objektträger isoliert, um die vier Linien
1) Arch. f. Protistenkunde, Bd. 21.
Woodruff, Dreitausend und dreihundert Generationen von Paramaeeium ete. 35
Ia, Ib, Ic und Id dieser Kultur zu geben. Diese Kultur ıst bis
heute durch die Isolierung eines Tieres ungefähr jeden Tag aus
jeder von diesen Linien erhalten. Diese Methode macht es auf
ders einen Seite unmöglich, dass Konjugation vorkommen kann
und macht es auf der anderen, leicht ein genaues Protokoll der
Zahl der Generationen zu führen. Eın Kulturmedium von Heu
und grünem Gras wurde während der ersten 9 Monate gebraucht,
nachher Extrakte von allerlei Stoffen, die man in Teichen, Sümpfen,
u. s. w. findet. Das Medium wird gekocht um die Einführung
wilder Individuen in die Kultur absolut unmöglich zu machen.
Diese Rasse von Paramaecium hat bis jetzt (den 1. Nov. 1912)
während der 5!/, Jahre, die sie unter täglicher Beobachtung ge-
wesen ist, 3340 Generationen erzeugt. Die Zahlen der in jedem
der ersten 5 Jahre ihrer Existenz erreichten Generationen sind
folgende: erstes Jahr 452, zweites Jahr 690, drittes Jahr 613,
590 1000 1500 2000 2500
ae
T an Jan Jan an
1907 1908 1909 1910 1911 12
Fig. 1. Paramaecium aurelia (Rasse I) vom Anfang der Kultur am 1. Mai 1907
bis zur am 1. November 1912 erreichten 3340. Generation. Die Ordinaten zeigen
die durchschnittliche tägliche Teilungsschnelliskeit der vier Linien der Kultur, für
jeden Monat durchschnittlich ausgearbeitet, während der Lebensdauer der Kultur
bis zur Gegenwart. Die Zahlen 500, 1000, 1500, u. s. w. stellen die Nummer der
Generationen vor und stehen über den Monaten in denen sie erreicht worden waren.
viertes Jahr 612 und fünftes Jahr 662. Die Durchschnittsgeschwindig-
keit der Teilung der ganzen Periode ist mehr als drei Teilungen
pro 48 Stunden. Perioden von auffallender physiologischer Schwäche
sind nicht vorhanden gewesen, alle Variationen der Teilungsschnellig-
keit, die vorhanden gewesen sind, waren entweder normale Rhythmen
oder rührten von äußeren Veränderungen der Temperatur oder des
Kulturmediums her (Fig. 1). Die Organismen der jetzigen Gene-
rationen sind ebenso normal in ihren morphologischen und physio-
logischen Verhältnissen wie das originale „wilde“ Individuum, das
als Ausgangstier der Kultur isoliert wurde.
Diese Untersuchung hat uns gezeigt, dass, unter gün-
stigen äußeren Umständen, das Protoplasma der zuerst
isolierten Zelle mindestens die Potenz hatte, ähnliche
Zellen bis zu einer Zahl von 2°%° und eine Masse Proto-
plasma von mehr als 10'!%0mal der Masse des Erdballes
zu erzeugen. Dieses Resultat, glaube ich, bestätigt un-
zweifelhaft die Annahme, dass das Protoplasma einer
36 Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur ete.
einzigen Zelle unter günstigen äußeren Umständen ohne
Hilfe von Konjugation oder einer künstlichen Reizung
imstande ist, sich unbegrenzt fortzupflanzen und zeigt
ferner ın klarer Weise, dass das Altern und das Befrwch-
tungsbedürfnis nicht Grundeigenschaften der lebendigen
Substanz sind.
Das „Syncellium“ als dominierende zelluläre Struktur
des tierischen Organismus.
(Dem Andenken Theodor Schwan’s gewidmet.)
Von A. Leontowitsch (Kiew).
Inhaltsübersicht.
[een
. Einleitung.
2. Grundideen und Definitionen zur Syncellientheorie.
3. Wie weit sind die Tatsachen, die als Grundlagen der Syncellientheorie dienen,
zuverlässig?
4. Wo ist ein Syncellium zu suchen, das als Typus dienen kann?
5. Einzelne auf Grund der obigen Darstellungen unterscheidbare Syncellienarten.
6. Das Leben des Syncelliums.
. Andere Fälle, in denen die Syncelliennatur der Strukturen weniger augen-
scheinlich ist.
8. Die Syncellientheorie in ihrem Verhältnisse zur Lehre von der Zelle als von
einem elementaren Organismus.
9. Das Verhältnis der Syncellientheorie zur Theorie der Gewebe.
10. Das Verhältnis der Syncellientheorie zur Symplasttheorie.
11. Das Verhältnis zu den Sachs’schen Energiden.
12. Schlussfolgerungen.
13. Die Lehre von den Geschwülsten im Lichte der Syncellientheorie.
14. Nachwort.
1. Einleitung.
Es ist noch gar nicht so lange her, dass in der Biologie die
Theorie herrschte, dass der tierische Organismus aus einzelnen ab-
gesonderten Zellen besteht; wir sagen nicht zu viel, wenn wir be-
haupten, dass im Vordergrunde des wissenschaftlichen Denkens des
Histologen die Tendenz obwaltete, in jedem einzelnen Falle die
Grenzen dieser Zellen mittels der Methode der Silberimprägnation
unstrittig festzustellen.
Gegenwärtig befinden wir uns wohl in einer entgegengesetzten
Richtung wissenschaftlicher Entwickelung: allgemein merkt man,
dass sich ein größeres Interesse dem Studium solcher Strukturen
zuwendet, mit Hilfe derer einzelne Zellen einer oder sogar ver-
schiedener Gewebearten miteinander verbunden sind, wobei als Auf-
gabe der Forschung das Bestreben gilt, den Beweis zu erbringen,
dass die Zellreihen untrennbar miteinander verbunden sind!). Die
1) So spricht schon Oscar Schultze auf der XXV. Versammlung der
deutschen anatomischen Gesellschaft (16. April 1911) unter allgemeiner Zustimmung
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete. 37
vorliegende Arbeit soll sich mit einigen allgemeinen Fragen und
Ideen befassen, die im Zusammenhang mit dieser neuen Richtung
auftauchen. Es scheint uns aber durch die Besonderheiten dieser
Fragen geboten, unserer eigentlichen Arbeit einige allgemeine Be-
trachtungen vorauszuschicken.
Unseren Gedankengang erlauben wir uns in einer Weise dar-
zustellen, die von der in der Biologie üblichen abweicht.
In der Biologie wird bekanntlich nur mit der Methode der
unmittelbaren Induktion gearbeitet, der Methode der Verallgemeine-
rung der Tatsachen nach einem Verfahren, wie es etwa ın der
Mathematik angewandt wird, wenn man den gemeinschaftlichen
Faktor der einzelnen Glieder eines Polynoms aus der Klammer
bringt. Im Grunde bedeutet das, dass man mit großer Vorsicht
an die merkwürdige Fähigkeit des menschlichen Verstandes heran-
zugehen pflegt, die Intuition heisst, und die oft in wunderbarer
Weise solche Tatsachenreihen vereinigt und verallgemeinert (.„er-
'klärt“), die ohne sie gesondert und voneinander unabhängig er-
schienen.
Jedes vollständige Wissen besteht jedoch aus Produkten einer
„weifachen Tätigkeit des menschlichen Verstandes.
Die erste Art (1) besteht ım der Sammlung und Anhäufurg
immer neuer Tatsachen „ohne jede voreingenommene Idee*,
die zweite Art (2) zerfällt natürlicherweise in zwei Unterarten:
A. Intuitive Feststellung von „Gesetzen“, d. h. Methoden der
Verbindung („Erklärung“) dessen, was unter 1 bezeichnet ist;
B. Durchsicht, Prüfung, Verbesserung und Erweiterung des-
selben Materials unter dem wohltätigen leitenden Einflusse vorein-
genommener Ideen der Unterart A.
Für die Zwecke der wissenschaftlichen und sonstigen Tätigkeit
ist es jedoch nicht immer notwendig, beide Tätigkeitsarten funk-
tionieren zu lassen: sehr häufig genügt auch in der Biologie die
unter 1 bezeichnete.
In der Tat bietet ein einzelnes Resultat wissenschaftlicher For-
schung, das gar keine allgemeine Idee repräsentiert, zuweilen großes,
ja packendes Interesse; so ist z. B. ein solches im Grunde verein-
zeltes Forschungsresultat, wie das Ehr lic h’sche 606, für die Mensch-
heit nicht minder wertvoll als die Lösungsgesetze von Arrhenius
und Vant’hoff.
Gewöhnlich liegen die Ziele der wissenschaftlichen Forschung
in der Art 1 und der Unterart B. So gehört zu den bevorzugten
von der „Kontinuität der Muskelfibrillen und der Sehnenfibrillen.““ Siehe Ergänzungs-
heft zum XXXVIII. Bd. des anatomischen Anzeigers, S. 65. Arch. f. mikr. Anat.
Bd732.7 282 70!
Dasselbe behauptet über denselben Gegenstand Kolossow auf der Versamm-
lung russischer Naturforscher und Ärzte in Moskau (Januar 1911).
38 Leontowitsch, Das ‚„Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
Aufgaben des Zoologen das „unvoreingenommene“ Studium der ver-
schiedenen Organe des Organismus in ihrer embryonalen Entwicke-
lung (Art 1) oder das „voreingenommene“ Studium verschiedener
Seiten (der Strukturen oder der Tätigkeiten) des Organismus, die
vom Standpunkte der Darwın’schen Theorie besonderes Interesse
erregen (B der Art 2)?).
Am seltensten und ungewöhnlichsten ist ein wissenschaftliches
Studium ın der Naturwissenschaft nach Unterart A. Man darf
sogar behaupten, dass sich die moderne Biologie gegen diese Art
mit etwas übertriebener Vorsicht verhält. Nichtsdestoweniger scheint
uns jetzt der Moment gekommen, wo das Bedürfnis nach der For-
mulierung einiger allgemeiner neuer Ideen der Zellehre reif ge-
worden ist.
Nicht neu ist es eigentlich, dass die Vorstellung von dem oder
jenem Gewebe zu der üblichen Vorstellung von der Zelle als von
einem abgesonderten, innerhalb des Organismus existierenden, einem
„elementaren lebenden Organısmus“, gar nicht passt. Sowohl in
bezug auf embryonale Gewebe wie auch in bezug auf Gewebe des
ausgewachsenen Organısmus sind Fälle angeführt worden, in denen
nicht einzelne Zellen, sondern unzertrennbare Zellkonglomerate,
Syneytien vorlagen, wobei jedoch die Forscher, die das konstatierten,
es ın jedem einzelnen Falle als vereinzelte Tatsache betrachteten.
Soweit ich übersehen kann, stammt die erste derartige Be-
hauptung von Lawdowski°), und zwar bezieht sie sich auf quer-
gestreiftes Muskelgewebe. Im Jahre 1884 behauptet er mit voller
Bestimmtheit, dass jede Muskelfaser ein Synceytium darstelle, und
versucht auch den Bau der Nervenfaser vom selben Standpunkt
aus zu erklären.
In ihrer allgemeinsten Form ıst die Frage der Unzulänglichkeit
der herrschenden zellulären Theorie des Baus der Organismen von
Rauber gestellt worden, diesem unentwegten Hüter der heiligen
Flamme der allgemeinen Ideen in der Wissenschaft, der in unserer
Zeit, in der auch erstklassige Gelehrte ihr Interesse hauptsächlich
dem Studium verschiedener Details der Naturforschung zuwenden,
eine seltene Erscheinung bildet. Rauber und Heitzmann be-
trachten den Organismus als etwas Unzertrennbares, als „Symplast*.
Das Wertvolle einer solchen Anschauung liegt jedoch mehr in der
Anerkennung der Unhaltbarkeit der gangbaren zellulären Theorie,
und nicht so sehr ın der Feststellung einer neuen ldee, deren
2) Hier soll nicht der Begriff einer „voreingenommenen Idee“ im oben geschil-
derten Sinne mit einer gewöhnlich verstandenen voreingenommenen, d. h. einer
individuell beliebten, häufig ohne Grund oder aus Gründen, die mit der Wissen-
schaft nichts gemein haben, bevorzugten, verwechselt werden.
3) Militärmed. Journal 1884, Dezember (russisch).
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. 30
Einzelheiten an und für sich einige dunkle Punkte der Biologie
erhellen könnten.
Gleich nach diesen Autoren muss A. Sedgwick*) genannt
werden, der die Unzulänglichkeit der zellulären Theorie des Baus
des Nervengewebes im embryonalen Leben in bestimmter Weise
hervorhebt: Dieser Forscher fand, dass bei den Embryonen der
Elasmobranchien „the separate cells have no existence at all“ und
dass sich viele Nerven aus Syneytien entwickeln. Um das Jahr 1900
herum findet man schon Ansichten über die syneytiale Natur ver-
schiedener Gewebe, die — wie das aus den hier später anzuführen-
den Literaturangaben zu ersehen ist — mit viel größerer Bestimmt-
heit ausgesprochen werden.
Gelegentlich des Studiums der Innervation der menschlichen
Haut nach dem Verfahren der vitalen Methylenblaufärbung ihrer
Nerven mittels einer besonderen Modifikation sowohl der Färbungs-
wie der Fixationsmethode hatten wir uns etwa um dieselbe Zeit
auch persönlich mit dieser Frage zu beschäftigen. Ich schrieb
darüber damals folgendes’): „Da das Nervensystem einen Teil des-
jenigen Körpersystems bildet, das hauptsächlich zur funktionellen
Verbindung vieler Elemente dient, so zeigt es im noch größerem
Maße als andere Gewebe eine Neigung zur Bildung von Syneytien,
die etwa mit einzelnen Muskelfasern zu vergleichen sind.“
Im Jahre 1905 wurde die Idee der Syncytien des Nerven-
systems (und zwar in den Nervennetzen der Froschschwimmhaut)
von neuem von Oscar Schultze in vollständigerer Weise hervor-
gehoben‘). Das geschah — ebenso wie bei mir — unter dem
Druck der Notwendigkeit, Tatsachen zu erklären, die in den ge-
4) On the Inadequaey of the Cellular Theory of Development, and on the
Early Development of Nerves, particularly of the Third Nerve and of the Sym-
pathetic in Elasmobranchii. Quarterly Journ. of wier. science, vol. 37, 1895, p. 87.
5) Internationale Monatsschrift f. Anatomie und Physiol. Bd. XVIII, S. 136.
Meine Methoden wurden einige Male von dem bekannten Methylenblaukenner
Dogiel sehr ungünstig beurteilt. Er hebt alle Mängel der Methode — auch die bei
richtiger Handhabung nicht vorhandenen — sehr scharf hervor und sieht keinen
einzigen Vorzug. Auch ich leugne gar nicht die Mängel, deren es vielleicht nicht
viel weniger als bei der gewöhnlichen Ammoniummolybdatbehandlung gibt. Ich
behaupte jedoch, dass nur durch die Vorzüge der Methode die auf den ersten Blick
sonderbaren Ergebnisse meiner Arbeit erklärt werden. Dogiel hat sehr viele Ar-
beiten veröffentlicht, und doch ist in keiner von ihnen eine Zeichnung zu finden,
die durch Nachfärbung erträglich gefärbt wäre, während sich das durch meine Modi-
fikation mühelos erreichen lässt. Die Färbung der Nervenvarikositäten vollzieht
sich mit solcher Gleichmäßigkeit und Feinheit, wie das bei keiner anderen Methode
gelingt. In jener Arbeit hatten sich höchst unangenehme Fehler beim Nummern-
hinweis in bezug auf die Figuren eingeschlichen. Diese Druckfehler sind in der
Internat. Monatsschr. Bd. XXIII, S. 8, Fußnote, aufgezählt.
6) Schultze. Beitrag zur Histogenese des Nervensystems etc. Arch. f. mikr.
Anat. u. Entwickel. Bd. LXVI, S. 106. 1905. Ramon j Cajal. Die histogenetischen
Beweise der Neuronentheorie von His und Forel. Anat. Anz., Bd. XXX, S. 143. 1907.
40 Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete.
wöhnlichen Rahmen nicht hineinpassen wollen. Er schreibt: „Meine
Mitteilungen beweisen unwiderleglich, dass die embryonale, mark-
lose sensible Faser nichts anderes ist als ein Vielheit von Zellen
oder ein aus typischen Neuroblasten hervorgehendes Syneytium,
das nicht etwa durch sekundäre Verschmelzung von Zellen, sondern
durch kontinuierliche Erhaltung interzellulärer Verbindungen nach
vorausgegangener mitotischer Kernteilung entsteht: die morpho-
logische Kontinuität der Bausteine ist dem peripheren Nerven-
system angeboren. Diese Bausteine werden peripher — ebenso wie
zentral — als Neuroblasten zu bezeichnen sein. Sie sind die mark-
bildenden Elemente. Besondere markbildende Zellen, welche sich
frei ausgewachsenen Fasern sekundär auflagern und diese umscheiden,
sogen. Schwann’sche Zellen, gibt es nicht. Soweit die peripheren
Neuroblasten zu Teilen der Nervenfasern werden, tritt ihr Kern
bei der Markbildung an die Peripherie — an die Innenfläche der
Zellmembran oder des Neurilemmas.“
In den Ausführungen A. Schultze’s entbehrte ein wichtiger
Punkt, nämlich die Frage über die den Bestandteil des Syncytiums
bildenden „Zellen“ der völligen Klarheit: Schultze spricht von
ihnen als von Neuroblasten. Diese Unklarheit veranlasste ihn ım
XXVI. Bande des Anatomischen Anzeigers (Nr. 22, 23), in seinem
Artikel „ein die sogen. Schwann’schen Zellen betreffender Vor-
schlag“ auszuführen, dass „die Neurilemkerne histogenetisch Faser-
bildungszellen oder Nervenfaserzellen darstellen und den sogen.
Sarkolemmkernen analog sind.“
In meiner Erwiderung darauf führte ich 1906”) aus, dass weder
das Wort „Neuroblast“, noch der Ausdruck „Nervenfaserzelle* oder
„Faserbildungszelle“ den betreffenden Begriff richtig wiedergeben.
„Es ist passender, das ‚Kind‘ nicht Neuroblast, sondern allgemeiner
‚Syneytozelle‘ zu taufen, zum Zeichen dafür, dass eine überzeugende
Grenze zwischen derartigen Zellen sich nicht feststellen lässt...
Die Benennungen ‚Ganglienzelle‘, Nerven,zelle u. a. m. können
daher im wesentlichen nur bedingt gebraucht werden, denn alle
diese Zellen sind ja Syneytozellen. Die auf Feststellung einer
Grenze zwischen diesen Zellen gerichteten Versuche werden stets
wenig überzeugend bleiben, und darin haben unsere Gegner voll-
kommen recht. Die Ranvier’schen Einschnürungen bilden keine
Grenze zwischen den einzelnen ‚Nervenzellen‘; diese Gebilde sind,
ebenso wie die Lantermann’schen Inzisuren und vieles andere im
Bilde dessen, was Anlass zur Unterscheidung des ‚Neurons‘ gegeben
hat, Tatsachen derselben Ordnung, wie die äußere Körperform des
Tieres.“ An derselben Stelle sage ich weiter oben: „Hier stoßen
wir auf eine Erscheinung, die sowohl in der Biologie überhaupt,
7) „Etwas über Neurilemkerne.“ Anat. Anz, Bd. XXVIII, S. 442.
Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur ete. A
+
als auch speziell ın der Histologie der höheren Tiere noch unge-
nügend aufgeklärt ist — die syncytialen Zellenkonglomerate — eine
Erscheinung, die im wesentlichen nahezu allen Körpergeweben
gemeinsam zukommt.“
Im Jahre 1905 versuchte ich auf dem zweiten Kongress russischer
Psychiater®) die Ansichten über das „Neuron“ und die Prinzipien
des Baus des Nervensystems zusammenzufassen, die mir damals
— ebenso wie jetzt — unanfechtbar schienen. Von anderen Ver-
suchen einer Formulierung der Antineuronideen unterschied sich
meine Darstellung dadurch, dass darin die Ansichten über die Syn-
cytien resp. Syncellien, von denen hier die Rede sein soll, in ganz
bestimmter Weise ausgeprägt waren. Nach diesen Ansichten sind
das „Neuron“ so wie die Strukturen, die ich als Remak’sche Netze
bezeichne, als verschiedene Formen der Syncellien zu betrachten.
Weiter unten werden wir darüber eingehender zu sprechen haben.
Schon damals stellte ich in noch bestimmterer Weise den Satz
auf, dass alle Gewebe aus Syncytien bestehen. „Von vielen
Forschern sind im Epithelgewebe Fibrillen beschrieben, die viele
einzelne Zellen durchdringen und miteinander verbinden ( Unna u. a.).
Im Bindegewebe finden wir Zellennetze, wie das adenoide Gewebe,
und mehr oder minder zahlreiche durch Reagenzien leicht entfern-
bare Zellen, die „auf mit Scheiden umgebenen Bündeln kollagener
Fibrillen sitzen“, wie das gewöhnliche, lockere und feste, geformte
Bindegewebe. Im Muskelgewebe haben wir die quergestreifte Faser,
die aus Fibrillen einer Membran und Kernen mit Protoplasma be-
steht. Die Bildung von Syneytien ist demnach im Organismus
allen Geweben eigen. Den Fibrillen, die nach ihrer chemischen
Zusammensetzung und ihren morphologischen Eigenschaften, je nach
dem Charakter der Gewebe, verschieden sind, fällt in hervorragender
Weise die Rolle zu, die Zellen miteinander zu verbinden. Gegen-
wärtig wird nur in dem Nervengewebe, einem koordinierenden Ge-
webe par excellence, von den Anhängern der Neuronentheorie die
Syneytienbildung geleugnet.“
Beschäftigen wir uns aber zunächst mit anderen Gewebearten.
Was das Bindegewebe betrifft, so hat die Frage der Syncytien-
bildung in demselben bereits ihre Geschichte. Soweit mir bekannt
ist, war Moll?) der erste, der die Frage der syneytialen Natur des
adenoiden Gewebes der Lymphdrüsen anregte. Besonderes Inter-
S) Arbeiten des II. Kongresses vaterländ. Psychiater (Kiew, 4. Sept. 1905),
S. 270 (russisch). In extenso ist die Arbeit im Korsakow’schen Journal (Jahrg. 1907;
russisch) unter dem Titel „In welcher Richtung soll die Lehre vom Nervensystem
reformiert werden ?“ abgedruckt worden.
9) Das retikuläre Gewebe. Abhandl. d. Sächs. Gesellsch. d. Wissensch. 29,
Math. Phys. Kl. 17.
42 Leontowitsch, Das ‚‚Syncellium‘ als dominierende Struktur ete.
esse beanspruchen folgende von Spalteholtz!?) bei der Untersuchung
verschiedener Bindegewebsformen gewonnenen Tatsachen (die bei
Rhode noch nicht zitiert werden). Doch lassen wir Spalteholtz
selbst sprechen: „Die Fasern (von Lig. nuchae, nach Spalteholtz
gefärbte Querschnitte) stecken also ın einem vollständigen oder
jedenfalls fast vollständigen Schlauch von Protoplasma, dem zahl-
reiche Kerne eingelagert sind; und dieses Zellsyneytium ist identisch
mit demjenigen, in welchem die elastischen Fasern gebildet worden
sind. Meiner Ansicht nach geben also die elastischen Fasern des
Lig. nuchae bis zu ihrer vollen Entwickelung die ursprünglichen
Beziehungen zu ihren Bildungszellen nicht auf; sie entstehen intra-
zellulär und bleiben auch später vollständig oder wenigstens in der
Hauptsache intrazellulär.“
„An Querschnitten von der Aorta ascendens des Kalbes sieht
man jede elastische Platte ıhrer ganzen Länge nach an beiden
Seiten von einer verschieden dicken Protoplasmaschicht überzogen,
welchen von Strecke zu Strecke Kerne eingelagert sind, und man
erkennt, dass dieser dünne Protoplasmamantel da, wo sich zwei
Fasern teilen, bis in den Grund des Teilungswinkels hineinreicht.“
In betreff der kollagenen Fasern heisst es: „An feinen Querschnitten
der Sehnen des Schwanzes der erwachsenen Maus sieht man nicht
nur die bekannten Sehnenzellen mit ihren Ausläufern, sondern er-
kennt auch, dass diese Ausläufer zahlreicher sind, als man bisher
angenommen, und dass sie nicht nur miteinander anastomosieren,
sondern auch mit einer feinen Protoplasmaschicht zusammenhängen,
welche das sogen. sekundäre Bündel ununterbrochen überzieht und
welcher Kerne eingelagert sind.“ Dieselben Verhältnisse hat er
am Bindegewebe in verschiedenen Körperteilen verfolgen können.
Eine gute Illustration zu der Arbeit von Moll und zum Teil
auch zu der von Spalteh.oltz liefert die kleine ArbeitMorjachin’s!!).
Nach seinen Untersuchungen (Methoden von Bielschowski und
Timofejew) besteht das retikuläre Gewebe der Lymphdrüsen aus
Zellen, in deren Protoplasma Fibrillen liegen, die den kollagenen
ähneln, sich von diesen aber doch durch das Verhalten gegen Färbe-
reagenzien unterscheiden. Morjachin schreibt ihnen daher eine
Zwischenstellung zwischen kollagenen und elastischen Fasern zu.
„Die Fasern liegen intrazellulär, gehen von einer Zelle in andere
über und befinden sich innerhalb ıhrer anastomosierenden Ausläufer“
(siehe Fig. 1).
Im Jahre 1908 veröffentlichte E. Rhode seine histogenetischen
Untersuchungen (I, Syneytien, Plasmodien und histologische Diffe-
10) Anat. Anz. Bd. XXIX, Ergänzungsh. S 213, 214 u. 216.
11) Sitzungsprotokolle der Petersb. Kaiserl. Naturforschergesellschaft. Bd. 53,
Lief. I, S. 203 (1910). Die Arbeit ist bei A. Dogiel ausgeführt.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. 4:
wu
renzierung), in denen er die Frage nach der Zusammensetzung aller
tierischen Gewebe aus Syncytien, als erster und ganz unabhängig
von anderen Autoren, an verschiedenen Geweben eingehend studiert.
Rhode unterscheidet überall in ganz bestimmter Weise zwei der-
artige Gebilde: Plasmodien und Syneytien. Er muss daher viel
Mühe aufwenden, um in jedem einzelnen Falle festzustellen, was
dort vorliegt und mit welcher Embryogenese der betreffenden For-
mation er es zu tun hat. Eine solche Fragestellung kann natürlich
nur als richtig anerkannt werden, sie zwingt aber den Forscher,
sich auf verschiedene Details der Frage
zu konzentrieren, während es doch ım
gegenwärtigen Moment am wichtigsten
ist, die allgemeinen Ideen der Konstruk-
tion der Gewebe festzustellen. In seiner
Arbeit hat auch Rhode der dominieren-
den Richtung der modernen Biologie, ın
der man mehr mit Feststellung neuer
einzelner Tatsachen (Art 1 und Unterart
B der Art 2, s. S.37 u. 38), als mit der
Auffindung neuer allgemeiner Ideen (A der
Art 2) rechnet, seinen Tribut gezollt.
Weiß doch jeder von uns, den das
Schicksal vor die Notwendigkeit stellt,
diese Art der Tätigkeit anzuwenden, wie
schwer es ist, sich einigermaßen von
der Tradition zu befreien und zwischen
dem Forschen und Experimentieren Fig. 1.
einerseits und dem Denken andererseits @ — Fibrillen des retikulären
eine Grenze zu führen, um so mehr Be:
; i ’ b — Leukozyten (nach Mor-
als das eine mit dem andern eng ver- jachin).
flochten ist.
Die vortreffliche Arbeit Rhodes gibt uns eigentlich den ersten
Plan der Histogenese des Syncelliums in verschiedenförmigen Ge-
weben, und ich weiß nicht, was die Gegner unserer Ideen gegen
diese Argumentation erwidern können werden. Dafür beschäftigt
sich aber Rhode nur wenig mit der Anatomie und der Klassı-
fikation des Synecelliums. Und doch liegt die Sache so, dass die
Entstehungsart des Syncelliums für die Feststellung einer richtigen
zentralen Idee des Syncelliums!?) weniger wichtig ist als die Be-
obachtung verschiedener Details der Struktur und der Varietäten
des Syncelliums. Die Beleuchtung dieser von Rhode nicht ge-
nügend berührten Verhältnisse soll den Inhalt unserer Arbeit bilden.
Diese Aufgabe erschien uns um so gebotener, als die Struktur des
12) Siehe unten.
44 Leontowitsch, Das „Syncellium‘‘ als dominierende Struktur etc.
Nervensystems die uns interessierende Frage am besten beleuchtet,
während bei Rhode gerade das Nervensystem auf Grund solcher
Forschungsmethoden behandelt und illustriert wird, die den Neuro-
logen kaum imponieren können. Außerdem erforderten unseres
Erachtens einige strittige Fragen (über die Gruppe der Bindegewebe,
die Zuverlässigkeit der Syncellientheorie) mehr Beachtung und ein-
gehendere Behandlung.
Es ist noch hinzuzufügen, dass der Ausdruck Syncytium um
die Zeit von 1905-1907 populär wird und in der Literatur ziem-
lich häufig bei verschiedenen Gelegenheiten gebraucht wird, ohne
dass auf seinen Begriff eingegangen wird.
2. @rundideen und Definitionen zur Syncellientheorie.
1. Zelle.
2. Plasmodium, Syncytium, Syncellium, Syncellozelle,
Synecellit, Syncellon, Syncelloformit, Syncelloblast, Syn-
cellodegenerid.
Über Punkt 1 brauchen wir uns natürlich nicht auszulassen,
dagegen erfordert Punkt 2 eine nähere Betrachtung.
Unter Plasmodium versteht man gewöhnlich ein solches Ge-
bilde, das aus der Nachkommenschaft einer Zelle besteht, bei deren
Vermehrung keine vollständige Trennung vor sich gegangen ist:
die Kerne sind getrennt worden, das Protoplasma ist jedoch ge-
meinsam geblieben und weist — wie das häufig angenommen wird —
keine weitgehende Differenzierung auf.
Syneytium nennt man ein Gebilde, das seiner Morphologie
nach mit dem Plasmodium völlig identisch ist und sich nur dadurch
von ihm unterscheidet, dass es nicht als Produkt einer Zelle,
sondern durch Verschmelzung mehrerer Zellen zustande gekommen
ist, wobei diese letzteren sich ferner ebenso wie die Plasmodien
verhalten. Häufig wurde dem Syneytium auch ein sehr differen-
ziertes Protoplasma zugeschrieben. Man muss jedoch sagen, dass
auch sehr angesehene Biologen zuweilen das Wort Syneytium ge-
brauchen, um das zu bezeichnen, was aus einer Zelle hervor-
gegangen ist (s. O. Hertwig, Allgem. Biol., Jena 1906, S. 404).
Die Unterscheidung zwischen Plasmodium und Syncytium wurde
auch schon früher mehrfach gebraucht, ist auch bei Rhode durch-
geführt, und wir müssen mit ihr rechnen; sie ist auch zuweilen
nützlich und notwendig. Für die Zwecke unserer Arbeit ist sie
aber dadurch unbequem, dass sie stets nicht immer unstrittige histo-
genetische Fragen plötzlich wachruft, die für uns keine besondere
Bedeutung besitzen, während die Betrachtung der zentralen Idee
unserer Arbeit unnötig kompliziert wird, wenn „syneytiale“* Eigen-
schaften dem Plasmodium — oder umgekehrt — zugeschrieben
werden. Aus diesem Grunde hätte ich zur Bezeichnung des allge-
Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur ete. 45
meineren Begriffes, d. h. zur Bezeichnung dessen, was morpho-
logisch sowohl dem Plasmodium als dem Syncytium entspricht,
den neutralen Namen Syncellium vorgeschlagen. Hierbei lassen
wir die Abstammung von einer oder mehreren Zellen unberück-
sichtigt, wır erörtern nur das fernere Schicksal und verschiedene
Eigenschaften und Eigentümlichkeiten einer solchen zellulären Kon-
struktion und ignorieren eine Reihe von Fragen, die strittig sein
könnten, wenn man mit Plasmodium ein Syneytium — oder um-
gekehrt — bezeichnen würde. Das Wort soll natürlich vom griechi-
schen ovv und dem lateinischen cellula — deutsch Zelle — her-
geleitet werden (sit venia verbo!).
Einen dem Syncellium korrelativen Begriff bildet die Syn-
cellozelle oder einfach „Synzelle“, worunter der Teil des Syn-
celliums verstanden wird, den man ungefähr als Zelle betrachten
kann, ohne Rücksicht darauf, dass er nicht von andern ähnlichen
„Zellen“ abgesondert werden kann. So stellen eigentlich die ein-
zelnen „Zellen“ im Netze des adenoiden Gewebes ihrer Bedeutung
nach keine eigentlichen Zellen, sondern Syncellozellen dar; dasselbe
lässt sich von den Zellen sagen, aus denen das periphere Re-
mak’sche Nervennetz besteht und von andern mehr. Wir haben
es hier also nicht mit selbständigen Gebilden, sondern mit solchen
zu tun, die mit andern ähnlichen Zellen so sehr verknüpft sind,
dass sie nur dann Zellen genannt werden können, wenn man über-
einkommt, von dem Fehlen ihrer strengen Isoliertheit abzusehen.
Die hier soeben berührte Frage nach der Benennung der Be-
standteile des Syneytiums, resp. des Syncelliums, trat eigentlich
schon mehrfach bei verschiedenen Gelegenheiten — namentlich ın
der Neurologie — an den Biologen heran. Soweit mir bekannt
ist, tritt uns etwas Ähnliches zuerst bei Apäthy'*) im Jahre 1889
entgegen. Obgleich er sich zu den Anhängern der Zellentheorie
zählt, gebraucht er doch mit Vorliebe zur Bezeichnung der Bestand-
teile des Nervensystems statt des Wortes Zelle die Worte „Spindel“,
„Nervenspindel“, was nach seiner Erklärung soviel wie „spindel-
förmige Nervenzelle* bedeuten soll. Hier wird als Grundlage der
Terminologie die zufällige morphologische Charakteristik des Ge-
bildes, die Spindelform, gewählt. Das passte für die vom Autor
ins Auge gefassten Ziele, beansprucht aber keine allgemeinere Be-
deutung. Es will mir aber scheinen, dass darin schon eine viel-
leicht nicht ganz bewusste Unzufriedenheit mit dem unzulänglichen
üblichen Begriff der Zelle steckt. Im Jahre 1900 hatte ich einen
ziemlich misslungenen Versuch gemacht, dem Mangel des Begriffes
der Syncellozelle abzuhelfen. Für Teile der von mir in der mensch-
lichen Haut beschriebenen Remak’schen Netze sowie für die kern-
13) Biol. Centralbl., Bd. IX, S. 604—605. „Nach welcher Richtung hin soll
die Nervenlehre reformiert sein?“
46 Leontowitsch, Das ‚Syncellium‘ als dominierende Struktur etc.
haltıgen Telodendrien der markhaltigen Nerven und in vielen Fällen
auch für die „Schwann’schen Zellen“ der Nerven schlug ich ın
meiner russischen Arbeit!) den Namen „Neuroidzelle* vor. Der
Name ist deshalb unpassend, weil das Suffixum „oid“, das auf einen
Gegensatz zu dem, was früher darunter verstanden wurde, hinweist,
fälschlich dem Begriff Nerv und nicht, wie es erforderlich war, dem
Begriff Zelle angehängt wird. Das fiel mir bei der Übersetzung
in die deutsche Sprache auf und ich ersetzte den Ausdruck „Neuroid-
zelle* ebenfalls unpassend durch den ın der oben zitierten Arbeit von
Apäthy eingeführten Terminus „Nervenzelle“, worunter ein Gegen-
satz zur „Ganglienzelle* verstanden werden sollte. Unpassend ist
der Ausdruck deshalb, weil ich mir den Nerv nicht als Kette solcher
Zellen, als „Zellenkette“, sondern als sehr kompliziertes Syncellium
vorstellte. Diese Terminologie war für mich also unbrauchbar und
führte zu Missverständnissen, da ich einerseits das Syneytium mit
voller Bestimmtheit im Nervensystem anerkenne und mich anderer-
seits eines Ausdrucks bediente, der von einem das Syneytium
— übrigens nur in gewissem Grade — ausschließenden Standpunkte
aus geprägt worden war. Im Jahre 1905 beschrieb O. Schultze
(l.c. S. 53) ın der Haut der Froschlarven Gebilde, die wir Re-
mak’sche Netze nennen, und schlug zur Bezeichnung der Zelle den
Namen „Neuroblast“, zur Bezeichnung der Netze selber den Aus-
druck „Nervenfaserzellennetz“ vor. Hierbei ist jedoch zu bedenken,
dass eine solche „Zelle“ sowohl permanent Neuroblast bleiben, als
auch unmerklich in eine Nervenfaserzelle übergehen kann, während
letztere natürlich zur „Zelle der Schwann’schen Scheide“ wird.
Der Ausdruck Neuroblast, für den O. Schultze so nachdrücklich
eintritt, kann demnach seiner Unbestimmtheit wegen nicht Anspruch
darauf erheben, allgemeiner Terminus zu werden, und der Aus-
druck „Nervenfaserzelle“ für die bei Schultze beschriebenen Zell-
varietäten kann zu denselben Missverständnissen Anlass geben wie
das von mir gebrauchte Wort „Nervenzelle“.
Dieselben Einwände, die hier gegen den Ausdruck „Neuroblast“
angeführt sind, sind auch gegen den von Lenhossik, Ramon
j Cajal u. a. gebrauchten Ausdruck „Lemmoblast“ (s. z. B. die
unten zitierte Arbeit Cajal’s) zu erheben, wobei hinzuzufügen ist,
dass die ganze Richtung, die für die syneytiale Natur des Orga-
nismus eintritt, von den Anhängern der „Lemmoblasten“ prinzipiell
verworfen wird.
Ihre volle und natürliche Entwickelung erlangt die Idee von
der Bedeutung dieser Zellen in dem von mir veröffentlichten und
oben bereits zitierten Aufsatze „Etwas über die Neurilemmkerne“.
Hier behandle ich in einem Spezialfalle hauptsächlich die Frage
14) Memoiren der Kais. Akad, der Wissensch. VIII. Serie, Bd. IX, Nr. 9, S. 45.
De Vries, Die Mutationen in der Erblichkeitslehre.
en
—!
über die Bedeutung der Schwann’schen Kerne und stelle den Be-
griff „Syneytozelle“ auf. Jetzt dehnen wir den Begriff Synceyto-
zelle, Syncellozelle oder einfach Synzelle auf das ganze weite Ge-
biet der Syncellien aus'°). Durch diesen Begriff und diesen Terminus
sollen die Begriffe Neuroblast, Nervenzelle — im (etwas modifizierten)
Apäthy’schen Sinne —, Ganglienzelle durchaus nicht beseitigt
werden: alle diese letzteren Begriffe werden auf diese Weise nur
zu Varietäten der Nervensynzelle, wir verändern nur etwas ihren
Sinn, legen ihnen die Bedeutung von Synzellen bei und ordnen sie
unter den allgemeinen Begriff der Synzelle. Etwas schwieriger
ist die Frage, ob es nicht besser wäre, für die reifen „Schwann'-
schen Zellen“ die Namen Nervenfaserzelle im Gegensatz zu Ganglien-
zelle zu behalten. Doch hat der Terminus Nervenzelle (Apäthy)
nicht die unangenehme Nuance, die dem Worte „Faser“ innewohnt,
das die Bedeutung dieser Zellen für die Bildung der eigentlichen
Faser, d. h. des Achsenzylinders, im Gegensatz zur Bildung der
Scheiden durch diese Zellen, zu sehr betont, während doch die
Nervensyncellozellen innerhalb ihres Syncelliums sowohl das eine
wie das andere differenzieren. Man kann daher diesen Ausdruck
kaum empfehlen, und der ältere Apäthy’sche Ausdruck „Nerven-
zelle* ıst jedenfalls vorzuziehen. (Schluss folgt.)
Hugo de Vries, Die Mutationen in der Erblichkeitslehre.
Berlin 1912, 42 Seiten.
Das Heftchen enthält einen von de Vries bei der Eröffnung
der Rice-Universität in Texas gehaltenen Vortrag, in dem der Verf.
einiges über die Entstehung seiner Mutationstheorie und deren
Schicksale in den 10 Jahren seit Erscheinen des großen Werkes
mitteilt. Er präzisiert dabei seine Stellung in der Erblichkeitslchre
und wendet sich gegen verschiedene Missverständnisse und Ein-
wände. Er betont, "dass die Mutationstheorie weder aus der Bastard-
lehre noch aus seinen Beobachtungen an Oenothera Lamarekiana
hervorgegangen sei. Sie sei ein Kind der Pangenesis-Hypothese.
Ein weiterer Irrtum sei es, anzunehmen, dass dıe Mutations-
lehre der Selektionslehre feindlich gegenüberstehe. Sie gebe viel-
mehr erst die erblichen Veränderungen an, durch die die Auslese
wirksam werde. An der scharfen Unterscheidung zwischen den
quantitativen Fluktuationen und den qualitativen “Mutationen hält
de Vries fest. Die Unklarheiten der Orthogenesislehre und des
Neo-Lamarckiısmus werden hervorgehoben. Beide sind mehr Be-
zeichnungen für ein bestimmtes Geschehen als dessen Erklärung.
Schließlich werden einige Bemerkungen zu dem „Kampfe um
die Oenotheren* gemacht. Es sei wichtig, dass Oenothera biennis
und ©. grandiflora ähnliche erbliche Formen abspalteten wie O0. La-
marckiana. Man kann daraus schließen, dass das Vermögen zu
mutieren schon den gemeinsamen Vorfahren eigen gewesen sei.
15) Anatom. Anzeig., Bd. XXVIII, S. 443.
48 Fischer, Die Nephritis.
Die eigenartigen Eigenschaften der 0. Lamarckiana auf deren an-
genommene Bastardnatur zu schieben, gehe nicht an. Dagegen
spreche schon das gleiche Verhalten der verwandten Arten. Bou-
lenger z. B., der diesen Einwand erhebt, habe allerdings Bastarde
in Händen gehabt, aber die Nachkommen seiner Pflanzen hätten
auch mit des Verf. Mutationen nichts zu tun. Unter diesen komme
freilich nur eine einzige progressive Art, OÖ. gigas, auf viele retro-
gressive und degressive, aber in den polymorphen Typen anderer
Gattungen sei das auch so.
Dass, wie behauptet werde, alle Bastarde und alle Merkmale
mendelten, sei entschieden falsch. Die Oenothera-Mutanten verhielten
sich jedenfalls zum Teil anders. Es werden statistische und Erblich-
keitsgründe dafür angeführt, dass O. gögas wirklich eine gute pro-
gressiv entstandene Art sei, wenn sie auch nur in einer Merkmals-
einheit von der Stammart verschieden sei. Wenn die O. nanella-
Zwerge nach der Entdeckung von Zeylstra auch dauernd Bakterien
in ihren Zellen beherbergen, so sei ihre abweichende Form doch
nicht allein durch diese Krankheit hervorgerufen. Letztere lasse
sich heilen, ohne dass dadurch wieder 0. Lamarckiana entstünde.
Gegen die Bastardnatur der 0. Lamarckiana spreche auch der Um-
stand, dass die dazu erforderlichen Arten, nach denen die Nach-
kommen zurückschlügen, tatsächlich gar nicht existieren. Da stich-
haltigere Einwände nicht erhoben worden seien, bleibt der Verf.
bei seiner Auffassung. E. G. Pringsheim, Halle.
Martin H. Fischer. Die Nephritis,
eine experimentelle und kritische Studie ihrer Natur und Ursachen u. s. w. Über-
setzt von H. Handovsky und Wo. Ostwald. Th. Steinkopf, Dresden 1912,
Das Fischer’sche Buch wird allen denen nicht uninteressant
sein, welche die Bedeutung der Kolloidehemie für biologische Fragen
erkannt haben; es enthält eine Fülle lesenswerter, wenn auch nicht
immer neuer kolloidehemischer Beobachtungen und Tatsachen. Frei-
lich ist es dem Buche nicht von Vorteil, dass der Untertitel „experi-
mentelle Studie“ doch zu einem beträchtlichen Teil zu Unrecht
besteht. Im Vordergrunde der Experimentalstudien steht der be-.
günstigende Einfluss von Säuren auf die Löslichkeit in Gelform vor-
handenen Eiweißes. Die Schlüsse, die der Verf. aus solchen Ver-
suchen auf die Pathologie der Nephritis zieht, gehören nicht mehr
in den Rahmen dieses Blattes; zu ihrer Charakteristik genügt es,
anzuführen, dass die Hypothese des Verf. darin gipfelt, dass ein
In-Lösung-Gehen der gelförmigen Zellmembran der Niere unter
dem Einfluss von Säuren das Wesen jeder Albuminurie ausmache.
Eine Aufstellung, die durch die gleiche lückenhafte Logik gestützt
wird, die den Verf.z. B. auch dazu verführt, bei den chemotaktischen
Vorgängen an Leukozyten Viskositätsänderungen in dem sie um-
gebenden Medium eine wesentliche Rolle zuzuweisen! Loewe.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Ba. XXXIIlI 20. Februar 1913. NR.
— . — u - EEE en nn —— m ———n
Inhalt: Leontowitsch, Das ‚„Syncellium‘ als dominierende zelluläre Struktur des tierischen Orga
nismus. — Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. — Drucker und
Sehreiner, Mikrokryoskopische Versuche. — Zacharias, Zu den Umfärbungsphänomen der
Stabheuschreeke Diürippus morosus. — Abderhalden, Schutzfermente des tierischen Organis-
mus. — Abel, Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere.
Das „Syncellium“ als dominierende zelluläre Struktur
des tierischen Organismus.
(Dem Andenken Theodor Schwan’s gewidmet.)
Von A. Leontowitsch (Kiew).
(Schluss.
Die Bedeutung der übrigen Bezeichnungen lässt sich am besten
— ebenso wie manche Eigentümlichkeiten der Syncellien — an
der Hand der Betrachtung einiger Syncellien erläutern.
Als unbestrittene Syncellien sind besonders hervorzuheben:
1. Die „Riesenzellen“ des Knochenmarks oder, noch besser,
Riesenzellen unter pathologischen Bedingungen.
2. Die quergestreiften Muskelfasern eines Wirbeltiers.
3. Das „Neuron“, wie es in der ursprünglichen Theorie von
der vollständig abgesonderten Existenz einzelner Neurone ohne
jeden Zusammenhang mit andern ähnlichen „Einheiten“ aufgefasst
wird (jedoch mit dem Unterschiede, dass wir zum Neuron auch
alle Schwann’schen und andere Scheidenzellen zählen).
Zu den Eigentümlichkeiten der ersten Gruppe (1) gehört: a) Gleich-
mäßigkeit der Kerne (gewöhnlich), b) geringe (sichtbare) Difleren-
zierung!) des körnigen Syneytoplasmas (des „Protoplasmas“ in der
16) Möglich ist es, dass diese geringe Differenzierung in diesem Falle nur eine
scheinbare ist: als Organ der Phagocytose differenziert eine solche „Zelle“ das
XXXII,. 4
50 Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete.
üblichen Vorstellung), c) die (jedem Syncellium eigene) Zusammen-
setzung aus gleichförmig differenzierter Syncellozelle (s. Fig. 2).
Eigentümlichkeiten der zweiten Gruppe (2) sind: a) Gleichmäßig-
keit der Kerne, b) das Durchdringen kontraktiler Fibrillen (Syn-
cellie) durch das Syncelloplasma, c) das Vorhandensein einer die
Fibrillen zusammenklebenden Interfibrillärsubstanz, d) die Exı-
stenz eines körnigen Protoplasmas ın der Umgebung der Kerne,
e) eine für das ganze Syncellium gemeinsame „strukturlose“ Sarko-
lemmscheide.
Man kann demnach sagen, dass die Gebilde der ersten und
der zweiten Gruppe aus gleichförmig, aber in jedem Falle ver-
schieden differenzierter Syneytozelle bestehen.
Die Eigentümlichkeiten
der dritten Gruppe (3) sind
besonders zahlreich und
mannigfaltig:
a) Die Syncellozellen
sind sehr verschieden diffe-
renziert: stets ist eine „zen-
trale“ „Ganglien“synzelle
vorhanden, die durch ihre
Größe alle andern übertrifft,
! I die dadurch als Schwann’-
Fig. 2. Ein von Phagocyten der Bipinnaria sche Scheidenzellen oder
(einer Larve des Seesterns Astropecten) gebl- auch als Lemmoblasten
detes Plasmodium (nach der neueren Termino- (Cajal) angesehen wurden
ie Syneytium). > 5
Nach ee ee über ver- (vgl. damit meine Auslas-
gleichende Pathologie der Entzündung), Peters-- Sungen in der Internat.
burg 1912. Monatsschr.f. Anat.u. Phys.,
Bd XVII 5. 13%):
b) Dementsprechend sind auch die Kerne sehr verschieden
differenziert: der Kern der „Ganglienzelle“ ist rund, groß, bläschen-
förmig, besitzt ein scharfes Kernkörperchen u. s. w., was dadurch
bedingt ist, dass solche „Zellen“ oft Derivate einer embryonalen
Nervenfurche sind. Die Kerne der Scheiden dagegen sind länglich,
mit einer größeren Zahl von Kernkörperchen versehen und sind
von geringerer Größe, da sie oft Derivate des embryonalen Epithels
sind. Größer als der Unterschied in der Differenzierung der Kerne
der Synzellen ist der Unterschied in der Größe des Protoplasmas
(im weiten Sinne dieses Wortes), das zu einem Kerne gehört.
Dem widersprechen nicht die in der neuesten Monographie von H. Held (Ent-
wickelung des Nervengewebes bei Wirbeltieren, Leipzig 1909) beschriebenen Befunde.
Protoplasma in der Richtung des Organs, das die nötigen Enzyme produziert, d.h.
in einer Richtung, die sich nur schwer feststellen lässt. Doch hindert das nicht,
(lass diese Gruppe ein für unsere Zwecke gutes Beispiel liefert.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete. Sl
Held (S. 93) hat bewiesen, dass die Nerven in ihrer Entwickelung zunächst
als kernlose Fäden wachsen, die erst später Kerne aus dem primären „Epithelbinde-
gewebe‘“‘ (dem Szilly’schen Netze) erhalten, das ein nachher mit dem später ent-
stehenden mesodermalen Bindegewebe in Verbindung tretendes Syneytium darstellt.
In der Entwickelung der Nerven unterscheidet er folgende Stadien:
1. kernfreies Stadium,
2. primäres kernreiches Stadium, in dem die zahlreichen Kerne aus dem oben
erwähnten „Epithelbindegewebe‘‘ stammen,
3. sekundäres Stadium, reich an Kernen „durch die peripher vorschreitende
und umfangreiche Auswanderung von medullogenen Zellen längs einem bereits vor-
handenen Neurofibrillenzug und in kontinuierlicher plasmatischer Verbindung mit
ihm“ !”). Medullogene Zellen sind die Nachkommen desselben „Epithelbindegewebes‘.
Die Nerven selbst, die „Achsenzylinder‘‘ wachsen nach Held so, wie sich das
ungefähr His vorgestellt hat. Die Nervenfibrillen wachsen in die Netze des „Epithel-
bindegewebes‘ hinein und zwar heisst es: „Ein wirkliches Freiwerden der neuro-
fibrillären Nervenbahn aus dem verzweigten Plasma des zelligen oder auch dem
des epithelialen Bindegewebes vor dem Vorrücken der Schwann’schen Zellen habe
ich nirgends mit irgendwelcher Sicherheit beobachtet. Wenn also auch die Be-
reicherung der peripheren Strecke mit ihren spezifischen Zellen ein sekundärer Pro-
zess ist, so bedeutet er doch keineswegs die nachträgliche Umhüllung einer zuvor
und an und für sich in ihrer ganzen Länge frei und unbekleidet gewesenen oder
gewordenen Nervenbahn“ (S. 138).
Über die Held’schen Ausführungen haben wir folgendes zu sagen: Es ist
kaum ein zuverlässiges Argument denkbar, das die Richtigkeit gerade der Held’-
schen Ansicht beweisen könnte. Ungezwungener scheint uns die Ansicht, nach der
dieses sonderbare „Epithelbindegewebe‘“ nichts anderes ist als ein primäres Re-
mak’sches Nervennetz, das dabei nicht aus der Nervenfurche, sondern aus dem
Epithel anderer embryonaler Teile stammt, d. h. das ist, was sich aus unseren Be-
merkungen zu Punkt b ergibt.
Die ursprüngliche geringe Anzahl der Kerne (die „Kernlosigkeit‘) kann durch-
aus nicht, wie Held das annimmt, als Argument gegen das Syncellium angeführt
werden, denn größerer oder geringerer Kernreichtum hängt von den inneren physio-
logischen Bedürfnissen und Möglichkeiten jedes gegebenen Syncelliums ab; bald
besitzt ein kleines Syncellium viele Kerne, bald besitzt ein großes nur wenig Kerne,
in beiden Fällen wird es sich aber doch um Syncellien handeln (vgl. noch unten,
S.81, Fig. 18). Hier ist noch hinzuzufügen: 1. dass man den Zellen nervöser Natur
die Fähigkeit im allgemeinen, Ketten, d. h Syncellien, zu bilden, nicht absprechen
kann, was auch in einigen Fällen von Held selbst anerkannt und durch seine
Figuren (z. B. Fig. 121, 122, 123, 173, 178, 204, 216, 241 und einige andere, die
sich auf die verschiedensten Gebiete des Nervensystems beziehen) ausgezeichnet illu-
striert wird; 2. dass die Fibrillarität durchaus nicht eine ausschließliche Eigenschaft
des Nervengewebes, sondern fast allgemein allen Syncellienarten eigen ist.
Die erwähnte Ungleichmäßigkeit der Syncellozelle in den ein-
zelnen Arten der Nervensyncellien hat den Grund zu einem der
wichtigsten Argumente der Neuronenanhänger gegen die Zellen-
17) In den Befunden Held’s ist eigentlich viel Gemeinsames mit dem, was
uns als Postulat erschien, das sich aus dem Studium der Innervation der mensch-
lichen Haut ergibt (vgl. Internat. Monatsschr., Bd. XVIII, S. 136ff.), obgleich sich
meine Ausführungen mit denen von O. Schultze berühren
Die Held’sche Fig. 131 der „kernlosen“ Nerven erinnert außerordentlich an
einige Nerven der Cornea, nur sind hier Kerne vorhanden und weisen nur einen
sehr großen Variationskoeffizienten auf, d. h. man muss annehmen, dass sie
zum Teil degenerieren.
4*
52 Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete.
kettentheorie des Baus des Nervensystems gegeben. Ich meine
den Umstand, dass Nervenwurzeln vielfach als „kernlose Auswüchse“
zentraler Ganglienzellen entstehen. Diese Eigentümlichkeit des Baus
ist nicht überall gleich ausgeprägt, wie das am besten aus den Aus-
führungen Dohrn’s folgt, der sich so viel mit der Erforschung der
embryologischen Entwickelung verschiedener Nerven beschäftigt
hat. So schreibt er in der letzten seiner Studien!®) folgendes:
1908.
„Von welcher Bedeutung dabei für den Verfasser dieser Studien
die Untersuchung der Trochlearis-Entstehung (bei Squalliden) ge-
worden ist, erhellt am klarsten aus dem Umstand, dass er durch
diese Untersuchung von einem Anhänger der Zellkettentheorie zu
einem Anhänger der Auswachstheorie im Sinne His geworden ist.“
und S. 412 "
... „dass der Trochlearis ın seiner ganzen Länge von Chiasma an
bis zum Obliquus superior ohne einen einzigen Kern bestehen
konnte, mit anderen Worten, dass er ein ausschließliches Aus-
wachsungsprodukt seiner im Zentralnervensystem liegenden Ganglien-
zelle sein musste.“
Doch zeigt auch hier die Syncellientheorie einen vollständig
befriedigenden Ausweg: das Neuron besteht aus Syncellozellen,
Derivaten des Hautepithels und aus zentralen Gliedern, Derivaten
der Nervenfurche. Die Protoplasmamenge jener ist gering, dagegen
ist bei diesen die Menge des „Protoplasmas“, wie überhaupt die
„Energiefähigkeit“, im Vergleich dazu enorm. Nun ist es natürlich,
dass bei der Kombination beider Formen. in einem Syncellium ver-
schiedene Fälle möglich sınd: es sind Fälle mit solchem auffallenden
Fehlen „Schwann’scher Kerne“, wie in dem Trochlearis der Squal-
liden, denkbar. Es sind auch Fälle mit großer Menge von Kernen
möglich, wie solche, die Dohrn früher sah und die durchaus nicht
den Eindruck in ıhm hervorriefen, dass sie mit der Vorstellung
vom Nervensystem als von einer Zellkette unverträglich sind.
In diesen Fällen muss man an Syncellien denken, welche den
Syncellien elektrischer Organe analog sind, die unten S. 81 (Fig. 18)
abgebildet sind: dort sind einige Teile der Syncellien im Stadium b,
ce und d deutlich „kernfrei“. Das Neurosyncellium bietet für solche
Schwankungen der Kernzahl besonders günstige Verhältnisse, weil
es, wie wir schon hervorgehoben haben, aus verschiedenen Teilen
des embryonalen „Epithels“ stammt. Solche verschiedenartige
Kerne besitzen auch verschiedene Energiefähigkeit, was wiederum
an der Morphologie des Syncelliums zum Vorschein kommt. Das
sympathische Nervensystem. entwickelt sich aus ursprünglich fast
18) Dohrn. Studien zur Urgeschichte des Wirbeltierkörpers. 25. Studie.
Mitteil, a. d. zool. Stat. zu Neapel. S. 411, Bd. X VIII, 1906/1908.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. 53
gleichartigen Zellen, andere Nerven entstehen aus Zellen verschie-
dener Dignität, wobei diese Ungleichheit der Dignität in verschie-
denen Nerven verschiedene Grade erreicht.
Der Umstand, dass es an einer vollständigen Formulierung der
Idee des Syncelliums in dem von uns dargelegten Sinne mangelte,
stand auch der oben zitierten Arbeit Held’s im Wege und hin-
derte diesen Forscher, das von ıhm gewonnene ausgezeichnete
Versuchsmaterial richtig zu würdigen.
c) Das Syncelloplasma erweist sich als sehr verschieden diffe-
renziert: ein Teil verwandelt sich ın eine „Mark-“, ein andrer Teil
in eine „Schwann’sche“ Scheide mit der Entfaltung aller Details
ihrer Konstruktion. Ein dritter Teil wird zu dem, was unter d
und e ausführlicher besprochen werden soll.
d) Im Syncelloplasma entsteht ein sehr komplizierter fibrillärer
Apparat, wobei die einzelnen Fibrillen durch die Apäthy’sche sogen.
Zwischenfibrillensubstanz zusammengeklebt sind. Dieser Apparat
weist in verschiedenen Teilen des Syncelliums eine sehr verschie-
dene Konstruktion auf, die der Verschiedenheit der Syncellozellen,
aus denen das Syncellium zusammengesetzt ist, entspricht. Im
Syncelloplasma der zentralen Syncellozelle formt sich das mächtige
zentrale Fibrillengitter der Ganglienzelle (auf die Einzelheiten gehe
ich hier nicht ein). Ein zweites, weniger entwickeltes Gitter ent-
steht in den „Telodendrien“ (hierselbst entstehen, wie es scheint,
zuweilen körnige Gebilde, die den körnigen Gebilden des Proto-
plasmas der Ganglienzelle ähnlich sind), Längs des Neurits ist
dann meist der kabelartige fibrilläre Mechanismus entwickelt.
Diesen ganzen fibrillären Apparat, sowohl im Gebiet der „Ganglien-
zelle“ als auch ım „Neurit“, sowie in den Telodendrien nennen
wir in seiner ganzen organoiden Kompliziertheit Syncellon. Durch
diese Bezeichnung zollen wir der Neurontheorie, die die Organoidität
der „Einheiten“ des Nervensystems zuerst formuliert hat, unsern
schuldigen Tribut. Einzelne Abschnitte des fibrillären Apparats,
d.h. des Syncellons, nennen wir Syncellit (analog dem Neurit!).
Eine besondere Abart der Syncellone bilden die Membran-
syncellone — die Lemmosyncellone. Letztere gelangen nicht im
Nervengewebe, sondern in anderen Gewebearten, wie z. B. im
Muskelgewebe, am besten zur Entwickelung. So ist das Sarkolemm
des Muskels ein Lemmosyncellon. Zuweilen entwickelt sich das
Lemmosyncellon nur an einer Seite des Syncelliums. So scheidet
z. B. das längst anerkannte (vgl. ©. Schneider, vergl. Histol. der
Tiere) Syncytium der Trachea der Wirbellosen nur an einer Seite
des Syncelliums die Chitinmembran aus. Im Nervengewebe ist die
Schwann’sche Scheide natürlich ebenfalls ein Lemmosyncellon.
Die Lemmosyncellone entwickeln sich ebenfalls als eine dem ge-
samten Syncellium eigene gleichartige Struktur. Das wird durch
JA
54 Leontowitsch, Das ‚„Syncellium‘“ als dominierende Struktur ete.
die Beobachtungen von Gurwitsch'?) am Nervengewebe und von
Rhode am Muskelgewebe vortrefflich illustriert. Auf Fig. 3—5
sind die Gurwitsch’schen Befunde abgebildet.
Rhode. Syneytien, Plasmodien, Zellbildung und histologische Differenzierung.
1908. S 14. Nach Rhode entwickeln sich die späteren Sarkolemme als „direkte
Differenzierung des Spongioplasmas (spongioplasmatischen Faserngewebes) der Ei-
zelle‘“‘, d. h. unabhängig von den Muskelkernen.
Dieser Befund gleicht dem, was von Gurwitsch in bezug auf die Entwicke-
tung der Schwann’schen Scheiden beschrieben ist. Die linke Seite der Figur ent-
spricht einem früheren Entwickelungsstadium (analog der Fig. 3 und a und b der
Fig. 4 bei Gurwitsch), die rechte einem späteren Entwickelungsstadium (Fig. 2
und c der Fig. 4 von Gurwitsch).
Im Jahre 1908 beschreibt Rhode dasselbe im Muskelgewebe (l. c.).
Da Gurwitsch und Rhode, trotzdem sie verschiedene Stand-
punkte einnehmen, darin einig sind, dass sich die Scheiden (die
Schwann’sche und das Sarkolemm) vollständig unabhängig von
den Zellen (den Schwann’schen und den Muskelzellen) entwickeln,
so wirken ıhre Beobachtungen besonders überzeugend.
Beides ergibt sich aber einfach und natürlich aus dem Um-
stande, dass sich das Membranensyncellon nicht in Abhängigkeit
von den Zellen, sondern als bestimmter funktioneller Teil des
Syncelliums entwickelt. Ob man hierbei — wie das Rhode oflen-
bar unbewusst tut — an die (zwar von ihm nicht direkt aufgestellte)
Theorie denken soll, wonach nicht nur omnis cellule e cellula,
sondern auch omnis membrana (Sarkolemma etc.) e membrana, kann
erst nach vielen weiteren Beobachtungen entschieden werden. Vor-
läufig halten wir die Gurwitsch’schen (seine Fig. 2) und Rhode'-
schen Argumente für nicht so überzeugend, dass wir unsere plau-
siblere Erklärung desavouieren sollten. Schwer ist es auch, sich
auf den Standpunkt derer zu stellen, die (wohl auch wenig bewusst)
geneigt sind, überall, wo es Hüllen gibt, darin ein Produkt des
Bindegewebes zu sehen. (Diesem Standpunkt nähert sieh Gur-
witsch.) Ist doch die Produzierung der Kutikula den verschie-
densten Geweben eigentümlich.
.. .e) Aus einem Neuronsyncellium entsteht demnach durch das
Überhandnehmen einer zentralen Synzelle über die andern Teile
des Syncelliums und durch den engen Zusammenhang zwischen
allen seinen Teilen eine Einheit neuerer höherer Ordnung, die ihren
Eigenschaften nach so sehr einer Zelle gleicht, dass es auch jetzt
viele Biologen gibt, die überzeugt sind, dass das Neuron eine Zelle,
und die Neuronentheorie keine Theorie, sondern eine der konkreten
Beobachtung unmittelbar zugängliche Tatsache sei. Der Gedanke,
dass viele Teile des Syncelliums (wie Fibrillen, Scheiden) so wachsen,
19) Gurwitsch. Die Histogenese der Schwann’schen Scheide. Arch. für
Anat. (u. Physiol.), 1900, S. 85.
Fig. 3. Schafembryo 10 cm Länge. Nachvergoldung nach Apäthy. Die Fibrillen
gelblichbraun, die Kerne braunrot. Die Zwischenlamellen (Sch wann’sche Scheiden)
tief violett tingiert. p — perineurale Zellen, am Rande ebenfalls violett gefärbt.
Fig. 4. Längsschnitt aus demselben Objekte. (Kein Zusammenhang zwischen
Scheiden und Kernen, nach Gurwitsch, S. 88: „Die Kerne, die innerhalb der
Faserbündel zu beobachten sind, scheinen fast ausnahmslos mit den Lamellen in
Zusammenhang zu stehen, ja man kann sogar behaupten, dass dieselben erst mit
der Einsprossung des Lamellennetzes ins Innere des Faserbündels als Bestandteil
des ersteren in die letzteren eindringen‘.)
Fig. 5 Drei Faserbündel eines Ischiadicus eines älteren Embryos (18—20 cm).
Apäthy’s Goldbehandlung. Eingezeichnet nur die (tiefvioletten!) Schwann’schen
Scheiden und die Kerne; a, b und e — verschieden alte Stadien. ce — vollständig
ausgebildete (röhrenförmige) Schwann’sche Scheiden, e — endoneurale Kerne
zwischen den Nervenfasern liegend.
Fig. 6. Tritonembryo von 2,5 mm Länge. Quer. Mittelstarke Vergr. Original.
Ch — Chorda. K — Kerne der Muskulatur. 7 — Territorien der Muskulatur
Sp — spongioplasmatische Fasern. R — Rückenmark.
6b Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
als ob sie Teile einer einzelnen lebenden Zelleinheit wären, wurde
schon mehrfach, und zwar nicht nur in bezug auf das Nerven-
gewebe, sondern auch in bezug auf die verschiedensten Gewebe-
arten geäußert.
Soweit ich übersehen kann, war wohl Hansen (Anatom. Anz., Bd. X VI, 1899)
der erste, der die Aufmerksamkeit darauf gelenkt hat. So beschreibt er im Knorpel,
und zwar an zellfreien Stellen, besondere „‚Wachstumssterne‘“ der kollagenen und
elastischen Fasern. S. Fig. 7. (Man muss jedoch sagen, dass die mächtigsten Sterne
sich immerhin um eine „Zelle‘‘, als um eine mehr „energoide‘“ Einheit, bilden. Die
Zelle kann untergehen und verschwinden,
während der Stern sie überlebt und bleibt.)
Was das eigentliche Nervengewebe an-
betrifft, so taucht diese Idee der Syneytozelle
zuerst in meiner Arbeit im Jahre 1900 auf.
Hier habe ich mich veranlasst gesehen,
einige Eigentümlichkeiten des Nervenbaus
der menschlichen Haut durch gleichzeitige
Differenzierung der „Neuroidzellen“ (s. oben
S. 51) des Remak’schen Netzes zu er-
klären: „Bei der angeführten Schwann’-
schen Anschauung”) müssen alle beschrie-
benen Nervenbildecr auf Evolution der
Neuroidzellen zurückgeführt werden, wobei
letztere so eng miteinander verknüpft sind,
dass es ebenso schwer ist, die Evolution
einer Zelle von der Evolution einer andern
zu trennen, wie z. B. zu bestimmen, ob der
betreffende Abschnitt der quergestreiften
Muskelfaser vom Sarkoplasma der einen
oder der andern Zelle gebildet worden
eins ; ö ist“2'). Im Jahre 1901 wurde der Gedanke,
Fig. 7. Cartilago arytaenoidea vom dass fibrilläre Differenzierungen nicht inner-
Kalbe. 3,885 — Hansen’sche halb des Protoplasmas einzelner Zellen, son-
fibrillogene Sterne neben einer Knor- dern innerhalb des Protoplasmas des „Syn-
pelzelle. * — Anastomose der (fibrillär eytiums“ entstehen, in ganz bestimmter
differenzierten) „Zellausläufer‘ mit Form von J. Scehaffer in seiner Arbeit
diesen fibrillogenen Sternen. Alb. — ‚Über den feineren Bau und die Entwicke-
Albumond, aus dem sich später Jung des Knorpelgewebes und über verwandte
Fibrillen bilden. Nach Hansen. formen der Stützsubstanz‘ ?*) ausgesprochen.
Anat. Anz., Bd. XVI, S. 432. Im Jahre 1902 kamen Godlewski
und (später) Heidenhain zu dem Schluss,
dass sich die Myofibrillen im Myoplasmodium des Herzens schon entwickeln, ehe noch
einzelne Muskelzellen zum Vorschein kommen.
Im Jahre 1905 stellte ©. Schultze??) noch bestimmter als ich das in bezug
20) Die Ansicht kann man eigentlich nicht Schwann’sche nennen, denn der
radikale Unterschied zwischen den Schwann’schen und unsern Anschauungen liegt
eben darin, dass das Nervensystem aus Syncellien und nicht aus Zellketten besteht.
Doch war mir dieser Unterschied damals selbst noch nicht genügend klar.
21) Memoiren der Petersb. Kaiserl. Akad. d. Wissensch., VII. Serie, Bd. IX,
Nr. 9, 8.45. Ebenso in der Intern. Monatsschr. f. Anat. u. Phys., Bd. VIII, 1901.
22) Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 70, 8. 109. Siehe namentlich S. 165.
23) l.c. 8. 93, 103—104ff.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. 57
auf die Nerven getan hatte, den von mir verteidigten Gedanken auf und illustrierte
ihn durch viele vortreffliche Zeichnungen.
In meiner bereits 1907 abgedruckten Arbeit”*) wird schon ganz eindeutig er-
klärt, dass alle Gewebearten analog dem Nervengewebe konstruiert sind. 1908
dehnt Rhode diese Ideen auf alle Gewebearten aus, denn „die histologische Diffe-
renzierung (ebenso das Wachstum) ist nicht an Zellen gebunden, sondern erfolgt
sehr häufig in den vielkernigen Syneytien.“
f) Nicht immer jedoch
ist in dem „Neuron“ — wie
das ım klassischen Neuron
der Fall ıst — nur ein Zen-
trum vorhanden. Apäthy”°)
veröffentlichte schon vor
langer Zeit die Tatsache
des Vorhandenseins mit-
einander verbundener Gang-
lienzellen. A. Dogiel hat
sogar die Neuronentheorie
ın der Weise modifiziert,
dass er das Neuron als eine
Kolonie gleichbedeutender
Ganglienzellen ansieht. Dem-
nach erscheinen solche Neu-
rone (mit ihren Schwann’-
schen Kernen) nicht mono-
zentral wie unter e), sondern
multizentral. (Außer dem
Gitter in der Ganglienzelle
sınd von Bethe und an-
Fig. 8. Zwei Ganglienzellen des Nervennetzes
im Darm der Pontobdella (nach Apaäth y [repro-
duziert nach Bethe], Mitt. d. zool. Station zu
deren Autoren die Gang-
lienzelle ersetzende extra-
zelluläre Gitter, d. h. Zen-
Neapel, Bd. XII, 1897, Taf. 28, Fig. 10). Die
Figur illustriert unsere Vorstellung von multi-
zentralen Syncellien und zeigt, dass die Do-
giel’sche Anschauung von den Neuronen als
tren, beschrieben worden,
das sogen. „nervöse Grau“.
Dieses Grau stellt auch
Teile des Syncellons dar.)
g) Auf diese Weise ist es möglich — und oft erforderlich —
das Nervensyncellium von zweifachem Standpunkte aus zu be-
trachten: entweder vom Standpunkte seiner Entstehung aus einer
Reihe Syncellozellen oder vom Standpunkte der Syncellone, d.h.
jener von Fibrillen gebildeten funktionellen Einheiten, die die
Funktion des Nervensystems bestimmen.
Zellkolonien begründet ist, spricht auch zu
gleicher Zeit gegen die Anschauung von
M. Heidenhain (Plasma und Zelle, S. 723).
24) In welcher Richtung muss die Lehre vom Nervensystem reformiert
werden? S. 46.
25) Mitt. a. d. zool. Institut Neapel. Bd. XII, 1897.
Bo) Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete.
Apäthy und namentlich Bethe beschäftigten sich vorzugsweise mit dem
zweiten dieser beiden Probleme. Apäthy begann übrigens mit dem ersten, da aber
die Idee des Syncelliums zu jener Zeit noch nicht reif war, und das Leben das
zweite Problem in den Vordergrund rückte, so hat er auch bis jetzt seine Kräfte
vorzugsweise dieser zweiten Aufgabe (der Untersuchung der Fibrillen und ihrer Ver-
hältnisse in verschiedenen Teilen des Nervensystems) gewidmet.
h) Um die Bedeutung einiger Teile des Syncelliums zu er-
fassen, muss man sie vom Standpunkte derselben Tatsachenkategorie
betrachten, zu der viele morphologische Strukturen gehören. Die
Fragen, warum der Mensch eine bestimmte Kopf-, Zungen- oder
Nasenform besitzt, warum verschiedene Körperorgane bei verschie-
denen Tiergattungen verschieden sind u. s. w. sind natürlich in der
Richtung zu lösen, dass alle solche Strukturen durch innere Gleich-
gewichtsbedingungen und Korrelationen der Teile des Organismus
bestimmt sind. Doch lassen sich diese Bedingungen und Korre-
lationen bis jetzt in keine Gesetzes- und Erklärungsreihen einfügen.
Derartige Besonderheiten des Syncelliums nenne ich „Syncello-
formite“.
Zu den Syncelloformiten des Nervengewebes zähle ich: Die
Ranvier’schen Schnürungen, die dazwischen liegenden Faser-
segmente, die auf jedes Segment entfallenden Kerne (in verschie-
dener Zahl!). Ebenso sind in den Muskeln die „Septa“ zwischen
den „Zellen“ des Herzmuskels (des Herzsyncelliums) Syncello-
formite.
ı) Eigentümlich ist die Regeneration des Syncelliums. Durch-
aus nicht immer ist das ganze Syncellium regenerationsfähig; häufig
regenerieren nur einige regenerationsfähigere Teile. Die Regene-
rationsfähigkeit der Synzellen ist nämlich sehr verschieden: einige
verlieren dee Fähigkeit recht früh, andere behalten sie das ganze
Leben lang; dazwischen gibt es Seine alle möglichen Übergangs-
stadien. Die am leichtesten regenerierenden nennen wir Syncello-
blasten. Diese Regeneration läuft beständig parallel mit einer
Degeneration des Syncelliums: immer finden wir während des ganzen
Lebens sowohl regenerierende wie auch nebenbei degenerierende
Teile. Regeneration und Degeneration sind eng miteinander ver-
bunden, sie sind Korrelate, existieren während des ganzen Lebens
und ihre Aufgabe ist die Restitution derjenigen Teile des Syn-
celliums, die im Lebensprozesse verbraucht werden. Auf diese
Weise stirbt nicht das ganze Syncellium ab und ersteht wieder,
sondern es findet eine allmähliche Renovation seiner Teile statt.
Eine derartige Regeneration wird am besten durch den bekannten
Terminus „physiologische Regeneration‘ ausgedrückt. Die
Teile des ‚Syncelliums, in denen eine Degeneratien vor sich geht,
nennen wir Syncellodegenerite.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. 5
3. Wie weit sind die Tatsachen. die als Grundlage der Syncellen-
theorie dienen. zuverlässig. und wie weit lassen sich die hier
dargelegten Gesichtspunkte verteidigen?
Diese Frage wollen wir nun nach den obigen Rubriken erörtern.
Die Vorstellung, dass eine Riesenzelle und eine quergestreifte
Muskelfaser Syncellien sind, ist so sehr einleuchtend, dass man
darüber kein Wort mehr zu verlieren braucht; dagegen erfordert
der Begriff des Nervensyncelliums einige Erläuterungen. Das unter
a und b Dargelegte wird auch durch die übliche Vorstellung vom
„Neuron“ erhellt, wenn man nur auf dem Standpunkte des gemein-
samen Ursprungs der „Ganglienzelle* und der „Schwann’schen
Kerne“, resp. der Zellen aus dem Ektoderm verschiedener Körper-
teile steht, einem Standpunkte, den schon seit langer Zeit Balfour
und andere einnehmen. Eine wertvolle Ergänzung dazu und zu dem
oben Angeführten bildet noch die Menge von Tatsachen, die in
einer der interessantesten Arbeiten der modernen Naturforschung,
in der fast nirgends zitierten Abhandlung von Apäthy°®) ange-
führt sind.
Apäthy’s Aufgabe war es, an vergleichend-anatomischem Ma-
terıal nachzuweisen, dass die Schwann’schen Zellen keine Meso-
dermzellen sind und sich von diesen hauptsächlich durch zwei Um-
stände unterscheiden:
1. dadurch, dass die „Schwann’schen Kerne* bei einigen
Tieren innerhalb des Achsenzylinders?”) liegen, d. h. von primären
Nervenfibrillen umgeben sind und nicht seitwärts anliegen, wie das
bei Wirbeltieren der Fall ıst. Ihre den Nervenfasersegmenten ent-
sprechenden Abschnitte schwanken bei einem und demselben Tiere
in der Größe, in Grenzen, die vom Standpunkte ıhres mesodermalen
Ursprungs kaum verständlich wären. Besonders groß sind diese
Abschnitte ın den Längskommissuren der abdominalen Nervenketten:
allein ihre Breite erreicht zuweilen 60 «!! (die lateralen Nerven
der Pontobdella), die Länge erreicht 300 « und mehr.
Die kolossalen Apäthy’schen „Nerven-* und „Muskelspindeln*“
sind stets mit einer großen Anzahl von Kernen versehen, sie sind
nach Apäthy „multizellulär“, d.h. ım Grunde offenbare Syncellien.
26) Biolog. Centralbl., Bd. IX, „Nach welcher Richtung hin soll die Nerven-
lehre reformiert werden? S. 604, 627, 628. Die Arbeit hat einen großen Mangel:
bei der Menge des darin enthaltenen wertvollen Materials fehlt es vollständig an
Zeichnungen.
27) Analog liegen die „Ganglienzellen“ innerhalb eines Sackes aus der Mark-
scheide im Ganglion des Nervus acusticus des Hechtes, wie das schon vor langer
Zeit M. Schultze gezeigt und neuerdings Witmaak bestätigt hat. Auf etwas
Ähnliches hat vor kurzem O. Schultze aufmerksam gemacht. 8. Sitzungsber. d.
Königl. Preuß. Akad. d. Wissensch., Jahrg. 1908, S. 166. Leider fehlen auch in
dieser Arbeit die gerade hier so notwendigen Zeichnungen.
G0) Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
Beim Zustandebringen bestimmter morphologo-physiologischer Struk-
turen konstruiert der Organismus, je nach den Möglichkeiten, die
der betreffende Fall bietet, Syncellien aus einer größeren oder
kleineren Zahl von Syncellozellen.
Über die Punkte c—i ist folgendes zu sagen: das Syncellium,
d.h. das ganze Zellkonglomerat hat ein ihm eigentümliches eigenes,
Fig. 9. Zentrales Ende des Ischiadieus
von der erwachsenen Katze, 2!/, Tage
nach der Operation. A — feiner Axon.
Bb — verzweigter Axon. © — noch nicht
regenerierter Axon. E, F' — Axonen mit
dem Perroncito’schen Phänomen.
@,J, K — Endkeulen (Endkugeln) Ra -
mon j Cajal, Anatom. Anz., Bd. 30,
S. 117).
gemeinsames Leben, wobei jeder
der Bestandteile, sowohl der
kernigen als der syncelloplasma-
tischen, normale Funktion und
Entwickelung aufweist, wenn das
ganze Syncellium den ıhm ent-
sprechenden Lebenszyklus durch-
macht. Wird das Leben des
Syncelliums jedoch gestört, wird
letzteres z. B. in Teile geschnitten,
so hält sich die Wachstums-
energie der verschiedenen Teile
des Syncelliums eine Zeitlang
aufrecht, fällt dann aber, da die
regenerierenden Teile einer regel-
mäßigen Funktion entbehren, die
allein ein regelmäßiges Wachs-
tum und eine normale Lebens-
dauer der neugebildeten Teile
bedingt.
Das wird am besten durch
die Vorgänge illustriert, die bei
der Regeneration von Nerven
beobachtet wird: nach der Durch-
schneidung eines Nervenstammes
taucht bekanntlich an seinem
zentralen Ende das sogen. Per-
roncito’sche Phänomen — eigen-
tümliche „Wachstumknöpfe“ der
Neurite des Nervs — auf. Tritt
längere Zeit nach der Durchschneidung kein Zusammenwachsen der
Nerven ein, so bilden sich aus diesen „Wachstumknöpfen“ sogen.
„helikoidale Apparate“ oder „nervöse Knäuel“ (vgl. Fig. 9).
Im Jahre 1907?°) benutzte Ramon j Cajal dieses natürlich
meisterhaft illustrierte Phänomen zu einem wichtigen Argument
gegen die „Zellenkettentheorie“.
28) Anat. Anz., Bd. XXX, S. 129.
„Sehr schwierig, um nicht zu sagen unmöglich ist es, den
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete. Gl
Mechanismus der Bildung der Knäuel auf Grund der Kettenhypo-
these zu verstehen. Sollen wir die primäre Anlage von spiraligen
Zellenketten, d. h. eines schraubenförmigen „Rosenkranzes“ der
Schwann’schen Körperchen voraussetzen? Man beobachtet von
ihnen nicht die geringste Spur, welches auch immer die Entwicke-
lungsphase sei, in welcher die betreffenden Knäuel untersucht werden.
Andererseits legt die Lehre der kontinuierlichen Entwickelung eine
sehr einfache mechanische Anwendung nahe, welche sich uns mit
unwiderstehlicher Kraft aufdrängt.“
„Unserer Ansicht nach stellen die Spiralapparate einfach nur
das Ergebnis des Wachstums und der Entwickelung der Perron-
cito’schen Fasern dar. Die vom alten, mehr oder weniger zer-
faserten Axon erzeugten neuen Zweige wachsen weiter, und da sie
die Schwann’sche Scheide nicht durchdringen können, machen sie
beständige Windungen unter derselben, wobei sie Knäuel und sehr
komplizierte Spiralen um die Axonzweige, d.h. um die Bündel der
zerfaserten Achsenzylinder erzeugen. Nur einigen der Keulen des
spiraligen Apparates gelingt schließlich die Durchbohrung der Scheide,
jedoch fast immer zu spät. Die äußere Scheide des Spiralapparates
entsteht durch allmähliche Ausdehnung der Schwann’schen Scheide,
unter Vermehrung ihrer Zellen.“
Es muss zweifellos anerkannt werden, dass die Zellenketten-
theorie diese Phänomene nicht erklärt. Sie lassen sich jedoch ziem-
lich mühelos vom Standpunkt der Syncellientheorie entwirren, ja
an diesem Beispiele treten zwei Eigentümlichkeiten des Lebens des
Syncelliums besonders markant hervor.
Die erste Eigentümlichkeit ıst das bis zu gewissem Grade selb-
ständige Wachstum der Fibrillen, durch das diese Knäuel — wie
Cajal richtig schließt — bedingt sind.
Die zweite Eigentümlichkeit besteht darin, dass sich hierbei
die Schwann’schen Körperchen nicht so einfach verhalten, wie
das vom Standpunkte der Zellenkettentheorie zu erwarten wäre:
das Neuron verhält sich als etwas Einheitliches, Ganzes, wobei sich
herausstellt, dass die Schwann’schen Kerne nicht die Fähigkeit
besitzen, als Regenerationsorgan der ganzen organoiden Neurosyn-
cellieneinheit zu fungieren. Von unserm Standpunkte lässt sich
dieser Umstand völlig befriedigend dadurch erklären, dass die am
meisten entwickelten ausgewachsenen Syncellien aus Syncytozellen
bestehen, denen die für die jungen Zellen so charakteristische Wachs-
tumsaktivität in bedeutendem Maße verloren gegangen ist. Es ist
möglich, dass diese Fähigkeit an der Peripherie des Neurons fast
vollständig erhalten geblieben ist”), in seinen mittleren Teilen ist
diese Regenerationsfähigkeit in den Schwann’schen Syneytözellen
29) Vgl. meine Arbeit: Internat. Monatsschr., Bd. XVIII, S. 196— 220.
52 Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur ete.
jedoch nur in einem Umfange geblieben, der für die Fortpflanzung
genügt, die zur Bildung eines permanenten Stumpfes am Neuron
erforderlich ist. Es ıst ferner möglich, ja sogar sehr wahrschein-
lich, dass hierbei eine Konkurrenz ım Wachstum des fibrillären
Mechanismus einer- und im Wachstum der Schwann’schen Syn-
cytozellen mit der von ihnen gebildeten Scheide andererseits ent-
steht. Diese Konkurrenz summiert sich gerade so, wie bei Ramon
j Cajal ım angeführten Zitat angegeben ist, obgleich kaum ange-
nommen werden kann, dass diese Konkurrenz nur zwischen den
Teilen des Nervensyncelliums waltet; sie geht über seine Grenzen
hinaus, da man doch auch mit der Bildung der zweifellos binde-
gewebigen Narbe ım durch-
schnittenen Nerv rechnen muss.
Die verschiedene Regene-
rationsfähigkeit der Zellen des
Neurons wird wohl begrün-
deter erscheinen, wenn wir
daran denken, was wir ım
Knochengewebe finden: nach
der üblichen Anschauung ist,
damit ein gewisser Knochen-
abschnitt lebe, die Integrität
der „Knochenkörperchen“ er-
forderlich; und doch kann der
Knochen nicht durch direkte
Vermehrung der Knochenkör-
perchen wachsen, er wächst
Fig. 10. Sensible (Nerven) plexus in dem vielmehr durch viel kompl-
Unterhautgewebe der Kaulquappe. zıertere Vorgänge, teils mittels
A — Bindegewebszelle. B — Riesenlemmo- Osteoblasten, teils mit Hilfe
blast, Bündel von Nervenfibrillen umgebend. der Osteoklasten und zum Teil
a,b — Teilung von Fasern. d — freie Fribrille 5 5 E .
ohne Kern. (Nach Ramon j Cajal, Anat. vielleicht auf einem noch viel
Anz., Bd. XXX, 8. 149.) komplizierteren Wege, der
beim Wachstum des jungen
Knochengewebes am meisten zur Geltung kommt. Der Knochen
besteht demnach aus „Zellen“ mit sehr verschiedener Regene-
rationsfähigkeit — eine Analogie damit, was wir im Neuron finden.
Man muss auch bei der physiologischen Regeneration manche
andere Möglichkeiten als die von den Neuronisten anerkannten ins
Auge fassen. Ich denke hierbei an das in verschiedenen Körper-
teilen vorhandene „Remak’sche Nervensystem“, dieses im ge-_
samten Nervensystem embryonalste Gewebe, dessen Rolle man
doch kaum für so erforscht halten kann, dass man vor den hier
auftauchenden Fragen zugunsten der gangbaren, elementaren, ein-
fachen Neuronentheorie leichten Herzens die Augen schließen dürfte.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. 43
Wir gestatten uns demnach zu behaupten, dass das tatsäch-
liche Material, aus dem wir unsere Schlüsse ziehen, hauptsächlich
von solehen Forschern geliefert ist, von denen man am ehesten
eine schroffe negative Stellung gegenüber unseren Vorstellungen er-
warten sollte. Wir benutzten
eben hauptsächlich dieses
Material, weil wir bei den
Anti-Neuronistennoch vieles
finden könnten, was für uns
von Wert wäre. Wir wollen
diese Arbeit eben gar nicht
als polemischen Artikel auf-
gefasst wissen, sondern
möchten nur, „nachdem
das alte Gebäude niederge-
rissen ist, ein neues auf-
führen, in dem alle alten
Bausteine an der hervor-
ragendsten Stelle zu finden
sind“ 3°).
Da wir die Cajal’sche
Arbeit erwähnen, müssen
wir auch eigene Beobach-
tungen heranziehen, die
gegen eine weitere Behaup-
tung Cajal’s und zugunsten
unserer Anschauungen spre-
chen. Cajal färbte nach
seinem Verfahren die Ner-
vennetze desselben Objekts,
an dem Oscar Schultze
seine Arbeiten ausführte,
nämlich die subkutanen Ner-
ven der Kaulquappe und
fand, dass die „Netze“ aus
„Lemmoblasten“-Netzen be-
stehen, deren Protoplasma
(Greflechte (nicht Netze!) von
aus den Neuriten der Neu-
ronen stammenden Fibrillen
durchziehen (vgl. Fig. 10).
Fig. 11. Sieben miteinander verbundene Gang-
lienzellen im Remak’schen Netze der Mund-
schleimhaut des Frosches. a,b, c,d, e, f, 9 —
Ganglienzellen, * — Kerne des Remak’schen
Netzes. Apochr. 16, Comp. Oc. 4 (vgl. bei
H eld, Entwickelung des Nervengewebes,
Fig 214). Färbung mit einer Kombination
von Methylenblau und Thiopyronin, fixiert mit
meinem (noch nicht publizierten) Vanadino-
Wolframatverfahren.
Cajal, der mit Recht auf die Resultate seines Färbeverfahrens
stolz ist, das in vielen solchen Teilen des Nervensystems Fibrillen
50) Poinearr&,
64 Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
zum Vorschein bringt, ın denen sie sonst nicht auffindbar sind,
triumphiert auch in diesem Falle über Schultze, der nach seiner
Meinung durch die Unvollkommenheit der Methodik irregeführt
worden ist.
Fig. 12A. m undn — 2 ähnliche Ganglienzellen im Remak’schen Netze der
Mundschleimhaut des Frosches (Netz ist analog der hier auf Fig. 10 von Ramon
j Cajal abgebildeten). Analoge Abbildungen nach Apäthy Fig. 8 bei der
Pandobdella.
Fig. 12B. p und g — ähnliche Zellen, ebenfalls aus der Mundschleimhaut des
Frosches.
Uns persönlich gelang es aber, in ebensolchen Nervennetzen
der Mundschleimhaut des Frosches zahlreiche eigenartige Ganglien-
zellen zu färben, wie sie auf Fig. 11 u. 12 abgebildet sind °?).
Einige Eigentümlichkeiten dieser merkwürdigen Ganglienzellen
sollen Gegenstand der Betrachtung in einer besonderen Arbeit
werden. Hier sind sie nur erwähnt, um zu zeigen, dass auch
31) Man erhält sie nur bei ganz eigenartiger Anwendung des Methylenblau-
verfahrens.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete. 6.)
Ramon und sein Verfahren nicht immer frei von Irrtum sind und
dass in einigen Fällen sehr wesentliche Gebilde auch bei Anwen-
dung dieses Verfahrens ungefärbt bleiben.
Uns scheinen demnach die wichtigsten Punkte der Grundlage
der Syncellientheorie ziemlich unanfechtbar, und die Frage, ob es
statthaft ist, die hier erörterten Anschauungen zu verteidigen, muss
bejaht werden. Tatsächlich wird auch die Anschauung, wonach
die Gewebe des tierischen Organismus Syncellien darstellen, von
vielen Forschern vertreten, und zwar von solchen, die mit ver-
schiedenartigsten Geweben gearbeitet haben, so dass wir eine neue,
allmählich entstandene Strömung in der Histologie vor uns haben,
die aus unsicheren, nicht ganz bewussten Anfängen zu einer fast
vollständigen Abgeschlossenheit gelangt.
4. Wo ist ein Syneellium zu suchen, das als Typus dienen kann?
Wir sind also zu dem Schlusse gekommen, dass der Begriff
des Syncelliums viele Tatsachen in den oben erwähnten Gewebe-
arten beleuchtet. Der Begriff ist demnach nützlich und muss genau
formuliert werden. Es drängt sich daher die Frage auf, was als
Typus des Syncelliums anzusehen ist.
Es sind hierbei zwei Arten von Verfahren möglich:
A. Man kann einen „allgemeinen Typus“ suchen, wie das oft
bei Erörterung zoologischer Probleme geschieht. So kann man
z. B. einen mittleren Typus des Haifisches oder einer anderen Tier-
gattung konstruieren. Hierbei können einzelne Haifischarten Ab-
weichungen nach irgendeiner Richtung bieten, trotzdem wird aber
das Schema die Haifische ganz gut charakterisieren.
B. Oder man kann wie im der Mathematik verfahren: hat man
es mit einem gleichartigen Material zu tun, so lässt es sich ge-
wöhnlich durch eine Formel ausdrücken: so kann man die Ver-
teilung der Variationen der Körpergröße Militärpflichtiger durch
72
die bekannte Formel der Gauss’schen Kurve?) y= 7e 5
wiedergeben (s. S. 66 Fig. 13).
Die Gauss’sche Bezeichnung ist demnach eigentlich ein Spezial-
fall der allgemeineren Pearson’schen Formel.
Einer analogen Methode ist es zweckmäßig sich bei der Fest-
stellung des Begriffs des Syncelliums zu bedienen; es gilt, mit
andern Worten, zu entscheiden, welches Syncellium am besten als
das charakteristische zu wählen ist.
32) S. Dunker. Die Methode der Variationsstatistik. Ebenfalls A. Leon-
towitsch. Die Methoden von Gauss und Pearson in Anwendung auf Fehler-
berechnungen in der Statistik und der Biologie. Kiew, 1909-1911 (russisch).
XXX. 5
66 Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
Als ein solches charakteristisches Syncellium betrachten wir
von dem eben dargelegten Standpunkte das hier bereits erörterte
Neurosyncellium.
Auf der hier angegebenen Fig. 13 entspricht die sym-
metrische Kurve MA,N dieser Formel. In der Praxis
kommen aber auch asymmetrische Kurven wie MDB,”
und MFCA6 vor, die sich durch diese Formel sehr
schlecht ausdrücken lassen. Pearson zieht daher allge-
meinere Formeln den hier angegebenen vor. Eine solche
ist z. B. das Binom der Form (p+gq)°. In der Tat er-
hält man dann die Kurve MA,N, wenn p=q; ist p
nicht = q, so erhält man mehr oder minder asymmetrische
Kurven, und zwar ist die Asymmetrie um so größer, je
größer der Unterschied zwischen p und q ist. Man kann
sich leicht davon überzeugen, wenn man z Bp=q=]1
für MNA, und c—6 setzt, ebenso für MDB, 7 p=:, «FH
q=14t, und für MFCA6 p=7 und q=+ setzt.
Buch- Ber:
staben- staben-
Dee Ihre Bedeutung bezeich- | Ihre Bedeutung
nung nung
a Grad des Unterschieds in f Azentrale, monozentrale
ı der Entwickelung einzelner oder multizentrale
Synzellen. schaften des Syncelliums auf
Grundlage des Punktes e.
b | Unterschied (und Grad | g Größere oder geringere
dieses Unterschiedes) in der Notwendigkeit oder Möglich-
ı Größe und den Eigenschaften keit, das Syncellium vor-
der Kerne. | wiegend vom Standpunkte
einer der obigen Rubriken
a—f zu betrachten.
© Unterschied (und Grad des- | h Grad der Ausgeprägtheit
selben) in der Differenzierung | der Syncelloformite im Syn-
einzelner Teile des Syncello- cellium.
plasmas. |
d Unterschied (und Grad des- i Regenerations- und Degene-
ı selben) in der Differenzierung rationsfähigkeit des
des fibrillären und des Schei- Syncelliums und einiger Syn-
densyncellons. | | zellen.
e Ausgeprägtheit (und Grad
derselben) neuer Mechanis-
men, die höher als Zellsyn-
‚ cellone sind, im Syncellium. |
Leontowitsch, Das ‚„Syncellium“ als dominierende Struktur ete. 67
In der Tat bietet letzteres eine Summe von-Eigenschaften, die
wir oben (S. 50-58) mit den Buchstaben a—ı bezeichnet haben.
Streng genommen, sind einige von diesen Rubriken in den andern
bereits enthalten: so entspricht a mehr oder minder der Summe
b--c+d. Würde es sich hier um eine mathematische Berech-
nung einer solchen Summe handeln, so müsste man dabei ein etwas
ungewöhnliches Verfahren anwenden, dessen man sich in solchen
Fällen auch bedient. Eine so genaue Berechnung bildet aber nicht
unsere Aufgabe; wir haben nur ein klares und scharfes Bild des
Syncelliums zu geben, und ich halte es daher für zweckmäßig, diese
Rubriken beizubehalten. Vom Standpunkte der eben gestellten
Aufgabe bedeuten diese — in kurzer Zusammenfassung — folgendes
(s. nebenstehende Tabelle):
In jeder dieser Rubriken finden wir eine Eigenschaft, die eine
quantitative Qualifikation zulässt: sie kann größer oder geringer
sein und dementsprechend erhält man — je nach dem Grade, resp.
Fehlen irgendeiner dieser Eigenschaften — diese oder jene Syn-
cellien.
5. Einzelne auf Grund der obigen Darlegzungen unterscheidbare
Syncellienarten.
Nach den obigen Ausführungen lassen sich folgende Syncellien-
arten unterscheiden:
Nach der Gleich- oder Verschiedenartigkeit der Syncellienarten:
A. Homoiomere®?) — wenn alle Syncellienteile gleichmäßig
differenziert sind. Hierher gehören z. B. die „Riesenzellen“ des
Knochenmarks und die quergestreiften Muskelfasern.
B. Poikilomere®*) Syncellien, in denen alle Teile verschieden
differenziert sind. Beispiel — „Neuron“.
Die poikilomeren Syncellien können wiederum eingeteilt werden in
1. monozentrale (das gewöhnliche klassische Neuron),
2. multizentrale (als Beispiel das Neuron aus der Dogiıel’schen
Zellenkolonie),
3. azentrale (als Beispiel die elektrische Platte der Raja
radiata).
6. Das Leben des Syncelliums.
Aus der Existenz des Syncelliums ergibt sich als interessantes
Postulat die Notwendigkeit, das Vorhandensein eines Lebens, d.h.
einer Jugend, Reife und eines Alters der Einheiten höherer Zell-
syncellien anzuerkennen. In seiner jüngsten Phase besitzt das Syn-
cellium — wie das von Rhode fortgesetzt richtig betont wird —
33) Vom Worte öuoros — ähnlich und unoos — Teil.
34) Von zoixılos — bunt, verschiedenartig.
68 Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete.
gleichviel, ob es sich um ein Plasmodium oder um ein Syneytium
handelt, undifferenziertes, fibrillenloses Protoplasma. Je mehr das
Syncellium altert, desto mehr nimmt die Anzahl der Fibrillen und
aller die Funktion des betreffenden Syncelliums bestimmenden
Mechanismen zu, während die Menge des undifferenzierten Proto-
plasmas und der Kerne abnimmt. In Fig. 14 ist diese Eigentüm-
lichkeit des Syncelliums schematisch dargestellt.
Fig. 14 B. Fig. 14C.
Schema des Lebens eines Syncelliums.
' Mit voller Regenerationskraft begabte Teil des Syncelliums. A. Syncellium ist
jung. B. Syncellium mittleren Alters. C. Syncellium ist alt.
Neben Regenerationsherden bestehen überall auch Herde physiologischer Degeneration.
Es ist anzunehmen, dass der Syncellozellenreichtum des Syn-
celliums, d. h. die Zahl der Syncellozellen, mit dem Alter ent-
sprechend abnimmt, denn was sich den Eigenschaften nach einer
selbständigen, voll funktionierenden, mit allen typischen Qualitäten
ausgestatteten Zelle nähert, ıst auch hierdurch lebensfähiger und
—- sozusagen — jung. Hierin ist die Erklärung des Umstandes zu
suchen, dass man in den Ganglien alter Organismen weniger Gang-
lienzellen als bei jungen Tieren findet??). Nicht alle Teile und Zellen
des Syncelliums besitzen die gleiche Fähigkeit, als Regenerations-
und Wachstumsorgane zu fungieren; häufig übernehmen nur be-
stimmte Zellen diese Rolle, und je weniger solcher Zellen vor-
handen sind, desto älter ist das Syncellium. So regeneriert im
Neuron wohl der periphere Teil, der zentrale aber fast gar nicht;
der am meisten periphere Teil des Neurons bleibt höchstwahrschein-
lich während seines ganzen Lebens regenerationsfähig.
35) Vgl. Bethe. Allgem. Anat. u. Physiol. des Nervensystems, S. 104.
Leontowitsch, Das ‚Syncellium‘‘ als dominierende Struktur ete. 69
, D%
Hier ıst es am Platze, eines Problems zu erwähnen, das schon
vor langer Zeit von Sigmund Meyer aufgestellt worden ist.
Ich meine die Frage nach der physiologischen Degeneration
und Regeneration. Meyer?’*) warf diese Frage nur in bezug auf
das Nervensystem auf; die Syncellientheorie nimmt sie in Anwen-
dung auf alle Syncellien in ihrer ganzen Mannigfaltigkeit auf.
Werden die Syncellien des Organismus während des embryo-
nalen Lebens für die ganze Lebensdauer des Tieres gebildet oder
geht während des Lebens eine fortwährende physiologische Degene-
ration und Regeneration des Syncelliums vor sich? Ist letzteres
der Fall, so fragt es sich, auf welche Weise sich diese Prozesse
vollziehen.
Werden alle Neurosyncellien ein für allemal gebildet oder geht
auch in ihnen ein eigenartiger Prozess nicht nur der Degeneration,
sondern auch der Regeneration vor sich, wie das im Myosyn-
cellium u. a. der Fall ist?
So entsteht eine Reihe von Fragen, und die Antworten, die
darauf allgemein gegeben werden, dürfen kaum als richtig ange-
sehen werden, da sie gewöhnlich von der gangbaren Zellentheorie
ausgehen, während die Syncellientheorie eine Durchsicht des experi-
ımentellen Materials von einem ganz andern Gesichtspunkt erheischt.
In einer Arbeit wie der vorliegenden ist es aber am wichtigsten,
mit nötigem Takte die Grenzen zu erraten, wo man zu denken und
Hypothesen zu konstruieren und wo man zu experimentieren hat,
wo zu suchen ist, was sich auf Punkt 2A und was sich auf
Punkt 2B bezieht (S. 37).
Mir scheint, dass wir diese Grenze überschritten bätten, wenn
wir die Tatsachen aus der Literatur, die sich auf diesen höchst
interessanten und wichtigen Punkt beziehen, eigens zusammen-
gestellt hätten, statt diese Fragen zukünftigen Experimenten zu
überlassen.
7. Andere Fälle, in denen die Syneelliennatur der Strukturen
weniger augenscheinlich ist.
Die Frage nach den Syneytien, resp. den Syncellien im Binde-
gewebe ist, wie das auch aus der Literaturübersicht hervorgeht,
schon mehrfach erörtert worden.
Der Knorpel ist von diesem Standpunkte von Schaffer,
Hansen und Rhode°’”) einer Betrachtung unterzogen worden.
Jeder Knorpel besteht aus Syncellozellen und einem von Chon-
dromokoid oder es produzierenden Substanzen inkrustierten Proto-
36) Über Degenerations- und Regenerationsvorgänge in normalen peripheren
Nerven. Berlin 1876.
37) Schaffer. Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 70, S. 109. — Hansen,
Anat. Anz., Bd. 16, S. 417. — Rhode. I. Syneytien ete. S. 53—56 u. 59.
0) Leontowitsch, Das „Syncellium‘ als dominierende Struktur etc.
plasma. Fibröse und elastische Knorpel besitzen auch fibrilläre
Syncellite. Allen Knorpeln ist das Perichondrium eigentümlich,
mit dessen Fasern die Zellen eng verbunden sind. Diese Zellen
bilden aus den Knorpeln ein poikilomeres Syncellium, denn es sind
hier außer gleichartigen Zellen und deren Teilen auch Chondro-
blasten (Syncelloblasten) des Perichondriums vorhanden, die sich
von den Zellen anderer Knorpelteile unterscheiden. Das Vorhanden-
sein dieser Zellen sowie andere Anzeichen lassen eine permanente
physiologische Regeneration des Knorpels vermuten, einen Prozess,
der auf experimentellem Wege richtig verfolgt und nur vom Stand-
punkte der Syncellientheorie richtig gewürdigt werden kann.
Der Knochen gleicht in vielem dem Knorpel. Die Unter-
schiede sind, soweit die hier erörterten Fragen ın Betracht kommen,
unwesentlich.
Alle Teile der Syncellien im Knochen gleichen denen des
Knorpels; sie sind nur komplizierter, da im Leben des Knochens
ein Moment vorhanden ist, in dem er das Stadium eines osteoiden
Gewebes (vom Knorpel nicht präformierte Knochen), sowie ein Sta-
dium des Vorhandenseins der sogen. „Wachstumslinie“ des Knochens
(vom Knorpel präformierte Knochen) durchmacht.
Der Knochen ist demnach ein sehr kompliziertes poikilomeres
Syneytium mit einem sehr komplizierten Entwickelungszyklus, das
physiologische Syncelloblasten (Regenerationszellen) und sehr kom-
plizierte Syncellone (Scharpey’sche u. a. Fasern der „runden
stanz“ des Knochens) besitzt.
Die Eigentümlichkeiten des Knorpels sind derartig, dass man
hier so etwas wie ein Experimentum crucis für die ganze Syn-
cellientheorie erblicken kann. In der Tat werden sich nicht wenige
finden, die behaupten werden, es sei hier ohne weiteres klar, dass
die Zellen als „elementare“ Einheiten ganz selbständig, gewöhnlich
sogar in besonderen Kapseln, liegen, während die Grundsubstanz
des Knorpels eine vollständig abgesonderte, ıhr eigenes Leben
führende intermediäre Zwischenzellsubstanz sei. Eigentlich ist die
jetzt herrschende gangbare Vorstellung von der Zelle und der
Zwischenzellsubstanz nichts anderes, als eine erweiterte Anwendung
dieser einfachen (quasi konkret) sichtbaren Eigentümlichkeit des
Knorpels auf alle Gewebearten, auch auf die, in denen die Be-
ziehungen der „Zellen* und der „Zwischenzellsubstanz“ weniger
klar und — wir wagen es zu sagen — sogar ganz unklar sind,
wenn man von diesem die Details ignorierenden herrschenden Ge-
sichtspunkte ausgeht. Der Knorpel ist in diesem Sinne ein Prototyp
dessen, was als wahr anerkannt wird.
In der neueren Literatur wird jedoch die Frage über den Bau
des Knorpels gewöhnlich in engem Zusammenhang mit der Frage
der Struktur aller anderen Arten des „Grund“gewebes (vgl. viele
Leontowitsch, Das ‚‚Syncellium‘“ als dominierende Struktur etc. 7
Arbeiten von J. Schaffer, Studnitka) erörtert, und wir halten
es für erforderlich, auch hier diesem ganz berechtigten Vorgehen
zu folgen. Die Grundfrage, die hier besprochen werden soll, be-
steht in folgendem: Kann dem Umstande, dass die Zellen des ver-
mutlichen Syncelliums zwar innerhalb der Grundsubstanz, aber doch
offenbar davon abgesondert, sozusagen in Nischen derselben liegen,
die Bedeutung eines entscheidenden Arguments gegen das Syn-
cellium zuerkannt werden?
Nach der Veröffentlichung der Arbeiten Hansen’s und Schaf-
fer’s?®) herrschen jetzt fast keine Zweifel mehr darüber, dass der
Knorpel in einem jungen Entwickelungsstadium ein Syncellium
(„Syneytium“, vgl. Merkel) darstellt. Fraglich bleibt es nur, ob
auch der vollständig reife Knorpel als Syncellium anzusehen ist.
Eine sehr wichtige Frage, deren Beantwortung eigentlich auch
die obige Frage löst, ist die nach der Genese der Fibrillen des
Bindegewebes und also auch des Knorpels und der Knochenfasern.
Fr. Merkel?) hat eine Zusammenstellung der über die Genese
der Bindegewebefibrillen vorhandenen Arbeiten gegeben. Er teilt
die diesbezüglichen Ansichten in drei Gruppen: 1. die alte Ansicht
M. Schultze’s und seiner Anhänger (Flemming, Mall, Zacha-
riades Studnitka, Spalteholtz, Mazur, Meves) — die Fasern
werden direkt aus dem Protoplasma der Bindegewebzellen gebildet
(erste extreme Ansicht). 2. Die (bei Merkel) „dritte Meinung lässt,
ganz revolutionär, die kollagenen Fasern in einer amorphen Grund-
substanz entstehen, welche mit den Zellen ganz direkt nichts zu
tun hat (v. Ebner, Merkel, Renaut, Laguesse)* (l. e., S. 347).
„Die ursprüngliche Quelle für alles Bindegewebe ist das be-
kannte Zellsyneytium des Mesenchyms. Dässelbe scheidet eine
amorphe Gallertsubstanz aus, welche entweder nur spärlich (Sehnen,
retikuläres Bindegewebe der Iymphoiden Organe), oder in größerer
Menge selbst reichlich vorhanden ist (Amphibien, Nabelschnur).
Sie füllt dann die Lücken des Zellnetzes, kann sich sogar relativ
weit über dasselbe hinaus erstrecken, ohne dass Zellen ihr folgen
(Muskeln). Überall da, wo die Gallerte mit anderen Geweben zu-
sammenstößt (Epithelien und ihre Derivate, Muskeln, Nerven), ver-
dichtet sie sich zu einer amorphen Grenzschichte (Membrana ter-
38) Hansen. Anat. Anz., Bd. 19. — Schaffer. Über den feineren Bau
und die Entwickelung des Knorpelgewebes und über verwandte Formen der Stütz-
substanz. Erster Teil, Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 70, S. 109. — Derselbe.
Über dasselbe. Teil II, Ibid., Bd. 80, S. 155. — Derselbe. Anat.-histol. Unter-
suchungen über den Bau der Zehen bei Fledermäusen u. s. w. Ibid., Bd. 85,
S. 231. — Derselbe. Teil III der ersten Arbeit. Ibid, Bd. 97, 8. 1.
39) Betrachtungen über die Entwickelung des Bindegewebes. Anat. Hefte,
Bd. 38, Heft II, S. 346. Mit der Merkel’schen Einteilung der Autoren sind wir
nicht ganz einverstanden, was uns übrigens nicht hindert, seine Einteilung als eine
typische anzuerkennen.
7,9) Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
minans, Umhüllung der Muskeln- und Nervenfasern). Diese Grenz-
schichte ist an sich zellenlos, doch kommt es vor, dass später Zell-
fortsätze in sie hinein vorgestreckt werden, welche jedoch mit ihrer
(senese nichts zu tun haben.“ „Im Innern des Bindegewebes selbst
nehmen die Zellen an der Bildung der Fasern ebenfalls keinen
direkten Anteil, dieselben entstehen vielmehr ausschließlich in der
Gallerte, die Zellen dienen nur zur Erzeugung dieser letzteren. Die
Faserstruktur tritt ın der Gallerte meist als ein indifferentes, sehr
zartes Netz in die Erscheinung, welches erst ın der Folge durch
Zerreißen der weniger beanspruchten Fäden zu glatten und unver-
zweigten Fasern umgewandelt wird.“ „An Stellen, an welchen
gleich von Anfang an eine ausgesprochene Spannung vorhanden
ist (Sehnen), wird das netzförmige Stadium nicht durchgemacht,
sondern es kommt sogleich zur Bildung parallel verlaufender, un-
verzweigter Fasern“ (l.c., S. 380).
Poll*) resümiert die Merkel’schen Anschauungen so: „Mit
dem Dogma, dass alles von den Zellen kommt, muss gebrochen
werden.“
3. Die zwischen den beiden vorhergehenden stehende Ansicht
(bei Merkel die zweite) besteht ın folgendem: „die kollagenen
Fasern entstehen aus einer Randschichte der Zellen (Mall, Stud-
nı@ka, Hansen); auch Flemming und Golowinski gehören
hierher. Die drei ersten der genannten Autoren belegen diese
Außenschichte mit dem Namen Exoplasma und Ektoplasma, wobei
die Exoplasmaschicht bald mehr die Zusammensetzung des eigent-
lichen Zellprotoplasmas bewahren, bald eine größere oder geringere
Umwandlung erfahren soll. Die Unstimmigkeit in dem, was die
einzelnen Untersucher als Exoplasma bezeichnen, veranlasste v. Ebner
zu der Bemerkung, dass die Einführung der Begriffe Exoplasma
und Ektoplasma in die Frage der Bildung der Grundsubstanz des
Bindegewebes keineswegs den Gegenstand klarer macht.“
Wenn wir demnach Studniöka und Spalteholtz, deren
Ansichten von Merkel kaum richtig aufgefasst sind, aus der ersten
Gruppe ausnehmen, so sind sich eigentlich alle neueren Forscher
darüber einig, dass die „Zwischensubstanz“ eine für alle Zellen des
gegebenen Knorpels gemeinsame Struktur darstellt: sie wird durch
Ausscheidung prochondromukoidaler Substanzen durch die Zelle
gebildet, wobei die Produkte verschiedener Zellen miteinander kon-
fluieren und hierbei kollagene und elastische Bindegewebsfasern
erfassen, respektive umhüllen können (J. Schaffer). In dieser Sub-
stanz entstehen später zuweilen verschiedene fibrilläre Differen-
zierungen (fibröser und elastischer Knorpel), die sich um die sogen.
40) Jahresber. über die Leistungen und Fortschritte in der Anat. u. Physiol.
von Waldeyer und ©. Posner. Bericht für das Jahr 1909, S. 45.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. 3
Hansen’schen Wachstumssterne entwickeln, wobei die eigentlichen
Zellen untergehen und sich gänzlich in Knorpelgrundsubstanz ver-
wandeln können. Diese Grundsubstanz führt dann weiter ihr eigen-
artiges, von den Zellen ziemlich unabhängiges Leben, und dieser
Umstand veranlasste manche, die Ursache der merkwürdigen Mannig-
faltıgkeit der Strukturen der „Grundsubstanz“ in neuen, nicht zellu-
lären Prinzipien ıhrer Klassifikation zu suchen. So sagt Stud-
nicka®!): „Den Tierkörper, z. B. den Wirbeltierkörper, halte ich
für ein Gebäude. Die sogen. ‚Stützgewebe‘ bilden seine Säulen,
Wände und Traversen, also dasjenige, was das Gebäude stützt.“
„Alles dies sind die eigentlichen ‚Baugewebe‘, deren Aufgabe darin
besteht, dass sie sich am Aufbau des Tierkörpers beteiligen, wenn
man diesen vom Gesichtspunkte eines Baumeisters — nicht dem
des Morphologen — aus betrachtet.“
Die Mannigfaltigkeit der Anschauungen über die Grundsubstanz
unseres Körpers ist demnach sehr groß, sie gab sogar einem solchen
Forscher wie Fr. Merkel Anlass, folgendes zu sagen: „Dabei sind
neue Beobachtungen nur ın beschränktem Maße zu machen, da
nicht allein in den genannten Arbeiten der neuesten Zeit, sondern
auch in den älteren alle erdenklichen Möglichkeiten der Faser-
bildung erschöpft sind; es handelt sich bei der Nachprüfung zum
Teil nur darum, dasjenige herauszuschälen, was von bleibenden
Werte ist“ (Anat. Hefte, Bd. 38, S. 348)*). Zu einer Zeit, in der
alles zur Forschung neigt, während dem Denken ängstlich aus dem
Wege gegangen wird, ist eine solche Äußerung eines modernen
Biologen recht selten anzutreffen. Wir persönlich begrüßen natür-
lich diese Merkel’schen Worte.
Der Hauptpunkt, auf den es hier ankommt, gipfelt, wie bereits
gesagt, in der Frage, ob man die Zellen als Bestandteil des Orga-
nismus so absolut abtun könne, wie wir es bei Merkel sehen.
Im vorliegenden experimentellen Material finden sich auch jetzt
nicht wenige Tatsachen, die bei dem Bestreben, die Rolle der Zellen
im Grundgewebe herabzusetzen, eine besondere Vorsicht erheischen.
Zunächst sprechen auch dıe Forschungen und Ausführungen Han-
sen’s und Merkel’s nur dafür, dass wir es hier mit einem Gewebe
zu tun haben, ın dem sich der funktionelle Teil, die exoplasma-
tische Grundsubstanz, der Konsistenz nach von dem charakteristisch
halbflüssigen Zellprotoplasma scharf unterscheidet. Es ist daher
41) Anat. Anz., Bd. 31, S. 508 Über einige Grundsubstanzgewebe.
42) Es ist nicht uninteressant, hiermit folgende Äußerung über das Nerven-
system zu vergleichen: „Fasse ich jetzt in aller Kürze die einzelnen Hauptresultate
dieser neueren Untersuchungen über die Histogenese des Nervensystems zusammen,
so zeigt sich, dass es keine Beobachtung gibt, die wicht von einer anderen direkt
bestritten wird.“ Held. Entwickelung des Nervengewebes bei den Wirbel-
tieren. 8. 8.
74 Leontowitsch, Das ‚„Syncellium“ als dominierende Struktur ete.
natürlich, dass bei gewissen Bearbeitungsverfahren und in bestimmten
Stadien der Struktur „Zellen“ (in der üblichen Auffassung) und
„Grundsubstanz“ konstatiert werden. In dieser Beziehung ist es
zweckmäßig, sich das Verhalten der Zellen in anderen Syncellien
zu vergegenwärtigen.
Im Myosyncellium und im Neurosyncelllum sind die Kerne
von geringen „Resten“ körniger undifferenzierter Protoplasmasubstanz
umgeben, während die Hauptmasse beider Syncellienarten aus fibril-
lären oder membranösen Syncelliten besteht. Im Neurosyncellium
kommt noch hinzu, dass die Schwann’sche Scheide zuweilen einen
vollständigen Sack bildet, der das zwischen zwei Ranvier’schen
Schnürungen vorhandene Mark ganz umfasst (Schifferdecker, beim
Hecht). Auf diese Weise ıst der am Kern liegende, am meisten
energietragende undifferenzierte Teil der Synzelle stets durch ver-
schiedene Strukturen des Syncelliunis ziemlich scharf von ähnlichen
Teilen anderer Synzellen getrennt; zuweilen ist auch jede Synzelle
von der ihr benachbarten abgesondert. Im Myosyncellium ist diese
Trennung nicht besonders schroff. Aber auch im Neurosyncellium
liegen diese Verhältnisse nicht immer gleich: bald haben sie mit
denen des Myosyncelliums Ähnlichkeit, bald ist die Trennung so
schroff, dass man — wie das bereits mehrfach geschehen ist —
bei einigem Wunsch fast ganz abgesonderte, einzeln liegende Zellen
sehen kann.
Es ıst daher unbegründet, der scheinbaren Abgesondertheit
der „Zellen“ und der „Grundsubstanz“ entscheidende Bedeutung
zuzuschreiben. Wir wollen das auch um so weniger tun, als es
noch eine ganze Reihe anderer Umstände gibt, die auf den engen
Zusammenhang zwischen den „Zellen“ und der „Grundsubstanz“
hinweisen.
Da kommt zunächst die Hansen’sche Arbeit in Betracht. Dieser
Autor machte darauf aufmerksam, dass die Knorpelfibrillen sich
um besondere, sogen. Wachstumssterne entwickeln, die an solchen
Stellen des Knorpels zu liegen kommen, in denen sich keine Zellen
befinden. Aus der seiner Arbeit beigegebenen Figur (vgl. S. 432)
folgt, dass fibrilläre Differenzierungen besonders leicht neben den
Zellen entstehen. Stirbt eine „Zelle“ innerhalb solcher Differen-
zierung ab oder verwandelt sie sich ganz in Grundsubstanz, so ent-
steht ein besonders ausgesprochener Wachstumsstern. Dass vielen
„Zellkernen“ des Nervensystems ähnliche Bedeutung zukommt, geht
ın vielen Fällen daraus hervor, dass ein Teil des Remak’schen
Netzes deutliche Spuren der Entartung trägt. Ist es richtig, dass
gegen das Alter die intrazellulären Gitter immer mehr uud mehr
den extrazellulären weichen (Bethe) und dass immer mächtigeres
„Nervöses Grau“ entsteht, so kann diese Rolle der „Ganglienzellen*
bei der Bildung der Nervennetze des „Graus“ kaum bestritten werden.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete. 5
Steht man auf dem Standpunkte der Zellenlehre, so sind solche
Tatsachen kaum verständlich. Vom Standpunkte des Syncelliums
lassen sie sich dagegen erklären, denn die Differenzierung geht im
Syncellium vor sich, die Abhängigkeit von der Zelle ist daher zwar
vorhanden, ist aber nur eine relative, so dass die Sterne zuweilen
auch nicht an den Zellen entstehen.
Es scheint mir angebracht, hier daran zu erinnern, dass der
Gedanke von dem intimen Zusammenhang zwischen der „Knorpel-
zelle“ und dem anliegenden Teile der Zwischensubstanz durchaus
nicht neu ist. Kein anderer als Flemming hetrachtete im Jahre
1897 den „Fribrillenmantel“ solcher Zellen als metamorphosierten
Teil des „Zellenleibes, der als Territorium eigentlich zu diesem
Leibe zu gehören fortfährt“ (Zeitschr. f. Biol., N. F., Bd. 16. Vgl.
auch Meves, „Die Zellen des embryonalen Stützgewebes“. Arch.
f. mike Anak, Bd.75, S. 201).
Im Jahre 1905 schreibt ferner Hansen (Anat. Hefte, Bd. 27,
S. 747): „Eine scharfe Sonderung in ‚Protoplasma‘, ‚Zellkörper‘ und
Grundsubstanzen lässt sich ın vielen Fällen unmöglich aufrecht er-
halten oder nachweisen. Ob man sagt, die ‚Zelle‘ ‚scheide‘ an ihrer
Oberfläche Grundsubstanz ‚aus‘ oder ‚bilde‘ solche, oder ob man
sagt, die peripheren Protoplasmaschichten ‚verwandelten sich in
Grundsubstanz oder in ein Vorstadium desselben, so bleibt die
Tatsache doch die, dass in einer großen Menge von Fällen irgendwo
ein mehr oder weniger umfangreicher, oft direkt nachweisbarer
Übergang aus ‚Protoplasma‘ in Grundsubstanz angetroffen wird.“
Auf den Zusammenhang zwischen den Zellen und der Zwischen-
zellsubstanz wurde auch schon Schaffer*) aufmerksam, der durch
verschiedenartige Behandlung der Knorpelgrundsubstanz darin eine
Reihe von Kapseln herausdifferenziert hat, die mit den Membran-
zellen konzentrisch sind. „Diese strukturlose Membran ist zweifellos
eine von den Zellen selbst gelieferte Oberflächenbildung, welche
nach Art einer Intercellularsubstanz ausgeschieden, respektive von
den Zellenoberflächen differenziert wird.“ Diese Intercellularsubstanz
des Knorpels wird nach Schaffer von den Zellen als eine Art
von Sekret ausgeschieden, das nun in gewissen Knorpelarten unab-
hängig von den Zellen unter dem Einfluss der Spannungen, die
im Stützgewebe entstehen und die eine Entwickelung von Fibrillen
da begünstigen, wo die Dehnung (oder Kompression) eine maximale
ist, verschiedene weitere fibrilläre Differenzierungen durchmacht.
Der Schaffer’schen Ansicht wird naturgemäß die schon längst
in alle Lehrbücher eingedrungene Nägeli’sche Anschauung entgegen-
gestellt, wonach auch das Wachstum solcher Gebilde, die die
Cellulosemembranen der Pflanzenzellen durch Intussuszeption mög-
43) Zeitschr. f. wissensch. Zool., Bd. 80, S. 246.
ib Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
lich ıst. Ich meine, dass sich eine solche Wachstumsfähigkeit dem
Schaffer’schen Zell,sekret“ nur sehr schwer, dem Exoplasma,
resp. dem Syncelloexoplasma leicht und ungezwungen zuschreiben
lässt; ıst doch die Intussusception mehrfach in festen tierischen
(seweben konstatiert worden, und ist man also kaum berechtigt,
sie zu verneinen oder zu ignorieren.
Auch Studnicka negiert oder verringert stark die Bedeutung
der Zellen. So schreibt er über die subkutane Gallertschicht beim
Amphioxus: „das Gallertgewebe ist auch hier als zellfrei zu be-
zeichnen, es kommen in ıhm viel häufiger Zellen vor, als wir früher
sahen, doch handelt es sich hier um nur ein akzidentelles
V orkommen der Zellen Für die Ernährung des Gewebes
haben solche Zellen natürlich keine Bedeutung.“
Das Hauptargument, mit dem hier dieser Gedanke bewiesen
werden soll, kann eigentlich nur auf das Wort „natürlich“ reduziert
werden, das an und für sich wohl keine große Beweiskraft bean-
spruchen darf; demnach können diese Behauptungen die Bedeutung
der Zellen auch nicht herabsetzen. Überhaupt scheint uns sein
Hauptgesichtspunkt, den wir durch das oben angeführte Zitat vom
„Gebäude des Tierkörpers“ ıillustrierten, zwar richtig, doch muss
man hierbei der leider nur beiläufig hingeworfenen eigenen Bemer-
kung Studnicka’s (l. ec.) gedenken, dass es sich hier eher um einen
Standpunkt des Physiologen als um den eines Morphologen handelt.
In dieser Beziehung nimmt er ebenso wie Hansen und bis zu ge-
wissem Grade auch Schaffer und Merkel eine ähnliche Stellung
ein wie dem Nervensystem gegenüber Apäthy. Dieser sieht (in
der Frage des Neemerran) wie jene (in bezug auf das Binde-
gewebe) das Prinzip des Baus und der ansehen der Gewebe
in physiologisch wichtigen fibrillären Strukturen, d.h. nach unserem
Gesichtspunkte, Syncellonen.
Wir betrachten aber die hier dargestellte Syncellientheorie als
richtigeres, ja einzig richtiges biologisches Klassifikationsprinzip.
Wie es von einem richtigen Prinzip auch zu erwarten ist, gibt es
die Möglichkeit, alle oben dargelegten Ansichten zu beleuchten,
wobei jede derselben, von der Syncellientheorie erfasst wird und
zu ihrem natürlichen Detail wird.
Unsere Anschauung schließt sich demnach den Ansichten unserer
dritten (der Merkel’schen zweiten) Gruppe an. Es handelt sich
hierbei aber nicht um ein Kompromiss, „welches mit den An-
schauungen M. Schultze’s und der Darstellung von Boll nicht
ganz brechen will“ (Merkel, l. e.). Es ist vielmehr eine natür-
liche Übereinstimmung der Meinungen, die durch den Einfluss einer
neuen mittleren Idee herbeigeführt worden ist. Der Begriff des Ekto-
und des Entoplasmas erhält hier wirklich seinen tiefen Sinn, und man
kann nicht sagen, dass er „den Gegenstand keineswegs klarer macht“.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. re
Unser Gesichtspunkt wird auch dem ‚selbständig wachsenden“
Exoplasma und dem trotz alledem unanfechtbaren Satze „omnis
cellula e cellula, omnisque nucleus e nucleo* gerecht.
Die gangbare Theorie, auf die wir bei der Beschreibung des
Knorpels eingingen und die den Organismus -als aus Zellen und
Intercellularsubstanz zusammengesetzt beschreibt, wäre viel klarer
und berechtigter, wenn sie auf dem ganzen Gebiete der Gewebe-
lehre einigermaßen konsequent durchgeführt werden konnte. Das
ist aber durchaus nicht der Fall: das Muskel-, Nerven- und viel-
leicht auch das Epithelgewebe passen in diese Theorie offenbar
nicht hinein. Sieht man diese Lehre also von einem allgemeineren
Gesichtspunkte an, so bietet sie vielleicht noch mehr Unebenheiten
als dıe unsrige.
Die Frage, ob der Knochen als Syncellium aufgefasst werden
könne, wird fast in unserm Sinne von A. Hartmann (Arch. f.
mikr. Anat., Bd. 76, S. 254, namentlich S. 283) für Knochen, die
vom Bindegewebe präformiert sind — vorläufig allerdings noch in
der Rhode’schen Auffassung — beantwortet. Es bleibt also nur
übrig, einen Schritt weiter zu gehen und die gesamte Struktur des
ausgewachsenen Knochens als Syncellium anzuerkennen. Diesen
Schritt halten wir auf Grund der großen prinzipiellen Ähnlichkeit
zwischen dem Knochen und dem Knorpel für ganz berechtigt.
Diese Anschauung schließt schon die alte Ansicht Waldeyer’s,
Stieda’s*) und Disse’s ın sich, wonach der Prozess der Aus-
scheidung der Knochengrundsubstanz nicht als Zellsekretion, sondern
als Differenzierung des äußeren Teils des Osteoblastenprotoplasmas
anzusehen ist. Das nähert sich schon dem für uns wichtigen Kern-
punkte der Frage, denn daran, dass die Intercellularsubstanz der
gesamten Struktur des betreffenden Knochens gemeinsam ist, ist
wohl nicht zu zweifeln. Wir geben übrigens zu, dass die Anwend-
barkeit der Syncellientheorie auf den Knorpel und den Knochen
manchem nicht genügend bewiesen erscheinen könnte; solche Forscher
könnten dann unter Ignorierung der Untersuchungen von Spalte-
holtz u. a. über die syncytiale Natur vieler Bindegewebearten ım
Knorpel und Knochen eine Ausnahme von dem ganz allgemeinen
Gesetze der Konstruktion der histologischen Elemente des Körpers
erblicken.
Aus dem Gebiete des Muskelgewebes haben wir noch den Herz-
muskel und die glatten Muskeln zu berühren. Der Herzmuskel
hat eine glückliche Stellung eingenommen: nach den Untersuchungen
von Heidenhain®’) stößt man oft auf die Behauptung, dass der
44) Entstehung des Knochengewebes. Arch. f. mikr. Anat., Bd. 73, >. 563.
45) Anat. Anz., Bd. 20 (1901). Eine interessante Kritik der syneytialen Natur
des Herzmuskels finden wir bei Zimmermann (Bern) — Palezewska —
PS Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
‘ \
ganze Herzmuskel ein Syneytium bildet (d. h. eigentlich dasselbe,
was wir vom Knorpel, Knochen u. s. w. behauptet haben). Ich
möchte nur darauf aufmerksam machen, dass nicht alle Teile des
Herzsyncelliums einander gleichen: namentlich fallen hier die Pur-
kinje’schen Zellen auf; die Zellen des His’schen Bündels unter-
.
NAAR
\% INN
Fig. 15.
Fig. 15. Anlage der Muskelfibrillen in der Herzwand eines dreitägigen Enten-
embryos, Man sieht feine und grobe Fibrillen, wodurch ihr Dickenwachstum an-
schaulich gemacht wird; desgleichen gewahrt man die Sonderung dicker Fibrillen
in mehrfache Spaltfibrillen (M. Heidenhain, Anat. Anz., Bd. 20).
Fig. 16. Glatte Muskelzellen vom Uterus des Kaninchens. Sublimat, Eisenhäma-
toxylin, Rubin. Die glatte Muskulatur zeigte in diesem Falle das Bild eines durch-
aus fibrillären Gewebes in dem Maße, dass die Zellengrenzen kaum kenntlich waren.
Nach Heidenhain, Plasma und Zelle, S. 601.
scheiden sich auch nach den Feststellungen verschiedener Autoren
von den gewöhnlichen Arbeitsmuskeln des Herzens. Das Herz-
syncellium ist demnach ein poikilomeres. Hat die myogene Theorie
der Herzkontraktionen ihre Berechtigung, so muss man annehmen,
Werner, Arch. f. mikr. Anat., Bd. 75, S. 41. M. Werner, der die syncelläre
Struktur des Herzmuskels leugnet, beschreibt und zeichnet viele Herzzellen bei
Warmblütern mit 2, 3, 4 und mehr (bis 16) Kernen. Von unserm Standpunkte
ist diese Tatsache mit dem Umstande zu vergleichen, dass die Nervenabschnitte
zwischen den Ranvier’schen Schnürungen zuweilen auch mehrere Kerne besitzen.
Beide Tatsachen lassen sich sehr plausibel dadurch erklären, dass in jenem Falle
die „Grenzen zwischen den Zellen“, in diesem die Schnürungen keine wirklichen
Grenzen zwischen den Zellen, sondern Syncelloformite sind, die atavistisch die Ge-
trenntheit der durch Syncellite verbundenen Zellen andeuten.
Leontowitsch, Das „Syncellium‘ als dominierende Struktur ete. (9
dass der Bau der Herzmuskelfibrillen viel komplizierter ıst als man
bis jetzt davon weiß. Sind die Muskelfunktionen so sehr ver-
schieden, dass — wie das jetzt wohl fast alle Anhänger der myo-
genen Theorie annehmen — einige Teile des Herzmuskels die Rolle
der Nervenganglien übernehmen, so müssen neben den physio-
logischen Eigentümlichkeiten auch morphologische vorhanden sein,
d.h. man muss in einigen Teilen des Herzens eine solche Ent-
wickelung syncellonaler (fibrillärer) Strukturen erwarten, wie sie
sich in anderen nicht finden wird (analog dem, was wır ım Neuro-
syncellium sehen).
Hier stellt die Syncellientheorie dem histologischen Experiment
eine Reihe neuer Aufgaben, und die Zukunft wird lehren, ob und
inwiefern der biologische Radikalısmus der Anhänger der myogenen
Theorie berechtigt ist.
Wie dem auch sei, es bleibt sehr wahrscheinlich, dass das
Myosyncellium des Herzens ebenso kompliziert ist wie das Osteo-
syncellium und ebenso wie letzteres seine Myoblasten (Purkinje’sche
Zellen) besitzt, die den Osteoblasten des Osteosyncelliums analog sind.
Bekanntlich lässt sich im Herzsyncellium durch eine Reihe
von Verfahren auch das zum Vorschein bringen, was man früher
als „Grenzen zwischen den Zellen“ bezeichnet hat. Sie dürfen
natürlich bei unserer Betrachtung nicht ignoriert werden. Vom
Standpunkte der Syncellientheorie sind jedoch diese Grenzen ihrer
Bedeutung nach den Ranvier’schen Schnürungen analog zu setzen,
d. h. sie stellen Syncelloformite, also morphologische Details des
Syncelliumbaus dar: finden sich doch zuweilen auch hier solche
Zellen, die zwei und mehr Kerne besitzen.
Die glatten Muskelfasern wurden bis jetzt — wenn man nicht
die unten angeführte Fig. 16 mitzählt — noch nicht zum Gegen-
stand der Betrachtung vom Standpunkte der Syncellientheorie ge-
macht. Ist es aber möglich, von einem Herzmyosyncellium zu
sprechen, so hindert uns nichts, auch diese Fasern als homoiomere
Syncellien anzusehen. Wir finden auch hier Zellen, die sich von
den andern dadurch unterscheiden, dass sie bei der intravitalen
Methylenblaufärbung ein eigenartiges körniges Aussehen annehmen.
Das Syncellium erklärt die merkwürdige Resistenz, die das
Muskelgewebe gegenüber den das Gewebe in einzelne „Zellen“ zer-
setzenden Reagenzien zeigt. Diese Resistenz hängt offenbar damit
zusammen, dass die Syncellite sie zu einem Syncellium verbinden.
Das Epithelgewebe wurde schon von dem uns interessierenden
Gesichtspunkte von Rhode‘°®) betrachtet. Man muss hinzufügen,
dass, soweit hier die Ausgeprägtheit des Syncelliums in Betracht
kommt, dieses Gewebe nicht minder als der Herzmuskel als Syn-
46) Syneytien etc., S. 57.
ou)
cellıum
trennte
nismus verbunden sind ®").
angesehen werden muss:
Zellen, die durch Fibrillen zu einem gemeinsamen Mecha-
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
hier wie dort finden wir fast ge-
Der syncelläre Oharakter der Struktur tritt besonders deutlich
beim Embryo hervor. Rhode machte mit Recht darauf aufmerksam,
Fig. 17. Aus dem Epithelwall vom Kiefer
der neugebornen Katze. Sublimat, Eisen-
hämatoxylin. Präparat von Th. Hoffa.
Die Stelle ist aus der Mitte des Epithels
genommen; unten fehlen 2 Zellenschich-
ten, die oberste stößt an die Hornschicht
an. Die Epithelfaserung zieht vertikal
von der Basis des Epithels in der Rich-
tung auf die freie Oberfläche. Nach
M. Heidenhain. Plasma und Zelle.
S. 960. (Hierauf bezügliche ausgezeich-
nete Abbildungen finden sich bei Rosen-
stadt, Arch, f. mikr. Anat., Bd:
S. 659.)
75,
schreibung die Frage nach den
bestehen sollten, von jeher wıe von selbst ignoriert wurde.
dass das Epithel bei den Em-
bryonen vieler Tiergattungen ganz
den Charakter einer ungeteilten
plasmatischen Masse mit darin
liegenden Kernen, d.h. den Cha-
rakter eines Syncelliums trägt.
Er berührt jedoch nicht die Syn-
cellone des Epitheliums, die in
vielen Fällen sehr ausgeprägt
sind. Ich meine natürlich den
fibrillären Mechanismus des Epıi-
thels.. °S- Big. 16.
Einige Epithel „zellen“ (z. B.
die der Malpigiischen Schicht)
spielen die Rolle von Syncello-
blasten, denn die äußeren Teile
des Epithels schälen sich fort-
während ab, und die Schicht
wird durch „physiologische Re-
generation“ der inneren Teile
des Epithelsyncelliums ersetzt.
Inwieweit die Syncellien-
theorie auf das Drüsengewebe
anwendbar ıst, möchte ich vor-
läufig dahingestellt sein lassen.
Die elektrischen Organe sind
bekanntlich sehr mannigfaltig ge-
baut, doch sind sie sowohl ihrer
Abstammung aus dem Muskel-
syncellium wie ihrer ganzen Struk-
tur nach so sehr ausgesprochene
Syncellien, dass bei ihrer Be-
einzelnen Zellen, aus denen sie
Man
sprach immer von elektrischen „Platten“, Säulen u. s. w.
Einige dieser Organe sınd homoiomere, andere poikilomere
Syncellien.
Auf der beigegebenen Zeichnung sieht man Beispiele
47) Die betreffende Literatur ist bei Rosenstadt, Protoplasmafasern in den
Epidermiszellen (Arch. f. mikr. Anat., Bd. 75, S. 659) zusammengestellt.
Leontowitsch, Das „Syneellium“ als dominierende Struktur ete. S{
verschiedener Arten dieser Organe. Interessant ist es, dass die
aktivsten Formen der elektrischen Platten (z. B. beim Torpedo)
mehr homoiomer als die am wenigsten aktiven pseudoelektrischen
Platten der Rajıdae sind. In den elektrischen Organen wird die
Frage noch durch die Teilnahme der Derivate des Nervengewebes
am Syncellium kompliziert.
Fig. 18. Stufenweise Entwickelung (aufeinanderfolgende Stadien a, b, c, d, e) der
elektrischen Platte (e) der Raja clavata (7!/,cm langes Embryo) aus der Muskel-
faser (nach Engelmann); n — zentrale Nervenfasern. Man sieht, wie aus dem
homoiomeren Muskelsyncellium ein poikilomeres, die elektrische Platte, entsteht.
f — fast vollständig entwickelte elektrische Platte der Raja batis mit bereits scharf
ausgesprochenem poikilomerem Charakter einzelner Teile (nach Ewart, Philosoph.
Transaction, vol. 179B). Bei der Raja batis ist der poikilomere Charakter noch
schärfer ausgeprägt als bei den anderen Rajidae und beim Torpedo.
Diese Syncellien bieten noch insofern Interesse, als sie als
gutes Beispiel der Mannigfaltigkeit der Syncellien dienen können,
was zum Verständnis der Entwickelung des Nervensystems, in dem
je nach den Besonderheiten des betreffenden Nervs sowohl kern-
reiche als kernfreie Syncellienabschnitte vorkommen, besonders
wichtig ist.
Was das elastische adenoide und lockere Bindegewebe anbe-
trifft, so haben wir es hier — wie das aus dem literarischen Teil
der Arbeit ersichtlich ist — überall mit homoiomeren Syncellien zu
tun. Überall finden sich darin elastische, kollagene u. a. Syneellone.
XXXIIL 6
82 Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc.
8. Die Syneellientheorie in ihrem Verhältnisse zur Lehre von
der Zelle als von einem elementaren Organismus.
Man hört und liest häufig, dass die Zellenlehre schon durch
Heidenhain u.a. erschüttert worden und das Grundproblem der
Biologie nicht in der Zelle, sondern in Einheiten, die kleiner als
die Zelle sind, zu suchen sei. Wir haben ın der Tat gesehen, dass
ein großer Teil der Zellen des Tierkörpers viele der Eigenschaften
eines echten elementaren Organismus verloren hat und zu Syncello-
zellen geworden ist. Recht häufig geht dieser Prozess so weit,
dass die Zelle nur ım Zusammenhang mit ihrem Syncellium zu
existieren vermag und außerhalb desselben rasch untergeht. In
solchen Fällen tritt das Syncellon in den Vordergrund, durch das
die Funktion des Syncelliums hauptsächlich bedingt wird; das Syn-
cellıum selbst spielt die Rolle einer morphologischen Einheit, wie
wir das beim „Neuron“ sehen.
Man würde aber sicherlich viel zu weit gehen, wenn man ver-
gessen sollte, dass jedes Syncellium, gleichviel ob es sich um ein
Plasmodium oder um ein Syneytium handelt, dadurch gebildet wird,
dass die Zellen, aus denen auf diese oder jene Weise das Syn-
cellium entstanden ist, neben anderen Fähigkeiten eine syn-
cellienbildende Eigenschaft besitzen. Unsere vorliegende
Arbeit fassen wir eben nur als einen Versuch auf, die Zellen-
lehre zu ergänzen, da einige Eigenschaften der Zelle, die zum
Verständnis ihrer Rolle im Organismus von Wichtigkeit sind, bis
jetzt nicht genügend klar sind.
Es entsteht nun die Frage: was bedeutet das, was hundert
Jahre lang im Organısmus als „Zelle“ bezeichnet wurde und bei
uns „Syncytozelle“ heißt?
Dieses Gebilde konnte deshalb Zelle heißen, weıl es tatsächlich
oft einer Zelle ähnelt, so z. B. einzelne Zellen des Herzmuskels,
die Abschnitte zwischen den Ranvier’schen Schnürungen u. s. w.
Von unserm Standpunkte erscheint diese Benennung dadurch
berechtigt, dass die Syncellozellen die oft vorkommende Neigung
zum Atavismus, d. h. zur Bildung von Formen, die ihrem fernen
Vorfahren, dem „elementaren Organısmus“, der selbständigen Zelle,
ähnlich sind, stets bewahren. Durch diesen Atavismus reproduziert
die Syncellozelle bei jeder Gelegenheit nach Möglichkeit einige
Attribute der selbständigen Zelle. Eben dadurch entstehen oft die
oben erwähnten Strukturen, die gewissen Seiten einer selbständigen
Zelle gleichen, nämlich die Zwischenzellgrenzen.
9. Das Verhältnis der Syneellientheorie zur Theorie
der „Gewebe“.
In dieser Beziehung ist die Stellung unserer Theorie verschie-
denen Gewebearten gegenüber verschieden.
Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur etc. 53
So besteht der Muskel offenbar aus einer Menge einzelner
Myosyncellien. Besteht die Neuronentheorie zu Recht, so muss
das Gewebe des Nervensystems natürlich ganz aus Neurosyncellien
zusammengesetzt sein. In diesen uns günstigen Zellen ıst das Syn-
celllium im Vergleich zur Zelle eine histologische Einheit höherer
Ordnung.
In anderen Fällen liegen jedoch die Verhältnisse komplizierter:
der ganze Herzmuskel stellt nach der bereits sehr verbreiteten An-
schauung ein Syncellium („Syneytium“) dar. Jeder einzelne Knorpel,
jeder einzelne Knochen ist wohl auch nur als ein Syncellium auf-
zufassen. Aber auch in solchem extremen Falle ist man nicht be-
rechtigt, in der Syncellientheorie etwas den Tatsachen Zuwider-
laufendes zu erblicken: ın einem solchen Falle erscheint das Syn-
cellum nur als eine andere Bezeichnung für das Gewebe, eine
Bezeichnung, die aber dadurch wichtig ist, dass hier ein allgemeiner
Begriff, entsprechend der Mannigfaltigkeit der Differenzierungen,
die ein Studium des Tierkörpers bietet, reichen konkreten Inhalt
erhält. Dieser Begriff ist mit dem der Zelle eng verbunden und
trägt dabei nicht den Charakter jener wenig besagenden Allgemein-
heit, die dem doch völlig richtigen Satze, dass unser Organismus
ein „Symplast“ ist, innewohnt. Nun nahmen wir extreme Fälle;
die mittleren Fälle können natürlich nichts bieten, was für unsere
Theorie von vernichtender Bedeutung wäre.
Also auch von diesem Gesichtspunkte spricht vieles für die
Syncellientheorie, die eine nützliche, ja sogar notwendige Ergänzung
zu der Theorie der „histologischen Gewebe“ darstellt.
10. Das Verhältnis der Synecellientheorie zur Symplasttheorie.
Unsere Theorie muss aber mit der Möglichkeit rechnen, dass
das Syncellium nicht nur von „Zellen“ ein und desselben „Gewebes“,
sondern auch von „Zellen“ und Strukturen verschiedener, mit-
einander funktionell verbundener „Gewebe“ gebildet werden kann.
So ist die quergestreifte Muskelfaser mit ihrem Nerv und ihrer
Sehne eng verbunden. Bei den Nematoden differenziert der Oeso-
phagus aus einer eigenartigen plasmatischen Masse (siehe Rhode,
l. c., S. 60) Muskelfibrillen, elastische Fasern, dicke kutikuläre Ge-
bilde u. s. w., ohne „Gewebe“ auszuscheiden.
Für solche Fälle eignet sich die Symplasttheorie sehr wohl.
Aber sollte diese Theorie auch jemals eine detaillierte Formulierung
erhalten, so müsste sie doch als integrierenden Teil etwas in sich
aufnehmen, was zwischen der Zelle und dem Symplast stünde.
Demnach füllt unsere Auffassung auch vom Standpunkte dieser
Theorie eine natürliche Lücke in der Klassifikation der Tatsachen
und muss daher als empirisch nützlich anerkannt werden.
6*
S4 Leontowitsch, Das ‚„Syncellium“ als dominierende Struktur ete.
11. Das Verhältnis zu den Sachs’schen Energiden *).
Bekanntlich hat Sachs darauf hingewiesen, dass die Bezeich-
nung „Zelle“ für das Element des lebenden Organismus von
Robert Hooke (1667) stammt, der die innere Konfiguration des
Korks und der Holzkohle wegen der Ähnlichkeit mit Bienenwaben
als eine zellige bezeichnete. Später wurde diese Benennung — ohne
dass es dem Sinne der Sache entsprach — auf das übertragen,
was wir jetzt als Zelle bezeichnen. In dem Bestreben, einen Namen
zu finden, der dem Begriffe besser entspräche als der Ausdruck
„Zelle“, schlägt v. Sachs das Wort „Energide“ vor. Über die
Bedeutung dieses Wortes schreibt er folgendes: „Unter einer Ener-
gide denke ich mir einen einzelnen Zellkern mit dem von ıhm be-
herrschten Protoplasma, so zwar, dass ein Kern und das ihn um-
gebende Protoplasma als ein Ganzes zu denken sind und dieses
Ganze ist eine organische Einheit, sowohl im morphologischen wie
im physiologischen Sinne.“ „Das Wort Energide soll nur den leben-
digen, mit Energie, mit Tatkraft begabten Körper bezeichnen, der
bei den Pflanzen gewöhnlich (nicht immer) in einem von ihm selbst
erzeugten Gehäuse, d. h. in einer Zellstoffhaut, eingeschlossen ist.
Diese entsteht auf der Außenseite der Energide; aber auch in dem
von der Energide selbst umschlossenen Raume entstehen verschie-
dene Gebilde, die an sich nur passive Produkte derselben sind und
keine, oder höchstens potentielle Energie besitzen, wie die Stärke-
körner, Aleuronkörner, Kristalle“... „dass ich (Sachs) die ge-
nannten Zellenteile mit Einschluss der organischen ım Zellsaft
gelösten Stoffe als die passiven Zellenprodukte (oder Energiden-
produkte) der Energide gegenüberstelle.“
Seinerzeit wurde die Anwendbarkeit der Sachs’schen Theorie
auf den tierischen Organısmus von Kölliker*’) erörtert, der sich
dieser Theorie gegenüber ziemlich reserviert verhält. Namentlich
weist er auf die Schwierigkeit der Einteilung des tierischen Ge-
webes in „passives“ und „aktives“, d.h. die eigentliche Energide
ım Sachs’schen Sinne, hin. So sind die kontraktile Substanz des
Muskels und die Nervenfaser eigentlich die labilsten, energie-
begabtesten Körperteile, während sie nach Sachs in die Kategorie
der passiven Zellprodukte gehören.
Mir als Physiologen würde der Sachs’sche Vorschlag, der ein
eigentlich physiologisches Prinzip enthält, sehr sympathisch sein,
wenn er nicht an einigen wesentlichen Mängeln litte.
Uns scheint es zunächst, dass das Prinzip der Energide einer-
seits unbestimmt ist, andererseits als mechanische Konzeption
48) Flora, Bd. 81, 1895, S. 405, 406, 407.
49) Die Energiden von v. Sachs im Lichte der Gewebelehre der Tiere. Ver-
handl. d. phys.-med. Gescellsch. zu Würzburg. N.F., Bd. 31, 1897.
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur etc. SH
nicht als Grundlage der Klassıfikation der Strukturen des Organıs-
mus genommen werden kann, bei der es sich um eine morpho-
logische Konzeption, d. h. um Vorstellungen ganz anderer Ord-
nung handelt.
Zweitens haben morphologisch gleichartige Gebilde, unsere
Syncellone verschiedener Gewebe, ganz verschiedene physiologische
Bedeutung: so ist eine Bindegewebsfibrille ein „passives Zellprodukt*“,
ährend die Nervenfibrille zu der Behauptung Anlass gegeben hat,
dass „alles Psychische nur ein Spiel der Reize der Außenwelt im
Fibrillengitter des Gehirns ist“, so dass das Sachs’sche Prinzip
hier wenig angebracht ist.
Drittens löst dieses Prinzip gar nicht die akuteste Frage der
modernen Cytologie, die Frage über die Beziehungen zwischen dem,
was „Zelle“ und dem, was „Intercellularsubstanz“ heisst. Nament-
lich umgeht Sachs die in der letzten Zeit überall in den Vorder-
grund tretende Frage über die eigenartige Vitalität der Intercellular-
substanz.
Viertens ıst es zuweilen angebracht, im tierischen Organismus
unter Energide nicht nur das, was Sachs als solche bezeichnet,
sondern auch manches andere zu verstehen. So ıst z. B. die Exi-
stenz von Syncellien wahrscheinlich, die nicht nur aus Zellen eines
Gewebes, sondern auch aus Zellen verschiedener Gewebearten be-
stehen. Das motorische Rückenmarksneuron bildet z. B. mit der
von ihm innervierten Muskelfaser eine funktionelle (und vielleicht
auch morphologische) Einheit. Es ist daher natürlich, im tierischen
Organismus nicht nur das als Energide zu bezeichnen, was v. Sachs
unter diesem Worte versteht, sondern auch vieles andere, was von
dem ursprünglichen Sachs’schen Sinne weit abweicht.
In Anbetracht dieser Umstände halten wir die Einführung des
Begriffes „Energide“ für ein empirisches, nicht sehr genaues, aber
zuweilen zum Eindringen in das Wesen der Sache sehr nützliches
Hilfsmittel, das sich namentlich bei Erörterung einiger biologischer
Fragen gut bewähren kann; durch diesen Begriff den Begriff der
Zelle ersetzen zu können, halten wir für ausgeschlossen und ziehen
die oben dargelegte Theorie vor.
12. Schlussfolgerungen.
1. Der Tierkörper besteht in seiner Hauptmasse nicht aus
Zellen, „elementaren Organismen“, sondern aus Syncellien. Als
„elementare Organismen“ sind vielleicht nur die Wanderzellen des
Bindegewebes und des Bluts zu betrachten.
2. Die Syncellien bestehen aus Synzellen, Syncellonen, Syn-
celliten, Syncelloformiten, Syncelloblasten, Syncellodegeneriten. Das
Syncellium führt ein eigenes zyklisches Leben.
Sb Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur etc.
3. Verschiedene Arten von Syncellien:
A. Homoiomere Syncellien:
1. „Riesenzellen“ des Knochenmarks, Osteoblasten.
2. Quergestreifte Muskelfasern.
3. Syncellium des Gerüstes der Lymph- und einiger an-
derer Drüsen (adenoides Gewebe).
4. Lockeres, geformtes, elastisches, embryonales Binde-
gewebe.
5. Epitheliales „Gewebe“.
6. „Glattes Muskelgewebe.“
B. Poikilomere Syncellien:
. Myosyncellium des Herzens.
. Elektrische Platten des Torpedos.
. Knorpel, Knochen.
. Elektrische Platten der Rajıdae.
5. Nervengewebe (Neurone etc.).
(Der poikilomere Charakter nimmt von 1—5 zu.) Einige Syn-
cellien der Gruppe B müssen als azentrale, die anderen als mono-
zentrale (das klassische Neuron Waldeyer’s) oder multizentrale
(einige Neurone A. Dogiel’s) bezeichnet werden.
4. Es kommen auch Konglomerate syncellären Charakters vor,
die nicht aus „Zellen“ ein und desselben Gewebes, sondern von
verschiedenen Gewebearten (z. B. Muskel- und Nervengewebe, Nerven-
und Epithelgewebe etc.) zusammengesetzt sind.
5. Nichtsdestoweniger bildet die Grundlage alles oben Geschil-
derten die Zelle; es kommt hierbei namentlich ihre Eigenschaft ın
Betracht, unter gewissen normalen Bedingungen ihres Lebens Syn-
cellien mit allen dazu gehörenden Strukturen zustande zu bringen.
Man ist daher nicht berechtigt zu verkünden, dass die „Zelle“ ab-
getan ist: sie wird stets im Mittelpunkte des biologischen Denkens
bleiben. Die Zellenlehre soll nur durch die Syncellientheorie und
die Befunde, die die Zerlegung der Zelle in Einheiten niederer
Ordnung (biologischer Atomismus) schon jetzt bietet und für die
Zukunft verspricht, eine Ergänzung erfahren.
P»=omX m
13. Die Lehre von den Geschwülsten im Liehte der
Syncellientheorie.
Vom Standpunkte des Syncelliums aus werden auch einige
Seiten der Lehre von den Geschwülsten beleuchtet.
Rohde hat das schon von seinem Standpunkte aus getan. Das
Hauptsächlichste in seiner Auffassung besteht darin, dass in einem
gewissen Entwickelungsstadium jede Geschwulst ein Plasmodium
darstellt; so erwirbt das Gewebe bei der Bildung einer Geschwulst
die Eigenschaften eines jungen Gewebes, wobei das Plasmodium
Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur ete, 571
der Geschwulst, unabhängig von den „Zellen“ Fibrillen (wenn solche
vorhanden sind) differenziert.
Von unserem mehr detaillierten Standpunkte aus kann man
noch etwas weiter gehen als Rohde: wir halten für die primäre
Ursache oder besser gesagt, für die primäre Bedingung der Bildung
und Entstehung einer Geschwulst das Auftreten solcher „Zellen“
(Produkte der Synzellen) im Organismus, in welchen die Fähigkeit
zur Bildung eines Syncelliums mehr oder weniger stark gelitten
hat; die Zellen verlieren solche Zell,organe“, welche für die Bildung
eines Syncelliums wichtig sind und erwerben Organe, die zur Hebung
der Vermehrungsfähigkeit der Zelle nötig sind. Diese beiden Zell-
„organe“ sind deshalb so verbunden, weil die ihr Leben im Syn-
cellıum zubringende „Zelle“ die Möglichkeit einer größeren Diffe-
renzierung erhält; sie kann als Teil eines Syncelliums — der Einheit
neuer höherer Eigenschaften — erscheinen, aber dabei gehen einige
frühere Eigenschaften verloren, so wie z. B. das planmäßige Leben
eines Menschen innerhalb irgendeiner Organisation, z. B. eines
Staates, ihm gewisse spezielle Funktionen auferlegt und ihm die
Möglichkeit nımmt, seine ganze Zeit einer Beschäftigung nach seinem
eigenen Geschmacke zu widmen, aber dafür gibt ihm das alle Be-
quemlichkeiten der Arbeit mit Arbeitsteilung. So binden auch die
Zellen im Syncellium einander in allen ihren Eigenschaften und
folglich auch in der Vermehrungsfähigkeit.
Dank dieser Veränderung der Eigenschaften der Zelle ändert
sich die Morphologie des Syncelliums und die Reife (sein Alter),
welche es im Organismus erreichen kann, im Vergleich zur Norm:
die Zahl der Syncelloblasten vergrößert sich, die der Fibrillen ver-
ringert sich, die Entwickelung der Syncellonen ist in größerem
oder geringerem Grade gehemmt und die Syncellien bleiben stets
jünger als in der Norm (vgl. Fig. 14).
Die Geschwülste stellen also Erkrankungen derjenigen Fähig-
keit der Zelle dar, die sie nötigt, in Syncellien zu leben. Diese
Fähigkeit kann jedoch in sehr verschiedenem Grade beeinträchtigt
werden, das eine Mal mehr, das andere Mal weniger.
Daher auch die Möglichkeit — was bei den Geschwülsten so
krass ins Auge fällt — dass dieselben einen überaus verschie-
denen Charakter aufweisen können. So z. B. können Geschwülste
von bindegewebigem Charakter aus Bildungen zusammengesetzt
sein, die nur aus „Zellen“ allein (z. B. das bösartige Rundzellen-
sarkom) oder aus Zellen und „Bindegewebsfibrillen“ von überaus
fester Konsistenz (gutartige Fibrome) bestehen. |
Die Pathologie kennt, wie bekannt, allerlei Übergangsformen
zwischen jenen und diesen, wobei die Geschwulst, wenn sie sich
selbst überlassen bleibt, sehr hartnäckig ihren ursprünglichen Cha-
vakter bewahrt und nur im Falle irgendwelcher anderweitiger Rei-
os Leontowitsch, Das „Syncellium‘ als dominierende Struktur etc.
zungen (Kauterisationen, operative Eingriffe) nicht selten bösartiger
wird, als anfangs, womit auch die größere Armut eines solchen
neugebildeten Gewebes an Fibrillen Schritt hält.
Von unserem Standpunkte aus ist es begreiflich, weshalb die
Geschwülste am häufigsten bei alten Menschen auftreten: bei diesen
sind natürlich alle „Zellen“ mehr zu Erkrankungen geneigt als in
der Jugend, und unter den sonstigen Defekten der „Zellen“ ist
natürlicherweise auch ein solcher vorhanden, der in einem größeren
oder geringeren Verlust der Fähigkeit zu normal-progressiven Pro-
zessen — der Bildung eines Syncelliums — besteht. Die weniger
(nicht zu Ende) differenzierten Zellen haben jedoch natürlicherweise
eine stärkere Neigung sich zu vermehren. Wenn das Syncellium
die Fähigkeit verloren hat, seine Entwickelung zu Ende zu führen,
so wird hiermit erreicht, dass solche Syncellien die Fähigkeit er-
halten, sich zu vermehren, und dazu um so stärker, je früher das
Syncellium in seiner Entwickelung stillsteht, und das bedeutet
ja doch mit anderen Worten, dass sich eine „bösartige Geschwulst“
entwickelt. |
Wenn auf die Zellen eines solchen Syncelliums irgendein neues
schädigendes Moment (Reizung) einwirkt, so ist eine weitere Schwä-
chung der Fähigkeit zur Syncellienbildung, d. h. eine Verstärkung
der Bösartigkeit der Geschwulst möglich.
Von unserem Standpunkte aus stellen alle diese seltsamen
Eigentümlichkeiten der Geschwülste eine solche Erkrankung der
Zelle dar, bei welcher durch eine einmal erfolgte Einwirkung die
Fähigkeit (oder das Bedürfnis, die Eigenschaft) der Zelle, nicht ın
(Gestalt eines Elementarorganismus, sondern eines Syncelliums im
Organismus zu leben, sich als in verschiedenem Grade geschädigt
erweist.
Somit scheint auch hier die Syncellientheorie, die einige dunkle
und seltsame Eigentümlichkeiten der Geschwülste und zwar solche,
die sowohl vom Standpunkte der Theorie der Embryonalreste als
auch vom parasitären Standpunkte aus ganz unklar sind, beleuchtet,
der Wahrheit nahe zu kommen. Ich bin weit davon entfernt, ın
dem Dargelegten einen Ersatz für diese beiden Theorien sehen zu
wollen, ungeachtet dessen, dass die Theorie der Embryonalreste
ebenso wie die parasitäre, gleich wenig experimentell begründet
ist, und doch liegt gerade hierin die Grundforderung jeder wissen-
schaftlichen Theorie.
Unsere Auffassung ist ja mit beiden Theorien vereinbar; beim
Experimente auf der Suche nach dem „Parasiten“ ist es ja auch
möglich, dass in reifen Geschwülsten kein Parasit vorhanden ist:
möglicherweise waren nur in den jüngsten Stadien der Geschwulst
Parasiten vorhanden, und zwar zu einer Zeit, wo man am allerwenigsten
an eine Geschwulst denken konnte: nachdem sie nun die Rolle von
Leontowitsch, Das „Syncellium“ als dominierende Struktur ete. so
Faktoren in dem Sinne gespielt hatten, dass Zellen entstanden
waren, die zur Bildung von Syncellien unfähig oder nur wenig
fähig waren, gingen die Parasiten spurlos zugrunde, wobei sie nur
seltsame Zellen hinterließen, die auf den ersten Blick den Zellen
des Organismus sehr ähnlich sind, aber in Wirklichkeit für den
Organismus einen schädlichen Parasiten darstellen. So haben die
Parasiten die Zellen gleichsam befruchtet, sie verjüngt und sind
dann verschwunden.
Hiermit sind wir jedoch schon auf das Gebiet der experimen-
tellen Forschung geraten, der das Weitere anheimzustellen ist.
Von diesem unserem Standpunkte aus ist es ja natürlich, dass
alle Gewebe des Organismus der Geschwulst einen ihnen ent-
sprechenden Typus von größerer oder geringerer Bösartigkeit ver-
leihen können.
Die Frage von der Rolle der Syncellienfibrillen in den Ge-
schwülsten hat bereits die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich
gelenkt. Mir ist nur eine Untersuchung dieser Art bekannt. Sie
gehört Omeltschenko°®) an. Er kommt zu folgenden Schlüssen:
1. Die Verbindung der Zellelemente des vielschichtigen poly-
morphen Epithels ist durch ein Fasergewebenetz bedingt.
2. In den Nestern dieses Netzes sind Fpithelzellenkerne ge-
legen; die Membran dieser Zellen ist unabhängig vom Gewebenetz.
Die intracellulären Fasernetze stellen einen Teil des allgemeinen
Gewebenetzes des vielschichtigen Epithels dar, ebenso wie die Inter-
cellularbrücken einen Teil und die unmittelbare Fortsetzung der
einzelnen Fasern ebendesselben allgemeinen Gewebenetzes bilden.
4. Bei gutartigen Wucherungen des vielschichtigen Epithels
erhalten sich die Fasern des Gewebenetzes bei ihrer Vermehrung,
sowohl zwischen den Zellen, als auch innerhalb der Zellkörper.
5. Bei den atypischen Wucherungen desselben Epithels von
bösartigem Charakter werden vor allem diejenigen Teile der Ge-
webenetzfasern desorganisiert und verschwinden sodann, welche in
den Intercellularräumen gelegen sind; später wiederholt sich das-
selbe mit der intracellulären Gewebenetzfaser°!).
Somit sind die Beziehung unseres „Syncellons“ und seine Be-
einträchtigung bei bösartigen Neubildungen auch schon empirisch
etwas berührt worden.
Wenn unsere Auffassung ın Zukunft die Bedeutung erhielte,
auf welche der Autor glaubt rechnen zu dürfen, so würden Unter-
50) Th. Z. Omeltschenko. Ein histopathologisches Frühsymptom des viel-
schichtigen polymorphen Epithels in Zusammenhang mit der Morphologie des faserigen
(sewebenetzes. „Russki Wratsch“, 1910, S. 1553 (russisch).
51) Weitere Arbeiten von Omeltschenko: „Russki Wratsch“, 1903, S. 1166:
1905, Nr. 45; 1898, Nr. 7. „Militärmedizinisches Journal‘ 1898, Juli (russisch).
Y) Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur etc.
, J
suchungen, wie diejenigen von Omeltschenko, ein außerordent-
liches Interesse gewinnen.
14. Nachwort.
Sehr interessant für die Erforschung der Prozesse der Nerven-
entwickelung ist die von Harrisson, und später von W.H. Lewis
und M. R. Lewis und von Braus°) angewandte Methode der
Erforschung der Nervenentwickelung ın Gestalt von Kulturen auf
Deckgläsern einzelner lebender Schnitte von Embryonenteilen.
Harrisson und nach ihm auch andere meinen sogar, dass auf diesem
Wege neue Tatsachen gefunden sind, die entschieden für die klas-
sische Theorie des Neurons — „der Nervenzelle* — und folglich
auch gegen unsere Auffassung sprechen. Der bekannte Antineuronist
und Experimentator Braus wurde durch solche von ıhm erhaltene
Kulturen dazu geführt, die Berechtigung der Behauptung der Neuro-
nisten anzuerkennen, dass aus der zentralen Ganglienzelle des Neuro-
blasten der Neurit etwa so hervorwächst, wie His das annahm;
der Neurit wächst doch aber in diesem Falle ziellos, ohne sich
des natürlichen Weges für den gegebenen Nerven im Organismus
bewusst zu sein; das hängt nach Braus davon ab, dass außer dem
zentralen Neuriten für den regelrechten Wuchs diejenigen Plasmo-
desmen desselben mit anderen Zellen nötig sind, die bei der „Kultur“
zerstört werden. Somit kann man nicht umhin, von der Verneinung
der Neuronentheorie zu einer gewissen neuen in der Mitte zwischen
beiden stehenden Anschauung überzugehen. Wenn wir nun den
gegenwärtigen Stand der Neuronenfrage in Betracht ziehen, der
von Braus treffend mit den Worten gekennzeichnet wird: „Man
darf sich heutzutage nicht auf Nervenprobleme einlassen, ohne mit
Faust der Frage gewärtig zu sein: Nun sag, wie hast du’s mit der
Religion? — Das Sanctissimum der meisten Neurologen ist das
Neuron geworden“ (l. ec. S. 144), so weist uns unsere Auffassung auch
hier einen sehr bequemen Weg, wie wir es vermeiden können, die
nüchterne und trockene Wissenschaft durch eine vielleicht feuer-
geistige und mitunter nützliche, jedoch auf die Dauer nicht zu dul-
dende wissenschaftliche „Religion“ zu ersetzen.
Die Beobachtungen von Braus ergeben im Grunde genommen
die Tatsache, dass sich im Innern des durch Plasmodesmen mit
den anderen Zellen des Embryo (Held hat mit Hilfe einer ent-
sprechenden Färbung das Vorhandensein solcher Plasmodesmen auf
His’schen Originalpräparaten festgestellt) in Verbindung stehenden
Neuroblasten eine gewisse fibrilläre spezifische Nervenstruktur
— der Neurit —- entwickelt.
52) Die Entstehung der Nervenbahnen. Verhandl. d. Gesellsch. deutscher
Naturf. u. Arzte, 83. Versamml. .1911, I. Teil, S. 114.
Leontowitsch, Das „Syncellium‘“ als dominierende Struktur etc. 4
Wenn Braus also sagt: der Neurit wächst nach His als Aus-
wuchs aus einer zentralen Zelle, und wenn wir sagen, dass die
Sache nicht so vor sich geht, wie das Braus behauptet, sondern
dass eine eigenartige Differenzierung des Neurosyncellons innerhalb
des Syncelliums aus dem zentralen „Neuroblasten“ und den mit ihm
durch die Plasmodesmen verbundenen Zellen erfolgt, so stehen wir
nur, was die Deutung des von ihm beobachteten Faktums, nicht
aber das Faktum selbst anbelangt, auf verschiedenem Standpunkt;
Braus und die Neuronisten halten sich nur an etwas dem Anthro-
pomorphismus Ähnliches; wir beschreiben nur ganz objektiv das
Resultat des Versuches, und auf experimentellem Wege wird
die Behandlung dieses Gegenstandes vom „anthropomorphischen*
Standpunkt ja auch niemals gerechtfertigt erscheinen. Gegen uns
spricht auch keineswegs das dem für den erwachsenen Organismus
längst bekannten Experiment analoge Braus’sche Experiment,
welches zeigt, dass der periphere Teil des Neuriten des Embryo
ın der Kultur nach der Durchschneidung abstirbt.
Somit stellt sich auch diese interessante Strömung des experI-
mentellen Gedankens uns nicht hindernd in den Weg.
Zum Schlusse meiner eigenartigen Rehabilitierung der Lehre
von der Zelle glaube ich betonen zu sollen, dass ich sehr wohl ein-
sehe, dass sich viele Teile unserer Theorie fürs erste auf ein an
Widersprüchen reiches und noch recht unzulängliches Material
gründen; ich bin überzeugt davon, dass sich nicht wenige unter
den Lesern dieser Mitteilung finden werden, die mehr als gern dem
Autor derselben den Rat gäben, den einen oder anderen Bereich
dieses oder jenes Gewebes oder seine embryonale Entwickelung zu
erforschen u. s. w. — was ja aber nur mit Hilfe der Arbeitskraft
von Generationen, nicht aber eines einzelnen Forschers ausführ-
bar ist.
Wir meinen jedoch, dass hier, wo das Bestreben hervortritt,
eine der allgemeinsten Fragen der Biologie in die Betrachtung
hineinzuziehen, der Forscher Kühnheit und Scharfsinn an den Tag
legen soll, und dass er, wenn ihn seine Forschungen unwidersteh-
lich zu gewissen Schlüssen hindrängen, sich kühn auch auf ein noch
nicht ganz fest: gegründetes Fundament stützen darf.
Die Geschichte der Neuronentheorie hat gezeigt, dass fast alle
ihre Grundlagen nicht wissenschaftliche „Tatsachen“, sondern nur
Hypothesen sind; sonst wären doch wohl die erbitterten Kontro-
versen über dieses Thema, deren Zeugen unsere Zeitgenossen waren
und noch sind, kaum möglich gewesen. Dessenungeachtet kann
man nicht umhin, der Waldeyer’schen Theorie die Bedeutung
einer der fruchtbarsten Ideen der neueren Naturwissenschaft zuzu-
erkennen.
Feci quod potui, facıant meliora potentes!
4) Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
By R. R. Gates.
Imperial College of Science, London.
The discussion which has been evoked in several recent papers,
on the manner of origin of Oenothera gigas, calls for additional
facts as well as certain comments and criticisms. Several years
ago (Gates, 1909a) in a somewhat detailed study of the nuclear
and cell size ın OÖ. gigas as compared with its parent, O. Lamarck-
tana, 1 expressed the view that the doubling in the chromosome
number had probably occurred as the result of a suspended mitosis
in the fertilized egg or in an early division of the young embryo.
This view was based upon several facts, one of which was the
absence of triploid (3 X) mutants in Oenothera; and another, the
absence of triploid species among all the plants whose chromosome
numbers are known, combined with the occurrence of a considerable
list of tetraploid species, ı. e., species having double the chromosome
number of their nearest relatives.
This view placed the essential mutational change m a dif-
ferent part of the life cycle of ©. Lamarckiana from that which
the mutation theory of de Vries would suggest, namely in the
fertilized egg rather than during the reduction divisions in the spore
mother cells.
Accordingly, Stomps (1910) stated his belief that O. gigas
originated from the union oftwo “unreduced” or diploid germ cells
rather than from a transformation oceurring at or after the time
of fertilization. He cited (p. 59) as evidence for this view an
observation of de Vries’ pupil, Geerts (1909, p. 52), who found
a megaspore mother cell of ©. Lamarckiana having twenty-eight
instead of fourteen chromosomes. Stomps expressed the opinion
that such a megaspore mother cell would undergo the usual chromo-
some reduction and would then go through the embryo sac mor-
phology, producing an egg with fourteen chromosomes. He further
assumed that such an egg was fertilized by a male cell derived
from a diploid pollen grain, to produce the gigas mutant with
twenty-eight chromosomes. Instead of this rather roundabout method,
involving the assumed occeurrence of diploid pollen grains, I sug-
gested (Gates, 1911a, p. 934) that it was at least equally probable
that the type of megaspore mother cell observed by Geerts
developed an embryo immediately, thus omitting both reduction
and fertilization. This was based upon the well-known fact that
higher chromosome numbers are frequently associated with some
form of apogamy, a list of such cases having been given in my
earlier paper on the subject (1909a, p. 545). I also cited in that
paper several instances in which the number of chromosomes had
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 95
been doubled experimentally by means of a suspended mitosis after
the split in the chromosomes had taken place.
Soon after the publication of my earlier paper, Strasburger
(1910) stated his complete agreement with my point of view, and
like me, believed that tetraploıd species in general originate from
the failure of a mitosis to be completed in the fertilized egg or ın
one of the early divisions of the young embryo. He said (p. 409),
„Er (Gates) kommt zu dem Ergebnis, das ich auch für das Wahr-
scheinlichste halte, dass die Doppelzahl der Chromosomen von
O. gigas ihren Ursprung hatte in einer Teilung der Chromosomen,
die nicht von Zellteilung begleitet war, bald nach der Befruchtung.“
And in conclusion (p. 445) he writes, „Die Wahrscheinlichkeit spricht
dafür, dass der Ort eines solchen Vorgangs (the chromosome doubling)
das befruchtete, noch ungeteilte Ei ist.“
In the paper above-mentioned, I cited the following as analogous
cases of species having tetraploıd chromosome numbers which had
probably originated in a manner sımilar to that of O. gigas, though
insome cases complicated by the occurrence of more than 4 X Shan:
somes: Several species belonging to the Eualchemillas, Antennarza,
Drosera longifoha, Hreracium ezxcellens, H. flagellare, Nephrodium
molle, several varieties of Athyrium filix-foemina, and certain
varieties of Zastrea pseudo-mas. To this Ist Strasburger (1910)
added a long series of cases in plants and animals. The following
table includes this list together with a number of other cases which
have been reported since.
Table 1.
| Chromosomes
Ieprodnction | Reduced Unreduced uni:
| j: ga ur
T l l l
Wikstroemia canescens| Sexual | 9 | 18 Strasburger, 1910
Werindcame a, | apogamous | = 26 -28
| | gemini!)
Rosa Uvida?). .... .| sexual S | 16 5
R. einnamomea..... | r 6) | 16 |
R. canina (many forms) | 5 fo) | 16 >
R. eanina (one form) .| apogamous 16 or 12 |733701,34 Rosenberg, 1909
R. glauca (one form) . 5 lls.or. 1% 33 or 34 | 55
Taraxacum offieinale . u — over 26 | Juel, 1905
T. confertum ...... | — | 8 | about 16 | Rosenberg, 1909
Houttuynia cordata .., partheno- — | 32—56 Shibata &
genetic | Miyaka, 1908
I
1) Gemini larger than in W. canescens, the cells, as well as the stigmas and
ovules being also larger.
2) Strasburger (1910, p. 407) also refers to the fact {hat in the genus
Rubus there are commonly six gemini in the germ cells, while in several Rosa
g4 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
Table I. contd.
| | Chromosomes |
Reproduction BAR; Unreduced | Author
number number |
Thalictrum purpuras- | |
COS EE e | partheno- | |
\ genetic 24 48 Overton, 1909
IR UNE SL EC A uhe | sexual 12 | 24 | r
Rumex Acetosa..... | apogamous 5 | 16 ' Roth, 1906
Tea RISDANICUSIE | ” [6) 16 | n
Mranfohus.. ın2.. | > 8 16 :
BRenwalis „2.0.2: | > 8 | 16 „
R. Acetosella®) ..... | > — | 16 gemini e
R. seutatus®) . ....: | Z— — | 12 gemini | ea
R. cordifolius®) ....| — | _ | 40 gemini | a
INerıspus 2 See ae. | > | — | = | 2»
Raten | sh — | = | 2
Hunlianovatar ee | sexual | — | 48°) ' Sykes, 1908
F\. Sieboldiana ..... | as | — 48 | R
Table I. contd.
| | Chromosomes |
\ Reproduction zanead ea Author
| number number
Ascaris megalocephala | |
UNO olen Su sexual 1 | 2 Boveri, 1887
Arm. bwalens .n: > = 2 | 4 5
A. lumbrieoides univa-
lense er Ber., Meee # 12 24 ”
FAmIabrValensen # 24 48 y,
Styelopsis’) ......- — — Sor4 Julin.
Blonania Aa nee _ = 17. 6.0793 Stevens
Helix pomatia ..... — - | 48 or 24 —
Echinus mierotubereu- \ |
re | = N) | 18 Boveri, 1888
species he found 8 gemini, and remarks that if {he Aphanes group of the genus
Alchemilla have been derived from such ancestors, they should be regarded as
tetraploid and the Eualchemillas as octoploid in character. He suggests that a
similar explanation may apply to the Elatostemas and Urticas.
3) Strasburger points out (1910, p. 429) that in this case the chromosomes
of the tetraploid species are half the size of those in the diploid species, while the
nuclei are the same size in both, from which he concludes that in this case the
tetraploid number originated through a transverse division of the chromosomes.
4) Nuclear size same as in previous species.
5) Nuclei larger than in the section Acetosa. Also the species with low
chromosome numbers do not hybridize, while species with high numbers cross readily.
6) This number is tetraploid as compared with many other Liliaceae, and
probably originated through a transverse division of the chromosomes.
7) See Strasburger (1910, p. 442).
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 05
Table I. contd.
Chromosomes
ML Bauduetion| Reduced Unreduced Auad:
| ' number number
E. mierotuberculatus . — 18 | 36 Boveri, 1902 &
| | Stephens, 1902
BYCIOBERSRDN EA: | = — 6— 22°) H. Braun
Mnium hornum ....| normal | 6 12 'M. Wilson, 1911
M. hornum bivalens . . | aposporous | 12 — E. & E. Marchal,
| | 1911
Bryum capillare .... normal | 10 20 | r
B. capillare bivalens . | aposporous | 20 _ a
Amblystegium serpens. | normal 12 | 24 n
A. serpens bivalens .. || aposporous | 24 | 48°) | n
Musa sapientum var.
Eee I Sterile | 5 | 16 Tischler, 1910
M. s. var. „Radjah |
Sam re l > 16 32 %
Mrs: var. „Kladi.-.. 5% | 24 48 ee
Crepis tectorum ....| -- | 4 | 8 Juel, 1905
O=japonieca.: ..2.;.. — | 8 | 16 Tahara, 1910
Dahlia coronata .... _ | — 32 Ishikawa, 1911
Dahlia, nine varieties . _ | — 64 Ishikawa, 1911
Sazifraga sponhemica _ | 15 30 Pace, 1912(p.317)
SroOzanulatae. en: — | 30 60 Juel, 1907
Artemia salina, from |
Caghariıa 2... sexual | — 42 Artom, 1911
A. salina, from Üapo- |
distlanan an . n partheno-
genetic —_ S4 .
Primula floribunda .. sexual 9 18 Digby, 1912
Poveraeillata. 1... > 9 18
P. verticillata X P. flo- |
ribunda (= P., verti-
eillata Pr). ....% | 55 | 9 18 %
P. kewensis (type) . . - | — ) 18 &
(= P. floribunda X P. |
vertieillata) ....... . self-sterile(no
| pin-flowers) 9 18
P. kewensis (seedling) | |
(from a pin-flower) !°) | fertile 18 36 .
8) This range of chromosome numbers occurred in different species, with
corresponding differences in nuclear size.
9) That is, twelve “bi-gemini” or partly fused groups of four chromosomes.
In each case the nuclei and cells of the tetraploid forms are obviously larger, follow-
ing the rule developed by me in the case of O. gigas, in 1909.
10) This single pin-flower appeared as a bud mutation on a plant which bore
Sn Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
Table I. contd.
Chromosomes
| Reproduction Rednet Denen Author
number un
P. kewensis farinosa | | |
(by selection)... ... fertile 18 | 36 | Digby, 1912
P. kewensis farinosa
(from P. vertieillata |
X. P. floribunda isa- | | |
bellina) ee % | 15 | 36 |
P. floribunda isabellina |
X FP. kewensis (type) | |
(= P. floribunda vsa- | |
bellina F7.).. nn | 9 | 18
P. ee (ee) % | |
’, floribunda isabel- |
e RA 5:0 sterle — | — 5
P. floribunda isabellina | |
X P. kewensis (seed- |
ling) = P. floribunda | |
isabellina Fr.) .... | fertile | 3) 18 fr
Tritieum vulgare ...| self- | |
pollinating | 8 16 Nakao, 1911
Seelen. cereale 2 20 3 | [6) | 16 | ”
Hordeum distichum . . > | 7 | 14 ;s
Triticum dicoccoides . n, 8 16 Bally, 1912
Aegilops ovata ..... h | 16 32 Er
The Marchals in the year previous to Strasburger’s paper
(1909) published a second paper on experimental apospory in the
Mosses, in which among other things, it was shown that the tetra-
ploid races possessed proportionally larger nuclei and cells,
accompanied by larger dimensions of certain organs, particularly
the sex organs. In a third important paper (1911) these authors
reach further interesting conclusions, some of which may be refer-
red to here. It was found that in the sporophyte of Amblystegium
serpens bivalens, produced aposporously by wounding the capsule
of the moss, the chromosomes were in groups of four (*bi-gemini“).
As a result of extensive experiments with many mosses, it was
found that in the dioceious species, regeneration of the gametophyte
from the sporophyte gives rise to diploid gametophytes, which are
physiologically bisexual, but sterile; while in monoecious species
a diploid gametophyte is produced which has normal sexuality and
only thrum flowers. Self-sterility obviously accounts for the failure of the original
P. kewensis to set seed.
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 07
is fertile, its (tetraploid) sporophyte produeing diploid spores which
permanently fix the race.
One of the most interesting facts discovered was a single case
(Phascum cuspidatum) in which the doubling in the number of
chromosomes, or rather the aposporous production of a diploid
gametophyte directly from the sporophyte, was accompanied by
mutational changes in the external characters. This mutant produced
no sex organs and was consequently sterile, but reproduced by
means of groups of cells resembling propagula, such as are found
normally in certain other mosses. This result shows, as I have
held, that mutational changes may occur at other points ın the life
cycle than the reduction divisions.
Another interesting paper dealing with polyploıd chromosome
numbers, ıs that of Tıschler (1910), who found ın the banana
(Musa sapientum) three races having reduced chromosome numbers
as follows: “Dole” 8, “Radjah Siam” 16, and “Kladı” 24. He further
found that the volumes of the nuclei were in the ratio 1:2:3,
confirming the law I obtained with O. gigas and O. Lamarckiana.
Since the bananas are sterile, ıt is not evident how the tetraploid
and hexaploid conditions could have been arrıved at through the
union of unreduced germ cells.
Tahara (1910) has found 16 chromosomes as sporophyte number
in Orepis japonica, which is the tetraploıd number as compared
with 8 chromosomes reported by Juel (1905) in €. tectorum. Ishi-
kawa (1911) has also shown recently that while nine varieties of
Dahlia examined by him possessed 64 chromosomes, one species,
D. coronata, had only 32. Judging from his figures, the cells of
the tetraploid races are somewhat larger, though the individual
chromosomes are distinetly smaller. This condition does not fit the
anticipation either for a longitudinal or a transverse split of the
chromosomes.
Very recently, Miss Pace (1912) has added another to the list
of tetraploid species by determining 15 as the X number of chro-
mosomes for Saxifraga sponhemica, Juwel (1907) havıng already found
30 as the X number ın 8. granulata. And Bally (1912) has found
the X number of chromosomes in Aegilops ovata to be 16, which
is double the X number (5) ın Tritieum vulgare and T. dieoccoides.
The determination of the number for wheat ıs a confirmatıon of
Nakao (1911), who found the X numbers to be 8 for wheat and
rye, and 7 for barley. Aegelops ovata ıs so closely related to Tretz-
cum vulgare that the two cross freely and have been included by
some writers in the same genus. Bally found the heterotypie
chromosomes in T. dicoccoides to be short and plump, while ın
Aegilops they were elongated and with a hook for attachment to
the spindle fibres. He states that the latter were also about half
XXXINM. 7
98 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
as large. It ıs not clear from his figures whether there is an
accompanying difference in the size of cells and nuclei. Hybrids
between these species should be very favourable for tracing the
distribution of the chromosomes in meiosis.
Another paper to which reference must be made, is that of
Artom (1911), who found sımilar conditions in the Crustacean
Artemia salina, the sexual form from Caglıarı having 42 chromo-
somes, while the parthenogenetic form from Capodistria possessed 84.
Of all the papers hitherto cited, in which the question is considered,
Artom’s is the only one which refers the origin of the doubling
to the union of two diploid germ cells rather than to the region
of the fertilized egg'').
Keeble (1912) has given an interesting account of the
origin and structure of a giant Primula sinensis wich originated
as a mutant in a culture of “White Queen Star“. The cells were
found to be gigantic though the chromosome number (24) remained
unchanged. Gregory (1909) found the same relation to exist in
normal and giant Star Primulas. Keeble (l. c., p. 172) suggests
that the cell giantism “may be due to a reduction in the normal
rate of cell-division”. It seems to me more probable that the
original change or mutation was in the size of the cell, and that
the slower rate of growth was a secondary effect. This view is
based on the fact that Oenothera gigas, in which the chromosome
number is doubled, is also slower ın ıts rate of growth.
Several most interesting parallels to the case of Oenothera
gigas are furnished by the Primulas recently investigated by Miss
Digby (1912). The two species, P. floribunda and P. vertieillata,
each have 15 chromosomes as 2 X number. P. floribunda X P. ver-
tieillata gave the hybrid P. kewensis which produced only thrum
flowers and was therefore sterile, having also 18 chromosomes like
the parents. It was multiplied by cuttings for about five years, when
a single pin flower appeared on one individual. This was pollinated
from a thrum flower and gave rise to the fertile race of P. kewensis,
having 36 chromosomes, from which a variety, P. kewensis farinosa,
having also the tetraploid number of chromosomes, was afterwards
obtained by selection.
Of equal interest is the further fact that the reciprocal cross,
P. vertieillata X P. floribunda isabellina, also gave P. kewensis
farinosa, having 36 chromosomes. Thus the doubling is not a
11) I must also refer here to a recent observation of Geoffrey Smith (1912)
in which he found (in accordance with G uyer's results) that in hybrid pigeons
normal synapsis failed to take place in spermatogenesis, the chromosomes failing to
form bivalents and being irregularly distributed in the heterotypic mitosis. The
homotypie mitosis was almost wholly suppressed, the secondary spermatocytes forming
directly spermatids and spermatozoa, which are therefore of twice the normal size,
Drucker und Schreiner, Mikrokryoskopische Versuche. 9
chance occeurrence, and obviously the most probable place to look
for the origin of the tetraploid number is in the fertilised egg, for
it is too great a strain on one’s credulity to assume that in both
these independent cases the union happened to be between a diploid
egg and a diploid male cell. It might be assumed that only
tetraploid seedlings germinated, but this is certainly contrary to
the probabilities when we consider that, ın other crosses, both
P. floribunda X P. verticillata and the reciprocal cross gave hybrids
agreeing with the female parent and having the regular diploid
number of chromosomes. The further fact is of interest, that though
P. floribunda X P. verticillata and its reciprocal have both given
matroclinous hybrids, they have also, in other erosses, both given
rise to races of P. kewensis. (Schluss folgt.)
Mikrokryoskopische Versuche.
Von Carl Drucker und Erling Schreiner.
Die Veranlassung zur Ausarbeitung einer mikrokryoskopischen
Methode gab der Umstand, dass oft, insbesondere bei biologischen
Aufgaben, nur eine kleine Flüssigkeitsmenge zur Verfügung steht.
Diejenigen Verfahren zur Bestimmung osmotischer Konzentrationen '),
die bisher die geringsten Substanzmengen beanspruchten, sind erstens
die vortreffliche Dampfdruckmethode von Barger?) und zweitens
die spezielle Form der Beckmann’schen Gefrierpunktsmessung,
die von Guye und Bogdan?) angegeben und von Burian und
Drucker*) modifiziert worden ist. In dieser Gestalt verlangt der
Apparat noch ca. 1 resp. 1.5 ccm Lösung, aber auch das ist in
vielen Fällen noch erheblich mehr als vorhanden ist.
Die Anwendung eines kleinen elektrischen Thermometers in
der eben erwähnten Anordnung war das erste Mittel, durch das
wir den Substanzbedarf zu vermindern versuchten. Nach einigen
Versuchen haben wir aber darauf verzichtet und uns entschlossen,
die Temperaturmessung außerhalb des Versuchsobjektes vorzu-
nehmen. Dadurch bekommt die Arbeitsweise Ähnlichkeit mit der
allgemein gebräuchlichen Schmelzpunktsbestimmung reiner Stoffe,
wie sie der Chemiker täglich ausführt; sie unterscheidet sich von
ihr durch größere Feinheit der Temperaturmessung, eine andere
Indexerscheinung und andere Eigentümlichkeiten, die wesentlich
1) Dieser Ausdruck bedarf wohl keiner Erläuterung, da er nicht nur in der
physikochemischen Literatur schon lange bekannt, sondern auch später von Ham-
burger nochmals ausdrücklich definiert worden ist.
2) Journ. Chem. Soc. 85, 286 (1904).
5) Journ. chim. phys. 1, 385 (1903).
4) Centralbl. f. Physiol. 23, Nr. 22 (1910).
100 Drucker und Schreiner, Mikrokryoskopische Versuche.
dadurch verursacht sind, dass eine Lösung und nicht ein reiner
Stoff?) zu untersuchen ist.
Anordnung). Die bisher von uns als zweckmäßigste benutzte,
zweifellos noch verbesserungsfähige Anordnung ist relativ einfach.
Ein Weinhold’sches Gefäß von etwa 10 cm lichter Weite und
etwa 18 cm innerer Höhe wird mit einer wäßrigen Glyzerinlösung
von ca. 20°/, Gehalt gefüllt. In ıhm steht frei ein Kühlrohr von
der Form einer zu einem Zylinder gebogenen Maeanderschlange,
durch welches man mittels einfacher Hilfsvorrichtungen eine Kühl-
flüssigkeit”’) strömen lassen kann. In das Gefäß wird ferner ein
Thermometer eingesenkt — wir haben vorläufig ein Beckmann-
Thermometer mit !/,, Teilung benutzt — und zwar so, dass sich
dessen Kugel immer zentral in der unteren Hälfte des Gefäßes be-
findet; an diesem ist mit kleinen Kautschukringen das Versuchs-
röhrchen befestigt. Endlich läuft noch im Gefäß ein ringförmiger
kührer aus Glasrohr, der an sicherer Vertikalführung mit zwei ver-
schiedenen Geschwindigkeiten mechanisch®) betrieben werden kann.
Das Versuchsröhrechen — von der Form der gewöhnlichen
Schmelzpunktskapillaren — soll möglichst dünnwandig sein, unten
etwa 1 mm lichte Weite und passende Länge (7”—10 cm) haben.
Verfahren. Unten in das Röhrchen bringt man, ohne die
Wand oben zu benetzen, mittels einer Kapillarpipette einige Kubik-
millimeter Wasser, befestigt es am Thermometer so, dass das untere
Ende an der Thermometerkugel anlıegt, und taucht dann dieses ın
eine starke Kältemischung (wenigstens — 10°). Ist das Wasser ım
Röhrchen erstarrt, so beobachtet man mit einer kleinen Lupe, ob
etwa kleine Eismengen an der Wand oberhalb des kleinen KEıs-
zylinders sitzen, bringt solche durch Berühren mit dem Finger
zum Schmelzen und Hinablaufen und lässt nochmals erstarren.
Das Eis soll nıcht klar, sondern trüb sein. Nunmehr setzt man
Thermometer und Röhrchen in die unter 0° vorgekühlte Badflüssıg-
keit des Weinhold-Gefäßes ein -— natürlich ohne die obere Öf-
5) Gelegentlich eines Vortrages in der Deutschen Chemischen Gesellschaft
wies Herr Beckmann darauf hin, dass schon Fabinyi (Z. phys. Chem. 5, 38, 1889)
versucht habe, Kryoskopie in Kapillarröhrchen auszuführen. Fabinyi hat keine
befriedigenden Ergebnisse erhalten und nur wenige Versuche gemacht. Er hat, wie
es scheint, den Fehler begangen, den Schmelzungsbeginn zu beobachten, also den
unteren Endpunkt des Schmelztrajektes, anstatt den oberen, den eigent-
lichen Gefrierpunkt.
6) Die Apparate kann jeder Glasbläser liefern; wir haben die unseren von
R. Götze in Leipzig herstellen lassen.
7) Am besten, um Zeit zu sparen, von nicht höherer Temperatur als — 10°.
Das gewöhnliche rote Viehsalz ist wegen der Trübung der durch Mischen mit Eis
entstehenden Lösung mit Vorteil verwendbar.
S) Am besten benutzt man einen Elektromotor mit zwei Widerständen und
Umschalter. Wir haben so eingestellt, dass entweder ca. 60 Hübe pro Minute er-
folgten („schnell‘‘) oder 20 („langsam“).
Drucker und Schreiner, Mikrokryoskopische Versuche. 101
nung des Röhrchens mit unterzutauchen — und lässt sodann den
Rührer arbeiten, erst schnell, dann von —-0.2° ab langsam. Die
Temperatur steigt langsam; diese Langsamkeit ist notwendig, weil
anderenfalls die Temperaturidentität von Thermometer und Röhrchen
nicht besteht, besonders dann, wenn das Schmelzen’) beginnt. Da-
bei beobachtet man, eventuell mit Hilfe einer Lupe (von 5-10 cm
Brennweite), das Röhrchen im -—- wenn nötig, etwas abgeblen-
deten — Lichte einer hinter dem Gefäße passend aufgestellten
kleinen Glühlampe. Den Beginn des Schmelzens erkennt man beı
engen Röhrchen an einer plötzlichen Anderung der Eisoberfläche,
indem sich der konkave Meniscus wieder herstellt, bei weiteren am
Abschmelzen an der Wand, wobei in der Mitte ein kleiner Eisberg
stehen bleibt !®).
9) Wir müssen hier einige Betrachtungen theoretischer Art einfügen. Um auf
0.01° genau zu arbeiten, muss man dafür sorgen, dass das Schmelzen einer gewissen
kleinen Eismenge — bei einer Lösung das Verschwinden der letzten Kriställehen —
so: schnell vor sich geht, dass währenddessen das Thermometer um höchstens 0.01°
ansteigt. Für diesen Anstieg braucht ein Thermometer von 2 cem Volum des
Quecksilbergefäßes rund 0.01 cal. Angenommen, die Wärmezufuhr erfolge bei Thermo-
meter und Röhrchen gleich schnell, so darf die zu schmelzende Eismenge nur 0.01 cal.
verbrauchen, also nur rund 0.1 cemm groß sein. (Tatsächlich ist aber das Röhrchen
dem Thermometer gegenüber wegen dessen viel größerer Oberfläche im Nachteil.)
Man muss also mit möglichst geringer Eismenge arbeiten. — Andererseits friert,
wenn man die Lösung a° unterhalb ihres wahren Gefrierpunktes zum Erstarren
bringt (s. u.), so viel Eis aus, dass dessen Menge sich zur Gesamtwassermenge der
Lösung verhält wie a zu (a Gefrierdepression). Je höher die Lösung verdünnt ist,
desto größer ist also die Konzentrationsänderung durch Ausfrieren bei einer a°
unter dem Gefrierpunkte liegenden Temperatur. . Diese Konzentrationszunahme geht
allerdings zurück, wenn die lösung sich dann bis auf ihren Gefrierpunkt erwärmt;
damit das aber hinreichend rasch im Verhältnis zum Ansteigen des Thermometers
geschieht, darf die für beide Teile nötige Wärme nur langsam zugeführt werden. —
Ein Zahlenbeispiel erläutere diese Sache. Gegeben sei eine Lösung von der Getrier-
depression 0.4°; diese werde 0.1° unter ihrem Gefrierpunkte eingefüllt, so dass
0.1: 0.5 — 20°/, ihres Wassers als Eis ausfrieren. Hat man 5 cmm genommen, so
entsteht 1 cmm Eis. Beim folgenden langsamen Steigen der Temperatur schmilzt
dieses wieder, im günstigsten Falle so schnell, dass immer der Thermometerstand
den Gefrierpunkt der jeweils vorhandenen Konzentration anzeigt. 0.01° unter dem
richtigen Gefrierpunkt sind noch 2°/, Eis vorhanden, eine Menge, wie sie beim
Beckmann’schen Verfahren durch Gefrieren bei Aufhebung einer Unterkühlung
von 1.6° entstehen würde. Diese 2°), machen bei 5 cemm Gesamtmenge 0.1 cmm
aus; sie schmelzen weg, während das Thermometer gerade auf den richtigen Punkt
steigt. Dies ist der ideale Fall für gerade diese Zahlenverhältnisse. — Es folgt aus
dieser Betrachtung, dass man mit tunlichst wenig Flüssigkeit arbeiten soll, so wenig,
als die Beobachtungsmöglichkeit erlaubt; weil dann diese relativen Mengen ausge-
schiedenen Eises absolut nur geringfügig sind, und dadurch der oben besprochenen
Notwendigkeit eines geringen Schmelzwärmeverbrauches entsprochen werden kann;
und zwar soll dies besonders dann beachtet werden, wenn die Gefrierdepression
selbst klein ist.
10) Der Unterschied beider Erscheinungen ist natürlich in der Verschiedenheit
ihrer Wärmeleitung im Röhrchen begründet, je nach dem Verhältnis von Wand-
stärke und Durchmesser.
102 Drucker und Schreiner, Mikrokryoskopische Versuche.
Danach kühlt man unter Rühren auf ca. 0.4° unter den ge-
fundenen Temperaturpunkt ab, lässt wie vorher die Temperatur
unter Rühren steigen und stellt, wenn das Thermometer ca. !/,,
unter dem gefundenen dem richtigen wahrscheinlich sehr nahe
liegenden Punkte zeigt, den Rührer ganz ab!!). Das Thermometer
steigt erst noch ein wenig, bleibt dann Minutenlang 0.01° bis 0.02°
höher stehen und steigt dann wieder langsam an. War der Schmelz-
punkt vorher nahezu richtig gefunden worden, so erhält man ihn
jetzt innerhalb 0.01° genau, anderenfalls wiederholt man die Ope-
ration, was ın wenigen Minuten geschehen ist.
Ohne das Röhrchen herauszunehmen, bestimmt man nunmehr
den Gefrierpunkt der Lösung. Es wird zunächst wieder um
ungefähr 0.3° unter den erwarteten Punkt'?) abgekühlt; dann rührt
man langsam, stellt den Rührer ab und bringt noch ca. 0.1° unter-
halb des vermuteten Punktes mit Hilfe einer Kapillarpipette eine
etwa 3 mm hohe Schicht Lösung direkt auf das Eıs, jedoch erst,
nachdem man der Lösung ım Pipettenröhrchen etwa 10 Sekunden
lang Zeit zum Abkühlen gelassen hat. Treten Kriställchen an der
Wand!?) auf, so beobachtet man dann während des langsamen
Steigens der Temperatur (ohne Rühren) das Wiederschmelzen. Hat
man bei der vorläufigen Bestimmung (Anm. 12) den Punkt auf
etwa 0.05° genau gefunden, so wird man jetzt keine größere Diffe-
renz als 0.02°—0.03° zwischen Beginn und Ende des Schmelzens
finden.
Das Schmelzen des aus der Lösung abgeschiedenen Eises ist
leichter zu beobachten als das Schmelzen des Eiszylinders. Man
wird deswegen in der Praxis gut tun, anstatt des Eispunktes den
Gefrierpunkt einer Lösung von bekannter Depression zu bestimmen
und dann den Eispunkt des Thermometers durch Addieren dieser
Depression zu berechnen). Z. B. kann man immer von einer
0.3 molaren Harnstofflösung ausgehen, deren Gefrierpunkt bei
— 0,56 liegt, oder von einer entsprechend konzentrierten Chlor-
kalıumlösung.
11) Er soll ganz oben stehen bleiben. Denn die langsame Temperatursteige -
rung, die ja durch Leitung von oben her erfolgt, könnte sonst beschleunigt werden.
Deshalb soll der Rührer auch nicht aus Metall bestehen.
12) Am bequemsten bestimmt man diesen annähernd in einem Vorversuche,
indem man die Lösung genau so behandelt wie vorher das Wasser und das Ver-
schwinden der letzten Eisspuren beobachtet. Wird nur eine Genauigkeit von etwa
0.05° verlangt, so genügt dieses Verfahren, und man braucht das oben beschriebene
genauere gar nicht anzuwenden.
13) Auch auf der Fläche des bereits unten befindlichen Eises können Kristalle
entstehen. Deren Verschwinden ist aber weniger leicht zu beobachten.
14) Das ist auch prinzipiell richtiger, wenn man kein hochreines Wasser ver-
wendet. Denn wenn wir sehr viel von dem Wasser gefrieren lassen, so kenzen-
trieren sich die verunreinigenden Stoffe, und der Schmelzungsbeginn entspricht dann
dem Gefrierpunkte einer wenn auch verdünnten Lösung.
Drucker und Schreiner, Mikrokryoskopische Versuche. 105
Wir geben nun einige Resultate wieder und verzeichnen:
1. Den gelösten Stoff (Stoff).
2. Die nach unserer Methode gefundenen Gefrierpunktsernie-
drigungen (4).
3. Die stets nachträglich im Beekmann’schen Apparate ge-
fundene Depression (A,), auf 0.01° abgerundet.
Stoff A AB
NaCl 0.44 0.45
OuSO, 0.32 0.30
K,C1,0. 0.34 0.34
BaCl, 0.14 0.14
KMnO, 0.12 0.11
NH,Br 0.38 0.39
NH,NO, 0.69 0.70
ZnSO, 0.20 0.20
C,H.0, 0.14 0.14
Zn(CH,COO), 0.62 0.63
AgNO, 0.32 0.32
CO(NH,), 0.19 0.19
Kaninchenblutserum ®?) 0.58 0.59
Pferdeblutserum 0.57 0.59
Die für einen Versuch nötige Zeit wird, wenn der Apparat
gebrauchsfertig vorbereitet und der Beobachter eingeübt ist, nicht
länger sein als etwa eine halbe Stunde. Die für ein Röhrchen
nötige Flüssigkeitsmenge beträgt ca. 0.005 cem; begnügt man sich
mit der Genauigkeit des vorläufigen Versuches (S. 102, Anm. 12), so
kommt man mit ca. 0.002 ccm aus.
Wir hoffen, dass die Methode sich für biologische Zwecke eignet,
und werden uns freuen, wenn eine brauchbare Vereinfachung und
eine erhöhte Genauigkeit von anderer Seite erreicht werden sollte.
Unsere eigenen Verbesserungsbestrebungen werden sich zunächst
auf Konstruktion eines anderen Thermometers von größerer Wärme-
kapazität sowie auf noch größere Langsamkeit der Temperatur-
änderung erstrecken.
Leipzig und Trondhjem, November 1912.
15) Diese Körperflüssigkeiten haben uns die Herren Dr. Gros vom Pharmako-
logischen und Prof. Schmidt vom Hygienischen Institut Leipzig freundlichst zur
Verfügung gestellt. Unverändertes frisches Blut lässt sich gleichfalls ohne Schwierig-
keit untersuchen.
|0)4 Zacharias, Zu dem Umfärbungsphänomen der Stabheuschrecke Dixwippus mor.
Zu dem Umfärbungsphänomen der Stabheuschrecke
Dixippus morosus.
Von Prof. Dr. Otto Zacharias (Plön).
Ein Aufsatz des Herrn Stud. zool. Leo v. Dobkiewicz in
Nr. 11 des „Biol. Centralblattes“ (von 1912) über den Einfluss der
äußeren Umgebung auf die Färbung der indischen Stabheuschrecken
veranlasst mich zu einigen Mitteilungen, welche ich an denselben
Insekten ım Laufe der letztverflossenen Jahre gemacht habe. Es
handelte sich bei den Studien des genannten Herrn zweifellos um
Prisomera amaurops W estw., welche ım Geschäftsverkehr der Tier-
händler noch immer als Dixippus (resp. Carausius) morosus be-
zeichnet wird. Ich züchte diese anspruchslosen Wesen schon seit
1910 und konnte feststellen, dass sie sich im Winter (bei Stuben-
wärme) genau so reichlich fortpflanzen, als in den heißen Sommer-
monaten. Wie Herr v. Dobkiewicz so fütterte auch ich meine
Prisomera-Exemplare während des Winters mit einer kleinblätterigen
Efeuspezies, welche massenhaft hier im Plöner Schlossgarten wächst.
Während des ganzen Sommers sah ich in einem (mit grünen
(Gsazewänden ausgestatteten) Raupenkasten regelmäßig nur grüne
Individuen aus den Eiern schlüpfen; nur selten war einmal ein
halbbräunliches dazwischen. Wegen der starken Vermehrung der
Tiere in dem 46 cm hohen und 32 cm breiten Kasten (von quadra-
tischer Grundfläche) übertrug ich einen größeren Teil davon in ein
leeres Aquarium von großen Dimensionen. Dieser Behälter besitzt
an den Frontseiten zwei große Glasscheiben, wogegen die beiden
Seitenwände desselben aus grauen Schieferplatten bestehen. In
diesem geräumigen Kasten nahm nun die Zucht ihren völlig unge-
störten Fortgang und es erschienen bis heute (16. Dez.) immerfort
neue Junge. An den alten, vollkommen erwachsenen Müttern, von
denen immer nur wenige matt wurden und wegstarben, trat im
Laufe des Oktober-November allmählich eine Umfärbung ins Grau-
braune ein, so dass gegenwärtig nur noch ganz wenige der aus-
schließlich parthenogenetisch sich fortpflanzenden Tierchen ihre
frühere hellgrüne Farbe zeigen. Die Fresslust blieb hierbei aber ganz
dieselbe und ich konnte kaum genug Efeuzweige herbeischaffen.
Alle 2—3 Tage musste der Tisch für die Heuschrecken neu gedeckt
werden. Gelegentlich kam es nun aber vor, dass das Wetter zu
stürmisch und regnerisch war, um jemand nach dem Schlossgarten
schicken zu können, und dann blieben die hungerigen Tiere manch-
mal mehrere Tage ohne jegliche Nahrung. Dann saßen sie auf den
kahl gefressenen, verholzten Zweigteilen, die ein graubraunes Aus-
sehen besitzen, und glichen diesen in der ganzen Körperfärbung
so sehr, dass sie nur mit Mühe davon zu unterscheiden waren.
Dagegen blieben die anderen, welche den mit 4 grünen Gazewänden
Abderhalden, Schutzfermente des tierischen Organismus. 105
bezogenen Raupenkasten bewohnten, vollständig grün gefärbt — nur
dass sie vielleicht nicht ganz so lebhaft hell erschienen, wie ım
Sommer. Jedenfalls war bei letzteren die Veränderung im Kolorit
bloß eine minimale. Da nun — wegen der beiden großen Glas-
scheiben — auch an trüben Tagen die Beleuchtungsverhältnisse ın
dem als Zuchtbehälter dienenden Aquarium viel günstiger waren
als in dem mit Gaze bespannten Holzkasten, so gewinnt es den
Anschein, dass die fahlen (dunkel-graublauen) Schieferwände, in
deren Nähe auf beiden Seiten die ins Wasser gestellten Efeu-
sträuße plaziert waren, von umfärbender Wirkung auf die gerade
dort sich aufhaltenden Heuschrecken gewesen sind. Diese verhielten
sich also etwa so, wie diejenigen Exemplare des Herrn v. Dob-
kiewiez, welche derselbe in seinen mit violettem und rotem Papier
austapezierten kleinen Kästen gehalten hatte.
Ich gestatte mir, diese anspruchslosen Notizen im Anschluss
an den Artikel des genannten Beobachters hier mitzuteilen, weil
sie zum Teil doch eine genaue Bestätigung für die von jener Seite
gemachten Wahrnehmungen enthalten.
Emil Abderhalden, Schutzfermente des tierischen
Organismus.
(Berlin 1912. Springer.)
Der Verfasser bringt uns in diesem’ Werke den weiteren Aus-
bau der Idee, die seinem früher erschienenen Werke, Synthese der
Zellbausteine in Pflanze und Tier, Berlin 1912, zugrunde liegt.
Dieser Grundgedanke besteht darin, dass im Stoffwechsel der ge-
samten organisierten Natur Aufbau und Abbau Hand ın Hand
gehende Prozesse sind und dass die Fermente diejenigen Stoffe
vorstellen, die diese Prozesse regulieren. Ebenso, wie die Zelle
niemals komplizierte Stoffe, wie Proteine, Fette und Polysaccharide
direkt verbrennt, sondern bloß die einfachsten Bausteine derselben,
so kann sie auch diese kompliziert gebauten Nahrungsstoffe nicht
direkt in die einzelnen spezifischen Zellbestandteile überführen, ohne
dieselben zunächst in diese einfachsten Bausteine zerlegt zu haben.
Man nehme als Beispiel bloß ein einfaches Tripeptid an, etwa Glycyl-
alanyl-leuzin. Kein Chemiker vermag den Umbau desselben etwa
zu Leucyl-alanyl-glycin zu bewirken, ohne vorher das Molekül in
die drei Bausteine Glykokoll, Alanın und Leucin zertrümmert zu
haben, um dann den Aufbau aus denselben neu zu beginnen. Eine
ganz analoge, nur noch bedeutend verwickeltere Reaktion spielt
sich bei der Verdauung und Resorption ab. Hier übernimmt der
Magendarmkanal die Funktion der Zertrümmerung der Nahrungs-
stoffmoleküle in einfache Bausteine und ist zu diesem Zwecke mit
106 Abderhalden, Schutzfermente des tierischen Organismus,
eiweiß-, fett-, und kohlehydratspaltenden Fermenten ausgerüstet.
Nach erfolgter Resorption werden nun die Bausteine von aufbauen-
den Fermenten wiederum zu komplizierten Molekülen synthetisiert.
So kreisen im Blute bloß solche Proteine, die aus den Amino-
säuren, den Bausteinen des Eiweißmoleküls, zu spezifischen Plasma-
eiweißarten aufgebaut worden sind. Es ist dies bluteigenes
Eiweiß, das seine Entstehung vollständig blutfremdem Nahrungs-
eiweiß (Kasein, Pflanzeneiweiß, Muskeleiweiß u. s. w.) durch solchen
Ab- und Wiederaufbau zu verdanken hat.
Auf dem gleichen Weg bauen nun die einzelnen Körperzellen
ihre spezifischen Proteine auf, indem ihre spezifisch wirkenden, auf
ein bestimmtes Substrat, z. B. Plasmaeiweiß, eingestellten Fermente
den Abbau zu Aminosäuren bewirken und wiederum andere den Auf-
bau zu zelleigenem Eiweißmaterial vollziehen.
Wir können demnach von körperfremden und körpereigenen
Stoffen sprechen. Die letzteren sind vollständig umgeprägt und in
ihrer Struktur der betreffenden Art oder dem Individuum angepasst.
Ebenso müssen wir, wie gehört, zwischen bluteigenem und blut-
fremdem, organeigenem und organfremdem, und endlich zelleigenem
und zellfremdem Material unterscheiden. Bluteigenes Eiweiß bei-
spielsweise ist vollständig organ- beziehungsweise zellfremd und
ein zelleigener Stoff der Nierenzellen ist für andere Organzellen
ebenfalls gänzlich fremd. Die Ausübung von spezifischen Zell-
und Organfunktionen ist nur unter der Annahme möglich, dass
jedes Organ seine besonderen, physikalisch und chemisch spezifisch
konstruierten, wenn auch aus gleichen Bausteinen aufgebauten, Stoffe
besitzt.
Um nunmehr auf den näheren Gegenstand des Buches einzu-
gehen, nämlich auf die Schutzwirkung der Fermente im Orga-
nismus, so können wir bereits in der oben geschilderten Umprägung
der Nhrunesstofe wie sie bei der Yo sn, vollzogen wird, ein
edlem Schutzmoment erblicken. Die an hat ja den
Zweck, zu verhindern, dass Produkte in den Organismus übergehen,
die weder dem Blute noch den Körperzellen angepasst sind. Des-
gleichen sorgt wiederum jede einzelne Zelle auf die gleiche Art
dafür, dass sie nur solche Produkte beherberge, die ihr dem Auf-
bau nach vollständig vertraut sind. Sie wiederholt demnach sozu-
sagen den ganzen Verdauungsakt. Auf diese Weise gelangt man
zur Annahme, dass innerhalb des Organismus der große Zellstaat
harmonisch zusammenarbeitet. Gesichert wird die Möglichkeit einer
solchen Harmonie nur dadurch, dass einerseits die Darm- und Leber-
zellen keine Stoffe an die Blutbahn abgeben, die ihrer Eigenart
nicht total beraubt worden sind und dass andererseits alle Körper-
zellen nur Produkte an die Blutbahn abgeben, die infolge Abbau
ihren zelleigenen Typus eingebüßt haben. Wir gelangen zum Re-
Abderhalden, Schutzfermente des tierischen Organismus. 107
sultat, dass das Blut seiner Zusammensetzung nach als konstant zu
zu betrachten ist.
Diese Abgeschlossenheit und Harmonie ım Organısmus wird
gestört, sobald an irgendeiner Stelle fremdartige Stoffe auftreten.
Dabei kann es sich um fremdartige Zellen mit völlig eigener Struktur
und eigenartigem Stoffwechsel handeln oder es treten einfach
irgendwo Stoffe, z. B. Eiweißkörper auf, die für das betreffende
Organ oder für die Zelle organ- bezw. zellfremd sind.
Dieser letztere Fall wurde dem Experiment unterworfen und
hierfür speziell das Blut ausgewählt. Es wurden in die Blutbahn
blutfremde Eiweißkörper, Fette und Kohlehydrate eingespritzt und
der Nachweis geliefert, dass sich der Organismus der Tiere gegen
diese blutfremden Körper zu wehren versteht, indem im Blute nach
kurzer Frist Fermente auftreten, die diese blutfremden Substanzen
in indifferente und dem Organısmus wohl vertraute Bausteine zer-
legen. Das Blutplasma der normalen und jenes der so behandelten
Tiere zeigt daher bedeutende Unterschiede. Wurde beispielsweise
einem Hund parenteral Eiereiweiß eingespritzt, so zeigte das Serum
dieses Tieres nach einiger Zeit ein intensives Spaltungsvermögen
für dieses Protein, indes ein solches normalem Hundeserum nicht
zukommt. Das Spaltungsvermögen wird am besten im optischen
Polarisationsrohr verfolgt. Ist das erstere positiv, so wird die An-
fangsdrehung der betreffenden Eiweißlösung — Serum verändert,
ist kein Spaltungsvermögen da, so bleibt sie konstant.
Eine praktische Verwertung fand dieser Befund durch den Ver-
fasser in der Schwangerschaftsdiagnose. Nach früheren Unter-
suchungen von Schmorl, Veit und von Weichardt kreist ın der
Blutbahn während der Schwangerschaft körpereigenes, jedoch blut-
fremdes Eiweißmaterial, von Zellen herrührend, die sich von den
Chorionzotten loslösen. Der Organısmus reagiert nun in der oben
geschilderten Weise und das Blutserum von Schwangeren besitzt
demzufolge für Plazentaeiweiß ein erhebliches Spaltvermögen.
Die gleiche Betrachtungsweise galt auch für Zuckerarten, Fette
und Nukleinsubstanzen. Mit Ausnahme der Fettstoffe, bei deren
Einspritzung sich technische Schwierigkeiten ergaben, lieferte das
Experiment auch hier die gleichen Resultate.
Mit der Zufuhr von blutfremden Substanzen gelangen ın das
Blut Körper, die den Körperzellen vollständig fremdartig sind. Der
Organismus reagiert in der Weise, dass er Fermente produziert,
die diese Fremdsubstanzen abbauen. Da diese Abbaustufen keine
normale sind, so können sie unter Umständen Störungen hervor-
rufen. Es sprechen aber Beobachtungen auch dafür, dass die pa-
renteral zugeführten Stoffe umgebaut und als Nahrungsstofle ver-
wertet werden.
I0S Abel, Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere.
Ein noch verwickelterer Fall, auf den schon zuvor hingewiesen
wurde, liegt aber vor, sobald eine Invasion von fremdartigen Zellen
in den Organismus stattfindet, die ihren eigenen, für die Zellen
des Organismus gänzlich fremdartigen Stoffwechsel besitzen. Diese
Zellen, es sei z. B. auf Sarkomen und Krebszellen oder auf Bak-
terienzellen hingewiesen, sind mit ganz eigenen Fermenten ausge-
rüstet, dıe für sie das Substrat, die Zellen des Wirtes, vorbereiten
“und sie entsenden auch Stoffwechselprodukte, die für den Organismus
des Wirtes gänzlich unbekannte Abbaustufen vorstellen. Hierdurch
können bedeutende Schädigungen ım Leben des Wirtes auftreten,
denn einmal werden die körpereigenen Zellen des Wirtes, die den
Mikroorganismen als Nährboden dienen, atypisch abgebaut, und
zweitens gelangen Abbaustufen in die Blutbahn des Wirtes, die für
ihn blutfremde Substanzen sind und als solche schädlich wirken
können. Endlich zerfallen auch die fremdartigen Zellen innerhalb
des Körpers des Wirtes, wodurch wiederum körperfremde Stoffe
in Frage kommen, mit deren schädigendem Einfluss wir rechnen
müssen.
Wir sehen also, dass wir die Bakterienwirkungen nicht unbe-
dingt ın jedem Fall einem Giftstoff, dem sogen. Toxin zuzuschreiben
haben, sondern dass hier noch manche andere Gesichtspunkte zur
Erwägung kommen müssen. Wichtig sind diese Gesichtspunkte
auch für die Immunitätsforschung. Der Kampf des Wirtes gegen
die Mikroorganismen richtet sich nicht nur gegen die sogen. Toxine,
sondern auch gegen Stoffwechselzwischenprodukte und Abbaustufen
und gegen die Zerfallsstücke von toten Lebewesen.
Sowie demnach der Organismus seinen normalen Stoffwechsel,
den Abbau und Aufbau von Körpersubstanzen mittels der Fermente
reguliert, so sind diese letzteren auch die Waffen des Organismus,
die derselbe im Kampfe gegen Infektionen aller Art mobil macht.
Das Auftreten dieser Schutzfermente im tierischen Organismus ist
von großer Bedeutung für die meisten Probleme der Pathologie
und, wie oben dargetan wurde, der Immunitätsforschung.
A. Fodor.
Abel, ©. Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere.
E. Schweizerbart’sche Verlagsbuchhandlung Nägele und Dr. Sproesser.
Stuttgart 1912, 709 pp., 470 Textfig.
Es ıst gewiss bemerkenswert, dass dieses Werk, das von
seinem Verfasser bescheiden nur „Paläobiologie* genannt wird,
obwohl eine Fülle wertvollen Materials über die Biologie auch
der rezenten Wirbeltiere darin verarbeitet ıst, von einem Palä-
ontologen geschrieben werden musste, der freilich nicht nur
die in Betracht kommende, bereits sehr ansehnliche paläonto-
Abel, Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere. 109
logische Literatur mit großem Fleiß zusammengetragen, sondern
auch den Lebenserscheinungen der lebenden Wirbeltiere ın weit-
gehendem Ausmaße sein Augenmerk geschenkt hat, und so dem
Beispiele seines Lehrers Dollo folgend, in scharfsinniger Weise
die ethologische Analyse, die Erforschung von Bewegungsart,
Nahrungsweise und Aufenthaltsort der fossilen Tiere durchführt.
Das Werk ist in diesem Sinne auch die erste „vergleichende Bio-
logie“ (Ethologie) der Wirbeltiere und daher auch ganz anders
angepackt als das leider noch immer nicht abgeschlossene Werk
von Hesse und Doflein.
Der reiche Inhalt des Buches, dessen illustrativer Teil voll-
kommen auf der Höhe des Textes steht und gleichfalls viel Neues
bringt, kann aus den Kapitelüberschriften nur unvollkommen er-
sehen werden; es möge dem Referenten daher in Anbetracht der
Bedeutung des Werkes ein näheres Eingehen gestattet sein, trotz-
dem sollen sie, um einen Begriff von dessen Anlage zu geben, hier
im wesentlichen wiedergegeben werden:
I. Geschichte und Entwickelung der Paläontologie (dıe phan-
tastische, deskriptive, morphologisch-phylogenetische, ethologische
Periode).
II. Die Überreste der fossilen Wirbeltiere (vereinzeltes und
gehäuftes Vorkommen von Wirbeltierleichen; die Ursachen des ge-
häuften Vorkommens von Wirbeltierresten; die Zerstörung von
Tierleichen; der Fossilisationsprozess; Lebensspuren fossiler Orga-
nismen).
Ill. Die Wirbeltiere im Kampfe mit der Außenwelt. 1. Die
Anpassung an die Bewegungsart (Schwimmen; Kriechen und
Schieben; Schreiten, Laufen und Springen; die Bipedie; Fliegen;
(Graben; Haftklettern, Krallenklettern, Zangenklettern, Hängeklettern,
Schwingklettern, Schlängeln und Wühlen). 2. Die Anpassungen
an den Aufenthaltsort (nektonische, benthonische, planktonısche
Wirbeltiere — dieses Kapitel bezieht sich größtenteils auf das Leben
im Wasser). 3. Die Anpassungen an die Nahrungsweise. 4. Die
Anpassungen an den Kampf mit Feinden, Artgenossen und Futter-
tieren. 5. Die vergleichende ethologische Geschichte der Wirbel-
tierfaunen.
IV. Paläobiologie und Paläontologie.
Es ıst überaus schwer, aus der großen Menge neuer Tat-
sachen, Erklärungen, Kekonstruktionen, Abbildungen auch nur das
Wichtigste hervorzuheben. Aus dem zweiten Abschnitte möge nur
die ausgezeichnete Studie über die mannigfachen Ursachen gehäuften
Fossilvorkommens genannt werden, darunter namentlich die neue
Deutung der berühmten tertiären Knochenlagerstätte von Pikermi.
Diese musste in einer Zeit heftiger Wolkenbrüche nach einer Zeit
der Dürre entstanden sein, wobei Herden von Antilopen, Pferden,
Nashörnern ete. auf der Suche nach Wasserlachen an Steilränder
gelangten, hinabstürzten, sich die Gliedmaßen zerschmetterten (Er-
110 Abel, Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere.
klärung der häufigen Knochenfrakturen), ebenso mit den hochange-
schwollenen Gebirgsbächen felsenbewohnende Affen, Klippschliefer
und Schildkröten in die Tiefe gerissen worden, wo die angesammelten
Wassermassen einen mächtigen, verschlammten See bildeten, auf
dessen Oberfläche die von Verwesungsgasen aufgetriebenen Kadaver
der verunglückten Tiere schwammen. Dabei lösten sich die Unter-
kiefer von den Schädeln und sanken ın die Tiefe, während die
übrigen Skeletteile ans Ufer geschwemmt wurden und Aasfressern
zur Beute fielen. Auch die Massenvernichtung von Tieren durch
vulkanische Ausbrüche, namentlich im nordamerikanischen Tertiär,
sowie in der Santa-Uruz-Formation Patagoniens findet eine ein-
gehende Darstellung, ebenso ım Kapitel „Zerstörung von Tier-
leichen“ die Fraßspuren von Nagern, Krokodilen u. s. w. an Knochen
und die Bohrlöcher von Bohrmuscheln und Bohrschnecken an
Knochen und Molluskenschalen.
Sehr bemerkenswert ıst auch die zusammenfassende Darstellung
der Lebensspuren fossiler Organismen mit zahlreichen sehr instruk-
tiven Abbildungen; hier wäre "namentlich die Analyse der Wirbeltier-
fährten und besonders der Nachweis, dass die Chirotherium-Fährte
wegen der fünffingerigen Hand keinem Stegocephalen, aber, nach einer
ın letzterer Zeit entdeckten Fährte zu schließen, einem bipedal sich
bewegenden Dinosaurier angehört haben dürfte, hervorzuheben;
nicht minder möge auf dıe Analyse der Nahrungsreste in der Leibes-
höhle fossiler Vertebraten hingewiesen werden.
Die Darstellung der durch Kämpfe (namentlich Paarungskämpfe)
entstandenen Knochenverletzungen fossiler Wirbeltiere, besonders
bei Walen, ist gleichfalls von großem Interesse; ebenso die Über-
sicht der auf Knochenerkrankungen (Pachyostosen u. s. w.) zurück-
führbaren Deformationen fossiler Skelettreste, durch sehr schöne
Abbildungen erläutert.
Ein Kapitel von ganz besonderem Interesse ist dasjenige, welches
die Anpassung der Gliedmaßen an eine bestimmte Lebensweise
behandelt. Es soll hier ın erster Linie auf die übersichtliche Dar-
stellung der Flossenfunktionen, Stellung und Morphologie der
Schwanzflosse aufmerksam gemacht werden (wobei auch die ver-
schiedenartige Ableitung und Zusammensetzung der Caudalıs durch
eine besondere Formel klar zum Ausdrucke gebracht wird). Die
auf die terrestrische Gangart der Vorfahren von Chelone zurück-
zuführende Drehung des Unterarms gegen den Oberarm, die mannig-
fachen Vorrichtungen (Verriegelungen), die dem Pinguinflügel eine
sagıttale Bewegung in S Gelenken nach hinten unmöglich machen,
die Übersicht über die verschiedenen Wege der Verbreiterung,
Verlängerung und Versteifung der Flossen, die Ursache der Rück-
bildung des hinteren Gliedmaßenpaares bei den Walen (im Ver-
gleich zu Ichthyosauriern und Haien) und die Bedeutung der Kiele
am Walkörper als richtunghaltende Apparate, der Nachweis der
Drehung des Fußes bei den Stegocephalen, so dass die Plantar-
fläche in der Ruhe nach aufwärts gerichtet war, die Hervorhebung
Abel, Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere. 111
der Tatsache, dass Stegocephalen, Urodelen und die meisten Anuren
nur 4 Finger haben (ebenso die ältesten Reptilien, wie /sodectes)
und der Daumen eine Neuerwerbung darstellt (was übrigens vom
Referenten schon 1909!) hervorgehoben wurde), die Erklärung der
sekundären Plantigradie bei verschiedenen Huftieren (Nesodon,
Colpodon, Coryphodon) beim Menschen und bei Diprotodon durch
Anpassung an das Leben auf Sumpfboden mögen nur kurz erwähnt
werden.
Weiterhin wird nachgewiesen, dass die Drucklinie bei den
paraxonischen Huftieren nicht zwischen dem 3. und 4. Strahl, son-
dern durch diese beiden Strahlen läuft; es werden die Anpassungs-
stufen der Paraxonier zusammengestellt und ebenso eine Uebersicht
abnormer Hand- und Fußstellungen gegeben (Xenarthra, Echidna,
Fledermäuse, Schildkröten). Besonders beachtenswert ıst der Nach-
weis der Bipedie der Gattung Mwylodon, die übersichtliche Dar-
stellung der bipeden Bewegungsweise bei den Dinosauriern, die
vermutlich Steppentiere gewesen sind, sowie die Übersicht der
bipeden Wirbeltiere (unvollständig in bezug auf rezente Lacer-
tılier) die Erörterung des Unterschiedes zwischen dem Flug von
Pterodactylus (unsteter Flatterflug) und Rhamphorhynchus (ruhiger
Drachenflug), sowie die schöne Darstellung der Grabanpassungen,
besonders der Xenarthra, nebst einer Übersicht der Grabtiere und
speziell der maulwurfsartigen Säugetiere. Auch verschiedene paläo-
zoische Stegocephalen (Cucops, Eryops, Trematops, Kuchirosaurus)
und Reptilien (Desmospondylus, Dicynodon, Oudenodon, Dimetro-
don etc.) haben eine grabende Lebensweise geführt, wie aus dem
Bau des Humerus unzweifelhaft hervorgeht. Aus dem Kapitel über
Kletteranpassung wäre namentlich der Nachweis der arborikolen
Lebensweise des orthopoden Dinosauriers Hypsilophodon, die ver-
schiedene Stellung der Körperachse zur Zweigachse bei bipoden
und tetrapoden Kletterern, die Darstellung des sekundären Ver-
lustes des Klettervermögens namentlich bei Dinosauriern hervor-
zuheben.
Aus dem Abschnitt: Anpassung an das nektonische, bentho-
nische und planktonische Leben sind dem Ref. namentlich die
neuen Abbildungen von Ichthyosaurus mit Kehlsack, des robben-
artig schwimmenden" Hesperornis, der vollständig berechtigte Ver-
gleich der Cephalaspiden mit den Panzerwelsen. die schöne Zu-
sammenstellung der macruriformen Fische, der Vergleich der Tief-
seefische mit den „Hungerformen“ von Süßwasserfischen, die Deutung
von Palaeospondylus als Fischlarve, die verminderte Eigenbew egung
der zwischen treibenden Eisschollen lebenden Neobaluena des süd.
lichen Eismeeres (Schwanzwirbel reduziert, Rippen breit, Schiffs-
planken ähnlich) aufgefallen; im Abschnitt: Anpassung an die Nah-
rungsweise, namentlich die Hervorhebung der großen Bedeutung
von harter und weicher Nahrung auf die Ausbildung des Gebisses
1) In Naturwiss. Wegweiser (Amphibien und Reptilien I, p. 6).
112 Abel, Grundzüge der Paläobiologie der Wirbeltiere.
(Durophagie und Malacophagie), die schöne Lepidotus-Abbildung,
die Mitteilung Dollo’s, dass /ynanodon eine Greifzunge nach Art
der Giraffe besessen haben muss, endlich die Feststellung, dass
Thylacoleo zwar ein Raubtier war, trotzdem seine Eckzähne reduziert
und durch die stark entwickelten äußeren Inzisoren vertreten waren,
dass aber die karnıvore Lebensweise sekundär ist. Nesodon (Notungu-
lata) hatte zwar ein nagerähnliches Gebiss, aber eine andere Kiefer-
bewegung, bei Astrapotherium vertraten die Eckzähne die Stelle der
Schneidezähne beim Nagen; unter den Reptilien dürfte Klginia
harte Pflanzenteile benagt haben. Die Lage der Mundspalte auf
der Unterseite des Schädels bei den meisten Elasmobranchiern wird
mit Recht auf benthonische Lebensweise zurückgeführt; nektonische
Haie mit unterständiger Mundspalte sind demnach von benthonischen
abzuleiten. Weiters: Ursache der Gebissreduktion bei Walen,
Ichthyosauriern, Schildkröten, Pterosauriern, Oudenodon, ethologische
Bedeutung des eigentümlichen Gebisses bei gewissen fossilen Beutlern
(Ptilodus ete.), Deutung der Polyphemsage (Zwergelefantenschädel
in einer sizilianıschen Höhle, deren große mediane Nasenöffnung
die Vorstellung von der Einäugigkeit des „Polyphem“ hervorrief),
Erörterung der Ernährungsweise der Proboscidier, von denen eine
suide und eine tapiroide Reihe getrennt nebeneinander existierte;
dreimaliger Wechsel der Ernährungsweise infolge Wechsel des Ge-
bisses (Grabfunktion der unteren, dann der oberen Inzisoren, dann
des Rüssels).
Die umfangreichen und sehr lesenswerten Ausführungen über
die Waffen der Tiere sind zum Teil schon an anderer Stelle (in
den Verh. d. zool. bot. Ges. Wien) publiziert worden; daher nur
auf die Kampfverletzungen bei Walen, die eigentümlichen Fang-
apparate der Asterolepiden hingewiesen werden möge.
Auch aus den Schlusskapiteln wäre mancherlei herauszugreifen,
was neu oder zum ersten Male genau präzisiert und zusammen-
gefasst ist —- aber was der Ref. bisher in kurzen Schlagworten
hervorheben konnte, zeigt wohl bereits zur Genüge, in welcher
Weise der Autor die ihn interessierenden Probleme behandelt und
übersichtlich zusammengestellt hat. Es muss wiederholt werden,
dass wir kein ähnliches Buch über die rezente Tierwelt besitzen;
wenn aber ein solches geschrieben wurde, müsste es aber im wesent-
lichen den darin aufgestellten Richtungslinien folgen. Ist auch
manches vielleicht darın noch unsicher, problematisch — wer immer
Biologie (Ethologie) auch der rezenten Tierformen betreiben will,
wird es nicht entbehren können und wollen. F. Werner (Wien).
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt
Unter Mitwirkung von
BrsRK. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München.
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Ba. XXXIIl. 20. März 1913. N 8.
Inhalt: Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms (Schluss). — Beard, On the
Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature. — Schneider, Die rechnenden
Pferde. — Brehm’s Tierleben. — Ferienkurse. —
Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
By R. R. Gates.
Imperial College of Science, London.
(Schluss.)
In two subsequent papers (1911b and 1912) Artom has con-
tributed further studies on the sexual (2 X) and parthenogenetic
(4 X) races of Artemia. He has obtained the parthenogenetic
variety from several Italian localities and also from Odessa, while
the sexual variety is known from Cagliarı and also from Salt
Lake, Utah. In the last paper the size-relationships of the Caglıarı
and Capodistria races are further investigated, and a few of the
results may be mentioned. The method used was to measure the
area of the drawings of nuclei, treating them as ellipses. In thıs
way the “nuclear area” in the two races was found to be directly
proportional to the quantity of chromatin — a confirmation of
Boveri’s law. It ıs unfortunate that the volume of the nuclei
was not determined, so that the results could be directly compared
with the law obtained by Gates, Tischler, and others in plant-
cells and nuclei.
The “nuclear area” of the cells of the intestine in the median
abdominal region of the metanauplius of the two races was found
to be as 1:3.7. The cells from the thoracie part of the adult
XXXIN. 8
114 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
intestine in the two races gave the result 1:2.7, while for the
abdominal region of the intestine it was 1:3.5, and for the optic
ganglıa 1: 2.2.
The average length of the metanauplius of univalens was
0.53 mm, and of bivalens 0.70 mm. The relative length of the
larvae of the two races in four different stages was also found to
be as 1: 1.3, and these differences in size are said to be equivalent
to the differences in the salinity of the water in which they live.
Artom concludes that the quantity of chromatin in the cells
of bivalens is more than double that in univalens, but the “area”
of the nuclei and cells is directly proportional to the quantity of
chromatin; the number of cells being approximately the same
ın both.
In an interesting paper which was overlooked, C. Müller (1909)
has described the chromosomes of three species of Yucca; Y. gua-
temalensis Back., Y. aloifolia L. and Y. Draconis Torr. In all
three species there are five pairs of large chromosomes, varying in
length, and 44—-46 small, globular ones, making a total of 54 or 56.
In a later paper (1912) Müller has studied the chromosomes
in a large number of genera of Liliaceae and Amaryllidaceae. The
numbers run from 10—12 (2X) ın four genera, to 14 in Aloe
Hanburyana, 16 ın Galtonia candicans and Hyaecinthus orientalis,
16—18 in Haemanthus, 18 in Chionodoxa, 20 in Amaryllıs, Bruns-
wigia, Veltheimia and (?) Scilla, 22 in Nerine, 26 in Bulbine annua,
30—32 in Eucomis bicolor, 32—34 in Listera ovata (cf. 32, Rosen-
berg, 1905), 36—38 in Muscari, 54 in Albuca fastigiata, 56 (?) in
Yucca, and about 60 in Beschornia superba. Accurate measurements
of many of these chromosomes are given. From these results it
is evident that the chromosomes of the two families are, or have
been, in a state of flux, and it ıs fairly obvious that the high
chromosome-numbers came from the transverse segmentation of
certain pairs. These formed a varying number of short chromo-
somes, while the remaining pairs retained their original condition.
Studies of this group have not yet been sufficiently extensive to
determine whether possibly the number of these small chromosomes
varies in different individuals, but it is possible that a condition
might be disclosed resembling that of the supernumerary chromo-
somes described by Wilson in Metapodius and other Hemipteran
genera. This group of plants ought to be a very favourable one
for studies of the chromosome behaviour in hybrids.
Wilson (1909) has listed the chromosome numbers known in
the inseets up to the date of his paper, with the following results:
In the family Pentatomidae the somatie number in different species
is known to range from 10 to 14, 16 and 26; the Pyrrochoridae the
female somatie number ranges from 12 to 14 and 24; in the Coreidae
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 115
from 14 to 16, 22, 24, and 26; ın the Chrysomelidae from 22 to 28
and 30, while Wieman (1910) has found 36 in ZLeptinotarsa signati-
collis; Tenebrionidae, female somatic number, 20; Elateridae,‘ 20;
Jassidae, 24; Blattidae, 24; Fulgoridae, 28; Aeschinidae, 28; Gal-
gulidae, 38; Diptera, 12. Many others have been added since. The
researches of Wilson and others have made it highly probable
that various types of phylogenetic change in the chromosome
number occur in the insects, and it is not improbable that this
includes tetraploidy in some cases.
In the light of the facts, above cited, that Strasburger, as
well as the Marchals and others, have given their adherence to my
views, it is surprising to find de Vries stating in a recent paper
(1912, p. 34), „Zwar hat Gates eine abweichende Ansicht auf-
gestellt und behauptet, dass die Verdoppelung erst nach der Be-
fruchtung geschehen sein sollte.“ De Vries apparently thinks it
vital to his theory of mutation, that all the mutants should originate
from changes occurring during sporogenesis, but it ıs by no means
clear why this should be the case. It seems reasonable to suppose
that changes in the germ plasm may also occur at other points in
the life cycle. The moss mutation above-mentioned is a case in
point. Also numerous cases of bud mutations are known, and I
shall describe a new one in the present paper. I have already
shown as clearly as ıt can be shown in breeding experiments, that
the mutant O. rubricalyx orıginated as a hybrid between a mutated
(rubriecalyz) germ cell, and a normal germ cell of the parent rubri-
nervis. But it by no means follows that mutational changes in
Oenothera are confined to this part of the life cycle'?).
Stomps has recently observed triploid (3 X) mutants, a) in a
single individual from O. Lamarckiana (1912 a, p. 413) having 21 chro-
mosomes, and characters intermediate between the parent form and
O. gigas. For such mutants he suggests the name semigigas. b) Eleven
Hero or 3 X mutants were observed from cerosses between Lamarck-
tana, rubrinervis or lata on the one side, and cruciata, muricata,
biennis Chicago and Mellersi on the other side. These 3 X forms
are easily distinguishable by being deep green and of larger size.
They were found by de Vries to oceur in about three in a thousand.
12) In a former paper (Gates, 1910) I described what appeared to be a
sectorial chimera of Oenothera, derived from seed, and during the past season I
studied a still more striking case of a periclinal chimera oceurring in a race of
O. Lamarckiana from seeds collected in 1911 at St. Anne’s, Lancashire. The
latter individual had its leaves edged with white, owing to the absence of chloro-
plasts from the hypodermal layer. The interest of these cases lies in the fact that
they came from seeds, and the original change is certainly to be sought in the
young embryo. There seems no reason why these should not be classed as vegetative
mutants of a certain type. The cultivated varieties of holly, pelargonium and other
plants with white leafmargins must have had a similar origin.
1416 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
In another paper (1912b, p. 533) Stomps describes (c) a single
mutant from 0. biennis having 21 chromosomes, which he calls
O. biennis semigigas'?).
Miss Lutz (1912) has also found 5 trıploid mutants from
Lamarckiana and 3 from lata X Lamarckiana, having 21 chromo-
somes in their root tips.
Both Stomps and Miss Lutz apparently assume that this
proves tetraploid mutations to have originated through the union
of two diploid (2 X) germ cells and by this method only. Their
conclusion in no way follows, however, for ıf all the pollen grains
are haploid (X) as in other plants, or if the diploid pollen grains
faıl to function, the origin of both triploid and tetraploıd mutants
can still be easily explained; namely, that the former originate
from the fertilization of a diploid egg by a haploid male call, the
latter from the apogamous development of a tetraploıd megaspore
mother cell, such as was observed by Geerts. That a triploid
mutant can also be produced by the union of a diploid male cell
with a haploıd egg, wıll only be proven when it is shown that
diploid pollen grains occur and are functional. At present there is no
certain evidence for thıs, while there ıs direct evidence for the oceur-
rence of tetraploıd megaspores in the above-cited observation of
de Vries’ pupil, @eerts. This also, despite the fact that studies
of pollen development in the Oenotheras have been much more
numerous than studies of megaspore development, and notwithstand-
ing the further fact that the number of microspore tetrads observed
has been thousands of times greater than the number of megaspore
tetrads.
Races of O. gigas.
In the paper already cited (Gates, 1909a, p. 536) I mentioned
that the gigas of de Vries’ cultures is all descended from one
individual, but that two other mutants more or less resembling
gigas were observed. I suggested that the latter perhaps represented
a different form, and ıt now appears that they may have been
trıploid in character. Two independent cases of the appearance
of gigas forms have since oceurred, and these I shall now describe.
The first I received in 1909 from the Botanical Garden at Palermo,
Italy, under the garden name O. cognata. My first culture from
these seeds, grown at the Missouri Botanical Garden, is described
in a paper now in press in the Transactions of the Linnean
13) During the past summer I also (Gates, 1912a) discovered mutants in a
eultivated race of O. biennis, including O. biennis lata, O. biennis laevifolia and
O. biennis rubrinervis. These corresponded to, though not agreeing with, the
Lamarckiana forms, and were called parallel mutations.
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 117
Society!*). This culture showed that the plants in their adult rosette
stage were identical with the giyas of de Vries, though they passed
through an earlier rosette stage which was quite unlike gigas or
any other type. This year (1912) I grew at the John Innes Horti-
cultural Institution twelve plants from the remaining original seeds '?).
These were all, with certain exceptions to be mentioned later,
identical with the gigas of de Vries in all stages of their
development. The 1909 plants had all remained rosettes, so I
obtained no seeds from them, and I attribute the peculiar early
rosette development to the very hot, humid summer climate of
St. Louis.
Subsequent inquiry from the Director of the Palermo Garden
elicited the information that the race had originated there several
years previously (apparently from a single plant) but that they had
subsequently lost the strain. The seeds from my culture of thıs
year are therefore probably the only ones of this strain in existence.
The accompanying photographs (figs. 1 and 2)'%) show the
rosette and adult stages of typical individuals in my culture of 1912.
The pedigree numbers of certain individuals will be given for the
sake of convenience in future references. A preliminary examina-
tion of the chromosomes in typical plants shows their number to
be 28. I shall refer to this race as O. gigas Italy.
Every individual came into bloom in the English elimate, the
seeds having been sown in January and the young rosettes planted
out in May. Nine of the adult plants were uniform and typical,
though showing certain very slight differences among themselves
in one or two points. Of the remainder, No. I, 9 corresponded
probably, to gigas oblonga, having a less stout stem, smaller leaves
which were nearly free from erinkling and possessed a nearly even
margin and a shape similar to oblonga. No. I, 12, when fully
developed, differed from the typical plants to a less degree, having
somewhat smaller leaves which were more deeply crinkled, and
more red on the buds (colour pattern 3—5, see Gates, 1911b,
pl. 6). The rosette, however, was typical (fig. 1). The last aber-
rant plant, No. I, 4, differed from the type only in being distinctly
smaller in all its parts, though not small enough to be called a
dwarf. Its tlowers were rather smaller than in 0. Lamarckiana.
This was one of the most interesting plants in the culture and will
be referred to again, later. Its leaves and flowers (see table II),
14) This paper, which also deals with the remarkable range of variability observed
in O. gigas, has since appeared in Trans. Linn. Soc., Botany, 8: 1—67. pls. 1—6.
15) I am greatiy indebted to the Director, Wm. Bateson, F.R.S., for fur-
nishing me with facilities for growing these and other plants.
16) I am indebted to Mr. E.J. Allard for his care in taking the photographs
in this paper.
115 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
though smaller, were otherwise like the type. The following descrip-
tion of the typical adult plants ıs taken from my notes.
Description: Stem leaves very large, thick, broad, crinkled,
prominently repand-dentieulate, midribs white. Stem very stout,
not quite so tall as neighbouring Lamarckiana plants, but later in
developing. ÜÖentral stem surrounded by a circle of basal suberect
branches arising from the rosette!”). Later, short lateral branches
Fig. 1. O0. gigas, Italy. Rosette July 8. Cult. 227/,, I. 12.
begin to develop from the central stem. Buds very large, early
ones quite green or yellowish, later ones yellowish with pale red
colour pattern (1—5, see above). The petals, and to a less extent
the sepals, are exceptionally long, so that the stigma is enclosed
by both, and does not project beyond the petals in the bud as
frequently happens in other forms.
The following table (II), made from the measurements of four buds
from typical plants and several from the smaller plant (Nr. I, 4),
17) This is erroneously stated by Miss Lutz (1912, p. 392) to be distinctive
of gigas, but precisely the same condition oceurs not infrequently in Lamarckiana.
119
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
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120 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
shows the comparative dimensions of the flowers. To this are
added measurements of two typical flowers from O. gigas Sweden,
be described shortly.
One of the typical plants above described (No. I, 10) showed
an interesting peculiarity in the absence of an absciss layer between
Fig. 2. O. gigas Italy, eult. 2)... I. 5.
the hypanthium and ovary, so that all the faded flowers remained
permanently attached to the plant, even weeks after blooming.
Plant No. 1,5, showed the same feature partly developed (cf. fig. 2)
and it appeared slightly ın No. I, 11. It seems that ın all the
giant races of Oenothera the llowers tend to remain attached longer
than in other forms.
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 121
The next race to be mentioned I shall refer to as O. gigas,
Sweden. It originated from a single mutant which appeared in
1907 in a pedigree culture of about thırty ©. Lamarckiana plants
which were grown by H. Heribert Nilsson (1909) at Lund. My
seeds of this race were kindly sent to me by Nilsson, for com-
Fig. 3. O. gigas Sweden. Rosette July 10. Cult. °®|,,. II. 3.
parıson with the other races of O. gigas. They correspond to the
“Komb. 7” of his paper. Though clearly a giant form, the follow-
ing description will show that it ıs a characteristic race, differing
constantly from the gigas from Amsterdam and the one from
Palermo 2°). From Nilsson’s pedigree seeds I grew thirty-six plants
as culture ?%?/,,. They were a uniform progeny except for certain
20) Since this was written, an important paper by Nilsson (1912) has appeared,
with descriptions of this and other forms based upon extensive cultures. Such
studies as these are particularly valuable in making possible a correlation of the
‘ results obtained by various investigators. The facts stated in my paper with regard
to O. gigas Sweden are to be regarded as merely confirmatory of the previous
studies of Nilsson with that interesting mutant. The value of Nilsson’s experi-
ments in greatly enhanced by the fact that his cultures were derived from an
independant, and slightly different, race of O, Lamarckiana from a garden in
Southern Sweden.
122 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
De
individuals to be mentioned later. Fig. 3?!) shows a typical mature
rosette photographed July 10.
Until the end of June the rosettes were indistinguishable
from culture ??”/,,. Then the rosettes were found to be larger and
with more jagged teeth at the base of the blade in the older leaves.
Fig. 4. 0. gigas Sweden, cult. °°°],,.
When fully developed, as in fig. 42°), they were found to differ
constantly from eulture ?°”/,, in the following characters. 1) The stem
leaves have conspicuous red midribs, and the midribs and petioles were
also pink on their ventral surface. 2) The stem leaves are longer and
21) C£. Nilsson (1912, textfig. 30, p. 173).
22) Cf. Nilsson (1912, textfig. 27, right, p. 165).
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 123
less crinkled, being often nearly smooth (cf. fig. 4). 3) The margın
of the stem leaves is much more conspicuously repand-dentate,
often with jagged teeth near the base (see fig. 5). 4) In habıt
(cf. figs. 2 and 4), having the basal branches more spreading, and
more numerous and longer stem-branches, which developed secondary
Fig. 5. Upper row, three stem leaves from O. gigas, Sweden.
Lower row, three stem leaves from O. gigas, Italy.
branches later in the season. The plants were thus distinetly larger
and more bushy than O. gigas, Italy. 5) The flowers were decidedly
larger, as shown in Table I. Leng hairs on the bud cone were
also more numerous and from larger papillae, the hairs themselves
being also longer. 6) An interesting constant difference was found
in the capsules”), which in gigas Italy were contracted at the
extreme base, as ın most of the related forms, while ın gigas
Sweden, they were usually expanded vertically to give a broad
base of attachment reaching as much as 14.5 mm in one dimension.
The capsules are also longer°*) than in the former, which is doubt-
23) Nilsson (1912), in his recent paper gives (p. 133) a fuller account of
the eontrasting characters between these two giant types, but apparently has not
observed this difference in the fruits.
24) The fact that this race is decidedly larger in stature, including size of
stems, leaves, flowers, ovaries and capsules, may not be without significance. I
De
494 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
less associated with greater seed-production (see table III). 7) They
were slightly slower in development, and five of them remained
rosettes. 8) As shown later, the flowers produced considerably
more pollen than giyas Italy, though not so much as Lamarckiana.
Fig. 6. 0. gigas de Vries, Amsterdam. Narrow-leaved Rosette. July 10.
Cult. 22°],
There ıs thus decidedly less sterility, both in anthers and ovaries,
than is the case wıth giögas Italy.
The individuals of this culture showed a certain amount of
varıation in cerinkling (though ın most the leaves were smooth or
nearly so), but No. 1,5 had constantly narrow leaves though differ-
ing from the type in no other respect. Another (II, 28) was very
distinet. It was late in developing but had broad leaves very much
crinkled with less toothed margins, rather closely resembling the
typical gigas of de V ries®).
understand that the chromosomes are being studied by Nilsson. By analogy I
should anticipate that the race will have at least 25, and possibly 30 or more
ehromosomes
25) Nilsson deseribes and figures this form (1912, p. 166, textfig. 27 left).
He attributes the differences between this individual and the type to the absence
of the factor for red leaf-midribs, which brings about correlatively all the other
changes in leaf and habit. It would be interesting to know how the numbers of
chromosomes in these two forms compare.
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 125
A more interesting departure, which must, I think, be classed
as a bud mutation, was observed in No. I, 4. This plant was
typical of the eulture, but bore basal side branches having decidedly
smaller flowers and leaves (cf. table ID), the former being about
= “
| x
Fig. 7. O. gigas de Vries, Amsterdam. Cult, '%],,. Same plant as fig. 6, Aug. 26.
the size of those in Lamarckiana. It seems reasonable to consider
this a mutative bud reversion, though I have not yet counted the
chromosomes.
A third eulture of gigas which I grew during the last season,
was derived from pure seeds received from de Vries several years
ago. Only one germinated this year, and it proved to be a very
136 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms,
narrow-leaved form ?°). Fig. 6 shows the rosette photographed
July 10, when the central shoot was beginning to develope, and
fig. 7 shows the mature plant. This’ ıs the first time I have suc-
ceeded in getting one of the very narrow-leaved variants to flower,
but ıt showed a very high degree of sterility, producing no good
pollen. Its chromosome number will be determined later. The
buds were much smaller than in normal gögas, but were not measured.
They were greenish in colour, and the earlier ones showed asym-
metry ın shape similar to that of lata. The petals were also some-
what crumpled, and the sepals rather short. The stamens were
sinuous and contained but little pollen, one stamen being found
attached throughout ıts length to a petal.
Table III.
Measurements of typical capsules.
Width of capsule
just above base
Length of capsule
Oygrgassltalyı a8, 27—28 mın 9.5—10.5 mm
OÖ. gigas Sweden .... 36—39 „, 8—85 „
O. Lamarckiana .... 30—34 „, AN
OÖ: aba We eos | 19—24 ,, 2.0,
The above Table gives the measurements of several capsules
from each of the races mentioned. The lata capsules are shortest,
because they produce fewest seeds. In O. giyas Italy the capsules
are strongly rhomboidal in cross-section, their greatest diameter
being, as in most of the other forms, just above the base. Here
again the short length of the mature capsules ıs undoubtedly to
be attrıbuted to the small number of ovules which it matures.
As shown in Table II, the ovary before fertilization is longer than
in O. Lamarckiana, while ın O. gigas Sweden it ıs very much longer,
as is also the ripe capsule. The fact that the capsule of the latter
usually has a broad expanded base has already been referred to.
The Pollen Grains.
During the past season I devoted some time to the examina-
tion of Oenothera pollen, the various types of grains being determined
numerically, with interesting results. The pollen of gigas ıs charac-
26) I have repeatedly found that when old seeds are sown and only one or
two germinate, the plants produced are almost invariably aberrant. This would
seem to indicate that the seeds which produce aberrant individuals are more viable.
I have had this experience too frequently to attribute it t0 mere chance.
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 197
teristically 4-lobed, though grains with five and more lobes occur,
while that of the other forms ıs usually 3-lobed’?”).
The method used was to mount as much as possible of the
pollen from one anther at a time in a drop of water, and then
examine it and count the number of grains of the various types. Of
course, only a fraction of the whole number of grains in an anther
can be observed and recorded in this way, but by examining all
the pollen grains sufficiently isolated in a given field of the micro-
scope and then passing on to another field and examining all ın
sight, one may be quite sure of obtaining the correct proportions
of the various types. In determining “good” and “bad” grains,
those were considered *bad” which showed any sıgns of shrivelling
or distortion, but probably the real proportion of non-viable grains
would be somewhat larger. When carried on ın this way, the
examination of the pollen from a single flower requires a consider-
able time. Nevertheless, it is much more expeditious than cyto-
logical methods, and I believe ıt may prove a useful auxiliary
method in determining the nature of the different types of pollen
grains.
It has apparently not occurred to Miss Lutz that the quadrangular
and triangular types of pollen grain may contain respectively 2 X
and X chromosomes, or thereabouts. If this were the case, a
eritical statistical examination of the pollen ın the various mutants
might greatly simplify the methods of determinig whether diploid
pollen grains occur, and their relative frequency in various parts
of the plant. This assumption is not at all an improbable one
when we recall the elose association between the number of chromo-
somes and the size of the nucleus and the cell. I worked out these
relationships in some detail in the case of O. gigas (Gates, 1909a),
and have since suggested (Gates, 1911la, p. 926) that the 4 lobes
instead of 3 ın the gegas pollen grain may result directly from the
changed space-relationships which follow the doubling in the chromo-
some number. The 4-lobed grain undoubtedly contains more space,
and therefore probably more eytoplasm, than 3-lobed grains, and
it is reasonable to suppose that its nucleus is therefore larger, not
only in gögas (as it undoubtedly ıs, though I have not made coımpara-
tive measurements of the nuclei in mature pollen grains) but wher-
ever 4-lobed grains occur. It is thus conceivable that the frequency
of 4-lobed grains in such forms as O. Lamarckiana may be used
as a measure of the frequency of diploid pollen grains. I should
anticipate, however, that any diploid grains occurring in, e. g.,
27) In a previous paper (Gates, 191la, p. 926) I gave Miss Lutz the credit
for having first observed 4-lobed pollen grains, in O. gigas. But as a matter of
fact I myself observed and figured such grains (1907) in my first paper on this
subject, in a hybrid having twenty chromosomes.
128 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
Lamarckiana would be regularly quadrangular with 4 lobes, while
trıangular grains with an extra lobe would contain an intermediate
number of chromosomes. In making calculations based upon the
data given in my first paper on this phase of the subject (1909),
I find this idea strongly borne out. The figures in the following
Table are taken or deduced from the data given in that paper
(pp- 531, 533), the nuclei being treated as spheres.
Table IV.
[1% N e Ratio of increase | Ratio of increase
| ar ar ae of eytoplasm in | of nucleus in
| | gigas gigas
O. Lamarckiana . . | 26995.39 1098.07 pr
|| 3 Hl DR ll
Oase | 39951.78 | 2373.52 1 zn
From this table ıt can easily be calculated that, ıf the cyto-
plasm ın gögas pollen mother cells increased in the same ratio as
the nucleus, it should measure in volume 49244.67. The deficiency
in cytoplasım therefore amounts to about -23, or nearly one-quarter
of the amount of cytoplasm in the gögas pollen mother cell. While
these figures are of course only approximately accurate, yet they
make it at least reasonable to suppose that the fourth lobe in the
gigas pollen grain serves to restore the normal ratio between nucleus
and cytoplasm.
Another simple caleulation from the data given in my previous
paper (1909 a), shows that in ©. Lamarckiana pollen mother cells
in synapsis the ratio of cytoplasm to nucleus ıs about 24.58: 1,
while in O. gigas the same ratio is only 16.83 :1.
With whatever degree of accuracy this relationship between
extra lobes and increased chromosome number may be found to
hold, it will be worth while keeping it in mind as a working hypo-
thesis. Miss Lutz (1909, p. 266) makes the statement that in
O. lata and O. Lamarckiana about one in a thousand grains have
four or more lobes, “although as high as fiften per cent. has been
observed ın normal, typical individuals”. The latter statement
requires verification. From the data presented in this paper, it is
evident that plants having different types of pollen grains differ
also in external characters and in chromosome number. It is
highly probable that the plants of Lamarckiana referred to by Miss
Lutz as having such a high percentage of quadrangular grains were
in reality triploıd mutants. She mentions the frequent occurrence
of grains having 4 or more lobes in the triploıd mutants described
in her recent paper (1911, p. 389), where she found the 3-lobed
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 129
grains “much in excess”, but has not determined the proportions
of the various types. Stomps also mentions (1912b, p. 533) that,
in the triploid mutant he obtained in the F, from O. biennis eru-
ciata X. biennis, the pollen grains were frequently quadrangular.
In the small-flowered plant of gigas Italy above, the pollen grains
(see Table VI) were about 23 per cent. 3-lobed, 75 per cent. 4-lobed,
and 2 per cent. with more than 4 lobes.
As a matter of fact there are different types of 4-lobed grains.
The typical gigas pollen grain is quadrangular with a lobe at each
corner of the square, while the typical Lamarckiana grain is
triangular with a lobe at each corner of the triangle. But triangular
lobes also occur having an extra lobe on one side of the triangle.
It ıs not impossible that such grains will be found to have a
chromosome-number between seven and fourteen, for they will
contain less cytoplasm than a corresponding quadrangular grain.
Even ıf the above-suggested relation between the shape of the pollen
grain and the contained number of chromosomes should prove not
to be a constant one, ıt might still be frequent enough to serve
as a valuable indication of probable chromosome number and
distribution during meiosis, as a preliminary to making cerosses and
a cytological study. That this is so will be evident from certain
facts here presented, and in any case the association here suggested
is at least true to the extent that 3-lobed grains seldom occeur in
normal gigas and 4-lobed grains seldom ın normal ZLamarckiana.
The data from my examination of pollen grains are presented
in the following tables. They are incomplete, as I had only a limited
time to devote to this work ?°), but a number of very interesting
facts appear. In a more thorough study, the proportion of good
to bad grains should be determined in all cases, and also the number
of triangular and quadrangular among the bad grains, for it is not
impossible that there may be selective elimination of one type as
the pollen matures. It is to be hoped that other workers will
include a statistical examination of the pollen grains in the deserip-
tion of the plants they study.
In the flowers of gigas Italy very little pollen was produced,
and it was granular, rather than stringy as in other forms. The
anthers also usually failed to dehisce properly, so that in making
pollinations the pollen had usually to be dragged out with a pin.
It should perhaps be added that these pollen examinations were
all made within a few days of August 20%, in the midst of the
flowering period.
28) My only reason for publishing these ineomplete data at this time is to
enable other workers to combine this method of pollen study with the observation
of other characters.
XXXIH. )
130 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
Table V.
Pollen grains of ©. gigas and other races.
| 8 ES = ‚a ' „Good“ grains| „Bad“ grains
1338 4 = “5 NE = 2
ee le nn 9 |< se en
2a: |. |2|2 A283 2 |e2
ee (Sen emren ne errenle
5 © © oO SS) za zu. SS | N ST or
jr 0 g an = Ih | ge) — iR
O. gigas Italy (*"J,.). | |
a) No. I. 6 (normal plant), | |
grains from one flower .. || 1050 |27.62 |72.38 | 18 |251| 21 | total = 760
b) Another normal plant (pe- | | |
digree number notrecorded) | 662 |42.60 157.40 | 6 |255 | 21 | 1 | 371,8
Totals || 1712 | 24 |506 | 42
572 1140
c) No. I. 4 (small flowers)
l1st flower 591 | 39.76 | 60.24 | 61 |165 | 9 ,107 | 249| O
Dnd =, 1210 | 25.62 |74.46 | 63 |239| 8 | total = 900
Znd %
(Good grains only). Stamen (1) - 0185| 31 — | — | —
2) — — - 15 | 83] 0 | — | - | —
„. 0) 24 \108| 4.) — | —
ed a er oa ea
Totals for 3nd flower 483 | — — [1112 |364| 7 |J— \— | —
| rg
Totals for No. I. 4 || 2284 | 32.69 | 67.35 1236 | 768 | 24 1256
O gigas Sweden (???],.).
His normaler 948 | 36.81 |63.19 | 33 |306 | 10 | total = 599
OSTomarckianan: Senne 910 }57.6 |42.4 [910 01 01-1 — | —
0. semilata (|, 1.6)... . | 1198 |44.28 | 55.72 530 0: 72171667. 1, 20210
|
From the accompanying tables (V. and VI.) it will be seen that
in typical. gigas Italy a fluctuating amount of the pollen, probably
in most cases much over fifty per cent. was non-functional. Of the
grains having a normal appearance, from 2—6 per cent. were 3-lobed,
86 to 90 per cent. were 4-lobed, while about 7 per cent. had five
or more lobes. In the individual (No. I. 4) having smaller flowers,
leaves and stature, the amount of sterility is about the same, but
the number of triangular grains was regularly about 25 per cent.
in all the flowers examined (Table VI), grains having five or more
lobes only numbering about 1.5—4 per cent. Thus in every case
the ratio of 4-lobed to 3-lobed grains in this plant was found to
be approximately 3:1. Whether this Mendelian ratio may have
any significance as such is not at present clear. Its chief interest
lies in the fact that the smaller size of the plant organs is accompanied
by this peculiar behaviour of the pollen. A count of the chromo-
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. [31
somes in this plant ıs being made from preparations made by Miss
Nesta Thomas. I have thus far been unable to find more than
25 or 26 chromosomes, but we are continuing the work on this
and other forms, of which a full account will be published later.
Tablemvss
Percentages of pollen types among “good” and “bad” grains.
| “Good” grains “Bad” grains
Total 5 =
STaıns 5- or 5- or
exam- 3-]obed 4-lobed | more | 3-lobed | 4-lobed | more
ined | lobed lobed
OÖ. gigas, Italy | |
a)ENo.1..6 2.210507 |7.6.2279/6 1.86.5396. 172225) ° °— I | — =
b) Another plant | 662 | 2.13 „| 90.43 „ [7.45 „| 0.26°], | 97.6397, 2.11%,
c) No. I. 4 | | | | |
lat flower | — | 25.96 „| 7021, 1.8, — | — —
nal 200322, 27209 as = er
Ind as ei
|
AU 3 flowers . ... | 2284 | 22.96 „| 7arı ,„ 233, — a
O. gigas, Sweden |
NosH. |
S1s. aaa. 82.08, BB
O0. Lamarckiana . | 2100 FARB — | ar I I
In addition to the types of pollen grain already mentioned,
I not infrequently found in O. gigas’a more nearly globular type
in which only two lobes were visible. No account was kept of
these, as they varıed much and were probably non-functional. The
actual percentage of sterility is very diffieult to determine, as
shrivelled grains of all sizes occur, and I have long known from
sections that many of the pollen mother cells also break down
before or during the reduction divisions. Another peculiarity worthy
of mention, is the way the various types of pollen grains appear
to be grouped. Thus in the plant having about 25 per cent. of
triangular grains, the latter were often found in groups on the
slides, frequently several together, rather than equally distributed
through the rest of the pollen. This would suggest that possibly.
their production was due to irregularities in the reduction divisions
of certain mother cells, by which only the haploid number of chro-
mosomes reached the daughter nuclei of the homotypic division.
The same phenomenon was observed in normal ©. gigas Italy
(No. I. 6). In the examination of pollen from one anther S trıan-
gular grains were found together, and in another anther three
triangular grains were observed quite close together on the slide.
9*
1323 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
In O0. gigas Sweden the amount of pollen produced is certainly
much in excess of that in the Palermo race, though there is no
evidence of a smaller percentage of bad grains in the meagre data
of Table V. It appears also, from Table VI, that there are more
3-lobed grains and fewer having 4 lobes than in gigas Italy.
Turning now to the narrow-leaved gigas from the Amsterdam
cultures (1°°/ ,), I found no good grains at all, though the anthers
were fairly well filled with shrivelled grains, including several types
I had not previously seen. The 4-lobed grains appeared most
numerous, but their frequency, and that of the numerous 3-lobed
grains, was not determined. In both these types the size of the
lobes was large relative to that of the central part. In addition
arounded, nearly spherical grain with very small lobes was observed,
but it appeared non-functional like the rest. The number of chro-
mosomes in this narrow-leaved individual has not yet been determined,
but I feel justified in predicting that ıt will be less than 28. In
fact, I believe the most probable hypothesis regarding the cause
of the tremendous varıation in leaf-width and other characters
exhibited by ©. gigas ıs to be found in variations in the chromo-
some-number of different individuals. This will be brought about
by irregularities in meiosis, and the different types of individuals
in the oflspring of O. gigas will thus represent a partial return to
the diploid number. It does not follow that all the size and shape
relationships in these plants are to be explained in this manner.
In the flower of O. Lamarckiana examined (Table V) the number
of good grains was found to be over fifty per cent., and the grains
were all, both good and bad, 3-lobed without exception. I after-
' wards examined the pollen of several other flowers from different
individuals, but without counting the grains, but I found not a
single 4- or 5-lobed grain. I observed, however, that occasionally
two grains lie over each other in such a way as to appear like
one 4-lobed grain until carefully examined. Evidently 4-lobed grains
must be very rare if they ever occur in my strain of Lamarckiana.
An individual of semilata, which is a well-defined mutant type,
was examined. This plant (229. 1.6) occurred in a culture of lata-
like plants from seeds kindly sent from Sweden by Nilsson
(*Komb. 1”). One very large 5-lobed grain was revealed in the
flower examined, but subsequent examination of another flower
without counting failed to diselose another such grain, though a
number of apparently 2-lobed grains were seen. A preliminary
chromosome count of this individual, from preparations made by
Miss N. Thomas, shows that the number is certainly as many as
fiiteen, and possibly sixteen. This form will also be reported upon
more fully later, in connection with a paper on. the various lata
forms. I may say that another semzlata plant from de Vries’ seeds
we
Gates, Tetraploid Mutants and Ohromosome Mechanisms. 13:
originally, self-pollinated yielded this year only three individuals,
of which two were typical /ata and one Lamarckiana.
It is hoped that this method of pollen examination will be
used in future by students of Oenothera, for ıt will evidently add
much to our knowledge of the constitution of the plant,
Discussion.
In this section it is first necessary to devote considerable space
to comments and criticisms of various statements made and concep-
tions held by other investigators.
To begin the discussion, I must first complete the paragraph
from de Vries (1912, p. 34) from which the above sentence was
quoted, which ıs as follows: „Zwar hat Gates eine abweichende
Ansicht aufgestellt und behauptet, dass die Verdoppelung erst nach
der Befruchtung geschehen sein sollte, und nicht einer Mutation (sic),
sondern einem Zufall (‘of the nature of an incident’) zugeschrieben
werden müsste. Dieses würde den Vorgang in die Gruppe der er-
worbenen Eigenschaften (sic) überführen. Und da man von diesen
jetzt wohl allgemein annımmt, dass sie nicht erblich sind, genügt
die Vorstellung von vornherein nicht, um die Entstehung meiner
erblichen Rasse zu erklären. Ich erinnere hier an doppel-
kernigen Zellen von Spirogyra in den Versuchen von Gerassimow,
welche durch die vegetativen Teilungen hindurch ihre beiden Kerne
beibehalten, diese bei der Beamer aber wieder verlieren.
Übrigens wird die Ansicht von Gates nah die neueren Tatsachen
völlig widerlegt.“
This passage requires several comments. I have already pointed
out that, so far from my view having been anomalous, it has been
supported by nearly all the eytologists who have had occasion to
deal with the subject. The second statement involves a miscon-
ception of my point of view. I have never suggested that the
origin of O. gigas was not a mutation, but on the contrary, have
held it to be such, since it results from an inherited germinal
change. I have, however, held it to be phylogenetically “of the
nature of an incident”, and in this it probably agrees with many
other mutations, though it is, of course, almost impossible to
measure the phylogenetic value of any germinal change when it is
viewed in such short perspective. The numerous cases of tetraploid
species among plants, and less frequently among animals, show,
however, that this condition is, as I have pointed out (1909a), of
great evolutionary interest.
The next statement of de Vries, that the origin of gigas from
a change occurring in the fertilized egg, or in the megaspore mother
cell would place it in the category of “inheritance of acquired
134 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
characters”, is obviously not in harmony with the usual biological
conceptions. For that term in biological usage, means the occur-
rence of a somatie modification, and its subsequent reflexion back
into the germ plasm. But a megaspore mother cell or a fertilized
egg is germ plasm par excellence, and any chromosome-doubling
oceurring here is obviously a germinal change, and as such likely
to be inherited. We may contrast with such a condition the one
obtained experimentally by N&mec (1910), in which, by treatment
of root tips, a doubling in the number of chromosomes in various
cells of the growing tip ıs obtained. There is obviously no pos-
sibility of such a change being passed on to the next generation,
and as a matter of fact the tetraploid condition of these cells
gradually disappears, although opinions differ as to how the return
to the diploid number takes place. De Vries cites in comparison
with gögas the binucleate cells of Spirogyra obtained by Geras-
simow, which afterwards returned to a uninucleate condition. But
the recent important work of the Marchals, already cited, in obtain-
ing diploid moss gametophytes by wounding the sporophyte, ıs a
closer parallel, and those experiments frequently gave rise to con-
stant tetraploid races. The statement of de Vries, that my point
of view is „völlig widerlegt“ by the newer facts, is therefore scar-
cely in accord with the evidence.
De Vries(l.c., p. 35) calls the trıploid forms half-grgas mutants
and states that they agree ın character with ©. gigas X Lamarck-
iana, a result which would be expected. He finds that when
Lamarekiana ıs crossed with pollen from cerucrata, muricata or
Millersi (nov. sp.), most of the seedlings produced are yellowish,
the occasional deep green ones (15 000 yellowish to 45 green), called
Hero, having 21 chromosomes. This gives a mutation-coefficient
of about 0.3 per cent., which is assumed with probability to represent
the frequency of diploid eggs in 0. Lamarckiana. This of course
furnishes no evidence of diploid pollen grains. If such really oceur
in Lamarckiana and are functional, it would seem probable that
their frequeney might be determined by making the reciprocal
crosses, with Lamarckiana as the pollen parent, but this does not
seem to have been done. We must conclude, then, that the inter-
esting evidence offered by de Vries shows only the frequency of
diploid egg cells, the oceurrence of which we already had some
reason to believe in through the observation of Geerts, but offers
no support whatever for the occurrence of functional diploid pollen
grains.
In discussing the status of O. gigas, de Vries (l. c., p. 36)
regards it, and I believe rightly, as „eine gute progressiv entstandene
Art“. He believes also that many of the differences from its parent,
O. Lamarckiana, cannot be explained as a result of the original
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 135
chromosome-doubling and the various changes it entailed. This view
may be correct but it has certainly not yet been proved, and I
think it can he shown that most of the changes at least may have
resulted from a single original change, namely the doubling in
chromosome-number. De Vries cıted the following characters as
unexplainable on the basis merely ofthe increased size of the nuclei
and cells: 1) The strong biennial habit. But this means merely a
slower rate of development under given conditions, and Keeble’s
(1912) giant Primula also grew more slowly, a result which might
be expected to follow directly from the larger size of the cells,
and the slower rate of karyokinetie division. 2) The larger seeds.
It is difficult to see why this was cited, for the ovule and hence
the seed, is an organ which would obviously be larger ıf composed
of larger cells, as the grgas ovule undoubtedly is. 3) The small
(1. e., short) fruits. The explanation here is not so obvious, but
the ovary at the time of fertilization is longer and stouter (see
Table II, p. 119) than in Zamarckiana, again a direct result of the
larger cells; and in gögas Sweden (see Table III, p. 126) the mature
capsule is also longer than in Lamarckiana, while ıt ıs shorter ın
gigas Italy and in /ata. After careful comparative study, the explana-
tion of this is simple — the length depends upon the amount of
sterility, or in other words upon the number of ovules which mature
seeds. If anyone examines a nearly mature capsule of gigas or
lata they will find a comparatively small number of seeds and
a large number of undeveloped ovules. Part of these ovules doubt-
less fail to develope for lack of fertilization, but many of them (as
I have learned from eytological studies of oogenesis in lata) faıl
to develope because the meiotie processes go awry. In lata the
sterility from this cause appears to be even greater than in gigas.
The short length of the mature capsule in both these forms depends
upon the small number of seeds developed in them ?°), and ıs there-
fore easily explained without recourse to another mutational change.
The greater sterility of ovules, both in gigas and lata, might be
expected to follow from the meiotic difficulties introduced by a) the
tetraploid, and b) an odd number of chromosomes. However, ın
29) There is a further interesting point, namely, that the seeds produced,
particularly in /Zata, are scattered through the length of the capsule, with many undeve-
loped ovules between them. The latter do not produce seeds because they are
incapable of being fertilized. On the other hand, when the fertilization of an ovary
in O. rubrinervis and other forms is incomplete, through the failure of sufficient
pollen to reach the stigma, one finds almost invariably that the lowermost ovules
are the ones which are fertilized and develope seeds. Hence it appears that when
all the ovules are capable of being fertilized, the first pollen tubes must grow to
the bottom of the ovary, the next to the ovules next above, and so on to the top.
This behaviour cannot be explained by a summation of chemotactic influences from
all the ovules, for in that case the middle ovules would be the first to be fertilized.
136 (Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
gigas Sweden the mature capsules are very long and contain many
more seeds than in gigas Italy. But in this case the ovaries ready
for fertilization are extremely long and probably contain more
ovules, so that the percentage of sterility may be no less than in
gigas Italy. De Vries cites(4) the outgrowth of the axillary buds
on the stem to form branches, as another difference. But this ıs
an extremely variable character both in gigas, Lamarckiana and
the other forms, depending no doubt upon local environmental condi-
tions at the time when these various buds reach a certain stage
of development. It can therefore scarcely be considered a constant
differentiating mark from Lamarckiana.
Another interesting physiological difference noted in the gigas
races during the past season was their greater susceptibility to
frost. On the morning (Oct. 5) after a rather heavy frost, the flowers
and unopened buds of the yiyas races were bitten and drooped
over, while all the diploid races in the garden escaped. The only
exception was the small-flowered plant of gigas Italy (227. I. 4),
which was unaffeeted. This difference agaın is no doubt a result
of the larger size of the cells in gigas.
Since it is possible to explain easily so many apparently diverse
morphological and physiological characters in gigas as the result of
a single initial change in nuclear structure and consequently in
cell size, one must hesitate before affırmıng that any character of
gigas 15 necessarily the result of another (additional) change. Our
knowledge, or rather our ignorance, of morphogenesis ıs at least
as profound as that of the physicist who cannot explain why a
certain rate of ether vıbration gives the sensation of red and
another the sensation of blue; or as that of the chemist, who cannot
correlate the properties, such as color and crystalline shape, of his
compounds, with their chemical composition except in a very limited
way. It is evident that many secondary changes in O. gigas, such
as the larger seeds and shorter capsules; and physiological changes
such as the stronger biennial habit and greater susceptibility to
frost, follow as a result of an mitial quantitative change in nuclear
and cell structure. According to the logical “law of parsimony”
one cannot introduce an additional cause to explain these changes
unless they can not be explained without its help, but I have
shown that the characters cited can be so explained. Regardıng
the few characters of gigas, such as leaf-shape, which remain to be
explained, one can only say that in our present ignorance of
morphogenesis — of the relation between organic cell structure
and external form — we cannot really distinguish between quantita-
tive and qualitative characters, except that we do know that in
many cases specific differences which appear to be qualitative are
found when analyzed to rest upon ultimate quantitative differences.
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 137
At any rate, the characters of gigas cited by de Vries as anta-
gonistic to this view are seen to be readily explainable in harmony
with it. Whether the leaf-shape requires the assumption of an
additional correlated change, remains to be seen, but the case of
Phascum cuspidatum shows that this ıs quite possible.
In gögas Sweden many of the characters are obviously different
from those of gigas de Vries, but the parental race of Lamarck-
iana from which it arose was also different (see Nilsson, 1912),
and until the chromosome numbers of both these races are known
it is useless to discuss the exact status of this giant race, though
many of ıts characters are obviously a result of the giantism of
its cells.
The Chromosomes of O. gigas hybrids.
Without occupying too much space with unnecessary details,
I may be permitted to refer to a few of the facts, ehiefly erto-
logical. Miss Lutz (1912) has devoted much of her recent paper
to a discussion of the probable status of the trıploid plants which
formed the basis of my paper on chromosome reduction in O. lata
X gigas (Gates, 1909 b). There must, unfortunately, remain some
doubt as to the exact male parentage of these plants, but I think
the facts on the whole certainly justify my treatment of them and
I shall continue to refer to them as O. lata X gigas. By ingen-
iously bringing together quotations from several of my early cyto-
logical papers, regarding the foliage and bud characters of these
plants, Miss Lutz has made statements appear contradietory which
in reality are not so. In the early papers the descriptions were
naturally less detailed than now when our knowledge concerning
the various types is much more accurate. Furthermore, the papers
were meant to be cytological rather than systematic. But anyone
famıliar with the characters of Lamarckiana, lata and gigas knows
that the leaves, for example, of all three resemble each other
in varying degrees, and it was obviously my purpose in the cyto-
logical papers mentioned, to refer merely to the general features
of comparison. Since then, the necessity for very detailed studies
of the external characters has become clear, and much of my time
for several years has been devoted to the correlation of the cyto-
logical features with the external characters, only fragments of the
results of which have yet been published.
I have also made the cross lata X gigas a number of times
since 1907, but only once with success until this season. In 1909
I made the cross Lamarckiana X gigas, obtaining an F, of forty
plants which were all identical with Lamarckiana. The pollen
when examined contained only triangular grains. Two F, families
were grown in 1911 and one F, in 1912, all giving typical Lamarck-
tana.- This experiment is referred to in a paper now in press.
135 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
Certain plants ofthe F, were examined and found to have fourteen
chromosomes. Of course there is the bare possibility that the
wrong capsule was collected from the Lamarckiana plant in the
original cross. But this seems improbable. Another explanation
is that all the functional pollen grains of the gigas parent, owing
to irregularities in meiosis, contained only seven chromosomes, or
again as happens in certain Echinoderm hybrids, the extra chromo-
somes may have been extruded and lost from the nuclei in the
early mitoses of the fertilized egg. Geerts (1911) found that ın
Lamarckiana X gigas in the F, the number of chromosomes returned
to fourteen, but contends that the F, hybrids were still identical
with those of the F,, an observation which is open to grave doubt.
In my paper on meiosis in O. lata X gigas (Gates, 1909b),
I demonstrated clearly that in my material the twenty-one chromo-
somes on the heterotypie spindle regularly segregated into groups
of ten and eleven chromosomes, with only occasional cases of a
9-12 distribution. Scores of nuclei were counted in interkinesis,
and in every case the result was as above stated. No cases were
observed of greater irregularity in the heterotypie distribution, and
none were found in which chromosomes were left out in the eyto-
plasm during interkinesis. These results were established beyond
the slightest doubt in my paper above mentioned, yet Geerts
(1911) attempted to tbrow doubt upon them because, as he thought,
his own results were incompatible with them. Another point, which
was referred to by Strasburger (1910) and subsequently by Geerts
(1911) was with regard to the possible paired arrangement of the twenty-
one heterotypie chromosomes. Strasburger reproduced my figures 9
and 10 (plate XII) and 11 (plate XIII) as giving some evidence of
such a paired arrangement, which they probably do. But I never
found the pairing in the hybrid evident enough to be quite con-
vinced of its significance, although I studied this point before my
paper was published. As I first showed several years ago, the
chromosomes are very loosely arranged on the heterotypie spindle,
so that even in pure races of Lamarckiana forms and of O. biennis,
the evidence of pairing at this stage is often very doubtful. Davis
has since confirmed these results for (1910) O. biennis and (1911)
O0. Lamarckiana. Even assuming, as is not improbably the case
(although I did not obtain thoroughly convineing evidence of it),
that: in the twenty-one-chromosome hybrid seven ehromosome pairs
are regularly formed, still the fact that the remaining seven chro-
mosomes were almost invariably distributed in groups of 4 and 3,
remains to be accounted for, as I pointed out (1909b, p. 194). The
fact remains that in my material the heterotypic mitosis was passed
through with great regularity and uniformity. The homotypie
mitosis also was completed with very few irregularities, and the
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 139
figures published proved this to be the case. The only irregularities
discovered were 1) the passage of one chromosome to the wrong
pole of the heterotypie spindle with about the same frequency as
I had previously found this to occur in O. rubrinerris and other
forms; and 2) the occasıonal omission of a chromosome from
one of the daughter nuclei of the second division. My fig. 16
(plate XIII), which shows this, also shows that two of the nuclei
contained ten chromosomes, while a third nucleus was cut. It ıs
thus perfectly evident that my material showed remarkably few
irregularities during reduction. Another interesting pecularity,
which Geerts (1911) first called attention to, but which is also
evident from certain of my figures, ıs the failure of certain of the
chromosomes to split during interkinesis. I had previously been
inclined to interpret this as due to the wide varıation which I had
shown to exist in the time when the split of the homotypie chromo-
somes occurs. Geerts figures some of these unsplit chromosomes
afterwards degenerating, but it is probable that some of them were
in my material distributed to the homotypic daughter nuclei without
dividing, for I rarely found chromosomes left in the ceytoplasm,
and never found any fragmenting, such as Geerts figures.
It ıs evident from such figures as Geerts (1911) publishes,
that his results are in the main a confirmation of mine. The only
differences are 1) perhaps a closer pairing of the homologous
heterotypic chromosomes in the material studied by Geerts; 2) a
tendency for the unpaired chromosomes to fragment or be left out
of the daughter nuclei in the heterotypie telophase. Not a single
case of this kind was to be found in my material. 3) Apparently
greater ırregularıty, with fragmentation of chromosomes, in the
homotypie mitosis. Thus it ıs obvious that the full number of
funetional chromosomes was retained throughout the reduction
divisions in my material much more frequently than in that of
Geerts. Whether this difference was due to the time of flowering,
the particular weather conditions under which the meiotie processes
were going on, or to some unknown difference in the hybrids, is
not certain. But it seems probable that the more numerous
irregularities in Geerts’ material are to be attributed to the fact
that his collections were made very late in the season, when the
plants were nearly through blooming and the weather conditions
must have been much less favourable. Miss Lutz (1912, footnote
p. 405) states that his material was collected in September and
October. My material was certainly collected much earlier in the
summer, in the height of the flowering season.
Miss Lutz (1912) brings forward an imposing array of hypo-
theses to account for the various chromosome numbers now known
in Oenothera, hypotheses based largely upon the observations of
140 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
myself, together with those of Geerts and Davis, on the pheno-
mena of meiosis in these forms. These interesting suggestions need
not concern us now, but they by no means exhaust the possibilities,
and at least one other cause of chromosome diminution is as likely
to occur as some that she mentions, namely, the loss of extra chro-
mosomes from the nuclei during the early divisions of the embryo.
I presented certain evidence for this earlier in the present paper.
The nuclear divisions of the male gametophyte are also a likely
place for loss of chromosomes to take place from an unbalanced
chromosome group. It is also conceivable that the two male nuclei
in a pollen tube might in this way come to have different chromo-
some numbers.
In conneetion with her discussion of the chromosome numbers
in Oenothera, Miss Lutz (p. 432) makes the extraordinary statement,
“So far as I have been able to discover, no mention has been
made of differences of chromosome number in mutants of Oeno-
thera previous to Gates’ first paper. In this contribution he men-
tions no mutant with a chromosome number differing from that of
O. Lamarckiana.” And in the following paragraph, “The first men-
tion of a mutant with a chromosome number differing from that
of O. Lamarckiana was published by the writer six months later”.
From this the reader is left to infer that she (Miss Lutz) made
the first discovery of different chromosome numbers in Oenothera.
But it is probably well-known to every one, except perhaps Miss
Lutz, that the whole subjeet of chromosome numbers in Oenothera
was opened up by my paper (1907), in which it was clearly shown
that one plant had about fourteen chromosomes and another about
twenty. The first announcement of these results was made in my
paper read at the New York meeting of the American Association
for Advancement of Science, in December, 1906. And it is not
devoid of significance that Miss Lutz began her work with Oeno-
thera seedling root-tips in January, 1907 (as she herself admits,
1912, footnote, p. 389), i. e., within a few days of the original
announcement of my discovery.
Remarks on giantism in Oenothera.
In the previous sections of this paper I have dealt with various
gigas types now known in Oenothera, together with some of their
derivatives and hybrids. The variability of certain of these gigas
races has been described recently by Nilsson (1912), and by me
in a paper now in press. It is becoming obvious from facts regard-
ing the pollen grains, already mentioned in this paper, and also
from the chromosome numbers in the various gigas forms so far
as they have been determined, that the varying chromosome distribu-
tions in the giant forms are the real cause of many at least of
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 14
the extraordinary types which appear ın their offspring. These
chromosome numbers are being further investigated from material
now in hand, and it seems evident that meiotic irregularities will
supply the key to the cause of this extraordinary range of varıation.
N. Heribert-Nilsson (1912), along with several Mendelıan
writers, adopts the fallacy that because a new type (mutation) varies
in the later generations after its first appearance, therefore the
original character-change was not single but compound in nature,
This fallacy is particularly obvious in the case of gigas, where diıs-
regard of the established eytological facts leads Nilsson to a quite
abortive attempt to explain te orıgin and later behaviour of the
giant types. Thus he says (p. 178) „Einige soeben angeführte Tat-
sachen scheinen mir dafür zu sprechen, dass die Rieseneigenschaften,
durch eine Kumulation von quantitativen Faktoren für Größe und
Form, auf verschiedenen Individuen der Stammart verteilt, aufge-
baut worden sind.“ By an hypothesis akın to Darwın’s pangenesis
he assumes that (p. 178) „innerhalb der verschiedenen Teile der
Pflanzen Reihen von selbständig spaltenden quantitativen Einheiten
vorliegen“, and that these numerous independent factors all happen
to meet together ın a single pair of germ cells, to produce the
giant type?®). On this hypothesis, all the intermediate and aber-
rant types which appear ın the offspring of gigas should appear
rather in the same family with gigas itself, which ıs not the case.
He does mention certain forms which he considers intermediate
between Lamarckiana and gigas, namely his Komb. 5 (p. 129) which,
Judging from his description, is evidently a trıploıd mutant.
The application of his theory leads Nilsson into still further
difficulties. Thus he says (p. 180) „Diese Tatsachen lassen
sich aber durch die Annahme erklären, dass der gigas-
Typus durch eine Plus-Addition von quantitativen und
kumulativen Einheiten entstanden ist, welche erst ın
verschiedenen Organen gigas-Eigenschaften, aber nicht
den gigas-Habitus aufbauen. Wenn dann diese Plus-
Komplexe zufällig zusammentreffen, so entsteht die
Habitusveränderung, die Mutante. Der gigas-Typus wäre
also eine extreme und zusammengesetztePlus-Kombination
von Faktoren für Größe und Form zu betrachten?!).“
This assumption, which closely resembles de Vries’ premutation
hypothesis, therefore supposes that these numerous “factors” are at
30) This hypothesis is put forward notwithstanding his admission (p. 219 and
elsewhere) that in other cases one character-change can influence many organs, e. g.
(p. 219), „die Eigenschaft der Rotnervigkeit. Diese beeinflusst nicht nur die Farbe
der Blattnerven, sondern auch die Farbe, die Buckligkeit und die Größe der Blätter
und die Länge der Früchte.“
31) Italies his.
142 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
first eryptomeric®?) but later, when they all meet together, suddenly
make their presence felt. This hypothesis is too obviously contrary
to fact to require comment.
If we regard the giant mutants as individuals in which the
chief if not the only original change has been the sudden doubling
in the chromosome number, we shall then be justified in looking
upon such forms as progressive mutations. We should therefore
expect them (as they do) to yield giant types parallel to the
Lamarckiana mutants, such as oblonga and scintillans. The long
range of narrow-leaved and aberrant forms which frequently appear
in the progeny of gigas are, as I have already suggested, doubtless
due to chromosomal aberrations and probably represent a gradual
diminution towards the diploıd number. The important point is
that such forms oceur only ın the offspring of gigas, and not
from other sources.
Nilsson’s method of pure lines in his researches ıs greatly to
be recommended and has led him to many valuable results. It is
therefore all the more to be regretted that he has neglected the
eytological facts in the interpretation of his results. What I wrote
in 1907 (p. 108) is still true; “some process of differentiation (in
O. Lamarckiana) the most probable seat of which is the germ plasm,
has led to the production of distinet types of germ cells differing
in chromosome morphology and in hereditary value.“ Nilsson,
in discussing my view (p. 211) says, „Also ist Gates der Ansicht,
dass Unregelmäßigkeiten ın der Verteilung der Chromosomen bei
der Bildung der Keimzelle die Ursachen der Entstehung von Vari-
anten mit einer geringeren Anzahl von Eigenschaften als die der
Stammart sind. Seine Auffassung unterscheidet sich also prinzipiell
von der meinigen, nach welcher keine Unregelmäßigkeiten
in der Bildung der Keimzellen stattfinden°?), wenn die Ver-
lustmutanten gebildet werden, sondern diese als Rezessivkombi-
nationen durch eine Neukombination mendelnder Eigenschaften
entstehen.“
Since it is now well known that such meiotic irregularities as
I described do occur, and are necessary to explain the origin
and hereditary behaviour of such mutants as /ata having 15 chro-
mosomes (see Miss Lutz, 1912, and Gates, 1912) and any other
mutants, such as certain gigas-forms, in which aberrant numbers
of chromosomes occur, Nilsson’s assumption must necessarily be
discarded as contrary to fact. His attempt to show that (p. 213)
„das ganze Mutationsphänomen dürfte unter einem gemeinsamen
Gesichtspunkte: der Mendel’schen Neukombination, eingeordnet
32) Nilsson himself uses this term (p. 160).
33) Italies mine,
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 143
werden können“ has ended in failure, because it necessitates assump-
tions which the already known cytological facts disprove; though
without a knowledge of these facts his hypothesis might have seemed
plausible, at least ın part.
N. Heribert-Nilsson (1912, p. 212) also attempts to explain
the origin of rubricalyx from rubrinervis in my cultures through
the accumulation ın one individual, of several independent quantıta-
tive “factors” for pigmentation. He says, *O. rubricalye ging
allerdings aus einem geselbsteten Individuum hervor, aber Gates
erwähnt, dass er in seinen Kulturen mehrere rubrinervis-Linien
gehabt hat, und Kreuzung zwischen ihnen kann ja ın den vorigen
Generationen stattgefunden haben“.
Unfortunately for his theory, I can state the facts more defin-
itely than they were given in my publication on the inheritance
of pigmentation (1911b). They are as follows: In 1906 I grew at
Woods Hole, Mass., a culture of 45 plants from rubrinervis seeds of
de Vries. These were all rubrinervis except two Lamarckiana and
one oblonga. A number of the individuals were self-pollinated, and
together with rubrinervis cultures from varıous other sources,
making a total of over 1000 plants, were grown at the University
of Chicago in 1907. The particular culture in which the rudricalyx
individual appeared, contained 112 plants, all typical rubrinervis
except the rubricalye individual and one or two other rosettes
which were somewhat aberrant and doubtful. This culture, which
alone is concerned in the pedigree of rubrinervis, contained the
offspring of four plants (Nos. 96, 98, 119 and 121) which had been
selfed in the previous generation.
These four cultures should have been kept separate, but were
thrown together because this made no difference in the experiments
I then had in view. The rubricalye mutant with its new dominant
character therefore appeared as one of the 112 offspring of four
purely self-pollinated »ubrinerwzs individuals, which were sister plants
from a culture of O. rubrinervis from seeds of de Vries. It there-
fore belonged to the second self-pollinated generation from de Vries’
seeds, and any hypothetical crossing of pure lines must be relegated
to de Vries’ cultures. The presence of two Lamarckianas in the
original culture may be attributed to mutation or to the entrance
of foreign pollen,‘: for I cannot be certain that the seeds is the
original packet were guarded seeds.
Nilsson’s hypothesis is impossible for several other reasons.
1) As Ishowed in the paper above-nentioned (Gates, 1911b) from
these very cultures, the range of pigmentation in 0. rubrinerwis
buds was absolutely continuous, but there was a wide gap bet-
ween the extreme plus varıation in rubrinerwis and the individual
rubricalyx mutant (see plate 6 of that paper). 2) The behaviour
144 (rates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
of the rubricalye mutant showed that it was heterozygous, resulting
from union between a mutated and a normal rubrinerris germ cell,
because ın later generations it has split into rubriealye and rubri-
nervis m a 3:1 ratio. There were no intermediate types, and this
fact together with the ratio are clear proofs of its origin as a
monohybrid °*).
Conclusions.
The purpose of the present paper is to consider giantism and
tetraploidy in Oenothera from a comparative standpoint, ın order
to reach a better understanding of its nature and meaning in rela-
tion to evolution. Incidentally it has been necessary to refer to a
number of other phenomena of mutation, and the main conclusions
arrıved at may be set forth as follows:
1. A survey of the species or races having tetraploid (4 X) or
higher chromosome numbers, shows that stet. 30 such cases are
now known in plants and 7 ın anımals, the about having been greatly
increased in the last three years. On the other hand, not a single
tıiploid wild species ıs known, although in some cases (e. g., Drosera
rotundifolia X D.longifolia diploıd and tetraploid species intercross,
producing triploid hybrids. Triploid species can not be expected
to occur in nature, since their chromosomes are not all paired and
therefore (especially when the X number of chromosomes is odd)
the meiotic processes will result in varying numbers of chromo-
somes in successive generations, leading to the sterility of many
individuals, and finally to the gradual diminution of the chromo-
somes of surviving individuals to the diploid number.
2. The oceurrence of triploid mutants in Oenothera, as shown
by Stomps and Miss Lutz, is obviously due to the union of a
diploid with a haploid germ cell. But this does not prove that
the tetraploid mutant, ©. gigas, originates from the union of two
diploid germ cells of O. Lamarckiana. It is at least equally probable
that gigas originates, at least in some cases, as I have suggested,
from the apogamous development without fertilization, of an un-
reduced megaspore mother cell having (4 X) 28 chromosomes. This
conclusion is based on a) the actual observation of such a megaspore
mother cell in O. Lamarckiana by Geerts and the failure to observe
the omission of reduction in the pollen mother cells, though thou-
sands of times more of the latter than of the former have been
studied. On the other hand, the occasional oceurrence of 4-lobed
vollen grains in Lamarckiana, points to the probability that diploid
34) It is interesting to observe that Nilsson uses the occurrence of many
types in the offspring of gigas, as an argument for its origin by the bringing
together of many independent units, and yet applies the same reasoning to rubri-
calyx: in whose offspring only two types appear in a simple monohybrid ratio.
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanismitis 145
pollen grains exist, though it does not prove that they are func-
tional. b) An analysis of the facts in the bananas investigated by
Tischler, which are sterile, seems to require that a single tetra-
ploid cell developed a new individual and race by a mutation.
And the Primulas, studied by Miss Digby, in which a single “pin”
flower on one individual of the F, sterile hybrid between P. flori-
bunda and P. vertieillata gave rise in each of two independent
crosses to a tetraploid race, makes it seem probable that the bud
mutation which produced the “pin” flower was followed by normal
fertilization and doubling of the chromosome number in the young
embryo. In the case of the Mosses studied by the Marchals, it
is obvious that tetraploidy arose through the aposporous develop-
ment of a diploid gametophyte which afterwards produced diploid
gametes which by fertilization gave rise to a tetraploid sporophyte;
so that the essential change here was the production of a diploid
gametophyte. This is emphasized by the fact that in one moss
(Phascum euspidatum) the apospory was accompanied by mutational
changes in the new gametophyte.
3. The view which was held by myself, Strasburger, and
others, that 0. giyas and many other tetraploid species originated
through a suspended mitosis just before or just after the formation
of the egg, therefore remains to be disproved, and the facts seem
to require this explanation at least in some cases. In any case,
the evidence now at hand shows that in some plants the mutational
changes are not confined to the meiotie divisions but occeur also,
1) in the aposporous development of a gametophyte (the moss
above-mentioned); 2) in bud mutations, such as the small-flowered
and small-leaved branch of an individual of ©. gigas Sweden des-
cribed in this paper; 3) probably in an early division of the egg,
in the cases of a periclinal and a sectorial chimera of Oenothera
referred to in this paper.
4. In addition to the gigas of de Vries I have studied a race
which originated independently several years ago at the Botanical
Garden of Palermo, Italy, and whose characters are identical
with those of the Amsterdam giant. A third giant race originated
in the cultures of Nilsson at Lund, Sweden, from an independent
Swedish race of 0. Lamarckiana differing slightly from de Vries’
type. This giant is, as Nilsson has shown, very distinet from
the gigas of de Vries. A narrow-leaved descendant of the gigas
of de Vries is also described in this paper.
5. A preliminary statistical study of the pollen grains in these
giant races and in other Oenothera forms was made, and it was
found that offspring of gigas which differed somewhat in their
external characters differed still more strikingly in their pollen grains.
Thus in normal O. gigas Italy there were about 28-43 per cent.
XXXIN. 10
146 Gates, Tetraploıd Mutants and Chromosome Mechanisms.
of “good” grains, and of these 6—2 per cent. were 3-lobed, 87—-90
per cent. 4-lobed, while about 7 per cent. had 5 or more lobes.
But one individual of this race was distinetly smaller in flowers,
leaves, etc. possessed about 33 per cent. “good” grains, and of
these 23 per cent. were 3-lobed, 75 per cent. 4-lobed, and about
2 per cent. 5- or more lobed. This individual probably contains
less than 28 chromosomes. In the narrow-leaved gigas above men-
tioned, the pollen was all sterile, but 3-lobed and 4-lobed grains
were both numerous.
In an individual of göigas Sweden examined, the amount of
“good” pollen was found to be about 37 per cent., of which 9 per
cent. were 3-lobed, about 88 per cent. 4-lobed, and about 3 per
cent. with more than four lobes.
Since the triploid mutants also possess a certain (unknown)
percentage of 4-lobed grains, it is obvious that there is a general
parallel between the number of chromosomes and the percentage
of quadrangular grains.
The percentage of quadrangular and trıangular pollen grains
is thus a very useful preliminary criterion to the approximate
number of chromosomes possessed by a plant. It seems safe to
conclude that all quadrangular grains contain more than 7 chromo-
somes, though it remains to be proven that they all possess the
full 14. Probably triangular grains with an extra lobe possess an
intermediate chromosome number.
It ıs shown by calculation from previous measurements, that
in the pollen mother cells the ratio of increase of the cytoplasm in
gigas as compared with Lamarckiana is only 1.5:1 while in the nuclei
the ratio is 2.16:1. The deficiency of cytoplasm in the gigas pollen
mother cells therefore amounts to about one-quarter and it is sug-
gested that the extra lobe of the gögas pollen grain serves to restore
the normal karyoplasmie ratio.
6. Several characters of O. gigas which were cited by de Vries
as changes occurring independently of the chromosome-doubling,
have been shown to be readily explainable as a direct result of
the tetraploid condition with its larger cells and nuclei. These
characters include (1) the strong biennial habit (2) the larger seeds (3)
the short fruits (4) the greater susceptibility to frost. Whether any
characters (such as leaf-shape) remain which can not be explained
in this way, is a difficult question to decide in the present state
of our knowledge of morphogenetie processes, but the effort should
evidently be made, to explain the characters of giant types as far
as possible on the basis of a single primary change, whether this
be ın chromosome number or merely in cell size.
7. A comparison of the observations of Geerts on meiosis
ın the pollen möther cells of O.lata X gigas, with my own, shows
Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms. 147
that his material presented more irregularitiess in chromosome
behaviour, which is probably due to his material having been col-
lected very late in the season, while mine was collected in the
height of flowering.
8. The various types of chromosome change in Oenothera,
based on my own observations together with those of Geerts
and Davis, are 1) in diploid races an irregularity in the distri-
bution of the heterotypic chromosomes, resulting from the weak
attraction between homologous chromosomes, 2) a similar irregula-
rity (certainly much less frequent ıf it ever occurs) in the distri-
bution of the halves of the homotypie chromosomes. The first of
these is sufficient to account for the occurrence of 15-chromosome
mutants, such as lata, or 16-chromosome forms. 3) The omission
of chromosomes from interkinesis. 4) The union of a diploid egg
with a haploid pollen grain. This is sufficient to account for the
oceurrence of all triploid mutants. 5) Possibly the latter may also
arıse by the union of a haploid egg with a diploid pollen grain,
though there is at present no direct evidence for this. 6) Doubling
of the chromosome number through a suspended mitosis in the
megaspore mother cell, followed by apogamous development. This
is sufficient to account for the origin of all tetraploıd mutants, but
they may also arise through 7) a suspended mitosis in the nor-
mally fertilized egg, or 8) the union of a diploid egg with a diploid
pollen grain, though there are no direct observations in support
of 7) or 8).
Chromosome numbers intermediate between the tetraploid, tri-
ploid and diploid may arıse by crossing, and also 9) by irregular-
ities in the heterotypic chromosome distribution in the tetraploid
or triploid races, 10) by chromosomes being left behind in the
heterotypie mitosis, 11) by chromosomes being omitted from the
homotypie nuclei or fragmenting during meiosis. 12) By the failure
of certain chromosomes to divide in the homotypie mitosis. To
these we may add perhaps 13) the loss of chromosomes in the
nuclear divisions of the male and female gametophytes, and 14) the
loss of chromosomes during the divisions of the fertilized egg. All
these processes except 2), 5), 7), 8), 13), and 14) are based on
observations.
9. In the valuable paper of Nilsson he assumes that O. gigas
has arison through the accumulation of many independent quanti-
tative factors for the size and form of various organs, an hypothesis
which is inadmissible because it is contrary to the cytological facts
as well as the facts regarding the sudden discontinous origin of
the giant types and their subsequent wide variation. This varia-
tion is doubtless due in part to loss of chromosomes and in part
to the fact that gögas contains the capacity of producing the same
10%
148 Gates, Tetraploid Mutants and Chromosome Mechanisms.
mutant types as Lamarckiana itself. O. gigas is therefore, lıke
O. rubricalyx, a progressive mutant in the sense of de Vries.
10. Hence although some of the characters in Oenothera are
Mendelian in their behaviour after they have arisen, yet Mendelıan
combinations in the sense of Nilsson are wholly inadequate to
account for their first appearance.
11. I am, however, in agreement with Nilsson that many at
least of the mutant differences are due to changes which are fun-
damentally quantitative. Many of the size-differences in the races
with higher chromosome numbers are also probably due to differ-
ences in the number of chromosomes in their cells. It is the duty
of the observer to analyze these differences as far as possible in
terms of chromosome-number and cell-size. Evidently, any explana-
tion of the mutation phenomena in Oenothera which neglects the
cytological facts, is on very unsafe ground.
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On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins
in Organic Nature.
By John Beard D. Se., Edinburgh.
Twenty-four years ago the discovery of a transient nervous
apparatus in the developmental histories of certain fishes directed
ımy attention to the problems of alternation of generations in general,
and of antithetie alternation in particular. Research in the inter-
vening years was devoted mainly to the unravelling of the thread
of animal development regarded as based in such an antithetic
alternation of asexual and sexual generations. A review of the
problems, which occupied the investigator during these years, and
of their solutions, cannot be given here: the finds are recorded in
the literature of science and most of the salient points may be
found in detailed form in the memoirs, cited below'). These com-
1) Beard, J. The History of a Transient Nervous Apparatus in certain
Ichthyopsida: An Account of the Development and Degeneration of Ganglion-Cells
and Nerve-Fibres, Part I. Raja batıs, in: Zool. Jahrbücher, Morph. Abteil., Vol. 8,
with eight Plates, 1896.
idem. On Certain Problems of Vertebrate Embryology, Jena, Gustav
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idem. The Enzyme Treatment of Cancer, London, Chatto & Windus, 1911.
See also Haydon, W. T. — The “Biogenetic Law” considered in relation to an
Antithetie Alternation of Generations in the Metazoa, in: 26th Annual Report of
the Liverpool Science Students’ Assoc, 1907,
Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature. 151
mence with “The History of a Transient Nervous Apparatus” and
end in “The Enzyme Treatment of Cancer”.
To the investigator, groping slowly along an untrodden path,
it was of very great value, when, ın 1907, it was recognised, that
the antithetie alternation of generations, which by observation had
been found to underlie the cycle of anımal development, was in
reality based in the same antithesis of isomeric compounds of carbon
as that laid bare by the epoch-making researches of Pasteur. These,
as ıs well known, culminated in the foundation of a science of
stereochemistry. Since 1860 stereochemistry has been advanced
by the researches of many chemists, and here of these the names
of Le Bel, van’t Hoff, Wislicenus, and Emil Fischer need
alone be mentioned.
Modern Embryology, like modern Zoology in general, has con-
cerned itself little with Chemistry. As can be perceived now, many
questions, which have troubled embryologists and zoologists, might
have been settled easily once and for all and long ago, had the
contending investigators occupied themselves with the problem of
the true chemical nature of the animal under discussion, instead
of assuming, that, of necessity, all anımals were alıke in chemical
nature and composition. The embryology of Carl Ernst von Baer
and of his successors until recent times was exclusively a descrip-
tıve science based in observation. There was, indeed, but a single
eriterion, by which anything embryological could be determined,
and that was the fate of the cells concerned. But, since in any
developing “germ” the cells composing it are living, all questions
concerning their fate during development are bound up with
chemical, and indeed stereochemical, problems, which demand
answers.
In 1906 it first dawned upon me, that in organic nature there
must exist at least two sorts of living albumins, laevo- and dextro-
rotatory respectively, and in 1907 the conclusion was published,
that the albumins of cancer and of malignant tumours in general
must be dextro-bodies, because of the destructive action, ending
in liquefaction, of active pancreatic ferments, especially trypsin,
upon them. Because of all this it became desirable to demonstrate,
and by some method above reproach, that dextro-rotatory albumins,
sımilar to those of cancer, did exist, and, indeed, were widely
present in other portions of organie nature. With this end ın
view in the summer of 1912 I began a series of experiments, and
now record some of the results. The vastness of the fields of
animal development and of the unicellular animals or Protozoa
would, no doubt, permit of a wide series of experiments, but to
carry out very full series would require much time, material, and
financial means not at my disposal.
152 Beard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organic Nature.
There are several ways known by which stereochemical questions
can be solved. Of these two only need be referred to as connected
with the present enquiry. These are 1) examination of the optical
rotations of isolated (dead) liquid albumins ın the polarımeter,
and 2) the “lock and key” method, that ıs, the positive or negative
action of certain ferments, as employed by Emil Fischer. Regard-
ing the first, the isolation of the albumins ın a state suitable for
the study of optical rotation is beset with great intrinsie difficulties,
more especially in dealing with minute micro-organisms. Since all
living matter is bound up with, and depends upon, the action of
ferments, ıt is anything but easy so to isolate the albumins that
they do not undergo autolysis or self-digestion quickly. The second
method, that of the action of ferments, ıs much simpler in practice,
and there only remains for brief discussion the reliability of this
method of investigation, the question of how far it ıs to be con-
sidered as being a severely scientific criterion.
Probably to-day a stereochemist would not admit, that these
matters were open to doubt or discussion, but mindful of the
circumstance, that these lines are written for readers, of whom
many are not conversant with the facts of stereochemistry, it may
not be superfluous to adduce reasons. One may read — I have
myself written it — that “a ferment fits the substance upon which
it acts ‘as a key fits a lock””. This simile, and the foregoing
thesis, we owe to the genius of Emil Fischer. The dietum is
quoted not infrequently, but, as happens with other classie scientific
quotations, at times one may doubt whether the citation was made
after a study of the original memoirs. It is an excellent rule to
verify one’s eitations, and that I propose to do in this instance.
Since it is my contention, that the original words and proofs
adduced by Professor Emil Fischer suffice amply to establish
the legitimacy of this scientific test by means of ferments, and to
make it at least equal in value to the test of the optical rotation
in the polarimeter, it may be well worth while to give some account
of Fischer’s fundamental researches upon the question, and in his
own words. This is all the more desirable in that, to my know-
ledge, there is at present in the English language no concise
account of how Fischer arrived at the simile of “lock and key”,
on what cogent evidences its truth was based. A search of the
chemical literature of the matter under discussion will show, that
the main facts and conclusions are contained in three memoirs.
Of these two will be found in one immense volume (vol. 27) of
the Reports of the German Ohemical Society, and the third in the
26th volume of the German Journal of Physiological Chemistry.
The first paper bears the date 1894, and treats of the behaviour
of different sugars towards pure yeasts. From p. 2036 the following
Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organic Nature. 153
citation is taken: “That miero-organisms generally of two optically
isomeric compounds prefer the one has long been known from the
investigations of Pasteur and others; but with the yeasts and the
sorts of sugars the matter lies somewhat differently, since here it
is not alone a question of the antithesis of two optical antipodes,
but out of a great number of geometrical forms some only satisfy
the needs of the cell. It may be anticipated, that the same obser-
vation will be found in other miero-organisms, and, moreover, in
other groups of organic substances, and perhaps very many chemical
processes, which happen in the organism, are influenced by the
geometry of the molecule. Under these circumstances it is worth
while to seek after the reason of the phenomenon, and it lies on
the surface, that the explanation is first of all to be sought in the
region of stereochemistry.
Among the agents, which the living cell makes use of, the
different albuminous substances play the chief röle. They are also
optically active, and since they arise synthetically from the carbo-
hydrates of plants, one may, indeed, conclude, that the geometrical
build of their molecule, in respect of asymmetry, is in essentials
similar to that of the natural hexoses. Under this conelusion it
is not diffieult to understand, that the yeast-cell with its asym-
metrically formed agent can only attack, and force into
fermentation, the sorts of sugars the geometry of which
departs not too far from that of grape-sugar?).“
The second memoir bears the date Oct. 29, 1894, and in it,
under the title “The Influence of the Configuration upon the action
of the Enzymes” the author, Prof. Emil Fischer, set up the
simile of “lock & key” in the course of the following discussion
(on p. 2992— 2993): *But the observations suffice already to approve
(the principle) that with respect to the configuration of their objects
of attack the enzymes are just as elective as the yeasts and other
micro-organisms. In this respect the analogy of both phenomena
appears so complete that one may adopt the same reason for it,
and with this I return to the hypothesis of Thierfelder and
myself, already referred to. As is well known, invertin and
emulsin have many resemblances to the proteid stuffs, and like
these they possess an asymmetrically built-up molecule. Their
restrieted action upon the glucosides would permit of explanation
by the supposition, that only with similar geometrical build can
that approach of the molecule take place, which is requisite for
the resolution of the chemical process. To use a simile, I should
like to say, that enzyme and glucoside must fit each other like
2) Fischer, Emil und Thierfelder, Hans. ‚Verhalten der verschiedenen
Zucker gegen reine Hefen“, in: Ber. d. d, chem. Ges., V, 27, p. 2031—2037, 1894.
154 Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organic Nature.
lock and key in order to be able to exert a chemical action upon
each other. This conception has certainly gained in probability
and ın value for stereochemical investigation since the phenomenon
itself has been transferred from the biological to the purely chemical
region. It forms an extension of the theory of asymmetry, but
without being a direct consequence of it, for the convietion, that .
the geometrical build of the molecule even in looking-glass image
forms should exercise so great an influence upon the play of the
chemical affinities could, in my opinion, be gained only by new
observations founded on fact. The experience hitherto, that the
salts composed of two asymmetrical compounds may differ in
solubility and melting point would certainly not suffice for it. That
the fact established now for the complicated enzymes will also
soon be found for the more simple asymmetrical agents I doubt
as little, as the usefulness of enzymes for the ascertaining of the
configuration of asymmetrical substances.
The experience, that the efficacy of the enzymes is restricted
in so high a degree by the molecular geometry, ought also to be
of some use for physiological investigation. But still more important
for this appears to me the proof, that the difference previously
accepted between the chemical agents in respect of molecular asym-
metry does not in fact exist. Thereby the analogy emphasized
more especially by Berzelius, Liebig, and others of ‘living and
lifeless ferments’ is again set up in a not unessential point?).”
The third memoir, by Prof. Emil Fischer, is a summary of
the chief points of the two earlier ones, and in it (p. 81) under
the heading “Theoretical Considerations” the author writes: *But
the enzymes are quite especially valuable, as I first emphasized,
as means of recognition of stereochemical differences, and with
this I come back to the object, which I consider to be the most.
important result founded upon fact of my experiments. These
furnish the unchallengeable proof, that of two molecular looking-
glass-image forıns the one is broken up by enzymes under the same
conditions, under which the other remains intact. For this there
are two examples, the behaviour of ß-methyl-d-glucoside (plus) and
of B-methyl-l-glucoside (minus) towards emulsin, and the behaviour
of a-methyl-d-glucoside (plus) and of a-methyl-I-glucoside (minus)
towards the enzyme of yeast.” On p. 82 “The ground of these
phenomena lies in all probability in the asymmetrical build of the
enzyme-molecule. For although these substances are not yet known
in pure form, their similarity to the proteid stuffs is yet so great
and their origin from these latter so probable, that undoubtedly
3) Fischer, Emil. „Einfluss der Konfiguration auf die Wirkung der En-
zyme“, in: Ber. d. d. chem. Gesellsch., V. 27, p. 2985 —2993, 1894.
Beard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature. 155
they are themselves to be regarded as optically active and thus
asymmetrical molecular structures. That has led to the hypothesis,
that between enzyme and its object of attack a similarıty of moleeular
configuration must exist, if a reaction shall ensue. 1) In order to
make this thought intuitive, I have used the simile of lock and
key 2)*).” Further, on p. 84 we read: “If one carry this over to
the chemical processes of the higher developed organisms, one
arrıves at the conception, that generally in the transformations, by
which the proteid stuffs function in active masses, as undoubtediy
that is the case in protoplasm, the configuration of the molecule
frequently plays just as great a röle as its structure, For this
reason it is no longer astonishing, that of two stereo-isomeric sub-
stances the one reacts strongly upon our sense organs, such as
taste and smell, while the other is quite indifferent, or produces a
very much weakened reaction °).”
In the foregoing ceitations there are two things, to which I
would direct special attention. The first is the repeated emphasis,
which the author lays upon the use and value of ferments as
reagents for the determination of stereochemical differences, and
the other the number of experiments, to wit two, from the positive
results of which the investigator maintained the establishment of
his thesis, that “of two molecular looking-glass-ımage forms the
one is broken up by enzymes under the same conditions, under
which the other remains intact”. It may suffice for an embryo-
logist, who ıs not a stereochemist, to refer to the works and
researches of this distinguished chemist, Emil Fischer, for the
scientific reasons for the employment of enzymes or ferments as
testing agents. As to the second point to be noted, Fischer’s two
experiments in proof of his thesis remind one of Pasteur’s words
“If a doctrine be challenged, it happens seldom that its truth or
falsehood cannot be established by some crucial test. Even a single
experiment will often suffice either to refute or to consolidate the
doctrine”. In the following, as proving to the hilt the truth of my
thesis, that dextro-rotatory albumins occur, and, indeed, are widely
represented in organic nature, several experiments and their positive
results will be adduced. Here ıt may be added, that the cases
described under the experiments are only a few, taken at random,
merely because the organisms dealt with happened to be accessible
readily, and that the number can be increased to any extent desired,
on due cause being shown. He, who may feel inclined to contra-
diet the thesis, can by taking the trouble to repeat and extend my
4) The references under 1 &2 are to Vol.27 of the Ber. d.d. chem. Gesellsch.,
p- 2036 & 2992 respectively.
5) Fischer, Emil. ‚Bedeutung der Stereochemie für die Physiologie“, in:
Zeitschr. £. physiol. Chemie, V. 26, p. 60 -87, 1898 —99.
156 Beard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature.
experiments, using the same Fairchild preparations, and as I have
employed them, convince himself, that his contemplated contradietion
and refutation are futile.
A condition of all the experiments is, that the miero-organisms
used should be in an active healthy state. It would, of course, be
feasible to carry out the experiments to a successful issue with
much smaller quantities of ferments, provided the experiments were
made at a higher temperature, for instance, at blood-heat or between
38 and 40 degrees Öentigrade. It was, however, more convenient
to make the experiments at the ordinary temperature of a room,
and with such dilutions of the combined ferments, trypsin and
amylopsin (Fairchild), as would enable their deadly disintegrating
effects upon healthy living asexual micro-organisms to be observed,
as a rule, within the space ofan hour or less. It is, be it remarked,
quite unnecessary for any eritic to point out, that the finds recorded
here could have been obtained by the use of trypsin alone without
the aid of amylopsin. Of that fact I am aware. But the reason
why amylopsin was also invoked in the experiments was, because
I thought, and shall always think, that the use of trypsin alone ın
the treatment of cancer, various tropical diseases, tuberculosis, ete.
is a very dangerous proceeding, even in many cases a deadly one.
I wished, therefore, to avoid doing anything to encourage a belief,
that in the practice of medicine trypsin without the aid of ıts com-
plement, amylopsin, could be regarded as a safe and efficacious
remedy.
The reagents and the conditions under which they were used
were as follows. Since there are on the market preparations, even
injeetions for use in medicine, of pancreatic ferments, trypsin and
amylopsin, which are either excessively weak, or unreliable, or even
quite inert, it was necessary to take for the experiments such
injections of trypsin and amylopsin in combination as were strong,
of known strength, standardised, and of a stable character. As
W. Bätzner has shown®), the most powerful, reliable, and stable
pancreatic injeetions are the ones manufactured by Messrs Fair-
child Bros & Foster. To distinguish them from earlier and
weaker injections made by the same firm, they will be referred to
here as the Fairchild “1912” injeetions of trypsin and amylopsin.
These injections are standardised in various ways, not in a single
one, and thus it is possible to refer to the trypsin-injection, for
example, as Bätzner does, as possessing a potency in dilution of
1: 4000, tested by the Jochmann method, or by the Roberts
6) Bätzner, W. Trypsinbehandlung der chirurgischen Tuberkulose, in: Arch.
klin. Chirurgie, Vol. 95, p. 5, 1911.
idem. The Practitioner, Jan. 1913, p. 205.
Beard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature. 157
methods as containing per cubic centimetre 1250 tryptie units, while
the amylopsin-injeetion, which like the trypsin-injection is of maximum
potency, possesses per cubie centimetre 500 units of amylolytie
activity. The procedure was to mix the contents of an ampoule
of each of the ferments, trypsin and amylopsin, and then to dilute
the fluid with clean fresh rain-water, until the bulk of liquid equalled
ten cubic centimetres. This stockfluid, freshly prepared for each
occasion, was further diluted as described under the account of
the experiments. These latter were made ın watch-glasses, containing
the organısms and a given number of drops of clean fresh rain-
water, to which at a given time a certain amount of the diluted
ferments was added. On all occasions the temperature of the room
was noted. The changes are quite easily observed under the
microscope, and except with such forms as Amoeba no higher power
than a Zeiss AA ıs needed. In instances like Amoeba it ıs more
convenient to use a slide with a deep cell in ıt and to cover the
preparation. Here also higher powers of the microscope are called
for. The ampoules used contain somewhat more than one cubic
centimetre, and in instances measured accurately the contents of
the two ampoules before dilution totalled 2!/, cubic centimetres.
It should be added, that these preparations are stated to be put up
in a menstruum of 60°/, glycerin, and that they contain no antı-
septic.e. No statement is made in the present writing, that
any other pancreatic preparations upon the market used
in the like dilutions will give the same results. The
finds are recorded for certain specified pancreatic
preparations, and for these only, and used as described
here. The necessity of this warning may be judged from the
fact, that even in the present year 1912 ampoules of injection,
labelled “trypsin”, have been offered for sale in Great Britain, and
on assay it was found, that all the “trypsin” connected with them
in any way was contained in the label.
Experiments.
I. Hydra fusca. Temperature of room 19°C. Two individuals
of the common fresh water “polype”, Hydra fusca, in nine drops
of clean fresh rain-water. 11.8a.m. Added one drop of the 10 ce. c.
dilution of T. & A., and allowed this to diffuse through the water.
Contraction of the anımals in one minute or less. 11. 14 Slight
expansion, then contraction, tentacles knobbed. 11.15 One anımal
contracted, the other somewhat expanded, but anterior part of body
strongly contracted. 11. 18 Both much contracted. 11.19 In one
a tentacle in disintegration. 11.20 Bodies pilose, as though stinging-
cells had shot out. 11. 31 Both much digested and tentacles
becoming indistinguishable. 11. 45 Greatly disintegrated, and cell-
158 DBeard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature.
remains breaking away. 12. 12 Shockingly disintegrated. Experiment
ended.
II. Hydra fusca, and its unicellular parasite, Trichodina pedi-
culus. Same day and like solution. Three specimens of the common
hydra, Hydra fusca, infested with parasitie Trichodina, in ten drops
of clean fresh rain-water. 11. 36 Added five drops of the 10 ce. c.
solution of T. & A. 11. 38 Polypes contracted strongly. Two
parasites moving on one. 11. 39 Tentacles of polypes twisted at
ends. 11. 40 Parasites gyrating slowWly on one polype. 11. 41
Parasites dead and fallen off. 11.42 Parasites dissolving and their
nature no longer recognisable. 11.50 Tentacles of polypes breaking
up. Experiment ended.
III. Vorticella. In ten drops of clean fresh rain-water. 11. 52
Added one drop of the 10 c. ce. solution of T. & A. 11. 541/, Vorti-
cellids still moving. 11. 55 Movements slight, more gyrations.
11. 57 More vigorous short, not elongating, gyrations. 12 noon
Individuals fully extended. 12.2 Slow contractions, not complete,
remaining half-way. 12. 4 Individuals all dead, that is, in ten
minutes. 12. 10 No movements, clarifying and in disintegration.
Experiment ended.
IV. Various flagellate “monads”. Same day. Ten drops of
water, containing many flagellate “monads”. 12. 40 Added one
drop of the 10 ce. c. dilution of T. & A. All movements cease at
once. Experiment ended.
V. Amoeba and Crustacean *nauplü”. Same day. Amoeba
in a cell with five drops of water. 12.48 Added one drop of the
10 e. e. solution of T. & A. There were many Amoebae in this
fluid. 1. 2 Amoeba contracting. 1. 6 Another Arnoeba apparently
in disintegration, no movements. 1.12 No Amoebae moving, where
seen always contracted. At nine p. m. on the same day, that is,
eight hours later, two Crustacean “nanplä” were still swimming
about in this mixture of water and ferments, and there were no
traces of Amoebae. A Desmid appeared to be’ unaltered.
VI. Hydra fusca and Trichodina. Room-temperature 18° C.
A stock-solution of 10 ec. c. of T. & A. was made up (A solution).
Of this 2 ec. c. were nearly boiled to destroy the ferments, and as
the result a turbid mixture and flocculent precipitate were obtained.
This was filtered to obtain the menstruum of the ferment-solution
(B solution). 10.13 Two watch-glasses, each containing two Hydra
fusca ın ten drops of clean fresh rain-water. 10. 15 Added to
watch-glass no. 1 one drop of the A solution, to no. 2 one drop
of the B solution. Phenomena observed in no. 1. 10. 17 The
parasitie Trichodinae have dropped off the Hydra. 10.20 One Hydra
much contracted. 10. 23 Both Hydra much contracted and one
Beard, On the Öceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature. 159
pilose. 10. 45 Both Hydra much macerated. This portion of
experiment ended. Phenomena observed in no. 2. 10. 22 a. m.
Trichodinae still alıve and moving on hosts. 10. 45 Hydra still alıve.
11.15 Hydrae still alıve, fluid removed, and fresh rain-water given.
This portion of experiment ended. Comparison of the two por-
tions shows clearly, that the menstruum (glycerin) was not answerable
for the deadly disintegrating effects observed.
VII. Various undetermined flagellate micro-organısms. Same
day. One drop of the stock-solution of T. & A. added to twenty
drops of water. 11 a. m. Of this mixture one drop added to
various flagellate micro-organisms in a cell. 3. 30 p. m. All the
flagellate organısms dead, but various “swarm spores”, which are
vegetable, not animal, were still alive and active.
VIII. Amoeba. Amoeba ım a cell with three drops of water.
12. 2 p. m. One drop of the 10 c. c. solution of T. & A. added.
12. 8 An Amoeba found under the microscope, and in movement.
12. 15 Appears to be contracted and not moving. 12. 22 Slight
movements. 12. 27 Globular, no pseudopodia, gyrating slowly.
12. 31 Still globular. 12. 33 Slight alterations in shape, but no
pseudopodia. 12. 37 Floating freely in the water, and apparently
dead. 12. 33 Nucleus escapes. Amoeba seems to be breaking to
pieces. 3.15 p. m. Still much the same, but obviously the cyto-
plasm has all gone, and what is left is mainly made up of products
of excretion, vacuoles, dıatoms, etc.
IX. Hydra fusca and Trichodina. One Hydra ın a cell with
many parasitic Trichodinae. 2. 48 Added one drop of the 10 c. c.
dilution of T.& A. to three drops of clean fresh rain-water. Hydra
contracts at once, and to all appearance ıs killed instantaneously.
The parasites also seem to be killed at once, and they begin quickly
to disintegrate. 2. 52 Tentacles of Hydra in disintegration. 3.16
Hydra is a shapeless mass, and the ectoderm is nearly all dissolved
off. Experiment ended.
X. Hydra fusca and Daphnia pulex. Temperature 17°C. Two
watch-glasses, the one containing two Hydra and a few Daphnia,
the other five Daphnia. In each watch-glass there were twenty
drops of clean fresh rain-water. 10. 7 To each glass one drop of
the 10 ce. c. solution of T. & A. was added. 10. 8!/, The parasitie
Trichodinae have fallen off their hosts. 10. 9 Hydra contracted,
Daphnia active. 10. 10 The parasitie Trichodinae are dead and in
disintegration. 10. 15 Hydra in disintegration, Daphnia alive and
active — there is absolutely no change apparent in the latter.
10. 17 The parasitic Trichodinae are shapeless and disintegrated.
10. 18 Each parasitie Trichodina ıs becoming a mere patch of
granules. 10. 22 Trichodina quite disintegrated. 10. 24 Some of
the examples of Trichodina are represented merely by a collection
|60 Beard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organic Nature.
of loose partieles. 10. 25 Daphnia active, heart pulsating. Ecto-
dermal cells of Aydra largely macerated off. 10. 37 Hydra now
shapeless and largely disintegrated. Parasitie Trichodinae dissolved.
Daphnia active and apparently unchanged. Experiment closed.
The specimens of Daphnia with their ferment-environment were
now placed in a beaker, and 50 ce. c. of fresh clean rain-water were
added. Thirty hours later the Daphnia appeared to be all alıve
and active. Forty-eight hours after the close of the experiment
some, at all events, of the Daphnia were alıve and active. The
weather had now become very warm,
XI. Amoeba. An Amoeba was placed in a cell along with three
drops of clean fresh rain-water and one drop of the 10 ce. ce. solution
of T.& A. This was done at 10. 50 a.m. By 10. 51 the Amoeba
had been found under the microscope. It was then rounded and .ıts
pseudopodia, such as they were, gave it the appearance of a horse-
chesnut in ıts shell. 10. 52 Amoeba sending out pseudopodia.
11. a. m. There are still movements in its interior, and pseudo-
podia are still present. 11. 7 Üontraction of contractile vacuole.
11. 10 Still moving by means cf pseudopodia. 11. 17 No pseudo-
podia. Ourious linear wormlike movements. 11. 21 Nuclear end
contracted, while the other end ıs still moving in wormlike fashion.
11. 23 Appearance tadpole-like. 11. 29 Nuclear end a rounded
mass with soap-bubble-like ectosarc. 11. 30 Dumb-bell-shape with
narrow bridge between the two ends. 11. 301/, No movements in
interior. 11.32 New blunt process formed at side of larger portion.
11.34 Contents of new process now flowing back into main portion.
11. 40 Another blunt process formed, quick movements in its interior.
11. 45 Broken into two pieces, of these the one never stirs again,
the other moves a little, then rounds up, and remains still. Both
dead. Experiment ended.
XII. Cordylophora lacustris, Carchesium polypinum, and a
Hydrachnid or water-mite. The material of this experiment con-
sisted of two asexual generations, Cordylophora, a fresh and brackish
water polype, a very fine collection of ıt, and upon it here and
there colonies of the beautiful bell-anımalcule, Carchesium, and a
sexual generation, a water-mite or Hydrachnid. This latter was
found in one of the watch-glasses used. In the following experiment
the glasses were under observation from 11.15 a.m. until 5 p. m.,
and 24 hours later than this the glass containing the Hydrachnid
was examined, and the water-mite was found to be still alive and
active. lt had thus lived in a fluid containing these pancreatic
ferments for quite thirty hours, while its asexual companions had
long ceased to exist, as will be seen. The reagents of the experi-
ment were as follows. The usual 10 c. ce. solution of T.& A. was
made up. Of this one cubie centimetre was further diluted with
Beard, On the Öccurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature. 161
four cubie centimetres of clean fresh rain-water. Four watch-glasses,
labelled A., B., C.& D. were taken, and in each, in 20 drops of clean
fesh rain-water, specimens of Cordylophora and Carchesium were
placed. 11.15 a. m. Of the 5c.c. of further diluted ferment-
solution there were added to A. 2 drops, to B. 4 drops, to C.
6 drops, and to D. 8 drops. Deseribing, first of all, the changes
undergone by Cordylophora, 11.26 polypes in D. contracted. 11.53
In polypes of C. queer appearance of tentacles, thread-cells ın
dissolution. 12. 10 Polypes ın B. contracted. 12. 20 Polypes in
C. disintegrating. 12. 35 These latter now much disintegrated.
1p. m. In A,B.,C.& D. all the polypes of Cordylophora dead
and ın disintegration. It should be noted, that D., although con-
tainıng more of the ferment-solution than C., had also more polypes
of Cordylophora. Possibly this, along with the coldness of the day,
accounted for the slowness of the action. The Hydrachnid or
water-mite in B. was observed at the very start of the experiment
endeavouring to avoid the attack of a polype of Cordylophora, and
doing this only with diffieulty. An hour later the polype made
no attempt to attack the mite, which could now crawl over it with
impunity. In this experiment some of the Carchesium were still
living at 2 p.m., but in the three stronger solutions they were
dead and digested by 5 p. m. The action upon (archesium ıs given
ın a later experiment (no. XIV).
XIII. Planaria lactea, a sexual generation of a planarıan worm.
Temperature 16.5° C. 11.28 a. m. A watch-glass, containing
50 drops of clean fresh raın-water and Planaria, to which 5 drops
of the 10 ce. ce. dilution of T.& A. were added. All that was noted
was a cessation of the tendency to crawl on the glass, and an
attempt to get out of the fluid, possibly on account of the glycerin.
After the anımals had remained for three quarters of an hour ın
the fluid, they were removed alıve to fresh rain-water. Three hours
later they were still alive, but they made no attempts to erawl up
the side of the glass.
XIV. Nais proboscidea and Melicerta ringens, two sexual genera-
tions, and Oarchesium polypinum, an asexual generation. Tempera-
ture 15°C. Two watch-glasses were taken, A. containing 10 drops
of clean fresh rain-water, and B. 50 drops, and in each glass
specimens of the three anımals were placed. At 11. 12!/, a. m. to
each glass one drop of the 10 ce. c. dilution of T. & A. was added.
By 12. 25, some seventy minutes later, in both glasses numerous
Oarchesium were ın disintegration, but in both here and there
single “polypes” of Carchesium were alıve and active. The action
was not so marked in glass B. as in glass A. 1. 10 p. m. Prac-
tically all the Curchesium in A. were ın disintegration, in B., although
all the Oarchesium were dead, not all the “bells” were freed from
AXXIH. 11
162 Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Örganie Nature,
their stalks, which were now contracted somewhat spirally. At
12. 30 p. m. numerous minute “swarm-spores” (of plants) were
observed swimming actiıvely among the debris of the Carchesium.
On the rotifer, Melicerta, no action could be noted. Of the worm,
Nais, the ferments obviously attacked and dissolved the cuticle.
Apparently, owing to this action, at 1. 10 p. m. while the one
individual was still alıve, the other was nearly dead. At 6 p. m.
both were dead and in disintegration.
XV. Nais proboscidea and Carchesium polypinum. The result
in the preceding experiment, ending in the death of the Nazis, led
to the conclusion, that solutions too strong had been employed in
the experiment, and that either the glycerin-menstruum, or the
ferment-solution itself, was responsible. Therefore, the experiment
upon Carchesium and Nars was repeated as follows, with still greater
dilutions. As will be seen, with this modification the experiment
was a complete success. Temperature 16° C. The stock-solution
used was the same as in the preceding experiment. Five watch-
glasses (A., B.,C.,D.& E.) containing respectively 10, 20, 30, 40 and
50 drops of clean fresh rain-water were taken. In each there were
a number of “bells” of Cnrchesium and a worm, Nais, and to each,
at 11 a. m., one drop of the 10 cc. c. ferment-solution was added.
Until 3 p. m. no effect upon any of the organısms was observed.
At this time the fluids were removed, fresh rain-water given as
before, but to each glass five drops of the ferment-solution were
added. 5 p. m. In A., while the Nais was still alıve and active,
many of the (archesium were dead and in disintegration. This was
confirmed at 6p. m. and 7 p. m. Next morning at 10 a. m. the
experiment was seen to have been decisive. All the Carchesium
“bells” were dead and in disintegration. All the worms, Nass,
were alive and active. In the latter no traces of damage could
be detected. In A. to E. the stalks alone represented the former
“bells” of Carchesium, along with a debris of diatoms. Nine hours
later the Nais were all still alıve and to all appearance unhurt,
and just living their ordinary life — in the fluid containing
ferments — as though nothing had happened. A day later the
experiment was stopped, but even the worm Nais in A., the glass
containing most proportion of ferments, was alıve and active. It
had been in this solution in rain-water for more than two days.
XVI. Actinosphaerium eichhorni, a Heliozoan or sun-animalcule.
Temperature 16° ©. One cubie centimetre of the usual 10 ce. ce.
stock-solution of ferments, freshly prepared, was further diluted
with four cubic centimetres of clean fresh rain-water. To Actino-
sphaerium, an (asexual) fresh-water Heliozoan, in two drops of clean
fresh rain-water, one drop of the further dilution of ferments was
added at 10. 58 a. m. In less than one minute the long delicate
Beard, On the Öceurience of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature, 163
hairlike pseudopodia had their ends bent and somewhat thickened.
11 a. m. The hairlike pseudopodia are nearly all gone, and at 11. 2
a. m. they have ceased to exist, and the animal is evidently in
disintegration. 11. 5 a. m. The anımal ıs ın dissolution, and the
central capsule is escaping. 11.27 a. m. Shockingly disintegrated.
1.30 p.m. Contents of capsule scattered in fluid. At 11.18a.m.
it is noted, that the addition of one drop of the further diluted
ferment-solution to a drop of water containing Actinosphaerium
causes immediate shrinking and shrivelling-up of the fine delicate
pseudopodia.
XVII. Stentor coerwleus. Temperature 14°C. The usual stock-
dilution of 10 ce. c. of the ferments T. & A. was made up. Of this
one cubie centimetre was diluted with four cubic centimetres ot
clean fresh rain-water. Five watch-glasses, each containing a number
of Stentor, were labelled A., B., C., D. and E. In the order given
these contained rain-water as follows: 15, 16, 14, 12, and 10 drops.
The bulk of each was made up to 20 drops by additions of the
further dilution of the ferments, or 2, 4, 6, 8, and 10 drops of the
solution thus diluted. It was calculated out, that at the most the
glasses would contain the following numbers of tryptic units
(Roberts): 3,6, 9,12, and 15. The experiment began at 11.30 a. m.
11.40 a. m. Stentor in E and D mostly at rest. In © some in
movement. 11. 41 In B some moving fairly quickly. In A the
speceimens of Stentor are moving as though nothing had happened.
11.42 The anımals in Dand E appear to be ın disintegration. The
cilia are not obvious. 11.45 The animals in A and B are still in
movement. Most of those in D and E are dead. 11. 49 In E
disintegration is going on rapidly, but in D a water flea, Daphnia
pulex, is actively moving. This was seen later on, alive and active,
27 minutes after the experiment started. Afterwards it was lost
sight of. The animals of Stentor in the same watch-glass were
killed in ten minutes or less. 11. 54 In B many Stentor ın dis-
integration, but some stillin movement. sStentor ın O in disintegra-
tion, no ciliary motion. 12noon. InAandB still some movement.
12. 3 Movements ın B appear to be ceasing, but not in A. 12. 4
p. m. Animals ın E greatly disintegrated, many Algae freed. 12.18
Heaps of freed Algae in DandE. 12.20 In A still some cihation,
but in many the cilia are working feebly. 12. 25 The anımals ın
B are now much disintegrated. 12. 32 Slow ciliatıion in A and all
the anımals are crowded together. 2 p.m. In A still the same
condition of affairs, but only one anımal moving cilia. At 7 p.m.,
when the experiment was closed, there were still some anımals of
Stentor alive in A, but in the four remaining watch-glasses all the
specimens of Stentor were dead and in disintegration.
Il*
164 Beard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature.
My acknowledgments are due, and may be expressed here, to
Messrs Fairchild Bros. & Foster for the two boxes of ampoules
of injections of trypsin and of amylopsin used in the experiments.
All the organısms employed in the foregoing experiments were
supplied by Mr. T. Bolton, 25 Balsall Heath Road, Edgbaston,
Birmingham. The number of anımals experimented upon would
have been much greater, had all the organisms he sent survived
the transit in summer. Of course, ıt was only possible to use
organısms, which were in a healthy active condition. The seventeen
experiments, hitherto carried out, have established the truth of the
thesis, that living asexual generations of anımals are attacked,
killed, and their albumins pulled down by solutions of the pan-
creatic ferments, trypsin and amylopsin (Fairchild), in which
sexual generations of anımals go on living. The following asexual
generations of animals exhibited the deadly pulling-down action of
pancreatic ferments, and thus revealed the dextro-rotatory nature
of their albumins: Hydra, Cordylophora, Trichodina, Vorticella, Car-
chesium, Amoeba, Actinosphaerium, and Stentor, eight in all”). The
beneficent action of trypsin and amylopsin upon sexual generations
of anımals is to me so self-evident, that it has appeared to be
almost a work of supererogation to make experiments in this direc-
tion. However, for the benefit of the sceptic, the following sexual
generations of anımals continued to live in solutions of these fer-
ments, which proved to have deadly disintegrating effects upon the
afore-mentioned asexual generations of animals: Daphnia, a
Hydrachnid or water-mite, cerustacean *naupli”’®), Planaria, Naus,
and Melicerta, sıx in all?). Zoologically, the experiment (no. X)
with Hydra fusca and Daphnia pulex has special interest. Daphnia
pulex is a common prey of Hydra. It is impossible to keep
Daphnia living in an aquarium containing Hydra. Even the indi-
viduals of Daphnia, which ıt does not catch and devour, Hydra
quickly kills with its stinging cells. More than once I had noted,
that ıf a number of the two forms, Hydra and Daphnia, were
associated together in a small aquarıum, in the space of twenty-
four.hours there would be no living Daphnids in the vessel. In
experiment X the tables were turned, and in the presence of pan-
creatic ferments, trypsin and amylopsin, it was Hydra, which was
7) Eight, without mentioning the “various undetermined flagellate miero-
organisms” of experiment no. VII.
8) Crustacean “nauplii” are not “larvae” or asexual generations. For many
years, with the late Geheimrat Prof. Anton Dohrn, I have regarded them as
being immature sexual generations of Crustacea. Experiment no. V proved the
truth of this.
9) Six, without including the “various undetermined ‘swarm-spores’ of plants”
of experiments nos. VII & XIV.
Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organic Nature. 165
killed and pulled to pieces, whilst the Daphnids survived. This ıs
possibly the first occasion, on which in close association together
in nature Hydra was ımpotent to kill its prey, Daphnia pulex.
Without doubt ıt ıs by means of a ferment that Hydra kılls Daphnia.
This fact answers by anticipation an objection, which may be raised,
that Daphnia is protected from the action of trypsin and amylopsin
by its chitinous covering. This latter is no protection whatever
against the antithesis of trypsin, the ferment produced by the stinging
cells of Hydra. Indeed, it is not too much to say, that the result
of the experiment with Hydra and Daphnia alone would suffice to
establish the existence of two categories of albumins at least, laevo-
rotatory and dextro-rotatory respectively.
With Emil Fischer I maintain, that “the enzymes are quite
especially valuable as means of recognition of stereochemical
differences”, and that “of two molecular Ber glass image forms”
— in the present case living albumins of animals -— üthe one is
broken up by enzymes under the same conditions under which the
other remains intact”. His examples were the glucosides: mine
the living albumins of certain anımal organısms. Two examples
were held by him to suffice to establish his theses: for mine more
than two are adduced, and, moreover, ıf shown to be desirable,
the number can be increased very considerably. For, ın fact, the
organisms employed ın the actual experiments were but samples,
chosen in hap-hazard fashion, of a large series of micro-organisms
or developing organısms, all of which — and their name is legion —
would, ıf ıidentified embryologically as asexual generations,
exhibit the same phenomena of death and disintegration in the
presence of active pancreatic ferments. The asexual nature of
the organisms experimented upon as such had been decided previ-
ously, and upon other than chemical grounds, that is, from develop-
mentaland biological data. Not a single one ofthe experiments
failed to confirm the biological conclusion.
On the present occasion it is not my intention to examine the
bearings of the facts and conclusions upon ordinary zoological
problems, for to do so would carry the discussion too far. Possibly,
it may now be recognisable, that the heretical preaching of antı-
thetie alternation of generations in the wilderness in past and recent
years had its fount in scientific truth. Possibly, it may become
evident, that in some groups of anımals, such as sponges, ctenophores,
sea-anemones, and corals, as well as in Hydra and Cordylophora,
the sexual generation is not represented except by the forerunners
of the sexual products, eggs and sperms.
It is, however, the duty of the scientific investigator to draw
the conclusions from his observations and experiments, and this 1
shall now proceed to do in certain interesting and obvious direc-
1656 Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organic Nature.
tions. 1) The experiments confirm the truth of the biological and
embryological conclusions, that the cycle of animal life, even that
of such micro-organisms as Protozoa!"), ıs an antithetic alternation
of asexual and sexual generations, of such a nature that the
albumins of the asexual generation (dextro-rotatory) are the stereo-
chemical antitheses of those of the other or sexual generation (laevo-
rotatory). As I have pointed out elsewhere!!), the conditions are
reversed in plants!?). Here ıt ıs the asexual generation, which
possesses laevo-rotatory albumins and dextro-sugars. 2. All such
asexual generations of anımals, including all malignant tumours,
are killed and pulled down in the living state by the action of
active solutions of the pancreatic ferments, trypsin and amylopsin.
3. Since “Science is prevision” — to quote the words of Pasteur —
and because of certain facts known to me, certain other conelusions
may be drawn. As long ago as 1907 I stated!?), that the pan-
creatic ferments, trypsin and amylopsin, were the natural means
to be adopted for the cure of tuberceulosis. This was confirmed
in a single case of tuberculosis of the bowel by Dr. Margaret
A. Gleaves!*), and in various forms of surgical tuberculosis by
Dr. W. Bätzner!’). Since the latter has shown, that solutions of
trypsin do not inhibit the growth of cultures of tubercle-bacilli,
the favourable result ın tuberculosis ıs seen to be due, as I had
long foreseen and foretold, to the use made by the leucocytes of
the ferments, trypsin and amylopsin, as weapons of attack. While
10) Antithetie Alternation of Generations in Protozoa. In “The
Annals of Botany”, V. 9, 1895, p. 446—447 and p. 468, in the course of a paper
dealing with “The Phenomena of Reproduction in Animals and Plants”, it will be
seen, that I recognised, and postulated, the occurrence of Antithetie Alternation in
the life-eycles of the unicellular organisms. In not the least brilliant of his memoirs
this was first demonstrated, in the case of Coccidium schubırg’, by that zoological
genius, the late Fritz Schaudinn (vide Schaudinn, Fritz. Untersuchungen
über den Generationswechsel bei Coceidien, in: Zool. Jahrb., Abt. f. Anat., Vol. 13,
1900, p. 197).
11) Beard, J. The Enzyme Treatment of Cancer, London, 1911, loe. eit.,
R7159:
12) Therefore, in experiments nos VII & XIV, unlike the asexual generations
of animals, such as the “various undetermined flagellate micro-organisms’” of ex-
periments nos. IV & VII, the “various undetermined ‘swarm-spores’ of plants” were
not killed and disintegrated, but continued to live, in the presence of active pan-
creatic ferments, trypsin and amylopsin. The undetermined “swarm-spores” of
experiments nos. VII and XIV were probably asexual organisms belonging to the
Confervoid division of the Green Algae, such as Ulothrix.
13) Beard, J. ibid., p. 136-137.
14) Cleaves, Margaret A. The Physiological Action of the Pancreatic
Enzymes ete., in: Medical Record, June 1, 1907.
15) Bätzner, W. The Trypsin in: Treatment of Surgical Tubereulosis. “The
Practitioner”, January, 1913. p. 203—219, 6 plates.
Beard, On the Oceurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature. 167
Dr. Bätzner has observed, that three injections of the active pan-
creatic ferments (Fairchild) suffice to heal a tubercular abcess,
in India Captain F. W. Lambelle R. A. M. C., using the like
Fairchild injections, has found, in a bad case of amoebie dysentery
with abcesses in Jungs and liver, that the like number of injeetions
(three) result in the clearıng-away of allthe Amoebae, and the healing
of the abcess. From these facts, from the experiments, and, more
especially, from the whole course and tenour of my researches
during the past twenty-four years the following additional con-
clusions find their scientific warrant.
Since the organisms underlying the chief tropical diseases, such
as malignant malarıa, trypanosomiasis, sleeping siekness, yellow
fever, relapsing fever, kala-Azar, etc., are so far as these attack
human beings, asexual generations, ıt follows, that the natural
means of destroying the organisms of such tropical diseases, and
of curing the patients, are the use in combination of the powerful
pancreatic ferments, trypsin and amylopsin, as represented by the
“1912” Fairchild injections.
A further step may, indeed, betaken. Since such tropical dis-
orders due to parasitic micro-organısms of an asexual nature, and
tuberculosis, are amenable, since the organısms of such nourish
themselves, increase, and multiply at the expense of the living
human organısm with ıts characteristic laevo-rotatory albumins,
and — last not least — because the greater exceeds the less, all
infectious diseases, due to parasitic organısms of an asexual nature,
all which possess dextro-rotatory albumins, such as pyaemia, small-
pox, scarlet fever, pneumonia, leprosy, cholera asiatica, and others
of a similar nature, must be, and are, curable naturally by the all-
powerful ferments, trypsin and amylopsin, in combination.
In order to grasp the bearings of the facts of the present
writing upon problems concerning diseases, in which unicellular
organisms, bacilli, ete. play a leading part, it is needful to know
something of the biology of digestion and of the relationships of
extra- and intra-cellular ferments. In the unicellular animals or
Protozoa, which, so far as disease is concerned, manifest themselves
as asexual generations, in the asexual generations of the higher
anımals, in the mammalıan trophoblast, and in its pathological
representative any malignant tumour or cancer, digestion is intra-
cellular, and by means of ferments acting within and upon the
surface of the cell. In the sexual generations, man for example,
a differentiation has taken place, ofsuch a nature, that the produc-
tion of the characteristic digestive ferments has been assıgned to
a certain portion of the alimentary canal, and these ferments act
in an extra-cellular fashion. Not only have most of the body-cells
lost the power, if they ever at any past time possessed it, of
|6bS Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organie Nature.
producing trypsin and amylopsin, but a further division of labour
has taken place in the original single digestive gland, its ferment-
producing properties have been localised in a part of the original
structure, and this part we term the pancreas-gland, while its other
functions have been reserved for the portion of it, which we term
the liver. I am not concerned here with the question of the pro-
duction of ferments by and in the vertebrate liver. But any tryptic
and amylolytic ferments contained in the liver are almost certainly
formed ın the pancreas-gland. The aspect of the matter concerning
us here is this: owing to such division of labour the body-cells,
in giving up any earlier powers possessed by them of forming
trypsin and amylopsin, are placed more or less at the mercy of
organısms, such as some Protozoa, bacıllı, ete., which by their
ravages create disease. The ferments, produced by these, being
the stereochemical antitheses of those of the normal human body,
when given the chance, are ın this way enabled to attack the body-
cells, which have as their sole immediate protectors the cells termed
leucocytes. The leucocytes form the first and only real line of
defence against the attacks of such micro-organiısms. It was
Metschnikoff!‘), who first insisted on these protective powers of
the leucocytes. Notoriously, in many forms of parasitie disease,
produced by a micro-organism, a bacillus, or asexual generation,
such as cancer, the leucocytes are quite unable to cope with the
foe. But increasing evidences go to demonstrate, that, if provided
with pancreatic ferments as additional weapons of attack, the leuco-
cytes can become highly efficient agents against such onslaughts.
Moreover, it must not be forgotten, that the ferments are bodies,
which do not, to any extent at all events, diffuse or pass through
the walls of the alimentary canal and circulate in the blood
From the point of view of practice it may suffice to note tlıe
following. The introduction of pancreatic ferments, such as the
new Fairchild preparations, into the blood is, as others have
demonstrated, a perfectly harmless procedure. In such afflıctions
as sleeping sickness, malignant malarıa, tuberculosis, ete., the
organisms concerned are enabled to succeed ın their attacks, because
of the absence of the naturally protecting ferments, trypsin and
amylopsin, but, given these circulating in the blood at the point
of attack, the body — often, as in tuberculosis, aided by the leuco-
cytes — is placed in a position not merely to resist the attack,
but to defeat ıt utterly.
16) Metschnikoff, Elias. Untersuchungen über die intrazelluläre Ver-
dauung bei wirbellosen Tieren, in: Arbeiten a. d. Zool. Inst. zu Wien, V.5, p. 141
et seq., 1884.
idem. Untersuchungen über die mesodermalen Phagocyten einiger Wirbel-
tiere, in: Biol. Centralbl., V. 3, p. 560—565, 1883—84.
Beard, On the Occurrence of Dextro-rotatory Albumins in Organic Nature. 169
By the researches of earlier years antithetie alternation of
generations as the law of the developmental cycle of anımal life
had been placed upon a firm basıs of observation. With the facts
now recorded a beginning has been made in supplying this law
of antithetic alternation of generations with a foundation in stereo-
chemistry.
Upon what foundation do the current orthodox conceptions of
the nature of the above-mentioned diseases rest? Certainly, as
little upon a chemical as upon a biological basis. The line of work
I took up four and twenty years ago may have been — may even
now be — “heretical”, regarded in the light of common beliefs
then and now current. But the error was, and is, in the current
beliefs and theories, and not in the “true theories” or general
principles, to which patient research during these years has led me
irresistibly. For, as Pasteur well said, “The characteristie of
erroneous theories is, that they are never able to present new facts;
and every time a fact of this nature is discovered, in order to take
it into account, they are obliged to graft a new hypothesis upon
the old ones. The characteristic of true theories, on the contrary,
is of being the expression of the facts themselves, of being com-
manded and dominated by them, of being able to foresee new facts
certainly, because these by their nature are linked up with the
former — in a word, the characteristie of these theories is
fecundity !7).”
It ıs a long time since 1860, and the fundamental discoveries
of Pasteur!®), published in that year, discoveries, relating to what
he termed “enantiomorphism”, have had a eurious subsequent history.
While, on the one hand, it would, perhaps, not be too much to
say, that their influence upon the progress of chemistry had been
unbounded, their import in Physiology and allied sciences, dealing
with the problems of living things, such as Embryology, Zoology,
and Botany, would not appear to have been recognised hitherto.
It is scarcely credible now, that so long ago as 1860 Pasteur
said *I have, in fact, set up a theory of molecular asymmetry, one
of the most important and wholly surprising chapters of science,
which opens up a new, distant, but definite, horizon for physio-
logy”'°). While admiration of Pasteur’s “prevision” — to use
his own word — must be expressed, one cannot refrain from
17) Vallery-Radot, Rene. “La Vie de Pasteur”, Paris 1901, p. 352.
As elsewhere stated already, what Pasteur termed “a true theory” I identify as
“a general principle”.
18) Pasteur, Louis. On the Asymmetry of Naturally Occurring Organie
Compounds, in: G. M.Richardson’s “The Foundations of Stereochemistry, New
York, American Book Company, 1901, loc, eit., p- 25,
19)20p3 it. Px:33:
170 Schneider, Die rechnenden Pferde.
astonıshment, that more than fifty years, at all events, should have
elapsed without a fulfilment of his propheecy.
Applying now his discoveries, the later ones of Emil Fischer,
and the facts here recorded, to the problems of living things,
clearly there is a General Principle of far-reaching import behind
the whole. This is, that the micro-organisms, bacıllı, ete., of disease
are, of necessity, composed of compounds, which are stereochemical
antitheses of those making up the normal human body, and that,
when compared similarly with the pancreatic ferments, the like is
true of the ferments, by means of which they effeet their ends.
Only by means of such antithetic or opposite characters of com-
pounds and of ferments produced by them could such disease-
inducing organisms bring about their ravages.
It follows naturally, irresistibly, and incontrovertibly, that the
rational ways and means of meeting and coping with such ravages
are the employment of the ferments produced by the organisms,
to wit, mankind, who are the vietims, and of these by far the most
potent are the pancreatic enzymes, trypsin and amylopsin. Indeed,
the final outcome of the present adventure is to demonstrate once
again beyond effective contradicetion, that the pancreatic ferments,
trypsin and amylopsin, in combination are the most powerful
agents in the whole range of organic nature.
Die rechnenden Pferde.
Von Karl Camillo Schneider, Wien.
Zu dem Problem der rechnenden Pferde muss jeder Tierpsycho-
loge Stellung nehmen. Ich halte mich um so mehr dazu verpflichtet,
als ich in meinem vor kurzem erschienenen tierpsychologischen
Praktikum (in Dialogform, bei Veit, 1912) genauer auf den klugen
Hans eingegangen bin und die Frage diskutiert habe, ob bei ihm
ein wirkliches Denkvermögen vorliege oder nicht. Diese Frage ver-
neinte ich damals. Ich verneine sie auch jetzt noch und verneine
sie auch für die anderen Wunderpferde. Aber die Sache liegt doch
heute für mich ganz anders als noch vor kurzem. Über Nacht
gleichsam hat sich das Thema kompliziert und statt der einen,
früher in Betracht kommenden Frage ist eine neue aufgetaucht,
die so bedeutungsvoll ist, dass niemand mit Stillschweigen an ihr
vorbei kann. Ich sehe mich einem Irrtum meinerseits gegenüber,
den begangen zu haben mir außerordentlich leid tut, dem zu ver-
fallen aber außerordentlich nahe lag. Wenn man nur einigermaßen
über das tierpsychologische Gebiet hinaussah, so musste man, wie
mir scheint, diesem Irrtum verfallen. Allerdings viele Tierpsycho-
logen waren dagegen gefeit, weil sie eben weder über ihr Gebiet
Schneider, Die rechnenden Pferde. ı
hinaus- noch auch ordentlich in dieses hineinsehen. Wer über die rech-
nenden Pferde urteilen will, der muss zunächst über die Frage:
was ist Mathematik? entscheiden. Und diese Frage, das wird mir
wohl jeder unbefangene Psychologe zugeben, schien jenseits des
Gebiets der Tierpsychologie zu liegen. So schien’s! Aber es hat
sich ganz anders erwiesen.
Ich begreife eigentlich nicht recht, warum jene Tierpsychologen,
die am liebsten aus dem Tier einen Menschen machen wollen, so
sehr für das Rechenvermögen der Pferde eintreten. Es ıst ja ver-
ständlich, dass jeder Monist frohlockt, wenn wieder eine Kluft
zwischen Mensch und Tier hinwegfällt; aber hier handelt es sich
in Wirklichkeit um etwas ganz anderes. Der Monist — ich will
jene Tierpsychologen kurz Monisten nennen, da der Monismus doch
den Grund und Boden ihres Denkens ausmacht — will den Menschen
als ein gesteigertes Tier erkennen. Durch Erfahrung soll das Tier
sich zum Menschen entwickelt haben. Wenn nun aber Erfahrung
den Menschen entstehen ließ, wie kommt es dann, dass sıch die
scheinbare Ähnlichkeit der Elberfelder Pferde mit Menschen auf
einem Vermögen begründet, das sicher nicht durch Erfahrung er-
worben wurde? Das sie auch gar nicht durch Übung zu verbessern
gedenken, das sie vielmehr am liebsten gar nicht ausübten, wenn
es ihnen Herr Krall und die eifrigen Tierpsychologen nur ge-
statteten. „Lasst uns unsere Ruhe, wir wollen Pferde bleiben!“
würden sie den Lehrern zurufen, denen sie eigentlich selbst Lehrer
sein könnten. Wenn sie nur wollten! In ihrem Fache sind sie ja
besser beschlagen als die weitaus meisten Menschen, aber das Fach
interessiert sie gar nicht. Wenn sie es nicht von Natur beherrschten,
würden sie es nicht zu beherrschen verlangen, so wenig — oder
noch weniger — als die Menschen, die aus ıhnen entstanden sein
sollen. Nein, die Mathematik ist sicher nieht jenes Denkmittel,
das aus Tieren Menschen machte. Es ist absolut unempirisch, und
wenn daher die Pferde gleich den Menschen sind, so sind sie als
Menschen geboren, sind’s nicht erst mühsam geworden. Der merk-
würdige Krall’sche Befund nützt also gar nichts für das Problem,
wie wir zu Menschen geworden sind. Denn das uns angeborene
mathematische Talent ist zweifellos nicht anerzogen, nicht ererbt
worden.
Es müsste den Herren Monisten eigentlich vor den Pferden
grausen. Ich verstehe sehr gut, dass viele Tierpsychologen absolut
das Rechentalent der Pferde. bestreiten und hoffen, es werde später
noch ein Trick oder doch eine unbewusste Hilfe entdeckt werden.
Meiner Meinung nach bedeutet die Krall’sche Entdeckung eine
Art Bankerott der modernen Wissenschaft, die in der Empirie ıhr
Heil findet. Man musste wahrhaftig ein Laie sein, um solch merk-
würdige Entdeckung machen zu können; ich muss von mir sagen:
172 Schneider, Die rechnenden Pferde.
weil ich zu wenig Laie war, habe ich sie nicht gemacht. Nämlich
nicht gedanklich gemacht! Ich hätte sie gedanklich machen können,
wenn ich ganz unbefangen gewesen wäre. Aber ich war nicht un-
befangen! Nicht in Hinsicht auf die Idee, die Pferde dürften keine
Menschen sein, sondern in Hinsicht auf die Mathematik, vor der
ich zu großen Respekt hatte. Sagen wir besser: vor den Mathe-
matikern. Vor den Philosophen der Mathematik, vor den Herren
Logistikern, denen die mathematische Methode mit der logischen
zusammenfällt. Hätte ich nur an Kant gedacht, der die Zahl auf
die Zeit bezieht, so wäre mir die Entdeckung vielleicht geglückt
und ich hätte vor dem Erscheinen des Krall’schen Buches!) schreiben
können: es muss Mathematik bei Tieren möglich sein, von Osten
hat recht gehabt, Pferde können rechnen. Aber da waren Cou-
turat und Russel und Royce und viele andere, die mir zuriefen:
Kant hatte von Mathematik keine Ahnung, Logik und Mathematik
ist eins und da Logik zweifellos den Menschen charakterisiert, so
ist auch Mathematik rein menschlich. Und so bestritt ich denn die
Fähigkeit des Rechnens bei Tieren, für die ja auch damals nichts
sicheres sprach. Der kluge Hans war durch Pfungst entlarvt,
das Zählen der Hühner und Elstern musste höchst problematisch
erscheinen und sonst gab es keine Befunde, die zur Vorsicht hätten
warnen mögen. Da warf Krall seine Bombe und die Unterlassungs-
sünde ward offenbar. Aber mit meinem Schema, das den Tieren
ein Talent bestritt, flog auch die ganze Logistik mit in die Luft.
Soweit sie eben der Mathematik alles Anschauliche bestreitet und
sie rein logisch begründen will. Und das ist ein Ergebnis von so
großer Tragweite, dass ich darüber mein eigenes Versehen zu ver-
schmerzen vermag.
Fehler soll man selbst sofort gut machen, um nicht auch noch
des bösen Willens oder der Unfähigkeit geziehen werden zu können.
Ich hätte nun schon auch mein Versehen längst zugestanden, wenn
nur nicht wieder die Theorie gewesen wäre. Nicht die Theorie,
die ıch früher hatte und die mich einst behinderte, zum Propheten
zu werden, sondern die Theorie, die ich noch gar nicht hatte, die
nämlich nötig ist, die Pferde auch in ihrem Tun zu begreifen.
Denn es ist wenig damit erreicht, dass man zugibt: ja, die Pferde
können rechnen, von Schwindel und unbewussten Hilfen kann keine
Rede sein. Ich glaube kaum, dass unter den Forschern, die zur
Frage der Elberfelder Pferde Stellung nahmen, auch nur einer ist,
der diese Stellungnahme sozusagen unbefangen, ohne Bezugnahme
auf eine Weltanschauung vollzogen hat. Das geht einfach nicht,
1) Über dieses Buch ist der Redaktion schon vor längerer Zeit ein eingehender
Bericht von einem kompetenten Fachmann zugesagt worden, der sich leider durch
einen bedauernswerten Unfall verzögert hat. Wir hoffen ihn in nicht allzulanger
Zeit bringen zu können.
Schneider, Die rechnenden Pferde. 7%
denn es wäre unwissenschaftlich. Tatsachen zusammentragen, ist
keine Wissenschaft, der Denker fühlt sich nicht wohl dabei. Darin
eben unterscheidet sich der Mensch vom Tier, dass er wissen will;
etwas was ja gerade die Elberfelder Pferde nicht wollen. Diese
haben wohl ein Vermögen, aber kein noumenales; sie verstehen
mit Zahlen umzuspringen und hier Ordnung zu schaffen, aber diese
Ordnung ist nur eine äußerliche, eine phänomenale, steht aller echt
wissenschaftlichen Ordnung fern. Zwar meint Kant, dass in jeder
besonderen Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft ange-
troffen werden könne, als Mathematik darin sei; dass diese Art der
Mathematik aber nicht identisch sein kann mit der der Pferde,
drängt sich von selbst auf, wenn wir berücksichtigen, dass alle unsere
logischen Aussagen durch das lautere Feuer einer wahrheitsdurstigen
Seele hindurchgegangen sind. Aber leider würdigen das nicht alle
Forscher. Für den bietet schon äußerliche Ordnung ein Höchstes,
der sich damit begnügt, nichts anderes als Funktionalbeziehungen
in der Welt vorzufinden, und von Grund und Ursache nichts wissen
will. Der mit Kirchhoff meint, Erklären sei einfachste Beschrei-
bung, und mit Mach, dass außer unseren Empfindungen nichts
Reales existiert und wir in den Gedanken nur Gruppen von Ele-
menten ökonomisch zusammenfassen. Wäre darin wirklich die
Wissenschaft erschöpft, dann allerdings wäre Rechnen ein Letztes,
dann aber auch die Elberfelder Pferde und vielleicht alle anderen
höheren Tiere ihrem Wesen nach echte Menschen. Vielleicht schafft
gerade die neue Entdeckung hier ein gewisses Besinnen der Men-
schen auf sich selbst, auf ıhre wahren Eigenheiten. Jedenfalls wer
nicht an der Hand einer neuen Theorie da etwas Ordnung zu schaffen
vermag, der hat aus der Tatsache, dass Pferde rechnen können,
wenig Profit gezogen. Und so will ich mich denn bemühen, zu
zeigen, dass Muhamed ohne Hilfen zu arbeiten vermag und trotz-
dem die Sondernatur des Menschen unbestritten bleibt, dass wir
eben Mathematiker in einem anderen Sinne sind als die Pferde.
Dass Mathematik ein apriorisches Vermögen ist, daran kann
wohl heutzutage kein Einsichtiger- mehr zweifeln. Von dieser Vor-
aussetzung wollen wir ausgehen; wer möchte nun aber behaupten,
dass den Tieren aprioristische Veranlagungen vollständig fehlen
sollten? Fragen wir, was eigentlich solche Fähigkeiten bedeuten.
Dass die Zahlen ein Gerüst sind, das wir den sinnlichen Eindrücken
entgegenbringen, leuchtet ohne weiteres ein, denn was zählen wir
denn im praktischen Leben? Eindrücke doch, von denen sich eben
eine Vielheit darbietet. Wenn Zahlen auch reine Quantität sind,
so haben sie doch Bedeutung für Qualitatives, das durch sie men-
suriert wird; wir messen an ihnen die reale Welt, die uns rein
qualitativ gegeben ist. Auch wenn wir die Qualitäten vereinfachen,
an Stelle der Empfindungselemente bewegte Materie setzen — nach
174 Schneider, Die rechnenden Pferde.
Wiesner aus dem phänomenalen Substrat ein metaphänomenales
machen —, so bleibt doch die Vielheit immer gewahrt und daher
die Mathematik von Bedeutung. Quantität und Qualität gehören
untrennbar zusammen, eins ist sozusagen nur für das andere da,
wenigstens soweit wir eben in der Wirklichkeit ganz zu Hause sein
wollen. Der Mathematiker, der nur dem Wesen der Zahl nach-
hängt, ist zwar möglich und ebenso möglich ıst ein Lebewesen, das
nur empfindet und nicht zählt — obgleich das erst erwiesen werden
muss! —; aber von beiden können wir nicht sagen, sie seien in
der Wirklichkeit ganz zu Hause. Der eine steht ihr überhaupt fern
und das andere vermag sich in ıhr nicht genauer zu orientieren.
Wer möchte mit Sicherheit sagen, dass die Bienen nicht zählen,
wenn sie arbeiten? Man prüfe doch genau ihre Bewegungen beim
Bau der Zelle, vielleicht herrscht da ein bestimmter Rhythmus, aus
dem man auf die psychische Arbeit des Tieres schließen könnte.
Ein Hund berechnet seinen Sprung: ja, kann er das ohne zu zählen?
Das sınd Probleme für die Tierpsychologie, die aus Krall’s Be-
funden hervorwachsen. Jedenfalls liegt nicht das geringste theo-
retische Bedenken vor, bei den Tieren Zählvermögen vorauszusetzen.
Jetzt hinterher, nachdem es nachgewiesen wurde, lässt sich das
allerdings leicht sagen. Dass man es nicht vorhersagte, daran waren
Philosophie und Logistik schuld, vor allem unsere moderne Er-
kenntnistheorie, die mit dem Phänomenalen ihr Auskommen findet
und demgemäß den Menschen die Zahl reservieren wollte und musste.
Was bliebe ıhm denn, wenn man ihm auch die noch nahm und ins
Tierische übertrug?
Wer die Pferde als Pferde weiter bestehen lassen will, der
muss zeigen, dass es noch etwas anderes ın der Welt gibt als
Quantität und Qualität. Doch bevor wir dem uns zuwenden, sei
unsere bisherige Analyse der Wirklichkeit noch ergänzt. Es fehlen
ihr noch Raum und Zeit, die wir auch als Extensität zusammen-
fassen können. Da sind wir aber rasch am Ende. Mag man nun
Extensität direkt mit Quantität und Qualität zusammenwerfen oder
von ihnen als objektive Prinzipien, als Faktoren, die der Qualität
realiter zugrunde liegen und in der Quantität idealiter sich spiegeln,
unterscheiden, jedenfalls gehören sie aufs engste zu ihnen und mit
dieser Feststellung können wir uns genügen lassen. Raum und
Zeit anderswo zu suchen als im Wahrgenommenen hat keinen Sinn
und es bleibt dabei ganz gleichgültig, ob wir sie beide in der
Qualität direkt mit erfahren oder sie dieser auch als apriorisches
Prinzip entgegenbringen, wie Kant will. Für mich ist beides ein
und dasselbe, aber das ıst hier sehr nebensächlich.
Nun finde ich in mir noch das Prinzip des Wahrheitswertes
im Denken, das zweifellos auch apriorischer Natur ist. Dies be-
dauernswerte Prinzip wird allerdings von der modernen Erkenntnis-
Schneider, Die rechnenden Pferde. 175
theorie geleugnet und durch verschiedene andere Prinzipien ersetzt,
wie das Immanenzprinzip, das Erfolgsprinzip, das Ökonomieprinzip
und das Stabilitätsprinzip. Das erste besagt, es gibt nur Psychisches
in der Welt, also nur Empfindungen und was daraus abgeleitet
werden kann (Vorstellungen, Gedanken, Begriffe); nach dem zweiten
ist Erkenntnis nur Anpassung des Subjekts an die Umgebung und
nur der Erfolg vermag zu entscheiden über wahr und falsch; das
dritte sieht in der Wissenschaft eine Maximum- und Minimum-
aufgabe, bezw. eine ökonomisch geordnete Zählerfahrung; das vierte
schließlich schreibt dem Denken die Nötigung zu, gleich jedem
organischen Geschehen ein möglichst stabiles Gleichgewicht anzu-
streben, so dass sich Gedanken als Dauerzustände ergeben, mit
denen sich der Mensch beruhigen kann. Es ist nur schade, dass
diese Prinzipien weder in der exakten Wissenschaft noch in der
Mathematik selbst sich wahren Beifalls erfreuen, sondern nur für
Erkenntnistheoretiker Bedeutung haben, die sich in einer Welt-
anschauung beruhigen möchten. Die Logistiker setzen ihren Ehr-
geiz darein, darzutun, dass für die Denkoperationen so etwas wie
der Erfolg nicht im geringsten maßgebend ist, und aus der Natur-
wissenschaft entkeimen immer neue materialistische Systeme, die
dem Empfundenen ein Substanzielles oder Wirkendes als unent-
behrliche Grundlage unterlegen und nicht begreifen können, wie ein
wirklicher Vorgang aus psychischen Elementen abgeleitet werden
soll. Lieber sagt ein Ostwald, Empfundenes ist Energie, als dass
er die Energie als Relation von Empfundenem hinstellt. Und in
der Tat: wer die zwei Hauptsätze der Wärmelehre ins Auge fasst,
wird kaum umhin können, ihre Sonderstellung gegenüber aller
sinnlichen Erfahrung zuzugeben. Ich sehe hier von der mathe-
matischen Fassung dieser Sätze ab, mir liegt nur daran, ihre wahre
Essenz in volles Licht zu rücken. Der eine Satz findet in allem
Geschehen die eine unzerstörbare Energie; was heisst das aber
anderes, als dass er hier etwas findet, das weder qualitativer noch
quantitativer Natur ıst? Er findet eine Ursache, die er nach der
Wirkung wohl messen kann, für die es aber wesentlich ist, dass
sie in der Wirkung direkt wiederkehrt. Wie das ein rein quali-
tatives oder quantitatives Gebilde fertig bringen sollte, bleibt uner-
sichtlich. Der andere Satz sagt einfach darüber aus, wann etwas
geschieht und macht dies Geschehen von der Intensität abhängig,
also von einem Faktor, der so unquantitativ und unqualitativ wie
nur möglich ist, von dem Ostwald direkt sagt: Intensitäten lassen
sich nicht physisch addieren. Somit haben wir hier Faktoren vor
uns, die unbestreitbar in den Erfahrungen enthalten sind, aber nicht
nach Art der sinnlichen Elemente, sondern aller Sinnlichkeit unzu-
gänglich und nur vom Verstande erfassbar. Vom Verstande, der
hier also sein wahres Arbeitsfeld hat. Man frägt vielleicht, wie
176 Schneider, Die rechnenden Pferde.
der Verstand es anfängt, die in den Erfahrungen versteckte Energie
zu erfassen? Dies Wie ist uns doch eigentlich sehr bekannt. Wir
erleben uns selbst als Ursache und fragen nun auch bei Tätigkeiten
der anderen Dinge nach Ursachen. Immer ist es die Bezugnahme
auf unseren eigenen Ursachengehalt, der gleichsam als Sinnesorgan
wirkt und ın den Instrumenten nur erweitert erscheint, so dass
uns gar nichts lebendiger ist als das Bewusstsein einer Wirkung.
Man hätte ohne dies Bewusstsein den Reizbegriff wohl überhaupt
nicht aufgestellt. Wie charakteristisch dies Verhalten des Ver-
standes, von dem Schopenhauer sagte, sein Wesen bestünde
darin, eine Ursache für jede Empfindung nach außen zu projizieren!
Fragen wir nun aber, ob die Tiere das tun, so müssen wir wohl
verneinend antworten. Gerade weil die Kausalität nur eine ist, so
fragen wir nach ihr immer und überall; es prüfe doch einer seine
Gedanken und er wird finden, dass ihn vorwiegend die eine Frage
beschäftigt: warum ıst das so? Es ıst die ganz spezifische mensch-
liche Frage und hilft uns, nach und nach aller Schwierigkeiten, die
uns entgegen treten, Herr zu werden. Was die Tiere anlangt, so
sind sie wohl neugierig und lernen eventuell gern, aber nur: was
geschieht, nicht: warum etwas geschieht. Frügen sie im letzteren
Sinne, so müssten sie Kindern gleichen, die auch lernen und zu-
gleich fragen, aber solche Ähnlichkeit entdeckte man bei Muhamed
und Zarif bis jetzt noch nicht.
Wie so Kausalıtät den Tieren fremd bleibt, so auch Rationalıtät,
worunter die Wahrheitsgrundlage jeder Erkenntnis zu verstehen
ist. Es gibt eine Wahrheit an sich: das ist eine Feststellung der
modernen Logik und Logistik, an der sich nicht rütteln lässt und
die allem Pragmatismus von vornherein den Grund und Boden
entzieht. Die Wahrheit ist nicht in der Erfahrung enthalten, sondern
wird von uns selbstherrlich gesetzt, ist unser subjektives Geschöpf
und doch auch wieder von objektiver Bedeutung, denn eben unsere
rationale Subjektität ist, gleich unserer phänomenalen, kein Kind
des Zufalls und der Willkür, vielmehr allgemeingültig und jedem
Willen Gesetz. Das ıst die große Errungenschaft modernen Denkens,
dass sie die schöpferische, normative Befähigung unserer Vernunft
klar erkannt und gegen solche Behauptungen wie das Erfolgsprinzip
mit Sicherheit erhärtet hat. Wir sagen ja oder nein zu etwas aus
freien Stücken und doch durch unser Wesen selbst gebunden und
zu solcher Aussage verpflichtet. Wie wir die Maximen unseres
Handelns in Freiheit setzen und derart unser Sollen zugleich auch
unser Wollen ist, so setzen wir auch die Normen unserer Erkenntnis
in Freiheit und sind derart Herren und Sklaven zugleich unseres
denkenden Selbsts. Das mag dem befremdend klingen, der über
die Tierpsychologie nicht hinausblickt und alles in der Welt auf
das Prokrustesbett der Biologie, des Monismus, Pragmatismus und
Schneider, Die rechnenden Pferde. 177
Positivismus spannt; aber wer nur ein wenig in dıe Bestrebungen
der modernen Logik und Logistik Einblick nimmt, der wird das
Gesagte ganz selbstverständlich finden und demgemäß ein ahnendes
Verständnis für das wahre Wesen des Menschen mitbringen.
Ich sage: ein ahnendes Verständnis! Denn es fehlt noch ein
Schritt, um den Menschen frei aus allen phänomenalen Enveloppen
herauszuschälen. Man kann nämlich folgendes hier einwenden.
Zugegeben die apriorische Natur des Ja und Nein, des Wahr und
Falsch, so ıst doch damit kein Unterschied des Menschen zum Tier
gegeben. Denn gilt etwa das Wahrheitsprinzip nicht auch für die
Mathematik? Und wurde uns nicht eben gesagt, dass auch die
Tiere Mathematiker seien, oder doch sein könnten? Sind nicht
gerade die Elberfelder Pferde eine schlagende Widerlegung der
willkürlichen Degradierung der tierischen Psyche unter die mensch-
liche? Wenn zuzugeben ist, dass die Mathematiker nur eine tierische
Veranlagung zur vollen Blüte entwickelt haben, so muss doch auch
das Wahrheitsprinzip, wenngleich in bescheidenen Grenzen, für Tiere
Geltung besitzen, denn jede Addition und Division gründet sich
darauf und die Tiere rechnen nicht weniger richtig als die Menschen.
Somit ergibt sich die Hinfälligkeit der oben gemachten Unterschei-
dung, die Künstlichkeit aller Errichtung von Trennungsschranken
zwischen Mensch und Tier.
Demgegenüber lässt sich nun eine andere Betrachtung auf-
stellen. Hat nicht Schopenhauer mit größter Energie die These
verfochten, aller Mathematik liege eine anschauliche Evidenz, keine
logische, zugrunde? Darin führte er nur Kant’s Beurteilung der Zahl
und Form weiter, gemäß welcher die Form im Raume, die Zahl
in der Zeit sich begründet, und wenn auch Kant nicht so radikal
dachte wie Schopenhauer, so hat er doch in der Erfahrung von
Raum und Zeit als im Subjekt parat liegender Bewusstseinsformen
solche Anschauung, der auch manche Mathematiker gehuldigt haben,
überhaupt erst möglich gemacht. Und selbst ein Logistiker, wie
Couturat, muss zugeben, dass für die Geometrie die Kant-
Schopenhauer’sche Meinung eine gewisse Berechtigung hat, da
hier, wie er sich ausdrückt, intellektuelle Grundsätze in Verbindung
mit Elementen anschaulicher Art stehen. Das Postulat der Dimen-
sıionenzahl unseres Raumes hat keinen verstandesmäßigen Charakter,
sondern scheint auf einer unzurückführbaren Tatsache der An-
schauung zu beruhen, die sich praktisch allen Menschen auf eine
unwiderstehliche Art aufdrängt, sei es, dass sie von der subjektiven
Konstitution unserer Sinnlichkeit herstammt, sei es, dass sie mehr
oder weniger symbolisch eine gegenständliche Eigenschaft der äußeren
Welt spiegelt. Diese letztere Frage, die Couturat offen lässt,
kann uns hier gleichgültig sein; es genügt das Zugeständnis, dass
Kant wenigstens für die Geometrie recht behält.
XXXIL. 12
XS Schneider, Die rechnenden Pferde.
Warum sollte aber nicht Gleiches auch für die Arıthmetik
gelten? Moderne Anhänger Kant’s, z. B. Natorp, führen den
Beweis, dass die Zeit ein mathematisches Gebilde sei, so gut wie
der Raum. Demgemäß muss es aber auch eine phänomenale Evi-
denz im Rechnen geben und siehe da: da hätten wir gerade das,
was wir zum Verständnis der rechnenden Pferde brauchen! Es ist
nicht nötig, dass sich die Pferde logisch strapazieren, um eine
fünfte Wurzel zu ziehen; sie haben einfach den Sinn dafür, und
wenn man auch nicht sagen kann, dass sie die Zahlen anschauen,
so bewältigen sie sie doch auf Grund einer Veranlagung, die mit
Anschauung wenigstens verwandt ist. Es gibt Methoden des Rech-
nens, die uns gleichsam die Beziehungen zwischen Aufgabe und
Resultat, auch bei verwickelten Themen, evident machen und das
Rechnen als etwas höchst Einfaches, Selbstverständliches erscheinen
lassen. Man operiert dann mit Zahlengruppen als Einheiten, in
Konstruktionen ohne alle logische Grundlage, spart unendliche
Mühe und hat eine Gewissheit der Richtigkeit des Resultats, die
nach Wahrheit und Falschheit nicht frägt, sondern eben von selbst,
aus dem Wesen unserer Sinnlichkeit heraus, einleuchtet. Natür-
licherweise kann man die Aufgabe auch auf logischem Wege be-
wältigen, aber das ist nur der Weg der Wissenschaft, die an Ur-
teile mit Wahrheitsgehalt gebunden ist, nicht der sozusagen
natürliche, den wir auch den direkten, uns unmittelbar gegebenen
nennen können. Es gibt einen Zahlensinn, dessen Beziehung zur-
zeit nicht bestritten werden kann. Mit diesem Zahlensinn nun
kommen wir bei Beurteilung der rechnenden Pferde aus und es
liegt daher gar kein Grund vor, Pferde und Menschen als Wesen
prinzipiell einer Art zu erachten. Solange nicht der Nachweis ge-
führt wird, dass sich die Pferde des Ja und Nein, des Wahr und
Falsch bewusst sind, wenn sie rechnen, solange braucht uns um
unsere Sondernatur nicht bange zu sein.
Damit ist meiner Ansicht nach das Pferdethema theoretisch
einwandfrei erledigt. Es kann ohne weiteres zugestanden werden,
dass die Pferde rechnen, und trotzdem sind sie keine Menschen,
für die wesentlich Verstand und Vernunft sind. Beide Vermögen
sind für die Pferde aus den von ihnen bekannt gewordenen wunder-
baren Leistungen heraus absolut nicht abzuleiten. Selbstverständ-
lich auch nicht, wenn wir ihr Sprachvermögen in Betracht ziehen.
Hier liegt die Sache einfacher. Ich bin in meinem tierpsycho-
logischen Praktikum für die tierische Sprache eingetreten und kann
mir daher jetzt eine ausführlichere Begründung sparen. Dass
Muhamed sich der Bedeutung der von ihm angewendeten Wörter
bewusst ist, erklärt sich aus der echt tierischen Veranlagung zum
Lernen ebenso leicht, wie seine Aussagen über Vorkommnisse durch
die Assoziationsgesetze ohne weiteres verständlich werden. Gerade
Schneider, Die rechnenden Pferde. 179
in der Sprache ist Steigerung beim Tiere als möglich zu erachten
und zwar auch im Naturzustande, da es sich hier um ein Empi-
risches handelt, das fortwährender Entwickelung unterliegt. Das
ist an sich ein höchst interessantes Thema, wir müssen aber von
seiner Diskussion absehen, weil es doch ganz ins Tierische gehört
und, wie mir scheint, viel weniger aufreizend wirkt als das Problem
der mathematischen Befähigung. Betreffs dieses, so betone ich
nochmals, kommt eben das aprioristische Moment in erster Linie
in Frage. Mathematiker sind wir a priori, unabhängig von aller
Erfahrung, reden aber tun wir a posteriori, also ın Abhängigkeit
von der Erfahrung. Es ist nun höchst bemerkenswert, dass durch
Entdeckung der mathematischen Veranlagung bei Pferden ein
aprioristisches Moment auch als für Tiere gültig erwiesen und derart
in die Biologie eingeführt wurde. Das bedeutet einen eminenten
Fortschritt, weil es die Bedeutung des Psychischen für die Bio-
logie in ein klares Licht rückt. Denn hier versagen alle physio-
logischen Spitzfindigkeiten und es ergibt sich eine höchst will-
kommene Stütze echt psychologischer Betrachtungsweise in der
Biologie, die jetzt noch mit so vielen Einwänden zu kämpfen hat.
Man darf hoffen, dass mit der Zeit noch mehr solcher Apriorismen
aufgedeckt werden, die den Vitalismus in seiner mühevollen Arbeit,
Biologisches wahrhaft zu begreifen, die größten Dienste erweisen.
Somit erblicke ich ın der Krall’schen Entdeckung allerdings einen
Befund von höchster Tragweite, von geradezu unberechenbaren
Folgen für die Wissenschaft vom Organischen; nur liegt diese Be-
deutung in einer ganz anderen Richtung als es die Herren Nur-
physiologen und Monisten unter den Biologen wähnen. Nämlich
nicht in der Richtung, dass dadurch die Differenz zwischen Mensch
und Tier hinfällig gemacht und der Mensch zum Tier herabgezogen
werde, sondern in der ganz anderen, dass dadurch der wahren Be-
deutung des Psychischen fürs Biologische eine neue Einbruchspforte
ins Denken der Biologen eröffnet werde. Warum soll es z. B. bei
den Pflanzen nicht auch eine aprioristische Veranlagung, warum
soll es nicht deren mehrere bei Tieren geben? In dieser Hinsicht
stehen jedenfalls noch weitere epochemachende Entdeckungen bevor
und so wird man Krall’s Werk später einmal mit Recht dem
Darwin’s vergleichen können, an Bedeutung nämlich als Anregungs-
mittel für die Forschung, nicht in Hinsicht auf den vermeintlichen
Wert des Darwinismus, eine Brücke vom Tier zum Menschen ge-
schlagen zu haben, was doch absolut nicht der Fall ist.
ISO Brehm’s Tierleben. — Ferienkurse.
Brehm’s Tierleben.
4. Aufl. — Die Lurche und Kriechtiere. Neu bearbeitet von Franz Werner. 1. Bd.
Gr. 8. XVI u. 572 Seiten. Mit 127 Abbild. im Text, 14farbigen u. 11 schwarzen
Tafeln. Leipzig. Bibliographisches Institut.
Manche Leser unseres Blattes erinnern sich vielleicht noch der
Besprechung, welche Herr Werner im Jahre 1893 von der ın der
3. Aufl. des genannten Werkes gelieferten Bearbeitung der „Kriech-
tiere und Lurche* durch Herrn Böttger beigesteuert hat. An
Stelle des durch Krankheit verhinderten Herrn B. hat jetzt Herr W.
selbst die Neubearbeitung dieses Abschnittes übernommen. Da
Herr W. als einer der besten lebenden Kenner des Wissensgebietes
gilt, dessen Neubearbeitung ıhm anvertraut worden ist, so ist alle
Gewähr für gute Ausführung gegeben. Und dieser erste Band
rechtfertigt das Vertrauen vollkommen. Vom ursprünglichen Brehm’-
schen Text hat Herr W. namentlich die persönlichen Beobachtungen
erhalten, sonst aber unter namhafter Vermehrung des Gesamt-
umfangs alles getan, um den jetzigen Standpunkt der Kenntnisse
gerecht zu werden. Dabei hat er es verstanden, auch in dem neu
Hinzugefügten das Vorbild des ersten Bearbeiters auf das Voll-
kommenste zu erreichen. Von den Abbildungen sind viele neu.
Sie stammen zum großen Teil von J. Fleischmann, der sich mit
ihnen glücklich als Tierzeichner von Bedeutung einführt. Andere
sind vortrefflich gelungene photographische Aufnahmen.
Die Anzahl der geschilderten Arten betrug in der 3. Auflage 95;
sie ist jetzt auf 203 gestiegen. So ist es gelungen, nicht nur alle,
ım deutschen Tierhandel und in den deutschen zoologischen Gärten
regelmäßig vorkommenden Gattungen zu berücksichtigen, sondern
auch die meisten Arten aus den deutschen Kolonien und andere,
welche sich durch ihre Lebensweise, ihren Körperbau oder ihre
Fortpflanzung bemerklich machen, zu erwähnen und zu beschreiben.
Pr.
Ferienkurse Jena.
Vom 4.—16. August 1913. (Für Damen und Herren.)
Es werden im ganzen mehr als 50 verschiedene Kurse gehalten, meist zwölf-
stündige.
Naturwissenschaftliche Abteilung: Naturphilosophie; Botanik;
botanisch-mikroskopisches Praktikum; Zoologie; zoologisches Praktikum ; Astro-
nomie; Mineralogie; Chemie; Physik; Physiologie; physiologische Psychologie.
Ausführliche Programme sind kostenfrei durch das Sekretariat der Ferien-
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Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
£
Be
Biologisches Gentralblatt
Unter Mitwirkung von
Dr. RK. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Bd. XX
RO. A
XIII. ril 1913. N 4,
Inhalt: Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung. — Dietze, Biologie der Eupitheeien.
— Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. — Mola, Nuovi ospiti di uccelli contributo al
genere Hymenolepis. — Jollos. Experimentelle Untersuchungen an Infusorien. — Grassi,
Contributo alla conoscenza delle Fillosserine ed in particolore della Fillossera della vite. —
Semon, Das Problem der Vererbung ‚‚erworbener Eigenschaften‘. — Hegi, Illustrierte
Flora von Mitteleuropa. — Fränkel, Dynamische Biochemie.
Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung.
Von Victor Birekner.
In letzter Zeit habe ich mehrfach mit Unterbrechungen Ver-
suche über die Keimung von Gerstensamen angestellt!.. Da ich
an eine Fortsetzung derselben vorläufig nicht denken kann, seien
die dabei gemachten Erfahrungen hier inzwischen in Kürze mitgeteilt.
a) Versuche über die Rolle des Scutellums bei
der Keimung.
Die physiologische Funktion des dem Endosperm zugekehrten
Teiles des Gramineenembryos ist noch keineswegs aufgeklärt. Zwar
hatte Linz?) an Zea Mays die Tatsache festgestellt, dass dies
sogen. Schildchen (Scutellum) der frisch keimenden Samen stets
mehr (oder ein wirksameres) diastatisches Ferment enthält als
irgendein anderer Teil des Kornes, und dass dıe stärkelösende Kraft
dieses Organs mit fortschreitender Keimung abnimmt, während die
des Endosperms zugleich sich steigert. Man hat wohl hierin eine
gewisse Bestätigung der schon früher verschiedentlich geäußerten
1) Die mitgeteilten Experimente wurden zumeist im landwirtschaftlichen La-
boratorium der kalifornischen Universität in Berkeley ausgeführt.
2) Linz, Jahrb. f. wiss. Bot. 1896, Bd. 29, p. 257.
XXXII 13
182 Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung.
Ansicht erblickt, wonach vom Scutellum aus während der Keimung
Diastase ins Endosperm sezerniert wird. Allerdings hatte Linz
zugleich auch festgestellt, dass der Diastasegehalt von Maisendo-
spermen auch dann allmählich zunimmt, wenn dieselben von An-
fang an vom Keimling losgetrennt, also völlig isoliert waren. Jedoch
deutete der ganze Bau des Scutellums der Grassamen, insbesondere
die sogen. Palisadenschicht, so ausgesprochen auf eine Sekretions-
tätigkeit hin, dass die erwähnte Ansicht, obwohl nie eingehender
geprüft, doch kaum je ernstlich in Frage gestellt worden ist.
Neuerdings hat man sogar vorgeschlagen, die Gestalt und Größe
des Scutellums beim Gerstenkorn als Merkmal für die Bonitierung
der Braugersten zu verwerten’).
Angesichts dieser Sachlage erschien es angezeigt, die Rolle des
Scutellums bei der Keimung einmal direkt am Objekt zu studieren
und jene Sekretionshypothese auf ihre Richtigkeit zu prüfen. Mit
diesem Ziel vor Augen habe ich vor zwei Jahren einige Experi-
mente angestellt, welche, obwohl nur einen Versuch in der ange-
deuteten Richtung darstellend, immerhin der Mitteilung wert er-
scheinen.
Für die zu wählende Methodik kamen vor allem die Arbeiten
von Hansteen*) und Puriewitsch’) in Betracht. Diese Autoren
konnten zeigen, dass die für ölhaltige Reservestofibehälter bereits
von Van Tighem®) festgestellte Fähigkeit der Selbstverdauung
auch den stärkehaltigen Endospermen der Gramineen zukommt,
vorausgesetzt, dass in geeigneter Weise für Ableitung der gebil-
deten, vorwiegend zuckerartigen Spaltprodukte Sorge getragen wird.
Letzteres wurde dadurch erzielt, dass an Stelle des entfernten Em-
bryos bezw. von dessen Scutellum ein Gipssäulchen angegossen
wurde, dessen Basıs in Wasser gestellt wurde. Puriewitsch gibt
an, dass für Maissamen die Stärkeauflösung zum Stillstand kommt,
sobald der osmotische Druck der Außenflüssigkeit gleich dem einer
etwa 2!/,°/,igen Dextroselösung ist. Die Sterilhaltung der Objekte
gelang nach den Angaben dieses Verfassers durch Vorbehandlung
mit Kupfersulfatlösung. Das Fortschreiten des Lösungsprozesses
wurde in erster Linie auf mikroskopischem Wege verfolgt. Aller-
dings schloss sich hieran zumeist auch eine Bestimmung des Zucker-
gehaltes des Diffusionswassers, welche jedoch in der Hauptsache
zur Bestätigung des mikroskopischen Befundes diente und kaum
Anspruch auf besondere Genauigkeit haben dürfte. |
Es kam mir nun darauf an, vermittels einer ähnlichen Methode
eine quantitative Vergleichung der diastatischen Tätigkeit einerseits
3) Cireular No. 16, U.S. Dept. of Agriculture. Bureau of Plant. Ind. 1908.
4) Hansteen, Flora 79, Erg.-Bd., p. 419, 1894.
5) Puriewitsch, Jahrb. wiss. -Bot. 1898, Bd. 31, p. 1.
6) Van Tighem, Compt. rend. 1877, Vol. 84, p. 582.
nr
Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung. 483
völlig isolierter Endosperme, andererseits solcher, an denen nach
Entfernung des Embryos das Scutellum in der natürlichen Stellung
belassen war, zu versuchen. Als Objekt wurde der praktischen
Bedeutung wegen die Gerste gewählt. Ich hielt mich zu Anfang
genau an die von Puriewitsch geschilderte Arbeitsweise. Die
vorher entspelzten Körner wurden mit Kupfersulfat behandelt, so-
dann in dem sterilen Glaskasten mit allen Vorsichtsmaßregeln
operiert und mit dem operierten Ende auf Gipssäulchen montiert,
welche in eine unter feuchter Glocke befindliche Kristallisierschale
mit Wasser gestellt wurden.
Bei den ersten drei auf diese Weise hergestellten Kulturen
war nur der Embryo entfernt worden, unter Belassung des Scutel-
lums. Alle drei blieben anscheinend steril. Nach 22 Tagen wurde
der Versuch unterbrochen und die Flüssigkeit auf reduzierenden
Zucker untersucht. Es fanden sich in jeder Schale etwa 10°,
Zucker (als Dextrose berechnet), bezogen auf das Gewicht der ent-
spelzten Körner vor Beginn des Versuches. Die Temperatur war
während dieses Versuches wenig konstant, zumeist recht niedrig.
Das Herausoperieren des Embryos war in vielen Fällen nicht ge-
nügend gut gelungen, um ein nachträgliches Sıchloslösen des Scu-
tellums vom Endosperm zu verhindern. Ferner ergab sich, dass
für ein quantitatives Arbeiten die Gipsblöckchen wenig geeignet
waren, da sie viel von der Kulturflüssigkeit festhalten, die sich nur
mit Mühe wieder zurückgewinnen lässt.
Für die weiteren Versuche wurde infolgedessen Gips nicht
mehr verwendet. Statt dessen wurde auf die schon von Brown
und Morris”) verwendeten Glimmerplättchen zurückgegriffen, welche
zur Erzielung quantitativer Resultate weit geeigneter sind. Die
Objekte stehen bei diesem Verfahren an der Schnittfläche direkt
mit dem Diffusionswasser in Berührung, und außerdem lässt sich
eine etwaige Infektion sofort beim ersten Auftreten erkennen. Um
ein zu tiefes Einsinken der mit kleinen Löchern versehenen Glimmer-
platten zu vermeiden, wurden dieselben durch zugeschmolzene,
dünnwandige Glasröhrchen unterstützt und so tragfähıger ge-
macht. Glimmerplättchen samt Glasträgern und Kristallisierschalen
wurden vor jedem Versuch im Trockensterilisator bei 150—-160°
sterilisiert.
Jeder Versuch umfasste von nun ab zweı Parallelkulturen, von
denen die eine allein aus Endospermen bestand, die andere aus
Endospermen mit Schildchen, jedoch ohne Embryo. Für beide
wurde stets die gleiche Anzahl Körner verwendet, deren Gesamt-
gewicht ebenfalls genau gleich war, was sich durch Auswahl aus einer
größeren Menge entspelzter Körner leicht erreichen ließ. Das Ge-
7) Brown and Morris, Journ. Chem. Soc. 1890, Vol. 57, p. 458.
13*
184 Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung.
samtgewicht für jede Kultur betrug zumeist 1g (ca. 22—25 Körner).
Die Temperatur betrug ın allen Fällen 25—27° C.
Während nun bei den Gipskulturen selbst nach 22 Tagen
keinerlei Infektion zu bemerken war, trat bei den Versuchen mit
Glimmerplatten regelmäßig nach ca. 6 Tagen, in vereinzelten Fällen
auch erst nach 2 Wochen, Pilzwachstum auf (Penicillium-Arten).
Um einen vollkommeneren Kontakt der Samen mit der Kupfer-
lösung herbeizuführen, wurden alle Luftblasen während der Kupfer-
behandlung mit der Wasserluftpumpe entfernt. Jedoch erfolgte
trotz aller Kautelen selbst dann regelmäßig Infektion. Die Untaug-
lichkeit der Kupferlösung als Antiseptikum wurde somit offenkundig.
Freilich war diese Beobachtung bereits früher im Pfeffer’schen
Laboratorium gemacht worden°), wie ich leider erst am Ende vieler
mühsamer Versuche gewahr wurde.
Wie weit dieser Umstand auf die Bewertung der Versuche
Puriewitsch’s von Einfluss ist, ist schwer zu sagen. Merkwürdig
ist jedenfalls meine oben mitgeteilte Beobachtung, nach der bei
Verwendung von Gipssäulchen selbst nach 3 Wochen keinerlei In-
fektion zu bemerken war. Da kaum anzunehmen ist, dass der Pilz
ins Innere des Gipsblockes hineingewachsen wäre, muss man wohl
an eine Giftwirkung des Kalziumsulfates auf die Sporen von
Schimmelpilzen denken. Eine bakterielle Infektion trat bei meinen
Versuchen fast nie auf.
Trotz. dieses Misserfolges habe ich mit den infizierten Kulturen
in vielen Fällen Zuckerbestimmungen vorgenommen. Das Pilzwachs-
tum begann, wie erwähnt, in der Regel erst nach etwa 6 Tagen
und ließ sich dann bei Verwendung der Glimmerplatten nicht alleın
sofort erkennen, sondern auch seinem Umfang nach recht genau
feststellen. Bei einer ganzen Reihe von Versuchspaaren, bei denen
die Infektion soeben begonnen hatte und bei beiden Gruppen etwa
gleich weit vorgeschritten war, wurden nach Unterbrechung des
Versuches ın der Kulturflüssigkeit die Eiweißstoffe mit 1 ccm heiß
gesättigter Kalıumalaunlösung niedergeschlagen und der reduzierende
Zucker nach Pflüger’) bestimmt. Aus all diesen mit großer Sorg-
falt und unter Berücksichtigung der Infektion ausgeführten Bestim-
mungen ergab sich unzweifelhaft die Tatsache, dass beı der geschil-
derten Versuchsanordnung die Gegenwart des Scutellums nicht
eine Beschleunigung, sondern eine starke Verlangsamung
des Übertrittes der Stärkeabbauprodukte in die Außen-
flüssigkeit bedingt. Diese Tatsache darf im Gegensatz zu ent-
sprechenden Angaben Puriewitsch’s (l. ec. p. 51—53) als gesichert
gelten. Der bei alleiniger Tätigkeit von (nicht infizierten) Endo-
8) Pfeffer, Pflanzenphysiologie, Bd. II, p. 334—342, 1904.
9) Pflüger, Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 93, p. 166—173, 1903.
Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung. IS5
spermen nach 8 Tagen in die Flüssigkeit übergetretene reduzierende
Zucker beträgt bei der angegebenen Temperatur durchschnittlich
4°/, (als Dextrose berechnet) des ursprünglichen Korngewichtes, bei
gleichzeitiger Anwesenheit des Scutellums dagegen nie über 3°/,.
Auf Angabe der direkt erhaltenen Zahlenwerte kann verzichtet
werden, da diese infolge des wechselnden Infektionsgrades bei den
einzelnen Versuchspaaren miteinander ohnehin nicht vergleichbar
wären. Die Kontrollbestimmung des Zuckergehaltes der Körner
bei Beginn eines Versuches, ausgeführt direkt nach 15stündiger
Quellung und darauffolgender u ERNUNS des Keimlings, ergab:
Reduzierenden Zucker 0.6°/, (als Dextrose ber.)
Gesamtzucker (nach Inversion) 2.2°/, (,
Aus obiger Wahrnehmung darf jedoch nicht alleemem Eefolbere
werden, eos das Sceutellum En keimenden Samen der Beförderung
der löslichen Kohlehydrate aus dem Endosperm zum Keimling
hinderlich sei. Am intakten Objekt ist keine Schnittfläche, kein
direkter Wasserkontakt und keine Wundreaktion in Rechnung zu
ziehen. Hingegen gestattet obiger Befund für künftige Versuche
eine praktische Schlussfolgerung bezüglich der zu wählenden Me-
thodik. Wie Puriewitsch angıbt, erfolgt eine Entleerung des
Endosperms ohne Schwierigkeit auch in umgekehrter Richtung,
d.h. durch eine ım oberen Teile des Kernes, also weit entfernt
vom Keimling, angebrachte Schnittfläche. Diese Versuchsanordnung
wäre bei künftigen Studien quantitativer Art anzustreben. In Ver-
bindung hiermit ließe sich dann vermittels Eingipsens die bedenk-
liche Schnittwunde zwischen Embryo und Scutellum womöglich
ganz vermeiden. Die Lostrennung des Scutellums seinerseits vom
Endosperm ist offenbar ım Vergleich zu der vorgenannten eine weit
ungefährlichere Operation.
Die Hauptschwierigkeit besteht jedoch selbstverständlich ın der
Auffindung eines geeigneten Desinfektionsmittels für Samen. Es
werden ja viele Substanzen für diesen Zweck ın Vorschlag gebracht.
Einige, wie Kupfersulfat und Formaldehyd, haben sich auch in der
landwirtschaftlichen Praxis ausgezeichnet bewährt. Den Anforde-
rungen des wissenschaftlichen Versuches dürfte jedoch wohl noch
keine völlig genügen. Ich selbst habe zuletzt vier Kulturen ange-
setzt, bei denen die Körner zu Anfang 10 Stunden lang, teilweise
unter vermindertem Druck, in '/,, normaler Silberlösung gelegen
hatten, ohne dass eine davon steril geblieben wäre.
An Stelle der Glimmerplatten, die in Verbindung mit den Glas-
trägern immerhin etwas umständlich zu handhaben sind, habe ich
such mit gutem Erfolg durchlöcherte Paraffinscheiben (75° Schmelzp.)
ver sendlen, welche, ohne besonderer Unterstützung zu bedürfen, an
der Wasseroberfläche schwimmen. Ihre Sterilisierung erfolgte
mittels starker Formaldehydlösung. Eine solche Paraffinkultur blieb
Sb Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung.
sogar dauernd steril. Es waren Endosperme ohne Schildchen. Nach
70 en wurde der Versuch abgebrochen. Beim Trocknen an der
Luft zeigte sich, dass die ın feuchtem Zustande noch voll aus-
sehenden Körner in Wirklichkeit nur noch häutige Hüllen waren.
Die stark zuckerhaltige klare Flüssigkeit wurde in einen Messkolben
gefüllt, das Eiweiß as und einige aliquote Mengen zur Zucker-
bestimmung verwendet. Letztere geschah teils ak, teils nach
Inversion mittels Säure und darauffolgender Neutralisation. Die
Zuckerbestimmungen erfolgten diesmal mittels der Methode von
Bertrand!®). Bezogen auf das anfängliche Gewicht der entspelzten
Samen ergab sich in der Gesamtflüssigkeit
a) Direkt 51°/, Zucker (als Dextrose ber.)
b) Nach-Inyersion aa 1775 ( x N)
Wollte man, wie es vielfach geschieht, den reduzierenden Zucker
als Maltose auffassen, so würden sich anstatt der 51°/, mehr als
80°/, ergeben. Unter Berücksichtigung der ungelösten Endosperm-
überreste sowie der durch die Operation entfernten Keimlinge würde
für einen Atmungsverlust recht wenig übrig bleiben, und es würde
den Anschein erwecken, als wäre der Stärkeabbau durch bloße
Fermenttätigkeit ohne gleichzeitige Lebensäußerung der Endosperm-
zellen erfolgt. In Anbetracht der Vorbehandlung dieser Kultur
dürfte dies allerdings nicht wundernehmen. Die Samen hatten für
9'/, Stunden und unter mehrmaligem Evakuieren in 4°/,iger Kupfer-
lösung und hinterher 2 Stunden in Wasser gelegen. Dabei war
die Außenmembran zahlreicher Körner aufgesprungen, und, wie im
Versuchsprotokoll ausdrücklich vermerkt, waren diejenigen Gruppen,
welche viele verletzte Körner enthielten, auf die Paraffinscheiben
gesetzt worden.
Gelänge übrigens eine erfolgreiche, d.h. die Keimfähigkeit nicht
gleichzeitig beeinträchtigende Desinfektion des Samenmaterials, so
ließe sich die Frage nach der Lebenstätigkeit der Endospermzellen,
um die sich in neuerer Zeit Stoward!') und Brushi!?) viel be-
müht haben, vermutlich auch in der Weise entscheiden, dass, falls
Lebenstätigkeit nötig wäre, eine Selbstentleerung der Endosperme
bei der Optimaltemperatur der Diastasewirkung (55—60° C.) nicht
mehr stattfinden dürfte.
b) Der Einfluss des Einweichens bei verminde’rtem Druck.
Da in Verbindung mit der Vorbehandlung der Samen mit
Kupferlösung häufig von der Luftpumpe Gebrauch gemacht worden
war, erschien es von Interesse, festzustellen, welchen Effekt dieses
10) Bertrand, Bull. Soc. Chim (3), Vol. 35, p. 1285, 1906.
11) Stoward, Ann. of Botany, Vol. 22, p. 415, 1908. Ibid. Vol. 25,
P: 800, 1911:
12) Brushi, Ann. of Botany, Vol. 22, p. 449, 1908.
Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung. 15T
Auspumpen an sich auf die nachfolgende Keimung haben würde.
Vermutlich sind derartige Versuche gelegentlich in der Mälzerei-
praxis ausgeführt worden; jedoch sind mir entsprechende Literatur-
angaben nicht bekannt.
Für die Versuche wurden drei verschiedene Gerstensorten be-
nutzt; zwei waren regelrechte Braugersten und stammten aus Malz-
fabriken, die dritte erhielt ich als intakte Ähren von der landwirt-
schaftlichen Versuchsstation. Da letztere bereits längere Zeit gelegen
hatten, wurde jedes Korn einzeln von der Spindel entfernt und im
Dunkelraum in einem von einer Glühlampe mittels eines mit einem
kleinen Loch versehenen Asbestschirmes abgegrenzten Lichtbündels
auf defekte Stellen untersucht. Auf diese Weise ließ sich der ge-
ringste Fehler leicht und sicher feststellen, und alle so ausgesuchten
Körner waren gleichwertig und frei von Verletzungen.
Nach anfänglich sich widersprechenden Resultaten gelang es
mir schließlich, festzustellen, dass ein Auspumpen zu Beginn
der Weiche für die nachfolgende Keimung von nach-
teiliger Wirkung ist. Die Zeit der Evakuierung wurde variiert
von 10 Minuten bis zu 4 Stunden, und der hemmende Einfluss
steigerte sich im allgemeinen mit der Zeit der Einwirkung. Mit
der benutzten Wasserluftpumpe ließ sich allerdings nur ein teil-
weises Vakuum, bıs herab zu 160 mm Quecksilberdruck, erreichen.
Die Gesamtdauer der Weiche betrug zumeist 24 Stunden. Die
Körner wurden am Ende kurz in Silberlösung (n/10) getaucht und
hierauf mit Kochsalzlösung und sterilisiertem Wasser abgespült, und
auf feuchtem Fließpapier oder auf perforierten, auf Wasser schwim-
menden Paraffinscheiben zum Keimen ausgebreitet. Bei allen mit
gewöhnlicher Braugerste angestellten Versuchen wurden für jede
Gruppe mindestens 100 Körner, bisweilen sogar je 300 Körner ver-
wendet, während mit der nach obigen Angaben ausgelesenen Gerste
Gruppen von je 25 Körnern hinreichend sichere Resultate ergaben.
Im übrigen war die Versuchsanordnung einfach und versteht sich
von selbst, bedarf daher keiner weiteren Erläuterung.
Der schädigende Einfluss der Druckverminderung zu Beginn
der Weiche dürfte lediglich eine Folge der forcierten Imbibation
sein; eine direkte Wirkung des verminderten Luftdruckes erscheint
ausgeschlossen '?).
c) Der Einfluss von Sılbersalz auf die Keimung.
Schließlich habe ich, angeregt durch die Arbeiten von A. J.
Brown!*) und H. Schröder®’), zunächst ohne Rücksicht auf die
13) .s. P. Bert., cf. Czapek, Biochemie, Vol. II.
14) A. J. Brown, Ann. of Bot. 1906, Vol. 21, p. 79. — Ders., Proc. Roy.
Soc. (Biol.) 1909, Vol. 81, p. 82.
15) H. Schröder, Centralbl. f. Bakteriol. (II) 1910, Bd. 28, p. 492.
158 Birckner, Beiträge zur Kenntnis der Gerstenkeimung.
Frage der Desinfektionswirkung, den Einfluss von Silbernitratlösung
auf die Keimung von Gerstensamen etwas näher studiert. Ge-
nannte Autoren empfehlen bekanntlich Silberlösung als besonders
geeignetes Antiseptikum für Grassamen, da dieses Salz im Gegen-
satz zu Sublimat angeblich nicht ins Innere des Kornes einzu-
dringen vermag. Schröder gibt auch an, dass Weizenkörner
selbst nach 17stündiger Vorbehandlung mit 5°/, AgNO, die nor-
male Keimfähigkeit zeigten. Jedoch ist seine Arbeitsweise recht
oberflächlich. Bei einem Versuch mit 11 Körnern die Keimfähig-
keit in Prozent ausdrücken zu wollen, muss zum mindesten als
gewagt erscheinen.
Ich hatte nun bereits bei eimigen Vorversuchen beobachtet,
dass Gerstenkörner nach Behandlung mit Silbernitrat nicht nur
verschieden keimten als ohne dieselbe, sondern auch, dass bereits
bei recht niedriger Konzentration eine deutliche Schädigung der
Keimfähigkeit stattfindet. Diese Schädigung betrifft besonders den
jungen Spross, welcher, obwohl gut vorgebildet, anscheinend nicht
mehr imstande ist, die Kornhülle zu durchbrechen. Die Keimwurzeln
erscheinen nach der Behandlung eine Klemigkeit dünner, jedoch
sonst in jeder Beziehung normal; ja, man gewinnt sogar innerhalb
gewisser Grenzen den Eindruck einer stimulierenden Wirkung der
Silberlösung auf das Längenwachstum der Wurzel. Während jedoch
normale Keimwurzeln die Fähigkeit besitzen, sich an feuchtes Fließ-
papier fest anzuhaften, ja sogar den Faserstoff zu resorbieren, ist
diese Fähigkeit nach der Silberbehandlung verschwunden. Das
zytatische Ferment der Wurzeln wird also anscheinend ınaktiviert
bezw. seine Bildung vereitelt.
Um die Abhängigkeit der schädlichen Wirkung der Sıilber-
behandlung von der Konzentration und der Einwirkungsdauer fest-
zustellen, wurde der folgende einfache Versuch angestellt:
19 Proben, je zu 68, einer guten Braugerste wurden verschieden
lange Zeit unter Lichtabschluss in Silberlösungen verschiedener
Konzentration gelegt, hierauf abgespült und in destilliertes Wasser
übertragen. Die Dauer der Silber-plus Wasserweiche betrug für
jede Probe 38 Stunden. Am Ende dieser Zeit wurden die Körner
jeder Probe mit n/10 Kochsalzlösung und darauf mit sterilisiertem
Wasser gründlich abgespült und in Gruppen auf eine dicke Lage
gleichmäßig feuchten Fließpapieres gebreitet. Das Ganze wurde in
eine feuchte Kammer gestellt und der Keimungsvorgang beobachtet.
Das Resultat nach 36stündiger Keimung ist in nebenstehender
Tabelle zusammengestellt.
Die Zahlen stellen in runden Werten die bei den einzelnen
Gruppen erhaltenen Keimungsprozente vor, unter möglichster Be-
rücksichtigung des relativen Gesamtwachstums der Keimlinge jeder
Gruppe.
Dietze, Biologie der Eupithecien. 189
Dauer der
Silber- Gruppe | Gruppe 2 Gruppe 3 Gruppe 4
behandlung n/10 AgNO, n/50 AgNO, n/100 AgNO, Dest. Wasser
30 Min. s0 95 96
Sl 30 35 94 |
120% 12 Ss) 90 100
240 „ 6) 70 85 Bu
480. , 5 50 Ss) |
720 „ 3 25 75
Dasselbe Experiment wurde in etwas kleinerem Maßstabe mit
der wie unter b) angegeben geprüften und ausgelesenen Gersten-
sorte (ungedroschen) wiederholt mit wesentlich dem gleichen Resultat.
Da an ein brauchbares Desinfektionsmittel für Samen die An-
forderung gestellt werden muss, dass mindestens 80°/, der normalen
Keimfähigkeit erhalten bleibt, so folgt aus Obigem, dass für n/10
(= 1.7°/),)AgNO, diese Grenze bereis nach !/,stündiger Einwirkung
erreicht ist, während bei n/50 (= 0.34°/,) AgNO, die Einwirkung auf
2 Stunden, und bei n/100 (= 0.17°/,) AgNO, auf 4 Stunden aus-
gedehnt werden darf.
Dass, wie Schröder angibt, 5°/, AgNO, nach 17stündiger
Einwirkung noch normale Keimung gestatten soll, ist absolut uner-
sichtlich. Auch kam die Wirkung der von A. J. Brown beschrie-
benen semipermeablen Membran der Gerstenkörner bei den von
mir benutzten Sorten praktisch kaum zur Geltung.
Inwieweit eine Störung der Bakterientätigkeit, die nach einigen
Autoren !%) mit dem Keimungsvorgang in engem Zusammenhang
stehen soll, für die Erklärung der schädigenden Wirkung der Silber-
lösung ın Frage kommt, muss dahingestellt bleiben.
Perkins, Kalifornien. Januar 1913.
Karl Dietze. Biologie der Eupithecien.
I. Teil, Abbildungen, 82 Tafeln, Großquart. Den Originalen des Verfassers im
Farben-Lichtdruck nachgebildet von Martin Rommel u. Co. in Stuttgart 1910.
Kommissionsverlag von Friedländer u. Sohn, Berlin.
Dieses Prachtwerk enthält auf Tafel 1—66 Abbildungen von
Raupen teils in natürlicher Größe in ihrer oft erstaunlichen Viel-
gestaltigkeit auf den Futterpflanzen meisterhaft farbig dargestellt,
teils vergrößert gegeben, um die charakteristische Zeichnung jeder
Art für Bestimmungszwecke klar zur Anschauung zu bringen. Es
ist ausdrücklich anzuerkennen, dass die Reproduktion den herrlichen
Originalen des Autors möglichst gerecht zu werden sucht.
Tafel 67 und 68 bieten eme Anzahl Puppen, deren artliche
Unterschiede neben der Farbe und dem allgemeinen Habitus nament-
lich in der Zahl, Stellung und charakteristischen Krümmung der
16) s. R. Wahl in American Brewers’ Review, 1912.
190 Dietze, Biologie der Eupithecien.
kurzen Borsten am letzten Hinterleibssegment und in der Form
des letzteren liegen.
Tafel 69—80 zeigen in Lichtdruck die photographischen Auf-
nahmen von 900 verschiedenen Falterindividuen. Sie mögen gegen
200 Arten angehören.
Tafel 81 und 82 endlich bringen von ungefähr 70 Arten kreis-
förmige Ausschnitte aus der Schale von deren Eiern in 170facher
Vergrößerung, welche die wunderbare Skulptur der Schale, die von
Art zu Art wechselt, vorzüglich erkennen lässt.
Die Gattung Eupithecia, welcher diese bewunderungswürdige
Arbeit gewidmet ist, gehört der Familie der Geometriden an. Sie
haben einen spannenden Gang, weil ihnen die Bauchfüße fehlen.
Dieser Verlust der Bauchfüße wird wohl am besten aus dem Nicht-
gebrauch derselben hergeleitet.
Die Spannerraupen, also nicht nur die der Gattung Kupithecia,
pflegen nämlich in der Ruhe nur mit den Afterfüßen an ihren
Nährpflanzen anhaftend den ganzen übrigen Körper frei in die Luft
zu strecken. Sie ahmen dann in dieser Stellung vielfach täuschend
einen Blatt- oder Blütenstiel, ein kurzes Zweigchen u. s. w. nach.
(serade manche Eupithecien-Raupen sitzen allerdings zumeist ge-
krümmt auf ihren Nährpflanzen; namentlich solcher Arten, die an
den Blüten fressen und in dieser Stellung ihre spezielle Nahrung
am besten imitieren. Die in dieser Gattung besonders weit ge-
diehene Fähigkeit, Teile der bewohnten Pflanze im Raupenstadium
bis zu verblüffender Naturtreue zu kopieren, hat ıhr den Namen
„Eupithecia* eingetragen, von ed „schön“ und zid1xos „Affe“, also
etwa „Schönäffehen“ bedeutend. Besonders augenfällige Beispiele
bieten: Tafel 1 Eup. chloerata Mab. an den frisch geöffneten
Knospen von Prunus spinosa L., Tafel 55 Eup. lentiscata Mab. an
dem Fruchtzweige von Pistacia lentiscus L., Tafel 58 Kup. exten-
saria Frr. an dem Blütenstand von Artemisia maritima L.
Schon diese weitgehende Umgestaltungsfähigkeit, welche selbst
an ein und derselben Ortlichkeit im Rahmen vieler Arten zu beob-
achten ist, hat von jeher die Aufmerksamkeit zahlreicher Natur-
freunde und Forscher auf sich gelenkt. Auch der Berichtende hat
sich während eines Dezenniums eifrig damit befasst.
Wir können da zum Beispiel, vielleicht auf derselben Tages-
exkursion im August, konstatieren, dass die Raupe der häufigen
Kup. absinthiata O]., die ein wahrer Proteus bezüglich ihres Farben-
kostüms ist, sich findet:
1. Zitronengelb in den leuchtenden, goldenen Blütenähren von
Solidago virgaurea L.,
2. grün-an noch nicht blühenden Individuen dieser Pflanze,
rosa auf den Köpfen der Statice armeria L. m Üentaureen-
Blüten, oder an Callına vulgaris L.,
4. weiß in den eben geöffneten Dolden der Pimpinella sawi-
fraga L.,
Sb)
Dietze, Biologie der Eupithecien. 191
5. braun auf den üppigen Sträußen der Artemisia vulgaris L.,
6. ja sogar schön himmelblau auf den kugeligen Blütenständen
der Suceisa pratensis Mönch. (Taf. 23 u. 24).
Dietze ist diesen Dingen durch Fütterungsexperimente auch
direkt nachgegangen. Die Resultate derselben sind auf Tafel 60—64
seiner herrlichen Abbildungen zur Darstellung gebracht. Benutzt
wurde Zuchtmaterial von Eup. innotata Hufn., die sich ganz be-
sonders dafür eignet, weil sie im Jahr konstant zwei Generationen
hat und auf sehr verschiedenen Pflanzen zu leben pflegt. Die aus
den Eiern von ihm erhaltenen Raupen nehmen ein verschiedenes
Kostüm an, je nachdem sie auf:
Prunus spinosa L.,
Artemisia campestris L.,
Tamarix gallica L.,
Fraxinus excelsior L.
gezüchtet wurden.
Es lässt sich weiter durch Experiment zeigen, dass sich von
besonders wandelbaren Arten sogar das einzelne Individuum im
Verlaufe seiner Entwickelung in verschiedene Gewänder kleiden
lässt.
Ziehen wir Kup. absinthiata Cl. vom Ei auf und führen die
gleiche Raupe rechtzeitig, d. h. jedesmal vor einer weiteren Häu-
tung, sukzessive auf Blumen, z. B. Astern, von verschiedener Farbe:
„weiß“, „rosa“, „blau“ über, so können wir dasselbe Individuum
nacheinander: weiß, rosa und blau gestalten.
Die Farbe gewisser Schmetterlingsraupen rührt wesentlich von
bestimmten, umgewandelten Pflanzenpigmenten her, welche der
Nahrung entstammen (efr. Ch. Schröder: Die Entwickelung der
Raupenzeichnung und die Abhängigkeit der letzteren von der Farbe
der Umgebung. Berlin, R. Friedländer, 1894. — G.B. Poulton:
Proceed. Royal Societ. 1894, Vol. LIV).
Die Gattung Eupithecia gewinnt nun aber ein viel weiter-
gehendes Interesse dadurch, dass sie, wie in unserer Flora etwa
die Gattungen Fberacium und Rosa, und in unserer Falterwelt ın
besonderem Maße die Genera: Hesperia Wats. (Syrichthus B.),
Agrotis und Zygaena, sich gegenwärtig in vollem Flusse der Um-
gestaltung befindet. Es kommt dies von vornherein durch eine
außerordentliche Menge, vielfach schwer scharf voneinander zu
trennender Arten zum Ausdruck. — Dietze bildet, wie bereits
erwähnt, auf Tafel 69-—-80 900 verschiedene Falterindividuen ab,
die etwa 200 Arten angehören mögen. — Ja es gibt hier unzweifel-
haft einzelne Individuengruppen, welche gerade gegenwärtig im
Begriffe stehen, aus dem Rahmen ihrer bisherigen Arten überzu-
borden und sich zu selbständigen, neuen Arten umzugestalten (cfr.
bezüglich dieser Dinge: K. Dietze: Beiträge zur Kenntnis der Eupi-
thecien. Entom. Zeitschr. Iris, Dresden 1903, p. 331—387, 2 Taf.
Abb.’ e: a. ].).
So ist es denn eine überaus reizvolle Aufgabe, diesen Umge-
staltungen und Neubildungen, welche vielleicht, in manchen Fällen
192 Dietze, Biologie der Eupithecien.
gewiss zur Herausgestaltung und Abzweigung neuer Arten führen,
bis in die allerfeinsten Einzelheiten hinein nachzugehen.
Das interessante Problem is von verschiedenen Forschern in
verschiedener Weise ın Angriff genommen worden:
M. Draudt ın Königsberg leuchte, von Dietze angeregt
und reichlich von ıhm mit natürlichem Material versorgt, die Struktur
der Eischalen, welche eine von Art zu Art wechselnde, sehr eigen-
artıge Skulptur erkennen lassen (cfr. M. Draudt: Zur Kenntnis
der Eupithecien-E Eier, Entom. Zeitschr. Im is, Dresden 1905, p. 230— 320
u. Taf. IU— VI, ferner K. Dietze: Biologie der 'Eupitheei en,
Berlin, Friedländer u. Sohn, 1910, Tat, 81 u. 82).
Wilhelm Petersen in Reval studierte durch zahllose Präpa-
rate die männlichen und weiblichen Geschlechtsorgane, die inneren
sowohl wie die äußeren, um einen Einblick ın die verwandtschaft-
lichen Beziehungen der verschiedenen Formen zueinander zu ge-
winnen. Die Arbeit, mit vielen Abbildungen illustriert, erschien in
der Entom. Zeitschr. Iris, Dresden 1909, p. 203— 314 mit 32 Tafeln,
Abbildungen. „Ein Beitrag zur Kenntnis der Gattung Eupithecia
Curt. Vergleichende Untersuchung der Generationsorgane.*“
Unser Autor Dietze aber ging ein Menschenalter hindurch
mit unermüdlichem Eifer der Erforschung und Untersuchung des
Raupen-, Puppen-, und Falterstadiums nach. Bis an die Grenzen
des ewigen Schnees einerseits, bis an den Saum der Sahara anderer-
seits erstreckten sich wieder und wieder seine Exkursionen. Von
einer ganzen Anzahl Arten fand er die bisher vollkommen unbe-
kannten Raupen an ihren Futterpflanzen in der freien Natur auf,
oder erschloss uns deren Kenntnis durch Zucht aus dem Ei. Auch
die Entdeckung einer ganz neuen Art — in allen ihren Entwicke-
lungsstadien — der druentiata Dietze von Digne (Dep. Basses
Alpes), an Artemisia camphorata Vill., an der sie lebt, als Raupe
auf Tafel 31 wiedergegeben, verdanken wir seinem Forscherfleiße.
Mit der Ausarbeitung des Textes!) zu dieser einzig dastehenden Mono-
graphie ıst der Autor zurzeit noch eifrig beschäftigt. Sie wird uns
nicht nur eine ın hohem Grade vollständige Übersicht über diese
reizvolle und schwierige Gattung bringen, "sondern zugleich neue
und tiefere Einblicke in den Werdeg: ıng der Arten, also in eines
der interessantesten und wichtigsten Probleme der Naturforschung.
Dass das Prachtwerk Dietze’s keiner Universitäts-Bibliothek
fehlen sollte, braucht nach dem Gesagten wohl nicht noch be-
sonders betont zu werden. M. Standfuss, Zürich.
1) Nach einem soeben von Dietze dem Referenten zugegangenen Briefe ist
der Text im Manuskript gerade jetzt fertig geworden. Ferner besagt derselbe, dass
zu den 82 Tafeln noch vier weitere Tafeln als Ergänzung hinzukommen:
Zwei davon stellen von 10 Arten die Entwickelung des Rückenornamentes der
Raupen in je 9 Stadien dar.
Die dritte bringt 105 weitere Falterformen, nämlich Fig. 901—1005.
Die vierte zeigt 28 verschiedene Imagines von Kup. reetangulata L., eine
Reihe von der dunkelsten Form bis zur hellsten hin und von dieser wiederum alle
Übergänge bis zur dunkelsten,
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. 193
Katalepsie der Phasmiden.
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Peter Schmidt,
Privatdozent der Kaiserl. Universität zu St. Petersburg.
Im Herbst 1912 habe ıch durch die Liebenswürdigkeit von
Herrn Prof. S. J. Metalnıkow aus dem unter seiner Leitung
stehenden Petersburger Biologischen Laboratorium eine ziemlich
große Anzahl Eier von einer indischen Stabheuschrecke Cnrausius
(Dixippus) morosus Br. v.W. erhalten. Aus diesen Eiern, die sich
in einem kleinen Glase an meinem Arbeitstische bei gewöhnlicher
Zimmertemperatur befanden, begannen bald winzige Larven dieser
Phasmiden auszuschlüpfen und ım Laufe von 2—3 Monaten gelang
es mir trotz dunkler Winterzeit mehrere Dutzende jetzt schon zum
Teil groß gewordener Phasmiden zu züchten. Sie gedeihen ausge-
zeichnet in einem umfangreichen Glasgefäße und werden von mir
hauptsächlich mit Petersilie genährt, die sie sehr gerne fressen.
Bei alltäglicher Beobachtung dieser in sehr vielen Beziehungen
interessanten tropischen Insekten, die auch die Aufmerksamkeit
anderer Forscher auf sich schon gelenkt haben, waren mir einige
Eigentümlichkeiten ın ihrem Verhalten aufgefallen, die mir höchst
sonderbar zu sein schienen. Diese Eigentümlichkeiten sind, wie
es scheint, von anderen Beobachtern außer acht gelassen — wenig-
stens konnte ich ın der mir zugänglichen Literatur keine Berück-
sichtigung dieser interessanten Erscheinungen vorfinden. Ich unterzog
die Tiere einer experimentellen Untersuchung und kam zu einigen
Schlüssen, die vielleicht auch von allgemeinem Interesse sind, zu-
mal sie auch einige Andeutungen auf den Zusammenhang mit
anderen — auch leider wenig erforschten — Lebenserscheinungen
der Insekten geben.
Erst vor kurzem war die Biologie von Carausius (Dixippus)
morosus Br. v.W. von Herrn Otto Meissner!) gründlich erforscht.
In beinahe allem, was die Lebensweise von Carausius betrifft, kann
ich seine ausführlichen Beobachtungen und Angaben nur bestätigen,
sofern wenigstens meine eigenen bedeutend kürzeren und bei un-
günstigeren Verhältnissen (im Winter) gemachten Beobachtungen
es erlauben, — aber die speziell mich interessierenden Fragen
waren von diesem Forscher auch gar nicht berührt. Die Anwesen-
heit der Abhandlung von Otto Meissner erlaubt mir aber auf
die weiteren biologischen Einzelheiten hier vorläufig nicht einzu-
gehen und speziell nur meine Beobachtungen und Versuche, die
auf das „kataleptische“ Verhalten der Tiere Bezug haben, darzu-
legen.
1) Biologische Beobachtungen an der indischen Stabheuschrecke Di.xippus
morosus Br. Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiologie, Bd. V, 1909, Heft 1—3.
194 Schmidt, Katalepsie der Phasmiden.
Die von mir bei Zimmertemperatur gezüchteten Stabheuschrecken
(Carausius morosus Br. v. W.) sınd ım allgemeinen sehr wenig be-
wegliche Tiere, und zwar scheint ihre Beweglichkeit mit dem Alter
und dem Entwickelungsgrade abzunehmen. Übrigens selbst die
neugeborenen Insekten gehen sehr wenig herum, — sie sitzen
meistens bewegunglos. Die 5—6 cm langen jungen Tiere, mit
denen ich hauptsächlich experimentierte, sitzen wahrscheinlich °/,,
ihres Lebens olıne geringster Bewegung an der Wand des Glas-
gefäßes oder an den Sten-
geln der Petersilie. Dabei
nehmen sie gewöhnlich die
auf Fig. 1A abgebildete?)
höchst charakteristische
Stellung an. Mit 4 hinteren,
breit aufgespreizten Beinen
klammern sie sich fest an
den Gegenstand an (sie ver-
mögen sich auch sehr wohl
an dem Glase zu halten
und nur wenn das Glas
feucht ist, gleiten sie aus);
die 2 Vorderbeine werden
zusammen mit den beiden
borstenförmigen Fühlern
schnurstracks nach vorne
gerichtet und mit den kon-
vergierenden Endspitzen zu-
sammengehalten, so dass
alle diese 4 Extremitäten
eine natürliche Verlänge-
rung des stäbchenförmigen
Biel A EEE Carausius morosus Br. y. Wen Körpers bilden. Es ist in-
der gewöhnlichen sitzenden Stellung. Nat. Gr. 5 ae
s S =: teressant, dass wir bei (arau-
3 — Kopfende von unten. ab — Einkerbung
an dem Schenkel. Vergr. Vol. Faussek gez. sius. eine morphologische,
speziell für diese Stellung
bestimmte Einrichtung vorfinden, denn nicht anders als eine solche
kann die an den Femora der Vorderbeine vorhandene tiefe Einkerbung
verstanden werden, in die bei ausgestreckten Vorderbeinen genau die
Kopfseiten passen (Fig. 1B). Was das Abdomen betrifft, so wird
es bei dieser Stellung auch ganz gerade gehalten oder höchstens
wird sein Hinterende etwas bogenförmig emporgerichtet. In dieser
Lage, ohne selbst mit einem Fuße oder mit einem Fühler zu zucken,
2) Für die naturgetreue Wiedergabe verschiedener Stellungen der Phasmiden
spreche ich meinen besten Dank Herrn Stud. rer, nat. Voldemar Faussek aus!
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. 195
sitzen die Tiere, wenn sie nicht gestört werden, mehrere Stunden
hindurch. Nur dann und wann, nach einer sehr langen Pause, und
meistens ın der Nacht, setzt sich das eine oder das andere Tier,
wahrscheinlich durch Hunger getrieben oder aus anderen, inneren,
schwer zu ermittelnden Gründen, in Bewegung. Dabei wird dieses
„Sich-ın-Bewegung-setzen“ auch sehr charakteristisch ausgeführt.
Das Tier beginnt zuerst sich auf seinen langen stelzenartigen Beinen
in der Seitenrichtung hin und her in raschem Tempo zu schaukeln,
als ob es seine Beine elastischer und mehr geeignet zum Gange
machen wollte und nur nachdem eine Zeitlang diese „Vorübung*
ausgeführt wird, getraut sich das Tier seinen Beinen und läuft
oder — was wohl öfter geschieht — geht ruhig fort. Von OÖ. Meissner
wird dieses Hin- und Herschaukeln für „ein Mittel, um sich vor
Feinden zu schützen und diese zu schrecken“ (l. c., p. 88) gehalten,
ich finde aber keine Anhaltspunkte zu solcher Annahme und glaube,
dass solche Bewegungen kaum jemanden erschrecken könnten, —
eher könnte man annehmen, dass sie für das Tier ungünstig sınd,
da sie es seinen Feinden bemerkbarer machen. Es scheint mir
natürlicher, diese Bewegungen als wirkliche Vorübung der Mus-
keln nach einer manchmal sehr lange währenden Starrheit der-
selben und vor ihrer zweckmäßigen und zielbewussten Anwendung
zu deuten.
Bei oberflächlicher Beobachtung wird wohl von jedem die
sitzende Stellung der Phasmiden für die gewöhnliche, einem be-
liebigen Tiere — sobald es nicht gestört und nicht beschäftigt
ist — eigene Ruhestellung angenommen. Es kann wohl eine solche
Stellung auch als eine Schlafstellung angesehen werden, dass man
aber in ihr, oder noch mehr in der liegenden (s. unten) Stellung
eine „Schreckstellung“ ersehen könnte, wie das O. Meissner
voraussetzt (l. c., p. 61), scheint mir auch ganz unannehmbar zu
sein, — wie und wen könnte eine solche Stellung, bei der das Tier
„sich tot stellt“ und „in der Tat einem Ast oder Stengel ziemlich,
oft täuschend ähnlich ist* (©. Meissner, ibid.), erschrecken ?
Es genügen aber schon wenige und dabei ganz primitive und
leicht ausführbare Experimente, um sich zu überzeugen, dass die
Sache hier nicht so einfach ist, wie es auf den ersten Blick zu sein
scheint und dass der Zustand des ruhenden Carausius nicht anders
als kataleptisch genannt werden muss.
In der Tat, wenn man einem so ruhig sitzenden Tiere vor-
sichtig unter dem Kopf eine Pinzette einführt und damit den Kopf
nach oben schiebt, so dass er zusammen mit Pro- und Mesothorax
etwa einen Winkel von 40—45° mit dem Metathorax und Abdomen
ausmacht, so behält das Tier diese unnatürliche und schwierige
Positur stundenlang. Auch kann man mit derselben Pinzette die
Vorderbeine und Antennen auseinander nehmen und weit aufspreizen
196 Schmidt, Katalepsie der Phasmiden.
(Fig. 2) — das Resultat ıst dasselbe. Sodann kann man das Tier
umwerfen — dann liegt es bewegungslos auf dem Boden des Ge-
fäßes mit weit aufgespreizten Beinen, die genau dieselbe Stellung
behalten, die sie auf der Glasoberfläche hatten. Besonders seltsam
ıst die Erscheinung, wenn eine ganze Masse auf der Wand sitzender
Carausius auf einmal umgeworfen wird — dann liegen sie da wie
ein Haufen leichenstarrer Kadaver, die dieselbe Stellung behalten,
die sie beim Sitzen vorzeigten. Öfters nehmen sie aber beim Fallen
Fig. 2. Carausius in der kataleptischen Stellung mit aufgespreizten Vorderbeinen.
Nat. Gr. Vol. Faussek gez.
Fig. 3. Carausius in der liegenden kataleptischen Stellung, von der Seite.
auch eine andere Positur (Fig. 3): die Vorderbeine zusammen mit
den Fühlern werden nach vorne ausgestreckt, das zweite Beinpaar
wird ebenfalls ausgestreckt, nach vorne gerichtet?) und dicht an
den Körper gedrückt, das dritte Beinpaar wird im gestreckten Zu-
stande nach hinten gerichtet und auch an den Körper gelegt (die
Tibiae stehen etwas vom Abdomen ab). Diese Stellung kann wohl
als die Stellung der vollkommensten Katalepsie und zugleich auch
der vollkommensten Mimikry genannt werden, da einerseits die
Tiere darin unendlich lang ohne geringste Bewegung bleiben können,
andererseits aber sie in diesem Zustande am meisten an die Pflanzen-
stengeln etc. erinnern.
Ein tot und bewegungslos liegendes Tier kann aber wieder auf
die Beine gestellt werden, ohne, wie es scheint, aus seinem kata-
leptischen Zustande zu erwachen. Wenn man vorsichtig vorfährt,
3) Es ist wohl ein lapsus calami, wenn OÖ. Meissner (l. c., p. 61) schreibt,
„mittlere und hintere Beinpaare liegen nach hinten gestreckt“, — das zweite
Beinpaar wird nie nach hinten gerichtet, sondern immer nach vorne.
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. 197
so kann man seine vier hinteren ausgestreckten Beine biegen und
das Tier dann drehen und auf gebogene Beine stellen. Dabei
macht das Tier gewöhnlich einige reflektorische Zuckungen und
stellt sich auf wie auf Fig. 1 abgebildet. Dem stehenden Tiere
können alle möglichen, selbst die unnatürlichsten und schwierigsten
Stellungen aufgezwungen werden. So kann man sehr leicht ein
Bein des zweiten Beinpaares in die Luft heben und das Tier steht
dann stundenlang auf 3 Beinen. Auch kann man das dritte Bein-
paar aufheben und das Tier auf 4 Vorderbeinen stehen lassen. Es
gelang mir sogar manchmal,
das Tier auf 3 Beine der
einen Seite zu stellen, wo-
bei es sich selbstverständ-
lich auch auf das Ende des
Abdomens stützen musste.
Nicht nur die Beine, son-
dern auch die Fühler und
das Abdomen können in
jede beliebige, mechanisch
zulässige Lage gesetzt wer-
den und behalten diese
Lage sehr lang. So kann
man das Abdomen nach
oben umbiegen, so dass
seine Endsegmente etwa 90°
mit dem Horizont aus-
machen, — eine solche
Krümmung bekommt das
Abdomen nie im normalen
Zustande. : Endlich gelang Fig. 4. Auf den Kopf gestellter kataleptischer
es mir, beim stark katalep- (arausius. Nat. Gr. Vol. Faussek gez.
tischen Zustande, die Tiere
auch direkt auf den Kopf zu stellen, wobei sie sich auf die
Antennen und erstes und zweites Beinpaar, oder sogar nur auf die
Antennen und erstes Beinpaar stützten und das Abdomen beinahe
oder ganz perpendikulär zur Tischoberfläche gestellt war (Fig. 4).
Und auch in dieser unglaublichen Stellung konnten sie sehr lange
verweilen, — in einem Versuche stand das Tier in solcher Lage
4!/, Stunden!
Schon aus diesen oberflächlichen Beobachtungen und leicht
auszuführenden Experimenten ersieht man, dass der ruhige Zustand
von Carausius etwas Außergewöhnliches, nicht unmittelbar mit der
Ruhelage der anderen Insekten und Tieren Vergleichbares vorstellt.
Es unterscheidet sich dieser Zustand auch von dem „beweglichen“
Zustande, den man „physiologisch-normal“ nennen müsste, der aber
XXXII. 14
195 Schmidt, Katalepsie der Phasmiden.
bei Carausius eher eine Ausnahme als Regel bildet. In diesen
aktiven Zustand geht das kataleptische Tier bei stärkerer Reizung
über, z. B. wenn man es unsanft mit der Pinzette am hintersten
Bauchsegmente anfasst. Manchmal genügt aber schon ein schwächerer
Reiz, z. B. „erwacht“ das Tier, wenn man es an dem Fühler zupft,
an dem Beine zwickt oder es anhaucht (vgl. ©. Meissner, |]. c.,
p. 87). Wenn das Tier liegt, so springt es dann schnell auf seine
stelzenartigen Beine auf und läuft fort, wenn es steht, so beginnt
es im schnellen Tempo zu wackeln und setzt sich dann auch so-
gleich in Bewegung. In seinem beweglichen Zustande reagiert
Carausius auf alle Reize durch energische Fluchtbewegungen. Wenn
das Tier fällt oder umgeworfen wird, so dreht es sich sogleich
vermittels seiner langen
Beine um und stellt sich
wieder auf. Wenn man es
von hinten mit einer Pin-
zette anfasst und hält, so
macht es die größten An-
strengungen mit allen seinen
6 Beinen, um vorwärts zu
kommen, und ebenso von
vorne, z. B. an den Fühlern
angefasst, zieht es aus allen
Kräften nach hinten. Es
behält auf diese Weise
nichts von der im katalep-
tischen Zustande vorhan-
an
A denen Plastizität und Nach-
Fig. 5. Kataleptischer Zustand der Musken giebigkeit des Organısmus
von (arausıus. —idaslier zeigt ım Gegen-
teil gut ausgeprägte Willens-
akte, oder wenigstens komplizierte und har usste Reflexerschei-
nungen vor.
Wenn schon solehe oberflächliche Beobachtungen uns eine große
Ähnlichkeit der im Ruhestadium bei Carausius sich vorzeigenden
Erscheinungen mit der Katalepsie des Menschen und der höheren
Tiere erweisen, so zeigt uns ein näheres Eingehen in die Einzel-
heiten der Erscheinungen diese Übereinstimmung noch vollständiger.
In den Extremitäten des kataleptischen Tieres scheinen die
Muskeln gespannt zu sein; die Femora und Tibia der Beine z. B.
sind unter einem bestimmten Winkel zueinander gestellt und es
muss eine gewisse Kraft angewandt werden, um diesen Winkel zu
verändern, — dann aber behält das Glied auch wieder die gegebene
Lage. Wenn das Tier vertikal an der Glaswand sitzt (Fig. 5 A),
wobei Femor und Tibia seines Vorderfußes unter Winkel a zu-
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. 199
einander stehen und man die Kraft in Punkt « anbringt (z. B. hier
mit der Pinzette leicht drückt), so dreht sich die ganze Extremität
in dem Hüftgelenke und nimmt die mit Punkten angedeutete Stel-
lung, bei welcher Winkel « aber unverändert bleibt. Um diesen
Winkel kleiner zu machen, muss man etwas stärker (Fig. 55) ım
Punkt b ın der Richtung des Pfeiles drücken, dann geschieht eine
Biegung im femoro-tibialen Gelenke und Winkel a wird zu Winkel £.
Auch kann die Biegung im Gelenke keinenfalls eine gewisse Grenze
überschreiten. Versuchen wir z. B., dieselbe Extremität aus der
Stellung a Fig. 6 durch den Druck mit der Pinzette in die punktierte
Lage zu bringen, so gelingt es uns nicht, — durch eine federnde
Bewegung schnellt das Bein wieder zurück ın dieselbe Lage «a.
ü
a - ITS SIE |
Sara 2
Er Ne ae
Fig. 6. Kataleptiseher Zustand der Muskeln Fig. 7. Spannung der Antennen-
von Carausius. muskeln von (arausius.
Selbst die Muskeln der Fühler sind gespannt, und wenn man ver-
suchen würde, die ausgestreckte Antenne zu biegen, so wie es auf
Fig. 7 durch Punktierlinie angedeutet ıst, so streckt sich nach dem
Aufhören des Druckes die Antenne wieder ganz gerade aus.
Die Muskeln sind also für die Dauer gespannt, diese Spannung
ist aber nicht übergroß, wie bei Tetanus, sie ist mittelmäßig und
kann durch die Anwendung eines etwas stärkeren Druckes über-
wunden werden, und dabei bleiben die von den Muskeln dirigierten
Glieder in derselben Lage, die man ihnen aufgezwungen hat (selbst-
verständlich, wenn man nicht gewisse, durch die Elastizität der
Muskeln und Bänder gegebene Grenze überschreitet). Die Muskeln
sind also plastisch und nachgiebig.
Gerade diese Eigenschaften der Muskel sind aber für die
Katalepsie des Menschen und der höheren Tiere (Hühner, Kaninchen,
Frosch) charakteristisch. So finden wir eine folgende Definition
14*
ID Schmidt, Katalepsie der Phasmiden.
des kataleptischen Zustandes der Muskel bei Charles Richet‘):
„Le muscle catalepsie est... faiblement clastique, car un faible
effort l’&carte de sa position primitive, et surtout incompletement
elastique, car une fois &carte de sa position originelle, il n’y revient
plus et garde indefinement la meme position. De meme qu’un
morceau de cire ou de beurre, dans laquel on a trac& une empreinte,
la conserve sans reprendre son 6&tat premier, de m@me le muscle
cataleptique demeure modifie par le fait de l'effort qu’on a exerce
sur lui.“ Der tetanisierte Muskel unterscheidet sich von dem kata-
leptischen nach Charles Richet durch folgende Züge: „En somme
l’ötat cataleptique du muscle est une contracture imparfaite.
Le tetanique et le cataleptique se ressemble beaucoup. Chez l’un
et chez l’autre la volont& ne peut .pas faire contracter le muscle;
chez !’un et chez l’autre le muscle n’est pas reläch6; et ıln'ya
entre eux qu’une differance, c’est que chez la cataleptique la con-
tracture est moder6e, pouvant &tre vaincue par les plus faibles exci-
tations mecaniques, tandıs que chez le tetanıque la contracture est
violante et resiste A tous les efforts.“ Der Unterschied zwischen
Tetanus (Starrkrampf) und Katalepsie ist also eher quantitativ als
qualitativ, — die Katalepsie ist unvollständiger Tetanus; die Grenze
zwischen beiden Erscheinungen kann aber doch leicht gezogen
werden: in einem Falle kann die durch den Tetanus der Muskeln
angenommene Lage der Glieder entweder gar nicht oder nur mit
Verletzung der Muskeln und Bänder verändert werden, in dem
anderen Falle dagegen sınd die Muskeln plastisch wie Wachs — woher
auch der kataleptische Zustand der Muskeln von den Physiologen
früherer Zeiten als flexibilitas cerea definiert wurde (Ch.
Michheit, .l.c.).
Nichts kann aber wohl besser unter diese Definition passen als
die Erscheinungen an dem kataleptischen Carausius. Wenn man
ein solches Tier vor sıch hat, so bekommt man den Eindruck, dass
es aus Wachs und weichen Drähten besteht, — es kann tatsächlich
jede beliebige Lage und Stellung einnehmen, die nur aus rein
mechanischen Gründen zulässig ist.
Die flexıbilitas cerea der Muskeln aber stellt nur eins von
den Merkmalen vor, die den kataleptischen Zustand charakterisieren,
— es gibt deren noch einige und auch diese sind unseren Tieren
eigen. So bemerkt Ch. Richet in dem zitierten Artikel weiter
„notons tout d’abord l’absence de fatigue: on sait que les con-
tractures (also Tetanuserscheinungen) les plus violentes et les
plus persistantes ne determinent aucune sensation de fatigue, de
sorte que pendant longtemps, plusieurs heures, plusieurs jours,
plusieurs mois me&me, .un muscle restera sans s’öpuiser et sans
4) Dietionnaire de Physiologie, v. II, 1897, p. 498—499.
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. 201
fatıguer le sujet, vıolement contracture. Il en est tout A fait de
meme pour le muscle des cataleptiques. Malgr& les positions les
plus invraısemblables et les plus fatigantes nul sentiment de fatigue,
nul tremblement.“ Dasselbe beobachten wir aber auch bei Phas-
miden: wir können zwar keine Schlüsse über „sentiment de fatigue“
ziehen, können aber dafür auch bestätigen, dass die Tiere, ohne
selbst zu zittern, stundenlang (wenn ungestört) in den denkbar un-
bequemsten und schwierigsten Stellungen verbleiben können. Dass
sie dabei nicht müde werden, erhellt daraus, dass nach Beendigung
des kataleptischen Zustandes die Tiere ebenso schnell und munter
laufen können wie zuvor.
Sodann charakterisiert sich die Katalepsie beim Menschen
durch mehr oder weniger ausgeprägte Unempfindlichkeit
(„anesthesie* nach Ch. Richet), — ein kataleptisches Subjekt
kann man stechen, schneiden, sogar anbrennen, ohne dass es
etwas davon fühlt. Genau eine solche Unempfindlichkeit ist aber
den Phasmiden eigen und ist bei ıhnen sogar bis zum Extremen
entwickelt.
Ich nehme einen sich im kataleptischen Zustande befindenden
jungen 5—6 cm großen Carausius und gebe ihm die charakte-
ristische auf Fig. 2 abgebildete Stellung mit aufgespreizten Beinen.
Sobald das Tier sich vollständig ruhig hält und nicht mehr auf
seinen Füßen wackelt (das Wackeln ist ein Zeichen, dass die Kata-
lepsie nicht vollständig ist), schneide ich momentan, mit einer
scharfen Schere, einen Teil, etwa !/, seiner Fühler ab, — manchmal
zuckt das Tier ein wenig (Resultat des Choks), bleibt aber stehen und
rührt sich nicht von der Stelle, verändert auch nicht im geringsten
die ihm aufgezwungene Stellung. Nach einer Pause schneide ich
ihm noch !/, der Fühler ab — das Resultat ist dasselbe. Sodann
schneide ich ihm die Fühler vollständig ab und beginne dann stück-
weise die Vorderfüße abzuschneiden, — das Tier blutet, — kleine
Tröpfehen seines grünen Blutes erscheinen an den Schnittstellen —
bleibt aber wie verzaubert stehen. Wenn man genug vorsichtig
verfährt und die Katalepsie vollständig ist, kann man ein Glied
nach dem anderen an beiden Vorderbeinen abschneiden und das
verstümmelte Tier behält immer dieselbe Lage. Ich habe gewagt
ein noch unglaublicheres Experiment zu versuchen: ich schnitt dem
Tiere einen Teil seines Abdomens ab! Das Resultat war das-
selbe — eine kleine Zuckung als Folge des Choks und das Tier be-
hält dieselbe Lage ohne sich zu rühren, es scheint seinen Verlust
gar nicht zu bemerken, nicht zu fühlen! Ich schnitt in kurzen
Pausen stückweise einen Ring nach dem andern ab — immer das-
selbe Resultat! Es genügte aber, das Tier mit der Pinzette an
dem Reste seines Abdomens zu zupfen, um es von seiner Kata-
lepsie erwachen zu lassen, und dann lief es fort, indem es zwar
202 Schmidt, Katalepsie der Phasmiden.
auch durch sein Betragen weder irgendwelche Schmerzen noch
Unbehaglichkeit offenbarte.
Durch diese Experimente wird erwiesen, dass die Empfindlich-
keit des kataleptischen Carausius ungemein gering ist, wahr-
scheinlich bedeutend mehr herabgesetzt als beim kataleptischen
Wirbeltiere°),
Es scheint mir durch diese Versuche die Analogie der Erschei-
nungen des Ruhezustandes von Carausius mit den Erscheinungen
des kataleptischen Zustandes des Menschen und der Wirbeltiere
in solchem Grade erwiesen zu sein, dass man mit vollem Rechte
diese Erscheinungen unter dieselbe Kategorie der Katalepsie
bringen kann. Merkwürdigerweise findet diese Analogie Unter-
stützung noch ın einem eklatanten Experimente, welches vollständig
Fig. 8. Spannung der Körpermuskeln von Carausius. Etwas verkl.
Vol. Faussek gez.
mit dem bekannten und wohl bei jeder Demonstration der Hypnose
des Menschen aufgeführten Versuche übereinstimmt. Beim letzten
stellt man zwei Stühle auf und einen dritten dazwischen und legt
dann das hypnotisierte Subjekt so auf die Stühle, dass es sich mit
seinem Nacken auf dem einen Stuhle, mit seinen Fersen auf den
anderen stützt; dann beseitigt man den dazwischen stehenden Stuhl
und der kataleptisch ausgestreckte Körper ruht ın dieser Lage un-
begrenzt lange Zeit und kann sogar noch eine beträchtliche auf ıhn
gelegte Last aushalten. Genau dasselbe kann man aber mit jedem
kataleptisch ausgestreckten Carausius unternehmen. Man nimmt
z. B. zwei gleichstarke Bände und legt das Insekt, so wie es auf
Fig. 8 angegeben ıst, dazwischen. Das Tier stützt sich dabei
nur auf die Endspitzen seines ersten Beinpaares und seiner Fühler
5) Es ist mir übrigens nicht bekannt, ob schwerere chirurgische Operationen
an den kataleptischen Wirbeltieren resp. Menschen versucht worden waren.
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden. 203
und auf die Endspitze des Abdomens. Es kann aber in dieser
schwierigen Lage unendlich lange bleiben und sogar eine gewisse
Last (z. B. eine Reihe zusammengebogener Papierstreifen) aushalten.
Wenn man zu viel Papierstreifen darauf legt, so biegt sich das
Tier bogenförmig aus, erwacht aber doch nicht aus seinem hypno-
tischen Schlafe!
Ich muss wohl gestehen, dass durch den Beweis der Ana-
logie der Carausius-Erscheinungen mit der Katalepsie der höheren
Tiere noch wenig gewonnen wird, da die kataleptischen Erschei-
nungen (auch bei Arthropoden schon bekannt, z. B. beim Fluss-
krebs) selbst noch wenig erforscht sind und ein ungelöstes Rätsel
vorstellen.
Es wäre wohl bedeutend wichtiger, zu erfahren, an welche
Teile des Organismus diese kataleptischen Erscheinungen gebunden
sind, in welcher Beziehung sie zu anderen Nervenerscheinungen
stehen, durch welche äußere Reize sie hervorgerufen werden, welchen
biologischen Wert sie haben und wie sie genetisch aufzufassen
sind? Ich stehe diesen Fragen gegenüber noch ganz im Anfange
der von mir unternommenen Forschung, kann aber doch, wie mir
scheint, einige interessante und meines Wissens noch von niemandem
beobachtete Tatsachen mitteilen.
Ich nehme einen kataleptischen, mit aufgespreizten Vorderbeinen
stehenden (arausius und, sobald die Katalepsie mir vollständig zu
sein scheint, trenne durch einen raschen Schnitt seinen Kopf, Pro-
thorax und die vordere Hälfte des Mesothorax von dem übrigen
Körper ab. Der Körper bleibt auf 4 Beinen stehen, als ob nichts
geschehen wäre, das Kopfstück fällt und behält auch die Stellung,
die es gehabt hatte, d. h. die Beine bleiben aufgespreizt, die Fühler
nach vorne gerichtet. Nach einigen Minuten werden aber die Beine
des Hinterstückes lahm und können die Last des Körpers nicht
mehr tragen. — Der Rumpf legt sich auf den Tisch, sonst bleiben
aber die Beine in derselben Stellung wie früher. Wenn man aber
Jetzt den Zustand der Beinmuskeln untersucht, so sieht man so-
gleich, dass von der „flexibilitas cerea“ nichts geblieben
ist! Das Hinterstück ist zu eimem höchst empfindlichen reflek-
torıschen Apparate geworden. Sobald man einen Fuß mit der Pin-
zette anrührt, zuckt er und zucken meistens auch die anderen Beine;
wenn man das Abdomen an der Endspitze mit Pinzette anfasst, so
biegt es sich bogenförmig um und das dritte Beinpaar klammert
sich um die Pinzette, wie wenn das Tier am Leben wäre. Die
kataleptischen Erscheinungen aber sind spurlos verschwunden
und nie gelingt es, sie wieder hervorzurufen; dagegen scheinen oft
einige Muskeln tetanisiert zu sein, da die Beine beim Anfassen öfters
im Hüftgelenke abbrechen, — es ist eine Art künstliche Autotomie
entstanden, die bei normalen Tieren, trotz ihrer großen Regene-
204 Schmidt, Katalepsie der Phasmiden.
rationsfähigkeit, von mir niemals beobachtet wurde‘). In Ruhe
gelassen steht das Hinterstück bewegungslos auf seinen 4 Beinen
und macht nur dann und wann schwache Bewegungen, die wahr-
scheinlich durch innere Reizung des Nervensystems von der Blu-
tung und Austrocknung hervorgerufen werden.
Es zeichnet sich überhaupt Carausius durch eine ungemein
große Lebenszähigkeit aus. Wenn ein Hinterstück vor Blutung
und Austrocknung durch eine vorne gleich an der Schnittfläche
angebrachte Ligatur verhütet wird, so bleibt es mehrere Tage
(einige Hinterstücke lebten bei mir 12 Tage!) ganz in derselben
Lage am Leben und zeigt dieselben Reflexerscheinungen wie gleich
nach der Operation. Erst allmählich und zwar hauptsächlich wegen
Austrocknung und Nahrungsmangel, erlöscht das Leben in diesem
kopflosen Stücke, — ich bin aber überzeugt (und hoffe, dass es mir
später gelingen wird, experimentell zu beweisen), dass, wenn man
es künstlich ernähren und vor Austrocknung schützen könnte, ein
solches Stück bedeutend länger am Leben bleiben und vielleicht
sogar wachsen und sich häuten könnte.
Ganz anders verhält es sich nun mit dem Kopfstücke. Es ist
weniger lebensfähig und durch Ligatur vor Blutung geschützt, bleibt
es nur 2—3 Tage am Leben. Es verhält sich aber vollständig so,
wie wenn es normal an dem Körper befestigt wäre und das einzige,
was es unterscheidet, ist auch eine bedeutend größere Brüchigkeit
der Beine im Hüftgelenke. Die Fähigkeit zur Katalepsie und die
„flexibilitas cerea* wird in dem Kopfstücke erhalten, wenn
auch nicht so scharf ausgeprägt, wie im normalen Tiere. Wahr-
scheinlich wird der kataleptische Zustand von der inneren, durch
die Austrocknung und vielleicht auch durch die von der Operation
bedingte Reizung gestört. Jedoch kann man oft beobachten, dass
das Kopfstück stundenlang bewegungslos mit ausgestreckten Beinen
und Fühlern liegt. Sonst aber gereizt, kann es auch ganz munter
mit Hilfe seines Beinpaares herumspazieren, wobei es vollkommen
dieselben Bewegungen ausführt wie in normalen Verhältnissen.
Diese Experimente habe ich mehrmals wiederholt und stets
dieselben Resultate erzielt. Es fragt sich nun, was für Schlüsse
daraus gezogen werden können? Der Unterschied im Verhalten
der beiden Stücke den kataleptischen Erscheinungen gegenüber
kann, wie es scheint, nur dadurch erklärt werden, dass die Fähig-
6) O. Meissner (l. e., p. 60) konnte die Autotomie auch niemals direkt be-
obachten, setzt aber ihre Möglichkeit voraus, da die Beine immer an derselben
Stelle abgebrochen oder abgebissen sind. Auch nach O. Meissner verursacht „der
bloße Reiz durch Anfassen. Festhalten, Ziehen und Kneifen eines Beines noch keine
Autotomie“, — er vermutet aber, dass kräftige Bisse es tun. Nach meinen Beob-
achtungen autotomieren aber die ganz kleinen eben ausgeschlüpften Carausius sehr
leicht ihre Vorderbeine beim unsanften Anfassen mit der Pinzette.
Schniidt, Katalepsie der Phasmiden. 205
keit zur Katalepsie von den Kopfganglien’) abhängig ist.
Das Schwinden der Fähigkeit zur Katalepsie im Hinterstücke nach
Durchschneidung des Bauchstranges beweist, dass die Katalepsie
nicht durch einen besonderen, von der Umgebung (etwa von der
Zusammensetzung des Blutes) abhängigen Zustand der Nerven und
Muskeln bedingt wird, sondern von den Kopfganglien ausgeht und
wahrscheinlich eine besondere Art Nervenerregung‘°) vorstellt.
Diese spezifische Art Nervenerregung wird durch uns unbekannte
innere Prozesse an den Zentralorganen des Nervensystems hervor-
gerufen und wird sodann durch Vermittelung der Leitungsbahnen
des Bauchnervenstranges auf das ganze Nervensystem (wahrschein-
lich mit Ausschluss des sympathischen) übergeleitet. Sie ruft überall
eine vollkommene Depression der reflektorischen Tätigkeit, eine
Depression der Empfindlichkeit und einen besonderen, nahezu Tetanus-
zustand der Muskelkontraktion, hervor. Ebendiese sämtlichen Resul-
tate der spezifischen Nervenerregung werden von uns „Katalepsie“
genannt®). Bei Läsion des Zusammenhanges der Zentraluerven-
organe und des Bauchstranges schwindet auch die Möglichkeit des
Auftretens der Katalepsıe.
Es fragt sich nun, wodurch diese spezifische Nervenerregung ein-
geleitet wird? Soweit meine Beobachtungen bis jetzt ausreichen, kann
man keinen Zusammenhang zwischen den äußeren Fak-
toren und dem Übergange der Phasmiden zum katalep-
tischen Zustandefeststellen. Wohl möglich, dass weitere darauf
gerichtete Studien auch dieses Gebiet etwas aufklären werden, vorläufig
konnte ich aber weder einen festen Zusammenhang zwischen dem Eın-
7) Das erste Bauchganglion des Kopfstückes spielt dabei natürlich keine Rolle,
da, wenn man das Tier auch einfach dekapitiert, das Resultat ganz gleich bleibt;
ich zog aber gewöhnlich vor, den Mesothorax zu durchschneiden, um das Verhalten
des Kopfes näher betrachten zu können.
8) Beim Menschen wird die Katalepsie von dem zitierten berühmten franzö-
sischen Physiologen als ‚une perversion de l’innervation volontaire‘“ aufgefasst.
Weiter sagt Ch. Richet: „nous devons en effet concevoir Je mouvement musculaire
normal comme &tant determine par cette force inconnue, ou plutöt connue par la
seule conscience, que nous appelons la volonte; si cette volonte vient & faiblir,
elle ne pourra plus ätre mise en jeu par les ineitations psychiques de la m@moire
et de l’association des idees; elle aura b&soin pour s’exercer des incitations presantes
fournies par le toucher, la vue on la sensibilit@ museulaire.“ Ob wir „la volonte“
auch bei den Insekten anzunehmen haben, scheint mir aber jedenfalls noch fraglich
zu sein.
9) Meine Auffassung der Katalepsie von Carausius liegt also derjenigen von
Verworn nahe. Es wird von Verworn und seiner Schule (vgl. Symansky,
Pflüg. Arch. v. 148, 1912, p. 111ff.) die „sogenannte Hypnose der Tiere“ als
„tonischer Reflex‘ aufgefasst. Ich finde aber bis jetzt keine Anhaltspunkte, die
Carausius-Erscheinungen als „Reflexe“ aufzufassen, da ich, wie weiter auseinander-
gesetzt ist, keine äußere Reize entdecken kann, die die Tiere in diesen kataleptischen
Zustand versetzen. Vorläufig wird es also vorsichtiger sein, bloß von einer spezi-
fischen Nervenerregung zu reden.
206 Schmidt, Katalepsie der Phasmiden.
treten der Katalepsie und irgendeinem mechanischen oder chemischen
Vorgange in der Umgebung konstatieren, noch künstlich diesen Zu-
stand bei einem sıch im beweglichen Zustande befindenden Carausius
hervorrufen. Ich habe mehrmals solche aktive Tiere durch zeit-
weiliges Fixieren'°®) in der einen oder in der anderen Stellung, durch
leichtes Streichen, durch das Legen auf den Rücken etc. zur Kata-
lepsie zu bringen versucht, stets aber ohne Erfolg. Die Katalepsie
entsteht augenscheinlich nicht aus äußeren, sondern aus uns unbe-
kannten inneren Gründen. Die Vorbedingung ist nur vollständige
Ruhe und Abwesenheit der äußeren Störungen. Wenn man ein
aktıves Tier fortwährend beunruhigt, verfällt es gar nicht ın den
kataleptischen Zustand. Sobald das Tier aber keine besondere
äußere Reize erfährt (und auch vielleicht keine innere, wie z. B.
Hunger), steht es nach einigem Wandern endlich still, wackelt eine
Zeitlang auf seinen Stelzenbeinen, streckt meistens seine Vorder-
beine mit den Antennen zusammen nach vorne aus und wird be-
wegungslos — die Katalepsie ist eingetreten und man kann jetzt
dem Tiere jede beliebige Stellung aufzwingen.
Um in Zukunft den Missverständnissen zu entgehen, würde ich
vorschlagen, die Carausius-Erscheinungen den anderen Fällen der
Katalepsie bei den Tieren als Autokatalepsie gegenüberzustellen.
Selbstverständlich steht die Erscheinung der Katalepsie
der Phasmiden nicht ganz isoliert im Tierreiche da. Sie
kann mit vielen anderen — leider ebensowenig erforschten Erschei-
nungen — in Zusammenhang gebracht werden, so vor allen Dingen
mit der Erscheinung des „Sichtotstellens“ mehrerer Insekten (sogar
ganzer Insektenfamilien) und anderer Tiere. Der Zusammenhang
ist desto näher, als ein kataleptischer umgefallener und mit ausge-
streckten Beinen daliegender Carausius auch als ein „sich tot
stellendes Tier“ aufgefasst werden kann. Die Erscheinung des
„Sichtotstellens“ erinnert sehr (nicht nur der biologischen Bedeu-
tung nach, sondern auch äußerlich) an die Katalepsie, es ist aber
bis jetzt, wie es scheint, in dieser Richtung beinahe unerforscht '').
Sehr nahe an die Katalepsie sind wahrscheinlich auch die anderen
Fälle der zeitweise auftretenden und mit Mimikry verbundenen Un-
beweglichkeit der Tiere — z. B. bei den Spannerraupen, die den
10) Beim Flusskrebse führt ein solches Fixieren bekanntlich zur vollständigen
Katalepsie.
11) Die einzige experimentelle Arbeit, die sich auf diese interessante Er-
scheinung bezieht, ist, meines Wissens, die von Holmes („Death-feigning in
Ranatra“, Journ. Comp. Neurol. a Psychol. vol. XVI, 1906). Seine Resultate
differieren in einigen Beziehungen mit den von mir an Carausius erhaltenen bezüg-
lich der Bedeutung des Zentralnervensystems. Nächstens hoffe ich selbst einen
Vergleich mit den Erscheinungen an Ranatra zu veranstalten, wenn es mir nur
gelingen wird, diese hier nicht vorkommenden Insekten von Südrussland zu beziehen.
Tas
Schmidt, Katalepsie der Phasmiden, 207
Baumästchen nachahmen — aber auch diese Fälle scheinen experi-
mentell nicht näher untersucht zu sein.
Endlich hat die Katalepsıe gewiss auch einige und vielleicht
sogar nahe Beziehungen zum normalen Schlafe und Winter- (resp.
Sommer-) Schlafe der Insekten. Diese Erscheinungen aber haben bis
jetzt auch sehr werig Aufmerksamkeit der Naturforscher auf sich
gelenkt und besonders von unserem Standpunkte aus bleiben sie
vorläufig ganz unaufgeklärt. Es ist aber sehr leicht möglich, dass
es sich bei näherer Untersuchung erweisen wird, dass der Schlaf
der Insekten öfters in die Katalepsie übergeht oder sogar direkt
vom kataleptischen Charakter ist.
Der biologische Wert und die Bedeutung der Katalepsie
der Phasmiden ist wohl nicht schwer zu begreifen. Die Organi-
sation dieser Insekten ist für die bis zum Extremen entwickelte
Mimikry angepasst. Ihre äußere Körperform, ihre Färbung, ihre
vollständige Flügellosigkeit — alles ist eingerichtet, um die größt-
mögliche Ähnlichkeit mit den unbeweglichen Pflanzenteilen her-
vorzurufen. Die kataleptische Unbeweglichkeit vom biologischen
Standpunkte aus ıst nichts anderes als eine spezifische An-
passung des Muskel- und Nervensystems an denselben
Zweck. Im Vergleich zur gewöhnlichen Unbeweglichkeit anderer
Tiere bietet die Katalepsie einige Vorteile: erstens wird dabei wahr-
scheinlich an Energie gespart, da die Tiere, wie oben bemerkt, im
kataleptischen Zustande keine Müdigkeit vorzeigen, zweitens werden
dabei die reflektorischen Bewegungen unterdrückt, der Körper wird
plastisch wie Wachs, und die äußeren mechanischen Einflüsse,
die auf ıhn wirken, rufen in ihm keine heftigen Bewegungen hervor,
die das Tier bemerkbar machen könnten; wenn z. B. ein sich im
kataleptischen Zustande befindendes Insekt durch einen Windhauch
oder durch ein fallendes Blatt ete. aus seiner primären Lage ge-
bracht wird, so zuckt es nicht sogleich zurück, wie jedes andere
lebende Wesen gemacht hätte, sondern bleibt in dieser neuen Lage
unbeweglich stehen. Dadurch steigt die Ähnlichkeit mit den unbe-
lebten Gegenständen bis aufs Äußerste, — und dies ist gewiss
auch der Zweck dieser Einrichtung!
Jedenfalls ist diese Anpassung eine von den interessantesten
und seltsamsten die wir kennen, da hier nicht eine morphologische,
sondern eine physiologische Einrichtung ausgenützt wird, und zwar
eine solche, die wir bis jetzt nur in künstlichen, vom Menschen ge-
schaffenen Bedingungen kannten. Es ist, wie mir scheint, der erste
Fall der normalen, regulären und von den inneren Gründen
bedingten Katalepsie im Tierreiche!
St. Petersburg, 15. Januar 1913.
I0S Mola, Nuovi ospiti di uccelli.
Nuovi ospiti di uccelli
contributo al genere Hymenolepis
nota
del Dottor Pasquale Mola.
(Mit einer lithographischen Tafel.)
Il genere Hymenolepis, creato dal Weiland nel 1858, & rap-
presentato da un numero considerevole dı specie; riesce per cio
diffieile allo studioso la sistematica dı questo genere.
In seguito esso fu diviso ın due sotto-generi: Hymenolepis s. str.
e Drepanıdotaenia.
Il genere Drepanidotaenia era stato creato dal Bailliet per
avere esso riscontrati in alcune specie dei caratteri non comuni a
tutte le Hymenolepis e talı da poter, secondo lui, costituire un
genere nuovo che sı distinguesse dall’ Hymenolepıis.
Tale genere perö fu ammesso come un sotto-genere e fu accettato,
forse, per districare alquanto il caos in cui si trovava lo studioso.
Poiche ı caratterı che sı attrıbuivano a questo nuovo sotto-
genere non avevano tale forza da obbligare a scindere ıl genere
Hymenolepis; tanto piü che, anzı questa divisione, a parer mio,
creö maggior confusione. Oggidi le Drepanidotaenie sono incor-
porate nelle Hymenbolepis.
Pit tardı dı nuovo il genere Hymenolepis subi una suddivisione,
c1o@: Hymenolepis s. str. ed Echinocotyle, Blanchard.
I caratterı dı quest’ultimo sottogenere sono: „Arten mit 10 Haken
am Rostellum. Die Saugnäpfe groß mit feinen Häkchen am Rande
und ın der Mitte. Immer ein Sacculus accessorius.“ Quanto valore
abbıa il sottogenere Echinocotyle stabilito nel 1891 con I’E. rosseteri
Bl. non & mio compito discutere, perch@ divagherei dall’argomento
che mı sono prefisso; solo ora lo accetto per stabilire a quale
sottogenere debbono ascriversi le specie in esame.
Dall’esame, che qui appresso descriverö, sono venuto nella
convinzione che i cestodi, da me riuvenuti, appartengono al sotto-
genere Hymenolepis e che, per caratteri specificı non riscontrabili
in nessuna delle moltepliei specie finora conosciute, essi costi-
tuiscono Specie nuove.
I rarı esempları, che posseggo, furono, fissati con soluzione
satura dı sublimato corrosivo e le preparazioni sono state colorate
con carminio allumico, che mi ha dato dei buoni risultatı.
Premetto intanto che gli uccelli in cui rinvenni i cestodi in
parola non sono nidiacı in Sardegna, ma la loro distribuzione
geografica € anzı ben lungi dal luogo dı cattura. Sono uccelli
orientaliı che viıvono nell’Asıa: ıl Pterochdurus alchatus (Linn.)
nella Palestina, nell’Asıa centrale e nel nordovest dell’India e la
Netta Rufina (Pallas) nell’Asia centrale, nel nord dell’India e coste
Mola, Nuovi ospiti di uccelli. 909
orientali del Mare Mediterraneo. Il numero dei cestodi che essı
albergano, e che finora sono statı trovatı ın essı, & limitatissimo;
nella Grandula (Pteroclidurus alchatus) € stata trovata la sola taenia
obvelata, Krabbe e nel Fistione turco (Netta rufina) l’ Hymenolepis
lanceolata (Bloch) ıl Diploposthe laevis (Bloch) e la Fimbraria
fasciolaris (Pallas). Come pure devesi aggiungere che nessuna
Hymenolepis finora fu trovata in tutto lordine Columbiformi in
generale e Pteroclidurus alchatus in particolare e che, mentre neglı
Anseriformi abbondano le Hymenolepis, la Netta rufina ne era
affetta da un unica specie.
Devesi quindı considerare fra ı parassıti dell’ordine dei Cblumbi-
formi come prima rappresentante dell’ Hymenolepis la nuova specie
da me trovata, mentre nell’ordine degli Anseriformi la nuova specie
Hymenolepis riggenbachi ne arricchisce la serie.
*
Prima dı fare la diserizione delle nuove specie ringrazio vIiva-
mente il prof. Dott. Otto Fuhrmann dı Neüchatel per avermi
facılıtato lo studio di dette specie con consigli da maestro, onde
rendere agevole e sicura la pubblicazione del presente lavoro.
1. Hymenolepis rosenthali, mıhı.
Considero come appartenente ad una nuova specie dı Hymeno-
lepis aleuni rarı esemplari che rinvenni nell’intestino tenue dı un
Pteroclidurus alchatus (Linn.), Grandula, catturato nell’antunno del
1906 a Porto-torres (Sardegna).
Gli esempları dı tale specie hanno in media una lunghezza di
mm. 97 ed una larghezza dı mm 0,95, si presentano come esili
nastrini, ı quali ristretti anteriormente vanno gradualmente allar-
gandosı, conservando pero sempre ıl medesimo spessore e sono
costituiti da un numero considerevolissimo di proglottidi.
Fo osservare che in un esemplare da me posseduto le ultime
proglottidi vanno restringendosiı man mano. Tale restringimento
comincia a manifestarsı dalla 12° proglottide, contando in senso
inverso. (uesta ultıma parte della catena strobiliare prende ıl
minuscolo aspetto dı una gradinata piliforme. In tutte le ultime
12 proglottidi non sı osservano organı genitali, i qualı solo dalla
133, sempre in ordine ascendente, cominciano a comparire.
In avantı lo strobilo @ sormontato da uno scolice, piuttosto
grande, provvisto dı un lungo e ben distinto collo.
Lo scolice ha forma grossolana dı un pomo da bastone, lieve-
mente piramidato in alto, tetragonale; sulle quattro facce, disposte
in croce, presenta quattro grosse ventose a forma di coppette,
oblique in alto. Misura in lunghezza mm. 0,55 e il suo diametro
trasverso, preso nel mezzo delle ventose, &@ dı mm. 0,4. Ciascuna
ventosa inerme, ellissoidale, circolare solo per compressione, ha il
210 Mola, Nuovi ospiti di uccelli.
diametro maggiore dı mm. 0,14 ed il minore dı mm. 0,11; ı margini
salienti presentano le fibre muscoları radıalı e circolari ben svilup-
pate, le prime perö prendono ıl dominio sulle altre.
Nel centro dello scolice sı osserva un rostello armato da una
serie dı otto uncini, disposti simmetricamente sulla sua parte in-
grossata. 11 rostello si trova immerso nel parenchima ed ha forma
dı clava di cuı la parte ingrossata sta superiormente; la sua
lunghezza & dı mm. 0,63 ed & rivestito da fascı muscoları circoları
ben sviluppati e da fascı muscoları longitudinalı, che glı permettono
dı protendersi 0 d’invaginarsı.
AlFesterno, quando il rostello & invaginato, sı osserva sullo
scolice un piccolo foro circolare, apertura rostellare (?).
Non entro in una minuta anatomia dı questo caratteristico
rostello della specie in esame, perch@ per tale studio dovrei essere
in possesso dı molto materiale, cıö che mi fa difetto.
Solo suppongo, che il sacco rostellare, ıl quale & munito di
potenti fasci muscolari circoları, venga fuorı dall’orifizio rostellare
col contrarsi dı questi fascı e che poi, rılassandosı e contraendosi
le fibre muscoları longitudinali, ıl rostello riprenda il suo abituale
posto.
Tale movimento, da me supposto, potrebbe paragonarsi gros-
solanamente a cıö che avviene nello stantuffo dı una locomotiva.
La divisione delle due distinte porzioni del rostello, che il Diamare
fa a proposito del Dipilidium Trinchesiu, ı0 la condivido, e ritengo (?):
che la fuoriuscita del rostello, nella specie in esame, & possibile
solo alla porzione armata della clava, e non al resto. Questo fatto
verrebbe altresi a spiegare la funzionalitä dı tale organo; cioe& la
uscita solo della porzione necessarıa ed adatta per la fissazione
della specie nell’organo ospitante.
Il rostello &@ armato da otto uncini, ciascuno di questi € lungo
mm. 0,125 ed ha forma di coltello da caccia con manico triangolare
e con lama molto arcuata e sensibilmente assottigliantesi in punta.
La porzione basale sı distingue dall’altra merce un dente triangolare,
puntuto in alto, che lascıa internamente vedere l’orlo che incurvasi
per poı risalire a costituire, direi quası, ıl taglıo della lama.
Gli 8 uncini trovansı attaccati anteriormente al rostello con il
manico in alto e la lama in basso e presentano la convessitä del-
Vuncino all’infuori. Fascı di fibre muscolari, per il movimento degli
uncini, sono attaccati aglı uncini, tanto dall’estremo posteriore
quanto al dente triangolare. Il loro insieme prende Yaspetto di
mandorla.
Un collo abbastanza lungo separa lo scolice dalla catena delle
proglottidi; queste sı presentano, nella loro prima manifestazione,
come rughe trasverse, ciö che fä distinguere la separazione fra collo
e proglottidi.
Mola, Nuovi ospiti di uccelli. 244
Man mano che le rughe trasverse sı rendono pıiü evidenti s’in-
cominciano ad osservare I primi accenni deglı organı genitalı;
poscia, proseguendo nella catena, le nal: assumono la forma
rettangolare, che nelle giovanı ha il diametro longitudinale superiore
a quello delle mature, che al contrario presentano un piccolissimo
diametro longitudinale. Il diametro trasverso perö ın tutte le pro-
glottidi @ sempre dı gran lunga superiore a quello longitudinale:
esso misura nelle proglottidi giovanı mm. 0,60, nelle mature mm. 0,95.
Il numero delle proglottidi & considerevolissimo, tanto che riesce
difficile enumerarle.
Organi genitali.
Dove la segmentazione delle proglottidi @ ben manifesta ıvi
compaiono glı organı genitali; ı primi abbozzı dı talı organı perö
sı hanno in quelle proglottidi, che esternamente, dopo ıl collo, si
manıfestano con rughe trasverse.
Gli organı genitali maschili precedono, nella serie, dı poco
quelli femminilı.
Sul lato sinistro dı ciascuna proglottide ad un terzo della por-
zıone anteriore, sub-marginale della faccıa dorsale, esiste un piccolo
antro genitale che allo esterno sı manıfesta con un foro roton-
deggiante, le cui pareti sono rappresentate dallo invaginamento
della cuticula. Insieme nel fondo di tale antro confluiscono tanto
l’apertura maschile, in basso e ventralmente, quanto quella fem-
minile, in alto e dorsalmente.
Organi maschili.
Il primo accenno dei testicoli si manifesta con piccoli cumuli
rotondeggianti, costituti da cellule rotonde, con membrana e
nucleo. @uesti cumuli vanno man mano accrescendosi e si rıuni-
scono tra di loro in gruppi dı 3—5, ınvolti da una sottile membrana
anısta; in modo che, nelle proglottidi, da me studiate, ı gruppi di
cumuli testicolari si son rıuniti in tre distinti grossi cumuli; questi
sono ı testicoli della specie in parola. Essi occupano la zona cen-
trale di ciascuna proglottide: due sono simmetricamente disposti
alla linea mediana e superiormente a tutti glı altrı organıi genitalı,
Yaltro dei 3 trovasi sempre superiormente al testicolo dı destra,
ventralmente, o molto spostato o lievemente obliquo verso destra.
Da ciascun testicolo ha origine ıl canalıcolo efferente, piuttosto
breve a pareti esilissime. I due efferenti dei testicoli dı destra
confluiscono insieme a quello del testicolo di sinistra, essi sono di
differente lunghezza; l’efferente del testicolo destro situato superior-
mente & piü lungo dı quello del testicolo destro inferiore, l’efferente
del quale invece & uguale ın lunghezza a quello del testicolo di
sinistra.
2, Mola, Nuovi ospiti di uceelli.
Il deferente formato dalla fusione dei tre efferenti ınnanzı
detti con un cammıno ascendente verso sınistra, passa al disotto
della vagina, ventralmente, l’attraversa e, oltrepassatala, sı slarga
a formare la vescicola seminale, poscia sı restringe, oltrepassa ı
dotti escretori, e con cammıno da destra a sinistra penetra nella
tasca del pene, dove aumenta dı calıbro e forma una seconda vesci-
cola seminale o vescicola seminale esterna. Poscıa sı trasforma ın
dotto eiaculatore, ıl quale sbocca all’apice del pene, attraversandolo
per tutta la sua lunghezza.
La vescicola seminale interna ha forma ovoidale, lunga mm. 0,2
larga mm. 0,04; quella esterna ha forma di fiasco ed ha un diametro
trasverso dı mm. 0,025.
Il pene & relativamente lungo e ha in tutta la sua lunghezza
ıl medesimo calıbro; non mi @ dato osservarlo svaginato, neppure
sotto la compressione nei preparatı.
La tasca del pene & piriforme, molto allungata, ed occupa
quasi tutto lintervallo tra l’orlo destro della proglottide e ı dotti
escretori; essa si mantiene parallela alla linea dı demarcazione di
ciascuna proglottidie e trovası nella meta anteriore.
Organi femminili.
Gli organi femminili trovansı, nella specie in esame, situati
nella parte posteriore della proglottide. L’ovario trovası nell’ultimo
quarto posteriore della proglottide e propriamente vicino al margine
posteriore di questa. Esso trovası ventralmente alla vagina ed ha
posteriormente il vitellogeno, lateralmente i dotti escretori e superior-
mente ı testicoli.
L’ovario & rappresentato da due masse irregoları, allungate nel
senso trasversale, nell’insieme piriformi, ristrette medialmente:
occupa la parte centrale del quarto posteriore di ciascuna proglot-
tide. Ciascuna massa risulta costituita da tubiı alquanto lunghi e
larghi, terminanti a fondo cieco, e tra loro convergenti. (Questi
tubi in forma di otre, dı diametro e lunghezza varıa, confluiscono
verso un punto centrale e sono separati glı uni daglı altrı da un
esile membrana.
Ciascun tubo ovarico contiene internamente le cellule uova, a
forma sferica, costitutte da una massa protoplasmatica chiara,
senza struttura definita, e da un nucleo, le qualı sı colorano in-
tensamente.
Le due masse dell’ovarıo convergono in un punto dove ha
inizio l’ovidotto, ıl quale si porta all’utero descrivendo un ansa a
concavitä mediale, e riceve, ad una certa distanza dall’ovarıo lo
sbocco della vagina e poco discosto, in prossimitä delle glandole
del guscio, quello del vitellodutto.
Mola, Nuovi ospiti di uccelli. 5
Dalla massa (ootipo) compatta, l’ovidotto prosegue ıl suo cam-
mino ascendente, disponendosi nel mezzo della faccıa ventrale della
proglottide, e va a metter capo nell’utero, all’altezza quası del
confluire delle due masse ovariche.
La glandola del guscio € piccolissima ed & sıtuata posterior-
mente all’ovario e al vitellogeno nella linea mediana. Essa sı pre-
senta con cellule unicelluları, clavıformi, ben distinte le une dalle
altre da una parete; in ciascuna dı queste cellule si osserva il
protoplasma con scarse granulazıoni colorabili e con il nucleo verso
la parte pıü ingrossata.
Le glandole del vitellogeno trovansı nella linea mediana, verso
sinistra, e posteriormente all’ovarıo. Nelle giovanıssime proglottidi
le glandole del vitellogeno appaiono come un sacco globoso in
immediato contatto con F’ovario; in quelle piü avanzate si osserva
invece che esse sono piü lontane dall’ovario e s’incomineia allora
a vedere delle imperfette divisioni ın lobi. In quelle studiate da
me le glandole del vitellogeno sı presentano come tantı tubi vitellini,
piriformi, a fondo cieco e confluenti verso ıl punto centrale posteriore,
dove con la loro fusione formano un unico dotto, di calıbro
alquanto grosso, ıl vitellodotto. I tubi vitellini hanno un diametro
ed una lunghezza quası uguali e sono nettamente separatı glı uni
daglı altrı da una membrana anista.
Il vitello dotto, appena costituito, sı dirige in alto obliquamente
e dopo un breve percorso sbocca dorsalmente all’ovidotto, nel punto
innanzı detto.
L’utero occupa tutto lo strato mediano, compreso fra i dotti
escretori, e si compone dı una vasta cavıta imperfettamente sud-
divisa in numerose e piccole cellette.
Esso sı sviluppa tardi; ı primi accenni si osservano ad di lä
del 50 articolo 0 poco piü in forma dı una linea di cellule forma-
tricı, dalla parte opposta degli altrı organı genitali. A poco a poco
che le uova vengono immesse dall’ovidotto sı vede l’utero distendere
ed aumentare ıl numero delle cellette, fino a prendere la sua forma
e ad oceupare il posto innanzı detto.
Nel suo completo sviluppo le glandole genitali scompaiono,
come si osserva nella catena delle proglottidı.
In quanto alla struttura istologica Yutero non sı discosta da
quella dell’ovidotto uscente dall’ootipo (?); cio@ & costituito anche
esso da’una membranella esile rivestita esternamente da elementi
celluları ed internamente da un epitelio formato di piecolissime
cellule rotonde.
Lv uova hanno forma piü o meno sferica, ıl guscio & spesso
ed & costituitto da 3 strati: l’esterno e l’interno sono sottili e non
presentano struttura apprezzabile; il medio @ pıü spesso, e presenta
numerose granulazıoni.
XXXI. 15
214 Mola, Nuovi ospiti di uccelli.
La vagina, originata dall’ovidotto nel punto innanzi indicato,
sı volge obliquamente in alto passando dorsalmente all’ovarıo, con
une decorso obliquo da destra verso sinistra.
Seguendo un cammino obliquo ascendente, arrıvata ai pressi
del margine anteriore della proglottide, la vagina sı rivolge verso
il margine laterale sinistro. Oltrepassati i dotti escretori, all’altezza
della tasca del pene con un cammino alquanto arcuato ripiega
moderatamente in basso per sboccare superiormente e dorsalmente
allo sbocco del pene.
Alla sua origine dall’ovidotto, la vagina presenta un calıbro
uniforme, cilindrico, tubulare; poscia incomincia a slargarsi ed a
prendere una forma ovoidale; tutto lo slargamento della vagına
costituisce il ricettacolo seminale, l’asse maggiore del quale misura
in lunghezza mm. 0,15 e l’asse minore mm. 0,035. Questo nelle pro-
glottidi giovanı & ripieno dı spermatozoı.
Indi dai dotti escretori incomincia a restringersi e riprende
un calibro quasi uguale a quello della sua origine, di tal calıbro
sı mantiene fino al suo sbocco.
La struttura di tutta la vagina si presenta assai complessa: un
distinto epitelio non esiste, ma solo un sottile rivestimento euti-
culoide privo di nuclei.
Tale rivestimento cuticuloide internamente & rivestito da un
epitelio (?) ciliare ed esternamente presenta una tunica muscolare
rivestita anch’essa da grosse cellule (glandole vaginali?). Perö per
tutto il decorso della vagina tale struttura non si manifesta con
l'istessa uniformitä; la prima porzione d’essa infatti, cio@ quella
dalla sua origine fino allo slargarsi in ricettacolo seminale, sı pre-
senta con le grosse cellule, dove si osservano bene i nuclei, che
si colorano intensamente, in numero abbastanza rılevante. Mentre
invece sulla porzione vaginale del ricettacolo del seme tali cellule
sono rade, ed invece trovo ben manifesta la tunica muscolare, anzi
direi quasi questa tunica con il sottile rivestimento euticuloide
sembra formi le pareti vaginali del ricettacolo seminale. Ben manı-
festa & la eigliatura nella porzione interna della vagina che va dal
ricettacolo seminale fino al suo sbocco, quivi le ciglia sono lunghe
ed esili e si colorono intensamente; come pure & ben visibile lo
strato della tunica muscolare pieghettata, con numerose cellule
fortemente colorate nei preparati. Questa struttura vaginale nella
specie in esame fä ricordare quella che si riscontra in aleuni cestodi
dei pesci ed io nell’Hymenolepis in parola la trovai abbastanza
interessante.
Riassumendo sı ha:
Uccello ospitante: Pteroclidurus alchatus (Linn.).
Distribuzione geografica dell’ospitante: Sud-ovest dell’Asia, Pale-
stina e nord-ovest dell’India.
Mola, Nuovi öspiti di uccelli.
Luogo e tempo della cattura: Porto Torres (Sardegna) nel-
l’autunno del 1906.
Organo ospitante: intestino tenue.
Uaratteri specifici-Scolice di media grossezza, rostello elaviforme
e armato da otto uncini a forma di coltello da caceia, ventose inermi.
Collo lungo e proglottidi numerosissime, molto pronunziate nel
diametro trasverso. Pori genitali sub-marginali e tutti sul lato
sinistro. Testicoli tre. Organi genitali femminili nella porzione
posteriore della proglottide. Utero saceiforme ed occupante tutta
la parte mediana di ciascuna proglottide. Uova rotonde. Vagina
con ricettacolo seminale molto svilippato e con struttura molto
complessa.
Dedico questa nuova specie in omaggio e riconoscenza al
Dr. J. Rosenthal, professore di fisiologia in Erlangen.
Hymenolepis riggenbachi, mihi.
Quest’altra specie di Hymenolepis che mi aceingo a descrivere
e che io considero nuova, la trovai nell’intestino tenue di una
Netta rufina (Pallas), Fistione turco, catturata a Sorso (Sardegna)
nel giugno del 1908.
Lo strobilo, ristretto anteriormente, va in senso distale gradata-
mente allargandosı; la sua lunghezza & di mm. 30 circa e la larghezza
massima di mm. 0,5 e conta numerosissime proglottidi.
Lo scolice, tetragonale, & lungo eirca mm. 0,4 con un diametro
dı mm. 0,12, ed & provisto di un rostello cilindrico, ben pronunziato,
che misura in media mm. 0,12; superiormente alla cupula terminale
il rostello € cinto da una corona di uncini caratteristici, in numero
dı 36 a 40, che costituiscono l’armatura di questa specie.
Le ventose sono alquanto piccole, semisferiche, diametralmente
opposte e rilevate; esse sono inermi e misurano di diametro mm. 0,02,
Le fibre radıalı sono molto pronunziate e con le fibre circolari
formano un cercine abbastanza saliente a ciascuna ventosa.
La figura 22 fa rilevare chiaramente l’aspetto che ha lo scolice
e ıl relativo rostello.
Gli uneimi dell’armatura hanno ciascuno la forma rappresen-
tata dalla figura 4% io li rassomiglierei al segmento estremo dei
palpı mascellari dei scorpioni, che hanno forma di pinze.
La loro parte basilare € conica, arquata e termina a punta
ottusa; ı due denti, cio@: quello che sı accosta di piü all’asse della
porzione basale, € piüı massiccio, quasi dritto e termina con una
convessitä; l’altro, l’esterno, presenta una convessitä alquanto pro-
nunziata esternamente e termina a punta ed & piü lungo dell’altro.
Ciaseun uncino misura mm. 0,039; la parte basale mm. 0,017, il
dente massiccio mm. 0,010 e Taltro dente l’esterno mm. 0,012. Gli
uncini si trovano sul rostello situati con la parte basilare in alto
15*
916 Mola, Nuovi ospiti di uccelli.
e la convessitä in fuori ei due denti con le punte rivolte posterior-
mente, l’uno, ıl ptü spesso, poggiante sul corpo del rostello, Valtro,
il meno massiccio, con la parte convessa in fuori. Fascı di fibre
muscolari longitudinali vanno ad attaccarsı alla parte piü spessa
dell’uncino in modo che ıl contrarsı dı questi fascı da all’uncino
un movimento a bilanciere. Il dente piü spesso fa da fulero e
l’altro dente costituisce V’altro braccio della bilancıa.
Un lungo collo fa seguito allo scolice; la segmentazione delle
proglottidi si manifesta tardı nello strobilo, ı primi accenni di tale
segmentazione si manifestano come rughe trasverse, e sono appunto
queste che fanno distinguere il collo dalla catena delle proglottidi,
La forma delle proglottidi & la solita delle Hymenolepis, rettango-
lare, col diametro trasverso maggtore dı quello longitudinale, e questa
forma si mantiene uniforme ın tutto lo strobilo, solo ıl diametro
trasverso varia secondo la porzione pi o meno distale dello strobilo,
questo fa si che ıl diametro longitudinale diminuisce in rapporto
inverso della lunghezza. In media sı hanno di lunghezza mm. 0,3
per il diametro trasverso e mm. 0,03 per quello longitudinale.
Il numero delle proglottidi @ abbastanza rilevante negli esem-
pları da me posseduti se ne contano piü di 100.
Organi genitali.
Individualizzatesı le proglottidi, all’esterno sı vedono comparire
in queste gli organi genitali, ı primi abbozzı dei quali sı manı-
festano ın quelle proglottidi che allo esterno presentano delle rughe
trasverse; glı organı maschili dı poco precedono nella formazıone
quelli femminili.
Tanto Fapertura maschile quanto quella femminile sboccano
insieme all’esterno, a metä circa del margine sinistro dı ciascuna
proglottide. Un lieve infossamento delle pareti della proglottide
mostra l’esistenza delle aperture genitali, le quali sono tutte situate
sul lato sinistro delle proglottidı.
Organi maschili.
I testicoli dı solito sono in numero di tre: due di essi si
trovano situati lateralmente in basso, dorsalmente, e non allo
stesso livello, ne disposti simmetricamente alle linea mediana; uno,
il terzo, & situato superiormente a quello laterale dı destra, non
ad esso addossato ma spostato a destra o a sinistra o sulla stessa
linea verticale, sempre pero ventralmente. La loro forma predo-
minante & la sferica, non manca pero quella ellissoide e quella
poliedrica. La loro grandezza varia: in generale i due testicoli,
postero-laterali, sono sempre piü grandi del terzo, il quale non
supera mai in grandezza gli altrı due. I due, postero-laterali, possono
poi essere ’uno pıiü grande dell’altro, anzi raramente sono di eguale
Mola, Nuovi ospiti di uccelli. 2A
grandezza: in aleune proglottidi & pitı grande quello dı sinistra, in
altre quello dı destra.
Il testicolo, latero-sinistro, fuorche@ nelle proglottidi dove man-
cano del tutto i testicoli, @ sempre rappresentato e si mantiene
di solito, salvo cası eccezionali, piü grande degli altrı due.
Il 3° testicolo, antero-latero-destro, & quello che nelle proglottidi,
per la maggior parte dei casi, non & rappresentato; ma quando €
rappresentato la sua posizione topografica cambia spesso: alle volte
lo sı vede addossato dorsalmente all’ovarıo e al vitellogeno, alle
volte lo sı vede molto spostato verso destra dal testicolo latero-
destro, alle volte sı sposta dı molto anteriormente alla proglottide
e soprassiede a tutti gli organı genitali. Il suo volume varıa ed
esso € in rapporto con la mancanza o presenza del testicolo latero-
destro, come pure & in rapporto diretto con la grandezza degli altrı
due testicoli.
Il testicolo latero-destro, secondo testicolo, varıa dı volume e
varia dı posizione topografica mantenendosi sempre perö sul lato
destro della proglottide; quando sı sposta dalla sua posizione nor-
male, cıö avviene lievemente verso sinistra. Esso puö mancare del
tutto, come sı osserva in alcune proglottidi della catena strobiliare.
@Queste importantissime anomalıe che riguardano ı testicoli
innanzı detti non potrebbero avere la loro spiegazione se non venisse
a chiarirle lo sviluppo ontogenetico dei testicoli stessı.
Nelle proglottidi giovanıssime non sı ha nessuno accenno degli
organı genitali: ı primi differenziamenti I troviamo nelle proglottidi
che sı sono individualizzate all’esterno. Questi differenziamenti
testicoları sı presentano come cellule rotonde ben distinte da una
membrana e da un nucleo, raggruppate in determinati campi 0 zone
testicolari; in seguito le cellule di queste zone vengono ad aumen-
tare di numero e direi quasi di volume in modo che si possono osser-
vare dei cumuli celluları dı forma rotondeggiante. Questi cumuli
cellulari nelle proglottidi successive sı vanno man mano acerescendo
ancora e si riuniscono tra loro in gruppi differenti di numero, in-
volti da una sottile membrana anısta. Talı gruppi rappresentano
ı testicoli, che nella specie in esame sono di solito in numero di tre.
Ora se si pensa al primo differenziamento delle cellule testi-
colari, si puö benissimo stabilire che in quelle proglottidi dove non
vi & un accenno del campo 0 zona testicolare li verrä a mancare
il testicolo; cosi pure avvenuto il differenziamento, secondo ıl modo
di raggrupparsi insieme dei cumuli cellulari in un piecolo numero
od in un numero maggiore si ha la grandezza del testicolo, perch&
questa non dipende dalla grandezza delle cellule ma dal numero
dei cumuli raggruppatisi.
Ne & da credere che la mancanza dei testicoli nella specie in
esame provvenga da un atrofizzarsi regressivo del testicolo, perch&
218 Mola, Nuovi ospiti di uccelli.
nei preparati in quelle proglottidiı dove manca 0 mancano 1 testl-
coli non sı nota nessurissima traccıa dı cellule testicoları, ne di
dotti efferenti.
Con piü abbondante materiale avrei potuto avere dei preparatı,
dove sı potesse vedere bene tutto ıl differenziamento istologico
delle cellule formantı ı testicoli, ma ciö mi & stato vietato dalla
scarsezza del materiale.
Da ciascuno dei tre testicoli ha origine un canalıno efferente;
questi sono alquanto lunghi e differenti per lunghezza tra loro,
secondo la posizione dei testicol.
Tutti e tre questi efferenti confluiscono sempre, da tre direzioni
differenti, in un punto solo, dove ha inizio ıl deferente, sıtuato
ventralmente aglı organı genitali femminili. La lunghezza degli
efferenti dipende dalla posızione dei testicoli nella proglottide: si
possono infatti trovare i testicoli piü 0 meno ravvicinati ed allora
i tre efferenti di lunghezza differiscono poco; possono in due testi-
coli, lateralmente disposti, essere discosti ed il 3° superiormente
ravvicinato ed allora sı ha che due efferenti sono presso a pPoco
ugualı in lunghezza e uno disuguale; oppure se ıl 3° &@ di molto
discosto e il testicolo dı sinistra piü ravvicinato, allora sı hanno
tre efferenti differenti in lunghezza; infine se ı due testicoli di
destra sono ugualmente lontanı e ıl sinistro ravvicinato sı hanno
due efferenti eguali e uno disuguale.
Il deferente, sempre ventralmente, si porta con cammıno ascen-
dente-obliquo verso sinistra al dı sopra della metä superiore della
proglottide, ıvi piega ancor pıiü verso sinistra con cammıno flessuoso,
oltrepassa ı dotti escretori ed entra nella piccola tasca del pene,
all’apıce del quale va a sboccare; ıl pene & piccolo e sottile, come
piccola & la tasca del pene ed & piriforme.
Una vescicola seminale esterna riscontrasi lungo ıl percorso
del deferente, essa ha forma globosa e trovası situata mediana-
mente e superiormente a ciascuna proglottide. Misura di dia-
metro mm. 0,019.
La tasca, spostata ventralmente, trovası al di sotto della vagina.
Organi femminili.
In mezzo a ciascuna proglottide si trovano situatı gli abbozzi
degli organi genitali femminili; Y’ovario superiormente, ıl vitellogeno
e la glandola del guscio inferiormente.
Gli esemplari da me posseduti sono giovanıssimi per-tal modo
gli organi femminili non sono sviluppati; si osservano solo gli abbozzi,
che trovansı nel punto innanzı detto.
La vagina & costituita da un lungo tubo che si estende quasi
trasversalmente dal seno genitale fino allo sbocco nell’ovidotto, solo
nel suo inizio s’incurva per risalire e piegarsi verso sinistra, poscia
Mola, Nuovi ospiti di uccelli. 219
il percorso e quası rettilineo. Presenta una dilatazione lungo il
suo percorso che costituisce un giovane ricettacolo del seme,
del resto ıl suo calıbro & quası identico in tutto ıl percorso, che
sı mantiene sempre dorsale e superiormente al dotto deferente ed
alla tasca del pene. Il suo sbocco, in rapporto a quello del pene,
© dorsale e superiore.
Rıassumendo sı ha:
Uccello ospitante: Netta rufina (Pallas).
Distribuzione geografica dell’ospitante: Asıa centrale, India.
Luogo e tempo della cattura: Sorso (Sardegna) nel giugno 1908.
Organo ospitante: intestino tenue.
Caratteri specific: Scolice, tetragonale, piecolo con rostello ben
pronunziato e armato da numero 36—40 uncini, disposti ın un sol
ranco. Uncini a forma di pinze — Ventose inermi — Collo lungo,
numerosissime proglottidi, rettangoları, con diametro trasverso di
molto superiore al diametro longitudinale — Pori genitali marginali
e sul lato sinistro — Testicoli tre dı solito — Vescicola seminale —
Organı femminili (?) — Vagina con ricettacolo seminale.
@uesta nuova specıe la dedico ın omaggio al prof. Dott. E.Riggen-
bach dı Basel
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Verlag von Georg Thieme in Leipzi
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1898.
1598.
1902.
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1819.
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Spiegazione delle figure della tavola.
Scolice dell’ Hymenolepis rosenthali, ingrandito 90 volte, da una prepara-
zione in toto.
Scolice dell’ Hymenolepis riggenbachi, ingrandito 250 volte, da una pre-
parazione in toto.
Uneino del rostello dell’ #7. rosenthali, ingrandito 370 volte.
Uneino del rostello dell’ 7. röggenbachi, ingrandito 1170 volte,
2% Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
Fig. 5. Aspetto di proglottidi della catena dell’ H. riggenbachi, ingrandito 150 volte.
Fig. 6. Proglottidi della catena dell’ 7. riggenbachi, viste dal dorso da una pre-
parazione in toto per compressione ingrandite 250 volte.
Fig. 7. Proglottide della catena dell’ H. rosenthali, vista dal dorso, da una pre-
parazione in toto ingrandita 155 volte.
Lettere comuni a tutte le figure.
at — atrio genitale. ri — ricettacolo seminale.
de — dotti escretori vse — vescicola seminale esterna.
ef = efferenti. vs = vescicola seminale interna.
ov — ovario. t — testicoli.
p = pene. ogf = abbozzi degli organi genitali
ip — tasca del pene. femminili.
v® = ventose. un — uncini.
oa —. vagina. vit — vitellogeno.
Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Victor Jollos.
Der Aufschwung, den die experimentelle Forschung in der
Biologie, vor allem auch für die Fragen der Vererbung und Art-
bildung genommen hat, ist auf dem Gebiete der Protistenkunde
bisher verhältnismäßig wenig zur Geltung gelangt. Zytologische
und entwickelungsgeschichtliche Probleme sind es, die hier durch-
aus noch vorherrschen, und neben ihnen ıst die Zahl der experi-
mentellen Arbeiten gering und noch bescheidener die gewonnenen
gesicherten Ergebnisse.
Der wesentlichste Grund hierfür dürfte in dem häufig beobach-
teten „inkonstanten Verhalten“ der Protisten zu suchen sein, ein
Umstand, der nicht allein zu Widersprüchen in den Angaben ver-
schiedener Autoren führte, sondern der sich auch in den eigenen
Versuchsreihen wohl eines jeden Forschers störend bemerkbar
machte, der längere Zeit eingehender mit Infusorien — dem be-
liebtesten Material für experimentelle Protistenuntersuchungen —
gearbeitet hat.
Auf äußere wie innere Bedingungen lässt sich dieses „inkon-
stante Verhalten“ zurückführen: So ıst eine der wichtigsten Fehler-
quellen schon dadurch gegeben, dass man die Ernährung und damit
auch die chemische Zusammensetzung des umgebenden Mediums
nicht völlig exakt regulieren kann (da ja die meisten Infusorien in erster
Linie Bakterien aufnehmen). Schon minimale Abweichungen in der
Konzentration verschiedener Ionen können aber, wie vor allem auch
aus den Untersuchungen von Enriques und Zweibaum!) hervor-
geht, das Verhalten der Infusorien sehr wesentlich beeinflussen.
1) Enriques et Zweibaum: La conjugaison et la differentiation sexuelle
chez les Infusoires. V. Arch. f. Protistenk., Bd. 26.
Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien. 2923
Zu diesem vorläufig nicht völlıg ausschaltbaren Faktor kommen
nun weitere zwar vermeidbare, aber nur selten vermiedene, die
sich aus der verschiedenen Beschaffenheit der verwandten Infu-
sorien ergeben:
Durch die schönen Arbeiten von Jennings?) ist gezeigt worden,
dass auch bei den Infusorien innerhalb einer systematischen Art
zahlreiche konstant verschiedene Rassen vorhanden sind. Und was
Jennings hauptsächlich für die Größe nachweisen konnte, das gilt,
wie wir noch sehen werden, auch für jedes physiologische Ver-
halten — in welcher Richtung wir es immer genauer untersuchen.
— Für die experimentelle Untersuchung ist aber ferner nicht nur
ein einheitliches, sondern auch ein genau bekanntes Ausgangs-
material nötig. Sein Verhalten muss also zunächst während längerer
Zeit studiert werden, damit man jede Störung in den Kulturen,
besonders beginnende Degeneration, gleich erkennt und berück-
sichtigt. Auch diese bei Versuchen mit höheren Organismen wohl
selbstverständliche Forderung ist bei den Protisten bisher kaum
beachtet worden. —
Verwendet man nun aber einheitliches Material (d. h. „reine
Linien“) von gleichem Zustande und bei möglichst gleichen Kultur-
bedingungen, so kann man in der Tat einigermaßen gleichmäßige
experimentelle Resultate erzielen — vorausgesetzt allerdings noch,
dass man nicht mit vorübergehend, sondern mit längere Zeit — min-
destens 24 Stunden — einwirkenden Faktoren arbeitet.
Gleichmäßig werden die so gewonnenen Ergebnisse innerhalb
der „reinen“ oder sagen wir wohl präziser „Individual“ °)-Linie; bei
den verschiedenen Linien können sie dagegen recht erheblich von-
einander abweichen, und auch mit manchen geläufigen Anschauungen
stimmen sie nicht immer überein.
Dies zeigt sich schon auf dem relativ viel bearbeiteten Gebiete
der Einwirkung verschiedener Temperaturen auf Infusorien, und
zwar speziell auf Paramaecium caudatum, welche Art auch bei allen
folgenden Versuchen als Material diente.
Wohl allgemein wird angenommen, dass Paramaecien bei höheren
Temperaturen kleiner, bei niedrigeren größer werden. Eine plau-
sible Erklärung für ein solches Verhalten ist eigentlich nicht ge-
geben worden: etwaige Veränderungen der Kernplasmarelation
(R. Hertwig) bedürften selbst erst einer Erklärung; und der Hin-
weis auf die Beschleunigung der Teilungsfrequenz bei steigender
Temperatur gemäß der van t’Hoff’schen Regel führt erst recht
nicht weiter. Denn handelt es sich bei der Teilung um chemische
2) Jennings, H.S. and Hargitt, G. T.: Characteristics of the diverse races
of Paramaecium. Journ. of Morphology, vol. 21, 1910.
3) D. h. eine aus einem einzigen Individuum entstandene Linie.
IA Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
Prozesse, so gilt dies von den Wachstumsvorgängen doch sicherlich
nıcht minder.
Tatsächlich ist aber das Verhalten der Paramaecien bei Tem-
peraturveränderungen ein komplizierteres: In dreierlei Weise können
Individuallinien von Paramaecium auf Versetzung in höhere Tem-
peratur reagieren: Die Infusorien werden entweder größer (resp.
behalten ihre Größe ungefähr bei) oder sie werden schnell und
dauernd kleiner; und drittens endlich verkleinern sie sich zunächst,
um aber dann nach einiger Zeit wieder anzuwachsen').
Nur im letzten Falle ließen sich die Kulturen beliebig lange
und ohne Schädigung bei der höheren Temperatur führen. Die
Infusorien der beiden ersten Gruppen gingen dagegen stets über
kurz oder lang ein. Werden also Individuallinien von Paramaecium
bei Versetzung in höhere Temperatur von vornherein größer oder
schnell und ständig kleiner, so ist dies ein Zeichen dafür, dass
die betreffende Linie (unter sonst gleichen Bedingungen) bei der
verwandten höheren Temperatur nicht mehr dauernd lebensfähig
bleibt. Einige Zeit — in meinen Versuchen bis zu 8 Wochen! —
vermag sie freilich mitunter noch weiter zu wachsen — ein Beweis,
wie langsam derartige degenerative Prozesse verlaufen können. —
Bei Versetzung der Paramaecien in niedrigere Temperatur kann
man ein dem vorher beschriebenen reziprokes Verhalten beobachten,
d.h. die Infusorien wachsen entweder rasch und ständig an (und
erweisen sich dann bei der tieferen Temperatur nicht lebensfähig)
oder sie werden nach einer längeren Wachstumsperiode wieder
kleiner. Ein sofortiges Kleinerwerden der Paramaecien bei herab-
gesetzter Temperatur, das dem sofortigen Anwachsen (Fall 1) bei
Versetzung in eine höhere entspräche, wurde dagegen bisher nicht
beobachtet.
All diese Verhältnisse seien noch an einem während längerer
Zeit genauer verfolgten Beispiele im einzelnen belegt:
Die Individuallinie« wurde dauernd bei 19° gehalten und besaß
hierbei unter den angewandten und während der ganzen Beobach-
tungsdauer nicht veränderten Kulturbedingungen eine Durchschnitts-
länge von +1,35 Maßeinheiten?). In 31° versetzt wurde sie zunächst
erheblich kleiner, doch sind während dieser Zeit keine genauen
Messungen vorgenommen worden. Nach 6 Monaten Kultur bei 31°
war ihre Länge aber wiederum 41,28 und blieb nunmehr ziemlich
4) Fast gleichzeitig und völlig unabhängig von mir hat auch Herr V. Weiss
bei Untersuchungen über die Kernplasmarelation ein derartiges Wiederanwachsen
von Paramaecien bei erhöhter Temperatur festgestellt.
5) Gemessen mit Leitz Objektiv” und Zeiss Okularmikrometer (Kompensok. 6).
Es handelt sich um eine sehr kleine Rasse. — Die Breite der Infusorien änderte
sich im gleichen Sinne wie die Länge und kann daher hier übergangen werden.
Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien. 395
unverändert. So wurde nach 7 Monaten eine Durchschnittslänge
von 42,02, nach 8 Monaten eine solche von 41,4 festgestellt.
Nach 7monatlicher Kultur bei 31° wurde die Linie wieder in
die Ausgangstemperatur von 19° zurückversetzt. Die Messungen
ergaben nunmehr nach 4 Tagen eine Länge von 45,3 nach 1 Monate
dagegen 41,6.
Ein anderer Teil der Linie « wurde nach Tmonatlicher Kultur
bei 31° in 8° gebracht und maß hier nach 7 Tagen 48,38, nach
22 Tagen 41,4.
Bei der Versetzung der Individuallinie sowohl in höhere wie
ın niedrigere Temperatur ist also nach einer Periode des Kleiner-
resp. Größerwerdens eine Rückkehr zur Ausgangsnorm zu ,beob-
achten. Im Falle unserer Liniea wurde diese Norm zu wiederholten
Malen vollkommen erreicht, bei den meisten anderen untersuchten
Linien kam die rückläufige Bewegung dagegen schon erheblich
früher zum Stillstand. Bei einer Linie endlich trat dagegen eine
Überregulation ein. Es hatte nämlich Linie 11 bei 19° eine Länge
von 43,53, bei 31° am vierten Tage nur noch von 35,2, am 42. Tage
aber von 45,1 Maßeinheiten.
Verschieden wie der Grad der Regulation ist auch die Zeit,
die bis zu ihrer Vollendung von den verschiedenen Stämmen bean-
sprucht wird, und zwar schwankte sie bei der Versetzung von 19°
in 31° zwischen 1 und 8 Wochen, während sie bei Überführung
in eine entsprechend tiefere Temperatur stets erheblich länger —
bis zu 4 Monaten dauerte.
(Bei diesen Differenzen zwischen manchen Stämmen dürfte
allerdings auch die verschiedene Empfindlichkeit der einzelnen Linien
gegenüber geringfügigen Schwankungen der Lebensbedingungen von
Bedeutung sein. So ließen sich z. B. mit den mir zur Verfügung
stehenden Thermostaten gelegentliche Temperaturschwankungen bis
zu 1 oder 2° bei länger dauernden Versuchen nicht vermeiden ;
Schwankungen, auf die manche Individuallinien von Paramaecium
schon sehr deutlich reagieren, während sie an anderen anscheinend
spurlos vorübergehen.)
Worauf ıst nun diese Regulation der Größe der Paramaecien
bei Temperaturveränderungen zurückzuführen? Zur Klärung dieser
Frage war zunächst die Teilungsfrequenz der Infusorien bei ver-
schieden langer Einwirkung verschiedener Temperaturen zu prüfen.
Für die Individuallinie @°) ergaben sich hierbei innerhalb 48 Stunden:
bei 19° (nicht ganz) 3 Teilungsschritte, bei Versetzung in 31° —
9 Teilungsschritte, nach 6monatlicher Kultur dagegen nur 7. Stets
6) Andere Stämme ergaben weniger eindeutige Ergebnisse, zumal da nicht
selten bei plötzlicher Versetzung in eine um 12° höhere Temperatur in den ersten
24 Stunden oder noch länger überhaupt keine Teilung erfolgt.
226 Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
ergab sich also bei einer um 12° höheren Temperatur eine etwa
2—3fache Beschleunigung der Teilungsfrequenz, ein Verhalten, das
(wie schon besonders von Woodruff gezeigt worden ist) der
van t’Hoff’schen Regel entspricht. Neben dieser allgemeinen
(Gresetzmäßigkeit lässt sich aber auch innerhalb der durch sie ge-
gebenen Grenzen eine Verlangsamung der Teilungsfrequenz nach
erfolgter Gewöhnung an die höhere Temperatur feststellen.
Berücksichtigen wir endlich noch den Umstand, dass man durch
Einwirkung mancher chemischer Verbindungen die Teilungsfähigkeit
der Infusorien hemmen und auf diese Weise Riesenindividuen er-
zıelen kann, so lässt sich aus allen mitgeteilten Beobachtungen
wohl nur der eine Schluss ziehen, dass Wachstum und Teilung
nicht in unmittelbarem Zusammenhange stehen. Vielmehr muss
es sich hierbei um wenigstens zwei bis zu einem gewissen Grade
unabhängig voneinander veränderliche Faktoren handeln, von denen
der „Wachstumsfaktor“ durch Temperaturveränderungen offenbar
gleichmäßig und entsprechend der van t’Hoff’schen Regel beein-
flusst wird, während der „Teilungsfaktor“ bei Temperaturerhöhung
zunächst eine stärkere Erregung, bei Temperaturerniedrigung
eine stärkere Lähmung erfahren kann. Für die dauernde Lebens-
fähigkeit der Paramaecien ist aber ein bestimmter „Gleichgewichts-
zustand“ beider Faktoren erforderlich, der sich durch die nicht
weiter schwankende Zellgröße anzeigt, bei den verschiedenen
Stämmen verschieden schnell erreicht wird und bei manchen (a) für
alle nicht schädigenden Temperaturen der gleiche ıst. —
Für die Fragen der Vererbung und Artbildung haben dagegen
alle bisher behandelten Vorgänge keinerlei Bedeutung: Denn mögen
die Individuallinien der Infusorien auch noch so lange bei den an-
gegebenen höheren oder niedrigeren Temperaturen gehalten werden
und mag dabei eine vollkommene oder nur eine geringfügige Regu-
latıion eintreten, stets’) erweisen sie sich nach Zurückversetzung in
die ursprünglichen Lebensbedingungen völlig unverändert, so dass
es sich hier also nur um Modifikationen handelt.
Es lag nun nahe zu prüfen, wie weit sich die Paramaecien an
extreme Temperaturen gewöhnen lassen, und ob nicht auf diesem
Wege erbliche Veränderungen hervorgerufen werden können, wie
dies übrigens schon von älteren Untersuchern für verschiedene
Formen angegeben ist. — Arbeitet man mit ungeprüftem aus dem
Freien geholten Material, also Populationen, so gelingt es in der
Tat nicht selten, eine scheinbare, erbliche Verschiebung der „Kar-
dinalpunkte“ zu erzielen. Am deutlichsten tritt dies hervor, wenn
man von derselben Ausgangspopulation gleichzeitig Kulturen bei
allmählich erhöhter wie auch bei fallender Temperatur hält. Prüft
7) Ein abweichender Fall wird noch am Ende dieser Arbeit besprochen.
Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien. 997
und vergleicht man die Paramaecien dann nach einiger Zeit, so
kann°) es sich ergeben, dass zwar die Infusorien in beiden Kul-
turen gut gedeihen, dass aber die „Wärmekulturen“ bei der Tem-
peratur der Kältetiere wie auch umgekehrt nicht existenzfähig sind,
selbst wenn man die Temperatur nicht plötzlich, sondern allmählich
wechselt. Obwohl nun die von demselben Ausgangsmaterial abge-
leiteten beiden Stämme dauernd an verschiedene Temperaturen
angepasst bleiben, handelt es sich bei diesem Versuch dennoch nicht
um eine erbliche Veränderung der Reaktionsnorm, sondern nur um
in entgegengesetzter Richtung durchgeführte Selektion verschiedener
in der Population enthaltener Rassen — ganz wie bei den bekannten
Experimenten von Johannsen oder Jennings.
Untersucht man nämlich bei einer größeren Anzahl von Indi-
viduallinien, zwischen welchen Temperaturen sie existieren können,
so ergeben sich wiederum erhebliche Unterschiede. Während z. B.
meine Linie a zwischen 6 und 37° ohne weiteres dauernd kultivierbar
war (konstante tiefere Temperaturen standen mir nicht während
längerer Zeit zur Verfügung) ließ sich Linie A — bei sonst gleichen
Bedingungen! — nur zwischen 12 und 29°, Linie M zwischen 12
und 35° und Linie a, (von der später noch mehr die Rede sein
wird) zwischen 6 und 39° ohne Schädigung halten. Endlich gibt
Woodruff für eine seiner Kulturen an, dass sie nur zwischen 21,5
und 31,5° dauernd zu züchten wäre (eine Angabe, die aber wegen
der verschiedenen sonstigen Kulturbedingungen nicht ohne weiteres
mit den meinigen vergleichbar ıst und bei der die hohe Minimal-
temperatur auffällt). Wiederholt man nun mit einer „Individual-
linie“ den für Populationen angegebenen Versuch der Verschiebung
der Kardinalpunkte und kultiviert sie, von einem mittleren Punkt
ausgehend, bei langsam steigender, resp. fallender Temperatur, so
gedeihen die Infusorien innerhalb der für die betreffende Linie
festgestellten Grenzen gut, innerhalb dieser nach den oben ge-
machten Angaben häufig recht weiten Grenzen ist aber in der Regel
auch eine plötzliche Versetzung in höhere oder niedrigere Tempe-
ratur möglich. Sobald dagegen die Grenze nach einer Seite auch
nur wenig überschritten ist, sterben die Kulturen fast immer ab.
So konnte die Linie «a (s. o.) aus 6° unmittelbar in 37° gebracht
werden°), ging aber bei Versetzung in 39° regelmäßig ein, gleich-
gültig, ob sie zuvor in 6°, 19° oder selbst 37° gewesen war und
sich an diese Temperatur völlig akklimatisiert hatte.
Ein dauerndes Überschreiten der gewöhnlichen Temperatur-
grenze ist bei manchen Linien überhaupt nicht zu erzielen gewesen.
8) Der Versuch gelingt natürlich um so eher, je umfangreicher und von je
mehr verschiedenen Fundstellen das Ausgangsmaterial genommen wird.
9) Ein wechselnd großer Teil der Infusorien geht dabei freilich zugrunde, die
übrigen aber gedeihen und vermehren sich gut und dauernd.
IS Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
So war die Linie A, deren Maximaltemperatur bei 29° liegt, bei
30° mie länger als 3 Wochen kultivierbar, obwohl dies während
1'/, Jahren in regelmäßigen Abständen versucht wurde. Bei anderen
Stämmen ist in einigen Fällen eine kleine Erweiterung der Grenzen
erreicht worden; z. B. konnte a nach zahlreichen Fehlschlägen
schließlich von 37 über 38 bis 39° gebracht werden — bei sonst
gleichbleibenden Kulturbedingungen (Wechsel in der Ernährung
scheint dies zu erleichtern, doch sind die Versuche hierüber noch
nicht abgeschlossen).
Eine Verschiebung der Temperaturgrenzen ohne Schädigung
der Infusorien erscheint also unter sonst unveränderten Bedingungen
bei Individuallinien von Paramaecium nur in bescheidenem Maße
möglich !°), und auch wo sie erzielt worden ist, handelte es sich
nicht um erbliche Veränderungen: Denn sobald derartige Kulturen
wieder für einige Zeit bei niedrigerer Temperatur'!) innerhalb der
ursprünglichen Grenzen gehalten wurden, verloren sie auch die
Fähigkeit, bei der höheren Temperatur dauernd zu existieren und
mussten erst von neuem unter den gleichen Schwierigkeiten wie
zuvor daran gewöhnt werden.
Vom Standpunkt der Vererbungslehre betrachtet handelt es
sich also auch bei diesen Gewöhnungen an extreme Temperaturen
ebenso wie bei den eingangs behandelten Reaktionen auf Tempe-
raturveränderungen überhaupt nur um Modifikationen.
Neben derartigen Modifikationen können aber unter dem Ein-
fluss der Temperatur auch anders zu wertende, da erbliche Ver-
änderungen innerhalb einer Individuallinie vom Paramaecıum auf-
treten. Bevor wir jedoch hierauf eingehen, sollen noch die auf
einem anderen Gebiete, nämlich unter Einwirkung von Giften,
speziell Arsenverbindungen, festzustellenden Veränderungen der
Reaktion der Infusorien betrachtet werden.
Von vornherein waren hier günstige Verhältnisse für Fragen
der Vererbung zu erhoffen, wissen wir doch vor allem durch
die schönen Untersuchungen von P. Ehrlich und seinen Mit-
arbeitern, wie sehr das Verhalten von parasitischen Protisten
gegenüber Arsenverbindungen und anderen Giften verändert werden
kann: Trypanosomen und Spirochäten lassen sich durch Behand-
lung mit nichttödlichen Dosen gegen die betreffende chemische
Verbindung (unter Umständen gleichzeitig auch gegen andere) in
hohem Maße „fest“ machen, so dass sıe schließlich ein Mehrfaches
der ursprünglich tödlichen Dosis ohne jede Schädigung ertragen.
10) Wenigstens bei der mir zur Verfügung stehenden Abstufung der Thermo-
staten von (im günstigsten Falle) Grad zu Grad. Bei langsamerer Steigerung der
Temperatur ist ja vielleicht mehr zu erzielen.
11) Eine Überschreitung der ursprünglichen Temperaturgrenze ist bisher nur
nach oben hin durchgeführt worden.
Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien, 229
Und diese „Gift(in anderen Fällen Serum-)festigkeit“ kann auch be-
stehen bleiben, wenn die betreffenden Trypanosomen monate- ja
selbst jahrelang unter zahllosen Teilungen und bei den verschie-
densten Tierpassagen weitergezüchtet werden, ohne wieder mit dem
Gift in Berührung zu kommen. Ehrlich fasst sie daher als experi-
mentell erzeugbare Mutationen auf. Vom biologischen Standpunkt
aus ist jedoch Wesen und Entstehung derartiger „giftfester Stämme“
bisher nicht genauer analysiert; auch lässt sich eine solche Prüfung
gerade bei Trypanosomen und Spirochäten wegen der komplizierten
Lebensbedingungen und unserer noch immer nicht lückenlosen
Kenntnis des Entwickelungsganges dieser Protisten nur schwer
durchführen. Demgegenüber erschienen wieder die Paramaecien
wegen ihrer guten Kultivierbarkeit und wegen des Vorhandenseins
sowohl von vegetativer Vermehrung wie von geschlechtlichen Vor-
gängen in mancher Hinsicht als günstigeres Objekt.
Geprüft wurde das Verhalten sowohl gegenüber verschiedenen
organischen As.-Verbindungen wie auch gegenüber einer !/,, n-Lösung
arseniger Säure (der der besseren Löslichkeit wegen etwas Na,C0,
zugefügt war), doch soll hier nur auf diese letzten Versuche näher
eingegangen werden: — Wiederum müssen wir zwischen dem Ver-
halten von Populationen und dem von Individualkulturen unter-
scheiden. Denn da auch in der Widerstandsfähigkeit gegen dieses
Gift Rassenunterschiede nachweisbar sind, so kann schon alleın
durch Selektion einer besonders resistenten Linie aus der Popu-
lation eine beträchtliche „Giftfestigung* der Infusorien vorgetäuscht
werden, schwankte doch die gerade tödliche Dosis bei den von mir
untersuchten (etwa 50) verschiedenen Stämmen !?) zwischen 0,3 und
1,1°/, der verwandten Lösung.
Innerhalb einer Individuallinie bleiben dagegen entsprechende
Selektionsversuche zunächst völlig erfolglos. Man kann die Gift-
konzentration leicht derartig wählen, dass nur einige wenige Para-
maecien der Linie länger als 48 Stunden darin am Leben bleiben.
Züchtet man diese dann arsenfrei weiter und lässt auf die so er-
haltene neue Kultur wıeder die gleiche Arsenmenge wie zuvor ein-
wirken, so erhält man genau das gleiche Ergebnis wie beim ersten
Male: Wieder gehen die Paramaecien bis auf einige wenige inner-
halb 48 Stunden ein. Und hieran änderte sich nichts, auch wenn
man den Versuch Dutzende von Malen hintereinander in gleicher
Weise fortsetzte.
Innerhalb der Individuallinien ließ sich also alleın
durch Selektion keine Erhöhung der Giftresistenz erzielen,
und nicht viel weiter kommt man in der Regel merkwürdigerweise auch
durch allmähliche Gewöhnung der Paramaecien an arsenige Säure.
12) Unter diesen befanden sich mindestens 6 sicher verschiedene Rassen.
XXXII. 16
230 Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
Wurde z. B. zu 100 cem einer Kultur der Linie A, für die 1:100, meiner
Lösung eben tödlich war (innerhalb spätestens 48 Std.), täglıch !,,, cem
der arsenigen Säure zugesetzt, so waren die Infusorien stets späte-
stens am 26. Tage, gewöhnlich sogar schon zwischen dem 20. und
25. Tage ausgestorben. Bei anderen Linien und bei noch lang-
samerer Steigerung der Konzentration kann man allerdings etwas
mehr erreichen. So ließ sich die Linie B, die normalerweise durch
1,1:100 abgetötet wurde, bis an 1,9 : 100 gewöhnen '?).
Ganz wie an höhere Temperaturen lassen sich also die Indi-
viduallinien von Paramaecıum nur relativ wenig, manche so gut
wie gar nicht an höhere Konzentrationen von arseniger Säure an-
passen. Und auch darin stimmen die Temperatur- mit den Gift-
versuchen überein, dass es sich beı einer solchen durch allmählıche
Steigerung erzielten Gewöhnung nicht um erblich fixierte Verände-
rungen, sondern nur um Modifikationen handelte. Denn auch die
Giftfestigkeit ging diesen Paramaecien wieder verloren, sobald sie
in arsenfreiem Medium weiter kultiviert wurden.
Neben derartigen gewöhnlichen Modifikationen konnte nun aber
während der 2 Jahre, die diese Untersuchungen bisher dauern, in
mehreren Fällen eine anders geartete Giftfestigung erreicht werden,
die auch beı Kulturen in arsenfreiem Medıum erhalten blieb. Fünf
gegen arsenige Säure gefestigte Stämme entstanden in der Weise,
dass man die Kulturen während mehrerer Wochen unter Einwir-
kung von etwa der Hälfte der gerade tödlichen Dosis züchtete und
dann in regelmäßigen Intervallen die Konzentration für kurze Zeit
bis über die tödliche Dosis hinaus steigerte, um sie nach Abtötung
eines großen Teils der Paramaecien wieder herabzusetzen. — Eın
sechster giftfester Stamm bildete sich „spontan“ aus einer durch
einmalige Hinzufügung einer etwas zu großen Giftmenge zunächst
anscheinend vollständig abgetöteten, aber doch noch längere Zeit
kontrollierten Individuallinienkultur.
Während die Ausgangslinien stets bei einer Konzentration von
0,3—1,1: 100 innerhalb 48 Stunden eingingen, konnten durch das
angegebene monatelang fortgesetzte Verfahren Stämme erzielt werden,
die noch gegen 3—3,5 : 100 resistent waren. Der spontan aus der
einen Konzentration von 1,1: 100 nicht mehr vertragenden Linie B
entstandene Stamm B, hielt sich schließlich noch gegenüber 5: 100,
ohne erkennbar geschädigt zu werden.
Es handelt sich in diesen Fällen also um eine ganz wesentlich
höhere Resistenz als bei den allmählich an arsenige Säure gewöhnten
13) Es sei hierbei besonders betont, dass unter „Gewöhnung“ stets eine
dauernde Lebens- und Vermehrungsfähigkeit der Infusorien zu verstehen ist und
nicht nur eine zeitliche Hinausschiebung der Abtötung, wie sie von verschiedenen
Autoren, die mit wesentlich stärkeren Giftkonzentrationen arbeiteten, bereits be-
schrieben wurde.
Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien. 934
-
Paramaecien. Auch rein äußerlich lassen sich beide gefestigten
Gruppen meist unschwer auseinanderhalten, da die an das Gift ge-
wöhnten Infusorien in der Regel größer als die unbeeinflusste
Ausgangslinie waren, während die giftfesten Stämme keinen der-
artigen Unterschied aufwiesen. Da endlich die giftfesten Para-
maecienstämme auch bei wochenlanger Kultur ın arsenfreiem Medium
ihre Resistenz beibehielten, so lag die Vermutung nahe, dass wir
es hier im Gegensatz zu den zuvor behandelten gewöhnlichen Modi-
fikationen mit Mutationen zu tun hätten, — eine Vermutung, die aber
durch das weitere Verhalten der giftfesten Stämme nicht bestätigt
wurde.
Betrachten wir zunächst die weitere Geschichte des Stammes B,,
der, wie oben angegeben, noch gegen eine Konzentration von 5: 100
resistent geworden war. Der Stamm wurde nunmehr dauernd in
arsenfreiem Medium bei 31° weiter gezüchtet und daraus ent-
nommene Proben in regelmäßigen Zwischenräumen — anfangs täg-
lich, dann wöchentlich, später alle 2 Wochen — auf ihre Giftfestig-
keit hin geprüft. Während 7 Monaten (von Oktober 1911 bis Mai
1912) blieb die Resistenz gegenüber der Konzentration von 5: 100
unverändert erhalten, anders wurde dies jedoch im 8. Monate: Jetzt
gingen Proben aus der Kultur unter sonst gleichen Bedingungen
bei dieser Konzentration regelmäßig ein, vertrugen aber noch 4: 100,
und nun ging die Giftfestigkeit immer weiter und schneller zurück :
nach 9!/, Monaten betrug die „maxima tolerata*-Dosis nur mehr
2,5:100, nach 10'/, Monaten endlich 1: 100, es war also wieder
der Zustand der Individuallinie B, der Ausgangslinie von B,, er-
reicht und wurde dann dauernd weiter beibehalten.
In gleicher Weise — nur in etwas kürzerer Zeit — ging auch
die Giftfestigkeit aller anderen Stämme im arsenfreien Medium ver-
loren. Irgendwelche geschlechtlichen Vorgänge waren hierbei — ab-
gesehen von einem noch zu besprechenden Falle — wohl nicht
beteiligt, da Konjugationspaare wenigstens nicht gesehen wurden.
Im Falle des Stammes B, lässt sich Konjugation sogar mit großer
Sicherheit ausschließen, da dieser stets bei 31° gezüchtet wurde,
eine Temperatur, bei der niemals mehr Konjugation zu beobachten
war (und nach den neuen Untersuchungen von Zweibaum über-
haupt unmöglich sein soll. Da die Giftfestigkeit also bei
rein vegetativer Vermehrung wieder völlig verloren
ging, so kann es sich auch bei diesen resistenten
Stämmen nicht um eine „Veränderung der genotyp!I-
schen Grundlage“, eine Mutation, der Ausgangslinie
gehandelt haben. Noch klarer wird dies durch zwei weitere
Beobachtungen dargetan: Bei einem der fünf anderen „giftfesten“
Paramaecienstämme, der noch eine Konzentration von 3: 100 ver-
trug, während er ursprünglich durch 1: 100 abgetötet worden
16*
32 Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
war, traten nach 1 Monat arsenfreier Kultur (bei Zimmertemperatur
von ca. 18°) vereinzelte Konjugatiorspärchen auf, die von den
übrigen Infusorien getrennt weitergezüchtet wurden. Es ergab
sich nun, dass die aus den Exkonjuganten hervor-
gegangenen Kulturen ihre Giftfestigkeit sofort und mit
einem Schlage verloren hatten. Schon bei der ersten Prüfung
(2 Wochen nach der Konjugation) wurden sie ganz wie die Aus-
gangslinie bei einer Konzentration von 1:100 wieder abgetötet,
während der andere Teil der Infusorien, der keine Konjugation
durchgemacht hatte, erst nach weiteren 3 Monaten und dann all-
mählich ganz entsprechend dem oben beschriebenen Verhalten des
Stammes B, die Widerstandsfähigkeit gegen arsenige Säure zurück-
bildete.
Bei einem weiteren, gegen 3,5: 100 gefestigten Stamme endlich
war während einiger Wochen versucht worden, Konjugation zu er-
zwingen. Zu diesem Zwecke wurde ein Teil der Kultur einem
häufigen und schroffen Wechsel der Ernährungs- und Temperatur-
bedingungen ausgesetzt. Konjugation wurde nicht erzielt, wohl aber
verloren die derartig behandelten Paramaecien bereits nach 2 Mo-
naten ıhre Giftfestigkeit, während sie bei dem unter normalen Ver-
hältnissen belassenen Teil des gleichen Stammes erst nach 3'/, Monat
zurückzugehen anfıng.
Diese Beobachtungen zeigen wohl zur Genüge, dass auch bei
unseren „giftfesten“ Paramaecienstämmen keine Beeinflussung der
„genotypen Grundlage“ erfolgt war, sondern dass es sich bei dieser
Resistenz um eine - or (Plasma? ) der Infusorien nur äußer-
lich aufgezwungene Veränderung handelt, die ıhre potentiellen Fähig-
keiten überhaupt nicht berührte, sie zwar einige Zeit nicht zur
Geltung kommen ließ, aber schließlich doch von ihnen überwunden
wurde, langsam bei normalen Bedingungen, schneller bei wechselnden,
die die betreffenden Individuen zu mannıgfachen Reaktionen zwingen,
mit einem Schlage durch die im Zusammenhange mit der Konjugation
erfolgende tiefgehende Umgestaltung des Paramaeciumkörpers. —
Das Fehlen der Beeinflussung der Erbanlage, wie es
sich besonders klar bei der Konjugation zeigte, trennt
die von uns behandelten Fälle prinzipiell von Mutationen,
sie müssen also als Modifikationen bewertet werden. Da
sie sich aber andererseits auch von den gewöhnlichen
Modifikationen durch ihre langdauernde — ım Falle von
B, sich während über 600 Teilungsschritten erhal-
tende) -— Konstanz bei Zurückversetzung in die ur-
14) B, a: dauernd bei 31° gehalten (s. 0.) und teilte sich bei dieser Tem-
peratur nich regelmäßig mindestens dreimal innerhalb 24 Stunden. Da die
Änderung in der Giftfestigkeit erst im 8. Monate einsetzte, war die Resistenz also
während etwa 3 X 30 X 7 Teilungsschritten konstant geblieben.
Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien. 233
sprünglichen Lebensbedingungen scharf unterscheiden,
so ist es wohl notwendig, für derartige Erscheinungen
einen neuen Begriff zu schaffen. Wir bezeichnen sie da-
her als „Dauermodifikationen*.
Dauermodifikationen kommen nun sicherlich bei den Protisten
nicht selten vor, wenn sie auch bisher nicht als solche erkannt,
sondern meist wohl als „Mutationen“ angesehen worden sind.
Bevor wır aber kurz auf derartige Fälle verweisen, muss be-
tont werden, dass es bei den Protisten zweifellos auch echte Mu-
tationen gibt. Ein solcher Fall konnte auch im Verlaufe der
hier mitgeteilten Beobachtungen bei Paramaecıum festgestellt und
m
m
jr
DD
>
I
3
je
1
=
ee)
Anzahl der Individuen jeder Längenklasse
=]
Rd
E -
2eı
=
29730, 310.32 833 312.35530 3.238,39. 407 217427 4374445746
Länge der Paramaecien in Maßeinheiten.
Fig. 1. Variationskurven. ——— Stammform («) —+- Mutante (a), @® @@®@ Mu-
tante (a,), O©OOOO Mutante nach Konjugation, _—— — — Stammform (a).
genau geprüft werden (in zwei weiteren vielleicht analogen Fällen
ließ sich die Prüfung aus äußeren Gründen nicht lückenlos durch-
führen).
Die zu schildernde Veränderung trat nun nicht bei den Gift-,
sondern bei den Wärmeversuchen auf: In einer Kultur der Indi-
viduallinıe «a (Ss. 0.), die ständig bei 31° gehalten und zu anderen
Versuchen gebraucht und daher ab und zu kontrolliert wurde,
fanden sich nach 9 Wochen (also zu einer Zeit, wo schon längst
eine völlige Gewöhnung und Regulation hätte erfolgt sein müssen)
neben Paramaecien von „Normalgröße* auch auffallend kleinere
Individuen. Fine genauere Messung ergab denn auch eine typische
zweigipfelige Variationskurve (s. Fig. 1) ganz wie bei dem Vor-
handensein zweier verschiedener Rassen innerhalb einer Kultur.
254 Jollos. Experimentelle Untersuchungen an Infusorien.
Es wurden nun einzelne der kleinsten wie auch der größten Para-
maecien isoliert gezüchtet (und daneben auch die Mischkultur weiter-
geführt) und nach einiger Zeit gemessen. In beiden Fällen ergaben
sich nunmehr eingipfelige Variationskurven, die aber wesentlich von-
einander verschieden waren und nur unerheblich transgredierten ’’)
(s. Fig. 1). Von diesen beiden Variationskurven erwies sich die
der größeren Infusorien als mit der (häufig aufgenommenen) der
Ausgangslinie a identisch, die der kleineren (a,) dagegen als völlig
neu. Es war die kleinste von mir je gezüchtete Linie von Para-
maecium. Und auch in anderer physiologischer Hinsicht zeigte sich
bei diesen kleinen Infusorien (a,) ein Unterschied gegenüber a; sie
konnten nämlich unmittelbar aus 31° (und auch aus 19° und sogar 6°)
in 39° versetzt werden, während a wie alle meine übrigen Stämme
hierbei regelmäßig einging!®). Und diese abweichenden Eigen-
schaften behielt a, auch nach monatelanger Kultur sowohl bei 31°
wie bei tieferen Temperaturen unverändert, und es behielt sie
schließlich, was das Wichtigste ist, auch in Kulturen, die nach dem
Eintritt einer Konjugation aus Exkonjuganten gezüchtet worden
waren. (Am deutlichsten ist dies aus den Größenvariationskurven
zu ersehen. Wohl erfolgt nach der Konjugation eine geringe Ver-
schiebung der Kurve, aber nicht in höherem Maße als sie bei Kon-
Jugationen innerhalb von Individuallinien überhaupt zu beob-
achten sind.)
Die neue aus a hervorgegangene Linie a, ist damit
als echte Mutante erwiesen. —
Nebeneinander kommen also bei den Protisten Modifikationen,
Dauermodifikationen und echte Mutationen vor, und äußerlich
gleich erscheinende Veränderungen können demgemäß (wenn wir
von Selektion aus Populationen sowie Kombination bei Amphı-
mixis absehen) unter Umständen dreierlei Art entstehen. Wie sie
in jedem einzelnen Falle zu beurteilen sind, lässt sich mit Sicher-
heit wie bei den Infusorien allein nach Prüfung ihres weiteren Ver-
haltens unter verschiedenen Bedingungen und besonders nach Be-
fruchtungsvorgängen entscheiden.
Schwieriger wird die Entscheidung demgemäß natürlich dort,
wo keinerlei Befruchtung vorhanden oder wenigstens nachgewiesen
ist, also gerade bei den ın letzter Zeit noch am meisten unter-
suchten Formen: den Trypanosomen, Spirochäten, Bakterien u. a.
Auch bei ihnen hat man bisher nur zwischen Modifikationen und
15) Unter sich waren sowohl die „kleinen“ wie auch die „großen“ Paramaecien
identisch.
16) Diese neuen Eigenschaften von «, schließen schon allein den sonst nahe-
liegenden Einwand aus, es könne eine Verunreinigung der Individuallinien Kultur «
erfolgt sein, eine Möglichkeit, die sich auch bei der ganzen Versuchsanordnung
völlig ausschließen lässt.
Jollos, Experimentelle Untersuchungen an Infusorien. 35
Mutationen unterschieden und jede unter gewöhnlichen Lebens-
bedingungen lange konstant bleibende Veränderung in der Regel
ohne weiteres als Mutation bezeichnet. Durch die Feststellung von
Dauermodifikationen wird einem derartigen Einteilungsprinzip natür-
lich der Boden entzogen und eine erneute und vertiefte Prüfung
all dieser sogen. Mutationen nötig.
Denn beı der Frage, ob Mutation oder Dauermodifikation, han-
delt es sich eben nicht um einen Streit um Namen, sondern um
prinzipielle sachliche Unterschiede. Und mit der Übertragung der
aus den klareren Verhältnissen bei den Infusorien gewonnenen Er-
kenntnis auf andere, für derartige Unterscheidungen weniger günstige
Protistengruppen erreichen wir nicht nur eine einheitliche An-
schauung, sondern können auch manche bisher bestehenden theo-
retischen Schwierigkeiten beseitigen: So sind uns die bei den meisten
Bakterien- und Pilz,mutationen“ beschriebenen Rückschläge ohne
weiteres verständlich '”), finden sie doch in dem Verluste der Gift-
festigkeit unserer Paramaecien ein vollständiges Analogon. Keiner
besonderen Erklärung bedarf auch die Rückbildung von Bakterien-
„mutanten“ nach Darmpassage oder Behandlung mit Karbol, Erschei-
nungen, denen gegenüber man sich bisher meist durch die Annahme
von neuen „Rückmutationen* zu helfen suchte (während wir bei
unseren Infusorien „Rückmutationen* gerade ausschließen können).
In gleicher Weise verstehen wir von unserem Standpunkte aus,
dass bei gift- resp. serumfesten Trypanosomen die Resistenz in
zahlreichen Fällen durch viele Tierpassagen erhalten bleibt, ın
analogen anderen dagegen sowie nach Passage durch das über-
tragende Insekt völlig verloren geht. Bei dem Verlust der Gift-
festigkeit im Überträger brauchen wir sogar nicht einmal die Ein-
wirkung eines Bari mac anzunehmen, da schon alleın
der ale Wechsel der Lebensbedingungen — ganz wie bei einem
unserer Paramaecienstämme — den ac kschlag zum Durchbruch
bringen kann. —
Sn manche für Mutationen angesehene Veränderungen lassen
sich also auch bei den Protisten mit unbekannter a fehlender
Sexualität schon jetzt als Dauermodifikationen besser verstehen,
und ıhre Zahl dürfte wohl bei eingehenderer Untersuchung ständig
wachsen. Neben solchen genauer bestimmten Fällen bleiben aber
immer noch andere, die wir auch weiter als Mutationen be-
zeichnen miüssen, wenngleich damit zu rechnen ist, dass in diese
Kategorie noch geraume Zeit neben echten Mutationen, wie wir
sie in der Wärmemutante (a,) von Paramaecium kennen lernten,
a auch Dauermodifikationen eingeweiht sind, die wir
17 ) D. h. natürlich nur vererbungstheoretisch betrachtet, nicht dagegen in
ihrem „Mechanismus“,
2536 Grassi, Contributo alla conoscenza delle Fillosserine ete.
aber erst mit fortschreitender Ausbildung unserer Prüfungsmethoden
als solche werden nachweisen können (durch Zurückführung in den
Ausgangszustand).
Die an den Infusorien gewonnenen Erfahrungen zeigen aber
auch schon, ın welcher Weise eine derartige Prüfung anscheinend
konstanter Veränderungen bei asexuellen Protisten zunächst weiter
auszubauen ist: Einmal müssen die veränderten Stämme viel länger
bei normalen Bedingungen (d.h. unter Ausschluss der die Verände-
rung hervorrufenden Einwirkungen) gehalten werden als dies bisher
gewöhnlich geschieht; daneben aber sind sie den verschiedensten
abnormen, besonders schädigenden Einflüssen unter häufigem schroffem
Wechsel auszusetzen. Bei „Mutationen“, die durch chemische Agen-
tien erzeugt werden, wäre besonders auch an Einwirkungen ganz
andersartiger Verbindungen zu denken, Stets kommt es eben
nur darauf an, die dem Körper nuräußerlich ohne Beein-
flussung seiner erblichen Anlagen aufgezwungene Ver-
änderung durch Auslösung tiefgreifender Allgemein-
reaktionen der Organismen wieder abzuschütteln. —
Diese Hinweise mögen hier genügen, eine eingehendere Besprechung
der Literatur muss ebenso wie die genauere Darstellung der ge-
schilderten Versuche und Beobachtungen der ausführlichen Arbeit
vorbehalten bleiben.
München, Zoologisches Institut der Universität.
Contributo alla conoscenza delle Fillosserine ed in
particolare della Fillossera della vite.
Prof. Dott. B. Grassi e suoi allievi DDri A. Foä, R. Grandori, B. Bonfigli,
M. Topi.
p. 456 (con 20 Tavole). Riassunto p. LXXXV. Roma 1912. Ministero d’Agricoltura.
Dieser Beitrag ist die Frucht einer ca. 6jährigen Arbeit des
Prof. B. Grassı und der Dr. Anna Foä; die anderen Mitarbeiter
(alle Schüler von Prof. Grassi) haben eine kürzere Zeit darauf
verwendet.
Die Abhandlung ist in zwei Teile geteilt: der erste behandelt
alle in Italien vorkommenden Phylloxerinae mit Ausnahme der
Reblaus, der zweite bezieht sich fast ausschließlich auf die letztere.
Die Autoren unterscheiden in Italien außer der Reblaus
12 Phylloxera-Arten, von denen einige in unserem Lande bis jetzt
noch nicht beschrieben, andere vielleicht mit schon bekannten Arten
verwechselt wurden, andere endlich, wie z. B. die auf den Wurzeln
der Eichen wachsende Foaiella Danesii, gewiss neu sind. Auf Grund
eines durch gründliche anatomische Hinweise unterstützten sehr
eingehenden Studiums der äußeren Merkmale stellen die Autoren
Grassi, Contributo alla conoscenza delle Fillosserine ete. In
die systematische Lage aller beobachteten Formen fest und liefern
Klassifikationstabellen der verschiedenen Stadien, der Larven, die
noch keine Häutung erfahren haben (erste Larven), der dem ersten
folgenden Stadien und der definitiven apteren Formen, der ge-
flügelten, der sexualen, der Eier und andere Tabellen, die sich auf
die Teile der Pflanze beziehen, ın denen die Entwickelung der
verschiedenen Formen nach dem Auskriechen aus dem Eı erfolgt,
sowie auf die bei den Pflanzen hervorgerufenen wichtigsten Be-
fallen; von jeder einzelnen Art wird eine mehr oder weniger aus-
führliche Beschreibung gegeben. Von 11 dieser Arten wird auch
der Zyklus der Entwickelung geschildert und mit den erforderlichen
erläuternden Anmerkungen graphisch dargestellt.
Die Schemata der Zyklen folgen aufeinander, indem die Autoren
von dem einfachsten ausgehen und allmählich bis zum komplizıer-
testen fortschreiten; auf diese Weise wird zur Evidenz nachgewiesen,
dass in der Natur die mannigfachsten Fälle eintreten. Angefangen
wird mit dem Zyklus der Parthenophylloxera ilheis (Grassı), der
ausschließlich aus apteren und geflügelten parthenogenetischen Gene-
rationen besteht; dann folgt der des Acanthochermes querceus (Kollar),
der nur aus 2 Generationen besteht, die der Fundatrix (aptera
sexupara) und die der sexualen (hier ıst die Tatsache bemerkens-
wert, dass die Abgabe des dauerhaften Eies fehlt; die erste Larve
der Fundatrix entwickelt sich innerhalb des Körpers des toten
sexualen Weibchens und tritt ım Frühlung aus einer im Kopfe der
Mutter entstehenden Spalte aus [Foä]). Hierauf wird zu den Zyklen
der Phylloxerinae (Börner) und der Phylloxerella confusa (Grassı)
übergegangen, bei denen dıe Geflügelten fehlen, dann zu denen des
Phylloxeroides italicum (Grassı), der Foaiella Danesii (Grassıet Foä),
bei der aptere, nymphale und geflügelte (diese letztere sehr selten
bei dem Phylloxeroides ütalicum) Sexuparen vorhanden sind, und der
Moritziella corticalis (Kalt.), bei der die sexuale Generation die
Tendenz hat unterdrücht zu werden, weil die geflügelten Sexuparen
fast ausschließlich maskuliparae sind und die überwinternden er-
scheinen, um die Art von Jahr zu Jahr zu erhalten. Dann kommt
der Zyklus der Acanthapkis spinulosa (Targıonı), bei der virgini-
pare geflügelte und sexupare geflügelte (selten virginisexupare), die
alle die Eier auf der Zerreiche ablegen, und überwinternde Formen
vorhanden sind, und endlich der Zyklus der Phylloxera quercus
(De Fonse.), der sehr kompliziert sein kann infolge der Anwesen-
heit von geflügelten virginiparen, die von der Steineiche zu den
Eichen wandern, von geflügelten sexuparen, die von den Eichen
zur Steineiche zurückkehren, und von auf der Steineiche über-
winternden; die geflügelte Sexuparen können auch auf der Stein-
eiche sich entwickeln, auf die Eiche die Eier legen, ete. Folglich
ist die Wanderung zur Eiche, wie die Wanderung von der Eiche,
38 Grassi, Contributo alla conoscenza delle Fillosserine etc.
d.h. das Wirtwechseln, nicht notwendig in dem Entwickelungsgang
dieser Phylloxera eingeschaltet und nicht alle die oben erwähnten
Formen sınd auch für den Entwickelungskreis der Phylloxera quercus
notwendig.
Was die Phylloxera der Rebe anbelangt, so erklären die
Autoren viele Punkte aus der Biologie des Insekts und finden Be-
ziehungen zwischen den Merkmalen der ersten Larven und ihrer
Lebensweise.
Unter den von ihnen nachgewiesenen biologischen Tatsachen
ist die fundamentale, für die sie auch den experimentellen Beweis er-
bringen, die, dass ım Gegensatz zu dem bisher Angenommenen die
aus dem Winterei ausgekrochene (Fundatrix) Larve nicht anders
als auf den Blättern leben kann und absolut nicht imstande ist,
sich auf den Wurzeln festzusetzen. So geht auf den europäischen
Weinstöcken in der größten Mehrzahl der Fälle, da keine Galle-
colae hervorgebracht werden, das Produkt des überdauernden Eies
verloren und infolgedessen hat die sexuale Generation in diesem
Falle hinsichtlich der Erhaltung der Art nicht die Bedeutung, die
man ıhr zuerkannt hatte. Diese Tatsache, dass die erste Larve
nicht, wie man annahm, willkürlich zwischen dem Leben über und
unter der Erde wählen kann, ist von den Autoren experimentell
nicht nur für die Fundatrix, sondern für die anderen jungen Larven
der Gallecollaegenerationen nachgewiesen worden; sie haben ferner
konstatiert, dass die zum Leben unter der Erde bestimmten ersten
Larven sich von den zum Leben über der Erde bestimmten darch
deutlich hervortretende äußere Merkmale (Gestaltung des dritten
Gliedes des Fühlers, Länge der Haare des Fußes, Struktur der
dorsalen Kutikula, ete....) unterscheiden. In einer und derselben
Galle und als Abkömmlinge einer und derselben Gallenlaus finden
sich fast immer die beiden Arten von ersten Larven, welche die
Autoren „Neogallecolae-Gallecolae“ nennen (diejenigen, welche auf
den an der Luft befindlichen Teilen der Pflanzen weiter leben
werden), und „Neogallecolae-Radieicolae“ (diejenigen, welche zu den
Wurzeln hinabsteigen werden). Die Neogallecolae-Gallecolae haben
sehr große Ähnlichkeit, mit der ersten gründenden Larve, die Neo-
gallecolae-, Radicicolae sind gleich den ersten Larven, die aus den
Radicicolae auf den Wurzeln entstehen (Neo-Radicicolae). Die
numerischen Beziehungen zwischen den beiden Arten von Neogalle-
colae variieren hauptsächlich je nach den verschiedenen Wein-
stöcken, auf dem die Mutter sich ernährt hat, so dass ein Einfluss
auf die Nachkommenschaft ausgeübt wird, wenn man einem Neo-
gallecola-Gallecola einen anderen Weinstock anweist. Es existieren
auch erste Zwischenlarven zwischen den Neogallecolae-Gallecolae
und den Neogallecolae-Radicicolae; ihr Schicksal ist das der Formen,
mit denen sie die meiste Ähnlichkeit haben.
Grassi, Contributo alla conoscenza delle Fillosserine etc. 339
Ausnahmsweise kann es infolge von Umständen, welche die
Autoren angeben, vorkommen, dass irgendeine Neogallecola-Radıcı-
cola sich in einer schon gebildeten Galle entwickelt, jedoch die
Merkmale einer Radicicola beibehält und auch geflügelt werden
kann. Auf diese Weise erklären sich die so viel erörterten Fälle
von Geflügelten der Gallen. Die Autoren weisen nach, dass diese
Geflügelten genau wie diejenigen, welche sich auf den Wurzeln
entwickelt haben, sexupare sind. In anderen seltenen Fällen kann
es vorkommen, dass infolge Anwesenheit von Adventivwurzeln oder
infolge der durch die Experimentierenden geschaffenen speziellen
Bedingungen die Neoradicicolae sich dem Leben über der Erde
anpassen. Alsdann erwerben sie allmählich mit dem Aufeinander-
folgen der Generationen die Merkmale der Gallecola; diese von
den Autoren genannte „Direkte Gallecolae“ können sogar mehr
oder minder vollkommene Gallen erzeugen. Dagegen ist es nicht
möglich, zu bewirken, dass die Neogallecolae-Gallecolae sich einem
Leben unter der Erde anpassen.
Sehr verschieden von den Beziehungen zwischen den beiden
Arten von Neogallecolae sind die zwischen den apteren und ge-
flügelten Radicicolae bestehenden.
Die Autoren weisen nach, dass im Augenblick des Ausschlupfens
aus dem Ei die erste radicicole Larve, die eine aptere Form er-
geben wird, sich nicht von der unterscheidet, die sich zu einer ge-
flügelten entwickeln wird; ja, von der dritten jährlichen Generation
an gelingt es experimentell, die ersten Larven (nicht alle), die sich
zu apteren entwickelt haben würden, in geflügelter Form heran-
wachsen zu lassen und umgekehrt, indem man sie von den euro-
päischen Weinstöcken auf amerikanische bringt und umgekehrt
(geflügelte statt apteren) oder indem sie sie isoliert statt auf einem
kleinen Wurzelstück vereinigt aufziehen (apteren statt geflügelte).
Auch die Biologie der Geflügelten ist eingehend studiert, wie
auch die der Sexualen.
Das Studium der Biologie der Radicicolae führt die Autoren
dazu, auch die Erscheinungen des Überwinterns und der Ästivation
in Betracht zu ziehen. Die Autoren weisen nach, dass beide an
die Vegetationsbedingungen der Pflanze gebunden sind, dass die
überwinternden Larven sich während des Winters nicht verschieben,
sich nach dem Erwachen sehr wenig bewegen und dass die ersten
Nodositäten des Jahrganges durch die Töchter der überwinternden
erzeugt werden (Foä). Der Vergleich zwischen den verschie-
denen Formen veranlasst sie, die Schwankungen der Länge des
Schnabels in den verschiedenen Jahreszeiten und unter den ver-
schiedenen Bedingungen zu studieren; diese Schwankungen treten
bis zu einem gewissen Punkt ein in Beziehung zur Ergreifung der
Nahrung.
240 Grassi, Contributo alla conoscenza delle Fillosserine ete.
Die Autoren weisen auch bei der Reblaus auf das Vorhanden-
sein jener Reihe, die sie Nymphale nennen (weil die erwachsene
hier Merkmale hat, hinsichtlich welcher sie mehr oder weniger einer
Nymphe ähnelt) und bemerken, diese nymphalen Formen seien
virginipare (sehr selten sexupare). Sie beweisen, dass alle Individuen
der Phylloxerinae vıer Häutungen durchmachen (Foä), welches
auch ıhr endgültiges Aussehen sein mag (Gallecolae, Radicicolae,
Geflügelte, Nymphale, Sexuale) und zwar nicht nur bei der Phyl-
loxera der Rebe, sondern bei allen Formen aller Phylloxerinae.
Sıe beschreiben alle verschiedenen Arten von Eiern der Reblaus,
beschäftigen sich mit den numerischen Beziehungen zwischen denen,
die Männchen ergeben werden, und denen, aus welchen sexuale
Weibchen entstehen werden u. s. w.
Bemerkungen von praktischem Interesse finden sich in den
Kapiteln, die sich auf die Widerstandsfähigkeit der amerikanischen
Weinreben, auf die Verbreitung der Reblaus und deren Bekämpfung
beziehen. Unter den verschiedenen Verbreitungsweisen schreiben
sie dem Herauskommen der Radicicolae der ersten (jungen) Larven
aus dem Boden und ihrem aktiven oder passiven Wandern ver-
mittelst der Winde eine große Bedeutung zu. Für unschädlich halten
sie die Zirkulation des Steckreises.
Endlich stellt Grassi, indem er die erhaltenen Resultate ver-
wertet, Überlegungen von allgemeiner Art über den Dimorphismus
und die Rudimentationserscheinungen an. Bei den Phylloxerinen
lassen sich zwei Arten von Dimorphismus unterscheiden, der eine
präinduzierte veranlasst ist durch auf die Mutter ausgeübte Ein-
flüsse (dies ist der Fall der Neogallecolae-Gallecolae und der Neo-
gallecolae-Radicicolae nach der Verschiedenheit des Weinstocks),
und der andere, induzierter Dimorphismus, der veranlasst ist
durch auf die Individuen ausgeübte Einflüsse, welche sich auch
bei ihrer Nachkommenschaft kundgibt (dies ist der Fall der ersten
Larven, welche sowohl aptere Virginiparen, wie geflügelte Sexu-
paren werden können). Der Autor vergleicht diese Fälle mit anderen
schon hinsichtlich anderer Formen bekannten zu dem Zwecke, die
Erscheinungen unter einem gemeinsamen Gesetz zu vereinigen.
Sodann betrachtet er die Rudimentatienserscheinungen, die bei den
Phylloxera-Arten eintreten, worunter die wichtigsten diejenigen sind,
die sich auf die Umgestaltung der Augen, der Flügel beziehen; er
bemerkt, sie seien unabhängig vom Nichtgebrauch und lassen sich
unterstellen vielmehr zum Prinzip des Balancement des Or-
ganes (E. de Geoffroy Saint Hilaire).
Grassi hat sich in letzter Zeit sehr viel mit der Phylloxera quereus
auf der Steineiche beschäftigt und nachgewiesen, dass die Geflügelten,
Töchter der überwinternden, virginipare sind wie jene Töchter
der Fundatrix und dass die Nachkommenschaft der virginiparen
Semon, Das Problem der Vererbung „erworbener Eigenschaften“. 41
Apteren aus virginiparen Apteren, geflügelten Masculiparen und
geflügelten Feminiparen gebildet wird; diese 3 Arten von Individuen
folgen aufeinander ın der Ordnung, wie sie aufgezählt wurden.
Lässt man sie künstlich überwintern oder ästivieren (indem man
für die Ästivation die ersten Larven eine gewisse Zeitlang auf harten
Blättern zubringen lässt), so kann man es erreichen, dass die Formen,
die geflügelt geworden wären, aptere Virginipare werden, aber es
fehlt jedes Anzeichen dafür, dass man statt einer Masculipara eine
Feminipara und umgekehrt erhalten kann.
Am Schluss sei es noch bemerkt, dass die Bibliographie voll-
ständig eingesammelt und sehr gut geordnet ıst: das Werk ist tech-
nisch (Tafeln, Textfiguren, Druck) sehr schön ausgestattet.
Osw. Polimanti (Rom).
Richard Semon, Das Problem der Vererbung
„erworbener Eigenschaften“.
Leipzig 1912, Verlag von W. Engelmann, 203 Seiten mit 6 Abbildungen.
Die exakte Erblichkeitslehre hat das große Verdienst, die Wissen-
schaft von der Abstammung der Organısmen von den bloßen Ver-
mutungen zum Experiment geführt zu haben. Ihre starren Regeln
hätten aber schließlich dahin führen müssen, dass dıe Veränderlich-
keit der Arten ın unserer Vorstellung auf ein Minimum reduziert
worden wäre. Die meisten deszendenztheoretischen Ableitungen
hätten ganz verlassen werden müssen, wenn nicht die Mutations-
theorie ausgeholfen hätte. Aber auch mit deren Hilfe war es
schwer, ein klares Bild vom Fortschritte der Arbeitsteilung in der
organischen Welt zu erhalten, ganz abgesehen von den Stimmen,
die gegen ıhre Gültigkeit laut wurden.
Allmählich häuften sıch aber dıe Erfahrungen, dass erbliche
Veränderungen mit Anpassungscharakter oder ohne solchen durch
gewisse äußere Einwirkungen hervorgerufen werden können, sei es
durch extreme Einflüsse (Standfuß, Tower etc.), sei es. durch
Bastardierung (Rosen).
Semon vertritt nun schon seit längerer Zeit die seit Weis-
mann’s Auftreten ın Misskredit gekommene Auffassung, dass „er-
worbene Eigenschaften“ erblich seien Die neueren dahin deutenden
Erfahrungen geben ihm den Anlass, das einschlägige Tatsachengebiet
zu einem sehr anregenden Buche zusammenzufassen. Da die ge-
bräuchliche Fragestellung, wie sie im Titel angeführt ist, zu mancherlei
Irrtümern Veranlassung gibt, wird das Problem folgendermaßen
formuliert:
„Vererben sich Reız- beziehungsweise Erregungswirkungen, die
auf die Elterngeneration erfolgt sind und sich bei ihr, gewisse
Ausnahmsfälle abgerechnet, auch manifestiert haben, auf die Nach-
kommen ?*
342 Semon, Das Problem der Vererbung ‚erworbener Eigenschaften“.
Die bejahende Antwort auf diese Frage wird nun begründet.
Herangezogen wird die Widerlegung scheinbar entgegenstehender
Tatsachen sowie die Besprechung von Erfahrungen, die für eine
solche Vererbung sprechen. Einiges möge angeführt werden. Der
schon früher von Semon behauptete 12: 12stündige Rhythmus bei
den Schlafbewegungen der Pflanzen trete nach neueren Unter-
suchungen nach dem Ausschalten periodischer Einflüsse vielfach
klar zutage. Er habe keinen Selektionswert, müsse also als Bei-
behaltung einer ererbten Gewohnheit aufgefasst werden. Ver-
letzungen werden bekanntlich nicht vererbt. Das sei aber auch
nicht zu erwarten. Die Reaktion auf die Verletzung sei es,
die auf ıhr leichteres Eintreten hin untersucht werden müsste.
Kammoerer habe derartige Erfahrungen an Ascidiensiphonen
gemacht.
Von Zuchtexperimenten sind nach der Kritik der exakten Erb-
lichkeitslehre nur solche beweisend, die an reinem Material ange-
stellt worden sind. Es gibt aber Tatsachen, welche zeigen, dass
die klimatische Akklımatisation von Pflanzen, die durch äußere
Umstände veränderte Fortpflanzungsart von Dapbnien, die Farben-
veränderungen an Schmetterlingen, Salamandern, Eidechsen u. s. f.
vererbt werden. Besonders wichtig sind Schröder’s Versuche
über Instinktänderung bei Käfern und Motten, die Chauvin’schen
Experimente mit dem Axolotl und die von Kammlerer mit der
Geburtshelferkröte und dem Feuersalamander, weil hier ein un-
mittelbarer Einfluss der bewirkenden Faktoren auf die Keimzellen
durch die Versuchsbedingungen ausgeschaltet ist. Diese Fragen
werden eingehend besprochen. Es handelt sich darum, festzustellen,
ob die Veränderung im Verhalten der Nachkommen durch unmittel-
bare Einwirkung der Außenreize auf das Keimplasma oder durch
Reizleitung von den elterlichen Körperzellen her zustande kommt.
Im ersteren Falle wäre eine Parallelität in den Modifikationen der
Beschaffenheit und des Gebahrens der Eltern und der Nachkommen
schwer zu begreifen. Aber auch rein physiologisch ist dieser Fall
vielfach unwahrscheinlich, weil die Außeneinflüsse sehr abgeschwächt
zu den Keimzellen dringen. Man müsste z. B. annehmen, dass das
Keimplasma des Feuersalamanders sehr viel empfindlicher gegen
Lichtreize sei als die Augen!
Als Erregungen, die zu den Keimzellen geleitet werden könnten,
kommen folgende in Betracht: 1. Solche, die unmittelbar als pbysi-
kalische oder chemische Reize die Körperzellen treffen. 2. Solche,
die durch die Funktion der Organe bedingt wird. 3. Solche, die
durch den Zusammenhang und die Gestalt der Teile hervorgerufen
werden. Die ersten sind am wirksamsten. Eine „Parallelinduktion“
durch gleichsinnige direkte Beeinflussung der Eltern und der Nach-
kommen ohne Wechselwirkung zwischen beiden hat man aus Ver-
suchen Tower’s mit dem Kolorado-Käfer geschlossen. Wirken
nämlich äußere Reize, wie z. B. Erwärmung, nur bis zur Beendigung
des Puppenstadiums, so wird allein die Farbe des Imagos, nicht
die der Nachkommen beeinflusst. Werden dieselben Reize alleın
Hegi, Illustrierte Flora von Mitteleuropa. 343
während der Reifezeit der Keimzellen angewandt, so verändern sie
nur dıe Nachkommen. Nach Semon erklären sich diese Befunde
aus der Unmöglichkeit der Farbenveränderung nach dem Aus-
schlüpfen aus der Puppe und aus dem Vorkommen einer sensiblen
Periode der Keimzellen.
Die Stellung der Semon’schen Auffassung zur Bastard- und
Variationsforschung kann hier nicht ausgeführt werden. „Muta-
tionen“ werden nach dem Verf. vielfach durch äußere Einflüsse
hervorgerufen. Ein Schlusskapitel behandelt u. a. das Zusammen-
wirken von Zuchtwahl und somatogener Vererbung.
Nicht ganz klar erscheinen dem Ref. zwei Punkte. Erstens
die Stellung des Verf. zu der Frage, warum durch Reızleitung vom
Soma her eher als durch direkte Beeinflussung der Keimzellen eine
Parallelität im Verhalten von Eltern und Nachkommen gewährleistet
sei. Offenbar muss man annehmen, dass jede Geschlechts- wie jede
(sewebezelle ın denselben Erregungszustand gerät. Durch diesen
wird dann wohl die Umformung hervorgerufen. Zweckentsprechend
kann sie aber doch nur sein, wenn dieselbe „Erfahrung“ im Laufe
der Phylogenie schon gemacht wurde. Damit hängt die zweite
Frage zusammen. Die erfolgreichen Experimente Kammerer’s
beziehen sich großenteils, ähnlich wie die bisher sicher als Mutationen
erkannten Veränderungen, nicht auf neue Eigenschaften, sondern
entweder auf Verlust von Merkmalen oder auf Wiederholung solcher,
die in der Stammesentwickelung schon vorgekommen sind. Dieser
Gesichtspunkt hat offenbar auch als heuristisches Hilfsmittel gedient.
Es ist bisher sehr schwer, die Entstehung sicher neuer Differen-
zierungen, also eine fortschreitende Entwickelung einwandfrei zu
erweisen. E. G. Pringsheim, Halle.
G. Hegi. Illustrierte Flora von Mitteleuropa.
III. Bd., 607 S., 42 bunte Tafeln, 270 Abb. im Text. München, Verlag von
J. F. Lehmann.
Von dem Werke, das wir schon wiederholt angezeigt haben,
liegt nun der dritte Band, und damit die Hälfte des Ganzen, abge-
schlossen vor. Er umfasst den ersten Teil der Dicotyledonen,
insbesondere die Gruppe der Monochlamydae und die beiden
großen Familien der Caryophyllaceen und Ranunculaceen. Über
den reichen Inhalt ist dem früher Ausgesprochenen nichts hinzu-
zufügen; er entspricht den Erwartungen, die man nach den ersten
Bänden hegen durfte. Ganz erstaunlich ıst, was für den mäßigen
Preis an Illustrationen geboten wird; nicht nur die bunten Tafeln
stehen dem Besten, was man an Pflanzenabbildungen besitzt,
gleich, sondern auch die ein klein wenig schematisierten Textabbil-
dungen, die den Habitus und die wichtigen morphologischen Eigen-
tümlichkeiten fast aller wichtigeren Arten illustrieren, sind von
einer Exaktheit der Zeichnung und Klarheit des Druckes, wie sie
A
244 Fränkel, Dynamische Biochemie.
kaum übertroffen werden können. Dazu kommen dann noch die
guten Reproduktionen von photographischen Naturaufnahmen, die
den Habitus oder die Pflanzenvergesellschaftung darstellen. Nicht
nur bei den Bäumen, sondern auch bei vielen der kleineren Blüten-
pflanzen sind sie ganz vortrefflich gelungen. Und als eine weitere
ganz neue Zugabe. zu einer Flora stellen“ sich kleine, ebenfalls sehr
klare Kärtchen über die Verbreitung einzelner Spezies, die darin
auffallendes zeigen, dar.
Um dem einzigen Vorwurf, den man dem Werk machen könnte,
der gegen die Voranzeige hinausgezögerten Vollendung, zu begegnen,
hat der Verlag zwei neue Bearbeiter für den 5. und 6. Band ge-
wonnen, Hans Hallier in Leiden und A. v. Hayek in Wien; der
4. und 6. Band sollen jetzt ın ıhren Lueferungen gleichzeitig er-
scheinen. Es ist nur zu wünschen, dass die beiden Schlussbände
in jeder Beziehung den vom Hauptherausgeber geschaffenen Bänden
gleichen mögen. W.
Sigmund Fränkel: Dynamische Biochemie.
Chemie der Lebensvorgänge. Wiesbaden 1911. Verlag von J. F. Bergmann. 600 p.
Nachdem Fränkel vor einigen Jahren in seiner deskriptiven
Biochemie die Beschreibung der ım tierischen Organismus vor-
kommenden Substanzen, sowie ihre Gewinnung und Bestimmung
beschrieben hat, behandelt er im vorliegenden Werke den Umsatz
der Substanzen im Organismus von chemischen Gesichtspunkten
aus, so dass nach Vollendung der beiden Teile eine vollständige
physiologische Chemie vorliegen soll. Das Thema, das der Verf.
sich hier gestellt hat, ist ein außerordentlich schweres; vielfach
finden sich Lücken ın unserem Wissen, oftmals sind die Lücken
so groß, dass das Bekannte wie Fettaugen auf einer mageren Suppe
erscheint. Unter solchen Umständen ıst es natürlich sehr schwer,
in diese spröde Materie System zu bringen. Verf. hat, wie man
eigentlich voraussehen musste, diese Schwierigkeit nicht bemeistern
können, und so ist sein Buch an vielen Stellen eine Aneinander-
reihung von Tatsachen ohne rechten Zusammenhang geworden.
Andererseits muss man zugeben, dass auf die Materialsammlung
großer Fleiß verwendet worden ıst und dass die Mehrzahl der ın
Betracht kommenden Tatsachen, wenn auch bisweilen etwas ver-
steckt und schwer aufzufinden, in dem Buche enthalten ist. Leider
darf nicht verschwiegen werden, dass das Buch eine große Reihe
von Druckfehlern enthält, und dass die Literaturangaben recht häufig
unzuverlässig sind. Immerhin wird als Materialsammlung das Buch
seinen Wert behalten. Pincussohn.
Veran, von ne Thieme in Teiplie, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblait.
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Bd.XXXIII. 20. Mai 1913. 65,
Inhalt: Wille, Über die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. — Kieffer und
Douwe, Zur Flora und Fauna der Strandtümpel von Rovigno (in Istrien). — Emery, Uber
die Abstammung der europäischen arbeiterinnenlosen Ameise ‚‚Anergates‘‘. — Szymanski,
Methodisches zum Erforschen der Instinkte.. — Wasmann, Lasius emarginatus Ol., eine
kartonnestbauende Ameise. — Ballowitz, Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigment-
strömung in den Melanophoren der Knochenfische. — Polimanti, Ricerche sulla rigiditä
cadaverica dei cefalopodi (Ociopus vulgaris Lam.). — Wasmann, Hildegard von Bingen als
älteste deutsche Naturforscherin. — Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften. —
Rosenthal, Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn Lewin. — Roux, Terminologie der
Entwickelungsmechanik der Tiere und Pflanzen. — Nusbaum, Die entwickelungsmechanisch-
metaplastischen Potenzen der tierischen Gewebe. — Weigl, Vergleiehend-zytologische Unter-
suchnngen über den Golgi-Kopsch’schen Apparat und dessen Verhältnis zu anderen Struk-
turen in den somatischen Zellen un«d Geschlechtszellen verschiedener Tiere. — Abderhalden,
Handbuch der biochemischen Arbeitsmethoden. — v. Reichenbach, Lehrbuch der Paläo-
zoologie (in zwei Teilen). — Preisausschreiben. — Die 85. Versammlung Deutscher Natur-
forscher und Arzte.
Über die Veränderungen der Pflanzen
in nördlichen Breiten.
Eine Antwort an Herrn Richard Semon.
Von N. Wille (Christiania).
In der Wissenschaft wird derjenige, welcher Recht hat, auch
zuletzt Recht behalten, deshalb hat eine wissenschaftliche Polemik,
die ohne Nachuntersuchungen und neue Tatsachen geführt wird,
nur selten wissenschaftlichen Wert. Im reiferen Alter habe ich
deshalb auch nicht gern meine Zeit zur Polemik verwenden wollen.
Wenn ich diesmal eine Ausnahme mache, dann geschieht es, erstens
weil ich von hervorragender Seite aufgefordert worden bin, die
wiederholten Angriffe von Prof. Dr. Richard Semon zu beant-
worten, zweitens weil ich von diesem fehlender Kenntnisse und
beinahe falscher Angaben beschuldigt werde.
XXXII. 17
346 Wille, Uber die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.
Im Jahre 1905 habe ich!) in einem Vortrage auf dem bota-
nischen Kongress in Wien nachgewiesen, dass die von Professor
Dr. F. Chr. Schübeler ın verschiedenen Arbeiten dargestellten
Anschauungen über die Veränderungen, die bei den Pflanzen auf-
treten sollten, wenn man sie einige Zeit hindurch weiter nördlich
oder in größerer Höhe über dem Meere, als sie gewohnt waren zu
leben, kultivierte, einer unparteiischen Kritik gegenüber nicht be-
stehen können.
Von sachverständigen Botanikern sind wohl meine Beweise
allgemein als stichhaltig angesehen worden. Nur der Naturphilosoph
Herr Prof. Dr. Richard Semon ist dagegen aufgetreten?) und
hat denjenigen von meinen Angaben, welche er bespricht, allen
Beweiswert abgesprochen.
Ich habe diesen Angriff von Herrn Semon bisher nicht beant-
wortet; er hat dann offenbar geglaubt, dass ıch gar nichts ant-
worten könnte und hat sich später zweimal noch mehr abweisend
gegenüber meiner Kritik ausgesprochen. In einer Abhandlung?)
sagt er nämlich: „ein Versuch N. Wille’s, ihren Wert herabzu-
setzen, ist deshalb als bedeutungslos zu bezeichnen, weil Wille
nachgewiesenermaßen die Kulturversuche Schübeler’s überhaupt
übersehen und geglaubt hat, dieser Autor ziehe seine Schlüsse nur
aus Berichten anderer sowie aus den Angaben eines alten schwe-
dischen Journals. Dem ist aber nicht so.“
In der letzten Auflage von seinem erwähnten Buch®) schreibt
er folgendes: „Ein Angriff auf diese bedeutungsvollen Ergebnisse
Schübeler’s, der vor einiger Zeit von N. Wille unternommen
worden ist, erwies sich deshalb als bedeutungslos, weil dieser Kri-
tiker die Hauptsache, auf die es im Grunde einzig und allein an-
kommt, vollkommen übersehen hat, nämlich die Schübeler’schen
Experimentaluntersuchungen. Sie sind ihm bei seiner Lektüre der
Schübeler’schen Schriften durch irgendeinen Zufall ganz entgangen,
und er glaubt irrtümlicherweise, Schübeler gründe seine Schlüsse
nur auf Hörensagen und die Angaben eines alten schwedischen
Journals. Ich bin hierauf in der zweiten Auflage des vorliegenden
Buches (S. 86) ausführlich eingegangen, wiederhole aber meine Aus-
führungen jetzt hier nicht, weil die Angelegenheit wohl nunmehr
erledigt ist.“
1) N. Wille, Über die Schübeler’schen Anschauungen in betreff der Ver-
änderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten (Biolog. Centralbl. Bd. XXV, 1905,
S. 561— 575).
2) Richard Semon, Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des
organischen Geschehens. 2. Aufl., Leipzig 1908, S. VII und 86.
3) Richard Semon, Können erworbene Eigenschaften vererbt werden? (Die
Abstammungslehre. Zwölf gemeinverständliche Vorträge. Jena 1911. S. 82).
4) Richard Semon, Die Mneme. 3. Aufl. Leipzig 1911. 8. 78.
Wille, Uber die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 247
Ja eine Unwahrheit kann so lange wiederholt werden, bis man
glaubt, dass sie Wahrheit ıst!
Die zerschmetternden Beweise, die Herr R. Semon gegen
mich hervorbringt, sind also alle in der zweiten Auflage von seinem
Buche, die ich ım folgenden kurz als „Mneme“ bezeichne, ent-
halten.
Zuerst schreibt Herr Semon in seinem Vorwort (Mneme S. VI]):
„die Angriffe N. Wille’s auf die wertvollen Schübeler’schen
Kulturversuche konnten als auf ungenügender Kenntnis der eigent-
lichen Leistungen Schübeler’s beruhend zurückgewiesen werden.“
Diese wiederholte Behauptung, dass ich „ungenügende Kennt-
nisse“ zu den Leistungen Schübeler’s besitze, kann dadurch be-
leuchtet werden, dass ich mitteile, dass ich Schübeler’s Nachfolger
als Direktor des botanischen Gartens ın Christiania bin; ich habe
mit ihm jahrelang persönlich verkehrt und es gibt wohl überhaupt
wenige, welchen er so viel über seine Versuche und Arbeiten mit-
geteilt hat. Außerdem habe ich die letzte Ausgabe von Schü-
beler’s großer Arbeit (Viridarıum Norvegicum) lesen können, was
Herr Semon offenbar nıcht konnte, weıl er (Mneme S. 54, Anm.)
ausdrücklich sagt: „letzterer in norwegischer Sprache, referiert ım
Biol. Centralblatt 1886.“ Es hat aber eine gewisse Bedeutung, die
letzte Ausgabe von einer Arbeit lesen und verstehen zu können,
wenn man darüber schreiben will, besonders, wenn wie hier be-
deutende Änderungen in der Auffassung gerade in der letzten Aus-
gabe hervortreten.
Meine Kritik der Schübeler’schen Postulate betreffend die
Veränderungen der Pflanzen gegen Norden wird von Herrn Semon
nur ın einer Richtung, nämlich betreffend dıe angenommene kürzere
Vegetationszeit direkt angegriffen. Betreffend die übrigen Punkte
meiner Kritik lässt er nur durchscheinen, dass er die für ebenso
wertlos finde, indem er sagt (Mneme S. 56, Anm.): „deren Berech-
tigung in anderen Punkten ich weder bestreiten noch zugeben will.
Ich untersuche ihre Berechtigung nur in bezug auf die erbliche
Verkürzung der Vegetationsdauer durch fortgesetzte Kultur im
Norden.“
Über meine Kritik über die Angaben Schübeler’s betreffend
die kürzere Vegetationszeit im Norden sagt Herr Semon (Mneme
S. 87, Anm.): „Das einzig Wesentliche in dieser Sache, die grund-
legenden Kulturversuche Schübeler’s in Christiania, über die er
in „Pflanzenwelt Norwegens“ S. 52, 53, Tabelle S. 54, 55 sowie
S. 80, 81, in den Kulturpflanzen z. B. S. 20 berichtet, werden von
Wille in seinem Aufsatz vollkommen ignoriert und nur allerlei
Beiwerk der Kritik unterworfen.“
Die von Direktor L. P. Nilssen gemachten und von mir
S. 570 mitgeteilten genauen Untersuchungen über die wirkliche
17*
948 Wille, Über die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.
Vegetationszeit der Gerste ın verschiedenen Teilen Norwegens, und
die entschieden gegen die Anschauungen Schübeler’s sprechen,
werden von Herrn Semon nicht erwähnt und nicht berücksichtigt!
Das einzig Beweisende sind nach Herrn Semon nur die Versuche,
die Schübeler in den Jahren 1857-—59 gleichzeitig in Breslau und
Ohristiania ausgeführt hat und wodurch die Vegetationszeit sich in
Christiania 4 Wochen verkürzt zeigte. Weil ich gerade diese Ver-
suche betreffend die Vegetationszeit nicht berücksichtigt habe, soll
nach Herrn Semon meine ganze Kritik „hinfällig“ sein.
Zuerst werde ich erzählen, dass ich diese Breslauer Versuche
Seite 563, wo es sich um die Gewichtsverhältnisse der Samen
handelt, doch erwähnt habe. Ich habe wirklich aber diesen Bres-
lauer Versuchen nicht viel Beweiskraft im Vergleich mit den späteren
Versuchen Schübeler’s durch 30 Jahren in Norwegen zugetraut.
Und Schübeler selbst scheint später dieselbe Auffassung zu haben,
er hat nämlich in der letzten Ausgabe (Viridarium norvegicum I,
S. 151) nur ganz kurz (in 6 Zeilen) diese Breslauer Versuche er-
wähnt, während er viele Seiten mit seinen anderen Beweisen
anführt.
Herr Semon hat ja diese letzte Auflage nicht gelesen!
Derjenige, welcher ein wenig landwirtschaftliche Kenntnisse
besitzt, wird auch verstehen, dass diese von Herrn Semon so hoch-
geschätzten Breslauer Versuche keine Beweiskraft besitzen. Ver-
suche, die nur 3 Jahre dauern, sind zu viel von Zufälligkeiten ab-
hängig, um Beweiskraft haben zu können;. die können höchstens
als Orientierungsversuche dienen.
Außerdem war es mir bekannt, dass gerade diese 3 Jahre
1857— 59 bei Christiania sogen. „Wunderjahre“* waren. Schübeler
hat ın diesen Jahren bei Christianıa auch Versuche mit Maissorten
gemacht und von einer ganzen Anzahl reife Kolben erhalten, die
im botanischen Museum ın Christiania aufbewahrt sind. Seitdem
wollte Schübeler niemals die Ansicht aufgeben, dass Mais eine
gute Landwirtschaftspflanze für Norwegen werden könnte. Derartige
Wunderjahre treten aber zu selten ein.
Um eine objektive Grundlage für die Beurteilung des Sommer-
klimas ın Christiania in diesen 3 Jahren im Vergleich mit anderen
zu gewinnen, habe ich aus dem meteorologischen Institute die Mittel-
temperatur der Monate Mai— September für alle Jahre von 1838—1908
herausschreiben lassen. Die normalen Mitteltemperaturen dieser
Monate sind für Christiania: Mai 10,5° C., Juni 15,5° C., Juli 17,0°C.,
August 15,9° C. und September 11,5° C. Die Abweichungen von
der normalen Temperatur sind in der folgenden Tabelle zugefügt
mit Vorzeichen — oder —.
Wille, Über die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 249
Mitteltemperaturen in Christiania.
Mai
Mittel Abweich.
2071082
9.6 — 0.9
10,02 364
ae
13.9, 1.4
13.6 + 3.1
Juni
Mittel Abweich.
°C, 15.5°
9:2 10:3
Hol
147 — 0.8
SU las!
16.2 + 07
15407
113.9. 156
15.07.05
Bor
16.0 + 05
151% 04
124972226
la
Sal 274
159 208
129 794
15.7 4 02
15.6 4 0.1
14.07 1.5
15.7 + 02
18.1 4 2.6
16.9 4 14
120) ZH
18.1 + 2.6
14.57 — 1.0
1957.00
1a 1
14.0 — 1.5
16.9 4 1.4
1342-2241
15.8 + 0.3
18.0 == 119)
Ha 04
IS 0NZ
16.0 4 0.5
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15.5 0.0
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17.0 +15
125 N)
15.6 + 0.1
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Io 0:3
15.6 + 0.1
12 N
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15.2 — 0.3
Juli
Mittel Abweich.
0,1208
12.8.7208
17.5 + 05
14.5 —
14.8
16.0
17.4
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OO HU OO WT
15.0 — 2.0
August
Mittel Abweich.,
2697# 15:9
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16.0 + 0.1
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18.7 4 2.8
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15.0 — 0.9
9
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16.6 4 0.7
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14.7
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15.0
122
15.9 0.0
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182-1103
11,803
10.7 — 0.8
11.4 — 0.1
12.3 + 0.8
1160
11.1 — 0.4
132 + 1.7
104 — 1.1
11.4 — 0.1
11.1 — 0.4
10.9 — 0.6
11.3 + 0.3
11.3 — 0.2
11.9 + 0.4
115 0.0
11.3 — 02
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261091
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11.2 — 0.3
10.3 — 0.7
11.4 — 0.1
14.5 0.0
11.1 — 0.4
128 4 13
1361
11.1 — 0.4
10.8 — 0.7
11.0 — 05
10.4 — 1.1
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10.9 — 0.6
10.3 — 0.7
11.4 — 0.1
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10.8 — 0.7
8.3 — 3.2
12.4 + 0.9
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33 118
11.3 — 0.2
28 +18
11.1 — 0.4
39
9.9 — 1.6
11.2 — 0.3
11.3 — 0.2
IH0
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Mittel Abweich.
210.5 °
1558 94 — 11
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90 3.5 + 3.0
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Mittel Abweich.
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16.2 — 0.8
16.7 — 0.3
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16.9 — 0.1
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190,12 2:0
15.5 — 15
199212099
19.6 + 2.6
15.5 —
19.9 + 2.9
14.9.2. 0.1
Se
1420) —
16.2 —
18.0 +
18.1 + 11
za
15.6 — 1.4
17.6 + 0.6
August
Mittel Abweich.
0.2 15:98
14.2 — 1.7
14.8 — 1.1
15.0 — 0.9
14.5 — 1.4
14.7 — 1.2
15.9 0.0
14.9 — 1.0
15.4 — 0.5
15.3 — 0.6
177, ers
14.2 — 1.7
172, 1-3
15.8 — 0.1
12.4 a5
13.0 — 2.9
14.5 — 1.4
16.0 + 0.1
14.4 — 1.5
15.6 — 0.3
13.4 — 2.5
16.3 + 0.4
Wille, Uber die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.
September
Mittel Abw.
LO Iı
11.4 — 0.1
10.2 — 1.3
12:0
112.25,02
11.2 — 0.3
10.2 — 1.3
10.1 — 1.4
123 +08
11:70:02
11.1 — 0.4
15 0.0
11.1 — 0.4
1625 0.0
12.7 212
98 — 17
11.7 +02
112) 0.0
11.1 — 0.4
12.0 + 05
10.7 — 0.8
10.5 —.0.9
Eine frühe Reifezeit in Christiania wird vorzugsweise durch hohe
Wärme und Trockenheit ım Monat August hervoreerufen.
fo)
Es zeigt
sich aus der obenstehenden Tabelle, dass gerade ın den 3 Jahren
1857—59 ım August ın Christianıa ein ganz bedeutender Wärme-
überschuss war.
Auch die Regenmenge spielt aber eine Rolle; das Getreide reift
schneller in trockener Luft als in Regen.
die Regenmenge ın diesen 3 Jahren für die Sommermonate ab-
schreiben lassen.
Die normale Regenmenge ist ın Christianıa:
Maı 42 mm, Juni 47 mm, Juli 75 mm, August 83 mm und Sep-
tember 65 mm.
In den erwähnten 3 Jahren war es aber:
Jahr 1 Mai ;
Mittel Abweich.
1857 9.2. — 33
en. a ee)
1859 33.7 — 8
Juni
Mittel Abweich.
335 —8
a) ee
BLSREI,
Juli
Mittel
139.6
116.1
32
+65
Se
2243
Abweich.
August
Mittel
21.1
78.8
58.5
07
— 9
— 29
Abweich.
Ich habe deshalb auch
September
Mittel Abw.
45.2 — 20
61.3, 4
128.0 +63
Es zeigt sıch also, dass der Monat August in diesen 3 Jahren
auch bedeutend weniger Regen als normal gehabt hat.
also gerade in diesen 3 Jahren bei Christiania die zwei Faktoren
vereinigt, die eine frühe Reifung hervorrufen können.
Herr Semon kann ja untersuchen, ob diese Faktoren in den
erwähnten 3 Jahren bei Breslau auch für eine frühe Reifung ebenso
günstig waren, wie ın Christiania.
Wir haben
Wille, Uber die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 951
Ich hatte aber noch andere Gründe, um diesen Versuchen in
Breslau und in Christiania nicht zu große Beweiskraft beizulegen.
Der botanische Garten in Breslau hatte eine flache Lage, während
der botanische Garten in Christiania, dort wo die Versuche ausge-
führt wurden, einen Abhang gegen Süden bildet und aus einem
schwarzen Schieferboden besteht, welcher eine Menge Wärme auf-
saugt. Die Versuchsbedingungen in Breslau und Christiania können
deshalb nicht ohne weiteres als gleichwertig betrachtet werden.
Es ist deshalb ganz richtig, wenn ich diese Breslauer Versuche
nur wenig berücksichtigt und hauptsächlich die viel wichtigeren
Untersuchungen und Forschungen Schübeler’s über diese Frage
durch viele Jahre innerhalb Skandinaviens in meiner Kritik berück-
sichtigt habe (S. 563 und 568). Diese Resultate Schübeler’s be-
treffend die kürzere Vegetationszeit im nördlichen Skandinavien
sind durch Direktor Nilssen’s von mir zitierten Untersuchungen
(5. 570) in der Tat hinfällig geworden.
Ich habe (S. 564) ausgesprochen: „Dass die Vegetationsdauer
sich nach Norden zu stark verkürzt, schließt Schübeler ebenda
(Kulturpflanzen S. 26), wie es scheint, im wesentlichen aus dem,
was man ihm über Getreideaussaat und Erntezeit in Alten (in Nor-
wegen 70° n. Br.) erzählt hat, sowie aus den Angaben eines schwe-
dischen Journals“ ..
Herr Semon (Mneme S. 78, Anm.) erklärt kategorisch: „Dies
ist aber vollkommen unrichtig.* Ich muss aber trotzdem meine
Behauptung aufrecht halten. Schübeler sagt nämlich selbst (Kultur-
pflanzen S. 26): „In Schweden findet dasselbe Verhältnis statt, wie
folgende Notiz, die ich dem anno 1781 in Stockholm erschienenen
„Hushällnings Journal“ (S. 65) entnehme, zeigen wird.“
Es ist auch in Norwegen lange vor Schübeler ausgesprochen
worden, dass die Vegetationszeit im nördlichen Skandinavien kürzer
ist als in südlichen Gegenden. Es ist nämlich folgendes zu lesen
in einem sehr bekannten Buche von dem berühmten norwegischen
Bischof Erich Pontoppidan aus dem Jahre 17535): „Aus dieser
Ursache haben wir hier zu Lande eben so früh Erndte, als in Dänne-
mark oder in Niedersachsen, obschon hier später gesäet wird, und die
Aussaat des Bauern kommt nach Verlauf von 9 Wochen in seine
Vorrathskammer wieder zurück, weil die Nächte so kurz sind, dass
der Acker nicht abgekühlet wird und das Wachsthum des Getraydes
eben so wohl als bey Tage kann erhalten werden. Zu desto besserer
Aufklärung und Bestätigung dieser Sache halte ich für gut, die
Worte des vortrefflichen schwedischen Naturforschers Linnaeus
5) Erich Pontoppidan’s Versuch einer natürlichen Historie von Norwegen,
Erster Theil. Aus dem Dänischen übersetzt von Johann Adolph Scheiben.
Kopenhagen 1753. S. 182.
52 Wille, Über die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.
anzuführen. Er spricht nämlich in seiner Abhandlung von Pflan-
zung der Gewächse, auf die Natur gegründet, also°):
„Gegen die Pole ist der Sommer kürzer, aber hingegen hat man
längere Tage. Weil der Sommer in Frankreich länger ist, als ın
Lapland, so reifen die Früchte geschwinder in Lapland, als ın Frank-
reich. In Paris sind die kühlenden Nächte länger, da denn die
Kräuter ruhen, wesfalls sie mehrere Tage zu ihrer Reife zu ge-
langen, erfordern. In Lapland ist des Sommers fast gar keine
Nacht, und also können daselbst die Kräuter Tag und Nacht
wachsen. Z. B. Im Jahre 1732 ward das Korn den 31 May ge-
säet, und gegen den 28sten Julius ward es eingeerndtet, es ward
also ın 58 Tagen reif. Selbigen Jahres säete man den Rocken am
ölten May, und den 5ten August ward er eingeerndtet; er war also
in 66 Tagen reif geworden. Dieses geschah in Lulaalapland, und
es würde weiter gegen Süden nicht geschehen.“
Es ist doch anzunehmen, dass Schübeler dieses berühmte
Buch gekannt hat; er war nämlich ein vorzüglicher Kenner der
alten Literatur Norwegens.
Mein Ausspruch 1905 (l. ec. S. 573): „Diese Fragen können in-
dessen nur durch exakte Untersuchungsmethoden gelöst werden,“
scheint auch von den sachverständigen Botanikern geteilt zu werden.
Eine Nachuntersuchung betreffend der Länge der Vegetationszeit
unter verschiedenen Breitegraden ist von Prof. Dr. E. Baur in
Berlin und Dr. H. Nilsson-Ehle in Svalöf nach exakten Methoden
mit „reinen Linien“ organisiert worden. Eine ähnliche Versuchsserie
ist auch in Norwegen selbst von meinem Kollegen Prof. Dr. H. Gran
und Direktor für die landwirtschaftliche Versuchsstation ın Hede-
marken Herrn W. Christie angefangen. Diese Versuche werden
nicht nur in 3 Jahren, aber in mehreren fortgesetzt, um beweis-
kräftig zu werden.
Durch derartige exakte Untersuchungen kann diese Frage end-
gültig entschieden werden, nicht aber nur durch leere Worte und
unberechtigte Beschuldigungen, wodurch die Wissenschaft überhaupt
nicht gefördert wird.
Weitere Antwort an Herrn Prof. R. Semon finde ich über-
flüssıg.
Weil ich gerade dabei bin, möchte ich aber noch eine andere
Frage etwas weiter besprechen.
Ich habe 1905 (l. e. S. 573) eine Untersuchung über die Be-
standteile des ätherischen Öles in den Früchten von Carum Carvi
aus drei verschiedenen Stellen in Norwegen referiert. Ich kann
jetzt noch eine spätere Mitteilung über die wenig bekannte, aber
6) „Abhandlungen der schwed. Akademie der Wissenschaften, I. Bd. S. 22.“
Wille, Über die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. 353
sehr interessante Frage, wie sich die ätherischen Öle gegen Norden
verhalten, referieren.
Cand. pharm. Ths. H. Poulsson’) hat Untersuchungen über
die Menge des ätherischen Öles in den Beeren des norwegischen
Wachholders angestellt und schreibt folgendes, welches ich hier in
der Übersetzung wiedergebe: „Welchen Einfluss das Klima und die
geographische Breite auf den Inhalt einer Pflanze an ätherischem
Öl haben kann, ist noch nieht genügend bekannt. Die gewöhnliche
Annahme ist wohl, dass die Wärme die Entwickelung aromatischer
Substanzen befördere und dass die Menge des ätherischen Öles und
ähnlicher Substanzen gegen Süden größer werden. Einen entgegen-
gesetzten Standpunkt hat aber unser verstorbener, für das ökono-
mische Leben so interessierter Botaniker Schübeler eingenommen,
indem er sich hauptsächlich aus subjektiven Eindrücken über z. B.
Geschmack der Küchengemüse und den Geruch der aromatischen
Pflanzen ausgesprochen hat, dass die erwähnten Stoffe gegen Norden
zunehmen und auch die ökonomische Ausnutzung davon empfohlen.
Versucht man aus den verschiedenen zerstreuten Analysen festzu-
stellen, welche von diesen streitenden Ansichten die richtige ist,
dann bekommt man den Eindruck, dass eine generelle Regel nicht
aufgestellt werden kann. Es ist am wahrscheinlichsten, dass jede
Pflanzenart ihrem besonderen Gesetz folgt und dass einige von
dem Breitegrade, unter welchem sie wachsen, verhältnismäßig un-
abhängig sind, während andere das Optimum betreffend aromatische
Substanzen im Norden und wieder andere im Süden haben.
Wie sich das Verhältnis für die Wachholderbeeren stellt, geht
hervor aus folgenden Angaben, die nach den verschiedenen Quellen,
die mir zugänglich waren, zusammengestellt sind.
Nach Gildemeister und Hoffmann) ist der durchschnitt-
liche Inhalt von ätherischem Öl in italienischen Beeren 1.00—1.50°/,,
in bayrischen 1.00—1.20°/,, in ungarischen 0.8—1.00°/,, in ost-
preußischen, polnischen, thüringischen und fränkischen 0.6--0.9°/,.
Nach Schimmel?) war die Ausbeute bei der fabrikmäßigen
Darstellung im großen von italienischen Beeren 1.1 —1.2°/,, von
ungarischen 1.0—1.1°/, und von deutschen Beeren 0.5—0.7°|,.
Spätere Angaben!) aus derselben Quelle lauten: italienische und
ungarische Beeren 0.8°/,, bayrische 1.2°/, und thüringische 0.7°/,.
Wie man sieht, sind die Zahlen nicht ganz regelmäßig; sie deuten
doch aber im ganzen an, dass die Ölmenge gegen Norden abnimmt.
7) Ths. H. Poulsson, Om Mängden af ätherisk Olje i norske Enebär. (Tids-
skrift for Kemi, Farmaci og Terapi. Aarg. 5. Kristiania 1908, S. 365).
8) E. Gildemeister und Fr. Hoffmann, Die ätherischen Öle. Berlin 1899,
S. 349.
9) Bericht von Schimmel & Co. Oktober 1887.
10) Kommentar til Pharmacopoea Danica 1893. Kjöbenhavn 1896. 8. 144.
4 Zur Flora und Fauna der Strandtümpel von Rovigno (in Istrien).
Von norwegischen Beeren habe ich nur eine Analyse von
Mayer!!) ausgeführt gefunden; die Beeren waren bei Drontheim
gesammelt und es wird 0.54°/, Ölangegeben. In Beeren aus Oerebro
in Schweden hat er 0.43°/, und in finnischen Beeren 0.34°/, ge-
funden. Derselbe Verf. hat in italienischen Beeren 0.63°/, und ın
deutschen 0.54 °/, gefunden.“
Hr. Poulsson hat selbst drei Analysen von norwegischen
Wachholderbeeren, die bei Röros 1907 gesammelt wurden, ausge-
führt. Die Resultate waren:
I. 500 g Beeren allein —= 0.50°/,.
II. 400 g Beeren allein —= 0.34°]|,.
III. 313 g Beeren und Nadeln zusammen = 0.60°],.
Wenn die Probe III, die Nadeln enthält, außer Betracht gesetzt
wird, erhält man niedrige Zahlen, die mit den vorher erwähnten
zusammengestellt, wohl zu dem Schlusse berechtigt, dass die Menge
der ätherischen Öle von Süden gegen Norden erheblich abnimmt.
Zu diesem Resultate Poulsson’s möchte ich doch die Be-
merkung fügen, dass die Wachholderbeeren aus Röros wahrschein-
lich von der dort verbreiteten Juniperus communisL. var. nana W ılld.
stamme und deshalb nicht direkt mit den mittel- und südeuro-
päischen Wachholderbeeren verglichen werden dürfen. Soviel geht
doch aus diesen Mitteilungen hervor, dass die Anschauungen Schü-
beler’s auch in dieser Richtung zurzeit eine tatsächliche Grundlage
entbehren.
Zur Flora und Fauna der Strandtümpel von Rovigno
(in Istrien).
Herausgegeben von der Zoologischen Station Rovigno.
Vorbemerkung. Diese Sammlung von kleinen Aufsätzen zur
Naturgeschichte der Felsentümpel des Strandes von Rovigno ist
ein Seitenstück zu den „Notizen über die Fauna der Adria bei
Rovigno“, die seit dem 14. März 1911 im Zoologischen Anzeiger
erscheinen. — Unter dem Gebiet von Rovigno wird hier wie dort
der Teil der istrischen Küste und der ihr vorgelagerten Inseln
verstanden, den wir mit dem kleinen Motorbrot der Station ın
Tagestouren bequem erreichen können. Da das Fahrzeug durch-
schnittlich 7 Seemeilen: in der Stunde zurücklegt, so bestreichen
wir mit einem Aktionsradius von 30 Seemeilen eine Küstenstrecke,
die vom Kap Salvore bis zum Kap Merlera reicht, und also genau
das Gebiet der istrischen Platte (vulgär: des „roten“ Istriens) be-
11) Rundschau für die Interessen der Pharmacie, Chemie, Hygiene etc. von
E. Graf und A. Vomäcka, Leitmeritz, Böhmen (Ref. in Jahresbericht der Phar-
macie, 1853—84, S. 93).
Zur Flora und Fauna der Strandtümpel von Rovigno (in Istrien). 355
grenzt. — Eine knappe Skizze des Arbeitsgebietes enthält Nr. 10/11
des 37. Bandes des Zoologischen Anzeigers. Dr. Thilo Krumbach.
1. Dasyhelea halophila n. Sp.,
eine neue halophile Zuckmücke.
Von Prof. Dr. Kietfer (Bitsch).
An der Küste bei Rovigno, in salzwasserhaltigen Felslöchern,
sammelte Herr ©. van Douwe kleine wurmförmige Larven, die sich
im Wasser zur Puppe verwandelten. Die Mücken, die sich daraus
entwickelten, gehören zur Gattung Dasyhelea Kieff., also zu einer
Oulicoidinengattung, die bisher nur für Ost-Indien bekannt war!) und
die sich von Culicoides Latr. durch die behaarten Augen unter-
scheidet.
gg. Schwarzbraun und kahl; Beine schmutzigweiß oder lehm-
gelb, Knie schwarz, Mitte der Femora und der Tibien schwach ge-
bräunt; Hinterrand der Tergite heller gefärbt. Augen oben zu-
sammenstoßend, dicht aber kurz feinhaarig. Palpen viergliedrig,
1. Glied kurz, 2. lang, walzenrund, so lang wie die 2 folgenden
zusammen, 3. wenig länger als dick, 4. umgekehrt eirund, am Distal-
ende mit 5 Borsten. Mund bei Zg lang und spitz, dreimal so lang
wie breit am Grunde. Antenne 14gliedrig, 2.—10. Glied beim /
kuglig oder kaum quer, 11.—14. zusammen so lang wie die 9 vor-
hergehenden zusammen, die Richtung derselben fortsetzend, das 13.
etwas kürzer als das 12., dieses dem 11. gleich, alle 3 sind fast
walzenrund, 2—3mal so lang wie dick und endigen in einen kurzen
Griffel, welcher kaum zweimal so lang wie dick ist, das 14. Glied
ist gestaltet wie das 13., aber um die Hälfte länger und etwas
dieker; Busch schwarzbraun. Beim 9 ist das 2. Glied ellipsoidal,
3.—13. ziemlich gleich, flaschenförmig, allmählich schwach verlängert,
die letzten zweimal so lang wie diek, mit einer halsartigen Ver-
längerung, welche die Hälfte ihrer Länge erreicht, nur das End-
glied ist deutlich verlängert, um die Hälfte länger als das 13., mit
einem kurzen stumpfen Endgriffel; 2.—13. Glied mit einem Borsten-
wirtel, der bis zur Mitte des folgenden Gliedes reicht, und über
diesem, mit je einer pfriemlichen, dickeren und glashellen Borste,
welche das Proximalende des folgenden Gliedes kaum überragt.
Flügel glashell, mit anliegenden, ziemlich langen und ziemlich dichten
Haaren, die mehr oder weniger in Längsreihen geordnet sind,
Zwischenräume punktiert; Radialis und Cubitalis vereinigt, am
Distalende der Radialis nähert sich die Cubitalıs dem Vorderrand,
dem sie dann bis zu ihrer Mündung parallel bleibt; die Discoidalis
1) Zwei andere Vertreter dieser Gattung wurden inzwischen für Lothringen
und Westfalen beschrieben. Auf die Chironomus-Arten, bei denen die Tergite 2—6
mit einem länglichen, benabelten Eindruck versehen sind, gründe ich die neue Gat-
tung Glyptotendipes; Type: @. sigillatus Kieff.
356 Emery, Über Abstammung der europ. arbeiterinnenlosen Ameise „Anergates“.
verzweigt sich an der schrägen Querader, die Gabelung der Posticalis
liegt der Mitte der Cubitalis gegenüber. Vordere Tibia mit einem Kamm,
so lang wie das Femur, oder wie die 2 ersten Tarsenglieder, Metatarsus
2!/,mal so lang wie das 2. Glied, das 4. Glied noch fast doppelt so lang
wie dick, etwas kürzer als das 5.; Krallen fast gerade, proxımal mit
einigen Borsten unterseits, Empodium kaum sichtbar, sehr klein,
Tarsus dorsal mit einigen langen Haaren, ventral kurz beborstet. Am
Hinterbein haben die Tibia und der Metatarsus dorsal sehr lange
zerstreute Haare, welche 4—5mal so lang wie die Dicke der Tıbia
sind, die Tibia mit einem Kamm, der Metatarsus so lang wie die
3 folgenden Glieder zusammen. Abdomen wenig dicht behaart;
Lamelle der Zange hinten abgerundet und mit einem langen walzen-
förmigen Griffel, der ın eine noch längere Borste ausläuft; End-
glieder der Zange nur ein Drittel so dick wie die Basalglieder, fast
walzenrund, proximal kaum dicker als distal, kaum gebogen, fünf-
mal so lang wie dick am Grunde, fein pubesziert und am Distal-
ende etwas schräg abgestutzt. Länge: 2—2,5 mm.
2. Tigriopus fulvwus Fischer, var. adriatica,
ein typischer Rock pools = Copepode.
Von C. van Douwe, München-Schwabing.
(Mit 3 Figuren.)
1860. Harpactieus fulvus Fischer. Beitr. z. Kenntnis der Entomostraken. Ab-
handl. der Bayer. Akad., vol. III, p. 656.
1868. Tigriopus Lilljeborgi Normann. Last Shetland Dredging Report, p. 296.
1880. Harpaeticus fulvus Brady. A monograph of the Free and Semi-parasitic
Copepoda of the Brit. Islands, vol. II, p. 149.
1911. Tigriopus fulvus G. O. Sars. An account of the Crustacea of Norway.
Vol. V, Copepoda Harpacticoida, p. 54.
Diese sowohl in bio-
logischer Beziehung wie
auch hinsichtlich der geo-
graphischen Verbreitung ın-
In teressante Üopepodenspe-
—T zies — bisalng von den
britischen Inseln, der skan-
Y yım dinavischen und ‚franzö-
N sıschen Küste sowie von
RR Madeira und den Ker-
guelen bekannt — 1ritt
auch in den zahlreichen
Rock pools der istrianischen
Adriaküste auf. Hier be-
völkert sie, zeitweise in
Massen, als ausschließliche
Vertreterin der Copepoden,
Fig. 1. Furca, dorsal. die oft kaum noch in der
Zur Flora und Fauna der Strandtümpel von Rovigno (in Istrien). 357
Spritzzone des Meeres gelegenen Felsenwannen verschiedentlicher
(Größe.
Schon Brady in der oben zitierten Monographie sagt von
unserer Art: „Considerable interest attaches to this species on
accountof wits wide geographicaldistribution. It is restrieted almost
exclusively to the uppermost margin of the littoral zone, haunsing
more especially shallow pools at or above high-water-mark and often
oceuring in prodigious numbers towards the end of summer when the
water has become warm with prolonged exposure to the sun.“
a u
A u A I
Fig. 2. 5. Fuß. 119,3:00052 Ruß:
Es spricht für ein enormes Anpassungsvermögen gerade dieses
Copepoden, dass dessen Lebensmedium nach doppelter Richtung
hin den extremsten Schwankungen ausgesetzt erscheint: Einmal
hinsichtlich des stets wechselnden Salzgehaltes, der nach Perioden
längeren Regens direkt zum Verschwinden gebracht wird, und
andernteils in bezug auf die Temperaturverhältnisse, da man weiß,
dass das Wasser in diesen oft nur handtellergroßen und dement-
sprechend flachen Steingruben Temperaturen bis zu 40° ©. auf-
weisen kann.
In morphologischer Hinsicht stimmen die an der Adria ge-
sammelten Tiere mit den Darstellungen der Autoren, insbesondere
mit den von Sars veröffentlichten detaillierten Zeichnungen in
einigen wesentlichen Punkten nicht ganz überein. Diese Abwei-
chungen, die bei allen adriatischen Exemplaren in gleicher Weise
auftreten, veranlassen mich zur Aufstellung der
var. adriatica,
die durch nachstehende Punkte genügend charakterisiert er-
scheint:
255 Emery, Über d. Abstammung d. europ. arbeiterinnenlosen Ameise „Anergetes“.
Furkaläste: Tigr. fulvus typ: var. adriatica:
Dorsal nur die geknöpfte Borste, Dorsal außer der geknöpften
sonst vollkommen glatt. Borste eine lange, starke Borste;
über ihr und über der geknöpften
Borste je eine kurze Reihe ver-
schieden starker Dornen (s. Fig. 1).
5. Fuß des
(Endglied): Auf der Außenfläichke keine Auf der Außenfläche eine
Dornen. Dornenreihe (s. Fig. 2).
5. Fuß des: DBasale und Endglied schlank, Basale gedrungen, nicht so lang
viel länger als breit. als breit; Endglied rundlich, ei-
förmig (s. Fig. 3).
Die Tiere waren von rotbrauner Färbung, die meisten 9 mit
großen, roten Eiersäcken.
Über die Abstammung der europäischen
arbeiterinnenlosen Ameise „Anergates“.
Von Prof. Carlo Emery (Bologna).
Als ich den Satz aufstellte, dass die parasitischen und die dulo-
tischen Ameisen regelmäßig mit den Wirts- bezw. den Hilfsameisen
verwandt seien und von ihnen abstammen, war ich mir der Aus-
nahme, welche die Gattung Anergates bilde, wohl bewusst!). Es schien
mir nicht möglich, diese Ameise von 7etramorium, mit dem sie lebt,
abzuleiten, und Anergates ıst zu sehr in beinahe allen Teilen seines
Leibes, sozusagen, degeneriert, d. h. dem Parasitismus angepasst,
um einen Vergleich mit irgendwelcher nichtschmarotzenden Ameise
zu gestatten.
Aber ich hatte bereits im Jahre 1895 eine merkwürdige nord-
amerikanische Ameise, unter dem Namen „Epoecus pergandei* be-
schrieben, die Herr Theo. Pergande in einem Nest von Mono-
morium minutum minimum Buckl. entdeckt hatte; ich vermutete
damals schon, dass dieselbe eine Verwandte von Anergates sein möge.
Leider bemerkte der Eintdecker nıcht sofort, dass er einen seltenen
Fund gemacht; die geflügelten Männchen und Weibchen, die in
großer Mehrzahl unter. den Arbeiterinnen von Monomorium vor-
kamen, hielt er für Männchen und Weibehen der Wirtsameise.
Zum Zweck einer Studie über die Systematik der Myrmicinae,
habe ich Epoecus nochmals untersucht und mein damaliges Urteil
völlig bestätigt gefunden, nämlich, dass jene Ameise an Anergates
sich anschließt und zugleich diese Gattung mit Monomorium ver-
bindet. Somit ist Anergates eine mit Monomorium verwandte schma-
rotzende Ameise.
1) Über den Ursprung der dulotischen, parasitischen und myrmekophilen
Ameisen. Diese Zeitschr., 28. Bd., Nr. 11, 1909.
7
Emery, Uber Abstammung der europ. arbeiterinnenlosen Ameise „Anergates“. 259
Epoecus stellt ein Stadium vor, wo das Männchen noch ge-
flügelt ist. Aber dieses Männchen ähnelt dem Weibchen in bezug
auf den Bau der Antennen auffallend; dieselbe Ähnlichkeit bietet
das Männchen von Anergates mit dem betreffenden Weibchen dar.
— Während nämlich die Männchen der Ameisen, und überhaupt
der HAymenoptera aculeata, sich von den Weibchen durch ein Glied
mehr an den Fühlern unterscheiden, bilden Epoecus und Anergates,
mit wenigen, gar nicht verwandten Gattungen (Ontaulacus, Stereo-
myrmex, Metapone) eine Ausnahme, indem das Männchen dieselbe
Gliederzahl wie das Weibchen besitzt: 11 für Anergates, während
die Zahl der Fühlerglieder für Ypoecus ın jedem Geschlecht zwischen
11 und 12 schwankt. Bei den Ponerinae, Myrmicinae und Dolicho-
derinae ist noch der Fühlerschaft der Männchen meist viel kürzer
als dasselbe Glied der Weibchen; bei Anergates, Epoecus und nicht
vielen anderen Gattungen, die mit denselben gar nichts zu schaffen
haben, ist er in beiden Geschlechtern ungefähr gleich lang.
Auch die Weibehen der beiden Gattungen bieten Ähnlichkeiten
dar. Bei nochmaliger Untersuchung der weiblichen Exemplare
meiner Sammlung (ich besitze davon 7) bemerkte ich, dass der
Hinterleib sämtlicher Stücke an der Rückenseite eingedrückt ist.
Einen Eindruck finde ich bei den Männchen nicht; bei den Weibchen
der sonstigen Ameisen, die nicht einen übermäßig geschwollenen
Bauch haben (was Epoecus nicht hat), und die beim Eintrocknen
schrumpfen, finde ich ihn auch nicht. Jener Eindruck des Hinter-
leibs der Epoecus-Weibcehen scheint mir etwas beständiges und regel-
mäßiges zu sein und entspricht wohl dem Eindruck, den man bei
geflügelten Anergates-Weibchen regelmäßig wahrnimmt.
Der dorsal eingedrückte Hinterleib bildet also eine durchaus
charakteristische gemeinsame Eigenschaft der Epoecus- und Aner-
gates-Weibchen. Ich vermute deshalb, per analogiam, dass das
Epoecus-Weibchen, wenn es befruchtet und im Genuss voller Frucht-
barkeit ist, eines bedeutend geschwollenen Bauches sich erfreut.
Die Anhaltspunkte, die Epoecus mit Monomorium darbietet,
beziehen sich überhaupt auf den Bau des Kopfes (besonders des
Clypeus), des Stielchens und des Geäders des Vorderflügels (be-
sonders der offenen Radıalzelle, die bei allen mit Monomorium ver-
wandten Gattungen vorkommt).
Demgemäß, da Anergates mit Epoecus verwandt ist und letztere
Gattung im den Kreis der Monomorium-ähnlichen gehört, dürfte
Anergates ebenfalls von Monomorium abgeleitet werden. Ich ver-
mute, dass Anergates oder dessen Vorfahren, als Parasiten von
Monomorium gelebt haben; wahrscheinlich gehörten jene Vorfahren
sogar der Gattung Epoecus an. Es hat deshalb ein Wirtswechsel
stattgefunden, von Monomorium zu Tetramorium,
260 Szymanski, Methodisches zum Erforschen der Instinkte.
Ich denke, dass die moderne, nachtertiäre Ameisenfauna von
Europa (abgesehen von den Überbleibseln von älteren Faunen)
hauptsächlich in Zentral- und Westasien sich ausbildete und von dort
gekommen ist. Da lebten in trockenem Klima Tetramorium caespitum
und verschiedene Monomorium. Ob der Wirtswechsel dort erfolgte
oder weiter zurück, in der phylogenetischen Laufbahn des Epoecus-
Anergates-Stammes, ist vorläufig nicht zu eruieren; vielleicht ın
Afrika, der eigentlichen Heimat der Tetramorium.
Monomorium minutum, in dessen Nest Epoecus ın Nordamerika
lebt und von dessen Vorfahren er vermutlich abstammt, gehört
gewiss einer uralten Formenreihe, die sogar in Neu-Seeland einen
Vertreter (M. antipodum For.) hat. Wahrscheinlich ıst M. minutum,
samt ihrem Gast, in die Südgebiete von Nordamerika in vormiocänem
Zeitalter gewandert; durch welche Festlandbrücken es kam, steht
außerhalb der Aufgabe dieses Aufsatzes?). — Die Vettergattung
von Epoecus, nämlich Anergates, hatte deshalb geraume Zeit zu
variieren und ihren Wirtswechsel zu vollbringen, der zweifelsohne
mit manchen Veränderungen verbunden war.
Unterdessen war die Eiszeit für Nordeuropa vorüber, der Grund
des sarmatischen Meeres war trockengelegt und die Steppe dehnte
sich über Mitteleuropa aus. Tetramorium caespitum, die sogen.
Wiesenameise (auf die aber der englische Name „Pavement Ant“
allerdings viel besser passt), überflutete ganz Europa, begleitet von
ihren Gästen und Parasiten.
Methodisches zum Erforschen der Instinkte.
Von Dr. J. S. Szymanski (Wien).
Die moderne experimentelle Richtung in der Lehre vom Ver-
halten der Organismen hat großen Einfluss auf die Methodik der
Instinktsforschung ausgeübt. Wenn man sich früher mit der Be-
obachtung und der möglichst genauen Beschreibung des instinktiven
Verhaltens begnügte, sucht man heutzutage dasselbe in seine Ele-
mente zu zerlegen, um diese eingehend studieren zu können.
Je komplizierter und verwickelter in der Periode der reinen
Beobachtung sich die Äußerungen eines Instinktes zeigten, desto
angebrachter galt es damals, dieselben zu rühmen — je nach Ge-
schmack — als Folgen entweder der unendlichen Weisheit des
präsumierten Trchopier aller Dinge bezw. der vis aestimativa
oder als Wirkung natürlicher Selektion bezw. automatisch gewör-
dener Be oliihei,
2) Da M. minutum weder in Ostasien noch in Japan bis jetzt gefunden wurde,
gehört es wahrscheinlich nicht zur ostasiatischen Tierwanderung nach Nordamerika,
die allerdings in einem viel späteren Zeitalter erfolgte. — Vgl.: R. F. Scharff,
Distribution and origin of life in America, London, Constable & Co., 1911.
Szymanski, Methodisches zum Erforschen der Instinkte. 361
Die experimentelle Richtung hat die unsicheren Bahnen der
theologischen bezw. naturphilosophischen Betrachtungsweise ver-
lassen. Ohne sich um die „ersten Ursachen“ zu kümmern, wendete
man sich den Erscheinungen selbst zu; man hat sich bemüht, die-
selbe in kausale Abhängigkeit von anderen schon bekannten Er-
scheinungen zu bringen. Dieses Bemühen hat seinen Ausdruck in
der Formel: Keine Reaktion ohne Reiz, mit anderen Worten, keine
Wirkung ohne „wirkungsbestimmende Umstände“ (Mach) gefunden.
Die Methode der modernen Lehre vom Instinkt besteht also ım
Ermitteln der Reize, die für einen bestimmten Instinkt charakte-
ristischen Bewegungskomplex auslösen.
Um dieser Aufgabe näher zu kommen, ist es nötig, mit Er-
forschung relativ einfacher Instinkte zu beginnen. Da indessen
selbst die einfachsten Instinkte mehr oder weniger zusammengesetzt
sind, so gilt es zunächst, dieselben in ihre Elemente zu zerlegen
(analytisches Verfahren). Unter einem Element des instinktiven Ver-
haltens ist die Bewegungsrichtung und -geschwindigkeit zu verstehen,
die durch einen der quantitativ definierten und als obligatorisch
für Zustandekommen des Instinkts vorausgesetzten Reize bestimmt
wird.
Sobald dies geschehen ıst, wäre es angebracht, durch künst-
liche Zusammenwirkung der einzelnen Reize den für den analy-
sierten Instinkt charakteristischen Bewegungskomplex nach dem
Willen des Experimentators wieder hervorzurufen (synthetisches
Verfahren).
Das heutige experimentelle Verfahren überschritt noch nicht
die Grenzen der Analyse; es besteht jedoch die Hoffnung, dass das
synthetische Verfahren ın dem oben erwähnten Sinne sich als
möglich erweisen wird. Worauf sich diese Hoffnung stützt, möchte
ich an zwei Beispielen veranschaulichen.
Beispiel I!).
Die Beobachtung zeigte, dass Daphnien „Wanderungen“ aus-
führen.
Das analytische Verfahren stellte fest, dass Daphnien Licht
aufsuchen und wärmere Wasserschichten den kälteren bevorzugen
(bis zur gewissen Grenze!); hingegen vermeiden dieselben die in
starke Wellenbewegung gebrachte Wasserschichten. Ferner konnte
man adäquate Reize, die sich als motorische Faktoren auffassen
lassen, in ihrer optimalen Wirkung einzeln untersuchen und quan-
titativ bestimmen. Die Berechnung zeigte weiter, dass, wenn man
alle die Reize in denselben, also optimalen Reizgrößen simultan
auf die Daphnien hätte einwirken lassen, die Tiere sich unter dem
Winkel von 55° bewegen müssten. Das Experiment bestätigte die
1) Vgl. meine Arbeiten in Pflüg. Arch. Bd. 138 (p. 463 ff.) u. Bd. 143 (p. 28tf.).
XXXIl. 18
362 Szymanski, Methodisches zum Erforschen der Instinkte.
Richtigkeit der obigen Berechnung. Dies letzte Experiment ent-
spricht methodisch dem, was wir oben als synthetisches Ver-
fahren genannt haben (vgl. "Tab. 1).
Tabelle I.
Die Daphnien führen die „Wanderungen“ aus.
<- Beobachtung
Als die richtungbestimmenden Faktoren dienten bei Bewegungen der zu
Versuchen verwendeten Daphnien folgende Vektorreize:
Phototropisch | Mechanotropisch | Photopathisch Thermotropisch
(positiv) (negativ) (negativ) (positiv)
Einseitige Be- | Die Kraft des fal- | Photopathische | Die Temperatur-
leuchtung von |lenden Tropfens | Kraft von 5NK_| _differenz von
5BNK X 55 cem | (= 2746.8 Erg) |X 55 cm ist als| 2°C. ist als mo-
ist als motorischer | ist als motorischer | motorischer Fak- | torischer Faktor
Raktor-=»17 2). Eaktor— 0.5 tor = 0.4 — 02
Wenn man alle die Reize in denselben Reizgrößen simultan auf die
Daphnien hätte einwirken lassen, so müssten sich die Tiere unter dem
Winkel von 55° bewegen.
<- Analytisches Verfahren
|
Das Experiment bestätigte die Richtigkeit der obigen Berechnung.
Synthetisches Verfahren
N Fe
-
- —
5 5
Beispiel IL).
Wie die Beobachtung zeigt, besteht ein angeborenes instink-
tives Verhalten der Weinbergschnecke, und zwar das den Begattungs-
vorgang „einleitende Liebesspiel“ aus einzelnen besonders charakte-
rıstischen Bewegungskombinationen.
Das analytische Verfahren lehrt, dass jede dieser Be-
wegungskombinationen, indem man sie als Reflexe auffasst, sich
durch taktile Reizung verschiedener, streng definierter Körperteile
bei einer nicht im Liebesspiel begriffenen Schnecke und außerhalb
der Begattungszeit einzeln auslösen lässt.
Wenn man nun die einzelnen Reflexe in rascher Aufeinander-
folge auslöst, kann man bei einer nicht „spielenden“ Schnecke und
außerhalb der Begattungszeit die einer „spielenden“ Schnecke ähn-
2) Vgl. meine Arbeit in Pflüger’s Arch. Bd. 149 (p. 471 ff.).
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zum Erforschen der Instinkte.
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Szyman
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18*
264 Wasmann, Lasius emarginatus Ol., eine kartonnestbauende Ameise.
lichen Körperstellungen und Bewegungen künstlich hervorrufen
(synthetisches Verfahren) (vgl. Tab. 2).
Die Möglichkeit des synthetischen Verfahrens scheint mir von
großer Bedeutung für die methodische Untersuchung der Instinkte
zu sein. Nachdem durch die reine Beobachtung die bloße Tat-
sache eines instinktiven Verhaltens festgestellt wurde, zerlegt man
durch das analytische Verfahren dasselbe in seine Elemente.
Das synthetische Verfahren hätte nun zu ermitteln, welche
Reize für die Auslösung eines Instinktes obligatorisch wären.
Solche methodisch vollkommene Untersuchung der Instinkte
kann bei heutigem Stand der Wissenschaft bloß als Ideal vor-
schweben; aber der Weg, den wir einschlagen müssen, um das
hohe Ziel zu erreichen, beginnt aus der Dunkelheit herüberzu-
schimmern.
Lasius emarginatus Ol., eine kartonnestbauende Ameise.
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg).
(Mit 2 Photographien.)
Als Kartonnestbauer waren unter den europäischen Ameisen
bisher nur ZLasius fuliginosus (Mittel- und Südeuropa), Liometopum
microcephalum (Südosteuropa) und Cremastogaster scutellaris (Süd-
europa) bekannt. Am längsten kennt man die Kartonnester der
erstgenannten Art, deren oft papierdünne, meist rauchschwarze
Wände von dem Mycel eines Pilzes (Leptosporium myrmecophilum)
überzogen sind. Die Kartonnester von (remastogaster scutellaris
sind erst kürzlich von A. H. Krausse!) beı Asunı auf Sardinien
entdeckt worden, und zwar unter Steinen; sie haben ein bade-
schwammartiges Aussehen und bestehen aus dunkelbraunem bis
schwarzbraunem Holzkarton. Ich fand ein Kartonnest dieser Art
auf einem Bergrücken bei Gardone (Gardasee) im März 1912, in
einem alten hohlen Baumstrunk, der eine volkreiche Kolonie jener
(remastogaster beherbergte. Der Karton bildete hier jedoch nur
dünne, schwärzliche Zwischenwände in den Hohlräumen des skelet-
tierten Holzes. Als „Gäste“ waren ım Mulm des Nestes zwei
Oetonia-Larven, deren Aufzucht leider nicht gelang.
(sanz unbekannt waren leider Kartonnester von Lasius emar-
ginatus Ol. Diese südlichste unserer Lasius-Arten wird in Mittel-
europa nach Norden hin immer seltener. Ihre Nester sind meist
ın Felsspalten (zwischen den Platten schiefriger Gesteine), ın alten
Mauern, daher oft auch in Häusern, seltener unter Steinen und
1) Über Kartonnester von Oremastogaster scutellaris Ol. auf Sardinien (Inter-
nat. Entomol. Zeitschr. Guben, Nr. 48, 25. Febr. 1911, S. 259—260).
Wasmann, Lasius emarginatus Ol., eine kartonnestbauende Ameise. 265
Lasius brunneus Latr., haust. Bei Luxemburg-Stadt fand ich mehr-
mals volkreiche Nester von Z. emarginatus unter großen, ım Boden
eingebetteten Steinen. Die Nester selbst waren jedoch stets reine
Erdbauten, ohne eine Spur von Kartonfabrikation. An den Ufern
des Gardasees, besonders in warmen Lagen wie bei Gardone, ist
diese Ameise ungemein häufig. Man begegnet ihr hier sehr zahl-
reich von den Gärten am Seeufer an durch die Ölbaum- und Wein-
pflanzungen hinauf bis zur oberen Grenze der Kulturen bei etwa
500 m, wo sie auf dem unkultivierten Terrain dann minder häufig
wird. Dagegen sind unsere nordischen ZLasius-Arten ebendort äußerst
selten. Während zweimonatlicher Exkursionen, die nur den Ameisen-
nestern galten, traf ich bei Gardone nur einmal eine Kolonie von
Lasius niger unter einem Steine an einer schattigen Stelle einer
feuchten. Wiese. Obwohl die Arbeiterinnen durch die Beborstung
der Schienen und des Fühlerschaftes typische Lasius niger waren,
so blieb doch ihre Größe (nur bis 2,5 mm) unter dem mittleren
Normalmaß. Zweimal fand ich Nester von Lasius flavus myops
For., durch die kleinen, schmalen, facettenarmen Augen von flavus
in specie verschieden. Letztere Form, die dem mittel- und nord-
europäischen flavus entspricht, traf ich dagegen an dem kühleren
Ostufer des Sees am Fuße des Monte Baldo.
Während somit die nordischen ZLasius-Arten (dasselbe gilt auch
für die nordischen Myrmica?) an den warmen Ufergehängen des
Gardasees fast ganz zurückgedrängt werden durch die südeuro-
päische Ameisenfauna — Pheidole pallidula, Messor structor, Plagio-
lepis pygmaea sind die hier dominierenden Arten — erweist sıch
Lasius emarginatus durch seine große Häufigkeit als eine typisch
südliche Art, als ein Glied der pontischen Fauna. Die gewöhnlich
tief liegenden Nester sind schwer zu entdecken. Am 9. März 1912
fand ich in 400 m Meereshöhe bei San Michele oberhalb Gardone
mehrere volkreiche Nester dieser Ameise ın den Eichenpflanzungen
oberhalb der Ölbaumzone und in den angrenzenden Weinbergen.
Sie lagen unter großen Steinen, und in einem Falle unter den
Trümmern einer alten, von den Bauern fortgeworfenen Blechpfanne.
In zweien dieser Nester, die unter Steinplatten am Fuße von Eichen
lagen, und die sehr stark bevölkert waren, traf ich zwischen dem
lockeren Steingeröll auf dem Boden des Nestes eine über einen
Dezimeter im Durchmesser erreichende und mehrere
Zentimeter dicke Schicht von braunem, weichem, später
sehr brüchigem Karton, in welchem das eigentliche Nestzentrum
lag. Die Kartonmasse glich unregelmäßigen Lagen von dickem,
grobem, durchlöchertem Fließpapier oder Filz. Bei mikroskopischer
2) Die Formica-Arten dieses Gebietes, die zum Teil eingeschleppt sind, werde
ich eigens behandeln.
266 Wasmann, Lasius emarginatus Ol., eine kartonnestbauende Ameise.
Untersuchung erwies sie sich als ein Gemenge von Mulm, Erde
und sehr feinen Wurzel- und Rindenfasern, durch den Kitt der
Speicheldrüsensekrete verbunden. Auch größere Stücke von Wurzel-
fasern, Stengelstücke, kleine Steinchen, Stücke von Ameisenkokons
und Fragmente von Schneckenschalen waren in den Karton einge-
bettet (siehe die beiden Photographien der mitgenommenen Nest-
stücke). Als Gäste fand ich nur Lepismina polypoda Grassi, eine
kleine Heteroptere, Plinthisus brevipennis Ltr.?), und einen Cherne-
tiden.
Der sehr intensive, stechende Geruch, der von stark bevölkerten
Nestern des Lasius emarginatus ausgeht, erinnert ein wenig an
jenen von fuliginosus. Der Karton von emarginatus ist jedoch ganz
verschieden von jenem des fuliginosus, viel heller, braun, weicher
und dieker und eine kompaktere Schicht bildend. Ebenso unter-
scheidet er sich auch von jenem der Oremastogaster scutellaris. An
Liometopum mierocephalum war gar nicht zu denken, da diese Ameise
bei Gardone fehlt und zudem „dei merletti elegantı di cartono
legnoso“ (Emery) verfertigt, die ich aus der Gegend von Bologna
durch Emery erhielt; diese schlanken Gitter von Holzkarton sind
weit verschieden von dem Filzkarton des Lasius emarginatus. Meine
anfängliche Vermutung, diese Ameise könnte vielleicht durch Dieb-
stahl (Nestraub) in den Besitz ihrer beiden Kartonnester bei Gar-
done gekommen sein, war also abzuweisen. Weil man jedoch in
der idyllischen Ländlichkeit Italiens als kritischer Forscher auf alle
Eventualitäten gefasst sein muss, untersuchte ich das Nestmaterial
mikroskopisch, ob es nicht etwa aus einem alten Filzhut eines
italienischen Bauern konstruiert sei. Da auch dies nicht zutraf,
stand es fest, dass Lasius emarginatus der Kartonnestfabri-
kant war.
Wenn man bisher noch keine Kartonnester dieser Ameise
kannte, so kommt dies wohl zum Teil von der sehr verborgenen
Lage ihrer Nester, hauptsächlich jedoch daher, dass sie nur in ihrer
südeuropäischen Heimat die Gewohnheit der Kartonfabrikation bei-
behalten hat, während sie weiter nördlich diese Eigentümlichkeit
nicht zeigt.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1. Stücke eines Kartonnestes von Lasius emarginatus Ol. vom Gardasee (4: 3).
Fig. 2. Stärkere Vergrößerung des rechts liegenden Stückes (4,4 : 1). (Beide Auf-
nahmen mit Zeiß Tessar 1: 6,3; F. 136 mm.)
3) Diese Art fand ich auch bei Linz am Rhein in Nestern von Formica ewsecta
Nyl. (9. 1893) und von Tapinoma erraticum (10. 1898). (Von Dr. A. Reichen-
sperger [Bonn] bestimmt.)
Biologisches Centralblatt. Tarall.
igl.
E. Wasmann S. I.
i ® . B a gu , 0% Uhl u Ag
—
Ballowitz, Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigmentströmung ete. 267
Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigmentströmung
in den Melanophoren der Knochenfische.
(Nach Beobachtungen am lebenden Objekt.)
(Mit 8 Textfiguren.)
Von E. Ballowitz in Münster i. W.
In den sternförmigen, dünnen, parallel der Hautoberfläche aus-
gebreiteten, dunklen Pigmentzellen der Fischhaut, den sogen. Melano-
phoren, kommen, wie bekannt, gewöhnlich zwei, selten mehrere
Zellkerne vor, bisweilen wird auch nur einer angetroffen. Diese
Zellkerne sind aber nur deutlich, wenn das Pigment ın der Zelle
und in den Fortsätzen ausgebreitet ist. Sie erscheinen alsdann als
ovale, elliptische oder auch mehr kreisrunde, helle Stellen, über
welche die Pigmentkörnchen, wie ich an den lebenden Objekten
feststellte, an der oberen und unteren Fläche in radiären Kanälchen
hinwegströmen. Aus dem letzteren Umstande ist zu schließen, was
ja eigentlich auch selbstverständlich ist, dass die Kerne rings von
dem Chromatophorenprotoplasma umgeben und in dasselbe einge-
bettet sind.
Wie B. Solger!) zuerst betont hat, liegen die hellen Kern-
flecke in den sternförmigen Melanophoren stets exzentrisch, während
die Mitte der Pigmentzelle von der von Solger beschriebenen
Sphäre eingenommen wird, die bei ausgebreitetem Pigment als heller,
zentraler Fleck meist sehr deutlich ist.
Fließt das Pigment in den Chromatophoren gegen die Zell-
mitte zurück, so werden alsbald die vorher so deutlichen strahlen-
förmigen Zellfortsätze pigmentfrei und völlig unsichtbar, während
sich das Pigment zu einer zentralen, dickeren Scheibe zusammen-
ballt, in welcher nicht selten die kleiner gewordene Sphäre als
heller, einem Nadelstich ähnlicher, zentraler Punkt noch sichtbar
bleibt.
Die Kerne dagegen sind nunmehr in der Pigmentscheibe nicht
mehr zu erkennen, so deutlich wie sie vorher bei ausgebreitetem
Pigment auch waren.
Dieser Umstand ist von den früheren Autoren, welche sich mit
der Histologie und den Lebenserscheinungen der Chromatophoren
beschäftigt haben, wenig beachtet worden. Man scheint sich die
geschilderte Tatsache durch die Annahme erklärt zu haben, dass
die Kerne mit dem Pigment zentralwärts zurückwandern und als-
dann ın der zentralen Scheibe durch das viele zusammengeballte
Pigment verdeckt und unsichtbar gemacht werden.
1) B. Solger, Über pigmentierte Zellen und deren Zentralmasse. Mitteilungen
des Naturwissenschaftl. Vereins von Neuvorpommern und Rügen. 22. Jahrg., 1890.
368 Ballowitz, Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigmentströmung etc.
Nur W. Zimmermann?) hat schon 1893 mitgeteilt, dass er
an „kontrahierten Pigmentzellen“* von Sargus annularis beobachtete,
„dass die Kerne aus der Pigmentmasse hervorragten oder gar ganz
außerhalb derselben lagen und sie nur mit einer Seite berührten“.
Diese Erscheinung traf der Autor besonders auch bei Chondrostoma
nasus an. Bei diesem Süßwasserfisch sollen die Kerne bei der
Konzentrierung des Pigmentes häufig in ihrer Form verändert, ja
förmlich zerstückelt werden. Während die Zellkerne in Zellen mit
ausgebreitetem Pigment „mehr abgerundete Formen besitzen und
nur leicht die Peripherie des Zellleibes berühren, sind sie bei kon-
zentriertem Pigment teils stark gegen die Peripherie gedrängt, teils
in einen oder mehrere Ausläufer zu gleicher Zeit hineingequetscht.
Die dem Pigmentklumpen zugekehrte Seite ist dann meist durch
denselben eingedrückt. Es kommt häufig vor, dass ein Kern so
stark gezerrt und gestreckt wird, dass ein Teil desselben auf der
einen, ein anderer Teil auf der anderen Seite der Pigmentmasse
liegt.“
W. Zimmermann machte diese Feststellungen an fixierten, mit
Hämatoxylin gefärbten und zum Teil auch gebleichten Präparaten.
Auch Solger (l. c.) erwähnt, dass an abgestorbenen Pigment-
zellen von Olupea und Esox der zusammengeballte Pigmentklumpen
ganz gewöhnlich noch Segmente der mehr oder weniger vom Farb-
stoff verdeckten Kerne freilässt.
Diese Mitteilungen der genannten Autoren kann ich nun bestätigen
und auch ergänzen nach Beobachtungen, welche ich an den lebens-
frischen, in lebhafter Körnehenströmung begriffenen Melanophoren bei
Untersuchung mit Ölimmersion (Zeiß homogene Immers., 2 mm, Apert
1,30, Kompensat.-Okular 8) machte. Das für diese Feststellung sehr
geeignete Objekt fand ich in der an Chromatophoren reichen Hirn-
haut bestimmter Gobiiden, deren zartes, dünnes Gewebe alle Einzel-
heiten besser erkennen lässt als die derber strukturierte äußere
Haut. Die dunklen Pigmentzellen gleichen auch hier im ausge-
breiteten Zustande ihres Pigmentes dünnen, vielstrahligen Sternen,
in deren Zentrum eine deutliche Sphäre sichtbar ist. Die meist in
Zweizahl vorhandenen Kerne liegen exzentrisch, nicht selten in der
Basıs eines Fortsatzes.
Die Figuren 1a—d illustrieren in vier Phasen die Endstadien
des Rückströmens der Pigmentkörnchen kurz vor der definitiven
zentralen Pigmentballung an ein und demselben Melanophor.
In Fig. 1a liegt noch, besonders oben, ein größerer Teil der
Melaninkörnchen außerhalb der schwarzen Scheibe in der Basis der
Fortsätze. Die Pigmentkörnchen sind in streng radiären Reihen
32) W. Zimmermann, Über die Kontraktion der Pigmentzellen der Knochen-
fische. Verhandl. der Anatom. Gesellsch. auf der 7. Versamml. in Göttingen vom
21.—24, Mai 1893. Jena 1893, S. 77.
Ballowitz, Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigmentströmung ete. 269
angeordnet und strömen, lebhaft und oft druckweise hin und her
oszillierend, aus der Peripherie gegen die Zellmitte ab. Man sieht
dabei, wie sie in radıären Reihen und in stets wechselnden Ab-
teilungen über die beiden Kerne an deren Ober- und Unterflächen
hinweggleiten.
In Fig. 1 b ist die Zahl der noch außerhalb strömenden Körnchen
schon wesentlich geringer geworden. Der links befindliche Kern
ist an seinem äußeren Rande schon völlig körnchenfrei und er-
scheint nur noch mit seiner zentralen Hälfte in die Pıgmentscheibe
eingetaucht.
Rip. Ic.
In dem weiteren Stadium der Fig. 1c ragt auch der zweite
Kern mit seinem peripherischen Teil frei. hervor; zwischen den
beiden Kernen und zu ihren Seiten lagert aber noch Pigment-
masse.
In Fig. 1d schließlich erblicken wir das Endstadium. Die
Pigmentmasse ist insgesamt zentralwärts zusammengeballt und hat
sich noch enger konzentriert, so dass die Begrenzung der Scheibe
im Vergleich mit den voraufgegangenen Phasen kleiner erscheint.
Am Rande der Scheibe schnellen hier und da noch vereinzelte
Körnchen und Körnchengruppen, stets radiär angeordnet, hervor,
um sich alsdann wieder der Pigmentmasse einzuverleiben. Die
270 Ballowitz, Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigmentströmung etc.
beiden Kerne sind jetzt ganz losgelöst von dem Pigment, nur der
linke berührt mit seinem einen Rande noch die Scheibe.
Das Pigment ist also an den Kernen vorbeigeflossen und hat
diese in ihrer ursprünglichen Lage gelassen.
Fig. 7. Fig. 8.
Der ganze Prozess des Freiwerdens der Kerne, wie er in
Fig. 1a—d dargestellt ist, spielte sich unter dem Mikroskop beı
Beobachtung mit konzentriertem Auerlicht meist in wenigen Minuten
ab. Im Körper kann die Ausbreitung und Zusammenballung dieser
Pigmentzellen fast momentan, jedenfalls binnen wenigen Sekunden,
erfolgen.
Unmittelbar, nachdem das Pigment von den Kernen abgeflossen,
ist die Begrenzung der letzteren gewöhnlich noch nicht deutlich.
Ballowitz, Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigmentströmung ete. 271
Erst einige Zeit darauf, wohl mit dem Tode der Zellen, nachdem ı.
die Pigmentbewegung völlig erloschen ist, treten die Kerne scharf, !
wenn auch zart begrenzt hervor. Lässt man die Zellen langsam
absterben, so tritt vor dem Tode fast regelmäßig die Zusammen-
ballung des Pigmentes ein.
Nachdem ich in der geschilderten Weise das Freiwerden der
Kerne bei Zusammenballung des Pigmentes am lebenden Objekt
festgestellt hatte, war es leicht, wenn der richtige Zeitpunkt abge-
passt wurde, an meinem Objekt fast an einer jeden zusammen-
geballten Pigmentscheibe in deren Nähe die Chromatophorenkerne
auf das Deutlichste ohne jede weitere Behandlung nachzuweisen.
Die alle bei der gleichen Vergrößerung gezeichneten Figuren 2 — 8
liefern einige Beispiele dafür. Die schwarze Scheibe ist in allen
Figuren die zusammengeballte Pigmentmasse, deren Bewegungs-
erscheinungen schon erloschen sind, so dass die Scheibe scharf be-
grenzt erscheint. Die Kerne sind als kleine, scharf konturierte
Kreise und Ellipsen angegeben.
In Fig. 2 ragen die beiden einander benachbarten Kerne nur
mit ihrem größeren Teil frei hervor, während ihr zentraler Abschnitt
noch ım Pigment zurückgeblieben zu sein scheint, jedenfalls davon
verdeckt wird.
In Fig. 3 ist nur noch ein geringer Teil der beiden Kerne in
Kontakt mit der Pigmentmasse, ebenso in Fig. 4, in welcher nur
ein einziger Kern nachgewiesen werden konnte.
In den übrigen Figuren erscheinen die Kerne vollständig von
der Pigmentmasse emanzipiert und befinden sich völlig isoliert in
größerer oder geringerer Entfernung davon; dies wurde sehr häufig
beobachtet. Nur in Fig. 8 mit drei Kernen steckt der eine Kern
noch zur Hälfte in der Pigmentscheibe. Bisweilen bleibt ein Kern
in beträchtlicherer Entfernung von dem Zellmittelpunkt zurück,
wie es in Fig. 7 der Fall ist.
Veränderungen und Verunstaltungen der Kernform, wovon
W. Zimmermann bei Ohondrosioma (l. e.) berichtet, habe ich an
diesem meinem Objekt, wie die Figuren zeigen, nicht wahrgenommen.
Wohl aber traf ich des öfteren eigenartige Kernverzerrungen in
dem zentralen Melanophoren an, welcher an den von mir be-
schriebenen chromatischen Organen?) von der Iridocytenkapsel um-
schlossen wird. Da die dunkle Farbstoffzelle hier von einer Wan-
dung umgeben ist, lässt sich leicht erklären, dass die Kerne durch
die Pigmentströmungen verzerrt werden können, da sie, wenn sie
3) E. Ballowitz, Die chromatischen Organe in der Haut von Trachinus
vipera Cuv. Ein Beitrag zur Kenntnis der Chromatophorenvereinigungen bei
Knochenfischen. Zeitschr. f. wissenschaftl. Zoologie, Bd. CIV, 1913. Vgl. auch:
Derselbe, Über chromatische Organe in der Haut von Knochenfischen. Anat.
Anzeiger, 42. Bd., Heft 7/8, 1912.
212 Polimanti, Ricerche sulla rigiditä cadaverica dei cefalopodi ecc.
in der Höhlung liegen, hier nicht gut ausweichen können. Auch
an diesen chromatischen Organen sah ich in den Schnittpräparaten
die Melanophorenkerne einige Male aus dem Pigment frei in die helle
Umgebung, das pigmentfrei gewordene Zellprotoplasma, vorragen.
Aus Obigem geht hervor, dass an unserem Objekt die Zell-
kerne durch die Pigmentströmung nicht beeinflusst werden, viel-
mehr in ihrer ursprünglichen Lage, oft weit ab von der zusammen-
geballten Pıgmentmasse, verbleiben. Da die Kerne nun nicht frei
im Gewebe liegen können, vielmehr vom Zellprotoplasma umgeben
sein müssen, so folgt daraus weiterhin, dass auch das Chromato-
phorenprotoplasma bei der Pigmentströmung an Ort und Stelle
liegen bleibt. Die Ausbreitung und Zusammenballung des Pigmentes
kann daher nicht dadurch verursacht werden, dass die Chromato-
phoren, gleich Amöben, pigmenthaltige Fortsätze ausstrecken und
wieder einziehen, vielmehr kommen hierbei Pigmentverlagerungen,
ein Ausströmen und Zurückströmen der Pigmentkörnchen in dem
unverändert liegen bleibenden Protoplasma, ın Betracht. Nach
meinen Beobachtungen am lebenden Objekt bin ich zu der Über-
zeugung gekommen, dass die Körnchenströmung innerhalb feiner
Kanälchen mit kontraktiler Wandung stattfindet, die in großer Zahl
und inradiärer Richtung dasChromatophorenprotoplasma durchziehen.
Für die Anschauung einer intrazellulären Pigmentströmung in
den unverändert liegen bleibenden Chromatophoren bin ich in diesem
Centralblatt schon im Jahre 1893 ın einer Abhandlung*) eingetreten,
in welcher ich einige andere Beweise für die Persistenz der Chro-
matophorenfortsätze beibrachte. Auch in neuerer Zeit sind die
meisten Autoren, ich nenne nur Franz, Kahn, Lieben u. a., bei
ihren Chromatophorenstudien zu der Ansicht gekommen, dass das
Protoplasma der Melanophoren im Gewebe liegen bleibt und nur
das Pigment sich verschiebt.
Es wäre daher wohl geboten, dass die Angaben von „amöboiden
Bewegungserscheinungen“, „Kontraktion“, „amöboiden Fortsätzen*
u.s. w. der Chromatophoren aus den neueren Lehr- und Hand-
büchern endlich verschwänden.
Ricerche sulla rigidita cadaverica dei cefalopodi
(Octopus vulgaris Lam.).
per Osv. Polimanti
(dalla sezione di fisiologia della Stazione zoologiea di Napoli).
(Con 5 figure nel testo.)
Come bene sappiamo, non mancano ricerche sopra la rigiditä
cadaverica di varie parti (specialmente muscoli scheletrici) dell’orga-
4) E. Ballowitz, Über die Bewegungserscheinungen der Pigmentzellen. Bio-
logisches Centralblatt, Bd. XIII, Nr. 19 u. 20, 15. Oktober 1893.
Polimanti, Ricerche sulla rigiditä cadaverica dei cefalopodi ecc. 2973
nismo dei vertebrati, oppure dei vertebrati in t0obo. In qualunque
manuale dı fisiologia sı trovano eitati ı risultati dı queste osser-
vazıoni e delle varie modalıtä sperimentali: influenze fisiche (varie
temperature, ecc......), influenze chimiche, taglıo del nervo o dei
vası che sı distribuiscono a quel determinato muscolo od arto, ecc.,
adoperando tutti ı piü svariati sussidi della tecnica (dalla leva seri-
vente alla fotografia). Perö, per quanto diligenti siano state le
mie ricerche bibliografiche, non credo vı sıa stato nessun ricer-
catore, il quale abbıa rivolto la sua attenzione ad organismi inverte-
brati, 1 quali possono essere un eccellente materiale di studio per
studiare Je varlazioni che subisce l'intero corpo dell’animale, per
effetto della rigidita cadaverica. Io ho rivolto la mia attenzione in
proposito aı cefalopodi e mi occupo qui specialmente di Octopus
vulgaris.
Gli Ottopodi (Octopus ed Eledone), fra ı cefalopodi del Mediter-
raneo, si prestano molto bene per questi studi, perche non hanno
quella massa dı sostegno (Sepium) propria dei Decapodi (Sepia,
Loligo). Oeccorre vedere adesso molto brevemente, quale sia la
costituzione ed ıl decorso delle fibre muscolari nel mantello e nelle
braceia dei cefalopodiı per arrıvare poi alla spiegazione di molti
fatti, che si avverano nella rigiditä cadaverica dı questi anımalı.
Della costituzione istologieca del mantello dei cefalopodi si
oceuparono specialmente Ballowitz!), Marceau?), Lafite-
Dupont?), e Gu&rin*). Secondo Ballowitz e Marceau le fibre
muscoları del mantello presentano una differenziazione molto mani-
festa. Sı distinguerebbe difatti una parte assiale protoplasmatica
che contiene il nucleo ed una parte superficiale molto sottile, fatta
di fibrille a spirale, che stanno rannicchiate nel sarcoplasma. Queste
fibre sono tutte anisotrope, perö lungo il loro decorso si noterebbero
delle parti, che si comportano molto differentemente, per quanto
riguarda la colorazione. Lafite-Dupont deserive inoltre nel man-
tello di Sepia due forme molto rare di fibre, una nastriforme
ravvolta a spirale, con l’estremo ingrossato, l’altra invece fatta di
fibrre lunghe striate trasversalmente (delle strie oscure e brevi si
1) Ballowitz, E. Über den feineren Bau der Muskelsubstanzen. I. Die
Muskelfasern der Cephalopoden. Arch. f. mikr. Anat. Bd. 39, 1892, S. 291-327.
2) Marceau, F. Recherches sur la structure des muscles du manteau des
Cephalopodes en rapport avec leur mode de contraction. Travaux de la Station
Zoologique de Arcachon T. 8. 1906. p. 48—65.
3) Lafite-Dupont. Fibres et fibrilles musculaires striees du manteaux de
Sepia offieinalis. Travaux de la Station Zoologique de Arcachon. T. 5. 1901.
p- 39—42.
4) Guerin, J. Contribution ä l’etude des systömes cutand, musculaire et
nerveux de l’appareil tentaculaire des Cephalopodes. Archives de Zoologie experi-
mentelle (S. 4). T. 8. 1908. p. 1—178.
TER: Polimanti, Ricerche sulla rigiditä cadaverica dei cefalopodi ecc.
alternano con strie piüı chiare e lunghe). Secondo Gu&rin infine
sono striate anche le fibre trasverse dei piedi prensili dı Sepia.
Riguardo poi al decorso delle fibre muscoları nel mantello dei
cefalopodi, nulla di preciso si conosce in proposito; io ritengo perö
che questi fascı dı fibre sı distribuiscano in senso longitudinale,
trasversale, circolare ed a spirale e sono indotto a credere ciö, vista,
non solo la maniera dı contrarsı del mantello, ma anche la rapiditä
della contrazione, che sı spiega appunto con questi sistemi dı fibre
scaglionati nelle varie direzioni.
Big,ie
La struttura delle braccıa dei cefalopodi fu studiata daGu6rin
in un bellissimo lavoro: per quanto riguarda il sistema muscolare
di questa regione, egli non solo ce ne ha dato la descrizione micro-
scopica, ma ci ha anche fornito una descrizione esatta del decorso
dei vari fasci muscolari nelle braceia dı questi molluschi. Guerin
ha visto che nelle braccia degli Ottopodi (questi sone i cefalopodi
che a noi direttamente interessano in questo lavoro) si possono
distinguere sei fasci di fibre muscolari longitudinali: uno ventrale,
uno dorsale e due paia laterali. Il fascio dorsale sarebbe quello
piü sviluppato di tutti gli altri. Questi fasci di fibre muscolari
Polimanti, Ricerche sulla rigiditä cadaverica dei cefalopodi ece. 275
verrebbero poi ad essere suddivisi trasversalmente da altrettanti
setti muscolari paralleli tra dı loro. Lateralmente poi, fra le due
paia di fascı dı fibre longitudinali, si trovano inoltre dei fasci di
fibre muscolari, situate obliquamente. La muscolatura della pelle,
che sta fra le braccia, consiste in fibre, che vanno da braccio a
braccio e che partono dal sistema delle fibre longitudinalı.
Gu6rin ricereo anche il decorso delle fibre muscolari nelle
ventose brachialı degli ottopodi; e vide che consisteva in un sistema
di fibre circoları a sfintere, che circondavano la ventosa, in fibre
Fig. 2.
longitudinali che si portavano alle braccia ed in fibre che andavano
da una ventosa all’altra. —
Riporto molto brevemente ıl decorso della rigiditä cadaverica
studiata in un esemplare di Octopus vulgaris Lam.: 1. 7. 1912.
Peso dell’animale 0,900 g, temperatura dell’acqua di mare nel
bacino 21° C., temperatura dell’aria 25°C. Alle ore 10,15 fu levato
dal bacino e posto all’aria per studiare la resistenza dell’Ottopodo
all’asfissia (sara ciö argomento di un lavoro in corso di pubblica-
zione), alle ore 11,47 aveva dato gli ultimi segni di una manifesta
respirazione (durata dell’asfissia all’arıa ore 1,32).
216 Polimanti, Ricerche sulla rigiditä cadaverica dei cefalopodi ece.
Alle ore 12 sı mette l’Octopus in un piccolo bacıno contenente
acqua, alle ore 12,10 (ore 0,23 dalla morte) si esegue la prima
fotografia (fig. 1); come bene sı vede, le braccıa sono completamente
rılasciate, il mantello combacia del tutto colla superficie del bacino,
sulla quale rıposa. E’manifesta ancora la „danza“ dei cromatofori.
Alle ore 2,05 pom. (ore 2,18 dalla morte) sı esegue l’altra foto-
grafia (fig. 2), le braccia sı sono cominciate a raccorciare dalla peri-
ferıa verso ıl centro, attoreiglandosi alle loro estremitäa, ıl mantello
comincia a restringersi omogeneamente e contemporaneamente si €
Fig. 3.
abbastanza elevato, tanto che eombacia solo piü per una piccola
parte col fondo del baecino, l’imbuto & rivolto verso sinistra.
Alle ore 6,45 pom. (ore 6,58 dalla morte) si esegue una terza
fotografia (fig. 3): delle braccia di destra, la prima anteriore si @
divaricata dalla linea mediana, la seconda e la terza si sono raccor-
ciate, la quarta si & brevemente allungata, ma si & accostata di
piü al mantello; delle braccia dı sinistra, quelle dalla prima alla
terza si sono brevemente divaricate fra di loro, mentre la quarta
si & accorciata ed accostata dı piü al mantello.. LW’imbuto sı @
ripiegato verso destra. Il mantello ha subito anche delle variazioni
caratteristiche: si © di molto allungato nel senso anteroposteriore e
Polimanti, Ricerche sulla rigiditä cadaverica dei cefalopodi ecc. 37
contemporaneamente si & ristretto nel senso trasverso, "Octopus poi,
come appare bene dalla fotografia presa ın senso laterale (fig. 4), sı @ di
molto sollevato col suo mantello dalla superficie, sulla quale riposava.
rn
Fig. 4.
E’ stata presa un’altra fotografia (fig. 5) nel giorno successivo
(2.7.1912) alle ore 2 pom. (ore 26,13 dopo la morte). La forma
del mantello & rimasta eguale all’ultima osservazione fatta, mentre
le braccia si sono andate quasi contemporaneamente rilasciando e
rimangono come arricciate solo alle estremitä. L’acqua nella quale
XXXIL. 19
27S Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin.
sı trova l’animale comincia a divenire opaca, l’Octopus va putre-
facendosi, putrefazione che sı rivela anche all’odorato. —
Da un esame anche sommario dei nostri rısultati, posto in con-
fronto con le cognızionı anatomiche sopra esposte sulla muscolatura
dei cefalopodi, appare quindi manifesto, come nella rigiditä cada-
verica degli Ottopodi, nelle braceia abbiano specialmente azione le
lunghe fibre muscoları longitudinali dorsali, che determinano la
retrazione e il raccorciamento consecutivo dell’intero arto. Mentre
invece nel mantello sono le fibre muscolari circoları, quelle che
hanno una azione spiccata nella rigiditä cadaverica, tanto che deter-
minano il raccorciamento laterale dell’animale ed il consecutivo
suo allungamento.
Dopo circa 24 ore dalla morte, mentre ıl mantello conserva la
stessa forma, che assume dopo circa 6 ore, le braccia invece vanno
allungandosi completamente. —
Ho ereduto interessante dı richiamare l’attenzione dei ricer-
catorı sopra questo argomento: nel lavoro completo mostrerö, quale
grande azione abbiano sulla rigidita cadaverica dei cefalopodi (Otto-
podi e Decapodi), al parı dı quanto sı avvera nei vertebrati, le in-
fluenze fisiche (temperatura ece.), le chimiche (variazione nella
composizione chimica dell’acqua dı mare, acidi, alcalı, ece.) ed infine
le pitı svariate condizioni sperimentali (taglio dı un nervo, ad es.
del mantello; o dı un ganglio, ad es. stellare; ecec....).
Una comparazione, dı quanto sı osserva nella rigiditä cadaverica
dei cefalopodi, con quanto sı vede nella rigiditäA cadaverica dei
muscoli dei vertebrati, sara anche interessante, perch@ servirä a
delucidare molti fatti non ancora perfettamente dimostrati: ı due
ordını dı osservazioni potranno sicuramente completarsi a vicenda.
Hildegard von Bingen als älteste deutsche
Naturforscherin.
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg, Holland).
Seitdem durch Stadler’s Studien über die Tiergeschichte Albert
des Großen und durch die kritische Neuausgabe der Kölner Hand-
schrift derselben die Aufmerksamkeit der modernen Wissenschaft
auf die mittelalterliche Naturforschung gelenkt worden ist, die
neben vielen Schatten auch manche, bisher ungeahnte Lichtseiten
aufweist, ıst zu hoffen, dass man allmählich das landläufige Urteil
berichtigt, welches ın der gesamten Naturwissenschaft des christ-
lichen Mittelalters schlechthin nur eine gedankenlose und beobach-
tungslose, von orientalischen Märchen durchflochtene Bücherweisheit
erblicken wollte, die im wesentlichen nur auf ein Abschreiben und
Kommentieren des Aristoteles und des Plinius hinauslief.
Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin. 279
Es ist erfreulich zu sehen, wie Richard Hertwig in seinem
vortrefflichen „Lehrbuch der Zoologie“ in objektiver Wahrheitsliebe
„Ausnahmen“ von der obigen Regel zulässt. In der neunten Auf-
lage (Jena 1910) S. 8 gelten ihm hierfür als solche Ausnahmen „vor
allem der Dominikaner Albertus Magnus und der Augustiner
(später ebenfalls Dominikaner) Thomas Cantimpratensis. Von
Albertus Magnus steht es fest, dass er in seinen zoologischen
Schriften sich bemühte, wo es ihm nur möglich war, sich auf eigene
Beobachtungen zu stützen“.
Aber weder Richard Hertwig noch Hermann Stadler,
der auf der 80. Versammlung deutscher Naturforscher und Ärzte
zu Köln am 21. September 1908 seinen Vortrag hielt über „Albertus
Magnus von Köln als Naturforscher und das Kölner Autogramm
seiner Tiergeschichte“ hatten eine Ahnung davon, dass Albert der
Große bereits hundert Jahre vorher eine Vorläuferin besaß, die,
obwohl Nonne, an selbständiger Beobachtungsgabe nicht hinter
Albertus zurücksteht und den Namen der „ersten deutschen Natur-
forscherin“* verdient. Auch bei V.Carus, „Geschichte der Zoologie“
(München 1872) fehlt dieselbe spurlos.
Es ist dies die heilige Hildegard (1098 —1179), Äbtissin des
Benediktinerinnenklosters auf dem Rupertsberge bei Bingen. In der
katholischen Kirche ist sie als mystische Seherin bekannt, die in ihrem
„Deivias“ (Wegweiser), an dem sie zehn Jahre lang schrieb, eine Art
Dogmatik in drei Büchern mit 26 Visionen verfasste. Wer konnte
da ahnen, dass in ihr auch eine echte deutsche Naturforscherseele
stak? Und doch ist es so. In einem der praktischen Heilkunde
jener Zeit dienenden Werke, das unter dem kürzeren Namen
„Physica* oder „Liber simplieis medicinae“ besser bekannt ist als
unter dem längeren Titel „Subtilitatum diversarum naturarum crea-
turarum libri IX“ hat sie eine große Fülle selbständiger Beobach-
tungen und mündlicher Mitteilungen aus der Volkstradition über
eine beträchtliche Zahl von Pflanzen und Tieren der unteren Nahe-
gegend gesammelt, die es wohl verdienen, der Vergessenheit ent-
rissen zu werden. Dieselben sind nicht bloß in biologischer, sondern
auch in linguistischer Beziehung hochinteressant. Hildegard hatte
zwar, als sie mit acht Jahren von ihrem elterlichen Schloss Böckel-
heim bei Kreuznach, wo ihr Vater Burgvogt war, m das nahe
Benediktinerinnenkloster auf dem Disibodenberge verpflanzt wurde,
von ihrer Meisterin Jutta von Sponheim ganz passabel Latein ge-
lernt. Aber für die meisten der ihrer Beobachtung begegnenden
Pflanzen und Tiere gab es eben damals noch keine lateinische
Namen, sondern nur alt- oder mittelhochdeutsche Volksnamen.
Diese hat sie deshalb — es sind gegen tausend — in den latei-
nischen Text ihrer „Physica“ verwoben. Für die Geschichte der
deutschen Sprache, in welcher gerade damals der Übergang vom
19*
280 Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin.
Althochdeutschen zum Mittelhochdeutschen sich vollzog, sind diese
deutschen Pflanzen- und Tiernamen von nicht geringerer Bedeutung
als für die Geschichte der deutschen Botanik und der deutschen
Zoologie. Denn sie geben uns ein anschauliches Bild von der
Flora und Fauna der damaligen Zeit namentlich in der Nahe- und
Rheingegend. Sie bieten zugleich auch den besten Beweis dafür,
dass Hildegard ıhre „Physica“ nicht aus Aristoteles oder aus
Plinius abgeschrieben hat, sondern als eine selbständige Be-
obachterin der sie umgebenden Natur und als eme selbstän-
dige Sammlerin der im Volkswissen jener Zeit vorhandenen bota-
nischen und zoologischen Kenntnisse anzusehen ist.
Ich war selber nicht wenig über diese Entdeckung überrascht.
Wir verdanken dieselbe zunächst Herrn L. Geisenheyner-Kreuz-
nach, der auf der Versammlung des botanischen und zoologischen
Vereins für Rheinland-Westfalen (9.—11. Juni 1911) zu Kreuznach
einen Vortrag hielt „Über die Physica der heiligen Hildegard von
Bingen und die in ihr enthaltene älteste Naturgeschichte des Nahe-
gaues“!. Um mich von der Richtigkeit seiner Angaben zu über-
zeugen, studierte ich hierauf die im 197. Bande von Migne’s Patro-
logie enthaltenen „Subtilitatum diversarum naturarum crea-
turarum librı IX“. Es ist dies die von ©. Daremberg besorgte
Bearbeitung der Pariser Handschrift der Physica?), die allerdings
eine kritische Neuausgabe auf Grund der vier bisher bekannten
Codices sehr wünschenswert erscheinen lässt. Ich möchte nament-
lich Herrn Hermann Stadler auf diese „Physica“ der hl. Hilde-
gard aufmerksam machen, damit er der Frage nähertrete, ob und
inwieweit vielleicht Albertus Magnus, der ein ganzes Jahrhundert
später lebte, aus diesem Werke der gelehrten Benediktinerin ge-
schöpft hat für seine „Tiergeschichte“. Bei Stadler’s Übung in
dergleichen vergleichenden Quellenstudien dürfte das Ergebnis der-
selben besonders wertvoll sein; namentlich ın bezug auf die deut-
schen Tiernamen in beiden Werken werden sie von hohem
Interesse sich erweisen.
Eine Naturforscherin im modernen Sinne war Hildegard
selbstverständlich ebensowenig wie Albertus. Dabei sehen wir
bei beiden ganz ab von ihrer mittelalterlich-christlichen Welt-
anschauung, die den Bischof Albertus zu einem „Seligen“ und die
1) Veröffentlicht in den Sitzungsberichten d. Naturhist. Vereins d. preußischen
Rheinlande u. Westfalens, 1911, II. Hälfte, E, S. 49—72.
2) Dieses Werk Hildegards, dessen Echtheit gegenwärtig allgemein anerkannt
wird, trägt auch den Namen „Liber simplicis medieinae‘“ und ist nach F. A. Reuß
zwischen 1150 und 1160 entstanden. Das „Liber compositae medieinae“ oder ‚„Causae
et curae‘‘ (Ursachen und Heilungen der Krankheiten) ist naturwissenschaftlich nicht
so wertvoll wie die Physica. Vgl. auch Paul Kaiser, Die naturwissenschaftlichen
Schriften der Hildegard von Bingen, 1901.
Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin. 281
Nonne Hildegard zu einer „Heiligen“ in der katholischen Kirche
machte. Auch in ihrer Art „Naturgeschichte“ zu schreiben, waren
beide eben Kinder ihrer Zeit, wie wir Kinder der unsrigen sind.
Deshalb kann es auch nicht befremden, dass die naturgeschicht-
lichen Schriften beider nebenbei auch den herkömmlichen Ballast
von alter Fabelliteratur mitschleppen, und dass auch in beiden zahl-
reiche, uns kaum mehr begreifliche Irrtümer unterlaufen in Angaben
über Tiere oder Pflanzen, die sie selber gesehen hatten. So schreibt
ja Albertus den Fliegen acht Beine zu?), während Hildegard
die Fliegen den „Vögeln“ anreiht. Sie hatte eben noch kein eigenes
systematisches Fach bereit für die kleinen geflügelten Tiere. Uns
Nachfolgern von Linn& ist es ja ein wohlfeiles Vergnügen, über
solche vergleichend morphologische Missgriffe uns lustig zu machen.
Aber wer weiß, ob wir es damals selber besser gemacht hätten ?
Gegen derartige systematische Irrtümer könnte man höchstens den
für die damalige Zeit einigermaßen berechtigten Vorwurf erheben,
die Betreffenden hätten nicht genug Aristoteles studiert, der in
vielen Punkten bereits ein weit modernerer Systematiker war. Aber
gegenüber einer Nonne, die keinen Kommentar zu Aristoteles
schreiben wollte wie der gelehrte Dominikaner Albertus in seiner
Tiergeschichte es tat, sondern die bloß ein Handbuch der prak-
tischen Volksmittelheilkunde für ıhre Ordensgenossinnen und für
das Volk der Umgegend verfassen wollte, dürfte der aus der Nicht-
beachtung des Aristoteles geschöpfte Vorwurf kaum besonders schwer
in die Wagschale fallen. Schlimmer wäre es gewesen, wenn sie
den Pedanıus Dioscorides, der durch seine fünf Bücher von der
Materia medica bis ins 17. Jahrhundert die klassısche Grundlage
der Arzneimittellehre war, nicht hinreichend gekannt hätte. Aber
diesen Vorwurf wird ıhr niemand machen können, obwohl sıe anderer-
seits in ıhren medizinischen Angaben völlig selbständig vorangeht.
Dass Hildegard die sämtlichen Naturobjekte, die sie in ihrer
„Physica“ bespricht, hauptsächlich vom Nützlichkeitsstandpunkt aus
behandelt, ist durch den Zweck jenes Buches allein schon voll-
kommen erklärlich, ohne dass man zu ihrem „mittelalterlichen, aus-
schließlich anthropozentrischen Standpunkt“ seine Zuflucht zu nehmen
braucht.
3) Ob das Kölner Autogramm ebenfalls hier acht statt sechs Beine aufweist,
wird durch den kritischen Neudruck desselben durch Stadler sich wohl bald
kontrollieren lassen. Wie vorsichtig man sein muss, älteren Ausgaben in solchen
Punkten zu trauen, zeigt folgendes Beispiel. Thomas v. Aquino, der berühmteste
Schüler des Albertus, zählt nach der Ausgabe von Vives (1871) in seiner Summa
theologiae I. q. 72 ad 2 zu den „reptilia quadrupedia“ ganz richtig die „lacertae
et tortucae“ (Schildkröten). Zu tortucae ist die Anmerkung beigefügt: ‚Sie codices,
sed nescio qua incuria in Parmensi et in omnibus editionibus „formicae“. Aus
den Schildkröten waren also durch den Fehler eines Kopisten Ameisen gemacht
worden. Und die sollte Thomas zu den „vierfüßigen Kriechtieren“ gerechnet haben.
3S2 Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin.
Ich will ım folgenden nur kurz den Inhalt der neun Bücher
der „Physica“ der hl. Hildegard skizzieren, mit besonderer Berück-
sichtigung der Tierwelt!). Man darf es wohl als besonders glück-
lich bezeichnen, dass Geisenheyner der kritischen Beurteilung
und Deutung der von Hildegard erwähnten Pflanzen und Tiere sich
angenommen hat, weil er ein vortrefflicher Kenner der Lokalfauna
und Lokalflora des Nahegebietes ist und speziell die Wirbeltier-
fauna desselben schon vor 25 Jahren in einem eigenen Werke
behandelte’). Er hatte ferner stets den heute noch üblichen
deutschen Volksnamen der dortigen Tiere und Pflanzen seine
besondere Aufmerksamkeit zugewandt und war deshalb weit besser
als J. Wimmer, v. Fischer-Benzon und P. Kaiser in der Lage,
die Hildegard’schen Namen richtig zu deuten und dadurch auch
für die Originalität ihrer Beobachtungen und Angaben Zeugnis ab-
zulegen.
Von den neun Büchern der Physica ist das II., de ele-
mentis, allgemeinerer Natur, das IV., de lapıdıbus und das IX.,
de metallis sind mineralogischen, das I., de plantis und das IIl.,
de arborıbus, botanischen, das V., de piscibus, das VIII. (de
reptilibus, aber ohne diese Überschrift), das VI., de avibus und
das VII., de anımalıbus, zoologischen Inhalts.
Das Buch de elementis ist eigentlich nur eine Einleitung zu
den übrigen und wohl nur durch den Irrtum eines Kopisten an die
zweite Stelle gekommen. Es enthält nichts von modern natur-
wissenschaftlichem Interesse. Wichtiger sind schon die minera-
logischen Bücher. Das IV. Buch, de lapıdibus (26 Kapitel), zählt
über 20 Edelsteine auf meist mit den noch heute üblichen Namen.
Auch die Perlen werden hier aufgeführt, und zwar außer den echten
Perlen (margarıtae) auch die unechten, die sie berlin nennt.
Von letzteren bemerkt sie, dass sie „in quibusdam conehis anıma-
lıbus nascuntur, scilicet quae ın conchis jacent“. Sie hat also wahr-
scheinlich die in den Bächen des Hunsrück häufige Flussperlmuschel
schon gekannt. Den Schluss des Kapitels de lapidibus bilden die
gemeinen Steine, von denen sie „marmor, grieszstein, calch-
stein, duckstein (Tuffstein) und wacken“ im besonderen nennt.
Im IX. Buch, de metallis (8 Kapitel), hat nur das messing den
deutschen Namen, die übrigen Metalle lateinische. Beim Messing
bemerkt sie ausdrücklich, dass es kein einfaches Metall sei, sondern
„ex alio metallo factum“.
4) Eine ausführlichere Besprechung der Physica werde ich in der Festschrift
zum 70. Geburtstage v. Hertling’s, herausgegeben von der Görresgesellschaft, ver-
öffentlichen.
5) L. Geisenheyner, Die Wirbeltierfauna von Kreuznach, unter Berück-
sichtigung des ganzen Nahegebietes. I. Teil: Fische, Amphibien und Reptilien,
1588; II. Teil: Säugetiere, 1891.
Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin. 283
Die Botanik Hildegard’s behandelt die Kräuter (lib. I. de
plantis) und die Bäume (lıb. III. de arboribus) getrennt, erstere
in 230, letztere ın 63 Kapiteln, die ebensovielen Pflanzenarten ent-
sprechen, bei denen in weitaus den meisten Fällen der deutsche
Volksname derselben die Kapıtelüberschrift bildet. Auf den hohen
Wert des botanischen Teils der Physica, welcher mehr als die Hälfte
sämtlicher Kapitel des ganzen Werkes umfasst, hat Ernst H. FE.
Meyer schon 1856 im 3. Bande seiner „Geschichte der Botanik“
aufmerksam gemacht und mit Hilfe einer Reihe von mittelalter-
lichen Glossarien die Hildegard’schen Pflanzennamen interpretiert.
Eine Anzahl weiterer Interpretationen gab Geisenheyner, so dass
wir über die Botanik Hildegard’s bereits sehr gut unterrichtet sind.
Diese enthält ein relativ vollständiges Verzeichnis der damals im
Nahegebiet bekannten Getreidearten, Heilpflanzen, Gemüsepflanzen
und Baumarten. Unter letzteren sei hier nur der weiße Maulbeer-
baum (murus alba, mulbaum) und der Speierling (Sorbus dome-
stica, spiırbaum) erwähnt, die nach Geisenheyner heute daselbst
ım Aussterben oder schon verschwunden sind. Derselbe glaubt
auch aus Hildegard’s Worten über den dietampnus (Dietamnus
fraxinella) „calorem habet in igne, qui de eo egreditur“, schließen
zu dürfen, dass ihr bereits die Feuererscheinung an dieser Pflanze be-
kannt war, deren Entdeckung man gewöhnlich der Tochter Linn&’s
zuschreibt. An windstillen trockenen Tagen sammelt sich nämlich
um dıe Blüten eine Hülle von ätherischem Öl, welche, entzündet,
zu einer großen Flamme aufblitzt.
Bei Hildegard’s Zoologie, die bisher weit weniger berück-
sichtigt wurde als die Botanik, will ich mich etwas länger auf-
halten. Hier gibt Hildegard ein relativ vollständiges Verzeichnis
der damals dem Volke bekannten Säugetiere, Vögel, Reptilien, Am-
phibien und Fische, meist mit deren deutschen Namen, die großen-
teils heute noch im Rhein- und Nahegau sich erhalten haben. Ferner
charakterisiert sie das betreffende Tier kurz vom naiven biologischen
Standpunkt aus und begründet hieraus dann die verschiedenen
medizinischen Verwendungen desselben. Ihre biologischen Bemer-
kungen sind, wie sich an zahlreichen Beispielen nachweisen lässt,
großenteils auf eigene Anschauung gegründet und geben
außerdem dem damaligen Volkswissen über das betreffende
Tier einen kurzen Ausdruck. Am Beginn eines jeden Buches werden
zuerst jene Tiere besprochen, welche die Verfasserin aus der klas-
sischen Literatur kennt. Hier gibt sie ihre Büchergelehrsamkeit
zum besten, meist mit den bekannten alten Fabeln; z. B. im Buch
über die Fische beim Wal (cete), den sie natürlich noch zu den
Fischen rechnet; im Buch über die Vögel beim Greif (griffo), im
Buch über die Amphibien und Reptilien beim Drachen (draco),
im Buch über die Säugetiere beim Löwen (leo). Dann erst geht
284 Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin.
sie zu den einheimischen Arten über, die sie aus eigener An-
schauung und Erfahrung kennt. Hier werden ihre Angaben viel
origineller und wertvoller, und die alten Fabeln bleiben fort,
oder es wird ihnen — wie beim Feuersalamander — sogar wider-
sprochen. Gerade in dem Unterschiede, der bei Hildegard zwischen
ihrer Behandlungsweise der ausländischen und der einheimischen
Tiere obwaltet, zeigt sich — ähnlich wie bei Albertus — das
Streben nach eigener, selbständiger Beobachtung.
Das Buch über die Fische (lıb. V, 37 Kapitel umfassend), ist
dadurch faunistisch besonders wertvoll geworden, dass es Geisen-
heyner gelungen ist, alle deutschen Fischnamen Hildegard’s bis
auf einen (de pisce conchas habente) zuverlässig zu interpretieren.
Wir erhalten dadurch ein Verzeichnis von über dreißig Fisch-
arten, die damals im unteren Nahegebiet vorkamen. Den Lachs
(lasz) unterscheidet sie vom Salm (salmo), ebenso wie es heute
noch geschieht, besonders an der Beschaffenheit des Fleisches, das
bei dem flussabwärts vom Laichen rückkehrenden Salm „mollis et
infirma“ genannt wird. Auch die Lachsforelle (fornha) ist ıhr
bekannt, der hecht, die ascha, die slya, der carpo, der barbo
u. s. w. Beim Hecht macht sie die vortreffliche biologische Be-
merkung: „in puritate ac in medietate aquarum libenter versatur;
et diem diligit et acer est et grim, velut aliqua bestia in silva;
atque ubicunque moratur, pisces consumit et aquas ıllas de alus
piscibus evacuat.“ Auf Geisenheyner’s Berichtigung früher falsch
gedeuteter deutscher Fischnamen Hildegard’s kann hier nicht ein-
gegangen werden. Es sei nur bemerkt, dass unter der elsua nicht
die Elritze, sondern die Nase (Chondrostoma nasus) zu verstehen
ist, die ım Nahegebiet heute noch Else, Eltz oder Eltze heisst.
Der stachela genannte Fisch ist nicht etwa der Stichling, sondern
der wegen der Stacheln seiner Rückenflossen heute noch von den
Fischern gefürchtete und „Stacheler* genannte Kaulbarsch (Acerina
cernua). Die steinbisza ist nicht der Steinpeitzger oder die Dorn-
grundel (Oobitis taenia), sondern die Sandpricke oder das kleine
Neunauge (Petromyzon Planeri), das heute noch bei den Nahe-
fischern „Steinbeißer“ heisst. Auf das Flussneunauge (Petromyzon
fluviatilis) bezieht sich Hildegard’s lampreda, das heute noch da-
selbst „Lampretcher“ genannt wird. Dass Hildegard auch über
diesen Fisch aus selbständiger Anschauung urteilt, zeigen ihre Worte:
„duos tantum oculos habet, quia foramina, quae quası oculi videntur,
oculı non sunt, sed tantum caeca foramına“. Sie meint damit die
sieben Paare runder äußerer Kiemenöffnungen.
Das Buch über die kriechenden Tiere (Lib. VII.) trägt in
der Pariser Ausgabe nur die vom Herausgeber beigefügte Seiten-
überschrift „de reptilibus“. Es sind die vermeintlich oder wirklich
giftigen Tiere, die hier ın 18 Kapiteln behandelt werden, Amphibien,
Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin. 285
Reptilien, Spinnentiere [scorpio, aranea, darant (Tarantel)] und
— der Regenwurm (ulwurm). Hier zeigt sich besonders auffällig
der Unterschied zwischen Hildegard’s Büchergelehrsamkeit, die sie
in den Fabeln über die ıhr persönlich unbekannten Tiere (draco
und basıliscus) verwertet, und ihrer eigenen Beobachtung, die
bei den einheimischen Tieren sich bekundet. Vor der vipera,
unter der wir die Kreuzotter zu verstehen haben, die erst seit zwei
Jahrhunderten aus dem Nahegebiet verschwunden ist, hat sie große
Angst, da sie ohne Zweifel die giftigen Wirkungen ihres Bisses
kannte. Darum sagt sie von ihr: „velut ıgnis calıda est et totum,
quod in ea existit, mortiferum est“. Die blintsleich gilt ihr da-
gegen als ungefährlich: „dum vivit, hominem non Jlaedit.“ Ja sogar
den moll (Feuersalamander), über den in der mittelalterlichen
Literatur die schrecklichsten Greuelmärchen berichtet wurden, hält
sie im Leben für ziemlich harmlos: „ipse moll per se hominem
non multum laedıt dum vivit, sed veneno ejus homines oceiduntur
sı ıllud gustaverint.“ Statt die alten Fabeln über den moll zu
reproduzieren, widmet sie ıhm nur 5t/, Zeilen! Den ulwurm
(Regenwurm) führt Hildegard zwar in Gesellschaft der Kriechtiere
auf, schildert ihn aber biologisch ziemlich richtig, indem sie seine
Lebensweise in den Erdlöchern feuchter Wiesen erwähnt. Deshalb
schreibt sie ihm auch eine „munda natura“ zu und nennt ıhn nicht
giftig, sondern „bonus et utilis“. Interessant ıst, was sie über das
Hervorkommen der Regenwürmer aus den Erdlöchern vor einem
Regen berichtet: „cum pluvia de aere descensura eadem humiditas
terrae pluviam venturam sentit, de qua venae terrae impleantur,
et hoc ulwurm per naturam suam intellegentes procedunt propter
repletionem venarum terrae.“
Die Vögel, die ın den 72 Kapiteln des liber VI., de avıbus,
behandelt werden, kennt Hildegard besonders gut und gibt ein wert-
volles Verzeichnis der damals im Nahegau vorkommenden Arten.
Am Schlusse des Buches werden die Fledermaus und acht Arten
geflügelter Insekten angereiht. Die Namen der Vögel werden
meistens deutsch gegeben, nur bei den aus der klassischen Lite-
ratur ihr bekannten lateinisch (pavo, gallus, cygnus, grus,
corvus, columba etc.). Die Ente nennt sie verdeutscht aneta
statt anas. Unter den Raubvögeln waren vielleicht der Geier (vul-
tur) und der Adler (aquila), die sie ebenfalls aufführt, ihr nicht
persönlich bekannt, wohl aber der Wanderfalke (falco), Turmfalke
(weho), Habicht (habıich), Sperber (sperwere), Milan (milvus),
Uhu (huw o) und die ulula, die nach ihrer Schilderung höchstwahr-
scheinlich auf den Steinkauz sich bezieht. An Wasser- und Sumpf-
vögeln nennt sie den Schwan, den Kranich, den Reiher (reyger),
den Storch (odebero), die zahme Gans (anser) und die Wildgans
(halegans oder hagelgans), deren Züge sie erwähnt (in multi-
Sb Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin.
tudine volat), die Hausente (aneta domestica) und die Wildente
(aneta sılvestris). Auch die Schnepfe (snepha) und die Rohr-
dommel (ordumel) waren ihr bekannt. Unter den Hühnervögeln
behandelt sie den Pfau, das Haushuhn (gallus et gallına), das
urhun, birekhun, rephun und die wachtela.
Bei den Taubenvögeln nennt sie unter columba die holtz-
duba und die rıngelduba, welche sıe von der Turteltaube (tur-
tur) unterscheidet. Die meva Hildegard’s ıst nach Geisen-
heyner’s Untersuchung sicher eine Larus-Art, und zwar die Lach-
möve, die heute noch an der Nahemündung nieht selten zu sehen
ist. Hildegard’s nur 3!/, Zeilen umfassende Beschreibung lässt
wegen der Worte „in recto temperamento de aöre et de aqua est“
und „non alte volat“ nur die Deutung der meva als Möve zu.
Unter den rabenartigen Vögeln kennt Hildegard den Kolkraben
(corvus), die krewa et kraha (die Saatkrähe und die Rabenkrähe),
die nebelkraha, die Dohle, die Elster und den Eichelhäher (hera).
Als Beispiel, wie die Vögel von ıhr kurz biologisch gezeichnet
werden, sei hier ihre Schilderung des Kolkraben wiedergegeben,
die fast modern tierpsychologisch klingt: „Et astutus est, audax,
et non timet, atque hominem non multum fugit nec timet, ita
quod etiam faciliter cum eo loqueretur et scientiam fere ad hoc
habet, nisı quod irrationale anımal est.“ Es scheint aus den letzten
Worten hervorzugehen, dass Hildegard auch gezähmte Raben und
deren Sprachkünste kannte. Bei den Spechten unterscheidet sie
den Grünspecht von den übrigen Arten. Auch der Eisvogel (isen-
brado) und der Wiedehopf (wedehoppa) waren ihr bekannt.
Beim Kuckuck (cuculus) scheint sie von seinem Brutparasitismus
nichts zu wissen. Am vertrautesten war sie mit den kleinen Sıng-
vögeln, die sie meist auch sehr zutreffend kurz biologisch charak-
terisiert: die meysa, amsla, drosela, merla (Merl, Schwarz-
drossel), lercha, nachtgalla, staro, vinko, distelwincke,
amera, grasmucka, wasserstelza und beynstercza (weiße
und gelbe Bachstelze). Beim Spatzen (passer) hebt sie seine
„astutia et versutia® hervor. Die hyrundo Hildegard’s ist wohl
die Hausschwalbe.
Die geflügelten Insekten, welche den Vögeln angereiht
werden am Schlusse des Buches de avibus sind die Biene (apis),
die Hummel (humbele), die vespa, die musca, die mugga
(Mücke), der glımo (Plural glimen, Leuchtkäfer), die locusta
und die cicada.
Die Säugetiere behandelt das Buch de anımalıbus (lıb. VII,
45 Kapitel). Unter den 43 Säugetierarten, die hier aufgeführt
werden, sind 33 einheimische. Als Anhang sind noch — der Floh
(pulex) und die Ameise (formica) diesem Buche beigefügt. Bei
den Säugetieren beginnt Hildegard wieder mit den klassischen
Wasmann, Hildegard von Bingen als älteste deutsche Naturforscherin. 987
fremden Tieren, die sie nicht aus eigener Beobachtung kennt (ele-
phans, camelus, leo, unicornis, tigris, panthera) und be-
richtet manche Fabeln über dieselben. Auch beim Bären (ursus),
der ihr doch näher bekannt war, gibt sie fabelhafte Geschichten
wieder. Mit den klassıschen lateinischen Namen nennt sie Pferd,
Esel, Hirsch, Schaf, Ziege (hircus), Rind, Schwein, Hase, Wolf,
Fuchs, Hund, Maulwurf und Maus, während sie deutsche Namen
hat für das rech (Reh), den steynbock, den wisant, den biber,
die meerkatza, den luchs, den dachs (dasch ist wohl ein Fehler
des Kopisten), das eichhorn, den hamstra, diespiezmus u.s. w.
Die lıra Hildegard’s ist nach Geisenheyner sicher unser Garten-
schläfer (Elıomys nitela), der heute noch „Leiermaus“ heisst in
solchen Gegenden des Rheinlands, wo früher römische Ansiedlungen
waren, und wo daher das Tier früher unter dem Namen glis zu
kulinarischen Zwecken in eigenen Glirarien gezüchtet wurde, während
der Sıebenschläfer (Myoxus glıs), der demselben Zwecke im süd-
lichen Europa diente, im Rheinland nicht nachgewiesen ist.
Beim Igel (ericius) unterscheidet Hildegard den swinegel
von einem anderen, der dem Hunde ähnlich sehen soll; ein Irrtum,
den man heute noch beim Volke findet. Den biber, der damals
sicherlich an der Nahe noch häufig war, kennt sie als amphibisch
lebend und als eine gute Fastenspeise. Zahlreich sind die marder-
artigen Raubtiere bei ihr vertreten: der marth (Baummarder), der
wassermarth (Wassermarder), der otter (Fischotter), der ılle-
diso (lltis), die wisela (Wiesel), der zobel und das harmini
(Hermelin). Den Pelz des marth hält sie, entgegen dem heutigen
Geschmacke, für besser als den der beiden letzteren. Recht natur-
getreu ist ihre Charakteristik des Iltis: „frigidus est et fetidus et
de moribus furis et de natura lupi habet et quae immunda sunt
saepe comedit.“ Der wassermarth, den Geisenheyner auf
den Nörz (Mustela lutreolus) bezieht, ist gegenwärtig fast ganz aus
der deutschen Fauna verschwunden. Auch zwei Jagdtiere, die längst
in Deutschlands Wäldern ausgestorben sind, der bemähnte Wild-
ochse wisant und der luchs, begegnen uns bei Hildegard, und
zwar als Tiere, die sie selber gekannt hat. Vom Luchs sagt sie
zutreffend, derselbe habe ein wildes unstetes Wesen: „ideo oeuli
ejus lucent velut stella in nocte.“ Der Wisentbraten, den sie als
sehr gesund empfiehlt, scheint damals keine Seltenheit gewesen
zu sein.
Unter dem Namen formica versteht Hildegard, wie aus ihrer
ganzen Beschreibung und medizinischen Verwendung hervorgeht,
die Waldameise (Formica rufa), deren huffen damals im Nahe-
gau noch viel häufiger waren als heute, wo der Waldbestand durch
Ackerbau und Weinberge vielfach verdrängt worden ist. „Formica
calida est et de humore illo erescit, qui aromata educit, et etiam
239 Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften.
velut volatilia ova in natura sua producit.“ Das heftige Tempera-
ment der Waldameise und ihre Entwickelung aus harzduftenden
Nestern deuten schon auf die Waldameise hin, ganz abgesehen
davon, dass ihre Nester stets huffen genannt werden. Die „gleich-
sam geflügelten Eier“, die sie hervorbringt, beziehen sich auf die
Kokons, aus denen die geflügelten Geschlechter kommen. Hilde-
gard empfiehlt, unter genauer Angabe des zu beobachtenden Ver-
fahrens, nicht bloß die Einatmung von Ameisensäuredämpfen gegen
das flecma, sowie aus ganzen Ameisenhaufen bereitete Ameisen-
säurebäder gegen die gicht, sondern auch — das Tragen eines
kleinen lebendigen Ameisennestes auf der bloßen Brust als Mittel
gegen Melancholie und Neurasthenie! Wer es nachmachen will,
kann es heute noch erproben. Die subkutane Einspritzung von
Ameisensäure soll ja ein modernes Antineurasthenikum sein.
Diese kurzen Angaben dürften wohl genügen, um die Aufmerk-
samkeit der Biologen auf Hildegard’s „Physica“ hinzulenken.
Dieselbe ist nicht bloß das älteste naturwissenschaftliche
Dokument über die Fauna und Flora des Nahegaues im
12. Jahrhundert durch die zahlreichen deutschen Tier-
und Pflanzennamen; sie ist ferner nicht bloß ein interessantes
Denkmal der von Hildegard gesammelten naturwissenschaft-
lichen Volkstradition jener Zeit; sie enthält auch ein offen-
kundiges Streben nach selbständiger Naturbeobachtung und
unmittelbarer, auf eigener Anschauung beruhender, bio-
logischer Charakteristik der Naturobjekte. Ernst H. F.
Meyer hat in seiner „Geschichte der Botanik“ (III, S. 518) schon
1856 bemerkt, dass die deutschen Zoologen und Botaniker in Hilde-
gard’s Physica „die ersten rohen Anfänge vaterländischer
Naturforschung“ finden — 100 Jahre vor der Tier- und
Pflanzengeschichte Albert des Großen. Wie Carl Jessen bereits
1862°) hervorhob, besitzen wir aus der ganzen Zeit vor Albertus
kein Werk von solcher Bedeutung für Deutschlands älteste Natur-
geschichte wie die Physica Hildegard’s von Bingen.
Das Denken in den Naturwissenschaften.
Von Robert Lewin.
Das Novum Organon Francis Bacon’s gilt allgemein als das
Fundament der neueren Naturwissenschaften, seine induktive Me-
thodik war den folgenden Jahrhunderten der Schlüssel zu aller
experimentellen Forschung, und mit seiner Instanzentafel soll er
6) In einer Besprechung der Wolfenbütteler Pergamenthandschrift der Physica
aus dem 13. Jahrhundert (Sitzungsber. der Kais. Akad. Wissensch. Wien, Mathem.-
naturw. Klasse XLV, 1862, 1, S. 97—116).
Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften. 389
alles wissenschaftliche Denken in die rechte Bahn gelenkt haben.
Und doch liegt in dem Schicksal dieser Baconischen Instauratio
magna eine Ironie verborgen. Die größten Leistungen der Wissen-
schaft verdanken wir nämlich nicht der Induktion, so wenig wie
der aristotelischen Wortfechtkunst. Was die Wissenschaften seit
1620 an positiven Werten geschaffen haben, wurde trotz und gegen
Bacon vollbracht; wie zu allen Zeiten die großen Ideen nicht nach
mühseligem Kriechen auf der Straße der Empirie, sondern in einem
schöpferischen Augenblick der Erleuchtung konzipiert wurden. Ge-
rade aber was Bacon als Irrweg bezeichnete, wurde häufig der
Pfad der exakten Wissenschaften. Hier liegt das Bitterste der
Ironie. Wohl war Bacon ein Streber, einer, dem äußere Macht-
stellung so viel galt, dass er ein Menschenleben zu ihrer Erreichung
daransetzte. Wohl ist auch sein wissenschaftliches System ein ge-
treues Abbild dieses Strebertums. Anmaßung und Alleswissenwollen
sind die Kennzeichen seiner Instanzentafel. Aber mit seinem
seltenen Scharfblick hätte er doch der Förderer der Wissenschaften
werden können. Denn er wies deutlich auf die Schwächen und
Tücken des menschlichen Verstandes, und seine Kritik der Vernunft
ringt uns so große Bewunderung ab wie die Kant’s. Er war der
erste große Wortkritiker, wie Mauthner, der Schöpfer der „Kritik
der Sprache“ selbst zugesteht. Hätte man nur das Novum Organon
besser gelesen und anders verstanden!
Freilich, die Induktion, mit der Bacon so prahlt, hat uns kein
Tor zum Land der Erkenntnis geöffnet. Die herbste Kritik an
diesem Verfahren dürfte nicht allgemein bekannt sein. Sie muss
aber an das Tageslicht gezogen werden, weil wir aus ihr lernen,
dass der Geist durch Fachgelehrsamkeit nicht erweitert, sondern
eingeengt wird und dass nur ein kühner Geistesflug um weite Hori-
zonte kreis. Edgar Allan Poe schreibt in seinem „Heureka“:
„Weisst Du, dass es kaum acht- oder neunhundert Jahre her ist,
seit die Metaphysiker sich zum erstenmal dazu verstanden, die
Menschheit aus dem Bann der sonderbaren Einbildung zu entlassen,
es führten nur zwei gangbare Wege zur Wahrheit. Es lebte in
der Nacht der Zeiten ein türkischer Philosoph, der Harry hieß und
den Beinamen Stoffel führte (Aristoteles). Der Ruhm dieses
großen Mannes ist darauf zurückzuführen, dass er bewiesen hat, das
Niesen sei eine natürliche Vorkehrung, mit deren Hülfe übergescheute
Denker imstande wären, ihre überschüssigen Gedanken durch die
Nase auszutreiben; er erlangte fast eine ebenso bedeutende Be-
rühmtheit als Gründer dessen, was man die deduktive Philosophie
oder die Philosophie a priori nannte. Dieser Harry Stoffel herrschte
nun unumschränkt bis zur Heraufkunft eines gewissen Becker, ge-
nannt das Peru Lamm (Bacon von Verulam), der ein völlig ab-
weichendes System lehrte, die induktive Philosophie oder die Philo-
2I0 Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften.
sophie a posteriori. Er ging so zu Werke, dass er Tatsachen, die
man affektierterweise instantia naturae nannte, beobachtete, analy-
sierte und klassifizierte... So groß war die Verblendung infolge
der Lehre Peru-Lamms, dass alles wirkliche Denken tatsächlich
unterbunden wurde. Niemand wagte es, eine Wahrheit auszu-
sprechen, die er einzig seiner Seele verdankte.“ Die Methode
Bacon’s nennt Poe ein Kriechsystem, mit dem die Menschheit
nie den Maximalertrag an Wahrheit erlangen könne. Die Anhänger
dieser Methodik hätten sich überdies mit fein pulverisiertem schot-
tischen Schnupftabak geblendet, nämlich mit dem Detail — und
so wären die berühmten Tatsachen der Peru-Lämmer keineswegs
ımmer wirkliche Tatsachen. Der Grundfehler des Baconianismus
seı entstanden „aus dem Bestreben, Macht und Einfluss in die
Hände von Männern zu geben, die nıcht schöpferisch waren, sondern
bloß beschreiben konnten, was sie sahen, diesen mikro-
skopischen Gelehrten, halb Fisch, halb Mensch, die winzige Tat-
sachen ausgruben und damit hausieren gingen — die sie dann alle
noch einmal im kleinen auf der Straße verkauften“... Man be-
gnüge sich nicht mit diesem Hinweis auf Poe, man lese das herr-
liche Stück „Heureka“, um zu erfahren, wie ein hellsichtiger Geist
niemals ınduktive Bahnen vor sich sieht, sondern weit unter
sich als enge Kletterpfade, die er nicht zu klimmen brauchte.
Viel tiefer als Francıs Bacon hat ja schon sein Namensvetter
Rogerıus Bacon etwa 400 Jahre vor ıhm geschaut. Und doch
stak dieser noch tief in der Alchemie und war Mystiker. Roger
kennt außer dem dialektischen Wege zur Erkenntnis den der Er-
fahrung. Diese aber teilt er in äußere und innere. Die äußere
Erfahrung, das Experiment, kann nicht einmal von den körperlichen
Dingen volle Kenntnis geben. Die innere Erfahrung aber er-
leuchtet die Vernunft mit göttlicher Wahrheit. Es ist ein großer
Zeitabstand zwischen den beiden Bacon, es ist ein weit größerer
zwischen Roger Bacon und Schopenhauer. Und doch lehrt
letzterer wieder in seiner Dissertation: „Von der vierfachen Wurzel
des Satzes vom zureichenden Grunde“, wie wissenschaftliche Er-
fahrung ın der reinen inneren Anschauung möglich ist. Schopen-
hauer erhärtet dies damit, dass wır einen euklidischen Satz in der
bloßen Anschauung längst begriffen haben, ehe wir imstande sind,
den Satz elementar abzuleiten. Der Beweis hinkt immer nach und
wissenschaftliche Experimente sind meistens ein post hoc. Das mag
paradox klingen! Zahlreiche Beispiele erweisen aber, wie ein momen-
taner Lichtblick das Dunkel eines Problems erleuchtete und wie
erst durch spätere Mühsal und Kärrnerarbeit konstruiert wurde,
was als Bau schon lange vorher dem großen Geiste vor Augen
stand. Man wird auf den Siegeszug der Naturwissenschaften im
19. Jahrhundert weisen und fragen, ob dies nicht Werk der Induktion
Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften. 291
in Bacon’s Sinne sei. Aber man lässt sich blenden durch die
„Tatsachen“ und die „Errungenschaften“. Doch Tatschen sind nicht
Wahrheiten und Erkenntnisse. Tausende von Fakta reichen oft
nicht aus, um uns ein Quentchen Erkenntnis zu liefern, Tausende
von „Tatsachen“ sind sogar ımstande, unseren Geist so zu um-
nebeln, dass das erste Lichtlein auf unserem Erkenntniswege uns
entrückt ıst. Mit den „Tatsachen“ sind der Menschheit die knö-
chernsten Dogmen, die lächerlichsten Irrlehren beschert worden.
Man denke doch an jenen Büchner, der mit seiner Tatsachen-
sammlung die Köpfe so verwirrte, dass sie Denken mit Urinieren
verwechselten. Man denke doch an unsere modernen Tatsachen-
fabriken, etwa an die Haeckel’schen Welträtsel! Wirklich, Francis
Bacon würde aus Scham zum Mystiker werden, würde er in diese
unrühmliche Epoche exakter Forschung versetzt. Und die Errungen-
schaften! Sie blenden am meisten. Man vergesse doch nicht, dass
dies nur Technik ist, oder in baconischer Sprache „Erfindungen“.
Das praktische Ergebnis einer Forschungsarbeit hat nicht notwendig
etwas mit wissenschaftlicher Erkenntnis zu tun. Das Salvarsan
mag mit einem Schusse sämtliche Spirochäten im Organismus töten,
und doch kann die theoretische Basis, auf der es geschaffen wurde,
falsch sein. Jenner’s Pockenimpfung entstand ohne die theo-
retischen Voraussetzungen der Immunitätslehre. Und es kommt
vielleicht einmal der Tag, da die Vakzination weiter wirksam ist
und die Immunitätslehre von heute zu den Antiquitäten gehört.
Die Fortschritte der Mathematik waren nicht erforderlich, um den
Panamakanal oder den Eifelturm zu bauen. Es gab Zeiten, wo
erst gebaut wurde und dann der Archimedes kam. Wenn aber
Kalkül und Experiment dem Ergebnis vorausgehen, so gewinnen
wir zwar achtungswerte Errungenschaften und nützliche Anwendungs-
möglichkeiten. Man berausche sich aber nicht an diesen Nützlich-
keiten und glaube nicht, dass in ihrer Anwendung das Endziel
menschlichen Denkens gegeben sei. Und man vergesse nicht an-
gesichts der technischen Resultate menschlicher Forschungsarbeit,
dass große Geister zu allen Zeiten mit solchen „Errungenschaften“
gespielt haben wie mit unwichtigen Nebensächlichkeiten. Das Spiel-
zeug blieb dann vielleicht Jahrhunderte im staubigen Winkel. Nach
Jahrhunderten aber war dann großer Lärm um diese enormen „Er-
rungenschaften* und kein Mensch ahnte, dass man altes Spielzeug
anstaunte. In der Geheimkammer des Roger Bacon finden wir
um 1250 allerlei solchen Kram, der uns die Augen weit aufreißen
lässt. Es heißt in seinem Buche: Von den geheimen Wirkungen
der Kunst und Natur: „Von künstlichen wunderbaren Instrumenten.
Ich will jetzo zuerst die wunderbaren Werke der Kunst und Natur
erzählen und nachher ihre Ursache und die Art und Weise der-
selben bestimmen. In allen diesen ist keine Zauberei und man
292 Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften.
kann sehen, dass alle Künste der Zauberer weit hinter den Werken
der Kunst und Natur zurückstehen. Denn es können Werkzeuge
zur Schiffahrt erfunden werden, mit denen die Menschen rudern,
dass die größten Schiffe auf den Flüssen und auf dem Meere fort-
gehen, wenn sie ein einziger Mensch regieret, mit größerer Ge-
schwindigkeit, als wenn sie voller Ruderknechte wären. Man könnte
auch Wagen machen, dass sie ohne Tiere gezogen werden,
mit einem unglaublichen Trieb, und es ist zu vermuten, dass die
Sichelwagen so beschaffen waren, mit welchen man vor alters in
den Streit gezogen. Ja, man könnte Werkzeuge machen zu
fliegen, so dass ein Mensch, der mitten in der Maschine
sıtzt, und sie mit Verstand regieret, durch dieselbe die Flügel
künstlich beweget und die Luft zerteilet, nach Art eines fliegenden
Vogels. Man kann auch eine Maschine machen, die klein ist, aber
eine unglaublich schwere Last aufheben und niederdrücken kann,
welches im Fallen von überaus großen Nutzen ist. Denn durch
eine Maschine, drei Finger hoch und drei Finger breit, könnte ein
Mensch sich aus dem gefährlichsten Gefängnis retten, sich in die
Höhe heben und herablassen. Man kann auch leichtlich eine Ma-
schine machen, mit welcher ein einziger Mensch tausend andere
Menschen mit Gewalt zu sich ziehen kann wider ihren Willen. Es
können auch Werkzeuge erfunden werden, auf dem Meere zu gehen,
und in den Flüssen bis auf den Grund, ohne Gefahr seines Leibes.
Solche Dinge sınd vor Alters und heutiges Tages gemacht worden,
und es ist nicht daran zu zweifeln. Die Maschine allein, womit
man fliegen kann, habe ich nicht gesehen, und ich kenne niemand,
der eine gesehen hätte, aber einen weisen Mann kenne ich, der
dieses Kunststück wohl ausgedacht hat. Außerdem können noch
unzählige andere Dinge gemacht werden; z. B. Brücken über Flüsse
ohne Pfeiler...“ Man braucht sich darum noch keine übertriebenen
Vorstellungen von den Kenntnissen und Fertigkeiten des 13. Jahr-
hunderts zu machen, aber warnen müssen uns die Worte Roger’s
vor einer Überschätzung der praktischen Ergebnisse wissenschaft-
licher Forschung.
Mit der induktiven Methodik haben wir es also „herrlich weit
gebracht“! Weahrhaftig, mehr als zu Bacon’s Zeiten herrscht ein
wirrer Streit der Meinungen. Alle Fehler, vor denen Bacon ge-
warnt hatte, sind tausendfach begangen worden, alle Anweisungen
zu einer sauberen Verstandesarbeit sind übersehen worden. Wer
sich dies vor Augen führen will, der lese in Mauthner’s Wörter-
buch der Philosophie p. 77 ff. die meisterhafte Übersetzung eines
Abschnittes des Novum Organon. Hier nur einige bedeutsame
Stellen.
„Die Gespenster der menschlichen Sprache halten die Vernunft
so gefangen, dass die Wahrheit nur schwer Zutritt findet.“ — „Die
Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften. 395
menschliche Vernunft setzt nach der Natur der Sprache eine größere
Regelmäßigkeit oder Gesetzlichkeit in den Dingen voraus, als man
nachher in ihnen findet. Und obgleich in der Natur vieles nur
einmal vorkommt oder voller Ungleichheiten ist, so legt die Sprache
doch den Dingen viel Gleichlaufendes, Übereinstimmendes und Be-
ziehungen bei, die es nicht gibt. Solch eitles Spiel wird nicht bloß
mit Urteilen getrieben, sondern auch mit einfachen Begriffen. Es
lieben nämlich die Menschen Spezialuntersuchungen, weil sie darin
etwas geleistet haben oder auch nur, weil sie sich darin abgeplagt
haben. Wenn solche Menschen dann zu allgemeinen Gedanken
übergehen, so verdrehen und verderben sie sie durch ihre früheren
Einbildungen. Dieses zeigt sich besonders bei Arıstoteles, der
seine Naturphilosophie zur Sklavin seiner Logik machte. Auch die
Uhemiker generalisieren leicht und schaffen aus einigen Labora-
torıumsversuchen eine phantastische Philosophie ...* „Man lasse
sich nicht dadurch täuschen, dass er (Arıstoteles ist gemeint —
aber auch mancher zeitgenössische Systembauer) ın manchen seiner
Traktate von Experimenten redet. Denn er machte seine Experi-
mente erst, wenn er seine Sätze willkürlich dekretiert hatte; erst
hinterher musste sich die Erfahrung, und mit wie verrenkten Gliedern,
an seine Lehrsätze heranschleppen lassen.“ — „Denn ich sehe und
sage voraus: wenn einst die Menschen meinen Rat befolgen und
die Wissenschaften empirisch betreiben werden, dann wird der
menschliche Geist wiederum vorschnellundın Gedanken-
sprüngen Generalideen und Gesetze aufstellen, und die
Systeme des Materialismus werden um nichts besser
sein als die Systeme der Scholastik.“
Und diese Prophezeiung ist buchstäblich ın Erfüllung gegangen.
Der Zustand der Wissenschaften, wie ıhn Francis Bacon kenn-
zeichnet, ist heute genau derselbe, wie vor fast 300 Jahren, es ist
der Zustand völliger Zerfahrenheit. Man spreizt sich in seiner
Spezialdisziplin und erlaubt sich Übergriffe auf nähere und fernere
Disziplinen. Wer sich diesen Jahrmarkt wissenschaftlicher Eitel-
keit kaleidoskopisch betrachten will, der durchblättere die sogen.
Terminologie der Entwickelungsmechanik von Roux und seinen
Mitarbeitern. — Wozu diese Gelehrsamkeit! Wird uns das Leben
dadurch verständlich? Selbst das von Roux konstruierte „Ent-
wickelungsmodell“ (p. 130) lehrt uns nichts vom Leben. Francis
Bacon würde sarkastisch grinsen, könnte er erleben, wie Roux
mit Brotteigkügelchen spielt, um aus deren Verhalten bei der Hefe-
gärung das Leben zu erkennen. So treibt man Biomechanik und
schafft Terminologien! Wir lesen von „Petalomanie“ und „Phyllo-
manie“. Kommt es also bei Pflanzen zu reichlicher Ausbildung
von Blumenblättern oder Laubblättern, so schreibt man dies einer
„mania“ (Wut) zu. Besonders schlimm aber ist, dass diese Samm-
XXXILH. 20
294 Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften.
lung überflüssiger und unverständlicher Begriffe den Glauben er-
wecken könnte, als stehe die Biologie als ein gigantisches Gebäude
vor uns. Und doch ist gerade sie die jüngste, die unwissendste
Wissenschaft. Es muss vor das Forum der Naturwissenschaften
kommen und laut betont werden: Wir wissen noch nichts vom
Leben, wir beginnen jetzt erst, es zu studieren. Die „biomecha-
nistische Terminologie“ ıst schlimmer als eitler Kram, es ist Spiegel-
fechterei und Hemmung biologischer Forschung. Ähnliches hat
Uexküll schon vor eimigen Jahren in seinem Werk: „Umwelt und
Innenwelt der Tiere“ ausgesprochen. Die einfachsten Lebewesen
sind uns noch eine unbekannte Welt. Jetzt erst sinnen wir auf
neue Mittel, das Lebendige zu beobachten. Jetzt erst — nachdem
der Darwinismus, Haeckelismus, Monismus schon Inventur gemacht
hatten und schon die Menschheit mit den praktischen Folgerungen
aus ihrer Rätsellösung beglückt hatten.
Das zerfahrene Denken hat diese Sachlage zuwege gebracht,
die Zerfahrenheit, die sich in der literarischen Überproduktion allzu
lästig bemerkbar macht. Ein Beispiel diene noch zum Schluss als
Beweis. Vor mir liegt ein Werk von Professor Moriz Benedikt.
Biomechanik und Biogenesis. In der Einleitung verspricht uns der
Verfasser „eine Einführung in die allgemeine Pathologie an der
Wende des Jahrhunderts zu liefern. Es will handeln von: „dem
wichtigsten Born, aus dem die Denkmethodik in der Medizin schöpfen
muss, von der mathematischen Mechanik.“ Er will uns lehren,
Erkenntnisse zu formulieren, „höchste Erkenntnisse in einfache
Formeln zu bringen.“ Und Benedikt meint: „die gewöhnliche
Ursache des souverän herrschenden Denkdilettantismus in der
Medizin ıst die, dass wır aus der Auflösung einzelner Unbekannten
in einer biologischen Gleichung die Gesamtgleichung als gelöst
betrachten.“ Dieses vielversprechende Programm wird auf ganzen
SS Seiten abgerollt. Das Buch handelt von der Biomechanik des
Zellebens, der Fernwirkung der Zellen, des Saftstromes, des Nerven-
systems, von den Trophoneurosen, der Neuronenfrage, den Grund-
gesetzen der Lebensäußerungen, vom biomechanischen Minimalgesetz
und Luxusgesetz, von der Biomechanik des Wachstums ete., vom
Seelenleben, vom Bau des Gehirns und des Schädels, von Biogenesis,
von ethnologischen, ethischen, juristischen, kriminalanthropologischen
Fragen. Die Lektüre dieses Buches gibt unserem vorgefassten Ver-
dacht recht: Hier liegt schlimmster Denkdilettantismus vor.
Benedikt will das Fundament zu einer „Biomechanik“ fix
und fertig haben. Wir lesen vom „Grundgesetz der Lebensäuße-
rungen“, ausgedrückt durch eine mathematische Gleichung M =
f(H N+N'+E+O), wobei M —= Lebensäußerung jeder Art, N = An-
lage oder Natur, N’ == zweite Natur, E = minder eindrückliche Ent-
wickelungseinflüsse, O — gelegentliche Einflüsse. Jede seelische
Lewin, Das Denken in den Naturwissenschaften. 395
Manifestation soll eine Funktion (f) von N, N‘, E und OÖ im posi-
tiven oder negativen Sinne sein. An dieser „biomechanischen
Gleichung“ ist nichts mathematisch als das Gleichheitszeichen.
Im übrigen ist doch wohl diese „Gleichung“ aus unverständlichen,
unberechenbaren Größen barer Unsinn. So enthält dieses Buch
zahlreiche Beispiele für eine zerfahrene Art logischen Schließens.
Da ist folgender Passus: „Bei Herderkrankungen im Innern des
Gehirns sehen wir Kopfschmerzen auftreten, welche den Charakter
der örtlichen haben und die in der Regel mit Empfindlichkeit gegen
Druck und Beklopfung verbunden sind. Wır haben also eine Pro-
jektion des inneren Reizes an die Oberfläche vor uns. Es ist natür-
lich (!), dass auch der Wachstumsreiz auf diesem Wege an die Ober-
fläche projiziert wird und alle die verwickelten Vorgänge auslöst,
die zum Wachstum und Anpassen vor allem der Knochenhülle nötig
ist.“ — Eine andere Stelle: „Krankhafte Reize befolgen nicht die
Gesetze der physiologischen Fortleitung; sie können nach allen
Richtungen hindurchbrechen ... Besonders lehrreich wird dieser
Satz für die Auffassung der Hysterie. Mit Zustimmung von Charcot
habe ich das biomechanische Wesen der Hysterie als erhöhte
Erschütterbarkeit des Nervensystems bezeichnet... .“ Diese
Definition der Hysterie gleicht etwa der berühmten Erklärung: die
Armut kommt von der Pauvrete. Und mit Zustimmung aller
Denkenden werden wır wohl diese apodiktischen Definitionen als
unsinnige Tautologien bezeichnen dürfen. Das Buch maßt sich an,
der Naturwissenschaft und der Medizin neue Denkrichtungen zu
geben; es will versuchen, den „Gegensatz zwischen Geisteswissen-
schaften und Naturwissenschaften als widersinnig hinzustellen. Und
doch ist das hier geübte Irrlichterieren mit dem Ernst wissenschaft-
licher Forschung nicht vereinbar, und in den Geisteswissenschaften
würde man diese Frucht durchaus als ıllegitim zurückweisen.
Aber Werke dieser Art sind symptomatisch, sie sind Zeuge
dessen, dass es trotz Bacon eine allgemein angenommene Denk-
methodik in den Naturwissenschaften noch nicht gibt. Wo ist ein
Weg aus der Verworrenheit der Begriffe, aus dem unfruchtbaren
Streit der Meinungen, eine Rettung in reine Sphären echter Wissen-
schaftlichkeit? Es gibt eine Rangordnung ın den Wissenschaften
und einen Kastengeist. Man unterscheidet deskriptive von experi-
mentellen Wissenschaften. Und dem deskriptiv hängt man un-
eingestanden ein „nur“ an. Der Anatom, der Morphologe sind
eben „nur“ deskriptiv. Die Palme aber soll dem Experimental-
forscher gebühren. Diese Irrung ıst Frucht Baconischen Geistes.
Ist diese Rangordnung berechtigt? Ist nicht vielleicht ım letzten
Grunde jede Experimentalforschung auch nur deskriptiv? -— Eine
Frage für eine Doktordissertation! Akzeptieren wird man diese
Erkenntnis erst, wenn dem Kausalgesetz sein Nimbus genommen
20*
296 Rosenthal, Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn Lewin.
sein wird. Dann wird zwischen deskriptiver und experimenteller
Wissenschaft nur der Unterschied sein, dass jene das Nebeneinander
im Raume, diese das Hintereinander ın der zeitlichen Folge sieht.
Die Palme wird aber dann vielleicht der deskriptiven Wissenschaft
gereicht werden, weil sie die Ordnung ist, während der Experi-
mentalforschung alles unter den Händen zerfließt und oft nur Spreu
bleibt.
Noch eines bliebe dann zu tun. Man begegne den spekulativen
Köpfen in den Wissenschaften mit Misstrauen. Das sind die Halben.
Es ist eine eigene Sache mit der Philosophie. Zu diesem Metier
gehört Anlage, wie zur Ausübung einer Kunst. Nur seltenen Na-
turen ıst das Vermögen der schöpferischen Einbildung gegeben,
wie etwa einem Leibniz. Die Wissenschaften an sich haben mit
Philosophie nichts zu tun und eitel sind alle Überbrückungsversuche,
eitel auch alle voreiligen Verallgemeinerungen wissenschaftlicher Er-
gebnisse mit philosophischen Allüren.
Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn Lewin.
Von J. Rosenthal.
Der vorstehende Aufsatz ıst durch die Wiedergabe hervor-
ragender Stellen aus vielgenannten aber wenig bekannten Schrift-
stellern gewiss interessant. Nichtsdestoweniger fordert der von
Herrn L. so lebhaft verfochtene Gedanke, dass alle großen Fort-
schritte unserer Erkenntnis nicht „nach mühseligem Kriechen auf
der Straße der Empirie, sondern in einem schöpferischen Augen-
blick der Erleuchtung konzipiert wurden“ zum Widerspruch oder
doch wenigstens zu der Bemerkung heraus, dass solche „Erleuch-
tung“ nur dann einen Wert haben kann, wenn sie auf dem Boden
empirisch gefundener Tatsachen erwachsen ıst und nachträglich
durch ihre Übereinstimmung mit Tatsachen als wirklich begründet
erwiesen wird. Wır alle kennen aus der Geschichte der Wissen-
schaften jene Zeiten der älteren wıe der neueren naturphilosophischen
Spekulationen, in denen die jetzt von Herrn L. vorgetragene Lehre
in allgemeiner Geltung stand. Aber wir wissen auch, welche un-
heilvollen Folgen diese Methode zeitigte und welcher mühevollen
Arbeit es bedurfte, die Wissenschaft wieder von den auf jenem
Boden gezeitigten Irrlehren zu säubern und den wirklichen Fort-
schritt anzubahnen.
Ich habe in meinem Lehrbuch der allgemeinen Physiologie den
Versuch gemacht, die aller Naturwissenschaft zugrunde liegenden
Forschungsmethoden darzustellen und habe mehrmals Gelegenheit
gehabt, auf jene Auseinandersetzungen zu verweisen, nicht weil ich
glaube, darin etwas wesentlich Originelles gesagt zu haben, sondern
Rosenthal, Bemerkungen zu dem Aufsatz des Herrn Lewin. 297
weil mir, gegenüber mannigfachen irrtümlichen Auffassungen, jene
Darstellung als eine kurze, aber alles Wesentliche enthaltende Zu-
sammenfassung dessen zu sein scheint, was heute die Überzeugung aller
nüchtern über die Grundlagen ihrer Forschung nachdenkenden Natur-
forscher ausmacht. Danach bleibt die einzige Grundlage aller natur-
wissenschaftlichen Erkenntnis die Erfahrung, gewonnen durch das
Sammeln und Ordnen einzelner Tatsachen. Aus diesen können
dann allgemeine Schlüsse gezogen werden, die wiederum durch Ver-
gleichung mit den durch Beobachtung und Versuch festgestellten
Tatsachen geprüft und verifiziert werden müssen. Erst wenn sie
diese Probe aushalten, können sie als wahre Fortschritte der Wissen-
schaft anerkannt werden. Das wären also die großen Konzeptionen,
nach denen Herr L. mit Recht die Grade des Fortschritts ın der
Wissenschaft bemisst. Aber was wären sie, wenn sie nicht auf
dem Boden der Empirie erwachsen, durch die Empirie als brauchbar
erwiesen und durch den Nachweis, dass ıhnen wirkliche Tatsachen
entsprechen, bewiesen würden?
Einen recht kurzweiligen Beleg für diese Bemerkungen bringt
Herr L. selbst mit seinem interessanten Zitat aus Roger Bacon’s
Buch von den geheimen Wirkungen der Kunst und Natur (1250).
Er erzählt da von allerlei „Kram“, der sich ın Roger’s Geheim-
kammer gefunden habe, Werkzeugen und Maschinen, welche in
Wirklichkeit erst Jahrhunderte später wirklich erfunden und kon-
struiert worden sind. Die „Geheimkammer“ war aber in Wirklich-
keit nur die Einbildungskraft von Bacon’s Gehirn. Es ist doch
wohl nichts als Geflunker, wenn B. so tut, als ob er mit Ausnahme
„der Maschine, womit man fliegen kann“, alles andere, was er an-
führt (unsere Dampfschiffe, Automobile u. s. w.) selbst gesehen habe.
Er hätte sonst wohl nicht unterlassen, den einen oder anderen dieser
Mechanismen auch bekannt zu machen und damit Ruhm oder wohl
auch Geld zu verdienen. Oder sollte ıhn vielleicht nur die Furcht,
als Zauberer verbrannt zu werden, davon abgehalten haben? Wie
schade!
Ich teile durchaus nicht den verächtlichen Standpunkt, den
Herr L. gegen diese großen praktischen Erfindungen einzunehmen
scheint, noch weniger aber die Meinung, dass die Fortschritte der reinen
Wissenschaft für diese Konstruktionen von geringem Wert gewesen
seien, glaube vielmehr, dass dem Bau des Eiffelturms und ähnlicher
großer Werke sehr sorgfältige und genaue Berechnungen vorausgehen
mussten. Ich kann auch nicht zugeben, dass der Zustand der Wissen-
schaften heute genau derselbe sei, wie vor fast 300 Jahren, der „Zustand
völliger Zerfahrenheit“. Was Herr L. als abschreckende Beispiele
(und gewiss mit Recht) anführt, die Irrtümer der Materialisten aus
der Mitte des vorigen Jahrhunderts oder die verworrenen Speku-
lationen des Herrn Benedikt kommt doch sicher nicht auf Rech-
JS Roux. Terminologie der Entwickelungsmechanik der Tiere und Pflanzen.
nung einseitiger Überschätzung des Empirismus, sondern eher auf
vorschnelle Aufstellung und ungeschickte Anwendung von „Kon-
zeptionen“ hinaus und beweist nur, dass solche Konzeptionen nur
dann fruchtbar sind, wenn sie auf dem Boden empirisch gefundener
Tatsachen erwachsen sind und nur dann einen wirklichen Fortschritt
der Wissenschaft darstellen, wenn ihre Übereinstimmung mit der
Erfahrung erwiesen ist.
Es gibt in der neueren Naturwissenschaft wohl kaum eine größere
„Konzeption“ als die Maxwell’sche elektromagnetische Lichttheorie.
Was sıe so wertvoll macht, ıst doch, dass ıhre Brauchbarkeit durch
den Nachweis der elektrischen Wellen von Hertz und alle sich an
diesen Nachweis anschließenden Arbeiten als brauchbar erwiesen
und dass sie so aus dem Bereich einer geistreichen Spekulation in
das Gebiet einer wirklichen Errungenschaft unserer Naturerkenntnis
übertragen worden ıst. Alle Hochachtung vor den großen Kon-
zeptionen soll uns darum nicht daran irre machen, dass die wahre
Grundlage unseres Wissens von der Natur die Erfahrung ist und
bleiben muss. Und wenn in der Wissenschaft von der lebenden
Welt uns heute noch die großen Konzeptionen fehlen, so liegt das
daran, dass die Kenntnis der Einzelheiten, d. h. der Tatsachen,
noch nicht genügt, solche Konzeption auf gesicherter Grundlage
aufzubauen und sie an der Hand der Erfahrung zu prüfen. Alle
Hochachtung also vor den Urhebern der großen Konzeptionen, aber
Dank und Schätzung auch den Empirikern, welche jene vorbereiten
und prüfen, auf dass die Spreu vom Weizen getrennt werde.
Terminologie der Entwickelungsmechanik
der Tiere und Pflanzen.
In Verbindung mit C. Correns, Alfred Fischel, E. Küster herausgegeben
von Wilhelm Roux.
Es war nicht nur Roux, sondern auch manchem anderen
Forscher gesprächsweise von verschiedenen Seiten gesagt worden,
die Beschäftigung mit den Resultaten und Problemen der Ent-
wickelungsmechanik wäre für den Fernerstehenden deswegen so
schwer, weil in den entwickelungsmechanischen Arbeiten erstens
eine sehr große Zahl von Terminis technicis vorkommt, und weil
zweitens die beiden Hauptvertreter der neuen Wissenschaft, ıhr
Begründer und Hans Driesch ihre eigene Terminologie benutzen,
was das Verständnis noch mehr erschwere. Aus diesem Grunde
ist es mit großer Freude zu begrüßen, dass sich Wilhelm Roux
in Verbindung mit drei anderen bewährten Forschern der mühe-
vollen Aufgabe unterzogen hat, ein Lexikon der hauptsächlichsten
Termini der Entwickelungsmechanik im weitesten Sinne dieses
Wortes zu verfassen.
Roux, Terminologie der Entwickelungsmechanik der Tiere und Pflanzen. 299
Es liegt in der Natur des Werkes begründet, dass das Haupt-
interesse die Artikel von Roux selbst beanspruchen, welche unge-
fähr zwei Drittel des ganzen Buches einnehmen. Es ist geradezu
erstaunlich, was für eine reiche Fülle von Gedankenarbeit ın diesen
Abschnitten des Buches steckt. Das muss auch der objektivste
und kritischste Leser rückhaltlos zugestehen. Mit Hilfe der Stich-
worte: Deskription, Experiment, Entwickelungsmechanik, Deter-
mination und Determinationsfaktoren, Realisationsfaktoren u. s. w.
lässt sich leicht ein Überblick über Ziele und Wege und Methodik
der neuen Wissenschaft gewinnen, zumal wenn man die aus-
giebigen Verweise am Ende der hauptsächlichsten Artikel zu Rate
zieht. Ganz außerordentlich zahlreich sind die Termini, welche sich
auf funktionelle Anpassung beziehen. Die Artikel, in denen die-
selben behandelt werden, bieten zum Teil wesentliche Vervoll-
ständigungen der Theorie der funktionellen Anpassung. Das gilt
von den Abschnitten über Beanspruchungsgröße und Funktionsgröße,
in denen der Zeitfaktor bei dem funktionellen Anpassungsgeschehen
Berücksichtigung findet, was bisher noch nicht geschehen war. Es
ist bei einem Forscher, der so ganz auf eigenen Füßen steht, selbst-
verständlich, dass ın den Artikeln, welche von Roux selbst her-
stammen, größtenteils Eigenes geboten wird, wenn auch offen anzu-
erkennen ist, dass er auch die Anschauungen anderer Autoren zur
Sprache bringt und ihre Termini mit den seinigen vergleicht. Ge-
rade dieser letzterer Punkt verdient das Interesse des Lesers.
Nach Roux hat A. Fischel den größten Anteil an der Fertig-
stellung des Werkes. Die Artikel desselben sind klar abgefasst
und berücksichtigen eingehend die Resultate fremder Autoren. Man
sieht an den Überschriften der Artikel sofort, dass er die Arbeiten
der verschiedenen Forscher auf der Suche nach erwähnenswerten
Terminis tüchtig umgepflügt hat.
Auch Küster’s Artikel verdienen alles Lob. In ihnen wird die
Entwickelungsmechanik der Pflanzen behandelt, während CGorrens
die wichtigsten Begriffe der exakten Vererbungslehre bringt.
Der reiche Inhalt des Buches gewährleistet auch einen reichen
Interessentenkreis, der sich auf Zoologen, Anatomen, Physiologen,
Botaniker und Mediziner erstreckt. Von letzteren seien besonders
neben den pathologischen Anatomen die Chirurgen und Orthopäden
auf das Werk aufmerksam gemacht, welches alleın 70 Termini be-
spricht, die auf Knochen, Knorpel und Bänder Bezug haben. Dass
das Buch für die Vertreter so vieler Disziplinen von großem Inter-
esse ist, ıst ein Beweis, dass die Entwickelungsmechanik keine
isolierte und einseitige biologische Wissenschaft ist, sondern mit
den verschiedensten Wissensgebieten ın Konnex steht. Wem diese
Vielseitigkeit der Entwickelungsmechanik noch nicht klar geworden
ist, dem wird sie durch einen Einblick in das Werk ohne weiteres
offenbar werden. Curt Herbst.
300 Nusbaum, Die entwickelungsmechanisch-metaplastischen Potenzen etc.
Jözef Nusbaum, Die entwickelungsmechanisch-
metaplastischen Potenzen der tierischen Gewebe.
Vorträge und Aufsätze über Entwickelungsmechanik der Organismen. Leipzig 1912.
Der Verf. behandelt die Frage über die entwickelungsmechanisch-
metaplastischen Potenzen der tierischen Gewebe vom zoologischen
und vergleichend-anatomischen Standpunkte, wobei er auch die
Gewebsmetaplasie bei niederen Tieren, die bisher wenig berück-
sichtigt wurde, zur näheren Betrachtung heranzieht.
Zuerst werden die Begriffe der metaplastischen und der ent-
wickelungsmechanisch-metaplastischen Potenz der Gewebe festgestellt.
Der Metabolismus oder die Metaplasie der Gewebe bedeuten die
Fähigkeit einer bestimmten Gewebseinheit des fertigen Organismus
in eine andere bestimmte Gewebseinheit überzugehen, die nicht nur
in struktureller, sondern auch in embryologischer, d. h. genetischer
Hinsicht von der ersteren different sein kann.
Die Auffassung der entwickelungsmechanisch-metaplastischen
Potenz deckt sich fast mit Roux’s atypischer und ganz mit Driesch’s
sekundärer prospektiver Potenz, denn der Verf. versteht darunter
die Fähigkeit der Gewebe zum Metabolismus nur bei besonderen
Bedingungen, d.h. unter dem Einflusse bestimmter Reize, bei deren
Abwesenheit die betreffende Potenz nicht zur Auslösung gelangt.
Nach Feststellung der Begriffe geht der Verf. zu Beispielen
von entwickelungsmechanisch-metaplastischen Potenzen der Gewebe
im Tierreich über. Es werden zahlreiche positive Fälle von auf-
fallendem Metabolismus bei der Restitution zitiert. Bei Regeneration
des Lineus lacteus hat der Verf. und sein Mitarbeiter Oxner die
Bildung eines Epithelgewebes und zwar des Darmepithels aus den
Parenchymzellen des Körpers konstatiert, also aus vereinzelten
Wanderzellen bindegewebigen Ursprunges. Bei denselben Tieren
wurde auch die Bildung von Muskelzellen aus den differenzierten
Parenchymzellen mesodermalen Ursprunges beobachtet. Von anderen
Forschern wurde die Bildung von Muskelelementen, von Binde-
gewebselementen wie auch der Nervenelemente aus dem differen-
zierten Epithelgewebe ektodermaler Herkunft konstatiert. In manchen
Fällen erinnert der Gewebsmetabolismus an embryologische Verhält-
nisse, doch ist in Betracht zu ziehen, dass es sich um Bildung der
Gewebe aus Gewebsarten handelt, die schon bedeutend differenziert
sind, welche zuerst einer Entdifferenzierung unterliegen müssen,
bevor sie den Metabolismus aufweisen.
Die nähere Vergleichung der angeführten Beispiele vom Ge-
websmetabolismus veranlasst den Verf., zwei Typen von Metaplasie
aufzustellen: eine neocytische, bei welcher zuerst eine energische
Zellvermehrung vorkommt und erst nachher eine Differenzierung
der jungen neugebildeten stattfindet und eine metacytische Ge-
websmetaplasie, bei der die alten Zellen nach einer Gegend wandern
und sich direkt in ein neues Gewebe verwandeln, ohne Neocyten
zu produzieren. In letzterem Falle findet ein Kampf unter den
vorhandenen alten Zellen statt, von denen diejenigen, die sich er-
halten und auf phagocytotischem oder polyphagocytotischem Wege
Nusbaum, Die entwickelungsmechanisch-metaplastischen Potenzen etc. 301
sich der schwächeren Zellen bemächtigen, tiefgreifende Umgestal-
tungen erleiden, ehe sie ihre metaplastischen Potenzen zur Auße-
rung bringen. —
Es lässt sich (nach Verf.) direkt eine Regel aufstellen, dass
nämlich die metaplastische Potenz der Gewebe im umgekehrten
Verhältnis zum Differenzierungsgrade derselben steht. In Überein-
stimmung mit dieser Regel findet man im ganzen Tierreich kein
einziges Beispiel einer metaplastisch entwickelungsmechanischen
Potenz des Nervengewebes. Die nervösen Elemente stellen die am
meisten differenzierten Gewebszellen des Körpers dar, sie sind daher
in entwickelungsmechanischer Hinsicht unipotente Gewebe. Da-
gegen weisen die Epithelien und das mesenchymatische Bindegewebe
die größten metaplastisch-entwickelungsmechanischen Potenzen auf.
Das "Parenchym der Nemertinen — wie die Experimente des Verf.
zeigen — ist fast totipotent.
Im folgenden weist der Verf. nach, dass die entwickelungs-
mechanisch-metaplastische Potenz der Gewebe in großem Maße von
der Stellung der betreffenden Tierform im System abhängt. Es ist
anzunehmen, dass die metaplastische Entwickelungsweise einer jeden
(Gsewebsart immer mehr begrenzt wird, zu je höher organisierten
Tierformen wir schreiten. Die Potenzialität der Gewebe weist aber
keine Kontinuität der Erscheinungen auf, sehr oft unterscheiden sich
nahe verwandte Formen in bezug der Potenzialität ihrer Gewebe. —
Als Auslösungsfaktor der entwickelungsmechanisch- metaplastı-
schen Gewebspotenzen betrachtet der Verf. in Übereinstimmung
mit Child die Aufhebung der Korrelation. Eine glänzende Be-
stätigung dieser Behauptung liefern die Regenerationserscheinungen
bei Lineus lacteus, sie beweisen, dass eine innige Korrelation zwischen
dem Vorhandensein eines bestimmten Gewebes und dem Latent-
bleiben gewisser entwickelungsmechanisch-metaplastischen Potenzen
stattfindet. Die Parenchymzellen des Lineus lacteus verwandeln
sich nicht, weder in das Epithel des neuen Darmes noch in Muskel-
faserzellen, so lange eine Anzahl von alten Darmzellen resp. Muskel-
zellen vorhanden ist, nur wenn keine Spuren derselben vorliegen,
dann übernehmen die Parenchymzellen die Bildung derselben. Der
Verf. nimmt daher an, dass verschiedene Gewebe gewisse physio-
logische Substanzen (Hormone) produzieren, welche die in anderen
Geweben schlummernden formativen metaplastischen Potenzen
hemmen, erst das Fehlen des betreffenden Gewebes löst die Potenz
zu seiner Bildung, die in einem anderen Gewebe bisher latent war,
aus und aktiviert dieselbe.
Es wirft sich unwillkürlich die Frage auf, welche Bedeutung
die oben beschriebenen Erscheinungen des Metabolismus der Ge-
webe für die Keimblättertheorie haben. Der Metabolismus der Ge-
webe wird vom Verf. durchaus nicht als ein Beweis gegen die
Spezifität der Keimblätter gedeutet, wie es Brachet ım Artikel
a propos der Abhandlung Nusbaum’s vermutet (Archives Socio-
logiques 1913). Der Verf. betont ausdrücklich an einigen Stellen,
dass die entwickelungsmechanisch-metaplastischen Potenzen nur
302 Weigl, Vergleichend-zytologische Untersuchungen ete.
unter dem Einflusse bestimmter Reize aktiviert werden (Mangel
einer Gewebsart). In einer früheren Abhandlung (Festschrift zur
250jährigen Feier der Begründung der Lemberger Universität durch
den König Johann Casimir, polnisch 1911), erörtert der Verf. direkt
die Frage, ob die entdeckte metaplastische Potenz der Gewebe die
Keimblättertheorie umstürzt. Er behauptet, dass die erwähnten
Potenzen in dem normalen Entwickelungsprozesse latent bleiben
und erst bei eingetretener Störung des Gleichgewichtes im Körper
ausgelöst werden. In dieser Hinsicht deckt sich die Anschauung
des Verf. vollkommen mit derjenigen Brachet’s.
Der Nachweis, dass ein determiniertes Gewebe unter dem Ein-
fluss gewisser Faktoren ein nicht nur anatomisch und physiologisch,
vielmehr auch genetisch verschiedenes Gewebe liefern kann, dürfte
auch ein neues Licht auf die Entstehung mancher Neubildungen
werfen. Die vorliegende Abhandlung ist daher nicht nur für den
Naturforscher, sondern auch für den Mediziner von großem Interesse.
Dr. K. Reis.
R. Weigl, Vergleichend-zytologische Untersuchungen
über den Golgi-Kopsch’schen Apparat und dessen
Verhältnis zu anderen Strukturen in den somatischen
Zellen und Geschlechtszellen verschiedener Tiere.
(Extrait du Bulletin de l’Academie des sciences de Cracovie S. B. 1912.)
Die Untersuchungen der letzten Jahre haben ein reiches Tat-
sachenmaterial zur Kenntnis des Golgi-Kopsch’schen Apparates ge-
bracht, welches hinlänglich beweist, dass derselbe eine beinahe allen
Zellen des Wirbeltierkörpers zukommende Struktur darstellt. In
der vorliegenden Abhandlung versucht der Verf. die Bedeutung und
Funktion dieser Strukturen im Zellenleben zu eruieren. Vergleichende
Studien über Vorkommen, Bau und Verhalten des Golgi-Appa-
rates bei verschiedenen Tiergruppen erwiesen, dass der Apparat
„war einen konstanten Bestandteil jeder Zelle bildet, aber nur bei
den Wirbeltieren stets in Form eines Netzes erscheint; bei den
Wirbellosen kann die Ausbildung des Apparates sogar im Bereiche
eines Organismus in verschiedenen Zellen grundverschieden sein.
Der Verf. weist im folgenden nach, dass nicht nur die morpho-
logischen, sondern auch die histochemischen Kriterien, die beim
vergleichenden Studium der Wirbeltiere ermittelt wurden, für die
Wirbellosen nicht verwertet werden können.
Einige Repräsentanten der Wirbellosen (Borstenwürmer, Hiru-
dineen) weisen zwar stark entwickelte Netze auf, die gegen ange-
wandte Reagenzien und Färbungen sich den Golgi-Netzen der
Wirbeltiere analog verhalten, bei anderen aber, den Gasteropoden,
findet man schon nur in manchen Zellkategorien deutliche Netze,
in den anderen aber kurze bakterienförmige oder gebogene Fäden,
die beinahe das ganze Entoplasma einnehmen. Diese Bildungen
verhalten sich gegen Reagenzien, wie die Netze der Wirbeltiere.
Noch weitergreifende Abweichungen von den Verhältnissen bei den
Weigl, Vergleichend-zytologische Untersuchungen etc. 303
Wirbeltieren finden wir in den Nervenzellen der Cephalopoden,
Krustern und Insekten. Der Apparat ist nicht nur morphologisch
von den Wirbeltieren verschieden, sondern verhält sich ganz anders
gegen Reagenzien, indem er nach kurzer Osmierung mittels Eisen-
hämatoxylin, Gentianaviolett sich leicht färben lässt, was bei den
Wirbeltieren nie vorkommt. Aus diesen Tatsachen folgert der Verf.,
dass die Zusammensetzung der diese Apparate aufbauenden Sub-
stanz ganz anders sein muss als bei den Wirbeltieren, dass die
gegenseitige Bindung des Lecithins mit den übrigen Substanzen
eine innigere ist, da die angewandten Reagenzien sie nicht so leicht
zu zersetzen vermögen wie bei den Wirbeltieren.
Der Mangel an morphologischen wie auch färberischen Kri-
terien über die Natur dieser Strukturen, insbesondere in den Ge-
schlechtszellen der Wirbellosen erschwert auch in großem Maße
ihre Unterscheidung von den Mitochondrien.
Die große Ähnlichkeit zwischen den beiden Strukturen führt
den Verf. auf den Gedanken, dass der Apparat und die Mitochon-
drien phylogenetisch oder auch ontogenetisch zusammengehören.
Um den Zeitpunkt der Entstehung dieses Apparates näher fest-
stellen zu können, untersucht der Verf. das Verhalten des Apparates
bei der Spermatogenese und Oogenese.
Der Golgi-Apparat ist bei Helix mit dem als Nebenkern be-
kannten Gebilde identisch. Bei den Spermatiden rückt er gegen
das Schwanzende vor und zerfällt in scheibenförmige Ringe, die
sich reihenweise längs des Achsenfadens um ihn herumlagern, später
sammelt sich ein Teil im Mittelstückende, der Rest aber mit der
Mitochondrienhülle verdünnt sich, bis er gänzlich schwindet, indem
er nach Ansicht des Verf. einer äußerst starken Kondensation
unterliegt.
Bei Cavia gelang dem Verf. an ausgereiften und schon beweg-
lichen Samenfäden in dem Plasmaklümpchen am Mittelstück den
Apparat stets nachzuweisen. Der Apparat bildet daher ein kon-
stantes Zellorgan, das sich durch alle Phasen der Spermatogenese
beobachten lässt und ins gänzlich ausgereifte Spermatozoon über-
geht. In der Oogenese erfährt der Apparat nach den Untersuchungen
des Verf. keine periphere Verlagerung, sondern zerfällt in kleine
Partikelchen, die sich im ganzen Ei verteilen.
Die Verschiedenheit der Ausbildung und Verteilung des Appa-
rates in den Zellen der Wirbeltiere und Wirbellosen wie auch seine
schwache Variabilität während verschiedener Zellfunktionen zeigen,
dass wir es in dieser Struktur weder mit einem Apparat im Sinne
einer passiven konstanten Einrichtung, noch mit einem Ernährungs-
apparat zu tun haben. Nach Ansicht des Verf. dürfte dieses Zell-
organ vielleicht im Sinne eines Stoffwechselkerns tätig sein, indem
es Funktionen auslöst oder vermittelt, ohne jedoch dabei in Mit-
leidenschaft gezogen zu werden, wobei seine Substanz keine tief-
greifenden sichtbaren Veränderungen eingeht, vor allem nicht auf-
gebraucht wird. Dr. K. Reis.
„
>04 Abderhalden, Handbuch der biochemischen Arbeitsmethoden.
Handbuch der biochemischen Arbeitsmethoden.
Herausgegeben von Emil Abderhalden. Halle a./S. Bd. V und VI. Berlin
und Wien 1911/12. Urban und Schwarzenberg.
Von dem an dieser Stelle schon besprochenen Werke liegen
neuerdings bereits Ergänzungen vor. Während ursprünglich das
Werk auf 4 Bände berechnet war, hat sich doch die Notwendigkeit
herausgestellt, manches zuzufügen, was fehlte oder zu kurz be-
handelt worden war. Auch methodische Neuerungen waren nach-
zutragen, wenn das Werk auf seiner Höhe bleiben sollte. Die
beiden vorliegenden Bände umfassen zusammen über 2200 Seiten
und man muss sagen, dass die größte Zahl der aufgenommenen
Aufsätze durchaus wünschenswert war und zum Teil Vorzügliches
bietet.
Ich erwähne vom V. Band die ausgezeichnete und recht ausführliche
Arbeit von Fühner-Freiburg über den Nachweis und die Bestimmung
von Giften auf biologischem Wege. Freilich gehört dies eigentlich
nicht zum ursprünglichen Thema, ebensowenig wie die Blutdruck-
bestimmung von Rohde. Sehr gut ist ferner die Methodik zur
Aufarbeitung des Blutes von Letsche; die Methodik der Blut-
gerinnung hat Morawitz-Freiburg recht vollständig zusammen-
gestellt. Sehr wichtig ist ferner die Methodik der Fettbestimmung
von Kumagawa-Suto. Folin gibt eine Anweisung für die voll-
ständige Analyse des 24stündigen Urins bei Stoffwechselunter-
suchungen, zum Teil unter Anwendung seiner eigenen Methoden,
die vielfach mit großer Schnelligkeit eine ebensolche Zuverlässigkeit
verbinden. Sehr ausführlich hat Lohrisch die Methoden zur Unter-
suchung der menschlichen Fäces abgehandelt, wobei ihm das Standard-
werk von Schmidt und Strasburger vielfach als Richtschnur
gedient hat. Die Methodik der Milchuntersuchung von E. F Edel-
stein-Berlin gibt in anschaulicher Schilderung die wesentlichsten
Methoden. Leonor Michaelis-Berlin hat die Bestimmung der
Wasserstoffionenkonzentration durch Gasketten aus seiner eigenen
großen Erfahrung heraus so ausführlich beschrieben, dass man bei
Befolgung seiner Vorschriften die recht diffizilen Methoden ohne
Schwierigkeiten ausführen kann.
Die zweite Hälfte des V. Bandes enthält zunächst eine ausge-
zeichnete Anleitung über den Nachweis der Gifte auf chemischem
Wege von Autenrieth-Freiburg, eine Methodik der Stoffwechsel-
untersuchungen bei Mikroorganismen von H. Pringsheim-Berlin,
die Methoden zur biochemischen Untersuchung des Bodens von
Stoklasa-Prag. Recht angenehm wird das Methodische aus der
Biochemie der Pflanzen von G. Pringsheim -Halle empfunden
werden. Hervorzuheben ist ferner die eingehende, geschickt dis-
ponierte und sehr gut durchgeführte Methodik der Untersuchung
des intermediären Stoffwechsels von Otto Neubauer-München.
Pregl-Innsbruck hat seine sehr minutiösen und exakt ausgeführten
Methoden der quantitativen Mikroanalyse organischer Substanzen
beschrieben. Besonders hübsch ist die Mikrostickstoffanalyse nach
Kjeldahl, die sich in der physiologischen Chemie wohl bald
Abderhalden, Handbuch der biochemischen Arbeitsmethoden. 205
Bürgerrecht erwerben dürfte. Die biologische Mikroanalyse, d.h.
die Mikroanalyse der organischen, physiologisch wichtigen Sub-
stanzen wurde von Macallum-Toronto bearbeitet. Von besonderer
Wichtigkeit sind dann noch die van SIyke’schen Arbeiten über
die Bestimmung des primären aliphatischen Aminostickstoffs und
die darauf begründete Analyse der Eiweißkörper; auf anderem Ge-
biete liegt der Aufsatz von London über Gefäßnaht und Massen-
transplantation sowie die Arbeit von Garrel über die Technik der
Gewebskultur ın vitro. Es ist unmöglich, die Zahl der aufge-
nommenen Artikel zu erschöpfen; auch nicht hier besonders er-
wähnte Arbeiten enthalten zum Teil Vorzügliches, z. B. die von
Levene über partielle Hydrolyse der Nukleinsäuren, die Aufsätze
von Pfeiffer, Fränkel, Traube, Rona und Pohl.
Der VI. Band zeigt das gleiche bunte Bild wie der eben be-
sprochene fünfte. Es gilt aber von ihm in höherem Maße das, was
ich oben sagte; es ist manches darin, das eigentlich nicht recht
hineingehört. Dies gilt z. B. von der chemischen und biologischen
Untersuchung des Wassers, den biochemischen Methoden für Malaria-
untersuchungen, den Methoden der Kautschukbestimmung, wenn es
auch nur einige Seiten sind, und der Bestimmung der Gerbstoffe.
Will man dies alles hereinnehmen, so müsste man eigentlich den
Titel des Werkes ändern und statt biochemischer „biologische“
Arbeitsmethoden schreiben. Dann könnte man diese Sachen unbe-
anstandet lassen. Durch nichts begründet aber ist die fast 150 S.
lange Ergänzung zur allgemeinen chemischen Laboratoriumstechnik
von Kämpf-Berlin, die eine Menge für den Biochemiker durchaus
unwesentlicher Einzelheiten enthält, wie sie wohl in ein rein che-
misches ausführliches Werk gehören, nicht aber in eine Methodik
für den physiologischen Chemiker. Der Chemiker findet und sucht
zudem solche Angaben in anderen, einschlägigen Werken. Solche
Aufsätze verteuern das an sich nicht billige Werk nach meiner
Meinung unnötig, ohne dafür einen entsprechenden Nutzen zu bringen.
Trotz dieser Ausstellungen kann man sich auch im VI. Bande
an vielen Sachen freuen, so an den pflanzenbiochemischen Aufsätzen
von Viktor Grafe-Wien, der spektrographischen Methodik zur
Hämoglobinbestimmung von Schumm-Hamburg, der Anwendung
der photographischen Methode in der Spektrophotometrie des Blutes
von Heubner-Göttingen. der Methodik zur Untersuchung der Ver-
dauungsprodukte von Zunz-Brüssel, den chirurgisch-biologischen
Aufsätzen von Carrel, Fischler, von den Velden, Cohnheim,
Lampe. Wertvoll ist ferner die Monographie von G. Zemplen
über Darstellung, Gewinnung und Bestimmung der höheren Kohlen-
hydrate, die Gerbstoffmethodik von Nierenstein, die Bestimmung
des diastatischen Fermentes und des Fibrinfermentes von Wohl-
gemuth, die Methoden zur Bestimmung der chemischen Licht-
intensität von Vouk-Wien. Auch die Methodik bei Malariaunter-
suchungen von Giemsa-Hamburg bringt an sich viel Schönes.
Daneben gehen eine Anzahl kleinerer Aufsätze und Ergänzungen,
die auch manches Wertvolle bieten.
306 Stromer v. Reichenbach, Lehrbuch der Paläozoologie.
Das Handbuch zeigt, im ganzen genommen, auch in den vor-
liegenden Bänden seine Existenzberechtigung und wird, wenn es
sich nicht zu sehr ın Nebensächlichkeiten verliert, wozu leider hier
und da eine Tendenz vorhanden zu sein scheint, zweifellos immer
unentbehrlicher werden. In Kürze soll wieder ein neuer Band er-
scheinen, der schon im Druck ist. Hoffentlich bringt er uns wieder
viel gute und neue Anregungen. Übrigens ist es Referenten auf-
gefallen, dass nirgends eine Methodik der Stoffwechselversuche an
kleinen Warmblütern zu finden ıst: vielleicht könnte eine solche
Ergänzung ın den kommenden Band aufgenommen werden.
Pineussohn.
Stromer v. Reichenbach, Prof. Dr. E.
Lehrbuch der Paläozoologie (in zwei Teilen).
In: Naturwissenschaft und Technik in Lehre und Forschung. Herausgegeben von
Dr. F. Doflein und Dr. K. T. Fischer. Leipzig und Berlin. 1909 und 1912.
Das in zwei handlichen, je über 300 Seiten starken Leinen-
bänden nunmehr abgeschlossen vorliegende Werk behandelt im
ersten Bande die Wirbellosen, im zweiten die Wirbeltiere. Seine
Ausstattung ıst vortreffllich: deutlich der Druck, übersichtlich der
Text, die Figuren von erstklassigen Spezialisten angefertigt. Und
als ın jeder Hinsicht gediegen darf man vor allem seinen Inhalt
bezeichnen.
Lehrbücher mit einer Zusammenfassung paläozoologischen
Wissens besitzen wır mehrere. Allein sie behandeln zum Teil das
gesamte Gebiet der Paläontologie, umfassen also auch die Phyto-
Paläontologie. Nun ist die Anzahl der Studierenden, die sich der
reinen Paläozoologie wıdmen, aber gering. Jene Werke sind des-
halb so angelegt, dass sie auch die Bedürfnisse der zahlreicheren
Geologen mitberücksichtigen. Zu dem Zweck müssen sie die Be-
deutung der Versteinerungen als Leitfossilien, d. h. als die Grund-
lagen der historischen Geologie, eingehend würdigen. Erreicht wird
diese Absicht jedoch nur durch eine ziemlich eingehende Darstellung
der Systematik von den höheren Kategorien bis auf die Gattung
herunter. Denn erst hierdurch wird die Aufnahme der möglichst
zahlreichen, für das Bestimmen notwendigen Abbildungen von Typen
und Leitfossilien in den Text zur Erfüllung des geologischen Neben-
zweckes ermöglicht.
Will man das v. Stromer’sche Buch unbefangen würdigen,
so empfiehlt es sich, es nicht direkt am Maßstabe jener Werke zu
messen. Mit den eigenen Worten des Verfassers verfolgt es viel-
mehr das Ziel, eine möglichst exakte Einführung in die reine
Paläozoologie zu bieten. Es ist als eine Ergänzung der zoologischen
Lehrbücher gedacht, welche auf die Organisation der alten Lebe-
wesen höchstens nur kurz verweisen können. Dementsprechend
liegt der Nachdruck hier auf der Klarlegung des allgemeinen Bau-
planes der fossilen Tiergruppen. Die Systematik hingegen wird
Stromer v. Reichenbach, Lehrbuch der Paläozoologie. 307
vornehmlich nur in ihren Grundzügen und zumeist nur bis auf die
Ordnungen oder Unterordnungen herunter berücksichtigt.
Auf Einzelheiten kann bei der Fülle des Gebotenen selbstver-
ständlich nicht näher eingegangen werden. Ich beschränke mich
daher auf die folgenden Bemerkungen.
Die Einleitung behandelt in Kürze Inhalt, Entwickelungs-
geschichte und gegenwärtigen Zustand der Paläozoologie. Daran
reiht sich eine ausführlichere Erläuterung ihrer Beziehungen zu den
Nachbarwissenschaften, der Erhaltungsarten und -bedingungen der
Fossilien und der allgemeinen Verhältnisse des Skeletts.
Der spezielle Teil gliedert sıch in größere, den Tierstämmen
entsprechende Abschnitte, die jeweils mit einem Verzeichnis der
einschlägigen neueren Literatur abschließen. Biologen ı. e. S. wird
es vielleicht interessieren, dass sich bei jeder größeren Gruppe
an die Darstellung der allgemeinen Organısationsverhältnisse eine
solche der Lebensweise der Tiere anreiht. Auch deren zeitliche
und geographische Verbreitung — erstere in tabellarischer Form —-
erfahren gebührende Beachtung. Den Schluss bilden kurze, präzis
gefasste Diagnosen, welche das Bestimmen in dankenswerter Weise
erleichtern.
Beı den Faraminiferen wurde überdies der wertvolle Versuch
gemacht, die geographische Verbreitung der alttertiären Num-
muliten kartographisch darzustellen, was zu interessanten Ergeb-
nissen betreffs der Temperatur und der Strömungsverhältnisse der
damaligen Ozeane führte. Bezüglich der Abbildungen sei dem oben
Gesagten noch hinzugefügt, dass ıhre Auswahl — seien es nun
Figuren aus anderen Werken oder Originalzeichnungen — in jeder
Hinsicht befriedigt. Phylogenetische Probleme werden innerhalb
des streng didaktischen Rahmens des Buches erfreulicherweise mit
Zurückhaltung behandelt, finden aber breiteren Raum ın den Schluss-
betrachtungen. Wer sich über die zeitliche Aufeinanderfolge der
Faunen, über den augenblicklichen Stand der Tiergeographie und
Ökologie in der geologischen Vergangenheit kurz unterrichten will,
findet in den ersten Kapiteln der genannten Schlussbetrachtungen
dazu Gelegenheit. Im Anschluss daran enthalten die letzten Kapitel
eine kritische Würdigung der Bedeutung der Paläozoologie für die
Entwickelungstheorie und zur Beantwortung der Frage nach den
Ursachen des physiologischen Todes und des Aussterbens der Indı-
viduen.
Kommt das vorliegende Werk als Lehrbuch auch an erster
Stelle für Paläozoologen ın Betracht, so wird es wegen der klaren,
zuverlässigen Darstellung der allgemeinen Organisationsverhältnisse
der alten Lebewesen, durch die ausführliche Behandlung ihrer
Lebensweise und historischen wie geographischen Verbreitung, so-
dann durch seine zahlreichen Literaturhinweise und die kritischen
Schlussbetrachtungen sich auch unter den Zoologen und Geologen
und ım Kreise der zoologisch oder geologisch gebildeten Laien
sicher Freunde erwerben. L. Krumbeck,
308 Preisausschreiben. — Die 85. Versammlung Deutscher Naturforscher u. Arzte.
Preisausschreiben.
Herr M.von Horstig (Wiesbaden) hat der Rheinischen Gesellschaft
für wissenschaftliche Forschung die Summe von 2000 AM zur Verfügung
gestellt, die zu Preisen für die besten Lösungen von folgenden drei Aufgaben ver-
wendet werden soll:
1. Es sind die Materialien zusammenzustellen für dıe Erörterung der Frage
nach den Landverbindungen, die zur Tertiär- und Quartärzeit im atlantischen
Ozean und im Mittelmeer für die Wanderungen der Primaten bestanden habe .
Preis 600 #.
2. Es sind die Tatsachen zusammenzustellen und zu erörtern, die auf einen
zeitlichen oder ursächlichen Zusammenhang zwischen der Umbildung der Tierwelt
(und des Menschen) und den klimatischen Anderungen während der jüngsten
Tertiärzeit und der Dilwvialzeit hindeuten. Preis 600 M.
3. Welche anatomischen, physiologischen und geologischen Anhaltspunkte sind
vorhanden zur Erklärung des aufrechten Ganges beim Menschen. Preis S0O M.
Die Arbeiten sind in deutscher Sprache abzufassen, in Maschinenschraft
zu schreiben und bis zum 1. April 1914 mit Motto versehen an den Vor-
sitzenden der Rheinischen Gesellschaft für wissenschaftliche For-
schung in Bonn, Nuß-Allee 2, einzusenden.
Das Preisgericht besteht aus den Herren Prof. Bonnet, Steinmann und
Verworn in Bonn.
Die 85. Versammlung Deutscher Naturforscher
und Arzte
findet zu Wien vom 21.—%6. September d. J. statt.
Vorläufiges Programm:
Sonntag, den 21. September: Begrüßungsabend in der Volkshalle des Rathauses.
Montag, den 22. September, vormittags: Erste allgemeine Versammlung,
Begrüßungsansprachen, Vorträge: F. Rinne, Leipzig: Das Wesen der kristal-
linen Materie vom Standpunkt des Mineralogen. H. von Seeliger, München:
Moderne Astronomie. Nachmittags: Abteilungssitzungen.
Dienstag, den 23. September : Abteilungssitzungen.
Mittwoch, den 24. September, vormittags: Naturwissenschaftliche Haupt-.
gruppe: Abteilungssitzungen. Medizinische Hauptgruppe: Gesamtsitzung ; Vor-
träge: Brodmann, Tübingen: Neuere Forschungsergebnisse der Hirnanatomie.
Reich, Wien: Anatomie des Bogengangapparates. BKothfeld, Wien: Physio-
logie des Bogengangapparates. Barany, Wien: Klinik des bBogengangapparates.
Nachmittags: Naturwissenschaftliche Hauptgruppe: Gesamtsitzung, Vorträge:
H. Wiener, Darmstadt: Wesen und Aufgaben der Mathematik. A. Steuer,
Innsbruck: Ziele und Wege biologischer Mittelmeerforschung. Medizinische Haupt-
gruppe: Abteilungssitzungen. j
Donnerstag, den 25. September, vormittags: Geschäftssitzung der Gesellschaft.
Gemeinsame Sitzung beider Hauptgruppen, Vorträge: K. Ritter von Hess,
München: Der optische Sinn der Tiere. O. Lummer, Breslau: Das Sehen.
E. Dolefal, Wien, und Exz. A. von Hübl, Wien: Photogrammetrie. Nach-
mittags: Abteilungssitzungen. Abends: Empfang der Stadt Wien im Festsaal
des Rathauses.
Freitag, den 26. September, vormittags: Zweite allgemeine Sitzung: Vorträge:
E. Fischer, Freiburg im Breisgau: Das Rassenproblem. Max Neuburger,
Wien: Gedenkrede auf Joh. Christ. Reil ($ 1813). Othenio Abel, Wien: Neuere
Wege phylogenetischer Forschung.
Samstag, den 27. September: Tagesausflug in die Wachau.
Sonntag, den 28. September: Tagesausflug auf den Semmering.
An einem noch zu bestimmenden Abend ist ein Empfang bei Hof und an
einem ferneren Abend Besuch der Hoftheater in Aussicht.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Unter Mitwirkung von
Dr’ K. Goebel und’ DraR. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Bd. XXXIII. 20. Juni 1913.
TB.
Inhalt: Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen, und Buche. — Ruhland, Zur
chemischen Organisation der Zelle. — Tschugunoff, Uber die Veränderung des Auges
bei Leptodora Kindtii (Focke) unter dem Einfluss von Nahrungsentziehung. — Brandt,
Arbeitshypothese über Rechts- und Linksnändiskeit. — Franz, Tierverstand und Abstam-
mungslehre. — Bernstein, Elektrobiologie. — Der XIII. Internationale medizinische Kongress.
Der physiologische Atavismus unserer Eichen
und Buche.
Von Werner Magnus.
In Wäldern und Parkanlagen fallen zur Winterszeit und weit
in das Frühjahr hinein zwischen den kahlen entblätterten Zweigen
der Laubbäume häufig einzelne Bäume auf, die mit abgestorbenen
gebräunten Blättern ganz oder doch zum Teil bedeckt sind. Fast
stets lehrt der nähere Augenschein, dass es sich um eine unserer
einheimischen Eichen (Oxereus pedunculata und sessiliflora) oder die
Buche (Fagus silvatica) handelt. — Die Regelmäßigkeit der Eır-
scheinung macht es natürlich, dass sie, jedoch immer nur beiläufig,
schon in einigen Arbeiten über Laubfall Erwähnung gefunden hat
(von Mohl, Nördlinger, Kerner von Marilaun, Büsgen,
Dingler u.a.). Einige neuere Erfahrungen über die Periodizität
der Lebenserscheinungen der Pflanzen, insbesondere über Laubfall
und Lauberneuerung, lassen aber diesem auffälligen Verhalten viel-
leicht allgemeinere Gesichtspunkte abgewinnen.
Fast alle unsere einheimischen Laubbäume sind sommergrün,
d. h. sie sind nur im Sommer belaubt und werfen periodisch im Herbst
ihr Laub ab, um es im Frühjahr wieder zu erneuern. Die zu Be-
ginn der kalten Jahreszeit einsetzenden ungünstigen Vegetations-
XXXIL. 21
310 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
bedingungen sind dabei jedenfalls mitbestimmend. Denn das Ab-
werfen der Blätter kann auch zu anderer Zeit durch äußere
Beeinflussungen sehr mannigfacher Natur hervorgerufen werden. So
werden die Blätter vielfach dann abgeworfen, wenn sie sich unter
Verhältnissen entwickeln, die ihre normale Funktion (Transpiration,
Kohlenstoffassimilation) ausschließen oder auch schon, wenn sie
plötzlich einen starken Wechsel in ihren Lebensbedingungen er-
fahren. — Als ökologisch wichtig unterscheidet z. B. Wiesner bei
unseren Bäumen außer dem Herbstlaubfall einen Sommerlaubfall,
beı dem mitten im Sommer ım Innern der Krone die Blätter ab-
gestoßen werden, weil dort die Lichtintensität für die Kohlenstoff-
assımılation nicht genügt. Durch zu starke Sonnenstrahlung bei
verminderter Wärmeausstrahlung und großer Bodentrockenheit
kann gleichfalls, häufig bei Linde und Rosskastanıie, eine Entlaubung
herbeigeführt werden (Hitzelaubfall. Ebenso können durch Frost
die Blätter zum Abfallen gebracht werden (Frostlaubfall) u. a. m. —
In allen diesen Fällen wird durch einen Reizvorgang an der In-
sertionsstelle des Blattes die Neubildung einer speziellen Trennungs-
schicht hervorgerufen, in der, wie wir aus den vielfach bestätigten
Untersuchungen v. Mohl’s wissen, durch einen biologischen Prozess
das Auseinanderweichen der Zellen stattfindet. — Genau der gleiche
Vorgang spielt sich beim herbstlichen Laubfall ab. Welche äußere
Reizursache aber hier speziell die Bildung der Trennungsschicht
veranlasst, ist ohne weiteres nicht zu sagen. Es wäre besonders
an die Herabminderung der Temperatur zu denken. Diese wirkt
nicht nur direkt auf die Lebensfunktion des Blattes ein, sondern
besonders auch indirekt durch den eintretenden Wasser- und gleich-
zeitigen Nährsalzmangel, da die Wurzeln aus dem kalten Boden nur
erschwert Wasser und mit ıhm Nährsalze aufzunehmen vermögen.
Vielleicht ıst diese Wirkung besonders stark, wenn, wie ım Herbst,
reichlich Reservematerial aufgespeichert ist. — Es wäre auch ver-
fehlt, in den klimatischen Faktoren die einzige Ursache des herbst-
lichen Laubfalls zu sehen, vielmehr ıst ein periodischer Herbstlaub-
fall augenscheinlich im Organiısationsplan dieser Bäume vorgesehen.
Schon im Sommer, zu einer Zeit, in der sich die auf den Laubfall
hinwirkenden klimatischen Faktoren noch kaum geltend machen
können, wird beı vielen Bäumen eine Korkschicht unterhalb des
Blattstiels angelegt, dıe dazu bestimmt ist, nach dem Blattabfall
den Verschluss der Narbe herbeizuführen (von Mohl). So wird
auch das Alter der Blätter nicht ohne Einfluss auf den gleich-
mäßigen Laubfall sein und dürfte ım allgemeinen eine bestimmte
Grenze nicht übersteigen. — In der Tat bleiben oft die im Laufe
des Sommers gebildeten Blätter ım Herbst länger erhalten, wie be-
sonders Dingler an den nach Beschneidung der Bäume entstehen-
den regenerativen Sprossen näher untersuchte. Hier geschieht es
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 341
dann oft, dass bei plötzlich eintretendem Frost die Blätter eher
absterben als die Trennungsschicht ın Funktion tritt. Da die Blätter,
wie Wiesner zeigte, bis auf den Blattgrund abzusterben pflegen,
kann die Ablösung nicht durch einen biologischen Prozess statt-
finden. Sıe werden vielmehr schließlich durch den Wind oder
durch andere äußere mechanische Kräfte oder durch Vermoderung
losgelöst, wobei allerdings dıe Region der Trennungsschicht in der
Regel dem Zerreißen den geringsten Widerstand entgegensetzt. —
Dass ın der Tat das Absterben des Laubes und Laubfall nicht
gleichzusetzen sind, zeigen auch mit welkem Laub bedeckte Zweige,
die durch mechanische Zufälle oder durch Parasiten frühzeitig zum
Absterben gebracht wurden. Andererseits kann aber auch durch
den Reiz des Parasiten der die Ausbildung der Trennungsschicht
bewirkende Reiz im Herbst paralysiert werden und hierdurch die
abgestorbenen Blätter am Baum haften bleiben, wie es z. B. die
Weidenrosen, hervorgerufen von Rhabdophaga rosaria, zeigen, die als
braune Blattschöpfe an den sonst kahlen Weiden den ganzen Winter
überdauern. — Damit also der normale herbstliche Laubfall ein-
tritt, muss jedenfalls zu den äußeren Ursachen eine entsprechende
Aufnahmefähigkeit für den Reiz, sagen wir einmal: innere Dis-
position, hinzukommen.
In ganz ähnlicher Weise, wie in unserem Klima im Winter
das Laub abgeworfen wird, stehen vielfach auch ın anderen Kh-
maten mit periodischem Wechsel die Bäume zeitweise kahl, indem
sie besonders zu Beginn einer Trockenzeit das Laub abwerfen.
Aber auch im fast gleichmäßig feuchtwarmen Klima der Tropen,
wie in Buitenzorg auf Java, fällt ein Laubwurf vieler Bäume auf,
der, wie Volkens und Klebs neuerdings eingehend untersuchten,
mehr oder weniger periodisch erfolgt. Volkens sieht dies als
sicheren Beweis für die Existenz einer von direkten äußeren Ein-
flüssen ganz unabhängigen Periodizität der Art an, während Klebs
meint, dass es sich dabei vielfach teils um Nachwirkung aus mehr
oder weniger periodischem Klima eingeführter Bäume handelt, teils
der immerhin stets vorhandene, wenn auch geringe Wechsel ge-
wisser klimatischer Faktoren auch ın diesem anscheinend so gleich-
förmigen Klıma für diese Fragestellung noch nicht eingehend genug
untersucht ist. Soviel scheint jedenfalls sicher, dass auch hier eine
Disposition zum Laubfall vorhanden sein muss, damit die ihn etwa
auslösenden direkten äußeren Einflüsse in Wirksamkeit treten können.
— Diese Disposition kann selbst bei dicht nebeneinander stehenden
Exemplaren der gleichen Gattung sehr verschieden sein. Denn,
wie Volkens besonders hervorhebt, tritt bei solchen Individuen
zu sehr verschiedenen Zeiten, oft Monate voneinander getrennt, der
Laubfall ein. — Hier zeigt sich nun eine auffallende Ähnlichkeit
im Verhalten der Eichen und Buche, die auch Volkens nicht ent-
21*
310 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
gangen ist. Denn nur ein Bruchteil der Bäume behalten ihre
Blätter. Unmittelbar neben völlig kahlen Bäumen, die ım Herbst
ihr Laub verloren haben, stehen solche, die dicht mit brauneın
Laub bis weit ın das Frühjahr hinein bedeckt sind. — Für dieses
absonderliche Verhalten ın unserem stark periodischen Klıma muss
also untersucht werden, inwieweit die auftretenden Verschieden-
heiten von erkennbaren äußeren Bedingungen abhängig sind oder
nur individuellen Dispositionen der einzelnen Bäume zuzuschreiben
sind. — Meine Beobachtungen, die ich während mehrerer Winter
ım Berliner Tiergarten und während des letzten Winters außerdem
ın den Parkanlagen und Wäldern der Umgebung von Potsdam an-
stellte, lassen keinen Zweifel zu, dass ın der Tat in hohem Maße
individuelle Eigenschaften maßgebend sind. Von Bäumen, die, so-
weit es zu erkennen war, unter ganz gleichen Bedingungen neben-
einander wuchsen, kann der eine das Laub ım Herbst völlig ver-
lieren, während der andere bıs ın das Frühjahr hinein völlig oder
zum Teil mit ıhm bedeckt bleibt. Dabei ist das Verhalten der ein-
zelnen Bäume ın den aufeinanderfolgenden Jahren ein recht gleich-
artiges. — Es ıst nun interessant, dass bei @uercus pedunculata,
wo die individuellen Unterschiede am deutlichsten auftreten, sie
auch der Volksbeobachtung nicht entgangen sind. Nach Köppen
(zitiert nach Ascherson-Graebner, Synopsis IV, p. 497) unter-
scheidet das Volk ın Russland von der allgemein verbreiteten Form,
die im Winter das Laub abwirft (Sommereiche), eine andere weniger
verbreitete, bei der im Winter das Laub vertrocknet stehen bleibt
(Wintereiche). Czernia&w unterscheidet sie als Varietas praecox
und tardıflora. Ascherson-Graebner meinen, dass sıe sicher-
lich weiter verbreitet sind. So kennt solche individuellen Unter-
schiede auch Lasch in märkischen Wäldern, der sogar angıbt, dass
man das Holz der laubbehaltenden Form zu technischen Zwecken
vorzieht. — Da nun alle Übergänge vorkommen von Bäumen,
welche ihr Laub völlig verlieren zu solchen, die ihr Laub teilweise
und zu solchen, die es völlig behalten, dürfte eine scharfe syste-
matische Scheidung nicht angängig sein. — Auch der angebliche
weitere Unterschied, dass die ım Herbst das Laub abwerfenden
Bäume 2—3 Wochen früher, wie die laubbehaltenden, das neue
Laub entfalten, worauf Dingler hinweist, ist keineswegs durch-
greifend. Es lässt sich auch das Umgekehrte beobachten. Auch
die ım Johannistrieb im Juli gebildeten Blätter sind nicht besonders
zum Hängenbleiben prädestiniert; es bleiben also nicht etwa die
Blätter im Herbst länger hängen, welche nicht ein genügendes Alter
erreicht haben oder nicht genügend ausgereift sind, wie Nörd-
linger meint. — Noch mehr wie @uercus pedunculata scheint
(Quercus sessiliflora prädestiniert zu sein, das Laub den Winter über
zu behalten, wie auch die bei uns gebräuchlichen Namen Sommer-
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 313
eiche für jene und Wintereiche für diese andeuten!). Jedoch
kommen auch hier, wie auch Ascherson und Graebner meinen,
große individuelle Unterschiede vor und es ist mir zweifelhaft, ob,
wie jene Autoren angeben, der Zeitpunkt des Eintritts des ersten
strengen Frostes oder die Winterwitterung gleichfalls von großem
Einfluss ist. Auch für Lasch’s und Nördlinger’s Ansicht, dass
im allgemeinen bei Eiche und Buche die Blätter in um so größerer
Menge hängen bleiben, je früher ım Oktober oder November die
Kälte eintritt, ergaben meine Beobachtungen keine Bestätigung.
Halte ich somit auch die individuellen Anlagen der einzelnen Bäume
unserer Eichen und Buche für ausschlaggebend, lassen sich doch
bei der Beobachtung vieler Bäume allgemeinere Regeln aufstellen,
die auf die Mitwirkung gewisser äußerer Faktoren hindeuten. Am
deutlichsten ist die Erscheinung bei jüngeren, starkwüchsigen Exem-
plaren, bei jüngeren, nicht der vollen Beleuchtung ausgesetzten
Pflanzen, weiter an den unteren stärkeren Ästen älterer Bäume, die
oft völlig ihr Laub behalten, während die oberen Äste ganz kahl
stehen. Bei der Buche scheinen nur diese Fälle vorzukommen.
Ältere Bäume, die in den oberen Zweigen ihr Laub behielten, habe
ich nicht beobachtet. Bei der Eiche hingegen können einzelne
recht alte, über 20 m hohe Bäume fast völlig belaubt bleiben, doch
sind sie dann oft von noch höheren etwas beschattet. — Zum Ver-
ständnis dieser Tatsache ist es nun sehr wichtig, damit zu ver-
gleichen, was wır von Volkens und Klebs über das Verhalten
gewisser tropischer Bäume erfahren, die der Regel nach ihr Laub
periodisch verlieren und eine Zeitlang kahl stehen, was ich nach
meinen Beobachtungen auf Java bestätigen kann. Bei ihnen heben
sich die an der Basis der Stämme und an dieken Ästen entspringenden
Sprosse oft auffällig durch ihre Beblätterung von den sonst kahlen
Bäumen ab. Auch bleiben die jungen Teetona-Bäumchen im Gegen-
satz zu den alten in Ost-Java beblättert, wıe auch Wright schon
darauf aufmerksam gemacht hatte, dass bei einer Reihe von Arten der
periodische Laubabfall erst bei alten Bäumen eintritt. Auch Stock-
ausschläge von Tectona sollen nach Klebs ın der Trockenzeit be-
blättert sein. — Klebs meint ähnlich wie Holtermann, dass die
genannten Sprosse noch mit der vom Boden gelieferten Menge
des Wassers und der Nährstoffe auskommen, ältere Bäume nicht
mehr zu allen Zeiten; oder anders ausgedrückt: Der Mangel an
Wasser und Nährsalzen ist es, der als Reiz auf die Bildung einer
Trennungsschicht der Blätter der älteren Bäume wirkt, während
er bei den jüngeren Bäumen, bei Stockausschlägen oder an einzelnen
durch ihre Stellung im Baumsystem in der Wasser- und Nährsalz-
1) Irrtümlicherweise wird oft angegeben, z. B. Warburg, Pflanzenwelt 1913,
dass Quercus pedunculata das Laub stets abwirft und Quereus sessiliflora stets
behält.
314 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
zufuhr begünstigten Zweigen nicht die zu einemsReizerfolg nötige
Stärke erreicht. — Wir dürfen annehmen, dass in ganz ähnlicher
Weise bei den Eichen und Buchen im Herbst die klimatischen Fak-
toren, die normalerweise den Reiz zur Ausbildung einer Trennungs-
zone liefern, unter bestimmten Umständen keine genügende Stärke
erreichen, sei es, dass bei jugendlichen sehr gut ernährten oder
nicht stark transpirierenden Pflanzen oder unteren Zweigen die
Blätter früher vertrocknen, resp. die Bäume in einen Ruhezustand ein-
treten, ehe die Trennungsschicht ausgebildet wurde, sei es, dass,
wie besonders bei der Eiche häufig überhaupt die notwendige indi-
viduelle Disposition mangelt. — Die Disposition dieser Bäume auf
klimatische Reize ım Herbst durch Laubfall zu reagieren, ıst also
noch am stärksten bei der Buche ausgebildet, wo die Trennungs-
schicht beı allen alten Bäumen in Wirksamkeit tritt, am geringsten
bei den individuellen Variationen der Eiche, wo sie auch beı alten
Bäumen fehlen kann.
Damit stehen in guter Übereinstimmung die den Laubfall be-
gleitenden anatomischen Verhältnisse. Während bei den meisten
sommergrünen Dicotylen schon vor dem Laubfall die die Blattnarbe
abschließende Korkschicht gebildet wird, fehlt sie nach v. Mohl
der Rotbuche und einigen anderen Pflanzen, wie der Esche und
Syringe. Hier erfolgt der Verschluss durch Bräunung der ober-
flächlichen Zellen. Die Peridermbildung beginnt erst nach dem Blatt-
abfall, unterbleibt aber bei Fagus auch manchmal ganz (Staby),
d. h. erfolgt erst ım nächsten Frühjahr. — Eine völlige Aus-
nahmestellung unter allen übrigen sommergrünen Dicotylen nehmen
nach Staby nur @uercus pedunculata und sesstiliflora, wie andere
Eichensorten, ein. Auch hier trocknet nach Abfall der Blätter
die bloßgelegte Parenchymschicht etwas unter lebhafter Braun-
färbung ein und die Gefäße werden mit Gummi gefüllt. So
bleibt aber die Blattnarbe im Spätherbst nach dem Blattfall und
noch zwei Winter hindurch. Erst ım dritten Jahre zeigt sich rege
Korkbildung, welche die Blattnarbe abschließt. Das ıst der einzige
Fall, bei dem so ungewöhnlich lange die Gefäße nur durch Gummi
verschlossen sind und die Korkbildung so spät auftritt.
Von welchen Gesichtspunkten aus lässt sich nun die Ausnahme-
stellung der Eichen und Buchen verstehen? Denn es kann wohl
keinem Zweifel unterliegen, dass das so allgemein verbreitete Ab-
werfen des Laubes unserer Bäume im Herbst eine für die Pflanze
äußerst zweckentsprechende Anpassungserscheinung sein muss. Es
kann dabei ganz dahingestellt bleiben, ob, wie Wiesner es will,
die hierdurch ermöglichte Einwirkung des direkten (parallelen)
Lichtes auf die Knospen von ausschlaggebender Bedeutung ist oder
die Anreicherung des Bodens durch Mikroorganismen oder, was am
nächsten liegt (Kerner v. Marilaun und Dingler) die Herab-
7
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 35
setzung der Transpiration das wichtigste Moment ıst und die Sıche-
rung vor verderblichen Schneedruck in Betracht zu ziehen ist. Auch
seinoch auf Warming’s Ansıcht hingewiesen, dass durch den Laub-
fall die Wärmeleitung stark herabgesetzt wird. — Wiesner schätzt
die ökologische Bedeutung des herbstlichen Laubfalls so hoch eın,
dass er meint, dass in allen den Fällen, in welchen sıe unterbleibt,
auch das Ausbleiben der Entblätterung für die Pflanzen vorteilhaft
erscheint, oder dass es einleuchtet, dass ın diesen Fällen die Blatt-
ablösung zwecklos wäre, dass also mit anderen Worten sich die
biologische Bedeutung des Laubfalls auch in negativen Fällen zeigt.
Als Beispiel hierfür führt er Eupatorium adenophorum an. Seine
Blätter haften abgestorben an dem Stamm, bis sie durch rein äußere
Zufälle zerstört werden und vom Stamme verschwinden. Der Laub-
fall wäre hier zwecklos, weil die nicht großen, an langen Inter-
nodien stehenden Blätter fast gar keine Beschattung hervorrufen.
— Für die Eichen und Buche kann nun eine solche ökologische
Wertung des unregelmäßigen oder mangelnden Herbstlaubfalls
sicherlich nicht angewendet werden und Dingler sagt direkt: „dass
sich einstweilen die Erscheinung als eine Art Variation darstelle
ohne biologische Bedeutung.“ — Die große Verbreitung der Er-
scheinung zwingt uns jedoch, zu versuchen, zu ihrem Verständnis
auf einem anderen Wege zu gelangen. — Man könnte vielleicht
an entwickelungsmechanische Momente denken und sagen, da die
Eiche, ein Baum etwas trockener Standorte, durch ihre relativ
dicke Kutikula gegenüber den anderen sommergrünen Bäumen
gegen Transpirationsverlust stärker geschützt ist, möchte sich der
wahrscheinlich zur Ausbildung der Trennungsschicht führende Reiz
mangelnder Wasserzufuhr bei abnehmender Bodentemperatur ım
Herbst weniger deutlich bemerkbar machen. D. h. aber nichts
anderes, als dass eben die Disposition zur Ausbildung der Trennungs-
schicht eine ungenügende ist. Ganz abgesehen davon, dass diese
Überlegung schon für die Buche kaum passen würde, bleibt auch
die Frage bestehen, warum gerade diesen Bäumen die augenschein-
lich zweckmäßige Disposition der anderen einheimischen Laubbäume
zum Laubfall im Herbst mangelt. — Es macht nun aber ganz den
Eindruck, als wären diese Bäume erst im Begriff, diese Anpassung
zu erwerben und noch nicht in ihren gesicherten Besitz gelangt.
Während manche Individuen und vielleicht auch Rassen diese
Fähigkeit zum Herbstlaubfall vollkommen erworben haben, können
sie bei andern im jugendlichen Alter?) oder besonderen Wachstums-
verhältnissen nicht in Erscheinung treten, während sie eine weitere
Gruppe noch völlig zu entbehren scheint. Es ist als hätten diese
2) Auch Berthold weist darauf hin, dass die Jahresrhythmik bei jugendlichen
Pflanzen im allgemeinen weniger stark ausgeprägt ist (Pflanzl. Organis. II, p. 250).
>16 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
Bäume einst anderem wärmeren Klıma angehört, in denen ein perio-
discher herbstlicher Laubfall unnötig, ın denen sie vielmehr das ganze
Jahr mit grünem Laub bedeckt sein konnten. — Die Ähnlichkeit zu
den immergrünen Pflanzen wird aber noch deutlicher, wenn die Art
der schließlichen Abstoßung des Laubes ım Frühjahr berücksichtigt
wird. — Während sie, wie wir sahen, bei den durch plötzlich ein-
tretenden Frost absterbenden Blättern auf mechanischem Wege er-
folgt, da auch die Region der Trennungsschicht abstirbt, bleibt
diese bei Eichen und Buche am Leben. Während des ganzen
Winters ist die Ansatzstelle des Blattstiels grün und turgeszent;
in ıhr bildet sich schließlich die Trennungszone aus und die Blatt-
ablösung erfolgt, wie gewöhnlich, durch Auseinanderweichen der
Zellen?). Diese Trennungsschicht tritt jedoch erst auf einen ganz
bestimmten Reiz in Wirksamkeit. Es genügt hierzu nicht etwa
eine für Wachstum und Zellteilung genügend hohe Temperatur,
wie sie einzelne warme Tage des Spätherbst und Frühlings bringen.
Auch als Mitte Dezember Zweige von Quercus pedunculata ın das
geheizte Zimmer gebracht wurden, veränderte sich nicht sogleich
der Blattgrund. Erst Mitte Januar trat die durch ihren Stärke-
gehalt leicht erkennbare Trennungsschicht deutlich hervor. Zu
gleicher Zeit begannen aber auch die Knospen zu wachsen und als
sich gegen Ende Januar die Knospen öffneten, fiel ein Blatt nach
dem anderen ab. Im Freien tritt die Trennungsschicht gleichfalls
erst in Wirksamkeit, wenn das Wachstum der Knospen beginnt.
Bei einem von mir ständig beobachteten 15 m hohen @uercus
pedunculata des Tiergartens begann z.'B. sich das während des
ganzen Winters haften gebliebene Laub bei fast windstillem Wetter
am 1. April 1913 ın dichtem Fall abzulösen, so dass der Baum am
2. Aprıl schon ganz kahl aussah und am 4. April nur noch ein
paar Blätter besaß. Frühzeitiger als gewöhnlich hatte hier, durch
das anormal warme Wetter veranlasst, eine kräftige Streckung der
Knospen eingesetzt. Ein dicht daneben stehender gleich großer
Quercus pedunculata hatte zu dieser Zeit noch nichts von seinem
alten Laub verloren, aber auch die Knospen zeigten noch kein
Wachstum®). Ebensowenig wie die zahlreicher anderer Eichen, die
völlig kahl waren oder an denen die unteren Äste mit braunem
Laub bedeckt waren.
Auf den Zusammenhang zwischen Laubfall und Knospentreiben
immergrüner Pflanzen hat besonders Wiesner hingewiesen und ıhn
3) Büsgen gibt auch für Eichen und Buche an, dass die hängenbleiben-
den Blätter am Baum allmählich verwesen, soweit sie nicht gewaltsam abgerissen
werden, und der gleichen Meinung ist Pfeffer (Pflanzenphysiologie II, p. 277).
Ich habe das nicht beobachten können und es stellt jedenfalls nicht den gewöhn-
lichen Fall dar.
4) Dieses begann erst am 10. April und damit auch das Abfallen der Blätter.
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 317
als Treiblaubfall von den anderen Arten des Blattfalls unterschieden.
Während bei vielen ımmergrünen Pflanzen der Laubfall ım allge-
meinen ein sehr geringer ist, steigt er zur Zeit der Laubentfaltung
gewaltig. Zahlreiche entsprechende Angaben rühren von Volkens
her. Dieser enge Zusammenhang zwischen dem Treiben der Knospen
und Abstoßen der alten Blätter durch einen biologischen Prozess
stellt sıch also durchaus als eine Eigenschaft immergrüner Gewächse
dar. — Es mag hervorgehoben sein, dass auch Wiesner für andere
Pflanzen ein solcher „Übergang sommergrünen zu immergrünen“
Verhalten nicht entgangen ıst. Bei der Zerreiche Quercus cerris,
bei der stets ein Teil des Laubes abgestorben bis zum Frühling
bleiben soll, fielen beim Einstellen in das Warmhaus auch die
Blätter erst nach dem Treiben der Knospen ab°). —
Dass wir es aber nun wirklich bei unseren Eichen und Buche
mit Anklängen an das Verhalten immergrüner Pflanzen zu tun
haben, zeigen die periodischen Erscheinungen der Lauberneuerung,
die nicht weniger fremdartig wie der Laubfall zwischen den anderen
einheimischen sommergrünen Bäumen stehen. — Sie waren für mich
eigentlich erst die Veranlassung, mich auch näher mit dem Laub-
fall dieser Bäume zu beschäftigen. — Mir war bei gelegentlichen
Beobachtungen in Ceylon und Java über die Lauberneuerung der
tropischen Bäume die Vermutung aufgestoßen, dass auch das wieder-
holte Austreiben einiger unserer sommergrünen Bäume nicht als
Folge anormaler äußerer Einflüsse anzusehen wäre, sondern wie
die vielfach in kurzen Zwischenräumen erfolgende periodisch und
stoßweise erfolgende Laubentfaltung tropischer Bäume in der Organi-
sation begründet sein müsse. —
Auf meine Veranlassung hat H. Späth dieses Problem in aus-
führlicher Weise experimentell behandelt. Über seine Ergebnisse,
soweit sie uns hier interessieren, werde ich kurz berichten: Die
bekannte Johannistriebbildung der Eichen und Buche ist eine nor-
male periodische Laubentfaltung und wird nicht etwa durch anor-
male klimatische Verhältnisse hervorgerufen. In der Organisation
dieser Bäume ist es begründet, dass ganz wie bei vielen tropischen
Bäumen verhältnismäßig schnelles, stoßweises Treiben und Ruhe-
perioden miteinander abwechseln. Diese Ruheperiode beträgt für
die Eiche etwa 1?/, Monate. Es braucht sich also der Johannis-
5) Hier wie bei dem Abwerfen der durch Frost geschädigten Blätter von
Ligustrum ovifolium ist anzunehmen, dass es sich um den gewohnten biologischen
Prozess in der Trennungsschicht handelt. Denn wie Wiesner angibt, fallen die
Blätter von Ligustrum erst 6—12 Tage, nachdem sie ins Warmhaus gebracht wurden,
ab, also eine genügend lange Zeit, dass die Trennungsschicht in Wirksamkeit treten
konnte. Nachher mag dann die schnelle Vertrocknung des über der Trennungs-
fläche gelegenen Blatteils durch den Spannungsunterschied, wie es Wiesner will,
bei der Lostrennung mitwirken.
518 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
trieb keineswegs im Juni zu bilden, sondern dies hängt ausschließ-
lich von der Zeit des Knospenschlusses des ersten Triebes ab.
Unter günstigen Wachstumsbedingungen können sich nach ent-
sprechender Ruheperiode zum zweiten Male und öfters Johannis-
triebe bilden. Junge Eichen, welche vom April bis September im
Warmhaus bei 31° gezogen wurden, zeigten vier durch Ruheperioden
getrennte Triebe, wobei der dritte oder vierte Trieb allein die Länge
des ersten und zweiten zusammen übertreffen kann. Die Johannis-
triebbildung lässt sich nicht durch äußere Einflüsse unterdrücken,
so lange diese überhaupt ein Wachstum ermöglichen. Das dıskon-
tinuierliche Wachsen lässt sich nicht etwa dadurch erklären, dass
erst wieder eine genügende Menge von Assimilaten gespeichert
werden muss. — Auch durch extrem günstige Nährsalzzufuhr und
andere Wachstumsbedingungen gelingt es nicht, die Ruheperiode
auszuschalten und die Triebe zu ständigem Fortwachsen zu ver-
anlassen. Höchstens kann die Ruheperiode etwas verkürzt werden.
— Mit dem normalen periodischen Treiben der Buche und Eichen
dürfen nicht etwa die zweiten Triebe vieler anderer sommergrüner
Bäume verwechselt werden. Sıe entstehen infolge anormaler äußerer
Einflüsse und besonders regenerativ zum Ersatz verloren gegangenen
Laubes. Da sie sich aus Knospen entwickeln, deren Entfaltung
normalerweise erst im nächsten Jahre stattfindet, sind nur sie ın
Wirklichkeit proleptische Triebe. Die individuelle Triebbildung der
Eichen und Buche im Sommer liegt hingegen ebenso in ihrem
Organisationsplan, wie ın dem der stoßweise treibenden tropischen
Pflanzen. —
Es kann kaum zweifelhaft sein, dass die zusammenhängende
Laubentfaltung unserer sommergrünen Bäume nicht weniger eine
zweckentsprechende Anpassung, ein Ökologismus, ist wie der Laub-
fall dieser Bäume ım Herbst. Nur durch sie können die Pflanzen
die kurze Sommerzeit möglichst ausnutzen. Welche Vorteile können
aber in unserem Klima die Bäume von einer diskontinuierlichen
Belaubung besitzen, noch dazu solche, die wie Eiche und Buche so
extrem spät austreiben, während in dem mehr oder weniger gleich-
förmigen Tropenklima ein periodisches Wachstum, wie wir noch
sehen werden, durchaus verständlich ist? — Bei der Eiche mit ihrer
beträchtlichen Johannistriebbildung könnte man noch daran denken,
dass es sich um einen vorbeugenden Ersatz für Beschädigung des
ersten Triebes durch Frost oder Insektenfraß handelt, wenn auch
alle anderen Bäume mehr oder weniger zu einer regenerativen
Ersatzbildung befähigt sind. Bei der Buche aber mit ihrer für die
Gesamtbelaubung kaum mitsprechenden geringen Johannistrieb-
bildung fällt auch dieses Argument jedenfalls fort. — Ganz wie für
den Laubfall, müssen wir also auch für die Laubentfaltung fest-
stellen, dass Eiche und Buche ein Verhalten zeigen, das nicht in
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 319
voller Übereinstimmung steht zu ihren jetzigen Lebensbedingungen,
aber wohl Anklänge besitzt zu dem Verhalten von Bäumen, die
unter anderen klimatischen Bedingungen erwachsen sind.
Eichen und Buche, die Bäume, die wir gewohnt sind als die
charakteristischsten Vertreter des deutschen Waldes anzusehen,
unterscheiden sich auffällig ın den beiden Hauptpunkten der Vege-
tationsperioden unserer Breiten, dem Laubfall im Herbst und der
Lauberneuerung im Frühling, von allen übrigen sommergrünen
Bäumen, zeigen aber, wenn auch ın gewisser Weise individuell
verschieden, deutliche Anklänge an das Verhalten der Bäume anderer
Wärmeklimate mit immergrünen Pflanzen. Liegt es da nicht nahe,
anzunehmen, dass wirklich ıhre Ahnen einem anderen wäÄrmeren
Klima angehörten, von denen sie noch deutliche zu ihrer jetzigen
Umgebung wenig passende Erinnerungen in sich tragen? Können
wir nicht vielleicht das absonderliche Verhalten ihrer Periodizität
als ein Wiederauftreten des physiologischen Verhaltens ihrer Ahnen
ansehen und von einem physiologischen Atavismus sprechen?
Es wäre aber noch eine andere Möglichkeit zu erwägen. Viel-
leicht bezeichnen wir mit Unrecht unsere Eichen und Buche als
sommergrüne laubalwerfende Bäume. Vielleicht zwingen ıhnen
ungünstige klimatische Bedingungen nur eine Winterruhe auf, die
in ihrer Natur nicht begründet ıst, während sie unter günstigeren
Bedingungen erwachsen ın Wahrheit immergrün wären. Dafür
sprechen nun in der Tat auf den ersten Blick einige Beobachtungen.
Nach Krasan (zitiert nach Ascherson- Graebner, Synopsis
Bd. IV) behält Quercus sessiliflora ım südlichen Gebiet an geschützten
Orten ın Schluchten ete. das grüne Laub bis zur Entfaltung der
Blätter. Es hat hier durchaus einen immergrünen Charakter. —
Auch für Quercus pedunculata werden von Kerner v. Marılaun
entsprechende Angaben gemacht. Nach ihm haftet an, durch fort-
währendes Verstümmeln, niedrig gehaltenen Exemplaren auf dem
warmen Boden der Mulde nächst der Solfatara bei Neapel noch
Ende April das Laub des verflossenen Jahres grün und gesund an
den Zweigen, obschon bereits neues Laub aus den Knospen hervor-
zubrechen beginnt.
Dennoch wäre es verfehlt, ganz abgesehen davon, dass für
unsere Buche immergrüne Formen meines Wissens nicht bekannt
sind, auch für die Eichen daraus schließen zu wollen, dass sie als
immergrüne Bäume anzusehen sind und eine „sommergrüne Perio-
dizität“ nicht besäßen. Denn zahlreiche andere Beobachtungen
zeigen deutlich, dass auch bei Eichen und Buche unter sehr
günstigen klimatischen Bedingungen das gesamte Laub periodisch
abstirbt resp. abgeworfen wird. — Sehr bekannt und oft zitiert
sind die Beobachtungen Heer’s aus Madeira: Das Laub der Stiel-
eiche wird auch hier Ende Oktober gelb und bleibt, allmählich
320 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
trocknend, bis zum 1. Januar hängen. Einige einzelne Bäume trieben
vom 10. Januar an und waren am 6. Februar wieder grün, alle
übrigen blieben aber in Ruhe und waren ım allgemeinen erst bis zum
20. Februar wieder mit Blättern bedeckt. Das Buchenlaub wird erst
Anfang November gelb und bleibt in der Hauptmenge bis zum Wieder-
austreiben am 1. Aprıl auf den Bäumen. — In dem gleichmäßig
warmen Klıma von Tjıbodas auf Java verhält sich @uercus pedun-
culata nach Schimper’s Angaben, die von Holtermann, Klebs,
Volkens und auch von mir bestätigt werden konnten, sehr eigen-
tümlich. Einzelne Äste zeigen Winter, Frühjahr und Sommer, d.h.
neben kahlen entlaubten Zweigen solche, die ihr Laub eben ent-
falteten und solche mit vollem Blätterschmuck. Einigermaßen genau
sind wir durch Dingler über das Verhalten von Quercus pedun-
culata ın dem Bergklima von Hacgala auf Ceylon unterrichtet.
Ähnelt es auch dem von Tjibodas, lassen sich doch auch die Ein-
flüsse eines nicht ganz so gleichmäßigen Klimas erkennen. Für
uns ist es wichtig, dass auch hier die alten Blätter vor der Bildung
der jungen Triebe absterben und dann entweder sogleich abgeworfen
werden können, so dass der Baum kahl steht oder wıe häufig mit
dem Austreiben des neuen Triebes abgestoßen werden. Das im
Mai beobachtete Wiederaustreiben beblätterter Zweige deckt sich
sicherlich mit den Johannistrieben unserer Breiten. — Der perio-
dische Laubfall und das Kahlstehen der Äste unserer Richen in
Tjıbodas ıst um so auffälliger, als eine andere „sommergrüne* Eiche
(uercus cerris immergrün wird, indem sie ihr altes Laub grün bis
zum Austreiben des neuen behält. Doch haben wır schon gesehen,
dass Quercus cerris auch im südlichen Europa stets das Laub,
wenn auch abgestorben, im Winter behält und somit wohl wirklich
als mehr oder weniger immergrün anzusehen ist.
Aus allen diesen Beobachtungen in tropischen und subtropischen
Gegenden dürfte sich ohne weiteres folgern lassen, dass unsere
Eichen auch unter den günstigsten Bedingungen sich nicht wie
immergrüne Bäume verhalten. Ganz wie in unserem Klıma sterben
in weniger als einem Jahr die Blätter ab und werden entweder
gleich abgestoßen oder erst nach der stets eintretenden kürzeren
oder längeren Ruheperiode beim Austreiben des jungen Laubes®).
— Es ist dementsprechend zu vermuten und müsste experimentell
geprüft werden, ob die oben erwähnten Eichen bestimmter euro-
päischer Standorte, die ıhr grünes Laub während des ganzen Jahres
behalten, nicht Varietäten sind, die sich in ihrem physiologischen
Verhalten von dem der anderen mitteleuropäischen Formen unter-
6) Das ist um so bemerkenswerter, als andere Bäume, wie z. B. der Pfirsich,
in wärmere Gegenden verpflanzt, sehr bald ohne Ruhepause fortwächst und gleich-
zeitig unperiodisch seine alten Blätter abstößt. Vgl. Anm. 12, p. 335.
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 21
scheiden. — Wenn sie somit auch nicht als Beweis dafür gelten
können, dass unsere Eichen ein immergrünes Verhalten zeigen,
können sie doch als weitere Stütze dafür dienen, dass in der Orga-
nisation unserer sommergrünen Eichen die Merkmale einer immer-
grünen Natur verborgen liegen, die in einem physiologischen Ata-
vismus immer wieder zum Durchbruch gelangt.
Dass wir aber unter den Ahnen unserer Eichen immergrüne
Formen zu suchen haben, wird noch wahrscheinlicher, wenn wir
daran denken, wıe viele unseren Eichen nahe verwandte Formen
immergrün sind. Besonders in den Resultaten einer jüngst er-
schienenen pflanzengeographisch-systematischen Studie fand ich eine
erfreuliche weitere Stütze für unsere aus rein physiologischen Be-
obachtungen gewonnene Ansicht. Schottky sagt: „Von den immer-
grünen Eichen, die eine Sommerruhe durchzumachen haben, zu den
sommergrünen Arten der temperierten Gegenden, existieren alle
Übergänge, aus denen man genauer die Genesis des sommergrünen
Laubblattes verfolgen kann.* Und er fährt direkt fort: „Der späte
Ausschlag unserer Eichen und ıhr Bestreben, im Winter das Blatt
zu behalten, deuten noch auf ihre Abstammung hin.“ — Zuerst ist
dieser Gedanke aber wohl von Dingler in einer Anmerkung aus-
gesprochen worden: „Auch unsere Eichen haben eine gewisse Neigung
zur langen Erhaltung ıhrer jüngeren Blätter und man könnte daran
denken, dass dieses Verhalten und vielleicht auch die häufige Kon-
servierung des abgestorbenen Laubes mit ihrer Abstammung von
gewissen immergrünen Formen zusammenhängt. Der Gedanke ist
um so näherliegend, als unsere Qxercus sessiliflora mit der sehr
ausgeprägt halb immergrünen Formgruppe der Wuercus infectoria
des Orients sehr nahe verwandt ist.“ Beide Autoren stimmen also
darın überein, die Ahnen unserer Eichen unter klimatischen Be-
dingungen zu suchen, die etwa denen der Mittelmeerländer ent-
sprechen. Da hier ım Sommer mit hohen Temperaturen geringe
Niederschläge zusammenfallen, während der Winter durch niedere
Temperaturen und Regenreichtum ausgezeichnet ist, wird hier in
gewissem Maße eine Winter- und Sommerruhe bedingt (vgl.v.Gutten-
berg), von denen aber keine den Gang der Vegetation so völlig
unterbricht, wie der Winter ın Mitteleuropa. So besitzen hier die
Eichen mehr oder weniger die ledrigen Blätter der Hartlaubgewächse
(Schimper), deren anatomische Beschaffenheit vielfach an typische
Xerophyten erinnert und sıe geeignet macht, diese extremen Perioden
zu überdauern. Sie können auch in diesen Zeiten, wenn auch
herabgesetzt, funktionieren, besonders aber auch sogleich bei Ein-
tritt günstiger Vegetationsbedingungen ihre volle Funktion auf-
nehmen. Es lässt sich nicht verkennen, dass auch unsere Eichen
in der Beschaffenheit ihrer Blätter gewisse „xerophytische“ Merk-
inale aufweisen, durch die sie zur Besiedelung auch trockener Stand-
329 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
orte befähigt werden. Dennoch möchte ich zögern, sie direkt als
Nachkommen der Hartlaubgewächse zu bezeichnen. Über eine dis-
kontinuierliche Belaubung finde ich keine Angaben für die Pflanzen
des Mittelmeergebietes. — Die Verwandtschaft des geologisch alten
Eichengeschlechts reicht aber ın der Tat weiter als zu den immer-
grünen Eichen mit Sommerruhe; sie geht über alle Zwischenstufen
bis zu den immergrünen Eichen ım gleichförmigen Klima der Tropen
(vgl. Brenner und Schottky). Wer vermag zu sagen, welche
Merkmale, einst unter warmem Himmel erworben, in den Eichen
unserer jetzt kalten Breiten schlummern ? — So mag auch für die Buche
der Hinweis genügen, dass sie in der Gattung Notophagus immer-
grüne Verwandte besitzt, ohne dass auch nur der Versuch ge-
macht werden soll, festzustellen, welcher Ahnen Merkmale hier ım
physiologischen Atavismus zum Vorschein kommen.
Nicht das erste Mal wird von unseren Eichen und Buche eın
Atavismus erwähnt. Unser Nachweis eines physiologischen Atavis-
mus in den periodischen Erschemungen der Eichen und Buche
erinnert daran, dass gerade sie schon früher Veranlassung dazu
gegeben haben, von einem Atavismus der Pflanzen zu sprechen.
Von Ettingshausen und KraSan wollen in einer Reihe Unter-
suchungen den Nachweis erbracht haben, dass die zahlreichen ver-
schiedenartigen Blattformen unserer Eichen und Buche aufzufassen
seien als Atavısmen, als Rückschläge zu den Blättern dieser Gat-
tungen vergangener Erdperioden oder auch lebender Formen. Ihre
Bildung soll sowohl durch nachweisbare äußere wie innere Gründe
veranlasst werden können. Diese Auffassung als Ganzes und in
Einzelheiten hat manchen Widerspruch gefunden, wie z.B. von Po-
tonie und Brenner, und es liegt mir fern, an dieser Stelle
ihre Berechtigung diskutieren zu wollen. — Dennoch ist zu fragen,
ob das Zusammentreffen des von mir angenommenen physiologischen
Atavısmus und des von jenen erschlossenen morphologischen Ata-
vismus bei den gleichen Pflanzen rein zufällig ıst oder ob ein innerer
Zusammenhang besteht. Es kann nun keinem Zweifel unterliegen,
dass besonders unsere Eichen nicht nur ın ihrer individuellen Blatt-
gestalt äußerst variabel sind — ich verweise hierfür auf die syste-
matischen! Zusammenstellungen von Ascherson und Graebner
und aus früherer Zeit auf die von Lasch — als auf alle möglichen
Reize durch Umformungen der Blätter reagieren können (Brenner).
Mit Recht weisen aber KraSan und Ettingshausen darauf hin, —
dass wir die Entstehung dieser Neubildungen doch nur auf aus-
lösende Reize zurückführen können, auf Anregungen, welche eine
bereits im Organismus enthaltene Disposition gleichsam in tatsäch-
liche Erscheinung umsetzen. Die Kräfte, denen die normale Form-
gestaltung der Pflanzen zuzuschreiben ist, sind also bei ihnen
schwankender wie sonst, und es genügt schon ein geringfügiger
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 393
Anlass zur Verdrängung der normalen Formelemente. Ihr Form-
zustand ist labil und reagiert auf mannigfache Reize, wofür als
weiterer Beweis nur auf die von Späth näher studierte Heterophylie
der Johannistriebe hingewiesen sein mag. — Die Ähnlichkeit mit
den physiologischen Erscheinungen der Periodizität ist auffallend.
Auch hier neben großen individuellen Schwankungen eine starke
Reaktionsfähigkeit auf äußere Einflüsse. Die normale mit den klı-
matischen Faktoren in Übereinstimmung stehende Periodizität ist
labil und immer wieder treten periodische Erscheinungen auf, die
nicht in Übereinstimmung stehen mit dem normalen Verhalten
sommergrüner Bäume. Fre wie dort hat es den Anschein, als wären
wir die Zeugen eines Umwandlungsprozesses, als wäre eine ge-
sicherte Norm noch nicht erreicht. — In diesem Sinne kann wohl
ein Zusammenhang zwischen dem von uns erschlossenen physio-
logischen Atavismus und dem von Ettingshausen und Krasan
erschlossenen Atavismus der Form der gleichen Bäume bestehen.
Neuerworbenes ist noch nicht in gesicherten Besitz übergegangen
und kämpft mit Altererbtem, das unter geeigneten Umständen
innerer oder äußerer Natur immer wieder zum Durchbruch ge-
langen kann.
Jahrtausende haben nicht ausgereicht, ın Eichen und Buche
periodische Erscheinungen zu unterdrücken, die ihrer heutigen Um-
gebung nicht zu entsprechen scheinen (diskontinuierliche Laubent-
faltung) oder mit dieser notwendigerweise verknüpftes rhythmisches
Geschehen (Herbstlaubfall) in gesicherten Besitz zu bringen. Es
ist als wäre die Außenwelt noch nicht in völliger Harmonie zu der
spezifischen Struktur der Pflanze gelangt. — Da aber, wie Berthold
sagt, „die Lebensrhythmik zweckmäßig und notwendig ist für den
Bestand des Individuums und der Art ın unseren Klimaten und
allen anderen, die einen streng periodischen Klimawechsel zeigen“,
ist die BR ne der periodischen Leibe hen en der
Pflanzen mit dem periodischen Wechsel der äußeren een
gungen im allgemeinen so groß, dass es äußerst schwer fällt, zu
erkennen, welcher Anteil an ihrem Zustandekommen der Arteigen-
tümlichkeit und welcher den jeweilig wirkenden wechselnden äußeren
Kräften zufällt. — So liegt es nahe, zu versuchen, aus dem unge-
wöhnlichen periodischen Verhalten der Eichen und Buche auch
Fingerzeige für die Lösung des schwierigen Problems nach dem
realen Zustandekommen des Vegetationsrhythmus der Bäume über-
haupt zu gewinnen. — Es wird damit gleichzeitig Gelegenheit ge-
geben sein, gegenüber den dem Thema entsprechend bisher bevor-
. zugten ökologischen Gesichtspunkten mehr auf die kausal-entwicke-
lungsmechanische Seite des Problems hinzuweisen, —
324 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
Für die Frage nach dem Zustandekommen der Periodizität ım
vegetativen Leben der Bäume musste das Studium derjenigen Bäume
von der größten Bedeutung sein, die im feuchtwarmen, tropischen
Klima erwachsen sind, das starke periodische Schwankungen nicht
zu besitzen scheint. Besonders Volkens und Klebs haben letzthın
unter diesem Gesichtspunkt das periodische Verhalten der Pflanzen
in Java studiert und uns mit einer Fülle von neuem wertvollen
Tatsachenmaterial bereichert. Ihre theoretischen Hauptresultate er-
scheinen dabei recht verschieden. Während Volk ens folgert, dass die
Periodizität ın der Eigentümlichkeit der Art begründet sei, dass
die Rhythmik das Primäre ıst und nur durch wechselnde äußere
Einflüsse reguliert wird, meint Klebs, dass eine solche Periodizität
auch hier stets nur durch die wechselnden Einwirkungen der Um-
welt im weitesten Sinne bedingt sei.
Bei der Erörterung der periodischen Lebenserscheinungen in
den Tropen scheinen häufig die ökologische und die kausal-mecha-
nische Betrachtungsweise nicht genügend scharf voneinander ge-
trennt zu werden. Da die Periodizität als Anpassungserscheinung
an die Umwelt unverständlich erschien, wurde ohne weiteres eın
möglicher Zusammenhang zwischen Periodizität und Umwelt ge-
leugnet. Andererseits wurde aus der Möglichkeit, eine solche
Periodizität durch äußere Eingriffe zu verschieben oder gar aufzu-
heben gefolgert, dass sie eine mehr oder weniger zweckentsprechende
Reaktion auf periodisch wechselnde Einflüsse darstellen müsse. In
beiden Schlussfolgerungen scheint unerlaubterweise ökologische und
entwickelungsmechanische Betrachtungsweise miteinander vermengt
zu sein. — Sicherlich dürfte aber auch hier, wie so oft erst das
Verständnis des Ökologismus den Weg zum Verständnis des kau-
salen Geschehens weisen. Kann nun wirklich, wie Berthold sagt,
die Rhythmik ın den Tropen als eine mehr zufällige Erscheinung
aufgefasst werden? Wozu braucht zumal in dem gleichmäßigen
Tropenklima überhaupt ein Blattwechsel stattzufinden ?
Die begrenzte Lebensdauer der Blätter ıst vielfach so gedeutet
worden, dass es ın ıhrer Natur begründet ist, nur eine beschränkte
Zeit funktionsfähig zu sein. Durch die Untersuchungen von Linde-
muth, Mathuse u. a. wissen wir aber, dass die Blätter vom Stocke
getrennt weit über die normale Zeit leben und funktionsfähig ge-
halten werden können. Ihr frühes Absterben oder Abfallen auch
ohne direkte äußere Ursache muss also auf Korrelationserscheinungen
beruhen, die im periodisch wechselnden Klıma ökologisch verständ-
lich erscheinen. Aber auch in den Tropen gibt es neben Bäumen
mit sehr langlebigen Blättern solche, die ihr Laub oft nach sehr
kurzer Zeit periodisch abwerfen. Könnten hierfür nicht auch im
gleichmäßig feuchten Tropenklima Zweckmäßigkeitsgründe anderer:
Art maßgebend sein? — Bekanntlich werden die Blätter sehr vieler
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 335
Bäume der Tropen von epiphytischen kryptogamen Pilzen, Algen
und Flechten bewohnt. Volkens konnte, wenn andere Mittel ver-
sagten, direkt das Alter einer Blattgeneration von der Stärke ihres
Vorkommens ableiten. „Die 5—6 ältesten untersten Blätter waren mit
einem dichten grauen Filz von Blattflechten vollkommen überzogen.
Die nächsthöheren zeigten große Rasen solcher, die sich mit ihren
Rändern fast berührten. Die folgende Gruppe wiesen immer
kleinere Rasen auf; der zuletzt entstandene Schub endlich war frei
von jeder Bedeckung, ließ Blätter mit gleichmäßig spiegelndem
Glanz gewahren.“ Und Busse berichtet für das Regenwald-
gebiet von Kamerun, dass fast nur die alljährlich ihre Blätter wech-
selnden Gewächse frei von Epiphyllen sind. Wenn wir dann noch
hören, dass gerade diejenigen immergrünen Pflanzen, die durch be-
sondere Lebensdauer der Blätter ausgezeichnet sind, wie Cordyline,
Jucca, Dracaenenarten epiphytenfrei sind (Fitting), muss es als eine
sehr nützliche Einrichtung für diejenigen Pflanzen, die ihrer Blatt-
struktur nach leichter befallen werden, angesehen werden, nach
einer gewissen Zeit ihr Laub zu wechseln. Es sollte hier nur ein
in die Augen springender Punkt für den Ökologismus des Blatt-
abfalls im gleichmäßigen Tropenklima angeführt werden. Unzweifel-
haft aber werden sich bei eingehenderer Untersuchung noch andere
auffinden lassen. — Wie wird sich in einem gleichmäßigen Klıma
der Blattwechsel am zweckentsprechendsten vollziehen? Anscheinend
wohl so, dass der Baum ständig während des ganzen Jahres ein
Blatt nach dem andern abwirft und gleichzeitig ständig fortwachsend
ein Blatt nach dem andern hervorbringt. Es ıst nun in der Tat
sehr auffällig, dass nach Volkens u. a. gerade unter den in den
Tropen einheimischen Dikotylen recht wenige Bäume dieses Ver-
halten zeigen. Auch Klebs, der, seinen Voraussetzungen ent-
sprechend, sich besonders nach Bäumen mit ständig fortwachsenden
Trieben umsah, scheint nur eine recht geringe Zahl gefunden zu
haben. Das ist noch bemerkenswerter, wenn wir bedenken, dass
im mitteleuropäischen Kliıma eine ganze Reihe von Bäumen vom
Frühjahr bis zum Herbst kontinuierliches Wachstum zeigen, bis
erst durch ungünstige äußere Einflüsse oft erst durch Nachtfröste
ım Oktober die jungen noch zarten Triebspitzen zum Absterben
gebracht werden wie bei Weiden, Pfirsich u. a. (vgl. Berthold,
Späth). Werden dann solche Bäume in tropische Klimate ver-
setzt, so vermögen sie zum Teil anscheinend wirklich, wie z. B.
der Pfirsich, ohne Ruhepause fortzuwachsen und gleichmäßig in
dauerndem Blattfall langsam die Blätter abzustoßen”). — Bei den
Bäumen des gleichmäßigen tropischen Klimas ist vielmehr fraglos
die diskontinuierliche Laubentwickelung die häufigere Art der Blatt-
7) Vgl.Bordage. Nach Klebs hat der Pfirsich in Buitenzorg einige kahle Äste,
XXXIL. 22
396 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche,
bildung, sei es, dass periodische Streckung und Ruhe an den ein-
zelnen Trieben zu verschiedenen Zeiten miteinander abwechseln, sei
es, dass dies mehr oder weniger gleichzeitig an dem ganzen Baum-
individuum stattfindet. — Es fällt nicht schwer, auch hierin eine
recht zweckentsprechende Ökologie der tropischen Bäume zu er-
kennen. Ein gleichmäßiges Fortwachsen der Triebe könnte nur
dann als Vorteil gelten, wenn wirklich dieses Wachstum mit der
Schnelligkeit erfolgen könnte, die den auf den Vegetationspunkt
direkt einwirkenden klimatischen Bedingungen der Wärme, des
Lichts und der Feuchtigkeit entsprechen würde, wenn also, wie
Klebs sagt, ıhre nächste Umwelt überall gleichmäßig günstig wäre
und Stamm und Wurzel für alle genügendes Wasser mit den
Nährsalzen herbeischaffen würde. Bei größeren Bäumen ist es aber
kaum denkbar, dass der Stamm so schnell in die Dicke wächst,
wie dann seine Inanspruchnahme sowohl in mechanischer wie er-
nährungsphysiologischer Weise zunehmen muss. Auch muss es
fraglich erscheinen, ob es den Wurzeln gelänge, entsprechend schnell
neues Terrain zu erobern, um der fast in geometrischer Proportion
erfolgenden Zunahme einer ungehindert fortwachsenden Laubmasse
durch Wasser- und Nährsalzzufuhr zu genügen. Die von Klebs
gegebene Zuwachsgröße der Triebe und Blätter erwachsener, ständig
fortwachsender Bäume ist ın der Tat für die sonst bekannten
Wachstumsschnelligkeiten anderer tropischer Gewächse äußerst ge-
ring, und besonders auch, wenn damit die Wachstumsgeschwindig-
keit junger Bäume verglichen wird. -— Wenn sich aber doch die
Produktionsfähigkeit der Triebe als Teile des Baumganzen nicht
zu ihrer vollen Stärke entfalten darf, kann noch auf andere Weise
eine zweckentsprechende Produktionsbeschränkung erzielt werden.
Statt des verlangsamten kontinuierlichen Wachstums tritt die rasche
Laubentfaltung, aber ım diskontinuierlichen Wachstum mit perio-
dischem Wechsel von Ruhe und Entfaltung, während solcher Wechsel
nach Klebs bei den Sträuchern nicht einzutreten pflegt. Da nun
die Erfahrung lehrt, dass dieser Weg von den meisten Bäumen
bevorzugt wird, muss nach seinen Vorzügen gefragt werden. Pfeffer
weist darauf hin, wie notwendigerweise jedes Entwickelungsstadium
durch verschiedenartige chemische Umsetzungen bedingt sein muss,
eine Anschauung, die auch durch die neueren experimentellen Unter-
suchungen Berthold’s und Klebs’ bestätigt werden. Es lässt sich
durchaus einsehen, dass der Ablauf aller dieser verschiedenen Um-
setzungen ein viel geregelterer und zweckentsprechenderer sein muss,
wenn er sich hintereinander, als wenn er sich nebeneinander voll-
zieht, wenn etwa einmal die Produktion und Speicherung der Assi-
milate das chemische Getriebe beherrscht, das andere Mal das
Wachstum und die Produktion neuer Körpersubstanz. Ich verweise
hierfür nur auf die Beobachtung von Volkens, nach dem bei Ficus
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 397
fulva kurz vor und während des Treibens ein gewaltiger Wurzel-
druck aus allen alten Wunden das Wasser hervortreten lässt, dann
aber der Saftstrom, sowie die Blätter erwachsen sind, sofort auf-
hört. Nur hingewiesen mag darauf sein, dass in gleicher Weise
auch eine periodisch mit dem vegetativen Wachstum abwechselnde
Blütenbildung, wie sie vielfach bei tropischen Bäumen festzustellen
ist, vorteilhaft sein muss. — Neben diesen in der Organisation
liegenden Vorteilen ist es aber auch klar, dass beim diskontinuier-
lichen Wachstum ganz anders die kleinen stets vorhandenen Schwan-
kungen der klimatischen Bedingungen ausgenutzt werden können.
Wenn nach einer Ruhepause eine erneute Blattentfaltung einsetzen
soll, können hierfür Tage stärkerer Niederschläge oder vielleicht
auch stärkerer Nährstoffzufuhr benutzt werden. — Alle dıe mannig-
fachen, von Volkens und Klebs aufgedeekten Übergänge zwischen
dem langsamen kontinuierlichen Wachstum bis zu dem schnellen
stoßweisen Treiben erscheinen unter diesem Gesichtspunkt ökologisch
verständlich. Während die Beschränkung der Blattproduktion bei
der einen Baumart noch durch das während des ganzen Jahres
unregelmäßig hier und dort erfolgende Aussetzen des an und für
sich verlangsamten Wachstums erfolgt, wechselt in anderen Fällen
eine Ruhepause und darauffolgendes schnelles Treiben von Ast zu
Ast oder vollzieht sich gleichzeitig am ganzen Baum, je nach der
Art in kürzeren oder längeren Pausen, die sich bis auf Jahresfrist
oder vielleicht noch länger ausdehnen können. So ıst es auch
ökologisch verständlich, dass dıe jungen Pflanzen vieler Bäume "mit
nicht ausgeprägt diskontinuierlicher Wachstumsweise anfänglich,
wofür Klebs zahlreiche Beispiele gibt, kontinuierlich wachsen und
sich erst später, wenn die Blattproduktion eingeschränkt werden
muss, das periodische Wachstum einstellt. Stockausschläge und
gut ernährte untere Äste können sich dabei wie junge Pflanzen
verhalten. Bei Bäumen mit sehr ausgeprägtem diskontinuierlichen
Wachstum kann dies aber eine so ausgesprochene Eigenschaft ihrer
Organisation sein, dass sie schon bei jungen Pflanzen, trotz günstigster
Ernährung, ein deutliches Schwanken der Wachstumsintensität gel-
tend macht, wenn auch hier dıe Periode der Ruhe gegenüber der
der wachsenden Bäume erheblich abgekürzt sein kann. Ein sehr
charakteristisches Beispiel sind neben dem von Klebs studierten
Theobroma Cacao die von Huber beschriebenen einjährigen Exem-
plare von Hevea Brasiliensis. Diese trieben in Para während der
Regenzeit fünfmal aus. Der Trieb braucht zu seiner Entfaltung
etwa 30 Tage, worauf dann eine Ruhezeit von etwa 10 Tagen eın-
tritt. Ältere Exemplare dagegen treiben nur ein- oder zweimal im
Jahre aus. —
Das Verständnis der Ökologie des diskontinuierlichen Wachs-
tums dürfte nun in der Tat den Weg zeigen, die kausalen Zu-
DI*
a
398 Maenus, Der physiolorische Atavismus unserer Eichen und Buche.
Oo ) I ‘ ©
sammenhänge aufzuklären, die das Zustandekommen dieser Perio-
dizität ermöglichen. Aus dem Bisherigen dürfte mit Sicherheit zu
folgern sein, dass die Bäume der Tropen in verschiedenem Grade
die ın ihrer Organisation begründete Disposition besitzen, ihren
Vegetationspunkt in einen Ruhezustand überzuführen; oder anders
ausgedrückt, die strukturelle Befähigung auf entsprechende Reize
mit einer Wachstumsstockung zu reagieren. Während bei den einen
die Reaktion der Wachstumsstockung nur durch einen stärkeren
Mangel in der Zufuhr sei es des Wassers, sei es der Nährsalze
ausgelöst wird, genügt bei den anderen hierzu vielleicht eine sehr
geringe Verminderung der Nährsalze und bei der dritten wird schon
die Hemmung im Vegetationspunkt der Achse durch eine von den
jeweiligen nern Umständen unabhängige Gegenreaktion gegen das
Wachstum bewirkt. In diese lien) Kategorie rangieren augen-
scheinlich Eichen und Buchen. Denn wie wir sahen, tritt ah
bei jungen Pflanzen die Wachstumshemmung unabhängig von direkten
äußeren Einflüssen auch bei günstigsten Ernährungsbedingungen ein,
um nach einiger Zeit von neuem Treiben abgelöst zu werden. Es
liegen hier also unzweifelhaft von äußerem periodischen Geschehen
ganz unabhängige periodisch eintretende Vorgänge vor, die auf
inneren Bedingungen beruhen. — Gelingt es nun noch weiter, in
diese Bedingungen einzudringen? Während sich Pfeffer damit
begnügen zu müssen glaubt, darauf hinzuweisen, dass hier chemische
Wechselbeziehungen maßgebend sein müssen, sınd eingehendere
Betrachtungen über die Frage, welche Wechselbeziehungen (Korre-
lationen) ın der Pflanze speziell die Wachstumshemmung im Vege-
tatıonspunkt hervorrufen könnten, von Berthold, Jost und Klebs
angestellt worden. Als das Wahrscheinlichste muss von vornherein
angesehen werden, „dass das Treiben eines neuen Blattschubs und
die erste Zeit der Tätigkeit eben ausgewachsener Blätter eine Hem-
mung in dem Vegetationspunkt der Achse herbeiführt“ (Klebs).
— n dieser Richtung könnten Späth’s Beobachtungen an ım Dunkeln
unter günstigsten ann son er snde Eichen ge-
deutet random, An den etiolierten Trieben war die esislliirne
der Blätter stark reduziert und dafür das Stengelwachstum sehr
gefördert. In der Wachstumshemmung der Vegetationspunkte ver-
hielten sich nun die untersuchten Exemplare sehr verschieden.
Während bei den einen deutlicher Knospenschluss und darauf-
folgende einmonatliche Ruhe eintrat, unterblieb bei den anderen
die Ausbildung der Knospenschuppen und es trat nur eine etwa
eine Woche dauernde Wachstumsstockung ein. Bei einer dritten
Gruppe schließlich unterblieb die vollkommene Hemmung des Vege-
tationspunktes ganz und nur die Verkürzung der Internodien weist
noch auf die Stelle hin, wo die Ausbildung des neuen Blattschubs
einsetzte. Also auch bei der durch das Etiolement sehr gestörten
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 399
Korrelation war die Disposition des Vegetationspunktes zu einer
Wachstumsstockung so stark, dass sie sich auch im extremsten
Fall nicht ganz unterdrücken ließ. Hieraus aber und aus den Be-
obachtungen an einem wohl gleichfalls mehr oder weniger etiolierten
ohne Wachstumspause fortwachsenden Trieb von Petraea mit hin-
fälligen Blättern (Klebs) einen sicheren Beweis zu sehen für die
bekannte Beziehung zwischen Blatt und Sprosswachstum möchte
ich zögern, da erst festgestellt werden müsste, ob nicht der Licht-
mangel den Vegetationspunkt direkt beeinflusst. — Was uns aber
hier schließlich interessiert, ist ja nur, wie schwer sich bei der Eiche
auch bei Ausschaltung der normalen Korrelationen die Disposition
der Hemmung unterdrücken lässt, wie groß die Reaktionsfähigkeit
auch auf einen nur schwachen korrelativen Reiz sein muss. So
kann es auch durchaus dahingestellt bleiben, ob die von Berthold
und Klebs verteidigte Hypothese, dass die Nährsalzentziehung der
wachsenden Blätter das Hauptmoment der korrelativen Vegetations-
punkthemmung ist, als richtig anzusehen ist. Bei Eiche und Buche
allerdings gelingt es nicht, auch bei der extremsten Zuführung von
Nährsalzen unter den günstigsten Wachstumsbedingungen diese
Hemmung aufzuheben. Und wenn, wie gleichfalls Späth zeigte,
bei Stockausschlägen an jungen und alten Pflanzen ein Knospen-
schluss nicht eintritt, wenn auch die Internodienlängen einen sehr
unregelmäßigen Verlauf nehmen, so vermag ich darin nur zu er-
kennen, dass, wie so oft bei Regenerationsprozessen die zur nor-
malen Formgestaltung führenden korrelativen Hemmungserschei-
nungen ausgeschaltet sind, ohne dass wir vorläufig im allgemeinen
imstande sind, näher die einzelnen Reizvorgänge zu analysieren. —
Auch über diejenigen Korrelationen, welche periodisch bei den
Bäumen der Tropen nach einer Ruhepause die Wiederaufnahme
des, Wachstums bedingen, dürfte die nach Klebs’ Untersuchungen
zumeist nach Fortnahme der Blätter regenerativ eintretende Blatt-
entfaltung keinen sicheren Rückschluss gestatten. — Ganz wie bei
der Wachstumshemmung wird vielmehr bei ihrer Aufhebung je
nach der spezifischen Reaktionsfähigkeit vielleicht einmal eine ge-
ringe erneute Zufuhr von Wasser und Nährsalz genügen, ein ander-
mal ein erheblicher „Druck“ notwendig sein oder schließlich kom-
pliziertere Korrelationsvorgänge. Dazu kommt, dass nach den
Untersuchungen von Goebel, Johannsen, Jost u. a. der momen-
tane physiologische Zustand der ruhenden Knospe einheimischer
Bäume für ihre Wiedererweckung wesentlich mitspricht, dass also
ihre Reaktionsfähigkeit erheblichen Schwankungen ausgesetzt ist.
So ist es durchaus wahrscheinlich, dass auch in den Tropen bei
einem bestimmten physiologischen Zustand der Vegetationspunkte
mancher Bäume ein Nährstoffzufluss nicht zur Knospenentfaltung
genügt, welcher zu einer anderen Zeit hierzu vollkommen genügen
390) Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
würde. Bei Eiche und Buche sehen wir wenigstens, dass bei reich-
lichster Darbietung von Nährsalzen unter den günstigsten Wachstums-
bedingungen die Ruheperiode zwar nicht aufgehoben, aber deutlich
abgekürzt werden kann. Erst von einem bestimmten physiologischen
Zustand der Knospe au wird sie für die gesteigerte Nährsalzzufuhr
reizempfindlich. Dass etwa eime stärkere Inaktivierung der für
das Wachstum notwendigen Enzyme und dadurch bedingte ausge-
prägtere Wachstumshemmung Hand in Hand mit der Speiche-
rung der Assimilate geht (Berthold und ebenso Klebs) ist
denkbar. Nicht mit den Tatsachen in Übereinstimmung ist aber,
wenigstens bei der Eiche und Buche, die Vorstellung von Ber-
thold, dass deshalb bei jugendlichen Individuen leicht ein zweiter
oder dritter Trieb gebildet wird, weil noch kein genügender Vorrat
an Reservematerial angesammelt ıst. Weder hier noch bei den
tropischen Pflanzen vermögen wir zu sagen, durch welche kom-
plizierten Korrelationsvorgänge der physiologische Zustand der
ruhenden Knospe unabhängig von unmittelbaren äußeren Einflüssen
eine Änderung erfährt.
Noch undurchsichtiger werden aber die kausalen Bedingungen
der periodischen Blattentfaltung in den Tropen dadurch, dass sie
im normalen Entwickelungsgang vielfach, wenn auch nicht bei allen
Bäumen, mit dem periodischen Abstoßen des Laubes verknüpft ist.
Es existieren, wie besonders Volkens zeigt, alle Übergänge von
den Bäumen, die neben einem diskontinuierlichen Treiben während
des ganzen Jahres ziemlich gleichmäßig die Blätter abwerfen, zu
solchen, bei denen oft periodisch Treiben und Blattfall miteinander
verknüpft sind bis zu solchen, wo mit dem periodischen Treiben
ein teilweiser oder vollständiger Blattabfall verbunden ist. — Auch
der Ökologismus des periodischen Laubfalls in den Tropen ist ver-
ständlich. Auf diese Weise kann die für die Organisation des
Baumes passende Blattmasse, die durch den neuen Schub unver-
hältnismäßig gesteigert würde, auf der notwendigen Höhe gehalten
werden. Es können aber auch die aus den absterbenden Blättern
vor ihrem Abfall zurückwandernden wichtigen Nährstoffe zum Auf-
bau der Blätter des neuen Schubs alsbald Verwendung finden. —
Im einzelnen kann der periodische Laubfall während der Entfaltung
der neuen Blätter stattfinden, der häufige Treiblaubfall der immer-
grünen Pflanzen, oder kurz vor dem erneuten Treiben. Es finden
sich auch alle Übergänge zwischen solchen Bäumen, welche perio-
disch den einen Schub des diskontinuierlich getriebenen Laubes
abwerfen, zu solchen, welche eine Generalreinigung (V olkens) einer
/Zweiggruppe vornehmen, zu solchen, welche überhaupt alle Blätter
abwerfen und dann für kurze Zeit kahl stehen können. Hierdurch
hat wiederum die Pflanze Gelegenheit, sich in einem gewissen Spiel-
raum klimatische Schwankungen nutzbar zu machen, etwa in Zeiten
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 351
stärkerer Trockenheit oder Nahrungsmangels sich früher als not-
wendig der älteren Blätter zu entledigen oder bei im allgemeinen
kurze Zeit kahl stehenden Bäumen diese Ruheperiode zu ver-
längern. — Unter diesen und den oben erwähnten Gesichtspunkten,
die den Ökologismus des tropischen Blattwechsels aufklären, dürfte
aber auch wiederum die kausal-mechanische Seite des Problems in
Angriff zu nehmen sein. — Da auch die Blätter vieler tropischer
Bäume ein für die einzelne Art verschiedenes Alter nicht über-
dauern, ändert sich offenbar mit dem Alter aus inneren, bisher
nicht näher analysierbaren Korrelationen ihr physiologischer Zustand,
oder, wie es bei der Darstellung der periodischen Erscheinungen
der Eichen und Buche genannt wurde, ihre Disposition zum Ab-
fallen. Der physiologische Zustand braucht naturgemäß nicht un-
abänderlich aus der Konstitution des Blattes allein zu folgen,
sondern kann wiederum korrelativ von der Stellung im Baum-
system abhängen, etwa so, dass von den Blättern jugendlicher
Pflanzen oder von Stocktrieben die zum Abfallen geeignete Re-
aktionsfähigkeit später erreicht wird. Das wäre dann damit zu ver-
gleichen, dass auch der Sonnenblattypus der Blätter, die Schramm
auf meine Veranlassung untersuchte und wie es von Nordhausen
bestätigt wurde, sich erst von einem bestimmten Alter der Bäume
an bildet, welche Korrelation an tropischen Laubblättern nach
meinen bisher nicht veröffentlichten Untersuchungen noch viel aus-
gesprochener auftritt. Von dem jeweiligen physiologischen Zustand
der Blätter wird es also neben der allgemeinen Reaktionsfähigkeit
der Art abhängen, wie stark die den Blattfall direkt auslösenden
Reize sein müssen. — Dingler gebührt das Verdienst, experimentell
bewiesen zu haben, dass das Alter der Blätter auch bei tropischen
Bäumen bei dem Zustandekommen des Laubfalls mitwirkt. Er ent-
laubte in Ceylon Ende Oktober Bäume, die normalerweise im Fe-
bruar oder März ihr Laub abwerfen. Sie wurden hierdurch noch
vor der Trockenzeit zur regenerativen Bildung neuen Laubes ange-
regt. Diese Blätter fielen dann ın der Trockenzeit nicht ab. —
Es wäre aber verfehlt, zu folgern, dass somit auch der zu Beginn
der Trockenzeit bei vielen Bäumen einsetzende Laubfall von äußeren
Einflüssen unabhängig ist; vielmehr zeigt der Versuch nur, wie
Klebs richtig sagt, dass die neugebildeten Blätter sich in einem
anderen Zustand befinden als die lange vorher gebildeten Blätter.
Damit ist aber noch nicht etwa der Beweis erbracht, dass „junge
Blätter mehr Trockenheit aushalten als die alten“, vielmehr nur, dass
ältere Blätter sich in einem physiologischen Zustand befinden, der sie
für die zur Blattablösung führenden Reize reaktionsfähiger macht. —
Bei den Eichen und Buche wechselt nun die Disposition zum Blatt-
fall von Individuum zu Individuum. Die Aufnahmefähigkeit der
Blätter für den klimatischen Reiz im Herbst kann genügend sein,
302 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
die Trennungsschicht in Wirksamkeit treten zu lassen, braucht es
aber nicht, und diese bleibt dann, wohl im Zusammenhang mit der
sonstigen winterlichen Periode relativer Ruhe, bis zum Frühjahr
unverändert. Dennoch überschreitet auch bei den Eichen und Buche
die Lebensdauer der Blätter nicht eine bestimmte Grenze. Die
Disposition zur Ausbildung der Trennungsschicht nımmt zu und ın
dem gleichmäßigen Klıma von Tjıbodas braucht es vielleicht schließ-
lich nur einer unmerklichen klimatischen Schwankung, die Blätter
zum Abfallen zu bringen. Dabei werden sich die durch die Stellung
des Zweigsystems bedingten geringen Verschiedenheiten der Dis-
position?) deutlicher geltend machen können und bewirken, dass
im Laufe weniger Jahre die gleichmäßige Periodizität der Zweige,
die bei uns durch die starke Reizwirkung ım Herbst reguliert wird,
verloren geht. Man kann dann in der Tat sagen, die Periodizität
seı vom Stamm abgerückt und auf die Zweige übergegangen. Es
braucht nicht näher ausgeführt zu werden, wie ein entsprechendes
kausales Geschehen bei den tropischen Bäumen anzunehmen ist,
die eine zeitlich getrennte Periodizität in ihren einzelnen Zweigen
aufweist.
Bei den Eichen und Buche steht schließlich der Laubfall im
Frühjahr ın engster Beziehung zum Austreiben der Knospen und
auch bei den tropischen Bäumen existiert vielfach dieser hier öko-
logisch verständliche Zusammenhang. Dadurch kompliziert sich
aber die Frage nach der direkten Mitwirkung äußerer Einflüsse er-
heblich. Denn alle die Faktoren, die für die Neuentfaltung der
Triebe in Betracht kommen, können durch gleichzeitige korrelative
Wirkungen den Laubfall beeinflussen und umgekehrt. Es wird im
einzelnen oft sehr schwer zu entscheiden sein, welche von den
beiden in Wechselwirkung stehenden Vorgänge, Laubfall oder Treiben
ım kausalen Geschehen als das Primäre anzusehen sind, wenn sich
auch schon aus den von Klebs und Volkens beschriebenen Er-
scheinungen unschwer sowohl für das eine wie für das andere Bei-
spiele ableiten ließen. — Für Eiche und Buche dürfte wohl das
durch die klimatischen Bedingungen neu erweckte Treiben im Früh-
jahr als der primäre Vorgang angesehen werden. Dass aber auch
hier für den Reizerfolg der physiologische Zustand der Blätter ıhre
periodisch eintretende Reaktionsfähigkeit die notwendige Vor-
bedingung ist, folgt daraus, dass mit dem Johannistrieb ein Blatt-
fall nicht verknüpft ist. — Sehr lehrreich für das Verständnis des
Zustandekommens des Blattfalls ist auch das von Heer beschriebene
Verhalten der Buche in Madeira. Obgleich dort das Laub ohne
Frosteinwirkung im Herbst vergilbt, erreicht doch die Reizwirkung
8) Über solche Verschiedenheiten in der Periodizität im Zweigsystem bei
anderen einheimischen Bäumen vgl. auch Berthold, p. 250.
Maenus, Der physiolorische Atavismus unserer Eichen und Buche. 333
gnus, ph) g
bei der geringen Disposition der Blätter zum Abfallen ım Herbst
nicht die genügende Stärke und erst beim Austreiben der neuen
Blätter im Frühjahr wird die Trennungsschicht zur Wirksamkeit
angeregt.
Aus diesen Erörterungen dürfte ohne weiteres folgen, dass
zwischen dem kausalen Zustandekommen des periodischen Wachs-
tums der Eichen und Buche und der- tropischen Pflanzen engste
Beziehungen vorhanden sind. — Ganz allgemein gesagt, ist das dis-
kontinuierliche Wachstum der Bäume ım gleichförmigen Tropen-
klima und der vielfach mit ıhm verknüpfte Laubfall bedingt durch
die in ihrer Organisation begründete, eigentümliche Reaktionsfähig-
keit ihrer Organe auf äußere Reize°). Es resultiert auch hier aus
dem Zusammengreifen dieser „autogenen“ und der unmittelbar wir-
kenden „aitiogenen“ Vorgänge, wie Pfeffer sagt, das reale Ge-
schehen in der Natur. — Die autogenen Vorgänge, speziell der
periodische Wechsel der Reaktionsfähigkeit resp. des physiologischen
Zustandes der Organe lässt sich zum Teil durch Wechselwirkungen
(Korrelationen) zwischen ihnen, wie besonders Klebs gezeigt hat,
dem Verständnis näher bringen. Es liegt daher keine Veranlassung
vor, für das Zustandekommen dieser Periodizität einen merkwürdigen,
in der spezifischen Struktur des Plasmas etwa gelegenen Wechsel
zwischen Ruhe und Bewegung anzunehmen. Daher ist die Perio-
dizität auch durch äußere Einflüsse in gewissen Grenzen veränder-
lich und durch starke Störungen der inneren Beziehungen des
Baumorganismus sogar unter Umständen aufhebbar. Da diese inneren
Beziehungen aber einen wesentlichen Teil der Arteigentümlichkeit
des Baumes ausmachen, kann man auch sagen, es ist in der Organi-
sationseigentümlichkeit vieler tropiıscher Bäume begründet, ohne
äußere periodisch wirkende Einflüsse diskontinuierliche periodische
Wachstumserscheinungen zu zeigen. — Es gibt also in der Tat
bei den tropischen Bäumen ebenso wie zum Teil bei Eichen
und Buche eine von dem direkt wirkenden Wechsel
äußerer Einflüsse ganz unabhängige Periodizität, dieauch
nicht als Nachwirkung früherer periodisch wechselnder
äußerer Einflüsse aufgefasst werden kann. — Damit ist
natürlich nicht die Frage beantwortet, auf welche Weise ohne
periodisch wechselnde klimatische Einflüsse eine solche Periodizität
entwickelungsmechanisch zustande kommen kann. Die Erörterung
dieses Problems erscheint aber so untrennbar verknüpft mit dem
allgemeinen Problem der Pflanzenentwickelung, dass hier füglıch
9) So konnte auch Schröder an einem anderen Beispiel, bei einer auf meine
Veranlassung gemachten Untersuchung an den Hölzern einheimischer Pflanzen,
die in den Tropen gewachsen waren, zeigen, dass auch die Bildung der Jahresringe
in gleicher Weise sowohl von der Arteigentümlichkeit wie von den äußeren Reizen
abhängig ist.
354 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
darauf verzichtet werden kann!®). Klebs Untersuchungen haben
uns auch in dieser Hinsicht jedenfalls wertvolle Fingerzeige für
die „Relation zwischen Außenwelt und innerer Struktur“ geliefert. —
Da die periodischen Wachstumserscheinungen der tropischen
Pflanzen ebenso nützliche Ökologismen darstellen wie die perio-
dischen Erscheinungen der Pflanzen mit periodischem Klimawechsel,
können jene in gleicher Weise in einem periodischen Klıma öko-
logisch unpassend sein, wie diese in einem gleichförmigen Klima.
Das diskontinuierliche Wachstum ebenso wie der mit der Blatt-
erneuerung verknüpfte Laubfall für Eiche und Buche muss als eine
für unser Klıma ungeeignete periodische Wachstumserscheinung
angesehen werden, genau so wie die winterliche Ruheperiode der
Eichen und Buche in Madeira. —
Die merkwürdige Periodizität der Eichen und Buche dürfte
aber noch für die Lösung eines anderen Problems nicht unwichtig
sein, nämlich für die Frage nach der Entstehung dieser Periodizität
im Laufe der Phylogenese. Wie ist der ın der jetzigen Reaktions-
weise der Arten zum Ausdruck kommende Ökologismus entstanden?
oder wie es Detto nennt: wie haben wir uns die Ökogenese vor-
zustellen? Berthold hat dafür folgende Antwort gefunden: „So
haben wir Grund anzunehmen, dass auch die Periodizität der Ent-
wickelung ım Laufe des Jahres und die dieser entsprechenden
Örganısationsverhältnisse und ebenso auch die für den ganzen
Lebenslauf des Organismus geltende Periodizität sich herausgebildet
haben unter dem Einfluss von Nachwirkungen auf den Gang der
klimatischen Faktoren und der kausalen Existenzbedingungen, und
es würde also der ganzen Ausbildung derselben nach Organisation
und Ausstattung mit Reservesubstanzen in ganz bestimmter Weise
die Erlebnisse des Individuums und bei Samen auch die einer Reihe
von Generationen fixiert und gewissermaßen gespeichert sein. In
beiden würden wir sozusagen den Niederschlag all dieser Einwir-
kungen zu sehen haben.“ — Da nun die Erscheinungen der Perio-
dizität im wesentlichen zurückgeführt wurden auf die spezielle ın
der Arteigentümlichkeit begründeten Reaktionsfähigkeit der Organe
auf äußere Reize folgt, dass Berthold eine erbliche Änderung
dieser Reaktionsfähigkeit und zwar eine gerichtete Änderung infolge
äußerer Reize annimmt. Solange aber hierfür ein experimenteller
Nachweis nicht erbracht ist, haben wir um so weniger Ursache,
seine Richtigkeit anzunehmen, als ich!!) zeigen konnte, dass die
angeblichen Beweise einer solchen „Vererbung erworbener Eigen-
schaften“, die Engelmann und Gaidukov aus der Farbenverände-
rung der Oscillarien haben führen wollen, auf falschen Deutungen
10) Vgl. Klebs, Pfeffer, Driesch.
11) Magnus und Schindler.
Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche. 35
beruhen. Auch Klebs Untersuchungen über die Vererbung künst-
lich hervorgebrachter Blütenanomaliıen scheinen mir durchaus nicht
für eine Vererbung in bestimmter Richtung veränderter Reaktions-
fähigkeit zu sprechen. — Es gibt aber auch direkt Beispiele, in
denen Bäume während langer Zeit den Einflüssen des periodischen
Klımas ausgesetzt sind, und auf die sie mit periodischen Wachs-
tumserscheinungen reagieren, welche aber, sobald sie in das gleich-
mäßige Tropenklima versetzt sind, eine deutliche Periodizität nicht
mehr erkennen lassen, wie etwa der Pfirsich!?) oder wie es von
Klebs an zahlreichen Stauden experimentell nachgewiesen wurde.
— Um so merkwürdiger ıst, dass dennoch Klebs mehr oder weniger
die Anschauung Berthold’s teilt.
Eichen und Buche zeigen nun aber, dass die Erwerbung einer
gesicherten zweckentsprechenden Periodizität, wenn eine geeignete
Reaktionsfähigkeit auf die Reize der wechselnden klimatischen Ver-
hältnisse nicht vorhanden ist, auch in einem sehr langen Zeitraum
nicht zu gelingen braucht und zeigen gleichzeitig, dass die völlige
Auslöschung unzweckmäßiger Periodizitäten, die in der Arteigen-
tümlichkeit begründet sind, nicht weniger schwer fällt. — Vielmehr
deutet das ganze morphologische Verhalten dieser Bäume darauf
hin, dass sich unter unseren Augen in kleineren oder größeren un-
gerichteten sprungweisen Veränderungen der Reaktionsfähigkeit eine
Umwandlung der Art vollzieht. Nicht das periodische Klima ruft
durch eine direkte Einwirkung auf das Plasma eine spezielle Re-
aktıonsfähigkeit für diese Periodizität hervor, sondern diese muss
erst, wie irgendeine andere morphologische oder physiologische
Eigenschaft der Art erworben werden. Dabei ist es dann wohl
möglich, dass, wie Haberlandt meint, diejenigen Pflanzen am ge-
eignetsten sind, die im periodischen Klima notwendige Periodizität
zu erwerben, die bereits in den Tropen eine, wie wır sahen, gleich-
falls zweckentsprechende, aber dort vom direkten periodischen Klima-
wechsel unabhängige Periodizität besaßen.
Botanisches Institut der Landwirtschaftlichen Hochschule Berlin.
Literatur.
Berthold, G. Untersuchungen zur Physiologie der pflanzlichen Organisation. II.
Leipzig 1904.
12) Bordage hat das Verhalten von aus Frankreich nach R&union einge-
führter Pfirsichpflanzen näher untersucht. Er stellte entsprechend früheren Beob-
achtungen fest, dass der periodische Gesamtblattfall ziemlich bald verloren geht. —
Irrtümlicherweise sieht er dies als einen Beweis für die Vererbung erworbener
Eigenschaften an. Seine Beobachtungen zeigen aber nur, dass der durch äußere
Einflüsse hervorgerufene Jahresrhythmus sehr rasch ausklingt. Angaben über die
Lebensdauer der Blätter fehlen. Das wichtigere Verhalten tropischer Sämlinge aus
den in Reunion und in Frankreich geernteten Samen wird nur ganz kurz ange-
deutet. Etwaige Unterschiede lassen aber auch hier eine ganz andere Deutung als
die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ zu.
356 Magnus, Der physiologische Atavismus unserer Eichen und Buche.
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Fr. et de la Belg., 7 ser., T. 24, 1911.
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Zur chemischen Organisation der Zelle.
Von W. Ruhland.
Vor kurzem habe ich den Nachweis geführt!), dass die Durch-
lässıgkeit der lebenden Plasmahaut, gemäß ıhrer Gelnatur, für Kol-
loide durch die Teilchengröße der Sole (Dispersitätsgrad, spezi-
fische Oberfläche) bestimmt wird. Diese Rolle des physikalischen
Spannungshäutchens des Protoplasten entsprach also genau der
eines Ultrafilters, von welchem die Teilchen der Sole je
nach der „Konzentration“, also Porenweite des Filtergels, durch-
gelassen oder zurückgehalten werden. Diese einfachen physikalischen
Beziehungen traten rein, vor allem von Adsorptionserscheinungen
ungestört, zutage, wenn die Sole in genügendem Überschuss ver-
wendet wurden.
Ich hatte in jener Arbeit als Sole wegen ihres leichten Nach-
weises ın der Zelle die wässerigen „Lösungen“ einer großen An-
zahl von Anilinfarbstoffen verwendet, bei denen die Dispersität den
gesamten weiten Bezirk zwischen groben Suspensoiden bis nahe zu
iondispersen Lösungen umfasst. Da ferner zu diesen Verbindungen,
je nachdem der Farbstoff das Kation oder Anıon bildet, sowohl
positiv wie negativ geladene Kolloide gehören, erschien es mir zur
Begründung der entwickelten Auffassung nicht nötig, noch andere
Kolloide in meine Veröffentlichung einzubeziehen, um so weniger,
als mir bereits einige Versuche mit nichtpermeierenden zelleigenen
Kolloiden, wie Gerbstoffen, Saponinen, Anthocyanverbindungen,
Inulin u. s. w., wie nicht anders zu erwarten war, die Gültigkeit
der gefundenen Gesetzmäßigkeiten auch für diese dargetan hatten.
Wenn nun auch demnach diese zelleigenen Kolloide für das
kapillarchemische Verständnis der Plasmahaut kaum wesentlich
Neues bieten dürften, so wird doch für die Beurteilung ihrer Lei-
tung, Speicherung, event. ihres ganzen physiologischen Verhaltens
das genauere Studium ihrer Diffusibilität in Gelen erhebliche Be-
deutung haben. Es ist indessen nicht meine Absicht, im folgenden
Näheres in dieser Richtung mitzuteilen.
Vielmehr wandte sich mein Interesse nach Aufdeckung der
Ultrafilternatur der lebenden Plasmagrenzhäute an Pflanzenzellen
vor allem dem Verhalten der Enzyme zu, da dieses weit mehr
1) „Studien über die Aufnahme von Kolloiden durch die pflanzliche Plasma-
haut“ (Jahrb. f. wiss. Botan. 51. 1912, S. 376).
338 Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle.
als die spezielle Kapillarchemie der übrigen zelleigenen Kolloide
von zellphysiologischer Bedeutung sein musste.
Die besondere Schwierigkeit, welche das chemische Getriebe
der Zelle auch nach Auffindung der zahlreichen Enzyme dem phy-
siologischen Verständnis von jeher bot, lag vor allem in der ver-
wirrenden Mannigfaltigkeit, dem lokalen und zeitlichen und doch
anscheinend ungestörten Nebeneinanderlaufen der verschiedenen,
ohne Zweifel z. T. antagonistischen Einzelreaktionen.
(Gerade dieses Problem hat bekanntlich Hofmeister?) vor
einigen Jahren zum Gegenstand einer anziehenden Darstellung ge-
ma a und ist hierbei auf Grund unserer bisherigen Kenntnisse
und aus vorwiegend theoretischen Erwägungen heraus zu Vor-
stellungen gelangt, die seither in vielen die Enzymwirkungen zu-
sammenfassend betrachtenden Arbeiten Beifall — von manchen
Autoren allerdings nicht uneingeschränkten — gefunden haben’).
Demzufolge dürfte es sich wohl empfehlen, ın den nachfolgenden
Zeilen, die in aller Kürze die gleiche Frage behandeln sollen, an
die Hofmeister’sche Darstellung anzuknüpfen, wozu sie auch durch
ihre Prägnanz besonders geeignet erscheint.
Wenn wir von demjenigen uns hier weniger interessierenden
Teil der Ausführungen Hofmeister’s absehen, welche die kata-
lytische Natur der Enzymreaktionen ın ihrer physiologischen Be-
deutung behandeln, so können wir zwei Hauptpunkte in jener Dar-
Selling hervorheben: Beide betreffen die Kolloidnatur der Enzyme,
und zwar wird ihre Bedeutung einmal darin gefunden, dass die
letzteren als die chemischen Mittel der Zelle durch sie vor einer
Ausschwemmung durch den die Zelle stetig durchsetzenden Diffusions-
strom sichergestellt werden. Ferner ist aber auch die aus allge-
mein chemischen Gründen zu fordernde speziellere Lokalisierung
der einzelnen Enzyme innerhalb des Protoplasten nach Hofmeister
aus ihrer Kolloidnatur in Verbindung mit der besonderen Struktur
des Protoplasmas zu folgern.
Beide Hauptpunkte haben also, wie man sieht, im Grunde das
Problem der diosmotischen Eigenschaften des Plasmas für Enzyme
zum Gegenstande, dessen Wichtigkeit in der Tat nicht überzeugender
dargetan werden kann, als es von Hofmeister an jener Stelle
geschieht. Wir werden im folgenden öfter Gelegenheit nehmen,
auf seine Ausführungen ım einzelnen einzugehen. Zunächst aber,
und namentlich um unsere eigenen Anschauungen zu begründen, ist
es geboten, das genannte Grundproblem etwas näher zu erörtern.
2) „Die chemische Organisation der Zelle‘ (Naturwiss. Rundschau, 1901).
3) Vgl. zu dieser Frage u. a. Czapek, „Biochemie der Pflanzen“, Bd. I,
S. 35; Jost, Vorlesungen über Pflanzenphysiologie, 2. Aufl., S. 13; M. Jacoby,
> Stoffwechsel: der Zelle“ (Oppenheimer’s Handb. d. Biochem. II [1908], 11);
Höber, „Physikalische Chemie der Zelle und Gewebe‘, 3. Aufl., S. 619).
Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle. 399
Was zunächst überhaupt die Kolloidnatur der Enzyme anbe-
langt, so wird sie wohl meist als feststehend angenommen. Oppen-
heimer*) sieht darin sogar das Einzige, was über die Natur der
meisten Fermente mit Sicherheit ausgesagt werden kann. In der
Tat dürfte das für alle zweifellos als solche charakterisierten En-
zyme Geltung haben. Auf die Tatsachen, welche im einzelnen
dafür sprechen und ın Anspruch genommen worden sind, alle ein-
zugehen, würde hier zu weit führen. Es muss deshalb auf die
bekannten Sammelwerke verwiesen werden. Freilich bleibt eine
kritische Durcharbeitung dieses schwierigen Kapitels wohl immer
noch zu wünschen.
Etwaige Zweifel an der Kolloidität der Enzyme knüpfen sich
wohl an die Tatsache der immer noch mangelnden „Reindarstellung“
derselben. Aber gerade diese Tatsache, d. h. die Unmöglichkeit
auf Grund von wiederholten Fällungen mit Alkohol u. s. w., und
vor allem von Dialysen zu echt gelösten Enzymen zu gelangen, ist
neben deren Adsorptions- und Diffusionserscheinungen?’) wohl das
stärkste Argument für die Kolloidnatur.
Die diosmotischen Eigenschaften der Oberflächenspannungs-
häutchen (Vakuolenhaut en äußere Plasmamembran) der pflanz-
lichen Protoplasten für Kolloide lassen sich, wie ich in meiner oben
zitierten Arbeit gezeigt habe, aus Versuchen über deren Diffusibilität
in erstarrten, mindestens etwa 10°/,igen Gelatinegelen®) erschließen.
Ich brachte zu diesem Zweck in derselben Weise wie bei den ana-
logen Versuchen mit Farbstoffen mit einer 2 mm im Durchmesser
betragenden Platinöse Tropfen der „gesättigten“ Enzymlösungen
auf die Gelatineoberfläche und stellte die Ausbreitung nach 2 Tagen
fest. Untersucht wurden nur einige wenige Enzyme, welche meist
durch zweimalige Alkoholfällung aus den Pressäften gewonnen waren.
Sehr bequem in der Ausführung sind z. B. Versuche mit
Diastase, wie sie übrigens in ähnlicher Weise, natürlich zu anderen
Zwecken, schon öfter, und zwar zuerst wohl von Brown und Morris’)
ausgeführt worden sind. Untersucht wurden die Sekretionsdiastase
des Gerstenmalzes und die Translokationsdiastase aus Erbsen-
pflanzen, die bekanntlich besonders reichlich in diesen enthalten ist.
Da Translokationsdiastase auf gewöhnliche Stärke, besonders intakte
Stärkekörner, nur langsam einwirkt, wurde der schwach sauren,
4) „Die Fermente und ihre Wirkungen“, 3. Aufl. (1910), Bd. I. S. 28.
5) Auf die ausgedehnte neuere Literatur darüber kann hier nicht eingegangen
werden. Man vergleiche z. B. Höber, a. a. O., S. 284ff., 317, 384 u. s. w.
6) Über die Bedeutung der kapillaren Ausbreitungserscheinungen von Kolloiden
in Fließpapier für deren Durchtrittsfähigkeit vergleiche meine oben zitierte Arbeit
S. 395ff. Die Gelatine, deren Sorten etwas verschiedene Durchlässigkeit haben,
darf natürlich nicht lange und hoch erhitzt werden.
7) „Contributions to the chemistry and physiology of foliage leaves“ (Journ,
Chem. Soc. 63, 1893).
340 Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle.
15°/,igen, mit Thymol steril gehaltenen Gelatine eine wenig „lös-
liche Stärke“ von Merck vor dem Erstarren beigemischt und die
Ausbreitung darauf durch Übergießen der Platte mit Jodjodkalium-
lösung gestellt, Da die in sekeninn 2t und 48 Stunden
betrugen, spielte die verschiedene Wirkungsgeschwindigkeit keine
Rolle mehr. Nach 48 Stunden fand keine wesentliche Ausbreitung
mehr statt.
Das Resultat war, dass beide Diastasen eine ungefähr gleiche,
und zwar erhebliche Ausbreitung zeigten. Die Diffusionshöfe be-
trugen bei wirksamen Präparaten nach Ablauf von 48 Stunden
etwa 1,5—2,5 cm ım Durchmesser).
In ähnlicher Weise wurde eine aus Zuckerrübenblättern er-
haltene kräftige Invertase°) untersucht. Nachdem sich die Aus-
breitung der durch Zusatz eimes im Gel nicht diffusiblen Farb-
stoffes (Chicagoblau B) nach dem ursprünglichen Umriss markierten
Tropfen während 48 Stunden vollzogen hatte, wurden schmale
Ringzonen vom Radius 1,0—1,5 cm aus der Gelatine ausgestanzt,
in gelinder Wärme gelöst und zu einer mit Toluol versetzten Rohr-
zuckerlösung zugefügt. Die Wirksamkeit des Enzyms konnte leicht
mit dem Halbschattenapparat polarıskopissh festgestellt werden.
Als Beispiel für ein glykosidspaltendes Enzym wurde die von
Marshall Ward und Dunlop!°®) studierte Rhamnase gewählt.
Kleine Mengen der feucht zerriebenen Raphe des Samen von Rhamnus
infeetoria (der sogen. persischen Beere) wurden auf die thymol-
haltige Gelatineoberfläche gebracht und nach 2 Tagen Ausstanzungen
in 0,5 cm Entfernung rings um die Samenteilchen vorgenommen.
Wenn diese Gelatinestückchen vorsichtig geschmolzen und ın Aus-
züge aus dem Perikarp der Früchte derselben Pflanze, die bekannt-
lich keine Rhamnase, sondern das Xanthorhamnin enthalten, ein-
getragen wurden, so erfolgte nach kurzer Frist das Ausfallen des
charakteristischen goldgelben Niederschlages der färbenden Substanz.
Um in derselben oda: auch ein oxydasisches Enzym zu
untersuchen, wurde Pressaft aus Grasblättern auf mit einer Thymol-
gelatine age nan Objektträgern tropfenweise aufgetragen. Nach-
dem die Obi r 2 Tage ın einer sauerstoffreien Atmosphäre
verweilt hatte, wurden sie in eine frisch bereitete Guajaklösung
eingetragen. Nach genügender Einwirkung und Verdunstung des
Alkohols wurde auf die Gelatine schwache Wasserstoffsuperoxyd-
8) Die Durchmesser hängen natürlich auch von der Stärkekonzentration ab,
da von den geringen Enzymmengen in den äußeren Diffusionszonen schließlich nicht
mehr alle Stärke verzuckert werden kann.
9, Vgl. W. Ruhland, ‚Untersuchungen über den Kohlenhydratstoffwechsel
von Beta vulgaris“ (Jahrb. f. wiss. Bot. 50 [1911], 200).
10) „On some points in the histology of the fruits and seeds of Rhamnus“
(Ann. of Botan. 1, 1887, 1).
Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle. 344
lösung aufgetragen, welche nun an der Bläuung eine entsprechende
Ausbreitung der Oxydase erkennen ließ'!).
Alle diese Versuche lassen also übereinstimmend eine überaus
leichte Diffusibilität der Enzyme in Gelen erkennen, welche an die
der leicht beweglichen Anilinfarbstoffe erinnert und zeigen, dass
die Dispersität oder „spezifische Oberfläche“ derselben eine sehr
hohe sein muss. Ebenso folgt aus diesen Resultaten nach Analogie
der Farbstoffe und anderen Kolloiden unzweifelhaft, dass alle diese
Enzyme leicht durch die lebende Plasmahaut hindurch-
treten müssen.
Wir können uns also nıcht mit Hofmeister zu der Annahme
verstehen, dass schon der Kolloidcharakter die Enzyme vor einer
„Ausschwemmung“ aus der Zelle sichert. Vielmehr reiht sie ıhr
Verhalten in Gelen unter diejenigen Kolloide, welche weitaus leichter
als die meisten iondispersen Stoffe zu permeieren vermögen.
Wie stimmen nun unsere sonstigen physiologischen Erfahrungen
zu diesen Resultaten? Bezüglich der sekretorischen oder sogen. „Ekto-
enzyme“, wie es die Malzdiastase u. a. ıst, kann ja kein Zweifel
herrschen, dass sıe bei der Sekretion durch die Plasmahaut der aus-
scheidenden lebenden Zellen nach außen hindurchtreten. Solche Fälle
sind nun aber relativ selten, die weitaus größere Mehrzahl der En-
zyme wird von der lebenden Zelle festgehalten und tritt, so lange
diese unbeschädigt ist, nicht einmal in Spuren in umspülende Außen-
flüssigkeiten über.
Selbstverständlich folgt daraus durchaus nicht, wie man
wohl vielfach geschlossen hat, dass derartige Enzyme die Plasma-
haut nicht zu permeieren vermögen. Endosmotische Versuche in
dieser Hinsicht, also ob bei Darbietung von Enzymen ın Außen-
lösungen ihr Eintritt ın die Zelle an chemischen Wirkungen da-
selbst erkannt werden kann, sind schon öfter angestellt worden,
soweit mir bekannt, wohl immer mit negativem Ergebnis. Ja,
sogar mit toten Zellen sind solche Versuche meist erfolglos ge-
blieben. Schon Brown und Morris!?) glaubten, als sıe feststellten,
dass bei der Keimung der Getreidesamen zunächst die Wände der
toten Endospermzellen gelöst werden, dass dies wegen der geringen
Diffusibilität der von Sceutellum sezernierten Diastase erfolge; und
Krabbe!) gelang es in der Tat selbst bei wochenlang dauernden
sorgfältigen Versuchen niemals, eine Korrosion von Stärkekörnern
innerhalb unverletzter, in Diastaselösungen befindlicher toter Zellen
aufzufinden. Auch mir ist dies im allgemeinen nicht gelungen.
11) Ein analoger Versuch bei Grüß: „Über Oxydasen und die Guajakreaktion“
(Ber. Deutsch. Botan. Gesellsch. XVI, 1898, 139).
12) „Researches on the germination of some of the Gramineae“ (Journ. Chem.
Soc. 57, 1890).
13) „Untersuchungen über das Diastaseferment“ (Jahrb. f. wiss. Botan., 21.
(1890), 8. 520.
XXXIIL, 23
34° Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle.
De
Andrerseits war Krabbe aber in der Lage, die vielfach mit
Pergamentpapier, Kollodiumsäckchen, künstlichen Lipoidhäutchen '*)
u. Ss. w. festgestellte Dialysierbarkeit der Diastase durch eigene Ver-
suche mit Holzmembranen zu bestätigen. Beı allen diesen Ver-
suchen kommt freilich dıe anfangs verhältnismäßig schnelle Dialyse
bald zum Stillstand. Die Ursache davon tritt bei Fällungsversuchen
mit Suspensionen oder namentlich bei Filtrierversuchen mit Ton- ete.
-kerzen!®) klar zutage: sie liegt offenbar in Adsorptionsvorgängen
und der allmählichen Verstopfung der Filterporen, augenscheinlich
durch die von den Enzymen praktisch nicht trennbaren weniger
dispersen proteoiden Begleitstoffe.
Während dementsprechend Krabbe, welcher mit rohen Gersten-
malzauszügen arbeitete, zu ganz negativen Ergebnissen kam, gibt
z.B. Grüß!”) an, dass er mit Hilfe eines gut gereinigten und kräftig
wirksamen Diastasepräparates schließlich deutliche Korrosionen an
Stärkekörnern innerhalb intakter toter Zellen erhalten habe. Frei-
lich beobachtete er dies auch erst nach mehrwöchentlicher Ver-
suchsdauer, und nachdem wohl auch die Membran fermentative
Veränderungen erlitten hatte.
Bei diesen Versuchen dringt nun offenbar, genau wie bei den
Dialyseversuchen mit den verschiedenen Membranen, anfänglich
ziemlich rasch, bald aber nur noch wenig oder gar keine
Diastase mehr ein. Die sehr geringe Diastasemenge, die auf solche
Weise überhaupt in das Zellinnere gelangt, genügt offenbar meist
nicht, um deutliche Korrosionen hervorzurufen. Nur ein einschlägiger
Versuch von vielen sei hierzu kurz erwähnt. Eine von mir frisch
dargestellte Malzdiastase hatte bereits nach 24 Stunden bei +8°C.
freiliegende Kartoffelstärke korrodiert, vermochte indessen selbst
bei dreiwöchentlicher Versuchsdauer keine erkennbare Wirkung an
Schnitten durch die Kartoffelknolle, d.h. auf Stärkekörner auszu-
üben, die in sonst intakten, aber mit Chloroform getöteten Zellen
eingeschlossen waren. Lässt man die Schnitte dagegen vor dem Ver-
such kurz in Wasser von etwa 70— 80°C. verweilen, so dass die Stärke
mehr oder weniger verkleistert wird, so kann man schon nach
24 Stunden, und auch mit rohen Gerstenmalzauszügen, ein völliges
Verschwinden der Stärke aus vielen oder den meisten intakten
Zellen feststellen, da die Diastase auf Kleister bekanntlich viel
leichter wirkt, also sich auch eine sehr geringe eingedrungene En-
14) Swart, Biochem. Zeitschr. 6, 1907, 358.
15) Michaelis, Biochem. Zeitschr. 10, 1908, 283; ebenda 12, 1908, 26;
Dauwe, Hofmeister’s Beitr. 6 (1905), 426; Hedin, Zeitschr. physiol. Chem. 60,
1909, 364 u. 8. w.
16) Holderer, „Recherches sur la filtration des diastases“ (These, Paris 1911,
zit. nach Botan. Oentralbl.) u. a.
17) „Über das Verhalten des diastasischen Enzyms in der Keimpflanze‘“ (Jahrb.
f. wiss, Botan. Bd 26, 1894, 379).
‘
Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle. 345)
zymmenge an der Wirkung sogleich bemerkbar macht. Dass die
Ursache nicht in irgendwelcher Veränderung der Zellhäute liegt,
die bei ihrer Widerstandsfähigkeit und dem nur kurzen Verweilen
in höherer Temperatur ja auch sehr unwahrscheinlich wäre, zeigt
u. a. der Umstand, dass die hierbei zufällig nicht verkleisterten
Körner in der Diastase wochenlang intakt bleiben können.
Dass Diastase und die meisten anderen Enzyme tatsächlich
den toten Plasmaschlauch und die Zellhaut sehr leicht und schnell
durchdringen, zeigten eigene sowie zahlreiche Exosmoseversuche
verschiedener Autoren. Unter anderen hat noch jüngst Wohl-
lebe!?) nachgewiesen, dass nach dem Absterben von Wurzeln
sogleich Diastase nach außen tritt.
Aber gerade aufdie Erfahrungen mit endosm tischen Versuchen
ıst hinzuweisen, wenn man die Verhältnisse an lebenden Zellen be-
urteilen will. In der Tat werden wir nicht erwarten dürfen, durch
äußere Darbietung z. B. von Diastase Stärkeauflösung im Innern
lebender Zellen direkt herbeizuführen, da, wie wir oben sahen, ja
schon das beim Absterben koagulierte Plasma und die Zellhaut, zu
denen hier als störendes Adsorbens noch die viel engporigeren und
also leichter verstopfbaren Gele der lebenden Plasmahaut hinzu-
kommen würden, wochenlang jede sichtbare Wirkung auf intakte
Stärkekörner verhinderten. Auf andere naheliegende Schwierig-
keiten bei derartigen Versuchen (längere Versuchsdauer, Stärke-
umsatz, der schon an sich in der lebenden Zelle erfolgt, mittelbare
Wirkungen eindringender Enzyme auf das lebende Plasma und um-
gekehrt u. s. w.) sei nur kurz hingewiesen.
Es wäre deshalb verfehlt, eine Erhärtung der aus den Diffusions-
versuchen mit Gelen gefolgerten leichten Permeabilität der Plasma-
haut durch endosmotische Versuche mit Enzymen zu fordern. Eigene
langdauernde Versuche mit lebenden Schnitten in oft gewechselten
Diastaselösungen bei Temperaturen von + 5 bis 8°C. haben, wie zu
erwarten war, nie eindeutige, positive Resultate ergeben. Ebenso-
wenig gelang es mir jemals, z. B. durch Invertaselösungen !?) spezi-
fische Wirkungen (Druckänderungen) in lebenden Zellen der Beta-
Wurzel gegenüber Kontrollschnitten zu erzeugen.
Immerhin wäre es erwünscht, Tatsachen in dieser Richtung
anführen zu können In der Literatur finden sich gelegentlich be-
zügliche Hinweise. So gibt z. B. Tischler?°) an, dass er stärke-
haltige und keimungsunfähige Pollen von Cassia Fistula durch
18) Wohllebe, „Untersuchungen über die Ausscheidung von diastatischen
und proteolytischen Enzymen bei Samen und Wurzeln“ (Dissert., Leipzig 1911).
19) Auch Invertase tritt aus abgestorbenen Zellen meist sogleich nach außen.
Vgl. u. a. W. Ruhland, Jahrb. f. wiss. Bot., Bd. 50 (1911), 8. 253f.
20) „Untersuchungen über den Stärkegehalt des Pollens tropischer Gewächse“
(Jahrb. f. wiss. Bot. 47, 1910, 219).
23*
344 Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle.
Übertragen in diastasehaltiges Wasser zur Auflösung der Stärke
und zum Auskeimen gebracht habe. Wie aus dem ganzen Ge-
dankengange und mehreren Stellen bei Tischler auch noch aus-
drücklich hervorgeht, nımmt dieser Autor hier eine unmittelbare
lösende Wirkung der eingedrungenen Diastase an?!).
Nach unseren Erfahrungen vermögen wir ihm, obwohl wir seine
Objekte nıcht unter den Händen gehabt haben, hierin nicht beizu-
stimmen. Die erwähnte Wirkung vollzog sich nach Tischler in
kürzester Frist. Schon nach wenigen Stunden war die Stärke meist
ganz oder zum Teil aufgelöst und die Körner sogar schon in Kei-
mung begriffen. Die angewendete Diastaselösung war eine sehr
schwache. Man vergleiche damit, was oben über die Dauer solcher
Versuche selbst mit toten stärkehaltigen Zellen gesagt wurde. Auch
Pollenkörner verhalten sich nicht anders. Ich habe verschiedene
unreife stärkehaltige Pollen, deren Zellhaut für das Enzym also
noch leichter permeabel war, in Chloroform getötet und in starke
Diastaselösungen gebracht. Es dauerte 4—5 Wochen, bis hier und
da ım günstigen Falle einmal gewisse Anzeichen einer Diastase-
wirkung sich erkennen ließen. Mit lebenden Pollenkörnern habe
ich nie den geringsten Erfolg gehabt.
Dennoch ist natürlich an der von Tischler beobachteten Wir-
kung des Diastasepräparates auf die Keimung der Pollenkörner
nicht zu zweifeln, und auch v. Faber berichtet?) von einem völlig
entsprechenden Versuch an Pollenkörnern von Psychotria bacterio-
phila. Es muss somit von dem zugesetzten Präparat natürlich auch
etwas ın das Plasma des Pollens eingedrungen sein, und zwar mit
großer Geschwindigkeit, wenn man bedenkt, dass sogar die Keimung
schon in der genannten Frist erfolgt war. Wir dürften also diesen
interessanten Tıschler’schen Versuch als Beweis für die aus unseren
Geldiffusionsversuchen gefolgerte leichte Durchtrittsfähigkeit durch
die Plasmahaut ins Treffen führen, wenn es sicher wäre, dass
tatsächlich eigentliches Enzym aus dem zugesetzten Präparat die
angeführte Wirkung ausübte. Es ist aber natürlich auch mög-
21) Ein sicher bezeugter Fall einer von außen bewirkten Sekretion eines Enzyms
in das Innere einer lebenden Zelle hinein ist mir vom normalen pflanzlichen Stoff-
wechsel nicht bekannt. Spatzier (‚Über Auftreten und die physiologische Bedeutung
des Myrosins in der Pflanze,“ Jahrb. f. wiss. Bot. 25, 1893, S. 39) gibt an, dass
ihm an keimenden Senfsamen ein schwacher Senfölgeruch aufgefallen sei. Da hier
bekanntlich Glykosid und Myrosin in gesonderten lebenden Zellen enthalten sind,
könnte eine solche Sekretion vermutet werden. Mir ist dieser Geruch nur bei Sinapis
alba aufgefallen; hier kommen aber Myrosinzellen in der Testa vor, die z. B. bei
Brassica nigra fehlen. Es handelt sich also offenbar beim weißen Senf um Reaktionen
in der toten, beim Keimen mit Wasser durchtränkten Testa. — Inwieweit durch
Parasiten solche Sekretionen hervorgerufen werden, soll hier nicht weiter erörtert
werden.
22) Jahrb. f. wiss. Botan. Bd. 51, 1912, S. 311 Anm.
Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle. 345
lich, dass andere, vielleicht nur in Spuren anwesende Bestandteile
desselben im Spiele sind bei dieser Reizwirkung. Diese mag dann
möglicherweise wesentlich in einer Anregung de Plasmas zu ver-
Behrier Diastasebildung bestehen, elle he vielleicht deshalb
keimungsunfähig gewordenen Pollenkörner eingebüßt hatten.
Eine ähnliche, zwar nicht auf die Keimung der Pollenkörner,
sondern auf die Richtung der Pollenschläuche bezügliche, und zwar
positiv chemotropische Wirkung von Diastasepräparaten hat be-
kanntlich Lidfors??) beschrieben, aus denen ebenfalls eine Be-
stätigung unserer aus den Geldiffusionsversuchen gezogenen Schlüsse
zu entnehmen wäre. Lidfors hat mit dialysierter Diastase
gearbeitet, und auch Präparate aus den Pressäften verschiedener
Pflanzen (Gerstenmalz, Pisum, Lathyrus) verwendet, wobei eine
je nach deren Diastasegehalt verschieden starke chemotropische
Wirkung von ihm beobachtet wurde. Ich selber fand auch In-
vertase wirksam. Ein durch zweifache Alkoholfällung aus Press-
saft von Beta vulgaris gewonnenes und 6 Wochen lang unter
Thymolzusatz durch Dialyse gegen fast täglich gewechseltes de-
stilliertes Wasser gereinigtes Präparat gab folgende Resultate mit
Pollen von Primula sinensis auf Agar: War Material der Wurzel
verarbeitet worden, so war kaum eine deutliche chemotropische
Wirkung zu erkennen, dagegen erwies sich Blattmateriıal
als überaus wirksam. Ersteres enthielt kein Invertase und nur
schwer nachweisbare Diastasemengen, letzteres war an beiden En-
zymen, namentlich auch an Invertase reich°*). Allerdings ıst auch
hierin noch kein ganzbindender Beweis im obigen Sinne zu er-
blicken.
Sehr bemerkenswert ist schließlich noch, dass neuerdings Leh-
mann und Ottenwälder°**) übereinstimmend mit den älteren
Angaben von Crocker, Waugh, Kinzelu. a. das Eindringen pro-
teolytischer Enzyme in keimende Samen von außen her dartun konnten.
Das Vermögen der uns hier interessierenden Enzyme, sehr ge-
schwind durch die lebende Plasmahaut zu permeieren, kann
jedenfalls nicht ernstlich angezweifelt werden. Für die
Sekretionsdiastase. des Malzes ist das selbstverständlich. Diese hat
aber keine andere Geldiffusion als die Translokationsdiastase der
Erbse, die Invertase u. s. w. Die Geldiffusion aller ist sehr erheb-
lich und so groß wie die leicht permeierender Anilinfarbstoffe.
Ein Bedenken dagegen, die auf Grund von Versuchen mit Farb-
stoffen gewonnenen Erfahrungen über die Kolloidpermeabilität der
23) Vgl. namentlich Zeitschr. f. Bot., 1, 1909. Über das Eindringen solcher
chemotropisch wirksamen Stoffe vergl. W. Rothert, „Beobachtungen und Betrach-
tungen über taktische Reizerscheinungen“ (Flora 88, 1901, S. 370, bes. S. 410 ff.).
24) Ruhland, Jahrb. f. wiss. Bot. 50 (1911), S. 200.
24a) Zeitschr. für Botanik 5 (1913), 346.
‘
346 Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle.
Plasmahaut auch auf andere Kolloide anzuwenden, kann wohl auch
nicht bestehen. Denn die von mir geprüften, sehr zahlreichen
Farbverbindungen waren von der verschiedensten chemischen Be-
schaffenheit, zeigten die verschiedensten Abstufungen des Kolloid-
charakters, umfassten sowohl anodisch wie kathodisch wandernde
Verbindungen, und solche, die dem Typus der hydrophilen wie dem
der suspensoiden Kolloide entsprachen. Für alle diese Kategorien
erwiesen sich die bezüglich des Permeierens aufgefundenen Gesetz-
mäßigkeiten als durchgehend gültig. Dasselbe gilt, wie wir oben
sahen, für die bisher geprüften, nicht gefärbten, zelleigenen Kolloide.
Die Enzyme zeigen besonders leichte Geldiffusibilität; sie sind wohl
den Hydrophilkolloiden zuzuzählen. Elektrische Überführungs-
versuche an ihren „Lösungen“ ?®’) oder Bestimmungen des ıisoelek-
trischen Punktes?*), ferner Adsorptionsstudien haben ergeben, dass
auch bei ıhnen bald ein saures, bald ein basısches Verhalten vor-
herrscht.
Ist es nun schon unzulässig, wie Hofmeister wollte, aus dem
bloßen Kolloidcharakter der Enzyme ein Gebundensein an die Mutter-
zelle zu folgern, so müssen wir nach den hier mitgeteilten Er-
fahrungen ın den Enzymen sogar solche Kolloide erblicken, die auf
das leichteste die Plasmahaut zu permeieren vermögen. Wir sehen
jedoch, dass die lebende unversehrte Zelle, ihre Enzyme, von den
sekretorischen abgesehen — durchaus festhält und nicht in den
geringsten Spuren an umspülende Lösungen nach außen abgıbt?”),
eine Tatsache, die somit einer ganz anderen Erklärung als
der auf den kolloiden Charakter der Enzyme und die Permea-
bilität der Plasmahaut bezüglichen bedarf.
In die Erörterung dieses wichtigen Punktes wollen wır gleich
die sich an den zweiten Hauptpunkt der Hofmeister’schen Aus-
führungen über die chemische Organisation der Zelle anknüpfenden
Fragen einbeziehen.
Hofmeister fordert, wie wir sahen, nicht nur ein Festhalten
der Enzyme durch die Zelle, sondern er legt mit Recht besonderen
Nachdruck darauf, dass auch deren Lokalisation im Plasma eine
ganz bestimmte sein müsse. Wir wollen ganz kurz die Gesichts-
punkte, die ıhn zu einer solchen Auffassung drängen, wiedergeben,
um uns gleichzeitig darüber klar zu werden, ob die Vorstellungen,
zu denen unser Autor im einzelnen gelangt, auch für uns jetzt noch
annehmbar sind.
25) V. Henri, Soc. de Biol. 1907, S. 296.
26) Michaelis, Biochem, Zeitschr. 16 (1909), 81 u. 486; 17 (1909), 231;
1971909) 71817281910),
27) Einzelne gegenteilige Angaben in der Literatur, auf die es nicht einzu-
gehen lohnt, sind unkritisch. Meine eigenen Versuche erstreckten sich namentlich
auf diastase- und invertasehaltige Pflanzen. Man erwäge auch die Verhältnisse in
Wasserbewohnern.
Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle. 347
Hofmeister betrachtet dıe Einrichtungen ım „Hausrat“ der
Zelle, „welche räumlich den ungestörten Verlauf der vitalen Re-
aktionen sichern“. Er fragt°®): „Ist die Zelle als Ganzes ein Gefäß,
erfüllt von einer homogenen Lösung, ın der sich sämtliche che-
mische Vorgänge abspielen, oder schließt sie eine Anzahl von ge-
trennten Gefäßen ein, bestimmt, den ungestörten Ablauf der ein-
zelnen Reaktionen nebeneinander zu sichern? Die Antwort darauf
muss für die leicht diffusiblen Stoffe, für Gase und Salze, viele
Nährstoffe und fast alle Abfallprodukte dahin lauten, dass sie überall
in der Zelle zusammentreffen und daher auch überall aufeinander
reagieren können. In Wirklichkeit stellt diese Art Vorgänge, z. B.
die Bindung von Kohlensäure durch Alkali, nur einen kleinen Teil
der vitalen Reaktionen dar. Die meisten in den Zellen sich ab-
spielenden sind an ein kolloides Substrat oder zum mindesten an
die Vermittelung eines kolloiden Reagens, eines Fermentes, geknüpft,
können daher in dem kolloiden Gefüge des Protoplasmas ganz gut
eine bestimmte Lokalisation haben. Von den intrazellulären Pro-
fermenten und Fermenten im besonderen ist zu erwarten, dass sie
mangels einer Diffusibilität dort, wo sıe ın der Zelle entstanden
sind, auch verbleiben, dort gewissermaßen festwurzeln und nur ın
Tätigkeit treten, wenn ihnen das adäquate Material zugeschwemmt
wird. Eine ‘solche Vorstellung setzt allerdings das Bestehen von
zahlreichen kolloiden Scheidewänden im Protoplasma voraus“ ...
Er weist dann vor allem darauf hin, dass ohne solche strengere
Lokalisierung der Fermente unverständlich bliebe, wie im Plasma
nebeneinander so verschiedene, zum Teil chemisch entgegengesetzt
verlaufende Prozesse, wie Hydrierung und Wasserentzug, Oxydations-
und Reduktionsvorgänge u. s. w. möglich seien, und ferner müsse
eine gesetzmäßige Reihenfolge der chemischen Reaktionen statt-
finden, damit im Abbau und Aufbau verschiedener Stoffe durch
viele Zwischenstufen wirklich ganz bestimmte Produkte entstehen.
Aus diesen Gründen sei ein einziger, gleichartiger Reaktionsraum,
eine „ubiquitäre Gleichwertigkeit des Protoplasmas“ a priori un-
möglich.
Dieser Begründung sowie der Vorstellung einer Lokalisation
der chemischen Mittel im Hausrat der Zelle wird man nur bei-
pflichten können und in der einschlägigen Literatur ist hiergegen
denn auch wohl nirgends Einspruch erhoben worden.
Anders steht es natürlich mit der Art, wie er diese Lokalı-
sation entstanden denkt, wobei er wieder von der irrigen Annahme
einer Unmöglichkeit der Diffusion eines Kolloides im anderen ausgeht.
In Wahrheit wird aber ein Kolloid, das schon imstande ist, die Plasma-
haut zu passieren, im Plasma selbst noch weit leichter
ZE)FA. 2.0.8. 613.
348 Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle.
beweglich sein. Denn in diesem ist molekular und kolloidal ge-
löstes Wasser reichlichst vorhanden, während ın der Plasmahaut
die Teilchen sehr dicht aneinander gerückt sein müssen, wie in den
wasserärmsten Gelen, so dass dort nur wenig Imbibitionswasser,
vielleicht gar nur Quellungswasser ım Sinne Nägeli's, d. h. nur
solches zu denken ist, das mehr oder weniger im Bereich der mole-
kularen Wirkungssphäre der einzelnen Bausteine der hautbildenden
Plasmateilchen festgelegt ist. Wie sehr aber dıe Kolloiddiffusion
ın wasserreichen Gelen ansteigt, haben die Ultrafilterversuche über-
einstimmend gezeigt. |
Trotzdem wollen wir noch einen Blick auf das konkrete Bild
der Plasmastruktur werfen, zu der Hofmeister gelangt. Man
kann, meint er, sich „die kolloiden Reagentien durch undurchlässige
Scheidewände getrennt denken. Bei der Vielseitigkeit der che-
mischen Vorgänge kommt man damit zur Forderung einer sehr
ausgiebigen Vakuolenbildung, event. über die Grenze des Sichtbaren
hinaus, und so kann man den Gründen, welche von hervorragender
morphologischer Seite für die Existenz einer Schaumstruktur bei-
gebracht worden sind, auch physiologisch-chemische Erwägungen
beigesellen. So begreift es sich, dass das Leben, wie wir es kennen,
stets an ein kolloides Substrat geknüpft ıst, denn nur ein solches
ermöglicht bei genügender Durchlässigkeit für Nichtkolloide einen
komplizierten Aufbau auf kleinstem Raum“.
Auf die Frage der Schaumstruktur des Plasmas können wir
hier nicht näher eingehen. Schon Pfeffer’) hat betont, dass unsere
Erfahrungen über die Eigenschaften und Tätigkeiten des Proto-
plasmas mit der Wabenstruktur zwar völlig verträglich sind, diese
aber durchaus nicht unbedingt erfordern. Die neueren ultramikro-
skopischen Untersuchungen haben aber ergeben, dass das Plasma
nur in wenigen abweichenden Fällen teilweise schaumig erscheint,
sonst aber den Charakter einer sehr feinen Emulsion oder mehr
den eines diffusen Gels besitzt, und Lepeschkin®") hat mit Recht
auf die Unverträglichkeit der Annahme einer allgemeinen Schaum-
struktur mit dem Aggregatzustand, den Bewegungserscheinungen
u. s. w. des lebenden Plasmas hingewiesen. Aber selbst wenn wir
die unzulässige Annahme einer Schaumstruktur gelten ließen, und
weiter, wofür keinerlei Tatsachen vorliegen, den einzelnen Waben-
räumen den Charakter kleinster Vakuolen°®!) und somit natürlich
29) Pflanzenphysiologie, 2. Aufl., Bd. II, S. 720, Anm. 1.
30) „Uber die Struktur des Protoplasmas‘ (Ber. Deutsche Bot. Gesellsch. 29
[1911], 181).
31) Ebensogut könnten aber die „Wabenräume‘“ von lebendiger Substanz er-
füllt sein und ihre Wandungen abweichende Beschaffenheit haben. Vgl. u. a.
Pfeffer a. a. O., Bd.1, S. 37. Die Annahme, dass die Enzyme nur in Vakuolen
vorhanden wären und wirkten, würde übrigens mit manchen Tatsachen in Wider-
Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle. 349
den Wabenwänden die der äußeren Plasmahaut analogen Eigen-
schaften von „Vakuolenhäuten“ zuerteilen würden, so wäre damit
‚angesichts der Permeabilität derselben für Enzyme nichts im Hof-
meister’schen Sinne gewonnen.
Ich vermag in Anbetracht dieser Schwierigkeiten und um allen
bisher beobachteten Tatsachen gerecht zu werden, zu keiner anderen
Vorstellung als der einer festen Verkettung der Enzyme mit den
Plasmateilchen zu gelangen und bin überzeugt, dass zu einer solchen
Vorstellung auch speziellere oder andere allgemein-physiologische
Erwägungen führen werden. Es ist z. B. bemerkenswert, dass
Lepeschkin°?), von anderen Überlegungen ausgehend, zur Annahme
einer Lokalisierung der chemischen Mittel der Zelle in bestimmten
disperse Teilchen des Plasmas gelangt, was der von mir ent-
wickelten Vorstellung im Grunde sehr nahe kommt.
Die Bindung der Enzyme an die Plasmateilchen dürfte wohl
als eine chemische anzusehen sein. Denken könnte man zunächst
freilich wohl auch an eine bloße Adsorption, sei es an der Ober-
flächeeiner der dispersen Phasen des Plasmas oder an dessen
Grenzflächen selbst. Dass z. B. die bei der Überführung elektro-
negative Invertase auch im adsorbierten Zustand wirksam ist, geht
aus Angaben von Michaelıs®?) hervor.
Die Annahme einer chemischen Verkettung mit den lebenden
Plasmateilchen, welche die Wirksamkeit der Enzyme nicht behindert,
wohl aber erlaubt, sie auf eine abgegrenzte Stelle des Plasmaleibes
einzuschränken bezw. sie dort jederzeit hinzuschaffen und ihr Wirken
regulatorisch unmittelbar zu beeinflussen, dürfte indessen weit
befriedigender sein, als wenn man in diesem ganzen, ungeheuer
komplizierten, durch so vielfache Auslösungen regulatorisch ver-
knüpften Reaktionsmechanismus des Plasmas den durch physikalische
Zufälligkeiten bedingten Adsorptionsbindungen unnötig einen so
tiefgreifenden Anteil zugestehen wollte. Auch die Möglichkeit der
Zelle, ein Enzym vorübergehend oder dauernd durch vielleicht nur
geringfügige Umlagerungen innerhalb der „Pangene“ außer Wirkung
zu setzen und abwechselnd neu zu bilden, wird man nurr durch
chemische Verkettung erklären können.
Ich vermeide hier aber alle molekularen Spekulationen und
mache nur noch auf zwei wichtige physiologische Gesichtspunkte
aufmerksam.
spruch stehen. Vgl. u.a. die Diastasen, welche die sicherlich im Plasma liegenden
Stärkekörner lösen, und meine Ausführungen über die Lokalisation der Invertase
bei Beta (a. a..0. 8. 252£.).
32) A.2.0. 8.189.
33) „Die Adsorptionsaffinitäten der Hefe-Invertase‘‘ (Biochem. Zeitschr. VII,
1908, 488).
990 Ruhland, Zur chemischen Organisation der Zelle.
Der eine ist energetischer Art. Der Biochemiker, der sich
gewöhnt hat, in den chemischen Lebenserscheinungen eine komplh-
zıerte Kette enzymatischer Prozesse zu sehen, und vor allem deren
Reaktionsprodukte zu betrachten, gelangt naturgemäß in Anlehnung
an seine extravitalen chemischen Erfahrungen vielfach zu gröber
mechanischen Vorstellungen, auch weil er oft nicht entsprechend
die Grundtatsache des Betriebsstoffwechsels, bei welchem es der
lebenden Substanz um Energiegewinn und Energietransformation
zu tun ist, einschätzt. Da aber solche Transformationen als Quelle
einer bestimmten vitälen Arbeitsleistung ohne zweckentsprechende
regulatorische Vorrichtungen, die nirgends anders als im Plasma
selbst liegen können, undenkbar sind, so ist, damit diese „Struktur“
des Plasmas im Wirksamkeit treten könne, der Physiologe längst
dazu gelangt, eine möglichstinnige Einbeziehung der reagieren-
den Stoffe m den molekularen Wirkungsbereich der
Plasmabausteine, eine wenigstens lockere Anlagerung an die
lebenden Teilchen zu fordern’!). Dass einem solchen not-
wendigen Gedankengange unsere Plasmaenzymbindung zu Hilfe
kommt und dass auf diese Weise auch wieder den von Hof-
meister entwickelten Prinzipien Rechnung getragen wird, dürfte
einleuchten, auch wenn man zunächst nur an die intermediären
Additionsprodukte zwischen Enzym und den Ausgangsstoffen bezw.
den Reaktionsprodukten denkt.
Der zweite hier hervorzuhebende Gesichtspunkt knüpft sich an
die Tatsache, dass manche Enzyme, wie man längst weiß, auf keine
Weise vom Plasma also auch nicht nach dem Töten und Zer-
reiben der Zellen zu trennen sind. Diese Enzyme, zu denen z. B. das
der Milchsäuregärung, die Alkoholoxydase, manche proteolytische En-
zyme (z. B. bei Pilzen) gehören, und deren Anwesenheit demgemäß
nicht an Auszügen, sondern nur an Versuchen mit dem Organ-
brei erkannt werden kann, sind als „intrazellulare“ bezeichnet
worden®’). Während sie aber bisher allen übrigen ziemlich schroff
gegenüberstanden, würden sie nunmehr nur noch graduell, durch
eine festere, auch noch postmortale Verkettung mit dem Plasma
abweichen. Hierhin dürften auch jene zahlreichen Fälle gehören,
in denen man°®) von einem „Fermentativ-Vermögen“ des Plasmas
34) Die Angaben von Boysen-Jensen (Biochem. Zeitschr. Bd. 40, 1912,
S. 420), der in vitro allein durch die gleichzeitige Anwesenheit und Tätigkeit oxy-
dasischer Atmungsenzyme die „Energie“ für eine extravitale Rohrzuckersynthese durch
Zymase gewonnen haben will, also ohne Transformation und Übertragung durch
das Protoplasma, bedürfen wohl dringend der Bestätigung.
35) So M. Jacoby (Ergebnisse der Physiol. I, 1902, 213); vgl. auch E. Abder-
halden und H. Pringsheim (Zeitschr. f. physiol. Chem. 65, 1910, 180). Hof-
meister (a.a. OÖ. S.583) u. a. gebrauchen diese Bezeichnung übrigens für nicht-
sekretorische Enzyme.
36) Vgl. z. B. Green-Windisch, „Die Enzyme“, S. 343ff.
Tschugunoff, Uber die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete. 351
gesprochen hat. Beijerinck hat bekanntlich sogar Buchner’s Zy-
mase noch als „Protoplasma“ angesprochen ’?”).
Den geraden Gegensatz zu ihnen bilden dieSekretions-(„Ekto-*)
enzyme, die vom Plasma in freiem Zustand abgeschieden werden
und dann infolge ihrer hohen Dispersität aus der lebenden Zelle
nach außen zu diffundieren vermögen.
Zwischen beiden Extremen steht dann die große Mehrzahl
der bisher genauer studierten Enzyme, deren Bindung mit dem
Plasma beim Tode gleichzeitig mit den übrigen tiefgreifenden che-
mischen und physikalischen Veränderungen daselbst zerfällt?®). Ver-
mutlich wird der hierbei in Freiheit gesetzte, wasserlösliche fermen-
tatıve Anteil immer noch eine Eiweißverbindung mit „zymophorer“
Gruppe darstellen. Es ist ja bisher nur in ganz vereinzelten Fällen
angeblich gelungen, durch vielfache fraktionierte Fällungen, Wieder-
auflösungen, Dialysen u.s. w. zu Präparaten zu gelangen, die keinerlei
„Eiweißreaktionen“ mehr ergeben.
Beim Absterben der Zelle sehen wir solche Enzyme meist so-
gleich nach außen diffundieren, wo sie an ihren chemischen Wir-
kungen erkannt werden können. Wenn das in einzelnen Fällen
nicht eintritt, so z. B. bei manchen pflanzlichen Proteasen °), manchen
Invertasen (Monilia etc.) und Lipasen, sondern erst nach Zerstörung
der Zellhaut ein lösliches Enzym erhalten wird, so dürfte hier beim
Tode eine hochkolloide, wenngleich ebenfalls „wasserlösliche“ Ei-
weiß-Enzymverbindung aus den die ursprünglichen physiologischen
Einheiten bildenden Plasmateilchen abgespalten werden.
Halle a. S, Botan. Institut d. Universität, 10. Januar 1913.
Über die Veränderung des Auges bei Leptodora
Kindtii (Focke) unter dem Einfluss von
Nahrungsentziehung.
(Eine experimentelle Untersuchung.)
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Nicolaus Tschugunoff.
(Aus der biologischen Station in Kossino [bei Moskau] und aus dem Laboratorium
des zoologischen Museums der Universität Moskau.)
Über die Veränderung des Auges bei Cladocera existieren in
der zoologischen Literatur zwei verschiedene Ansichten. P. Kap-
terew (3) war der erste, der diese Erscheinung beschrieb: auf Grund
37) Vgl. u. a. auch H. Fischer, „Über Enzymwirkung und Gärung“ (Sitz.-
Ber. d. niederrhein. Gesellsch. f. Natur- u. Heilk., 1903).
38) Wie ich a a. ©. S. 254 mitteilte, können die Zellen der Beta-Wurzel schon
so schwer geschädigt sein, dass sie ihren Rohrzucker reichlich herausdiffundieren
lassen, Invertase tritt dagegen erst mit erfolgtem Tode aus.
39) Wohllebe, a. a. O0. Derartige Enzyiie sind vielfach als „Endoenzyme“
bezeichnet worden. Indessen ist auch dieser Begriff nicht von allen Autoren in
einheitlichem Sinne gebraucht worden.
352 Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete.
seiner Experimente bei Kunstzucht von Daphniden im Dunkeln
führt er die Depigmentation des Auges auf die direkte Wirkung
der Dunkelheit zurück. Bald nach diesem Versuch erschien die
Arbeit von G. Papaniıcolau (6), aus welcher zu ersehen ist, dass
auch beı Licht eine derartige Depigmentation des Auges sich voll-
zieht: dıe Erklärung der Erscheinung findet der letztere in der all-
gemeinen Degeneration der Daphnien, in der Abschwächung ihrer
Organısmen infolge einer großen Anzahl parthenogenetischer Gene-
ratıionen und ferner noch unter dem Einfluss von ungünstigen Lebens-
bedingungen.
Dieser Schluss, den G. Papanıcolau auf Grund seiner Arbeit
zog, wurde von P. Kapterew in seiner nächstfolgenden Arbeit (4)
einer Kritik unterzogen: er weist darauf hin, dass die Depigmentation
des Auges sich nicht auf Grund von Degeneration erklären lässt,
da in einer ganzen Anzahl seiner Daphnienkulturen sich keine Indi-
viduen mit Degenerierungsmerkmalen vorfanden. Dieser letzte Um-
stand bekräftigte P. Kapterew ın seiner Ansicht über die direkte
Einwirkung der Dunkelheit auf das Auge der Daphnien.
Die positiven Resultate der Arbeit G. Papanicolau’s bringen
noch nicht die volle Klarheit unserer Ansichten über den direkten
Effekt der Dunkelheit auf das Auge der Daphnien. Es ist nun
möglich, dass außer der Dunkelheit eine ganze Reihe anderer Fak-
toren die Veränderung des Auges beeinflusst; möglich ıst auch, dass
diese Faktoren sowohl bei Zucht im Dunkeln als auch bei Licht
ihre Wirkung ausüben.
Diese Erwägungen waren es, die mich veranlassten, die Ver-
änderungen des Auges bei Cladocera zu untersuchen. Die Voraus-
setzung zulassend, dass dabei viele Faktoren tätig sein können,
fixierte ich meine Aufgabe in den Grenzen eines der wichtigsten
Faktoren — des Hungers.
Als Objekt für mein Experiment wählte ich ZLeptodora Kindtii
(Focke)!), als einen der größten Vertreter der Cladocera, mit ver-
hältnısmäßig hoch organisiertem Auge, zumal einen unersättlichen
Räuber, der mir gerade in dieser seiner Eigenschaft für Hunger-
experimente sehr geeignet schien. Die Untersuchungen wurden
auf der biologischen Station in Kossino bewerkstelligt, einer Station,
die ihre Entstehung der „Kommission zur Untersuchung der Fauna
des Moskauer Gouvernements“ verdankt. Das Untersuchungsobjekt
Leptodora Kindti wurde im „Weißen See“ gefangen, an dessen
Ufer die biologische Station sich befindet.
Was die Lebensweise von Leptodora Kindtii betrifft, so findet
sich in der Literatur eine Reihe von Hinweisen auf ihre räuberischen
Gewohnheiten (Lilljeborg [5], Seligo [7], Gerschler[1] u.a.).
1) Soviel ich die Literatur kenne, sind derartige Versuche mit Leptodora
Kindtii nicht veranstaltet worden.
Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete. 359
Als Nahrung dienen der ZLeptodora K. kleine Crustaceen —
Oopepoda und Oladocera. Die Beute wird nicht verschlungen, sondern
zerstückelt und ausgesogen (Gerschler [1]). Infolgedessen finden
sich im Darm der Leptodora K. niemals einzelne Teile der aufge-
zeichneten Urustaceen, sondern nur sogen. Nahrungsbrei (Seligo [7],
Gerschler[1, p. 432]).
Die Kultivierung von Leptodora K. ıst weit schwerer als die
anderer Cladocera, da ıhr spezielle Atmungsorgane fehlen (nur Haut-
und Darmatmung) und ıhr daher ım Wasser reichlicher Sauerstoff-
gehalt not tut (Gerschler [1, p. 439]).
Leptodora K. wurde deshalb in einem speziell konstruierten
Apparate mit fließendem Wasser gezüchtet, welches während der
ganzen Dauer des Experiments vermittels Siphons beständig ge-
wechselt wurde. Das Wasser für die Tiere wurde aus demselben
Weißen See genommen, wo die ZLeptodorae K. gefangen waren.
Vorläufig wurde das Wasser durch ein Planktonnetz Nr. 20 filtriert.
Eine nochmalige Filtration durch Watte wurde im Gehälter selbst
in besonderen Röhren bewerkstelligt.
In solcher Weise filtriert enthielt das Wasser zweifellos keine
Crustaceen, Rotatorıa, Infusorien, mit Ausnahme einer unansehn-
lichen Zahl von kleinsten Vertretern des sogen. Mikro-Nannoplankton.
— Proben des filtrierten Wassers ın einer Quantität von 15 gem
dienten zur Kontrolle: sie wurden während 10 Minuten zentrifugiert
und der Rückstand mikroskopisch untersucht.
Die Leptodora K. wurden zu je 1—3 Exemplaren (in etlichen
Fällen mehr) in Glasbüchsen von 1—1'/, Il Inhalt, die am Fenster
standen, untergebracht. Vorläufig wurden die Tiere aufs Genaueste
untersucht. Im ganzen wurden zu verschiedener Zeit 108 Exemplare
Leptodora K. zu den Experimenten benutzt. Der größere Teil davon
waren parthenogenetische Weibchen, eine geringere Anzahl — ge-
schlechtliche Weibchen und Männchen. Ein Teil der Zeptodora K.
— 35 Exemplare kamen schon in den ersten Tagen des Experi-
ments um, ohne Veränderungen erlitten zu haben; 33 Exemplare
wurden ın den frühesten Veränderungsstadien zwecks histologischer
Untersuchung fixiert; die übrıgen 40 Exemplare waren dem Hunger-
zustande am längsten ausgesetzt: sie wiesen alle mehr oder weniger
vorgeschrittene Veränderungen an dem Auge auf. Sie wurden auch
in verschiedenen Stadien fixiert.
Zum Fixieren diente für alle Zeptodora K. die Flemming’sche
Gemisch. Ein Teil von ihnen wurde zu Totalpräparaten ver-
wertet, die übrigen, in üblicher Weise, in Paraffin eingebettet und
in 5—6 „u dicke Serienschnitte zerlegt.
Zuerst waren es die übrigen Organe der Leptodora K., dıe in-
folge von Hunger Veränderungen erlitten. Besonders stark ver-
ändert war der Darm. Zur Zeit, wo die Augen die ersten bemerk-
354 Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete.
baren Veränderungen aufwiesen, war der Darm im Verhältnis zu
seımem normalen Umfang beinah um zwei Drittel eingeschrumpft.
Fig. 1.
Fig. 2.
Nicht ın einem einzigen Falle
ließ sich eine Veränderung des
Auges bemerken, solange der
Darm mehr oder weniger nor-
mal blieb. — Veränderungen
ließen sich auch ın den Ova-
rien, ın den Testes und ın
anderen Organen konstatieren.
Zunächst waren es aber die
Veränderungen des Auges,
denen ich meine Aufmerksam-
keit zuwandte, wobei ich von
der Voraussetzung ausging,
dass die Veränderungen, die
das Auge erleidet, mit Schwä-
chung und funktionellen Stö-
rungen des Organismus im
Zusammenhang stehen.
Alterationen innerhalb des
Auges treten recht bald ein,
— am 5.—7. Tag nach Anfang
des Experiments bei solchen
Leptodora K., dıe kurz vordem
gefangen worden sind. Bei
Leptodora K., die dem Labora-
torınmsaquarıum entnommen
und event. einen Monat darin
verblieben waren ?), treten
Veränderungen noch rascher
und zwar am 3.—4. Tag ein.
Eine solche Beschleunigung
des Zerstörungsprozesses im
Auge ist leicht zu erklären,
da ım Aquarium trotz stetem
Wasserwechsel die Lebens-
bedingungen für die Zeptodora
K. sich dennoch schlechter
gestalten als ım Freien, und
die Tiere infolgedessen, was
Nahrung betrifft, schon vor dem Experiment in ungünstigere Ver-
hältnisse geraten waren.
2) Im Aquarium lassen sich Leptodora K. leicht einen Monat am Leben erhalten.
Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete. 355
Das Auge der Leptodora K. ıst ein kompliziertes Facettenauge,
das aus ungefähr 300 einzelnen Facetten besteht (Gerschler [2,S.83]).
In den von mir beobachteten Veränderungsstadien des Auges voll-
zieht sich der ganze Zerstörungsprozess innerhalb des Auges selbst.
Die ersten Veränderungen ım Auge äußern sich folgendermaßen:
von der mittleren Zone des Pigments, in seinem vorderen Teile,
sondern sich allmählich in der Richtung zur Peripherie des Auges
einzelne Pigmentschollen ab. Auf der Mikrophotographie 13) ist
ein beinahe normales Auge abgebildet, auf seiner rechten Seite sieht
man die Loslösung des Pıgments. — Im nächstfolgenden Stadium
Eig.W3.
ist der Zerstörungsprozess schon weiter vorgeschritten: vom Pigment-
komplex im Zentrum haben sich einzelne Klümpchen des Pigments
ziemlich weit zur Peripherie des Auges entfernt (Mikrophot. 2). Schon
in diesem Stadium ist zu bemerken, dass das Auge sich in der
Längsachse erweitert. In der Folgezeit nimmt die Verlängerung
zu, und im Stadium, wo die Zerstörung schon weit vorgerückt ist
(Mikrophot. 3) sieht das Auge, dermaßen längsgestreckt, gleichsam
„zweietagisch“ aus. In dieser Phase (Mikrophot. 3) hat sich beinahe
die ganze vordere Hälfte des Pigments von seiner Zone abgelöst
3) Die Mikrophotographien sind vermittels der Winkel’schen Kammer und des
Zeiß’schen Mikroskops angefertigt: Nr. 1, 2 u. 3 — Zeiß, apochr. 16 mm pr. oe. 2,
Nr. 5,6u.8 — Zeiß apochr. 4 mm pr. oc. 4 u. 2, und Nr. 7 — Zeiß apochr.
1,5 mm pr. oc. 2. An dieser Stelle muss ich Herrn P. Shiwago meinen freund-
schaftlichen Dank für die Anfertigung der Mikrophotographien aussprechen,
356 Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtüi etc.
und ıst in Form einzelner Pigmentschollen an die Oberfläche des
Auges gerückt.
Bei Untersuchung der Pigmentabsonderungen ın allen Zeit-
phasen ergibt sich, dass sie ın Schollen konstanter Form auftreten,
wobeı eine jede Gruppe aus fünf Pigmentteilchen besteht. Inner-
halb einer jeden Pigmentscholle ist eine Höhlung vorhanden (Mikro-
phot. 3).
Eine derartige Form der Pigmentabsonderungen hat ihre Er-
klärung in der Struktur des Auges der Leptodora K. und in dem
Entwickelungsgang des Zerstörungsprozesses. Der unterste Teil
der einzelnen Facette — das Rhabdom — ist von fünf pigmentierten
Zellen umgeben und, gleichsam, ins Pigment versenkt. Nach Zer-
störung des Rhabdoms und des Kristallkegels sondert sich das
Pigment zur Peripherie des Auges ab, behält aber seine frühere
Anordnung um das Rhabdom, das die früher erwähnte Höhlung
verursacht. Bei Betrachtung des veränderten Auges der ZLepto-
dora K. ın Totalpräparaten kann man sich darin überzeugen, dass
die Deplazierung des Pıgments innerhalb der Grenzen der einzelnen
Facetten vor sich geht®).
In allen beobachteten Fällen verläuft die Veränderung im Auge
in ganz präziser Reihenfolge, wobei der Zerstörungsprozess alle
oben beschriebenen Stadien durchmacht. Von der primären Ab-
sonderung des Pigments bis zum letzten Zerstörungsstadium ver-
gehen gewöhnlich 2—3 Tage. In den Bewegungen der Leptodora K.
mit zerstörten Augen lässt sich keine besondere Abnormität beob-
achten. Im ganzen sind dıe Tiere in dieser Periode des Verände-
rungsprozesses, also nach 4—6 Tagen Hungerns, recht abgeschwächt
und im Wasser viel weniger lebhaft als normale Tiere.
Wenden wir uns jetzt zu den histologischen Veränderungen,
die sich bei der Zerstörung des Auges bei Leptodora K. geltend
machen.
Jede Facette des komplizierten Auges der ZLeptodora K. besteht,
nach den Angaben von O. Miltz (zitiert nach Gerschler [2, S. 80])
aus 14 Zellen (s. Schema 4); dieses sind: zwei Korneazellen — die
oberste Zellenreihe, unter der Kornea gelegen, fünf Kegelzellen, die
den Endteil des Kristallkegels umgeben (Endkegelzellen), zwei Stütz-
zellen, die die Stiele des Kristallkegels umschließen, und fünf
Retinulazellen im unteren Teil der Facette um das Rhabdom herum.
Das Pigment befindet sich ım unteren Teil der Facette innerhalb
fünf Zellen. Beiliegendes Schema 4 stellt die einzelnen Veränderungs-
stadien der Facette in ihrer Folgereihe leicht schematisiert dar.
4) Howland beschreibt die Migration des Pigments in den Augen von
Branchipus gelidus unter dem Einfluss des Lichtes. Diese Migration geschieht auch
innerhalb einzelner Facetten. Howland, R. — Migration of retinal pigment in
the eyex of Branchipus gelidus. Journal experiment. Zoologie. Vol. 11.
Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtiüi ete. 357
Als frühester Moment der Zerstörung der Facette ist das Anfangs-
stadium der Veränderung des Rhabdoms anzusehen (Schema 4b).
Zuerst verliert das Rhabdom seine feste Struktur, es wird mürbe
und windet sich bandartig (Mikrophot. 5). Zu gleicher Zeit gehen
Veränderungen auch in den Stützzellen vor.
Darauf folgen Veränderungen in dem Kristallkegel (Schema 4 c).
Dem Zerstörungsprozess unterliegt zu allererst der proximale Teil
desselben, allmählich erstreckt er sich über den ganzen Kristallkegel.
In diesem Stadıum lassen sich auf Querschnitten durch den Kristall-
kegel folgende Veränderungen konstatieren: die fünf dreiseitigen
BEER TESTIIRRUTPIRTITNTENTRTTTRIRTITTTT
S
b c d e f
Fig. 4.
e = Kornea; cz = Korneazellen; Ek = Endkegel; kz = Kegelzellen; k = Kristall-
kegel; stz — Stützzellen; r = Retinulazellen; r% — Rhabdom.
Prismen, die den Kristallkegel bilden und in normaler Facette von-
einander gut abgegrenzt sind, verlieren im Anfangsstadium des Pro-
zesses ihre genauen Umrisse, man möchte sagen, dass sie miteinander
verschmelzen; ferner gehen sie mit Ausnahme des Endkegels zu-
grunde. Gleichzeitig findet die Zerstörung der Stützzellen statt
(Schema 4 c), die ebenfalls ihre natürliche Form verlieren und mürbe
werden (Mikrophot. 5 u. 6).
Während so Kristallkegel und Stützzellen zerfallen, bewegt sich
das Pigment allmählich aus dem unteren Teil der Facette in der
Richtung zur Peripherie des Auges hin (Schema 4d).
Das Pigment verändert nicht seine frühere Anordnung; infolge
fortschreitenden Zerfalls des Kristallkegels verliert es im distalen
XXXI. 04
558 Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete.
Teil seinen Haltepunkt und gleitet infolgedessen dem zerstörten
Kristallkegel entlang; in diesem Stadium besteht letzterer nur
aus unregelmäßigen
bandförmigen Strän-
gen (Mikrophot. 5,
6, 7). Die Stützzellen
bilden zu derselben
Zeit ebenfalls nur
einen formlosen Rest,
der ım folgenden Sta-
dıum vollständig ver-
schwindet. Die Zer-
störung des Kristall-
kegels nımmt in der
nächsten Phase zu
(Schema 4e). Die
bandartıgen Stränge,
der Rest des Kristall-
. - kegels, sind auf der
Mikrophot. 5, 6 und
besonders 7 deutlich
zu sehen. Sie be-
halten ihre frühere
Lage, indem sie
sich von der Ein-
trittsstelle der Ver-
zweigungen des ner-
vus opticus bis zur
Grenze der oberen
Reihe Kristallkegel-
zellen erstrecken.
Es muss an
dieser Stelle be-
merkt werden, dass,
während Rhabdom,
Stützzellen, Kri-
stallkegel dem Zer-
störungsprozess
verfallen und in
einem Rest von
bandartigen Strän-
Fig. 6. gen von unregel-
mäßiger Form über-
gehen, die zwei distalen Zellenreihen, sowohl Kegelzellen, die
den Endteil des Kristallkegels (Endkegel) umgeben, als auch
Fig. 5.
Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete. 559
Korneazellen vom Zerfallprozess verschont bleiben, wenn sie auch
Modifikationen erleiden. Dasselbe gilt auch für die Stadien inten-
siver Zerstörung (Schema 4du. e), wo die erwähnten zwei Zellen-
reihen erhalten bleiben (Mikrophot. 5, 6 u. 7).
Dem starken Zerstörungsprozess im Kristallkegel entspricht
eine Deplazierung des Pigments auf ansehnliche Entfernung.
Im endlichen Zerstörungsstadium der Facette bleibt von Rhab-
dom und Stützzellen nichts übrig, — sie zerfallen vollständig mit
Ausnahme der zwei distalen Zellenreihen, der Kegelzellen und der
Korneazellen. Vom ganzen Kristallkegel restiert nur sein Endteil,
— der Endkegel, von Kegelzellen umgeben, die ebenfalls unversehrt
bleiben (Mikrophot. 8). Die
zwei restierenden Zellen-
reihen, die Kegelzellen und
Korneazellen, bilden eine
Grenze für ein weiteres Vor-
schreiten des Pıgments, das
sich von seiner zentralen
Pigmentzone an dem zer-
störten Kristallkegel fort-
bewegt hat (Mikrophot. 8).
Es ıst wahrscheinlich, dass
das Pigment ın seiner Be-
wegung zur Peripherie des
Auges sich rein passıv be-
nimmt.
In allen Fällen, wo die
Veränderung des Auges bei
Leptodora K. beobachtet Fig. 7.
wird, sieht man deutlich,
dass jede Facette an sich, unabhängig von den anderen Facetten,
zerstört wird: auf ein und demselben Präparate lassen sich die ver-
schiedensten Degenerationsstadien die einzelnen Facetten beobachten.
Bei Betrachtung von Schnitten durch das veränderte Auge
lassen sich da, wo die Zerstörung am intensivsten vorgegangen war,
Höhlen beobachten (Mikrophot. 8). Letztere dürften wohl von der
Flüssigkeit ausgefüllt sein, die sich infolge des Zerfalls der unteren
Facettenhälfte gebildet hat. Da der ganze Veränderungsprozess
innerhalb des Auges vorgeht, so darf man annehmen, dass das Ent-
stehen der Flüssigkeit mit der Verlängerung der Längsachse des
Auges ım Zusammenhang steht: je weiter der Zerstörungsprozess
vorschreitet, um so mehr bildet sich Flüssigkeit, um so länger wird
dann das Auge. Die Zerstörung geht in der vorderen Hälfte des
Auges vor sich, und gerade hier, in diesem Teil, ist das Auge auf-
geblasen (Mikrophot. 2 u. 3).
24*
360 Tschugunoff, Über die Veränderung des Auges bei Leptodora Kindtii ete.
Die oben beschriebenen Veränderungen des Auges vollziehen
sich im proximalen Teil der Facette, der der Verästelung des nervus
opticus am nächsten gelegen ist. Ein derartiger Gang der Ver-
änderungen erinnert an den Depigmentationsprozess bei den Daph-
niden, den P. Kapterew beschrieb [3 u. 4]: die Verbreitung der
Depigmentation nimmt dort ebenfalls von dem proximalen Teile
des Auges, ın der Nähe des optischen Ganglion, ihren Ausgang’).
Es lässt sich annehmen, dass die Zerstörungsprozesse mit patho-
logischen Vorgängen im nervus opticus im Zusammenhang stehen.
Da diese Frage nur auf Grund spezieller zytologischer Untersuchungen
gelöst werden kann, muss sie offen bleiben.
Fig. 8.
Gemäß den beschriebenen Veränderungen im Auge von Lepto-
dora K. infolge von Hunger lässt sich natürlicherweise die Frage
stellen, ob die Depigmentation des Auges der Daphniden, die Kap-
terew beobachtete, sich nicht auch unter Einwirkung desselben
Faktors vollzogen hat?
Ich möchte auf Grund meiner, sich nur auf Leptodora K. be-
zıehenden Experimente keine weitgehenden Schlüsse ziehen, — den-
noch zeigen diese Versuche, dass die Frage über die Wirkung der
5) In seiner Arbeit über Depigmentation des Auges bei Daphniden [3 u. 4]
lässt Kapterew die Frage über histologische Veränderungen unberührt; ich kann
deshalb den oben beschriebenen Veränderungsprozess im Auge der Leptodora K.
nicht im einzelnen mit den Angaben Kapterew’s über die Depigmentation des
Auges bei Daphniden vergleichen.
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit. 361
Dunkelheit auf das Auge der Daphniden sich nicht so leicht lösen
lässt, wie es P. Kapterew annimmt. Die Angaben G. Papa-
nıcolau’s [6] und die angestellten Versuche mit Leptodora K.
zeigen zur Genüge, dass derselbe Effekt, dıe Zerstörung des Auges,
der bei Daphniden durch Einwirkung der Dunkelheit hervorgerufen
wird, auch unter dem Einfluss anderer Faktoren entstehen kann.
Folglich dürfen wir bei der Zucht der Daphniden im Dunkeln
außer der Dunkelheit eine Reihe anderer Momente voraussetzen,
deren Gesamteinfluss die Veränderung des Daphnienauges bewirkt.
Moskau, 27. Dezember 1912.
Literaturverzeichnis.
1. Gerschler, M. W. Monographie der Leptodora Kindtii (Focke). I. Teil,
Archiv für Hydrobiologie und Planktonkunde, Bd. VI, 1911.
— N. Teil. Ibid. Bd. VII, 1911.
3. Kapterew, P. Experimentaluntersuchungen über die Frage vom Einflusse der
Dunkelheit auf die Gefühlsorgane der Daphnien. Biolog. Centralblatt,
Bd. XXX, 1910.
4. — Überden Einfluss der Dunkelheit auf das Daphnienauge. Ibid. Bd. XXXII,
Nr.rz01912:
. Lilljeborg, W. Cladocera Sneciae. 1900.
. Papanicolau, G. Experimentelle Untersuchungen über die Fortpflanzungs-
verhältnisse der Daphniden. Biolog. Centralblatt, Bd. XXX, 1910.
7. Seligo, A. Tiere und Pflanzen des Seenplanktons. Stuttgart 1909.
>
a
Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
Von Prof. Alexander Brandt (Dorpat).
In das uralte Problem der Arbeitsteilung zwischen den beiden
anscheinend gleichwertigen Brustextremitäten des Menschen ist
neuerdings ein frischer Zug gekommen, ja dasselbe hat auch in
v. Bardeleben!) einen Monographen gefunden. Dieser bringt,
neben einer Fülle eigener, zum Teil recht überraschender Unter-
suchungen ein sehr vollständiges Literaturverzeichnis und eine
Übersicht der wesentlichsten bisher vorgebrachten Theorien und
Hypothesen?) über den Ursprung der Rechtshändigkeit. Depri-
mierend aber klingt seine Äußerung (p. 56), es fielen sämtliche
bisher aufgestellte Erklärungen in nichts zusammen; es handle sich
um eine morphologische Tatsache, für die es einstweilen keine Er-
klärung gibt, keine Erklärung wäre aber doch besser als eine oder
mehrere falsche. Über den letzteren Passus, deucht mir, ließe sich
immerhin disputieren, denn entspringt nicht, wie der Franzose sagt,
aus dem Zusammenprall der Meinungen die Wahrheit? Direkt aus
1) Bardeleben, K.v., Über bilaterale Asymmetrie beim Menschen und bei
höheren Tieren. In: Verhandl. d. Anatom. Ges,, XXIII. Versamml., Anat. Anz.,
Bd. XXXIV, 1909, p. 2—72.
2) In einem populären Aufsatz ‚„Rechts- und Linkshändigkeit‘“, welcher soeben
der Zeitschrift „Aus der Natur‘ eingeschickt wurde, gehe ich auf dieselben näher ein.
362 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
der Luft gegriffene und noch dazu als unumstößliche Wahrheiten
in die Welt posaunte Erklärungen sind gewiss beklagenswert, ver-
werflich, während selbst unzureichende anregend und indirekt nütz-
lich sein können. Negative Ergebnisse sind ja auch Ergebnisse:
sie weisen die Sackgasse, welche man in Zukunft zu meiden hat.
Von diesem Standpunkte ausgehend, möchte ich es wagen, hier
für eine Hypothese einzutreten, mit welcher ich mich seit den
siebziger Jahren herumgetragen, welche ich stets ım Kolleg erwähnt
und auch in russischen populären Arbeiten angeführt habe?). An
Muße und Gelegenheit zur Bearbeitung hat es mir alle die Dezennien
hindurch gefehlt. Nunmehr ın den Ruhezustand getreten, muss
ich endgültig darauf verzichten. Mögen jüngere, über die gehörigen
Hilfsmittel verfügende Kräfte sich des Themas annehmen. Es
handelt sich dabei zum Teil um feine Untersuchungen in einer
nunmehr gerade gegenwärtig so modernen und so Erstaunliches
leistenden experimentellen Richtung.
So umfassend das Tatsachenmaterial über die Rechtshändigkeit
auch sein mag, so ist man mit den Erklärungen dennoch gewisser-
maßen auf einem toten Punkte angelangt. Von diesem dürfte ge-
rade eine experimentell zugängliche Arbeitshypothese verhelfen
können. Wenn ich mir erlaube, die betreffende Hypothese mit
solchem Nachdruck zur Prüfung zu empfehlen, so geschieht es mit
um so ruhigerem Gewissen, als ich mich auf namhafte Vorgänger
stützen kann, zu welchen selbst der eminente K. E. v. Baer gehört.
Es sei mir gestattet, die betreffende Hypothese zunächst in
jener Form darzulegen, wie sie mir die vielen Jahre hindurch vor-
schwebte. Es ist eine bekannte Tatsache, dass der Embryo des
Hühnchens zeitweilig bogenförmig mit der Konkavität nach links
gekrümmt dem Dotter aufzuliegen pflegt. Seine Krümmung ist be-
kanntlich keine bloß elastische, etwa wie bei einem Gummiplättchen
welches losgelassen sofort sich gerade biegt, sondern eine orga-
nische, mit einem ungleichen Wachstum der Körperhälften ver-
knüpfte, da der Embryo auch vom Eiinhalte befreit und in eine
Flüssigkeit getan seine Krümmung beibehält. Gilt es nach vorher
gehender Härtung, einen solchen Embryo in eine Serie von Quer-
schnitten zu zerlegen, so muss er von Zeit zu Zeit unter dem
Messer entsprechend gedreht werden, worauf nach einem rechts
verdickten, untauglichen Keilschnitte wieder regelrechte Querschnitte
erhalten werden. Durch die Leibeskrümmung eingeengt, könnten,
so lehrte ich, die Organe der konkaven Seite sich weniger frei ent-
wickeln. Als Ursache der Seitenlage betrachtete ich aber ohne
3) Eingehender in einem Aufsatz „Architektonik des menschlichen Körpers‘
in der russischen Zeitschrift „‚Naturwissenschaft und Geographie“, Moskau 1901,
p- 33—53. — Noch ganz neuerdings erwähnte ich des Ausgangspunktes der Hypo-
these in einer Fußnote meines Grundrisses der Zoologie, Berlin 1911, p. 28.
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit. 365
weiteres die durch Raummangel im Ei bedingte Anschmiegung des
Embryos an den Dotter. Dadurch würden die Organe der konkaven
Hälfte in ihrer freien Entwickelung durch gegenseitigen Druck und
dem entsprechenden geringeren Blutzufluss in ihrer freien Ent-
wickelung etwas hintangehalten. Eine spätere ergiebige Ansammlung
von Liquor amni, in welchem der Embryo nunmehr frei schwebt
und darauf auch bewegt, genügten nicht, um die einmal gegebene
Ungleichmäßigkeit der Körperhälften völlig auszugleichen. Die beim
Hühnchen ausnahmsweise vorkommende Rechtslage des Embryo
wurde von mir als Schlüssel für die Linkshändigkeit gedeutet. Gern
verweilte ich auch bei der ungleichen Ausbildung der gesamten
Körperhälften mit Einschluss auch der Bauchextremitäten, sowie
bei den Kreiswanderungen des Menschen und der Säugetiere. Da-
bei zitierte ich die Wägungen (teilweise. auch Messungen) von
S. de Luca, welche am menschlichen Skelett begonnen, sich auf
eine größere Anzahl von Säugetieren der verschiedensten Ordnungen
ausdehnen und zum Teil so ins Detail eingehen, dass nicht bloß
jede rechts- und linksseitige Rippe, sondern auch jeder Zahn einzeln
gewogen wurde. Überall fand de Luca ein Überwiegen der rechts-
seitigen Knochen über die entsprechenden linksseitigen. (Für den
Büffel beträgt der Unterschied zugunsten der rechtsseitigen ca23.
Durch ein nunmehriges ads bin ich zur Überzeugung ge-
kommen, dass die betreffende Darstellung der Hypothese et
insofern zu modifizieren ist, als nicht das Seitwärtskippen, sondern
ein ungleiches Wachstum in Körperhälften das Primäre ist, wie
dies namentlich der au keine große Dotterkugel gepresste Säugetier-
embryo beweist. Ferner wurde ich durch die bereits angeführte
schöne Arbeit v. Bardeleben’s (p. 35) darauf aufmerksam, dass
unterdessen, bereits vor Jahren mit derselben Grundidee, wenn
auch in einer anderen Fassung, Camille Dareste’) an die Öffent-
lichkeit getreten. Sonderlichen Anklang und Verbreitung scheint
jedoch seine Mitteilung nicht gefunden zu haben. Um so mehr
möchte ich mir erlauben, sie hier in extenso, mit lediglicher Fort-
4) S. de Luca, Rech. s. les rapports qui existent entre le poids des divers
os du squelette chez ’homme. Comptes rendus de l’Acad. de s. Se., T. 59, 1863,
p- 588—589.
Ders., Rech. s. ]. rapp. qui existent entre le poids d. divers os du squelette de
la Balene des Basques. Ibid. T. 87, P. 2, 1878, p. 261, 263.
Ders., Rech. s. 1. rapports de poids que existent entre les os du squel. d’un
chevre. Ibid. p. 335, 338.
Ders., Rech. s. l. rapp. qui existent entre les poids d. os d’un squelette de
Buffle. Ibid., p. 364, 365.
Ders., Ricerche su’ rapporti tra le ossa di diversi scheletri di animali, e parti-
colaramente tra quella dello scheletro di un bufalo. Redie. dell’Accad. scienz. fisich.
e mat. Napoli. XVIII, 1879, p. 142—145.
5) Dareste, Hypothöse s. l’origine d. droitiers et .d. gauchers. Bull. de la Soc.
d’Anthropol. de Paris. T. VIII (3-me serie), seance du 21 mai 1885, p. 415—418.
364 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
lassung der unwesentlichen Einleitungs- und Schlusszeilen, in wört-
licher Übersetzung wiederzugeben.
„Bei sämtlichen allantoiden Wirbeltieren,“ hebt Dareste an,
„dreht sich in einem gewissen Moment der Embryo, welcher bisher
dem Dotter mit seiner vorderen Fläche aufgelegen hatte, dermaßen,
dass er sich nunmehr dem Dotter mit seiner linken Seite auflegt.
Beim Embryo des Hühnchens vollzieht sich diese Umdrehung am
vierten Tage.“
„Bisweilen, doch sehr ausnahmsweise, vollzieht sich die Um-
drehung des Embryos im entgegengesetzten Sinne; es ist alsdann
die rechte Seite, welche sich dem Dotter anlegt.“
„Sollte dies nicht die Ursache der Ungleichheit des Volums
der beiden Körperhälften sein? In der Tat, die dem Dotter auf-
liegende Seite ist mehr oder weniger gegen das Amnion gedrückt
und dürfte in ihrer Entwickelung behindert sein, während die ent-
gegengesetzte Seite, ım Kontakt mit dem Liquor Amni, sich ın
aller Freiheit entwickelt. Nun aber haben meine teratologischen
Versuche mich schon lange gelehrt, dass sehr leichte Pressionen
der Dotterhaut oder des Amnions in den ersten Tagen der Embryonal-
entwickelung eine sehr große Anzahl von Anomalien erzeugen können.“
„Ist dem so, so dürften die Linkser jener sehr wenig zahl-
reichen Kategorie von Embryonen entspringen, welche sich mit
ihrer rechten Körperhälfte dem Dotter anlegen.“
„Anfangs glaubte ich, dass die Prüfung dieser Hypothese un-
möglich sei, da wir nicht wissen können, in welcher Lage ein Livkser
während des Embryonallebens auf dem Dotter geruht. Dennoch
geben uns gewisse teratologische Tatsachen vielleicht ein Mittel
zur Prüfung an die Hand: es sind dies die so merkwürdigen Tat-
sachen der Heterotaxie oder Inversion der Eingeweide. Hier ist
in der Tat die Lage des Embryos auf dem Dotter gut bekannt.“
„Die Anfangstatsache der Inversion der Eingeweide, auf welche
seit langem Baer und Remak hingewiesen und welche ich in
einer gewissen Anzahl von Fällen konstatieren konnte, besteht in
einer Linksbiegung der Herzschlinge....; während für gewöhnlich
die Biegung dieser Schlinge sich nach der rechten Seite des Em-
bryo vollzieht. Diese Biegung der Herzschlinge zieht die Drehung
des Kopfes nach sich, darauf den des ganzen Körpers vom Embryo,
welcher sich dem Dotter mit der linken Seite anlegt, wenn die
Herzschlinge nach rechts gebogen ist, und mit der rechten, wenn
die Herzschlinge nach links gebogen ist.“
„Nunmehr handelt es sich aber darum, zu erklären, wie es
möglich, dass zu Linksern bestimmte Embryonen sich mit ihrer
rechten Seite dem Dotter anlegen ohne Anwesenheit einer Inversion
der Eingeweide und folglich ohne Linksbiegung der Herzschlinge
des Embryos? Offenbar kann dies nur durch eine Lageveränderung
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit. 365
des Körpers nach erfolgter Umbiegung der Herzschlinge geschehen.
Die Ursache dieser Lageveränderung ist mir unbekannt; aber es ist
eine unbestreitbare Tatsache, dass es auf der rechten Seite liegende
Embryonen ohne Eingeweideinversion gibt.“
„Um meine Hypothese zu prüfen, handelt es sich darum, zu
wissen, ob die mit Inversion der Eingeweide behafteten Individuen
Linkser statt Rechtser seien. Da doch bei ihnen die rechte Körper-
seite an den Dotter gepresst ist, so würde die Feststellung des
Überwiegens ihrer linken Hand über die rechte sich erklären durch
den Unterschied in ihren Beziehungen zum Dotter während des
Embryonallebens.*“
Bardeleben referiert und weist die Dareste’sche embryo-
logische Erklärung mit folgenden kurzen Worten zurück. „Die
Embryonen aller höheren Wirbeltiere liegen anfangs mit der Vorder-
oder Bauchseite auf dem Eidotter, drehen sich aber nach einiger
Zeit derart, dass sie mit der linken Körperseite auf dem Dotter
zu liegen kommen. — Die mechanische Ursache dieser Drehung ist
aber wiederum das Herz, das nach rechts hin ausbiegt und diese
Richtung nach rechts auch dem Kopf und dem übrigen Körper
des Embryo mitteilt. In seltenen Fällen dreht sich der Herzschlauch
und der Embryo nach der anderen Seite, dann liegen aber später
nicht nur das Herz, sondern alle inneren Organe umgekehrt. Wäre
Dareste’s Theorie richtig, dann müssten natürlich auch die Links-
händer die umgekehrte Lage sämtlicher Organe haben.“
Letzterem gegenüber lässt sich betonen, dass bereits Dareste
selbst den Einwand vorausgesehen, die Linksheit sei eine häufige,
Inversio viscerum hingegen eine höchst seltene Erscheinung und
dass somit nur die allerwenigsten der mutmaßlich rechts konkaven
Embryonen Individuen mit einer Inversion der Eingeweide liefern
können. Er vermutet daher für die späteren Linkser eine ihren
Ursachen nach unbekannte Lageveränderung des Embryo, welche
nach erfolgter Umbiegung der Herzschlinge zustande kommen soll.
Hier dürfte es am Platze sein, in Erinnerung zu bringen, dass
eine Verkehrtlage des Herzens (Dextrokardie), bei welcher alle
Teile des Herzens, wie im Spiegelbilde, umgekehrt angeordnet sind,
mithin die Herzspitze nach rechts gerichtet ist, nicht bloß bei Situs
inversus viscerum totalıs regularıs vorkommt, sondern auch, wenn
auch ganz selten, als reine Dextrokardie bei normalem Situs der
Bauchorgane. Die Literatur über solche Fälle wurde von Lochte
und Koller, sowie auch von Schelenz zusammengetragen °).
Mit Dareste die Grundidee teilend, die ungleiche Ausbildung
der beiderseitigen Extremitäten (und Körperhälften) wäre mit der
Seitenkrümmung des Embryo in Zusammenhang zu bringen, bin ich nun
6) Kaufmann, Ed., Lehrbuch der speziellen pathologischen Anat., 5. Aufl.,
Berlin 1909, p. 57.
366 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
schlechterdings nicht imstande, die Ursache der Seitenlage des Embryo
ın der Abweichung der embryonalen Herzschlinge von der Median-
ebene zu erblicken. Die normalerweise bekanntlich rechtsseitige
Herzschlinge soll nach der Vorstellung von Dareste eine Drehung
zunächst des Kopfes und darauf des ganzen Körpers nach sich
ziehen; als Folge hätte man die Linkslage des Embryo. Welche
Kräfte hierbei etwa im Spiele wären, bleibt unverständlich. Die
Schwerkraft ıst selbstredend ausgeschlossen, da doch nicht alle
Tierklassen, gleich den Vögeln, einen spezifisch leichten weißen
Dotter besitzen, welcher den Embryo stets oben schwimmen lässt,
und auch bei den Vögeln die Schwere der Herzschlinge statt eines
Linkskippens ein Rechtskippen veranlassen würde. An einen wir-
kungsvollen Zug oder Druck oder an ein Abstoßen der Herzschlinge
vom Dotter ist; selbst beim Vogelembryo nicht zu denken, da weder
Lage noch Dimensionen der Herzschlinge dafür sprechen und noch
dazu der Kopf des Embryo abwärts gekrümmt in den Dotter ein-
gepresst und so relatıv fixiert ist”).
Das Heranziehen der Herzschlinge und der Inversio viscerum
durch Dareste scheint mir ein Missgriff zu sein, welcher Ver-
wirrung in die Sache gebracht hat und eine an sich beachtenswerte
Idee nicht zum Durchschlag bringen ließ. Der unter 10000 Menschen
etwa nur einmal vorkommende Situs inversus dürfte um so weniger
etwas mit der Linkshändigkeit zu tun haben, als er auch bei Rechts-
händern vorkommt (Pye Smith, 1891; zitiert nach v. Barde-
leben, p.27). Hierdurch wäre der Hypothese ın der von Dareste
gegebenen Fassung der Boden entzogen. Die ihm und mir gemein-
same Grundidee vom Zusammenhang der zeitweiligen Seitenlage
des Embryo mit der ungleichen Ausbildung der Körperhälften und
ihrer Anhängsel aber will ich dennoch zu retten versuchen.
Auf der Suche nach näheren Angaben über die Seitenkrümmung
des Embryo und ihre mutmaßlichen Ursachen richtete ich mein
Augenmerk u. a. auf das klassische Werk K. E. v. Baer’s®). Es
sei mir gestattet, die betreffenden Stellen in extenso hier anzu-
führen. Was wir daraus lernen, ist nicht bloß, dass v. Baer die
betreffenden Krümmungen, ım Gegensatz zu Dareste, als selb-
7) Bei M. P. Erdl (Die Entwickelung des Menschen und des Hühnchens im
Eie. Leipzig 1845, Bd. I, p. 21) heisst es vom Hühnerembryo des dritten Tages:
„Der Embryo hat sich mit dem Rücken nach vorn stark eingebogen; auch der
Großhirnteil hat sich nach vorn herabgebogen. Dadurch verlor der Embryo das
Gleichgewicht und legte sich auf die linke Seite. Er ist von jetzt an immer nur
von der Seite zu sehen.“ Der Verfasser bleibt die Belege dafür schuldig, dass die
Herabbeugung des Kopfes, welcher sich ja in den Dotter eindrückt, wirklich das
Gleichgewicht des Embryo stört und weshalb er infolgedessen gerade auch die linke
und nicht etwa ebenso häufig auf die rechte Seite fällt?
8) Baer, K. E. v., Über Entwickelungsgeschichte der Tiere. Beobachtung
und Reflexion. Königsb. I. 1828. II. 1837 und 1888.
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit. 367
ständiges Wachstumsphänomen ansieht,, sondern, dass er bereits
die Vermutung vorwegnimmt, die noch in späteren Zeiten bei vielen
Wirbeltieren vorhandene kräftigere Ausbildung der rechten
Körperseite könnte auf diesem ungleichen Wachstum
der symmetrischen Hälften des Embryo beruhen. Das
Wort Rechtshändigkeit kommt da allerdings nicht vor, aber der
Sınn ist offenbar der nämliche. Ehre, wem Ehre gebührt!
Die nachstehenden Baer’schen Angaben beziehen sich aufs
Hühnchen. Am dritten Tage gesellt sich zu einer Abwärtskrümmung
des Vorderendes bald eine Drehung auf die linke Seite, so dass
die Spitze des Kopfes sich nach der rechten Seite des Fötus dreht.
Die Drehung beginnt am Kopfe und rückt allmählich fort, sowie
der Fötus sich schließt. Der offene Teil des Leibes ist den dritten
Tag hindurch noch gerade, oder, ehe der Schwanz sich auf die
linke Seite dreht, S-förmig gebogen, auf dem Bauche liegend (p. 50).
„Das Drehen des Embryo auf die Seite ist ein sehr wichtiges
Moment in der Bildungsgeschichte des Fötus, denn mit ihm hängen
viele Veränderungen, namentlich die Metamorphose des Herzens,
auf das innigste zusammen. Die linke Seite des Embryos zeigt
schon bei Entwickelung des Kreislaufes eine physio-
logische Verschiedenheit von der rechten, denn sie ist im
Verhältnis zu dieser die rezeptive, aufnehmende Seite. Die auf-
steigende Vene steigt am linken Rande des Fötusleibes in die Höhe
und geht von lınks nach rechts in den Fötus ein. Sind zwei herab-
steigende Venen da, so ist doch die linke stärker und hat ein wei-
teres Flussgebiet, wie man wohl den Umfang der Körpergegend
nennen kann, aus welchem das Venenblut aufgenommen wird, als
die rechts absteigende Vene. Ist nur eine solche Vene, so ist es
eben die linke und auf der rechten Seite bildet sich erst allmählich
eine kleine analoge, welche das Blut aus der Kopfscheide aufnimmt.
Von der linken Seite strömt nämlich nicht nur das Venenblut ein,
sondern auch die Eingänge in den Speisekanal, besonders der vor-
dere, stellen sich immer mehr links, und der ganze offene, rinnen-
förmige Teil des Speisekanals liegt mehr links, und nach der Drehung
liegt der ganze Dotter auf der linken Seite des Vogelembryo. —
Wie wichtig dieses Verhältnis sein muss, sieht man daraus, dass
in allen Tieren, bei denen... der Fötus vom Dottersacke auf kürzere
oder längere Zeit sich abschnürt, der Dottersack an der linken Seite
des Fötus liegt, so der Dotter bei Eidechsen, Schlangen, Vögeln,
so die Nabelblase in allen Säugetieren... Unter mehreren
hundert Embryonen des Huhnes fand ich nur zwei, welche die
rechte Seite dem Dotter zugekehrt hatten. In dem einen war
die Drehung noch nicht weit vorgeschritten, und das Herz hatte
die gewöhnliche Form und Lage, so dass ich zweifelhaft bin,
ob diese falsche Wendung sich nicht noch aufgehoben hätte. In
368 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
dem andern Falle hatte aber schon der halbe Fötus sich auf die
rechte Seite gedreht, die hintere Hälfte war nicht ganz gerade,
sondern eigentümlich gedreht, als ob sie eine Gewalt erlitten hätte.
Das Herz war hier ganz umgekehrt gestellt; die Vorkammer lag
nach rechts, die Wölbung der Kammer nach links, und war in
allen seinen Teilen das umgekehrte Verhältnis der Lage... Ich
kann daher nicht zweifeln, dass hier ein Sıtus ınversus sich zu
bilden angefangen habe“ (p. 51). — Während des vierten Tages
wendet sich das Schwanzende stark gegen den Kopf und legt
sich auf die linke Seite; nur der eigentliche Rumpf zwischen
beiden Extremitäten ist gerade (p. 69). — Am fünften Tage liegt
der Embryo ganz auf der linken Seite (p. 80). Rekapitulierend
darauf zurückkommend, dass Venenblut und Dotter von der linken
Seite in den Embryo gehen, macht v. Baer (p. 88) darauf aufmerk-
sam, dass im Gegensatz hierzu dasjenige, was aus dem Embryo
vorgetrieben wird, wie der Harnsack mit seinem Inhalte, sich nach
der rechten Seite wende. „Ja die ganze rechte Seite des Em-
bryo wächst ın der zweiten Periode merklich kräftiger
und rascher, und in dieser kräftigen Entwickelung wäh-
rend der frühesten Zeit könnte vielleicht der Grund
liegen, dass bei vielen Wirbeltieren noch in späterer
Zeit die rechte Seite kräftiger ist als die linke. Es geht
also auch die Ausscheidung neuer Maße mehr nach rechts als nach
links. Ja fast ın allen einzelnen Organen offenbart sich dasselbe
Verhältnis und übt auf die Gestaltung der Teile seinen Einfluss.
Von der linken Seite empfängt das Herz sein Blut, und
nach der rechten treibt es dasselbe aus. Hierauf beruht
die Art der Gefäßverteilung in den Säugetieren und Vö-
geln, indem, wie auch die einzelnen Modifikationen sein
mögen, immer der Hauptstrom des Blutes zuerst nach
rechts geht. — Der Grund vom Übertreten der Ingestion nach
der linken und der Egestion nach der rechten Seite möchte wohl
darin liegen, dass die linke Seite des Embryo ursprünglich nach
dem ingestiven Pole des Eies zugekehrt ist. Es scheint nämlich,
dass, während der Embryo in seiner ersten Bildung mit der auf-
nehmenden unteren Fläche dem Dotter zugekehrt ist, auch das
polare Verhältnis im Eie sich der Keimhaut und dem Embryo all-
mählich mitteilt. Daher schon in der ersten Periode der Eintritt
des Venenblutes von der linken Seite. Wenn nun die linke Seite
allmählich immer mehr Anteil an der physiologischen Bedeutung
der unteren Fläche nimmt, so scheint es notwendig, dass sie auch
räumlich in ihre Verhältnisse tritt und sich nach unten stellt. Dies
ist es eben, was wir mit anderen Worten ein Drehen des Embryo
auf seine linke Seite genannt haben. Der Embryo steht nämlich
zum Dotter in nächster Beziehung und empfängt aus ihm seine
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit 369
Nahrung. Seine ingestive Seite muss daher immer dem Dotter
zugekehrt sein. Die Umänderung des ingestiven und egestiven
Gegensatzes und die Wendung auf die linke Seite, sind also nur
Erscheinungen derselben Metamorphose.“ (Es folgen vergleichende
Betrachtungen über den Molluskentypus.) Interessenten seien ferner
auf das in den Scholien IV, $3 und V, $3 Ausgeführte verwiesen.
Was wir ın Teil II über die uns interessierenden Krümmungen des
menschlichen Embryo finden, ist kaum von Belang. Auf p. 337
heisst es von einem dreiwöchentlichen Embryo, er sei sehr ge-
krümmt, besonders sei sein hinteres (kaudales) Ende von rechts
nach links stark aufgerollt (Taf. IV, Fig. 11d).
Es würde uns zu weit führen, im einzelnen Auszüge aus zahl-
reichen späteren Schriften die Krümmungen des Embryo ver-
schiedener Tierklassen betreffend anzuführen. Statt dessen sollen
nur wenige Autoren herangezogen werden, welche sich sowohl durch
selbständige hervorragende Leistungen, als auch durch zusammen-
fassende Schriften hervorgetan haben. Überlassen wir hierbei zu-
nächst dem trefflichen A. v. Kölliker?) das Wort. Er schreibt
(p- 203): „Von den Drehungen um die Längsachse erwähnen wir
vom Hühnchen in erster Linie eine auffallende Drehung am dritten
Tage ın der Art, dass, während der Rumpf mit seiner Bauchfläche
gegen den Dotter schaut, der Kopf so sich dreht, dass er
seine linke Seite bauchwärts kehrt. Später legt sich auch
das hintere Leibesende auf die Seite mit der linken Hälfte dem
Dotter zu, worauf dann der Kopf wieder gerade sich stellt
und später selbst auf die rechte Seite sich umlegt, so
dass dann der ganze Rumpf eine von links nach rechts
gewundene Spirale beschreibt.“ Die Drehung um die Längs-
achse ist am ausgeprägtesten am vierten und fünften Tage. „Von
da streckt sich der Embryo immer mehr gerade und dreht sich
auf, so dass vom sechsten Tage an die Leibesachse wieder gerade
verläuft.“ Hieraus dürfte man ersehen, dass der Kopf eine auf-
fallende Selbständigkeit in seinen Wachstumskrüm-
mungen nach links und rechts offenbart und im relativen
Ausbildungsgrad seiner Hälften nicht unbedingt an den
der Rumpfhälften gebunden ist.
Eine von Kölliker (p. 250, Fig. 172) gebrachte Abbildung
eines 9 Tage und 2 Stunden alten Kaninchenkeims zeigt noch vor
Auftreten der Herzschlinge eine rechts konkave Krümmung,
während ein erheblich weiter entwickelter von 9 Tagen 3 Stunden
auf Fig. 173 als linkskonkav abgebildet ist, obgleich er mit einem
Situs inversus cordis behaftet ist. Das Verhalten beider Em-
bryonen ist der Dareste’schen Annahme von der Rolle der Herz-
9) Kölliker, A., Entwickelungsgeschichte des Menschen und der höheren
Tiere. 2. Aufl., Leipzig 1879.
370 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
schlinge über der Seitenkrümmung des normalen und des mit In-
versio viscerum behafteten nicht günstig.
Was Kölliker (p. 256) von der „in einer bestimmten Zeit
sehr ausgeprägten Drehung des Säugetierembryo um seine Längs-
achse* sagt, bezieht sich, möchte ich annehmen, auf ein späteres
Stadium, da es heisst, der Kopf liege mit seiner linken Seite
nach oben der Keimblase auf; während der mittlere Teil des Em-
bryo in der Weise gedreht ıst, dass immer mehr vom Rücken
sichtbar wird und die hintere Leibeshälfte den Rücken direkt nach
oben kehrt. „Das hintere Ende selbst ıst häufig wiederum etwas
auf die Seite gewendet und zeigt dann bei weiterer Entwickelung
eine Andeutung einer spiraligen Aufrollung, die ich beim Kaninchen
so stark ausgeprägt finde, dass das letzte Schwanzende hakenförmig
umgebogen ist, während sie beim Hunde und Rinde nicht nennens-
wert erscheint. Sehr schön ausgebildet ist dagegen diese spiralige
Aufrollung bei Eidechsenembryonen (Remak, Taf. IV, Fig. 66) und
vor allem bei Schlangenembryonen nach Rathke...“ „Noch ıst
zu bemerken, dass die Spiralkrümmung des Leibes eine von links
nach rechts gewundene Spirale darstellt, wie am besten an
Schlangenembryonen zu sehen ist.“
Als unstreitige Ursachen der Embryonalkrümmungen im allge-
meinen erklärt Kölliker (p. 256) ein ungleichmäßiges Wachstum
der Organe, erläutert diese Ansicht allerdings nur an der Krümmung
in der Medianebene, und zwar durch das anfänglich übermäßige
Wachstum des Zentralnervensystems; ein späteres verstärktes Wachs-
tum der Teile an der Bauchseite lässt den Embryo sich wieder
strecken. Einer etwaigen Beteiligung des Herzens am Entstehen
der Krümmungen erwähnt er wie auch v. Baer mit keinem Worte.
Hören wir noch, wie es in Balfour’s verdienstvollem Sammel-
werk heisst !P). Zunächst von den Vögeln. Während des dritten
Tages dreht sich deren Embryo „so herum, dass er teilweise auf
die linke Seite zu liegen kommt. Diese Drehung betrifft zunächst
nur den Kopf, erstreckt sich aber ım Laufe des vierten Tages auch
auf den übrigen Körper. In Zusammenhang mit dieser Lage-
veränderung erfährt der ganze Embryo eine ventralwärts gerichtete
und etwas spiralige Drehung“. Vom Eidechsenembryo heisst es
kurz, er wende sich bald auf die linke Seite. Sonst wird der
spiraligen Aufrollung des langen Schwanzes, und ım übrigen der
bereits für die Vögel bekannten Formveränderungen gedacht. Kürzer
kommen die Säugetiere in bezug auf embryonale Leibeskrümmungen
außerhalb der Medianebene weg. Es heisst: „In den meisten Fällen
bekommt der ganze Embryo nach Ausbildung des Schwanzes eine
stärkere oder schwächere spiralige Drehung, doch wird dieselbe
iR 10) Balfour, F. M., Handbuch der vergl. Embryologie. Jena 1880, Bd. 2,
p- 1, 157, 186, 208.
Brandt, Arbeıtshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit. Se
nie so auffallend, wie das bei den Lacertiliern und Ophidiern die
Regel ist.“
Zur Orientierung in betreff neuerer Angaben über embryonale
Abweichungen der äußeren Körperform von der bilateral-symmetri-
schen lässt sich mit erheblichem Gewinn die fleißige Übersicht von
Keibel benutzen!!);, Ein paar Andeutungen in bezug auf eine
asymmetrische Lage des Schwanzes finden wir bereits für Bdello-
stoma (p. 15, Fig. 31) und Lepidosteus (p. 29). Eine Linkslage des
Embryo wird erwähnt für Hatteria (p. 82), Krokodile (p. 77, Fig. 26),
Lacerta (p. 85, Fig. 30), Anguis (Fig. 82). Das kaudale Ende
weicht stets nach rechts von der Symmetrie ab und ist bei
der langgezogenen Angauis und ganz besonders bei den Schlangen
(Fig. 36) schneckenförmig von links nach rechts aufgerollt, wobei
der Gesamtembryo der Spitze eines Bohrers mit gegen das freie
Ende sich immer mehr verjüngenden Windungen ähnelt. Der Em-
bryo des Huhns beginnt sich mit seinem Vorderende bereits auf
die linke Seite zu drehen, wenn erst dieses allein sich genügend
vom Blastoderm abgehoben (p. 97, Fig. 37e von einem Embryo der
46. Bebrütungsstunde). Bei einem 5 Stunden älteren Embryo hat
sich das ın seiner Ausbildung bedeutend fortgeschrittene vordere
Körperende ganz auf die linke Seite gedreht, während das hintere
noch flach dem Dotter aufliegt, sich unbedeutend über dessen Niveau
erhebend. An einem Embryo von 2 Tagen 19 Stunden (h, h‘) be-
ginnt auch das kaudale Ende sich auf die linke Seite zu drehen,
während ein Embryo von 3 Tagen 12 Stunden (i) seine ganze linke
Seite dem Dotter zukehrt und sein Endstück, bezw. das Schwänzchen,
nach rechts emporbiegt. Der betreffende Embryo ist überhaupt
so stark zusammengekrümmt, dass er den Teil einer Spirale bildet.
Die rechtsseitige Aufwärtskrümmung des Schwanzabschnittes beginnt,
was ich auch an dieser Figur hervorheben möchte, entsprechend
der Anlagestelle der hinteren Gliedmaßen !?).
11) Keibel, F., Die Entwickelung der äußeren Körperform der Wirbeltier-
embryonen, insbesondere der menschlichen Embryonen aus den ersten 2 Monaten.
In: OÖ. Hertwig, Handb. d. vergl. u. experim. Entwickelungslehre d. Wirbeltiere.
Jena, Bd. 1, 1906.
12) Bei den Vögeln ist meines Wissens überall die Seitenkrümmung des Em-
bryos beobachtet worden. Es hat dies u. a. auch für den Strauß Gültigkeit (Nas-
sanow,N., Zur Entwickelungsgeschichte des Straußes [Struthio camelus L.|. War-
schau 1894—95, russisch. Am fünften Tage der Bebrütung ist der Keim
S-förmig geschweift. Er bildet zwei Krümmungeninder Horizontal-
ebene: die das Herz umfassende Kopfhalskrümmung und die ent-
gegengesetzte eigentliche Rumpfkrümmung. Während der vordere, der
erstgenannten Krümmung entsprechende Abschnitt gesondert, frei ist und mit der
linken Seite bereits dem Dotter aufliegt, erhebt sich der letztgenannte noch kaum
über das Niveau der Keimscheibe. Bald darauf nimmt die horizontale Rumpf-
krümmung etwas ab. Erst beim sechstägigen Embryo ist auch der unterdessen
emporgewachsene Rumpfteil dermaßen gekrümmt, dass er gleich dem Kopfhalsteil
372 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
Fahren wir in unseren Entlehnungen aus den Zusammen-
stellungen von Keibel fort, indem wir uns nunmehr den Säuge-
tieren zuwenden. Über den Embryo von Echidna (Fig. 46b, nach
Semon) erfahren wir (p. 111), es sei bei ihm zu einer starken Zu-
sammenkrümmung eine leichte Spiraldrehung hinzugekommen.
Im Vergleich zum Vogelembryo wäre, nach dieser Abbildung zu
urteilen, eine beträchtliche Verspätung und Abschwächung der Spiral-
drehung anzunehmen. Ferner dürfte sich letztere auch nicht lange
halten, denn an dem ın ce abgebildeten, nicht viel weiter gediehenen
Embryo wird diese Drehung bereits als fast ausgeglichen bezeichnet.
Bei den viviparen Säugetieren setzt die Spiraldrehung offenbar
wiederum früher ein, und zwar vor Abgrenzung der Extremitäten-
lappen. Für das Schwein bringt Keibel eigene Mitteilungen und
Abbildungen, denen folgendes entlehnt sei. An einem Embryo von
14 Tagen 19 Stunden nach der Begattung (p. 121, Fig. 53 d) haben
wir eine Spiraldrehung von rechts nach links zu verzeichnen, so
dass auf der Abbildung das Kopfende genau von links ım Profile,
das Kaudalende aber von der ventralen Seite zu sehen ist. „Der
17 Tage 12 Stunden alte Embryo Fig. 53g zeigt die Spiraldrehung
auf der Höhe ihrer Entwickelung, eine Zusammenkrümmung, welche
sich in den Zwischenstadien von Fig. 53f und g herauszubilden
pflegt, geht in diesem Stadium, wohl unbedingt durch die
starke Entwickelung der Urniere, wieder zurück“.. Ein wei-
terer Rückgang der Spiraldrehung fällt mit einem Zunehmen der
Zusammenkrümmung in kranio-kaudaler Richtung und mit der flossen-
förmigen Ausbildung der Extremitäten zusammen. Später, bei bereits
mehrgestrecktem Rumpfe, sehen wir als Rest der Spiraldrehung das
Schwänzchen nach rechts abgebogen abgebildet (Fig. 54).
Sehr ausgesprochen ist die spiralige Aufrollung bei Nagerembryonen
(p. 127, Fig. 5e,f, g). In e beschreibt der Embryo der Wander-
ratte etwas mehr als eine volle Windung, deren größerer (links-
konkaver) Rumpfteil schwach, der Schwanzteil hingegen steil
nach rechts und kopfwärts gebogen ist. Später beträgt die
Spirale bis anderthalb Windungen (g). — Für den Hund gibt
Keibel die Fig. 57, an welcher die Spiralwindung sich am Schwanze
noch mehr äußert.
Besonders interessant erscheinen mir die nach Hubrecht’schen
Originalen vorgeführten drei Embryonen eines Halbaffen (Tarsius,
p. 133, Fig. 59) ungleicher Stadien, weil sie uns sämtlich das
Schwänzchen nach links gekrümmt zeigen. Sollte dies zu einer
mit seiner linken Seite dem Dotter aufliegt (eine solche Verspätung dürfte vom
Standpunkte unserer Hypothese im Sinne einer geringeren Beeinflussung der Bauch-
extremitäten zu deuten sein). Hieran schließt sich beim siebentägigen Embryo eine
solche Reehtskrümmung des abwärts gebogenen hinteren Rumpfendes und
des Schwanzteils, dass die linke Bauchextremität fast die Stirn berührt.
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit. 373
Folgerung berechtigen? — Die nach Selenka gegebene Abbildung
eines Cercopithecus-Embryo (p. 134, Fig. 60c) zeigt die Schwanz-
spirale abermals rechtsseitig.
Was verlautet nun über Seiten- bezw. Spiralkrümmung mensch-
licher Embryonen? Auf S. 139 werden wir auf einen His’schen
Embryo (Fig. 62e) von 2,6 mm Länge und einem etwaigen Alter
von 15—20 Tagen aufmerksam gemacht, welcher, im Gegensatz zu
früheren, vorn etwas zusammengekrümmt und zugleich derart schwach
um seine Achse gedreht ist, dass sich das Kopfende nach links, das
Beckenende nach rechts wendet. Ein anderer Embryo (Fig. 62 g),
dessen Alter sich auf 23 Tage berechnen lässt, zeigt eine Rücken-
linie, welche, dank dem spiralen Verlauf, mehr als einen vollen
Kreis beschreibt.“ „Die Symmetriefläche des Embryo ist windschief
und so gedreht, dass der Kopf nach rechts, das Beckenende
nach links sıeht.*
Ein Rückblick auf das hier Vorgebrachte dürfte uns zunächst
darüber belehren, dass Abweichungen des Embryo von der Median-
fläche, beziehungsweise dessen Spiralschlängelungen der Längsachse
eine allen Amnioten (Sauropsiden) gemeinsame Erscheinung darstellt.
Was die Anamnier (Ichthyopsiden) anbetrifft, so ıst nichts Zuver-
lässiges für sie ın dieser Beziehung bekannt. Das Verhalten der
Hatteria könnte als Anhaltspunkt für die Annahme dienen, dass
die betreffende Symmetrieabweichung eine Begleiterscheinung der
Sauropsidenwerdung darstellt. Woher sie wohl stammen mag, ist
eine Frage, welche wir hier nicht näher erörtern wollen. Den
Anamniern noch fremd — vielleicht gewisse Krümmungen des
embryonalen Schwanzes ausgenommen — ist die Symmetriestörung
gewisslich ohne phylogenetische Bedeutung und wohl am ehesten
eine Anpassungserscheinung des Prosauropsidenembryo für die Zeit
seines Aufenthaltes ım Ei, zunächst vermutlich durch Raumverhält-
nisse bedingt. — Als ferneres Ergebnis des Vorgebrachten hätten
wir den Satz zu vermerken, dass die so ausgesprochene und allbe-
kannte Seitenkrümmung des Vogelembryo im Grunde als identisch
mit der Spiralkrümmung!?) des Amniotenembryo überhaupt anzu-
sehen ist. Auch hier dreht sich der Leib in Spiraltouren eines
Bohrers, an welchem das obere Ende eine am meisten in die Länge
gezogene, am meisten erweiterte und am meisten massige ist. Diese
oberste Windung bildet übrigens nur einen Teil einer Spiraltour und
reicht herab bis zur Region der Bauchextremitäten, bezw. des Beckens
(Sakralregion). Von diesem Punkte setzt zunächst eine steile rechts-
konkave Schwanzbiegung ein; dann beginnt eine postsakrale engere
13) Dass die uns hier nicht interessierende, nur anscheinend streng in der
Medianebene verlaufende Rückenkrümmung auch einen Teil der Bohrerspirale, und
zwar deren Grat ausmacht, ist selbstredend,
XXXIL. 25
374 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
Bohrerwindung'*). Bei kurzschwänzigen Tieren bleibt es bei der
einen (unvollständigen), bei langschwänzigen Tieren, wie den Eid-
echsen und namentlich Schlangen, entstehen geradezu freie Schnecken-
windungen, wie an einem Korkzieher. Für uns kommt zunächst
die oberste, größte, vom Kopf bıs zur Sakralregion sich erstreckende
Windung, richtiger Halbwindung, ın Betracht, welche rechts konvex
und links konkav ist und bei massigem Dotter diesem aufliegt.
Denken wir uns diese Windung der gekrümmten Medianebene nach
gespalten, so ıst die rechte konvexe Körperhälfte selbstredend an
Volum und Gewicht die größere. Hiermit wäre der Grundstein
auch für die Rechtshändigkeit gelegt. Wir haben es bei dieser
Spiralkrümmung offenbar mit einem dem Embryo innewohnenden
Wachstumsphänomen zu tun, ebenso wie bei dessen sich in der
Medianebene vollziehenden Bogenkrümmung. Dass ein ungleiches
Wachstum seinerseits mit auf einer ungleichen Ernährung, als auch
ungleichen Ausbildung der Blutgefäße zusammenhängen muss, hat
schon v. Baer vorgeschwebt.
Der gewundene, linkskonkave Embryo dürfte in viel höherem
Grade als das ausgebildete Tier eine quantitative Asymmetrie der
Körperhälften und ihrer Auswüchse, der Gliedmaßen darbieten. In
welchem Grade, ließe sich durch Messungen und Berechnungen
ermitteln. Die embryonale quantitative Asymmetrie, so lautet
ferner ungezwungen die Hypothese, kann durch späteres gleich-
mäßigeres Wachstum der Körperhälften nıe ganz ausgeglichen werden
und wird beim Menschen ım Laufe des Lebens durch ungleiche
Arbeitsteilung an den oberen Extremitäten noch verstärkt.
Hätte man es einzig und allein mit einem Überwiegen der
rechten Körperhälfte nebst der zugehörigen Gliedmaßen zu tun, so
würde die dargestellte embryologische Erklärung wohl ohne wei-
teres als ganz erschöpfende Anerkennung finden. So einfach liegt
die Sache jedoch bekanntermaßen nicht; vielmehr wollen noch
folgende, mehr oder weniger häufige Eigentümlichkeiten erklärt
sein: 1. die Linkshändigkeit, 2. die Gleichhändigkeit, 3. die Gleich-
beinigkeit und 4. die gekreuzten Asymmetrien, also die Kombı-
nationen von Rechtshändigkeit mit Linksbeinigkeit und von Links-
händigkeit mit Rechtsbeinigkeit. Schon die Existenz dieser individuell
in sehr verschiedenem Grade ausgesprochenen Varianten verrät,
dass wir es nicht mit gegensätzlichen Phänomenen, sondern mit ihrem
Wesen und ihrer Ursache nach leichten Abänderungen zu tun haben.
Ist nun die Seitenkrümmung des Embryo die wirkliche Ursache des
typischen Phänomens, so müssen sich auch dessen Abweichungen
14) Über den Schwanzteil ist besonders zu vermerken, dass er ursprünglich,
gleich dem Rumpfe, nach links gekrümmt ist und erst später, ähnlich dem Kopfe,
sich in der Horizontalebene zunächst nach rechts wendet, um erst darauf eventuell
sich aufzurollen.,
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- ünd Linkshändigkeit. 319
von leichten, an sich unwesentlichen Variationen dieser Krümmung
ableiten lassen. Sehen wir zu, inwieweit dies möglıch ıst. Zunächst
wenden wir uns der jedermann geläufigen Linkshändigkeit zu.
Wer möchte hier sich dessen erwehren, an die gewundenen
Schnecken und an die Plattfische, Pleuronectiden zu denken, deren
Embryo bezw. Jugendstadium sich gleichsam im labilsymmetrischen
Gleichgewicht befindet und statt ım üblichen, nur allzu leicht im
entgegengesetzten Sinne asymmetrisch wird. So könnte auch ein
ursprünglich vertikal emporstrebender Embryo später, statt nach
links wie es die Regel, sich nach rechts krümmen und einem Linkser
den Ursprung geben. Anfangs wollte es auch mir so scheinen. Es
war dies um so eher möglich, als ich zur betreffenden Zeit nur über
eine ganz geringe embryologische Erfahrung verfügte und trotzdem
einen verkehrt, also rechts liegenden Embryo zu beobachten Ge-
legenheit hätte. Ähnlich urteilte, wie wir oben sahen, auch Dareste,
nur dass er mit der Verkehrtkrümmung des Embryo gleichzeitig
auch eine Inversio viscerum ın Verbindung brachte. Wir waren
aber beide auf entschieden falscher Fährte; denn die Rechts-
krümmung und Rechtslage des Embryo ist eine phänomenale Selten-
heit. So fand v. Baer (s. 0.) unter mehreren hundert Hühnerembryonen
nur zwei, welche die rechte Seite dem Dotter zugekehrt hatten, und
von diesen bereitete sich bei einem offenbar eine Verkehrtlage
der Eingeweide vor. Hierzu kommt, dass nach den neuen For-
schungen, namentlich von v. Bardeleben, eine wenn auch häufig
verkappte Linkshändigkeit ungleich häufiger ist als bisher ange-
nommen wurde. Eine abnorme Rechtskonkavität des Embryo ist
also keine zutreffende Erklärung der Linkshändigkeit, wenigstens
dem Hühnchen nach zu urteilen (von dessen Rechts- und Links-
händigkeit wir übrigens nichts Zuverlässiges wissen). Wir werden
also nach einer anderen Ursache der Linkshändigkeit auszuspähen
haben, und zwar nach einer minder radikalen Krümmungsvariation
des Embryo. Eine solche liegt es nahe in der elenneleman des
Kopfteils zu suchen. Derselbe, ursprünglich in Übereinstimmung mit
dem Rumpfe, links gekr mt, krümmt sich später durch verstärktes
linksseitiges Wachstum nach rechts. Fällt diese Krümmung ausnahms-
weise so ergiebig aus, dass die so naheliegenden Anlagen der Brust-
extremitäten ın Mitleidenschaft gezogen werden, so hätten wir deren
Beeinflussung in einem dem vorhergehenden entgegengesetzten Sinne
und als Resultat verschiedene Grade von Gleich- und Linkshändig-
keit. (Beiläufig bemerkt, dürfte das überwiegende linksseitige Wachs-
tum des Embryonalkopfes auch die ir iche des nenerdings wohl
allgemein anerkannten Überwiegens der linken Schädel- Med Kopf-
hälfte des Erwachsenen über die rechte sein).
Nun zu den Bauchextremitäten. Auf diese lässt sich unsere
Hypothese noch ungezwungener anwenden. Dieselben sprossen in
25*
376 Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
einer Region des Rumpfes, der Sakralregion, wo die Linkskrümmung
bereits verstreicht und in die rechtskonkave Schwanzkrümmung
übergeht. Daher wohl die an diesen Extremitäten meist weniger
als an den Brustextremitäten ausgesprochene Größendifferenz. Denken
wir uns nun den Wendepunkt der entgegengesetzten Krümmungen
nur um ein Geringes kopfwärts verschoben, so muss je nach dem
Grade entweder Gleichbeinigkeit oder Linksbeinigkeit die Folge sein.
Der größte Stein des Anstoßes für alle übrigen einschlägigen
Hypothesen, die Entstehung der gekreuzten Asymmetrie, er-
gibt sich bei der hier verteidigten als so selbstverständliche Variante,
dass eine besondere Besprechung überflüssig erscheint.
Ergänzend sei hier noch auf die notorisch erwiesenen, oral-
und kaudalwärts erfolgenden ontogenetischen Verschiebungen der
Extremitätenanlagen längs des S-förmig gekrümmten Stammes hin-
gewiesen. Auch Variationen in diesen durch ungleiches Wachstum
des Stammes bedingten Verschiebungen könnten bei der Ausbildung
der verschiedenen Extremitätenasymmetrien konkurrieren.
Ein Überblick über die Summe der zu erklärenden, denkbar
mannigfaltigen Variantion der uns beschäftigenden Symmetrie-
störungen und über die bisher vorgebrachten Hypothesen dürfte
doch wohl dafür sprechen, dass von den vorgebrachten und etwa
noch vorzubringenden erklärenden Hypothesen nur eine solche Aus-
sicht auf Erfolg haben dürfte, welche mit angeborenen Ungleich-
heiten oder Prädispositionen zu solchen rechnet. Eine solche ist
gerade die hier vertretene, wie man sieht, zu einer ganzen Theorie
ausspinnbare Hypothese. Sie knüpft an unleugbare Wachstums-
phänomene des Embryo an. Allerdings beanspruchen diese ihrer-
seits eine Erklärung. Was aber heisst denn überhaupt Erklärung
eines Phänomens anders als ein Zurückführen eines Unbekannten
auf ein Allgemeineres, jedoch gleichfalls und vielleicht erst recht
Unbekanntes?
Einen großen Vorzug vor den meisten anderen einschlägigen
Hypothesen dürfte die hier vorgetragene insofern haben, als sie
wie keine andere den Namen einer Arbeitshypothese verdient, Sie
fordert zunächst zu einem an sich entwickelungsmechanisch inter-
essanten Studium der Wachstumskrümmungen des Embryo auf.
Diese wollen zunächst genauer, und zwar nach Möglichkeit stereo-
metrisch beschrieben sein, sowohl an sich als auch in ihren topo-
graphischen Beziehungen zu den Gliedmaßenanlagen in verschiedenen
Entwickelungsperioden. Auch einer experimentellen Prüfung weist
die Hypothese den Weg. Es handelt sich hierbei um eine Beein-
flussung der Spiralkrümmungen des Embryo durch Eingriffe ın der
Voraussetzung, dass sich hierdurch prägnante quantitative Asym-
metrien (und auch absolute Symmetrie) erzielen lassen. Man möchte
hierbei zunächst an bebrütete Eier möglichst großer Vogel- und
Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit. 371
Reptilienarten denken. Die Eier wären unter aseptischen Mani-
pulationen zu trepanieren, um nach erfolgtem experimentellen Ein-
griff am Embryo wieder verschlossen von neuem der Weiter-
entwickelung überlassen zu werden. Was die Eingriffe selbst
anbetrifft, so hätten sie einesteils in einer Applizierung von leichten
Scheiden oder Klammern zu bestehen, welche die normalen Krüm-
mungen des Embryo abändern, andererseits in einer Versperrung
dieser oder jener Blutbahnen, was sich etwa unter Anwendung einer
galvanokaustischen, im gegebenen Moment in Glut zu versetzenden
Schlinge oder Nadel bewerkstelligen ließe. Es handelt sich hierbei
zunächst um Ausschaltung der Dotterarterie und Vene einer Seite
und eine dadurch etwa zu erzielende abgeänderte Blutverteilung.
Nachtrag.
Wie reich die Spezialliteratur über Rechtshändigkeit und Körper-
asymmetrie überhaupt auch sein mag, wie wertvoll auch die be-
treffenden allgemeinen Zusammenstellungen!’) sind, so tritt uns
immerhin beim genaueren Zusehen eine Reihe von Lücken und
Widersprüchen entgegen, deren systematische Beseitigung in hohem
Grade wünschenswert erscheinen dürfte. Es sei mir gestattet,
einige sich mir aufdrängende diesbezügliche Erwägungen hier vor-
zubringen, welche zum Teil anregend wirken könnten.
1. Der Sache förderlich dürfte eine Feststellung, am besten
durch Kollektivberatungen, betreffenden Normen und Methoden zu Er-
hebungen, Beobachtungen, Messungen und Wägungen sein. Manche
Widersprüche und Unklarheiten können hierdurch ın Zukunft ver-
mieden und auch die statistische Seite der Rechts- und Linkshändig-
keit gefördert werden.
Bei dieser Gelegenheit möchte ich als anscheinend noch nicht
angewandte Methode, Volumbestimmungen durch Verdrängung von
Flüssigkeit in Vorschlag bringen. Dieselbe dürfte sich zunächst
am Lebenden für die unteren Partien von Arm und Bein, von der
Ellenbogen- und Kniebeuge abwärts recht wohl eignen. Auch für
Knochen, deren Gewicht, wegen ungleichen Gefüges, nicht für zu-
verlässig genug gilt, dürfte sich die Methode eignen, natürlich unter
Berücksichtigung oder möglichster Beseitigung des Eintritts von
Flüssigkeit ins Innere der Knochen.
Eine empfehlenswerte Methode für die Feststellung einer un-
gleichen Ausdehnung der Hautoberfläche und ungleichen Ausbildung
der Muskelmassen dürfte eine Zählung der Nervenfasern in den
15) Außer der Arbeit von v. Bardeleben bereits oben zitierten und ihren
in späteren Jahrgängen des Anat. Anz. veröffentlichten Nachträgen, seien hier nur
noch die allgemeinen von Reh und Gaupp angeführt (Reh, L., Über Asymmetrie
und Symmetrie im Tierreiche. Biol. Centralbl., Bd. XIX, 1899. — Gaupp, E.,
Die normalen Asymmetrien des menschlichen Körpers. Samml. anat. u. physiol.
Vortr. Jena 1909.
31S Brandt, Arbeitshypothese über Rechts- und Linkshändigkeit.
entsprechenden rechts- und linksseitigen Nervenstämmen der Ex-
tremitäten abgeben.
2. Wünschenswert sind neue umfassende anatomisch-physio-
logische Untersuchungen über den ontogenetischen Zeitpunkt des
wahrnehmbaren Auftretens einer Ungleichheit der rechts- und Iinks-
seitigen Extremitäten. Manche leugnen ja, dass dieselben angeboren,
und verlegen ihr Auftreten zum Teil in eine spätere postembryonale
Periode der Kindheit.
3. Zur Phylogenie empfiehlt es sich, fossile Menschenskelette,
wo immer man derselben habhaft werden kann, immer wieder auf
die relative Ausbildung der oberen und unteren, rechts- und links-
seitigen Extremitäten zu untersuchen. Handelt es sich doch darum,
zu prüfen, inwiefern die nach der Technik vorhistorischer Erzeugnisse
erschlossene häufigere Gleichhändigkeit sich beweisen lässt. Des-
gleichen ıst eine Berücksichtigung der Pithecanthopoiden in bezug
auf ıhre anatomische Prädisposition zur Ungleichheit der beider-
seitigen Extremitäten, nach Maßgabe neuer Funde wünschenswert.
4. Die an Skeletten von Menschenaffen vorgenommenen hoch-
interessanten Messungen und Wägungen, welche auf die Existenz
entgegengesetzter artlicher Veranlagungen hinweisen, differieren
leider zum Teil bei den einzelnen Forschern, so dass eine einheit-
liche Nachprüfung des Gesamtmaterials nach einheitlicher Methode
erwünscht wäre.
5. Den Instituten für Tierpsychologie sei es besonders ans
Herz gelegt, unter Beobachtung aller Kautelen an frischem, durch
Nachahmung und Dressur noch nicht beeinflusstem Material die
strittige Frage nach einer etwaigen, den Menschenaffen angeborenen
Bevorzugung einer der Hände widerspruchslos zu entscheiden. Das-
selbe gilt auch für die niedriger stehenden Affen.
6. Für die vierfüßigeh Säugetiere gilt es u. a., die unwillkür-
lichen Kreisbewegungen, welche besonders die Gebrüder Guld-
berg so erfolgreich untersuchten, noch des weiteren auszuspinnen,
namentlich in Rücksicht der widersprechenden Ergebnisse anderer
Forscher. (Auch am Menschen verschiedenen Alters sind aus dem
nämlichen Grunde solche Versuche unter Berücksichtigung der nach
anderen Methoden ermittelten anatomischen und physiologischen
Ungleichheit der Beine — und auch der Arme — vorzunehmen.)
7. Die bisher recht unbestimmten Ergebnisse über bilaterale
Asymmetrie bei Vögeln sind in erweitertem Umfang neu aufzu-
nehmen. Ferner wollen auch die Reptilien in den Kreis der Unter-
suchungen gezogen sein. Es sind hier in erster Linie Messungen,
Wägungen und Volumbestimmungen an Knochen gemeint. - Zu
empfehlen sind möglichst große rezente und auch fossile Tier-
formen, wie straußartige Vögel, Krokodile, Hydrosaurier, Dino-
saurier u. d. m.
Franz, Tierverstand und Abstammungslehre. 379
8. Die oben vertretene Hypothese berücksichtigt zwar nur die
Amnioten bis auf die Hatteria herab, betrachtet die betreffenden
Formen von Asymmetrie als eine Neuerwerbung der Amnioten,
und dennoch dürfte vom allgemeineren Standpunkte aus, sel es
auch zur Feststellung negativer Resultate, eine Übersehreitung
des Gebietes nicht von = Hand zu weisen sein. Weiter oben
schlüpften ein paar Daten in betreff von Lepedosteus, ja sogar
Bdellostoma durch, und die Brüder Guldberg berufen sich auf die
Aussage von Tauchern, welche vom Lichte geblendete Fische im
Kreise vor der Taucherglocke schwimmen sahen, eine Angabe,
welche immerhin zitiert wird. Ferner werden gelegentlich, bei Be-
sprechung der quantitativen Asymmetrie unserer Körperhälften die
Plattfische, ja selbst die Akranier in den Kreis der Betrachtungen
gezogen, obgleich die Symmetriestörungen dieser der paarigen Glied-
maßen entbehrenden Wesen andersartig sind und vielleicht ganz
abseits vom großen Entwickelungspfade der Wirbeltiere on
(Ich erinnere hier, für das Gen. Amphioxus an die seitliche Lage
des Neuroporus — der Riechgrube — und des Afters, an die
Verschiebung der rechts- und linksseitigen Muskelsegmente und
Nervenwurzeln, an die linksseitige Lage der larvalen Mundspalte,
welche in andern Genera auch die geschlechtsreifen Tiere beibe-
halten, ferner daran, dass bei den Amphioxides Gonaden sich nur
an der rechten Seite entwickeln.) Wem es belieben sollte, mit
wenig Aussicht auf positiven Erfolg die Untersuchungen über Asym-
metrie der Körperhälften und Extremitäten auf Lurche und Fische
auszudehnen, dem seien, selbstredend, möglichst große Repräsen-
tanten empfohlen, wie der Riesensalamander, wie die Haie.
Tierverstand und Abstammungslehre.
Von Dr. V. Franz, Leipzig-Marienhöhe.
Das Problem des „Klugen Hans“ und der Elberfelder „denken-
den und rechnenden“ Pferde ist schon viel diskutiert worden, und
bald wird man allgemein zu der Ansicht kommen, dass der Worte
genug gewechselt sind und man lieber „Taten“, also neue Beobach-
tungen sehen möchte. Wenn ich trotzdem mich noch mit einer
Meinungsäußerung hervorwage, obschon wie zahlreichen anderen
so auch mir nur ein kurzer, zu irgendwelchen entscheidenden Be-
obachtungen nicht hinreichender Besuch bei den gelehrigen Tieren
vergönnt war, so geschieht es, weil ich einige noch nicht geäußerte
Argumente zu der Diskussion beibringen möchte, Argumente, welche
sich an meine im „Biolog. Centralblatt“ (1911) sowie an anderen
Stellen gegebenen Den über das „Höhere“ und das „Niedere*
im Organismenreiche, über die vermeintlichen Abstufungen in der
„Lierreihe“ anschließen.
380 Franz, Tierverstand und Abstammungslehre.
Dass ein Pferd rechnen und menschenähnliche Intelligenz be-
weisen könne, das soll, nach der auf dem letzten internationalen
Zoologenkongress zu Monako von Dexler in Verbindung mit anderen
Zoologen und Psychologen veröffentlichten Erklärung, eine „dem
Entwickelungsgedanken völlig zuwiderlaufende“ Lehre sein. Inwie-
fern würde denn dieses Ergebnis, welches — auch nach meiner
Meinung — noch durch möglichst viele weitere Beobachtungen zu
prüfen ist, dem Entwickelungsgedanken zuwiderlaufen? Spricht
nicht aus diesen nur zu leicht Beifall findenden Worten eine recht
veraltete Auffassung von der Entwickelung des Tierreiches? Es
könnte damit wohl etwa folgendes gesagt sein: die Entwickelung
schreite vom Einfacheren zum Komplizierteren fort; der Mensch
stammt von tierischen Vorfahren ab; also müssen wir beim Menschen
kompliziertere Zustände vorfinden als beim Tiere; so auch beim
Baue seines Gehirns und bei der Leistungsfähigkeit desselben. —
Man hätte meinen sollen, nur Laien können mit Staunen und un-
gläubigem Kopfschütteln reagieren, wenn man ihnen mitteilt, dass
so und so viele Fähigkeiten bei den und jenen Tierarten viel besser
entwickelt sind als beim Menschen, der „Krone der Schöpfung“.
Aber siehe da, auch gewissenhafte Forscher, denen z. B. auf dem
Gebiete der Sinnesphysiologie die Überlegenheit der Tiere über
den Menschen in zahlreichen Fällen eine längst ausgemachte Tat-
sache ist, wissen auf die Behauptung, ein Tier könne rechnen, dog-
matisch zu erwidern: das widerspreche der Entwickelungslehre.
Vielleicht widerspricht es ihr bezw. dem „Entwickelungsgedanken*
nur deshalb, weil dieser Gedanke unrichtig ist. Ich bin weit ent-
fernt davon, die Entwickelungslehre in Bausch und Bogen zu ver-
werfen. Aber darüber müssen wir uns doch heutzutage schon klar
sein — obwohl noch heute Zoologen leben, die da glauben, die
Vorfahren des Menschen hätten als Haifische im Meere umher-
geschwommen und die Amöbe sei die Stammutter aller Tiere —,
dass die ganze Organısmenwelt seit den Tagen des Präkambriums,
also seit den ältesten versteinerungsführenden Schichten, die wir
kennen, mit Ratzel gesprochen, sich nicht merklich zunehmend
entwickelt hat, dass wir trotz der langen Reihe paläontologischer
Urkunden vom Lebensfaden nur das Ende in der Hand haben und
uns die Kenntnis der hypothetischen einfacheren, ursprünglicheren
Stufen des Lebens auf Erden versagt ist. Finden wir doch in der
Ära der ältesten Versteinerungen bereits alle größeren Tierstämme
in reicher Entwickelung vertreten mit Ausnahme der Wirbeltiere,
von denen wir jedoch mit Jaekel annehmen können, dass auch
sie bereits vorhanden gewesen sein werden. Allerdings gibt es
hier und da eine Zunahme der Kompliziertheit im Laufe der stammes-
geschichtlichen Entwickelung, wofür z. B. der von Schicht zu Schicht
komplizierter werdende Verlauf der „Lobenlinien“, einer sehr äußer-
Franz, Tierverstand und Abstammungslehre. 31
lichen Eigenschaft gewisser Vertreter der von Anfang an vor-
handenen Klasse der Cephalopoden, und viele andere Beispiele
genannt werden können. Aber diese Fälle der fortschreitenden
Differenzierung werden vollständig paralysiert durch anderweitige
Beispiele der Rückdifferenzierung im Laufe der Stammesgeschichte
und durch das häufige Aussterben gerade der besonders kompliziert
oder „aberrant“ entwickelten Gruppen. Unvoreingenommene Be-
trachtung der gesamten heutigen und vorweltlichen Tierwelt — letz-
tere soweit sie uns bekannt ıst — kann also nur lehren, dass von
einer Zunahme der Entwickelung im ganzen seit außerordentlich
weit zurückliegenden Zeiten nichts zu merken ıst. Wenn man sich
dies einmal klar macht — zu bewundern wäre dann der Mut, welcher
in der „Tierreihe* noch Anklänge an die phylogenetische Entwicke-
lung erblicken wollte, anstatt sich der dann und wann schon von
dem einen oder anderen Autor, wiederholt und am schärfsten aber
wohl von mir ausgesprochenen Ansicht anzuschließen, dass die ver-
meintlichen Unterschiede des Entwickelungsgrades in Wahrheit
lediglich Unterschiede des Grades der Menschenähnlichkeit sind.
Bemerkt sei noch, dass auch den Protisten einschließlich der zahl-
reichen und in Bau wıe Funktion und Entwickelungsgang hoch
komplizierten Amöbenarten nicht eine „niedere*“ noch ursprüng-
liche Organisation zuzuschreiben ist, sondern die Eigentümlichkeit
dieser Tiere vielmehr, wie dies unlängst C. Clifford Dobell vor-
trefflich zeigte, darin liegt, dass sie eben von ganz anderer Bauart
als die Metazoen sind, wie dies durch ihre Kleinheit und Einzellig-
keit bedingt ist. Schon hat man versucht (A. Meyer), die Bak-
terien als Abkömmlinge vielzelliger Pflanzen zu erweisen. Der
Umstand, dass eine solche Auffassung möglich ist, gibt objektiv
urteilenden Forschern (z. B. Benecke) zu bedenken, dass man die
für jenen Teil des Organısmenreiches konstruierten Stammbäume
ebensogut vorwärts wie rückwärts lesen darf. Ähnliches muss man
sich auch in weiterem Sinne vergegenwärtigen; noch ist also nicht
erwiesen, ob man besser die Protozoen als Vorfahren oder aber
als Abkömmlinge vielzelliger Wesen betrachten sollte. So stehen
also die Protozoen stammesgeschichtlich nicht anders da als die
Metazoen, ebenso stehen alle größeren Metazoenabteilungen stammes-
geschichtlich nebeneinander etwa wie Vettern, aber nicht wie verschie-
dene Generationen, und so ist es denn auch ganz nichtssagend, den
Menschen als das Endglied der Entwickelung oder das höchst-
entwickelte Tier zu bezeichnen oder wie derartige Redeweisen lauten
mögen. (Alltäglich begegnen wir noch den Ausdrücken „höhere“
und „niedere“ Organismen, oder der „Entwickelungsreihe“ „von der
Amöbe bis herauf zum Menschen“, lauter Gedankenlosigkeiten, die
verpönt sein müssten.) Was speziell den Menschen betrifft, so
folgt aus den Darlegungen von Klaatsch noch deutlicher als man
O2 Franz, Tierverstand und Abstammungslehre.
es früher schon wusste, dass er ın vielfacher Hinsicht außerordent-
lich primitiv im Verhältnis zu anderen Wirbeltieren, insbesondere
auch zu den menschenähnlichen Affen organisiert ist, und wenn
wir uns die Ausdrucksweise, der Mensch stamme vom Affen ab,
schon längst versagen und nur noch behaupten, dass beide, Mensch
und Affe, gemeinsame Vorfahren haben, so würde die Quintessenz
der Klaatsch’schen Ausführungen, „recht ins grobe versetzt und cum
grano salıs zu verstehen, in der gewöhnlichen Schlagwortformulierung
lauten: Der Mensch stammt nicht vom Affen ab, sondern der Affe
vom Menschen“. Nicht wenig verwundert es mich daher, dass
v. Buttel-Reepen, von dem nämlich die soeben zitierten Worte
herrühren, bezüglich der Frage, ob den (Elberfelder) Pferden eine
hohe Intelligenz zugeschrieben werden könne, zu dem Ergebnis
kommt, diese Annahme würde „die Darwin’sche Theorie über den
Haufen werfen“. Das würde sie noch lange nicht! Hat es auch
die Darwin’sche Theorie über den Haufen geworfen, dass wir den
Pferdehuf als eine weniger ursprüngliche Bildung ansehen als die
menschliche Hand? Man entgegne also der Behauptung, das Pferd
hätte Intelligenz, nicht mit einem so schlecht begründeten Dogma.
Es ıst Aufgabe der Wissenschaft, die hier in Rede stehende Frage
der Intelligenz bei einem Tiere durch tatsächliche Beobachtungen
zu prüfen. Die Abstammungslehre kann dazu nichts sagen, denn
der Mensch stammt nicht vom Pferde ab.
Das wäre das eine, was ich sagen wollte, und nun komme ich
zum zweiten.
Was nämlich die Prüfung an der Hand von Tatsachen betrifft,
so wird man sich hüten müssen, nicht in denjenigen Fehler zu ver-
fallen, den man unzählige Male bereits begangen hat, nämlich die
Uberbewertung der menschlichen und menschenähnlichen Merkmale
und die Geringachtung der Eigenheiten anderweitiger Organismen,
eine Betrachtungsweise, aus der sich allerdings mit Selbstverständ-
lichkeit ein scheinbares Ansteigen der tierischen Organisationen zum
Menschen hin ergeben muss. Die vergleichende Gehirnanatomie steht
noch ganz und gar im Banne dieses Irrtums. Indem sie die „Höhe“
eines Wirbeltiergehirns nur danach beurteilen möchte, wieviel
Großhirnrinde an ıhm gefunden wird, während sie anderweitige
Gehirnteile bei der „Bewertung“ in Betracht zu ziehen vergisst,
kommt sie mit aller Selbstverständlichkeit zu dem Ergebnis, dass
die Landwirbeltiere an Gehirnentwickelung den Fischen voranstehen,
und dass innerhalb der Landwirbeltiere die Reihe von den Am-
phibien zu den Reptilien, Vögeln, Säugetieren und schließlich zum
Menschen führe. Weiterhin zeigt sich in der Gehirnanatomie wie
auf sonstigen Gebieten, dass wir uns immer wieder gar zu leicht
dazu verleiten lassen, nachdem einmal der Glaube an die Gipfel-
stellung des Menschen da ist, allerhand vermeintliche erneute Be-
Franz, Tierverstand und Abstammungslehre. 385
weise für sie zu finden. Es ist populär, zu sagen, der Mensch habe
das windungsreichste und das größte Gehirn (Gehirn hier — Groß-
hirn). Beides trifft durchaus nicht zu, würde übrigens auch nicht
das Geringste beweisen. Denn der Windungsreichtum des Gehirns
zeigt, abgesehen von so merkwürdigen nen wie z. B.
seiner enormen Entwickelung bei Pinnipediern, die durch Ver-
gleichung nahe verwandter Senn stets festzustellende Ge-
setzmäßigkeit, dass er bei kleineren Arten resp. kleineren Gehirnen
stets viel geringer ist als bei größeren. Das heisst also, er ist keine
absolute Größe. Ebenso ist die Größe des Gehirns, sein Gewicht,
absolut gemessen, viel weniger entscheidend als das relative Ge-
wicht, dasjenige im Verhältnis zum übrigen Körper. Aber auch
dieses gibt längst kein einwandfreies Maß, da „ceteris paribus“ oder
im Durchschnitt größere Tiere immer ein geringeres relatives Hirn-
gewicht haben als kleinere. Bedenkt man noch, dass die verschie-
denen Tierkörper selber untereinander gar nicht quantitativ ver-
gleichbar sind, dass z. B. die riesige Muskel- und in Abhängigkeit
davon sonstige Körpermasse, die das Wasserleben beim Wal sowie
beim Fisch er in. dert, etwas ganz anderes bedeutet als die geringeren
Körpermassen eines le: es, welches wiederum von jedem Vogel
an Leichtheit des Körperbaues übertroffen wird, so erkennt man
leicht, dass uns in den angeführten Argumenten jegliche Handhabe
für eine psychologische Hirnbeurteilung fehlt. Höchstens soviel
können wir uns wohl sagen, dass das Fischgehirn an relativer
Größe nicht so ungünstig dasteht wie es anfangs scheint, da eben
der Fisch eine verhältnismäßig so sehr große Körpermasse hat;
dagegen können wir nach dem Gehirnbaue nicht entscheiden, ob
der Mensch ein besser entwickeltes Gehirn hat als der Affe oder
das Pferd, oder ob vielmehr sein Gehirn nur deshalb relativ mäch-
tiger entwickelt erscheint, weil sein Körper faktisch so viel schmäch-
tiger entwickelt ist. Bemerkt sei noch, dass innerhalb der Spezies
Mensch eine Zunahme der Gehirnentwickelung vom „Wilden“ zum
„Kulturmenschen“ nicht einwandfrei festzustellen ist (vgl. Kohl-
brugge). Einiger eventuell zur psychologischen Gehirnbeurteilung
heranziehbarer Kriterien haben wir noch nicht gedacht. Über den Reich-
tum an Dendritenverzweigungen bei Tieren wissen wir fast gar nichts.
Über den Reichtum an Zellen elenmen, !), der ganz offenbar von der
absoluten Größe des Gehirns viel ushenlenie: abhängt als von
seinem Reichtum an Gedanken, brauchen wir wohl kaum Worte zu
verlieren. Eher könnte.dies verlangt werden bezüglich der Edinger’-
schen Stirnlappenlehre, deren Ergebnisse, mit den Brodmann'-
schen Untersuchungen über den feineren Bau der Hirnrinde und
die histologische Abgrenzbarkeit ihrer einzelnen Felder in diesem
Punkte harmonierend, wiederum die Höchststellung des Menschen
ergeben. Es ist mir zurzeit nicht möglich, über diese Forschungen
394 Franz, Tierverstand und Abstammungslehre.
ebenso entschieden zu urteilen wie über die landläufigen Lehren
betreffend Größe und Windungsreichtum des Gehirns. Es sei nur
daran erinnert, dass diese Ergebnisse noch sehr neu sind und auf
einer schließlich doch recht geringen Zahl von untersuchten Tier-
arten fußen, so dass sie nur mit Vorsicht zu allgemeinen Schlüssen
zu verwerten sind. Genug, es haben sich diejenigen Tatsachen,
auf Grund deren man früher und bis in diese Zeit die Gipfel-
stellung des menschlichen Gehirns erweisen zu können glaubte, als
hierfür durchaus nicht hinreichend erwiesen.
Mag schließlich am menschlichen Gehirn sich ein auch für den
Anatomen bemerkbarer, auf Rechnung der Kulturanlagen zu setzender
Überschuss über das Tiergehirn ergeben, zur Überbewertung des
Menschen neigen wir allemal. Da wird man sich fragen müssen,
ob eine solche nicht möglichenfalls auch auf dem Gebiete der ver-
gleichenden Psychologie eingetreten sein könnte, ganz nach dem-
selben Prinzip wie auf dem Gebiete der vergleichenden Anatomie,
wo wir jetzt ihrer Überwindung entgegengehen. Auch auf dem
Gebiete der Tierpsychologie sehen wir an den verschiedenen Tier-
arten doch am leichtesten dasjenige, was uns vom Standpunkte
der menschlichen Psychologie an ihnen auffällt. Mithin fallen
unsere Beschreibungen des Verhaltens der Tiere leicht um so
weniger vollständig aus, je weiter eine Tierart uns verwandtschaft-
lich entfernt ist. Hier liegt eine neue Quelle, die uns verwandt-
schaftlich ferner stehenden Typen für niedere zu halten, während
faktisch bei jedem Tiere die psychologisch in Betracht fallenden
Leistungen um so zahlreicher erscheinen werden, je eingehender
wir uns mit ihm beschäftigen. Dass man die Protisten, selbst die
Bienen, die Fische für Reflexmechanismen ansprechen konnte,
während genauere Beobachtungen bei ihnen allen einen gewissen
Grad von Lernvermögen erkennen ließ, sind Beispiele für das Ge-
sagte. In vielen Fällen haben wir somit „niedere“ Wesen „heben“
müssen. Was wäre denn nun Wunderbares daran, wenn jemand,
der sich mit einem Säugetiere viel eingehender beschäftigt als bisher
jemals geschehen, auch bei dieser Tierart auf die Spur reicherer
psychischer Leistungen käme, als es früher gelungen ist?
Allen Anschein nach liegt doch bei den Pferden nach den
Beobachtungen v. Osten’s, Krall’s und seiner Besucher wirklich
eine uns bisher nicht bekannt gewesene Lernfähigkeit vor, kein
alleiniges Reagieren auf Signale. Sie verstehen wohl eine ganze
Anzahl Worte der menschlichen Sprache, auch manchen Satz, können
einfachere Rechenaufgaben lösen und schwierigere wie z. B. Wurzel-
ausziehungen halb ratend finden, verhalten sich also hierin, übrigens
auch in manchem anderen Punkte, z. B. in der Irritierbarkeit durch
eine Kommission, etwa so wie ein im Kopfrechnen besonders ge-
schickter Schulknabe. Auch ein Schulknabe sucht die richtige
Bernstein, Elektrobiologie. 38d
Antwort oft außer durch Nachdenken auch durch Ablesen von der
Miene des Lehrers zu finden, auch er benutzt also „Signale“, mit
deren wissenschaftlicher Analyse man sich noch nicht befasst
hat. So etwa möchte ich die Sache bis auf weiteres auffassen
und damit am nächsten mit Plate übereinkommen, der sich
nicht scheut, auch beim Pferde von Intelligenz zu sprechen, und
dessen in der Naturwissenschaftlichen Wochenschrift abgedruckter
Bericht sich vor denen aller anderen Forscher durch Mitteilung
prinzipiell neuer Beobachtungen zur Sache auszeichnet, nämlich
von Berechnungen über die Zahl der falschen und richtigen Ant-
worten, die seine Annahme stützen. —
Doch meine Absicht ist durchaus nicht, mich in der Frage
der Pferdeintelligenz auf einen bestimmten Standpunkt festzulegen,
sondern einstweilen zu zeigen, dass selbst die Krall’sche Auf-
fassung nicht nur der Entwickelungslehre nicht wider-
spricht, sondern vielmehr gerade in derjenigen Rich-
tung liegen würde, nach welcher hin wir die Entwicke-
lungslehre gegenwärtig umgestalten müssen.
Julius Bernstein. Elektrobiologie.
Die Lehre von den elektrischen Vorgängen im Organismus auf moderner Grund-
lage dargestellt. (Die Wissenschaft. Heft 44.) 8. IX und 215 Seiten. Braun-
schweig. 1912. F. Vieweg & Sohn.
Die neuen Erkenntnisse, welche durch die physikalisch-chemischen
und andere Forschungen für das Entstehen elektrischer Potential-
differenzen in geschlossenen, nur aus Leitern zweiter Klasse ge-
bildeten Stromkreisen geschaffen worden sind, konnten nıcht ohne
Einfluss auf die Auffassung der elektrobiologischen Erscheinungen
bleiben. Als E. du Bois-Reymond die Gesamtheit dieser Er-
scheinungen, soweit sie bis dahin bekannt waren oder durch seine
eigenen mustergültigen Forschungen festgestellt wurden, im Zu-
sammenhang darzustellen versuchte, musste er sich naturgemäß auf
die damals gangbaren Anschauungen stützen!). Diese gingen aus
von der Annahme sogenannter elektromotorischer Kräfte,
welche bei dem Kontakt chemisch-differenter Substanzen auftreten,
ohne dass man über den Zusammenhang dieser Kräfte mit den
chemischen (oder auch physikalischen) Unterschieden der sich be-
rührenden Stoffe genauere Vorstellungen hatte. Die Potential-
1) Die erste Veröffentlichung seiner Untersuchungen brachte du Bois-Rey-
mond in einem kurzen Aufsatz in Poggendorf’s Annalen 1843. Von seinem
großen Werk erschien der 1. Band 1848, die erste Hälfte des 2. Bandes 1849, eine
Fortsetzung 1860, eine zweite 1884, ohne dass das Werk vollendet wurde. Viele
Nachträge wurden gesammelt in dem Werke: Gesammelte Abhandlungen zur allge-
meinen Muskel- und Nervenphysik. Bd. 1, 1875. Bd. 2, 1875. Außerdem sind
noch zu nennen die Untersuchungen am Zitteraal. 18S1,
386 3ernstein, Elektrobiologie.
differenzen als gegeben angesehen, suchte dann du Bois-Rey-
mond, offenbar unter dem Einfluss der Ampere’schen Magnet-
theorie die auftretenden Ströme durch die Anordnung kleiner
Elemente, an denen die elektromotorischen Kräfte haften sollten,
die anderungen derselben durch Lageänderungen jener Teilchen
darzustellen. Dass er jene Elemente als „Molekeln“ bezeichnete,
halte ich für einen unglücklichen Griff. Im übrigen bin ich noch
heute der Ansicht, dass seine Darstellung dem damaligen Stande
der wissenschaftlichen Kenntnis vollkommen entsprochen habe.
Aber theoretische Darstellungen müssen es sich gefallen lassen,
modifiziert oder auch vollkommen umgestoßen zu werden, wenn
neue Anschauungen Platz greifen, welche den Tatsachen auf ein-
fachere Weise gerecht werden, oder wenn gar neue Tatsachen die
alte Darstellungsweise als ungenügend erweisen. Eine solche neue
Grundlage für die Darstellung fand der Verfasser des vorliegenden
Werkes ım Anschluss an Vorarbeiten anderer ın der „Membran-
theorie“ 1902. Ihrer Auseinandersetzung und Begründung ist
das Buch gewidmet, doch enthält es auch eine Weiterentwickelung
und bringt eine Darstellung des Gesamtgebietes an der Hand einer
durch theoretische Erwägungen begründeten Auseinandersetzung.
Das erste Kapitel gibt eine kurze historische Darstellung, be-
ginnend mit den Versuchen von Galvanı und Volta bis zur Alte-
rationstheorie von L. Hermann, das zweite einen Bericht über
die Theorie der elektrischen Ketten von W. Gibbs und H. v. Helm-
holtz, die Nernst’sche Theorie der Konzentrationsketten und der
Phasengrenzkräfte nach Nernst und Riesenfeld. Das dritte be-
richtet über die elektrischen Vorgänge ın Nerven und Muskeln in
ihrer Beziehung zur Erregung, Reizleitung und Kontraktion. Hier
werden des Verfassers Versuche mit dem Differentialrheotom er-
wähnt, welche den Nachweis geliefert haben, dass eine erregte
Stelle negative Spannung annımmt gegen alle ruhenden Stellen
und dass diese Spannungsänderung sich in Nerven und Muskeln
mit der gleichen Geschwindigkeit fortpflanzt wie die Erregung,
sowie die Bestätigung und Erweiterung dieser Erfahrungen durch
Versuche mit dem Kapillarelektrometer und dem Saitengalvano-
meter, wobei zu bemerken ist, dass beim Muskel die Reizwelle in
ihrem Hauptteile bereits abgelaufen ist, ehe eine merkliche Zu-
sammenziehung beginnt. Man hat hieraus den Schluss gezogen,
dass die elektrischen Vorgänge im Muskel an eine andere Substanz
gebunden seien als die mechanischen. Die möglichen Deutungen
der Versuchsergebnisse, auch bei Vergleichung der isotonischen
und ıisometrischen Zuckung sowie bei wiederholten Reizungen
(Tetanus) werden besprochen, ohne dass der Verfasser zu einer
abschließenden Anschauung gelangt. Das vierte Kapitel bespricht
die analogen Erscheinungen an Nerven, wobei die Unterschiede
besprochen werden, welche man an verschiedenen Nerven gefunden
hat, ferner die wenigen Erfahrungen am Zentralnervensystem, die
ergiebigeren am Herzen (Elektrokardiogramm), die Versuche an
glatten Muskelfasern und an der Netzhaut des Auges bei Belichtung.
Bernstein, Elektrobiologie. 387
Im fünften Kapitel wird die Membrantheorie vorgetragen,
welche Herr Bernstein zum Ersatz der du Bois-Reymond’schen
Molekulartheorie aufgestellt hat. Nachdem Ostwald gefunden
hatte, dass halbdurchlässige Membranen sich verschieden gegen die
Ionen eines Elektrolyts verhalten, so dass die Kationen sich auf
der einen, die Anıonen auf der anderen Seite der Membran an-
häufen und dass dadurch größere Potentialdifferenzen entstehen
als sonst ın Flüssigkeitsketten, sprach er schon die Vermutung aus,
dass dies zur Aufklärung über die biologisch-elektrischen Erschei-
nungen dienen könnte. "Zehn Jahre später (1901 und 1902) kamen
Oker-Blom und Bernstein auf diese Theorie zurück. Bern-
stein unternahm die Untersuchung des Muskelstroms nach thermo-
dynamischen Gesichtspunkten.
Aus den (im zweiten Kapitel behandelten) Untersuchungen von
v. Helmholtz über Konzentrationsketten, bei denen gar keine
chemische Aktion stattfindet, geht hervor, dass bei ihnen die elek-
trısche Energie auf Kosten den Flüssigkeiten entzogener oder von
außen zugeführter Wärme entsteht und dass ihre elektromotorische
Kraft proportional der absoluten Temperatur steigt. Sie haben
einen positiven Temperaturkoöffizienten. Als nun Bernstein die
elektromotorische Kraft des Muskels daraufhin untersuchte, ergab
sich das Gleiche (1902). Hierauf sich stützend entwarf er die
Membrantheorie der bioelektrischen Ströme. Denkt man sich
(es ist zunächst nur vom Muskel die Rede) die Muskelfaser von
einer semipermeablen Membran umhüllt, das Innere derselben von
einer stärkeren Konzentration eines Elektrolyten erfüllt und außen
von einer schwächer konzentrierten Lösung umspült, so treten die
positiven Ionen durch die Membran, während sich die negativen
an der Innenfläche ansammeln. Diese Membran umschließt ent-
weder das ganze histologisch als Muskelfaser bezeichnete Gebilde,
oder jede sogenannte Fibrille, was Bernstein als wahrscheinlicher
ansieht. Wird irgendwo ein Querschnitt angelegt, so tritt hier an
die Stelle des Membranpotentials ein viel schwächeres freies
Diffusionspotential. Der Querschnitt muss daher negativ gegen den
Längsschnitt werden. Der stärkere Potentialsprung liegt also am
Längsschnitt, nicht am Querschnitt, wie es nach Hermann’s Alte-
rationshypothese anzunehmen wäre. In Ubereinstimmung damit
findet Bernstein, dass bei ungleichen Temperaturen verschiedener
Stellen des Muskels die wärmere Stelle positiv ist gegen die kältere
und dass diese Ströme nahezu proportional den Temperaturdiffe-
renzen sind. Wird der Strom von Längs- und Querschnitt abge-
leitet, so ist die Stärke des Stromes nur von der Temperatur der
Längsschnittstelle, nicht von der des Querschnittes abhängig.
Ähnliche „Temperaturströme* zeigen verschiedene Längsschnitt-
stellen des Nerven, wenn ihre Temperaturen ungleich sind. Da-
gegen wird der Längs-Querschnittstrom des Nerven beim Erwärmen
des Querschnittes schwächer, beim Abkühlen stärker, was dadurch
erklärt wird, dass sich der Querschnitt des Nerven schnell durch
eine Membran abgrenze (Ran vier’sche Schnürringe?). Die negative
388 Der XIII. Internationale medizinische Kongress.
Schwankung wird erklärt durch die Annahme, dass die Membran
an den chemischen Veränderungen teilnehme, welche bei der Rei-
zung vor sich gehen und dass sie dabei für die negativen Ionen
durchgängiger werde. Daher könne auch bei stärkster Reizung die
Potentialdifferenz höchstens bis Null heruntergehen, aber niemals
sich umkehren, was durch Versuche mit dem Rheotom und dem
Quecksilberelektrometer belegt wird.
Das sechste Kapitel handelt von den elektrischen Fischen und
zeigt, dass auch hier die Erscheinungen sich durch die Membran-
theorie ungezwungen deuten lassen und dass alle festgestellten Er-
scheinungen mit ıhr ım Einklang sind. Im siebenten Kapitel wird
die innere Polarisation und die elektrische Reizung besprochen.
Der sogenannte Elektrotonus wird nach der Kernleiterhypothese
von Hermann dargestellt, die Polarisation aus den Annahmen der
Membrantheorie abgeleitet. Sodann werden die Gesetze der elek-
trischen Erregung von du Bois-Reymond, Hoorweg und von
Nernst besprochen und gezeigt, dass die Nernst’schen Formeln
sich sehr gut mit der Membrantheorie vereinigen lassen. — Im
achten Kapitel werden die Haut- und Drüsenströme und ihre Be-
deutung für die Sekretion und Resorption besprochen und auf Grund
der Erscheinungen der Elektroosmose gleichfalls eine Membran-
theorie derselben entwickelt, im neunten Kapitel wird diese auf
alle Zellen übertragen und daran eine Deutung der Pflanzenströme
und der Reizbewegungen beı Pflanzen geknüpft; das zehnte Kapitel
endlich beschäftigt sich mit der Elektrokinese, welche auch zur
Erklärung der karyokinetischen Erscheinungen verwertet wird. Auf
den Inhalt dieser Kapitel gehe ich nicht ım einzelnen ein, weil es
sich dabei um die ersten Schritte der Deutung der Erscheinungen
auf der Grundlage der Membrantheorie handelt, welche allerdings
auch durch einzelne Versuchsergebnisse gestützt werden. — Ein
Anhang endlich gibt eine kurze aber lesenswerte Beschreibung des
(uecksilberelektrometers und des Saitengalvanometers.
Fassen wir alles zusammen, so können wir ın der Membran-
theorie einen sehr beachtenswerten Versuch sehen, unsere Kenntnis
der elektrobiologischen Erscheinungen mit dem heutigen Stand der
physikalisch-chemischen Errungenschaften in Einklang zu bringen.
Noch geht die Durchführung der Darstellung nicht ohne Mithilfe
von allerlei Hilfshypothesen ad hoc ab. Immerhin aber ergibt die
Theorie den Ausblick auf eine Anzahl von Versuchen, welche bisher
nur ungenügend in Angriff genommen worden sind, und deren
weitere Verfolgung imstande sein wird, uns neue Anschauungen
zu vermitteln. J. Rosenthal.
Der XIII. Internationale medizinische Kongress wird zu London
vom 9. bis 12. August 1913 abgehalten werden. — Anmeldungen sind zu richten
an „Ihe Treasurers of the VIIIth International Congress of Medicine, 13 Hinde
Street, London W.“ Beitrag 20 Mk. — für Damen die Hälfte.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen,
Biologisches Gentralblatt
Unter Mitwirkung von
Dr. .R.. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herru Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
BaXxxım.
So, Mm
Inhalt: Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.. — Schwantke, Bemerkungen zur Tier-
psychologie veranlasst durch den Aufsatz von Camillo Schneider: Die rechnenden !’ferde.
— Carazzi, Über die Schlafstellung der Fische. — Baunacke, Studien zur Frage nach
der Statoeystenfunktion. — Hertwig, Allgemeine Biologie. — Berichtigung.
Selbststerilität und Individualstoffe.
Von €. Correns').
Einleitung und Literatur.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, dass im Tierreich wie ım
Pflanzenreich den erblichen Unterschieden, die eine Art von ihren
nächsten Verwandten trennen, stets stoffliche Differenzen zugrunde
1) Die nachfolgende Untersuchung ist in der „Festschrift zur S4. Versammlung
Deutscher Naturforscher und Ärzte in Münster in Westfalen“, herausgegeben von
der Medizinisch-Naturwissenschaftlichen Gesellschaft zu Münster, S. 1586— 217, an-
fangs September 1912 erschienen. Da sie an dieser Stelle schwer zugänglich sein
und doch einiges allgemeineres Interesse besitzen dürfte, bin ich dankbar dafür,
dass sie auch in das Biologische Centralblatt aufgenommen werden konnte. Sie ist
bis auf wenige Korrekturen ganz unverändert geblieben; ein kleiner Zusatz über die
Ursache der Selbststerilität bei (ardamine auf S. 319 steht in Klammern.
Nachdem die Versuchspflanzen, auf deren Verhalten sich die nachstehende
Mitteilung gründet, den Winter von 1910 auf 1911 alle sehr gut überstanden hatten,
gingen im Winter 1911 auf 1912 mehr als zwei Drittel zugrunde, darunter die eine
unersetzliche Stammpflanze und sämtliche Ableger, die ich davon gemacht hatte, so
dass ich 1912 von vorn anfangen musste. Da es mindestens zwei Jahre dauern
wird, ehe ich wieder so weit bin, wie ich schon war, gebe ich hier einstweilen die
gewonnenen Resultate und behalte mir vor, auf das Thema zurückzukommen. Im
einzelnen noch unvollständig, sind die Ergebnisse doch im Hauptpunkt beweisend,
dafür, dass die Hemmungsstoffe, die die Selbststerilität der Cardamine pratensis
bedingen, nach bestimmten Gesetzen vererbt werden und keine Individualstoffe sind.
XXXIl. 26
390 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
liegen. Das ist bei Unterschieden in der chemischen Zusammen-
setzung und ım Stoffwechsel ohne weiteres deutlich, wenn z. B.
zwei Tierarten verschieden kristallisierende Hämoglobine besitzen
oder die Verschiedenheit ihrer Blutsera durch das Ausbleiben der
Präzipitinreaktion verraten. Aber auch wenn die für uns erkenn-
baren Merkmale selbst nicht stofflicher Natur sind, wenn sie z. B.
in Form- oder Größenunterschieden bestehen, müssen wenigstens
die Anlagen, auf deren Entfaltung unter den gegebenen äußeren
Bedingungen das Auftreten der betreffenden Merkmale beruht,
chemisch verschiedene Körper sein.
Man darf also mit gutem Recht von spezifischen chemischen
Stoffen sprechen; sie finden sich überall da, wo wir zwei syste-
matische Einheiten durch konstante Unterschiede auseinander halten
können, mag es sich dabei um „Arten“ handeln oder um Einheiten,
die eine höhere Rangstufe einnehmen, also Gattungen, Familien etc.
sind, oder um Einheiten, die eine niedrigere Stufe darstellen und
nur den Wert von Varietäten, Elementararten oder gar „Linien“
haben.
Immer mehr bricht sich die Erkenntnis Bahn, dass auch ganz
geringfügige Merkmale vererbt werden, konstant sein können. Seit
den 50er Jahren des verflossenen Jahrhunderts haben Alexis
Jordan und andere auf botanischem Gebiet gezeigt, dass eine ganze
Reihe Linn&’scher „guter“ Arten aus einer Menge, oft aus einer
Unzahl nächstverwandter, wenig verschiedener Sippen, „Elementar-
arten“ („petites especes“) bestehen, die bei der Aussaat wieder
genau ihresgleichen hervorbringen.
Das Frühlingshungerblümchen (Erophila verna) und das Stief-
mütterchen (Viola tricolor) sınd z. B. schon von Jordan selbst so
zerlegt worden, Frauenmantel (Alchimilla vulgaris) und Löwenzahn
(Taraxacum officinale) erst ın neuerer Zeit. — Als sich zu Anfang
unseres Jahrhunderts diese Erkenntnis allgemein durchgesetzt hatte,
trat W. Johannsen mit dem Nachweis hervor, dass auch eine
solche Elementarart noch nichts Einheitliches ist oder doch nichts
Einheitliches zu sein braucht. Eine Gartensorte, z. B. die „braune
Prinzessbohne“, besteht wieder aus einer Menge noch einfacherer,
voneinander sehr wenig verschiedener, aber konstanter systematischer
Einheiten niedrigsten Grades, „Linien“, deren Existenz sich nur
durch besonders exakte Vererbungsversuche nachweisen lässt. Die
Wirkung der vorübergehenden, das einzelne Individuum während
der Ausbildung des Merkmals treffenden äußeren Einflüsse kann
viel größer ausfallen als die Wirkung der inneren Verschieden-
heiten der Linien unter sich, also der für die einzelnen Linien cha-
rakteristischen Anlagen. Die Linien sind dann als solche nicht
ohne weiteres auseinander zu halten, sondern bilden zusammen eine
„Population“. Die Unterscheidung zwischen dem, was von den
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 29]
Eigenschaften eines Individuums durch die veränderlichen äußeren
Einflüsse (die „Ernährung“ ım weitesten Sinne) bedingt wird, und
dem, was von der (säkular) unveränderlichen, inneren Beschaffen-
heit, den Anlagen, abhängt, tritt nach diesen Untersuchungen erst
recht scharf hervor.
Solche niedrigsten systematischen Einheiten, wie die Linien
Johannsen’s, sind sicher überall ım Tier- und Pflanzenreich vor-
handen. Sie sind aber nur da ohne weiteres nachzuweisen, wo die
Fortpflanzung ausschließlich oder fast ausschließlich durch Selbst-
befruchtung oder auf ungeschlechtlichem Wege vor sich geht. Je
sicherer durch Geschlechtertrennung, Selbststerilität oder auf andere
Weise dafür gesorgt ist, dass die Linien fortwährend untereinander
bastardiert werden, desto schwerer ıst ıhr Nachweis, bis er schließ-
lich fast unmöglich wird.
Man wird mit vollem Recht selbst den Linien Johannsen’s
spezifische Stoffe, „Linienstoffe“, zuschreiben dürfen, und
es ist verführerisch, noch einen Schritt weiter zu gehen und als
letzte Konsequenz auch für die einzelnen Individuen einer Linie
verschiedene . charakteristische chemische Stoffe, „Individual-
stoffe“, anzunehmen. In diesem Sinne haben sich z. B. Ham-
burger, Abderhalden, Jost?) geäußert. Abderhalden’) spricht
z. B. von Tatsachen, die wohl geeignet sind, „nicht nur jede Tierart,
sondern vielleicht auch jedes Einzelindividuum als ein in seinem
ganzen Stoffwechsel wohlabgegrenztes und charakterisiertes Wesen
erscheinen zu lassen.“ Auch V. Häcker*) hält sich mit R. Fick
berechtigt, nicht nur von Art-, sondern auch von Individual-
plasma zu sprechen.
Meiner Meinung nach hat man nur dann ein Recht, von einem
„Individualstoff“ zu sprechen, wenn man darunter einen dem be-
treffenden Individuum eigenen, bestimmten chemischen
Körper, wenn auch von sehr kompliziertem Bau, verstehen will.
In diesem Sinne ist der Begriff Individualstoff jedenfalls von einem
Teil der genannten Autoren, z. B. von Jost, verstanden worden.
Um die Möglichkeit zu beweisen, dass jedes Individuum einer
Linie oder Art einen anderen Individualstoff ausbildet, hat man auf
die zahlreichen Modifikationen hingewiesen, in denen eine sehr
kompliziert gebaute organische Verbindung vorkommen kann.
2) L. Jost, Über die Selbststerilität einiger Blüten. Botan. Zeit. 1907, Heft V
u. VI (1907), p. 112; hier die Zitate für Hamburger (Arteigenheit und Assimi-
lation, Leipzig und Wien 1903) und E. Abderhalden (Der Artbegriff und die
Artkonstanz auf biologisch-chemischer Grundlage. Naturwiss. Rundschau, p. XIX,
p- 557, 1904).
3) E. Abderhalden, Lehrbuch der physiologischen Chemie, II. Aufl., p. 591
(1909).
4) V. Häcker, Allgemeine Vererbungslehre, II. Aufl., p. 27 (1912).
26*
399 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
Miescher?’) hat wohl zuerst ın ähnlichem Zusammenhang betont,
dass ein Eiweiß- oder Hämoglobinmolekül bei seiner enormen Größe
und seinen vielen asymmetrischen Kohlenstoffatomen eine kolossale
Menge von Stereoisomeren erlaubt. Danach scheint es auf den
ersten Blick wohl möglich, dass jedes Individuum eines größeren
Artbestandes, z. B. eines Roggenfeldes, sein eigenes Isomer besitzt,
wenn es auch für die Gesamtheit aller in einem Jahre vorhandenen
Roggenpflanzen ®) kaum möglich wäre. Überlegt man sich die Sach-
lage aber näher, so wird man, wie ich glaube, bald finden, daß sie
nicht so einfach ıst. Nur dann ist z. B. die Möglichkeit gegeben,
dass jede Roggenpflanze eines Feldes auch wirklich ein anderes
Isomer erhält, wenn entweder die einzelnen Isomeren überlegt
auf die einzelnen Pflanzen verteilt werden, was natürlich ausge-
schlossen ist, oder wenn, bei Entstehung und Verteilung durch den
Zufall, die Zahl der Isomeren unendlich viel größer ıst als die Zahl
der Pflanzen. Sonst müssen sehr rasch Wiederholungen eintreten
und dieselben Individuen denselben Stoff erhalten”).
Schon von dieser Seite dürften der Annahme, dass jedes, oder
annähernd jedes Individuum seinen eigenen Stoff bildet, sehr erheb-
liche Bedenken entgegenstehen; die Hauptschwierigkeit scheint mir
aber auf einer anderen Seite zu liegen.
Die Bildung der Stoffe, dıe für die einzelnen Individuen cha-
rakteristisch sein sollen, kann nicht von äußeren Einflüssen
abhängen, denn dann wären sie nicht dem einzelnen Individuum
eigen, sie kann auch nicht durch Anlagen bestimmt sein, dann
5) Fr. Miescher, Histochemische und physiologische Arbeiten, Bd. I, p. 117
(1897).
6) Rechnet man die mit Roggen bebaute Fläche für Deutschland zu 6 Millionen
Hektar, für Europa zu 41 Millionen (nach dem statistischen Jahrbuch für das
Deutsche Reich, 1903) und nimmt für den Quadratmeter 100 Roggenpflanzen an,
so erhält man für jedes Jahr 6 resp. 41 Billionen Roggenpflanzen.
7) Es sei die Zahl der Individuen so groß, wie die Zahl der möglichen Iso-
merien, nämlich — n, und der Zufall entscheide nicht nur, was für ein Isomer jedes-
mal entsteht, sondern auch, welches Individuum dieses Isomer in jedem einzelnen
Falle erhält, so stehen für das zweite Individuum nicht mehr n-Isomerien zur Ver-
fügung. sondern nur n—1 (eine hat ja schon das erste Individuum erhalten), für
das dritte n- 2, für das vierte n—3 u. s. w., bis für das letzte Individuum nur noch
ein Isomer übrig ist. Für das zweite Individuum sind die Chancen, ein anderes
n-(n—1)-(n—2)
nn ussathe
Isomer zu erhalten als das erste, ee für das dritte
!
n:
für das letzte =. Dieser Wert n! wird mit steigendem n sehr rasch verschwindend
74
klein gegenüber den Potenzen von n. Für n = 2 ist die Chance, dass jedes Indi-
viduum ein anderes Isomer bekommt, 4, fürn =3 ist sie 6, firn=4,4, für
n = 55,15%, für n= 6 schon „12%, u.s. w. Nur dadurch, dass die Zahl der mög-
lichen Isomerien größer ist als die der zu versehenden Pflanzen, und zwar in einem
Verhältnis, das sehr viel rascher zunimmt als die Zahl der Pflanzen, kann das aus-
geglichen werden.
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 393
wären sie ererbt und würden von Generation zu Generation weiter
gegeben, und es könnte sich ebenfalls nicht um den einzelnen Indi-
viduen eigene Stoffe handeln. Es müsste vielmehr jedesmal bei
der Befruchtung, aus der das Individuum hervorgeht, eine besondere
Verbindung oder ein besonderes Isomer entstehen, konstant für das
betreffende Individuum — denn dieses besitzt sie sein Leben lang —,
aber mit dem Individuum zugrunde gehend, wobei der „Zufall“ die
stets wechselnde Atomgruppierung besorgen müsste.
Nun kennen wir aber zurzeit mit Sicherheit an den Organısmen
des Tier- und Pflanzenreichs keine anderen Eigenschaften als solche,
die entweder von inneren vererbten Anlagen oder von äußeren
Einflüssen herrühren, oder, richtiger ausgedrückt, wir kennen nur
Eigenschaften, die auf inneren Anlagen beruhen und unter dem
Einfluss der äußeren Faktoren entfaltet werden. Für Eigenschaften,
die so entstünden, wie die Individualstoffe entstehen müssten, fehlen
sichere Beispiele. Jost hat dies deutlich empfunden; er sagt°):
„Schwieriger ist die Frage nach der Entstehung immer neuer solcher
Stoffe bei der fortwährenden Neuentstehung von Individuen.“ Das
beweist natürlich nicht, dass es solche Eigenschaften nicht geben
kann, mahnt aber zur Vorsicht und fordert dazu auf, das ganze
Problem der „Individualstoffe“ genauer zu prüfen. Eın Versuch
dazu soll im folgenden gemacht werden, durch Untersuchung der
Selbststerilität. Wenn irgendwo, so scheint hier die Annahme
besonderer, für jedes Individuum eigentümlicher Stoffe berechtigt,
wie wir gleich sehen werden.
Es ist eine Anzahl Blütenpflanzen bekannt, bei denen zwar
Staubgefäße und Stempel in derselben Blüte in durchaus tauglichem
Zustand ausgebildet werden, bei denen aber die Belegung der Narbe
mit dem eigenen Blütenstaub völlig oder fast völlig unwirksam ist.
Sie sınd „selbststeril“. Dabei bleibt es sich im wesentlichen
gleich, ob der Blütenstaub aus den Staubgefäßen derselben Blüte
stammt oder aus denen einer anderen Blüte desselben Stockes.
Ja, auch der Blütenstaub eines anderen Individuums, das auf un-
geschlechtlichem Wege, als Steckling, als Ableger, als Pfropf-
reis etc., aus dem ersten hervorgegangen ist oder von der gleichen,
ungeschlechtlichen Herkunft ıst, bleibt wirkungslos. Mit dem
„tremden“ Blütenstaub eines anderen, auf geschlechtlichem Wege
entstandenen Individuums trıtt dagegen normaler Fruchtansatz ein.
Entsprechendes kommt auch bei hermaphroditischen Tieren vor;
die Eier lassen sich dann durch das Sperma desselben Individuums
nicht befruchten.
Diese für Pflanzen schon längere Zeit, vor allem durch Darwin?)
Else Selkl.
9) Ch. Darwin, Die Wirkungen der Kreuz- und Selbstbefruchtung im Pflanzen-
reich. Stuttgart 1877, p. 3221.
394 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
bekannt gewordene Erscheinung ist zuletzt von L. Jost!) einer
eingehenden Untersuchung unterworfen worden, wobei die Frage
nach den Ursachen der Selbststerilität im Vordergrund stand.
Jost konnte nachweisen, dass bei solchen Gewächsen der eigene
Blütenstaub schon auf der Narbe und dann weiterhin im Griffel
in seiner Entwickelung (bei der Bildung der Pollenschläuche) ge-
hemmt ıst, so dass die Befruchtung der Eizellen in den Samen-
anlagen des Fruchtknotens nicht oder nur ausnahmsweise eintreten
kann, während der fremde Blütenstaub die zur Befruchtung nötigen
Schläuche ungehindert entwickeln kann. Jost sieht als Ursache
dafür die Anwesenheit „individueller“ Stoffe an, wie vor ihm schon
Strasburger!!), wenn auch in etwas anderem Sinne. Er neigt
zur Ansicht, dass die eigenen Individualstoffe gleichgültig seien,
dass dagegen die individuellen Stoffe aus einer anderen Blüte
Stimulantıa sind, und stützt sich dabei auf Erfahrungen, die er
bei seinen Versuchen, Pollenkörner in künstlicher Nährlösung zur
normalen Schlauchbildung zu bringen, machte. Es stellte sich
dabei heraus, dass das nie gelang. Die Schläuche blieben, auch
günstigsten Falles, viel zu kurz. Das führte ihn zu der Annahme,
dass ıhnen m der Natur von Narbe und Griffel Stoffe geboten
werden, die wachstumsfördernd wirken, und dies wiederum zur An-
nahme, dass bei den selbstbestäubten Blüten selbststeriler Pflanzen
diese nötigen Reizstoffe für Pollenkörner und Pollenschläuche nicht
vorhanden sind.
Wir wollen hier auf die Gründe für und wider nicht eingehen
und einfach von Hemmungsstoffen sprechen, die die normale
Entwickelung des eigenen Pollens verhindern, mag diese Hemmung
wörtlich zu nehmen sein, oder nur auf dem Ausbleiben einer Förde-
rung der Pollenkeimung beruhen. Darin, dass es sich dabei nicht
um das Protoplasma, oder gar das Idioplasma, handeln kann,
sondern nur um lösliche, diffusionsfähige Stoffe, stimme ich Jost
vollkommen bei.
Es herrscht nun offenbar die Ansicht, dass der Pollen jedes
fremden (aus einem anderen Sexualakt hervorgegangenen) Individuums
10) L. Jost, Über die Selbststerilität einiger Blüten. Botan. Zeit 1907, Heft V
u. VI. Die Fälle, in denen die Narbe verletzt werden muss, damit der Blüten-
staub auf ihr keimen kann, wo aber, nach dieser Verletzung, fremder und eigener
Pollen gleich tauglich zur Befruchtung ist, scheiden für uns aus. Hier besteht
keine Selbststerilität, es muss nur überhaupt ein Insektenbesuch erfolgen, damit
eine wirksame Bestäubung eintritt. Man könnte solche Pflanzen (der Goldregen-
baum, Oytisus Laburnum, gehört dazu) einfach in die Kategorie der „Herkogamen“
stellen.
11) E. Strasburger, Über fremdartige Bestäubungen (Jahrb. f. wiss. Bot.,
Bd. XVII, p. 84), 856.
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 395
die Befruchtung ausführen kann. Jost!?) sagt vorsichtiger, es
scheine so zu sein. Verhielte sich die Sache wirklich so, dann
bliebe freilich kaum etwas anderes übrig, als anzunehmen, dass
„immer neue solche Stoffe bei der fortwährenden neuen Entstehung
von Individuen entstehen“.
Hier konnte das Experiment einsetzen. Auffallenderweise hat
sich aber noch fast niemand mit dieser Fragestellung an die selbst-
sterilen Organismen herangewagt, und die wenigen einschlägigen
Versuchsreihen sind mit Individuen angestellt worden, die aufs
Geratewohl herausgegriffen und nicht unter dem Gesichtspunkt aus-
gewählt waren, ob die Hemmungsstoffe vererbt oder neu gebildet
würden.
Von Darwin!?) haben wir einige Angaben für die Garten-
reseda (Zeseda odorata), deren Individuen teils selbststeril, teils
selbstfertil sind. Er führte zwischen fünf selbststerilen Pflanzen
(A, B,0, D, E) fast alle möglichen Verbindungen aus, die meisten
auf beide Weisen (als Ao+Bd, Bo -+A dete.; es fehlt B+E),
und fand sie alle fertil, während alle Selbstbestäubungen erfolglos
blieben. Leider ist über die Herkunft, resp. die eventuelle Ver-
wandtschaft der fünf Individuen gar nichts bekannt.
Vor allem ist aber hier T. H. Morgan’s'*) zu gedenken, der
bei seinen ausgedehnten Versuchen über die Selbststerilität der
hermaphroditischen Ascidie Oiona auch die Frage studiert hat, ob
das Sperma eines Individuums die Eier aller anderen Individuen
mit gleicher Leichtigkeit befruchten könne. Er hat zu diesem Zweck
über 600 Kreuzungen zwischen verschiedenen Individuen ausgeführt.
Das Ergebnis war, dass durchaus nicht jede Kombination, bei der
fremde Eier und Spermatozoen zusammengebracht wurden, den
gleichen guten Erfolg (Befruchtung) hatte, ja, dass in vielen Fällen
überhaupt keine Befruchtung eintrat. Zum Teil mag daran, worauf
Morgan hinweist, die schädigende Wirkung des Blutes und der
Körpersäfte schuld sein, deren Beimischung bei seiner Versuchs-
anstellung nicht ganz verhindert werden konnte, und deren Menge
bei den einzelnen Versuchen ungleich ausgefallen sein wird. Die
Unterschiede sind aber so groß, dass die Erklärung auch nach
Morgan’s Meinung nicht ganz ausreicht. Es ist also wenigstens
sehr wahrscheinlich, dass bei (ona nicht jedes Individuums Eier
Koyrl.’er pl.
ullre:sp43322u. 32171.
14) T. H. Morgan, Some further Experiments on Selffertilization in Ciona,
Biological Bulletin, Vol. VIII, No. 6, May 1905, und Cross- and Self-Fertilization
in Ciona intestinalis. Arch. f. Entwickelungsmech. d. Organ. XXX (Fest-)Band
für Prof Roux, II. Teil (1910). Die erste Mitteilung aus dem Jahre 1903 ist
mir unzugänglich. — Die Tatsache der Selbststerilität wurde zuerst von Oastle
festgestellt.
>96 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
von jedes Individuums Sperma befruchtet werden können; die von
Morgan mitgeteilten Tatsachen geben aber, soviel ich sehe, keinen
Anhaltspunkt dafür, ob daran die zufällige Ausbildung des-
selben Individualstoffes Schuld ist (S. 3) oder die Überlieferung des-
selben Linienstoffes durch Vererbung.
Die Versuche wurden ım der Weise angestellt, dass die Eier
eines Individuums A z. B. auf sechs Schalen (A, A, A, A, A, A) ın
Seewasser verteilt wurden, die eines zweiten Individuums in gleicher
Weise auf sechs Schalen (B,B,B...) u s. w., bis die Eier von
sechs Tieren (A—F) in 36 Schalen verteilt waren. Dann wurde
das Sperma des Individuums A dem Vas deferens entnommen und
zu je einem Gefäß mit den Eiern von A, von B, von Ü u. s. w.
gegeben, hierauf mit dem Sperma von B in gleicher Weise ver-
fahren u. s. w., bis jede der 36 möglichen Kombinationen der sechserlei
Eier und .Spermatozoen ausgeführt war. Im folgenden gebe ich
einen beliebig herausgegriffenen Versuch Morgan’s mit vier Indi-
viduen wieder, der sich nach dem eben Gesagten von selbst erklärt.
Die Eier sind mit großen, das Sperma mit kleinen Buchstaben be-
zeichnet, die Zahlen unter den einzelnen Kombinationen geben die
Prozentzahl der befruchteten Eier an, die ın der betreffenden
Schale gefunden worden waren:
Aa Ab Ac Ad
0) 2 (0) te)
Ba Bb Be Bd
100 () 50 100
0a Cb Öe Od
100 100 0) 100
Da Db De Dd
5 2 1 0)
Aa, Bb, Ce, Dd sind die resultatlos gebliebenen, auf Selbst-
befruchtung hinzielenden Kombinationen; von den auf Fremdbefruch-
tung hinauslaufenden gehören immer zwei als reziprok zusammen:
Ab und Ba, Ac und Ca ete. Es muss auffallen, dass diese Paare
sehr oft unähnliche Resultate gegeben haben, nicht bloß in der
oben reproduzierten Versuchsreihe, sondern überhaupt. Hierbei
mögen zwar ungleich starke Verunreinigungen mit Blut und Körper-
säften eine Rolle gespielt haben, gewiss ist aber auch eine be-
sondere Beschaffenheit des Sperma und Eies bei dem einzelnen
Tier beteiligt. So waren in der oben mitgeteilten Versuchsreihe
die Eier von A und D „poor“, wie Morgan sich ausdrückt. Viel-
leicht spricht sich darin der Anfang einer Geschlechtsdifferen-
zierung aus.
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 397
Auf die zahlreichen Versuche Morgan’s, den Grund der Selbst-
sterilität zu ermitteln und sie womöglich zu überwinden, so dass
Selbstbefruchtung einträte, kann ich hier nicht näher eingehen, so
interessant sie sind; es sei nur bemerkt, dass er die Selbstbefruch-
tung durch künstliche Eingriffe nicht erzwingen konnte. Er nimmt
an, das Ei von Cona verdanke seine „Immunität“ dem eigenen
Sperma gegenüber der Unfähigkeit des Sperma, in dem Eı jene
Prozesse hervorzurufen, die zur Aufnahme des Spermatozoons in
das Ei führen. Es werde nicht die Aktivität des Sperma vom Eı
aus geschädigt, es handle sich vielmehr um eine spezifische Reaktion
zwischen Ei und Sperma an der Eioberfläche.
Die eigenen Versuche.
1. Das Versuchsmaterial.
Die ersten Versuche habe ıch 1902 mit dem Bastard Petunia
nyetaginiflora 4 violacea angestellt, den ich 1901 erzeugt'’) und
von dem ich elf Stöcke überwintert hatte, die alle Geschwister
waren, wenn sie auch zum Teil P. vwolacea, zum Teil P. nyetagini-
flora zum Vater hatten. Als ıch durch Selbstbestäubung die zweite
Generation herstellen wollte, fand ich, dass sechs Individuen selbst-
fertil waren, I, IV, VIIL IX, X, XI, drei ganz selbststeril, II, V,
VII, und zwei, III und VI, fast selbststeril. Ferner wollten durch-
aus nicht alle Verbindungen gelingen. Ich versuchte darauf, soweit
es die gegebene Blütenzahl und Zeit erlaubten, alle möglichen
Kombinationen auszuführen. Die Ergebnisse bestätigten die ersten
Beobachtungen. So gelang es z. B. nie, II mit V oder II mit VII
zu verbinden, weder auf dem einen, noch auf dem anderen Wege,
während andere Kombinationen stets und sehr leicht gelangen.
Auch die Verbindung eines selbststerilen mit einem selbstfertilen
Individuum wollte zuweilen durchaus nicht glücken.
Ich habe 1903 auch bei der zweiten Generation auf das Ver-
mögen, mit eigenen Pollen anzusetzen oder nicht, geachtet. Es
schien mir aber das Material durch das gleichzeitige Auftreten
selbstfertiler und selbststeriler Geschwister und durch das Fehlen
der (nicht aufgehobenen) Elternpflanzen für die weitere Verfolgung
der sofort aufgetauchten Frage nach der Vererbung der Hemmungs-
stoffe nicht besonders geeignet, und ich nahm mir vor, an einer
anderen Pflanze, die für die erste Orientierung günstiger wäre, die
Untersuchung neu aufzunehmen. Es schien mir nämlich von be-
sonderer Wichtigkeit, mıt einem Objekt experimentieren zu können,
das nicht nur das gegenseitige Verhalten der Geschwister zueinander
zu prüfen gestattete, sondern auch das der Kinder zu ihren beiden
15) ©. Correns, Die Ergebnisse der neuesten Bastardforschungen für die Ver-
erbungslehre. Ber. d. Deutsch. Botan. Gesellsch., Bd. XIX, p. (90), 1901.
398 Sorrens, Selbststerilität und Individualstoffe.
Eltern. Wenn irgendwo, so musste sich hier am ehesten die Ver-
erbung der Hemmungsstoffe zeigen. Die Erfahrung hat das auch
bestätigt; an Hand der bis jetzt ermittelten Tatsachen über das
Verhalten der Kinder untereinander wäre es mir kaum möglich
gewesen, zu den später mitzuteilenden, relativ einfachen Ergebnissen
zu gelangen.
Es konnte sich also nur um eine ausdauernde, wiederholt
blühende Pflanze handeln. Dabei war es von Wichtigkeit, dass
der Zeitraum vom Keimen der Samen bis zum Blühen nicht zu
lange dauerte. Versuche, die ich 1904 mit Ialienarten aus der Ver-
wandtschaft des Lilum bulbiferwm begonnen hatte, haben aus
diesem Grunde bis jetzt noch kein Resultat gegeben. Ein ganz
gutes Material schien mir dagegen Oardamine pratensis, unser überall
verbreitetes „Wiesenschaumkraut“, abzugeben. Dass diese Crucifere
selbststeril ist, wurde 1896 von F. Hildebrand, dem wir so viele
hübsche biologische Beobachtungen verdanken, nach sorgfältigen
Versuchen mitgeteilt'‘), Jost!”) konnte diese Angabe bestätigen,
insofern die aus dem botanischen Garten der Universität Straßburg
stammenden Versuchspflanzen überhaupt nicht ansetzten, ja auch
am Standort sich selbst überlassen kaum Früchte ausbildeten. Jost
glaubt, dass ihm eine sterile Rasse, Hildebrand aber eine fertile
vorgelegen habe. Ohne eingehende Prüfung lässt sich das Ver-
halten der Freiburger und Straßburger Cardamine natürlich nicht
definitiv aufklären; ich halte es für möglich, dass Jost mit Indi-
viduen experimentierte, die auf ungeschlechtlichem Wege aus einer
Mutterpflanze hervorgegangen waren, was ja bei den Pflanzen eines
Botanischen Gartens besonders leicht der Fall sein kann.
Bei Cardamine pratensis ıst es leicht, ın Jahresfrist kräftige
blühende Pflanzen zu ziehen, wenn die Samen gleich nach der Reife
ausgesät werden; ohne grobe Verstöße gelingt auch die Uber-
winterung im Kasten leicht.
Über die Ursachen der Selbststerilität kann ich folgendes an-
geben: Auf den Narben der selbstbestäubten Blüten keimen die
Pollenkörner zwar zum Teil, schmiegen sich auch oft mit kurzen,
an der Spitze verbreiterten Schläuchen sehr eng an die Narben-
papillen an, dringen aber nicht ein. Bei fremdbestäubten Narben
fand ich dagegen die Pollenschläuche schon nach 24 Stunden im
Gewebe der Narbe und nach 48 Stunden im oberen Teil des Frucht-
knotens, mindestens 1!/, mm von der Narbenoberfläche entfernt.
Weiter habe ich diese Frage einstweilen nicht verfolgt; das Beob-
achtete genügte, um zu zeigen, dass die Entscheidung darüber, ob
16) F. Hildebrandt, Einige Biologische Beobachtungen. 1. Über Selbst-
sterilität bei einigen Cruciferen. Berichte d. Deutsch. Botan. Gesellsch., Bd. XIV,
p. 324, 1896.
1) 1 SCaPp-23r.
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 399
der Bestäubung die Befruchtung folgt, wenigstens in der Regel
schon auf der Narbe selbst gefällt wird.
[Die Pollenkörner keimen in 15 bis 30%, Rohrzucker mit 4,
Gelatine ganz gut, am besten in 20 und 25%. Das zeigt, dass sie
zur Keimung keinen besonderen Reizstoff brauchen, dass folglich
das Ausbleiben der Keimung auf der selbstbefruchteten Narbe durch
einen wirklichen Hemmungsstoff veranlasst werden muss. Die
Wirksamkeit solcher Stoffe zeigt sich sehr hübsch, wenn man in
dem Tropfen Nährlösung vor der Aussaat des Pollens einige Narben-
köpfe zerquetscht: die Körner keimen dann nicht mehr. Merk-
würdigerweise habe ich aber diese Hemmung nicht nur mit den
Narben derselben Pflanze, die auch den Pollen hervorgebracht hat,
erhalten, sondern auch mit Narben von Pflanzen, die sich mit
diesem Pollen befruchten ließen. Ich werde auch diese Versuche
fortsetzen. ]
Die Versuche wurden 1910 mit zwei Pflanzen 8 und © be-
gonnen, die aus den Wiesenflächen des botanischen Gartens zu
Münster stammten und sich schon durch die Blütenfarbe unter-
scheiden ließen. Die eine, ©, blühte besonders hell lila, fast weiß,
die andere, 3, hatte besonders intensiv lila gefärbte Blüten. Auch
sonst waren sie in mehreren Punkten deutlich verschieden. Sie
wurden gewählt, um sicher Individuen von verschiedener geschlecht-
licher Herkunft zu haben, und setzten auch, in einem Kalthaus
isoliert und (27. bis 30. April) von Zeit zu Zeit gegenseitig bestäubt,
sehr schöne Schoten an, während bei künstlicher Selbstbestäubung
weder ® noch ©, wie vorauszusehen war, ansetzte. Die Schoten
reiften in Gazesäckchen heran (wegen des elastischen Aufspringens
der Klappen), die frisch geernteten Samen wurden am 3. Juni auf
sterilisierte Erde ausgesät,
246g als Nr. 1,
$o+BdG als Nr. 2.
Am 19. Juli waren die Keimlinge so weit entwickelt, dass sie
(von mir selbst) pikiert werden konnten; am 24. August wurden
von beiden Nummern (unter meiner Aufsicht) je 30 Pflanzen einzeln
in Töpfe gesetzt und (von mir selbst) mit 1a, 1b, Ic... lae und
2a, 2b, 2c... 2ae etikettiert. Die Töpfe wurden in einen Kasten
gestellt, so weit auseinander, dass die Blätter jedes Topfes nicht
auf die Erde der Nachbartöpfe kommen konnten '®), und so über-
wintert.
Die Erde für das Pikieren und Einzelpflanzen war nicht sterili-
siert worden; diese Vorsicht wäre auch nicht nötig gewesen, wie
)
13) Wegen der bekannten ungeschlechtlichen Vermehrung durch blattbürtige
Adventivpflanzen.
00 Öorrens, Selbststerilität und Individualstoffe.
die Beobachtung der Unkrautpflanzen lehrte, die sonst auf der ver-
wandten Erde auftraten.
Die Überwinterung gelang sehr gut, und im Frühjahr 1911
standen also außer den beiden Elternpflanzen 60 Pflanzen der ersten
Generation (F1) zu Versuchen bereit. Sie wurden bei Beginn der
Blüte in einem geräumigen, vierteiligen Gazehaus untergebracht,
worin sie sich ganz gut hielten. Jede Bestäubung wurde womög-
lich an drei Blüten ausgeführt, oft an mehr. Dabei wurden in den
zu bestäubenden Blüten zunächst die Antheren der vier längeren
Staubgefäße entfernt. Diese Maßnahme schien mir wünschenswert,
um den fremden Pollen bei allen Narben recht gleichmäßig auf-
iragen zu können und ıhn nicht durch den eigenen Pollen der
Blüte gewissermaßen zu „verdünnen“, was ja von Fall zu Fall hätte
ungleich stark geschehen können.
Da von vornherein sicher war, dass nicht alle möglichen Kom-
binationen (gegen 4000) ausgeführt werden konnten, entschloss ich
mich, zunächst das Verhalten der Kinder und Eltern gegenüber
dem Pollen zweier neuer, sicher nicht blutsverwandter Pflanzen
festzustellen, dann möglichst genau das Verhalten des Pollens beider
Eltern ihren sämtlichen 60 Kindern gegenüber zu ermitteln und
endlich noch das Verhalten des Pollens von so vielen Kindern als
möglich allen ihren 59 Geschwistern gegenüber zu prüfen. Bei der
relativ kurzen Blütezeit konnte das Ergebnis der ersten derartigen
Bestäubungen keinen sicheren Fingerzeig für die Auswahl neuer
Pollenlieferanten geben. Es wurden deshalb beliebig herausgegriffene
Individuen verwandt.
Die Ergebnisse entsprachen nicht ganz meinen Erwartungen;
sie waren nicht so eindeutig scharf, wie ich gehofft hatte, und zwar
in doppelter Hinsicht.
Einmal zeigte es sich bald, dass dieselbe Kombination, mit dem-
selben Individuum A als Pollenlieferant und demselben Individuum B
als Lieferant der Narben, unter möglichst gleichen Bedingungen
zuweilen gelang und zuweilen versagte, aus Ursachen, die ich noch
nicht übersehe. Um einige besonders auffällige Beispiele zu nennen,
gaben das erste Mal vier Blüten von 1 | mit Pollen von ® ein durch-
aus negatives Resultat; das zweite Mal weitere vier Blüten alle
guten Ansatz. Oder es gaben das erste Mal drei Blüten von Ir,
wieder mit Pollen von 3, zweimal keinen, einmal einen guten An-
satz, bei der Wiederholung weitere sechs Blüten alle einen guten
u.s.w. Es liegt nahe, an einen Einfluss des Alters der Narbe
und des Blütenstaubes zu denken, doch waren diese bei einigen
hierauf gerichteten Versuchen auch noch in dem ältesten Zustand,
in dem ich sie bei den Bestäubungen verwendet hatte, tauglich.
Hier und da beobachtete ich bei einzelnen Stöcken eine Neigung
zur Reduktion der Stempel, besonders bei den ersten Blüten, und
’
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. A401
dadurch mag ein großer Teil der Misserfolge zu erklären sein.
Ganz ausgeschlossen ist es schließlich nicht, dass eine mosaikähn-
liche Ausbildung verschiedener Hemmungsstoffe bei demselben Indi-
viduum vorkommen kann; doch ist diese Annahme wohl sehr wenig
wahrscheinlich. — Dass ın solchen Fällen die posıtiven Resultate
den Ausschlag zu geben hatten, war selbstverständlich; es werden
aber durch diese Erfahrungen die nur an einigen wenigen
Blüten gewonnenen negativen Ergebnisse mehr oder weniger
verdächtig.
Größere Schwierigkeiten für die Beurteilung der Ergebnisse
bot das „schlechte“ Ansetzen; wenn z. B. in einer Schote nur einige
wenige Samen oder nur einer ausgebildet wurde '”), und die übrigen
in gleicher Weise bestäubten Blüten gar nicht ansetzten. Lag dann
wirklich ein ausnahmsweise erfolgtes Ansetzen mit dem absichtlich
zur Bestäubung benutzten, sonst unwirksamen Pollen vor, oder
eine zufällige Verunreinigung des Versuches durch fremden, wirk-
samen Pollen? (Dass der schlechte Ansatz auf einem dritten Wege,
durch Selbstbestäubung, zustande gekommen sei, die hier und da,
trotz der Entfernung der oberen Antheren (3. 320), eingetreten sein
wird, war nach dem völlıg negatıven Ausfall aller speziell darauf
abzielenden Versuche ganz unwahrscheinlich.)
Unbeabsichtigte Bestäubungen sind nun neben den gewollten
sicher unterlaufen. Das war daran zu erkennen, dass auch sonst
hier und da an den Versuchspflanzen einzelne Blüten mehr oder
weniger gut angesetzt hatten, ohne dass sie überhaupt zu Ver-
suchen verwendet worden wären. Als Ursache kommen die Manı-
pulationen in Betracht, die beim Herausnehmen der Pflanzen behufs
Bestäubens und beim Wiederhereinstellen ın die Abteilungen des
Gazehauses vorgenommen werden mussten, vor allem aber die un-
vermeidlichen Berührungen einzelner anderer Blüten bei der Ka-
stration, der Bestäubung und vor allem der Markierung der zum
Versuche ausgewählten Blüten. Auch beim Gießen der Töpfe und
durch einzelne, dabei gelegentlich eingedrungene und nicht sofort
bemerkte Insekten mögen die Ergebnisse gestört worden sein. 1912
habe ich aber auf all diese Fehlerquellen viel besser geachtet und
nur noch ganz ausnahmsweise den „spontanen“ Ansatz beobachten
können. Trotzdem erhielt ich bei den absichtlich bestäubten Blüten
wieder, relativ wohl ebensooft als 1911, den „schlechten“ Ansatz.
Wenn nun nicht noch andere, bisher nicht genügend berücksichtigte
Fehlerquellen in Frage kommen, sprechen die Ergebnisse dafür,
19) Im letzteren Falle sprangen die Schoten trotzdem ganz normal auf. Dies
ist mit Rücksicht auf die Versuche K. v. Goebel’s, durch Abtöten aller jungen
Samen bis auf einen die Schote von Sinapsis arvensis zur Schließfrucht zu machen
(Naturw. Wochenschr., N. F., Bd. X, S. 829, 1911), von Interesse,
402 Öorrens, Selbststerilität und Individualstoffe.
dass es wirksamere und weniger wirksame Hemmungsstoffe gıbt,
eine unerwünschte Komplikation des Problems. Hier können nur
weitere Untersuchungen Klarheit bringen.
II. Das Verhalten der Eltern und Kinder dem Pollen anderer, sicher
nicht verwandter Pflanzen gegenüber.
Es schien mir von Wichtigkeit, festzustellen, ob unter den
60 Kindern nicht etwa einzelne völlig steril wären. Zu diesem
Zwecke wurden sie und auch die beiden Eltern ® und ® mit dem
Pollen zweier Stöcke bestäubt, die sicher weder untereinander, noch
mit den Versuchspflanzen blutsverwandt sein konnten. Als solche
Pollenlieferanten benützte ich eine Pflanze A vom Züricher See und
eine zweite W aus Schwaben ?®).
Es wurden meist je drei Blüten bestäubt, und sie setzten So-
wohl bei den Eltern als auch bei sämtlichen Kindern fast ausnahmslos
sehr gut an. In den wenigen Fällen, wo mir der Erfolg zunächst
zweifelhaft erschien, wiederholte ich den Versuch mit neuen Blüten
und erzielte dann stets einen vollen Erfolg. Ich führte mit Pflanze R
auch einige Male den umgekehrten Versuch aus, indem ich je zwei
bis fünf von ihren Blüten mit Pollen von 10, Ir, 1s, lu und 2ab
bestäubte. Auch so erhielt ich, von einer einzigen schlecht an-
setzenden Blüte abgesehen, lauter tadellose Schoten.
Ich verzichte darauf, die Ergebnisse einzeln wiederzugeben,
weil sie eben ganz gleichmäßig und eindeutig ausfielen: alle Ver-
suchspflanzen setzten, sobald sie nur mit dem richtigen
Pollen bestäubt wurden, ausnahmslos und gut an, und
zwar konnte der Pollen ein- und desselben Individuums
sie alle befruchten. Von den Eltern und den 60 neuentstan-
denen Individuen hatte also keines denselben Hemmungsstofl ge-
bildet, wie N oder %. Dies Resultat ist für die Bewertung der
folgenden Versuche sehr wichtig.
III. Das Verhalten der Kinder den Eltern gegenüber.
Ich gebe zunächst das Resultat der Bestäubungen in Form
einer Tabelle. Sie erklärt sich wohl von selbst (z. bedeutet ziem-
lich, s. sehr, schl. schlecht).
20) Die eine verdanke ich der Freundlichkeit von Verwandten, die andere der
des Herrn Apothekers Völter in Nürtingen, dem ich auch an dieser Stelle noch
meinen besten Dank ausspreche.
Öorrens, Selbststerilität und Individualstoffe. 405
Tabelle 1.
Verhalten der Kinder bei der Bestäubung mit dem Pollen ihrer
beiden Eltern.
je
De
Human
io)
Madgscuan
DDCDVDVDR DDR DITRD ID
Boss "r-bmmronome
bestäubt mit ® rm bestäubt mit 6 ECT UE | Typus
Vers.-, Zahl | Zahl | | der
ı der Ergebnis ı der Ergebnis | Vers.-
Blüten Blüten | Pfl
| RR |
la |4+6| 4-2 nichts, 3z. gut | 4 |3s. gut, 1 nichts ıBg
1b ,4+3| alle nichts Ve aus gut Bg
le /4-+4| 4 nichts, 4 gut 4-+-3|2 nichts, 2 +3 gut bg
1d /4+3| 3 nichts, 14+3 ss. gut |3+4/3+3 nichts, 1 schl. bG
le |3-+-4| alle nichts 44+3/3 + 2 nichts, 1+ 1z.schl. BG
ler 4 3 s. gut, 1 beschäd. |4+3|4 nichts, 3 z. schl. IbG
lg 4 alle s. gut 4+3[3+2 nichts, l+1z.schl. b G
ih 4 alle gut |2+3 alle nichts bG
ie alle gut bis z. gut 3-3 alle nichts |bG
Ik .4-2.5 314 nichts, 1 gut, l1schl. | 1443 |1 + 1nichts, 1 + 1schl., | BG?
| | 2+1 gut |
alle gut 3 |alle nichts I7b2G
449) 2 + 9 nichts, 2 gut 13+3/1-+3 nichts, 2 schl. BG?
4-6 alle nichts 3+3/3 + 2 nichts, 1 einamig BG
446 2+4gutbiss.gut,2+2| 7 5 gut, 2 nichts |bg
nichts
3 s. gut, 1 mäßig
a
| alle s. gut
lle s. gut |
alle nichts
Ye
+++ er tour tettttwwutett este
Ss
w
alle nichts alle z. gut
= ee »e4ttataotttttter +44
100
4 +5 nichts, 2 s. schl. 2 s. schl., 1 nichts
B
b
bg
| bG
13+6| 1+ 6 gut, 2 nichts | ‚3 gut, 1 nichts bg
4+-8| 4 nichts, 8 gut 13+3|3 nichts, 3 s. gut bg
|4-4| 4 nichts, 4 gut 41.3 3 + 2nichts, 1 schl., Leins.| b G
5+5|/5-+ 4 nichts, 1 schl. 2 gut, 1 schl. Bg
4-6 | 4 nichts, 6 s. gut 4+3|4 nichts, 3 gut bg
4-+.9| alle nichts [2 gut, 1 nichts Bg
alle gut alle gut bg
4+9| 4+ 8 nichts, 1 s. schl. ‚alle s. gut IEBEE
| Ar: gut |3+4/2 + 4 nichts, 1 s. schl. b’G
4144| 4 +2 nichts, 2 schl. 134312 nichts, 1 +3 s. gut Bg
4-16 4nichts, 6 gut bis s. gut |4--3 [alle nichts bG
34-7 alle nichts |2+-4|2-++1 nichts, 2 gut, 1schl. BG
alle nichts |1z. gut, 2 schl., 1 nichts | BG
alle gut ‚43/4 +1 nichts, 1 miteinem | b G
san. 1 sschl.
alle gut |3 gut, 1 schl. bg
Bg
|BG
alle s. gut 34+4/2+4 nichts, 1 z. gut bG
alle s. gut 15--3[/5 + Inichts, 1schl.,12.gut | b G
4-6 alle nichts 4.4 3+-3nichts, 1. schl., leins. BG
34-6 alle nichts gut bis z. gut |Bg
448 4+7 nichts, 1 s. schl. alle s. gut |Bsg
alle s. gut 3 8. gut, 1 z. schl. bg
2715| 2 + 4 nichts, 1 z. schl. alle nichts BG
4+6 | alle nichts 6 nichts, 1 s. schl. BG
4-7 alle nichts 3+3|alle nichts BG
3-+7| 147 gut, 1schl., 1s.sch.|3+ 3/2 + 3 nichts, 1. sch. |b@
alle nichts 3+3[1+3 gut, 2 nichts ıBg
alle nichts bis auf ] ein- alle gut Bg
samige Schote
404 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
bestäubt mit B bestäubt mit & n
| Ä | nn ee ee, — | Typus
Vers.-| Zahl | Zahl | | der
Pfl. | der | Ergebnis der Ergebnis | Vers.-
Blüten, ‚Blüten Pl:
2 | re a TE ER EN NEE BEER BRUT E 1 BE RER BEREITEN TREE
2 qu 5 alle s. gut 3 alle gut Ibg
2r 343 |3 + 2 nichts, 1 mäßig 3 alle (z.) gut |Bg
28 4 |alle gut 3 alle gut bg
2t 3-47 alle nichts 3—+4 alle nichts |BG
2u /44+6 | 3 + 6 nichts, 1 s. schl. 3 [alle s. gut |Bg
2v 44-6 | 4 nichts, 6 gut 3 alle gut bg
2w 3+7 | 3 +4 nichts, 3 s. sch. |4+3|4 +1 nichts, 2 s. schl. BG
ZIX | SA. alle gut 2 alle gut bg
2y 1347 |2+7 (s.) gut, 1 schl. 4 alle s. gut |bg
A 2 (s.) gut, 1 nichts 3 alle s. gut be
2aa 447 4+6 nichts, 1 schl. 3-7 alle nichts |BG
2ab 4--8 alle nichts 3 |2 s. gut, 1 verwelkt MBeg
2ac 4+11)| 1 + 11 mäßig bis s. gut)3+3|3 +2 nichts, 1 schl. bG
l ganz schl., 2 nichts |
2rad. |) .3 all gut 3 |alle gut bg
2ae | 3 2 s. gut. 1 nichts 443 | 2 +3 nichts, 2 (e.) sch. |b G
Ist die Zahl der bestäubten Blüten als Summe gegeben, z. B.
44-6 oder 4-+-3, so war der Versuch zweimal ausgeführt worden;
der erste Summand bezieht sich dann auf den ersten, der zweite
auf den zweiten Versuch. Dann ıst, wenn nötig, auch das Ergebnis
in die zwei Summanden zerlegt aufgeführt. Die Rubrik „Typus“
wird erst später erklärt werden.
Es war meine Absicht gewesen, auf Grund dieser ersten Er-
gebnisse ım Jahre 1912 alle Kinder, soweit nötig, nochmals be-
sonders genau auf das Verhalten dem Pollen der Eltern gegen-
über zu prüfen. Das war nun leider aus dem eingangs angegebenen
Grunde nicht möglich; von den beiden Eltern stand mir nur noch
ein Ableger der Pflanze 3 = Bd, und von den Kindern noch
8 Pflanzen der Nr. 1 und 9 Pflanzen der Nr. 2 in blühbarem Zu-
stande zur Verfügung. Die Versuche, die ich damit anstellte, sind
ın Tabelle 2 mitgeteilt. Zum Vergleich sınd die Ergebnisse von
1911 aus Tabelle 1 vorangestellt (siehe Tabelle 2).
Wie man sieht, stimmen die Ergebnisse von 1912 sehr gut zu
denen des Vorjahres. Außer der Zuverlässigkeit meiner damals
gewonnenen Beobachtungen geht aus ihnen auch hervor, dass sich
der Ableger (96), wie zum voraus zu erwarten war, genau so verhält
wie die Stammpflanze (B).
Es waren 1911 auch einige Male die Eltern $ und & mit dem
Pollen einiger ihrer Kinder bestäubt worden — nicht nur die Kinder
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
405
mit dem Pollen der Eltern. Das Ergebnis bringt Tabelle 3, ın der
auch die reziproken, entsprechenden Versuche aus der Tabelle 1
zum bequemeren Vergleich nochmals aufgeführt werden.
Tabelle 2.
Verhalten eines Teiles der Kinder bei der Bestäubung mit dem Pollen
des Elters ® und des Ablegers BÖ.
bestäubt 1911 mit B bestäubt 1912 mit Bö
Vers.-| Zahl Zahl er
h 2 ypus
Pfl. | der Ergebnis der Ergebnis
Blüten Blüten
le /3+4| alle nichts 9 alle nichts B
Ef 4 3 s. gut, 1 beschädigt 4 |alle gut b
lk 4+5|3-+ 4nichts, 1 schl., 1gut 9 \nichts,nurlSchotem.1Sam.| B
11 5 alle gut 4 ‚alle gut b
1s 4—+8| 4 nichts, 8 gut 6 |5 gut, 1 nichts b
lu 5+5,5 + 4 nichts, 1 schl. 6 1/5 nichts, 1 schl. B
laa |444| 4 + 2 nichts, 2 schl. 12 |alle nichts B
l ae 4 alle gut 5 [alle gut b
2b ,4-+-3| alle nichts 12 |10 nichts, 2 s. schl. B
2e 4 alle s. gut 6 |alle gut b
2g 34-6) alle nichts 9 |8 nichts, 1 s. schl. B
2h |4-+8| 4-+7 nichts, 1 s. schl. 15 |14 nichts, 1 s. schl. | B
2i 3 alle s. gut 2 |beide s. gut b
2 qu 5 alle s. gut 6 alle gut b
2r 3+3|3+ 2 nichts, 1 mäßig 5 1|4 nichts, 1 s. schl. B
ax 4 alle gut 4 alle s. gut b
2y |34+7| 2 +7.) gut, 1 schl. 2 ‚beide gut b
Tabelle 3.
Reziproke Bestäubungen zwischen Kindern und Eltern.
Elter ® Bi Elter CE
Zahl | Zahl
Versuch | d. be- -. Versuch |d. be- i
Dr stäubt. Brrehre Bar stäubt. Ergebnis
Blüten Blüten
B-+lc| 3 alle gut S-tle| — it
lc+B8 |4+4| 4 nichts, 4 gut le+& 4+3|2 nichts, 2+3 gut
B-+1l 3 alle gut $+1l 3 | alle nichts
11+%8 5 alle gut 11+& | 3 alle nichts
8-+1m| 2 1 nichts, 1 schl. &-+1m| 3 2 nichts, 1 mäßig
1m+8 ‚4+9| 2-+9 nicht, 2gut | Im + 3+3,1+3 nichts, 2 schl.
8+1x| 2 beide mäßig bis gut | & +1x 2 | beide gut
1x+B 3 alle gut 1Ix+6& 3 alle gut
B-+lae 2 beide gut Ö-+lae| 2 |beide nichts
lae+B 4 alle gut laa+® 4 + 3|4+-1nichts, Im.1Sa.,1schl.
8+2b| 2 beide nichts $-+2b| 2 beide nichts
2b+8 |4+3| alle nichts 2b+6 3 alle z. gut
B+2d| 1 gut $+2d 2 |1 gut, 1 nichts
2d+B 3 alle sehr gut 2d+® [3+4/2 +4 nichts, 1 z. gut
XXXIIl. 27
406 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
SDR DEE
Zahl | Zahl
Versuch | d. be- N > Versuch |d. be- >
og stäubt.. Ergebnis oz |stäubt. Ergebnis
Blüten! Blüten
Im — | = 7
B-+42e| 4 |3gut,1s. schl. 6-+2e | 2 beide nichts
2e+B 4 | alle s. gut 2e+& 5+3/5+ 1nichts, 1schl., 1 z.gut
8-+42t| 2 | beide nichts &+2t| 3 alle nichts
2t+B | 3+7 | alle nichts 2t—+6 3+4|alle nichts
In allen Fällen, einen ausgenommen, stimmt das Ergebnis der
beiden reziproken Bestäubungen sehr gut überein, selbst darin, ob
es ganz entscheidend ausfiel, oder etwas zweideutig blieb. Die
einzige sichere Ausnahme ist &+2b und 2b+6, die eine Be-
stäubung gab bei zweı Blüten keinen, die andere bei drei Blüten
einen ziemlich guten Ansatz. Sie konnte 1912 nicht nachgeprüft
werden, weil © und die von ihm gemachten Ableger sämtlich zu-
grunde gegangen waren.
Die Wiederholung im Jahre 1912 und die reziproken Be-
stäubungen des Jahres 1911 stimmen in ihren Ergebnissen unter-
einander und mit den in Tabelle 1 zusammengestellten Haupt-
versuchen so weit überein, dass man daraus einige Schlüsse ziehen
kann. Sie dürfen im großen und ganzen als völlig gesichert ange-
sehen werden, selbst wenn ım einzelnen die eine oder andere Pflanze
falsch beurteilt sein sollte.
Diese Schlüsse sind:
1. Die Kinder lassen sich nach ihrem Verhalten einem
bestimmten Elter gegenüber in zwei Klassen bringen:
die Individuen der einen Klasse sind mit diesem Elter
bei wechselseitiger Bestäubung fertil, die Individuen
der anderen Klasse bleiben steril (oder setzen nur sehr
schlecht an).
In der „Typus“ überschriebenen Kolonne der Tabelle 1 sind
die Individuen, die mit dem Pollen der Eltern oder & fruchtbar
sind, mit dem entsprechenden kleinen Buchstaben (b oder g), die
damit sterilen mit dem entsprechenden großen Buchstaben (B oder G)
bezeichnet.
2. Beide Klassen sind ungefähr gleich groß.
Zählt man die verschiedenen Buchstaben der Spalte „Typus“
ın Tabelle 1 zusammen, so erhält man:
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. A407
Tabelle 4.
Es sind | mt8 |. mie
fertil steril fertil | steril
| be | 0% DS: | „G“
bei 1 Ten 2 ER,
bei 2 | 14 16 17 13
bei 1 und 2 zusammen | 32 03788 | 30 | 30
Die beiden nach dem Verhalten gegenüber dem Elter & ge-
bildeten Klassen sind (zufällig) genau gleich groß (umfassen also
je 30 Individuen); die nach dem Verhalten gegenüber dem Elter B
gebildeten Klassen sind nur wenig verschieden (32:28). Ich brauche
wohl kaum zu bemerken, dass die Auszählung erst erfolgte, nach-
dem die wenigen zweifelhaften Exemplare in der einen oder anderen
Klasse definitiv untergebracht waren.
3. Das Verhälten eines bestimmten Kindes gegenüber
dem einen Elter ıst völlig unabhängig von seinem Ver-
halten dem anderen Elter gegenüber; ist es z. B. mit dem
Pollen von 8 fertil, so kann es mit dem von ® entweder auch
fertil oder steril sein.
4, Es lassen sich folglich die Kinder nach dem Ver-
halten ihren beiden Eltern gegenüber in vier Klassen
bringen, resp. es lassen sich vier Typen unterscheiden:
A. fertil mit beiden Eltern (mit ® und ©) Klasse 1, Typus bg
B. fertil mit dem einen, steril mit dem anderen Elter:
a) fertil mit ®, steril mit & Klasse 2, Typus bG
b) fertil mit ©, steril mit ® Klasse 3, Typus Bg
C. steril mit beiden Eltern (mit ® und ©) Klasse 4, Typus BG
5. Ist das Verhalten gegenüber B von dem gegenüber & völlig
unabhängig, so müssen die vier Klassen ungefähr gleich groß sein
und ungefähr je ein Viertel der Kinder umschließen. Die Aus-
zählung der Tabelle 1 ergibt:
Tabelle 5.
Exemplare || bei 1 | bei 2 nbe1 u “berechnet
zusammen
= nun - ıL _—
in Klasse 1 | vom Typus bg RI "16 15
a on 6 ne 5 16 15
„ „ 3 „ „ Bg | 6 83 14 | 15
2 a ML BG 6 3 14 15
zusammen 30 | 30 | 60 | 60
AUS Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
Man sieht, die gefundenen Werte stimmen mit den zu er-
wartenden (!/, von 60 = 15) überein, zufälligerweise ganz auffallend.
Natürlich wurden auch hier die Zählungen erst ausgeführt, als alle
Beobachtungen abgeschlossen waren.
Die nächste Frage ist: Worauf beruht es nun wohl, wenn ein
Kind mit dem Pollen eines Elters gar nicht ansetzt, während es
mit dem Pollen eines anderen Individuums völlig fruchtbar ist?
Die einzige mögliche Erklärung scheint mir zu sein: es setzt
nicht an, weil es denselben Hemmungsstoff ausgebildet
hat, wie dieses sein Elter. Das ist jedesmal etwa bei der
Hälfte der Kinder der Fall, und kann kein Spiel des Zufalls bei
einer Entstehung neuer individueller Hemmungsstoffe sein. Sahen
wir doch, dass dieser Zufall auch nicht einem der Kinder einen
der Hemmungsstoffe gegeben hat, die bei den nicht blutsverwandten
Pflanzen N und % vorkommen (S. 322). Es ließe sich ferner von
vornherein denken, dass eine einfache Weitergabe des Hemmungs-
stoffes von der Mutter an einen Teil ihrer Kinder vorläge. Erinnert
man sich jedoch daran, dass die Hälfte der Kinder auch mit dem
Pollen jenes Elters steril ıst, das die Rolle des Vaters gespielt
hat, also dessen Hemmungsstoff besitzt (die Pflanzen von Versuch 1
[B2-&d] und Versuch 2 [892 +3 7J] verhielten sich ja z. B.
gegenüber B ganz gleich), so fällt diese Annahme ohne weiteres
hin. Die männliche und die weibliche Keimzelle sind offenbar hierin
völlig gleich. Für die Ausbildung der Hemmungsstoffe müssen
richtige „Anlagen“ vorhanden sein, sıe werden einfach auf die
Hälfte der Nachkommen vererbt. Es fehlt jede Berechtigung,
die Hemmungsstoffe als Individualstoffe in dem früher (S. 311)
definierten Sinne anzusprechen. Es handelt sich vielmehr um Stoffe,
die den niedrigsten systematischen Einheiten — wir wollen sie mit
Johannsen’s Linien identifizieren — eigen sind: die Hemmungs-
stoffe sind Linienstoffe.
Die Tatsache, dass dasselbe Kind mit seinen beiden Eltern
steril bleiben kann, während diese doch miteinander angesetzt haben,
legt ferner die Annahme nahe, dass ein Individuum mindestens
zwei gleichzeitig wirksame Hemmungsstoffe hervorbringen
kann, einen, der den Pollen des einen Elters, und einen, der den
Pollen des anderen Elters an der normalen Weiterentwickelung
hindert.
Es ıst weiterhin daran zu erinnern, dass die Kinder, die mit
dem Pollen eines ihrer Eltern oder mit dem beider Eltern ansetzen,
also die wirksamen Hemmungsstoffe der Eltern nicht besitzen, doch
selbststeril sind, folglich andere aktive Hemmungsstoffe ausbilden
als diese. Diese Hemmungsstoffe könnten entweder völlig neu
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 409
oder bei den Eltern zwar der Anlage nach vorhanden sein,
aber nicht wirklich ausgebildet, nicht wirksam werden, mit einem
Wort, bei den Eltern „rezessiv“ sind. Die erste Annahme, dass
es sich um völlig neue Stoffe handle, scheint mir wenig wahrschein-
lich, schon deshalb, weil wir bei den Geschwistern dieser Pflanzen
vererbte Hemmungsstoffe auftreten sehen, und wir dann zweierlei
Stoffe ganz verschiedener Herkunft bei den nächsten Verwandten
demselben Zweck dienstbar gemacht fänden. Wahrscheinlicher ist
die zweite Annahme, dass es sich um die Entfaltung von Anlagen
handle, die bei den Eltern rezessiv vorhanden waren. Dass jedes
dam mehr als eine Anlage für Hemmungsstoffe besitzt,
geht ja, sobald man deren edle Übertragung überhaupt zu-
gibt, sogleich daraus hervor, dass jedes ach Köhonch aus der Ver-
einigung der Keimzellen zweier anderer Individuen hervorgeht,
die mindestens je einen besonderen Hemmungsstoff gebildet haben
müssen (hätten beide den gleichen ausgebildet, so hätte ja die Be-
fruchtung nicht eintreten können, aus der das neue Individuum
hervorging).
Berücksichtigen wir endlich noch die Naeh dass die Hälfte
der Kinder denselben Hemmungsstoff wie das eine Elter, die Hälfte
einen oder einige andere ausbildet, so können wir uns aus all dem
etwa folgendes, ın einem Punkte freilich noch unklares Bild von
Ir Meran: der Hemmungsstoffe machen:
Jedes der Eltern bildet nialen kenne einen aktiven Hem-
mungsstoff aus, in unserem Fall das eine Elter 9 den Stoff B,
das andere Elter & den Stoff G. Außerdem ist bei jedem noch
mindestens eine Anlage für einen anderen Hemmungsstoff im in-
aktiven Zustande vorhanden (als nicht entfaltete Anlage); wir
wollen den des einen Elters b, den des anderen g nennen. Die
„Erbformeln“ wären dann Bb für das eine und G g für das andere
Elter. Bei der Keimzellbildung tritt nun eine Spaltung ein; das
eine Elter bildet zur Hälfte Keimzellen mit der Anlage B, zur
Hälfte solche mit der Anlage b, und das andere Elter zur Hälfte
Keimzellen mit der Anlage G, zur Hälfte solche mit der Anlage g
Bestäubt man nun die beiden Eltern wechselseitig miteinander, so
sind acht Kombinationen gleich gut und gleich oft möglich:
Tabelle 6.
— . —— - _
| | Res
Komb. Eltern B%-+® 4 1 | Komb.| Eltern GP +8 J | Anden)
Keimz allen“ | | | Kanzellen
1 BiEG 20 | > G+B ie
ae ua en bG
4 || 8 -
ur be g-+b &
410 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
Dass B mit b und G mit g wieder zusammenkommen, ist
durch die Selbststerilität verhindert, die keine Vereinigung der
Keimzellen desselben Individuums zulässt, gleichgültig, was für eine
Anlage sie übertragen).
Das Ergebnis sind die vier gleich großen Individuenklassen,
die wir tatsächlich beobachtet und in Tabelle 1 unter der Rubrik
„Lypus“ auch vorweg mit denselben Buchstaben bezeichnet haben.
Das Verhalten den beiden Eltern gegenüber erklärt sich auch ohne
weiteres, wenn man im Sinne behält, dass B und G die Anwesen-
heit der Hemmungsstoffe der Eltern bedeutet, b und g deren
Fehlen. B verbunden mit B muss also z. B. ohne Ergebnis bleiben,
b mit B ansetzen.
Iabelle 7.
bestäubt | bestäubt
Kinderklasse | mit dem | Resultat | mit dem |, Resultat
Elter | Elter
|
=
BG | | — |
a ng! EN
|
|
a
| | |
Klasse BG ist also mit beiden Eltern steril, Klasse bg mit
beiden fertil, Klasse Bg nur mit G, Klasse bG nur mit B fruchtbar.
So gut all das zusammenpasst, in einem Punkte herrscht doch
Unstimmigkeit. Um zu erklären, dass die Individuen der Klasse BG
mit dem Pollen beider Eltern nicht ansetzen, müssen wir annehmen,
dass sie die Hemmungsstoffe dieser beiden Eltern auch wirklich
ausbilden, B darf weder über G dominieren, noch ihm gegenüber
rezessiv sein. Umgekehrt mussten wir aber annehmen, dass von
den Hemmungsstoffen, die sowohl das eine als das andere Elter (P,)
von seinen beiden Eltern (P,) (den Großeltern von BG, Bg etc.)
überkommen haben, der eine entfaltet, der andere inaktiv geblieben
ist. Sonst hätten wir das Ansetzen von bg mit beiden Eltern
nicht erklären können. Hier müssen weitere Untersuchungen, be-
sonders über das Verhalten der Kinder untereinander und der Enkel
gegen ihre Eltern und Großeltern, Klarheit bringen, Untersuchungen,
die wohl Komplikationen ergeben, aber den Grundgedanken der
Vererbung der Hemmungsstoffe nach dem Spaltungsgesetz bestehen
lassen dürften.
21) Es ist vielleicht nicht überflüssig, noch besonders darauf hinzuweisen,
dass darüber, ob eine Befruchtung erfolgt oder nicht, die Beschaffenheit der beiden
Elternpflanzen entscheidet, nicht die Beschaffenheit der Anlagen, die den
Keimzellen im unentfalteten Zustande mitgegeben werden.
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 4
1
IV. Das Verhalten der Kinder untereinander.
Meine Beobachtungen hierüber gehen einstweilen noch nicht
weit, reichen aber doch für einige Schlüsse aus. Von den 3540
möglichen Verbindungen der 60 Kinder untereinander habe ich 1911
nur 720 ausgeführt und zwar so, dass ımmer das Verhalten des
Blütenstaubes eines Kindes allen seinen 59 Geschwistern gegenüber
geprüft wurde. Nach und nach konnten so 12 beliebig heraus-
gegriffene Individuen als Pollenlieferanten benutzt werden; der
Zufall fügte es insofern recht günstig, als sich nachträglich heraus-
stellte, ne alle vier oben genannten Klassen (BG, Bi Gb, bg)
oma vertreten waren. Diesen konnten jedesmal nur wenige
Blüten für einen Versuch verwendet werden, meist nur drei, und
die Versuche konnten auch nicht wiederholt werden, so dass die
Ergebnisse auf völlige Genauigkeit noch weniger Anspruch machen
können, als die der schon besprochenen Versuche, wo die Kinder
mit dem Blütenstaub der Eltern bestäubt worden waren. Immerhin
treten auch hier sehr deutliche Gesetzmäßigkeiten hervor, sobald
man die Ergebnisse so zusammenstellt, dass man die Wirkung ein
und desselben Blütenstaubes auf die Geschwister derselben Klasse
leicht überblicken kann. Das ist ın den nachfolgenden Tabellen
geschehen. (s. bedeutet sehr, z. ziemlich, schl. schlecht, f. fast,
g. ganz oder gut, n. nichts, mäß. mäßig.)
Tabelle 8A—D.
Kinder untereinander bestäubt.
Tabelle 8A.
Kinder vom Typus bg als Pollenlieferanten.
bestäubt mit
Versuchs- | LEDER} 41x
| Zahl Zahl Zahl
Typus Nr. best Ergebnis der Ergebnis | der Ergebnis
Blüten! | uyn Blüten
re _ | — 3 1/2 schl,, A mo 3 alle gut
1o | 4 |2 gut, 2 nichts) 3 |1 gut, 2 nichts 3 ‚alle nichts
ps 3 | alles. gut 6 ‚alle nichts 3. 22 gut,.1 nichts
Ir | 2 | beide nichts 3 |2 gut, 1 nichts 3 ‚alle nichts
ls 3 alle nichts 3 |alle gut 3 |2 gut, 1 nichts
lv 6 | 3 gut, 3 nichts 3 |2 n. 1 einsam. Dee Dienselgeinsam:
x 2 | beide gut 3 alle s. gut 3. |alle "nichts
28 7 6 gut, 2 nichts] 4 |Jallez.gutb.mäß.| 5 4 mäßig, 1 nichts
be \ 2i 4 ‚alle gut 2 |alle gut 3. .| alle nichts
2qu 2 | beide gut 3 2 menleg schl: 3 alle nichts
218 3. \ alle gut 5 ‚alle nichts 3 [2 nichts, '1'schl.
2vV 3 | alle gut 3 ‚alle gut 3 ı2nichts, 1s.schl.
ax 3 |.alles. gut Il 2 |beide gut 2 1 gut, 1 schl.
2y 3 | alle nichts \ 3 ‚alle sehr gut 3 |alle nichts
22 3 2 gut, 1 nichts | 2 | beide gut 4 |3 gut? 1 nichts
2 ad 3 alle gut 3 | alle gut 4 |3n,1s. mäßig
412 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
bestäubt mit
Versuch#-| 0 te aber 1p 1x
Pflanze |7ahıd.| Zahl Zahl
Typus Nr. | best. | Ergebnis der Ergebnis der Ergebnis
Blüten Blüten, Blüten
Id | 4 alle nichts 2 Im lassgechl. 3 alle s. gut
1 f 4 alle nichts 2 beide nichts 3 nichts
lg 3 alle nichts 3 2 gut, I nichts| 3 | =. gut
ih 4 alle nichts 3 alle nichts 3 2 gut, 1 nichts
Aha 6 Anh izeslkn.jle3 alle nichts 2 beide gut
1a} 3 2 nichts, 1f.n. 3. | ZA nichts, 1 f.n. 4 3 gut, 1 nichts
lqu| 3 alle nichts 3 2 nichts, 1schl.|| 3 2 z. gut, In.
bG yıt 3 alle nichts 3 | alle nichts 3 alle gut
lz 3 alle nichts 2 beide nichts 3 alle gut bis s. g.
1 ab 4 alle nichts 3 alle nichts 3 alle s. gut
l ae 3 2 n., 1 einsam. 2 beide nichts 3 | alle gut
2d 4 alle nichts 3 248... 5chl-,l+n. 3 2 nichts, 1 mäß.
2e 2 beide nichts 5 |4n, leinsamig| 3 | 2 gut, 1 nichts
2n > alle nichts 4 alle gut 3 alle gut
2 ac 3 alle nichts 2 1 nichts, 1 schl. | 3 alle sehr gut
[ la 4 alle nichts In alle s. gut — | —
1b 4 alle gut 3 alle schlecht 3 alle gut
lu 3 | 1 gut, 2 nichts || 3 iusasehl.20n.2|e 3 alle s. gut
lw 3 2 gut, 1 nichts || 3 alle gut 3 2,,gut, 1 schl.
ly 3 alle s. gut 2 beide gut | 3 alle s. gut
| laa 4 alle gut 3 alle gut | 4 alle gut
Bo} 2P 3 alle s. gut 3 alle z. schlecht | 3 alle nichts
812 g 3 | alle gut 3 alle z. gut 3 alle gut
2h 4 alle s. gut 2 beide nichts 3 alle z. gut bis g.
20 4 2ig., l’schl., In. 2 beide gut 3 alle gut
2p 3 alle nichts 2 beide gut 3 alle gut
2r |5-+-3| 5 nichts, 3 gut | 3 | alle gut 4 alle gut
2u 5 alle s. gut 3 178: gut, 2n. 2 beide gut
2ab| A |1gut, 3s.schl.| 3 1. schl, 2 n.| 3 alle gut
|
le 3 alle nichts 3 alle s. gut 3 alle s. gut
ik 3 2 gut, 1 nichts|| 3 1 gut, 2 nichts| 3 2 gut, 1 nichts
mi" alle gut 2 beide gut 3 | alle gut
In 3 | alle gut 2 , beide gut SINE.
lac 3 1 gut, 1 nichts || 3 alle gut 3 lg, l.schl,.in.
lad 2 | beide z. gut 3 alle 3 gut 3 alle s. gut
| 2 c 2 | beide gut 3 alle 3 gut 4 alle gut
BGy 2 f 4 3 nichts, 1schl. | 2 beide gut 6 3 gut, 3 nichts
2k 9 |8n, 1 mäßig 2 beide gut 3 alle gut
21 4 alle nichts 3 alle gut 3 alle gut
2m |4+3| 4 nichts, 3 gut | 3 alle gut 4 alle gut
2t 3 alle nichts 3 alle gut 3 alle s. gut
2w 5 alle nichts 3 1schl., 13. schl., 3 alle gut
| 1 nichts
2 aa 4 alle nichts 2 beide nichts 3 alle gut
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 413
Tabelle 8B.
Kinder vom Typus Bg als Pollenlieferanten.
_ bestäubt mit
Versuchs- udn eb ai 2) a DEIN
> I
anze} | Zahlld. Zahl d.
Typus Nr. best. Ergebnis | best. Ergebnis
Blüten Blüten
[1 c 3 | 2 z. gut, 1 nichts 3 alle gut
lo 3 alle fast gut bis gut 5 alle gut
lp 2 beide gut 6) alle gut
der 3 alle z. gut bis gut 4 alle gut
ls 3 2 gut, 1 z. schlecht 4 alle gut
lv 3 alle gut 6 alle gut
1x 3 alle gut 5 alle gut
bo J 2a 2 beide gut 3 2 z. gut, 1 nichts
81\2i 2 beide gut 5 alle z. gut bis sehr gut
2 qu 2 beide gut 4 alle gut
28 2 beide gut 4 alle gut
2v 3 | alle gut 6 alle gut
2x 3 2 gut, 1 nichts 4 1 mäßig, 2 schl., 1 nichts
2y 3 alle gut 4 alle gut
22 3 alle sehr gut 3 all gut
(2 ad 3 alle gut 6 alle z. gut bis gut
| |
Id 3 | 2 mäßig, 1 nichts 4 alle z. gut bis gut
1: 3 | alle nichts 4 1 gut, 3 nichts
lg 3 | alle nichts 6 ‚alle sehr gut
ich 3 | alle nichts I alle gut
li 2 alle nichts 3 alle gut
1l | 2 |1 ganz schlecht, 1 nichts 6 5 gut, 1 schlecht
lqu| 3 |alle nichts 6 2 gut, 4 nichts
bG!1t | 3 1 ganz schlecht, 2 nichts | 6 alle gut
Bez | 3 alle nichts Il 3 | alle gut
Lab. 3 alle nichts | 6 |alle gut
l ae 3 2 schlecht, 1 nichts 2 \ beide z. gut
2d | 3 alle nichts 6 |alle gut
De. 12 beide nichts 3 z. gut
2n | 3 | alle nichts 6 alle gut
® ac 3 1 schlecht, 2 nichts 4 alle gut
la 3 | 1z.schl., 1fragl., 1nichts | 4 2 schl., 1 fraglich, 1 nichts
Ihe on alle nichts 3 alle nichts
us 073 alle nichts 5 1 einsamig, 4 nichts
lw 3 | alle nichts 4 1 fraglich, 3 nichts
ly 3 2 schlecht, 1 nichts 5 4 s. schlecht, 1 nichts
laa 4 | 2 schlecht, 2 nichts 4 alle nichts
Be} 2b 2 beide nichts 3 2 nichts, 1 einsamig
& 28 3 alle nichts ‚3 alle nichts
2h 2 1 fast nichts, 1 nichts 3 1 s. schlecht, 2 nichts
20 3 alle nichts 4 2 schlecht, 2 nichts
2p 2 | 1 nichts, 1 schlecht 7 | 2 (s.) schlecht, 5 nichts
Dir 2 | beide nichts 4 | 1 s. schlecht, 3 nichts
2u 2 \ beide nichts 4 alle nichts
|>ab 3 alle nichts 4 | 1 s. schlecht, 3 nichts
414 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
20 (Ve een i
Versuchs- 2b a * en,
| Zahrd. | Zahld.
Typus N T.|| best. | Ergebnis best. Ergebnis
ı Blüten Blüten
le | 2 | beide nichts 4 | alle nichts
Ik 32 beide nichts 5 l s. schlecht, 4 nichts
Im 3 ‚alle nichts 5 | 1s. schlecht, 4 nichts
In 3 alle nichts 6 alle gut
lac || 3 |alle nichts 4 alle nichts
lad 2 | 1z. gut, 1 nichts 3 | alle nichts
Ba) 2® 3 1 schlecht, 2 nichts 4 1 s. schlecht, 3 nichts
MO 3. alle nichts 5 | alle nichts
| 2k 2 beide nichts 2 beide nichts
2] 2 beide nichts 5 alle nichts
2m 2 beide nichts 4 alle nichts
2t 2 beide nichts 4 alle nichts
2w 2 \ beide nichts 4 alle nichts
2 aa 3 1 ganz schlecht, 2 nichts 2 2 schlecht, 5 nichts
Tabelle SC.
Kinder vom Typus b& als Pollenlieferanten.
| £ bestäubt mit
Versuchs- er Ruine h 2d ze
Pflanze ns = 3 | Be: | er
Typus Nr. = Ergebnis _ A Ergebnis za Ergebnis -ä Ergebnis
CH: 8% ce =
u 3 x 2 > 2| I 3
le | 4 |2gut,2 nichts] 2 1 gut, I nichts, 3 \2gut, I nichts) 2 | beide nichts
lo || 2 |1 gut, 1 nichts|) 2 |beide gut 3 |2 gut, 1 nichts|| 3 |2 gut, 1 schl.
1p || 2 |beide s. gut || 2 |beide gut 3 [alle gut 2 | beide gut
ir |2 |lgut,1nichts|| 2 |beide gut 3 lalle s. gut 2 |1 gut, 1 schl.
ls | 2 |l gut, I nichts|| 2 |beide nichts || 3 |2 gut, I nichts|| 2 | 1 gut, 1 nichts
1v | 2 [beide gut || 2 |beide nichts | — _ | 2 beide nichts
1x | 2 |beide gut '2 |beide s. gut | 2 [beide gut |) 2 | beide gut
be J2a | 2 |beide gut '2 beide gut 1 |gut 2 | beide gut
Sr 2 |beide gut | 2.|beide s. gut || 2 |beide gut 3 alle gut
2qu | 3 ‚alle gut '2 beide gut 2 |beide gut 2 | beide gut
2s 3 alle gut ‚2 beide gut 3 lalle gut 2 | beide gut
2v || 3 Jalle gut | 2 |beide gut 3 Jalle gut 2 | beide gut
2x | 3 jalle s. gut | 2 [beide gut 3 \alle gut 2 | beide gut
| 2y | 3 alle s. gut || 2 |1gut,1 nichts) 2 alle beide gut|| 2 |1 gut, 1 nichts
2 3 /alle gut 2 |beide (s.) gut|| 2 |beide s. gut | 2 |1g., 1s.schl.
> ad | 3 /alle gut | 2 |beide gut 3 lalle gut 2 | beide gut
| ‚
rn d | 3 alle nichts | 2 |beide nichts | 3 'lz.g.,1mäß.,| 2 | beide nichts
BG | | 1 nichts |
] 1f |5 |4g.od.z. gut,| 2 beide nichts || 3 [alle gut 2 beide gut
| 1 nichts | |
| |
von
BNeOS —mm
[=]
Oo
®
[Pu
ee 5o
DVDVDVH HH nn a
[e)
B-igere
lee)
8
[|——oo
S
DVDVDDNDDNDDHHHH m
SEHTSEOT EN
>
»
Ss
n
a
DD DVODDVDH HH mn
=) RER 28 BE mo
er
m
=
D
»
8
D
‚alle nichts
‚alle nichts
beide nichts
beide nichts
beide nichts
alle nichts
‚beide nichts
\beide nichts
‚alle nichts
leschle, zone
\alle nichts
alle nichts
oo DD DD ID ww we ws
DDDNKDDDDDDDIDIDIDND
‚alle s. gut
lalle s. gut |
I1g.,1schl., In.)
‚alle gut |
alle s. gut
Dow ovDVvVvyryvyDvyvDwHe
I)
insehl&,2’n= 2
beide gut 2
beide s gut || 2
‚beide s. gut | 2
beide s. gut | 2
beide s. gut | 2
[alle (z.) gut || 4
alle gut 2
beide gut I 2
2
>
| 2
2
w [08 [3] ODyDDyENDDDUD
2 nichts |
lg. schlecht, | 3
2 nichts
ugs schl., on:
beide
beide
beide
beide
|beide
nichts
gut
nichts
nichts
nichts
beide nichts
beide nichts
beide nichts
‚beide nichts
| beide nichts
beide s. gut
beide nichts
l gut, 1 nichts
1 gut, 1 nichts
beide s. gut
beide nichts
beide s. gut
beide s. gut
beide nichts
beide gut
alle gut
beide s. gut
beide s. gut
beide nichts
1 gut, 2 nichts
jaschl., %n..|2
ı2 gut, 2nichts 3
ıbeide nichts | 2 1 schl., In.
beide nichts | 2 | beide nichts
beide nichts | 2 beide nichts
‚beide gut | 2 | beide gut
beide gut In2a Ir schl, len:
ls. schl., 1 n.| 2 | beide nichts
beide nichts | 2 | beide nichts
‚beide nichts | 2 | beide nichts
Ilz. gut, 1 s.| 2 |beide nichts
| schl., In. | |
1 ganz schl., 2 | beide nichts
2 nichts |
1 mäßig gut, 2 beide nichts
| alle gut
I1g.schl, In.|
2 gut, 2 nichts)
3 gut, 1 nichts
|beide nichts |
1 g.schl., 2n.||
Il z. gut, 1 n.|
beide nichts
alle nichts
alle nichts
DDDDDDDDNMD
18. gut,.2.n. |
'alle nichts
2 schl' len:
OD wDmDDWWD Bw
alle s. gut
‚alle gut
alle nichts
alle nichts
beide s. gut
alle gut
2s.g.,1s.schl.
alle s. gut
‚alle s. gut
alle gut
‚alle gut |
DD DW w ww um wWD WC wc
'alle gut |
beide s. gut
‚beide s, gut
3 alle s. gut
| 3 ‚2 gut, 1 nichts)
1.35 .Dgut, 2 f&n:
3 2 schl., In. |
3 Jalle s. gut |
2 beide gut |
3 sehr gut
2 beide gut
2. 12. gut, 1m.
| 2 beide nichts
2 beide nichts
3 alle nichts
3 |alle nichts
3 Jalle gut |
I%.sehl., 2un, ||
l1z.g.,1g.schl.|
DDDDmmwwwnmwww | 8
| beide
DDVOVDWDDDnDDmD
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 415
bestäubt mit
Pine ! £
171 | l ae | 2d I 2e
al na I 8 Sen = * NE 5)
u IP #8] “2
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=®| Ergebnis |-#%, Ergebnis |, Ergebnis, |-#| Ergebnis
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Neischl},2’n. ‚beide nichts ‚alle s. gut | | beide nichts
beide nichts
\ beide nichts
| beide nichts
Mlezsent,jlen.
beide nichts
1 gut, 1 nichts
| beide nichts
beide nichts
beide nichts
1.9. schl., In.
1 s. schl., In.
beide nichts
beide nichts
alle s. gut
beide gut
beide gut
beide s. gut
beide s. gut
beide gut
beide s. gut
beide nichts
1 gut, 1 nichts
beide gut
beide gut
beide s. gut
beide nichts
Pesschl. sin.
beide nichts
beide nichts
1 gut, 1 nichts
beide gut
beide nichts
| 1 gut, 1 nichts
alle nichts
nichts
beide nichts
beide nichts
beide nichts
beide nichts
416 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
Tabelle SD.
Kinder vom Typus BG als Pollenlieferanten.
bestäubt mit
|
Versuch | oO 1m IR Er | 2t
Pflanze |7un1d. "Zahl d.| [Zahl d.)
Typus Nr. | best. | Ergebnis | best. | Ergebnis | best. Ergebnis
Blüten Blüten | Blüten
c 1 gut, 1 nichts | alle nichts beide gut
0 alle s. gut Halle; Wschl:, Um: | 2 gut, 1 nichts
p alle gut | | alle gut alle gut
r 18? gut, len || | alle (s.) gut alle gut
D 2,2.schl., 14n. ' alle gut alle gut
v 1 gut, 1 nichts | alle gut alle gut
x beide s. gut | alle gut alle gut
| beide mäßig
beide gut
beide gut
' beide s. gut
alle s. gut
beide z. g. bis g.
beide gut
alle gut
beide gut | alle gut alle gut
alle gut | ' alle gut alle gut
y<noH-»
Ss
1 gut, 2 z. gut| 1 gut, 2 z. gut beide gut
DWovDDyOo DUO NDDDDUDWWD
wm wwwwmwm DC WC co He ce ww
o
08
vvwwvwmwwwerHmHHmHr
voowpwwm| wowwwcwm
y ‚ alle gut ‚ alle gut 2 gut, 1 nichts
Z alle s. gut ‚ alle s. gut ‚alle s. gut
ad alle gut ‚ alle gut ‚alle gut
1:d7,112.727 21, 1:maß.;alszsehl.| 4 3n.,1 mäßig | 3 | 1 gut, 2 nichts
lf | 2 | beide gut 3 2 gut, 1 nichts| 3 | alle nichts
lg | 2 | beide nichts 3 ..| 1.gut,.2 nichts) 3. 72 mäßig, dem.
lh 2 | beide nichts 33 alle nichts? 3 2 nichts, 1 gut
161 2 | 1n.,leinsam.?|| 2 | 2schl., Inichts|| 3 alle nichts
131%9114.,2 beide nichts 8. ıl alez., gut, 2n.. we 3,7 |vallessschts
lqu 2 beide nichts 3) alle nichts IR 2 nichts, 1 schl.
b@! 1t 2 beide nichts 3 Imäß.,Ischl In.| 3 alle nichts
107 2 1issschls 1 m. 3 1schl., 2nichts | 3 alle gut
aba mp = eseschlSeten: 3 las»schlaPs2°n, | 4 1-g.l:schl4. 2:
Ikaoıı So ten len: 4 3n. leinamig| 3 |2n,1e.schl.
2d 2 beide nichts 3 alle nichts E23 1 schl., 2 nichts
2e 2 | beide gut 3 18, schl., 2: n. || 2 beide nichts
Zn 2 beide nichts 4 Oz KEUL, Tan. 3 INzr eub)2.n.
[2ac % 1 gut, 1 nichts|| 2 1schl., Inichts|| 3 2 n., 1 mäßig
er 32 beide nichts ae lazsput,y2un: 3 alle nichts
be 72 beide nichts | 3 alle nichts 3 alle nichts
lu | 2 | beide nichts | 3 | alle nichts 4 alle nichts
lw | 2 | beide nichts 3 alle nichts 4 1? s-:schl,,..3.n.
ly 3 ı1s. schl., 2 n. 3 alle nichts 6 alle nichts
laa 2 \ beide nichts 3 2uschl>.Slen: 4 alle nichts
Bg\ 2b 2 | beide nichts 3 alle s. gut 3 alle nichts
2g 2 beide nichts 1 nichts? (welk) 2 beide nichts
20 2 beide nichts DEI EIESSschlesien® 2 beide nichts
2p DE 61.8. schl..-Aum: 3 | alle nichts 3 1 schl., 2 n.
2r 2 | beide nichts 2 beide nichts 2 beide nichts
2u 3 alle nichts 3 1, gut, 2.n. 2 beide nichts
2 ab 3 1:schl., 2 n. 3 alle nichts 3 alle nichts
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 4417
| bestäubt mit
Versuchs- | lm | 2m | 2%
| | | |
Pflanze |y.n1d. Zahld. Zahl d.
TypusNr. | pest. Ergebnis | best. , Ergebnis best. Ergebnis
Blüten) \ Blüten Blüten,
le 2 beide nichts 3 alle nichts 3 \ alle nichts
| lk 2 beide nichts 4 alle nichts 2 | beide nichts
lm 2 beide nichts I alle nichts 3 alle nichts
In 2 beide nichts \ 3 alle nichts 3 alle nichts
lac 3. alle nichts 3 alle nichts 3 alle nichts
lad| 2 | beide nichts 3 alle nichts 2 beide nichts
J2e 2 beide nichts 3 1 s. sch, 2n. | 2 | beide nichts
BG\ 2f 2 \ beide nichts 4 | alle nichts 2 | beide nichts
2k 2 _ beide nichts 2 beide nichts 2 | beide nichts
2] 3 | alle nichts 2 beide nichts 2 | beide nichts
2m 3 | alle nichts 3 alle nichts 3 | alle nichts
2 2 beide nichts 3 alle nichts 2 beide nichts
2 w 2 beide nichts 3. | alle nichts 3 alle nichts
2 aa 6 alle nichts 3 | alle nichts 3 alle nichts
Einzelne Versuchspflanzen mögen nicht in die richtige Kate-
gorie eingereiht worden sein.
Es war natürlich meine Absicht, die Versuche 1912 zu wieder-
holen und zu vervollständigen. Ich konnte aber mit den Resten
der vorjährigen Versuchspflanzen nur wenige Bestäubungen vor-
nehmen, wobei andere Pollenlieferanten, je einer aus den Klassen
Bg, bG, bg, verwendet wurden. Die Resultate stimmten im allge-
meinen bei jeder Klasse gut mit den Ergebnissen des Vorjahres
überein. Es zeigte sich z. B. dort, wo ich 1911 mit einer Klasse,
je nach den Individuen, verschiedene Resultate erhalten hatte, auch
diesmal wieder ein ungleiches Verhalten. In Tabelle 9 sind die
neuen Ergebnisse zusammengestellt.
Tabelle 9.
Kinder unter sich.
SA 2. bestäubt mit
Versuchs- | (bg) 2i BREOEEN N BET 2ER
Erze \zanıa, [Zahl d.| Zahld.
TypusNr. \ best. Ergebnis |, best. Ergebnis best. | Ergebnis
ı Blüten Blüten Blüten
lp 7% 6 gut, 1 nichts | 5 1 8. schl;, 4 n.! | '—= —
ls 5 4 2. schl., 2 .n. 3 2 g., leinsamig| 2 beide gut
bo ji 4 alle nichts I) alle gut 3 alle z. gut
5 2 qu 4 2,schl,, 2.n. 7 || 5 alle gut 1 gut
F X 4 alle gut | 3 alle nichts 3 2 gut, 1 nichts
2y 3 alle nichts | 3. | alle mäßig gut 2 | beide nichts
415 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
| Par fi erlaubt mit
Versuchs- \ REDE) Dan (bG) 1 ab i zus _ (Be)2h
Pflanze IZahld. | Zahld. Zahld.
Typus Nr. | best. Ergebnis best. Ergebnis | best. | Ergebnis
Blüten Blüten Blüten)
|
(z.) gut | | — |
1 9 | 1 | (z.) gut
[ı' | 2 1 gut, 1 nichts| 1 | nichts | 2 beide gut?
bG/1lab | 4 | 3 gut, 1 nichts) — | u 2 Ieout,leschl:
| lae|| 3 2 gut, 1 nichts) 1 | schl. (zweisam. )\ 2 1 gut, 1 nichts
2iei ı||: v4 1 dreisam., 3n. 5. 126, 2irasl, In. 3 alle gut
I |
3 gut, 3 nichts
LE AU a) | 4 gut, I nichts 6 --
1 aa 4 alle gut | 4 | alle mäßig | 3 alle nichts
Br 2b 3 | alle gut I alle gut In 02 l einsam., 1 n.
Zar2ıq 4 alle gut 5 | alleg. bis mäß.| 1 nichts
Bi 3 alle gut _ -- I) 1 einsam., 2 n.
2r — — 3 alle nichts —_ 2
Bf le 3 alle gut 1782 1 z. schl, In DEE Ieinsammalen:
lık 6 5 gut, 1 nichts 4 2 gut, 2 nichts| 3 alle nichts
Einstweilen lassen sich aus den Versuchen der beiden Jahre
wohl folgende Schlüsse ziehen:
1. Auch untereinander sind die Kinder lange nicht
alle fertil. Ein guter Teil setzt mit dem Blütenstaub bestimmter
Geschwister nicht (oder nur sehr schlecht) an, während er mit dem
Pollen anderer Geschwister vollkommen fruchtbar ist.
2. Das Ansetzen und Nichtansetzen der Kinder unter-
einander steht sicher im Zusammenhang mit ihrem An-
setzen und Nichtansetzen mit dem Blütenstaub der
Eltern.
So waren (Tabelle 8D) alle Versuche, die 14 zur Klasse BG
gezogenen Pflanzen mit dem Pollen dreier Pflanzen aus derselben
Klasse (1m, 2m, 2t) zu befruchten, völlig vergeblich; keine der je
2—6 Blüten umfassenden 39 Bestäubungen (die 3 Selbstbestäubungen
sind schon abgerechnet) hatte Erfolg. Dagegen setzten mit dem
Pollen derselben 3 Pflanzen die 16 zur Klasse bg gerechneten Indi-
viduen fast ausnahmslos gut, zum Teil sehr gut an; von den 47 Ver-
suchen mit je 2—4 Blüten (eine Bestäubung wurde aus Versehen
nicht ausgeführt) gelang nur einer (3 Blüten, 1eg-—+2md) gar
nicht. In diesen Fällen liegt auch die Erklärung ganz nahe. Die
Pflanzen der GB-Klasse setzen mit dem Pollen anderer, derselben
Klasse angehörigen Individuen nicht an, weil sie alle zusammen die
gleichen zwei Hemmungsstoffe, Bund G, haben. Die Pflanzen der bg-
Klasse dagegen lassen sich mit dem Pollen der BG-Klassse erfolgreich
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 419
bestäuben, weil ihnen allen diese beiden Hemmungsstoffe fehlen.
Auch die reziproken Bestäubungen, bei denen die 14 Pflanzen der
BG-Klasse den Pollen dreier Pflanzen der bg-Klasse (1c, 1p, 1x)
erhielten (Tabelle 8 A), gaben dementsprechend fast durchgängig
ein positives Resultat; nur mit dem Blütenstaub von 1c wurde
eine Anzahl negativer Resultate erzielt.
Bei anderen Klassen waren die Resultate augenscheinlich nicht
einheitlich. So kam es vor, dass von den zu einer Klasse ge-
rechneten Pflanzen die einen mit dem Pollen eines bestimmten
Individuums steril blieben, während die anderen damit ansetzten,
selbst wenn der Pollenlieferant derselben Klasse angehörte. Von
den 15 Pflanzen der Klasse bg, die mit dem Blütenstaub von 1c
bestäubt worden waren, gaben z. B. 3 kein Resultat, 12 ein mehr
oder weniger gutes, von den 16 Bestäubungen in derselben Klasse
mit dem Pollen von 1p 5 kein Resultat, 11 ein gutes und von
ebensoviel Bestäubungen mit dem Pollen 1x 10 keines und nur 6
ein gutes. Dabei gehörten die Pollenlieferanten 1c, Ip und 1x
ebenfalls zur Klasse bg. Es kam aber auch vor, dass bei sämt-
lichen Vertretern einer Klasse das Resultat mit dem Pollen der
einen Pflanze positiv, mit dem der anderen negativ ausfiel, obwohl
beide Pollenlieferanten zur selben Klasse gerechnet worden waren.
So gaben z. B. die 16 Pflanzen der Klasse bG, die mit dem Pollen
von 2b fast ausnahmslos steril blieben (nur bei 2ad setzten die
drei bestäubten Blüten gut an), mit dem Pollen von 2u fast durch-
gängig gute Resultate (nur zwei Kombinationen blieben zweifelhaft,
1fo+2ug:i gut, 3 nichts, und que +2ug:2 gut, 4 nichts),
2b und 2u gehörten in die Klasse Be.
Zweifellos sind also die Klassen Bg, bG und vor allem bg hin-
sichtlich ihrer Hemmungsstoffe nicht einheitlich, und es liegen
ihrem Verhalten noch besondere Gesetzmäßigkeiten zugrunde. Wie
viel aber von den zurzeit vorliegenden Daten durch die drei Fehler-
quellen: zufälliges Versagen von Kombinationen, die eigentlich ge-
lingen sollten, unbeabsichtigte Bestäubung und endlich Einreihung
der einen oder anderen Pflanze in eine unrichtige Klasse, bedingt
wurde, lässt sich, wo die Mehrzahl der Versuchspflanzen zugrunde
gegangen ist, nicht mehr ermitteln und muss deshalb dahingestellt
bleiben. Ich verzichte einstweilen darauf, diesen Fragen im ein-
zelnen weiter nachzugehen, ehe ich neues Material habe.
V. Das Verhalten der Enkel.
„Enkel“ will ich ganz allgemein die Individuen der dritten
Generation nennen, gleichgültig, ob sie aus der Verbindung zweier
Kinder unter sich oder aus der Verbindung eines Kindes mit einem
der Eltern hervorgegangen sind. Es war meine Absicht gewesen,
ihr Verhalten den Eltern und Großeltern gegenüber zu prüfen, und
420 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
ich hatte deshalb 1911 einzelne von den gelungenen Bestäubungen
gesäckt und die Samen ausgesät. Es waren alle vier Klassen ver-
treten gewesen; von den verschiedenen so erhaltenen neuen Ver-
suchspflanzen konnte ich aber dieses Frühjahr nur noch wenige
prüfen.
Zunächst die Enkel, die zwei Kinder aus der Klasse bg (1cund Ip)
mit dem Pollen ıhrer beiden Eltern (® und ©) gegeben hatten,
auf ıhr Verhalten gegen den Pollen eines dieser Eltern. Die Zahl
der Versuchsobjekte war leider sehr gering geworden; die Ergeb-
nisse bringt Tabelle 10.
Tabelle 10.
Verhalten der Enkel, die durch Bestäubung der mit beiden Eltern fertilen
Kinder (Klasse bg) mit diesen Eltern entstanden waren, dem Pollen des
einen Elters (®, resp. dessen Ableger Bö) gegenüber.
A. (bg +8) bestäubt mit 89 B. (bg-+6) bestäubt mit 8)
“ SS | Zahld. I SS Zahld. |
Versuchs- IN & | best. Ergebnis Nezuce, = & | best. Ergebnis
Nr. ZE | Blüten Nr. | 5% | Blüten
6 R
Herkunft| 1 | 3 alle nichts |Herkunft | 1 2 | beide nichts
1c+B 2 4 alle nichts | 1c+® 2 2 |1g., leinsamig
3 3 alle nichts 4 2 ‚beide gut
Dr! alle gut
| | |
8 9
Herkunft, 2 3 | alle nichts Herkunft
1p+28 3 2 beide gut 1p+6| 1 5 alle gut
N 2 beide nichts 2 2 l einsamig, In.
6 6 alle nichts
Dann standen mir noch die Nachkommen einer Pflanze der
Klasse bG (11), die nur mit dem Pollen des einen Elters (B) ange-
setzt hatte, zu Versuchen mit dem Pollen dieses Elters resp. eines
Ablegers davon bereit. Auch hier war die Zahl der verwendbaren
Versuchsobjekte recht gering geworden. Die Ergebnisse sind in
Tabelle 11 (s. S. 119) zusammengestellt.
Besonders augenfällig ist, dass (wie Tabelle 11 zeigt) die mit
dem Pollen eines der Eltern erzeugte Nachkommenschaft eines
Kindes hinsichtlich der Hemmungsstoffe ungleichförmig ausfällt
oder doch so ausfallen kann. Sie besteht dann wieder aus zweierlei
Individuen, von denen die einen mit diesem Elter steril, die anderen
fertil sind; und beide Klassen dürften ungefähr gleich groß sein.
Das weist darauf hin, dass bei dem Kind aufs neue ein Spalten
Correns, Selbststerilität und Individualstoffe. 421
Tabelle 11.
Verhalten der Enkel, die aus der Verbindung eines nur mit einem Elter
fertilen Kindes (11, Klasse b&) mit diesem Elter ® entstanden waren, dem
Pollen dieses einen Elters (8, resp. dessen Ableger Bd) gegenüber.
(bG +8) bestäubt mit 85
. Zahld r Zahl d.|
Nr..der | pest | Ergebnis | el ee, | Ergebnis
Pflanze | Blüten Pflanze | Blüten |
|
l er a =
alle nichts 8 de! einsamig, 4 nichts
fe) 5
4 | 4 | alle sehr gut 9 5 | alle nichts
5 3 | alle sehr gut 10 3 | alle gut
6 3 alle nichts 11 1 | nichts
7 3 alle nichts 12 A 2asgut,alsz.schl., Ion.
vorgekommen ist, in dem Sinne, dass es mindestens zweierlei Keim-
zellen gebildet hat. Man kann sich das vorläufig in folgender Weise
zurechtlegen:
Eltern: B &
/\
deren Keimzellen: Bid EuE
daraus entstehen die
(viererlei) Kinder: BG bG Bg bg
deren Keimzellen: b G
wieder bestäubt mit dem Pollen von ®
respektive mit dessen Keimzellen: B b
es entstehen 4 gleich
häufige Kombinationen Bb BG bG bb als Enkel.
Diese Enkel verhalten sich gegenüber dem Pollen von Bö (mit
dem Hemmungsstoff B) ın folgender Weise:
Enkel Großelter
2L a 5 setzen nicht an, weil beiderseits B ausgebildet ist.
S a S \ setzen an, weil der Hemmungsstoff B bei den Enkeln fehlt.
Schluss.
Im Vorstehenden glaube ich den Nachweis geliefert zu haben,
dass die Hemmungsstoffe, auf denen die Selbststerilität der (ar-
damine pratensis beruht, keine richtigen Individualstoffe sind,
d. h. keine chemischen Verbindungen, die für das einzelne Indi-
viduum charakteristisch wären, die bei seiner Entstehung neu ent-
ständen und mit seinem Untergang spurlos vergingen. Wir müssen
vielmehr in den Hemmungsstoffen Linienstoffe sehen, deren Aus-
bildung auf der Anwesenheit einer Anlage beruht, die vererbt wird,
die sogar wahrscheinlich dem Mendel’schen Spaltungsgesetz folgt.
XXXII 28
422 Correns, Selbststerilität und Individualstoffe.
Wenn im allgemeinen die aus dem Freien geholten, nicht
auf ungeschlechtlichem Wege auseinander hervorgegangenen Stöcke
der Cardamine pratensis, untereinander bestäubt, fertil sind, rührt
das vom Vorhandensein zahlreicher solcher Linien her, die gerade
infolge der Selbststerilität fortwährend untereinander bastardiert
werden. „Reine“ Linien können nicht bestehen, weil Pflanzen mit
denselben Hemmungsstoffen untereinander keine Nachkommenschaft
geben können. Der Kampf ums Dasein, der nur je ein Kind an
Stelle eines Elters treten lässt, verhindert (ohne Selektion), dass
derselbe Bastard und damit dieselbe Kombination von Hemmungs-
stoffen mehrfach auf demselben Standort vorkommt. — Die Existenz
der vielen Linien mit verschiedenen Hemmungsstoffen müssen wir
als gegeben hinnehmen, wie die vielen Linien einer Bohnenrasse
Johannsen’s, nur dass eben bei Cardamine die Linien nicht rein
vorkommen wie bei den Bohnen, sondern durcheinander gemischt,
infolge der Selbststerilität und der dadurch bedingten fortwährenden
Bastardierung der Linien untereinander.
Im übrigen sind bei unserem Versuchsobjekt nicht bloß hin-
sichtlich der Hemmungsstoffe Linien vorhanden, sondern auch hin-
sichtlich zahlreicher äußerer Merkmale. Keines der 60 Geschwister
war einem anderen oder den Eltern völlig gleich; sie unterschieden
sich z. B. in der Größe, ın der Farbe, in der Umrissform und in
der Orientierung der Blumenblätter, in der Farbe des Pollens, ın
der Länge des Fruchtknotens, in der Größe des Narbenkopfes, ın
der Länge und in der Färbung der Schote, wobei die Extreme
durch deutliche, oft durch mehrere Zwischenstufen verbunden waren.
Ich stehe nicht an, die bei Cardamine pratensis gewonnenen
Erfahrungen zu verallgemeinern und nicht nur auf die Hemmungs-
stoffe anderer selbststeriler Pflanzen und Tiere auszudehnen, sondern
auch auf die übrigen Fälle. wo man die Existenz von „Individual-
stoffen“ angenommen hat, selbst auf die Ausbildung der Riech-
stoffe, die es z. B. dem Hunde ermöglichen, die Fährte eines be-
stimmten Individuums aus einer großen Zahl anderer menschlicher
Fährten herauszufinden und zu verfolgen. Eingehende, experimen-
telle Untersuchungen darüber sind mir nicht bekannt, jedenfalls
vermag der Hund, wenigstens in der Regel, auch die Kinder des-
selben Elternpaares am Geruche zu erkennen. Das Bekannte fügt
sich unschwer unseren an (ardamine gewonnenen Anschauungen,
wenn wir annehmen, dass der charakteristische Geruch des Einzel-
individuums nicht von einer einzigen chemischen Verbindung her-
vorgebracht wird, sondern sich aus verschiedenen selbständigen
Riechstoffen zusammensetzt, die von Individuum zu Individuum
teils selbst verschieden, teils verschieden kombiniert sind. Wie
wir annehmen dürfen, dass all die verschiedenen Gesichter um uns
Schwantke, Bemerkungen zur Tierpsychologie etc. 493
herum durch die Kombination zahlreicher — der Individuenzahl
gegenüber aber wahrscheinlich verschwindend weniger — Züge ent-
stehen, die getrennt vererbt werden können und wirklich so ver-
erbt werden, dürfen wir auch annehmen, dass relativ wenige Riech-
stoffe, deren Entfaltung von vererbten Anlagen abhängt, in ver-
schiedener Weise ausgelesen und kombiniert, genug differente
Gesamtgerüche geben, dass der Hund die Fährten auseinander
halten kann.
Dem Individuum eigen sind nicht einzelne Stoffe;
eine bestimmte Kombination von Stoffen ist für das Indıi-
viduum charakteristisch. Die Ausbildung jedes einzelnen
Stoffes beruht auf einer Anlage, die wie andere Anlagen in den
Keimzellen von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Sie ist etwas Spezifisches, nicht etwas Individuelles. Die
Kombination der Anlagen und damit die der Stoffe selbst aber
fällt immer wieder bei jeder Befruchtung verschieden aus, als Spiel
des Zufalls. Die Kombination entsteht jedesmal bei der
Entstehung des Individuums und geht wieder mit ıhm
zugrunde: sıe ist das Individuelle.
Botanisches Institut der Universität Münster 1./W.
Bemerkungen zur Tierpsychologie veranlasst durch den
Aufsatz von Camillo Schneider: Die rechnenden Pferde.
Von Dr. phil. Christoph Schwantke.
Herr Professor Schneider hat sich in dem genannten Auf-
satz wie auch in seinem tierpsychologischen Praktikum die Lösung
seiner psychologischen Fragen sehr erschwert und sogar unmöglich
gemacht dadurch, dass er es unterlässt, eine sehr einfache Frage zu
stellen — die Frage nämlich: Wovon sprechen wir, wenn wir von
Sachen und Vorgängen der Natur, sie seien physikalischer, che-
mischer oder biologischer Art, reden? Die Antwort darauf kann
nämlich nur lauten: wir sprechen von unserem Wissen.
(Man vermeide den Zusatz „nur“ von unserem Wissen; denn wir
können eben von nicht anderem reden und also auch diesem Wissen
nichts anderes entgegensetzen. In der Tat, wenn wir unserem
Wissen die „Wirklichkeit“ entgegenstellen, so meinen wir damit
eine Stellung unseres wahrscheinlich vollkommeneren Wissens von
morgen gegen unser unvollkommenes Wissen von heute.) Also
wir sprechen von unserem Wissen. Wir haben damit erkenntnis-
kritisch die klare Zweiheit von Schöpfer des Wissens und
Ergebnis des Wissens und damit die unbedingte Vorzugs-
stellung des Menschen eben als des Schöpfers gegenüber den Tieren.
Denn die Sache ist doch offenbar so: Alle Sätze über Tiere sınd
28*
494 Schwantke, Bemerkungen zur Tierpsychologie etc.
Ergebnisse des Wissens, auch alle naturwissenschaftlichen Sätze
über den Menschen sınd das, und wir sind so weit, alles natur-
wissenschaftliche Wissen über Tiere und alles Wissen über den
Menschen in ausgezeichneten Zusammenhang gebracht zu haben;
außerdem aber ist der Mensch der Schöpfer von allem diesem
Wissen.
Um nun die Ergebnisse dieses Wissens — selbstverständlich
anlässlich von Sinneseindrücken — zu gewinnen, stehen zwei Gruppen
von Methoden zur Verfügung: 1. die Methoden der Messbarkeit
und 2. die der Bildlichkeit. Die ersteren sind Zeitordnung, Raum-
ordnung und die Aufstellung physikalisch-chemischer Gesetzlichkeit,
und es ıst das klare, wenn auch wohl unerreichbare Ziel aller
Naturforschung, alles Wissens um Naturvorgänge — auch der Bio-
logie — ın Wissen um physikalisch-chemische Gesetzlichkeit auf-
zulösen. Das Idealwissen um die Elberfelder Pferde würde also
heißen: Es treffen sie die und die Reize, dadurch werden die und
die physikalisch-chemischen Prozesse im Gehirn ausgelöst, es ge-
schehen Umsetzungen nach den und den Gleichungen in den Nerven
und Muskeln — folglich müssen die Pferde genau die und die Be-
wegungen machen. Es ist nicht überflüssig, dieses utopische Bild
durchzudenken, weil man daran erkennt, dass bei seiner Verwirk-
lichung die Worte: Bewusstsein, Denken, Rechnen, Mathematik,
a priori ... ganz aus dem Wissen um die Pferde verschwunden
wären, d. h. also, dass die Frage: können die Pferde rechnen? dann
überhaupt keinen Sınn mehr hätte.
Nun ist freilich nicht abzusehen, dass jemals der Mensch so
weit kommen wird, sein Wissen um so verwickelte Sachen, wie
die Lebensprozesse höherer Tiere in ein Wissen um rein physi-
kalisch-chemische Gesetzlichkeit zu verwandeln; es treten daher hier
für jetzt und alle absehbare Zeit die Methoden der zweiten Gruppe
in ıhr Recht, die Methoden der Bildlichkeit. Sie bestehen darin,
den Dingen der Natur — heute kommen natürlich nur noch die
Tiere ın Betracht — Bewusstsein, Denken, Willen, Lust u. s. w.
zuzuschreiben. Diese Worte sınd Analogiebegriffe, genommen aus
der menschlichen Schaffenstätigkeit, sie sind berechtigt und not-
wendig, solange sie einen naturwissenschaftlichen Nutzen gewähren;
d.h. solange man die Bewegungen eines Tieres noch nicht rein physi-
kalisch-chemisch erklären kann, ist es richtig zu sagen: das Tier
denkt, will u.s. w. Endlich — und das ist das Wichtigste für
unsere Zwecke: es ist ganz falsch, aus Fällen, in denen solche
Analogiebegriffe nötig sind, um ein Wissen, um ein Tier zu er-
zeugen, Rückschlüsse auf den Menschen zu machen, von dem diese
Analogiebegriffe genommen sind. Also wenn wir auch jetzt genötigt
sein sollten, den Satz auszusprechen: die Pferde können rechnen,
und vielleicht nach beliebig langer Zeit diesen Satz durch ein Wissen
Carazzi, Über die Schlafstellung der Fische. 425
um verwickelte Reflexe ersetzen können — ein Schritt näher zur
physikalisch-chemischen Gesetzlichkeit — so berühren diese Aus-
sagen über Ergebnisse unseres Wissens nicht ım geringsten
unsere Aussagen über die Möglichkeiten und Methoden der Wissens-
erzeugung. Dass im besonderen die Möglichkeit der Zeitordnung
und die der Raumordnung wurzelhafte Methoden menschlicher
Wissenserzeugung sind (a priori nach Kant’s Sprachgebrauch), daran
werden uns die Pferde also wirklich nicht irre machen.
Es sei noch ein kurzes Wort über das eigentliche Thema hinaus
gestattet: Kehren wir noch einmal zu dem utopischen Ideal zurück,
dass alles menschliche Wissen um die Natur sich entwickelt hätte
zu einem Wissen um physikalisch-chemische Gesetzlichkeit, es
würde dann in den Ergebnissen der Naturwissenschaft keine Aus-
sage über Psychisches mehr stehen; trotzdem wäre natürlich die Er-
zeugung des Wissens genau wie heute ein rein psychischer Prozess, und
man müsste sagen: Psychisches ist der Erzeuger des Wissens
vom Physischen. Heute hat der Satz etwas verwickelter zu
lauten: Psychisches ist der Erzeuger des Wissens vom Psychischen
und kann als vorläufiger Analogiebegriff auch im Inhalt des Wissens
vorkommen. Jedenfalls aber steht sich Psychisches und Physisches
als der strenge Dualismus von Subjekt und Objekt gegenüber, und
alle Versuche, diesen Dualiısmus durch Sätze zu ersetzen wie:
Psychisches und Physisches „ist dasselbe“, oder „geht parallel“,
sind erkenntniskritische Irrtümer.
Über die Schlafstellung der Fische.
Von Dav. Carazzi. Padua.
Verschiedene Beobachter und unter ihnen, wie ich glaube, als
erster Möbius, haben bemerkt, dass einige im Aquarium gehaltene
Fischarten eine Schlafstellung annahmen, wobei sie auf der Seite
oder mit dem Bauche nach oben im Wasser lagen und zwar längere
Zeit bis zu einigen Stunden. Während dieser Zeit werden die
Flossen nicht bewegt und die Atmungsbewegungen sind ebenfalls
sehr vermindert. Erst kürzlich haben auch Werner, Romeis
und Krüger im Biolog. Öentralbl.!) über Ruhe- oder Schlafstellung
von in Aquarien gehaltenen Fischen berichtet.
Bisher hat aber meines Wissens niemand die im Meere
schlafenden Fische erwähnt, weshalb ich glaube, dass die Beschrei-
bung dieser merkwürdigen Erscheinung nicht ohne Interesse ist,
die ich mehrmals im Golfe von Spezia beobachten konnte. Dort
finden sich während der guten Jahreszeit häufig verschiedene Meer-
äschenarten: Mugil cephalus, M. capito, M. auratus; selten sind M.
1) Biolog. Centralbl. 1911, S. 41 u. 83; ibid. 1913, S. 14.
426 Carazzi, Über die Schlafstellung der Fische.
chelo und M. saliens. Von den beiden erstgenannten Arten konnte
ich besonders die zweite (M. capito) mehrfach in Schlafstellung be-
obachten und diese beiden sind nicht nur die häufigsten, sondern
auch die größten. Der ım Juli und August in so zahlreichen
Schwärmen erscheinende M. auratus, dass ich ıhn mehrfach durch
einen Flintenschuss erbeuten konnte, ist immer von geringerer
Größe und wird nicht länger als 13 cm. Auch der M. saliens über-
steigt niemals dieses Maß. Der M. chelo erreicht bemerkenswertes
(Gewicht und Länge und ist seines vorzüglichen Fleisches wegen
sehr gesucht, aber er kommt nur selten im Golf vor und die Fischer
übervorteilen die Käufer leicht dadurch, dass sie ıhm durch den
ganz gewöhnlichen M. cephalus und den M. capito ersetzen!
Von diesen zwei Arten waren von 30—35 cm lange und über
ein halbes Kilogramm schwere Exemplare ziemlich häufig, die ich
mehrfach im Sommer während der heißen Mittagszeit ın Schlaf-
stellung sehen konnte. Sie liegen dann gänzlich unbeweglich an
der Oberfläche des Wassers auf der Seite und lassen sich von den
durch die leichte Brise erzeugten Wellen hin und her schaukeln,
so dass man sie für tot halten könnte, was auch ich anfangs glaubte,
da ich mich so weit nähern durfte, bis ich sie mit dem Ruder oder
einem anderen Gegenstand berührte und sie erst dann blitzschnell
flüchteten.
Um von dem relativ festen Schlaf der Meeräsche einen Be-
griff zu geben, erwähne ich nachstehende Begebenheit. Eines Tages
machte ich mit Bekannten eine Fahrt im Golf und während mein
Schiffer die beiden Ruder führte, steuerte ich das Boot. Den
Wasserspiegel überblickend hatte ıch noch weit vor uns eine große
Meeräsche bemerkt, die sich von den Wellen schaukeln hieß. Ohne
die Gesellschaft darauf aufmerksam zu machen, schlug ich die Wette
vor, dass ich aus dem Meere einen lebenden Fisch mit meinem
Hute herausfischen würde. Da die Wette, die man für einen Scherz
hielt, angenommen wurde, hieß ich meinem Fischer mit aller Kraft
rudern und ım richtigen Augenblick die Ruder einziehen, so dass
das Boot infolge des starken Antriebes sich ohne das geringste
Geräusch fortbewegte. Genau steuernd begab ich mich dann ins
Vorderteil des Fahrzeugs, nahm den Hut ab und konnte mit schneller
Bewegung die große Äsche herausfischen, die ich zum großen
Schrecken der Damen und Erstaunen der ganzen Gesellschaft mitten
ins Boot warf.
Handelt es sich um Schlaf oder um Rast? Mir scheint, sie
müssen wirklich schlafen, sonst ließe es sich nicht erklären, dass
man sich wie im erwähnten Falle ihnen nähern kann bis man sie
berührt. Wenn sie wach wären, würden sie, furchtsam wie sie
sind, beim Näherkommen eines Fahrzeugs gleich die Flucht er-
greifen; sie tun es nicht weil sie nicht sehen (obgleich sie die Augen
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 427
offen haben) und nicht hören; sie sehen und hören nicht weil sie
schlafen.
Was mag die Ursache dieses Schlafes sein? Nach meiner
Überzeugung ist er, wie bei Menschen, durch das Ruhebedürfnis
während der sommerlichen heißen Mittagsstunden begründet und
eher die Folge der erhöhten Temperatur der Wasseroberfläche,
welche das Tier einschläfert, als die Folge der Müdigkeit. Sicher-
lich habe ich nie schlafende Äschen außer der heißen Jahreszeit
und außer den Stunden größter Hitze gesehen; meine Beobach-
tungen erstrecken sich über mehrere Jahre, während denen ich
jeden Tag einige Stunden im Boote zubrachte.
Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
(Statische Reflexe beı Mollusken.)
Mit 5 Photographien und 6 Textfiguren.
Von Dr. phil. W. Baunacke,
Assistent am Zoolog. Institut Greifswald.
Nach den kürzlich von E. Mangold (1912) in Winterstein’s
Handbuch der vergleichenden Physiologie zusammengestellten Be-
funden zahlreicher Untersuchungen über die Frage nach Zweck
und Wirkungsweise der Statocysten niederer Tiere erscheint diese
Frage noch lange nicht so weit klargestellt, wie es das Verständnis
der großen biologischen Bedeutung dieser Organe für ihre Träger
erfordert. Nicht nur kommen verschiedene Autoren zu abweichen-
den Resultaten bezüglich der Annahme einer statischen Funktion
für diese Organe bei gewissen Tieren überhaupt, sondern wir finden
vor allem auch die verschiedensten Auffassungen bezüglich des
Wesens derselben vertreten bei Forschern, welche ihnen eine sta-
tische Funktion zusprechen.
Kein Wunder, wenn die Vorstellung, die sich der Nichtspezialist
von solchen Gebilden und deren Bedeutung macht, nicht anders als
unklar sein kann. Dies geht deutlich schon daraus hervor, dass
für ıhn gewöhnlich statische Organe schlechthin „Gleichgewichts-
organe*“ sınd und dass man ferner mitunter ıhrer Funktion nach
noch völlig unbekannte Sinnesorgane in der Literatur rein hypo-
thetisch als statische angesprochen findet, wohl einfach deshalb,
weil sie ihrem Baue nach in keine Kategorie der übrigen allbe-
kannten Sinnesorgane hineinpassen wollen. Vor allem fehlt es uns
noch an der geeigneten Definition für den biologischen Zweck dieser
Organe, der allein ihre Existenz bei den einen, ihr Fehlen bei
anderen Formen bedingt, und der doch im einzelnen so sehr ver-
schieden ist.
Mangold (1912) definiert als spezifisch statische (p. 904) solche
Sinnesorgane, „die neben dem optischen und dem Tastsinne die
498 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
Lage und Bewegungen des Körpers regulieren“. Diese kurze Defi-
nition ist ebenso treffend als umfassend. Sie ist so umfassend, dass
nicht nur Statocysten und ihnen ähnliche Bildungen, sondern auch
die Seitenorgane der Capitelliden und Fische, die Hicks’schen
Papillen am Dipterenschwinger, ja schließlich auch wohl solche
Tastorgane der Arthropoden u. a., deren spezifische Funktion die
Regulierung der Lokomotion in Luft und Wasser durch Wahr-
nehmung des Druckwiderstandes des zu verdrängenden Mediums
ist, sich nach ıhr unter dem Sammelbegriff „Statische Sinnesorgane“
sehr wohl vereinigen lassen. Es passt eben tatsächlich nach
Mangold’s Definition alles, was bisher als „statisches Sinnesorgan*
angesprochen worden ist, unter diesen Namen, und so ıst sie für
eine Zusammenfassung dessen die einzig mögliche und rechte.
Gerade diese Dehnbarkeit jenes Sammelnamens ist es aber
auch, die eine Abgrenzung der rein statischen von gewöhnlichen
Tastsınnesorganen unmöglich macht. Und eine Grenze ist da um
so schwerer zu ziehen, als ja schließlich auch rein statische Organe
nur eben Tastorgane sind, wie dies ja schon Verworn (1891, p.471)
besonders hervorhebt, und auch schon sehr einfach gebaute Tast-
organe mehr oder minder vollkommen in den speziellen Dienst der
Orientierung im Raum treten können. Wir dürfen also unter Um-
ständen ein Tasthaar, wie es bei den Arthropoden beispielsweise
in so verschiedener Gestalt auftritt, schon als ein statisches Sinnes-
organ bezeichnen. So aber darf es uns nicht wundern, wenn die
Zusammenstellung physiologisch wie biologisch zum Teil recht sehr
verschiedener Dinge unter gemeinsamer viel zu allgemeiner Be-
zeichnung das Verständnis ihres Wesens nicht eben fördert.
Ich glaube darum, dass es für das Erkennen der speziellen
biologischen Bedeutung der einzelnen unter jenem Begriffe zu-
sammengefassten Gebilde von großem Vorteil wäre, wenn eine
Scheidung aller dieser im einzelnen doch so stark voneinander ab-
weichenden Sinnesapparate sich ermöglichen ließe. Da stoßen wir
indessen auf beträchtliche Schwierigkeiten insofern, als schon die
Entscheidung nicht leicht zu treffen ist, ob wir diese Trennung
nach physiologischen oder biologischen Gesichtspunkten vorzunehmen
haben. Die ganze Frage nach der Funktion und Bedeutung sta-
tischer Sinnesorgane ist aber m. E. leider noch nicht soweit ge-
fördert, noch nicht genügend geklärt, als dass die Einteilung jener
Organe nach diesen oder jenen Momenten einwandfrei durchgeführt
werden könnte. Ja, wir werden Gründe kennen lernen, welche
eine solche beinahe unmöglich machen.
Wohl wissen wir, dass bei der großen Mehrzahl statischer
Sinnesapparate die Gravitation, bei anderen indessen Trägheit, Luft-
resp. Wasserwiderstand oder Strömungsdruck mit größerer oder
geringerer Sicherheit als physiologische Faktoren betrachtet werden,
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 499
welche reizerzeugend wirken sollen. Eine Einteilung nach diesen
physiologischen Momenten ist nun aber solange unmöglich, als jene
reizbewirkenden Faktoren bisher nur in wenigen Fällen wirklich ein-
wandsfrei bestimmt sind.
Aber auch biologische Momente sind zu einer Klassifikation
nicht recht zu brauchen, denn die Lebensbedingungen sind selbst
für nahverwandte Formen doch so verschieden, dass die Funktion
der statischen Sinnesorgane nicht nur bei einzelnen Vertretern der-
selben Klasse eine sehr abweichende, sondern, wie es sich zeigen
wird, sogar beim selben Tiere eine mehrfache sein kann. Wir
werden sehen, dass die jeweiligen Funktionen statischer Organe
durchaus den Bedürfnissen ihrer Träger entsprechen. Die Betrach-
tung verschiedener Sinnesorgane dieser Art bei verschiedenen Tieren
nach biologischen Gesichtspunkten wird zeigen, dass gleiche Be-
dürfnisse gleichwirkende Organe erfordern und dass wir deren, bei
verschiedenen Formen den nämlichen Zweck erfüllende Funktionen
auch unter gleichem, die jeweilige Funktion spezieller charakterı-
sierenden gemeinsamen Namen sehr wohl zusammenfassen können.
Schon das wird uns die verschiedene Bedeutung dieser Sinnesorgane
verständlicher machen. Nicht aber dürfen wir die Organe selbst
nach dieser Funktion benennen oder gar einteilen und das aus dem
Grunde, weil ein einzelnes Organ recht verschiedene Funktionen in
verschiedenen Lebenslagen des Tieres erfüllen kann.
Im allgemeinen lässt sich wohl das Wesen statischer Sinnes-
organe dahin definieren, dass es mehr oder minder kompli-
ziert gebaute Organe des Tastsinnes sind. Sie perzi-
pieren Reize, die eine bestimmt gerichtete Kraft direkt
oder indirekt auf den Körper ausübt, und lösen Be-
wegungen aus, die den Körper in eine zur Richtung jener
Kraft bestimmte und von biologischen Bedürfnissen be-
dingte Normallage bringen und darin erhalten.
Hier wollen wır aus der Gesamtheit aller jener Organe als
wohl charakterisierte und scharf umschriebene Gruppe einstweilen
diejenigen herausgreifen, die ihre Wirksamkeit unmittelbar der
Gravitation (indirekt ıst das wohl für alle der Fall) verdanken.
Nur solche Organe statischer Funktion sollen uns hinsichtlich ihrer
biologischen Bedeutung hier zunächst beschäftigen, die einen durch
die Schwerkraft bedingten lotrecht gerichteten Kontaktreiz empfangen.
In einer längeren Abhandlung habe ich vor kurzem (1912) den
anatomischen und experimentellen Nachweis zu erbringen versucht,
dass die sogen. „falschen Stigmen“ der Nepiden (Wanzen), ebenso
wie die sogen. „Sinnesgruben“ ihrer Larven, in ihrer Gesamtheit
ein System von Sinnesorganen bilden, bestimmt, ihren Trägern die
Orientierung unter Wasser zu vermitteln. Die Art, wie und unter
welchen Bedingungen das geschieht, möge hier, weil es zum Ver-
430 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
ständnis meiner weiteren Ausführungen notwendig ist, noch einmal
kurz Erwähnung finden.
Die betreffenden Sinnesorgane — Mangold (l. c., p. 899) be-
zeichnet sie als spezifisch geotaktische — zeigen, wie auch
sonst die Organe statischer Funktion der von uns betrachteten
Gruppe einen Mechanismus, der den Tieren stets die Lotrechte als
Richtungskonstante sichert. Im Gegensatze zu den Statocysten
anderer Formen werden hier aber die richtenden Reize hervor-
gerufen durch das Bestreben eines spezifisch-leichteren Körpers
(Luft), im spezifisch-schwereren Medium (Wasser) die höchstmög-
liche Lage zu gewinnen. Und solche mit jeder Änderung der Körper-
lage wechselnden Erregungen lösen die nach Mangold (l.c., p 901)
als negativ-geotaktisch zu betrachtenden Richtungsbewegungen
eines solchen Tieres aus, sobald es, unter Wasser kriechend, durch
eintretende Atemnot gezwungen wird, den Rand, resp. die Ober-
fläche des Wassers und damit die Verbindung mit der Atmosphäre
wieder aufzusuchen.
Im Einklang mit diesen Tatsachen stehen die biologischen wie
die experimentellen Befunde. Die Tiere finden ihre Nahrung allein
im Wasser, sind aber durch ihr Atembedürfnis in hohem Maße auf
die Verbindung mit der Atmosphäre angewiesen, die sie vermittels
besonderer Atemröhren (Schaufeln bei der Larve) aufrecht erhalten.
Immerhin sind sie bis zu einem gewissen Grade befähigt, ihre
Atemluft auch dem Wasser direkt zu entnehmen, eine Atmungs-
weise, die im Winter bei stark reduziertem Stoffwechsel wohl aus-
reicht, im Sommer dagegen nur als Notbehelf dient, wie unsere Ver-
suche bewiesen haben. Andererseits aber sind diese Tiere so
schlechte Schwimmer, dass sie, um rasch nach dem Grunde zu ge-
langen, ihr spezifisches Gewicht durch spontane, reichliche Luft-
abgabe so stark erhöhen, dass sie, einmal auf dem Grunde ange-
langt, nicht mehr imstande sind, nach oben zu schwimmen. Am
Boden hinkriechend oder an Pflanzen hochkletternd, gewinnen sie
dann den Wasserspiegel wieder.
Es ıst klar, dass solche merkwürdigen Lebensbedingungen den
Tieren hinsichtlich ihres Aufenthaltsortes starke Beschränkungen
auferlegen, dass diese aber andererseits selbst an eine ihnen gut zu-
sagende Örtlichkeit so angepasst sein müssen, wie das die Befrie-
digung aller ihrer Lebensbedürfnisse verlangt. Und so finden wir
die Tiere selten (wohl nur zufällig) im freien Wasser, gewöhnlich
aber vielmehr da, wo der Boden der Gewässer, aus feinen Sedı-
menten gebildet, bank- oder strandartig in schiefer Ebene zum Ufer
hin ansteigt (vgl. Fig. 1), oder aber ım dichten Pflanzengewirr.
Hier wie dort sitzen sie dann so dicht unterm Wasserspiegel, dass
sie mit ihren Atemröhren die Atmosphäre eben erreichen, und
nur soweit entfernen sie sich kriechend von jener, wie das ihre
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 451
Beutezüge erfordern, um dann aufs neue zur Atemstelle zurückzu-
klettern.
Eintretende Atemnot stellt sich also hier dem Weiterkriechen
nach der Tiefe als Reflexhemmung entgegen und zwingt das Tier,
jenen Sınnesorganen folgend, umzukehren. Durch deren Vermitt-
lung findet es somit reflektorisch seinen Weg zum Wasserspiegel
zurück.
Diese Befunde bei den Neprden legen nun vor allem die Frage
nahe, ob nicht auch anderen Tieren, die unter ähnlichen äußeren
Bedingungen leben, etwa Organe der gleichen oder ähnlichen
Funktion zum Zwecke der Orientierung zur Verfügung stehen. Das
Fig. 1 (Erkl. vgl. Text!).
ist um so wahrscheinlicher, als wir eine Anzahl von Formen kennen,
welche eine den Nepiden sehr ähnliche Lebensweise führen. Ja,
wir müssen nach den Resultaten der obigen Untersuchungen und
verschiedenen eingehenderen biologischen Beobachtungen neuerer
Autoren m. E. die ganz allgemeine Frage aufwerfen, ob nicht über-
haupt die Existenz statischer Sinnesorgane bei denjenigen niederen
Tieren, bei denen wir den biologischen Nutzen solcher bisher nicht
zu erkennen vermochten, bedingt wird durch Lebensbedürfnisse,
welche eine Orientierung besonderer Art voraussetzen, die ihrer-
seits aber gemäß der Eigenart jener eine wohl sehr verschiedene
und doch in hohem Maße charakteristische sein wird.
So zeigen die neuerdings durch von Buddenbrock bei Peeten,
marinen Anneliden und Synaptiden eruierten physiologischen Be-
132 Baunack, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
funde ebenso wie die oben rekapitulierten Tatsachen aus dem Leben
der Nepiden ja zur Genüge, dass wir den Besitz statischer Sinnes-
apparate bei den genannten Formen als ganz spezielle Anpassungs-
erscheinung an die Eigenart der Umgebung und an die besonderen
Bedürfnisse der betreffenden Organısmen selbst betrachten müssen.
Vor allem aber weist ja schon das wechselnde und im Gegensatze
zu anderen Sinnesorganen (deren Fehlen wir als Ausnahme hervor-
zuheben pflegen) unbeständige oder verhältnismäßig seltene Auf-
treten statischer Sinnesorgane innerhalb mancher sonst eng ver-
wandter Formenkreise (Coelenteraten, Würmer) darauf hin, dass ihre
Existenz an besondere Bedingungen gebunden ist. Diese aber
können eben so verschieden sein, wie der Nutzen, den die von
solchen Sinnesapparaten ausgehenden Reize deren Trägern zu bieten
vermögen. Das zeigt auch ıhr, trotz des sonst gleichen, der Funktion
zugrunde liegenden Prinzips, im einzelnen doch so verschiedenartiger
Mechanismus.
Zu Beginn seiner Arbeit über die Funktion der Statocysten
ım Sande grabender Meerestiere (Arenicola und Synapta) fasst
von Buddenbrock (1912) die Resultate der bis dahin von zahl-
reichen Forschern über die Bedeutung statischer Sinnesorgane aus-
geführten Untersuchungen dahin zusammen, „dass die Statocysten,
soweit bisher bekannt, auf Schwerkraftsreize reagierende Organe
sind, und dass sıe zur Aufrechterhaltung des Gleichgewichts dienen“.
Schon in meiner oben zitierten Abhandlung sprach ich (1912,
p- 154) die Vermutung aus, „dass bei gewissen Formen die statischen
Organe mit der Erhaltung des Gleichgewichts nichts zu tun haben,
sondern vielmehr ganz bestimmten Zwecken dienende Orientierungs-
mittel darstellen, die im engsten Zusammenhange mit der Lebens-
weise ihrer Träger stehen“. Auf den biologischen Zweck jener
Sinnesorgane der Nepiden hatte ich aber schon in einer früheren
Veröffentlichung (1910) hingewiesen, und schon die damals vorge-
nommenen Experimente hatten die charakteristische Funktion der-
selben klar gezeigt. Müssen wir nun den ersten Teil jener m. E. unge-
eigneten Definition ohne weiteres gelten lassen, so glaube ich, dass
wir ‚nach den neuesten Untersuchungen auf unserem Gebiet deren
zweiten Teil ganz wesentlich einschränken müssen. Und das aus
dem einfachen Grunde, weil bei zahlreichen niederen Tieren die
Statocysten und die ihnen verwandten Organe mit der Gleich-
gewichtserhaltung gar nichts zu tun haben können, deshalb nämlich,
weil diese Tiere dauernd oder normalerweise im stabilen, ja indiffe-
renten Gleichgewicht leben, also passiv, d. h. rein mechanisch be-
reits vollkommen ausreichend orientiert sind. von Buddenbrock
begründet ın der Einleitung zu seiner Pecten-Arbeit (1911, p. 4)
das Fehlen statischer Sinnesorgane bei gewissen Mollusken mit
deren Biologie, unter anderem für Janthina damit, dass sie sich
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 433
stets ım stabilen Gleichgewicht befinde. Nun haben wir aber wohl
Tiere (und auch Mollusken), die ım stabilen, ja beinahe indifferenten
Gleichgewicht lebend, dennoch Statocysten besitzen. Wir dürfen
also die Annahme der Gleichgewichtsfunktion für Statocysten ebenso-
wenig wie für statische ns gane überhaupt verallgemeinern.
Gerade der Umstand, dass man die funktionelle Ele solcher
Sinnesapparate immer nur in einer reflektorischen Erhaltung des
Gleichgewichts suchte, machte ja deren Vorkommen bei an sich
bereits mechanisch vollkommen sicher orientierten Formen so un-
verständlich und ließ auch bei den Gegnern der Statocystenhypo-
these immer wieder Zweifel an deren Richtigkeit aufkommen.
Eine Gleichgewichtserhaltung durch Vermittlung statischer
Sinnesorgane ist m. E. aber nur notwendig bei Formen, die
sich vorübergehend oder dauernd in labilem Gleich-
gewicht bewegen, d. h. also bei Schwimmern, Fliegern und
Läufern, soweit diese eben nicht durch entsprechende Verteilung
spezifisch verschieden schwerer Massen ihres Körpers passiv orien-
tiert sind. Damit aber soll keineswegs gesagt sein, dass alle die
letztgenannten Formen nun unbedingt statische Sinnesorgane be-
sitzen müssen. Wir wissen im Gegenteil sehr genau, dass mancherleı
Sinne und auch Tropismen für solche Organe vikarııeren können.
Dass solche statischen Sinnesapparate aber ihren labil orientierten
Trägern bezüglich der lokomotorischen Gewandtheit gegenüber
statocystenlosen, passiv orientierten Formen große Vorteile bieten
werden, das habe ich bereits an anderer Stelle darzulegen versucht
und die Bethe’schen Experimente an jungen Fischen (1910) sprechen
stark zugunsten dieser Anschauung.
Bei labil orientierten Formen also haben wir am ehesten noch
die Berechtigung, von „Gleichgewichtsorganen“ im gewohnten Sinne
zu sprechen, denn hier sind es tatsächlich die von den Statocysten
ausgehenden Reize, welche die reflektorischen Bewegungen auslösen,
die zur Erhaltung einer gewissen Lage, die eben hier aus
biologisch-praktischen Gründen eine labile Gleich-
gewichtslage ist, nötig sind. Statische Sinnesorgane aber künftig
noch, wie das bisher oft genug geschah, ganz allgemein schlechthin
als „Gleichgewichtsorgane“ zu bezeichnen, das ist nach den Resul-
taten, welche in jüngster Zeit von Buddenbrock’s und meine
eigenen Untersuchungen gebracht haben, kaum mehr angängig.
Mangold trägt dieser Tatsache Rechnung, wenn er die oben er-
wähnten Sinnesorgane der Nepiden (1912, p. 899) „spezifisch geo-
taktische Sinnesorgane“ nennt, „wie sie bei den übrigen negativ-
geotaktischen Tieren bisher nicht nachgewiesen werden konnten“.
Für die Statocysten derjenigen Formen also, die einer besonderen
antikinetischen Gleichgewichtsregulierung nicht bedürfen, müssen
wir nach einer anderen Deutung suchen.
434 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
H. L. Clark (1899) hat für statocystentragende Holothurien
der Gattung Synapta das Bestreben, auf schiefen Flächen stets
bergab zu kriechen, experimentell dargetan und damit typische
positive Geotaxis für diese Formen erwiesen. Durch ebenso
einfache als lehrreiche Versuche hat weiterhin von Buddenbrock
die biologische Bedeutung dieses Verhaltens an Synapta digitata
gezeigt. Nach diesem Autor vermitteln bei Synapta die Statocysten
„eine erdwärts gerichtete Fluchtbewegung, die eintritt, sobald das
Tier entweder gewaltsam aus dem Sande gegraben oder frei auf
dem Sande liegend von irgendeinem Feinde überrascht wird. Die
zwangsläufig vertikale Bewegung hört auf, sobald die Synapta
gänzlich im Sande verschwunden ist.“ In gleicher Weise konnte
von Buddenbrock auch für den marinen Anneliden, Arenicola
grubei, der gleichfalls mit Statocysten ausgerüstet ist, den „Vertikal-
reflex*, d. h. die gleiche geotaktische Fluchtbewegung, wie bei
Synapta digitata nachweisen. Auch bei diesen Tieren stehen also
wie bei den Nepiden, die statischen Sinnesorgane im Dienste einer
bestimmt gerichteten Bewegung, die bei jenen Formen aus dem
Schutzbedürfnis, bei den Nepiden aber aus dem Atembedürfnis
resultiert. Hier wie dort aber haben sie nicht das mindeste zu
tun mit der Gleichgewichtserhaltung, sondern die von ihnen aus-
gehenden Erregungen bewirken bei Synapta und Arenicola posi-
tive, bei den Nepiden hingegen negativ-geotaktische Bewe-
gungen. Während aber, wie von Buddenbrock meint, bei
Synapta und Arenicola der Vertikalreflex durch den Reiz des Aus-
gegrabenwerdens ausgelöst, durch den Sandwiderstand bei Areni-
cola, den Kontaktreiz allseitig umgebender Sandpartikelchen aber
bei Synapta gehemmt wird, müssten wir für die Nepiden als aus-
lösenden Reiz der betreffenden Bewegung eben die eintretende
Atemnot, als Reflexhemmung aber wohl die Berührung mit der
Atmosphäre betrachten. Das erscheint plausibel, zumal, wenn wir
daran denken, dass bei den Nepiden die statischen Sinnesorgane
sämtlich im direkten Konnex stehen mit dem Respirationssystem
und ihre Träger nur in ausgesprochen negativ-geotaktischem Sinne,
d. h. in der Richtung nach dem luftspendenden Wasserspiegel hin,
orientieren. Das infolge äußeren Reizes sich geltend machende
Schutz- resp. Atembedürfnis also veranlasst diese Formen, ihren
statischen Sinnesapparaten in bestimmter Richtung so lange zu
folgen, bis neue, als Hemmungen wirkende äußere Reize, welche
die Befriedigung der betreffenden Bedürfnisse begleiten, die Be-
wegung zum Stillstand bringen, oder den durch die Statocysten
bewirkten Vertikalreflex ausschalten.
So dienen hier also Statocysten wohl lediglich dem Zweck,
das Tier immer wieder in eine bestimmte Lage zurückzuführen, die
man als Ruhelage oder besser Normallage bezeichnen mag, die
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 455
aber weder einer labilen Gleichgewichtslage entspricht, auch nicht
notwendig in der Massenverteilung der Körpersubstanz begründet
zu sein braucht, sondern für das Tier diejenige Situation dar-
stellt, welche eine Befriedigung wichtiger, sich mehr oder
weniger dauernd geltend machender Lebensbedürfnisse ge-
währleistet. Solche Bedürfnisse sind aber zumeist weniger das
sich nur zeitlich regende Nahrungs- und Fortpflanzungsbedürfnis,
als vielmehr gerade das Schutz- und Atembedürfnis, die sich ım
Gegensatze zu jenen fast dauernd geltend machen. Sucht doch
auch Nepa einerea sich ın der für sie immerhin gefahrvollen durch
jenen Vertikalreflex erreichten Ruhelage, die gleichbedeutend ist
mit der Atemstellung, noch durch besondere „Anpassungsmaßnahmen“
zu sichern (vgl. 1912, p. 300—301).
Alle diese Tatsachen aber zeigen schon zur Genüge, dass ıhrer
Wirkungsweise nach sehr wohl zu unterscheiden sind statische
Sinnesorgane, welche wirklich (ganz allein oder doch in ıhrer Haupt-
funktion) der Gleichgewichtserhaltung dienen, und andere, welche
bestimmte Richtungsbewegungen auslösen, dıe das Tier in eine von
besonderen Lebensbedürfnissen bedingte Normallage führen resp.
zurückführen, nachdem es dieselbe freiwillig oder unfreiwillig ver-
lassen hatte. Wir haben somit die Sinnesapparate der ersteren
Art von denen der letzteren schon deshalb zu trennen, weil ihre
biologische und funktionelle Bedeutung eine verschiedene ist.
Die Bezeichnung „Statocysten“ werden wir nach wie vor
ja wohl aufrecht erhalten können ganz allgemein für jene statischen
Sinnesapparate, deren Mechanismus auf unmittelbarer Einwirkung
der Gravitation beruht und die die Körpermuskulatur (Tonus-
funktion!) in der Weise beherrschen, dass sie unter gewissen Be-
dingungen reflektorisch Bewegungen auslösen, welche dem Organis-
mus eine bestimmte Lage ım Raum sichern, deren dauernde oder
zeitweilige Innehaltung eine biologische Notwendigkeit für ıhn ıst.
Wie aber mit jenen Bedingungen auch die Bewegungen und die
Lage, die aus ihnen resultiert, nach den jeweiligen Lebensverhält-
nissen des betreffenden Tieres wechseln können, so tritt uns als
Endresultat solcher antikinetisch sich vollziehenden Orientierung
das eine Mal eine mehr oder minder labile Gleichgewichtslage, ein
andermal aber irgendeine jeweils verschiedene, stets aber cha-
rakteristische Normallage entgegen, die in keinem oder
nur nebensächlichem Zusammenhang mit der Gleich-
gewichtserhaltung steht.
Darum also dürfen wır von statischen Sinnesorganen keines-
falls schlechthin als von „Gleichgewichtsorganen“ sprechen, sondern
wir werden besser sagen, dass die von ihnen reflektorisch herbei-
geführte und erhaltene, biologisch bedingte Normallage aus bio-
logisch-praktischen Gründen auch eine labile Gleichgewichts-
496 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
lage sein kann. Wenn wir also im vorliegenden Falle der so
verschiedenen biologischen Bedeutung der Organe aus der von uns
hier näher betrachteten Gruppe künftighin gebührend Rechnung
tragen, d. h. ihre charakteristischen Funktionen recht bezeichnen
wollen, werden wir besser von einer spezifischen Balancefunktion,
positiv- oder negativ-geotaktischen Funktion statischer
Sinnesorgane sprechen. Bezeichnungen aber, wie „Balance-
organe“, „positiv- oder negativ-geotaktische Sinnesorgane“ werden
wir schon deshalb vermeiden müssen, weıl ein „Balanceorgan“ ja
zugleich geotaktische Funktion in positivem oder negativem Sinne
haben könnte, und weil es stets strittig bleiben wird, welche dann
als „Hauptfunktion“ zu betrachten wäre und den Namen hergeben
müsste. Wır hätten hiernach also die Statocysten der mehr
oder minder labil orientierten Schwimmer, Flieger und
Läufer als statische Sinnesorgane mit spezifischer Ba-
lancefunktion, die betreffenden Sinnesorgane bei Synapta
und Arenicola indessen als solche mit positiv-, bei den
Nepiden aber negatıv-geotaktischer Funktion zu bezeichnen.
Wir wissen indessen nicht, ob jenen Organen nicht auch noch andere
Funktionen zukommen.
Aber noch müssen wir hier eine Funktion statischer Sinnes-
organe in Betracht ziehen, deren biologische Bedeutung ihre Ein-
reihung unter die oben erwähnten als nicht angängig erscheinen lässt.
Angeregt durch den Hinweis E. Mangold’s (1912, p. 865) auf
noch ausstehende biologisch-physiologische Untersuchungen bezüg-
lich der Funktion der Statocysten bei den Pulmonaten, unterzog
ich das Orientierungsvermögen verschiedener Vertreter dieser Gruppe
einem eingehenderen Studium. Leider standen mir zu dieser Jahres-
zeit nur von Nacktschnecken genügend viele Exemplare der Gat-
tungen Limax und Arion zur Verfügung. Bezüglich der Gehäuse-
schnecken gelangte ich zu einem völligen Abschlusse meiner Beob-
achtungen wegen Materialmangels zwar noch nicht, wie auch die
Versuche an Limax- und Arion-Arten eine Fortsetzung wünschens-
wert erscheinen lassen.
Gelegentlich solcher Versuche konnte ich ausgesprochene sta-
tische Reflexe bei diesen Tieren beobachten.
Ich experimentierte zuerst mit frisch von draußen ins Labora-
torıum gebrachten völlig heilen Tieren der Gattungen Limax (L.
agrestis, L.) und Arion (A. hortensis, Fer.). Abgesehen von der
größeren Lebhaftigkeit der ersteren verhielten sich bei den folgenden
Versuchen die Vertreter beider Genera gleich. Beide sind gewöhn-
lich negativ-heliotaktisch und kriechen auf einem Tisch am
Fenster sogleich schnurgerade vom Fenster (abends vom Glühlicht)
weg, dem dunkleren Hintergrunde des Laboratoriums zu. Ihr Fuß
erscheint besonders in dem vorderen Abschnitt der Kriechsohle in
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 437
hohem Maße stereotaktisch. Je frischer die Tiere dem Freien
entnommen sind, um so lebhafter sind sie und um so mehr er-
leichtert sich das Experimentieren.
Ich legte also zunächst eines der Tiere (später mehrere Indı-
viduen beider Gattungen gleichzeitig) auf den Rücken (vgl. Fig. 2)
und beobachtete, dass es ın kürzester Zeit, wie zu erwarten, seine
Normallage wieder eingenommen hatte. Und zwar begann das
Umkehren in die normale Kriechlage bei den meisten Tieren
sogleich nach dem Umwenden in die Rückenlage. Keines der
Tiere aber verbleibt in verkehrter Lage, so oft man es auch immer
von neuem in diese zurückgebracht hat, die Tiere reagieren viel-
mehr so lange in derselben Weise, bis sie sich wegen vorschrei-
tender Austrocknung schließlich „in sich selbst zurückziehen“. Dann
stellen sie jede Reaktion ein und verhalten sich völlig passiv.
Fig. 3 (Erkl. vgl. Text!).
Wie vollzieht sich nun diese Umkehr ın die Normallage?
Folgendermaßen: Das eben auf den kücken gelegte (oder gefallene)
Tier dreht sogleich den Kopf ın der Richtung um die Körperlängs-
achse in die Normallage zurück, um ıhn dann alsbald soweit nach
unten zu senken, bis der stark stereotaktische Vorderrand der
Kriechsohle den Boden berührt. An diesem aber heftet er sich
sofort an und zieht, in Lokomotion eintretend, den ganzen übrigen
Teil der Kriechsohle und mit ıhr den ganzen Körper allmählich ın
die Normallage herum. So kommt es, dass der hintere Abschnitt
des Tieres noch lange die verkehrte Lage (Kriechsohle nach oben
gerichtet) zeigt, während im vorderen Abschnitt die Normallage
schon erreicht und das ganze Tier bereits in Fortbewegung be-
griffen ist. Auf diese Weise kommt es für kurze Zeit zu einer
fast spiraligen Windung der Kriechsohle. Dabei aber laufen die
bekannten Kontraktionswellen doch sogleich über die ganze Sohle
fort, sobald nur der vordere, dem Kopf benachbarte Teil den Boden
berührt hat. Beigegebene Photographie (vgl. Fig. 3) zeigt drei
XXXIM. 29
438 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
Tiere im Begriffe des Umwendens. Und zwar hat es der Zufall
gewollt, dass diese Bewegung in drei verschiedenen Stadien bei
den drei Tieren, und zwar in der Reihenfolge von links nach rechts
getroffen wurde'). Alle drei Tiere waren zuvor auf den Rücken ge-
legt worden. Das links gelegene Individuum beginnt soeben mit
der Drehung des Kopfes in die Normallage, liegt sonst aber noch
ganz, Kriechsohle nach oben gekehrt, auf dem Rücken. Das Tier
in der Mitte zeigt den Vorderkörper schon in normaler Lage und
Lokomotion, während der hintere Körperabschnitt noch ın der
Rückenlage ıst. Es lässt zugleich die infolge dieser Körperver-
drehung noch teilweise spiralige Windung der Kriechsohle er-
kennen. Das Tier zur Rechten endlich hat die Umkehr eben so-
weit beendet, dass nur noch am Analende die vorherige Rückenlage
daran erkennbar ist, dass hier die Kriechsohle sich dem Boden
noch nicht ganz angelegt hat. Kurzum, die Tiere zeigen sich, so
oft man diesen Versuch auch wiederholen mag, ganz ausgezeichnet
orientiert und gewinnen stets sehr rasch ihre Normallage wieder,
wenn man sie in irgendeine andere wälzt. Stets aber erfolgen die
gleichen, oben geschilderten Bewegungen des Kopfes beim Umkehr-
akte, und zwar wird dieser bald durch Rechts-, bald durch Links-
drehung in die Normallage gebracht.
Fragen wir uns nun aber, worauf denn dieses Orientierungs-
vermögen, dieser eigenartig regelmäßige Umkehrreflex des
Kopfes zurückzuführen ıst, so liegt es wohl am nächsten, an die
dort befindlichen Ommatophoren und Taster zu denken, zumal ja
Gesichts- und Tastsinn bei so vielen Tieren die Orientierung ver-
mitteln. Diese Möglichkeit verliert aber an Wahrscheinlichkeit
schon deshalb, weil die Kopfdrehung sehr oft schon erfolgt,
noch ehe Taster und Augen zur Ausstülpung kommen und
ehe überhaupt Kopf oder Nacken den Boden berühren. Sind in-
dessen Fühler und Ommatophoren erst hervorgekehrt oder gar der
Sohlenrand in Berührung mit dem Boden gekommen, so erfährt
die Umkehrbewegung allerdings eine gewisse Beschleunigung. Dass
aber diese Umkehr auch ganz unabhängig von Gesichts- und Tast-
sinn vor sich geht, beweist vor allem die Tatsache, dass auch Tiere,
deuen Tage zuvor Ommatophoren und Taster amputiert worden
waren, den Umkehrreflex absolut sicher zeigten. So bieten auch
die folgenden in dieser Richtung vorgenommenen Versuche, die
wir gleich näher kennen lernen werden, keinen Anhalt für die ent-
gegengesetzte Annahme, zeigen vielmehr, dass der Umkehr- bezw.
Vertikalreflex des Kopfes auch unabhängig von jenen Sinnesorganen
fortbesteht.
1) Alle Aufnahmen wurden bei Blitzlicht gemacht. Die Tiere befanden sich
also während des Umkehraktes im Dunkeln!
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 439
Noch bliebe aber der Kontaktreiz zu berücksichtigen, der die
Berührung des Bodens mit dem Rücken des Tieres begleitet und
als auslösender Anstoß für die Umkehrbewegung und Senkung des
Kopfes sehr wohl in Betracht kommen könnte. Dann müsste aber
das seiner Augen und Taster beraubte Tier, so oft die Kriechsohle
kontaktfrei, der Rücken aber mit der Unterlage in Berührung ist,
den Kopf stets nach der Unterlage hin drehen, auch wenn sich
das Tier sonst in der Normallage befände, d.h. Rücken oben, Sohle
unten im Raume läge. Das aber ist, wie die folgenden Versuche
zeigen, keineswegs der Fall.
Eine Platte sehr rauhen Kartons (als Kriechunterlage benutzt)
wird dem normal liegenden Tier so auf den Rücken gelegt, dass
es mit diesem an der Platte kleben bleibt und so im der Normal-
lage (d. h. immer Rücken oben, Sohle unten!) gehoben wird (vgl.
Fig. 4). Es sind also der Rücken in Berührung mit der Platte,
die Sohle aber völlig kontaktfrei und zudem das Tier in der Normal-
lage: Das Tier wendet sich trotz des Kontaktreizes im Rücken
nicht der diesmal oben gelegenen Unterlage zu, sondern neigt den
Fig. 4 (Erkl. vgl. Text!).
Kopf wieder nach unten, d.h. der Erde zu, und zwar gewöhn-
lich so stark, dass es nach einiger Zeit herabfällt. Dieser Versuch
wurde auch so angewandt, dass das Versuchstier nur zur Hälfte
mit dem Rücken in einer schmalen gefalzten Papierrinne angeklebt
wurde und zwar so, dass die orale Körperhälfte mit dem augen-
und fühlerlosen Kopfe frei über das Ende dieser Rinne hinausragte,
und ohne dass zwischen Papierrinne und Kriechsohle ein Kontakt
stattfand. Die Rinne wurde um ihre Längsachse drehbar an einem
Stativ befestigt und so mit dem Tier langsam in Bewegung ge-
setzt. Damit wird aber gleichzeitig das Versuchstier um seine
Längsachse gedreht. Hierbei beantwortet das Tier jede Lage-
änderung mit der entsprechenden Drehung des freien Kopfendes
in die Normallage. Es wendet indessen den Kopf auch bei diesen
Versuchen der Unterlage zu, sobald der Sohlenrand auch nur ein
wenig mit jener in Berührung kommt. Das also muss verhindert
werden, führt uns aber gleichzeitig zu der Überlegung, dass der
Drehreflex und die Senkung des Kopfes nach unten nur eintreten,
solange die Kriechsohle kontaktfrei ist, dass sie andererseits aber
nicht erfolgen, sobald dieser Kontakt vorhanden ist. Mit anderen
Worten:
Das Freistehen der Kriechsohle ist der auslösende
Reiz, der ihre Berührung mit einem Substrat begleitende
29*
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
BES
Kontaktreiz äber die physiologische Hemmung für jenen
Umkehrreflex und die Senkung des Kopfes.
Dass dies aber in der Tat nicht anders sein kann, mögen die
folgenden Versuche zeigen:
Lässt man Limax agrestis oder Arion hortensis auf der Karton-
platte in normaler Weise kriechen, so kann man die mit der Sohle
fest an der Platte haftende Schnecke mit ıhrer Unterlage in alle
nur denkbaren Lagen (vgl. Fig. 5 und 6) bringen, ohne dass sich
der Kopfdrehreflex einstellt. So sehen wir ja auch ın der Natur
die Tiere in allen möglichen Lagen umherkriechen. Bedeckt man
ul De Ha
Fig. 5 (Erkl. vgl. Text!).
schließlich ein eben auf den Rücken gelegtes, augen- und
tasterloses Tier noch vor Eintritt des Drehreflexes rasch
von oben her so mit einer Glasplatte (Objektträger!), dass
diese die Kriechsohle bedeckt (vgl. Fig. 7), so unter-
bleibt der Umkehrreflex des Kopfes nach der Boden-
fläche (Kartonplatte!) hin sogleich, und das Tier kriecht,
zwischen Kartonfläche und Glastafel ın verkehrter Lage
an der letzteren hin.
Diese beiden zuletzt beschriebenen Versuche zeigen so-
mit wohl deutlich genug, dass der Umkehrreflex ausbleibt,
sobald eine Berührung der stereotaktischen Kriechsohle mit
Fig. 6
(Erkl.
vgl. A 2) “ A: 4 A a) ” E
Text!). Fig. 7 (Erkl. vgl. Text!).
irgendeinem irgendwie im Raume gelegenen Substrat stattfindet.
Der auf die Kriechsohle einwirkende Kontaktreiz ist also tatsäch-
lich der hemmende Faktor, der den Umkehrreflex zur zeitweiligen
Ausschaltung bringt, während umgekehrt das Fehlen jenes zum
auslösenden Reiz für ihn wird.
Wenn es nun aber weder die ohnehin sehr primitiven Augen
noch die Taster, noch überhaupt der allgemeine Tastsinn des
Körpers ist, welche diese sich so sicher vollziehende Orientierung
ım Raume vermitteln, wenn ferner auch Tiere mit Augen und
Tastern bei dem zuletzt erwähnten Versuche sich zwischen Karton-
und Glasplatte ebenso benehmen, wie die schon erwähnten, so bleibt
m. E. ın der Tat nichts anderes übrig, als die Statocysten der
Tiere dafür verantwortlich zu machen. Und für diese An-
nahme sprechen nicht nur die einzelnen Ergebnisse unserer Ver-
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion, 444
suche, sondern vor allem schon die Lagebeziehung jener Sinnes-
organe zu Kopf und Fuß der Tiere. Simroth sagt (1907, p. 322)
hierüber bezüglich der Prosobranchier: „Die Tatsache, dass das
paarige Ohrbläschen vom Cerebralganglion innerviert und meist in
die Nachbarschaft der Pedalganglien gerückt, weit von der Epi-
dermis in das Innere des Körpers entfernt ist, deutet darauf hin,
. dass es mehr Statocyste ist als Otocyste.* Und weiterhin fragt
der gleiche Autor: „Sollte nicht auch die Lagebeziehung zum Be-
wegungsorgan ın gleichem Sinne zu deuten sein?“
Diese Frage Sıimroth’s scheint durch unsere Versuche in be-
jahendem Sinne beantwortet zu werden, und das wäre ja für Stato-
cysten als solche nichts Neues, denn schon mehrfach wurde ihre
physiologische Bedeutung als Oentren für die Lokomotion experi-
mentell bewiesen. Für die Pulmonaten indessen stand dieser Nach-
weis bisher noch aus. Und so werden wir nicht fehl gehen, wenn
wir bei den oben bezeichneten Nacktschnecken die reflektorische
Aufrichtung der Tiere aus jeder zur Lokomotion unge:
eigneten Lage in die Normallage als eine spezifische
Funktion der Statocysten betrachten.
Wie aber liegen diese Verbältnisse bei den gehäusetragenden
Landpulmonaten? Sicher sehr ähnlich, wie die folgenden Versuche
erkennen lassen.
Lässt man eine Anzahl ihrer Ommatophoren und Taster be-
raubter Exemplare von Helix pomatia, Linn., oder Helix hortensis,
Müll., auf ebener Tischplatte hinkriechen und wirft sie in irgend-
eine beliebige abnorme Lage um, also etwa so, dass das ausge-
streckte Tier auf Seite oder Rücken zu liegen kommt, so benehmen
sich die Tiere ganz ähnlich wie ihre gehäuselosen Verwandten. Sie
ziehen zunächst auf den Reiz des Umwerfens hin den Kopf ein,
um ihn gleich darauf, meist noch vor vollendeter Ausstülpung, in
die Normallage zurückzudrehen. Dabei legen sie die Kriechsohle
in ihrem oralen Abschnitt dem Boden an und ziehen den übrigen
Körper samt Gehäuse in die normale Kriechlage nach. Die aus-
gestreckten Tiere also verhalten sich ganz so, wie die Arion- und
Limax-Arten, wenn auch bei diesen der Mangel des Gehäuses die
einzelnen Reflexe schärfer hervortreten lässt.
Wie aber steht es mit der Orientierung unserer Gehäuseschnecken,
wenn sie, in ihrem Hause geborgen, in irgendeine beliebige Lage
gerollt wurden oder von selbst rollten?
Ein Gehäuse mit dem Tier (FH, pomatia) im Innern hat nur
zwei stabile Gleichgewichtslagen, wenn es auf halbwegs
ebener Fläche liegt, d. h. nicht in vielen Punkten gleichzeitig eine
Stütze findet. Es kann einmal so liegen, dass es mit der Öffnung
dem Boden zugekehrt ist (das ist di oraallase 2), ferner aber
auch so, dass seine Öffnung nach oben zeigt (das ist die Ver-
442 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
kehrtlage). Auf rauhem Erdboden, im Rasen und dergleichen
Orten kann aber das Gehäuse in alle möglichen Lagen gelangen,
Fig. S (Erkl. vgl. Text!).
Fig. 10 (Erkl. vgl. Text!).
weil es da viel mehr
Stützpunktefindet. Die
Schnecke, die doch in
der Natur leicht ın
diese oder jene Lage
mit ıhrem Gehäuse
gerät, muss also das
letztere aus jeder be-
liebigen Situation ım
die Normallage zurück-
zubringen wissen.
Setzen wir eine
Anzahl Individuen von
H. pomatia, L., so auf
Plastolinfüße, dass wir
das Gehäuse jedesmal
ın einer anderen Lage
auf der Knetmasse
festdrücken, so beob-
achten wır das Fol-
gende: Ganz gleich-
gültig, wohin wir die
Öffnung des Gehäu-
ses gerichtet haben,
drehen die Tiere ge-
wöhnlich schon beim
Hervorkriechen oder
aber unmittelbar danach
den Kopf in die Normal-
lage, d. h. Rücken oben,
Sohle unten. So verharren
sie und suchen den Kon-
takt mit dem Boden zu
gewinnen, was Ihnen aber
die Höhe der Plastolin-
füße verbietet. Sie geraten
schließlich in Kontakt mit
dem eigenen Gehäuse oder
dem Körper und versuchen
dann gewöhnlich, daran von
ihrem Sitz herabzukriechen,
was ihnen natürlich infolge der Befestigung missglückt.
Unsere Photographien (Fig. 8—10) zeigen die Tiere in solchen
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 445
Situationen. In Fig. 8 stehen beide Gehäuse Öffnung nach vorn;
das Tier rechts hat soeben das seine verlassen und den Kopf in der
Normallage. In den folgenden Figuren sehen wir dasselbe Tier
links, rechts ein anderes. Fig. 9 zeigt uns beide Tiere, Gehäuse-
öffnung nach oben gewandt, auf die Plastolinfüße gestellt: Das linke
Individuum hat dieser Lageänderung schon Rechnung getragen und
den Kopf in die Normallage gebracht, das Tier rechts (es ist weniger
lebhaft) ist eben noch im Begriffe, dasselbe zu tun. Fig. 10 end-
lich zeigt dieselben Tiere, wieder in die frühere Lage (vgl. Fig. 8!)
zurückgebracht: Das Tier links zeigt die Kopfdrehung schon vollendet
und beginnt, am eigenen Körper herabzukriechen, sein Nachbar
rechts (vgl. dessen Lage in Fig. 9!) ist eben noch dabei, den Kopf
aus der ıhm soeben aufgezwungenen Verkehrtlage in die Normal-
lage zurückzubringen. Wir sehen also, dass auch diese Gehäuse-
schnecken, ungeachtet der Lage ihres „Hauses“, wohl orientiert
sind und den Kopf stets in die Normallage zu bringen
wissen. Die Tiere regeln ihre Körperlage also schon beim Her-
vorkriechen aus dem Gehäuse und zwar auch nach erfolgter Ampu-
tation der Augenträger und Fühler. In dem Maße aber, wie sie
dann den Körper strecken, senken sie Kopf und Vorderkörper nach
dem Boden hin, wobei sie, wie schon erwähnt, gewöhnlich in Kon-
takt mit dem eigenen Gehäuse geraten. Sie zeigen also den Um-
kehrreflex auch in solchen Situationen recht deutlich. Weniger
scharf tritt indessen der Vertikalreflex (d. i. die Kopfsenkung!) in
jenen Lagen bei ihnen hervor. Und damit hat es folgende Be-
wandtnis: Die Lage der Tiere auf den Plastolinfüßen ist ebenso
wie die ganze Versuchsanordnung in hohem Maße unnatürlich des-
halb, weil das Gehäuse des betreffenden Tieres festklebt, also nicht,
wie draußen in der Natur wohl stets, frei beweglich ist.
Legen wir nämlich ein Tier auf die ebene Tischplatte, aufge-
schütteten Sand oder Kies in die „Verkehrtlage“, so erfolgt der
Drehreflex des Kopfes und dessen Senkung ganz ähnlich so, wie
auf den Plastolinfüßen (s. o.), nur dass hierbei infolge der Beweg-
lichkeit des Gehäuses auch die mit dem Auskriechen des Tieres
und dem Leererwerden des Hauses Hand in Hand gehende Schwer-
punktsverlagerung zur Geltung kommt. In dem Maße, wie sich
das Tier beim Hervorkriechen aus dem verkehrt liegenden Gehäuse
streckt (bezw. Kopf mit Vorderkörper mehr oder minder stark nach
unten senkt), wird der Schwerpunkt allmählich so verschoben, dass
Gehäuse und Tier in die jeweils neu geschaffene Gleichgewichts-
lage herumrollen, so lange, bis das Tier in irgendeiner Lage den
Boden oder eine sonst geeignete Kriechunterlage berührt. Dann
aber beginnt wieder der uns bekannte Aufrichtungsakt. Der Ver-
tikalreflex findet also in jener Schwerpunktsverlagerung
und dem nachfolgenden Umkippen des Gehäuses gleich-
444 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
sinnige Unterstützung. Das aber ist wohl auch der Grund für
sein weniger augenfälliges Hervortreten bei unseren oben geschil-
derten Versuchen.
Abgesehen von den Besonderheiten, welche der Besitz des Ge-
häuses mit sich bringt, können wir also bei unseren beiden Gehäuse-
schnecken ın ganz ähnlicher Weise Reaktionen beobachten, wie wir
sie bei ihren gehäuselosen Verwandten, Limax und Arion, Tfestge-
stellt haben. Und so erscheint mir auch bei ıhnen der Schluss be-
gründet, dass es die Statocysten sind, welche als Centren für
jenen Umkehrreflex und die nachfolgende Senkung des Kopfes ın
posıtiv-geotaktischer Richtung zu betrachten sind, Reflexe, die
beide ausgelöst werden durch das Freistehen der Kriech-
sohle, und die ein Kontakt derselben als Reflexhemmung
ausschaltet. Denn alle auch sonst bei jenen Nacktschnecken
eruierten Befunde wiederholen sich beim Experiment mit jenen
Helix-Arten, abgesehen davon, dass sie als Tagestiere die negative
Heliotaxis jener vermissen lassen. Sonst aber trifft auch alles das,
was wir oben von Simroth bezüglich der Statocysten hörten, ın
jeder Hinsicht auch für sie zu.
Wir haben es bei den statischen Sinnesorganen dieser Mollusken
also zu tun mit Sinnesapparaten, die neben einem Umkehrreflex
auch einen positiv-geotaktischen Reflex auslösen zu dem Zweck,
das Tier immer von neuem wieder „auf die Beine zu bringen“,
wenn es seine Normallage verloren hatte. Wir sehen aber gleich-
zeitig auch, dass diese Normallage keine bestimmte Gleichgewichts-
lage, die etwa von den Statocysten reflektorisch erhalten werden
müsste, ist, sondern sie ist diejenige Lage, in die das Tier
gelangen muss, um ın Lokomotion eintreten zu können.
Sie hat bezüglich der Gleichgewichtserhaltung vor anderen be-
liebigen Körperlagen nichts voraus, denn das Tier vermag ja, ein-
mal in Lokomotion, in jeder Lage zu kriechen, solange nur die
Kriechsohle Kontakt behält. Das Umherkriechen der Tiere in jeder
Lage im Raum an beliebig plazierten Gegenständen ist aber seiner-
seits nur möglich, wenn mit beginnender Lokomotion, d. h. mit
der Herstellung des Kontakts zwischen Kriechsohle und Substrat,
die Statocysten zur Ausschaltung gelangen. Geht ıhm aber dieser
Kontakt und damit die Lokomotionsmöglichkeit aus irgendeinem
Grunde verloren, so treten die Statocysten wieder in Tätigkeit und
stellen die zum Kriechen geeignete Lage von neuem her. Die
Tiere sind also, solange nur die Vorbedingungen für die normale
lLokomotion erfüllt sind, in der Tat an keine bestimmte Lage
ım Raume gebunden.
Indessen ıst das ÖOrientierungsvermögen der von uns unter-
suchten Pulmonaten mit den bis jetzt konstatierten Reaktionen noch
nicht erschöpft, auch wenn wir vom Gesichts- und Tastsinn absehen.
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 445
Als ich eine Anzahl Gehäuseschnecken in einer großen Porzellan-
schale unter Wasser gebracht hatte, um sie dadurch zum Aus-
strecken zu bewegen, fiel es mir auf, dass alle die Tiere am schräg
ansteigenden Schalenrande sehr rasch ihren Weg nach oben fanden
und so dem Wasser zu entgehen wussten. Durch diese dann noch
öfter gemachte Beobachtung an meine Schaukelversuche (vgl.
1910, p. 488 und 1912, p. 310—325) erinnert, brachte ich zwei ihrer
Fühler und Ommatophoren beraubte Exemplare von Limax agrestis
unter Wasser auf das schräg gestellte Schaukelbrett (vgl. Fig. 11)
und da krochen denn auch beide Tiere schnurstracks auf dem
Brette nach oben, ja sogar der Lichtseite zu, die sie doch sonst
gern meiden. Als dann das Brett langsam gewendet und damit
die Anstiegrichtung verkehrt wurde, hielten beide Tiere sogleich
im Marsche inne, hoben die Köpfe längere Zeit empor, um als-
bald nach Berührung des
Brettes mit dem Vorder-
rande der Kriechsohle und
begonnener Lokomotion
prompt umzukehren und in
entgegengesetzter Richtung
nach oben zu kriechen. So
reagierten diese beiden
Tiere nacheinander auf
12 Schaukeldrehungen
prompt’ dureh jedesmaliges» „2 217 zu m) Fre
Kopfheben und nach- Fig. 11 (Erkl. vgl. Text!).
folgende Umkehr und 5
krochen stets nur aufwärts. Wurde das Schaukelbrett aber nur
so weit gedreht, dass wohl der Anstiegswinkel, nicht aber die An-
stiegsrichtung sich änderte, krochen die Tiere ruhig in der Anstiegs-
richtung ohne Aufenthalt vorwärts. Die Erschütterung der Schaukel
oder des Wassers konnte somit die Umkehr der Tiere nicht ver-
ursacht haben. Aber auch Augen und Taster fehlten ıhnen. Ja,
der folgende Versuch zeigt uns, dass selbst heile Tiere sich
dieser Sinnesorgane zur Orientierung unter Wasser nicht
bedienen.
Sechs völlig heile Tiere, auf das zur Lichtseite hin schief an-
steigende Schaukelbrett unter Wasser geworfen, kehren, ganz wie
an der Luft, sich sogleich in die normale Kriechlage um und zeigen
dabei alle von uns beobachteten Einzelheiten dieses Aktes. Keines
der Tiere streckt indessen die Taster oder die Ommato-
phoren unter Wasser aus. Vier von ihnen kriechen bald nach
2) Diese Art, sich beim Falle unter Wasser aufzuhängen, konnte ich oft be-
obachten.
446 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
der Aufrichtung bergan, das fünfte Tier kehrt erst um, nachdem
es ein kleines Stück (d. h. ca. 3--4 cm weit) bergab, also falsch,
gekrochen ist. Die sechste Schnecke kriecht beharrlich in falscher
Richtung, d.h. bergab, fällt dann vom Brett herab und bleibt mit
einem Schleimfaden am Schaukelbrett hängen?). Bei der nun
folgenden ersten Wendung des Brettes wenden fünf der Tiere
gleich um und kriechen in der neuen Anstiegsrichtung vorwärts.
Auch das sechste Individuum kehrt, kopfabwärts auf die Schaukel
zurückgebracht, um und kriecht jetzt, den anderen gleich, bergan.
Die zweite Wendung der Schaukel wird von allen sechs Tieren
fast gleichzeitig richtig durch Umkehr beantwortet. Bei der dritten
Umkehr des Brettes fallen zwei Tiere vom Brett, bleiben an
Schleimfäden hängen, reagieren aber, auf die Schaukel zurückgesetzt,
ebenso wie die übrigen Versuchstiere richtig. Die vierte Wendung
der Schaukel wird wieder von fünfen der Tiere sogleich, vom
sechsten erst nach 10 Minuten richtig durch Umkehr beantwortet.
Das sechste säumige Tier hielt während dieser langen Zeit den
Kopf über das Schaukelbrett erhoben und kehrte erst um, als es
endlich ın Kontakt mit der Unterlage und in Lokomotion einge-
treten war.
Sehr erschwert werden diese Versuche (und nur darauf sind
ım. E. einzelne Misserfolge mit vielleicht ohnehin matten Tieren
zurückzuführen) durch den starken Gewichtsverlust, den die Tiere
unter Wasser erleiden, und der ıhnen vor allem das Festhaften an
der Unterlage recht schwierig macht?). Dann müssen ja aber auch
alle die Vorbedingungen für die Lokomotion erst gegeben sein, ehe
die Umkehr der Tiere ın die neue Anstiegsrichtung erfolgen kann,
und zu deren Verzögerung trägt das jedesmalige Kopfheben nach
der Schaukelwendung stark mit bei. Kurzum, die Langsamkeit der
Reaktionen wie überhaupt aller Bewegungen der Tiere unter Wasser
gestaltet diese Versuche etwas zeitraubend.
Das aber gilt noch mehr von den gleichen Experimenten mit
Gehäuseschnecken der von uns oben erwähnten Arten, die überhaupt
zum Untertauchen im Wasser nur dann zu bringen sind, wenn ihr
(sehäuse wenigstens annähernd luftfrei im Innern ist. Die Tiere
sinken gewöhnlich nur dann unter, wenn man sie ins Wasser wirft
zu einer Zeit, wo sie sich ım Gehäuse verborgen halten. Dann
aber reagieren sie ebenso wie jene Nacktschnecken, nur viel unbe-
holfener und langsamer wegen der Gehäuselast.
Wenn wir nun also unsere Beobachtungen über die Orien-
tierung dieser Tiere unter Wasser zusammenfassen, so erkennen
wir das Folgende:
3) Die Tiere benutzen unter Wasser häufig nur die orale Hälfte der Kriech-
sohle zur Lokomotion und heben die hintere empor.
Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. AAT
1. Auch unter Wasser erfolgt der die normale Kriechlage
herstellende „Umkehrreflex“, den wir an der Luft beobachten
konnten, in ganz gleicher Weise.
2. Auch unter Wasser ist der Kontakt der vorderen
Kriechsohlenhälfte mit der Unterlage die auslösende Vor-
bedingung für die Lokomotion der Tiere.
3. Während nach erfolgter, beim Kopfe beginnender Aufrich-
tung des Tieres in die Normallage an der Luft der Vorder-
körper in positiv-geotaktischer Richtung gesenkt wurde, wird er
im Wasser in negativ-geotaktischer Richtung von der Unter-
lage abgewandt.
4. Die negative Geotaxis kommt bei den Tieren unter
Wasser vor allem auch während der Lokomotion zum Ausdruck
dadurch, dass sie das Bestreben zeigen, stets bergan zu
kriechen.
5. Die negative Heliotaxis der Tiere macht sich bei deren
Orientierung unter Wasser in keiner Weise geltend.
6. Fühler und Ommatophoren werden unter Wasser
nie ausgestülpt.
Was nun die biologische Bedeutung dieses eigenartigen
Verhaltens der Tiere unter Wasser anbelangt, so haben wir es
wohl ohne Zweifel zu tun mit einem Fluchtreflex. Die land-
bewohnenden Lungenschnecken haben m. W. keine Möglichkeit,
unter Wasser zu atmen (eine Tatsache, die bekanntlich viel zum
Abtöten dieser Tiere in ausgestrecktem Zustande benutzt wird).
Darum müssen sie als typische und noch dazu so überaus sch wer-
fällige Bodentiere sich wohl unbedingt gegen Überflutungen
ihrer Aufenthaltsorte, wie sie bei Regengüssen doch so oft, wenn
auch in kleinem uns nicht weiter auffälligen Maße vorkomme::
werden, zu schützen und auch das Vordringen in Wasserlachen zu
vermeiden wissen. Vermöge der im Wasser negativen Geotaxis
werden sie, wie in der Schüssel, auf der Schaukel, so auch in der
freien Natur in den weitaus meisten Fällen ihren Weg aus dem
Wasser herausfinden und dem Erstiekungstode entgehen können.
Gerade die unter Steinen, Laub u. dgl. lebenden Nacktschnecken
werden oft in solche. Lagen kommen. Und sie zeigen ja die nega-
tive Geotaxis unter Wasser auch in so ausgesprochenem Maße,
dass ich es nicht: unterlassen möchte, die oben geschilderten Ver-
suche als Schulversuche zur Demonstration negativer Geo-
taxıs zu empfehlen. Nicht nur die Einfachheit der Anordnung,
sondern auch der Wegfall jeder besonderen Vorbereitung der Ver-
suchstiere, wie z. B. der Blendung, die das Experimentieren bei
den Nepiden so erschwert, macht sie besonders zu Demonstrations-
zwecken geeignet.
448 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
Wie aber haber wır nun diese Orientierungsvorgänge unter
Wasser zu analysıeren, wie lassen sie sich vereinbaren mit jenen,
die wir bei unseren Versuchstieren an der Luft beobachteten? Sind
es auch unter Wasser die .Statocysten, welche die so zweckent-
sprechenden negativ-geotaktischen Richtungsbewegungen zur Aus-
lösung bringen?
Wir sahen, dass sich die zur Aufrichtung der Tiere in die
normale Kriechlage dienenden Reflexe, deren Auslösung wir den
Statocysten zuschrieben, d. h. der Umkehr- und der positiv-geotak-
tische Reflex auch unter Wasser ın genau der gleichen Weise
vollziehen, wie an der Luft. Der durch sie erlangte Kontakt der
Kriechsohle in ihrem oralen Abschnitt mit der Unterlage, der hier
wie dort die Lokomotion einleitet, ließ nach der in der Folge zu-
tage tretenden Unabhängigkeit der Tiere von einer bestimmten
Lage im Raum zugleich den weiteren Einfluss der Statocysten an
der Luft ausgeschaltet erscheinen. Im Wasser zeigen die Tiere
nun aber nach begonnener Lokomotion bezüglich ıhrer Lage im
Raum die gleiche Unabhängigkeit, vermögen also auch hier beı-
spielsweise an der Unterseite des Schaukelbretts oder an dessen
Seitenkante (wenn auch unter Schwierigkeiten) umherzukriechen.
Trotzdem aber nehmen sie unter Wasser, gleichviel in welcher
Lage, doch stets ihren Weg in negativ-geotaktischer Richtung auf-
wärts, d.h. nach dem Wasserspiegel hin. Wir stehen also vor der
Alternative, anzunehmen, dass entweder die Statocysten unter
Wasser auch während der Lokomotion ın Funktion bleiben, oder
aber dass, wenn sie auch hier ausgeschaltet würden, jene negative
Geotaxis von ihnen unabhängig ıst. Wir stehen mit anderen Worten
vor der Frage: Vollzieht sich die Orientierung der Tiere
unter Wasser antikinetisch oder antityp?
Wenn aber diese negative Geotaxis wirklich antikinetischen
Ursprungs, d. h. eine weitere besondere Funktion der Statocysten
in besonderer Lebenslage des Tieres wäre, so ständen wir damit
vor der immerhin eigenartigen Erscheinung, dass ein Tier, welches
an der Luft nur positiv-geotaktisch reagiert (Kopfsenken!) auf einen
besonderen äußeren Reiz (Kontakt mit dem Wasser?) hin durch
die Vermittlung der Statocysten negativ-geotaktische Bewegungen
(Kopfheben und Aufwärtskriechen!) ausführt, also direkt umge-
steuert wird.
Indessen erfordert die sichere Beantwortung dieser Frage noch
weitere Versuche und darum will ich auf die Analyse aller dieser
Orientierungserscheinungen bei den genannten Pulmonaten noch ein-
mal zurückkommen. Dann wollen wir auch die Orientierungsweise
der wasserbewohnenden Schnecken und Muscheln einer genaueren
Betrachtung unterziehen und an größeren, mir zurzeit leider nicht
zugänglichen Formen der oben untersuchten Gattungen die opera-
Baunacke. Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion. 449
tive Ausschaltung der Statocysten zur Ausführung von Kontroll-
versuchen probieren.
Hier kam es uns vorläufig vor allem auf die Feststellung an,
dass bei jenen landbewohnenden Pulmonaten die Statocysten nichts
mit der Gleichgewichtserhaltung zu tun haben, sondern augenschein-
lich verschiedene besonderen Lebenslagen der Tiere entsprechende
Reflexe auslösen. Wir würden sie vielleicht also zu betrachten
haben als statische Sinnesorgane, die — ıhre tatsächliche Mitwir-
kung in allen diesen Fällen vorausgesetzt — neben den uns schon
von Synapta und Arenicola respektive Nepa her bekannten positiv-
und negativ-geotaktischen Reflexen auch noch einen „Umkehr-
reflex“ bewirken. Zu den von uns oben genannten Balance-,
positiv- und negativ-geotaktischen Funktionen käme so-
mit die reflektorisch sich vollziehende Umkehr des Tieres
ın die Normallage als neue Funktion der Statocysten noch
hinzu.
Einen ebensolchen „Umkehrreflex“ hat von Budden-
brock beobachtet und auf die Wirkung der Statocysten zurück-
geführt. Nach diesem Autor sind nämlich die bei gewissen frei-
beweglichen Pecten-Arten entsprechend der Asymmetrie und Seiten-
lage der Tiere asymmetrisch ausgebildeten Statocysten nicht allein
für die reflektorische Erhaltung des Gleichgewichts beim Schwimmen,
sondern auch für die Umkehr dieser Muscheln aus der Verkehrt-
lage in die Normallage verantwortlich zu machen. Es wäre also
auch bei diesen Tieren die Funktion der statischen Sinnesorgane
eine mehrfache, nämlich eine Balance- und eine „Umkehrfunktion“®).
Eine weitere Statocystenfunktion, wie sie Becher
(1909) für die betreffenden Sinnesorgane der Synaptiden annımmt,
dürfte ihrem Prinzip nach theoretisch nicht ausgeschlossen sein.
Es ist sehr wohl denkbar, dass ein spezifisch schwerer Statolith
vermöge seiner Trägheit bei plötzlich eintretender passiver Fort-
bewegung respektive Lageänderung des Tieres durch Druck gegen
die Statocystenwand und deren reizperzipierende Organe bestimmte
Reflexe zur Auslösung bringt. Indessen müsste eine derartige
Funktion erst noch experimentell erwiesen werden.
4) V. Bauer (Zool. Jahrb. Allg. Zool. 33. Vol., 1912, p. 148) ist der Ansicht,
dass auch die Augen eventuell allein jenen Umkehrreflex auslösen, also für die
Statocysten offenbar vikariieren können. Diese schon bei anderen Tieren beobachtete
- Übernahme statischer Reflexe durch die optischen Organe kann m. E. nur eine
sekundär erworbene Funktion derselben sein, weil ja jeder Wechsel in der Körper-
lage zugleich mit einem bestimmten Wechsel der auf diese Sinnesorgane einwirken-
den optischen Reize verbunden sein wird. So konnte sich auch bei ihnen eine
orientierende Funktion herausbilden in Lebenslagen des Tieres, wo sonst nur Stato-
eysten die Regulierung der Körperlage bewirkten, ja es erscheint nicht ausgeschlossen,
dass sie bei gewissen Formen den statischen Sinnesapparaten ihre Funktion ganz
abnahmen.
450 Baunacke, Studien zur Frage nach der Statocystenfunktion.
Dies gilt in gleicher Weise auch von der Annahme einer
akustischen Funktion der Statocysten niederer Tiere, die wir erst
dann als bewiesen gelten lassen können, wenn uns das Vorkommen
von Tönen in der natürlichen Umgebung eines solchen Tieres nach-
gewiesen wird, auf deren Schwingungszahl solch einfache „Hörorgane“
abgestimmt sind, d.h. mit anderen Worten deren Wahrnehmung für
das Tier ein biologisches Bedürfnis ıst. Das aber dürfte weder mit
Glocken-, noch mit Pfeifentönen (mit denen man bisher experimentierte)
der Fall sein, sondern doch höchstens mit natürlichen Geräuschen.
Wir sehen also, dass unsere bisherige Kenntnis vom Wesen
solcher Sinnesorgane noch nicht genügt, um sie uns in allen ihren
Funktionen verständlich zu machen, geschweige denn dass sie zu
irgendwelchen Verallgemeinerungen berechtigt. Wir müssen viel-
mehr von Fall zu Fall entscheiden, welches die funktionelle Bedeu-
tung solcher Sinnesorgane bei den verschiedenen Tieren ist, wenn
wir deren vielseitigen Nutzen für ihre Träger und ihre jeweilige
biologische Bedeutung ganz verstehen lernen wollen. Wohl aber
mögen uns bei manchen statocystentragenden Tieren einzelne jener
Funktionen in einer oder der anderen Kombination immer wieder
begegnen und uns bestätigen, dass diese Organe gleicher oder ähn-
licher Wirkungsweise ihren Ursprung gleichen respektive ähnlichen
Bedürfnissen verdanken und in den verschiedenen Tierstämmen, ja
bei einzelnen Vertretern einer Gattung, unabhängig voneinan-
der aus biologisch-praktischen Gründen, d. h. im Kampfe des
Tieres mit den äußeren Bedingungen seines Aufenthalts-
ortes, zur Ausbildung gelangten. Sie konnten da, wo das
Orientierungsbedürfnis besonders hervortrat, zu komplizierten Mecha-
nısmen mit mannigfachen Funktionen werden, andererseits aber
wieder verloren gehen, wo ein Wechsel in der Lebensweise (Über-
gang zu sessiler Lebensweise z. B. des Benthos) eintrat, der eine
durch sie vermittelte Orientierung überflüssig machte. Wollten wir
aber die betreffenden Sinnesapparate nach ihren Funktionen be-
nennen oder gar einteilen, so wäre das, wie ich schon eingangs er-
wähnte, ın den Fällen ganz unmöglich, wo, wie bei jenen Pulmo-
naten und Pecten-Arten die Funktionen der Statocysten den jeweils
verschiedenen Bedürfnissen der Tiere entsprechend doch offensicht-
lich recht verschiedene sind, ihre Funktion sich also mit den Lebens-
lagen des Tieres ändert.
Die besondere Bedeutung solcher Sinnesorgane werden wir
aber um so eher und sicherer ergründen, je eingehender wir deren
Träger bezüglich ihrer biologischen Bedürfnisse untersuchen. Dann
werden wir voraussichtlich erkennen, dass solche Organe allen
denjenigen Tieren eigen sind, für dieein dauerndes oder
zeitweises Innehalten einer bestimmten Lage, sei es
während der Lokomotion oder im Zustande der Ruhe,
Baunacke, Studien zur Frage naeh der Statocystenfunktion. 451
die sie auf andere Weise nicht (oder, wo vikariierende
Sinnesorgane anderer Art vorhanden, nicht unter allen
Umständen) zu erlangen vermögen, direkt oder indirekt
zur Lebensbedingung wurde.
Andererseits aber wird uns eine genaue biologische Kenntnis
solcher Formen wieder ermöglichen, diese nach gewissen überein-
stimmenden Lebensbedingungen in Lebensgemeinschaften zu scheiden,
denen diese oder jene Orientierungsform ein unabweisbares Be-
dürfnis ist, so dass wır umgekehrt, aus bestimmten biologischen
Verhältnissen vielleicht Schlüsse ziehen dürfen auf ein mögliches
Vorhandensein statischer Organe oder eines Ersatzmittels für solche,
wie das bei vielen Tieren Lichtempfinden und Tastsınn sein können.
So leben beispielsweise eine Anzahl /nsektenlarven, welche mit
den Nepiden die Seichtwasserzone (vgl. Fig. 1) als Wohnort teilen,
unter Existenzbedingungen, die den Besitz statischer Organe oder
anderer Orientierungsmittel als ein notwendiges Posulat erscheinen
lassen. Ich denke da vor allem an gewisse Dipteren-Arten, wie
' beispielsweise Kristalis, Stratiomys, Tipula, Ptychoptera u. a., die
bezüglich ihrer Lebensbedürfnisse den Nepiden sehr nahe kommen,
und andere, wie Tabaniden und Ephemeriden, deren Lebensweise
in gewisser Hinsicht Anklänge an die der grabenden Synaptiden
zeigt. Aber auch unsere Süßwassermuscheln, Unionen und Ano-
donten, führen wohlorientierte Bewegungen aus, die den Besitz der
Statocysten auch bei ihnen wohl begründet erscheinen lassen. Kurz,
meine bisherigen Untersuchungen dieser Formen haben mir unzwei-
deutig schon das eine gezeigt, dass ihnen allen eine bestimmte
Ruhelage zukommt, die gewöhnlich vom Schutz- und Atembedürfnis
bedingt wird, und deren notwendige Bewahrung uns das auch bei
diesen Tieren so stark hervortretende Orientierungsvermögen ver-
ständlich macht. Sıe lassen ferner aber auch schon erkennen, dass
nicht bei all diesen Formen die Orientierungsvorgänge an Stato-
cysten gebunden sind. Nur bei einigen der erwähnten Dipteren-
Larven finden sich (von den Statocysten der Flussmuscheln abge-
sehen) Sinnesorgane, deren Ähnlichkeit mit Statoeysten kaum einen
Zweifel an ihrer Funktion übrig lässt. Genaueres über die Orien-
tierungsweise dieser eben erwähnten Formen werde ich mitteilen,
sobald meine diesbezüglichen Untersuchungen ein abschließendes
Urteil gestatten. Dann will ich auch versuchen, ob sich die ver-
schiedenen Funktionen der Statocysten nicht nur der hier erwähnten,
sondern auch der übrigen mit solchen Sinnesorganen ausgerüsteten
Tiere, soweit diese überhaupt nur einigermaßen sicher festgestellt
sind, nicht etwa unter die von uns oben definierten Möglichkeiten
unterordnen lassen. Das aber erscheint mir nicht ausgeschlossen,
wenn wir auch damit rechnen müssen, dass die Bedeutung der
Statocystenorgane eine noch weitergehende sein kann.
452 Hertwig, Allgemeine Biologie.
Zitierte Schriften.
Baunacke, W., Abdominale Sinnesorgane bei Nepa cinerea. In: Zool. Anz.,
BasaMol., 1910.
— Statische Sinnesorgane bei den Nepiden. In: Zool. Jahrb. Anat., 34. Vol., 1912.
Becher, S., Die Hörbläschen der Leptosynapta bergensis. In: Biolog. Centralbl.,
29. Vol.,. 1909.
3ethe, A., Notizen über die Erhaltung des Körpergleichgewichts schwimmender
Tiere. In: Festschr. R. Hertwig, 3. Vol., 1910.
Buddenbrock, W. v., Untersuchungen über die Schwimmbewegungen und die
Statocysten der Gattung Pecten. In: Sitzber. Heidelberg. Akad. d. Wiss.
math.-naturw. Kl, Jahrg. 1911.
— Über die Funktion der Statocysten im Sande grabender Meerestiere (Areni-
cola und Synapta). In: Biolog. Centralbl., 32. Vol., 1912.
Clark, H. L, The Synaptas of the New England Coast. In: Bull. U. S. Fish.
Comp., 19. Vol., 1899.
Mangold, E., Gehörsinn und statischer Sinn. In: Handb. d. vergl. Physiol. von
H. Winterstein, 4. Vol., Jena 1912.
Simroth, H., Mollusca. In: Bronn’s Kl.u. Ordn. d. Tierreichs, 3. Vol., II. Abt.,
1907.
Verworn, M,, Gleichgewicht und Otolithenorgan. In: Arch. ges. Phys., 73. Vol., 1891.
?
Oskar Hertwig. Allgemeine Biologie.
4. umgearbeitete und vermehrte Auflage. Gr. 8 XVII und 787 S. 478 teils
farbige Abbildungen. Jena. Gustav Fischer. 1912.
Seitdem sich Herr H. entschlossen hat, sein in 2 Bänden erschienenes Lehr-
buch ‚die Zelle und die Gewebe“ in zweiter Auflage in neuer Bearbeitung unter
dem Titel „Allgemeine Biologie“ herauszugeben, hat die Gediegenheit seines Inhalts
und die dadurch gerechtfertigte Beliebtheit immer wieder neue Auflagen erforderlich
gemacht, von denen jetzt (das ursprüngliche Werk mitgerechnet) die vierte vorliegt.
Wie es die Forschungsrichtung des Verfassers mit sich bringt, ist darin die morpho-
logische Seite der Wissenschaft von den Lebewesen in erster Linie berücksichtigt.
Dass aber auch das eigentlich Physiologische nicht vernachlässigt ist, zeigt sich u.a.
in den Zusätzen, durch welche diese neueste Auflage bereichert worden ist. Sie be-
treffen u a. die Wirkungen der f- und y-Strahlen auf pflanzliche und tierische Ge-
webe, namentlich auf Eier und Samenfäden, die Chemotherapie und die Hormone.
Andere Zusätze und Neubearbeitungen beziehen sich auf das Überleben der Gewebe,
auf die Deckglaskultur, die Geschlechtsbestimmung, die Lehre von den Chondrio-
somen, des Dimorphismus der Samenfäden, den Heterochromosomen, den Pfropf-
bastarden, der sekundären Geschlechtscharaktere, der Vererbung erworbener Eigen-
schaften.
Die Darstellung ist im allgemeinen die gleiche wie in den früheren Auflagen;
an manchen Stellen wurde der Text gekürzt, um Platz für die neuen Zusätze zu
gewinnen. Trotzdem musste der Umfang um 4 Bogen vermehrt werden. Die Zahl
der Figuren ist auf 478 vermehrt worden (in der dritten Auflage waren es 435).
Wegen der Charakterisierung des ganzen Werkes können wir auf das bei den früheren
Auflagen Gesagte verweisen. R.
Berichtigung.
In meiner Abhandlung über Hildegard, Heft 5, S. 288, Zeile 4—6,
muss es heißen:
Die Eier, die sie „gleich den Vögeln hervorbringt,“ beziehen sich auf die
Kokons, welche heute noch ‚‚Ameiseneier‘“ genannt werden.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie.
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Bd. XXXIII. 20. August 1918.
Des
Inhalt: Wiesner, Biologie der Pflanzen mit einem Anhange: Die historische Entwiekelung der
Botanik. — Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalyariation der Cladoceren. —
v. Huene, Beobachtungen über die Bewegungsart der Extremitäten bei Krokodilen. — Secerov,
Ueber einige Farbenwechselfragen. — Kornfeld, Ueber Kiementransplantationen an Sala-
mandeılarven. — Ballowitz, Das Verhalten der Kerne bei der Pigmentströmung in den
Erythrophoren von Knochenfischen. — Erhard, Beiirag zur Kenntnis des Lichtsinnes der
Daphniden. — Prell, Ueber zirpende Schmetterlingspuppen. — Pringsheim, Zur Theorie
der alkoholischen Gärung. — Balss, Ueber die Chemorezeption bei Garneelen. —
v. Buttel-Reepen, Tierverstand und Abstammungslehre. — Cohen, Jacobus Henrieus
van’t Hoff. Sein Leben und Wirken.
J-. R. v. Wiesner. Biologie der Pflanzen mit einem
Anhange: Die historische Entwickelung der Botanik.
Dritte vermehrte und verbesserte Auflage. Mit 91 Textillustrationen und einer
botanischen Erdkarte. Wien und Leipzig, Alfr. Hölder, 1913.
Die üblichen Lehrbücher der Botanik in deutscher Sprache sind
voneinander meist nur in quantitativer Beziehung verschieden. Sie
stimmen aber alle darin überein, dass sie zwar eine Übersicht der
wichtigsten bekannten Tatsachen geben, aber ein Eingehen auf
allgemeine Fragen sorgfältig vermeiden. Höchstens findet man
einige deszendenztheoretische Erwägungen in ihnen. Allem Strit-
tigen — und dazu gehören ja naturgemäß gerade die allgemeinen
Fragen am meisten — aber gehen sie sorgfältige aus dem Wege,
oO Oo oO & 2
ähnlich wie ein ehrbarer Bürger und Handwerker nur sein Tage-
werk erfüllt, alles andere aber den „Herrn da oben“ überlässt.
Das Wiesner’sche Buch macht von diesem Verhalten eine er-
freuliche Ausnahme, denn es behandelt „die Lehre von der Lebens-
weise, von der Zweckmäßigkeit der Organeinrichtungen, von der
Erblichkeit, Veränderlichkeit, Anpassung und natürliche Verbreitung“
der Pflanzen, also die sogenannten „vitalistischen Probleme“.
Damit aber betritt es ein Gebiet, auf welchem, wie erwähnt,
viele verschiedene Auffassungen herrschen. Wie sehr man dabeı
XXXIM. 30
454 Wiesner, Biologie der Pflanzen ete.
verschiedener Meinung sein kann, zeigt schon die Wiesner’sche
Definition der Hauptaufgabe der Biologie, wonach diese m dem
teleologischen Begreifen der Erscheinungen liegen soll. Teleo-
logie ıst aber immer subjektiv. Denn sie setzt das als „Ziel“ vor-
aus, was durch einen bestimmten Vorgang oder eine bestimmte
Gestaltung ermöglicht wird. So fasst W. als „Zweck“ des posi-
tiven Heliotropismus der Laubstengel den auf, dass sie dem Lichte
zugeführt werden; darın liegt die „teleologische Erklärung“ des
Heliotropismus; das ist nur ein anderer Ausdruck für „Feststellung
der Bedeutung des Heliotropismus für die Pflanzen“, ohne An-
nahme eines „Zweckes“ oder Zieles.
Schon dieses Beispiel zeigt, welche Probleme in dem Wies-
ner’schen Buche ın den Vordergrund treten. Dass ein so hervor-
ragender, mit einem reichen Schatze eigener Forschungen und Er-
fahrungen ausgerüsteter Forscher wie Wiesner uns dabei sehr
viel Interessantes und Anregendes mitzuteilen hat, ıst fast selbst-
verständlich. Ebenso auch, dass man manche Anschauungen nicht
als feststehend wird bezeichnen können. Wenn z. B. als Beispiel
einer direkten Anpassung angeführt wird (p. 14) „ob ein Blatt zum
Sonnen- oder Schattenblatt.... wırd, darüber entscheidet das Aus-
maß von Licht, welches auf das betreffende Blatt während der Ent-
wickelung fällt“, so stimmt das mit den Resultaten von Nord-
hausen und Schramm nicht überein. Diese zeigen vielmehr, dass
Sonnen- und Schattenblätter den „Folgeformen“* und „Jugend-
formen“ entsprechen, wird in ihrem Auftreten nicht durch die Ein-
wirkung der Lichtmenge auf das einzelne Blatt, sondern indirekt
durch die Beeinflussung des Vegetationspunktes bedingt werden!),
genau so, wie bei anderen Fällen von Heterophylie (z. B. Wasser-
und Luftblätter bei amphibischen Pflanzen.
Wiesner stellt sich auf den vitalistischen Standpunkt. Er
akzeptiert das „Gedächtnis“ der lebenden Substanz, die Zielstrebig-
keit der lebenden Wesen, die zweckmäßige Betätigung der Orga-
nismen und ihrer Organe, Erscheinungen, die mechanisch nicht zu
erklären seien.
Ein erster Abschnitt behandelt die Biologie der vegetativen
Prozesse. Dabei ist besonders reichhaltig die Erörterung über
Anisotropie und Anisomorphie des Pflanzenkörpers, ein Gebiet, mit
welchem wir dem Verf. zahlreiche wichtige Untersuchungen ver-
danken. Wie aus dem Zusammenhang hervorgeht, nimmt er dabei
ein Erblichwerden erworbener Eigenschaften an, eine Annahme,
die allerdings gerade auf diesem Gebiete sehr nahe liegt, aber der-
zeit eben doch nur eine Annahme ist.
Es ist nicht möglich, auf den außerordentlich reichen Inhalt
näher einzugehen. Die Literatur ist eingehend berücksichtigt, dass
gelegentlich eine unrichtige Angabe unterläuft (wie p. 104 betreffend
der angeblichen — längst widerlegten Haftwurzeln an Winterknospen
1) Wie Ref. für andere Fälle heryorgehoben hat (vgl. Goebel, Pflanzenbiolog.
Schilderungen, Einleitung).
Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren. 455
von Utr. intermedia) oder neuerdings sehr in Frage gestellte Auf-
fassungen mitgeteilt werden (wie die über Ameisenpflanzen p. 121)
ist bei einem Werke, das einen so großen Stoff behandelt, kaum
zu vermeiden.
Eine etwas eingehendere Besprechung hätten wohl die „Pfropf-
hybriden“ (p. 206) verdient, zumal sie ja nach verschiedenen Rich-
tungen hin von großem Interesse sind.
Der dritte Abschnitt gibt eine allgemeine Pflanzengeographie,
der vierte bespricht die Entwickelung der Pflanzenwelt (Evolution,
Abstammungs-, Deszendenzlehre). Hier wäre eine schärfere Unter-
scheidung dessen, was man unter „Variation“ versteht, wohl er-
wünscht gewesen, der nicht sachkundige Leser wird die Verschieden-
heit von "Polymorphismus und fluktuierender Variation, sowie die
der Linn&schen Sammel- und der „Elementar“-Arten "wohl kaum
der Darstellung entnehmen können.
Ein Anhang schildert die historische Entwickelung der Botanik.
Überblickt man den hier nur flüchtig skizzierten Inhalt des Buches,
das mit der bekannten Klarheit und Prägnanz des Verfassers ge-
schrieben ist, so kann man sagen: es enthält gerade das, was den
üblichen botanıschen Lehrbüchern am meisten fehlt, Dadurch ist
es für die, welche sich über die wichtigen darın behandelten Pro-
bleme orientieren wollen, eın sehr wertvolles Hilfsmittel. Für den
Fachbotaniker ıst es namentlich auch dadurch von Interesse, weil
er daraus die Stellung eines Forschers wie Wiesner zu den wich-
tigsten Problemen der Biologie in Kürze kennen lernen kann.
K. Goebel.
Das Problem der Temporal- und Lokalvariation
der Cladoceren.
Von Dr. Karl Gruber (München).
Die Erscheinung der Temporal- und Lokalvarıation der Ulado-
ceren ıst heute eine allgemein anerkannte Tatsache, welche für die
Systematik die Folge zeitigte, dass die früher fast unübersehbare
Fülle der Arten und Varietäten, so z. B. bei Daphnia und Bosmina,
sich auf eine geringe Zahl reduzierte, während man in den ver-
schiedenen Standortsvarietäten derselben Art fest fixierte Rassen
oder Elementararten zu erkennen glaubte. Dennoch ist das Pro-
blem bıs heute noch nicht restlos geklärt, indem vor allem in der
Beantwortung zweier großer Fragen die Meinungen der Forscher
immer noch sehr auseinander gehen. Die erste Frage liegt auf
physikalisch-biologischem Gebiet und würde etwa lauten: durch
welche Eigenschaften des Milieus (Standort) werden die lokalen
Unterschiede in der Körperform, insbesondere der Fortsatzbildung
der Cladoceren bedingt, auf welchen physikalischen und biologischen
Vorgängen beruhen ferner in ein und demselben Standort die ım
Laufe der Jahreszeit am Körper der Cladoceren sich vollziehenden
30*
456 Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren.
Veränderungen und welche Bedeutung haben endlich diese varıieren-
den Bildungen für ihre Träger?
Die zweite Frage ist eng mit dem Artbildungsproblem ver-
knüpft und lautet etwa: auf welche Weise sind die temporalen
und lokalen Variationen der ÖGladoceren entstanden, ist es alleın
der direkte Milieueinfluss, der das Auftreten der abweichenden
Formen ım Laufe der Jahreszeiten hervorruft, der ın den ver-
schiedenen Standorten bestimmt charakterisierte Rassen schuf und
noch schafft, oder aber müssen wır der Mutation ın dieser Rıch-
tung eine bedeutungsvolle Rolle zuschreiben, oder gibt uns schließ-
lich das Selektionsprinzip den Schlüssel zur Erklärung dieser Er-
scheinungen? Als Vorfrage wäre dabeı noch zu beantworten, ob
es sich erstens bei den Lokalrassen um wirklich fest fixierte Ele-
mentararten handelt, die nicht ohne weiteres ineinander übergeführt
werden können und zweitens, ob auch die charakteristischen Stadien
der Temporalvariation einer Rasse nicht in jedem Lebenszyklus
neu hervorgerufen werden, sondern ähnlich, wie wir es bei der
Neigung zur Sexualität nach der alten Ansicht von Weismann!)
und ihrer prinzipiellen Bestätigung durch Papanıcolau?), Wolter-
eck?) und von Scharfenberg®) sehen, an bestimmte Generationen
und Würfe gebunden sind. Die beiden, in den zwei Hauptfragen
enthaltenen, an sich verschiedenen Probleme hängen eng zusammen,
eine Lösung des zweiten ıst ohne vorherige Klärung des ersten
kaum denkbar. Aus diesem Grund sucht auch Woltereck°’) ın
seiner letzten Arbeit, mit der wir uns hier noch eingehend be-
schäftigen müssen, durch eine enge Verknüpfung beider Fragen
eine Deutung für das Gesamtproblem zu geben.
Die Erscheinung der Temporalvarıation hat, in Form einzelner
Fälle schon seit längerer Zeit bekannt, ihre erste gründliche Bear-
beitung durch die umfassenden limnologischen Untersuchungen
Wesenberg-Lund’s®) erfahren. Der dänische Forscher wies in
seinen vergleichenden Studien über das Plankton der baltischen
Seen nach, dass die pelagischen Organismen — neben den Clado-
ceren auch Peridineen und Rotatorien — im Sommer eine andere
1) A. Weismann: Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden. Zeitschr.
f. wissensch.. Zoolog., Bd. 27— 33, 1876—1879.
2) Papanicolau: Experiment. Untersuchungen über die Fortpflanzungs-
verhältnisse der Daphniden. Biol. Centralbl., 1910.
3) R. Woltereck: Über Veränderung der Sexualität bei Daphniden. Internat.
Revue der ges. Hydrobiol. u. Hydrographie, Bd. IV, 1911.
4) v. Scharfenberg: Studien und Experimente über die Eibildung und den
Generationszyklus von Daphnia magna. Internat. Revue, Biol. Suppl., 1910.
5) Woltereek: Über Funktion, Herkunft und Entstehungsursachen der sogen
„Schwebefortsätze‘“ pelag. Cladoceren. Zoologiea, H. 67, 1912.
6) Wesenberg-Lund: Plankton-Investigations of the Danish lakes. Kopen-
hagen 1904, 1908.
Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren. 457
Körperausbildung aufweisen als im Winter. So zeigen, um Kardinal-
beispiele zu wählen, bekanntlich verschiedene Daphnia-Arten (z. B.
Hyalodaphnia cueullata) m der wärmeren Jahreszeit höhere Helme
und eine längere Spina gegenüber den niedrigköpfigen, mit kurzer
Spina versehenen Formen der kälteren Monate, während man bei
den Bosminen — mit wenigen auffallenden Ausnahmen — im
Sommer sehr stark verlängerte I. Antennen (Hörner) und hohe Rücken
findet. Diese Erscheinungen führt Wesenberg-Lund auf die
physikalischen Veränderungen des Seewassers ım Laufe der Jahres-
zeiten zurück und kommt dabei zu der unter dem Namen „Schwebe-
theorie“ des Planktons bekannt gewordenen Erklärung, dass die
Umbildungen des Körpers den Formwiderstand der Individuen er-
höhen sollen und zwar aus folgendem Grund: Die Temperatur-
verschiebungen in den Seen bedingen regelmäßige Änderungen der
Viskosität (Zähigkeit) und des spezifischen Gewichts des Wassers
in dem Sinne, dass bei der Erwärmung des Wassers Viskosität und
spezifisches Gewicht ganz bedeutend abnehmen. Betrachtet man
nun das Schweben der pelagischen Organismen als ein Sinken mit
minimaler Geschwindigkeit, so muss natürlich im wärmeren Wasser
die Sinkgeschwindigkeit der Individuen bedeutend zunehmen, wenn
ihr nicht durch Erhöhung des Form- oder Querschnittwiderstandes
entgegengearbeitet wird. Solche Mittel zur Erhöhung des Form-
widerstandes sind ın den Helmen, Dornen, Antennen, Hörnern, in
den Rauhigkeiten der Schale, der Volumverminderung u. s. w. der
Cladoceren und anderen pelagischen Organısmen zu erblicken. Diese
Temporalvarıationen vollziehen sich während einer außerordentlich
kurzen Periode (ca. 3 Wochen) im Frühsommer, nämlich dann,
wenn die rasch ansteigende Temperatur des Wassers 12—16° er-
reicht hat. Auch die Lokalvariationen sind von den, die Sink-
geschwindigkeit der Organismen beeinflussenden physikalischen Ver-
hältnıssen des Wassers bedingt, beschränken sich jedoch ausschließ-
lich auf das Sommerhalbjahr — im Winter zeigen alle Lokalrassen
einer Art das gleiche Aussehen.
Mit dieser, hier kurz skizzierten, auf den ersten Blick außer-
ordentlich plausiblen Deutung lassen sich auch die Befunde anderer
Autoren an verwandten Objekten schön ın Einklang bringen, so die
bekannten Untersuchungen Lauterborn’s’) über die bestimmt ge-
richteten Variationsreihen von Anuraea cochlearis, die sich mit Be-
ginn der wärmeren Jahreszeit aus einer Stammart differenzieren.
Nicht so günstig wie die Untersuchungen im Freien sind die
auf experimentellem Wege zur Beantwortung des Problems ge-
wonnenen Resultate für die Schwebetheorie, da eine Reihe wider-
7) Lauterborn: Der Formenkreis von Anuraea cochlearis. I. u. II. Ver-
handl. des Naturhist. Mediz. Vereins zu Heidelberg, 1900 u. 1903.
458 Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren.
sprechender Ergebnisse gezeitigt wurde. Allerdings sind sicherlich
die ım Laboratorium erhaltenen Befunde vielfach überschätzt worden
in ihrer Bedeutung für die Erklärung von Temporal- und Lokal-
rarıation. Gerade hier, wo es sich doch um Anpassungen an einen
Komplex physikalisch-chemisch-biologischer Bedingungen (= Milieu)
handelt, ist es außerordentlich schwer, experimentell einwandfrei
vorzugehen. Wenn wir die Reaktion einzelner Formen auf eine
bestimmte Kategorie von Einflüssen — z. B. Temperatur — hin
prüfen, so suchen wir damit ausschließlich einen kleinen Teil des
in der Natur vorhandenen gesamten Milieueinflusses zu kopieren.
Wenn wir dann nach einer bestimmten Richtung hin einen Aus-
schlag bekommen, z. B. Steigerung der Helmhöhe, so haben wir
nachgewiesen, dass unsere Versuchstiere auf eine bestimmte Ände-
rung der von uns ım Laboratorium geschaffenen Außeneinflüsse in
charakteristischer Weise reagieren, wir dürfen aber keinesfalls die
von uns angewandten Einflüsse denen der Natur gleichsetzen, auch
wenn wir äußerlich ähnliche Wirkungen, z. B. Steigerung der Helm-
höhe, erzielen. Durch die Überpflanzung in das Laboratorium sind
die Individuen von vornherein schon ın abnorme Bedingungen ge-
bracht worden, sie wurden dabei den Milieueinflüssen ıhres Stand-
ortes, an die sie sich durch eine unberechenbare Reihe von Gene-
rationen angepasst hatten, entzogen. Dass die Experimente für
unser biologisches Problem dadurch an Beweiskraft verlieren, ist
nicht zu leugnen. Als erster hat bekanntlich Wo. Ostwald?®) die
Frage experimentell bearbeitet ım Anschluss an seine wichtige
Arbeit über die Theorie des Planktons®), in der er die Wirkung
der Temperaturschwankung auf die „Innere Reibung“ des Wassers
nachwies: Herabsetzung der „Inneren Reibung“ bei Temperatur-
steigerung. Da er nun in seinen Laboratoriumsversuchen bei Wärme
hochköpfige, bei Kälte niedrigköpfige Daphnien erzielen konnte, so
zog er den Schluss, dass die durch Erwärmung des Wassers her-
vorgerufene Herabsetzung der inneren Reibung die Tiere zwinge,
die dadurch erhöhte Sinkgeschwindigkeit durch Vermehrung des
Form- oder Reibungswiderstandes zu kompensieren. Im Prinzip
ist das eine Bestätigung der Schwebetheorie W esenberg-Lund'’s.
Ostwald spricht dabei direkt von Temperaturvarıationen, die
er den Temperaturaberrationen bei Schmetterlingen (Weismann,
Standfuß) vergleicht. Bei kritischer Betrachtung verlieren die
Ostwald’schen Resultate an Bedeutung, da er mit relativ rohen
Mitteln arbeitete, so vor allem der sachgemäßen Ernährung seiner
Objekte zu wenig Beachtung schenkte; er fütterte seine Daphnien
mit zerriebenem Algenmaterial, sicherlich keine sehr rationelle
S) Wo, Ostwald: Experimentelle Untersuchungen über den Saisondimorphis-
mus der Daphniden. Arch. f. Entw.-Mechanik, Bd. VIII, 1904.
9) Wo. Ostwald: Zur Theorie des Planktons. Biol. Centralbl., 1902.
Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren. 459
Nahrung, wie mannigfache Degenerationen in seinen Kulturen zeigen.
Woltereck!?) prüfte dann an Hand eines sehr großen Materials
die Ostwald’schen Resultate nach, wobei er einheitlich günstiges
Nährmaterial — Chlorella-Reinkultur — verwendete. Wenn auch
einerseits seine Versuche zur Widerlegung der Bedeutung der
inneren Reibung — Züchtung von Daphnien in Quittenschleim ohne
Einfluss auf die Helmhöhe — m. E. keinen Gegenbeweis erbringen,
da die Bedingungen zu abnormal gewählt waren und wohl auch
zu wenig Generationen verwendet wurden, so sind dagegen die Re-
sultate aus den Kulturen mit Verschiebung der Ernährungsintensität
sehr interessant. Er konnte an sich niedrigköpfige Daphnien durch
starke Fütterung ın hochköpfige überführen, und zwar auch dann,
wenn die Tiere in kühlem Medium belassen wurden, während
andererseits bei schlechter Ernährung trotz hoher Temperatur keine
hohen Helme gebildet wurden. Die große Bedeutung der Ernährung
für die in der Temporal- und Lokalvariation von Daphnia sich
dokumentierende geringe oder bedeutende Ausbildung der Helm-
höhe ıst dadurch einwandfrei bewiesen. In der Ernährung jedoch
auf Grund der an Daphnia erhaltenen Resultate den Hauptfaktor
für die Variation der Oladoceren überhaupt zu sehen, geht sicher
zu weit und Woltereck selbst hat in seiner neuesten Arbeit seine
frühere diesbezügliche Ansicht eingeschränkt und modifiziert. Eben-
sowenig wie in den Experimenten Woltereck’s kann ich in den Aus-
führungen Dieffenbach’s und Sachse’s!!) bei ihren experimentell-
biologischen Studien an Rotatorien eine einwandfreie Widerlegung
der Schwebetheorie sehen. Die beiden letzteren Autoren legen
ebenfalls das Hauptmoment für die Variation von Körpergröße und
-form in die Ernährung unter besonderer Betonung der Bedeutung
des Zentrifugenplanktons und unter gleichzeitiger Verwendung des-
selben für die Fütterung der Versuchsindividuen. Sie leugnen so-
wohl die Wirkung der Tragfähigkeit des Wassers, indem nach
ihrer Ansicht die Temperatur nur die einzelnen Komponenten der
Nahrung, des Zentrifugenplanktons beeinflusst, wie die, auch von
Krätschmar!?), vertretene Ansicht, dass die Veränderung des
Körpers und seiner Fortsätze ım Entwickelungsgang der einzelnen
Formen begründet seı, ein Punkt, auf den wir unten noch näher
eingehen müssen und in dem ich auf Grund eigener, beweisender
Versuche einen Dieffenbach entgegengesetzten Standpunkt ein-
nehmen muss.
10) Woltereck: Weitere experimentelle Untersuchungen über Artverände-
rung etc. Verh. d. deutsch. Zool. Ges. 1909.
11) Dieffenbach und Sachse: Biologische Untersuchungen an Rädertieren
in Teichgewässern. Internat. Revue der ges. Hydrobiol. u. Hydrogr., Biolog.
Suppl. III, H. 2, 1912.
12) Krätschmar: Über den Polymorphismus von Anuraeca aculeata Ehrbe.
Internat. Revue etc., Bd. I, 1908.
460 Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren.
Für die Schwebetheorie dagegen spricht Jörgensen'°) an
Hand von Studien über Ceratien, indem er sich im Prinzip Ost-
wald, allerdings unter gewisser Modifizierung der von diesem
Forscher aufgestellten Formeln anschließt, während Krause?) eben-
falls auf Grund von Befunden an Öeratien nicht alle die Formaus-
bildung bedingenden biologischen Reaktionen der Viskosität, die
ihrerseits nicht allein durch Temperatur, sondern auch durch suspen-
dierte Stoffe beeinflusst wird, auf Rechnung setzt. Behning '°)
wiederum postuliert für die Lokalvariation der Phyllopodenextremität
als Grund alles, was man unter Milieueinflüssen versteht. Wie
man aus dieser kurzen Übersicht über die Ansichten der mit
unserem Problem sich beschäftigenden Autoren ersieht, gehen die
Meinungen stark auseinander, und mit Recht betont Wesenberg-
Lund'®) in seiner letzten, gemeinsam mit Brönstedt geschaffenen
Arbeit, dass von einer Widerlegung der Schwebetheorie keine Rede
sein könne, er glaubt ım Gegenteil neue Beweise erhalten zu haben.
Ausgedehnte Untersuchungen in den dänischen Seen zeigen, dass
die rascheste Entfaltung der Temporalvariationen sich in dem Zeit-
intervall findet, wo das größte Stück der Jahresamplitude der Tem-
peratur in der kürzesten Zeit zurückgelegt wird. Dabei ist die
Tragkraft des Wassers (abhängig von Viskosität und spezifischen
Gewicht) bei 14—16° C. (1.—15. Mai) viel geringer als bei 10— 12°C.
(1.—15. Mai). Außerdem stimmt mit der von einigen Forschern
postulierten Hauptrolle der Ernährung die Erscheinung nicht über-
ein, dass einzelne Formen, die im Sommer hohe Helme bilden,
dabei ihr Körpervolumen reduzieren. Meine eigenen, an der durch
Stirnhorn und Mucronen ausgezeichneten Scapholeberis muecronata
ausgeführten Untersuchungen !”) sprechen ebenfalls gegen eine ein-
seitige Betonung der Temperatur wie der Ernährung. Weder konnte
durch erhöhte Temperatur bei gleichzeitiger guter Ernährung eine
Verlängerung von Stirnhorn und Mucronen erzielt werden, noch
war intensive Unterernährung imstande, trotz Reduktion der Körper-
fortsätze die an diesen sich abspielende Temporalvarıation ganz
aufzuheben, indem auch ın den Hungerkulturen ım Sommer längere
Mucronen gebildet wurden als im Frühling. Wie Woltereck'*)
sehr einleuchtend ausführt, ist die Ausbildung der Körperfortsätze
13) Jörgensen: Die Ceratien. Internat. Revue, Biolog. Suppl., II. Serie, 1911.
14) Krause: Formveränderung bei Ceratium hirundinella ete. Internat.
Revue, Biolog. Suppl. III, 1911.
15) Behning: Studien über die vergl. Morphologie etc. der Phyllopoden-
extremitäten. Internat. Revue, Biolog. Suppl., IV. Serie, H. 1, 1912.
16) Brönstedt und Wesenberg-Lund: Chemisch- physikalische Unter-
suchungen der dän. Gewässer. Internat. Revue, 1912.
17) K. Gruber: Studien an Scapholeberis mucronata ©. F. M. Zeitschr. f.
indukt. Abst. u. Vererbungslehre, Bd. 9, H. 4, 1913.
18) Woltereck: 1. eit., S. 456.
Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren. 46
2 ] 4
in der Entwickelung der Cladocerenindividuen eine Funktion des
im Körper herrschenden Blutdrucks, dieser aber von der Assi-
milationsintensität abhängig. Durch Überassimilation bei Mästung
können bei Daphniden Helmhöhen erzielt werden, die denen be-
stimmter Temporalvariationen oder Lokalrassen gleichen, aber hier
wohl auf anderem Weg erzeugt wurden, während bei Unterernährung
und minimaler Assimilation der Blutdruck auch bei an sich hoch-
köpligen Rassen nicht ausreicht, die Helme auszubilden. Aus diesem
Grund verlieren auch meine Hungerformen von Scapholeberis ihr
Horn und bilden ıhre Mucronen zurück. Trotz dieser intensiven
Reduktion aber kommt, wie erwähnt, die typische Temporalvariation
an den Mucronen dennoch zum Ausdruck und zwar deshalb, weil
diese erblich fixiert ist. Doch damit berühren wir schon den zweiten
Teil des Problems, vor dessen Inangriffnahme wir noch die durch
Woltereck) geschaffene neue Auffassung der „Schwebefortsätze*
kennen lernen müssen. Wie wir sahen, kann man aus den bio-
logischen und experimentellen Ergebnissen bis jetzt weder einen
vollen Beweis noch eine einwandfreie Widerlegung der Schwebe-
theorie erhalten, sie bliebe immer noch weitaus die logischste und
plausibelste Erklärung; die auch mit den physikalischen Verhält-
nissen der Seen am besten übereinstimmt. Nun konnte aber
Woltereck'’) in seiner eben erschienenen Arbeit gewichtige Be-
denken, ganz anderer Art als die bisher geäußerten, gegen die
Theorie ins Feld führen. Die Bedenken sind sehr schwerwiegend,
da sie eine der Hauptvoraussetzungen der Schwebetheorie betreffen
und zwar zum großen Teil wahrscheinlich mit voller Berechtigung.
Man hatte bisher allgemein die Fortsätze der Cladoceren stets als
Schwebeapparate bezeichnet und auffallenderweise ein feineres Stu-
dium der mechanischen Bedeutung dieser Fortsätze bei der aktiven
Cladocerenbewegung unterlassen. Indem man die Bedeutung der
aktıven Bewegung der Cladoceren für ihr pelagisches Leben ver-
nachlässigte, legte man den Hauptwert auf das Schweben, nach
der Ostwald’schen Definition ein Sinken mit minimaler Geschwindig-
keit, das bei Änderung der Tragkraft des Wassers durch Erhöhung
des Formwiderstandes der Individuen auf seiner Norm erhalten
werden muss.
Nun wies aber Woltereck darauf hin, dass den eigentlichen
„Schwebern“ unter den Cladoceren, als die vor allem Diaphano-
soma und eventuell noch Moina zu betrachten sind, gerade diese
Fortsätze fehlen. Alle anderen pelagischen Cladoceren benützen
die Eigenbewegung als wichtigste Methode, sich vor dem Unter-
sinken zu bewahren. Dabei verliert natürlich die Erhöhung des
Reibungswiderstandes ihre Bedeutung für die aktiven Schwimmer
19)elz eit., 8.456.
462 Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren.
und bleibt wichtig nur für passıv bewegte (pflanzliche) Organismen.
Aus diesem Grund wird die bekannte Ostwald’sche Formel:
Übergewicht
Formwiderstand — Viskosität d. W.
Sinkgeschwindigkeit —
von Woltereck umgeändert in:
Sinkgeschwindigkeit —
Übergewicht X Abwärtsbewegung und -steuerung
Reibung X Aufwärtsbewegung und -steuerung
Man ersieht aus der Formel, dass hier ein ganz neues Moment,
das der Steuerung, eingeführt wird. Die bekannten Körperfort-
sätze sind keine „Schwebeorgane“* — als Bedenken seien angeführt,
dass sie zum Teil lotrecht getragen werden, dass vielfach im
wärmeren Wasser des Spätsommers sich kürzere Köpfe finden,
dass bei einzelnen Bosminen sich ein widersinniges Variieren der
Hörner zeigt —, auch keine „Balanceorgane* — Amputations-
versuche sind ergebnislos —, sondern sie sind „Richtungsorgane“
für die aktive Bewegung. Diese, in ihren umwälzenden Konsequenzen
im ersten Moment überraschende neue Auffassung Woltereck’s
basiert auf exakter Analysierung des Bewegungsmechanismus von
Daphnien und Bosminen unter Berücksichtigung der verschiedensten
Faktoren, wie Einfluss der Schwerkraft, mechanische Reize, Wir-
kung des Lichtes ete. Wir können in dieser kurzen Übersicht
nicht näher auf die interessanten Untersuchungen eingehen, wollen
aber noch sehen, wie sich Woltereck auf Grund seiner Annahmen
den ökologischen Wert dieser Richtungsorgane und ihrer Änderung
in der Variation vorstellt. Die hauptsächlichste Bedeutung der
Organe liegt in der Erzielung einer möglichst horizontalen Schwimm-
bahn. Diese horizontale Bahn bewirkt neben bedeutender Kraft-
ersparnis dass die Tiere ımmer ın derselben, zonaren Nahrungs-
schicht bleiben und außerdem den sogen. „surface film“ (Scour-
field) und die „Sprungschicht“ vermeiden. Letztere stellt die unter
der belebten Zone befindliche Schicht dar, in der die Temperatur
plötzlich sehr rasch abnimmt — ihr Passieren scheint für die
Planktonorganismen ein Wiederaufschwimmen auszuschließen (Rutt-
ner?%)) — während es eine bekannte Erscheinung ist, dass Daphnien,
die mit der Oberfläche des Wassers („surface film“) in Berührung
kommen, nicht mehr absteigen können und ebenfalls zugrunde gehen.
Dadurch nun, dass die Tiere in sehr spitzem Winkel ansteigen, berühren
die Antennen zuerst die Wasseroberfläche und die Tiere führen dann
auf den Reiz hin eine Abwärtsbewegung aus. Genau begründet hat
Woltereek diese Wirkung der Richtungsorgane für Daphnien und
20) Ruttner: Über tägliche Tiefenwanderung von Planktontieren ete. Internat.
Revue, 1909.
Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren. 463
Bosminen, wobei er auch das scheinbar sinnwidrige Variieren der
Il. Antennen (Hörner) von Dosmina longirostris und B. coregoni longi-
spina erklären konnte, die im Gegensatz zu B. coregoni gibbera im
Sommer kurze, im Winter lange Hörner bilden. Die starren Hörner
werden durch den Ruderschlag und die den Kopf nach oben
drückende Schwerkraft gegen das Wasser angestemmt, wodurch
eine horizontale Haltung des Körpers erzielt und ein Überschlagen
nach hinten vermieden wird. Im Sommer, bei reichlicher Ernährung
und ım warmen Wasser schwimmen die Tiere schnell, brauchen
also kürzere Steuer als im Winter, wo sie ım kalten Wasser mit
„halber Kraft fahren“.
Gerade dieses Beispiel zeigt, wie schön die neue Auffassung
manche Erscheinungen zu erklären vermag, wie sehr aber auch
gleichzeitig das Problem dieser früher einfach als „Schwebeapparate“
bezeichneten Organe kompliziert wird. Inwieweit Woltereck aller-
dings berechtigt ist, auf Grund der genauen Bewegungsanalysierung
von Daphnia und Bosmina seine Deutung auch auf andere Olado-
ceren (z. B. Srapholeberis), auf Rotatorien und Peridineen zu über-
tragen, das kann erst eine ebenso eingehende Beobachtung des
Schwimmechanismus dieser Formen erweisen. Auch glaube ich,
dass wir trotz Annahme der Richtungsorgane die Wirkung der für
das Schweben wichtigen physikalischen Komponenten des Wassers,
spezifisches Gewicht und Viskosität auch für aktive Bewegung
und Steuerung nicht zu sehr außer acht lassen dürfen. Und ob
sich bei einigen der Fortsätze neben der Richtungsfunktion nicht
doch noch eine Bedeutung für das Schweben finden lässt, scheint
mir auch zu überlegen. Für die prinzipielle Wichtigkeit der schönen
Woltereck’schen Untersuchungen sind jedoch diese Bedenken
ohne Belang.
Wenden wir uns nun zum zweiten Teil des Gesamtproblems,
so wird uns die Tatsache, dass wir in den verschiedenen Standorts-
varietäten in der Hauptsache erblich fixierte Rassen zu sehen
haben, nicht weiter auffallen. Woltereck®') hat mit einer Reihe
von Lokalrassen zum Zwecke der Abänderung ihrer Helmhöhen-
Reaktionsnorm experimentiert; es zeigte sich, dass eine dauernde
Überführung einer Rasse in die andere sich als unmöglich erwies,
die Reaktionsweisen der einzelnen Rassen waren erblich ver-
schieden, es ließen sich besondere Reaktionsnormen für die Stand-
ortsvarietäten (z. B. Obersee — Untersee Daphnia, Lunz etc.) fest-
stellen.
Wenn nun Wesenberg-Lund) angibt, dass die verschiedenen
21) Woltereck: Beitrag zur Analyse der „Vererbung erworbener Eigen-
schaften“ ete. Verh. d. Deutsch. Zool. Ges., 1911.
22) Wesenberg-Lund: Grundzüge der Biologie und Geographie des Süß-
wasserplanktons etc. Internat. Revue, Bd. III, Biolog. Suppl. 1, 1910.
464 Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Oladoceren.
Lokalrassen der dänischen Seen im Winter zu derselben niedrig-
köpfigen Rasse — dem arktischen Typus — zurückfallen, so handelt
es sich da sicher nıcht um erbgleiche Rassen, sondern um solche,
in deren Reaktionsnorm eine scheinbar gleiche Reaktion auf die
Winter-(arktischen)Bedingungen, aber ein verschiedenes Variieren
unter sommerlichen Verhältnissen begriffen ist. Nicht ohne weiteres
selbstverständlich ıst die an Generationen gebundene erbliche
Fixierung der Temporalvariation; vielleicht ist auch, um es vorweg
zu nehmen, die Labilität, d. h. die Beeinflussbarkeit des äußeren
Habitus durch Verschiebung der Außenbedingungen bei einzelnen
Arten größer als bei anderen. Nach den Ostwald’schen Versuchen
müsste man annehmen, dass die Individuen jeden Sommer von
neuem auf Erwärmung und Abkühlung des Wassers reagieren.
Gegen diese Annahme sprechen jedoch viele Beobachtungen und
experimentelle Resultate, von denen ich hier als sehr typisch meine
eigenen Ergebnisse an Scapholeberis mucronata anführen möchte.
Die Temporalvarıation der von mir beobachteten Lokalrasse — all-
mähliche Abnahme des Stirnhorns, Zunahme der Mucronenlänge —
ging in meinen Kulturen bei gleicher (Zimmer-)Temperatur und
gleicher Ernährung ruhig weiter, genau wie draußen am Standort,
sie wurde auch durch starke Wärme (22—26 ° C.) nicht im geringsten
tangiert. Nur intensivste Nahrungsherabsetzung hatte ein vorzeitiges
Schwinden des Horns, eine bedeutende Reduktion der Mucronen
zur Folge, was wohl einfach darauf beruht, dass infolge der Unter-
assimilation der Blutdruck des Körpers zur Ausbildung der Fort-
sätze nicht mehr ausreichte (s. 0.!). Aber selbst ın diesen Hunger-
kulturen kam die Temporalvarıation nicht völlig zum Schwinden,
denn die Frühsommer-Hungertiere zeigten trotz kürzerer Hunger-
wirkung weniger lange Mucronen als die Spätsommer-Individuen,
die aus viel späteren „Hungergenerationen“ stammten. Aus Einzel-
kulturen in gleichmäßiger Temperatur und Ernährung ließ sich
ferner sehr schön die von Generation zu Generation und von Wurf
zu Wurf steigende Tendenz erkennen, einesteils die Hornlänge zu
reduzieren, andererseits die Mucronenlänge zu steigern, ein Analogon
zu der in derselben Weise sich steigernden Neigung der Cladoceren
zur Sexualität. Diese, auf experimentellen Grundlagen erhaltenen
Ergebnisse an Scapholeberis mucronata sprechen sehr gegen die
Zweifel Dieffenbach’s®) und Behning’s®‘) an einer Festlegung
der Temporalvarıation im Entwickelungsgang der einzelnen Formen,
an einem bestimmten Variationsrhythmus. Andererseits bestätigen
meine Beobachtungen den ebenfalls von Behning — im Prinzip
früher schon von Wesenberg-Lund aufgestellten Satz, dass
23) 1. eit., S. 459.
24) 1, eit., S. 460.
Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Oladoceren. 465
die Parthenogenese ım Lebenszyklus der Cladoceren die Zeit der
Variabilität darstellt, hervorgerufen durch die umgestaltende Wirkung
der äußeren Verhältnisse, während die sexuelle Fortpflanzung redu-
ziert, zur Ausgangsform zurückführt — Begünstigung der Rassen-
bildung durch ungeschlechtliche Vermehrung, Ausgleich der Rassen-
differenz in der Sexualität (Wesenberg-Lund). Bei Scapho-
leberis sind alle aus dem Winterei stammenden Tiere sich sehr
ähnlich, von charakteristischem Aussehen, ein Jahr wie das andere;
auch die ersten Generationen aus verschiedenen Standorten mit
stark verschiedenen Sommerformen gleichen sich sehr. Im Herbst
werden hornlose Weibchen von hornlosen Männchen befruchtet,
aus den Wintereiern aber dieser Weibchen entstehen im Frühjahr
langgehörnte Exemplare. Aber nicht nur im Gesamtlebenszyklus
der Art zeigt sich diese Erscheinung, auch im Leben des einzelnen
Individuums steigt die Variabilität von Häutung zu Häutung. Die
eben geworfenen Jungen zeigen weder unter sich, in demselben
Wurf, eine beachtenswerte Variabilität, noch unterscheiden sich die
Jungen aus den Frühjahrsweibchen stark von denen des Sommers,
obwohl sich die Temporalvariation auch hier, allerdings in geringem
Maße, dokumentiert. Dagegen gleichen sie in ihren Proportionen
— relativ sehr langes Horn — auffallend den ex ephhippio stammen-
den, erwachsenen Individuen.
Zwei weitere wichtige Fragen sind dann noch zu beantworten.
Die erste ist die, ob es möglich ist, eine erblich fixierte Rasse
künstlich durch Verschiebung der Reaktionsnorm zu ändern, die
zweite dagegen, wie wir uns die allmähliche Entstehung der Tem-
poralvarıationen und der Lokalrassen erklären können. Dass es im
Prinzip möglich sein muss, eine erblich fixierte Rasse abzuändern,
muss bei dem bestehenden Naturgesetz der Umwandlung der Arten,
des Entstehens neuer, Vergehens alter Formen unbedingt bejaht
werden. Die Bemühungen jedoch, experimentell eine Rasse in die
andere überzuführen, sind bis jetzt noch fehlgeschlagen (W olter-
eck?°) gibt allerdings ın einer kurzen Bemerkung an, aus einer
reinen Linie von Hyalodaphnia konstant kurzköpfige Formen im
Freilandbecken gezüchtet zu haben, doch müssen wir vor der Ver-
wertung dieses Resultates noch nähere Mitteilungen abwarten).
Wie draußen ın der Natur allmählich die Umwandlung vor sich
geht, davon können wır uns gerade durch den Vergleich verschie-
dener Lokalrassen von Scapholeberis em Bild machen. Beweisen
können wir allerdings nicht, dass die Entwickelung unserer Art
gerade so vor sich geht, wie wir sie uns vorstellen, aber man muss
m. E. bei biologischen Problemen hier und da über Zahlen und
Tabellen hinausgehen und, wenn auch nur im Bilde, große Zeit-
Zo)Blcıı> 3,4150.
4655 Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Cladoceren.
räume an Stelle der uns zur Verfügung stehenden minimal kurzen
setzen. Ich habe in meiner letzten Arbeit?®) auf die Erscheinung
hingewiesen, dass allem Anschein nach für große Gewässer lang-
gehörnte, für kleine aber kurz und sehr bald ungehörnte Formen
von Scapholeberis typisch sınd. Nun sehen wir in den drei von
mir untersuchten Standorten von stark verschiedener Wassermasse,
dass die ersten Generationen (ex ephhippio) sich bei allen drei
Rassen sehr gleichen, dıe Hornlänge ıst für jede der Rassen etwa
dieselbe, ziemlich bedeutende. Während der Zeit der Partheno-
genese jedoch, in der sich die Temporalvarıation geltend macht,
geht ım kleinen Gewässer die Ausbildung des Horns sehr schnell
zurück, während im großen Standort die Hornlänge sich viel kon-
stanter erhält — der mittlere Standort nımmt eine Mittelstellung
ein. Meiner Vermutung nach stammen alle drei Rassen von einer
gemeinsamen langgehörnten Form ab, wobei auch jetzt noch der
ursprüngliche Typus sich nach dem auf die Sexualität folgenden
Dauerstadium zeigt — Ausgleichung der Rassendifferenz (W esen-
berg-Lund). Während der durch die Variation ausgezeichneten
Parthenogenese jedoch passt sich jede Rasse den speziellen Milieu-
bedingungen ihres Standortes an oder hat sich schon ın weitgehen-
dem Maße angepasst — Begünstigung der Rassenbildung (W esen-
berg-Lund). Nun aber kommt die schwierige Frage nach den
die Artänderung ursächlich bedingenden Vorgängen.
Wesenberg-Lund?”) vertritt die Bedeutung der direkten
Milieuwirkung, wobei er zu einer Verurteilung der bis jetzt
in dieser Richtung negatıv gebliebenen Experimentierungsmethoden
gelangt; den Hauptgrund der Fehlschläge sieht er in der viel zu
geringen, dem Experimentator zur Verfügung stehenden Zahl der
(Generationen. Diesen Versuchen gegenüber stellt er das unermess-
lich große Erblichkeitsexperiment der Natur, die als Experimentator
zur Fixierung durch äußere Bedingungen erworbener Eigenschaften
über die erste Bedingung für den Eıfolg verfügte, eine unbegrenzte
Zeit. So sind die bei uns lebenden Oladoceren als durch Variation
aus den arktischen abgespaltene Formen zu betrachten, ın denen
die Reaktionsstufen gegenüber den Milieuänderungen durch äußere
Einflüsse erblich wurden. Ein Beweis für die ausschließliche Be-
deutung der direkten Milieuwirkung bei den Artänderungen oder,
um die gebräuchliche Bezeichnung zu wählen, für die Vererbung
erworbener Eigenschaften ıst das natürlich nicht, denn weder kann
die Mutation, noch die Selektion als eventuelle Hauptfaktoren aus-
geschaltet werden; Wesenberg selbst nennt seine, auf riesiges
Beobachtungsmaterial sich stützende Auffassung eine reine Glaubens-
26) 1. eit., S. 460.
An) on, Sb 2K0j0%
Gruber, Das Problem der Temporal- und Lokalvariation der Oladoceren. 467
sache. Experimentell wäre ein Beweis erst erbracht, wenn wir
eine genau analysierte Rasse durch kontrollierte, direkte Milieu-
wirkung so abändern könnten, dass nıcht nur während der Partheno-
genese, der Zeit der Variabilität, sondern auch nach Überwindung
des reduzierenden Dauerstadiums eine dauernde Veränderung der
Reaktionsweise sich zeigte; aber auch hier wird es im Experiment
außerordentlich schwer sein, eine eventuelle Mutations- oder Se-
lektionswirkung auszuschließen. So sind wir vorderhand immer noch
auf indirekte Schlüsse angewiesen. Ein gutes Stück weiter ın dem
Versuch, uns die Vorgänge bei der Artbildung der Uladoceren zu
erklären, bringt uns ebenfalls wieder dıe neueste Woltereck’sche
Arbeit. Zahlreiche, vergebliche Transmutationsversuche hatten
Woltereck an der Bedeutung des direkten Milieueinflusses zweifeln
lassen. Nun konnte er andererseits an Hand langjährig beobach-
teten Materials nachweisen, dass unbestimmt gerichtete, wahllose
Mutationen ım Leben der Rassen nur eine untergeordnete Rolle
spielen. Der Selektion wiederum hatte er deshalb keine Bedeutung
zugemessen, weil einmal die Frage nach dem Entstehen erblicher
Varianten in den Stämmen nicht beantwortet war und weil zweitens
bei der Annahme der „Schwebefunktion“ der Oladocerenfortsätze
der für die Selektion nötige Nutzwert der Anfangsstadien nicht
erkannt werden konnte. Beide Schwierigkeiten konnten nun aber
nach Woltereck’s Angaben behoben werden. Erstens zeigten sich
in den reinen Linien häufig kleine mit Milieusteigerung zusammen-
hängende, transgressive, bestimmt gerichtete Blastovarıanten
(ultranormale, erbliche Abweichungen), während andererseits bei
der Annahme der Fortsätze als Richtungsorgane sıch der Nutzwert
auch kleinster Anfangsstadien verstehen lässt. Die Richtungsorgane
der einzelnen Cladocerenarten und -rassen entstehen daher nach
Woltereck auf folgendem Weg: Die vermehrte Milieuenergie
wirkt wahllos auf alle von Blutdruck und Bluternährung abhängigen
Organanlagen steigernd ein. Milieusteigerung kann aber auch erb-
liche Hypertrophie aller vom Quantum der zugeführten Energie
abhängigen Organe bewirken, indem sowohl die ım somatischen
Substrat (determinierend) als die im Keimplasma (gen-assimilierend)
wirksamen Enzyme mit ihren Reaktionskonstanten geändert werden
— Entstehung erblicher Plusvarıanten. Da nun aber die Art-
änderungen der Cladoceren darin bestehen, dass einzelne Körper-
fortsätze verändert werden ım Einklang mit den Erfordernissen
des Milieus und der Funktion, so liefert die Milieuänderung für
die Anpassungen nur das Material, ihr Anteil an der Artänderung
besteht in der Hervorrufung von Konstantenänderungen. Zur wei-
teren Erklärung brauchen wir einmal die Selektion — dass sie
möglich ist, ergibt sich aus der Anwesenheit von Blastovarianten
und dem effektiven Nutzwert der ersten Anfangsstadien der Fort-
468 v. Huene, Beobachtung. über d. Bewegungsart der Extremitäten bei Krokodilen.
sätze —, zweitens aber die lokalisierte Varıabılität (Labilität)
einzelner Körperregionen, die bei Gladoceren ebenfalls nachweisbar
vorhanden ist. Ihr Zusammenwirken ist die Grundlage, auf der
sich die Artänderung vollzieht. Es ıst unbestreitbar, dass wir es
hier mit einer logisch geschlossenen Erklärung, die sich auf exakte
Beobachtungen stützt, zu tun haben. Zwei Punkte in den Grund-
lagen der Woltereck’schen Annahmen können jedoch bestritten
werden. Einmal könnten die Verfechter der Mutationslehre die nach
Woltereck bestimmt gerichteten Blastovarıanten, die erblichen,
ultranormalen Abweichungen für die Mutation postulieren — ein
Streit um Worte und Definitionen, der, wenn solche extreme erb-
liche Varianten wirklich vorhanden, von geringerer Bedeutung ıst.
Hypothetisch aber bleibt vorderhand noch der Versuch, sich das
Entstehen solcher Varianten zu erklären, ein Versuch, bei dem sich
Woltereck an seine, auf der Ferment-Antigenlehre basierenden
Deutungen seiner Transmutationsexperimente an Daphnia anschließt.
Doch sind hier, um die logische Gedankenkette zu schließen, Hypo-
thesen unerlässlich und jeder ernsthafte Forscher ist sich ja von
vornherein bewusst, dass Hypothesen nur Notbrücken sınd, so lange
ein komplexes Tatsachenmaterial fehlt. Eine große, schwere Ar-
beit wäre noch zu bewältigen, nämlich auf dem von Woltereck
gezeichneten Weg experimentell Blastovarianten zu erzeugen, künst-
liche Selektion derselben zu versuchen, um auf diese Weise eine
Rassenänderung zu erzielen. Inwieweit und ob ein solcher Unter-
suchungsplan, vor allem technisch, überhaupt möglich, muss die
Zukunft lehren. Ein positiver Erfolg des Experimentes aber wäre
nicht nur für das Problem der Cladocerenvariation, sondern für die
gesamte Abstammungs- und Vererbungslehre von der größten Be-
deutung.
Beobachtungen über die Bewegungsart der
Extremitäten bei Krokodilen.
Von Friedrich von Huene in Tübingen.
Mit 7 Figuren.
Obwohl nicht Zoologe, sondern Paläontologe, hat mich in Zu-
sammenhang mit der Entstehungsgeschichte der Krokodile die Be-
wegungsart ihrer rezenten Vertreter interessiert. Da ıch Literatur
über diesen Gegenstand nicht zu finden wusste, wandte ich mich
auf Herrn Prof. Blochmann'’s Rat an den Direktor des zoologischen
Gartens in Frankfurt, Herrn Dr. Priemel, der mir in der liebens-
würdigsten Weise gestattete, an den lebenden Krokodilen Beobach-
tungen anzustellen und mit ihnen zu experimentieren; dabei waren
mir die Herren Menke und Schacht sowie ein Wärter in zuvor-
kommenster Weise behilflich und haben mich zu lebhaftem Dank
verpflichtet.
v. Huene, Beobachtung. über d. Bewegungsart der Extremitäten bei Krokodilen. 469
Von den ım Mai 1913 ım Frankfurter zoologischen Garten vorhan-
denen zahlreichen schönen Krokodilen eigneten sich am meisten Osteo-
lamus tetraspis, Crocodihuıs niloticus und Alligator mississipensis zu
Beobachtungen. Bei langsamer Bewegung wird der Körper auf
dem Boden schleifend vorgeschoben.
Beı etwas rascherer, zielbewusster
Gangart sowie beim Laufen wird
der Körper durch die Extremitäten N
hochgehoben; Kopf, Körper und
Schwanz mit Ausnahme von dessen
SS
Fe = In
Spitze werden dann etwa um die =, %
m . Q //
Länge des Unterschenkels über dem Ne T
: Y
Boden getragen. Dabei bewegen 1%
1:
sich die Extremitäten vollkommen
frei und voneinander unabhängig,
grundverschieden von der schlän-
gelnd schiebenden Bewegung der A
Molche, in der Abwechslungsfolge Sl
des Vorsetzens einigermaßenähnlich 4 W
derjenigen hochbeiniger Säuger.
Bei der Hinterextremität bleibt
ec
er es
das Knie ın starkem Knick, der
Oberschenkel ist aber im Hüftgelenk
sehr beweglich. Der Fuß tritt mit
der ganzen Sohle auf; besieht man
sich aber die Abnützung der Epi-
dermis an der Sohle, so zeigt sich,
dass das Hauptgewicht des Körpers
nicht mit dem Tarsus, sondern
mit den Phalangen und dem Vorder-
ende des Metatarsus auf den Boden
drückt, mıt anderen Worten, dass
das Fußgelenk stets in starker
Spannung bleibt. Die Besichtigung
der Fußspuren in weichem Lehm
ergibt dasselbe (Fig. 1). Beim ge-
wöhnlichen Gehen wird die ganze
Fußsohle abgedrückt, die Phalangen
nur wenig tiefer als die Sohle; von
a Ze ey Ia>
D
ey
Se ne
EN
Eip. 1.
spur.
Geh-
Hinter-
extremität, V — Abdruck der Vorder-
extremität, Al —= Klauenspur.
Östeolamus tetraspis
H = Abdruck der
Zehen drückt sich die unbekrallte vierte etwas leichter ein als die den
drei medialen bekrallten.
Die Stellung des Fußes beim Gehen ist
nicht auswärts, sondern vorwärts gerichtet, so dass die zweite Zehe
ziemlich genau parallel der Körperachse steht, während die dritte
und namentlich vierte stark seitwärts gebogen ist. Fußspuren in
weichem Lehm sowohl vom Gehen als vom Springen zeigen die
XXXIH. Sl
470 v. Huene, Beobachtung. über d. Bewegungsart der Extremitäten bei Krokodilen.
nachgeschleifte Fährte der inneren Klauen, welche von einem Fuß-
abdruck bis in den nächsten hinein einen stark nach außen ge-
richteten Bogen beschreiben; diese Tatsache zeigt, dass die Haupt-
Fig. 2. Ze
Osteolamus tetraspis. Fig. 3. Alligator mississippensis. Rechte
Rechte Vorderextremität. Vorderextremität.
msn
= Sn
Rn N IE
IE SES
N
UI
IQ
Fig. 4. Crocodilus nilotieus. Linke Vorderextremität.
er I EEE
—
Fig. 5. Osteolamus tetraspis. Linke Vorder- Fig. 6. Crocodilus nilotieus. Linke
extremität. Vorderextremität.
kraft und der Abstoß des Fußes an der inneren Seite geschieht.
Beim Sprung wird die Hauptbewegung der Hinterextremität nicht
im Knie, sondern im Fußgelenk ausgeführt, indem Metatarsus und
Zehen abwärts schnellen und mit ihrem distalen Teil besonders
v. Huene, Beobachtung. über d. Bewegungsart der Extremitäten bei Krokodilen. 471
kräftig sich abstoßen. Diese Bewegung wird durch den verlängerten
Calecaneus, an dessen Tuber die Sprungsehnen einen Hebelgriff
finden, besonders begünstigt.
Besonders interessant war mir m
die Vorderextremität. Der Grund / j /
der Verlängerung der proximalen Ä "
Carpalia war mir der Ausgangs-
punkt der Fragestellung. Bei Be- V
sichtigung der Tiere fiel mir sofort '
auf, dass die Vorderextremität vor
dem Ellbogen noch zwei in Er-
scheinung tretende Gelenke besaß,
nämlich zwischen Unterarm und
Carpus einerseits und zwischen Meta-
carpus und den Phalangen anderer-
seits. Zwischen Metacarpus und
Carpus konnte ich Bewegungen
nicht beobachten. Der Carpus dient
also praktisch zur Verlängerung des
Metacarpus. In Ruhelage ıst das
Carpalgelenk meist mehr oder we-
niger abgebogen, mitunter aber auch
genau in die Verlängerung des Unter-
armes gestellt und dann sınd nur die
Finger rechtwinkelig abgebogen auf
den Boden gestellt. Beim Gehen
ist es die Regel, dass nur die
Finger auf der Erde aufliegen und
die Mittelhand hochgestellt ıst und
genau in der Achse des Unterarmes
als dessen Verlängerung dient. Es
ist also die Vorderextremität digiti-
grad, die Hinterextremität aber
plantigrad. Auch die Hand wird
in der Bewegung beim Auftreten ın
die Körperachse gestellt; der dritte
und längste Finger steht dann ganz
parallel der Körperachse. In Ruhe- Bien nl, tetraspis. Lauf-
lage werden dagegen Finger und spur. Bezeichnungen wie in Fig. 1.
Zehen häufig seitwärts gerichtet
Das Körpergewicht scheint in der Hand mesaxonisch zu ruhen,
denn im Gegensatz zum Fuß wird die Hand genau geradlinig
(parallel der Körperachse) nach vorne gesetzt bei einem Schritt
oder Sprung. Der vierte und fünfte Finger tragen bekanntlich keine
Krallen und werden weniger kräftig auf den Boden gesetzt. Aus
3lhn
472 v. Huene, Beobachtung. über d. Bewegungsart der Extremitäten vei Krokodilen.
der Spur werden die Finger auf den Fingerrücken umgeklappt
herausgezogen und mehrere Male habe ich die zur Faust zusammen-
gezogenen Finger in dieser Weise mit ihrer Rückenseite auftreten
und auch verharren gesehen, wobei der vierte und fünfte Finger
weniger gekrümmt nur mitgeschleppt wird. Auch durch das Auf-
treten mit der Faust wird eine funktionelle Verlängerung des Armes
bewirkt.
Sind die Krokodile in großer Eile, so machen sie Sprünge, in-
dem sie mit allen vier Füßen zugleich sich ın die Luft werfen und
sıch dann auf den Bauch fallen lassen. Mit der Vorderextremität
werfen sie sich bei dieser Gelegenheit nur ın die Höhe, einen
Moment später setzt die Tätigkeit der Hinterextremitäten ein, diese
schnellen das Tier zwar auch ın die Höhe, aber zugleich auch vor-
wärts und da die schwerere Vorderhälfte des Körpers dann schon
in der Höhe und noch ın Aufwärtsbewegung ist, so wird der Mangel
einer eigenen starken Vorwärtsbewegung der Vorderextremitäten
nicht hemmend auf die Sprungbewegung der Hinterextremitäten
wirken. Man kann die Mechanik des Krokodilsprunges nach meinen
Beobachtungen mit einem vorne schweren Wurfspieß vergleichen,
dessen Spitze in die Höhe gerichtet sein muss, bevor die Beschleuni-
gung eintritt.
Aus diesen Beobachtungen scheint mir hervorzugehen, dass
die Krokodile (die Beobachtungen beziehen sich hauptsächlich auf
kurzschnauzige Formen) eigentlich (relativ) zu kurze Vorderextremi-
täten haben und sie auf die beschriebenen Arten funktionell zu
verlängern streben. Die bedeutende Kürzung kann aber nur ın der
Stammesgeschichte seine Begründung finden. Aus Gründen, die
ich anderen Ortes (Beiträge zur Geschichte der Archosaurier, Pal.
u. Geol. Abhandl., Verlag G. Fischer) näher ausführe, nehme ich
an, dass die Krokodile erst sekundär wieder zu völlig tetrapoder
Lebensweise übergegangen sind und dass ihre Vorfahren vorüber-
gehend bipede Lokomotion übten, wobei die Vorderextremitäten
sich rasch verkürzt hatten. Nach dem Erfahrungssatz der Irrever-
sıbilität der Entwickelung konnte der gleiche Weg der Verlängerung
bei der Rückkehr zur tetrapoden Lebensweise nicht eingeschlagen
werden, sondern das physiologische Ziel der erneuten Verlängerung
musste auf anatomisch anderem Wege erreicht werden. Das ge-
schah durch Verlängerung der proximalen Oarpalia. Wie bei den
Anuren die proximalen Tarsalıa zur Erreichung eines Sprunggliedes
abnorm verlängert wurden, so hier die proximalen Carpalia. Der
Fall liegt zwar nicht genau parallel. Aber dass eine besondere
Funktion mit dieser Abnormität verbunden sein muss, war mir von
vornherein sicher; es ıst Verlängerung, stärkere Biegungsmöglich-
keit und damit die Fähigkeit, sich höher empor zu schnellen.
Secerov, Über einige Farbenwechselfragen. 473
Über einige Farbenwechselfragen.
Von Dr. Slavko Sederov.
1. Ist der Nachweis der Entstehung der farbigen Pigmente aus
den schwarzen widerlegt?
K. v. Frisch hat in seiner Arbeit „Über die farbige Anpassung
der Fische“!) auch meine, mehr orientierenden Versuche über die
Entstehung der farbigen Pigmente aus den schwarzen berührt, ja
sogar wiederholt, und nach der Auffassung des Verfassers sollen
sie das Gegenteil beweisen. Die Behauptung und Auffassung
K. v. Frisch’s scheint auch ın der Literatur einen Widerhall ge-
funden zu haben. Ich beschränke mich auf die Zitierung von einem
so hoch verdienten experimentellen Forscher wie ©. Herbst ist, der beı
der Erörterung meiner Versuche über den Farbwechsel der Bartgrundel
(Nemachilus barbatula L.) ım Handwörterbuche der Naturwissen-
schaften (Korschelt, Linckete. Bd. III, Jena 1913) ım Artikelüber die
„Entwickelungsmechanik* folgendes sagt (p. 597): „für das Zustande-
kommen der Farbenanpassung gibt es dreierlei Erklärungsmöglich-
keit, von denen zweı schon vor langer Zeit im Anschluss an die
Experimente mit Schmetterlingspuppen erörtert worden sind. Die
nächstliegende dieser drei Möglichkeiten ıst natürlich die, dass man
die Farbenanpassungen, welche sich experimentell beherrschen
lassen, mit natürlicher Farbenphotographie also die Haut der be-
treffenden Tiere mit einer farbenempfindlichen photographischen
Platte vergleicht. Dem steht die zweite Erklärungsmöglichkeit
gegenüber, welche in der Farbenanpassung einen komplizierten,
durch Photorezeptionsorgane und Nervensystem vermittelten Pro-
zess sieht; und schließlich wäre noch eine Kombination der beiden
ersten Hypothesen zu einer dritten möglich, wenn man annımmt,
dass dıe Farbenanpassung in letzter Instanz ein farbenphoto-
graphischer Prozess sei, dass aber der Ablauf dieses Prozesses von
Impulsen abhängig sei, die den Hautbezirken durch das Nerven-
system zugeleitet werden und auf Photorezeptionsorgane zurück-
zuführen sınd.*“ Ich habe nun versucht, die erste dieser Annahmen
experimentell zu prüfen und die Möglichkeit der Entstehung der
farbigen Pigmente aus den schwarzen, die überall vorhanden sind
und somit als ursprüngliche erscheinen, darzulegen.
Ich war mir im Klaren über den Wert der Experimente, die
mich selbst nicht vollständig befriedigten, aber da ich nicht bessere
Methoden verwenden konnte, habe ich es für nötig gefunden, die-
selben doch mitzuteilen.
Ich will aus meiner eigenen Arbeit?) folgendes anführen, das
1) Zool. Jahrbücher, Abt. f. allg. Zool. u. Phys., Bd. 32, p. 171—230, 1912.
2) Arch. f. Entwickelungsmechanik — Roux, Bd. 28, 1909.
474 Sederov, Über einige Farbenwechselfragen.
das oben Gesagte bestätigen soll: „Durch die angeführten Versuche
ist es also sehr wahrscheinlich, dass die Entstehung der farbigen
Pigmente aus den schwarzen auch im lebenden Tiere möglich
ist“ (p. 656) und in der Zusammenfassung: „Die Versuche an aus-
geschnittenen frischen Hautstücken zeigen erstens Zersetzung
der schwarzen Pigmente bei natürlicher Beleuchtung, zweitens Zer-
setzung der schwarzen isolierten Pigmente nach dem Wiener’schen
Prinzip. Die Versuche mit Glyzerin-Hautpräparate bestätigen das-
selbe“ (p. 658).
Obwohl also meine Stellung zu den eigenen Versuchen gar
nicht so exklusiv und apodiktisch waren, hat es auch ©. Herbst
im obigen Artikel für nötig gefunden anzuführen, dass sich auch
K. v. Frisch gegen Sederov gewendet hat; K. v. Frisch’s Versuche
sollen das Gegenteil beweisen oder nach den Worten K.v.Frisch’s:
„An ausgeschnittenen Hautstücken der Bartgrundel (Nemachilus
barbatula L.) ließ sich, entgegen den Angaben Se@erov’s, ein Ein-
fluss des farbigen Lichtes auf die Farbe der Hautstücke nicht nach-
weisen. Auch dieser Fisch passt sich vermittels seiner Gesichts-
wahrnehmungen an gelben Untergrund an, bei blinden Tieren unter-
bleibt die Anpassung auch, wenn der Aufenthalt auf dem farbigen
Grunde viele Monate währt“ (p. 224). Und doch sagt Frisch nach
diesem Satz:
„Somit sind wir noch im Zweifel darüber, ob nicht
farbiges Licht bei sehr langer Einwirkung auf die Pig-
mentbildung Einfluss nehmen kann, die Anpassung an den
Untergrund aber, welche in der Natur eine so große Rolle spielt,
ist bei den untersuchten Fischen sicher lediglich durch die Augen
und das Nervensystem vermittelt.“ Es wird klar aus den folgenden
Zeilen, dass die ausschließliche Wirkung der Augen und des Nerven-
systems nicht richtig ist und zwar aus den Angaben von Frisch
selbst. Überhaupt soll man sich hüten zu sprechen von der aus-
schließlichen Wirkung eines Naturfaktors bei der Entstehung irgend-
einer Naturerscheinung, denn ın der Natur gibt es nicht solche
„monistische* Tendenzen; es sind nur Kombinationen von Faktoren
vorhanden, deren einzelne Wirkungsweise zu erschließen die Auf-
gabe des Experiments ist. Es ist also selbstverständlich, dass ich
auch die Wirkung der Augen und des Nervensystems nicht leugne.
Darum drücken die Sätze von Frisch: „Sowohl die Melanophoren
wie die farbigen Pigmentzellen der Bartgrundel werden also von
den Gesichtswahrnehmungen beeinflusst, der Fisch besitzt einen
deutlichen physiologischen Farbwechsel. Das hätte Secerov bei
seinen Versuchen mit farbigen Lichtern berücksichtigen müssen“
(p- 206), gar nicht den Sachverhalt aus, denn ich habe die deut-
liche Wirkung des physiologischen Farbwechsels nicht geleugnet.
Das kann jeder, der die Abhandlung über Nemachilus aufmerksamer
Secerov, Über einige Farbenwechselfragen. 45
liest, sehen. Ich nahm es nur nicht an, dass jede Farbenanpassung
reflektorisch durch Vermittlung der Augen zustande kommt.
Die Versuche über die Entstehung der farbigen Pigmente aus
den schwarzen sollten eine mehr handgreifliche Stütze zu der An-
nahme der mechanischen Farbenanpassung sein. Die Farbenanpassung
auf Grund der Entstehung der farbigen Pigmente ist auf Grund
meiner Versuche aus einer theoretischen Annahme zu einer experi-
mentell prüfungsfähigen Hypothese geworden.
Die Wichtigkeit der Versuche, obwohl nicht den Wert der
Ergebnisse, hat K. v. Frisch ganz richtig aufgefasst. Er sagt
selbst: „Die Sache schien mir für die Frage nach dem Zustande-
kommen der Farbenanpassung in der Natur von prinzipieller Be-
deutung.“
Darum prüfte K. v. Frisch zuerst mit denselben Methoden,
wie ich es versucht hatte, jedoch mit negativem Erfolge. Er beob-
achtete eine gelbliche Verfärbung der Melanophoren bei der Ver-
wesung, aber weder makroskopisch noch mikroskopisch, ließ sich
ein Einfluss der Färbung der Umgebung bemerken. Ich bemerke
zu diesen Versuchen, dass ich auch eine Verfärbung der Melano-
phoren bei den Kontrollversuchen der in Glyzerin eingeschlossenen
Hautstücken konstatiert hatte. Denn „Der Versuch ergab, dass
die schwarzen Pigmente die Farbe auch etwas verändern. Die
Pigmente nehmen einen sehr dunklen, roten Ton an* (p. 656).
K. v. Frisch hat nun weitere Versuche in Schott’schen Gläsern
aufgestellt.
„Wenn farbiges Licht auf die Pigmentzellen in abgestorbenen
Hautstücken überhaupt eine Wirkung ausübt, dann sollte man einen
viel deutlicheren Effekt als bei Verwendung farbiger Papiere er-
warten, wenn man die Hautstücke mit monochromatischem Lichte
bestrahlt. Es standen mir einige Schott’sche Gläser, und zwar
ein rotes, gelbes und blaues zur Verfügung. Als Lichtquelle diente
eine Nernst-Lampe (Lichtstärke — 300 Normalkerzen). Ihr Licht
wurde, nachdem es ein Wärmefilter (fließendes Wasser) passiert
hatte, durch Linsen auf dıe Vorderwand eines kleinen Holzkästchens
konzentriert; dieses war in vier lichtdicht voneinander abgeschlossene
Fächer eingeteilt, in welche durch seitliche, Iichtdicht verschließbare
Öffnungen die Präparate gebracht werden konnten. In der Vorder-
wand des Kästchens besaß jedes Fach eine Öffnung, in welche die
drei farbigen und eine farblose Glasscheibe eingesetzt wurden.
Der Versuch an ın Glyzerin eingeschlossenen Hautstücken
wurde bei solcher Anordnung noch zweimal wiederholt. Das Käst-
chen war das eine Mal innen mit weißen, das andere Mal mit
schwarzen Papier ausgekleidet. Der erste Versuch blieb 3 Wochen
in Gang, die Lampe brannte Tag und Nacht. Es stellten sich
während dieser Zeit keine Unterschiede an den Hautstücken in den
476 Secerov, Über einige Farbenwechselfragen.
verschiedenen Farben ein. Nur einmal (6 Tage nach Beginn)
waren innerhalb der gelben Pıgmentzellen des Gelb- und
namentlich des Rotpräparates zahlreiche rote Tröpfchen
zu erkennen, deren rote Farbe aber 3 Tage später wieder
vollständig verschwunden war. Ebensolche Tröpfchen traten
im zweiten Versuche ım Blaupräparat und an einem Hautstück,
das sich im Dunkeln hielt, auf. Nach 12 Tagen erschien das
Rotpräparat, makroskopisch betrachtet, eine Spur mehr
rötlich als die drei anderen, dem Lichte ausgesetzten Hautstücke,
es war aber mit dem im Dunkeln aufbewahrten Hautstücke genau
gleich gefärbt.
Ich setzte ferner noch zweimal Hautstücke, ın denen die
farbigen Pigmente durch Alkohol gelöst waren und welche auf
Objektträgern unter Deckgläschen, an drei Seiten mit Wachs um-
randet, in Wasser eingelegt waren, in dem Kästchen dem farbigen
Lichte aus.
Beim ersten Versuche schien nach 7 Tagen das Rot-
präparat bei makroskopischer Betrachtung etwas mehr
rötlich als dieanderen Präparate. Die mikroskopische Unter-
suchung ergab, dass sie diesem Hautstücke mehr expandierte Melano-
phoren vorhanden waren als ın den anderen; nur die expan-
dierten Melanophoren verfärbten sich aber bei der Zer-
setzung rötlichgelb, während die kontrahierten dunkel
blieben. Zwischen den expandierten Melanophoren des Rot-
präparates und denen der anderen Hautstücke ließ sich mikro-
skopisch kein Unterschied erkennen. Nach 12 Tagen erschien
das Gelbpräparat bei makroskopischer Betrachtung gelb-
lich, das Rot- und Blaupräparat in gleicher Weise,
schwach rötlich im Vergleich mit dem dem weißen Lichte
ausgesetzten Hautstücke.
Im Mikroskop sah man, wo zufällig Falten in den Hautstücken
vorhanden waren und wo man also durch eine dieckere Hautschicht
blickte, dass diese Differenzen auf eine diffuse Färbung in der
Haut zwischen den Melanophoren zurückzuführen war. An diesen
selbst waren keine Unterschiede zu bemerken. Als ich nun den
Versuch nochmals in genau gleicher Anordnung aufstellte, war
wieder nach 8 Tagen das Rotpräparat eine Spur mehr
rötlichgelb als die anderen, infolge einer diffusen Ver-
färbung zwischen den Melanophoren. Nach drei weiteren
Tagen war das Gelb- und Weißpräparat genau ebenso verfärbt“
(p. 207209).
Überblickt man diese Resultate, so sind sie, nach Frisch,
nicht danach angetan, von der Existenz einer mechanischen Farben-
anpassung im Sinne Wiener’s an toten Hautstücken von Fischen
zu überzeugen. „Wir werden vielmehr, solange keine bessere Be-
Secerov, Über einige Farbenwechselfragen. ATT
weisgründe vorliegen, auf eine derartige Annahme verzichten
müssen,“ sagt Frisch.
Wenn wir aber diese Versuche näher analysiereu, so werden
wir sehen, dass sie ebensowenig für wie gegen dıe Annahme sprechen.
Die Frisch’schen ersten Versuche, ohne Schott’sche Gläser,
verliefen negativ aber doch nicht ganz, denn „die dem Sonnen-
lichte ausgesetzten expandierten Melanophoren ver-
färbten sich gelblich, während sie im Dunkeln schwarz
blieben“ (p. 207).
Frisch führt diese Verfärbung auf Verwesung zurück; nun ist
doch die Frage zu beantworten, warum tritt die Verwesung und
Färbung nicht im Dunkeln ein? K.v. Frisch hat diese Frage nicht
aufgestellt und nicht beantwortet. Übrigens sind keine näheren
Angaben über die Versuchsbedingungen vorhanden und man ist nicht
ın der Lage, die Versuche näher zu analysıeren. Aus der zu sum-
marischen Behandlung dieser Versuche kann man nichts über die
Temperatur, Lichtverhältnisse (Lichtmengen zu verschiedenen Jahres-
zeiten sind doch verschieden) ete. entnehmen.
Die Versuche mit Schott’schen Gläsern sind von Frisch aus-
führlicher behandelt und ich habe sie mit seinen eigenen Worten
wiedergegeben.
Der erste Versuch gibt nach 6 Tagen positives Resultat (in
Gelb- und namentlich ın Rotpräparate zahlreiche rote Tröpf-
chen). Das Verschwinden beweist nichts gegen die Wirkung des
farbigen Lichtes, sondern ist höchstens ein Beweis der Unbeständig-
keit, Unfixiertheit des Farbstoffes.
Der zweite Versuch war vorzugsweise negativ: Ebensolche (rote)
Tröpfehen traten ım Blaupräparate und ım Dunkeln auf; aber
Frisch gibt hier keine näheren Angaben über den Zeitpunkt des
Erscheinens.
Das Positive des zweiten Versuches besteht darin, dass das
Rotpräparat, makroskopisch betrachtet, eine Spur mehr rötlich er-
scheint als die drei anderen, dem Lichte ausgesetzten Hautstücke,
aber es ist gleichgefärbt mit dem ım Dunkeln aufbewahrten Haut-
stücke.
Wenn wir den Wert dieser von Frisch selbst angegebenen
Tatsachen erwägen, so sehen wir, dass das Positive der Versuche,
nämlich Gleichfärbung, rote Tröpfehen im Rot- und Gelbpräparate
im ersten und das „mehr makroskopische Rötliche* des Rotpräpa-
rates im zweiten Versuche über das Negative, nämlich rote Tröpf-
chen im Dunkel- und Blaupräparate überwiegt. Denn wenn man
nicht annimmt, dass das mehr Rötlichwerden des Rotpräparates
nicht als Wirkung der roten Lichtstrahlen entstanden ist, so ist
man doch zweifelhaft darüber, woher das größere Quantum kommt?
Die negativen Ergebnisse sollen später erläutert werden.
4185 Secerov, Über einige Farbenwechselfragen.
Die zwei weiteren Versuche ergeben folgendes:
Der erste Versuch: Positiv, Rotpräparat makroskopisch
betrachtet nach 7 Tagen mehr rötlich als die anderen Präparate;
mikroskopisch sind expandierte Chromatophoren rötlichgelb, die
kontrahierten dagegen dunkel, beweist gar nichts gegen die Wir-
kung der farbigen Strahlen, denn in den kontrahierten Melanophoren
sind die Pigmente zusammengedrängter, die Pigmentschicht dicker,
also die Wirkung ın der Zeit muss verschieden sein.
K. v. Frisch erklärt das makroskopisch mehr Rote des Rot-
präparates durch die größere Menge der expandierten Melanophoren
und ın diesem Sinne wirkte das gleichfarbige Lieht zuerst expan-
dierend und dann tritt nach Frisch bei der Verwesung die röt-
lich-gelbe Färbung ein.
Nun entsteht die Frage: kann das rote Licht eine größere
Menge der Melanophoren in Hautstücke zur Expansion bringen ?
Ist dieser Vorgang wahrscheinlich und stützen ıhn die Angaben
aus der Literatur! Vom Standpunkte K. v. Frisch’s, der die Farben-
we. bselreaktionen der blinden Fische, Pfrillen, Karauchen, Flussbarsche
auf Vermittlung des Pinealorgans?) oder der epithelialen Auskleidung
des Zwischenhirnventrikels zurückführen will, ist diese schweigende
Annahme, die doch die Grundanlage seiner Erklärung bildet, un-
wahrscheinlich. Für uns ist eine elektive Wirkung der Lichtstrahlen
auf den Expansıonszustand der Melanophoren ebenfalls unbewiesen
und infolgedessen betrachten wir das mehr Rötlichwerden des Rot-
präparates als eine Folge der Bestrahlung mit rotem Lichte.
Das Positive des ersten Versuches besteht weiter ım folgenden:
nach 12 Tagen erschien das Gelbpräparat bei makroskopischer
Betrachtung mehr gelblich, das Rotpräparat schwach rötlich,
und das Negative, dass auch das Blaupräparat rötlich erschien.
K. v. Frisch führt die Entstehung dieser Erscheinungen auf die
diffuse Färbung in der Haut zwischen den Melanophoren zurück.
Nun entsteht die Frage, wie kann durch eine diffuse Färbung beim
(Gelbpräparat das Gelbliche, und bei einem Rotpräparate das höt-
liche entstehen? Und noch die weitere Frage, warum entsteht
eben beim Gelbpräparate die gelbliche Färbung und beim Rot-
präparate die rötliche? Sind diese Gleichfärbungen durch die diffuse
Färbung in der Haut zwischen den Melanophoren wirklich be-
wiesen? Die diffuse Färbung und ihre Wirkung sind also sehr hypo-
thetisch, das Problem der Entstehung der Gleichfärbung oder Homo-
chromie wird verschoben.
Das Positive des zweiten Versuches der zweiten Versuchsserie
besteht ım folgenden: nach 8 Tagen ist das Rotpräparat eine
3) Beiträge zur Physiologie der Pigmentzellen in der Fischhaut.
Arch. f. ges. Phys. Bd. 138, 1911, p. 319—387.
a
Secerov, Über einige Farbenwechselfragen. 479
Spur mehr rötlichgelb als die anderen, infolge einer diffusen
Verfärbung zwischen den Melanophoren; das Negative: nach 3 Tagen
war das Gelb- und Weıißpräparat ebenso verfärbt.
Wenden wir uns nun zur Erklärung der negativen Ergebnisse
K. v. Frisch’s.
1. K. v. Frisch hat zuerst ohne Lösung des gelben Pigments
gearbeitet, denn wir finden keine näheren Angaben in der Arbeit;
darum war die Wirkung auf seine Glyzerinpräparate auf dem
roten, orangeroten, dunkelgelben, hellgelben, schwarzen und weißen
Glanzpapier undeutlich oder ergebnislos.
2. Wie er das gelbe Pigment gelöst hat, setzte er die Haut-
stück in eine feuchte Kammer, deren Boden und Wände mit dunkel-
gelbem, hellgelbem, schwarzem und weißem Glanzpapier beklebt
war; bei diesen Versuchen hat er eine gelbliche Färbung konstatiert,
aber auch an allen; jedoch keine ausführliche Beschreibung, keine
näheren Angaben über Versuchsbedingungen.
3. Versuche mit Schott’schen Gläsern hat Frisch zuerst ohne
Lösung der gelben Pigmente aufgestellt, denn er sagt „Nur einmal
(6 Tage nach Beginn waren innerhalb der gelben Pigment-
zellen etc.“ (p. 208).
4. Das gilt ebenso für den zweiten Versuch, wo also das
Dunkelpräparat gleichgefärbt war mit dem Rotpräparat. Aus den
Angaben K. v. Frisch’s ist nicht zu entnehmen, ob er die Pig-
mente gelöst hat oder nicht; es ist also die Möglichkeit der anfäng-
lichen Unterschiede nicht ausgeschlossen.
5. Bei der zweiten Versuchsserie waren die farbigen Piginente
durch Alkohol gelöst. Bei dieser war die Wirkung auch die klarste.
Das Gelbpräparat war gelblich, das Rotpräparat rötlich,
und negatıv verlief die Wirkung, dass das Blaupräparat und Weiß-
präparat sich auch rötlich bezw. rötlichgelb verfärbten.
6. Die Zersetzung geschieht bei intensivem Lichte, ın den
Frisch’schen Versuchen mit Schott’schen Gläsern war die Licht-
intensität nicht sehr groß.
Ich habe zuerst an Glyzerinpräparaten ohne Untergrund, also
dem entsprechen die Frisch’schen Weißpräparate, und Frisch hat
an Blaupräparaten und anderen, unter unsicheren Versuchsbedin-
gungen konstatiert, dass eine Tendenz der Melanophoren zum Zer-
fall vorhanden ist, die sich darın äußert, dass dıe Melanophoren,
wenn sie nicht farbig belichtet werden, eine rötlich oder rötlich-
gelbe, nach mir dunkelbraune Färbung annehmen. Es scheint
die Wirkung der farbigen Lichtstrahlen darin zu be-
stehen, dass einzelne Phasen dieses von der Umgebung
unabhängigen Zerfalls durch die Lichtstrahlen fixiert
werden. Diese Fixierung ist an die gleiche Färbung ge-
bunden. Es ist jedoch verständlich, dass die Bildung, Zerfall und
480 Secerov, Über einige Farbenwechselfragen.
Fixierung des Farbstoffes nicht in das Unendliche ın einem aus-
geschnittenen Hautstücke vor sich gehen kann, einfach darum,
weil das Stück abstirbt. Bei der Absterbung verfärben sich die
Melanophoren dunkelrotbraun, und die Farbe ıst wohl zu unter-
scheiden von den durch die Lichtstrahlen entstandenen Farben.
Die hier vorgetragene Auffassung stützt sich auf die bisherigen
Beobachtungen und erklärt am vollständigsten die bisher beob-
achteten Tatsachen.
Es folgt aus den bisherigen Darlegungen:
1. Es besteht eine Tendenz der Melanophoren zum Zerfallen
an ausgeschnittenen Hautstücken ; dieser äußert sich im Verschwinden
der schwarzen Farbe und Annehmen einer dunklen, rotbraunen oder
gelbbraunen Farbe;
2. die Versuche von K. v. Frisch widerlegen keineswegs die
Entstehungsmöglichkeit der farbigen Pigmente aus den schwarzen,
sondern sprechen vielmehr zugunsten derselben (II. Versuchsserie,
2. Versuch);
3. die Entstehung der Homochromie nach der hier vorgetragenen
Auffassung schließt keineswegs andere Faktoren aus, sondern dient
dazu, um einen ganzen unverständlichen Komplex von Erscheinungen
dem Verstehen näher zu bringen;
4 die Homochromie auf dem Wege der Entstehung der farbigen
Pigmente wird auch durch andere Faktoren gestützt, besonders
durch die Menge des Pigments, über welche Erscheinungen im
folgenden Abschnitte berichtet wird.
Die zersetzende Wirkung des Lichtes auf die Melanophoren
ist keineswegs eine isolierte Erscheinung. Ich führe hier R. Du-
boıs*) an: „La lumiere exerce egalement une action destructive
sur beaucoup de pigments, particulierement sur le rouge retinieu
ou erythropsine. Ce pigment se forme a l’obscurite, dans le fond
de P’ouil et desparait a la lumiere, ce qui permet d’obtenir sur
la retine des photographies, aux quelles on a donne le nom
d’optographies, d’optogrammes et quı peuvent etre fixees
avec lalun.*“ Die Wirkung der Strahlen ist verschieden; die der
roten ist null, sie wird erhöht durch die grünen und erreicht die
höchste Wirkung durch die blauen.
2, Über die Mengen des Pigments bei der Farbenanpassung.
Man hat bisher den Farbenwechsel fast nur vom pbysikalisch-
physiologischen Standpunkte untersucht. In dieser Hinsicht haben
die Arbeiten Pouchet’s den größten Einfluss geübt. Die experi-
4) Action de la lumitre sur les animaux. — Trait@ de Physique Bio-
logique publ. sous la Dir. D’Arsonsval, Gariel, Chauveau, May, Weiss. Paris 1903.
T. II, p. 272—294.
Secerov, Über einige Farbenwechselfragen. 481
mentelle Prüfung auch der anderen Faktoren wurde fast gar nicht
geprüft und man begnügte sich mit theoretischen Annahmen. Den
größten Einfluss hätte noch die Temperatur auf Farbwechsel und
Pigmentbildung, und ın dieser Hinsicht ıst wichtig die Beobachtung
von Standfuß°), dass die Färbung varıabler Puppen bei
einer gewissen Temperatur von der Farbe des Unter-
srundes abhänge. Denn, nach Standfuß lieferten Raupen von
Vanessa cardui L, welche sich bei 440° C., und solche von Va-
nessa articae L., die sich bei + 37° C., die in einem beiderseits mit
weißen Leinen bespannten, dem vollen Tageslicht ausgesetzten Holz-
rahmen verpuppten, Puppen von annähernd weißer Totalfärbung;
bei — 18 bis 28° 0. dagegen ergaben sich Puppen von natürlichem
graubraunen Kolorit. Die Beobachtung von Standfuß zeigt, dass
eine Homochromie, die ın diesem Falle entweder auf Bildung oder
Hemmung der Bildung der Pigmente beruht, auch von der Tem-
peratur abhängig ist. Das ist vom chemischen Standpunkte fast
selbstverständlich, aber doch ıst es nützlich, das auch hier zu be-
tonen.
Wenn die farbigen Strahlen eine Wirkung auf die Bildung
der gleichfarbigen Pigmente ausüben, so müssen nach einer ge-
wissen Zeit Unterschiede in der Pigmentmenge sich einstellen. Ich
habe in der Nemachilus-Arbeit festgestellt, dass ın den meisten
Fällen die jeweilig vorhandene makroskopische Farbe durch die
gleichgefärbten Pıgmente bedingt ist und schwarzes Pigment, also
Melanophoren, bedingen nur eine dunklere oder hellere Tönung der-
selben Farbe durch dıe Kontraktion oder Expansion.
Die Menge des Pigmentes zu prüfen war ich nicht imstande,
weil die Zahl der Versuchstiere bei einzelnen Farbversuchen zu
gering war.
Ich werde aber einige Angaben aus den Arbeiten K.v. Frisch’s®)
entnehmen.
„Ob der Aufenthalt ın den verschiedenen Farben Unterschiede
in der Menge des gelben Pıgments zur Folge hatte, darüber konnte
ich nicht ganz ins Reine kommen. Es war auffallend, dass in
der Epidermis bei den meisten (5) Gelbtieren das gelbe
Pigment etwas reichlicher war als beı den Grün- und
Kontrolltieren. Doch war in einem Falle umgekehrt das Gelb-
tier sehr arm an gelbem Epidermispigment im Vergleich zum Grün-
und Kontrolltier. Auch war keine deutliche Steigerung dieses
Unterschiedes im Laufe der Monate zu beobachten. In der oberen
und unteren Kutesschicht konnte ich in zwei Fällen keinen Unter-
5) Handbuch der paläarktischen Großschmetterlinge, 1896. Weiter
P. Bachmetjev, Exper. Entomologische Studien, II. Bd., Sophie 1907.
6) Über die farbige Anpassung der Fische. — Zool. Jahrb. Abt. f. allg.
Zool. u. Phys., Bd. 32, 1912.
482 Sederov, Über einige Farbenwechselfragen.
schied in der Menge des gelben Pigments zwischen den drei Gruppen
bemerken; ın einem Falle schien das Kontrolltier etwas reicher, in
einem anderen Falle umgekehrt etwas ärmer an gelbem Pigment
als das Grün- und Gelbtier, in zwei letzten Fällen (nach 22 Wochen)
schien das gelbe Pigment der beiden Grüntiere etwas
blasser als das der anderen Tiere“ (p. 202). Diese Angaben gelten
für die blinden Pfrillen (Phoxinus laevis). Für sehende Pfrillen
sind keine Angaben, wahrscheinlich wegen der kurzen Versuchs-
dauer, gemacht.
Über die an (sehenden) Orentlabrus gewonnenen Resultate sagt
K.v. Frisch: „Ob in der Menge des in den Chromatophoren ent-
haltenen Pigments Unterschiede bestanden, ließ sich nicht fest-
stellen. Jedoch hatte es den Anschein, als wenn der diffuse blau-
grüne Farbstoff in grünem Lichte vermehrt wurde. Denn
in zwei von den bisher besprochenen drei Fällen waren
beim Grüntier die Gewebe stärker blaugrün als beim Rot-
und Kontrolltier, was nach Entfernung der Haut an der
Körpermuskulatur deutlich zu erkennen war“ (p. 211).
Über die Versuche an blinden Orenilabrus berichtet Frisch
folgendermaßen: „Je zwei Individuen von (renilabrus roissali waren
2 und 3 Wochen im Versuche und blieben während dieser Zeit
untereinander gleichgefärbt. Dagegen waren von je zwei Indivi-
duen der Varietät gwinguemaculatus (von ca. 8 cm Länge) nach
1—2 Wochen die Rottiere an Körper und Flossen mehr röt-
lich, die Grüntiere mehr grünlich gefärbt als die Kon-
trolltiere; der Unterschied war lange nicht so stark wie bei den
sehenden Tieren. Das Rottier der einen Gruppe starb nach 2 Wochen
und ich kann daher über den Expansionszustand seiner Pigment-
zellen nichts aussagen; doch ergab ein Vergleich mit dem zuge-
hörigen getöteten Grüntiere, dass das Rottier reicher an roten
Pigmentzellen war. Die anderen drei Tiere wurden nach 16tägigem
Aufenthalte in den Farbaquarien fixiert. Die mikroskopische Unter-
suchung ergab, dass zwischen drei Fischen kein Unterschied
ım Expansionszustande der bunten Pigmentzellen (Melano-
phoren waren sehr wenige vorhanden) bestand, sie waren überall
stark expandiert. Dagegen besaß das Rottier sehr zahlreiche
rote Pigmentzellen, beim Kontrolltier waren sie etwas weniger
intensiv gefärbt, beim Grüntier sehr spärlich vorhanden“ (p. 213).
Aus den an blinden Orenilabrus gewonnenen Resultaten folgt also,
dass die farbigen Lichter auf den Kontraktionszustand der
Pigmentzellen keine Wirkung ausüben. Diese Tatsache be-
stätigt unsere Anschauung, dass keine elektive Wirkung der Strahlen
auf den Expansionszustand der Chromatophoren vorhanden und
dass infolgedessen die größere Menge der rötlichgelben Chromato-
phoren nicht auf die Expansionstätigkeit oder irgendeinen Expansions-
Secerov, Über einige Farbenwechselfragen. 483
reiz der roten Strahlen zurückzuführen ıst, sondern auf andere
Faktoren; es ist also die mehr rötliche Farbe des Rotpräparates
im ersten Versuche der zweiten Versuchsserie vom Standpunkte
K. v. Frisch’s unverständlich.
Es folgt ferner also, dass die Anpassung von blinden Oreni-
labrus roissali an Grün und Rot durch die Differenzen in der
Menge des gleichfarbigen Pigments zurückzuführen seı.
K. v. Frisch ıst mit der Erklärung dieser Erscheinung ganz
unsicher; er versucht sie auch nicht zu deuten. Denn ın der Zu-
sammenfassung findet man in dieser Arbeit zwei ganz wider-
sprechende Sätze; K.v. Frisch stellt zuerst eine allgemeine Schluss-
folgerung, die aber sofort in den folgenden Sätzen durch die von
ihm selbst beobachteten Tatsachen widerlegt werden. Frisch sagt
(p. 2 u. 4) für Orenilabrus roissali: „Auch hier bleibt die Reaktion
bei blinden Tieren völlig (?) aus. Ob die Anpassung an die Be-
leuchtungsfarbe, welche im geringeren Grade auch bei einigen
blinden Individuen von (renilabrus roissali zu beobachten war, durch
Unterschiede in der Pıgmentmenge verursacht als Zufall oder
als Einfluss des farbigen Lichtes auf die Pigmentbildung aufzufassen
ist, muss angesichts der geringen Zahl der Versuchstiere (je zwei
positive gegenüber drei negativen Fällen im roten und grünen Lichte)
dahingestellt bleiben.“
Es ıst sonderbar, dass K. v. Frisch für die Pfrillen sagt, dass
ein Einfluss der Farben auf die Pigmentbildung nicht nachzu-
weisen war, wo doch er selbst festgestellt hat, dass bei den meisten(5)
Gelbtieren der blinden Pfrillen ın der Epidermis das
gelbe Pıgment etwas reichlicher war als bei den Grün-
und Kontrolltieren.
Es kann kein Zufall sein, wenn weiter der blaugrüne Farbstoff
im grünen Lichte bei sehenden Crentilabrus roissali vermehrt worden
war. Für sehende Pfrillen hat Frisch einfach darum keine An-
gaben gemacht, weil sie zu kurze Zeit (6 Wochen) im Versuche
waren.
Es kann weiter kein Zufall sein, dass die Rottiere reicher an
roten Pigmentzellen waren als die Kontrolltiere.
Frisch hat also selbst entweder an blinden oder an
sehenden Fischen die Vermehrung des gelben, roten und
blaugrünen Pigments konstatiert. Wir sind nicht imstande,
diese wiederkehrende Tatsache als einen Zufall anzunehmen, ein-
fach darum, weil die Erscheinung nicht in allen Exemplaren prä-
gnant und sehr klar war.
Über die Vermehrung des Pigments bei der Farbenanpassung
finden wir Angaben in einer weiteren Arbeit von K. v. Frisch’),
7) Über die Farbenanpassung des Crenilabrus. — Zool. Jahrb. Abt. f.
allg. Zool. u. Phys., Bd. 33, p. 151—164.
AS4 Secerov, Über einige Farbenwechselfragen.
obwohl diese Angaben betreffend der blinden Tiere, wegen der
geringen Zahl und zu kurzer Versuchsdauer zu unvollständig sind,
als dass man daraus so bestimmte negative Schlüsse ziehen kann,
wie es K. v. Frisch getan hat. Die Angaben dieser Arbeit sind
aber wertvoll, weil es nach der Auffassung des Verfassers selbst
ganz eindeutig eine Vermehrung des blaugrünen Pigments bei der
Farbenanpassung stattfindet.
Die Ergebnisse der vorjährigen Versuche fasst Frisch folgender-
maßen zusammen (p. 152): „Urentlabrus roissali wurde nach wenigen
Tagen ım roten Lichte rötlich, im grünen grün und zwar durch
entsprechende Änderung des Kontraktionszustandes seiner roten
und gelben Pigmentzellen, die sich bei Aufenthalt im roten Licht
stark expandierten (sehende!), ım grünen Licht stark kontrahierten
und dann die blaugrüne, durch einen diffusen Farbstoff bedingte
Grundfarbe des Körpers zur Geltung kommen ließ. Es hatte den
Anschein, als würde ım grünen Lichte auch der diffuse braun-
grüne Farbstoff vermehrt und die Anpassung dadurch noch ver-
stärkt, doch war das Material zu umfangreich, um Zufälligkeiten
auszuschließen. Bei blinden Tieren blieben diese Reaktionen und
somit eine deutliche Anpassung an die Beleuchtungsfarbe vollständig
aus, doch schien es, als wäre der Aufenthalt der blinden
Tiere im farbigen Lichte auf die Pıgmentbildung nicht
ohne Einfluss geblieben, als wären doch Andeutungen
einer Farbanpassung auch bei den blinden Tieren durch
Änderung der Pigmentmenge zu bemerken; es waren nach
1—2 Wochen zwei von den fünf ım roten Licht gehaltenen Tieren
etwas mehr rötlich, zwei von fünf ım grünen Licht gehaltenen Tieren
etwas mehr grünlich als die entsprechenden Kontrolltiere, und die
Untersuchung ergab, dass diese Unterschiede auf Differenzen
in der Menge der roten Pıgmentzellen zurückzuführen
wären.
Die neuen Versuche ergaben (p. 155—56): „Crentlabrus ocellatus
reagiert also im allgemeinen auf rotes, gelbes und grünes Licht im
gleichen Sinne durch Expansion seiner roten und gelben Pıgment-
zellen, doch tritt die Reaktion nicht regelmäßig ein. Im blauen
Licht erfolgt eine deutliche Anpassung, indem der Fisch
seine Piıgmentzellen stark kontrahiert. Ich habe noch hinzu-
zufügen, dass ın der Hälfte der Fälle (3 von 6) dıe Anpassung
noch dadurch gefördert war, dass der diffuse blaugrüne
Farbstoff, der die Haut und den ganzen Körper des Orenilabrus
durchsetzt, im blauen Licht vermehrt worden war. Es war
dies deutlich zu erkennen, wenn man den Fischen die Haut abzog
und die Farbe des Fleisches verglich. Es erschien dann das Fleisch
der Blautiere mehr bläulich oder sogar stark blaugrün, im Vergleich
mit dem blassbläulichen Fleisch der übrigen Tiere. Bei einem
Secerov, Über einige Farbenwechselfragen. 485
Fisch war die Zunahme des blauen Farbstoffes schon im Leben
unzweifelhaft zu erkennen, da er an den Wurzeln der ventralen
Flossen viel lebhafter blau war als die anderen Fische, während
zu Beginn des Versuches kein solcher Unterschied bestanden hatte.“
Über die Vermehrung des blaugrünen Farbstoffes bei Orenilabrus
roissali gibt Frisch folgendes an (p. 158): „Bei zwei Grüntieren
und bei sämtlichen Blautieren war der diffuse blaugrüne
Farbstoff stark vermehrt, was nach Entfernung der Haut an
der Färbung des Fleisches deutlich zu erkennen war. ... Im Vor-
jahre waren beim Abschluss der Versuche bei keinem der drei Rot-
tiere, jedoch zweien der drei Grüntiere, die Gewebe auffallend reich
an dem blaugrünen Farbstoff gewesen. Man muss also an-
nehmen, dass bei (renvlabrus roissali im blauen Licht regel-
mäßig, im grünen Licht oft der blaugrüne Farbstoff in
den Geweben vermehrt wırd.“ Frisch fragt sich dann, worauf
ist dies zurückzuführen? Ist dies eine direkte Wirkung des farbigen
Lichts? „Weder im Vorjahre noch heuer war, wie ich gleich vor-
wegnehmen will, bei einem der blinden Tiere auch nur eine Spur
einer Vermehrung des fraglichen Farbstoffes im blauen oder grünen
Lieht zu bemerken“ (p. 158). Diese Behauptung ist einfach un-
richtig, denn erstens K. v. Frisch hat überhaupt die blinden Oreni-
labrus roissali (siehe oben das Zitat) in kein blaues Farbaquarium
gegeben und zweitens „waren von je zwei Individuen der Varietät
quingquemaculatus (von ca. 8 cm Länge) nach 1—2 Wochen die Rot-
tiere an Körper und Flossen mehr rötlich, die Grüntiere mehr
grünlich gefärbt als die Kontrolltiere“ (p. 213, farbige Anpassung
der Fische). Frisch spricht von einer Vermehrung von roten
Pıgmentzellen bei den Rottieren; über den blaugrünen Farbstoff
macht er keine Angaben. Wenn wir aber daran denken, dass nach
der Auffassung von K.v. Frisch der blaugrüne Farbstoff bei den
Grüntieren oft erscheint und dass die „regelmäßige“ Vermehrung
des blaugrünen Farbstoffes bei Crenilabrus ocellatus nur in der
Hälfte der Fälle (3 von 6) deutlich war; wenn wir denselben Maß-
stab auch auf die blinden Tiere anwenden, so konnte die deutliche
Vermehrung des blaugrünen Farbstoffes nur in einem Falle (2 Ver-
suchstiere) erscheinen; wenn wir aber weiter berücksichtigen, dass
die Anpassung bei den blinden Tieren nicht mit physiologischen
Farbenwechselfaktoren (Gesichtswahrnehmungen, Nervensystem, Ex-
pansionszustände etc.) kombiniert und verstärkt worden war und
die Versuchszeit nur 1—2 Wochen dauerte, so erhellt sich der wahre
Wert der Frisch’schen Behauptung.
Auf Grund dieser falschen Annahme — die auch übrigens
durch die Beobachtungen Frisch’s an Pfrillen (Vermehrung des
gelben Pigments) —, dass keine Vermehrung des blaugrünen Farb-
stoffes in blinden Tieren erfolgt, komnit Frisch zum Schlusse, dass
XXXII. 32
486 Sederov, Über einige Farbenwechselfragen.
das Funktionieren der Augen eine conditio sine qua non der Ver-
mehrung des Pigments sei.
Über die Wirkung des Funktionierens der Augen stehen nach
Frisch zwei Möglichkeiten: entweder die Wahrnehmung des Blau
resp. Grün bewirkt direkt (durch Vermittlung des Nervensystems)
eine Zunahme des blaugrünen Farbstoffes; oder die Zunahme ist
eine Folge der andauernden Kontraktion der roten und gelben
Pigmentzellen, also indirekt durch die Gesichtswahrnehmungen aus-
gelöst. Dass diese beiden Annahmen auf sehr schwachen Grundlagen
beruhen, wird aus folgenden Fragen klar werden. Wie kann aus den
gelben oder roten Pigmentzellen durch Kontraktion der blaugrüne
Farbstoff gebildet werden? Und zweitens, wie kann die Wahr-
nehmung des Blau, ein psychophysiologischer Vorgang, die Ent-
stehung der blaugrünen Farben, des blaugrünen Pigments, also
einen chemischen Vorgang bewirken? Bei dieser Annahme ist es
das Unbegreifliche, nicht die Auslösung des chemischen Vorganges
selbst, sondern die Beherrschung der Farbe des chemischen Vor-
ganges, des blaugrünen Pigments durch die psychophysiologische
Tätigkeit der Wahrnehmung.
Es ist die Pflicht des Forschers, wenn er eine Annahme auf-
stellt, sie auch etwas näher zu beleuchten und irgendwie mit den
bekannten Erscheinungen in irgendeine Beziehung zu bringen. Hat
die Beherrschung der Farbe der chemischen Stoffe durch Gesichts-
wahrnehmungen in den Organismen ein Analogon? Soweit mir be-
kannt ist, gibt es Vorgänge dieser Art nicht.
Wir wollen die Annahmen nicht weiter zergliedern, weil sie
auch keine Bedeutung haben. —
Wir glauben, dass wır berechtigt sind, folgendes zu schließen:
1. dass der Nachweis der Entstehung der farbigen Pigmente
aus den schwarzen durch die Frisch’schen Versuche keineswegs
widerlegt sind;
2. dass die genauesten Versuche von K. v. Frisch (2. Versuch,
Il. Versuchsserie m Schott’schen Gläsern) zugunsten der gleich-
farbigen Zersetzung der schwarzen Pigmente sprechen;
3. dass die Beobachtungen K.v. Frisch’s über die Vermehrung
der gleichfarbigen Pıgmentmenge bei der Farbanpassung zugunsten
der mit Beleuchtungsfarbe gleichfarbigen Zersetzung der schwarzen
Pigmente spricht;
4. dass K. v. Frisch eine Vermehrung des gelben Pigments
bei blinden Pfrillen in gelber Umgebung, des roten bei den blinden
Orentlabrus und des blaugrünen Pigments bei Ürenilabrus roissali
und ocellatus konstatiert hat;
5. dass die Erklärungen K. v. Frisch’s über die Vermehrung
des gleichfarbigen Piıgments auf so schwachen Grundlagen beruhen,
dass sie kaum diskussionsfähig sind;
Kornfeld, Uber Kiementransplantationen an Salamanderlarven. AST
6. dass die Konstatierung der Vermehrung, wie überhaupt der
Zersetzung der schwarzen Pigmente von sehr vielen Umständen
abhängt (Temperatur, mögliche Sensibilitätsperiode, Lichtmenge,
verschleiernde Wirkung der physiologischen Faktoren des Farben-
wechsels), deren einzelne Wirkungsweise zu ermitteln die Aufgabe
der Zukunft ist.
Über Kiementransplantationen an Salamanderlarven.
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Werner Kornfeld.
(Aus der Biologischen Versuchsanstalt in Wien, zoologische Abteilung.)
Im September 1912 schlug mir Dr. Eduard Uhlenhuth vor,
im Anschluss an seine Augentransplantationen an Salamandra
maculosa Kiementransplantationen an demselben Objekte zu ver-
suchen. Die Experimente sollten zeigen, ob auch transplantierte
Kiemen in ähnlicher Weise vom Wirtstier beeinflusst werden, wie
transplantierte Augen, ob auch hier eine synchrone Metamorphose,
d. h. eine gleichzeitige Umwandlung des transplantierten Organes
mit dem wirtseigenen unabhängig vom Alter des Transplantates
erfolge. Die Versuche ergaben schon jetzt positive Resultate, die
hier kurz mitgeteilt werden sollen. Eine genaue Beschreibung ein-
zelner Fälle und Wiedergabe meiner Protokolle behalte ıch mir
vor, bis einige noch nicht abgeschlossene und einige noch neu auf-
zustellende Versuchsreihen durchgeführt sein werden.
Wie die Fragestellung, so schloss sich auch die Operations-
technik in allen wesentlichen Punkten der der Uhlenhuth’schen
Augentransplantationen an. Es wurden stets rechte und linke
Kiemen eines Tieres auf zwei verschiedene andere übertragen. Für
die Operation wurde nach verschiedenen Orientierungsversuchen
die Nackengegend gewählt. Das Transplantat wurde meist so auf-
gelegt, dass die frei abstehenden Kiemenenden nach rückwärts ge-
richtet waren.
Eine erste Serie von Experimenten umfasste Vorversuche über
die Kiementransplantationen im allgemeinen. Es zeigte sich, dass
ein Verwachsen des Transplantates leicht und schnell erfolgt. Doch
war sein weiteres Verhalten nicht so günstig, wie man es nach
den Uhlenhuth’schen Augentransplantationen erwarten durfte.
Während dort auf eine kurze Periode der Rückbildung meist eine
Wiederaufdifferenzierung erfolgt, ließ sich bei den transplantierten
Kiemen wenigstens makroskopisch nur eine Rückbildung feststellen.
Diese betraf vor allem die Fiedern der Kiemen, die nach 3—4
Wochen meist ganz verschwunden waren, in geringerem Maße aber
auch die Kiemenstämme. Hierin trat aber bald ein Stillstand ein.
4 Wochen nach der Operation bot das Transplantat meist folgendes
32*
488 Kornfeld, Uber Kiementransplantationen an Salamanderlarven.
bis zur Metamorphose unverändert bleibendes Bild: Hinter
einer Aufwölbung stehen die drei verschieden langen, manchmal
noch schwach gezackten Kiemenstämme frei ab. Eine bisher nur
ganz oberflächlich durchgeführte anatomische Untersuchung ergab,
dass die Aufwölbung außer Muskulatur, Bindegewebe, Knorpel-
stücken vom Kiemenbogen, Drüsen und Blutgefäßen in allen unter-
suchten Fällen auch die, wie es scheint, stets mitübertragene
Thymus enthält. Ihr Verhalten wird noch genauer zu prüfen sein.
Die Kiemenstämme zeigen ein normales Bild: Vom Epithel um-
schlossenes straffes Bindegewebe mit spärlichen Muskelzügen. Über
den wichtigsten Punkt: Verlauf von Blutgefäßen, kann ich noch
kein Urteil abgeben. Das Transplantat, das sich nach der anfäng-
lichen Fiederrückbildung in einigen Fällen schon bis zu 8 Monaten
scheinbar unverändert erhielt, muss vom Wirtstier mit Blut ver-
sorgt werden. Wie diese Versorgung stattfindet, ıst eine noch
offene und sehr schwer zu entscheidende Frage. Es wäre vielleicht
daran zu denken, dass gerade eine ungenügende Blutzufuhr die
Wiıederaufdifferenzierung der Fiedern verhindere. Da die Kiemen
ihrer Funktion entsprechend viel mehr Blutzufuhr brauchen, als
etwa das Auge, könnte man vielleicht daran denken, die fehlende
Wiederaufdifferenzierung der eigentlich funktionellen Teile mit
einem Ausfallen des funktionellen Reizes ın Zusammenhang zu
bringen. Doch liegt bisher keine Tatsache vor, die eine solche
Deutung unterstützt.
Eine zweite Versuchsserie sollte zeigen, ob erstens ein Stutzen
der eigenen Kiemen einen Einfluss auf das Verhalten des Trans-
plantates hat, und zweitens ob ein Stutzen des Transplantates etwa
durch Schaffung einer freien Wundfläche Regeneration und Wieder-
aufdifferenzierung herbeiführen könne. Positive Resultate wurden
hier noch nicht erzielt, doch ist jedenfalls noch das Ergebnis einer
Wiederholung dieser Versuche abzuwarten.
Als wichtigste Versuche wurden in einer dritten Serie Transplan-
tationen zwischen verschieden alten Tieren durchgeführt. Es zeigte
sich, dass nicht nur überhaupt eine Metamorphose des Transplan-
tates stattfindet, sondern dass diese auch tatsächlich unabhängig
vom Alter des Transplantates genau gleichzeitig mit der Metamor-
phose des Wirtstieres erfolgt. Die Metamorphose des Transplantates
äußert sich in einer plötzlich einsetzenden, raschen und vollständigen
Rückbildung der bis zur Metamorphose des Wirtstieres (oft bis zu
8 Monaten) unverändert erhalten gebliebenen Kiemenstämme des
Transplantates. Beweisend scheint mir beispielsweise eine Anzahl
von Fällen, bei denen von etwa 5 Wochen alten frühlarvalen Tieren,
die von der Rückbildung ihrer Kiemen noch Monate entfernt waren,
die eine Kieme auf ein gleich junges, die andere auf ein 5—6 Monate
altes, nahe vor der Verwandlung stehendes Tier übertragen wurde.
Kornfeld, Uber Kiementransplantationen an Salamanderlarven. >3s4
Nach der Transplantation zeigte sich wie immer erst eine sofortige
langsame Rückbildung der Fiedern und dann ein Stillstand. Dieser
Vorgang spielte sich je in den beiden auf verschieden alte Tiere
verpflanzten Kiemen eines Tieres in genau gleicher, auf den Tag
übereinstimmender Weise ab, bis das ältere Tier in Metamorphose
trat, was sich in starker Häutung, Rückbildung des Ruderschwanzes
und der eigenen Kiemen äußerte Genau zur selben Zeit trat
innerhalb von 1 —4 Tagen eine vollständige Rückbildung der Kiemen-
stämme des Transplantates ein, während auf dem jüngeren Tier
das bis dahin sich genau gleich verhaltende Transplantat weiter
unverändert blieb, bis das jüngere Tier in Metamorphose trat. Auch
der umgekehrte Fall wurde untersucht und brachte die entsprechenden
Resultate. Er zeigte, dass auch ein Hinausschieben der Verwand-
lung des Transplantates durch Überpflanzung auf ein jüngeres Tier
erzielt werden kann, so wie in dem besprochenen Fall eine be-
schleunigte Metamorphose erreicht wurde. Auch die genau syn-
chronen Metamorphosen der Transplantate aus der ersten und
zweiten Serie können zur Stützung der Tatsachen herangezogen
werden.
Die Rückbildung der Kiemenstämme am Transplantat begann
immer in den letzten 1—3 Tagen des Wasserlebens der Tiere und
war m den ersten 1--3 Tagen ihres Landlebens vollendet. Die
Rückbildung der eigenen Kiemen beginnt meist schon längere Zeit
vor dem ans Land gehen der Tiere und geht nun an Stämmen und
Fiedern gleichzeitig vor sich. Worauf die Verschiedenheit ın der
Zeit und in der Art der Rückbildung zurückzuführen ist, lässt sich
heute noch nicht angeben. Vielleicht werden hierüber, sowie über-
haupt über die Frage der Kiemenrückbildung und auch über die
Frage, warum es’ bei der Kiementransplantation nicht zu einer
Wiederaufdifferenzierung der Fiedern kommt, schon eingeleitete
Versuche über das verschiedene Verhalten normaler und transplan-
tierter Kiemen im Wasser und im feuchten Raum Aufschluss bringen.
Meme bisherigen Resultate lassen sich folgendermaßen zu-
sammenfassen:
Die Transplantation der Kiemen führt zunächst zu
einer langsamen Rückbildung der Fiedern, die unab-
hängig vom Alter des Transplantates und vom Alter des
Wirtstieres gleich nach der Operation erfolgt. Die Rück-
bildung der Kiemenstämme, die wir als den Ausdruck
der Metamorphose des Transplantates betrachten dürfen,
erfolgt unabhängig vom Alter des Transplantates genau
synchron mit der Metamorphose des Wirtstieres.
490 Ballowitz, Das Verhalten der Kerne bei der Pigmentströmung ete.
Das Verhalten der Kerne bei der Pigmentströmung in
den Erythrophoren von Knochenfischen.
Nach Beobachtungen an der lebenden Rotzelle von Maullus.
Mit 5 Textfiguren.
Von E. Ballowitz in Münster i. W.
In einer Mitteilung, welche kürzlich ın Nr. 5 des 33. Bandes
dieses Biologischen Centralblattes erschienen ıst, habe ich!) über
Beobachtungen berichtet, welche die Kerne der Melanophoren der
Knochenfische betrafen. Ich stellte an dem von mir untersuchten
Objekt fest, dass die Zellkerne durch die Pigmentströmung nicht
beeinflusst werden, vielmehr ın ihrer ursprünglichen Lage, oft weit
ab von der zusammengeballten Pıgmentmasse, verbleiben. Da die
Kerne nun nicht frei ım Gewebe liegen können, vielmehr vom
Zellprotoplasma umgeben sind, so folgt daraus weiterhin, dass auch
das Chromatophorenprotoplasma bei der Pıgmentströmung an Ort und
Stelle liegen bleibt. Die Ausbreitung und Zusammenballung des
Pigmentes kann daher nicht dadurch verursacht werden, dass die
Chromatophoren, gleich Amöben, pigmenthaltige Fortsätze aus-
streckten und wieder einziehen, vielmehr handelt es sich hierbei
um Pigmentverlagerungen, ein Ausströmen und Zurückströmen der
Pigmentkörnchen ın dem unverändert persistierenden Protoplasma.
Durch meine Feststellungen am lebenden Objekt kam ich zu der
Überzeugung, dass die Körnchenströmung innerhalb feiner Kanälchen
mit kontraktiler Wandung stattfindet, die ın großer Zahl und in
radıärer Richtung das Chromatophorenprotoplasma durchziehen.
Diese Beobachtungen machte ich an einem äußerst günstigen
Objekt, welches gestattete, die intrazellulären Pıgmentströmungen
viele Stunden lang zu beobachten?). War doch bıs jetzt die Pig-
mentströmung an den lebenden Chromatophoren erwachsener
Knochenfische ın voller Intensität bisher von niemand gesehen
worden.
Ein ähnlich günstiges Objekt fand ich nun bei einem kürz-
lichen Studienaufenthalte an der zoologischen Station in Neapel ın
den Erythrophoren der Seebarben, Maullus barbatus L. und Meullus
surmuletus L., auf. Da ich den Bau und die Bewegungserschei-
1) E. Ballowitz, Das Verhalten der Zellkerne bei der Pigmentströmung in
den Melanophoren der Knochenfische. (Nach Beobachtungen am lebenden Objekt.)
Mit 8 Textfiguren. Biolog. Centralbl. Bd. XXXIII, Nr. 5, 20. Mai 1913
2) Vgl. hierüber auch: E. Ballowitz, Über chromatische Organe, schwarzrote
Doppelzellen und andere eigenartige Chromatophorenvereinigungen, über Chromato-
phorenfragmentation und über den feineren Bau des Protoplasmas der Farbstoffzellen.
Mit Demonstrationen und kinematographischer Vorführung der bei Ölimmersion
aufgenommenen Körnchenströmung in den Chromatophoren. Vortrag, gehalten auf
der 27. Versammlung der Anatomischen Gesellschaft in Greifswald, 10.—13. Mai 1913.
Verhandlungen der Anatomischen Gesellschaft. G. Fischer, Jena 1913.
Ballowitz, Das Verhalten der Kerne bei der Pigmentströmung ete. 491
nungen dieser eigenartigen Zellen ın einer demnächst im Archiv
für mikroskopische Anatomie erscheinenden Abhandlung?) schildern
werde, möchte ich im Anschluss an meine oben zitierte Mitteilung
hier nur das Verhalten der Kerne bei der Pigmentströmung nach
Beobachtungen an der lebenden Pigmentzelle berühren.
Die Erythrophoren von Mellus sınd relativ kleine, sehr zier-
liche, stark abgeplattete, dünne Farbstoffzellen, welche in der Leder-
haut parallel der Hautoberfläche ausgebreitet liegen. Ihr Pigment
ist im ausgebreiteten Zustande von schöner, hellziegelroter Färbung.
Von einer kleinen zentralen Scheibe strahlen ausgesprochen keil-
förmige Fortsätze aus, deren Zahl aber nur gering ıst. Eigentüm-
lich an diesen Zellen ıst, dass nur ein einziger, ziemlich großer
Kern in einer jeden Zelle vorhanden ist und dass dieser Kern ganz
peripher ım äußeren Abschnitt eines Fortsatzes liegt.
Ist das Pigment ausgebreitet, so tritt der Kern als heller, aus-
gesparter Fleck sehr deutlich hervor. Stellt man die obere oder
die untere Oberfläche des abgeplatteten Kernes ein, so sieht man,
dass auch diese von Körnchenreihen des radıär ausgebreiteten Pig-
mentes bedeckt sınd, mithin der Kern ringsherum von dem pig-
menthaltigen, kanalisierten Protoplasma umgeben wird.
Ballt sich das rote Pıgment zusammen, so konzentriert es sich
in einer relativ kleinen, dunkelroten Scheibe, ın welcher keine
Spur des Kernes zu erkennen ist.
Die Ausbreitung und Ballung des Pigmentes finden nun bei
diesen Mullus-Zellen sehr schnell, momentan, statt und folgen sich
in dem bei starker Ölimmersion unter Beobachtung stehenden Prä-
parat häufig aufeinander.
Man überblickt daher wiederholt an ein und derselben Zelle
alle Stadien der Ausdehnung und Ballung des Pigmentes und stellt
auf das leichteste fest, dass das Pigment stets ın dieselben Fort-
sätze hineinschießt, und dass der Kern dabei seine ursprüngliche
Lage bewahrt. Die Fortsätze zeigen jedesmal dieselbe Größe und
Form. Wenn das Pigment in sie hineinströmt, so umbrandet es
förmlich den Kern, der dabei in derselben Zelle stets in gleicher
Lage und gleicher Form angetroffen wird.
Diese Rotzellen zeigen daher bei Beobachtung am lebenden
Objekt auf den ersten Blick auf das deutlichste, dass Protoplasma
und Kern bei den Pigmentströmungen formbeständig sind und an
ihrem Platze verbleiben.
Fig. 1a demonstriert eine solche Rotzelle von Malluıs mit
5 breitkeilförmigen Fortsätzen, in welchen sich das Pigment in
3) E.Ballowitz, Über die Erythrophoren in der Haut der Seebarbe, Mullus L.,
und über das Phänomen der momentanen Ballung und Ausbreitung ihres Pigmentes.
Nach Beobachtungen an der lebenden Zelle. Mit 2 Tafeln. Arch. f. mikroskopische
Anatomie, 1913.
492 Ballowitz, Das Verhalten der Kerne bei der Pigmentströmung etc.
radiären Körnchenreihen ausgebreitet hat. In der peripherischen Hälfte
eines Fortsatzes macht sich der Kern als rundlicher, ausgesparter,
heller Fleck geltend. Fig. 1b führt uns das andere Extrem vor.
2 2 Pla
Fig. 2a.
Das Pigment ist jetzt zu einer kleinen Scheibe mit deutlicher Sphäre
zusammengeballt und hat sich völlig von dem Kern zurückgezogen.
Der letztere ist in größerer Entfernung von der Pigmentscheibe
als zart umrandeter Kreis deutlich erkennbar. Seine Entfernung
Ballowitz, Das Verbalten der Kerne bei der Pigmentströmung etc. 403
vom Mittelpunkt der Sphäre ıst genau dieselbe geblieben wie bei
ausgebreitetem Pigment.
Das gleiche zeigen uus die Figuren 2a und b. In Fig. 2a
erblicken wir einen Erythrophor mit nicht vollständig ausgebreitetem
Pigment. Seine Fortsätze grenzen sich nicht deutlich voneinander
ab, wie es bisweilen vorkommt. An einer Stelle ganz peripher ist
der Kern noch ringsherum von Pigment umgeben und als helle,
ovale, relativ große Stelle sehr auffällig. Fig. 2b daneben illustriert
dieselbe Zelle mit völlig zusammengeballtem Pigment. Auch hier
ist der Kern sehr deutlich und in genau derselben Lage befindlich,
die er in der Zelle bei ausgebreitetem Pigment hat, wie die Mes-
sung ergibt. So oft sich nun die Pigmentzelle unter dem Mikro-
skop ausbreitet und zusammenzieht, bleiben die Zahl und Form der
Fortsätze, ebenso wie die Lage des Kernes doch stets die gleichen.
GERT
an...
Fig. 3. Fig. 4.
Das Liegenbleiben des von Pigment völlig entblößten Kernes
beweisen auch die Figuren 3—5.
Die gesamte Pigmentmasse hat sich in diesen Figuren zu einer
etwas unregelmäßig begrenzten Scheibe konzentriert, in welcher der
zentrale Sphärenfleck und eine radıäre Struktur zu erkennen sınd. In
größerer Entfernung ist bei jeder Pigmentscheibe der zu dem be-
treffenden Chromatophor gehörige Zellkern festzustellen. Das war
in den Präparaten ein ganz regelmäßiger Befund.
Die roten Mullus-Zellen liefern daher noch viel leichter und
schöner als die Melanophoren den Beweis, dass die Chromato-
phoren formbeständig sind. und die Formveränderungen ihrer Pig-
mentmassen durch Aus- und Zurückströmen der Pigmentkörnchen
in den mit dem Kern persistierenden Zellfortsätzen hervorgerufen
werden. In betreff der eigenartigen Bewegungserscheinungen dieser
Mudllus-Zellen, welche ich auf Strömen der Pigmentkörnchen ın
radıären Kanälchen und Kontraktion ihres Wandungsprotoplasmas
zurückführe, verweise ich auf meine oben angeführte Abhandlung.
h
494 Erhard, Beitrag zur Kenntnis des Lichtsinnes der Daphniden.
Beitrag zur Kenntnis des Lichtsinnes der Daphniden.
Von H. Erhard.
(Aus der Kgl. Augenklinik zu München.)
Bekanntlich bewegen die Daphnien ıhr Auge der einfallenden
Lichtquellezu. Nun fand v. Heß (2,5), dass diese Augenbewegungen
bei Anwendung farbiger Lichter „ın den hier wesentlichen Punkten
eine solche Abhängigkeit von der Wellenlänge des Lichtes zeigten,
wie es der Fall sein muss, wenn die relativen Helligkeiten der ver-
schiedenen farbigen Lichter für das Daphnienauge ähnliche oder
die gleichen sind, wie für das total farbenblinde Menschenauge
(l. e., S. 634). Bei diesen Untersuchungen benützte v. Heß farbige
Glaslichter und spektrale Lichter.
Nachdem v. Heß (4) zunächst für Onlex-Larven gezeigt hatte,
dass sogar das von farbigen Papierflächen zurückgeworfene Licht
zu solchen Lichtsinnversuchen verwendet werden kann, stellte ich
auf den Rat von Herrn Geheimrat v. Heß an Simocephalus Ver-
suche mit solehen farbigen Flächen an. Es sollte versucht werden,
ob auch mit dieser so einfachen, von jedermann leicht nachkon-
trollierbaren Methode verwertbare Resultate an Daphniden erzielt
werden könnten.
Vor den Versuchen wurden die farblosen Helligkeitswerte der
farbigen Flächen durch Beobachtung mit gut dunkel adaptierten
Augen bei entsprechend herabgesetzter Belichtung festgestellt.
Außerdem wurden sie noch einem total farbenblinden Jungen vor- '
gelegt.
Die mikroskopische Beobachtung der unter dem Einfluss farbiger
Lichter auftretenden Augenbewegungen geschah auf zweierlei Weise:
1. Das Mikroskop wurde allseitig von schwarzer Pappe um-
geben, die nur auf einer Seite einen Ausschnitt hatte. Vor diesen
wurden abwechselnd farbige Flächen!) unter annnähernd konstantem
Winkel zur Lichtquelle (helles Fenster) so gehalten, dass sie das
Himmelslicht auf die Mitte des Objektträgers zurückwarfen. Die
an dieser Stelle in einer Aushöhlung des Objektträgers unter Deck-
glas befindlichen Tiere befanden sich in Seitenlage. Nur frische
Tiere erwiesen sich als völlig geeignet.
2. Sind. die Tiere so gerichtet, dass sie der einfallenden Licht-
quelle zugekehrt sind, so erfolgt bei raschem Ersetzen einer hell-
grauen durch eine dunkelgraue Fläche ein Abwenden des Auges.
Das Auge wird nach oben zurückgedreht. Umgekehrt wird das Auge
wieder zur einfallenden Lichtquelle gewendet, wenn die dunkel-
1) Es waren dies Kartons von 11,5 em Breite und 14 cm Höhe, überzogen mit
mattfarbigen Pigmentpapieren. Die grauen Papiere stammten von H. Mitter, Leipzig,
Neumarkt, die andersfarbigen von G. A. Rietzschel, Leipzig, Kreuzstraße 12. Es
waren also die gleichen, die Hering — zu seinen Farbgleichungen benützt hatte.
Erhard, Beitrag zur Kenntnis des Lichtsinnes der Daphniden. 415
sraue durch die hellgraue Fläche ersetzt wird. Beides geschieht,
wie es v. Heß (3) S. 633, Fig. 8 und 9 abbildet. Wir wollen, dem
Vorgange von v. Heß folgend, die erstere Bewegung als Ver-
dunklungsbewegung, die letztere als Erhellungsbewegung bezeichnen.
Belichtet man das Tier von rückwärts oben, so ıst der Vor-
gang natürlich umgekehrt. Bei Verdunklungsbewegung wird das
Auge nach vorn abwärts, bei Erhellungsbewegung nach rückwärts
aufwärts gedreht.
Wir wollen im folgenden, um Verwechslungen zu vermeiden,
stets die Bewegungen bei Belichtung von vorn schildern.
Belichtete ich das Auge mit einer blauen und dann einer für
den farbentüchtigen Menschen heller roten Fläche, so erfolgte den-
noch bei Erscheinen von Rot Verdunklungsbewegung. Bei Er-
setzen der roten durch eine blaue Fläche trat bei Erscheinen der
letzteren Erhellungsbewegung ein. Abwechselnd Ersetzen von Rot
durch Hellgelb hatte bei Erscheinen von Rot Verdunklungsbewegung
zur Folge, ebenso von Rot durch Grün. Ein für mich helles Gelb
abwechselnd mit einem für mich dunkleren Grün ergab trotzdem
Verdunklungsbewegung in Gelb und umgekehrt. In dieser Weise
wurden zahlreiche verschiedene Kombinationen versucht.
Eine zweite Versuchsanordnung war die, dass große (35 : 40 cm)
mattfarbige Flächen gleicher Herkunft, die das Himmelslicht reflek-
tieren sollten, nicht mit der Hand vorgehalten wurden, sondern
beweglich zum Auf- und Abziehen in einem Gestell nach Art einer
Guillotine waren. Das reflektierte Licht wurde in diesem Fall nicht
auf die Tiere direkt, sondern durch eine Öffnung der das Mikro-
skop umgebenden schwarzen Pappe auf den Spiegel des Mikroskops
und von diesem auf die Tiere gerichtet. Das Ergebnis war das
gleiche. 5
Als nun dem total Farbenblinden die einzelnen Farbenflächen
vorgehalten wurden, entsprachen seine Aussagen in allen Punkten
genau dem an Simocephalus ermittelten. Besonders bemerkenswert
war auch hier, dass er die rote Fläche als „schwarz“ erklärte, da-
gegen eine für mich dunklere blaue als „viel heller“. Ebenso war
für ıhn das dunklere Grün heller als das hellere Gelb, ja, ein noch
dunkleres Grün als das benutzte kam ihm immer noch etwas heller
vor als das benützte Gelb. Ein schönes leuchtendes Rot war für
ıhn „fast gleich“ einem ihm vorgehaltenen tatsächlichen Schwarz u.s. w.
All dies entsprach ganz der zuerst von E. Hering (1) fest-
gestellten Tatsache, dass die Helligkeitswerte der verschiedenen
farbigen Lichter für den total Farbenblinden andere sind wie beim
Normalen. Die Helligkeitswerte der Farben für den Normalen
steigen von der Grenze des Ultraviolett bis zum Gelb und sinken
dann bis zur Grenze des Ultrarot; für den total Farbenblinden
steigen sie am kurzwelligen Ende bis zum Gelbgrün an und sind
496 Prell, Über zirpende Schmetterlingspuppen.
bereits im Rot stark verkürzt. Dieses Verhalten ist stets für den
total Farbenblinden, und zwar nur für ıhn bezeichnend, wie die
Erfahrung lehrt. Hätten die Daphniden einen dem unsrigen irgend-
wie vergleichbaren Farbensinn, so müssten die Augenbewegungen
bei verschiedenfarbiger Belichtung ın durchaus anderer Weise ver-
laufen, als es ın der Tat der Fall war.
Es lehren also auch diese Untersuchungen mit Pig-
mentpapieren, dass die Helligkeitswerte der verschie-
denen farbigen Lichter für das Daphnidenauge die
gleichen oder mindestens sehr ähnliche sind wie für das
Auge des total farbenblinden Menschen.
Herrn Geheimrat v. Heß, ın dessen Institut und unter dessen
Leitung diese Versuche ausgeführt wurden, möchte ıch auch an
dieser Stelle für sein großes Entgegenkommen, seine Hilfsbereit-
schaft und seine Ratschläge meinen verbindlichsten Dank sagen.
München, Juni 1913.
Literaturverzeichnis.
1. Hering, E. Untersuchung eines total Farbenblinden. Arch f.d. ges. Physiol.,
3d. 49, 1891.
2. Heß, ©. Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren.
Arch. f. d. ges. Phys., Bd. 136, 1910.
3. — Gesichtssinn. In: Handbuch der vergleichen: Jen herausgeg.
v. H. Winterstein. Jena, G. Fischer, 1912, 21. Lieferung.
4. — Neue Untersuchungen zur vergleichenden Phy on des Gesichtssinnes.
IV. Untersuchungen über den Lichtsinn der Larven von (ulex nemorosus.
Zool. Jahrb. Abt. f. allg. Zool. u. Phys., Bd. 33, Heft 3, 1913.
Über zirpende Schmetterlingspuppen.
Von Dr. Heinrich Prell.
(Aus dem Zool. Institut der kgl. Forstakademie Tharandt.)
Mit 5 Figuren.
Beim Ausräumen eines Zuchtglases, in welchem Raupen von
Zephyrus quercus L. aufgezogen und zur Verpuppung gebracht
wurden, fiel dem Präparator des hiesigen zoologischen Institutes,
Herrn Herpig, ein feines „piependes“ Geräusch auf. Der Ton
konnte nur von den auf dem Tische liegenden Puppen ausgehen,
und in der Tat ließ er sich sehr deutlich wahrnehmen, wenn man
dieselben in der hohlen Hand ans Ohr hielt.
Da genauere Angaben über eine derartige Lautäußerung nicht
vorliegen und ihr Vorhandensein auch biologisch einiges Interesse
beanspruchen dürfte, erbat und erhielt ich eine der Puppen zur
Untersuchung. Im folgenden soll nun das Ergebnis mitgeteilt und
eine Schilderung des tonerzeugenden Apparates gegeben werden.
Die Raupe von Zephyrus quercus verpuppt sich auf dem Boden
im Laube ohne Anheftung an festen Gegenständen. Die braune,
Prell, Über zirpende Schmetterlingspuppen.
497
schwarzgesprenkelte Puppe (Fig. 1) erinnert im Habitus stark an
eine Heterocerenpuppe. Sie ist ziemlich kurz und diek, ohne irgend-
welche Prominenzen, und besonders auf der Dorsalseite mit sehr
kurzen pinselförmigen Borsten besetzt, zwischen denen in der Nähe
der Stigmen auch längere morgensternförmige Borsten auftreten.
Sehr bemerkenswert ist es, dass die Puppe scheinbar völlig unbe-
weglich ist, da ihr die Fähigkeit
des „Schlagens“, welche anderen
Puppen zukommt, abgeht. Rösel
erklärte sie daher für starr, und,
soviel ich sehen kann, ist diese
Ansicht noch nicht aufgegeben
worden.
Betrachtet man bei schwa-
cher Vergrößerung die Puppe,
so findet man, dass die Anein-
anderfügung der Hinterleibsringe
an ihr nicht überall gleichartig
ist. Während für gewöhnlich die
Segmente ganz fest miteinander
verkittet sind, klafft auf der
Dorsalseite, ventralwärts allmäh-
lich verschwindend, zwischen dem
5. und 6. Segmente ein deutlicher
feiner Spalt. Wenn irgendwo, so
musste hier also die Schallquelle
zu suchen sein, denn dass es
sich um Stridulation handeln
müsse, war von Anfang an zu
erwarten.
Die Puppe wurde nun durch
leichte Berührung oder durch
Anhauchen zur Stridulation ver-
anlasst. Noch bei der Betrachtung
mit starker Lupenvergrößerung
ließ sich keine Bewegung im Ge-
biete des Stridulationsspaltes be-
merken.
Fig. 1.
von Z.quereus2 (X 8,3). A— Abdominal-
segmente. At — Antenne. Au — Auge.
Seitliche Totalansicht der Puppe
B — Beine. Fl — Flügel. K — Kopf.
Mx& — Maxille. $ti — Stigma. Str —
Stridulationsspalte. T — Thorakal-
segmente.
Erst unter Anwendung 60facher Binokularvergrößerung
und bei dorsaler Aufsicht sah man deutlich, dass die hintere Hälfte
des Abdomens ganz schwach gegen die vordere gehoben und ge-
senkt, beziehungsweise herangezogen und losgelassen wurde. Gleich-
zeitig mit diesen Bewegungen konnte man die einzelnen Stöße des
Zurptones unterscheiden.
Hierauf wurde die Puppe seziert und die einzelnen Inter-
segmentalbezirke genauer untersucht.
498 Prell, Über zirpende Schmetterlingspuppen.
Dabei zeigte es sich, dass die „starren“ Intersegmentalverbin-
dungen sich durch leichten Zug lösen ließen (Fig. 2). Dann trat
zwischen den beiden dicken braunen, mit borstentragenden Chitin-
leisten skulpierten Hauptschuppen eine glashelle Interskleritalhaut
hervor, welche sehr zarte, in unregelmäßigen Reihen angeordnete
Spinulae trägt. Nach den Rändern zu werden die Spinulae etwas
gröber und mögen hier mit zur Verankerung der beiden Platten
aneinander beitragen. In der Mitte der Interskleritalhaut findet
A
4 A,—
Im
Sp—
ce BB 62 & e
a0 0°, 50° VOW on? a5 v
3.56% . ® NE Rp r
= Irre ag
© Mg
a
Fig. 2. Fig. 3. Fig. 4.
Fig. 2. Intersegmentalbezirk zwischen 4. (A) und 5. (A) Abdominalsegment. Ps —
Präsegmentalleiste (X 100).
Fig. 3. Intersegmentalbezirk zwischen 5. (A) und 6. (A) Abdominalsegment. Ps —
Präsegmentalleiste. Rp — Reibplatte. Sp — Schrillplatte (X 100).
Fig. 4. Querschnitt durch den a) 4.:5., b) 5.:6. Intersegmentalbezirk. Lm — Längs-
muskel. Rp — Reibplatte. 5» — Schrillplatte.
sich eine undeutlich begrenzte Chitinspange, welche der dorsalen
Längsmuskulatur zum Ansatze dient und als Präsegmentalleiste zu
identifizieren ist. Im Querschnitte der nicht gelockerten Segment-
verbindung (Fig. 4a) sieht man die fest aufeinander gepressten
Hauptplatten und die taschenförmig dazwischen eingestülpte Inter-
skleritalhaut mit dem an der Präsegmentalleiste ansetzenden Longi-
tudinalmuskel.
Etwas anderes ist das Bild an der Stridulationsspalte (Fig. 3).
Hier nimmt das Chitin am Hinterrande der 5. Hauptschuppe zu-
nächst an Dicke ab und ist mit verstreuten gröberen Zähnchen be-
setzt. Wenig weiter hin treten dann die Spinulae dicht aneinander,
Prell, Über zirpende Schmetterlingspuppen. 499
das Chitin wird stärker, und es entsteht ein schmales, nach hinten
ziemlich scharf begrenztes rauhes Band, welches die Schrillplatte
bildet. Hierauf folgt eine Zone dünnen Chitins mit feinen Spinulae,
welche in der Mitte die muskeltragende Präsegmentalleiste enthält.
Nach hinten zu verdickt sich das Chitin allmählich, die Spinulae
werden größer, treten dicht zusammen und es bildet sich so eine
in der Aufsicht allerdings nur teilweise sichtbare Reibplatte, welche
direkt in die leistenbesetzte Hauptplatte des 6. Segmentes über-
geht. Im Querschnitt der
etwasauseinandergezoge-
nen Stridulationsspalte
(Fig. 4b) sieht man, dass
der schräg von vorn nach
hinten geneigten Schrill-
platte die ebenso gerich-
tete Reibplatte gegenüber
liegt, und man kann deut-
lich erkennen, wie durch
den Zug der Längs-
muskulatur die Rücken.
schuppe des 6. Segmentes
über den Hinterrand der
vorangehenden hinaufge-
schoben wird, wobei dann
die beiden zahntragenden
Platten übereinander gleı-
ten und den Stridula-
tionston hervorbringen.
Verfolgt man die
Schrillplatte nach den
Seiten zu, so findet man Re | 2 | |
ee liaherallals anı SE 3. ulerrard u nen in
5 : 3 3 er Höhe des Stigmas.. (Il — borstentragende
nähernd gleich breit blei- (itinleisten. Ps — Präsegmentalleiste. Sp —
bendes Band. Lateral Schrillplatte. Sti -— 5. Abdominalstigma (X 100).
steigt sie ebenfalls ziem-
lich weit herab, um schließlich in der Höhe des Stigmas aufzuhören
(Fig. 5). Die Grenzen der Reibplatte sind weniger scharf um-
schrieben.
Die Erzeugung des Tones scheint hauptsächlich in den Seiten-
teilen des Apparates zu erfolgen. Als auslösender Faktor für die
Stridulation wirkt jede Beunruhigung der Puppe. Die Stärke des
Tones gleicht anfangs nahezu dem eines Spargelhähnchens (Crio-
ceris asparagi), ım Laufe der Entwickelung lässt sie aber, ent-
sprechend der zunehmenden Steifheit der Puppe, allmählich nach,
so dass der Ton später nur noch schwierig wahrzunehmen ist. Über
>00 Pell, Über zirpende Schmetterlingspuppen.
den mutmaßlichen Zweck lassen sich keine sicheren Angaben machen.
In Betracht käme vielleicht die Abschreekung von Feinden, was
in Anbetracht der Schwäche des Tones wenig wahrscheinlich ist,
oder auch die Anlockung anderer Raupen der gleichen Art zum
Zweck der bei Lycaeniden häufigen geselligen Verpuppung, die
wiederum eine gewisse Garantie für sichere Befruchtung bieten würde.
Bei der Durchsicht der Literatur schien es zunächst, als ob
die Stridulation von Schmetterlingspuppen noch nicht bekannt ge-
worden sei. Wenigstens enthalten die neueren zusammenfassenden
Arbeiten über tonerzeugende Apparate (Berlese, Prochnow)
keinen Hinweis darauf. Im weiteren Verfolg aber zeigte sich, dass
die Hervorbringung von Tönen durch Schmetterlingspuppen schon
sehr lange bekannt ıst, ohne allerdings genauer untersucht zu sein.
Der erste, welcher darüber berichtet, ist Kleemann, der in
seiner Natur- und Insektengeschichte von 1774 des knorrenden Ge-
räusches gedenkt, welches die Puppen von Callophrys rubi L. von
sich geben. Ein volles Jahrhundert später entdeckte unabhängig
davon Schild wiederum bei (©. rubi die Fähigkeit zu zirpen, als
er eine größere Anzahl davon auf einen Bogen Papier ausschüttete.
Er versuchte auch, eine Erklärung für das Entstehen des Tones zu
geben. Da er keine Bewegung an der Puppe wahrnehmen konnte,
kam er auf die „anthropomorphistische“ Deutung des Tones als
eines Blasetones, hervorgerufen durch den Aus- und Eintritt von
Luft durch die Stigmen. Damit suchte er auch das Verstummen
des Tones bei Benetzung der Puppen zu erklären, da eine lebhaftere
Atmung stattfinde, wenn die Puppe trocken liege. Während der
Ausfall des Tones bei Benetzung wohl nur durch das Eindringen
von Wasser in die Stridulationsspalte verursacht wird, ist die Deu-
tung des Tones als Blaseton sicher verfehlt. Einmal sind die Tra-
cheen der Puppe viel zu spärlich und entbehren der erforderlichen
starken Muskulatur, und dann ist kaum das Vorhandensein von
zwei verschiedenen Tonapparaten anzunehmen. Außer diesen beiden
Literaturangaben konnte ich, abgesehen von Zitaten nach denselben,
keine weiteren Mitteilungen über das Zirpen von Schmetterlings-
puppen finden.
Neben Z. gquerceus untersuchte ich noch eine größere Anzahl
von Th. spini Schiff. auf Lautäußerungen hin, und konnte auch
bei dieser Art ein feines Zirpen wahrnehmen. Im Gegensatz zu
Schild’s Angaben für €. rabi fand ıch hier, dass die Neigung
zum Zirpen bei dicken (weiblichen) und dünnen (männlichen) Puppen
annähernd gleich, dass sie jedoch bei dunkler gefärbten (älteren)
stets geringer als bei helleren (jüngeren) war. Im Bau stimmt der
Tonapparat mit demjenigen von Z. quercus überein.
Ist nunmehr das Stridulieren bei den Puppen der Genera
Thecla F., Zephyrus Billb. und Callophrys Dalm., das ıst bei sämt-
Pringsheim, Zur Theorie der alkoholischen Gärung. 501
lichen Gattungen heimischer Zipfelfalter, festgestellt, so erscheint
es sehr wohl möglich, dass diese Fähigkeit ein Gruppenmerkmal
bildet. Leider bot sich mir keine Gelegenheit, auch Vertreter
anderer Lycaenidengattungen ın den Kreis der Betrachtung zu
ziehen, so dass diese Frage zunächst offen bleiben muss.
Zitierte Literatur.
Kleemann, Chr. Fr. ©., Beiträge zur Natur- und Insektengeschichte, IV, 1774,
p. 123 (mir nicht zugänglich).
Schild, F.G., Miscellen (Zirpende Insektenpuppen etc.) Stett. Ent. Zeit. XXXVIII,
1877, p. 85-87 (97).
Zur Theorie der alkoholischen Gärung.
Von Priv.-Doz. Dr. Hans Pringsheim, Berlin.
Die Wandlungen unserer biologischen Anschauungen sind mit
der Entwickelung der Gärungstheorie immer eng verknüpft ge-
wesen. So hat alkoholische Gärung zu einem Kampfe über die
Möglichkeit der Urzeugung herausgefordert, der dann durch die Ent-
deckung der Hefe eine Lösung zu finden schien. Doch sollten hier
die Waffen nicht vergraben werden: denn Liebig und seine An-
hänger wollten in der Hefe nur eine Nebenerscheinung sehen, bis
ihnen durch Pasteur der Beweis geliefert wurde, dass nicht die
in den Gärflüssigkeiten enthaltenen Eiweißstoffe, sondern die Hefe-
zellen selbst für die Zerlegung des Zuckers ın Alkohol und Kohlen-
säure verantwortlich sind. Hiermit war für die Zukunft die Frage-
stellung eine veränderte geworden: sie lautete nicht mehr, ıst die
Hefe die Ursache der alkoholischen Gärung, sondern, mit Hilfe
welcher Mittel gelingt es der Hefezelle, die Zerlegung des Zuckers
zu vollziehen? Kann man, wie Moritz Traube theoretisch ge-
schlussfolgert hatte, das wirksame Prinzip der Hefezelle von ıhr
trennen und so eine „Gärung ohne lebende Zellen“ ın Tätigkeit
treten lassen? Wie allbekannt hat man sich nach der Entdeckung
der zellfreien Gärung durch Buchner bis auf den heutigen Tag
dahin geeinigt, dass .die alkoholische Gärung durch ein Ferment,
die Zymase, verursacht wird, welches sich von der Hefezelle abtrennen
lässt, und das zwar der vitalen Tätigkeit der Hefe seine Entstehung,
nicht aber seine Wirkungsweise verdankt. Stets war beobachtet
worden, dass das der Hefezelle entnommene Ferment ın bezug auf
die Zuckerzerlegung der Wirkungsweise der lebenden Hefe in qualı-
tatıver Beziehung folgt; über die quantitative Verminderung der
Gärkraft, welche das einer bestimmten Hefemenge entnommene
Ferment ım Vergleich zur Wirkungskraft derselben Menge noch
lebender Hefe entfaltet, hatte man sich wenig Sorgen gemacht,
denn man schien von vornherein wohl einen Rückgang in der Gär-
kraft getöteter Hefe zu erwarten und man glaubte genügend Gründe
für ıhn zu kennen. Auf sie wird im weiteren noch einzugehen sein.
XXXII. 33
502 Pringsheim, Zur Theorie der alkoholischen Gärung.
(Gerade hier aber sollten der jetzt herrschenden Gärungstheorie
neue Gefahren erwachsen. Mit Hilfe seines Biokalorimeters hat
Max Rubner das Problem einer neuen Bearbeitung unterzogen
und seine Ergebnisse und Schlussfolgerungen in einem „Die Er-
nährungsphysiologie der Hefezelle bei alkoholischer Gärung“ be-
titelten Buche niedergelegt. Die Messung der Wärmeproduktion
bei der Gärung gestattet ihm, mit Hilfe seiner fein ausgearbeiteten
Methodik innerhalb kurzer Zeitspannen die Verfolgung des Gär-
verlaufes, derart, dass die Hemmungen durch die Alkoholbildung nicht
in Erscheinung tritt, da sie innerhalb der Versuchszeit zu gering
ist. — Zuerst wird nun festgestellt, dass in einer gärenden Flüssig-
keit keine andere Wärmequelle nachzuweisen ist als jene, welche
aus der Vergärung des Zuckers fließt. Dieser fundamentale Satz
wird einwandsfrei bewiesen. Seine Richtigkeit dürfte feststehen,
trotzdem ın die Gärungsgleichung auch die Bildung der Bernstein-
säure neben der von Alkohol, Kohlensäure, Glyzerin und Zellulose
(Zellwandsubstanz der Hefe) einbezogen wird, während wir doch
durch die Untersuchungen von Felix Ehrlich wissen, dass die
Bernsteinsäure nicht aus dem Zucker, sondern aus einem Eiweiß-
spaltungsprodukt der Hefe, der Glutaminsäure, gebildet wird. Aber
die Bildung der Bernsteinsäure wird auf ein Mol. Traubenzucker
nur zu 1,11 kal. angesetzt, so dass der hierdurch entstehende Fehler
innerhalb der Fehlergrenzen der Methodik fällt.
Rubner schlussfolgert nun folgendermaßen: „Da kein anderer
energetischer Vorgang nachweisbar ist, muss also der Gärprozess
in seiner Totalıtät oder zum Teil Quelle der Lebensenergie sein,
deren die Hefe ebenso wie jeder sonstige Organısmus bedarf.“
Deshalb ist die Fermenttheorie in ihrer heutigen Form unhaltbar,
da wir hier bei der Hefe ausschließlich Umsetzungsvorgänge hätten,
die mit der lebenden Substanz in gar keiner näheren Beziehung
stehen, denn bei einer Fermentwirkung entsteht bei der Umsetzung
freie Wärme. Es muss also entweder die ganze Gärwärme oder
ein Teil der durch sie repräsentierten Energie als Kraftquelle für
die lebende Substanz dienen, und wir müssen zwischen rein zyma-
tischen und vitalen oder Lebensvorgängen unterscheiden. Mit
anderen Worten heisst das, da wir nicht imstande sind, die Frage
zu beantworten, wie die Hefe die durch das Ferment vermittelte
Gärwärme als Kraftquelle ausnutzt, so muss zum mindesten ein
Teil der Gärwärme nicht durch die Vermittlung des Fermentes,
sondern direkt durch die lebende Zelle produziert werden. Da-
gegen lässt sich zuerst sagen, dass wir auch dann noch nicht wissen,
wie die Hefe diesen Anteil der Gärwärme, der schließlich auch in
Gestalt freier Wärme in Erscheinung tritt, als Kraftquelle ausnützt.
Dieses Problem ist gewiss außerordentlich interessant, aber es liegt
scheinbar fürs erste noch nicht ım Bereiche einer uns zugänglichen
Pringsheim, Zur Theorie der alkoholischen Gärung. 505
Beantwortung; sind wir doch auch im Kraftwechsel höherer Lebe-
wesen in dieser Beziehung auf experimentell nicht gestützte Theorien
angewiesen: man muss entweder annehmen, dass durch die Gärung
eine Temperaturdifferenz entsteht, welche erst die Verwandlung von
Wärme in Arbeit thermodynamisch gestattet oder es gibt keine
andere Erklärung als die einer Lebensenergie, die durch den che-
mischen Prozess vorübergehend gebildet wird und deren sich die
Zelle bedient, ehe sie die Energie wieder in Gestalt von Wärme
an die Umgebung abgibt!
Rubner kommt nun auf Grund der hier geschilderten An-
schauungen zu einer dualistischen Gärungstheorie: die Gärwirkung
der Hefe zerfällt danach in zwei getrennte Prozesse, die Zerlegung
des Zuckers durch das Ferment in Alkohol und Kohlensäure und
die Zerlegung des Zuckers durch die vitale Tätigkeit der Hefe, die
zu den gleichen Endprodukten führen soll. Der ganze Mechanismus
der alkoholischen Gärung, dessen Phasen wir wenigstens zum Teil
kennen, die Bildung der Traubenzuckerphosphorsäureester ete. soll
nun durch zwei verschiedene Ursachen zu genau der gleichen Wir-
kung führen.
Ferner aber glaubt Rubner die Fermentwirkung und die vitale
Tätigkeit der Hefe auch in quantitativen Messungen bestimmen zu
können. Er argumentiert folgendermaßen: eine bestimmte Menge
lebender Hefe gibt innerhalb einer gewissen Zeit in überschüssiger
Zuckerlösung eine bestimmte Wärmetönung. Verwandle ich die-
selbe Menge Hefe in Hefepressaft, Acetondauerhefe oder töte ich
sie durch den Zusatz von Toluol, so gibt sie unter denselben Be-
dingungen eine geringere, z. B. nur 20°/, der Wärmetönung der
lebenden Hefe. Die tote Hefe soll nun die in der lebenden Hefe
vorhandene Fermentwirkungskraft zum Ausdruck bringen. Es würden
also in einem solchen Experiment 20°, der Gärwärme auf die
Zymasewirkung und der Rest von 80°, auf die vitale Tätigkeit
der Hefe entfallen. Dabei hätte zuerst schon auffallen müssen,
dass die Zymasetätigkeit je nach der Art der Abtötung der Hefe
sehr verschiedene Wärmetönungen ergeben hat: wie z. B.:
Zymasewirkung von 1 g lebender Hefe gibt Wärme
a) nach Pressaftversuchen .. . . 14 gKRal.
b)r 7,7 2 Zymnversuchen’ I.M7S 2m Fazer Kal:
c) "5 "Angaben E. Buchner’s‘. . 41 gKal.
Schon daraus folgt, dass man die in der Hefe ursprünglich
vorhandene Fermentmenge auf diesem Wege kaum messen kann.
Aber noch zahlreiche andere Gründe lassen sich dagegen an-
führen, dass man auf dem geschilderten Wege zwischen vitaler
und Fermenttätigkeit der Hefezelle unterscheidet. Erstens seien
die verschiedenen Gründe erörtert, warum nach der Ferment-
darstellung nicht die in einem gegebenen Moment in der Hefe vor-
DI %
9]
504 Pringsheim, Zur Theorie der alkoholischen Gärung.
handene Fermentmenge noch wirksam ıst. 1. Bei der Buchner’-
schen Pressaftmethode bleibt ganz gewiss ein Teil des Fermentes
ın den Pressrückständen; für andere, z. B. zuckerhydrolysierende
Fermente ist nachgewiesen, dass auf diese Weise bei Schimmel-
pilzen die ganze Fermentmenge zurückgehalten werden kann. Ferner
wird ın dem Moment, wo die Zelle durch Zerreiben gesprengt wird,
eine Vermischung ihrer Fermente einsetzen, durch die die Zymase
sofort der zerstörenden Wirkung der Eudotryptase, des eiweiß-
spaltenden Fermentes der Hefezelle ausgesetzt wird. 2. Bei der
Darstellung der Acetondauerhefe kommt das Ferment in Berührung
mit der giftigen Wirkung nicht nur des Acetons, sondern auch
des hier immer zum Trocknen verwandten Äthers. 3. Beim Töten
der Hefe mit Toluol wird die Zelle nicht gesprengt und das Toluol
ıst nach allen Erfahrungen ein sehr schwaches Fermentgift; aber
hier ist die osmotische Wirkungskraft der Zelle durch die Abtötung
vernichtet, das endozellulare Ferment kann aus der Zelle nicht
heraus, der Zucker wird nicht mehr schnell hereinbefördert und so
ıst eben die Berührung des Zuckers mit dem Ferment beein-
trächtigt, die doch eine Bedingung für eine katholytische Ferment-
reaktion sein muss.
Es sind also rein experimentelle Ursachen, welche einen Teil
der geschwächten Zuckerspaltung durch das Ferment verschulden.
Das kommt auch sehr deutlich durch folgende Tatsache zum Aus-
druck: die obergärige Hefe gıbt bekanntlich ıhr Gärferment nach
dem Buchner-Verfahren nicht oder nur in sehr geringer Menge
ab. Auch Rubner hat vergeblich versucht, aus ihr einen gär-
kräftigen Pressaft darzustellen. Im vorigen Jahre ıst es dagegen
van Laer ın Gand gelungen, mit Hilfe des Mazerationsverfahrens
von Lebedeff’s auch aus der Obergärhefe einen gärkräftigen Saft
zu gewinnen; man sieht daraus deutlich, wie stark die Varıatıon
experimenteller Bedingungen dıe Wirkungskraft der von der lebenden
Hefe abgetrennten Zymase beeinflussen kann.
In alledem sehen wir jedoch nicht die Hauptursache dafür,
dass das Ferment einer bestimmten Menge viel schwächer wirkt
als die lebende Hefe selbst. Es scheint sehr wohl möglich, dass
in gewissen Fällen die Hauptmenge der zu einer bestimmten Zeit
in der Hefezelle enthaltener Zymase auch fermentativ zur Wirkung
kommt. Wır wollen jedoch nicht „alle Wirkung durch das prä-
formierte Ferment geschehen lassen“. Auch Buehner ist gewiss
nicht der Meinung gewesen, dass diese Auslegung den Tatsachen
entspricht. Wie bei allen fermentativen Prozessen, welche durch
die lebende Zelle hervorgerufen werden, so wird sicher auch bei
der Hefe während der Gärung eine dauernde Neubildung von Fer-
ment angenommen werden müssen; diese Neubildung des Fermentes
muss in dem Augenblick sıstiert werden, in dem die Zelle durch
Pringsheim, Zur Theorie der alkoholischen Gärung. 505
Abhtötung ıhre Lebenskraft einbüßt. Die Verhältnisse sind denen
eines höheren Organısmus vergleichbar, der ın einem gegebenen
Moment eine bestimmte Menge eiweißspaltenden Fermentes ın
seinem Darmsaft besitzt; niemand wird annehmen, dass ın dieser
fermentativen Spaltungskraft die gesamte Trypsinwirkung des Orga-
nısmus während seines Lebens zum Ausdruck kommt. Wir wissen,
dass das Ferment immer neu nach Bedürfnis gebildet wird; ebenso
liegen die Verhältnisse bei der Hefe, nur auf einen kleineren Raum
und auf eine kürzere Zeitspanne zusammengedrängt.
Die vitale Lebenstätigkeit der Hefezelle besteht daher in der
geeigneten Regulation der Absonderung ihres Gärungsfermentes,
soweit die eine Funktion der Gärwirkung in Frage kommt. Ob
sich auch diese Regulierung einst von der lebenden Zelle wird
trennen lassen, ist eine ganz andere Frage, die momentan einer
mehr oder weniger nützlichen Spekulation, mit unseren bisherigen
Hilfsmitteln aber sicher keiner allein wertvollen experimentellen
Lösung zugänglich ist. Denn sie schließt die präparative Bereitung
einer lebenden Zelle ın sich, deren mögliche Erschaffung momentan
reine Glaubenssache sein muss! Der Gedanke, die vıtale Kraft
irgendeiner Zelle zu messen, ıst groß angelegt; aber er konnte im
gegebenen Falle der Lösung rein: all ah: werden — und
wir sind von dieser Möglichkeit wohl überhaupt noch sehr weit
entfernt.
Seitdem durch Pasteur bewiesen worden ıst, dass man der
Hefe ıhr Stickstoffbedürfnis mit Ammoniaksalzen befriedigen kann,
ist ihr Eiweißstoffwechsel häufig untersucht worden. Dass wachsende
Hefe ihrer Nährlösung Stickstoff entzieht, ist von vornherein klar;
etwas schwieriger ist die Frage zu beantworten, ob gleichzeitig eine
Ausscheidung von Stickstoff aus der Hefe erfolgt und vor allem,
ob der ausgeschiedene Stickstoff im weiteren Verlaufe der Gärung
wieder von der Hefe aufgenommen werden kann. Die Beantwortung
der ersten Frage gelingt einwandsfrei durch die Verfütterung von
Ammonsalzen. Die Hefe bildet nämlich bei der Vermehrung und
Gärung kein Ammoniak. Bieten wir ıhr nun Ammoniaksalze als
einzige Stickstoffquelle, so können wır analytisch feststellen, dass
im Gärprozess weit mehr Ammoniakstickstofl verschwindet, als sich
am Ende in der gebildeten Hefe vorfindet. Die Hefe hat also
während der Gärung mehr Stickstoff aufgenommen als in ihrer
Körpersubstanz vorhanden ist; folglich muss ein Teil des aufge-
nommenen Stickstoffes von der Hefe wieder ausgeschieden und an
die Nährflüssigkeit in Form von Hefeeiweißabbauprodukten abge-
geben worden sein. Der Beweis, dass dieser ausgeschiedene Stick-
stoff wieder in den Stoffwechsel der Hefe gerissen werden kann,
gelingt mit Hilfe der von F. Ehrlich entdeckten Umwandlung
06 Pringsheim, Zur Theorie der alkoholischen Gärung.
des Leueins in Amylalkohol, den Hauptkonstituenten des Fuselöls,
bei der alkoholischen Gärung. Bringen wir eine gewisse Hefe-
menge in eine stickstoffreie Zuckerlösung. so können wir in ihr
nach der Gärung Amylalkohol nachweisen. Dieser Amylalkohol
kann nur aus Leucin stammen; das Leucin aber gelangt in die
Nährflüssigkeit als ein Zerfallsprodukt des Hefeeiweißes, welches
während der Gärung in Leucin und andere Eiweißspaltungsprodukte
abgebaut worden ist. Vor kurzem habe ich durch die Totalhydro-
Iyse von Hefeeiweiß festgestellt, dass es hauptsächlich aus Leucin
und Valin besteht. Das Valin ist die Ursprungssubstanz des Iso-
butylalkohols ım Gärprozess. Es ıst demnach nicht erstaunlich,
dass beim Zerfall des Hefeeiweißes gerade diese Produkte in die
Gärflüssigkeit gelangen, die daraufhin weiter zu Fuselöl vergoren
werden. Ferner spricht dafür auch folgender Versuch: wir bieten
der Hefe bei minimaler Einsaat einen großen Zuckerüberschuss
und sehr wenig Leucin. Nach Verlauf der sehr langsamen Gärung
finden wir dann 200°/, der gebotenen Menge Leucin an Amylalkohol
in der Gärflüssigkeit wieder. Die Erklärung dieses Befundes ist
folgende: das Leucin wurde von der Hefe aufgenommen und in
Amylalkohol gespalten, hierbei wırd der stickstoffhaltige Anteil des
Leucins ın Hefeeiweiß verwandelt, denn das Leucin dient der Hefe
ja als Stickstoffquelle. Das so gebildete Hefeeiweiß gibt wieder
Leucin an die Lösung ab, welches wiederum in Amylalkohol ge-
spalten wırd, wobei von neuem Stickstoff zur Verfügung der Hefe
gestellt wird. Und so zirkuliert die geringe Menge Stickstoff, die
wir ın Gestalt von Leucin geboten haben, bis aller Zucker vergoren
ıst von der Nährlösung in die Zelle, aus der Zelle in die Lösung
u. Ss. f. in einem Kreisprozess, wodurch der Beweis erbracht wird,
dass der von der Hefe ausgeschiedene Stickstoff immer von neuem
zum Ansatz gelangen kann.
Auch dies wird von Rubner auf Grund energetischer Betrach-
tungen geleugnet. Er berechnet:
1 Molekül Leucin bildet 855,9 kg Kal.
Die neuen Produkte sind:
Amylalkohol (gelöst) . . . 791,1 kg Kal.
Ammoniak . . . N aka!
Kohlensäure (absorbiert) A. Diuika'Ralıtt = 881,1 kg Kal.
Effekt: — — 32,1 kg Kal.
Er sagt: „Daher wäre ein wiederholter An- und Abbau des
Eiweißes nötig, um dem Bedürfnis nach Umwandlung von Leucin
in Amylalkohol zu genügen, d.h. im Verlauf weniger Tage müsste
nur zu dem Zwecke der Amylalkoholbildung (oder den sonstigen
N-Umsatz) sämtliches Eiweiß der Zelle mehrmals abgebaut und
wieder aufgebaut werden, um genügend Leucin zu liefern. Solch
Pringsheim, Zur Theorie der alkoholischen Gärung. 907
eine gewaltige Umwälzung aller lebenden Substanz für eine einzige,
im ganzen doch untergeordnete Funktion der Bildung eines Neben-
produktes widerspricht allen Erfahrungen, die wir sonst von der
Beständigkeit der lebenden Substanz haben.“ Nach dieser Argu-
mentation wäre also die Amylalkoholbildung ein primärer Vorgang,
der für das Leben der Hefe von Nutzen sein müsste. In Wirk-
lichkeit ist der Amylalkohol aber ein für die Hefe nutzloses Exkret,
das nur nebenbei gebildet, weil eben die Hefezelle,. um die ge-
waltige Zuckerzerlegung zu vollziehen auch eines kraftvollen Eiweiß-
stoffwechsels bedarf, der ihr die Regulation ihrer Fermentproduktion
und -wirkung ermöglicht. Wenn dieser Eiweißumsatz mit einer
Einbuße an Energie verbunden ist, so muss das die Hefe mit in
Kauf nehmen, da sie nur so sich dauernd in gärfähigem Zustand
erhalten kann. Bieten wir der Hefe nur Leucin und keinen Zucker,
so findet keine Umwandlung in Amylalkohol statt; Gärung_ tritt
nicht ein und es kommt auch zu keinem Eiweißstoffwechsel, sondern
nur zu einer Eiweißanreicherung der Zelle. Bieten wır getöteter
Hefe Leuein und Zucker, so erfolgt zwar noch eine alkoholische
Gärung mit Hilfe des wırksanı gebliebenen Anteils des präformierten
Fermentes. Aber auch hier wird kein Leucin mehr in Amyl-
alkohol umgewandelt, da die tote Zelle keinen Eiweißstoffwechsel
mehr besitzt, keine Neubildung von Zymase vollziehen kann und
deshalb, wie wir gesehen haben, auch in ihrer Gärkraft ge-
schwächt ist.
Es herrscht also bei Rubner auch in bezug auf den Eiweiß-
stoffwechsel der Hefe eine dualistische Auffassung: er gibt zu, dass
die Hefe sehr wohl dazu befähigt ıst, den aus toten Zellen aus-
tretenden autolytischen Stickstoff weiter zu verwerten; dagegen
soll der aus der lebenden Hefe während der Gärung ausgeschiedene
Stickstoff unverwertbar durch die Hefe sein. Wir müssen uns da-
gegen vor Augen halten, dass die Hefe ihren Eiweißabbau mit
Hilfe ihrer peptolytischen Fermente vollziehen muss. Und so er-
scheint die Annahme äußerst erschwert, dass tote und lebende Hefe
in ihrem fermentativen Eiweißabbau mit Hilfe derselben Fermente
zu verschiedenen chemischen Produkten gelangt. Denn nur durch
die Annahme einer Verschiedenheit des exkreten und des auto-
lytischen Stickstoffmaterials könnten wir doch ihre Nichteignung
oder Eignung als Stickstoffnahrung für die Hefe erklären. —
Neben diesen, nach meiner Meinung strittigen Punkten, enthält
das inhaltsreiche Buch noch eine große Zahl von experimentellen
und theoretischen Ergebnissen, die dem aufmerksamen Leser viele
Anregung bieten werden. — Der praktische Gärungsphysiologe
wird dem Buche erst nach sehr eingehendem Studium nützliche
Winke entnehmen können; aber auch der Theoretiker wird tief
graben müssen, ehe er in die schwierige Materie eindringt. Es
08 Balss, Über die Chemorezeption bei Garneelen.
schien daher wertvoller, ein paar der Hauptpunkte eingehend zu
erörtern, als eine Aufzählung des Inhalts vorzunehmen, den niemand
ohne die Lektüre des Werkes selbst würdigen kann.
Über die Chemorezeption b..i Garneelen.
Von Dr. Heinrich Balss (München).
Der vorliegende Aufsatz möchte einen kleinen Beitrag zur
Frage nach dem Geruchs- und Geschmacksvermögen bei Garneelen
liefern. Nachdem Nagel (1894) auf Grund von theoretischen Er-
wägungen den Wassertieren das Geruchsvermögen überhaupt abge-
stritten hatte und ıhm auch andere Forscher darın gefolgt waren,
ist man in neuerer Zeit auf Grund von exakten Experimenten
(Bethe, Baglioni, Doflein u.a.) zu der Überzeugung gelangt,
dass auch im Wasser der Geruch beı der Auffindung der Nahrung
auf Entfernung hin eine große Rolle spiele. Diese Autoren kommen
dabeı auf die alte Definition Forel’s zurück, dass der Geruch
das Sinnesorgan sei, das auf Entfernung hin die chemische
Natur gewisser Körper zu erkennen gestatte, während beim Ge-
schmack dies erst bei Berührung mit dem Körper selbst mög-
lich seı.
Meine Untersuchungen erstreckten sich nun auf die Frage,
welche Rolle beide Sinnesempfindungen bei Garneelen spielen und
an welchen Organen sie lokalisiert seien.
Ich benutzte zu meinen Untersuchungen, die ich ın der
zoologischen Station zu Neapel ausführte, meist Palaemon (Leander)
treillanus, der ein sehr lebhaftes, leicht reagierendes Tier ıst. In
den Aquarien, die, wie in Neapel üblich, mit durchlaufendem See-
wasser gespeist waren, wurde während der Versuche der Zulauf
unterbrochen, um die Diffusionsströme, die von den Nahrungs-
stücken her kamen, ungehindert nach allen Seiten hın fließen zu
lassen. Bei den Operationen gab ich den Tieren oft schon eine
Stunde, nachdem ıhnen ein Organ amputiert war, wieder Nahrung,
die sie auch willig annahmen; auf diese Art wurde erzielt, dass
die Sterblichkeit unter den operierten Tieren nur gering war.
I. Versuchsreihe: Über den &eschmackssinn.
Über den Geschmackssinn bei Garneelen hat bisher nur Dof-
leın (1910, p. 65) eine Angabe gemacht; er gab seinen Tieren
Fischfleisch, das mit Indigkarmin blau gefärbt worden war. Dieses
Fleisch, welches zuerst ganz normal angenommen worden war,
wurde nach einiger Zeit völlig verschmäht, selbst wenn die Tiere
hungrig waren; auch Tiere, die gewöhnliches Fleisch ohne weiteres
nahmen, ließen die gefärbten Stücke liegen. Doflein schließt
daraus, dass es nicht die Konsistenz ıst, an der die Tiere ihre
Balss, Uber die Ohemorezeption bei Garneelen. 509
Nahrung erkennen (wozu die Tastorgane ausreichen würden) und
dass eine Chemorezeption wahrscheinlich ıst.
Meine eigenen Untersuchungen betreffen vor allem die Frage
nach der Lokalisation dieses Sınnes.. Um jeden Einfluss auszu-
schalten, den die verschiedenen Oberflächen der gereichten Sub-
stanzen haben könnten, wählte ıch die Anordnung so, dass kleine
Wattestückchen mit den Stoffen getränkt wurden und den Tieren
gereicht wurden. Da die Garneelen auf gewöhnliche Wattestück-
chen überhaupt nicht reagieren, so kann dann nur die chemische
Beschaffenheit der gereichten Substanz einen Einfluss auf das Be-
nehmen der Tiere haben. Ich benutzte zu diesen Versuchen der
Augen beraubte Tiere, die etwa einen halben bıs einen Tag ge-
hungert hatten; der Einfluss des Gesichtssinnes konnte also die
Resultate auch nicht beeinflussen.
Erster Versuch!).
Die mit Saft von Fischfleisch getränkten Wattestückehen wurden
mit dem Telson ın Berührung gebracht; es erfolgte keinerlei Re-
aktion; ebensowenig bei Kontakt mit der Oberfläche des Carapex.
Zweiter Versuch.
Der Wattebausch wird den Geißeln der Antennen genähert
und mit ihnen ın Kontakt gebracht. Es wird keine sofortige Be-
wegung ausgelöst, wie man erwarten sollte, wenn hier Geschmacks-
organe säßen; erst nach einiger Zeit (3—4 Min.) werden die Tiere
aufmerksam; ich setze dies auf Rechnung der Geruchsempfindung,
die hier, wie wir sehen werden, ihren Sitz hat.
Dritter Versuch.
Bei der Berührung (nicht schon bei Annäherung) mit irgend-
einem der Thorakalbeine ergreifen die Garneelen das Wattestück-
chen sofort und mit Heftigkeit, um es den Mundgliedmaßen zuzu-
führen. Mit welchem von den Thorakalgliedmaßen dabei die
Berührung erfolgt, ist einerlei, die Reaktion ist immer dieselbe;
wie ein elektrischer Schlag läuft der Reiz durch das Tier, es ergreift
den Wattebausch und bringt ihn an den Mund.
Vierter Versuch.
Berührung der Mundgliedmaßen allein hat dieselbe Wirkung,
die Tiere ergreifen den Wattebausch sofort.
Fünfter Versuch.
Das Wattestückchen wurde mit 1% Chininlösung oder mit 1%,
Kokainlösung getränkt. Auch hier erfolgt weder bei Berührung
der Antennengeißeln noch des Telsons eine Reaktion. Bringt man
1) Ich bemerke, dass diese Versuche natürlich öfters wiederholt wurden; die
Zeitangaben sind nur Durchschnittsworte.
510 Balss, Uber die Chemorezeption bei Garneelen.
es dagegen mit den Thorakalbemen ın Kontakt, so betasten es die
Tiere ein wenig und lassen es ruhig liegen. An die Mundglied-
maßen — zu näherer Untersuchung etwa — wird es nicht gebracht.
Ergebnis.
Es erhellt aus diesen Versuchen mit Deutlichkeit, dass die
(sarneele weder ın den Antennen noch am Telson ein für den
Kontaktreiz empfängliches chemorezeptorisches Sinnesorgan besitzt,
sondern dass hierfür nur die Thorakalfüße und die Mundglied-
maßen ın Betracht kommen, die mit wünschenswerter Deutlich-
keit sowohl das Ergreifen wie das Verschmähen, also den „guten“
wie den „schlechten“ Geschmack eines vorgelegten Stückes zeigen.
Für die Mundgliedmaßen ist dies ja nicht weiter merkwürdig, für
die Beine wird es jedoch hier zum ersten Male nachgewiesen; man
hatte bisher nur Organe für dıe Tangorezeption in ihnen vermutet.
Dabei ıst gerade bei ıhnen die Reaktion besonders deutlich; das
Tier braucht nur mit der Spitze des Daktylus den Wattebausch
leicht zu berühren, um sofort auf ıhn zuzufahren und ihn zu er-
greifen.
II. Reihe: Über den @eruehssinn.
Nachdem Nagel (1894, p. 155) dem Gesichtssinn die Haupt-
rolle beim Erkennen der Nahrung zugeschrieben hatte, hat zuerst
Bethe, der mit geblendeten Tieren arbeitete, die Wichtigkeit des
(reruchssinnes betont; er lokalısierte ıhn auf die Geißeln der ersten
Antennen, betonte jedoch, dass sie nicht die einzigen Geruchs-
Organe seien.
F. Doflein, der die Versuche Bethe’s fortsetzte, erhielt keine
sicheren Resultate; doch vermutete er außer an den Antennengeißeln
auch an den Beinen den Sıtz von Organen des Geruchs; ähnlich
glaubten auch Holmes und Hormuth, dass an den Mundglied-
maßen und den Endgliedern der Scherenfüße Nerven für Geruchs-
eindrücke endigten. Laubmann (1912) hält dann wieder nur die
Endgeißeln der Antennen und die Mundgliedmaßen für Organe, die
auf fernwirkende Substanzen reagieren.
Meine eigenen Untersuchungen haben die Ansichten aller
Forscher in bezug auf das Vorhandensein von Geruchsorganen auch
an anderen Stellen als an den Antennen bestätigt, ohne dass auch
ich jedoch Näheres über diese Stellen angeben könnte.
Erster Versuch.
Ein Stück Fischfleisch wurde in ein aus einem Ende geschlossenes,
etwa 70 mm langes und 15 mm breites Glasröhrchen geführt und
zwar so, dass es an das geschlossene Ende zu liegen kommt und
als heller Fleck von außen sichtbar ist. Nach etwa 4—5 Minuten
werden die Garneelen (in einer Entfernung von etwa 30 cm) auf-
Balss, Uber die Ohemorezeption bei Garneelen. 1
merksam, gehen auf das Röhrchen zu und betasten mit ihren An-
tennen und Füßen zuerst die Stelle, an der das Fleisch hervor-
leuchtet. Da sie es nicht erreichen können, wandern sie tastend
dem Glasröhrchen entlang bis sie an seine Mündung kommen, wo
der Diffusionsstrom mit dem Fleischgeruch hervorströmt Hier
wenden sie und suchen ins Innere des Röhrchens zu gelangen, was
ihnen wegen dessen geringer Weite nicht gelingt.
Zweiter Versuch.
Die Anordnung ist dieselbe, doch werden zum Versuche blinde,
der Augen beraubte Eevanaallar benutzt. Auch sıe finden ad
etwa 4--5 Minuten aus einer Entfernung von 30 em bis zur Mün-
dung des Röhrchens hin.
Dritter Versuch.
Blinde Tiere, denen auch die Geißeln der ersten Antennen ab-
geschnitten waren, finden erst nach 20 Minuten zur Mündung hin.
Vierter Versuch.
Blinde Garneelen, denen beide Antennenpaare amputiert sind,
werden ebenfalls nach einiger Zeit unruhig, wandern suchend umher,
bis sie zur Mündung des Röhrchens gelangen. In den beiden letzten
Versuchen reagierten die Tiere auf größere Entfernungen (mehr als
10 cm) schlecht und zeigten erst in der Nähe deutliche Anziehungs-
reaktionen.
Ergebnis.
Es ergibt sich, da jede direkte Berührung bei diesen Ver-
suchen mit der Nahrung selbst vermieden wurde und also nur die
aus der Mündung des Glasröhrchens herausquellenden Diffusions-
ströme die Verbreiter der Geruchsstoffe sein können, dass die Gar-
neelen, auch wenn sie geblendet sind, auf diesen Reiz deutliche
Anziehungsreaktion zeigten, dass also der Geruch beim Auffinden
der Nahrung eine ganz wesentliche Rolle spielt. Dass der Gesichts-
sinn jedoch nicht überflüssig ist, zeigt Versuch I mit schöner Deut-
lichkeit. Dass die geruchsempfindlichen Stellen nicht nur an den
Antennengeißeln, sondern auch an sonstigen Stellen des Körpers
sitzen, zeigen die letzten Versuche; ob an den Beinen oder Mund-
gliedmaßen dürfte auf experimentellem Wege schwer zu beweisen sein.
Es würde wichtig sein, etwaige morphologische Verschieden-
heiten der beiden Organe, also Geschmackshaare oder Geruchshaare
kennen zu lernen. Leider hat Laubmann, der eine nahe verwandte
Form untersucht hat, nichts Bestimmtes finden können. Zwar fand
er, dass alle Haare des Garneelenkörpers, also auch die der Ex-
tremitäten und der Mundgliedmaßen mit dem Zentralnervensystem
in Verbindung stehen also Sinnesorgane darstellen; wele he der
verschiedenen Typen (er zählt drei ehcdeie Formen auf, die
aber nicht auf bestimmte Organsysteme beschränkt sind) gerade
512 v. Buttel-Reepen, Tierverstand und Abstammungslehre.
die Geruchs-, welche die Geschmacksorgane darstellen, konnte
Laubmann nicht nachweisen und dürfte überhaupt schwierig deut-
lich zu machen sein. So möchte ich meine nur auf Experimenten
beruhenden Ergebnisse noch einmal dahın zusammenfassen, dass
Geschmacksorgane an den Mundgliedmaßen und den Thorakalfüßen,
Geruchsorgane an den Antennen und auch sonstigen Stellen des
Garneelenkörpers zu suchen sınd.
Literaturverzeichnis.
1. Baglioni, S. Nervensystem in: Winterstein’s Handbuch der vergleichenden
Physiologie.
2. Bethe, A. Das Nervensystem von Careinus maenas. 1. Teil: Arch. f. mikrosk.
Anat., vol. 50, 1897. .
Doflein, F. Lebensgewohnheiten und Anpassungen bei dekapoden Krebsen in:
Festschr. f. R. Hertwig. Jena, vol. 3, 1910.
4. Holmes und Hormuth, The seat of small in the erayfish in: Biolog. Bulletin,
Woods Hole, vol. 18, 1910.
5. Laubmann, A. Untersuchungen über die Geruchsinnesorgane bei dekapoden
Krebsen aus der (ruppe der Carididen in: Zoolog. Jahrb. Abteil. f. Anat.
u. Ontogenie der Tiere, vol. 35, 1912.
w
bi
6. Nagel, G. Vel. physiolog. u. anatom. Untersuchungen über Geruchs- und Ge-
schmackssinn in: Bibliotheca zoologica, vol. VII, Heft 18, 1894.
Tierverstand und Abstammungslehre.
Von Prof. H. v. Buttel-Reepen.
Unter obigem Titel gibt V. Franz ın Nr. 6 dieser Zeitschrift
vom 20. Juni einige Ausführungen, die sich zum Teil auch mit
einigen einschlägigen Arbeiten von mir beschäftigen. V. Franz
beruft sich auf Darlegungen von Klaatsch und sagt alsdann (vgl.
p. 382): „die Quintessenz der Klaatsch’schen Ausführungen würde,
‚recht ins grobe versetzt und cum grano salıs zu verstehen, ın der
gewöhnlichen Schlagwortformulierung lauten: Der Mensch stammt
nicht vom Affen ab, sondern der Affe vom Menschen‘. Nicht
wenig verwundert es mich daher, dass v. Buttel-Reepen, von
dem nämlich die soeben zitierten Worte herrühren, bezüglich der
Frage, ob den (Elberfelder) Pferden eine hohe Intelligenz zuge-
schrieben werden könne, zu dem Ergebnis kommt, diese Annahme
würde ‚die Darwin’sche Theorie über den Haufen werfen‘. Das
würde sie noch lange nicht! Hat es auch die Dar win’sche Theorie
über den Haufen geworfen, dass wir den Pferdehuf als eine weniger
ursprüngliche Bildung ansehen als die menschliche Hand? Man
entgegne also der Behauptung, das Pferd hätte Intelligenz, nicht
mit einem so schlecht begründeten Dogma. Es ist Aufgabe der
Wissenschaft, die hier in Rede stehende Frage der Intelligenz bei
einem Tiere durch tatsächliche Beobachtungen zu prüfen. Die Ab-
Buttel-Reepen, Tierverstand und Abstammungslehre, 513
stammungslehre kann dazu nichts sagen, denn der Mensch stammt
nicht vom Pferde ab.“
Dr. Franz sagt hiermit nur, um mit den Schlussätzen zu
beginnen, was ich anderen, die sich lediglich mit Gedankenspeku-
lationen über die [Elberfelder] Pferdefrage beschäftigen, und damit
auch ıhm, schon vor langem zugerufen, nämlich: „dass alle theo-
retischen Spekulationen, welcher Art sie auch sein mögen, uns in
dieser Angelegenheit nicht vorwärts bringen. Es heisst jetzt Experi-
mente anstellen“ etc., ferner: „Es erwächst für die Wissenschaft
die Aufgabe, von neuem zu prüfen“ etc.').
Infolge meiner 6tägigen Beobachtung der Krall’schen Pferde
glaube ich mit anderen konstatiert zu haben, dass die Pfungst’sche
Theorie nicht richtig sein könne, sondern dass tatsächlich Intelli-
genz beim Pferde zu finden sei, „ein gewisses begriffliches Denken“,
ein „Zählvermögen“ und „ein vorzügliches Gedächtnis“ ete.!). Es
ist mir daher nicht recht verständlich, wie man gerade mir gegen-
über sagen kann: „Man entgegne also der Behauptung, das Pferd.
hätte Intelligenz, nicht mit einem so schlecht begründeten Dogma“,
da ıch überdies das Vorhandensein von Intelligenz bei Tieren in
früheren tierpsychologischen Arbeiten stets besonders betont habe.
Aber eine „menschliche Intelligenz“, wie Herr Krall sie bei
seinen Pferden annimmt, habe ich bisher noch nicht Grund genug
gehabt, festszustellen, (die außerordentlichen Verdienste Krall’s
habe ich an anderer Stelle!) gewürdigt) und diese „hohe Intelligenz“,
die die Befähigung in sich trägt, die Schwierigkeiten sehr kompli-
zıerter Rechenaufgaben (Wurzelziehen) leicht zu besiegen, die sogar
das „Raten“ solcher Aufgaben und zwar das oft sehr schnelle oder
gar sofortige richtige Raten fertig bringen soll, die ist nach meiner
Ansicht bei den Pferden nicht vorhanden. Dr. Franz verfällt
hier, wie mir däucht, demselben Irrtum wie Plate, der anzunehmen
scheint, dass ein Raten unter diesen Umständen keine so große
Intelligenz erfordere, während es tatsächlich nach der allgemeinen
Auffassung des Intelligenzproblems eine höhere Stufe der Intelligenz
darstellt. Ich bin kein Pädagoge, aber dass — gewitzte und mit
dem Wurzelziehen vertraute — Schüler die richtigen Grundzahlen
aus den Potenzen mit gutem und schnellem Erfolg „raten“ können,
und zwar nur auf Grundlage „vernünftiger Überlegungen“ (Plate),
das scheint mir ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, zumal wenn
die Grundzahl eine dreistellige ist. Der ältere geschulte Denker
und Mathematiker mag vielleicht mit eimigem Erfolg dergleichen
fertig bringen, selbstverständlich rede ich hier nicht von den be-
kannten Ausrechnungstricks, aber will man wirklich im Ernst den
Pferden diese „hohe Intelligenz“ zusprechen? Und glaubt man
1) „Meine Erfahrungen mit den ‚denkenden‘ Pferden.“ Jena, Gust. Fischer, 1913.
914 v. Buttel-Reepen, Tierverstand und Abstammungslehre.
wirklich, dass eine solche hohe Pferdeintelligenz nicht gegen die
Selektionstheorie, denn nur von dieser spreche ich, nicht von
der „Abstammungslehre“, verstoßen würde? Muss man wirk-
lich noch einmal an das Wort Huxley’s erinnern, das da sagt,
wenn auch die Darwın’'sche Theorie eines Tages „fortgefegt‘ sein
würde, die Entwickelungslehre würde bestehen bleiben, um auf
den Unterschied zwischen diesen beiden Theorien aufmerksam zu
machen?! Gerade dadurch, dass der Pferdehuf eine „weniger ur-
sprüngliche Bildung ıst als die menschliche Hand“ wird die Selek-
tionstheorie gekräftigt, wie kann man, bei richtiger Auffassung
des von mir Gesagten die Pferdehufsache anführen, die ja nur die
„Darwın'’sche Theorie“ unterstützt und unter allen Umständen
nicht das allergeringste dagegen sagt. Will man tatsächlich be-
haupten, dass sich durch Selektionsprozesse (oder meinetwegen auch
durch andere Vorgänge) eine derartige hohe mathematische Intellı-
genz bei den Pferden ausgebildet haben könne?! Aber nach Franz
mag sie wohl seit Urzeiten schon bestanden haben, da „von einer
Zunahme der Entwickelung ım ganzen seit außerordentlich weit
zurückliegenden Zeiten nichts zu merken ist“! (?).
Über diese Sonderansicht will ich hier aber nicht weiter reden,
ich möchte nur noch eine andere Auffassung in eine etwas richtigere
Beleuchtung rücken. Franz identifiziert mich mit. den eingangs
zur Klaatsch’schen Theorie erwähnten Worten. Ich gebe aber
nur eine Erklärung der Klaatsch’schen Theorie, zu der ich aus-
drücklich erwähne (vgl.?) p. 94), dass wir uns damit „vorsichtig
und mit aller Reserve tastend ın das Dunkel der urfernen Ver-
gangenheit hineinbegeben, manches sich noch umgestalten dürfte,
und die ganze Hypothese starke Gegnerschaft finde.“
Ein eigentliches Wurzelausziehen ım landläufigen Sinne findet
übrigens bei den Pferden gar nicht statt, da nur restlos aufgehende
Zahlen in Betracht kommen.
Unter „Ausrechnungstricks“ (s. oben) verstehe ich alle jene
Methoden, die auf Grund einer weiten, umfassenden Erfahrungs-
wissenschaft gewonnen sind, die zuvörderst eine eingehende
rechnerische Überlegung erfordern, eine Überlegung, die erfahrungs-
gemäß selbst hervorragenden Intelligenzen nicht so ohne weiteres
zur Verfügung steht, sondern meist erst durch die Beihilfe ge-
schulter Mathematiker erlangt wird. Ein vorzügliches Gedächtnis
ist eın weiteres Erfordernis.
Da nun die Pferde nach meiner Überzeugung ein vorzügliches
(Gedächtnis für Zahlen haben, das allerdings oft aufgefrischt werden
muss, so wäre es ja möglich, nehmen wir diese Möglichkeit wenig-
2) „Aus dem Werdegang der Menschheit. Der Urmensch vor und während
der Eiszeit in Europa.“ Jena, Gust. Fischer, 1911.
v. Buttel-Reepen, Tierverstand und Abstammungslehre. 515
stens einmal an, dass bei geeigneter Methode durch einen mathe-
matisch geschulten Lehrer ein derartiger Unterricht stattfinden
könnte, dass die Pferde später auf dem vereinfachten Trickwege
das Wurzelziehen bewältigten, wobei aber immer noch die vorher-
gegangene Hauptintelligenzarbeit beim Lehrer läge. Nun aber ist
Herr Krall erklärtermaßen kein guter Rechenmeister (vgl. seine
Äußerungen hierüber in meiner oben erwähnten Broschüre), dem
ein gutes Zahlengedächtnis „völlig abgeht“, der nicht imstande ist,
beispielsweise die 3. Wurzel aus einer fünfstelligen Potenz „weder
im Kopf noch schriftlich“ finden zu können.
Außerdem ist seine ganze Methode auf dem Gebiet des Wurzel-
ziehens, soweit man aus den vorliegenden spärlichen Äußerungen
darüber schließen darf, eine sehr sprunghafte gewesen, die ın über-
raschend schneller Weise von einfachsten Aufgaben zu den kom-
pliziertesten fortgeschritten ıst.
Wenn also somit die Pferde ımstande sein sollen, auf Grund
eigener rechnerischer Fähigkeiten das Wurzelziehen auf dem Trick-
wege zu leisten (auch der Formelweg ist ihnen natürlich nicht ge-
lehrt worden), so müssen wir auch hier ıhnen eine Intelligenz zu-
sprechen, die die Durchschnittsintelligenz des Menschen ebenfalls
weit übertrifft. Diesen Schluss kann ich nicht mitmachen, (wie ich
das des Näheren in meiner Broschüre ausgeführt habe, auf die ich
hier verweisen muss), trotzdem „der Mensch nicht vom Pferde ab-
stammt.“
Da nun aber die Pferde tatsächlich richtige Antworten auf
schwierigste Wurzelaufgaben liefern, auch wenn sie allein im Stalle
sind, so habe ich die Lösung dieses Rätsels mit jenem merkwürdigen
Phänomen des Zahlensinns ın Verbindung zu bringen gesucht, das
uns hin und wieder sogar bei so gut wie intelligenzlosen, schwach-
sinnigen oder gar geradezu verblödeten Rechenkünstlern, wie auch
bei geistig gesunden aber unentwickelten und unerzogenen Bauern-
kindern jüngsten Alters (3—12 Jahre ete.) entgegentritt. Wir sehen
hier, wie ich das des Näheren in meiner Broschüre ausgeführt habe,
die wunderbarste Rechenkunst vorhanden, welche die höchster
mathematischer Intelligenzen in gewisser Weise weıt übertrifft.
Es mag hier, wir wissen es nicht, eine intuitive, assoziative,
mehr mechanisch vor sich gehende Fähigkeit zugrunde liegen.
Ob dieser Ausweg aus dem Dilemma der richtige ist, wer
möchte das jetzt schon entscheiden, jedenfalls entschlage man sich
der Annahme einer bewussten Zeichengebung, es kann davon keine
Rede sein und auch mit der unbewussten kommt man nicht durch
das Problem hindurch.
>16 Cohen, Jacobus Henricus van’t Hoff. Sein Leben und Wirken.
Ernst Cohen. Jacobus Henricus van’t Hoff. Sein Leben
und Wirken.
XV + 638 S. mit 2 Gravüren und 90 Abbildungen. Leipzig, Akademische Ver-
lagsgesellschaft, 1912.
Bei der außerordentlichen Bedeutung, welche die physikalische
Chemie für die Behandlung der Lebenserscheinungen gewonnen hat,
soll auch an dieser Stelle nicht unterbleiben, auf die vorliegende
Biographie hinzuweisen, worin uns van’t Hoff’s Anteil an unserem
physikalisch-chemischen Wissen von seinem langjährigen Assistenten
und Freunde — jetzt Professor der Chemie an der Reichsuniversität
zu Utrecht -— zusammenfassend vor Augen geführt und mit einer
liebevollen Schilderung seiner Persönlichkeit verknüpft wird. Durch
die Geschicklichkeit des Verfassers, an vielen Stellen van’t Hoff
selbst zu Worte kommen zu lassen, wırkt das Buch trotz seines
Umfanges nirgends ermüdend und durch den glücklich getroffenen,
trotz aller Verehrung und Hingebung für den Helden nicht ins
Byzantinische verfallenden Ton wırd auch nirgends das unange-
nehme Gefühl hervorgerufen, das uns beim Lesen biographischer
Werke mitunter befällt. Die von van’t Hoff selbst herrührenden
Stellen des Buches sind zumeist bisher noch nicht, oder nur in
holländischer Sprache erschienen: so die erste Veröffentlichung
vom asymmetrischen Kohlenstoffatom, die Amsterdamer Antritts-
vorlesung „Über die Phantasie in der Wissenschaft“, biographische
Skizzen, zumeist holländischer Chemiker, dann der hochinteressante
Briefwechsel mit Arrhenius, der uns einen Einblick sowohl in
die Entstehung der Arbeiten van’t Hoff’s über den osmotischen
Druck, wie in Arrhenius’ Theorie der elektrolytischen Dissoziation
gewährt und noch vieles Lesenswerte mehr.
Die schöne Ausstattung des Werkes ıst auch in unserer an-
spruchsvollen Zeit besonders erwähnenswert. Eine gute Idee sind
die vielen Abbildungen von namhaften Persönlichkeiten, die auf
van't Hoff’s Schicksal von Einfluss gewesen sind oder mit ıhm
in näherer Verbindung standen. Vielleicht werden viele unter den
Abgebildeten Gesichtszüge finden, welche kennen zu lernen schon
lange ıhr Wunsch gewesen ist. Aristides Kanitz, Leipzig.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Ba. XXX. 20. September 1: 1913. Bag
Inhalt: v. At h und ee Über den Einfluss der Lichtfarbe auf die phototaktischen
Reaktionen niederer Krebse. — Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des In-
sekteneies und die Chromidienlehre. — Yakowletf, Biologische Parallelen zwischen den
Korallen und Braehiopoden in bezug auf ihre Veränderliehkeit. — Meyer, Das Renogenital-
system von Puncturella noachina L. — Shull, Eine künstliche Erhöhung der Proportion
der Männchenerzeuger bei Hydatina senta. — Escherich, Die angewandte Entomologie in
den Vereinigten Staaten — Schäfer, Das Leben, sein Wesen, sein Ursprung und seine
Erhaltung. — Jacobi, Mimikry und verwandte Erscheinungen. — Brehm’s Tierleben, Die
Vögel.
Über den Einfluss der Lichtfarbe auf die
phototaktischen Reaktionen niederer Krebse.
Von Karl v. Frisch und Hans Kupelwieser.
(Aus dem zoologischen Institut der Universität München.)
(Mit Tafel III—V.)
Inhalt.
Einleitung . . BEE Be Ne ee pas N A iz
I. Erster een Negalivierung von Daphnien durch blaues
Eicht 2,243 .; ee 521
II. Zweiter ein onnenelansnelt Positivierung von Daphnien Haren rol-
gelbes. Biehtu "4.9: MEERE DE En eh 0.4.1531
III. Abgrenzung der wirksamen Spektralbe ae DES EHRENE 532
Lv. Der Einfluss farbigen Lichtes auf die Augenbewegungen der Daphnien 239
N Versuchermit-Artemiazsalına 2.1: ee ae DAB
VI Schluss. ‘2... . SE NEE NIE RR nn 5 NOTE. a Ne Br 550
Zusammen fassung Ra Re RN Leo) I REDE er Ed N 1y5 2. 0]
Einleitung.
Trotz der zahlreichen Untersuchungen über die Lichtreaktionen
niederer Krebse wissen wir über die Wirkung farbigen Lichtes
nur wenig und der Nachweis einer spezifischen Reaktion auf
Farben liegt bisher nicht vor.
XXXI. 34
518 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
Zwar hat schon P. Bert!) im Jahre 1869 mitgeteilt, dass
Daphnien die verschiedenen Spektralfarben unterscheiden könnten:
während sich die Tiere im Dunkeln gleichmäßig in ihrem Ge-
fäße zerstreuten, sammelte sich, sobald man ein Spektrum in ihr
Gefäß fallen ließ, die große Mehrzahl im Gelb, Grün und Orange,
eine große Zahl auch noch ım Rot, wenige waren ım Blau und
Violett zu finden. Doch braucht man solche und ähnliche (z. B. ?))
Beobachtungen nicht auf eine Wirkung der Farbe, also der Qualität
des Lichtes zurückzuführen, es kann sich ebensogut um Reaktionen
auf verschiedene Helligkeit handeln. Wir können nicht wissen,
ob die Daphnien — um bei dem oben zitierten Beispiel zu bleihen —
das Orange, Gelb und Grün der Farbe wegen aufsuchen, oder
weil vielleicht für sie diese Region des Spektrums die größte
Helligkeit hat.
Merejkowsky°) suchte diese Alternative auf folgendem Wege
zu entscheiden: Er brachte seine Krebschen (marine Copepoden
[Dias longiremis| und Larven von Balanus) in ein lichtdicht abge-
schlossenes Gefäß, ın welchem sie sich gleichmäßig verteilten; ließ
er durch einen Spalt Licht einfallen, so sammelten sie sich an der
beleuchteten Stelle an; ließ er durch zwei Spalten Licht von ver-
schiedener Farbe einfallen, so wanderten die Tiere zu der helleren
Farbe, z. B., wenn Gelb und Violett verwendet wurde, zum Gelb.
Machte er aber nun das Gelb dunkler, ohne die Qualität der Farbe
zu verändern, so gingen die Tiere zum Violett. Daraus schließt er,
dass die niederen Kruster die Natur der verschiedenen Wellenlängen
nicht unterscheiden können, sie sehen nur eine Farbe ın den ver-
schiedenen Variationen ıhrer Intensität. „Nous percevons les cou-
leurs comme couleurs; ıls ne les percoivent que comme lumiere.“
Yerkes*) kam an Daphnien (Simocephalus) zu dem gleichen Re-
sultat; in einem von oben in das Gefäß geworfenen Spektrum be-
vorzugten die Tiere das Orangerot und Gelb; wurden aber diese
Farben relativ verdunkelt, so gingen die Tiere ins Grün, Blau und
Violett.
Auch aus diesen Versuchen kann man nicht viel schließen;
denn da die betreffenden Krebse auf Intensitätsunterschiede reagieren,
ist es nicht merkwürdig, dass sie sich aus einer Farbe vertreiben
lassen, wenn man deren Intensität stark herabsetzt; es folgt aber
1) P. Bert, Sur la question de savoir si tous les animaux voient les m&mes
rayons Jumineux que nous. Arch. de physiol., t. 2, 1869.
2) Loeb and Maxwell, Further proof of the identity of heliotropism in
animals and plants. University of California publ., Physiol., Vol. 3, 1910.
3) Merejkowsky, Les crustac6s inferieurs distinguent-ils les couleurs ? Comptes
Rendus Acad. Sc. Paris, t. 93, 1881, p. 1160—1161.
4) R. M. Yerkes, Reactions of Entomostraca to stimulation by light. Amer.
Journ of Physiol., Vol. 3, 1899, p. 157—182.
u“,
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 519
daraus nicht, dass die charakteristische Verteilung der Tiere ım
Spektrum nur durch Intensitätsdifferenzen und nicht auch durch
die Qualität der Farben verursacht ist. Und selbst wenn sich dies
nachweisen ließe, wäre es voreilig, daraufhin den niederen Krebsen,
wie es Merejkowsky will, einen Farbensinn abzusprechen; ein
soleher könnte vorhanden, aber ohne Einfluss auf die phototaktischen
Reaktionen sein.
Schon J. Lubbok°) wandte sich gegen die von Merejkowsky
gezogene Folgerung; er fand, dass die Daphnien „zwischen Strahlen
von verschiedener Wellenlänge unterscheiden, und jene vorziehen,
welche unsern Augen als Grün und Gelb erscheinen“ — und zwar
nicht wegen ihrer Helligkeit, sondern wegen ihrer Farbe. Er schloss
dies aus eimer großen Zahl von Einzelversuchen, bei welchen er je
50 Daphnien in einen Trog brachte, der zur Hälfte mit einem Farb-
filter bedeckt, zur Hälfte offen war. Bei Anwendung von gelben
oder grünen Farbfiltern war nach einer gewissen Zeit fast immer
im Gelb oder Grün eine größere Zahl von Daphnien zu finden als
in der unbedeckten Hälfte, obwohl sie die hellere Hälfte bevor-
zugten, wenn man den Trog zum Teil durch eine Porzellanplatte
verdunkelte oder durch Anwendung eines Spiegels eine Hälfte des
Troges stärker belichtete. Wir dürfen auf Grund unserer Versuche
Lubbock Recht geben. Als strengen Beweis für einen Farbensinn
der Daphnien kann man jedoch seine Experimente kaum ansehen,
da es möglich wäre, dass durch einen geeigneten Grad der Ver-
dunklung einer Troghälfte derselbe Effekt zu erreichen ist wie durch
die gelben und grünen Strahlenfilter.
Neuerdings hat Hess®) das Verhalten niederer Krebse zu far-
bigem Lichte untersucht. Er fand, dass sie sich so verhalten, „wie
sich auch total farbenblinde Menschen verhalten würden, die, unter
entsprechende Bedingungen gebracht, stets die für sie hellsten....
Stellen aufzusuchen sich bestrebten“”). So gibt er an, dass Daph-
nien, die an mäßig helles Licht adaptiert sind, in einem lichtstarken
Spektrum nicht das Gelb, das dem normalen, helladaptierten Men-
schenauge am hellsten erscheint, sondern das Gelbgrün und Grün
aufsuchen, also die Region, dıe dem total farbenblinden Menschen-
auge am hellsten scheint. Für das total farbenblinde Menschen-
auge ist ferner charakteristisch, dass es — im Gegensatze zum nor-
malen, farbensehenden Menschenauge — für rotes Licht sehr wenig
empfindlich ıst. Auch bei den Daphnien fand Hess ein dement-
sprechendes Verhalten: Wurde das Bassin mit weißem Lichte be-
leuchtet, und zwar die eine Hälfte heller als die andere, so gingen
5) J. Lubbock, On the sense of color among some of the lower animals.
Journ. of the Linnean Society, Vol. 17, 1884, p. 205—214.
6) C. Hess, Lichtsinn, in Winterstein’s Handb. d. vergl. Physiol., Bd. 4.
7)21l:2:c5,.p--. 644.
34*
320 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
die Tiere in die hellere Hälfte. „Ist die eine Bassınhälfte mit
lichtstarkem blauen, die andern mit einen für unser helladaptiertes
Auge deutlich heller roten Glase belichtet, so eilen die Daphnien
nach dem Blau, so lange dieses unserem dunkeladaptierten Auge bei
passend herabgesetzter Lichtstärke deutlich heller erscheint als das
Rot°). Steigert man aber die Lichtstärke des Rot so weit, dass es
unserem dunkeladaptierten Auge heller erscheint als das Blau, so
eilen die Tiere aus dem Blau ins Rot. Stellt man die Lampen für
die Rot- und Blaufläche so, dass unser dunkeladaptiertes Auge bei
herabgesetzter Lichtstärke beide angenähert gleich hell sieht, so ver-
teilen sich auch die Daphnien ın angenähert gleicher Weise in
beide Hälften. (Unserem helladaptierten Auge erscheint... das
tot jetzt viel heller als das Blau)°).“
Durch solche und andere Methoden hat Hess zu zeigen ge-
sucht, dass nicht nur Daphnien und sonstige niedere Krebse, sondern
auch die verschiedensten anderen wirbellosen Tiere (Mückenlarven,
Bienen, Käfer, Muscheln, Cephalopoden ete.) und auch Fische in
ihrem Helligkeitssinn mit dem des total farbenblinden Menschen
übereinstimmen, indem ılınen das Spektrum am langwelligen Ende
verkürzt erscheint und die hellste Stelle für sie nicht im Gelb,
sondern im Gelbgrün bis Grün liegt. Ein strikter Beweis, dass die
betreffenden Tiere total farbenblind wären, ıst hiermit nicht ge-
geben. Denn da wir nicht wissen, warum die Helligkeitsverteilung
im Spektrum für den total farbenblinden Menschen eine andere ist
als für den farbentüchtigen, können wir auch nicht behaupten, dass
allgemein ım Tierreich ein Helligkeitssinn, welcher mit dem
des total farbenblinden Menschen übereinstimmt, notwendig an
totale Farbenblindheit gebunden sei. Man wird zum mindesten die
Berechtigung zugeben müssen, die Frage auch von einer anderen
Seite her zu untersuchen. Dies ıst bei Bienen!®) und Fischen '')
geschehen und hat zu dem Resultat geführt, dass diese Tiere, trotz
der von Hess konstatierten Übereinstimmung ihres Helligkeits-
sinnes mit dem des total farbenblinden Menschen, Farbensinn be-
sitzen. Demnach ist man auch nicht mehr berechtigt, bei den
niederen Krebsen oder anderen Wirbellosen in einer Überein-
stimmung ihres Helligkeitssinnes mit dem des total farbenblinden
Menschen eine Stütze für die Annahme totaler Farbenblindheit bei
diesen Tieren zu sehen.
8) Auch der normale Mensch sieht mit dunkeladaptierten Augen bei schwachem
Lichte das Spektrum so, wie es der total Farbenblinde bei jeder Lichtstärke sieht.
9) ©. Hess, Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren. Arch.
f. Augenheilkunde, Bd. 64, Ergänzungsheft, 1909, p. 52.
10) K. v. Frisch, Über den Farbensinn der Bienen und die Blumenfarben.
Münchn. mediz. Wochenschr., 1913, Nr. 1.
11) K. v. Frisch, Sind die Fische farbenblind? Zoolog. Jahrb., Abt. f. allg.
Zool. u. Physiol. d. Tiere, Bd. 33, 1912; daselbst weitere Literaturangaben.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 3.
Überblicken wir die Angaben über die Reaktionen niederer
Krebse auf farbiges Licht, so finden wir somit weder für noch
gegen die Annahme eines Farbensinnes bei diesen Tieren zwingende
Argumente. Wır haben nun bei Daphnien (D. magna und pulex)
und bei Artemia salina charakteristische Farbenreaktionen feststellen
können, bei einer Versuchsanordnung, welche die Möglichkeit aus-
schließt, dass es sich nur um Reaktionen auf Intensıtätsdifferenzen
handle, und die nicht anders zu erklären sind als durch die An-
nahme, dass die genannten Tiere einen Farbensinn besitzen.
1. Erster Fundamentalversuch: Negativierung der Daphnien
durch blaues Licht.
Wir bringen eine größere Anzahl von Daphnia magna in die
Dunkelkammer und belichten sie mit einer seitlich angebrachten
Lichtquelle von mäßiger Intensität. Nach einiger Zeit sind die Daphnien
an dieses Licht adaptiert und mehr oder weniger gleichmäßig in dem
Gefäß verteilt. Setzt man nun die Lichtintensität herab, so nähern
sich die Daphnien der Lichtquelle, sie werden positiv-phototaktisch.
Steigert man die Lichtintensität, so entfernen sich die Tiere von der
Lichtquelle, sie werden negativ-phototaktisch. Nach einiger Zeit
sind die Daphnien in beiden Fällen wieder gleichmäßig im Gefäß
verteilt. Wir setzen nun eine geeignete Blauscheibe vor die Licht-
quelle. Würden die Farben von den Daphnien nur als Hellig-
keitsdifferenzen wahrgenommen, dann wäre das Vorschalten der
Blauscheibe für die Tiere gleichbedeutend mit einer Herabsetzung
der Lichtintensität, denn es wird von dem vorhandenen Licht etwas
weggenommen. Sie müssten sich also der Lichtquelle nähern. Tat-
sächlich geschieht das Gegenteil, die Tiere werden „negativ“. Dies
ist somit eine spezifische Wirkung der blauen Farbe und hat mit
der Reaktion auf Intensitätsänderung des Lichtes nichts zu tun).
Zum Nachweis dieses Verhaltens ist folgende Versuchsanord-
nung geeignet:
Als Lichtquelle dient eine 100kerzige Osramlampe (Z, vel.
Fig. A), welche in den außen schwarz überkleideten Kasten (A)
lichtdieht eingefügt ist. Der Kasten hat (in der Abbildung links)
eine mit einer Mattscheibe (M,) versehene Öffnung, vor welcher
eine Irisblende (7) lichtdicht angepasst ist. Der Durchmesser der
Blendenöffoung beträgt maximal 10 em. An die Irisblende schließt
eine innen weiße, außen schwarz überkleidete Röhre aus Pappe (R)
an, deren Abschluss eine zweite Mattscheibe (M,) bildet. Diese ist
an ihrer freien Seite mit schwarzem Papier (P) beklebt, das mit
einem kreisrunden Ausschnitt (4) von 9 cm Durchmesser versehen
12) Details und Abweichungen von dem geschilderten Verhalten werden weiter
unten beschrieben.
52 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
ist. Die Daphnien sind in einem Gefäß (D) mit planparallelen
Wänden untergebracht (Länge 20 cm, Breite 12 cm, Höhe 10 cm).
Die Vorderwand (V) des Gefäßes ist 20 cm von der Mattscheibe M,
entfernt. Der Boden des (refäßes ıst mit dem unteren Rande des
Ausschnittes A, der Wasserspiegel mit dem oberen Rande desselben
auf gleicher Höhe.
Für die Daphnien stellt der Abschnitt A der von hinten be-
leuchteten Mattscheibe M, die Lichtquelle dar. Die Intensität dieser
leuchtenden Kreisfläche war (bei vollständig geöffneter Irisblende)
— der Intensität von 6 Normalkerzen.
Bei Verengerung der Irisblende sieht man vom Standpunkt
der Daphnien aus die Intensität der leuchtenden Fläche (A) ab-
nehmen, ohne dass ihre Ausdehnung sich ändert; denn die Matt-
scheibe M7, und die Röhre R bewirken, dass auch bei enger Blenden-
öffnung die Fläche A in allen Teilen gleichmäßig beleuchtet wird.
Um die Intensität der leuchtenden Fläche Ain einer kontrollier-
baren Weise abstufen zu können, wurde folgende Einrichtung getroffen:
Fig. B zeigt den die Lampe enthaltenden Kasten mit der Irisblende in der Ansicht
von vorne, nach Entfernung der Röhre (R in Fig. A); die Handhabe (H) der Iris-
blende steht bei /, wenn die Blende vollständig geöffnet ist; bei XII, wenn sie
vollständig geschlossen ist; neben der Irisblende ist am Kasten ein Blech (Bl) be-
festigt; in diesem sind zwei Serien von Löchern angebracht, in welche ein Stift
(St) passt.
Die Löcher der inneren Serie (mit römischen Ziffern bezeichnet) sind derart
angeordnet, dass, wenn der Stift im Loch // steckt und die Handhabe (HM) so weit
verschoben wird, bis sie an den Stift anstößt, die Intensität der leuchtenden Fläche A
(vgl. Fig. A) angenähert auf die Hälfte herabgesetzt wird (= 3 Normalkerzen);
wird die Handhabe bis /II gedreht, so ist die Intensität der Fläche 4A angenähert
— !/, der ursprünglichen Intensität —= 1,5 Normalkerzen; bei IV = '/, der ur-
sprünglichen Intensität — 0,75 Normalkerzen ete. Auf eine genaue Abstufung
der Intensität kam es bei unseren Versuchen nicht an.
Diese innere Einteilung ergibt sehr feine Abstufungen bei starker Herab-
setzung der Lichtintensität. Die ersten Sprünge, von I nach II, von I nach IIT,
sind dagegen beträchtlich und es wurde deshalb noch die äußere Serie von
Löchern (mit arabischen Ziffern bezeichnet) angebracht; steckt der Stift im Loch 2
und wird die Handhabe bewegt, bis sie anstößt, so ist der Durchmesser der Iris-
blende von 10 auf 9 cm verkleinert, die Intensität der leuchtenden Fläche A ange-
nähert um !/,, vermindert; beim Loch 3 beträgt der Durchmesser 8 cm, die Inten-
sität der Fläche A angenähert °/,, = */, der ursprünglichen Intensität ete.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 595
Die Versuche begannen wir in der Regel damit, dass wir einige
hundert Daphnien'?), welche in schwachem diffusem Tageslicht ge-
standen hatten, in dem Parallelwandgefäß ın die Dunkelkammer
brachten und ın der oben beschriebenen Anordnung bei vollständig
geöffneter Blende etwa !/, Stunde an das Lampenlicht adaptieren
ließen. Sie pflegten nach dieser Zeit ziemlich gleichmäßig durch
das ganze Gefäß zerstreut zu sein und kehrten, wie dies schon
mehrfach beschrieben ist (Rädl, W.F. Ewald u.a.), ihren Rücken
der Lichtquelle zu; die ganze Masse verschiebt sich weder zum
K I H Bl
Fig. B.
Licht noch vom Licht fort, nur einzelne Tiere sieht man ab und zu
plötzlich positiv oder negativ werden. Schwache Herabsetzung
der Lichtintensität (etwa von / auf 2 oder 3 [auf °/,, oder ®ıo
der ursprünglichen Intensität, vgl. Fig. B und die Erläuterung dazu
im Text]) hat keinen merklichen Einfluss auf ihre Bewegungen;
öffnet man die Blende wieder und setzt (nach einigen Minuten) die
Intensität etwas stärker herab!*), so bewegt sich unmittelbar
nach der Verdunklung die ganze Masse der Daphnien ein kurzes
Stück auf die Lichtquelle zu; bei Steigerung der Lichtstärke auf
die ursprüngliche Intensität reagieren die Tiere durch kurzes Fort-
13) Daphnia magna eignet sich zu den Versuchen besser als D. pulex, bei
welcher die Farbenreaktionen oft undeutlich sind.
14) Allgemein gültige Zahlen lassen sich nicht angeben, da verschiedenes
Daphnienmaterial sehr verschieden empfindlich ist.
524 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe etc.
schwimmen vom Licht. Diese Reaktion wird nun immer
deutlicher, wenn man die Intensitätsdifferenzen steigert’):
Bei Verminderung der Intensität etwa von I auf VI oder VII
drehen sich die Daphnien sogleich um und schwimmen mit dem
Kopf voraus auf die Lichtquelle zu, sinken an der dem lachte zu-
gewandten Gefäßwand ab (woran der Wirbel schuld sein dürfte,
den die schräg nach unten schlagenden Ruderantennen erzeugen)
und mühen sich am unteren Rande der Gefäßwand weiter ab, dem
Lichte zuzueilen; öffnet man nun die Blende, so beginnen die
Daphnien sofort, sich durch das ganze Gefäß gleichmäßig zu zer-
streuen; lässt man aber die Intensität längere Zeit herabgesetzt,
so beginnt die „positive Ansammlung“ nach etwa 1 Minute von
selbst sich aufzulösen und nach etwa 3—4 Minuten sind die Tiere
gleichmäßig im Gefäß verteilt. Öffnet man jetzt die Blende, so
eilen die Tiere von der Lichtquelle weg und es kommt zu einer
„negativen Ansammlung“ (an der dem Lichte abgewandten Gefäß-
wand). Auch diese Ansammlung löst sich nach einigen Minuten
von selbst auf und macht wıeder einer gleichmäßigen Verteilung
der Tiere Platz. Setzt man die Lichtintensität noch stärker
herabals ın den früheren Fällen, so nımmt die Lebhaftigkeit, mit der
die Tiere auf die Lichtquelle zueilen, wieder ab; außerdem bemerkt
man nun ein Aufsteigen der Daphnien aus den tieferen Regionen des
Gefäßes zur Oberfläche. Beim Öffnen der Blende sinken die Tiere ab
und eilen dann vom Licht fort. Erfolgt das Aufsteigen bei starker
Verdunklung zunächst noch schräg, in der Richtung zum Licht hin,
so nimmt doch die horizontale Komponente der Bewegung immer
mehr ab, je stärker man verdunkelt; bei einer Herabsetzung der
Intensität etwa von J auf X/ erfolgt kaum mehr eine merkliche
Annäherung an das Licht, aber allgemeines Aufsteigen; beim Öffnen
der Blende sodann Absinken und Fliehen vor dem Licht. Auch
bei völliger Verdunklung steigen die Tiere meist an die Ober-
fläche auf.
Die Daphnien reagieren also auf schwache Herabsetzung
der Intensität nicht, auf mittelstarke Herabsetzung durch
Annäherung an das Licht, sie werden positiv-phetotaktisch, auf
sehr starke Herabsetzung der Intensität durch Aufsteigen
an die Oberfläche, und diese Reaktionsweisen sind unter-
einander durch kontinuierliche Übergänge verbunden.
15) Die hier beschriebenen Reaktionen auf Intensitätsveränderungen sind im
wesentlichen schon bekannt. Vgl. z. B. W. F. Ewald (Über Orientierung, Loko-
motion und Lichtreaktionen einiger Cladoceren und deren Bedeutung für die Theorie
der Tropismen, Biolog. Oentralbl., Bd. XXX, 1910, p. 13 ff.); auf p. 16 sagt er:
„Es lässt sich demnach für die Cladoceren der Satz aufstellen: das „Optimum“ der
Belichtung ist relativ bestimmt durch die Lichtintensität, an welche die Tiere adap-
tiert sind. Herabsetzen der Intensität hat Bewegung zum Licht hin, Erhöhen die
Flucht vom Licht fort zur Folge.“
Biologisches Centralblatt 1913. Taf. III.
Fig. 1.
Verteilung der Daphnien in einem Parallelwandgefäß nach längerer Adaptation an das seitlich ein-
fallende weiße Licht. Der Pfeil gibt die Einfallsrichtung des Lichtes an. (Die dunkle Masse, welche
in der Mitte des Gefäßes auf dem Boden liegt, ist Detritus, dessen Lage sich natürlich auf den folgen-
den Bildern nicht verändert.)
Fig. 2.
Verteilung der gleichen Daphnien !/; Minute nach Verminderung der Lichtintensität. Die
Hauptmasse der Tiere hat sich an der Lichtseite unten angesammelt.
Dr. v. Frisch und Dr. Kupelwieser, München. Sinsel & Co. G.m.b.H, Leipzig-Oetzsch.
Biologisches Centralblatt 1913. Taf.
Fig. 3.
Nachdem die Lichtintensität auf die normale Stärke zurückgebracht worden war und die Daphnien
sich wieder so verteilt hatten, wie es die Fig. 1 darstellt, wurde eine Blauscheibe vor die Licht-
quelle gesetzt. Obwohl hiermit eine Verminderung der Lichtintensität verbunden ist, sammeln sich
die Daphnien an der vom Lichte abgewandten Seite des Gefäßes an. (Die Aufnahme ist ca. I Minute
nach dem Vorsetzen der Blauscheibe gemacht).
Die gleichen Daphnien einige Minuten nach Entfernung der Blauscheibe. Sie haben sich wieder durch
das ganze Gefäß zerstreut.
Dr. v. Frisch und Dr. Kupelwieser, München. Sinsel & Co. G.m.b.H, Leip
IV.
Biologisches Centralblatt 1915. Taf. V.
Fig. 5
Reaktion auf Steigerung der Lichtintensität. Die Daphnien sammeln sich an der vom Lichte
abgewandten Gefäßwand, wie nach dem Vorschalten der Blauscheibe (Aufnahme !/,—1 Minute nach
der Intensitätssteigerung).
Dr. v. Frisch und Dr. Kupelwieser, München. Sisel & Co. G.m.b.H, Leipzig-Oetzsch
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 325
Wenn man nun bei geöffneter Irisblende eine Blau-
scheibe vor die Mattscheibe M, (Fig. A) setzt, so eilen die
Daphnien sofort von der Lichtquelle weg und es kommt
zu einer negativen Ansammlung, wie sonst bei Steige-
rung der Lichtintensität, obwohl durch das Vorsetzen
der Blauscheibe die Intensität herabgesetzt wird. Ent-
fernt man die Blauscheibe, so eilen die Tiere auf das
Licht zu, und es kommt zu einer positiven Ansamm-
lung, wie sonst bei Herabsetzung der Intensität, obwohl
durch das Entfernen der Blauscheibe die Intensität ge-
steigert wird.
Es sei aber gleich betont, dass dieser Versuch mit den meisten
käuflichen Blauscheiben nicht gelingt, weil sie zu dunkel sind; es
ist dann mit dem Vorschalten der Blauscheibe eine so starke
Herabsetzung der Lichtintensität verbunden, dass die Verdunklungs-
reaktion über die Farbenreaktion das Übergewicht bekommt und
die Tiere positiv werden; dies mag auch der Grund sein, warum
die früheren Beobachter die hier beschriebene Reaktion übersehen
haben. Wir werden weiter unten eine Farblösung angeben, die
leicht herzustellen ist und ebenso wirkt wie unsere Blauscheibe
(p. 538).
Um eine Vorstellung davon zu geben, mit welcher Deutlichkeit
die Reaktionen stattfinden, bringen wir auf Taf. I und II einige
Blitzlichtaufnahmen. Alle fünf Aufnahmen sind an dem gleichen
Material binnen 50 Minuten gemacht. Eine störende Nachwirkung
von dem kurzen Aufleuchten des Blitzlichtpulvers war an den
Daphnien nicht zu bemerken. Die dunkle Masse, welche in der
Mitte des Gefäßes auf dem Boden liegt, ist Detritus, dessen Lage
natürlich unverändert bleibt.
Taf. III Fig. 1 (aufgenommen 2!°®) zeigt die Verteilung der Daph-
nien im Gefäß nach längerer Adaptation an das Lampenlicht. Die
Tiere sind durch das ganze Gefäß zerstreut, an der „positiven“ wie
an der „negativen Seite“ bemerkt man, namentlich unten, eine
größere Ansammlung von Tieren; die Bildung eines solchen „posi-
tiven“ und „negativen Lagers“ konnten wir öfter beobachten.
Taf. II Fig. 2 (aufgenommen 2?°») zeigt die Verteilung der Tiere
nach einer mäßig starken Herabsetzung der Lichtintensität (Blende
von J/ auf /V, also Herabsetzung der Intensität auf '/,); die Auf-
nahme erfolgte !/, Minute nach der Verengerung der Blende. Man
sieht die Hauptmasse der Daphnien an der positiven Seite unten
angesammelt, an der vom Lichte abgewandten Seite des Gefäßes
sind nur vereinzelte Tiere bemerkbar.
Nach der Aufnahme wurde die Blende sogleich wieder geöffnet
und die Daphnien verteilten sich im Gefäß wieder so, wie es die
Fig. 1 darstellt. Nun wurde die Blauscheibe vorgesetzt (2*°") und
5265 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
ca. 1 Minute darauf die Aufnahme gemacht, welche auf Taf. IV Fig. 3
wiedergegeben ist. Es besteht eine dichte „negative Ansammlung“,
die dem Lichte zugewandte Seite des Behälters ist verödet.
Nun wurde die Blauscheibe entfernt, die Tiere zerstreuten sich
wieder durch das ganze Gefäß (Taf. IV Fig. 4, 2°°»).
Einige Minuten vor 3" wurde die Blende verengert (wieder von
I auf IV); es kam natürlich zu einer „positiven Ansammlung“;
nun wurde abgewartet, bis die Daphnien sich wieder gleichmäßig
zerstreut hatten und dann (3%) die Blende geöffnet und !/,—1 Mi-
nute später die Aufnahme Taf. V Fig. 5 gemacht; man sieht, dass
die Steigerung der Lichtintensität die Tiere negativ gemacht hat,
wie früher das Vorschalten der Blauscheibe.
Nicht selten waren die Reaktionen noch weit auffallender als
bei dem hier photographisch festgehaltenen Versuche.
Um zu zeigen, wie die Versuche im einzelnen durchgeführt
wurden, und als Beleg für die bisher geschilderten Reaktionen
geben wir im folgenden ein Versuchsprotokoll wieder. Es wurden
— aus naheliegenden Gründen — die verschiedenen Abstufungen
der Blendenverengerung nicht der Reihe nach, sondern in willkür-
licher, ungeordneter Reihenfolge durchprobiert und in der Regel
mehrmals zwischendurch die Reaktion auf das Vorschalten der Blau-
scheibe geprüft (in dem hier zitierten Versuche kam die Blauscheibe
erst am Schlusse zur Anwendung).
Versuch vom 23. Februar 1913. 9°°h wurde eine Anzahl Daphnia magna
im Parallelwandgefäß in die Dunkelkammer gestellt und '/, Stunde dem Lampen-
licht bei geöffneter Blende ausgesetzt.
10° n. Blende von I auf 5'%); keine sehr deutliche Reaktion.
10%h, Blende von 5 auf I; deutliche negative Reaktion.
10'h, Blende von / auf 6; die Mehrzahl der Daphnien wird sofort positiv.
10'°h,. Blende von 6 auf I; die Daphnien schwimmen vom Lichte weg.
10'*h, Blende von / auf 3; momentan kurzes Absinken, dann ganz schwache posi-
tive Schwankung, beides aber ziemlich undeutlich.
10!°h, Blende von 3 auf /; einige Tiere zeigen eine negative Reaktion, im Ganzen
keine deutliche Reaktion.
10'%h, Blende von / auf 8; sofort starke positive Reaktion; die Tiere schwimmen
nach der Lichtseite, wo sie sich fast alle versammeln.
10°°h, Blende von 8 auf /; alles flieht vor dem Lichte, nach !;, Minute sind die
Daphnien bereits aka. durch das ganze Gefäß een nach ! „ Mi-
nute ist eine starke negative Ansammlung vorhanden.
10°, Blende von / auf 4; keine deutliche Reaktion.
10°:h, Blende von £ auf ih sehr deutliche, wenn auch nicht starke negative Re-
aktion.
10°'h, Blende von / auf 1/0; die Daphnien werden positiv; die Beobachtung ist
bei der geringen Lichtintensität erschwert.
10°°h, Blende von /0 auf /; jetzt sieht man erst, dass die Daphnien quantitativ
an der positiven Seite angesammelt sind; nun fliehen sie vor dem Lichte,
16) Vgl. Fig. B und die Erläuterung dazu im Text.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 597
nach '/, Minute sind sie durch das ganze Gefäß zerstreut, dann kommt es
zu einer negativen Ansammlung.
10°h, Blende von / auf 9; deutliche positive Reaktion.
10” h, Blende von 7 auf I; die sehr starke positive Ansammlung löst sich flucht-
artig auf.
10°. Blende von / auf 7; ziemlich schwache positive Reaktion.
10°°h, Blende von 7 auf I; starke negative Reaktion.
10%®h, Blende von I auf 2; keine Reaktion.
10°h, Blende von 2 auf I; keine Reaktion.
Nun gehen wir, um noch einige stärkere Verdunklungen als von / auf 10 an-
zuwenden, auf die innere Blendeneinteilung über.
10”h,. Blende von / auf VIII; die Intensität ist so weit herabgesetzt, dass die
Daphnien nicht deutlich zu erkennen sind.
10°*h, Blende von VIII auf I; die Daphnien sind alle an der positiven Seite an-
gesammelt, und zwar die meisten am Boden, einige in der Nähe der Ober-
fläche; nun werden sie stark negativ.
10h, Blende von I auf X; es ist nichts zu erkennen.
10%h, Blende von X auf I; etwa die Hälfte bis ein Drittel der Daphnien ist an
der Oberfläche angesammelt, die übrigen sind vorwiegend in der dem Lichte
zugekehrten Hälfte des Gefäßes, doch nicht unmittelbar an der Gefäßwand;
nun sinken sie ab und werden negativ; um 10°°h sind sie gleichmäßig im
Gefäß verteilt.
10%°h, Blende von I auf XII; es ist nichts zu erkennen.
10°°h, Blende von XII auf /; sie sind gleichmäßig über die ganze Länge des Ge-
fäßes verteilt, etwa die Hälfte der Tiere ist an der Oberfläche; nun sinken
sie ab, dann werden sie negativ, nicht übermäßig stark, immerhin kommt
es zu einer beträchtlichen negativen Ansammlung, die sich rasch wieder
auflöst.
10%; h, Blauscheibe vorgesetzt; alles bewegt sich sofort in der Richtung vom
Lichte weg und es kommt zu einer starken negativen Ansammlung.
10° n. Blauscheibe entfernt; deutliche positive Reaktion, die negative Ansammlung
löst sich auf und die Tiere verteilen sich wieder gleichmäßig im Gefäß.
Man könnte vielleicht meinen, solche Versuche seien noch kein
strenger Beweis für das Vorhandensein von Farbensinn; denn das
Vorschalten des Blau könnte doch für die Daphnien gleichbedeutend
sein mit einer bestimmten Herabsetzung der Intensität, deren Grad
zwischen zwei Graden unserer Blendeneinteilung läge.
Dass dem so wäre, ıst sehr unwahrscheinlich schon deshalb,
weil — wie oben auseinandergesetzt wurde und auch aus dem
Protokoll zu ersehen ist — die Reaktionsweise der Daphnien auf
sehr schwache Verdunklung kontinuierlich übergeht in ihre Re-
aktionsweise auf starke und auf sehr starke Verdunklung; sollte
der Einwand zu Recht bestehen, so müsste mitten in dieser kon-
tinuierlichen Reihe, und zwar zwischen zwei Gradeinteilungen unserer
Blende, ein zweimaliger plötzlicher Umsehlag zu einer gegensinnigen
Reaktionsweise stattfinden; noch unwahrscheinlicher wird eine solche
Annahme dadurch, dass blaue Lösungen von recht verschiedener
Konzentration in gleichem Sinne wirken; und sie lässt sich völlig
zurückweisen auf Grund folgenden Versuches: Setzt man die Blau-
scheibe vor und verengert gleichzeitig die Blende von / auf 2
528 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
oder von / auf 3 oder von / auf 4 (Fig. B), so erfolgt dennoch
jedesmal eine negative Reaktion; erst wenn man gleichzeitig mit
dem Vorschalten der Blauscheibe die Blende von / auf 5 verengert,
halten sich die Farben- und die Intensitätsreaktion die Wage; es
ist interessant zu beobachten, wie dann die Daphnien oft, im Wett-
streit beider Reaktionen, horizontal und senkrecht zur Richtung
der Lichtstrahlen hin- und herschwimmen, ohne sich der Licht-
quelle merklich zu nähern oder sich von ıhr zu entfernen. Noch
stärkeres Verengern der Blende beim Vorsetzen der Blauscheibe
hat dann, je nach dem Grade der Verengerung, langsames oder
rasches Zuschwimmen auf die Lichtquelle zur Folge: es überwiegt
die Verdunklungsreaktion !").
Wollte man nun trotzdem den oben erwähnten Einwand auf-
recht halten, so müsste man annehmen, dass bei vier verschiedenen
Graden der Verdunklung, und zwar immer zwischen je zwei Graden
unserer Blendeneinteilung, jedesmal ein doppelter plötzlicher Um-
schlag zu einer gegensinnigen Reaktion stattfinde. Und zu dieser
Annahme wird sich wohl niemand entschließen.
Als Beleg für das Gesagte diene die Fortsetzung des oben
zitierten Versuchsprotokolls:
105b, Blende von / auf 2 und zugleich Blauscheibe vorgesetzt; die Daphnien
werden alle negativ.
ılh, Blende von 2 auf / und Blauscheibe entfernt; starke positive Reaktion; es
kommt zu einer positiven Ansammlung.
11%h, Blende von / auf 3 und Blauscheibe vorgesetzt; allgemein negative Re-
aktion, starke negative Ansammlung.
11%h, Blende von 3 auf / und Blauscheibe entfernt; starke positive Reaktion und
Ansammlung an der positiven Seite.
11%, Blende von / auf # und Blauscheibe; deutliche und allgemeine negative
Reaktion, aber schwächer und langsamer als die letzten Male.
11°. Blende von 4 auf / und Blauscheibe entfernt; deutliche positive Reaktion,
die negative Ansammlung löst sich auf.
11!°h, Blende von / auf 5 und Blauscheibe; nun herrscht ziemliches Gleich-
gewicht; einige Tiere sieht man positiv, andere negativ werden, die meisten
behalten ihren Abstand von der Lichtquelle bei.
11'?h, Blende von 5 auf Z und Blauscheibe entfernt; die gleiche Sache, einige
Daphnien werden negativ, andere positiv, im ganzen ändert sich ihre Ver-
teilung nicht wesentlich.
11'!h, Blende von / auf 7 und Blauscheibe; deutliche, langsame positive
Reaktion.
11'%h, Blende von 7 auf / und Blauscheibe entfernt; im allgemeinen negative Re-
aktion, doch bleibt ein beträchtlicher Teil der positiven Ansammlung noch
längere Zeit bestehen.
Wie wir die Reaktion bisher geschildert haben, kann sie als
die normale, typische bezeichnet werden; bei der Kompliziertheit
der phototaktischen Reaktionen kann man sich nicht darüber wundern,
17) Verengert man die Blende, lässt die Tiere an die herabgesetzte Intensität
adaptieren und setzt dann erst die Blauscheibe vor, so erhält man auch bei ge-
ringer Lichtstärke eine deutliche Farbenreaktion.
v. Frisch u. Kupelwieser, Uber den Einfluss der Lichtfarbe ete. 529
dass nicht selten Abweichungen von diesem Verlaufe vorkommen,
auf die wir kurz hinweisen müssen:
1. Manchmal verteilen sich die Daphnien auch nach '/,—1stün-
diger Adaptation an das Lampenlicht nicht ganz gleichmäßig durch
das Gefäß, sondern sind dauernd an der positiven oder an der
negativen Seite etwas dichter angehäuft; dies stört die Versuche
nicht wesentlich, dıe Massenbewegungen sind auch unter diesen
Umständen klar zu erkennen.
2. Nicht selten haben wır Daphnienmaterial bekommen, das
auf Vorsetzen der Blauscheibe in gleicher Weise reagierte wie auf
Verdunklung (positiv) oder so undeutlich und unzuverlässig negatıv
wurde, dass keine klaren Resultate zu erhalten waren. Solches
Material ist für unsere Versuche unbrauchbar.
3. Zweimal ıst uns im Verlaufe dıeser Untersuchung, die sich
über ein ganzes Jahr erstreckt, Daphnienmaterial untergekommen,
das nicht nur bei Steigerung der Lichtintensität, sondern auch bei
Herabsetzung derselben negatıv wurde (einmal im Februar, einmal
im Mai). Das eine Mal reagierten die Daphnien nur undeutlich
selbst auf starke Änderungen der Lichtintensität, es war aber doch
sicher erkennbar, dass sie sowohl beı Steigerung wie bei Verminde-
rung der Intensität schwach negativ wurden. Sıe zeigten tagelang
das gleiche Verhalten, während anderes Daphnienmaterial zur gleichen
Zeit bei der gleichen Anordnung normal reagierte. Das andere
Mal zeigten die Tiere auch sowohl bei Erhellung wie bei Verdunk-
lung eine „negative“ Reaktion, aber doch in verschiedener Weise:
Bei Steigerung der Intensität schwammen sie ın normaler Weise
von der Lichtquelle weg; bei Herabsetzung der Intensität sprangen
sie im ersten Moment wild durcheinander, und zwar hauptsächlich
in der Richtung vom Licht weg; dann pflegten sie sich dem lachte
wieder zu nähern. Beim Vorschalten der Blauscheibe eilten alle
vom Lichte weg und waren nach kurzer Zeit fast quantitativ an
der vom Lichte abgewendeten Gefäßwand versammelt. Dieselben
Daphnien reagierten am nächsten Tage völlig normal.
4. Zweimal ist es uns auch vorgekommen, dass Daphnien nicht
nur bei Herabsetzung, sondern auch bei Steigerung der Intensität
positiv wurden. Auch hier war die Reaktion trotzdem verschieden
von der Reaktion auf Entfernung der Blauscheibe, da die Daphnien
bei der Intensitätssteigerung zunächst deutlich negativ wurden
und erst nach !/,—!/, Minute sich der Lichtquelle zu nähern be-
gannen, während sıe beim Entfernen der Blauscheibe sofort auf
das Licht zuschwammen.
5. Schließlich ıst zu erwähnen, dass wir ım Juli 1912 eın
Daphnienmaterial hatten, das beim Vorschalten der Blauscheibe gar
nicht oder nur undeutlich negativ wurde, aber in anderer, sehr
charakteristischer Weise auf das blaue Licht reagierte: Während
530 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe etc.
die Tiere bei mittlerer Herabsetzung der Intensität auf das Licht
zuschwammen, bei starker Herabsetzung an die Oberfläche auf-
stiegen, stürzten sie beim Vorschalten der Blauscheibe mit dem
Kopf voraus nach unten und sammelten sich alle am Boden des
Gefäßes an; beim Entfernen der Blauscheibe stiegen sie wieder in
die höheren Regionen des Gefäßes empor, während sie auf Steige-
rung der Lichtintensität in normaler Weise durch Fortschwimmen
vom Licht reagierten.
Für all diese Abweichungen können wir keine Gründe angeben.
Wir müssen uns damit begnügen, festzustellen, dass meist die ge-
samten Tiere eines bestimmten Fanges gut oder schlecht oder
irgendwie abnorm reagierten, unabhängig von den äußeren Be-
dingungen, denen sie vor und während des Versuches ausgesetzt
waren.
Das seitliche Anbringen der Lichtquelle hat manche Vorteile,
entspricht aber nicht den normalen Bedingungen; daher schien es
uns wünschenswert, auch zu prüfen, wıe die Reaktionen ausfallen,
wenn das Licht von oben kommt.
Zu diesem Zwecke wurde unsere Versuchsanordnung etwas
verändert: der Lampenkasten wurde gehoben und vor dem-
selben ein Spiegel aufgestellt, der, um 45° geneigt, das Licht
in vertikaler Richtung ın das Gefäß mit den Daphnien warf. Da
bei dieser Anordnung zu erwarten war, dass die Daphnien vor-
wiegend in vertikaler Richtung wandern würden, kam ein höheres
Parallelwandgefäß (15 cm lang, 15 cm breit, 20 cm hoch) zur An-
wendung.
Der Versuch hatte folgendes Resultat: Auf jede beliebige Ver-
engerung der Blende — wenn sie nicht zu geringfügig war —
reagierten die Daphnien durch Aufsteigen an die Oberfläche, also
wieder durch Annäherung an die Lichtquelle; wurde die Blende
wieder geöffnet, so entfernten sie sich von der Lichtquelle und
sammelten sich am Boden des Gefäßes an; es geschah dies zum
Teil durch passives Absinken (schwächere Ruderschläge), zum Teil
aber auch durch eine Änderung der Schwimmriechtung: die Daphnien
stellten sich mit der Längsachse ihres Körpers annähernd horizontal
und sanken auf diese Weise vasch ab. Nach Vorschalten der Blau-
scheibe sammelten sich die Daphnien ın gleicher Weise am Boden
des Gefäßes an wie nach Steigerung der Lichtintensität; nach dem
Entfernen der Blauscheibe erfolgte ein allgemeines Aufsteigen der
Tiere — wie nach Herabsetzung der Lichtintensität. Das Resultat
stimmt somit völlig zu dem, was wir bei seitlich angebrachter Licht-
quelle gesehen haben.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 531
ll. Zweiter Fundamentalversuch: Positivierung der Daphnien
durch rotgelbes Licht.
Im vorigen Kapitel wurde gesagt, dass Daphnien, welche beim
Vorschalten einer Blauscheibe vor die weiße Lichtquelle negativ
geworden waren, beim Entfernen der Blauscheibe, trotz der hier-
mit verbundenen Intensitätssteigerung positiv-phototaktisch werden.
Da das Entfernen der Blauscheibe gleichbedeutend ıst mit einem
Hinzufügen von vorwiegend langwelligen Strahlen, lag die Ver-
mutung nahe, dass ganz allgemein langwelliges Licht positivierend
auf die Daphnien wirke, im Gegensatz zur negativierenden Wirkung
des kurzwelligen Lichtes.
Diese Vermutung wird gestützt durch folgende Beobachtung:
Lässt man die Daphnien an das weiße Lampenlicht adaptieren und
schaltet man eine Rot- oder Gelbscheibe oder eine Lösung von
Kaliumbichromat vor, so eilen die Tiere sofort auf die Lichtquelle
zu. Nun ist aber der Versuch in dieser Form nicht verwertbar,
da mit dem Vorschalten der Rotscheibe eine Herabsetzung der
Lichtintensität verbunden ist und die positive Reaktion auch allein
durch diese Intensitätsveränderung ausgelöst sein könnte. Man
muss also das Rot einwirken lassen, ohne dabei die Gesamtintensität
herabzusetzen.
Zu diesem Zwecke brachten wir in dem Kasten X (v gl.Fig. A,p.522)
zwei 100kerzige Osramlampen nebeneinander an; sie waren durch
eine nase hellen voneinander getrennt, derarı dass die Matt-
scheibe M, von beiden Lampen beleuchtet wurde; das Licht wurde
auf dem Wege bis zur Mattscheibe M, so weit zerstreut, dass diese
in allen Teilen gleichmäßig leuchtend schien, auch wenn nur eine
der beiden Lampen brannte; setzte man vor eine Lampe eine Ku-
vette mit einer Lösung von Kalıiumbichromat und ließ beide Lampen
brennen, so mischte sich das orangerote und das weiße Licht und
die Mattscheibe M, erschien gleichmäßig rötlich.
Wir ließen nun Daphnien an das weiße Licht einer Lampe
adaptieren; waren sie gleichmäßig im Gefäß verteilt und
zündeten wir nun die zweite Lampe mit der vorgeschal-
teten Kaliumbichromatlösung an,so schwammen die Daph-
niıen auf die Lichtquelle zu undes kam zu einer Ansamm-
lung der Tiere an der positiven Seite, obwohl sie durch
Verstärkung der Lichtintensität negativ werden.
Dass die Daphnien durch Steigerung der Lichtintensität negatıv
werden, geht aus den im vorigen Kapitel beschriebenen Tatsachen
hervor; um die Sache aber auch für diese spezielle Versuchsanord-
nung zu prüfen, ließen wir zunächst beide Lampen ohne vorge-
schaltete Kaliumbichromatlösung brennen und stellten dabei die
Blende auf 6 (vgl. Fig. B); unsere leuchtende Kreisfläche (M,, Fig. A)
539 v. Frisch u. Kupelwieser, Uber den Einfluss der Lichtfarbe ete.
hatte dann angenähert die gleiche Lichtintensität wie bei geöffneter
Blende und einer brennenden Lampe. Nun prüften wir in be-
liebiger Reihenfolge die Reaktion der Daphnien auf Blenden-
erweiterung von 6 auf 5, 4, 3, 2 und /; mit anderen Worten: wir
nahmen zum Ausgangspunkt die Intensität bei einer brennenden
Lampe und geöffneter Blende (in Wirklichkeit brannten beide
Lampen beı entsprechend verengerter Blende) und prüften die Re-
aktion der Daphnien auf Steigerung der Intensität (in fünf Ab-
stufungen) bis zur Intensität bei zwei brennenden Lampen und
geöffneter Blende. Innerhalb dieser Grenzen muss die In-
tensitätssteigerung liegen, welche damit verbunden ist,
dass wir zur einen brennenden Lampe die zweite Lampe
mit vorgeschalteter Kaliumbichromatlösung hinzufügen.
Es zeigte sich, dass jede Intensitätssteigerung innerhalb der genannten
Grenzen eine negative Reaktion der Daphnien zur Folge hat, die um so
deutlicher wird, je stärker der Intensitätsunterschied ist; das Hin-
zufügen von Orangerot hingegen machte die Tiere trotz der Inten-
sıtätssteigerung positiv; es handelt sich also auch hier um eine
spezifische Wirkung der Farbe.
Ill. Abgrenzung der wirksamen Spektralbezirke.
Das Spektrum der von uns verwendeten, recht lichtstarken
Blauscheibe zeigte einen Absorptionsstreifen ım Rot, ein starkes
Absorptionsband ım Orange und Gelb und ein mäßıges Absorptions-
band im Grün; Blau und Violett wurde ungeschwächt durchgelassen.
Das mit dieser Glasscheibe erzeugte blaue Licht war also recht
heterogen. Da es uns interessierte, welcher Teil des Spektrums
für die negativierende Wirkung dieses Blau verantwortlich zu
machen ist, mussten wir wenig ausgedehnte, scharf begrenzte Be-
ziırke des Spektrums zur Anwendung bringen und stellten uns zu
diesem Zwecke Farblösungen nach den Angaben von Nagel'®) her.
Doch da tauchte sofort eine Schwierigkeit auf: Schaltet man vor
die Lampe blaue Farblösungen von solcher Konzentration, dass
man scharf begrenzte Ausschnitte aus dem Spektrum erhält, so
wird dadurch die Lichtstärke viel zu sehr herabgesetzt; die Daph-
nien werden positiv, es überwiegt die Verdunklungsreaktion.
Wir haben uns so geholfen, dass wir als Lichtquelle statt
einer Lampe zwei Lampen benutzten und vor beide Lampen Farb-
lösungen vorschalteten, z. B. vor die eine Blau, vor die andere
Gelb; die Daphnien sind nach kurzer Zeit an die durch das Vor-
schalten der Farblösungen herabgesetzte Lichtintensität adaptiert
und nun kann man durch Auslöschen oder Anzünden der einen
oder anderen Lampe beliebige Spektralbezirke wegnehmen oder
18) Biolog. Centralbl., Bd. XVIII, 1898, p. 649—655.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 533
hinzufügen, ohne die Lichtintensität so stark zu verändern, dass
die Farbenreaktionen unterdrückt werden.
Unser Lampenkasten X (Fig. A) musste für diese Versuche
abgeändert werden; Fig. © zeigt ıhn ın seiner neuen Gestalt; der
Deckel ist abgehoben, um das Innere demonstrieren zu können.
Der Innenraum ist durch eine Längswand (W) ın zwei Fächer ge-
teilt; in jedem Fache hängt bei geschlossenem Deckel eine 100-
kerzige Osramlampe. Die Innenwände dieser Abteilungen sind weiß
gestrichen. Vorne sind die beiden Fächer durch einen Rahmen (7)
Fig. ©.
begrenzt, welcher zur Aufnahme der Kuvetten mit den Farblösungen
dient; die Kuvetten werden durch die seitlichen Öffnungen des
Rahmens (b) eingeschoben. Das Licht trifft die Mattscheibe M,,
wird durch diese zerstreut und gelangt gut gemischt an die Matt-
scheibe M,, welche wieder die Lichtquelle für die Daphnien dar-
stellt. Die seitlichen Öffnungen des Kastens sind während des
Versuches durch schwarze Vorhänge lichtdicht abgeschlossen.
Wir stellten uns nun, meist nach den Angaben von Nagel’),
neun verschiedene Farblösungen ?®) her; da nun aber bei der Kom-
19)al2e.
20) Dieselben waren:
I. Rot: Lithiumkarmin,
II. Rotgelb: Kaliumbichromat,
III. Orange (lichtschwach): Saffranin — Kupferazetat + Essigsäure,
IV. Gelb: Kaliumbichromat —+ Essigsäure gekocht mit Kupferazetat,
XXXII. 35
34 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
bination einer dunklen Farblösung mit einer hellen wiederum der
Übelstand eintreten kann, dass die Intensitätsveränderungen zu
stark werden und die Farbenreaktionen unterdrücken, hielten wir
jede dieser Lösungen in verschiedenen Graden der Verdünnung vor-
rätig und konnten nun bei jeder Farbenkombination die Helligkeit
der Lösungen nach Bedarf varıieren. Wir hatten so 36 Lösungen
zur Verfügung, deren jede einen scharf umschriebenen Spektral-
bezirk repräsentierte; denn dıe Lösungen wurden nur so weit ver-
dünnt, dass diese Bedingung erfüllt blieb.
Es war nicht vorauszusagen, ob die positivierende, resp. negati-
vierende Wirkung der Farben an bestimmte Spektralbezirke ge-
bunden sei, oder ob bei der Kombination zweier beliebiger Spektral-
bezirke stets der Bezirk, welcher dem kurzwelligen Ende des Spek-
trums näher liegt, gegenüber dem anderen Bezirk negativierend
wirke. Es hat sich gezeigt, dass das erstere der Fall ist: Die
langwellige Hälfte des Spektrums, das Rot, Gelb und
Grün bis etwa zur Linie 5b, zieht die Daphnien an, wirkt
positivierend; die kurzwellige Hälfte des Spektrums, das
Blaugrün, Blau und Violett stößt die Daphnien ab, wirkt
negativierend.
Um zu zeigen, auf welche Weise dieses Resultat gewonnen
wurde, wollen wir einen der Versuche etwas ausführlicher besprechen:
Wir stellten das Parallelwandgefäß mit Daphnien in die Dunkel-
kammer vor den ın Fig. © abgebildeten Apparat und ließen die
Tiere an das Lampenlicht adaptieren; es brannten beide Lampen
und zwar war die eine Lampe mit der grünen Lösung V, versehen,
die andere mit Oyanblau VII, (vgl. Fig. DJ. Mit den römischen
Ziffern I—IX bezeichnen wir unsere 9 verschiedenen Farblösungen
(vgl. Anm. 20 auf S. 533), die beigesetzten arabischen Ziffern be-
zeichnen den Grad der Verdünnung: 7, ist das konzentrierteste Rot,
I, der erste Grad der Verdünnung etc.). Die Lampen waren also
mit Grün V, und Cyanblau VII, versehen und die Mattscheibe M,
(Fig. ©) leuchtete in einem entsprechenden Mischlicht. Nachdem
die Daphnien adaptiert und ziemlich gleichmäßig ım Gefäß verteilt
sind, löschen wir das grüne Licht aus: die Mattscheibe erscheint
jetzt blau; obwohl das Auslöschen des grünen Lichtes natürlich
eine Herabsetzung der Intensität bedeutet, schwimmen die Daphnien
vom Licht weg, es kommt zu einer starken Ansammlung an der
negativen Seite. Nach 3 Minuten zünden wir das grüne Licht
wieder an; die Tiere beginnen sogleich nach der positiven Seite
V. Grün: Kupferazetat + Essigsäure + wenig Kaliumbichromat,
VI. Blaugrün: Kupferazetat + Essigsäure + Methylgrün,
VII. Oyanblau: Kupferazetat+ Essigsäure + Methylgrün + Gentianaviolett,
VIII. Blau und Violett: Cuprammoniumsulfat,
IX. Grün, Blau und Violett: Kupferazetat.
v. Frisch u. Kupelwieser, Uber den Einfluss der Lichtfarbe etc 535
A aBt D Eb F G h H,Ha
Lösung 1,
& 715 70 65 60 39 50 45 40
A aBc D Eb F G h Hıka
’ I,
8 75 70 65 60 35 v0 45 40
U EREILE, D Eb 5 G h Hılla,
- II,
80 75 70 65. 60 RR) 50 45 40
A aBt D Eb F G h Hıka,
„ JENE
875 1065 60 55 50 45 40
ArranBit D Eb F G h HıHa
„ V;
8075 065 0 5 50 45 4)
Ar aaBit D Eb E G h HHa
” #1,
8075 7065 MW 55 5% 45 40
A aBt D Eb F G h HıHz,
VI, zen _—
8 75 0 65 55 50 45 40
A aBC D Eb H G h HıHa,
\ KaaRs
0 75 065 5) 50 45 0
A aBßt D E F G h HıHa
80 75 065 60 59 % 45 40
A aBtl D Eb E G h Rı Ha,
KG US 60 5 s0 45 40
Fig. D. Spektra einiger Farblösungen. Die schwarz gehaltenen Spektralbezirke
werden von den betreffenden Lösungen in voller Stärke durchgelassen, die weiß ge-
haltenen Gebiete vollständig absorbiert, die grauen in ihrer Intensität geschwächt.
35*
536 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
zu wandern (bei Steigerung der Lichtintensität ohne Farbenänderung
wandern sie vom Lichte weg, was wir weiterhin wohl nicht mehr
zu betonen brauchen). Bei oftmaliger Wiederholung liefert dieser
Versuch stets das gleiche Resultat.
Auch wenn wir die blaugrüne Lösung VI, statt VII, verwenden, also Grün V,
mit Blaugrün VI, kombinieren, erfolgt mit gleicher Deutlich keit Negativierung
durch Auslöschen des grünen Lichtes, Positivierung durch Anzünden desselben. Im
gleichen Sinne fällt die Reaktion aus, wenn wir Grün V, mit Violett VIIl, kom-
binieren. Wenn wir dagegen das Grün V, mit Orange II, kombinieren und nun
das orangefarbene Licht abwechselnd auslöschen und anzünden, erfolgt in keinem
Falle eine Reaktion. Ebensowenig, wenn wir Grün V, mit Rot I, oder I, kom-
binieren. Wohl aber geben die gleichen roten und orangefarbenen Lösungen bei
Kombination mit der blaugrünen Lösung VI, deutliche Reaktionen: Bei der Kom-
bination von Rot /, mit Blaugrün VI, hat das Auslöschen des roten Lichtes ein
allgemeines Wandern gegen die negative Seite, das Anzünden des roten Lichtes
eine sehr starke Ansammlung an der positiven Seite zur Folge; bei der Kombination
von Rot /, mit Blaugrün VI, ist die Reaktion im gleichen Sinne vorhanden, aber
schwach, bei der Kombination von Orange //, mit Blaugrün VI, wieder sehr deutlich.
In gleicher Weise konnten wir zeigen, dass Blaugrün VI, in der Kombination
mit Violett VIII, oder VIII, keine Reaktionen gibt, wohl aber in der Kombination
mit Grün V, oder Gelb IV, (Negativierung durch Auslöschen, Positivierung durch
Anzünden des grünen oder gelben Lichts). Ferner, dass Rot /, mit Gelb /V, kom-
biniert, keine Reaktion gibt, wohl aber mit Cyanblau VII, oder Violett VIIT,.
Um die eben erwähnten Einzelheiten übersichtlich darzustellen,
haben wir Fig. E und F gezeichnet. Fig. E gibt die Spektra von
8 Paaren von Farblösungen wieder, bei deren Kombination man
deutliche Reaktionen der Daphnien erhält: Bei jeder von den 8 Kom-
binationen wurden die Daphnien beim Auslöschen des langwelligeren
Lichts negativ, beim Anzünden desselben positiv-phototaktisch; es
ist kein Unterschied in der Deutlichkeit der Reaktionen zu er-
kennen, ob man nun unmittelbar benachbarte Spektralbezirke (Fig. E, 7)
oder weit auseinanderliegende (Fig. E, $) zur Anwendung bringt.
Fig. F gibt die Spektra von 4 Paaren von Farblösungen wieder,
bei deren Kombination man keine Reaktionen der Daphnien erhält:
Das Auslöschen oder Anzünden des langwelligeren Lichtes bleibt
wirkungslos, auch wenn die angewandten Spektralbezirke relativ
weit auseinanderliegen (wie Fig. F, 2).
Aus diesen und zahlreichen anderen Kombinationsversuchen
geht hervor, dass, bei passender Wahl der Intensitäten, von zwei
verschiedenen Spektralbezirken derjenige, welcher dem violetten
Ende des Spektrums näher liegt, negativierend wirkt gegenüber
dem anderen, langwelligeren Bezirk, sofern die beiden Bezirke
auf verschiedenen Seiten der Linie 5 des Spektrums
liegen; dass man dagegen keine Reaktionen erhält bei der Kom-
bination zweier Spektralbezirke, welche beide auf derselben Seite
von der Linie b gelegen sind. Mit anderen Worten: Rot, Gelb
und Grün wirkt positivierend, Blaugrün, Blau und Vio-
lett negativierend auf die Daphnien ein.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 937
Wir haben unsere Versuche auf die Wirksamkeit des für den
Menschen sichtbaren Spektrums beschränkt. Das Ultrarot kommt für
die Daphnien wohl schon wegen seiner starken Absorption ım Wasser
nicht in Frage. Ultraviolett konnte bei unserer Versuchsanordnung
nicht mitspielen, da mehrere Glasplatten in den Strahlengang ein-
geschaltet waren. Es schien uns von keiner wesentlichen Bedeutung
zu sein, auch diese Strahlengattung in die Untersuchung einzube-
ARE D Eb [2 G h Hkz
1. Lösung V,+ VI, ren Ä
RER UTE
BAER VASE LT,
Te u,
DENDL EL
eg ER aa
TS PAI,
N
Bu ET LIWERL,
Fig. E. Spektra von 8 Paaren von Farblösungen; bei jeder der 8 Kombinationen
erhält man deutliche Reaktionen der Daphnien. Wie in Fig. D geben die schwarzen
Striche die Spektralbezirke an, welche von den Lösungen in voller Stärke durch-
gelassen werden.
BC
Aa D BE G h HE
1. Lösung ,+ IV,
=. ’ Le:
a
Fl VI, vs
Fig. F. Spektra von 4 Paaren von Farblösungen; bei keiner der 4 Kombinationen
erhält man Reaktionen der Daphnien.
Br
ziehen, da es wahrscheinlich ıst, dass das Ultraviolett nur indirekt
auf das Auge einwirkt, indem es ın den Augenmedien Fluoreszenz
hervorruft ?!), hierbei wird es bekanntlich in Licht von anderer
Wellenlänge umgesetzt.
Es seı hier noch erwähnt, dass die Deutlichkeit der Reaktıon
von der absoluten Lichtintensität in hohem Grade unabhängig
ist, sofern die Daphnien nur an die Intensität adaptiert sind.
So erhielten wir z. B. bei der Kombination von Orange //, mit
Blau IX, eine sehr deutliche negative Reaktion nach Auslöschen
21) Vgl.C. Hess, Über Fluoreszenz an den Augen von Insekten und Krebsen.
Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 137, 1911, p. 339—349.
538 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe etc.
des orangefarbenen Lichtes, positive Reaktion nach Anzünden des-
selben. Wir verengerten nun die Blende von / auf 5 (vgl. Fig. B)
und ließen die Daphnien !/, Stunde adaptieren; Auslöschen und
Anzünden des orangefarbenen Lichtes hatte nun den gleichen Effekt.
Die Blende wurde von 5 auf /0 verengert; mit gut ausgeruhten
Augen waren die Daphnien bei diesem Lichte noch eben zu er-
kennen; nach t/,stündiger Adaptation hatte Auslöschen und Anzünden
der Orangelampe den gleichen Effekt wie zuvor.
Will man sich die Reaktionen ohne den hier beschriebenen,
immerhin etwas komplizierten Apparat ansehen, so empfehlen wir
als Blaufilter die Lösung VI/ (vgl. S. 533, Anm. 20); wir erhalten
durch Vorschalten dieser Lösung bei der in Fig. A (S. 522) abge-
bildeten Versuchsanordnung ebenso deutliche Negativierung wie mit
unserer Blauscheibe, wenn die Lösung so stark verdünnt ist, dass
sie blassblau erscheint und in ihrem Spektrum zwei deutliche Ab-
sorptionsstreifen zeigt, einen im Rot und einen im Gelb, das fast
ganz ausgelöscht ist. Um die Positivierung durch rotgelbes Licht
einwandfrei zu zeigen, muss man zwei Lampen haben (vgl. S. 531);
es empfiehlt sich dann, als Rotlösung für die eine Lampe eine kalt-
gesättigte Lösung von Kaliumbichromat anzuwenden.
Wem es nur darauf ankommt, das Wesentliche der hier ge-
schilderten Reaktionen, unter Verzicht auf einen exakten Nachweis
des Farbensinnes der Daphnien, zur Anschauung zu bringen, der
mache folgenden Versuch: Man stelle an einem hellen Fenster drei
Glasschalen (Petrischalen) mit Daphnien nebeneinander auf schwarzem
Grunde auf. Dann stülpt man über eine Glasschale eine blaue,
über die zweite eine rote oder gelbe Glasglocke??) und über die
dritte etwa eine Düte von weißem Papier. Entfernt man nun nach
ca. !/, Stunde die Hüllen und setzt hiermit wieder alle drei Gruppen
von Daphnien dem gleichen, weißen Lichte aus, so reagieren sie
darauf (ein geeignetes Daphnienmaterial vorausgesetzt, vgl. S. 529)
in typisch verschiedener Weise: in dem Glase, das mit Papier be-
deekt gewesen war, sammeln sich die Daphnien an der vom Fenster
abgewandten Seite, sie werden durch die Steigerung der Licht-
intensität negativ-phototaktisch; in der Schale, die unter der blauen
Glocke gestanden hatte, sammeln sich dagegen die Daphnien an
der dem Fenster zugewandten Seite; auch hier wird, durch das
Entfernen der blauen Glocke, die Lichtintensität gesteigert; aber
die negativierende Wirkung dieser Intensitätssteigerung wird unter-
drückt und es kommt sogar eine starke positive Reaktion zustande
dadurch, dass für die an blaues Licht adaptierten Daphnien nun
22) Senebier’sche Glocken oder farbige Glasampeln, wie sie für den Gebrauch
in Kirchen und vor Gräbern käuflich sind.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 539
das weiße Tageslicht relativ reich an langwelligen, positivierenden
Strahlen ist. In dem dritten Glase hatten sich die Daphnien an rotes
oder gelbes Licht adaptiert. das Tageslicht ist für sie nun relativ reich
an kurzwelligen Strahlen, deren negativierender Einfluss sich zur
negativierenden Wirkung der Intensitätssteigerung hinzugesellt, die
negative Reaktion verstärkend. So übt also auf Daphnien, die
sich in blauem, und auf solche, die sich in gelbem Lichte befunden
haben, das gleiche weiße Licht die entgegengesetzte Wirkung aus
— eine Erscheinung, der wohl ähnliche Vorgänge im Auge oder
im Zentralnervensystem der Daphnien zugrunde liegen dürften, wie
jene sind, welche es bedingen, dass uns Menschen das gleiche weiße
Licht bläulich erscheint, wenn wir einige Zeit durch gelbe, gelb-
lich, wenn wir durch blaue Gläser gesehen haben.
IV. Der Einfluss farbigen Lichtes auf die Augenbewegungen
der Daphnien.
Es ist seit Rädl’s®) Untersuchungen bekannt, dass das große
Auge der Daphnien, welches in einem Hohlraum des Kopfes durch
Muskeln bewegt wird, eine bestimmte Stellung zur Lichtrichtung ein-
zunehmen sucht und es wird wohl allgemein angenommen, dass
hierdurch die Normalstellung des ganzen Daphnienkörpers bestimmt
wird: das Tier pflegt, ohne Rücksicht auf „oben“ und „unten“,
der Lichtquelle den Rücken zuzukehren und bei dieser Stellung
sind alle Augenmuskeln angenähert gleichmäßig gespannt; dreht
sich der Körper aus dieser Lage heraus, so behält doch das Auge
seine Stellung zum Lichte bei, indem sich die Muskeln der ent-
sprechenden Seite kontrahieren und das Auge relativ zum Körper
drehen; in der Kontraktion der Augenmuskeln herrscht erst wieder
Gleichgewicht, wenn der Körper seine Normallage wiedergewonnen
hat. Da man bei geeigneter Versuchsanordnung auch ohne Ver-
änderung der Einfallsrichtung des Lichtes, nur durch Änderung
der Liehtintensität deutliche Augenbewegungen auslösen kann,
hat man versucht, auch die Reaktionen der Daphnien auf Intensitäts-
schwankungen des Lichtes mit diesen Augenbewegungen in Zu-
sammenhang zu bringen; doch ist die Durchführung dieses Ge-
dankens bisher nıcht geglückt. Tatsache ist, dass das Daphnienauge
auf Intensitätsschwankungen des Lichtes in charakteristischer Weise
reagiert und es lag somit für uns nahe, zu untersuchen, ob nicht
auch charakteristische, von den Intensitätsreaktionen vielleicht ver-
schiedene Farbenreaktionen des Daphnienauges nachzuweisen sind
— um so mehr, als Hess bereits den Einfluss farbigen Lichtes
auf die Augenbewegungen der Daphnien studiert hatte und dabei
23) E. Rädl, Über den Phototropismus einiger Arthropoden. Biolog. Centralbl.,
Bd. XXI, 1902.
540 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
zu dem Resultat gekommen war, dass sich auch hierin die Tiere
so verhalten, wie es bei total farbenblinden Organismen zu er-
warten ist.
Um das Folgende verständlich zu machen, müssen wir zunächst
etwas ausführlicher die Augenbewegungen schildern, mit welchen
die Daphnien der Lichtquelle folgen, wenn diese relativ zum
Daphnienkörper bewegt wird.
Wir klemmen eine Daphnia pulex?*) derart zwischen Objekt-
träger und Deckglas fest, dass sie sich nicht bewegen kann, aber
auch nicht zu stark gedrückt ist und bringen sie bei der aus Fig. G
ersichtlichen Versuchsanordnung in der Dunkelkammer auf den
Fig. G. L Zeiß’sche Bogenlampe, 5 schwarzer Schirm, mit einem kleinen Loche
versehen, W Wasserfilter zur Absorption der Wärmestrahlen.
drehbaren Objekttisch des Mikroskops, und zwar so, dass das Tier
der Lichtquelle den Rücken zukehrt, wie es die Stellung 7 der Fig. H
(5. 542) darstellt („Normalstellung“); die Augenmuskeln (M) sind
gleichmäßig gespannt, der Nervus optieus (N) zieht in geradem
Verlauf aus dem Auge zum Ganglion (G) und der Scheitel S des
Auges ist der Lichtquelle zugekehrt. Diese Lage sucht das Auge
auch bei allen folgenden Körperstellungen möglichst beizubehalten ?):
24) Daphnia pulex ist für diese Versuche im allgemeinen besser geeignet als
Daphnia magna.
25) Auch Rädl sagt, dass das Auge seinen „Scheitel‘‘ der Lichtquelle zuzu-
kehren suche; doch scheint er unter „Scheitel“ den dem Nervenaustritt gegenüber-
liegenden Pol zu verstehen, da er von einer „sagittalen Achse“ spricht, „welche den
Scheitel des Auges mit dem Nervenaustritt verbindet“ (I. e., p. 77, Anm.); Wolter-
eck bemerkt hingegen in einer kürzlich erschienenen Abhandlung (Über Funktion,
Herkunft und Entstehungsursachen der sogen. „Schwebe-Fortsätze‘“ pelagischer
Cladoceren, Zoologiea, Heft 67, p. 495), das Daphnienauge werde „im Lichtgefälle
immer so orientiert, dass die Augenbasis mit dem Nervaustritt dem
stärksten Licht, der Gegenpol... dem tiefsten Schatten soweit als
möglich zugewendet wird“. Bei Daphnia pulex und magna können wir diese
Angabe nicht bestätigen.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe etc. 541
Drehen wir den Objekttisch so, dass der Daphnienkörper die Stel-
lung 2 einnimmt, so verkürzen sich die ventralen Augenmuskeln,
das Auge dreht sich etwas und diese Drehung kommt auch im
Verlauf des Augennerven deutlich zum Ausdruck. Bei weiterer
Drehung des Daphnienkörpers (Stellung 3, 4, 5) wird diese Torsıon
des Auges stärker, reicht aber nıcht mehr hin, um den Scheitel
völlig dem Lichte zuzukehren und bald kommt eine Stellung (zwischen
5 und 6), bei welcher trotz maximaler Kontraktion der ventralen
Augenmuskeln der Scheitel des Auges vom Lichte abgewandt wird;
nun schnappt das Auge plötzlich in eine andere Lage
über (Stellung 6), indem die erschlafften dorsalen Muskeln sich
maximal kontrahieren, die ventralen Muskeln dagegen erschlaffen,
und so wird neuerdings der Scheitel des Auges der Lichtquelle
möglichst zugekehrt; bei weiterer Drehung des Daphnienkörpers
(Stellung 7) erschlaffen die dorsalen Muskeln allmählich, bis die
Normalstellung (2) wieder erreicht ist.
Dreht man den Daphnienkörper, von der Normalstellung aus-
gehend, in der umgekehrten Richtung, so dass auf Stellung 1 Stel-
lung 7, dann 6, 5 ete. folgt, so gilt auch hierfür die in Fig. H ge-
gebene Darstellung; nur ist die Lage, bei der das Umschnappen
des Auges aus der einen extremen Stellung in die andere erfolgt,
etwas verschieden je nach der Drehungsrichtung, in dem Sinne,
dass das Auge die Lage, in der es sich befindet, beizubehalten
sucht: Bei Drehung des Körpers von Stellung I nach 2, 3 ete. wird
das Auge etwa knapp vor Stellung # dorsal umschnappen, bei der
Drehung des Körpers in der umgekehrten Richtung dagegen etwa
bei Stellung 5 ventral umschnappen *).
Dies also sind die Augenbewegungen, durch welche die Daphnien
eine Lichtquelle zu fixieren suchen und welche offenbar dafür ver-
antwortlich zu machen sind, dass diese Tiere stets — außer wenn
sie gerade rasch auf das Licht zuschwimmen — der Lichtquelle
den Rücken zukehren. Es wurde schon erwähnt, dass man auch
durch Intensitätsveränderungen des Lichtes Augenbewegungen
auslösen kann: Dreht man bei der oben geschilderten Versuchs-
anordnung eine Daphnie aus der Stellung 7 (Fig. H) etwa in Stel-
lung 3, wobei sich die ventralen Augenmuskeln verkürzen, und
löscht nun das Licht der Bogenlampe aus?”), so kehrt das Auge
26) Wir haben uns hier auf den einfachen Fall beschränkt, dass die Einfalls-
richtung des Lichtes bei allen Stellungen des Daphnienkörpers in der Sagittalebene
der Daphnien liegt; anf die etwas komplizierteren jedoch im wesentlichen gleichen
Verhältnisse bei seitlichem Lichteinfall brauchen wir nicht einzugehen.
27) Um eine genaue Beobachtung zu ermöglichen, muss man nicht nur bei
diesem, sondern bei allen in diesem Kapitel beschriebenen Versuchen außer dem
auffallenden Licht der Bogenlampe ein Minimum von durchfallendem Lichte an-
Be Dieses muss so schwach sein, dass seine Abblendung keine Augenbewegung
auslöst.
542 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe etc.
ın die Ruhestellung (alle Muskeln gleichmäßig gespannt) zurück;
Anzünden des Lichtes hat neuerliche Kontraktion der ventralen
Augenmuskeln zur Folge. Auch durch relativ geringe Verminde-
rung der Lichtintensität kann man schon die ventralen Augen-
muskeln zum Erschlaffen, durch darauffolgende Verstärkung der
Intensität wieder zu stärkerer Kontraktion veranlassen. Hat man
6
Licpteinfall
Fig. H.
die Daphnie aus der Normallage nach der anderen Richtung ge-
dreht, also etwa in Stellung 7 gebracht, so kann man auch hier
durch Verringerung der Lichtintensität ein Erschlaffen der ge-
spannten (jetzt der dorsalen) Muskeln, durch Intensitätssteigerung
ihre stärkere Kontraktion auslösen. Wir haben aber auch oft Daphnien
unter dem Mikroskop gehabt, welche bei jeder Körperstellung auf
Verminderung der Lichtintensität durch Kontraktion der dorsalen
Augenmuskeln (und zwar oft maximale Kontraktion!) reagierten?®).
28) Das gleiche hat W. F. Ewald (l. c,, p. 52) beobachtet. Er schreibt:
„Jch habe versucht, die Augenbewegungen von Daphnia auch zu ihren Reiz-
v. Frisch u. Kupelwieser, Uber den Einfluss der Lichtfarbe ete. 543
Diese Augenbewegungen hat nun Hess?’) benützt, um den
Einfiuss farbigen Lichtes zu studieren.
Er schreibt (l. e., p. 291): „Wird ein Daphnienauge, das bei der schwächsten
zur Beobachtung genügenden Belichtung geradeaus gerichtet ist, durch ein Reiz-
licht von bestimmter Stärke z. B. von der Seite her getroffen, so dreht es sich um
einen bestimmten Winkel in der Richtung nach dem Lichte hin. Wird nun die
Lichtstärke dieses Reizlichtes bei unveränderter Einfallsrichtung erhöht, so wendet
das Auge sich noch weiter in der Richtung zum Lichte; wird die Lichtstärke ge-
mindert, so kehrt es wieder mehr oder weniger weit in der Richtung zu seiner
Ausgangsstellung zurück...“ Er bezeichnet die bei abnehmender Belichtung des
Auges erfolgenden Bewegungen als „Verdunklungsbewegungen“, die bei zunehmender
Belichtung erfolgenden als „Erhellungsbewegungen“ und konstatiert nun, dass, wenn
man das Auge in raschem Wechsel mit verschiedenen Bezirken eines Spektrume
belichtet, beim Übergang von Gelbgrün zu Rot eine starke, beim Übergang von
Gelbgrün zu Blau eine schwache Verdunklungsbewegung erfolgt, umgekehrt beim
Übergang von Rot oder von Blau zu Gelbgrün eine entsprechend starke Erhellungs-
bewegung. Der Übergang von Blau zu Rot veranlasste eine ausgiebige Verdunk-
lungsbewegung, von Rot zu Blau eine ausgiebige Erhellungsbewegung.
(l. e., p. 294): „Die geschilderten Versuche am Spektrum ergänzte ich durch
solche mit Glaslichtern: Die Tiere werden unter dem Mikroskop ... im auffallenden
Lichte der Zeiß’schen Bogenlampe untersucht. In passenden Rahmen hatte ich
z. B. ein rotes und ein blaues Glas dicht nebeneinander so angebracht, dass bei
kleinen Verschiebungen des in den Lichtkegel gehaltenen Rahmens das Tier bald
mit dem roten, bald mit dem blauen Lichte bestrahlt wurde. Auch hier machte
das Daphnienauge bei Übergang von Blau zu Rot regelmäßig ausgiebige Verdunk-
lungsbewegungen, bei Übergang von Rot zu Blau ausgiebige Erhellungsbewegungen.
„Meinem helladaptierten Auge erschien das Rot wieder viel heller als das
Blau, während dem dunkeladaptierten das durch einen passenden Episkotister be-
trachtete (jetzt farblos gesehene) Blau heller als das Rot erschien.
„Bei weiteren Versuchen mit Glaslichtern hatte ich farbige durchgefärbte
Glaskeile (Zeiß) in einem Rahmen nebeneinander verschieblich angebracht, so dass
ich je nach Bedürfnis ein für mein helladaptiertes Auge helles Rot mit einem sehr
dunklen Blau oder aber ein für mich sehr dunkles Rot mit einem sehr hellen Blau
zur abwechselnden Belichtung des Daphnienauges verwenden konnte. In anderen
Beobachtungsreihen brachte ich neben dem roten einen grünen Glaskeil an und
nahm mit dieser Kombination in gleicher Weise wie vorher den Belichtungswechsel
vor. Die Ergebnisse zahlreicher derartiger Versuche stimmten stets darin überein,
dass das Rot, wenn es bei passend herabgesetzter Lichtstärke beider Reizlichter
mittels Episkotisters meinem dunkeladaptierten Auge beträchtlich dunkler erschien
als das Blau bezw. Grün, auch bei den in den fraglichen Versuchen benützten hohen
Lichtstärken Verdunklungsbewegungen des Daphnienauges hervorrief, obschon es
bei diesen meinem helladaptierten Auge beträchtlich heller erschien als das Blau
bezw. Grün. Doch konnte ich bei dem fraglichen Belichtungswechsel auch mit Rot
Erhellungsbewegungen und mit Blau Verdunklungsbewegungen auslösen, wenn ich
die Lichtstärke des Rot so weit steigerte und die des Blau bezw. Grün so weit herab-
setzte, dass auch meinem dunkeladaptierten Auge bei gleichmäßiger Herabsetzung
reaktionen in Beziehung zu setzen. Die Versuchstiere reagierten aber auf Be-
schattung des Auges meist durch Kontraktion des oberen Augenmuskels, gleichgültig,
wie sie zum Licht orientiert waren. Die Reaktionen waren zudem so unsicher, dass
ich von einem genaueren Eingehen auf diese Frage Abstand nehme.“
29) C. Hess, Neue Untersuchungen über den Lichtsinn bei wirbellosen Tieren.
Arch. f. d. ges. Physiol., Bd. 136, 1910.
544 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
der Lichtstärken beider Reizlichter das (nun farblos gesehene) Rot beträchtlich
heller erschien als das Blau bezw. Grün.
„Die mitgeteilten Beobachtungen lehren die überraschende Tat-
sache, dass für die fraglichen Augenbewegungen die Helligkeiten,
in welchen die farbigen Lichter erscheinen, von ausschlaggebender
Bedeutung sind. Bei allen meinen Versuchen zeigten die Augen-
bewegungen der Daphnien in den hier wesentlichen
Punkten eine solche Abhängigkeit von der Wellenlänge
des Lichtes, wie es der Fall sein muss, wenn die rela-
tiven Helligkeiten der verschiedenen farbigen Lichter
hier ähnliche oder die gleichen sind wie für das total
farbenblinde Menschenauge.“
Wir haben die Hess’schen Beobachtungen nicht nachgeprüft
und bestreiten nicht ihre Richtigkeit. Aber wir haben gefunden,
dass bei einer bestimmten Versuchsanordnung die Augenbewe-
gungen der Daphnien eine solche Abhängigkeit von der
Wellenlänge des Lichtes zeigen, wie es nicht der Fall
sein kann, wenn die farbigen Lichter dem Daphnienauge
ähnlich oder gleich erscheinen wie dem total farben-
blinden Menschenauge Die Wirkung von rotem und
gelbem Lichte war von der Wirkung blauen Lichtes
qualitativ verschieden.
Wir brachten eine zwischen Objektträger und Deckglas fest-
geklemmte Daphnia pulex oder D. magna bei der aus Fig. G er-
sichtlichen Versuchsanordnung unter das Mikroskop und gaben ihr
die der Stellung 4 (Fig. H) entsprechende Lage°").
Das Auge war, außer von dem starken, seitlich einfallenden Lichte der Bogen-
lampe, zur besseren Beobachtung von unten, durch den Mikroskopspiegel, mit relativ
sehr schwachem Lichte beleuchtet; außerdem befand sich neben dem Fuße des
Mikroskops eine beleuchtete weiße Fläche, um die Augenstellungen mit dem Zeichen-
apparat festhalten zu können (natürlich war diese letztere Nebenbeleuchtung so an-
gebracht, dass sie für das Daphnienauge unsichtbar war). Das Auge wurde bei
nicht zu schwacher Vergrößerung beobachtet (Zeiß Obj. ©, Oe. 1).
Wir füllten nun in zwei Kuvetten eine orangefarbene (gesättigte
Lösung von Kaliumbichromat) und eine blaue Lösung (Nr. VII der
auf S. 533 genannten Strahlenfilter) von solcher Konzentration,
dass beide Lösungen dem total farbenblinden Auge ängenähert
gleich hell erschienen®'), Wenn die Sehqualitäten der Daphnien
angenähert oder völlig die gleichen sind wie die des total farben-
blinden Menschen, ist zu erwarten, dass die beiden Farblösungen,
30) Wir gingen meist so vor, dass wir die Daphnia etwa aus Stellung 7 über
Stellung 7 nach 6 etc. drehten, bis das Auge ventral umschnappte.
31) Wir wählten die Konzentration der Blaulösung so, dass sie unsern dunkel-
adaptierten Augen bei passend herabgesetzter Lichtstärke eben deutlich etwas dunkler
erschien als das Kaliumbichromat, so dass der vorhandene Unterschied, wenn er
überhaupt wirksam war, zu unsern Ungunsten wirken musste.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 545
vor die Lichtquelle vorgeschaltet, die gleiche Wirkung auf das
Auge ausüben. Es zeigte sich, dass die Wirkung der orange-
roten und der blauen Farbe auf die Augenbewegung
einander direkt entgegengesetzt waren. Schalteten wir (bei
F, Fig. G) das Kaliumbichromat vor die Lampe, so schnappte das
Auge sofort nach der Dorsalseite um, in dıe Lage, welche es sonst
bei Stellung 6 (Fig. H) einnimmt, oder es machte wenigstens eine
starke Drehung in dieser Richtung; entfernten wir die Lösung, so
kehrte es wieder ın die ursprüngliche Lage zurück ®?). Schalteten
wir nun die blaue Lösung vor die Lampe, so bemerkten wir ein
schwaches Zucken des Auges, in manchen Fällen eine noch stärkere
Kontraktion der ventralen Augenmuskeln. Beim Entfernen
der Blaulösung erfolgte nun in manchen Versuchsreihen regelmäßig
Umschnappen des Auges ın dorsaler Richtung oder doch eine deut-
liche Verkürzung der dorsalen Muskeln, worauf das Auge nach
einiger Zeit in die ursprüngliche Lage zurückkehrte. (In anderen
Fällen bemerkten wir beim Entfernen der Blaulösung keine Reaktion
oder nur ein schwaches Zucken des Auges.)
Es ist wichtig, hervorzuheben, dass diese Reaktionen von der
Konzentration der Lösungen, also auch von der Helligkeit, in der
diese einem total farbenblinden Auge erscheinen, in hohem Grade
unabhängig sind. Wir erhielten genau die gleichen Resultate, als
wir die Kaliumbichromatlösung mit dem 15fachen Volumen Wassers
versetzten und die Blaulösung entsprechend verdünnten, so dass
sie dem farbenblinden Menschenauge wieder angenähert gleich hell
erschien. Wir erhielten auch die gleichen Resultate, wenn wir
statt des Kaliumbichromat rote oder gelbe Glasscheiben, statt der
blauen Lösung blaue Glasscheiben vorschalteten.
Verdunkelten wir die Lichtquelle, indem wir vor die
Bogenlampe statt der Farblösungen farblose Mattscheiben oder
Paraffinpapier oder einen undurchsichtigen Karton setzten, so
wirkte dies auf das Auge in gleichem Sinne wie das Vor-
schalten des Kaliumbichromat: das Auge schnappte in die
Dorsallage um oder bewegte sich doch deutlich ın dieser Richtung,
wobei aber manchmal durch keinen Grad der Verdunklung eine so
starke Dorsaldrehung des Auges zu erzielen war, wie durch das
rote Licht. Wır erinnern daran, dass auch auf die Be-
wegung freischwimmender Daphnien die Farbe des
Kaliumbichromat in gleichem Sinne wirkt wıe Verdunk-
32) Dieses Zurückkehren in die ursprüngliche Lage erfolgt nicht immer syn-
chron mit dem Entfernen der Orangelösung: ließen wir das Orangerot nur sehr
kurz (etwa !/,—1 Sekunde) einwirken, so blieben die dorsalen Augenmuskeln manch-
mal noch mehrere Sekunden kontrahiert, dagegen kehrte das Auge bei langer Ein-
wirkung des Orangerot etwa nach '/, Minute (allgemein gültige Zahlen lassen sich
jedoch nicht angeben) von selbst in die anfängliche Lage zurück.
546 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
lung der Lichtquelle, beides macht die Tiere positiv-
phototaktisch (vgl. S. 531). Entfernen der Mattscheiben, also Ver-
stärkung der Lichtquelle, hatte Kontraktion der ventralen
Augenmuskeln zur Folge, wirkte also im gleichen Sinne auf
die Augenbewegung wie Vorschalten der Blaulösung;
wir erinnern daran, dass auch freischwimmende Daphnien
auf Vorschalten eines blauen Strahlenfilters in gleicher
Weise reagieren wie auf Verstärkung der Lichtquelle,
beides macht die Tiere negativ-phototaktisch (vgl. S. 521).
Fig. I, welche nach einer mit dem Zeichenapparat entworfenen
Skizze angefertigt ist, stellt den Kopf einer Daphnia magna dar.
Es wurde, bei oben geschilderter Versuchsanordnung mit vorge-
schaltetem Blaufilter, die Lage des Auges, des Augennerven und
der Augenmuskeln eingetragen (die ausgezogenen Linien) und
Fig. I.
dann statt der blauen die orangerote Lösung von gleichem farb-
losen Helligkeitswert vorgeschaltet, und neuerdings die Lage von
Auge, Nerv und Muskeln gezeichnet (die punktierten Linien).
Um zu zeigen, mit welcher Regelmäßigkeit die Reaktionen erfolgen
können, geben wir das zu diesem Falle gehörige Versuchsprotokoll
wieder:
Versuch vom 27. Juni 1913; Daphnia magna unter dem Mikroskop in einer
der Stellung 4 (Fig. H) entsprechenden Lage. Wir verwenden als Strahlenfilter
eine gelbe (ges. Kaliumbichr., 15fach mit Wasser verdünnt) und eine blaue Lösung
von angenähert gleichem farblosen Helligkeitswert.
Wir schalten Blau vor die Lichtquelle: das Auge zuckt schwach.
Blaulösung entfernt: das Auge schnappt sofort nach der Dorsalseite um und
kehrt dann wieder in die frühere Lage zurück.
Blau vorgeschaltet: das Auge zuckt.
Blau entfernt: keine Reaktion.
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der Dorsalseite um. Nach 2 Sek.:
Gelb entfernt: das Auge kehrt in die frühere Lage zurück.
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der Dorsalseite um. Wir lassen
die Gelblösung !/, Minute vorgeschaltet, das Auge bleibt solange in seiner, dorsal
tordierten Lage.
Nun nehmen wir statt der verdünnten Lösungen eine konzentrierte Lösung von
Kaliumbichromat und eine Blaulösung von gleichem farblosen Helligkeitswert:
v. Frisch u. Kupelwieser, Uber den Einfluss der Lichtfarbe ete. 547
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der Dorsalseite um.
Gelb entfernt: das Auge kehrt in die frühere Lage zurück.
Blau vorgeschaltet: keine Reaktion.
Blau entfernt: das Auge schnappt nach der Dorsalseite um und kehrt nach
mehreren Sekunden in die frühere Lage zurück.
Blau vorgeschaltet: keine Reaktion; nach 2 Sek.:
Blau entfernt: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um, kehrt dann
wieder in die frühere Lage zurück.
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um; nach
3 Sek.:
Gelb entfernt: das Auge kehrt in die irühere Lage zurück.
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um; wir lassen
das Gelb vorgeschaltet, bis das Auge von selbst in seine frühere Lage zurückkehrt;
dies findet nach 55 Sek. statt. (Gelb entfernt.
Blau vorgeschaltet: das Auge zuckt schwach, nach 15 Sek.:
Blau entfernt: das Auge schnappt nach der Dorsalseite um, kehrt nach 25 Sek.
in die frühere Lage zurück.
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um; wir lassen
das Gelb vorgeschaltet, das Auge kehrt nach 40 Sek. von selbst in die frühere Lage
zurück. Gelb entfernt.
Blau vorgeschaltet: das Auge zuckt und dreht sich noch etwas stärker nach
der ventralen Seite; nach 45 Sek.:
Blau entfernt: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um, kehrt nach
55 Sek. in die frühere Lage zurück.
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um; nach
2 Sek.:
Gelb entfernt: das Auge bleibt noch wenige Sekunden in der dorsalen Lage,
dann kehrt es in die frühere Lage zurück.
Blau vorgeschaltet: das Auge zuckt schwach; nach 2 Sek.:
Blau entfernt: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um, nach ca. '/, Min.
kehrt es in die frühere Lage zurück.
Blau vorgeschaltet: das Auge zuckt schwach; nach 2 Sek.:
Blau entfernt: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um, kehrt nach
*/, Min. in die frühere Lage zurück.
Blau vorgeschaltet und sofort wieder entfernt: das Auge schnappt nach der
dorsalen Seite um und kehrt nach 25 Sek. in die frühere Lage zurück.
Blau vorgeschaltet: das Auge zuckt und dreht sich etwas stärker nach der
ventralen Seite.
Blau entfernt: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um.
Gelb vorgeschaltet: das Auge schnappt nach der dorsalen Seite um.
Wo nichts anderes erwähnt ist, folgte die Augenbewegung so unmittelbar auf
die Beleuchtungsänderung, dass beide Vorgänge dem Beobachter als gleichzeitig er-
schienen. Zwischen je zwei Beleuchtungsänderungen wurde, wo nichts anderes an-
gegeben ist, nur so lange gewartet, wie nötig war, um die Beobachtung zu notieren.
Wir wollen schließlich nachdrücklich darauf hinweisen, dass
der geschilderte Einfluss farbigen Lichtes auf die Augenbewegungen
der Daphnien nicht leicht zu beobachten ist. Als wir uns ım De-
zember an Daphnia pulex die Sache zum erstenmal ansahen, war
die gegensinnige Wirkung von Rot und Gelb einerseits, Blau anderer-
seits in wundervoller Deutlichkeit zu sehen; nicht nur die Ver-
kürzung der dorsalen Augenmuskeln (Umschnappen des Auges) bei
Verdunklung der Lichtquelle und beim Vorsetzen von Rot- und
Gelbscheiben, sondern auch die kleine gegensinnige Augendrehung
548 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
(noch stärkere Verkürzung der stark kontrahierten ventralen Augen-
muskeln) beim Vorsetzen von Blauscheiben trat mit großer Regel-
mäßıgkeit ein. Wir benutzten damals als Farbfilter rote, gelbe
und blaue Glasscheiben, zur Herabsetzung der Lichtintensität Papier-
blätter und schrieben keine ausführlichen Protokolle, sondern ver-
schoben die genauere Durchführung der Versuche auf einen späteren
Zeitpunkt. Als wir die Versuche im Frühling wieder aufnahmen,
erhielten wir viele Wochen lang kein brauchbares Material, obwohl
wir Daphnia pulex und magna von den verschiedensten Lokalitäten
heranzogen. Die Tiere reagierten in unregelmäßiger Weise auf
farbiges Licht, auch auf Verdunklung und Belichtung folgten oft
gar keine oder nicht die typischen Augenreaktionen. Wir waren
nahe daran, die Sache aufzugeben, als wir Ende Juni plötzlich
wieder gutes Material bekamen, an welchem die oben beschriebenen
Versuche ausgeführt wurden. Doch auch von diesem guten Material
waren bei weitem nicht alle Tiere für die Versuche brauchbar.
Bei vielen erfolgte, wenn man sie auf dem Objekttisch drehte, das
Umschnappen der ‚Augen nicht regelmäßig oder nur träge; solche
Tiere sind ungeeignet. Andere reagierten nur einige Male deutlich
und regelmäßig auf die Farben, dann wurden die Reaktionen un-
regelmäßig, es hatte z. B. nicht selten das Vorschalten von Blau
Verkürzung der dorsalen Augenmuskeln zur Folge, also die gleiche
Wirkung wie Verdunklung, u. dgl. m.; andere Tiere zeigten die
typischen Reaktionen, es erfolgte aber auch häufig ein Umschnappen
der Augen aus der einen extremen Lage in die andere, ohne dass
an der Beleuchtung etwas verändert worden wäre; auch an solchen
Tieren ließen sich keine einwandfreien Versuchsserien anstellen.
Man könnte nach alledem unseren ganzen Ausführungen über den -
Einfluss farbigen Lichtes auf die Augenbewegungen skeptisch gegen-
überstehen. Wir sehen hierfür keinen Grund, denn wenn eine
Versuchsserie überhaupt klare und einheitliche Resul-
tate lieferte, dann fielen diese so aus, wie sie oben ge-
schildert wurden; bei abweichenden Resultaten handelte
es sich stets um Tiere, welche auf die gleichen Reize in
verschiedener, unregelmäßiger Weise reagierten. Dass
das letztere vorkommt, ja sogar das Gewöhnliche ist, kann nicht
verwundern, wenn man bedenkt, unter welch abnormen Verhält-
nissen die zwischen Objektträger und Deckglas festgeklemmte
Daphnie sich befindet.
V. Versuche mit Artemia salina.
Vor einer Reihe von Jahren waren an der Zoolog. Station
Triest Versuche in gleicher Richtung mit Artemia salina aus Capo
d’Istria angestellt worden und es hatte sich damals auch bei diesem
Material gezeigt, dass die Tiere, die bei Intensitätserhöhung regel-
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 549
mäßıg negativ-phototaktisch, bei Intensitätsverminderung positiv
wurden, beı Vorschaltung einer Blauscheibe trotz der Intensitäts-
verminderung negativ und dass sie bei Entfernung der Blauscheibe
trotz der Intensitätserhöhung positiv-phototaktisch wurden.
Da von den Triester Versuchen kein Protokoll vorhanden war,
mussten die Resultate überprüft werden. Die aus Triest im Herbst
1912 bezogenen Artemien erwiesen sich aber zunächst für unsere
Versuche als nicht brauchbar. Erstens reagierten sie überhaupt nur
äußerst träge auf Licht und zweitens war unser Fundamental-
versuch mit ihnen nicht ausführbar. Vor unseren auf S. 522 be-
schriebenen Apparat gestellt blieben sie bei Vorschaltung der Blau-
scheibe indifferent oder sie wurden, wie auf Verkleinerung der
Blendenöffnung, schwach positiv-phototaktisch.
Im Frühjahr 1913, als die Artemia-Kulturen sich anscheinend
in sehr gutem Ernährungszustand befanden, wiederholten wir die
Versuche neuerdings und nun mit besserem Erfolg. Angewendet
wurde die auf S. 533 beschriebene Anordnung. Im Apparat be-
fanden sich zweı brennende Lampen nebeneinander, vor die eine
war eine blaue, stark verdünnte Cuprammoniumsulfatlösung (Y"/,),
vor die andere eine orangegelbe Kaliumbichromatlösung ("/,) ge-
schaltet.
Wurde die Lichtintensität um mehr als etwa die Hälfte herab-
gesetzt (Blendenverengerung auf 6 oder mehr, Fig. B, S. 523), so
wurde regelmäßig Positivierung, bei nachheriger Öffnung der Blende
jedesmal Negativierung der Tiere beobachtet. Auf kleinere Inten-
sıtätsänderungen erfolgte keine deutliche Reaktion.
Wurde nun bei offener Blende die Lampe hinter der Kalıum-
bichromatlösung ausgelöscht, während die Lampe hinter der blauen
Lösung weiter brannte, so wurden die Tiere trotz Intensitäts-
verminderung negativ. Bei Wiederanzünden des gelben Lichtes
wurden sie trotz Erhöhung der Intensität positiv. Die
Artemien verhielten sich also in dieser Hinsicht ebenso wie die
Daphnien.
Mehrmals fanden wir, dass diese Farbreaktionen nach einer
längeren Versuchsserie undeutlich wurden oder auch an manchen
Tagen von vornherein ausblieben.
Es zeigte sich nun, dass man die undeutlich gewordene Reaktion
auf die Qualität des Lichtes wieder deutlich machen konnte, wenn
man die Tiere längere Zeit hindurch an rotgelbes Licht adaptıerte:
Wurden die Artemien 40 Minuten lang allein von rotgelbem Licht
bestrahlt, dann die blaue Lampe dazu angezündet, so wurden sie,
was ja wegen der Intensitätserhöhung allein schon zu erwarten
war, zuerst negativ und verteilten sich nach 2—3 Min. wieder
gleichmäßig. Wurde jetzt die gelbe Lampe ausgelöscht, so machte
sich die vorausgegangene Gelbadaptation dadurch geltend, dass die
XXXII. 36
550 v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete.
Tiere nun dem blauen Licht gegenüber deutlich negativ wurden.
Sie waren jetzt für die kurzwelligen Strahlen wesentlich empfind-
licher geworden. Auch die positive Reaktion beim Wiederanzünden
der gelben Lampe war wesentlich deutlicher geworden.
An einem anderen Tage, als die Reaktion bei der gewöhnlichen
Versuchsanordnung undeutlich geworden war, wurden die Artemien
wieder 40 Min. lang an gelbes Licht adaptiert, ohne dass damit
eine Erhöhung der Empfindlichkeit auf blaues Licht erzielt wurde.
Die Adaptationszeit von 40 Min. war zu kurz; erst nach einer 75 Min.
währenden Einwirkung des gelben Lichtes wurde die Blauwirkung
wieder deutlich, und zwar wurden die Artemien durch Zuschaltung
der blauen Lampe zuerst natürlich wieder stark negativ, dann ver-
teilten sie sich nach 2 Min. gleichmäßig. Auf Auslöschen der gelben
Lampe erfolgte allgemeine starke Negativierung, die noch
2!/, Min. lang deutlich war; und auf Wiederanzünden wurden
alle Tiere stark positiv und blieben es 3 Min. lang.
Damit war aber die Wirkung der vorhergegangenen langen
Gelbadaptation zum großen Teil erschöpft, denn bei neuerlichem
Auslöschen der gelben Lampe war die Negativierung schon wesent-
lich weniger deutlich geworden.
VI. Sehluss.
Wir haben ın dieser Abhandlung wiederholt von einem „Farben-
sınn“ der niederen Tiere gesprochen. Man könnte gegen die Be-
rechtigung dieses Ausdruckes Einspruch erheben.
Zwar wird man nicht daran zweifeln, dass das farbige Licht,
ebenso wie das weiße, die Bewegungen der Krebse durch Vermitt-
lung ihrer Augen beeinflusst. Wir haben ja gesehen, dass die
charakteristischen Reaktionen dieser Tiere auf das Einsetzen des
Farbreizes ebenso unmittelbar folgen, wie ihre bekannten photo-
taktischen Reaktionen auf das Einsetzen eines Lichtreizes, und dass
die Daphnien mit ihren Augenbewegungen so prompt auf farbiges
Licht reagieren, dass dem Beobachter die Veränderung der Licht-
farbe und die hierdurch bedingte Augendrehung synchron zu er-
folgen scheinen. In dieser Hinsicht besteht kein Unterschied zwischen
der Wirkungsweise von farbigem und von weißem Lichte.
Man könnte aber darauf hinweisen, dass eine ganze Anzahl
chemische Reaktionen bekannt sind, die durch Licht von verschie-
dener Wellenlänge in gegensinniger Weise beeinflusst, z. B. durch
gelbes Licht (im Vergleich zum Ablauf der Reaktion im Dunklen)
gefördert, durch violettes Licht gehemmt werden®?)., Man könnte
also vielleicht einwenden, auch bei unseren Versuchen handle es
33) Vgl. z.B. Wo. Ostwald, Über die Lichtempfindlichkeit tierischer Oxy-
dasen und über die Beziehungen dieser Eigenschaft zu den Erscheinungen des
tierischen Phototropismus. Biochem. Zeitschr., Bd. 10, 1908, p. 1—130.
v. Frisch u. Kupelwieser, Über den Einfluss der Lichtfarbe ete. 551
sich nur um solche farbenempfindliche Stoffe, die etwa im Daph-
nienauge vorhanden sein könnten, und wir hätten somit kein
Recht, von einem Farbensinn der Daphnien zu sprechen, oder
müssten auch bei jenen chemischen Reaktionen den reagierenden
Substanzen einen Farbensinn zuschreiben.
Darauf ist zu erwidern: Ebensowenig, wie man bei lichtempfind-
lichen photographischen Platten von einem Lichtsinn sprechen
wird, wird man bei jenen farbenempfindlichen Substanzen von
einem Farbensinn sprechen. Wenn aber ein Tier sein Gebaren
danach richtet, ob langwelliges oder kurzwelliges Licht sein Auge
trifft, so sprechen wir von Farbensinn, ob nun die Verschieden-
heit seiner Reaktionen durch photochemische oder durch andere
Wirkungen bedingt sind. Und mit demselben Rechte, mit
dem wır den Daphnien auf Grund ihrer Lichtreaktionen
einen Lichtsinn zuschreiben, sprechen wir nun auf Grund
ihrer Farbenreaktionen von dem Farbensinn dieser Tiere.
(sanz andere Fragen sind es, wie dieser Farbensinn beschaffen,
wie hoch er entwickelt ist. Wir begnügen uns mit der Feststellung,
dass er vorhanden ist und können über seine Beschaffenheit keine
Behauptungen aufstellen. Doch sind wohl die geschilderten Tat-
sachen am ehesten mit der Vorstellung in Einklang zu bringen,
dass wir es hier mit einem dichromaten Farbensystem zu tun haben.
Zusammenfassung.
1. Lässt man ein geeignetes Material von Daphnia magna oder
Daphnia pulex an weißes Licht von mittlerer Intensität adaptieren,
so sind die Tiere nach einiger Zeit gleichmäßig in ıhrem Gefäße
verteilt. Herabsetzung der Lichtintensität (wenn sie nicht zu ge-
rıngfügig ıst) veranlasst die Tiere sofort zu positiv-phototaktischen
Bewegungen; bei sehr starker Herabsetzung der Intensität ist die
Bewegung der Tiere zur Lichtquelle hin schwach oder bleibt ganz
aus, bei keinem Grade der Intensıtätsverminderung ist eine negativ-
phototaktische Bewegung zu beobachten. Bei Steigerung der Licht-
intensität werden hingegen die Daphnien negativ-phototaktisch.
Schaltet man vor die Lichtquelle eine Blauscheibe, so werden die
Daphnien, trotz der hiermit verbundenen Herabsetzung der Licht-
intensität, negativ-phototaktisch. Fügt man zu einem weißen Licht,
an welches die Daphnien adaptiert sind, gelbes Licht hinzu, so
werden die Tiere hierdurch positiv-phototaktisch, obwohl sie durch
Intensitätssteigerung des Lichtes innerhalb der Grenzen, welche hier
in Betracht kommen, negativ-phototaktisch gemacht werden.
Demnach handelt es sich bei dem Einfluss von blauem und
gelbem Lichte auf die phototaktischen Bewegungen der Daphnien
nicht nur um Intensitätswirkungen, sondern die Wellenlänge des
36*
552 Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies etc.
Lichtes wirkt als Qualität ın spezifischer Weise Mit anderen
Worten, die Daphnien haben Farbensinn.
2. Bei Anwendung scharf umschriebener Spektralbezirke ergibt
sich, dass Rot, Gelb und Grün bis etwa zur Linie 5 des Sonnen-
spektrums positivierend, Blaugrün, Blau und Violett hingegen
negativierend auf die Daphnien einwirkt.
3. Bei einer bestimmten Versuchsanordnung lässt sich zeigen,
dass auch die Augenbewegungen der Daphnien von rotgelbem und
blauem Lichte in gegensinniger Weise beeinflusst werden.
4. Artemia salina zeigt in den phototaktischen Reaktionen im
wesentlichen die gleiche Abhängigkeit von der Qualität des Lichtes
wie Daphnia magna und Daphnia pulex.
Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies
und die Chromidienlehre.
Von Paul Buchner, München.
(Mit 8 Figuren.)
Die folgenden Zeilen wollen auf eine bei Insekten ziemlich
weitverbreitete Erscheinung von allgemeinem Interesse aufmerksam
machen und gehen einer umfangreicheren, vergleichenden Unter-
suchung über den Gegenstand, die dessen ganze Variationsbreite
umfassen will, voraus. Es ist eine zu den verschiedensten Zeiten
ım Zelleben auftretende Erscheinung, dass ein Kern, der einen nor-
malen Ohromosomenbestand enthält, in kleine Teilkerne oder Karyo-
meriten zerfällt, von denen jeder einen seiner Größe entsprechenden
Anteil des ursprünglichen Chromatins mitbekommt; solche Karyo-
meriten enthalten dann entweder je ein einziges Chromosom oder
es gehen mehrere in sie ein. So genau lässt sich die Wertigkeit
eines einzelnen Karyomeriten natürlich nur bestimmen, wenn die
Vielkernbildung bei kompakten Chromosomen einsetzt. Das ist der
Fall im direkten Anschluss an eine Mitose oder beim Zerfall eines
Spermakopfes in seine Chromosomen im besamten Ei. In den
anderen Fällen, wo die Karyomeritenbildung als spontane Reaktion
eines Ruhekerns auf schädigende Einflüsse eintritt, lässt sich der
Inhalt der einzelnen wechselnd großen Kernchen nicht in Chromo-
somenzahlen ausdrücken; es ist vielmehr anzunehmen, dass hierbei
eine Zerreißung von Ruhechromosomen auf verschiedene Kerne
stattfinden kann, woraus sich interessante Fragestellungen bezüglich
der Chromosomenzahl und -individualität bei erneuten Teilungs-
versuchen solcher Karyomeriten ergeben. Jedenfalls sind aber alle
bisher studierten Fälle der Teilkernbildung in eine Kategorie zu
stellen, die ich als mixochromatische Karyomeriten bezeichnen möchte,
um damit auszudrücken, dass sie beide Erscheinungsformen des
Kernchromatins in sich vereinigen, das generative, in das Chro-
Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies ete. 553
mosom kondensierte Chromatin und das trophische, im Laufe einer
Funktionsperiode im Ruhekern von diesem für die augenblicklichen
Bedürfnisse des Stoffwechsels produzierte.
Die Berechtigung dazu, die chromatische Doppelnatur dieser
Karyomeriten besonders zu betonen, leitet sich von der Existenz
rein trophochromatischer Karyomeritenbildung ab, der diese Zeilen
gewidmet sein sollen. Sie kommt ım wachsenden Ei vieler Insekten
vor. Das Prinzipielle an dem Vorgang ist, dass der jugendliche
Ovocytenkern an seiner Peripherie Bläschen knospen lässt, die die
Fähigkeit besitzen, selbständig beträchtlich zu wachsen und sich
weiterhin noch sehr oft selbst amıtotisch zu teilen. Zu Hunderten,
Ja Tausenden verteilen sie sich im wachsenden Eiplasma und finden
erst spät ihren Tod. Sıe stellen Teile des Ovocytenkernes dar, ın
die von dessen Chromosomenmaterial nichts eingeht. Die Tetraden
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Fig. 1. Fie. 2.
Fig. 1 u. 2. Der Kernapparat zweier verschieden alter Eier von (amponotus.
konzentrieren sich vielmehr meist zur Zeit der ersten Karyomeriten-
bildung zu einem ın der Mitte des Kernes gelegenen Knäuel, und
die an der Peripherie vor allem gelegenen Nukleolen treten durch
die Kernmembran hindurch, sammeln Flüssigkeit um sich und ver-
anlassen die Entfaltung eines zarten Retikulums. Diese Nukleolen
besitzen oft ganz spezifische Strukturen und finden sich im Mutter-
kern und den Kernknospen in gleicher Weise. Die Art der Ab-
lösung der Teilkerne wechselt. Bei (amponotus entfalten sich diese
sofort ganz selbständig und runden sich daher von Anfang an völlig
ab; allerdings bleiben sie auch noch die erste Zeit ihres Wachs-
tums in enger Nachbarschaft um den Mutterkern gedrängt (Fig. 1
u. 2). Bei einigen Ichneumoniden aber verbindet beide Teile noch
lange Zeit eine gemeinsame Kernmembran, so dass die Karyo-
meriten abgeplattet allseitig oder einseitig den Kern umgeben und
so besonders deutlich ihre Entstehungsweise dokumentieren (Fig. 3
u. 4). Auch der Beginn des Prozesses ist nicht bei allen Formen
der gleiche. Aber stets fällt er, soweit ich bis jetzt sehe, in die
554 Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies etc.
Zeit unmittelbar vor und nach der definitiven Zusammenlagerung
von Ei- und Nährzellen.
Auf diese erste Phase, die dadurch charakterisiert wird, dass
die Karyomeriten den Mutterkern umgeben, folgt eine solche der
Wegbewegung von diesem. Die Details der Wanderung sind ver-
schieden bei den einzelnen Objekten. Stets ist, besonders auf jungen
Stadien, deutlich zu beobachten, dass sie, entsprechend der Lage des
Kernes von vorne nach rückwärts geht. Die Kerne gleiten meist
Kira. Fig. 4.
Fig. 3 u. 4. Ei einer Ichneumonide vor und zu Beginn der Karyometenbildung.
Aug A EEE . ES
Fig. 5. Oberflächliche Schicht der Karyo- Fig. 6. Ausschnitt aus der
meriten in dem Ei einer Ichneumonide. Eioberfläche von Bombus.
der Eioberfläche entlang nach hinten, sich ständig lebhaft ver-
mehrend. Unter Umständen wird nie eine andere Lage eingenommen
und die Kerne liegen entweder nur in einer peripheren Schicht
(Fig. 5) oder in mehreren. Ein Blick auf die Eioberfläche von
Bombus zeigt, welche Unzahl von Kernen diese bedecken (Fig. 6).
Bei anderen Objekten wandern sie auch in die Tiefe und durch-
setzen das ganze Ei, ja es gibt Ichneumoniden, bei denen die Längs-
achse des Eis besonders bevorzugt wird, wie Fig. 7 zeigt. Immer
bleibt aber die Nähe des Ovocytenkernes im engeren Sinne ausge-
zeichnet durch eine größere Ansammlung von Karyomeriten (Fig. 8).
Hier scheint auch noch ziemlich lange die Mutterzelle trophisches
Chromatin abzustoßen.
Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies ete. 555
Endlich aber erlahmt diese Tätigkeit und die dritte Phase setzt
ein, die Degeneration. Diese schlägt, soweit ich bis jetzt die Dinge
überschaue, wiederum mannigfache Wege ein. Schon die Karyo-
meritenstruktur wechselt bei den einzelnen Formen sehr; das Chro-
matın ıst in kräftigen Gerüsten vorhanden oder sehr spärlich reti-
kulär oder mehr körnelig gestaltet. Bei manchen Objekten ist die
Definition der kleinsten Kerne kaum mehr möglich, da alle Ab-
stufungen bis zu Körnchen, die von zarten Vakuolen umgeben
sind, vorliegen. Geeignet gewählte Färbungen werden aber hier-
über noch Klarheit gewinnen lassen. Gegen Ende der Dotter-
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Fig. 7. Zentrale Partie eines Ichneumonideneies.
speicherung im Ei scheimen alle diese Kerne unterzugehen. Der
Kerninhalt verflüssigt sich hierbei derart, dass die Kugeln sich im
Dotter verlieren; bei gewissen Ichneumoniden scheint es mir, dass
die Kernmembran gelöst wird und die kugeligen Kernpartikelchen
direkt zu Dotter werden. Ganz merkwürdig ist das Schicksal der
Camponotus-Karyomeriten, sie rücken allmählich mehr in das Innere,
das Chromatin ballt sich pyknotisch in einzelne unregelmäßige
Körperchen und um diese entwickelt sich eine Strahlung. Das
Ganze macht deutlich den Eindruck eines ersten und letzten Teilungs-
versuches. —
Nur der Kern, der das Idiochromatin für sich reserviert be-
hielt, überlebt diese Degenerationsperiode und führt die Tetraden
unversehrt der Reifeteilung zu.
556 Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies etc.
Es sind nicht nur Hymenopteren, welche diese Vorgänge zeigen,
sondern auch Vertreter der Dipteren, Coleopteren und wohl auch
Lepidopteren. Ihre Bedeutung ist zu offensichtlich eine trophische,
als dass man sie verkennen könnte. Die Funktionssteigerung, die
sonst im wachsenden Eı durch ein beträchtliches Anwachsen des
Kernes, durch mächtige Entfaltung der trophischen Nukleolar-
substanzen oder in den Einährzellen und vielen Drüsenzellen durch
weit verästelte Kerne bedingt ist, ıst hier von der Karyomeriten-
°.
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....
®
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Fig. S. Der Mutterkern der ‚Ovoeyte;'von zahlreichen Karyomeriten umgeben
(Ichneumoniden).
bildung begleitet, die durch ihr selbständiges Wachstums- und
Teilungsvermögen und durch die Fähigkeit der Ortsveränderung
den gestellten Ansprüchen in geradezu idealer Weise genügen müssen.
Ihre spezielle Bedeutung für die Vorgänge der Reservestofl-
speicherung können wir aber natürlich bis jetzt auch nicht genauer
umschreiben als für den normalen Kern.
Der Wert der Beobachtungen aber liegt auf allgemeinen Ge-
bieten der Zellforschung. Sie lassen die Hypothesen von der Exi-
stenz zweier Chromatine, des Idio- und Trophochromatins von einer
neuen Seite beleuchten und illustrieren auf das Deutlichste, dass
Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies ete. 557
wir in gewissen Phasen des Zellebens sicherlich zu einer Trennung
dieser beiden Substanzen berechtigt sind. Ich schließe mich damit
der Auffassung an, dass diese Doppelnatur nur eine vorüber-
gehende, im gegebenen Moment als Funktionsfolge sich einstellende
ist und nicht in so weitgehendem Grade als eine‘ elementare Du-
plizität des Chromatins aufgefasst werden darf, wie Schaudinn
und Goldschmidt dies taten.
Die Funktion des Trophochromatins in der Metazoenzelle wurde
von letzterem im Anschluss an Hertwig’s und Schaudınn’s Er-
fahrungen und Gedanken über die Protozoenzelle vornehmlich ın
der Weise gedacht, dass es durch die Kernmembran auswandernd
als Chromidium mannigfachen Stoffwechselvorgängen des Plasmas
vorstehe und gelegentlich unter Bildung morphologisch selbständiger
Zellorgane, wie Dotter,kerne“, ebenfalls lange Zeit in der Zelle
tätig bleibt. Diese Vorstellungen haben den Streit der Meinungen
über die fragliche Existenz und Rolle der Chromidien der Meta-
zoenzelle herbeigeführt. Als sein Resultat ıst zu bezeichnen, dass
die ursprüngliche Konzeption Goldschmidt’s in ihren Details zu
weit ging. Es steht ohne weiteres fest, dass dıe Basıs der ganzen
Chromidienlehre, die Annahme, dass die trophochromatischen Massen
im Kern hohen Anteil an den Vorgängen im Plasma besitzen,
richtig ist. Dass hierbei Stoffaustausch zwischen Kern und Plasma
in beiden Richtungen stattfindet, muss als eine Selbstverständlich-
keit erscheinen. Man muss sich daher wundern, wenn bei den
Diskussionen, ob dieser Stofftransport unter Umständen mit ge-
formtem Chromatin vor sich geht, nicht selten der Ton der
Autoren die Grenzen der objektiven Meinungsäußerung über-
schritten hat.
Was man früher in manchen Punkten der Chromidienlehre mit
Recht vorwerfen konnte, gilt heute im vollen Maße für die Mito-
chondrienlehre, die in einer vom Kern stets unabhängigen spezi-
fischen Substanz im Plasma eine Struktur von prinzipieller Bedeu-
tung für die Funktion der Zelle, für ihre histologische Differenzierung,
für die Vererbung väterlicher und mütterlicher Eigenschaften sieht.
Hat die Chromidienlehre die dem Plasma a priori innewohnenden
Strukturen vernachlässigt, so tut dies heute in gesteigertem Maße
die Mitochondrienlehre mit der Funktion des Kerns. Hat diese
manches vereint, was heterogener Natur ist, so schablonisiert jene
heute in ungleich höherem Maße. Man hat denen, die den Kern-
austritt von Chromatin beschrieben haben, eine nicht genügende
Färbetechnik vorgeworfen; heute mehren sich die Stimmen, die die
Benda’sche Methode, auf die sich die Identität aller Mitochondrien
und ihre Unabhängigkeit vom Kern stützt, als eine hierfür sehr
ungeeignete, weil keineswegs selektive Färbung bezeichnen, in be-
denklicher Weise.
558 Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies ete.
Und ıch glaube endlich nicht, dass je die Chromidienlehre so
gewaltsam ıhre Befunde der Theorie zuliebe gedeutet hat, wie
Meves dies tut, wenn er annımmt, dass aus einer Seeigelblasto-
mere nur larvale, bei der Metamorphose resorbierte Organe, aus
der anderen das definitive Tier wird, nur weıl er selbst beobachtete,
dass die väterlichen mitochondrialen „Vererbungsträger“ stets nur in
eine Blastomere gelangen. Gerade dieses Objekt ıst ein klassisches
Beispiel für ein harmonisch-äquipotentielles System der formbilden-
den Faktoren, und die Entwickelungsgeschichte lehrt uns, dass
Mesenchym, Cölom und Darm je zur Hälfte aus einer der ersten
Furchungsblastomeren gebildet werden.
Während man beı der Lektüre der letzten, eingehenden Zu-
sammenfassung der Mitochondrienlehre das Gefühl hat, dass dieser
Forschungszweig unter Vernachlässigung der Wirbellosenzytologie
zu einem Kapitel der Histologie der Anatomen erstarrt, wird der
richtige Grundgedanke der Chromidienlehre ım Gefolge haben, dass
sie an der Hand kritischer gewählter Materialien unter Abstoßung
mancher Unrichtigkeiten, die zum Teil den Resultaten der Mito-
chondrien zu danken sind, regeneriert.
Eine solche neue und, wie ich glaube, sehr kräftige Stütze
empfängt die Lehre durch den Nachweis der trophochromatischen
Karyomeriten der Eizelle. Es sind chromatische Massen, die sich vom
Kerne lösen, ohne dabeı dessen Idiochromatin zu dezimieren, also
genau das, was der Begriff des Chromidiums fordert. So deutlich
wird ein solches Verhalten hier nur durch die spezielle Merkwürdig-
keit der Bläschenbildung und deren Wachstums- und Teilungsfähig-
keit. Aber stellt das einen prinzipiellen Unterschied dar? Ich
glaube nicht. Ich denke vielmehr, dass diese Beobachtungen jenen
einen erneuten Wahrscheinlichkeitsgehalt verleihen, die morpho-
logisch so sehr für eine Chromatinemission des wachsenden Eikerns
sprechen (radiäre Kernstruktur und Kappenbildung in das Plasma
hinein, an den Stellen, wo die Radien auf die Kernmembran stoßen,
oder für eine solche im genetisch homologen Nährzellkern, der zu
der Zeit, wo der Ovocytenkern Karyomeriten ins Plasma schickt, bei
Ichneumoniden z. B. mit weit ins Plasma ragende „Nukleolen“ be-
setzt ıst.
Es gibt eine Anzahl weiterer Tatsachenkomplexe, die bei einer
Wiedergeburt der Chromidienlehre eine ähnliche, die Fundamente
sichernde Bedeutung haben werden. Hierzu gehören vor allem alle
die Fälle, bei denen eine Vertretbarkeit von „Plasmaprodukt“ und
Substanzen, die sich von direktem Kernzerfall herleiten lassen, fest-
zustellen ist. Dies ist in weitgehendem Maße bei den Nähreimrich-
tungen des Eies der Fall. Das Fressen von Nährzellkernen und
das Bereichern durch das Sekret der Nährzellen. alterniert bei oft
sehr nahestehenden Formen; bei anderen nimmt die Eizelle das
Buchner, Die trophochromatischen Karyomeriten des Insekteneies ete. 559
Nährzellchromatin erst auf, nachdem eine Sekretionsperiode voraus-
gegangen ist. Pigment entsteht bei ıntaktem Kern und entsteht
unter Kernzerfall. Die Keimbahn begleitenden Substanzen ent-
stehen entweder direkt aus degenerierenden Nährzellkernen !) oder
aus dem Sekret der Nährzellen, wie sich mir aus noch unver-
öffentlichten Untersuchungen an Ameisen und lchneumoniden er-
geben hat.
Weiter schließen sich die Fälle an, wo Substanzen, die im
allgemeinen im Plasma entstehen, zuerst ım Kern auftreten, wie
dies für das Glykogen soeben bei Trematoden besonders schön
nachgewiesen werden konnte?). Auch Marziaskı's Bilder lassen
nicht zweifeln, dass Drüsensekrete ım Kern gebildet werden können
und durch dessen Membran ıns Plasma übertreten?).
Endlich sei daran erinnert, dass vielfach der allmählichen An-
häufung eines Körpers ım Plasma eine Erschöpfung des Kernes
parallel geht, die ıhn von reichlicher Uhromasıe nahezu zur Achro-
masıe führen kann.
Alldas sind Dinge, die ebenso wie die hier beschriebene Karyo-
meritenbildung dem Grundgedanken der Chromidienlehre der Meta-
zoenzelle eine feste Stütze geben und sich durch Benda-Färbungen
nicht entkräftigen lassen!
Es wäre merkwürdig, wenn die auffälligen Bilder der Karyo-
meriten im Insektenei bisher ganz unbeachtet geblieben wären.
Blochmann*) hat sie vielmehr schon 1886 ım Ameisenei gesehen
und eine Entstehung durch Kernknospung angenommen. Wir be-
stätigen also seine Angaben vollkommen. Aber sie stammen aus
einer Zeit, die so manches fälschlicherweise als Kernknospung be-
schrieben hatte und deshalb wurde sıe nicht angenommen. Außer
einigen weiteren Angaben von Stuhlmann?°) berichten kurz über
sie Korschelt®) und Gross”). Ersterer sah einiges hiervon bei
Mausca und spricht sich nicht weiter aus, Gross verlässt die alte,
richtige Auffassung Blochmann’s, die inzwischen durch unsere
Vorstellungen von der Chromosomenindividualität und den Re-
1) P. Buchner, Das Schicksal des Kernplasmas der Sagitten. Hertwig-
Festschrift, 1910. Kühn, A. die Sonderung der Keimesbezirke u. s. w. Zool. Jahrb.
Abt. Anat., Bd. 35, 1912.
2) Ortner, Archiv f. Zellforsch., 1913 (in Druck).
3) Marziaski, S., Recherches eytologiques ete., ebenda Bd. 6, 1911.
4) Blochmann, F., Über die Reifung der Eier bei Ameisen und Wespen.
Festschr. naturf. med. Ver. Heidelberg, 1886.
5) Stuhlmann, Reifung des Arthropodeneies. Ber. Naturf. Ges. Freiburg.
I. 1856.
6) Korschelt, E., Über Entstehung und Bedeutung der verschiedenen Zell-
elemente des Insektenovariums. Z. wiss. Zool., Bd. 48, 1886.
7) Gross, J., Untersuchungen über die Histologie des Insektenovariums. Zool.
Jahrb. Anat., Bd. 18, 1903.
560 Yakowleff, Biologische Parallelen zwischen den Korallen u. Brachiopoden etc.
duktionsvorgängen in den Geschlechtszellen etwas ganz Unmög-
liches geworden war und sucht die Erscheinung, die ihm bei Vespa
und Dombus aufstößt, dadurch zu deuten, dass somatische Kerne,
die sich vorher zwischen den Nährzellen fanden, durch die Nähr-
verbindung in das Ei einwandern, um bei der Dotterbildung eine
Rolle zu spielen.
Damit wäre die Erscheinung nur einer der zahlreichen Spezial-
fälle der Nährzelleinrichtungen. Tatsächlich aber handelt es sich,
wie wir gesehen haben, um eine bis jetzt viel zu wenig studierte
Karyomeritenbildung, die uns über das spezielle Interesse hinaus
wegen der zahlreichen Einblicke in allgemeine Zellfragen fesseln muss.
Biologische Parallelen zwischen den Korallen und
Brachiopoden in bezug auf ihre Veränderlichkeit.
Von Prof. N. N. Yakowleff, St. Petersburg.
Da ich mich ın letzter Zeit mit der Frage der Korallenriffe,
sowohl fossiler als auch rezenter, beschäftigte, habe ich auch die
zoologische Literatur!) der neueren Zeit, welche diese Frage be-
handelt, kennen gelernt. Als näherer Beweggrund hierzu diente meine
teise nach Port Sudan zur Besichtigung der Korallenriffe des Roten
Meeres, welche ich im Anfange des Jahres 1913 unternommen
hatte. Im Resultate wurden mir unter anderem interessante bio-
logische Parallelen zwischen den Korallen und Brachiopoden, mit
welchen ich auch mich in den letzten Jahren beschäftigt hatte, klar,
nämlich Parallelen in bezug auf die äußerst große Veränderlich-
keit der Vertreter dieser genannten Gruppen des Tierreichs im Zu-
sammenhange mit der Anheftung des Tieres an seinen Wohnsitz.
Solche Parallelen hat, wie ich glaube, noch niemand aufgestellt.
Die Veränderlichkeit der Madreporaria tritt sowohl in der Ge-
samtform der Kolonie — der Form des vegetativen Wachstums,
in der Vermehrung der die Kolonie auf ungeschlechtlichem Wege
bildenden Koralliten als auch im Charakter dieser Koralliten und
im Bau der Zwischenräume zwischen ihnen auf der Gesamtober-
fläche des Polypenstockes hervor. In bezug auf all die genannten
Beziehungen gibt es keine guten Merkmale zur Unterscheidung der
Arten. Die verschiedenen Formen des vegetativen Wachstums der
Kolonien, welche zu derselben Art gehören, entstehen infolge
solcher Bedingungen wie: größere oder kleinere Tiefe des Wassers,
Vorhandensein eines starken Wellenschlages oder völlige Stille des
Wassers, Reichtum, sogar Überfluss, oder völliger Mangel an Sedi-
menten.
l) Arbeiten von Wood Jones, Gravier, Gardiner u.a
Yakowleff, Biologische Parallelen zwischen den Korallen u. Brachiopoden ete. 561
Korallen, welche an einem Orte, wo beständiger Wellenschlag
ist, wachsen, haben die Tendenz, einen Korallenstock sphäroidaler
Form zu bilden, da diese Form am meisten dem Wellenschlage
standhalten kann (Porites); baumartig verzweigte Korallen wie
Madrepora haben in solchen Fällen die Neigung, ihre Zweige zu
verkürzen.
Die Formen, welche ım stillen Wasser leben, zeichnen sich
durch starke und feine Verzweigung ihres Korallenstockes aus. Ein
Überfluss an Sedimenten im Meere wirkt tödlich auf die Zooide,
welche unvorteilhaft gelagert sind und ruft infolgedessen eine Ab-
plattung derjenigen Polypenstöcke hervor, welche ım reinen Wasser
sphäroidal wären; bei unregelmäßiger Verteilung der Zooide, welche
vom Schlamm getötet werden, bilden sich amorphe Korallenstöcke
unregelmäßiger Form. Ein Überfluss an Sedimenten hat noch die
Folge, dass die einzelnen Zooide kleiner werden und dabei stärker
auf der Gesamtoberfläche des Polypenstockes hervorragen. Die
Zwischenräume zwischen den einzelnen Zooiden auf der Gesamt-
oberfläche des Stockes erhalten verschiedene Verzierungen und
Rillen zur Ausfuhr des Schlammes, welcher sich auf der Ober-
fläche des Korallenstockes gesetzt hat. Die Korallen besitzen eine
außerordentliche Plastizität, ein grenzenloses Vermögen sich zu ver-
ändern, zu varıieren, sich den Anforderungen der Umgebung anzu-
passen; sie besitzen die Eigenschaft, auf großartige Kompromisse
zwischen den vorhandenen Kräften der ihnen angeborenen Wachs-
tumsformen und den Veränderungen, welche den Anforderungen
der Umgebung entsprechen, einzugehen. Die Bedingungen, welche
die Veränderlichkeit der Korallen bestimmen, können selbst varııeren,
wie räumlich so auch zeitlich. Räumliche Veränderungen der Be-
dingungen können schon bei kleinen Entfernungen fühlbar sein
und die zeitlichen sich während der Lebensperiode ein und der-
selben Kolonie vollführen (Wood Jones). Gravier meint, dass
die Madreporaria, ım Gegensatz zum ersten 'Eindrucke, welchen
ihre Kalkskelette machen, widersprechend, eine ganz außerordent-
liche Plastizität besitzen, eine Plastizität, welche den Natur-
forscher, der sich mit der Systematik der Arten beschäftigt, ın
Staunen setzt.
Den Lebensbedingungen entsprechend können sie Formen an-
nehmen, welche auf den ersten Blick den Eindruck erwecken, als
ob sie miteinander nichts zu tun hätten und ganz verschiedenen
Arten angehörten. In keiner Gruppe des Tierreichs ıst der künst-
liche, zum großen Teile subjektive Charakter unserer Artunter-
scheidungen und die provisorische Bedeutung unserer Bestimmungen
so augenscheinlich, wie bei den Madreporaria. Auch die Unter-
scheidung der Genera ist nicht viel schärfer, sogar bei den all-
gemein bekannten und weıtverbreitesten Gattungen.
569 Yakowleff, Biologische Parallelen zwischen den Korallen u. Brachiopoden etc.
Fr b} a
Naturforscher der Neuzeit unterscheiden eine „vegetative“ Ver-
änderlichkeit, von welcher oben die Rede war, von einer „artlichen“,
d.h. der Veränderlichkeit, auf der die Unterscheidung der Arten
begründet ist. Diese individuelle vegetative Veränderlichkeit der
Korallen wird durch die Anheftung der Korallen bedingt, vermöge
deren die Tiere vor die Alternative gestellt sind, entweder zu
sterben oder sich den Lebensverhältnissen anzupassen. Diese außer-
ordentlich große individuelle Veränderlichkeit der Korallen, welche
sich so sehr von der gewöhnlichen individuellen Variabilität der
Vertreter anderer Gruppen des Tierreichs unterscheidet, entspricht
nun auch die Veränderlichkeit der Brachiopoden, über welche ich
schon in zwei Arbeiten berichtet habe: „Sur la fixation des coquilles
de quelques Strophomenacea“* (Bullet. du Comite geolog. vol. XXVI,
1907) und „Die Anheftung der Brachiopoden als Grundlage der
Arten und Gattungen“ (Mem. du Com. geol. Nouv. Serie Livr. 18,
1908).
In diesen Arbeiten habe ich zu beweisen versucht, dass die
Anheftung der Brachiopoden und die damit verbundene Unmög-
lichkeit, den Wohnsitz zu verändern, beträchtliche Veränderungen
im Bau der Schale hervorruft. Zuerst dehnt sich, wahrscheinlich
infolge eines Überflusses an Sedimenten, die Ventralschale aus, um
so zu verhüten, verschüttet zu werden. Dabei verlängert sich auch
das dreieckig begrenzte Feld, dıe Area, die sich unter dem Schnabel
der Ventralschale befindet, und die dreieckige Öffnung in der Mitte
der Area (Delthyrium), durch welche der Stiel heraustritt. Diese
Vergrößerung der Öffnung ist unnütz und unvorteilhaft, weil der
(Juerschnitt des Fußes derselbe bleibt, deshalb wird sie durch das
Entstehen des Pseudodeltidiums kompensiert, eines Kalkblattes,
welches einen Teil des Delthyrıums zudeckt, so dass nur eine
runde Öffnung, die dem Fuße entspricht, nachbleibt. Außerdem
wird auf Grund derselben Kompensierung bei Exemplaren mit er-
höhter Area der Spitzenwinkel der Delthyrialöffnung (der Winkel,
der unter dem Wirbel liegt) kleiner als bei den Formen mit nor-
maler Area, so dass dıe umnütze, sogar schädliche Vergrößerung
der Öffnung hauptsächlich nur in die Höhe geht.
Da der Spitzenwinkel des Delthyrıums bei den Exemplaren
mit gewölbter Schale kleiner ist als bei flachen Formen, bilden die
Zahnplatten, welche das Delthyrium umgeben und in die Schale
hineinwachsen, auch einen kleineren Winkel miteinander, wachsen
deshalb zusammen und bilden das sogen. Spondylıum. Beı den
Formen, welche ein Spondyhum besitzen, gewöhnlich bei den Formen
mit gewölbter Schale, heften sich die Muskeln an das Spondylium
an. Dies geschieht deshalb, weil bei den gewölbten Formen der
Schnabel weit vom Schlossrande entfernt ist und die Muskeln
(Schließ- und Öffnungsmuskeln) sich bei normaler Anheftung un-
u
Yakowleff, Biologische Parallelen zwischen den Korallen u. Brachiopoden ete. 563
nötig verlängern müssten. Durch das Übertragen der Anheftungs-
stellen der Muskeln von dem Boden der Ventralschale auf das
Spondylium, welches aus der Tiefe der Schale hervorragt, bleibt
ihre Länge, wenn nicht vollkommen unverändert, so doch jeden-
falls annähernd dieselbe, wıe bei den flachen Schalen, welche unter
den Bedingungen einer langsamen Sedimentierung leben. Das Ent-
stehen des Spondyliums und die Übertragung der Muskeln auf das-
selbe geschieht folglich als Resultat der Anpassung des Tieres an
neue Lebensverhältnisse. Manchmal entwickelt sich kein Spondylıum,
das geschieht bei den Formen, welche keine Zahnplatten haben
(Productes), doch dann verlängert sich der Schlossfortsatz der
Dorsalklappe, so dass dadurch die Anheftungsstellen der Dorsal-
klappe denjenigen der Ventralklappe näher gebracht werden.
In meiner letzten Arbeit über die Brachiopoden wies ıch noch
darauf hin, dass Unterschiede wie die genannten weder Art- noch
Gattungsunterschiede sind, ich vertrat dabei den Standpunkt, dass
die Anheftung der Brachiopoden eine beträchtliche Veränderlich-
keit der Schale hervorruft, weil das Tier sich, indem es die Ventral-
klappe verlängert, vor Verschüttung durch Schlamm zu schützen
sucht. Es sind dabei bei Individuen, die nebeneinander leben,
starke Unterschiede möglich, entsprechend der Verschiedenartigkeit
der Bedingungen, welche bei der Anheftung der einzelnen Indivi-
duen herrschen: das eine lebt z. B. ın einer Vertiefung des Meeres-
grundes und ist dadurch stärker der Verschüttung durch Sedimente
ausgesetzt, das andere ist an einem Geröll, welches sich vom Meeres-
grunde hervorhebt, festgewachsen und wird deshalb weniger vom
Schlamm bedeckt. Es ıst klar, dass die Veränderungen der Schale,
welche infolgedessen entstehen, nicht einmal als Varietät aufgefaßt
werden können, da dıe Träger dieser Veränderungen an kein be-
stimmtes Gebiet gebunden sind, keine bestimmte geographische
Verbreitung haben, wie es bei Arten und Varietäten der Fall ıst;
eine Entfernung von wenigen Zoll genügt, um die Ursache, welche
so auffällige Veränderungen der Schale hervorgerufen hat, wieder
aufzuheben. Solche veränderte Formen kommen sporadisch vor ın
dem Gebiete der Verbreitung der normalen flachen Formen, von
welchen sie abstammen; ıhre, auf diese Weise erworbenen Eigen-
schaften, können nicht erblich übertragen werden.
Ich habe eine Reihe von Beispielen angegeben, wo die Ver-
änderungen der Brachiopoden, obwohl sehr groß, so doch weder
Gattungs- noch Artveränderungen sind.
Auf den ersten Blick kann es etwas sonderbar erscheinen, eine
Analogie zwischen den Korallen und Brachiopoden zu suchen, so
verschieden sind sie ın ihrer Organisation und auch in ihrem Aus-
sehen, doch ist ım Grunde diese Analogie biologisch ganz natür-
lich. Die Anheftung ist ın der Biologie der beiden genannten
564 Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L.
Gruppen ein wenn auch nicht allgemein, so doch weitverbreiteter
Charakter. Bei beiden Gruppen wächst das Tier am Substrat und
zwar vollständig fest, so dass seine Schale (resp. Skelett) fast gänz-
lich unbeweglich ıst, ım Gegensatz zu den mit dem Byssus sich
befestigenden Lammellibranchiaten.
Wahrscheinlich bin ıch der erste Naturforscher, welcher den
Brachiopoden eine außerordentliche Veränderlichkeit im Zusammen-
hange mit der Anheftung ihrer Schale zusprach und viele Eigen-
arten des Baues ihrer Schale erklärte, indem ıch von dem Stand-
punkte ausging, dass das Tier sich den Lebensverhältnissen anzu-
passen sucht.
Das Renogenitalsystem von Puncturella noachina L.
Von Anna Meyer.
(Aus dem zootomischen Kabinett der Universität Kasan.)
Mit 10 Textfiguren.
Die Untersuchungen der Exkretions- und Genitalorgane der
niederen Diotokardier sınd insofern von bedeutendem Interesse,
als man in diesem Organsystem, ähnlich wie in der Beschaffenheit
des Herzens und der Kiemen, wenngleich vielleicht auch nur als
Spuren, jene Paarigkeit und Symmetrie erwarten kann, wie sie
theoretisch als für die Urgastropoden charakteristisch gedacht werden
muss. Eine derartig paarige und symmetrische Beschaffenheit der
besagten Organe glaubte nun Haller unter den heute noch leben-
den Formen bei Puncturella (Cemoria) noachina L. aus der Familie
der Fissurelliden tatsächlich entdeckt zu haben. Spätere Unter-
suchungen riefen jedoch beträchtliche Kontroversen unter den aller-
dings wenigen Forschern hervor, welche das Renogenitalsystem
dieser Form nachuntersuchten, und blieben diese Widersprüche
auch bis jetzt noch unentschieden. Daher folgte ich gerne dem
Vorschlage meines Vaters, Professor Eduard Meyer’s, das Reno-
genitalsystem von Puneturella einer eingehenden Untersuchung zu
unterwerfen und die Angaben meiner Vorgänger nachzuprüfen.
Bevor ich jedoch zur Darstellung meiner eigenen Beobachtung
übergehe, will ich kurz die Resultate der früheren Untersuchungen
referieren. Die ersten Angaben über das Renogenitalsystem von
Pumcturella machte v. Erlanger im Jahre 1892 in seiner Arbeit
„On the Paired Nephridia of Prosobranchs“!), wo er das Vor-
handensein von zwei Nephridien konstatierte und auf deren stark
asymmetrischen Entwickelungszustand hinwies. Seinen Beobach-
tungen nach ist hier das rechte Organ außerordentlich stark ent-
1) Erlanger, R. v. 1892. On the Paired Nephridia of Prosobranchs, the
Homologies of the only remaining Nephridium of most Prosobranchs, and the Re-
lations of the Nephridia to the Gonad and Genital Duct. In: @. Journ. Mier.
Sc (9), -T: 23:
Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L. 565
faltet und erstreckt sich fast durch die ganze Leibeshöhle des Tieres,
während die linke Niere in hohem Grade reduziert ist. Beide
Nephridialsäcke öffnen sich auf besonderen Papillen in die Mantel-
höhle zu beiden Seiten des Afters, wobei die linke Nierenpapille
bedeutend schwächer ausgebildet und mit einer weit kleineren Öff-
nung versehen sei. Eine Kommunikation der Nephridien mit dem
Perikard konnte v. Erlanger weder am linken, noch am rechten
Organ entdecken. Bezüglich der Gonade teilt uns v. Erlanger
mit, dass sie bei Puncturella durch eine wohlentwickelte, unpaare
Drüse repräsentiert sei, welche vermittelst eines Gonoduktes in den
Endteil des Nierensackes dicht am Ausführungsgange desselben ein-
münde. Darauf erschien 1894 die Abhandlung Bela Haller’s
„Studien über Docoglosse und Rhipidoglosse Prosobranchier“?), in
der er behauptete, dass wir bei Punecturella das ursprünglichste
Verhalten der in Rede stehenden Organe vor uns hätten, indem
sie hier durchaus paarıg und symmetrisch ausgebildet seien, wie er
das denn auch in seinem hier wiedergegebenen Schema abbildet
(Fig. A). Seinen Angaben nach stellt sowohl die rechte als auch
die linke Niere je eine große acinöse Drüse mit weitem Lumen
vor, wobei jede aus verschiedenen Lappen besteht, die jederseits
zu einem in die Mantelhöhle ausmündenden Ausführungsgange zu-
sammentreten. Beide Nierenpapillen sind gleich gut entwickelt
und liegen rechts und lınks vom After. Etwas weiter zurück,
hinter dem Ausführungsgange entspringt an jeder der beiden Ne-
phridien ein relativ kurzer Renoperikardialgang, welcher sich mit
mäßig weiter Mündung in den Herzbeutel öffnet. In das Lumen
jeder Niere mündet ferner mit kurzem Ausführungsgange die eben-
falls paarıge und vollkommen symmetrische Gonade, welche lateral
in der Leibeshöhle gelegen und jederseits durch eine lange, sack-
förmige Geschlechtsdrüse repräsentiert ist. Zu beachten ist dabei
der Umstand, dass auf der Abbildung Haller’s die beiden Gonaden
sich hinten mit ihren Enden berühren, und die rechte Drüse der
linken ein wenig aufliegt.
Wie man sieht, unterscheiden sich die Beobachtungen Haller’s
von den oben referierten Angaben v. Erlanger’s sehr beträchtlich.
Nach Haller wäre das Renogenitalsystem bei Pumneturella ein außer-
ordentlich primitives und würde infolge seiner vollkommen sym-
metrischen Ausbildung, falls sich dies als richtig erweisen sollte,
von großer phylogenetischer Bedeutung sein, da wir dann hier bei
einem lebenden Vertreter der Diokardier die hypothetische Aus-
gangsform für das Renogenitalsystem der heutigen Gastropoden
noch fast vollständig erhalten hätten, wie sie bei den etwaigen
2) Haller, B. 1594. Studien über Docoglosse und Rhipidoglosse Proso-
branchier. Leipzig.
XXX. 37
566 Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L.
Ur- oder Progastropoden?) beschaffen gewesen sein dürfte.
Allen schon 1898 wurde die Richtigkeit der Beobachtungen
Haller’s von Pelseneer bestritten, welcher in seinen „Recherches
morphologiques et phylogenetiques sur les Mollusques Archaiques“ ®)
uns eine ganz andere Darstellung des Renogenitalsystems von
Puncturella gibt. Pelseneer behauptet, dass Puncturella wie alle
Fissurelliden überhaupt zwei durchaus asymmetrische Nephridien
besitze, indem die linke Niere nur schwach entwickelt sei, sich
durch ein flacheres Epithel unterscheide und keine Verbindung mit
dem Perikard habe. Die rechte Niere dagegen ist ihrer Größe nach
prävalierend und erstreckt sich durch die Leibeshöhle zu beiden
Seiten des Perikards. Vermittelst eines deutlich ausgesprochenen
Renoperikardialganges kommuniziert das rechte Nephridium mit
dem Herzbeutel, an dessen unterer Seite ziemlich weit nach hinten
die eigentliche Renoperikardialöffnung sich befinde, weshalb sie
v. Erlanger auch nicht bemerkt habe. In den Renoperikardial-
gang des rechten Nephridiums mündet nach Pelseneer mit be-
sonderem Gonodukte die bloß ın der Einzahl vorhandene, unpaare
(sonade, welche die Leibeshöhle des Tieres hinten im Bogen umfasst.
Trotz dieser sehr kategorischen Angaben Pelseneer’s hielt
Haller seine Ansichten über das Renogenitalsystem von Punctu-
rella ın vollem Umfange aufrecht und hat sie in seinem 1904, also
nach Erscheinen der Abhandlung Pelseneer’s veröffentlichten
Lehrbuche der vergleichenden Anatomie unverändert wieder abge-
druckt, wie solche denn auch noch in anderen, neueren Lehrbüchern,
ungeachtet ıhrer Widerlegung durch Pelseneer’s Beobachtungen,
als tatsächlicher Befund Aufnahme gefunden haben.
Zu meinen Untersuchungen standen mir drei gut konservierte
Exemplare von Puncturella noachina L. zur Verfügung, welche von
den Herren N. Liwanow und S. Timofejeff im Weißen Meere
gesammelt und mir freundlichst übergeben worden waren. Das
Studium dieser drei Schnittserien ergab folgende Resultate.
Das Nephridialsystem von Puncturella (Fig. B) besteht aus zwei
typisch asymmetrischen Nierenorganen. Das rechte Nephridium ist
stark "entwickelt und hat die Gestalt einer unregelmäßig verzweigten
Exkretionsdrüse, welche sich durch den rechten und linken Teil
der Leibeshöhle erstreckt, unterwegs alle inneren Organe umgibt
und sich ihnen fest anschmiegt. Man kann an demselben vier Ab-
3) Im Gegensatze zu Haller’s noch umgedrehtem Prorhipidoglossum möchte
ich als Progastropoden jenes hypothetische Vorstadium der rezenten Gastro-
poden bezeichnen, bei welchem sich die ursprüngliche Symmetrie der Organe zwar
auch noch erhalten, die Verlagerung des Pallealkomplexes nach vorn aber bereits
vollzogen hatte.
4) Pelseneer, P. 1898. Recherches Morphologiques et Phylog@netiques sur
les Mollusques Archaiques. In: M&m. cour. et m&m. sav. 6trangers. T. 57.
Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L. Db7
schnitte unterscheiden. Zunächst die eigentliche, verzweigte Ex-
kretionsdrüse mit ihrem charakteristischen, hohen und hellen, exkre-
torıschen Epithel, welche ın den zweiten, distalen, ampullenartigen
Abschnitt, die sogen. Urinkammer einmündet, die von flachen, sich
dunkel färbenden Epithelzellen ausgekleidet ıst. Von dieser Am-
pulle geht als dritter Abschnitt der ziemlich enge, ebenfalls mit
flachem Epithel ausgekleidete Ausführungsgang ab, der mit einer
kleinen, spaltförmigen Öffnung rechts vom After in die Mantelhöhle
ausmündet. Eine deutlich ausgesprochene Papille habe ich auf
meinen Schnitten nicht zu erkennen vermocht. In die besagte Am-
pulle öffnet sich endlich auch der vierte Abschnitt des Nierenorgans,
Fig. A.
Schema des Renogenitalsystems von Puncturella (Cemoria) noachina L.
A. nach Haller; B. nach eigenen Untersuchungen.
g.d. — Gonodukt.
1.95,.0.,9: — linke und rechte Gonade.
I.n., v.n. — linke und rechte Niere.
l.n.o., 7.n.0o. — deren äußere Öffnungen.
l.tr., r.tr. — deren Perikardialtrichter.
nämlich der Renoperikardialgang des rechten Nephridiums. Seine
Wandungszellen sind denjenigen des exkretorischen Hauptabschnittes
der Drüse durchaus ähnlich und unterscheiden sich nur durch be-
deutendere Länge ihrer Geißelhaare. Der Renoperikardialgang der
rechten Niere verläuft auf einer ziemlich bedeutenden Strecke von
der Ampulle bis zum Herzbeutel, in welchen er sich mit einem
wohl ausgesprochenen Wimpertrichter öffnet. Das Trichterepithel
unterscheidet sich scharf vom Epithel der übrigen Nierenabschnitte
durch die kubische Gestalt seiner dunkel gefärbten Zellen und durch
die sehr langen Geißelhaare. Die Perikardialöffnung des rechten
Nephridiums befindet sich am äußersten hinteren, rechten Winkel
des Herzbeutels, worauf auch Pelseneer bereits hingewiesen hat.
Das linke Nephridium von Puneturella ist stark reduziert und
hat die Gestalt eines unansehnlichen, ganz einfachen und nicht
Bir
568 Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L.
weiter verzweigten Säckchens. Sein Epithel hat denselben exkre-
torischen Charakter wie ın den exkretorischen Abschnitten der
rechten Niere. Sein enger Ausführungsgang ist von einem flachen
Epithel ausgekleidet und führt aus dem drüsigen Nierenabschnitt
direkt in die Mäntelhöhle, wo er eine kaum bemerkbare äußere
Öffnung besitzt; eine Ampulle ist hier nicht vorhanden. Die linke
Nierenöffnung liegt links vom After und hat auch keine vorspringende
Papille. Etwas weiter nach hinten nimmt am Nierensäckchen der
linke Renoperikardialgang seinen Ursprung, der mit demselben
charakteristischen Geißelepithel wie der rechte Gang ausgekleidet
ist. Jedoch ist er viel kürzer als dieser, mündet aber ebenso ver-
mittelst eines typischen, obschon weniger stark entwickelten Wimper-
trichters in den äußersten hinteren, linken Winkel des Perikards.
Wie man sieht, haben also beide Nephridien, sowohl das rechte
als auch das linke, ihre deutlich ausgesprochene Kommunikation
mit dem Perikard, welche auf beiden Seiten durch den charakterist-
ischen Perikardialgang mit seinem Wimpertrichter hergestellt wird.
Was nun den Genitalapparat anbelangt, so ist derselbe bei
Pumncturella durch eine stark entwickelte, unpaare Drüse repräsentiert.
Dieselbe hat die Gestalt eines langen, hufeisenförmigen Sackes,
welcher von links nach hinten und rechts die zentral gelegenen
Organe des Eingeweidesackes umgreift. Durch einen relativ kurzen
Gonodukt, der mit einem flachen Epithel ausgekleidet ist, mündet
die Gonade in den rechten Renoperikardialkanal, nicht weit von
dessen Einmündung in das Perikard. Daraus geht hervor, dass die
Geschlechtsprodukte nach ihrer Reifung aus der Gonade durch den
Renoperikardialgang zunächst in das rechte Nephridium gelangen
und von diesem durch die äußere Nierenmündung in die Mantel-
höhle befördert werden.
Es sei hier hervorgehoben, dass man bei einer oberflächlichen
Durchmusterung der Schnitte leicht den Eindruck erhalten kann,
als wären hier zwei symmetrische, sich hinten berührende Gonaden
vorhanden, wie das Haller auch dargestellt hat. Das kommt daher,
dass die hufeisenförmige Geschlechtsdrüse in der Mitte ihrer Krüm-
mung hinten eine mediane Einkerbung besitzt. Allein bei ge-
nauerem Nachsehen wird man gezwungen, eine solche Ansicht auf-
zugeben, indem es sich als ganz zweifellos herausstellt, dass die
beiderseitigen Hälften der Drüse hinten ununterbrochen ineinander
übergehen und somit zusammen ein einheitliches Organ bilden.
Dasselbe ergibt sich auch noch daraus, dass der linke Abschnitt der
Gonade keinen Ausführungsgang und keine Verbindung weder mit
der Niere noch direkt mit der Mantelhöhle besitzt. Und so kommen
wir zum Schlusse, dass das Renogenitalsystem von Puncturella auf
keinen Fall als vollkommen symmetrisch betrachtet werden kann,
da sich hier die Geschlechtsdrüse als ein durchaus unpaares Organ
u
Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L. 569
erweist, die Nephridien aber, obgleich paarig, dennoch stark asym-
metrisch ausgebildet sind.
Im Hinblick auf die asymmetrische Ausbildung der Nephridien
sei hier auf eine interessante Erscheinung hingewiesen, die ich bei
meinen Untersuchungsobjekten beobachtet habe. Wie bereits er-
wähnt, standen mir 3 Exemplare von Puncturella zur Verfügung, bei
deren Untersuchung es sich herausstellte, dass ın allen drei Fällen
das linke Nephridium anders entwickelt war, resp. einen verschie-
denen Grad der Reduktion repräsentierte. Bei zwei von meinen
Exemplaren ist das linke Nephridium in allen seinen Teilen deut-
lich entfaltet: es ist mit dem charakteristischen Exkretionsepithel
‚versehen, hat einen engen Ausführungsgang und einen gut ent-
wickelten, mit Wimpertrichter ausgestatteten Renoperikardialkanal.
Bei einem von diesen beiden Individuen jedoch ist der Perikardial-
trichter bereits etwas kleiner, obschon er ın Gestalt und Geißel-
epithel noch durchaus typisch erscheint. Beim dritten, von mir
untersuchten Exemplare dagegen ıst das linke Nephridium sehr
stark reduziert und stellt ein sehr unansehnliches Säckchen vor,
dessen Wandungen von einem flachen, sich dunkel färbenden Epithel
gebildet sind. Weder einen Ausführungsgang mit einer Offnung in
die Mantelhöhle, noch eine Verbindung mit dem Perikard konnte
ich hier entdecken und glaube daher, dass das linke Nephridium
bei diesem Exemplare einen derartigen Reduktionsgrad erreicht
hat, wo die aufgezählten Bildungen bereits verschwunden sind und
sich bloß noch ein kleines, vollkommen abgeschlossenes Säckchen
erhalten hat.
Wenn ich nun die Ergebnisse meiner eigenen Untersuchungen
mit den Anschauungen meiner Vorgänger zusammenstelle, so komme
ich zu dem Schlusse, dass sie zu den Untersuchungsresultaten von
Haller, wonach bei Puncturella paarıge Gonaden und vollkommen
symmetrische Nephridien vorhanden sein sollten, in schroffem Wider-
spruche stehen. In einem Punkte jedoch konnte ich Haller’s Be-
obachtung bestätigen, nämlich dass auch die linke Niere einen deut-
lich ausgesprochenen Renoperikardialgang hat, der mit einem
charakteristischen Wimpertrichter ın das Perikard mündet. Weit
mehr nähern sich die Resultate meiner Beobachtungen denjenigen
Pelseneer’s und unterscheiden sich von ihnen hauptsächlich durch
die Feststellung der Kommunikation zwischen linker Niere und
Perikard, welche jedoch infolge der Schwierigkeit, den linken Nieren-
trichter zu bemerken, sowie infolge des individuell verschiedenen
Reduktionsgrades desselben Pelseneer leicht entgangen sein kann.
Auch wäre es möglich, dass Pelseneer nur Exemplare mit hoch-
gradig reduziertem, linksseitigen Nephridium untersucht und daher
weder den linken Renoperikardialgang, noch den linken Perikardial-
trichter gesehen hat. Was nun die Arbeit v. Erlanger’s betrifft,
370 Meyer, Das Renogenitalsystem von Puncturella noachina L.
so stimmen seine Untersuchungsresultate mit denjenigen von Pel-
seneer und folglich auch mit den meinigen im großen und ganzen
überein, nur hatte v. Erlanger die Verbindung weder der linken,
noch der rechten Niere mit dem Herzbeutel aufzufinden vermocht.
Wir dürfen somit auf Grund von bereits drei Untersuchungen,
die sich auf das Renogenitalsystem von Pruncturella beziehen, nun
wohl endgültig behaupten, dass die Ansicht Haller’s, der zur Folge
hier eine vollkommene Paarigkeit und Symmetrie ım gegebenen
Organsystem bestehe, nicht weiter aufrecht erhalten werden kann
und auf ungenaue Beobachtung zurückzuführen ist.
Ihrem Renogenitalsystem nach erscheint Punchirella gewisser-
maßen als ein Bindeglied zwischen den verschiedenen Repräsen-
tanten der Diotokardiıer. Ihr schließen sich zunächst die übrigen
Vertreter der Fissurelliden eng an, von denen wir speziell Fis-
surella und Emarginula (Fig. 5) ın Augenschein nehmen wollen.
Den neueren Untersuchungen nach ist auch bei diesen wie bei
Puneturella eine unpaare Gonade vorhanden, welche sich in den
Renoperikardialgang des rechten Nephridiums öffnet und somit durch
Vermittlung des letzteren in die Mantelhöhle ausmündet. Die Nieren
sind hier ebenfalls paarıg, und hat die rechte von ihnen die Gestalt
einer stark entwickelten und verzweigten, sackförmigen Drüse mit
deutlich ausgebildetem Ausführungsgange und Renoperikardialkanal,
der sich vermittelst eines typischen Wimpertrichters in das Peri-
kard öffnet. Somit wäre das rechte Nephridium der genannten
Formen seiner Ausbildung nach demjenigen von Puncturella voll-
kommen analog. Dagegen ist das linke Nephridium bei Frssurella
und Kmarginula durch ein einfaches, unansehnliches Säckchen ver-
treten, welches mit dem Perikard in keiner Verbindung stehen soll.
Dieser Hauptunterschied von Puneturella verliert jedoch stark an
Bedeutung in Anbetracht des Umstandes, dass unter den verschie-
denen Exemplaren von Puncturella, wie oben dargestellt, auch
solche vorkommen, bei welchen die linke Niere sehr stark reduziert
ist und weder eine innere, perikardiale, noch sogar eine äußere
Öffnung besitzt. Auf das eventuelle Fehlen einer Ausmündung in
die Mantelhöhle möchte ich hier nun allerdings nicht zu sehr be-
stehen, da es überhaupt sehr schwer ist, eine solche an Schnitten
zu konstatieren. Falls meine diesbezügliche Beobachtung jedoch
richtig sein sollte, so würde sich also bei einem der von mir unter-
suchten Exemplare das linke Nephridium auf einem noch mehr vor-
geschrittenen Stadium der Reduktion befinden als bei den übrigen
Vertretern der Fissurelliden. Übrigens ist es leicht möglich,
dass sich auch noch solche Individuen von Peneturella auffinden
lassen dürften, bei denen das Nephridialsystem und im besonderen
die linke Niere dem typischen Verhalten dieser Organe bei den
Fissurelliden vollkommen entspräche, indem das linke Nephridium
Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L. AN
auf ein einfaches Säckchen mit äußerer Öffnung, aber ohne jegliche
Verbindung mit dem Perikard reduziert wäre.
Diotocardia., Monotocardia.
Fissurella. Haliotis.
Patella. Puncturella
und
. e l
Prodiotocardia. !
1;
erste Stufe. Progastropoda. zweite Stufe.
Schematische Darstellung des Renogenitalsystems bei den niederen Gastropoden
und deren phylogenetischer Beziehungen.
Wenn sich nun dem Verhalten ihres Renogenitalsystems nach
an Puncturella einerseits die typischen Fissurelliden anschließen,
so nähert sich ihr andererseits in dieser Beziehung auch die Gattung
Patella, also ein Vertreter der aberranten Gruppe der Oyeleo-
branchier. Bekanntlich ist auch die Gattung Patella ähnlich den
572 Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L.
Fissurelliden durch den Rückgang der Spiralwindung ihrer Re-
präsentanten charakterisiert, welche sich gleichfalls mit breiter
Fußfläche am Substrat fest ansaugen und dabei ihren Körper mit
einer flachen, napfförmigen Schale vollständig überdecken. Bei
Patella ist das Nephridialsystem demjenigen von Puncturella sehr
analog, indem es den übereinstimmenden Angaben nach auch aus
zwei Exkretionsdrüsen besteht, von denen die rechte bedeutend
stärker entwickelt, die linke dagegen ebenfalls mehr oder weniger
reduziert ist, wobei beide Nierenorgane wie bei Puncturella mit dem
Perikard in offener Verbindung stehen (Fig. 4). Bei Patella hat
nun aber das linke Nephridium seine ursprüngliche Lage verändert,
indem es sich auf die rechte Seite des Perikards verschoben hat
und somit neben die rechte Niere zu liegen kommt. Ein weiterer
Unterschied von Puncturella besteht noch ım Verhalten der Ge-
schlechtsorgane. Die Gonade, ebenfalls eine unpaare Genitaldrüse,
soll bei Patella keinen Ausführungsgang und keine beständige Kom-
munikation mit dem rechten Nephridium besitzen, sondern mit
letzterem, wenn die Geschlechtsprodukte reif werden, nur temporär
in Verbindung treten durch Verwachsen und Durchbruch der dicht
aneinanderliegenden Wandungen von Geschlechtsdrüse und Niere.
Dabei bleibt aber der Weg, den die Geschlechtsprodukte zurück-
zulegen haben, um ın die Mantelhöhle zu gelangen, im Grunde ge-
nommen derselbe wie bei Puncturella, nämlich durch das rechte
Nierenorgan.
Die übrigen, mehr typischen Vertreter der Diotokardier, wie
Pleurotomaria, Haliotis, Trochus und Turbo, unterscheiden sich ım
Verhalten ihres Renogenitalsystems etwas stärker von Punchurella
und nehmen gewissermaßen eine Sonderstellung ein. Bei Pleuro-
tomaria (Fig. 6) hat trotz der niederen Stellung, welche diese Form
nach ihrer durch sehr ursprüngliche Eigenschaften charakterisierten,
spiraligen Schale einnimmt, das Nephridialsystem einen gewissen
sekundären Charakter angenommen, der sich im Baue des linken
Nephridiums äußert. Hier sind auch noch zwei asymmetrische
Nieren vorhanden, von denen das rechte Organ seinen Dimensionen
nach prävaliert und den typisch-exkretorischen COharakter beıbe-
halten hat. Dagegen hat das linke Nephridium die Gestalt eines
nicht großen, ovalen Sackes, dessen Wandungen eine Menge nach
innen vorspringender Auswüchse und Papillen bildet, woher es auch
als „Papillarsack“ bezeichnet wird. Dieses Iınke Organ steht durch
einen gut ausgebildeten, ziemlich langen Renoperikardialkanal mit
dem Perikard in Verbindung, welcher nach Woodward?’) beim
rechten Nephridium fehlen soll. Was die Funktion dieses „Papillar-
5) Woodward, M. F. 1901. The Anatomy of Pleurotomaria Beyrichii
Hilg. In: @. Journ. Micr. Sc. (9), T. 44.
Meyer, Das Renogenitalsystem von Puncturella noachina L. 973
sackes“ betrifft, so ist sie bis jetzt noch nicht endgültig aufgeklärt, doch
wird sie sich wahrscheinlich von derjenigen des rechten Nierenorganes
stark unterscheiden. Die unpaare Gonade von Pleurotomaria öffnet sich
in das rechte Nephridium, dessen Ausführungsgang hier sehr starke
Wandungen erhalten hat. Infolge eines derartigen Verhaltens ihres
Renogenitalsystems steht Pleurotomaria den Haliotiden, Tro-
chiden und Turbiniden unbedingt näher als den Fissurelliden.
Bei Haliotis, Trochus und Turbo (Fig. 6), welche auch eine spiralige
Schale besitzen, ist das Nephridialsystem demjenigen von Pleuro-
fomaria ım allgemeinen ähnlich. Das linke Nephridium ist hier
ebenfalls kleiner als das rechte, nur erscheint es als charakteristischer
„Papillarsack*, der mit dem Perikard durch einen deutlich ausge-
sprochenen Renoperikardialkanal und Wimpertrichter kommuniziert.
Das rechte Nephridium stellt ein stark entwickeltes, typisches Ex-
kretionsorgan vor, in dessen Renoperikardialgang die Geschlechts-
drüse einmündet, unterscheidet sich aber von demselben Organe
von Pleurotomaria eben durch seine Kommunikation mit dem Peri-
kard, die übrigens erst vor einigen Jahren von zwei Beobachtern,
Fleure®) und Totzauer”), entdeckt worden ist, bis dahin aber in
Abrede gestellt wurde. Nimmt man nun in Betracht, dass einer-
seits eine solche Verbindung bei den im System höher stehenden
Formen Halitis, Trochus und Turbo sich noch erhalten hat, und
dass andererseits die Anatomie von Pleurotomaria überhaupt nur
ein einziges Mal, nämlich von Woodward, untersucht worden ist,
so kann man mit ziemlicher Bestimmtheit annehmen, dass die Reno-
perikardialverbindung des rechten Nephridiums auch bei Pleuro-
tomaria dennoch besteht und nur infolge der Schwierigkeit, sie zu
beobachten, unbemerkt geblieben ist. Hiernach scheint mir die
Annahme berechtigt, dass das Renogenitalsystem von Pleurotomaria
ein durchaus analoges Verhalten wie bei Haliotis, Trochus und
Turbo aufweisen dürfte.
Aus dem Vorhergehenden geht hervor, dass man auf Grund
der Ausbildung des Renogenitalsystems in der Gruppe der Dioto-
kardier zwei verschiedene Entwickelungsrichtungen, zwei diver-
gente Hauptzweige aufstellen kann. Als Ausgangspunkt der einen
Richtung können wir das Verhalten bei Pumneturella betrachten, an
welche sich die übrigen Fissurelliden anschließen, die jedoch in
der Reduktion ihres linken Nephridiums bereits weiter vorgeschritten
sind. Von derselben Entwickelungsrichtung muss sich sehr früh
auch die aberrante Gruppe der Cyclobranchier abgezweigt haben,
wo wir in der Gattung Patella, wena wir von der Verlagerung des
6) Fleure, H. J. 1905. Zur Anatomie und Phylogenie von Haliotis. In:
Jena. Zeit. Naturw., 39. Bd.
7) Totzauer, R. 1905. Nieren- und Gonadenverhältnisse von Haliotis.
Ibidem.
zıuy
574 Meyer, Das Renogenitalsystem von Puneturella noachina L.
linken Nephridiums auf die rechte Seite absehen wollen, ebenso wie
bei Puneturella einen der ursprünglichsten Zustände des Nephridial-
systems vorfinden, die man unter lebenden Formen überhaupt noch
antreffen kann. Interessant ıst dabei noch der Umstand, dass alle
Vertreter dieses ersten Hauptzweiges der Diotokardier eine mehr
oder weniger stark ausgesprochene Tendenz zu einer napfförmigen
Abflachung ihrer Schale unter sekundärem Verlust der apikalen Spiral-
wundung aufweisen. In der zweiten Hauptrichtung, an deren Basis
die ihrer Schalenbildung nach unter den rezenten Diotokardiern
als ursprünglichster Vertreter zu betrachtende Gattung Pleurotomaria
zu stellen ist, hat sich das Nephridialsystem in seiner Entwickelung
vom primären Typus ein wenig entfernt, indem das linke Nephri-
dium die abweichende Form des „Papillarsackes“ annahm. Von
Pleurotomaria lassen sich die weiteren Formen, wie Halotis, Trochus
und Turbo ableiten, bei welchen das linke Nephridium ebenfalls
durch den „Papillarsack“ repräsentiert, und die rechte Niere auch
zu einer großen, typischen Exkretionsdrüse ausgebildet ist. Hier
jedoch macht sich bereits eine allmähliche Reduktion gewisser
Organe der rechten Seite, wie der rechten Kieme und ihrer Ge-
fäße, bemerkbar, wodurch sich diese Formen den Monotokardiern
zu nähern scheinen. Bei diesem zweiten Hauptzweige der Dioto-
kardier finden wir ebenso wie beim ersten eine gewisse Überein-
stimmung in der Gestalt der Schale, die hier ihre ursprüngliche
spirale Aufwindung beibehalten hat, obschon sie bei einer Gattung,
nämlich Halotis, sehr flach erscheint, aber dennoch die typische
Spiralwindung am Apex noch deutlich aufweist.
Wenn wir nun von den obigen Betrachtungen ausgehend die
Diotokardier mit den Monotokardiern vergleichen, für welche
eine echte Asymmetrie der Organe, sowie das Vorhandensein nur
einer Niere charakteristisch ist, so müssen wir zu dem Schlusse
gelangen, dass sich diese beiden Gruppen voneinander sehr stark
unterscheiden. Das Hauptinteresse liegt hier darin, dass nach der
allgemein verbreiteten Ansicht die unpaare Niere der Monoto-
kardier als die linke aufgefasst wird und nicht als die rechte, wie
das nach dem Verhalten des Nephridialsystems bei den Dioto-
kardiern zu erwarten wäre, von denen Pelseneer und Thiele
bekanntlich die Monotokardier ableiten wollen. Bei den letzteren
ist nun aber gerade jenes linke Nephridium, das bei den Dioto-
kardiern sich auf dem Wege zu definitiver Rückbildung befindet
oder die aberrante Form eines „Papillarsackes“ angenommen hat,
im Gegenteil stark entwickelt und funktioniert als alleiniges Ex-
kretionsorgan des Körpers (Fig. 8). Was jedoch das rechte Nephri-
dium anbelangt, so hat es hier die Funktion eines Exkretionsorganes
vollständig eingebüßt und ist zum einfachen Ausführungsgang der
unpaaren Geschlechtsdrüse geworden.
Meyer, Das Renogenitalsystem von Puncturella noachina L. Ay)
In Anbetracht eines so starken, prinzipiellen Unterschiedes im
Verhalten des Renogenitalsystems kann die Gruppe der Monoto-
kardier unmöglich von den rezenten, heute noch lebenden Dioto-
kardiern abgeleitet werden. Wir müssen vielmehr die Monoto-
kardier als einen besonderen Zweig betrachten, der von den
ursprünglichsten Gastropoden durchaus selbständig seinen Ursprung
genommen hat. Von diesen ausgestorbenen Progastropoden,
für welche eine vollkommene Symmetrie und Paarigkeit des ganzen
Renogenitalsystems charakteristisch gewesen sein muss (Fig. 1),
stammt dann auch die Gruppe der Diotokardier ab, wobei so-
wohl bei den letzteren als auch bei den Monotokardiern die
Entwickelung des Renogenitalsystems anfangs in dem Sinne in
gleicher Richtung erfolgt sein mag, dass bei beiden eine Reduktion
der linken Gonade bis zu völligem Schwunde eintrat (Fig. 2), und
erst danach gingen sie in ihrer Weiterentwickelung scharf aus-
einander. Bei den Diotokardiern, als deren Ausgangspunkt man
sich eine hypothetische Gruppe von Prodiotokardiern vorstellen
kann, bei deren Vertretern die Ausbildung des linken Nephridiums
allmählich zurückging, machte sich einerseits dieser Vorgang immer
mehr geltend, andererseits aber kam es zur Bildung jenes eigen-
tümlichen „Papillarsackes“. Dagegen schlugen die Monotokardier
nach Durchgang einer hypothetischen Übergangsstufe mit sich redu-
zierendem rechten Nephridium, die man als Promonotokardier
(Fig. 7) bezeichnen kann, eine ganz andere Entwickelungsrichtung
ein, indem bei ihnen der exkretorische Abschnitt dieser rechten
Niere nach und nach vollkommen rückgebildet wurde, und vom
ganzen Organ nur der Ausführungsgang erhalten blieb, der sich in
den Gonodukt verwandelte (Fig. 5).
Um wieder auf das von Haller für Puncturella gegebene
Schema des Renogenitalsystems (Fig. A) zurück zu kommen, so
können wir sagen, dass es bis zu einem gewissen Grade das Ver-
halten bei jenen eben erwähnten hypothetischen Progastro-
poden (Fig. 1) illustriert, von welchen unserer Anschauung nach
sowohl die Diotokardier als die Monotokardier ihren
gemeinsamen Ursprung nahmen. Dabei darf man jedoch nicht
vergessen, dass ein derartiges Verhalten des Renogenitalsystems
bei keiner der heute lebenden Gastropodenformen in Wirklich-
keit existiert oder bis jetzt wenigstens noch nicht aufgefunden
worden ist.
Meine Mitteilung abschließend, halte ich es für eine angenehme
Pflicht, meinem hochgeschätzten Vater und Lehrer, Prof. Eduard
Meyer, welcher mir die Ausführung der obigen Untersuchungen
ermöglichte und überhaupt meine wissenschaftlichen Studien leitete,
hier meinen wärmsten Dank auszusprechen. Auch sei es mir ge-
stattet, noch den Herren H. Sabussow, N. Liwanow und S. Ti-
576 Shull, Eine künstliche Erhöhung der Proportion der Männchenerzeuger ete.
mofejeff für ıhr reges Interesse an meinen Arbeiten und ihre be-
ständige Bereitheit, mir mit Rat und Tat behilflich zu sein, meine
aufrichtige Anerkennung kund zu geben.
Eine künstliche Erhöhung der Proportion der
Männchenerzeuger bei Hydatina senta').
Von A. Franklin Shull.
(University of Michigan, Ann Arbor, Mich., U. S. A.)
Nachdem ich ın 1910 ermittelte?), dass man die Männchen-
erzeuger des Rotators Aydatina senta an Zahl vermindern oder sie
ganz verhindern kann, dadurch, dass man die Tiere in einer Pferde-
mistsolution züchtet, wurden einfache chemische Substanzen in
ziemlich großer Anzahl gefunden, die in hohem Grade dieselbe
Wirkung auf sie ausüben. Versuche, die die Wirkung einiger dieser
Substanzen zeigen, sind schon veröffentlicht worden°), und meine
noch nicht herausgegebenen Resultate vergrößern die Zahl solcher
Substanzen. Bis jetzt ist es mir nicht gelungen, eine einzige ge-
meinsame Eigenschaft dieser Substanzen zu entdecken, welcher
man ihre gemeinsame Wirkung zuschreiben könnte. Daher schien
es kaum der Mühe wert, nach vielen anderen solchen Substanzen
zu suchen, und ich bemühte mich bald um die Entdeckung einer
Substanz mit der entgegengesetzten Wirkung, d.h., einer Substanz,
welche das Zahlenverhältnis der Männchenerzeuger erhöhen würde.
Nach zahlreichen Experimenten, die nur negative Resultate brachten,
hatte ich das Glück, eine Substanz zu finden, welche die erwünschte
Erhöhung der Proportion der Männchenerzeuger verursachte. Der
Einfluss dieser Substanz war nicht groß, aber mehrere Wieder-
holungen des Versuches stimmten untereinander ganz überein. Das
Forschen nach anderen gleichwirkenden Substanzen wird vermut-
lich noch lange dauern müssen; daher scheint es mir erwünscht,
die erfolgreichen Experimente hier zu veröffentlichen.
Die erwähnte Substanz ist Kalziumchlorid in Konzentrationen
von bis zu Rädertierchen aus zwei verschiedenen Gegenden
N
600°
wurden ın diesen Lösungen gezüchtet. Obgleich die Linie aus der
einen Gegend nur negative Resultate brachte, gelangte ich bei
Tierchen aus der anderen Gegend zu übereinstimmend positiven
1) Contributions from the Zoological Laboratory of the University of Michigan,
Nr. 141.
2, Shull, A.F. The artifiecial production of the parthenogenetic and sexual
phases of the life eycle of Hydatina senta. Amer. Nat., vol. 44, March, 1910.
3) Shull, A. F. Studies in the life cycle of Hydatina senta. II. Journ.
Exp. Zool.. vol. 10, no. 2, February, 1911.
Escherich, Die angewandte Entomologie in den Vereinigten Staaten. 577
Ergebnissen. Zwei Schwesterlinien aus dieser Gegend wurden ge-
—
h . . . . . . L ir
züchtet, die eine ın reinem Quellwasser, die andere in 100 Cal],.
Zweı Männchenerzeuger traten in dieser auf, in jener aber gar
keiner, obgleich die Linie durch mehr als 20 Generationen in Quell-
wasser gezüchtet wurde. In einem späteren Experiment erhielt man
2,3°/, Männchenerzeuger in Quellwasser, 7,3°/, in CaCl,. Gleich-
zeitig mit letzterem Versuche wurde eine dritte Linie abwechselnd
ın Quellwasser und in CaUl, gezüchtet. Die eine Generation wurde
ın Quellwasser gebracht, die nächste in Ga0l,. In acht Generationen
traten elf Männchenerzeuger auf. Zehn dieser Männchenerzeuger
gehörten zu Familien, deren Mütter in CaCl, gezüchtet worden
waren, nur einer war die Tochter eines ın Quellwasser lebenden
Weibehens. Meinen früheren Versuchen nach*) wird es schon in
der Wachstumsperiode des Eies entschieden, welch ein Weibchen
(Männchen- oder Weibchenerzeuger) sich aus dem Ei entwickeln
wird. Daher führt das letzte Experiment zu demselben Schluss
wie die zwei anderen, nämlich, dass verdünntes Kalziumchlorid in
dieser Linie von Hydatina senta eine Erhöhung der Anzahl von
Männchenerzeugern verursacht.
Näheres über die Experimente und eine Diskussion ihrer Be-
deutung wird später mitgeteilt werden.
K. Escherich. Die angewandte Entomologie in den
Vereinigten Staaten ').
Auf Einladung L. O. Howard’s, des Chefs des Bureau of
Entomology am U. St. Department of Agriculture zu Washington,
hatte Escherich im August 1911 eine mehrmonatliche Studienreise
durch die Vereinigten Staaten angetreten, um die dortigen Ein-
richtungen für angewandte Entomologie zu studieren. Die Kosten
der Reise wurden von Andrew Carnegie getragen. Aus der
Fülle der Eindrücke, die er auf jener Reise erhielt, möchte der
Verfasser „als wichtigstes Ergebnis die Erkenntnis hinstellen, dass
die Bedeutung der angewandten Entomologie für die
Praxis, d h, ihre Leistungsfähigkeit bezüglich der Schäd-
lingsbekämpfung, weit größer ist, als wir in Europa und
speziell in Deutschland anzunehmen geneigt sind. Die
4) Shull, A. F. Studies, u. s.w. III. Journ. Exp. Zool., vol. 12, no. 2,
February, 1912.
1) Eine Einführung in die biologische Bekämpfungsmethode. Zugleich mit
Vorschlägen zu einer Reform der Entomologie in Deutschland. Gr. 5°, 196 S.,
Berlin, Paul Parey, 1913, Mk. 6.—.
578 Escherich, Die angewandte Entomologie in den Vereinigten Staaten.
angewandte Entomologie ist eine Wissenschaft von
hohem Werte, die berufen ist, tief in das menschliche
Kulturleben einzugreifen. Das wird einem in Amerika mehr
wie irgend sonstwo klar. Dass diese Erkenntnis auch ın Deutsch-
land, wo die angewandte Entomologie gegenwärtig auf einen
recht pessimistischen Ton gestimmt ist, sich Bahn brechen möge
— dazu beizutragen ist der Hauptzweck des vorliegenden Buches“
(Sal).
Der 1. Teil desselben (S. 1--77) gibt eine anregende Schilde-
rung der Organisation der angewandten Entomologie in den
Vereinigten Staaten. Am ausführlichsten wird das „Bureau of
Entomology“ am Ackerbauministerium in Washington behandelt,
das die Zentralstelle der ganzen Organisation bildet. Sodann
folgen die landwirtschaftlichen Versuchsstationen, andere ento-
mologische Arbeitsstätten und Lehrstätten und die American
Association of Economic Entomologists, welche Escherich
auch als Vorbild für deutsche Verhältnisse hinstellen möchte (vgl.
3.172):
Im II. Teil (S. 78—149) befasst sich Escherich mit den in
den U. St. üblichen Bekämpfungsmethoden der schädlichen
Insekten. Am eingehendsten bespricht er die „biologische Be-
kämpfung“, welche darauf beruht, dass bestimmte natürliche Feinde
der betreffenden Schädlinge in das bedrohte Gebiet eingeführt und
dort systematisch gezüchtet werden. Eine Reihe von Beispielen,
wie diese Methode in den dortigen Versuchsstationen gehandhabt
wurde, und welche Erfolge durch sie erzielt worden sind, werden
zur Illustration beigefügt. Das bekannteste und vorbildlichste dieser
Beispiele ist wohl die Verwendung des Üoccinelliden Novwzus cardi-
nalis, welcher zur Bekämpfung der aus Australien oder Neuseeland
eingeschleppten Schildlaus Zcerya Purchasi in Kalifornien mit bestem
Erfolge eingeführt wurde. In kritischen Schlussbemerkungen (S. 129)
fasst Escherich die zur richtigen Handhabung der biologischen
Bekämpfungsmethode erforderlichen Bedingungen zusammen. Dann
erwähnt er noch kurz die verschiedenen technischen Bekämpfungs-
mittel.
Der Ill. Teil (S. 150--172) gibt die Schlussfolgerungen, zu
denen der Verfasser durch seine Studienreise gelangt ist: „Was
können wir von Amerika lernen? Reformvorschläge.“ Er
bemerkt ausdrücklich, dass die in diesem Abschnitte unvermeid-
liche Kritik der diesbezüglichen deutschen Verhältnisse keinerlei
Personen, sondern nur das System betreffe. Die Frage, ob bei
uns die bisherige Handhabung der angewandten Entomologie eine
den Bedürfnissen entsprechende sei, glaubt Escherich (S. 159)
mit einem „unbedingten Nein“ beantworten zu müssen, namentlich
Jacobi, Mimikry und verwandte Erscheinungen. 579
was die landwirtschaftliche und die koloniale Entomologie anlangt;
um die Forstentomologie sei es relativ besser bestellt.
Inwieweit die vom Verfasser (S. 169—172) energisch aufge-
stellten praktischen Reformvorschläge sich verwirklichen lassen,
entzieht sich der Beurteilung des Referenten. Jedenfalls werden
sie die Berücksichtigung, die sie verdienen, von kompetenter Seite
finden.
Die Schrift ist in anregendem Stile geschrieben und durch
gute Abbildungen — auch von hervorragenden nordamerikanischen
Entomologen — illustriert. Den Schluss bildet ein Verzeichnis der
wichtigsten Veröffentlichungen des Bureau of Entomology.
E. Wasmann.
E. A. Schäfer. Das Leben, sein Wesen, sein Ursprung
und seine Erhaltung.
Präsidialrede, gehalten zur Eröffnung der British Association for the Advancement
of Science in Dundee, September 1912. Übersetzt von Charlotte Fleischmann.
8. V und 67 Seiten. Berlin. Julius Springer. 1913.
Der bekannte Professor der Physiologie an der Universität
Edinburgh gibt in dieser einleitenden Rede eine Darstellung seiner
Anschauungen über die Natur und den Ursprung alles Lebenden
und über die Art, wıe das Leben der vielzelligen Organısmen, be-
sonders der höheren Tiere und Menschen erhalten wird. In den
ersten Auseinandersetzungen wird auf die Ahnlichkeit der Erschei-
nungen an lebender und nicht lebender Materie hingewiesen und
betont, dass kein prinzipieller Unterschied die beiden Erscheinungs-
reihen trennt. Er zeigt sodann, wie es die chemischen Eigenschaften
der lebenden Materie sind, von denen alle Erscheinungen beein-
flusst werden, wie diese auch in den höheren Lebewesen die Vor-
gänge beeinflussen, was besonders aus den Wirkungen der Hormone
hervorgeht und wie durch diese unter Mitwirkung des Nerven-
systems die Einheit und das Zusammenwirken der an und für sich
selbständig tätıgen Zellen der höheren Lebewesen zustande kommt.
R.
A. Jacobi. Mimikry und verwandte Erscheinungen.
(Die Wissenschaft. Sammlung von Einzeldarstellungen aus den (Gebieten der Natur-
wissenschaft und der Technik. Bd. 47.) 8. IX und 215 Seiten. Mit 31 zum Teil
farbigen Abbildungen. Braunschweig. Friedr. Vieweg & Sohn. 1913.
Die Mimikry ist eine der interessantesten Erscheinungen der
-Natur und hat bei der Entwickelung der darwinistischen Lehren
eine wichtige Rolle gespielt. Dennoch fehlte es an einer umfassen-
den und kritischen Behandlung nach dem jetzigen Stande unseres
Wissens. Eine solche geliefert zu haben ist ein Verdienst des Ver-
80 Marshall, Brehm’s Tierleben. Die Vögel.
fassers. Sein Standpunkt ist ein durchaus nüchterner. Er weist
alle unbegründeten oder nicht genügend gesicherten Darstellungen
zurück und begrenzt den Begriff gegenüber falschen Erweiterungen
einzelner Autoren. Die einschlägige Literatur ist gewissenhaft be-
nutzt und in einem 4 Seiten umfassenden Schriftenverzeichnis ZU-
sammengestellt. Er gliedert die Darstellung in die Abschnitte:
I. Schutzfärbung. Il. Schützende Ahnlichkeit. III. Warnfärbung.
IV. Mimikry oder schützende Nachäffung. V. Nachäffung stechender
Hautflügler oder Sphecoidie. VI. Nachäffung von Ameisen oder
Myrmecoidie. VII. Nachäffung von Käfern. VI. Nachäffung unter
Schmetterlingen. Allgemeine Eigenschaften dermimetischen Schmetter -
linge. — Überall sucht er die sicheren Tatsachen festzustellen und
zu weitgehende Schlussfolgerungen zurückzuweisen, aber auch un-
begründete Einwürfe zu widerlegen. So wird sich das Schrifichen
als ein sicherer Wegweiser für weitergehende Forschungen erweisen.
Brehm’s Tierleben. Die Vögel.
Neubearbeitung von W. Marshall (F), vollendet von F. Hempelmann und
OÖ. zur Strassen. 4. Bd. Sperlingsvögel. Gr. 8. XVI und 568 Seiten. Mit
136 Abbild. im Text, 27 farbigen und 13 schwarzen Tafeln, 9 Doppeltafeln nach
Photographien, 2 Tafeln Eier und 3 Kartenbeilagen. Leipzig und Wien. Biblio-
graphisches Institut. 1913.
Mit diesem 4. Band der Abteilung Vögel (dem 9. des ganzen
Werkes) ist die Darstellung der Vögel abgeschlossen. Wie die
Sperlingsvögel mehr als die Hälfte aller bekannten Vogelarten um-
fassen, so gehören zu ihnen auch zahlreiche durch prachtvolles Ge-
fieder ausgezeichnete ‘oder als Singvögel uns liebe, durch Vertilgen
von Schädlingen als nützlich geschätzte Arten, denen wir deshalb
ein besonderes Interesse entgegenbringen. Alle diese finden im
vorliegenden Bande eingehende und liebevolle Beschreibung und
lebendige Schilderung im Anschluss an die altbeliebte Darstellung
Brehm’s und mit Bereicherung oder, wo es nötig war, Berichtigung
durch neuere Erfahrungen und Beobachtungen. Die Vorzüge des
Werkes zu würdigen, müssten wir das über die früheren Bände
Gesagte wörtlich wiederholen. Die neuen bunten und schwarzen
Tafeln sınd gelungene Darstellungen hervorragender Künstler oder
nach guten Photographien gefertigt. Sehr dankenswert sind auch
die beigegebenen 3 Tafeln über die Verbreitung der Vögel. Wir
freuen uns, dass der wichtige Abschnitt über die Vögel jetzt zum
Abschluss gekommen ist und wünschen dem dankenswerten Unter-
nehmen weiteren guten Fortschritt. RP.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, an nz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
7.u beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, Müuchen, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosentlial, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
er 1918.
As 10.
Inhalt: Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life. — Correns und Goldschmidt, Die Vererbung
und Bestimmung des Geschlechtes. — Secerov, Die Zweckmäfsigkeit des Lebens und die
Regulation der Organismen. — Klatt, Experimentelle Untersuehungen zwischen Kopulation
und Eiablage beim Schwammspinner. — v. Reichenau 7.
Loeb’s Mechanistic Conception of Life.
By S. 0. Mast.
The “analysıs of life [psychical and ethical as well as physio-
logicall from a purely physico-chemical view-point“ has been
Loeb’s aım ın practically all of his work. In a recent volume,
consisting of a number of so called essays, he has made an attempt
to present ın popular form the more important of the results attaıined.
A book containing what may truly be called the essence of the
life-work of a man with a reputation such as Loeb has, especially
when it deals with a subject of such profound significance as the
phenomena of life, can not faıl to be of universal interest.
Practically every fundamental problem of biology ıs raised in
some form or another in thıs volume altho the author deals specif-
ically with only a few. Fertilization, heredity, morphogenesis and
behavior, including psychical and ethical, are the principal problems
discussed; they occur repeatedly in the different chapters sometimes
with little varıation. Regardıng these problems Loeb draws the
general conclusion based largely on the results of his own investiga-
tions, that they have been or can be reduced to purely physico-
1) From the Zoological Laboratory of the Johns Hopkins University.
2) The Mechanistie Conception of Life, by Jacques Loeb, The University
of Chicago Press, 1912. 232 pages.
XXXII. 38
589 Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life.
chemical prineiples, and he maintains that since these problems are
among the most fundamental all others can be analysed in the
same way. He says (p. 23) “It is not possible to prove in a short
address that all life phenomena will yield to a physico-chemical
analysis. We have selected only the phenomena of fertilization
and heredity, since these phenomena are specific for living organisms
and without analogues in inanimate nature; and ıf we can con-
vince ourselves that these processes can be explained physico-
chemically we may safely expect tlıe same of such processess for
which there exist a-prıori analogies in inanımate nature, as, e.g.,
for absorption and secretion.”
It is evident that everything in this conclusion depends upon
the meaning of mechanical and physico-chemical. It will therefore
be necessary, first of all, to attempt to ascertain clearly the sense
in which Loeb has used these terms. He does not specifically
define them, strange as it may seem, especially in a book whose
whole argument is rooted in them. We can therefore only infer
the ideas he intends to convey by their use. His aim in all of
his work is to obtain methods for controlling vital phenomena. He
says (p. 195): “It was perhaps not the least important of Darwin’s
services to science that the boldness of his conceptions gave to the
experimental biologist courage to enter upon the attempt of con-
trolling at will the life phenomena of animals.” and (p. 196) “All
the writer could hope to do was to bring together a few instances
of the experimental analysis of the effect of environment, which
indicate the nature and extent of our control over life phenomena”.
I assume that he holds that if such phenomena can be controlled,
we have a physieo-chemical explanation and that such an explana-
tion is the foundation of a mechanical conception of life. Mechan-
ical and physico-chemical are evidently used synonymously. In fact
according to Loeb there is but one kind of explanation; to explain
means the same thing as explaining mechanically. He says (p. 58):
“All “explanation’ consists solely in the presentation of a phenom-
enon as an unequivocal function of the variables by which it ıs
determined.” As for metaphysics, our author repeats again and
again, it isa “mere play on words”. (p. 73) Metaphysicians “employ
the wrong methods of investigation and substitute a play on words
for an explanation by means of facts”. and (p. 3) *In certain of
the mental sciences ... everything rests on argument or rhetorie
and ... what is regarded as true today may be expected with some
probability to be considered untrue tomorrow”.
This definition, like a number of other statements in our volume,
appears to me to be exceedingly vague. Superficially ıt looks
clear enough, but as soon as one attempts to apply it to actual
cases it assumes a different aspect. It seems to mean nothing more
Mast, Loeb’s Mechanistic Conception of Life. 583
than a statement that nature ıs orderly and that an explanation of
any phenomenon consists merely in ascertaining the position of the
phenomenon in the whole series of natural events, that is, in ascer-
tainıng the order of events in nature. Probably nearly every one
would, at least in a limited sense, accept this as a definition of an
explanation, but very few indeed would follow our author in the
implied assertion that such an explanation is necessarily physico-
chemical or mechanical. It thus appears that these terms have
been used in a very loose sense, in my opinion a wholly un-
justifiable sense; and much of the controversy regarding Loeb’s
apparent dogmatic ultra mechanistic tendencies center in this un-
fortunate circumstance. Not only is mechanism used synonymously
with physico-chemism, ıt is also used synonymously with deter-
minism.
If however such a definition of mechanism be accepted some of
Loeb’s conclusions necessarıly follow, but others appear, even on
this basıs, to be wıthout foundation. Some of these I wısh to
consider now. In selecting only questionable matter for treatment
in our review it should be emphasised that it ıs taken for granted
that the author’s splendid achievement in certain fields is generally
recognized, and that limitations of space prevent the consideration
of much in which the reviewer would be in agreement with the
author.
Loeb maintains that the function of the sperm is twofold. It
causes the egg to develop and it serves to transmit male charac-
ters. Both of these phenomena, our author holds, have already
been largely reduced to physico-chemical principles. He says (p. 20):
“The problem of sex determination has, therefore, found a simple
solution, and simultaneously Mendel’s law of segregation also finds
its solution.” and (p. 14) “The process of the activation of the egg
by the spermatozoon, which twelve years ago was shrouded in
complete darkness, ıs today practically completely reduced to a
physico-chemical explanation. Considering the youth ofexperimental
biology we have a right to hope that what has been accomplished
in this problem will occur ın rapid succession in those problems
which today appear as riddles.”
What has ın reality been solved in connection with these
problems? It has been demonstrated, (1) that certain eggs will
develop without sperm, some under normal conditions, others when
subjected to certain chemical or physical changes in the environ-
ment, (2) that the development will not begin in the absence of
oxygen, (3) that after development begins the elimination of carbon
dioxid increases, (4) that unfertilized or inactive eggs live longer
in the absence of oxygen than in its presence, (5) that transmission
of hereditary characters including sex is associated with the chromo-
38*
584 Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life.
somes. These facts, admittedly of great importance, or any other
facts that have been established in regard to the sperm, do not
appear to me to warrant Loeb’s conelusions stated above. Prac-
tically nothing regarding the chemical changes in the egg preceding
and accompanying activation is known. How then can it be main-
tained, except in the most superficial sense, that this process has
been practically completely reduced to physico-chemical prineiples?
The same is true with reference to heredity. The establishment of
the fact that heritable characteristics are associated with chromo-
somes does, indeed, mark a great advance in the study of inher-
itance. But the statement that this whole problem is practically
solved and that we may hope that all the riddles still connected
with it as well as all those connected with all other biologieal
phenomena will disappear in rapıd succession, must be looked upon
largely as the personal opinion of an enthusiast. Many riddles
will undoubtedly disappear but some bid fair to stay with us, for
example certain features concerning the association of hereditary
characters with chromosomes and specific ‘changes within them.
Even if we succeed in discovering every chemical and every physical
change in every chromosome and precisely how each character is
connected with them — and we shall no doubt be able to do much
along this line of the greatest value both practical and theoretical —
there still remains the riddle as to why they are thus associated.
This riddle and others of a similar sort are clearly beyond mechanıics,
even in the loose sense in which Loeb has used this term, for
they involve not only the question of order in nature but also the
question of why there is order. What hope is there then ın our
author’s “mechanistie conception” for the solution of such problems.
It is however in the fields of morphogenesis and behavior that
anti-mechanists have found the most fertile source of materıal for
their arguments. And it is therefore not surprising to find these
subjects rather extensively treated by our author.
He discusses morphogenesis in two different sections and
appears to arrive at quite different conclusions as to an explanation
of this phenomenon.
He found experimentally, that the place of origin and the
direetion of growth in a number of organisms is nalen upon
gravity and contact. And he concludes " 3. 91): “The eircumstances
that determine the forms of animals and plants are only the dif-
ferent forms of energy, in the sense in which this word is used
by the physicist, and have nothing to do with natural selection.”
In this same section he maintains (p. 108) that the reason why the
egg of the sea-urchin normally gives rise to only one embryo “is
due simply to the geometrical nn of the protoplasm, which,
under normal conditions, is that of a sphere” (in other words
Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life. ale)
if the fornı were not spherical, there would be more than one)
and that the limit to the number of embryos that can arise from
one egg “is not due to any preformation, but to other circum-
stances, the chief one being that with t00 small an amount of
protoplasm the formation of a blastula — from merely geometrical
reasons, as there must be a minimum size for the cleavage-cells —
becomes ımpossible.” Neither of these conclusions seems to be
in accord with the facts. The experiments of Pflüger, Hertwig
and others show that when frog’s eggs are flattened they still
develop into but one embryo; and the work of CGonklin, in par-
ticular, shows that preformation in the egg has much to do with
the determination of the number ofembryos that can develop from it.
In this section then Loeb maintains that the form of organisms,
including the interrelation of different parts, is regulated directly
by the action of gravity, light, surface tension, etc. He rejects ın
unmistakable terms, quoted above, the ıdea that natural selection
has anything to do with it. In another section however his whole
discussion of this problem is ın complete harmony with the theory
of natural selection.
In thıs section he postulates, under normal conditions, numerous
varıations in form, structure and arrangement of parts’ due to
hybridization and maintains that in a large percentage of the in-
dividuals which arıse thus, these features are of such a nature that
they soon die leaving only those which are adapted to their environ-
ment. He says (p. 24): “The number of teleosts at present in
existence is about 10000. If we accomplish all possible hybridiza-
tions 100000000 different crosses will result. Of these teleosts
only a very small proportion, namely about one one-hundreth or
1 per cent, can live... It is, therefore, no exaggeration to state
that the number of species existing today is only an infinitely small
fraction of those which can and possibly occasionally do originate,
but which escape our notice because they cannot live and reproduce.”
The whole matter ıs summed up in the following startling sentence
(p. 25): “Disharmonies and faulty attempts in nature are the rule,
harmonically developed systems the rare exception.” No one to
my knowledge ever sketched the theory of natural selection with
bolder strokes. Loeb settles the whole question of adaptation and
the origin of species in the space of a few paragraphs. What ıs
more, he shows that all of these phenomena are only the product
ot “blind forces”. “Nobody doubts”, he says, in concluding a brief
argument, (p. 26) “that the durable chemical elements are only the
product of blind forces. There ıs no reason for conceiving other-
wise the durable systems in living nature.”
Thus it appears that in this section in attempting to account
for morphogenesis, Loeb makes use of the fundamental principles
586 Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life.
underlying the theory of natural selection which was definitely
rejected in another section. But his whole argument in support
of his contention rests on highly speculative premises, that is, that
hybrids oceur extensively under natural conditions and that only
relatively very few organısms produced thus can live. Moreover,
this hypothysis has no bearıng on organisms which reproduce only
asexually.
His final conclusion regarding the reduction of form production
and adaptation to “blind forces’’ hinges on the meaning implied by
the expression “blind forces”; and in the absence of a definition
of thıs extremely vague term, it would be folly either to agree or
to disagree with the conclusion. It may be said however that ıf
the author intends to maintain that we have any real insight into
the reason why certain chemical elements are durable and others
are not (quoted above), further than the fact that this has been
observed to be so he will be supported by few if any of those com-
petent to judge in the matter.
The treatment of the problem of behavior oceupies nearly one-
fourth of the entire volume. Loeb holds that the elements of all
behavior both ın plants and in animals, including all psychic
phenomena, are tropısms. These, he maintains, have been mechanic-
ally explained and since the elements have been reduced to
mechanical prmeiples all of the compounds constructed from them
can be sımilarly reduced.
A tropism is, according to Loeb, a process of orientation due
to the continuous action of the stimulating agent on symmetrically
situated sensitive tissues. He says (p. 219): “In... heliotropie an-
imals in which the symmetrical muscles participate equally in
locomotion, the symmetrical museles work with equal energy as
long as the photochemical processes in both eyes are ıdentical.
If, however, one eye is struck by stronger light than the other,
the symmetrical muscles wıll work unequally” In another con-
nection (Dynamics of living Matter, p. 135) he says specifically that
tropisms are “a function of the constant intensity”. Reactions in
accord with these ideas would, of course, result in orientation. The
question is are the observed orienting reactions actually of this
nature; are they controlled by the continuous action of the stimulat-
ing agent? One or both of these questions have been conclusively
answered ın the negative for the following organısms: Zuglena,
Stentor and all of the other unicellular organısms, with the possible
exception of Ameba, ın which the process of orientation has been
studied, Volvox and all other colonial forms tested, Hydra, fire-
flies, fiddler-crabs and toads. (See Mast, “Light and the Behavior
of Organısms“.) In most of these forms ıt has been shown that
orientation is dependent upon the time rate of change in the inten-
Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life. 587
sity of the stimulating agent on the sensitive tissue and not on ıts
continuous action as Loeb’s theory demands. In the rest of them
it has been demonstrated that stimulation of symmetrically located
sensitive tissue is not necessary in the process of orientation. Loeb
maintains (p. 220) that ecircus movements caused by the destruction
of the sensitive tissue on one side of certain anımals as observed
by Holmes, Parker and others support his theory, but he fails
to consider the fact that in a number of these cases the anımals
after some time tended to recover and orient normally with the
sensitive tissue funetional on only one side, reactions directly in
opposition to his theory. In not a single case has it actually been
demonstrated that the response of any organism is ever in accord
with Loeb’s theory of tropisms, with the possible exception of
certain reactions to electrieity. This whole theory of tropisms must
consequently be relegated to the realm of pure speceulation. How
then can it it be maintained that tropisms are elementary reactions
which have been mechanically explained? And what possible sup-
port can the assumption that all behavior is founded on such
hypothetical reactions lend to the thesis that behavior is capable
of mechanical explanation?
Loeb holds that the orienting reactions in plants and animals
are identical, and that this supports his mechanistie ideas on behavior.
He says (p. 28): “In a series. of experiments I have shown that
the heliotropie reactions of animals are identical with the heliotropie
reactions of plants.” He brings forth several points of identity ın
support of this eontention. All of these are of essentially the
same nature. We shall discuss but two of them, the effect of
different colors and the effeet of different chemicals on reactions.
(1) “In plants”, our author says, (p. 29) “only the more
refrangible rays from green to blue have... heliotropie effects,
while the red and yellow rays are little or less effective; and the
same is true for the heliotropie reactions of animals.” This state-
ment holds, if at all, only in a very general and superficial sense.
The region of maximum stimulation m the solar prismatie speetrum
for all green plants, as far as tested, is either in the violet or the
indigo. Blaauw (1908) found that in the region of maximum
stimulation (indigo 465 uu), for oat seedlings, the efficiency on the
basis of equal energy is 2600 times greater than in the red, yellow
or green. In the unicellular and the lower multicellular animals,
as far as investigated, the distribution of stimulating eflieieney ıs
similar to that in green plants. Engelmann gives for Euglena,
blue, 470—490 uu, Harrington and Leaming, and Mast for
Ameba, violet, indigo, blue; Wilson for Hydra violet, indigo, blue,
430-490 uu. But in the higher animals the distribution is not in
agreement with this. Lubbock e. g. found the maximum for
585 Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life.
Daphnia ın the yellow and green. Loeb (1910) confirmed this
result, using Lubbock’s methods, altho earlier (1905) he had sar-
castically rejected Lubbock’s results intimating that his methods
were jfaulty. Many other experimental results could be cited in
support of the eriticısm of Loeb’s contention stated above.
(2) Loeb says (p. 223): “The writer has shown that the ex-
periments on the effect of acids on the heliotropism of copepods
can be repeated with the same results in Volvox. It is, therefore,
erroneous to try to explain these heliotropie reactions of animals
on the basıs of peculiarities (e. g., vision) which are not found in
plants” Loeb refers here to the fact that when a trace of acid
is added to the solution Volvox and a number of different copepods
have been found to become strongly positive in their reactions to
light. But Volvox is on the border-line between plants and animals.
It ıs claimed by botanists as a plant, by zoologists as an animal.
What support theu can this fact lend to the contention that the
orienting reactions to light in plants and animals are identical!
especially when this is the only known point of similarity in the
reactions of these forms and when it is known that the process of
orientation in the copepods is radıcally different from that in
Volvox and that changes in temperature have precisely opposite
effects on the reactions to light in these forms?
It ıs, however, ın the treatment of those forms of behavior
known as moral action that our author seems to have wandered
farthest on the paths of mysticism and vague dogmatie speculation.
In attempting to reduce ethics to mechanical principles he
assıumes that all instinets are purely mechanical and says (p. 31):
“Our instinets are the root of our ethies and the instincts are just
as hereditary as is the form of our body. We eat, drink, and
reproduce not because mankind has reached an agreement that this
is desirable, but because, machine-like, we are compelled to do so.
We are active, because we are compelled to be so by processes in
our central nervous system; and as long as human beings are not
economic slaves the instinets of successful work or workmanship
determines the direction of their action. The mother loves and
cares for her children, not because metaphysicians had the idea
that this was desirable, but because the instinet of taking care of
the young is inherited just as distinetly as the morphologieal
characters of the female body. We seek and enjoy the fellowship
of human beings because hereditary conditions compel us to do so.
We struggle for justice and truth since we are instinetively com-
pelled to see our fellow beings happy.” Thus morality is supposed
to rest directly on instinet and heredity. In another section, how-
ever, the author appears to arrive at a quite different conclusion. He
says (p. 62): „The highest manifestation of ethies, namely, the con-
Ze
Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life. 589
dition that human beings are willing to sacrifice their lives for an
idea is comprehensible neither from the utilitarian standpoint nor
from that of the categorical imperative. It might be possible that
under the influence of certain ideas chemical changes, for instance,
internal secretions within the body, are produced which increase
the sensitiveness to certain stimuli to such an unusual degree that
such people become slaves to certain stimuli just as the copepods
become slaves to the light when carbon dioxide is added to the
water.” And he concludes after referring to Pawlow’s work, “it
no longer seems strange to us that what the philosophers term an
‘ıdea’ is a process which can cause chemical changes in the body.”
Thus he begins with an attempt to found ethies on instincts,
which are assumed to be purely mechanical, and ends with the
surprising statement, apparently diametrically opposed to this, that
chemical reactions in the body are “caused” by ideas. The whole
argument intended to reduce ethics to mechanical principles seems
to amount to but little more than would a statement that ethical
phenomena are mechanical because they are. It certainly must be
classıfied as speculation of the vaguest sort.
Finally our author maintains that all natural phenomena, in-
cluding our existence, are “only a matter of chance... based on
the blind play of forces”. Precisely what is here implied by this
expression I am unable to ascertain, but I assume the author in-
tends it to be synonymous with the phrase “fortuitous concourse
of atoms” so much used some fifty years ago. Now, whatever else
this phrase may mean it seems clear that it has ordinarily been
used with the intention to convey an idea in direct opposition to
the fundamental principle of mechanism which is undoubtedly deter-
minism. How can anything that is definitely determined (mechanical)
be a mere matter of chance dependent upon the play of blind
forces! How can a mechanist maintain that our existence is purely
fortuitous! Our author scornfully rejects all metaphysical speeulation
with the statement that it is a mere play on words and yet he
implies in the phrase just quoted that force is a causal agent, a
purely metaphysical concept. Even “stereotropism” is clothed with
mysterious power to regulate the movement of organisms. “Nega-
tive stereotropism,” says Loeb (p. 92), “forces the polyps to grow
away from the ground into the water, and hence parts surrounded
by water form polyps only. Positive stereotropism forces roots in
contact with the ground to hold to it, hence parts in contact with
the ground give rise to roots only.”
It probably is true that all biological phenomena, including
ethies, are mechanical in the very loose sense in which our author
appears to have used this term, meaning merely orderly, and it may
possibly be true that they are mechanical in the striet sense of
>90 Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life,
the term, but the evidence presented in favor of either of these
contentions is anything but convineing.
Leaving now the question of the reduction of life processes
to mechanical principles, let us consider a few instances ın which
Loeb’s work seems to be open to critiesm from other points
of view.
In attempting to establish the idea “that vision is based on
the formation of an image on the brain” he makes use of two lines
of evidence, (a) results obtained in operations on the brain, and
(b) observation on the pattern adaptation in fishes.
He says (p. 79) that the experiments of Munk on the brain
of dogs show that “there exists a projection of the retina on a
part of the cortex” designated as the visual sphere and he main-
tains in this connection, that these experiments have been confirmed
by Henschen and by Minkowski, but on page 35 he says,
referring to these same experiments: “Five years of experiments
with extirpations in the cerebral cortex proved to me without doubt
that Munk had become the vietim of an error.” His principal
source of evidence in support of the thesis in hand ıs however, he
maintains, found in Sumner’s work on changes in the pattern of
the skin of certain fishes so as to continuously harmonise with the
background.
I,oeb holds that this work shows that the retinal image is
reproduced in the skin. He says (p. 81): “There exists, therefore,
a definite arrangement of the images of the different Juminous
points of the ground on the retina and a similar arrangement of
the images of the luminous points on the skin of the fishes”, and
coneludes that “vision is a kind of telephotography”.
A careful examination of Sumner’s excellent photographs of
patterns produced in the skin of flatfishes by different backgrounds
shows clearly that the spacial arrangement of light and dark areas
in the skin is similar in all. It ıs essentially the same in fishes
over a background consisting of alternate black and white squares
as it is over one consisting of alternate black and white stripes or
black spots on a white field or white spots on a black field or an
irregular arrangement of high light and shadows as is found ın
nature on gravel bottoms. Sumner says (p. 468): “Squares, cross-
bands, eireles, ete., were never copied in any true sense, by the
fishes.” The size of the dark and light areas in the background
have a profound effect on the nature of the pattern, but I can find
no evidence indicating that their form or their spacial arrangment
has any. Where then is there any foundation for Loeb’s specula-
tion on the mechanies of vision? What evidence is there that
images on the retina are reproduced as such in the brain?
Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life. 591
Loeb says (p. 207): “It has often been noticed by explorers
who have had a chance to compare the faunas in different climates
that in the polar seas such species as thrive at all in those regions
oceur, as a rule, in much greater density than they do in moderate
or warmer regions of the ocean.” He holds that the results of a
number of investigators show that it requires an increase of about
10° in temperature to double the rate of development in organisms, but
maintains (p. 209) that the length of life of sea-urchin eggs (fertilised
and unfertilised) is doubled if the temperature is deereased only 1°.
And he says: “Lowering the temperature by 10 degrees therefore
prolongs the life of the organısm 2%, i.e., over a thousand times,
and a lowering by 20 degrees prolongs it about one million times.
Since this prolongation of life is far in excess of the retardation
of development through a lowering of temperature, it is obvious
that, in spite of the retardation of developmeut in Arctic seas,
animal life must be denser there than in temperate or tropical seas.”
If there is anything in this theory we should expect in the
temperate zone that pelagie life would be much more abundant in
winter than in summer. We should expect our ponds to swarm
with microorganisms when they are covered with ice. Of course
every one knows that this is not true.
In this instance we have an illustration of a peculiar method
of reasoning not rarely found in Loeb’s works. He finds that a
change of 1 degree at a given temperature produces a given effect
on a sea-urchin egg and concludes that a change of 1 degree will
produce the same effect in practically all organisms over a wide
range of temperatures.
Another illustration of the same tendency to excessive generaliza-
tion is found in the following statement (p. 45): “Every animal is
continually producing acids in its cells, especially carbonic acid and
lactic acıd; and such acids increase the tendeney in certain animals
to react hehiotropically ... Fluctuations in the rate of the produe-
tion of these substances will also produce fluetuations in the
heliotropie sensitiveness of the animals. If, for instance, the active
mass of the photosensitive substance in a copepod is a relatively
small, a temporary increase in the production of carbonie acid can
increase the photosensitiveness of the animal suffieiently to cause
it to move for the period of a few seconds direetly toward the
source of light. Later the production of carbonie acid decreases
and the anımal again becomes indifferent to light and can move
in any direction. Then the production of carbonic acid increases
again and the animal goes again, for a short time, toward the
light.” Thus it is clear that our author holds that variability in
the response of animals to light is due to variability in the pro-
duction of acids within them. Superficially this appears to be a
599 Mast, Loeb’s Mechanistie Conception of Life.
very simple and plausible explanation; but Loeb himself found
that the reactions to light can be changed by certain alkalıes, salts
and narcotics as well as by acıds, and others have discovered that
the same changes can be produced by mechanical stimulation and
by changes in temperature. Why then select acıd as the con-
trolling factor? Moreover he assumes that substances within the
body have the same effect as they do when outside, an assump-
tion which, as far as I am aware, has no foundation in facts.
Of a sımilar nature is the argument (pp. 96-99) leading to
the conclusions that “Growth in animals is determined by the same
mechanical forces which determine growth ın plants” and “Activity
plays the same röle ın the growth of a muscle that the temperature
plays ın the growth of the seed.”
The consideration of only a portion of the known facts regard-
ing many phenomena has made it possible for Loeb to offer ex-
tremely simple and attractive explanations for them, explanations
which appear superficially plausible especialle to those not thoroly
grounded ın the subject.
Asıde from those already referred to our author has made a
number of statements, direct or implied, which, altho of no great
consequence in the discussion, are of doubtful validity. For example,
(p. 41) “Experiments on the perception of light by our retina have
shown that the effect of light equals the product of the intensity
into the duration of illumination.” (p. 43) Copepods have retinas.
(p. 50) More species react to light than to the electric current.
(p. 52) Anımals are aggregates of independent hereditary qualities.
(p. 53) There is no indicatien of adaptation in the reactions of
animals to light. If they are positive at all they are positive to
all intensities above the threshold. (p. 54) Sudden decrease of in-
tensity of light causes a decrease in movements in planarians.
(p- 55) Hypotricha are sensitive to light. (p. 54) Haberlandt,
Nemec and F. Darwin do not attempt to explain plant tropisms
physico-chemically. (p. 196) “All as a rule or the majority of ın-
dividuals of a species in a given region spawn on the same day.”
(p. 174) “The egg membrane in Fundulus possesses a small opening,
the so-called micropyle, through which the spermatozoon enters
into the egg.” (p. 74) “It can be shown that Infusoria, Coelen-
terates, and worms do not possess a trace of associative memory.”
(p. 14) “The problem of the beginning and the end of individual
life ıs physico-chemically clear.”
After criticising former theories of fertilization as too vague to
be useful Loeb says (p. 115): “If we want to make new discoveries
in biology, we must start from definite facts and observations, and
not from vague speculations.” I know of no biologist who would
not whole-heartedly subseribe to this doctrine, but with all due
Correns u. Goldschmidt, Die Vererbung u. Bestimmung des Geschlechtes.. 595
respect for our distinguished author I am compelled to say that
his “mechanistie conception” appears to me to contain so much
vague speculation based upon so few well founded facts, that I fear
his practice imperfectly conforms to his precept.
Correns und Goldschmidt. Die Vererbung und
Bestimmung des Geschlechtes.
2 Vorträge, Berlin 1913. 72 + 76 S., 10 + 45 Abb., 4,50 Mk.
Das Bändchen enthält die auf der Naturforscherversammlung
zu Münster 1912 gehaltenen Vorträge ın erweiterter und durch
Hinweise auf neuere Veröffentlichungen ergänzter Fassung. Cor-
rens bespricht unter dem Titel Experimentelle Unter-
suchungen über Vererbung und Bestimmung des Ge-
schlechtes die fast ausschließlich durch Bastardierungsversuche
gewonnenen Einblicke in die Tendenz der Keimzellen, das eine oder
andere Geschlecht hervorzubringen. Kein anderer Forscher hat
auf diesem Gebiete so große Erfolge zu verzeichnen wie der Ver-
fasser, dem es durch sorgfältig durchdachte Anwendung der
Mendel’schen Spaltungsgesetze gelungen ist, einige besonders
günstige Fälle klarzulegen.
Da ursprünglich wohl überall beim Auftreten der Sexualität
beide Geschlechter demselben Individuum zugeteilt waren und sich
dieser Zustand bei den Pflanzen meist erhalten hat, während die
Metazoen zur Getrenntgeschlechtigkeit übergegangen sind, müssen wir
den tierischen Hermaphroditismus da, wo er sich findet, als sekundär
erworben ansprechen, während er bei den Pflanzen primär ıst. Es
ist das wohl ein Grund dafür, dass sich Blütenpflanzen als be-
sonders geeignet für derartige Versuche erwiesen.
Einen Anhalt zum Eindringen in die vorliegenden Fragen gaben
jene Pflanzen, die selbst zweigeschlechtig zwitterige Verwandte be-
sitzen, mit denen sie gekreuzt werden können. Denn ähnlich wie
eine Analyse der Erbeinheiten eines Organismus auf Grund der
Spaltungsregel erst dann möglich wird, wenn eine Bastardierung
mit Individuen vorgenommen werden kann, die in irgendeiner oder
mehreren Erbeinheiten abweichen, so lässt sich auch die Vererbungs-
tendenz einer Keimzelle nur aus ihrer Wirkung auf eine in der
Verteilung der Sexualität verschiedene Spezies entnehmen. Solche
Verschiedenheiten ın der Geschlechterverteilung finden sich z. B.
in den Gattungen Satureia, Melandrium und Bryonia. Besonders
die letztgenannte bietet relativ einfache Verhältnisse, da Bryonia
alba zwitterig, Bryonia dioica getrenntgeschlechtig ist. Wird eine
der beiden Arten mit sich selbst bestäubt, so erhält sich das Ver-
hältnıs der Geschlechter, indem Br. alba lauter Zwitter, Dr. dioica
zur Hälfte Männchen, zur Hälfte Weibchen gibt. Dr. alba g —+ Br.
594 Correns u. Goldschmidt, Die Vererbung u. Bestimmung des Geschlechtes.
dioica g‘ gibt 50% 2 und 50%, d Bastarde. Br. dioica 9 + Br.
alba g' aber gibt 100%, 29 Bastarde. Der Verf. erklärt dieses Er-
gebnis so: Die Keimzellen der Dr. dioica 9 stimmen unter sich
überein, es gibt ıhrer nur einerlei, während es zweierlei männliche
Keimzellen geben muss. Die Weibchen sind homogametisch, die
Männchen heterogametisch. Die gemischtgeschlechtige Tendenz der
Keimzellen von Dr. alba wird unterdrückt. Es ergeben sich dann
die erwähnten Resultate der Selbst- und Kreuzbefruchtung. Die
Auffassung wird durch Besprechung anders lautender Erklärungs-
versuche verteidigt und dürfte wohl zurzeit die einzige befriedigende
sein. Genau entsprechend fiel ein Versuch mit dem getrennt-
geschlechtigen Melandrium aus, das mit der zwitterigen Selene
viscosa gekreuzt wurde. Dagegen ergab die Bastardierung von ge-
wissen Schmetterlingen in Versuchen von Doncaster und Gold-
schmidt das umgekehrte Verhalten, indem hier die Männchen
homogametisch, die Weibchen heterogametisch zu sein scheinen.
Alle Versuche sınd aber mit folgenden Annahmen im Einklang:
Die getrenntgeschlechtigen Tiere und höheren Pflanzen bringen
Keimzellen mit einer bestimmten sexuellen Tendenz hervor, und
zwar so, dass das eine Geschlecht nur einerlei Keimzellen bildet,
während das andere zweierlei Keimzellen erzeugt. Die Bestimmung
des Geschlechtes käme bei der Befruchtung zustande, indem die
Keimzellen des heterogametischen Geschlechtes dominieren. Die
zweierlei Keimzellen würden durch Mendel’sche Spaltung erzielt.
Wenn man auch nach Correns vielleicht in absehbarer Zeit
den Mechanismus der Geschlechtsbestimmung verstehen wird, so
dürfte dieser doch, wenigstens beim Menschen, künstlicher Ein-
wirkung unzugänglich bleiben.
Der Goldschmidt’sche Aufsatz enthält unter dem Titel Cyto-
logische Untersuchungen über Vererbung und Bestim-
mung des Geschlechtes eine übersichtliche Darstellung der
Chromosomenlehre und auf dieser Grundlage dann alles Wissens-
werte über Geschlechtschromosomen und geschlechtsbegrenzte Ver-
erbung sowie über die Bedeutung dieser Dinge für die Geschlechts-
bestimmung.
Der Verf. geht von der Sachlage aus, wie sie bei Rückkreuzung
eines Bastardes mit einem seiner Eltern vorliegt. Die Nachkommen-
schaft zeigt dann zu gleichen Teilen die Eigenschaften des Bastardes
und die des reinen Elters. Es beruht das darauf, dass die ab-
weichende Eigenschaft des anderen Elters an ein Uhromosom des
Bastardes gebunden ist. Derartige Chromosomen erhält die Hälfte
der Enkelgeneration, während auf die andere Hälfte das Schwester-
chromosom übertragen wird, das von dem entsprechenden Chro-
mosom des zur Rückkreuzung benutzten Elters nicht verschieden
u
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 595
ist. Die eine Hälfte der Nachkommenschaft enthält deshalb gleich-
artige, die andere ungleichartige Ohromosomenpaare, d.h. die eine
ist rein, die andere heterozygotisch.
Das geschilderte Schema ist nun geeignet zum Vergleich mit
der Geschlechtsvererbung, wenn man annimmt, dass ein Geschlecht
dem Bastard, das andere dem Elter entspricht. Auch hier ent-
stehen ja die zweierlei Nachkommen, die den zweierlei Eltern
gleichen, in gleicher Anzahl. Gestützt wird diese Auffassung da-
durch, dass in manchen Fällen eine Zwiegestaltigkeit der Keimzellen
zu erkennen ist.
Es sind nämlich Organismen bekannt, bei denen das eine Ge-
schlecht ungleichartige Chromosomen aufweist. Dieses Hetero-
chromosomenpaar besteht entweder aus zwei ungleich großen Chro-
mosomen oder es fehlt einem der Elemente der Partner ganz und
gar. Bei der Reduktionsteilung kommt dann auf jede zweite Keim-
zelle ein abweichendes Öhromosom oder der Mangel eines solchen.
Leider fehlen zum Vergleich ganz überzeugende Fälle von Bastarden,
bei denen zweierlei morphologisch unterscheidbare Chromosomen
deutlich verfolgt worden wären.
Goldschmidt zeigt nun, dass alle Erfahrungen mit folgender
Auffassung in Einklang sind: Ein Geschlecht ist homogametisch,
das andere heterogametisch, wie sich das zuweilen auch morpho-
logisch ın den erkennbaren Geschlechtschromosomen ausdrückt.
Auf Grund der presence-absence-Theorie ist dann auch der Fall
verständlich, wo an Stelle verschieden großer ein unpaares Chro-
mosom auftritt. Man sieht die Parallele zu den von Correns aus
Bastardierungsversuchen gezogenen Schlüssen. Auch für das Ver-
ständnis der geschlechtsbegrenzten Vererbung ist eine solche Auf-
fassung von Wert, wenn man nur annimmt, dass die sekundären
Geschlechtsmerkmale irgendwie an das Heterochromosomenpaar
gebunden sind.
Die teilweise noch hypothetischen Darlegungen werden für
zukünftige Forschung Anknüpfungspunkte geben, besonders wenn
cytologische und experimentelle Bearbeitung nach einheitlichem
Plane ausgeführt werden. Derartige Untersuchungen erscheinen
jetzt besonders aussichtsreich. Ernst G. Pringsheim.
Die Zweckmälsigkeit des Lebens und die Regulation
der Organismen.
Von Dr. Slavko Sederov (Belgrad).
T.
Seit jeher hat der Begriff der Zweckmäßigkeit des Lebens in
dem intellektuellen Leben der Menschheit eine große Rolle gespielt.
Die Harmonie und eine gewisse Ordnung in den Organismen hat
596 Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
schon in der ältesten Zeit des menschlichen Denkens die Erklärung
hervorgerufen, welche darin gipfelte, dass die Ursache dieser Er-
scheinungen ein übernatürliches Wesen, der Schöpfer sei.
Mit dem Fortschritte des menschlichen Denkens ist diese Auf-
fassung, wenigstens in der Wissenschaft, verschwunden; die Har-
monie und die Ordnung in den Organismen kann nicht als durch
einen übernatürlichen Faktor verursacht, angesehen werden, sondern
die Ursachen werden entweder in den Organismen selbst gesucht
oder auf Grund der Analogie versucht man die Harmonie und die
übrigen zweckmäßigen Lebenseigenschaften auf die schon bekannten
mechanischen, chemisch-physikalischen Faktoren zurückzuführen.
Die erste dieser Auffassungen vertreten in der heutigen Bio-
logie die Neovitalisten mit den Deszendenztheoretikern, wie die
Neolamarckisten oder Psychobiologen, die zweite die Mechanisten
und die große Mehrzahl der Physiologen.
Bevor wir auf die Darstellung des Verhältnisses der zweck-
mäßigen Lebenseigenschaften und der organischen Regulationen
übergehen, wird es von Interesse sein, die teleologische Auffassung
einiger Biologen, welche für die Teleologie als Wesen des Orga-
nischen kämpfen, näher zu betrachten.
Für eine — ich möchte sagen, — vollständige Analyse der teleo-
logischen Auffassung wird die Betrachtung der Ansichten von
Wolff‘), Pauly?) und Driesch?) genügen.
Wolff nennt, ım Anschluß an Kant, eine Einrichtung zweck-
mäßig, wenn unser Kausalıtätstrieb uns dazu zwingt, ihr Dasein
mit ihrem Effekt ın ursächliche Beziehung zu bringen. Wenn wir
z. B. die Funktion des Herzens betrachten, so zwingt uns unser
Kausalitätsbedürfnis, einen Zusammenhang zwischen dem Dasein
dieses Organs und seiner Leistung anzunehmen, d.h. in der Leistung
den Grund des Daseins zu sehen. Diese teleologische Auffassung
ist ebenso notwendig wie die kausale, weil sie kausal ist.
Wolff meint, dass in dieser Auffassung kein psychisches Ele-
ment liegt, obwohl er zugıbt, dass diejenigen Fälle, in denen es
gelang, für ein konstatiertes teleologisches Kausalverhältnis eine,
bis zu einem gewissen Grade befriedigende Erklärung zu geben,
d. h. in welchen die kausale Abhängigkeit des Daseins vom Effekt
einer Einrichtung im einzelnen dargelegt ıst, solcher Natur sind,
in den wir uns für berechtigt halten, die Hypothese einer psy-
chischen Vermittlung aufzustellen. Das heisst aber nach Wolff
nur, dass eine andere als psychologische Erklärung eines teleo-
1) G. Wolff, Mechanismus und Vitalismus. II. Aufl., Leipzig 1905.
2) A. Pauly, Darwinismus und Lamarckismus. München 1905.
3) H. Driesch, Der Vitalismus als Geschichte und als Lehre. Leipzig 1905.
— Ders., Philosophie des Organischen. Leipzig 1910.
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 597
logischen Kausalverhältnisses zu geben, uns bis jetzt nicht gelungen
ist, aber daraus folgt keineswegs, dass eine psychologische Er-
klärung immer anwendbar und die einzig mögliche sein muss. Die
teleologische Beurteilung ist also nicht gleichbedeutend mit der
Substituierung einer psychischen Ursache.
Die Auffassung von Wolff wird noch klarer aus dem folgenden
Beispiele. Betrachten wir den Körper eines soeben getöteten
Tieres, so wissen wir, dass er jetzt schon anfängt sich zu verändern
und dass er bald in Verwesung übergeht und vollständig zerfallen
wird. Nun betrachten wir den lebenden Körper eines gleichen
Tieres und fragen wir uns — nach Wolff —, warum zerfällt dieser
Körper nicht? Die Antwort wird lauten: weil er einen Darmkanal
hat, welcher Nahrung aufnimmt, weil er ein Herz hat, das die Säfte
im Körper herumführt, Wertvolles zuführt, Wertloses abnımmt,
weil er eine Lunge hat, die den zur Erzeugung der Kräfte nötigen
Sauerstoff holt und die entstandene Kohlensäure weggibt, weil er
eine Niere hat, welche Zerfallsprodukte ausscheidet, weil er ein
Nervensystem hat etc. Das Zusammenwirken all dieser Organe
führt zu dem Resultate der Erhaltung des Organismus; dieses Re-
sultat ist nicht zufällig entstanden, und die Organe sind ebenso-
wenig zufällig entstanden, sondern das Resultat oder die Erhaltung
des Organismus steckt irgendwie in dem Zusammenwirken aller
Organe als ein Ziel desselben.
Die Unzulänglichkeit der mechanistischen Auffassung hegt nicht
darın, dass sie den Zerfall nicht ausschließt, sondern darin, dass sie
ıhm die leitende Rolle erteilt bei der Entstehung des Zweckmäßigen.
Wir sind dagegen nach Wolff gezwungen, teleologisch zu be-
urteilen, weil jede andere Denkweise unserem logischen Denken
widerspricht. Wenn z. B. einem nestbauenden Vogel gerade dieser
Strohhalm oder jene Flocke ın den Schnabel fällt, so enthalten
diese Zufälligkeiten kein biologisches Rätsel, aber dass er diese
Zufälligkeiten überhaupt verwenden kann, darın liegt das Problem
und das kann durch Annahme eines Zufalls für unser kausales
Denken nicht gelöst werden. Die Lösung dieses Problems findet nur
mit Rücksicht auf den Effekt statt, also teleologisch.
Die Zweckmäßigkeit ist nach Wolff nicht unbegrenzt, was die
Regeneration beweist. Ob irgendeine Erscheinung im biologischen
Sinne zweckmäßig ist, entscheidet es nicht, ob es bis zu dem Zwecke
gekommen ist, sondern es ist die Hauptsache, dass ein Streben
nach dem Ziele besteht. Das Endergebnis hat also keine ent-
scheidende Rolle bei der Beurteilung des Zweckmäßigen und der
Grad der Vollkommenheit einer Funktion ist ebenso für die bio-
logische Betrachtung nebensächlich.
Die teleologische und vitalistische Auffassung sind identische
Begriffe nach Wolff, während nach Driesch die Teleologie die
XXXII. 39
598 Secerov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Örganismen.
Zweckmäßigkeit nur deskriptiv konstatiert, aber dıe Frage, ob die
Organismen auf Grund einer Maschine aufgebaut oder durch einen
vitalen Faktor determiniert sind, ungelöst lässt.
Für Driesch sind nur die Reaktionen zweckmäßig, welche
Wolff als primär zweckmäßige bezeichnet. Unter diesem Begriffe
soll man diejenigen zweckmäßigen Reaktionen auf irgendeine äußere
Ursache verstehen, bei welchen die Annahme einer organisatorischen
Vorbereitung ausgeschlossen erscheint. Die größte Mehrzahl der
zweckmäßigen Reaktionen ist durch die Vererbung fixiert, aber wir
müssen annehmen, dass diese fixierten Reaktionen, als sie zum ersten-
mal erschienen sind, aus solchen Reaktionen entstanden sind, welche
den Charakter der primären Zweckmäßigkeit tragen. Diese primäre
Zweckmäßigkeit äußert sich auch bei der Regeneration der Linse
von Tritonen, wie es Wolff selbst konstatiert hat.
Nach Wolff ist also die Teleologie eine Ergänzung der Kau-
salität, die teleologische Betrachtungsweise eine Ergänzung der
eh Verhalten und die primäre zweckmäßige ae ae
keit ist ein Beweis des vitalistischen Geschehens.
Viel klarer und präziser fasst Driesch die Zweckmäßigkeit
und die teleologische Betrachtungsweise auf.
Dass es vieles Zweckmäßige an den Lebensgeschehnissen gibt,
ist, nach Driesch, nichts anderes als eine Tatsache.
Im Sprachgebrauch des täglichen Lebens bezeichnet man solche
Handlungen als zweckmäßig, welche erfahrungsgemäß ein bestimmtes
gewolltes Ziel, mittelbar oder unmittelbar, herbeiführen, oder von
denen man das wenigstens annımmt. Ich beurteile alle Zweck-
mäßigkeit von Handlungen von mir aus; ich weiß für mich, wann
meine Handlungen das Prädikat zweckmäßig verdienen, daich meine
Ziele kenne. Handlungen anderer Menschen benennt man zweck-
mäßig, wenn man ihr Ziel kennt, d. h. wenn man sich denken
kann, dass das Ziel ein eigenes sein kann, und wenn man mit
Rücksicht auf dieses Ziel beurteilt.
Nun dehnt sich die Anwendung des Wortes zweckmäßig auch
weiter, und zwar in zwei Richtungen. Daher entspringt einmal die
Anwendung des Wortes zweckmäßig auf Biologisches und aus dieser
Anwendung auf Biologisches entspringt das biologische
Grundproblem.
Driesch, wie auch viele andere, nennen zweckmäßig viele
Bewegungen der Tiere und zwar nicht nur solche, welche als „Hand-
lungen“ benannt werden können, sondern auch solche Bewegungs-
gruppen, welche ihrer festen Geschlossenheit wegen nicht als Hand-
lungen, sondern als Instinkte, Reflexe oder ähnlich bezeichnet
werden.
Von diesen Bewegungen bis zu den Bewegungen der Pflanzen,
z. B. gegen das Licht hin oder vom Licht ab, ist nur ein Schritt,
nn
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 599
und noch einen Schritt weitergehend, können auch Wachstums-
bewegungen zweckmäßig genannt werden.
Auf diesem Wege fortschreitend, kann man also schließlich
alle Geschehnisse an lebenden Wesen als zweckmäßig bezeichnen,
welche nachweislich auf einen Punkt zulaufen, der in irgendeinem
Sinne als Ziel gedacht werden kann.
Das ist die Genese des deskriptiven Begriffes der Zweckmäßigkeit.
Wie man sieht, kann man durch die Analogie den Begriff
zweckmäßig auf die biologischen Phänomene übertragen, aber nicht
nur auf diese, sondern auf verschiedene vom Menschen gefertigte
Artefakte, wie es verschiedene Maschinen und Kunstprodukte sind.
Von dieser Anwendung des Begriffes zweckmäßig auf die
menschlichen Kunstprodukte entsteht der Ausgang der Auf-
rollung des biologischen Grundproblems. Aus dieser Anwendung
entsteht die Frage, sind die Organismen Maschinen und spielen
sich die organischen Erscheinungen auf Grund oder Basis einer
Maschinerie oder sind sie durch einen besonderen vitalen Faktor
determiniert? Das bedeutet: Sind die als zweckmäßig bezeichneten
Vorgänge an Organismen zweckmäßig vermöge einer gegebenen
Struktur oder Tektonik oder liegt eine besondere Art des
Zweckmäßigen im Bereiche des Lebens vor?
Wir wollen uns nicht mit dieser Frage weiter beschäftigen,
sondern es sei nur konstatiert, dass Driesch zu dem sogen. bio-
logischen Grundproblem durch eine Analogie kommt. Diese Ana-
logie ıst noch potenziert, denn der Begriff zweckmäßig wird zuerst
aus dem psychischen Bereich auf die organischen Vorgänge über-
tragen und zweitens wird die Anwendung. des Begriffes zweckmäßig
auch auf menschliche Kunstprodukte erweitert, ebenfalls durch Ana-
logie; nur von der letzten Anwendung entsteht dann die „biologische
Grundfrage“. Die Mängel jeder logischen Strenge ın der Frage
und dem Grundprobleme erhellt dadurch von selbst.
Die organische Zweckmäßigkeit hat zwei Kennzeichen: die
Harmonie und die Regulation.
Die Harmonie zeigt sich ın dreifacher Hinsicht an den Orga-
nismen, als Kausal-, Kompositions- und Funktionalharmonie.
Es sind Fälle aus der Entwickelungsgeschichte der Organismen
bekannt, in denen ein Teil des werdenden Organismus durch Wir-
kung auf einen anderen die Entstehung eines dritten hervorruft
oder auslöst, wie man gewöhnlich sagt. Damit solches möglich ıst,
müssen offenbar derjenige Teil, welcher auslöst, und derjenige, an
welchem die Hervorrufung statthat, so geschaffen sein, dass eın
Entsprechen des B auf den Reiz des A hin überhaupt statthaben
kann, B muss für A als Ursache empfangsfähig sein. Dieses Ver-
hältnis bezeichnet Driesch als Kausalharmonie. Als Beispiel
soll angeführt werden: Die Augenlinse der Wirbeltiere wird durch
39*
600 Secerov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
Wirkung der wachsenden Augenblase auf die Körperhaut ausgelöst;
Augenblase und Haut verhalten sich kausalharmonisch zueinander.
Unter der Kompositionsharmonie versteht Driesch die Selbst-
differenzierungsfälle oder das Verhältnis der einzelnen Teile des
werdenden Organismus, welche in einer gewissen Abhängigkeit von-
einander entstehen, aber wenn sie einmal entstanden sind, ent-
wickeln sie sich ohne Rücksicht auf andere Teile.
Die Selbstdifferenzierungsfälle sowie die Entstehung einheit-
licher, komplizierter Organe des Erwachsenen aus der Vereinigung
mehrerer, sich je für sich differenzierender Anlagen zeigen, dass
ein harmonischer Charakter in dem Lageverhältnis der embryonalen
Teile zueinander obwalten muss, kraft dessen das Selbständige zum
Einheitlichen zusammenschließt. Also die Komposition der Keimes-
teile ist harmonisch. Driesch gibt folgendes Beispiel: der Mund
und der Darm der Seeigellarven entwickeln sich ohne Rücksicht
aufeinander, sind aber beide fertig, dann passen sie zusammen.
Die Teile, welche trotz relativer Selbständigkeit ein Ganzes
nach der Entwickelung bilden, funktionieren harmonisch. Ein Bei-
spiel der Funktionalharmonie bieten die Funktionen der verschie-
denen Abschnitte und Anhangsdrüsen des Darmkanals.
Diese drei Arten der Harmonie bilden nur die eine Seite der
organischen Zweckmäßigkeit; die andere ist die Regulation. Unter
Regulationsvermögen der Organismen soll ganz allgemein ihre
Fähigkeit, trotz abnormer auf sie einwirkender Umstände ihre
Norm, in Hinsicht auf Gestalt und Funktion, zu wahren verstehen.
Die Regulation ist manchmal erstaunlich groß.
Je nachdem die Regulation mit Rücksicht auf Störung von etwas
im Organismus selbst oder von seiner Umgebung stattfindet, kann
man von Korrelation oder von adaptiver Regulation sprechen.
Aus der Betrachtung eines teleologischen Vorganges des Bauens
einer Maschine wird uns klar, wie eine Erscheinung teleologisch
und zugleich mechanischer oder physikochemischer Natur sein kann.
Alle Vorgänge an den vom Menschen gefertigten Maschinen sind
nur insofern zweckmäßig, als sie sich als Glieder eines höheren spezi-
fischen Ganzen abspielen; sie sind zweckmäßig, weil die einheitliche
Verrichtung durch spezifische Lage und spezifisches Verhältnis der
Teile zueinander ermöglicht wird oder vermöge der gegebenen
Struktur und Tektonik des Ganzen. Diese, durch die Struktur
einer Vorrichtung entstandene Zweckmäßigkeit zeigt uns die statische
Teleologie oder Teleologie der Konstellation.
Nun kann die Frage aufgeworfen werden, gehören die Natur-
vorgänge dieser Teleologie an oder nicht? Und weiter, gehören die
organischen Zweckmäßigkeiten auch zu diesem Typus?
Alle jene Erscheinungen, die nicht auf Grund einer gegebenen
Struktur zweckmäßig sind, bezeichnet Driesch als dynamisch-
2
Secerov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 601
teleologisch. Nach ıhm gehören alle Organısmen in die letzte Art
der Teleologie; das bedeutet, dass die organische Zweckmäßigkeit
nicht durch die Struktur, sondern durch einen besonderen vitalen
Faktor, die Entelechie bedingt ist.
Für das genetische Verständnis der teleologischen Auf-
fassung sind die Ansichten Pauly’s die interessantesten.
Das Wesen des Lebens verstehen, fällt nach Pauly zusammen
mit der Erklärung des Zweckmäßigen.
Wir begegnen der Zweckmäßigkeit in verschiedenartigen Formen;
zuerst als Organ, d. h. von der Natur geschaffenes Werkzeug in
allen Graden der Verwickeltheit in beiden organischen Reichen. In
dieser liegt das Zweckmäßige als das Problem eines abgelaufenen
Vorganges vor uns; es soll nach Darwin’s Anschauung zufällig
entstehen und sein Wachstum von außen reguliert werden, gegen
welche Auffassung die ganze Pauly’sche Lehre gerichtet ist.
Daneben erkennen wir das Zweckmäßige als Leistung des physio-
logischen Vermögens der Organe in den Verrichtungen; auch für
diese Form fehlt uns die Erklärung, doch muss es zugegeben werden,
dass der Organismus selbst als Täter für diese Form des Zweck-
mäßigen in Anspruch genommen wird, womit ein Vermögen aner-
kannt wird, das nicht durch fingierte Außenverhältnisse vertreten
werden kann.
Weiter finden wir das Zweckmäßige im Tierreich, schon auf
tiefster Stufe, als Handlung entweder zum Instinkt mechanisiert
oder bei höheren Tieren deutlich aus freien Urteilen entspringend
und nach allgemeiner Anschauung in das geistige Wesen des Menchen
übergehend.
Wir lernen ın uns selbst die vierte Form der Zweckmäßigkeit
durch innere Erfahrung, in Gedanken, — einer Art von inneren
Handlung.
Neben alledem objektiviert sich das Zweckmäßige als künst-
liches Erzeugnis — mit geringen Vorläufern im Tierreiche —, in
der Unermesslichkeit von Werkzeugen, Maschinen, Instrumenten,
Büchern, Gebäuden, Kunstwerken; diese Zweckmäßigkeiten bilden
den Kulturbesitz der Menschheit.
In der letzten Form erscheint das Zweckmäßige wie in der
erstgenannten als Produkt eines abgelaufenen Vorganges.
Das künstliche Zweckmäßige unterscheidet sich zwar von dem
natürlichen, dem Organ, durch den Mangel am eigenen Leib und
scheint dadurch mit diesen unvergleichbar; es bekundet sich aber
als Glied derselben Reihe durch den Charakter der Vernünftigkeit,
die allen Gliedern derselben gemeinsam war und erlangt sogar
theoretisch den höchsten Wert, weil wir über seine Entstehung
eine Gewissheit besitzen, die durch keine Hypothese aus den Angeln
gehoben werden kann.
602 Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
Das künstliche Zwecekmäßige entsteht aus dem eigenen bild-
nerischen Vermögen der Lebewesen als Produkt einer Handlung,
deren bewegende Kräfte psychologische Faktoren sind. Psycho-
logische Faktoren sind es auch, welche die beiden anderen Glieder,
Gedanken und Handlung erzeugen, und so wären von vornherein
alle Formen des Zweckmäßigen auf ein eigenes Vermögen des
Lebendigen zurückzuführen mit Ausnahme desjenigen der organischen
Werkzeuge, für welches wir die Erklärung noch suchen, falls wir
nicht die Dar win’sche annehmen.
Es entsteht nun nach Pauly durch die Existenz der Dar-
win’schen Theorie die Problemstellung, dass es in der Welt zweierlei
Zweckmäßiges gibt, beides von dem gleichen Charakter der Ver-
nünftigkeit, nämlich lebende Körper mit Organen und außerdem
physiologische Leistungen, Handlungen und Gedanken, von denen
das erstere seinen vernünftigen Charakter dem Zufall verdankt,
das andere einem ureigenen Vermögen psychologischer Natur der
organischen Materie, welches Vernunft enthält, oder es gibt nur
einerlei Zweekmäßiges, nur ein Vermögen und die Darwin’sche
Theorie ist falsch.
Durch solche Fragestellung gelangt Pauly zu dem Ergebnis,
dass es nur eine Art der Zweckmäßigkeit gibt und dass nur eine
Art der Tätigkeit, Zweckmäßiges zu erzeugen, besteht, welche der
psychischen Sphäre immanent ist.
Die Erzeugung der zweckmäßigen Erscheinungen soll folgender-
maßen stattfinden. Sie besteht in der aktiven Synthese oder Asso-
ziation zweier Erfahrungen, d.h. der vom Bedürfnis und der vom
Mittel, mit welchem das Bedürfnis befriedigt wird.
Der Ursprung dieser Erscheinung liegt in einem Gefühlszustande
des Organismus, welchen wir Bedürfnis nennen, weil er mit einem
Wunsche verknüpft ist.
Das Bedürfnis wird entweder durch äußere oder innere Reize
hervorgerufen; es zeigt einen Spannungszustand, welcher bis zu
einer Höhe gelangen muss, um Folgen hervorzurufen.
Die Spannung wie der Effekt, mit welchem Arbeit geleistet
wird, zeigt, dass dieser psychische Zustand nicht ohne physische
Energie vor sich gehen kann. Ohne Aufwand der physischen
Energie kann dieser Zustand auch dann nicht stattfinden, wenn das
innere Stadium der Gedanken nicht überschritten wird, denn auch
die Assoziation zweier Vorstellungen, welche sich nicht auf dem-
selben Orte befinden, erfordert Energie für die Leitung und Antwort.
Wie man auch diese Erscheinung in die kontinuierte oder un-
kontinuierte Phasen zerlegt, so zeigt sie nach Pauly immer, dass
der erste Zustand des Bedürfnisgefühls die wahre Ursache der
folgenden sei und die wahre Ursache wegen des Aufwandes der
Secerov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 6053
Energie und er ist außerdem durch die Erzeugung des Zweckmäßigen
gekennzeichnet
Der kontinuierliche Regulator aller Br heinungen im Organis-
mus ıst das Gefühl; das ıst ein Zustand des Sarah, welcher durch
alle Phasen der Handlung erhalten bleibt und die Handlungen
untereinander verbindet als Ursache, welche als causa efficiens
finalıs und zugleich als causa finaliter efficiens wirkt.
Die Assoziation einer Empfindung des Bedürfnisses mit den
Mitteln, die das Bedürfnis befriedigen werden, wird durch ein Ur-
teil gebildet. Durch die Urteilsfähigkeit kommt ein Organısmus
zu der Erkenntnis, ob die Mittel das Bedürfnis befriedigen werden
oder nicht.
Infolgedessen beruht die Erzeugung der Zweckmäßigkeit auf
einem psychischen Prinzip, dem Akt des Urteils, dem Prinzip des
Urteilens.
Diese Art der Erzeugung der Zweckmäßigkeit zeigt sich auch
bei der Entstehung der Organe; wir sehen, wie ein Gewebe, welches
ursprünglich gleichartig, homogen war, im Laufe der Entwickelung
hell glasartig oder pigmentiert bis zur tiefsten Schwärze, dann
elastisch wird oder auch andere Formen annımmt. Diese Hetero-
genität der Organe, welche Mittel für die Ganzheit sind, kann nicht
durch Mechanismus erklärt werden, sondern erfordert nach Pauly
eine animistische, subjektivistische, psychisch-egoistische Erklärung
auf Grund des Urteilsprinzips.
Die Zweckmäßigkeit und ihre Erzeugung ist nach Pauly empı-
rischer Natur und wenn die Zellen über etwas keine Erfahrung
haben und auch keine Gelegenheit für die Erwerbung derselben
gehabt hatten, kann — bei Vorkommen irgendwelcher Umstände —
auch eine amd mäßıge Reaktionsweise stattfinden. Daher kommt
die Dysteleologie.
Die Harmonie im Organısmus wie auch die einheitliche funk-
tionelle Wirkung der Teile eines Organs und die Einheitlichkeit
aller Organe im Körper, also die Einheit des Organısmus, lassen
sich durch die Wirkung des Bedürfnisses erklären, denn die Har-
monie wird bei einzelnen Organen durch die Einheitlichkeit der
Funktion hervorgerufen und die harmonische Einheit ist durch die
Einheitlichkeit aller Funktionen hervorgerufen.
Die Lehre von Pauly stellt uns eine Fortsetzung und Weiter-
bildung der Lamarck’schen Anschauungen.
Nach Lamarck besteht „die wahre Ordnung der Dinge* ım
folgenden:
erstens, jede ein wenig beträchtliche und anhaltende Verände-
rung in den Verhältnissen ruft eine wirkliche Veränderung der Be-
dürfnisse der Organismen hervor;
604 Secderov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
zweitens, jede Veränderung in den Bedürfnissen der Tiere macht
andere Tätigkeiten; um diesen neuen Bedürfnissen zu genügen, und
folglich andere Gewohnheiten nötig;
drittens erfordert jedes neue Bedürfnis, indem es neue Tätig-
keiten zu seiner Befriedigung nötig macht, von dem Tiere, das es
empfindet, entweder den größeren Gebrauch eines Organs, von dem
es vorher geringeren Gebrauch gemacht hatte; durch den Gebrauch
entwickelt sich dasselbe und wird beträchtlich vergrößert. Oder
neue Tätigkeiten erfordern den Gebrauch neuer Organe, welche die
Bedürfnisse im Organısmus unmerklich durch Anstrengung seines
inneren Gefühls entstehen lassen.
Pauly’s Zusatz besteht in dem Urteilsprinzip, in der Asso-
ziation und Synthese der Erfahrung.
Bevor wir nun über den Wert der teleologischen Auffassung
ein Urteil aussagen, seien folgende Tatsachen festgestellt: 1. die
teleologische Auffassung hat ihren Ursprung ın der menschlichen
Handlung; die Teleologie entsteht aus der Anwendung der aus der
psychischen Handlung entnommenen finalen Verhältnisse auf bio-
logische Probleme, wie Driesch es anerkannt hatte; 2. jede bisher
gelungene teleologische Auffassung ist mit psychischer Vermittlung
verbunden, wie es Wolff anerkannt hat; 3. jede Teleologie muss,
bewusst oder unbewusst, psychische Faktoren annehmen und durch
psychische Eigenschaften der Organe oder des Organısmus wird die
/Zweckmäßigkeit erklärt; jede teleologische Erklärung beruht auf
der Annahme psychischer Qualitäten, z. B. Urteilsfähigkeit, wie es
aus der Autoteleologie am besten ersichtlich ist.
Wenn wir diese Tatsachen begreifen, so sehen wir den logischen
und empirischen Wert der teleologischen Auffassung.
Das teleologische Problem beruht auf Analogie und
auf dem möglichen analogen Prozess der menschlichen
psychischen Handlung mit den organischen Erschei-
nungen; die Teleologen dagegen bemühen sich nicht, dieser Ana-
logie eine festere Grundlage zu geben. Die Teleologen sind der
Meinung, als ob die organischen Erscheinungen und die mensch-
lichen Handlungsprozesse gleich und identisch wären, aber sie
haben diese Identität auch zu beweisen.
Bei dem Beweise der Identität der organischen Zweckmäßig-
keitserscheinungen mit den Handlungen des Menschen entfällt jeder
logische Wert der Teleologie.
Die Identität ıst aber nicht möglich zu beweisen, denn jede
psychische Handlung oder Willensakt hat subjektive Korrelate,
durch die eigentlich der Psychismus definiert ist.
Die subjektiven Korrelate bei den organischen Prozessen kann
man nicht beweisen; man hat bisher keine bestimmten objektiven
Kriterien für Psychismus der Tiere und der Beweis des allge-
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 605
meinen Psychismus der organischen Erscheinungen ist darum
logısch und empirisch unmöglich.
Dadurch fällt auch der empirische Wert der Teleologie; die
Teleologie ist ein unempirischer Standpunkt. Sie ıst manchmal
eine wertvolle pädagogische Ausdrucksweise oder Formel, durch
welche die Wertung eines morphologischen oder physiologischen
Vorgangs hervorgehoben wird, aber der Wert der Teleologie ist
eben nur auf die pädagogische Anschaulichkeit zurückzuführen.
Die Teleologie beweist durch ihre Existenz nur, dass das finale
Verhältnis, d. h. die Möglichkeit, dass eine Folge zur Ursache wird,
in der psychischen Sphäre möglich ist.
Wenn wir diese Tatsache begreifen, so drängt sich die Frage
auf, wie es dazu gekommen ist, dass das kausale Verhältnis in das
finale sich umkehrte? Mit der Frage werden wir uns später be-
schäftigen.
I
Wir haben gesehen, dass die teleologische Auffassung auf der
Analogie begründet ist und dass sie aus der psychischen mensch-
lichen Handlung entnommen ist; wir haben weiter konstatiert, dass
darum ıhr logischer Wert nicht groß ist.
Wir teilen die deskriptiven zweckmäßigen organischen Eigen-
schaften in vier Arten: 1. in die Einheitlichkeit des Organismus,
2. innere Zweckmäßigkeit, welche sich in die strukturelle,
funktionelle und reflektive oder instinktive Zweckmäßigkeit
gliedert, 3. äußere und 4. in die Art erhaltende Zweck-
mäßiıgkeit®).
In die erste Kategorie gehören folgende Erscheinungen:
A. Jedes lebende Wesen hat gesetzmäßige Gruppierung diffe-
renter Teile oder die Organisation; es scheint, als ob alle Teile
der Erhaltung des Lebens dienen würden. Sie wirken alle har-
monisch zusammen und stellen uns die physiologische und mor-
phologische Einheit der Organismen dar. Alle Organe sind aneinander
angepasst; zwischen ıhnen herrscht die zweckmäßige morphologische
und physiologische Korrelation, durch welche das harmonische
Wachstum bewirkt wird; jeder Teil nımmt aus dem Blute nur die-
jenige Materie, welche ihm notwendig ist. Z. B. die Nieren nehmen
nur diejenigen Nitratverbindungen, welche von anderen Organen
ausgeschieden sind und sie befördern sie nach außen.
B. Noch klarer sieht man die Einheitlichkeit der Organismen
aus den morphologischen Eigenschaften.
Wenn ein Teil einem Organısmus abgeschnitten wird, so bildet
sich ein neuer, dem alten ähnlicher Teil auf der Stelle des abge-
schnittenen. Die Protozoen regenerieren die Hälfte ihres Körpers,
4) Vgl. Plate, L., Selektionsprinzip und Probleme der Artbildung. 3. Aufl.,
Leipzig 1908.
606 Secderov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
oder sogar aus einem Teil wächst ein ganzer Organısmus aus, wenn
der Kern in dem betreffenden Teile vorhanden ist. Die Cölenteraten,
z. B. die Hydroiden regenerieren ihr Köpfchen oder ihren Stamm;
sie sind weiter imstande, auch ihre Polarität umzukehren und sie
regenerieren aus entgegengesetztem Pole das Köpfchen und die
Tentakeläste. Die Regenwürmer können ihren Kopf oder ihren
Schwanz erneuern; wenn man den Kopf vorne und den Schwanz
rückwärts abschneidet, so bilden sich aus allen diesen drei Teilen
je ein kleinerer Regenwurm. Die Planarien können in neun Quer-
stücke geteilt werden und alle diese Teile regenerieren ganze Orga-
nısmen (Loeb, Morgan).
Bei den Wirbeltieren ıst die Regenerationsfähigkeit noch bei
den Salamandern groß; sie können ihre Beine und den Schwanz
regenerieren. Die Salamander sind sogar ımstande, aus dem Bein-
stücke, welchem auch die Finger abgeschnitten sınd, nach Trans-
plantation in die Haut (z. B. zwischen den Extremitäten) das ganze
Bein zu regenerieren (Kurz).
Dann hat das Tier fünf Beine, denn neben den drei normalen
Beinen hat das vierte abgeschnittene Bein regeneriert und das
fünfte ist aus dem transplantierten Beinstücke ausgewachsen. Diese
Tatsache zeigt uns, dass der Organismus nicht nur als solcher,
sondern dass auch die Organe ihre Ganzheit haben, welche sie
durch die Selbstdifferenzierung erreichen.
©. In der Ontogenese finden wir die morphologische Einheit-
lichkeit noch klarer ausgedrückt. Nehmen wır z. B. das Seeigelei.
Wenn das Seeigelei befruchtet wird, beginnt es sich in zwei, vier,
acht, sechzehn ete. Teile oder Blastomeren zu teilen. Das See-
igeleı kann man künstlich ın einzelne Blastomeren, so in zwei, vier,
acht oder sechzehn etc., teilen. Diese Teilung kann entweder durch
mechanische (Schüttelung) oder durch chemische Agentien bewirkt
werden.
Wenn die Blastomeren getrennt sind, so könnte man erwarten,
dass die einzelnen Blastomeren, also die Hälfte, das Viertel, Achtel
oder das Sechzehntel des ursprünglichen Eies, die Hälfte, das
Viertel, Achtel oder das Sechzehntel des Organismus und nicht den
ganzen Organismus geben würden. Doch das geschieht nicht. Die
einzelnen Blastomeren entwickeln ganze Organismen, ganze Larven,
ganze Plutei, nur proportional verkleinert und keine organische
Teilstücke. Der Teilung und Trennung in einzelnen Blastomeren
sind Grenzen gesetzt und wenn diese Grenzen überschritten werden,
wird auch die morphologische Einheitlichkeit geschädigt.
Betrachten wir jetzt die innere Zweckmäßigkeit des Orga-
nischen.
A. Jedes Organ hat einen zweckmäßigen Bau, durch welchen
es für eine gewisse Leistung befähigt wird, z. B. in dem langen
N ED
Nr A . 7 2 “n° 1° 3 E . . . Vater]
Secerov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 607
Knochen sind die Knochenlamellen in der Richtung des stärksten
Zuges und Druckes angeordnet. Die innere Fläche der Hufe ist
lamellös gebaut, um eine stärkere Verbindung mit der Haut zu er-
möglichen. Die Chalazen des Vogeleies ermöglichen den Embryonen
das Verbleiben in schwebender Stellung. Die Spiralen in den
Tracheen sind so geordnet, dass sie eine größere Elastizität ermög-
lichen. Manche Spermatozoen haben einen komplizierten Bau, um
das Eindringen in das Ei zu erleichtern. Das sind die Fälle der
strukturellen Zweckmäßigkeit.
B. Die funktionale Zweckmäßigkeit umfasst die bekannte Fähig-
keit vieler aktiver Organe, besonders der Drüsen und der Muskeln,
durch welche sie durch den Gebrauch und Übung stärker und durch
den Nichtgebrauch schwächer werden. Roux hat für diese Er-
scheinung zwei Gesetze formuliert, welche folgendermaßen lauten:
1. Die stärkere Funktion vermehrt das Organ nur in jenen
Dimensionen, in welchen die stärkere Funktion ausgeübt wird;
2. die stärkere Funktion verändert die qualitative Zusammensetzung
des Organs und vermehrt seine spezifische Tätigkeit. Bekanntes
Beispiel ist das Wachstum der Muskeln in zwei Dimensionen durch
den Gebrauch, also sie werden dieker. Wenn man eine Niere
herausschneidet, so wird die andere stärker und voluminöser durch
die Leistung der Funktion der beiden Nieren. Die Haut wird
unter dem Einflusse des Druckes stärker. Hierher gehören auch
die geschiedenen Formen der Extremitäten, z. B. die Laufbeine des
Pferdes mit dem dritten verlängerten Finger, Grabfüße des Maul-
wurfes, Sprungfüße des Känguruh. Weiter gehören hierher die
muskulösen Magen des Krokodils und der Vögel ete.
Ö. Die reflexive und instinktive Zweckmäßigkeit um-
fasst alle jene Reflexe und Instinkte, Bewegungsmechanismen, Tro-
pismen, welche unter dem Einflusse verschiedener Reize der Außen-
welt (Licht, Temperatur, Gravitation ete.) oder bisher unbekannter
innerer Faktoren entstehen und hervorgerufen werden und sie
schützen die Organismen durch ihren Mechanismus vor den äußeren,
schädlichen Einflüssen oder sie geben Zeichen, dass etwas im Inneren
des Organısmus gestört ist.
So orientiert uns die Empfindung des Hungers oder des Durstes
über die Bedürfnisse der Nahrungsverhältnisse; die Empfindung des
Schmerzes orientiert uns über die schädlichen Einflüsse und unan-
genehmen Existenzbedingungen. Die Pupille kontrahiert sich bei
starker Beleuchtung. Das Schwitzen dient zur Erniedrigung der Tempe-
ratur. Durch Husten und Niesen werden fremde Körperchen beseitigt.
Die Haut des Pferdes wird bewegt zum Schutze vor den un-
erträglichen Insekten. Wenn man einer Eidechse den Schwanz er-
greift, so autotomiert sie ıhn, d. h. er wird in der Gefahr abgetrennt
und die Flucht ermöglicht.
608 Secerov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
3. Die äußere ZweckmäBßigkeit besteht im folgenden: Jeder
Organısmus steht in einem gewissen Verhältnis gegen die Umwelt
durch seine zweckmäßige Organisation, welche an die äußere Um-
gebung angepasst ıst oder durch ein einzelnes zweckmäßiges Organ,
welches die Erhaltung gegen die äußere Umgebung durch die
zweckmäßige Form und Funktion fördert. Weiter hat jeder Orga-
niısmus bis zu einem gewissen Grade die Fähigkeit, an die neuen
äußeren Verhältnisse sich anzupassen, um dadurch sich die Be-
dingungen für die weitere Existenz zu schaffen.
Jeder Organısmus ist in seinem Ernähren, Entwickelung und
Fortpflanzung an dıe äußeren Existenzbedingungen angewiesen und
wenn sich diese plötzlich und ın sehr großem Grade ändern und
der Organısmus ist nicht imstande, sich anzupassen, so muss er
entweder sterben oder verkümmern.
Dass die äußeren Verhältnisse einen großen Einfluss auf die
Organismen haben, zeigen die Unterschiede zwischen den Tieren,
welche auf dem Lande, im Wasser, in Meerestiefe oder ın der Luft
leben. Die Mammalien, die Wale, werden in ihrer Organisation
den Fischen ähnlich. Die Vögel, die Pinguinen verlieren die Flug-
fähigkeit und ıhre Flügel werden verkümmert, weil sie sich an das
Festland gewöhnt haben.
Bei den Parasiten sieht man den unmittelbaren Einfluss der
Umwelt am besten; unter dem Einflusse einförmiger Verhältnisse
verlieren sie ihre komplizierte Organisation und umwandeln sich
in einfache Säcke, welche nur für das Aussaugen der Nahrung vom
Wirte fähig sind.
Die äußere Zweckmäßigkeit äußert sich ın dem gesamten Bau
und Form der ganzen Form. Die sich freibewegenden Organısmen
sind gewöhnlich bilateral symmetrisch, die festsitzenden aber radial
gebaut. Die spirale Umdrehung bei den Schnecken dient zur Er-
leichterung des Tragens von inneren Organen.
Die äußere Zweckmäßigkeit ist besonders in den Fällen der
Schutzfärbungen, der protektiven und aggressiven Farben, welche
die Grundlagen des Darwinismus bilden, hervorgehoben. Die Vogel-
eier haben gewöhnlich Schutzfärbung und sie sind vielmals .der Um-
welt sehr ähnlich; die weiße Farbe findet man nur bei denjenigen
Arten, welche ıhre Eier in die Erde oder ın den Sand begraben.
Die protektiven und aggressiven Farben findet man hauptsächlich
beı den Tieren der arktischen Zonen und der Wüsten. Von den
arktischen Tieren sind zu erwähnen: Eisbär, Polarfuchs, Lemming,
Schneehahn ete. Einige Tiere sind in zweifacher Weise angepasst;
im Winter sind sie weiß, ım Sommer grau. Von den Wüstentieren
haben protektive und aggressive Farben: Löwe, Antilope, Schlangen,
Eidechsen, Geckonen und Insekten. Tryxalis ist in dem sandigen
Teile der Iybischen Wüste hellgefärbt, im steinigen dunkelgefärbt.
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 609
Die pelagischen Tiere sind hell, glasartig und durchsichtig; so
z. B. Ctenophoren, Heteropoden, Salpen, Alciopiden und manche
Krebse.
Grüne Farben haben jene Insekten, welche ım Gras oder auf
den Ästen leben; so z. B. bei den Grylliden, Wanzen, Raupen,
Spinnen und Mücken. Die Raupen passen ihre Farben bei einigen
Familien in ihrer ersten Jugend der Umgebung an. Die Bartgrundel
wird auf hellem Untergrunde hell gefärbt, auf schwarzem dunkel,
auf orangefarbenem orange gefärbt, wie ich aus eigenem Versuche
erfahren habe.
Die Anpassung eines Tieres an die Umgebung oder an eine
andere Form kann bis zu einem solchen Grade vorkommen, dass
es uns scheint, als ob der betreffende Organısmus der anderen
Form oder der Umgebung nachahmen würde; so ıst z. B. Kallima
paralecta sehr ähnlich dem Blatte. Das gleiche gilt von Pierochroa
aus Süd-Brasilien oder Phyllium, genannt das wandernde Blatt.
Während die Insekten den Blättern nachahmen, gibt es eine
Pflanze aus Süd-Afrika, Mesembryantemum bolussi, welche den Steinen
nachahmt und ıhre Farbe ist der jeweiligen Umgebung ähnlich. Den
Ästchen schauen Selenia tetrahunaria und Baeillus rossi aus ete.
Es seien noch einige Mimikry-Beispiele erwähnt. So ahmen
die Danaiden der Familie Papilioniden nach. Die Danaiden
haben giftige Körpersäfte und zeigen sogen. Schreck- oder Warn-
farben, d.h. lebhafte Farben, welche die Aufmerksamkeit der Vögel
auf sich lenken und zugleich von sich abschrecken sollen. Farbe,
Form und Zeichnung, sogar die Flugweise sollen nachgeahmt
werden. Die Mimikry-Fälle sind nicht nur bei den Schmetterlingen,
sondern auch bei den anderen Tierformen vorhanden. So wird
Mygnimia aviculus vom Coloborhombus fasciatapennis und Vespa
crabro von Sesia crabroniformis nachgeahmt.
4. Die arterhaltende Zweckmäßigkeit zeigt sich darin,
dass es sehr viele Vorrichtungen, Organe gibt, welche dem Träger
derselben von keinem Nutzen sind, aber sie fördern die Arterhal-
tung. Sie zeigen sich besonders in den Organen oder Funktionen
(Instinkten), welche in Verbindung mit der Sexualität und dem (ie-
schlechte stehen. Bierher gehören alle Bildungen, welche im Dienste
der je größeren Produktion der Keimzellen stehen (Größe und aus-
giebige Ernährung der Geschlechtsdrüsen); Kopulationsapparate;
Farben, Düfte, für die Anlockung des anderen Geschlechts; die
Blütenfarben, Nektarien zur Anlockung der Insekten, Hectokotylien
von Saepien, verbreitete Tarsen mancher Insekten, Hirschgeweih,
Stoßzahn vom Narwal, kammartige Rückbildungen der Tritonen,
große Augen von Drohnen und Mücken, welche so groß sind, dass
sie sich manchmal (Bibio, Dilophus) berühren und zur Erleichterung
des Auffindens vom anderen Geschlechte dienen. Weiter gehören
610 Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
hierher die Hochzeitsfärbungen mancher Vögel, Amphibien und
Reptilien. Kurz gesagt, die primären und sekundären Geschlechts-
charaktere.
I
Wir haben gesehen, dass die Organismen nach der gewöhn-
lichen Auffassung sehr viele zweckmäßige Erscheinungen haben;
es scheint als ob eine Gruppe dieser Erscheinungen den Zweck
haben würde, die Einheit der Organismen zu erhalten; die andere
zeigt die innere Harmonie in der Struktur, Funktion und Instinkten
und Reflexen, welche wieder scheinbar dazu dienen, um den Orga-
nismen die Erhaltung zu erleichtern; die dritte Gruppe der Er-
scheinungen bildet die Summe jener Vorgänge, welche durch ihre
Zweckmäßigkeit den Schutz der Organismen gegen die Umgebung
und die Anpassung ermöglichen; die vierte Gruppe dagegen ist zum
Erhalten der Art bestimmt. Es war nicht möglich, alle Erschei-
nungen in jeder Gruppe anzuführen, weil man dazu die ganze Bio-
logie mit den Hilfswissenschaften wiederholen sollte; es wurden
nur markantere und für die ganze Gruppe typischere Fälle ange-
geben.
Verlassen wir diesen statischen, teleologischen Standpunkt. Wir
wollen die Erscheinungen nicht bewerten und uns nur der Analogie
vertrauen, sondern betrachten wir den Gang und die Dynamik der
Lebenserscheinungen. Wenn wir in die Dynamik der Lebenserschei-
nungen eindringen wollen, werden wir bei dem Begriff Regulation
uns begegnen, welcher, obwohl er nicht so alt ist, dennoch den
Eindruck macht, dass er durch seine Bedeutung und allgemeine
Anwendbarkeit alle biologischen Erscheinungen umfassen wird.
Schon Spencer hat über die Adjustierung der inneren Be-
dingungen im Organısmus an die äußere gesprochen.
Unabhängig von ihm hat Roux ım Jahre 1881 den Begriff
Selbstregulation in der Ausübung aller Funktionen sowohl der Be-
triebs- als auch der Gestaltungsfunktionen als allgemeine charakte-
ristische Eigenschaft der lebenden Wesen aufgestellt und zugleich
gezeigt, dass diese Annahme notwendig sei. Roux betont es in
seiner Arbeit, dass die Selbstregulationen der lebenden Wesen als
Regulationen eines physikalisch-chemischen Systems nicht als ein
Ausdruck irgendeines unbekannten Faktors aufzufassen sind. Driesch,
der sich mit den Regulationen viel beschäftigt hat, definiert diesen
Begriff folgendermaßen:
Regulation ıst ein am lebenden Organismus geschehender Vor-
gang oder die Änderung eines solchen Vorganges, durch welchen
oder durch welche eine irgendwie gesetzte Störung seines vorher
bestandenen „normalen“ Zustandes ganz oder teilweise, direkt oder
indirekt, kompensiert und so der „normale“ Zustand oder wenigstens
eine Annäherung an ihn wieder herbeigeführt wird.
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 611
Die Schwäche dieser Definition besteht ın dem Begriffe des
Normalen und ın der dadurch bedingten Beschränkung der An-
wendbarkeit vom Begriffe Regulation. Unter Regulationen werden
wir daher alle jene morphologische, physiologische und
biologische Prozesse oder Erscheinungen verstehen,
welche bei den inneren oder äußeren Änderungen be-
wirken, dass der Organismus sıch als biologisches System
erhält, entweder dadurch, dass er seine Norm, also die
morphologische Einheit, oder dadurch, dass er die Norm
irgendwie ändert, aber er hört nicht auf als biologisches
System zu bestehen’).
Nach dieser Auffassung werden wir die Regulationen in vier
Arten teilen:
1. In die formative, 2. endogene, 3. exogene und 4. ın
die biologische Regulation.
1. Unter der formativen Regulation verstehen wir alle Er-
scheinungen, welche nach der Störung der organischen Form die
Wiederherstellung der gestaltlichen Norm bewirken.
In diese Art gehören fast alle Regenerationserscheinungen und
embryogenetische Experimente mit Eiern, Blastulen, Gastrulen und
mit entwickelten Embryonen, weiter einige Transplantationsversuche
und einige Vorgänge bei der Metamorphose.
Wir wissen über die Regeneration, dass sie allgemeine Eigen-
schaft der Organısmen, unabhängig von der Verlustwahrscheinlich-
keit oder Bedeutung des Organs ist. Die Regeneration ist eine
allgemeine und ursprüngliche Eigenschaft der Organısmen und fällt
mit der phylogenetischen Höhe so, dass die näheren Verwandten
ähnliche Regenerationsfähigkeit haben, die spezialisierten Gruppen
dagegen regenerieren weniger. Die Regeneration fällt je älter das
Tier ist.
Die Regeneration kann als eine Folge der Störung‘ des physı-
kalischen und chemischen dynamischen Gleichgewichtes betrachtet
werden und dann erscheinen als eine automatische Wıiederherstellung
der verlorenen Quantität und Qualität; sie zeigt sich dadurch als
eine Art der Regulation (Przibram). Die Regulation und die
Regeneration gehen nicht immer in gleicher Richtung, denn durch
die Regeneration können auch Monströsitäten, Doppel-, Dreifach-
und Mehrfachbildungen entstehen.
Wenn wir z. B. bei der Linea parallel der Base und senk-
recht darauf in den Fühler einschneiden, so wachsen zwei neue
Fühler und wir bekommen eine Dreifachbildung. Die Versuche
von Tornier mit den Kröten sind in dieser Richtung bekannt;
5) Diese Auffassung und die Einteilung der Regulation ist zuerst in Glasnik
Hrv. Prirodosl. Drustva, XXV, 1913, vorgebracht.
612 Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
bei denselben konnte Tornier durch geeignete Schnittführung in
die Extremitäten Vierfach- und Sechsfachbildungen bekommen.
Die Regulationsfähigkeit in der Embryogenese ist keineswegs
unbegrenzt. Die Teilung und die Trennung hat ihre Grenzen, wenn
man nicht Defektbildungen erzielen will. Eben wegen dieser Be-
schränktheit der morphologischen Regulationsfähigkeit haben wir
keinen trıftigen Grund, vitale Faktoren anzunehmen. Wenn die
Regulationsfähigkeit unbegrenzt wäre und wenn es keine Defekt-
bildungen gäbe, würden wir berechtigt sein zu behaupten, dass ein
vitaler Faktor in den Lebenserscheinungen vorkomme, welcher die
Einheitlichkeit der organischen Form reguliert und zugleich befähigt
ist, die Defekte auszugleichen. Die Tatsachen zeigen aber, dass
der Organismus nur unter den gewissen Verhältnissen in der Lage
ist, seine Form wiederherzustellen, das andere Mal geht die Regu-
lation in eine andere Richtung. Es besteht also Equilibrierung
und keine eindeutige Bestimmtheit des Verlaufes der Erscheinungen.
Die Formregulation bildet nicht nur neue Teile, wenn die alten
durch irgendeine Ursache verschwunden sind, sondern sie umfasst
auch jene Erscheinungen, bei welchen einige Teile zerstört werden.
Sie kann also auch negativ verlaufen. Dieser Fall geschieht bei
der Absorption der Larventeile. Das im Wachstum begriffene Tier
kann von sich selbst einige Teile absorbieren, so z. B. die Kaul-
quappe den Schwanz oder die Kiemen u. s. w. Diese Erscheinung
könnte man physiologisch auch so auffassen, dass die durch die
Lungen absorbierte Menge des Sauerstoffes durch die Veränderungen
in die Kiemenregion und durch die unvollkommene, anfängliche
Atmung verringert wird und das Blut, welches bis zum Schwanze
kommt, nicht in der Lage ist, die nötige Menge des Sauerstoffes
zu liefern und dass infolgedessen die Gewebe degenerieren und
durch die Phagozytose aufgefressen werden.
Hierher gehören auch Erscheinungen der Morpholaxis. Wenn
man zwei Tiere bei den Regenerationsversuchen vereinigt, so wachsen
sie gewöhnlich nicht zusammen, aber es geschieht dennoch, beson-
ders bei Hydra und Planarien, dass sich die vereinigten und ange-
nähten Teile zweier Tiere nicht trennen, sondern durch eine Um-
formung des Materials einen neuen Organismus bilden.
Wenn man z. B. auf die vordere Hälfte einer Hydra die hintere
Hälfte der anderen transplantiert, so wächst aus diesen zwei Teilen
ein Exemplar von normalen Proportionen ohne weitere Verände-
rungen. Das Resultat ändert sich aber, wenn die zusammen-
gewachsenen Teile kürzer oder länger sind als in der normalen
Hydra. Wenn der vordere und hintere Teil von der Hälfte kleiner
sind, so entsteht eine neue kurze Hydra, aber später werden die
Dimensionen vergrößert und es wächst eine Hydra von normalen
Proportionen und typischer Form aus.
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 613
Wenn die aufgepflanzten Teile von der Hälfte der normalen
Hydra länger sind, so entsteht eine lange Hydra, welche sich aber
nicht verkleinert, wie sich umgekehrt die kurze Hydra vergrößert
hat, sondern sie trennt sich in zwei Stücke. In diesem Falle sehen
wir, dass die Vorgänge der Formregulation von der Größe des
Materials und nicht von dem inneren unbekannten Faktor abhängig
sind. Zwei ähnliche Versuche geben entgegengesetzte Resultate;
das eine Mal entsteht kurze Hydra von a manmmelien Größe der
typischen Hydra und das andere Mal lange Hydra und dann zwei
neue Hydren, von denen die eine aus dem Vorderteil, die andere
aus dem Hinterteile auswächst. Der Vorderteil bildet einen neuen
Fuß, der Hinterteil aber ein neues Köpfchen mit dem Tentakel-
kranze.
Aus allen diesen Beispielen sehen wir, dass die formative Re-
gulation allgemein vorkommt; sie kommt während der embryonalen
Entwickelung der Organismen, sie besteht bei den erwachsenen Indi-
viduen, wie das die Regenerationsversuche am besten beweisen.
Die formative Regulation erscheint weiter auch unter den ganz
abnormalen Versuchsbedingungen (Transplantation), sie dokumentiert
sich dadurch als eine allgemeine ursprüngliche Eigenschaft nicht
nur der normalen, im Wachstum begriffenen und erwachsenen,
sondern auch der unter den experimentellen Bedingungen vor-
handenen, fast kranken Organismen.
2. Endogene Regulation umfasst alle jene regulativen Er-
scheinungen, welche auf die inneren, aufeinander wirkenden Wechsel-
erhelmnse der Teile des Organısmus oder der Teile auf die Ganz-
heit zum Gegenstand haben.
In diese Gruppe gehören alle regulativen Vorgänge, welche mit
dem Energie- oder Stoffwechsel oder mit irgendeinem physikalisch-
chemischen Verhältnisse in Zusammenhang stehen. Die Regulation
der Menge des Zuckers mit Hilfe der Bene: gehört eren der
Überschuss von Zucker wird in der Form des Glykogens resorbiert,
im Falle des Mangels von Zucker wird Glykogen in Zucker ver-
wandelt.
Der Organismus überhaupt zeigt im Zustande des Hungers die
Regulation dadurch, dass er die durch die frühere Assimilation
erworbenen Stoffe verzehrt und der Mangel der Nahrung ersetzt
wird.
Die Reservestoffe werden vor dem Hunger nicht verzehrt und
während des Hungers geht die Verzehrung in einer gewissen Ord-
nung. Zuerst wird der ganze Stoffwechsel verlangsamt; die Ver-
zehrung der Reservestoffe beginnt mit Fettgewebe; weniger werden
die Muskeln und die inneren Organe und am wenigsten das Gehirn
und Blut verbraucht. Bei den Pflanzen dagegen nehmen die jüngeren
den älteren Organen die Nahrung weg.
XXXIL 40
614 Nederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen.
Ähnlich ist die Regulation vom Sauerstoffe. Wenn der Sauer-
stoff ungenügend wird, tritt die sogen. intramolekulare Atmung ein;
diese Atmung besteht im Zerfall noch unzersetzten, fast unbekannten
Verbindungen, womit der Mangel des Sauerstoffes ersetzt wird.
Die Immunität während der Krankheit gehört in die endogene
Regulation. Wıe schon bekannt ıst, erträgt der Organısmus nach
den periodischen Injektionen der organischen Giftstoffe auch solche
Giftmengen, durch welche sonst der Tod hervorgerufen wird. Die
Immunität wird entweder dadurch erreicht, dass die Leucocyten
die schädlichen Objekte aktıv beseitigen und dadurch den normalen
Gang der Lebensvorgänge und die Erhaltung des Organismus als
biologisches System ermöglichen oder die Regulation besteht ın der
Hervorrufung der Bildung der Antitoxine seitens der Toxine, wo-
durch die Wirkung der Toxine paralysiert wird. Die Bildung der
Antitoxine wird durch Injektion des Blutserums irgendeines aktıv-
immunen Organismus ermöglicht. Der Organismus kann nicht immer
die Antitoxine im Verhältnis zu der Menge der Toxine bilden, aber
die Bildung derselben wird durch die Injektion kleinerer Mengen
erleichtert.
Die Bildung der Antitoxine zeigt wie die Versuche mit Blasto-
meren, Grenzen der organıschen Regulation; in dem ersten Falle
der formativen, in dem zweiten der endogenen.
Energetische Regulationen sind: die Menge CO, ım Blut wird
durch den Druck des Blutes reguliert und dadurch die Intensität
der Atmungsbewegungen, durch die Temperatur der Umwelt die
Zirkulation des Blutes ın der Haut und dadurch die Körperwärme.
Die Transpiration der Pflanzen wird durch die Nässe der Luft
reguliert. Zum Schutze von der Plasmolyse ın sehr konzentrierten
Lösungen bilden einige Pflanzen mehr osmotisch wirkende Sub-
stanzen und dadurch regulieren sie den Turgor, bei den Bakterien
dagegen setzt sich die Durchdringlichkeit der Oberfläche nach der
Änderung des Mediums in Gleichgewicht mit dem Medium.
In die endogene Regulation gehören auch alle Korrelations-
erscheinungen der Teile ım ÖOrganısmus. Durch die Korrelation
werden die Teile im Organismus in eine Einheit vereinigt. Die
Korrelation beruht auf den physiologischen und chemischen Ver-
hältnissen und auf dem Nervensystem. Das Nervensystem ver-
emigt alle Teile des Organısmus mit dem Zentralorgan und bewirkt
die Einheitlichkeit der Bewegungen. Durch das Nervensystem werden
auch die formativen Erscheinungen reguliert; so z. B. wenn man
das Augenganglion mit dem Auge bei dem Krebse exstirpiert oder
vernichtt, so regeneriert eine Antenne auf der Stelle des Auges
(Heteromorphose).
Es ist schon lange bekannt, dass ein enges Verhältnis zwischen
den Geschlechtsdrüsen und sekundären Sexualcharakteren bei einigen
x
Seterov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 615
Wirbeltieren existiert. Die Geschlechtsdrüsen körnen künstlich oder
durch Krankheit oder durch anormale Entwickelung beseitigt werden.
Wenn ein Hirsch kastriert wird, so entwickelt er kein Geweih oder
wenigstens nicht ein solches, wie es bei dem normalen Männchen vor-
handen ist. Der Hahn entwickelt nach der Kastration keine Schmuck-
federn, der Kamm bleibt unvollständig und er kann nicht so singen
wie gewöhnlich. Die Eunuchen haben keinen Schnurrbart und ihre
Stimme ist hoch wie bei den Weibern. Alle diese Eigentümlich-
keiten zeigen, dass die Kastrierung die Entwickelung der sekundären
Sexualcharaktere hindert, und die Kastraten bleiben auf einer
niedrigeren Entwickelungsstufe stehen und darum sind sie ähnlicher
den Weibchen. Die Korrelation reguliert also die Entwickelung
der Organe. Die Exstirpation der Ovarien hindert die Entwicke-
lung der Milchdrüsen bei den Kaninchen, Meerschweinchen und
Hunden.
Dieser Einfluss der Sexualorgane wirkt durch die innere Se-
kretion. Wenn man die innere Ausscheidung gewisser Stoffe künst-
lich unmöglich macht, so hindert man dadurch die Entwickelung
entiernter Körperteile. So ruft die Beseitigung der Schilddrüse
den Idiotismus und Formveränderung des Körpers hervor.
In der Natur findet man einstweilen ähnliche Versuche, so z.B.
wenn der parasitische Copepode, Sacculina fraissei, die Krebsart
Stenorhynchus angreift, wodurch die Genitalorgane vollständig ver-
nıchtet werden, so zeigt das Männchen weibliche Charaktere, —
kleinere Scheren und breiteren Schwanz. Die Weibchen dagegen
umgekehrt kleinere abdominale Füße, welche für die Männchen
charakteristisch sind.
3. Die exogene Regulation tritt dann auf, wenn irgendein
Faktor ın der äußeren Welt so verändert wird, dass dadurch die
Änderung der Verhältnisse in dem Organismus und zugleich die
Regulation hervorgerufen werden kann. In die exogene Regulation
gehören mehr oder weniger alle Bewegungserscheinungen (Tro-
pismen). Es seien hier dıe Gedanken von Jennings angeführt.
Nach Jennings stellt der Organısmus einen Komplex von zahl-
reichen Vorgängen dar, von chemischer Veränderung von Wachs-
tum und von Bewegung, die alle mit einer gewissen Energie vor
sich gehen. Diese Vorgänge sind in ihrem ungehinderten Ab-
laufe von Beziehungen zueinander und von den Beziehungen zu
der Umgebung, welche diese Prozesse selbst bedingen, abhängig.
Wenn irgendwelche von diesen Funktionen aufgehoben oder ge-
stört werden, infolge einer Veränderung der Beziehung zu-
einander oder zu der Umgebung, so fließt die Energie in an-
dere Richtungen hinüber und bringt verschiedene Veränderungen
hervor, in der Bewegung und auch in chemischen und Wachstums-
vorgängen.
40*
6516 Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen,
Diese Veränderungen verändern die Beziehungen der Prozesse
zueinander und zu der Umgebung und beseitigen die Beeinträch-
tigung, welche die Ursache der Veränderung war. Darauf hört die
Veränderung auf, weıl kein Grund zu den weiteren Veränderungen
vorhanden ist, und der erreichte Zustand wird beibehalten.
Die exogene Regulation bezieht sıch nicht nur auf die
physiologischen, sondern auch auf die morphologischen Verände-
rungen. Diese Veränderungen können mit den äußeren Faktoren
gleichgerichtet sein, d.h. die Veränderungen gleichen die Organismen
mit den äußeren Faktoren aus oder sie sind nicht gleichgerichtet
und die Regulation, wie sie auftritt, führt zu keiner Ähnlichkeit
mit den äußeren Faktoren.
Die erste Art der Regulation nennen wir homeodrome exo-
gene Regulation, die zweite heterodrome exogene Regu-
lation.
Tower hat gefunden, dass neue Mutationen resp. Mutanten
in ziemlicher Zahl unter den extremen äußeren Verhältnissen er-
scheinen.
Die Koloradokäfer Zeptinotarsa müssen der Wirkung der extremen
Bedingungen dann ausgesetzt werden, wenn eine Schicht der Eier
die Reifungsperiode überstanden hat; ın dem Falle kann man die
Eier so beeinflussen, dass von diesen Mutanten entstehen. 4 Männ-
chen und 4 Weibchen von Leptinotarsa decemlineata sınd unter der
extremen Wärme (durchschnittlich über 35°C.) und großer Trocken-
heit und zugleich unter dem niedrigen atmosphärischen Drucke
während des Wachstums und Reifung der drei Schichten von Eier
8
gehalten worden; nach der Eierlegung sind die Tiere in die nor-
malen Verhältnisse zurückversetzt. Von 506 Larven sind 96 Käfer
erzogen worden; von diesen waren 82 Leptinotarsa pallida, 2 Lep-
tinotarsa immaculothorax und 14 unveränderter Art.
Die Versuche von Tower zeigen uns einen Fall von hetero-
dromer exogener Regulation morphologischer Natur; hohe Tempe-
ratur hat nicht auf die Erhöhung der physiologischen Temperatur
gewirkt, sondern Veränderungen in den Gonaden hervorgerufen,
welche so groß waren, dass sie Artunterschiede hervorgebracht
hatten.
Alle adaptiven Reaktionen gehören in die exogene Regulation,
Wenn die Bartgrundel, Nemackilus, auf hellem Untergrunde
hell, auf dem dunklen dunkel, und auf dem orangefarbenen orange
gefärbt wird, so sind das Fälle von homeodromer exogener Regu-
lation mehr oder weniger physiologischer Natur. Aber nicht nur
das Licht, sondern auch die Temperatur bewirkt eine Regulation
der Farben; Anolis, eine Eidechsenart, wird in der Wärme grün,
in der niedrigen Temperatur dunkel gefärbt. Das ist ein Fall hetero-
dromer Regulation physiologischer Natur.
ne a >
Sederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 617
Farbenveränderungen können auch morphologischer Natur sein,
wie es die Versuche von Standfuß, Fischer, Merrifield und
G. v. Linden zeigen; sie gehören in die morphologische hetero-
drome Regulation.
Die Menge der heterodromen Regulationen ıst größer als die
der homeodromen; dıe Mehrzahl der äußeren Faktoren ruft hetero-
drome Regulationen hervor, was verständlich ıst, denn die Orga-
nismen sind zu kompliziert für die Hervorrufung einfacher und
gleichgerichteter Veränderungen seitens der äußeren Faktoren. Die
Ausgleichung ist bedeutend schwieriger wegen der Verwickeltheit
der organischen Erscheinungen. Der Organısmus von äußerster
Kompliziertheit wird durch äußere Fa*toren als System gestört
und die Störung bezieht sich auf mehrere Faktoren, welche keines-
wegs ähnlich und von gleicher Natur sind, wie die Ursache der
Veränderung. Darum ist auch die Regulation nicht gleicher Natur,
homeodrom, wıe der Faktor, die Ursache der Veränderung.
In die biologische Regulation rechnen wir jene Equili-
brierung im Leben einer organischen Art, welche infolge der
Hyperproduktion der Geschlechtsprodukte entsteht und durch die
Beschränktheit des Raumes und der Lebensbedingungen den Kampf
ums Dasein hervorruft. Der Kampf ums Dasein bewirkt die Ver-
nichtung weniger angepasster Individuen und dadurch beeinflusst
er den Gang der Artbildung. Kurz gesagt, die Selektionstheorie
wird unter dem Begriffe „biologische Regulation“ umfasst.
Die Selektion reguliert die Existenz der Organismen und beein-
flusst das Überleben der mehr angepassten Individuen durch die
Vernichtung der weniger angepassten. Sie wirkt auch auf die Ent-
stehung sogen. passiver Adaptationen, obwohl alle passiven Adap-
tatıonen nicht durch Selektion entstehen. Die Selektion wırkt mög-
licherweise weiter auch auf dıe Entstehung der sekundären sexuellen
Charaktere.
I
Wir haben die vier Arten, die formative, endogene, exo-
gene und biologische Regulation betrachtet.
Für erste drei Arten haben wir einige Beispiele aus der Experi-
mental-Biologie genommen; diese experimentellen Fälle haben
größeren Wert als die rein beschreibenden, weil sie durch die Ge-
nauigkeit und Exaktheit der Beobachtung gestatten, die Erschei-
nung der Regulation zu isolieren. Der Mangel der exakten Beob-
achtung schadet am meisten der Selektionstheorie und wegen dieser
Mangelhaftigkeit ıst sie auch von den exakten Forschern wenig
anerkannt.
Wenn wir die vier Arten der Regulation mit den zweckmäßigen
Eigenschaften vergleichen, so bemerken wir, dass die formative
Regulation die Einheitlichkeit der Organismen und älle mit der
615 Nederov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen,
morphologischen Einheit zusammenhängenden zweckmäßigen Eigen-
schaften umfasst; die endogene Regulation umfasst jene Erschei-
nungen, welche sich auf die innere Zweckmäßigkeit, auf die funk-
tionelle, strukturelle und reflexive beziehen und zugleich einen Teil
der ersten Klasse von zweckmäßigen Eigenschaften, besonders die
physiologische Einheitlichkeit der Organismen; die exogene um-
fasst die äußere Zweckmäßigkeit des Lebens, und die letzte Art,
die biologische Regulation, die arterhaltende Zweckmäßigkeit.
Was für Verbindungen hat die Zweckmäßigkeit und die Regu-
lation ?
Die Zweckmäßigkeit wie der ganze teleologische Standpunkt
stellt uns die Statik ın der Auffassung des Lebens; sie konstatiert
vorhandene Tatsachen, wertet dieselben, aber sie erklärt uns nicht
die Entstehung der Eigenschaften. Es ıst unmöglich, auf Grund
dieses statischen Standpunktes die Entstehung der Zweckmäßig-
keit und der zweckmäßigen Eigenschaften, also die Dynamik der
organischen Erscheinungen verstehen ohne vitalistische und anthro-
pomorphe Faktoren, deren Wirkung die Entstehung der Zweck-
mäßigkeit darstellt, vorauszusetzen. Die Beweise und Beispiele
sind dafür Driesch mit der Entelechie, Reinke mit den Domi-
nanten, Schneider mit der vitalen Energie und Bechterew mit
seiner Energie und noch eine Liste der Forscher mit allen mög-
lichen und unmöglichen Faktoren.
Bei allen diesen Autoren wird ein Faktor, welcher subjektive
Empfindungen hat, urteilt, wertet, menschenähnlich fühlt, in die
Erklärung der zweckmäßigen Lebenserscheinungen eingeschleppt.
Diese Auffassung hat weiter den Grund in der Tatsache, dass
der teleologische Standpunkt aus der menschlichen psychischen
Handlung entstanden ist und die Zweckmäßigkeit kann, wie es
vom psychlogischen und logischen Standpunkte verständlich ist, nur
auf Grund dieses Standpunktes verstanden werden.
Nun fragt es sich: ist dieser Standpunkt berechtigt? Wir
haben schon aus der früheren Darstellung die empirischen und
logischen Fehler des empirischen teleologischen Standpunktes ge-
sehen; nun fragt es sich, ist es berechtigt, die Dynamik mit einem
statischen Standpunkte zu erklären, oder anders gesagt, kann die
Wertung der Erscheinung zugleich ihre Erklärung der Entstehung sein?
Wenn man die Frage so aufstellt, so wird die Antwort ne-
gatıv sein.
Die Dynamik kann durch kinetische oder dynamische Auf-
fassung erklärt werden; diese Auffassung findet ıhre Lösung ın
dem Begriffe der Regulation und der organischen Regulations-
fähigkeit.
Wir werden darum sagen, dass alle zweckmäßigen Eigenschaften
des Lebens durch die Regulationsfähigkeit der Organismen ent-
Secerov, Die Zweckmäßigkeit des Lebens und die Regulation der Organismen. 619
stehen. Die Regulation ist bei allen Organismen in größerem oder
geringerem Maße vorhanden. Sie ist größer auf der phylogenetisch
niedrigen Stufe. Weil die Regulationsfähigkeit bei den phylogene-
tisch niedrigen Organismen groß war, war auch die Entstehung
und Entwickelung der verschiedenen Formen ermöglicht und da-
durch die Entwickelung der höheren Formen aus den niederen.
Es ist möglich und wahrscheinlich, dass die Regulationsfähig-
keit bei den ersten Organismen noch größer war als bei den jetzt
lebenden niedrigsten Formen; auf diese Auffassung weist auch die
durch Versuche bestätigte Tatsache hin, dass die phylogenetisch
niedrigen Formen größere Regulation als phylogenetisch höhere
haben.
Wir glauben, dass es durch solche Auffassung des Begriffes
Regulation möglich wird, auch die Steigung von den niederen zu
den höheren Formen zu erklären. Die Steigung bewirkt Mannig-
faltigkeit der Struktur und Funktion, aber dadurch verliert das
Leben an Regulationsfähigkeit.
Die Regulation wird bei den höheren Formen komplizierter;
die endogene und exogene wird mit der biologischen ver-
wickelt. Jede einzelne zerfällt weiter in mehrere Unterarten, weil
die Struktur und Funktion komplizierter geworden ist.
V.
Wir haben gesehen, dass die Zweckmäßigkeit ihren Ursprung
in der menschlichen Handlung hat, weil erfahrungsgemäß die Um-
kehrung des Kausalitätsverhältnisses nur in der menschlichen Psyche
existiert. In der psychischen Sphäre kann die Folge zugleich Ur-
sache sein, also B (Folge) geht der A (Ursache) voraus. Dieses
Finalitätsverhältnis zu leugnen, ist ohne Sinn, weil es durch Beispiel
aus dem täglichen Leben bewiesen werden kann.
Für uns ist folgende Frage von größerem Interesse, wie hat
die Entstehung der Finalität stattgefunden oder ist das Verhältnis
ein Ursprüngliches?
Nach unserer Meinung ist die Finalität die Umkehrung des
Kausalitätsverhältnisses, und die Umkehrung war durch die hohe
Entwickelung der Assoziationszentren, große Mannigfaltigkeit der
Assoziationsbahnen und durch die Lebhaftigkeit und Schnelligkeit
der Reaktionen im Zentralnervensystem ermöglicht und bedingt.
Alle diese Momente erklären wir uns aus dem Verhältnis
A--B, das umgekehrte Verhältnis B—-A entsteht, und das geschieht
nur bei den Organismen mit den obigen psycho-physiologischen
Eigentümlichkeiten, wie sie wahrscheinlich nur bei den Menschen
vorhanden sind.
Die Umkehrung der Reaktionsweise findet man in der Chemie
und in der Biologie, sogar bei den Entwickelungsvorgängen und
620 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
darum ıst die Umkehrung des Kausalıtätsverhältnisses in ein finales
keineswegs eine vereinzelte Erscheinung.
Durch die Umkehrung des Kausalitätsverhältnisses in ein finales,
und durch die Übertragung des letzteren auf die biologischen Phäno-
mene auf Grund der Analogie entsteht das Problem der Zweck-
mäßıgkeit des Lebens.
Die Zweckmäßigkeit des Lebens findet ihre Lösung einerseits,
wenn wir den psychologischen Ursprung begreifen, anderseits, wenn
wir den Begriff der Regulation als allgemeine organische Eigen-
schaft auf die sogen. zweckmäßigen Eigenschaften des Lebens an-
wenden.
Experimentelle Untersuchungen über die
Beziehungen zwischen Kopulation und Eiablage
beim Schwammspinner.
Von Dr. Berthold Klatt.
(Aus dem Zoologischen Institut der Kgl. Landwirtschaftl. Hochschule zu Berlin.)
Als ich im vergangenen Sommer 1912 begann, Schwammspinner
zum Zweck von Vererbungsstudien zu züchten, machte ich einige
Beobachtungen, die den Schluss nahelegten, dass bei diesem Spinner
„wischen Kopulation und Eiablage bestimmte kausale Beziehungen
beständen. Um die Behauptung, dass Schwammspinnereier sich
auch ohne Befruchtung entwickeln, zu prüfen, hatte ich einige
Weibchen ohne Männchen belassen; während nun ın allen jenen
Fällen, wo eine Befruchtung erfolgt war, kurz darauf, selbst bei
eben erst geschlüpften Weibchen, eine normale große Eiablage
anzutreffen war, sah ich, wie hier die Weibchen 5, 6 Tage warteten,
ehe sie sich gleichsam zögernd an die Eiablage machten, die ein
von einer normalen ganz verschiedenes Bild darbot: Es waren stets
nur wenige, unregelmäßig abgesetzte, mit relativ viel Wolle be-
deckte Eier. Als rudimentäre Eiablagen will ich sie im folgenden
bezeichnen. Offenbar wird also durch den normalen Kopulationsakt
ein Reiz oder ein Komplex von Reizen auf das Weibchen ausgeübt,
der bei ıhm die normale Eiablage auslöst, und es war von Interesse,
eine experimentelle Analyse dieser Reize zu versuchen.
Als solche Reize konnten sowohl mechanische wie chemische
in Betracht kommen. Was erstere anlangt, so war vor allem an
taktile Reize, hervorgerufen durch die Einführung des Penis, zu
denken. Was die chemischen Reize anlangt, so konnte es sich
sowohl um eine Einwirkung des Nebendrüsensekretes handeln wie
um eine chemische Reizung von seiten der Spermatozoen selbst.
Es konnten schließlich auch mit der Füllung des Receptaculum
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc. 621
seminis etwa verbundene Dehnungsreize in — wiederum mecha-
nischer Weise — die normale Eiablage auslösen.
Wenigstens die ersten zwei Möglichkeiten schienen einer experi-
mentellen Analyse zugänglich, wenn es nämlich gelang, einerseits
solche Männchen, die nur noch die äußeren Genitalien (Penis und
Genitalklappen), aber keine Nebendrüsen und Hoden mehr besaßen,
andererseits Männchen, denen nur die Hoden genommen, die Neben-
drüsen aber belassen waren, zur Kopulation zu bringen. Diese zwei
Versuchsreihen, sowie erneute Beobachtungen an normalen Tieren,
wollte ich im folgenden Jahre durchführen und beschaffte mir daher
im Frühjahr 1913 größere Mengen von Schwammspinnern. Leider
waren die Raupen in diesem Jahre ganz außerordentlich stark mit
Tachinen und Darmkrankheiten infiziert, so dass der allergrößte
Teil nach und nach einging. Um das noch übrig bleibende Material
möglichst zu schonen und zugleich um die Versuche event. auch
noch auf andere verwandte Arten auszudehnen, unternahm ich zu-
nächst entsprechende Vorversuche am Weidenspinner, der ja etwas
früher fliegt und somit ein geeignetes Material abgab, sich in die
Technik besonders der Nebendrüsenexstirpation einzuarbeiten. Diese
Versuche ergaben jedoch keine eindeutigen Resultate; weswegen ist
schwer zu sagen. Vielleicht, dass diese Art die künstliche Haltung
nicht so gut übersteht wie der sozusagen unverwüstliche Schwamm-
spinner, und dass durch die Abänderung der äußeren Lebens-
bedingungen die gesamte Physiologie des Tieres verändert wird,
dass derartig feinste physiologische Mechanismen gestört werden.
Vielleicht auch, dass die betreffenden Vorgänge, trotzdem beide
Arten derselben Familie angehören, sich bei beiden doch etwas
verschieden abspielen. Sind doch auch in dem männlichen Genital-
apparat nicht unerhebliche morphologische Unterschiede festzustellen.
Nach meinen Beobachtungen dürfte sich der Weidenspinner auch
schon deshalb wenig für vorliegende Experimente eignen, weil der viel
stumpfsinnigere Falter, soweit ich beobachten konnte, bei gleicher
Lebensdauer eine längere Kopulationszeit besitzt als der Schwamm-
spinner. (In einem Fall dauerte die Kopulation 30 Stunden.) Außer-
dem ist der Weidenspinner viel schwerer zur Kopulation zu bringen,
die anscheinend ebenso wie die Eiablage nur bei Nacht vollzogen
wird. Alles Eigentümlichkeiten, welche einer klaren Deutung der
Versuchsergebnisse Schwierigkeiten in den Weg legen. Denn schon
in den ersten Tagen muss ja der Versuch beendet sein, wenn man
nicht Gefahr laufen wıll, dass eine event. schon jetzt fällige rudi-
mentäre Eiablage, wie sie für alleın belassene Weibchen charakte-
rıstisch ıst, eintritt und die Resultate trübt. Ich will daher über
diese amı Weidenspinner angestellten Versuche gar nicht erst weiter
berichten und erwähne sie nur, um event. Nachuntersucher auf
diese Schwierigkeiten aufmerksam zu machen. Nur die entsprechen-
622 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
den Versuche mit Schwammspinnern, der ein in fast jeder Be-
zıehung günstigeres Objekt darstellt, sollen im folgenden dargelegt
werden. Der Einwand, der gegen diese erhoben werden kann, ist
anderer Art: Die Zahl der Versuche ist eine verhältnismäßig ge-
ringe. Wenn ich trotz dieses von mir selbst am schwersten eınp-
fundenen Mangels sie jetzt schon veröffentliche, so geschieht das
deswegen, weil es mir zweifelhaft erscheint, dass ich im nächsten
Sommer genügend Zeit finden werde, diese Versuche in dem
wünschenswerten größeren Maßstabe mit zugleich erweiterter Frage-
stellung durchzuführen, und weil außerdem gewisse Haupttatsachen
mir auch jetzt schon als gesichert erscheinen.
Einige kurze Vorbemerkungen noch, was das Material und die
Versuchsbedingungen anlangt. Die für diese Versuche verwendeten
Schwammspinner waren zum Teil als mittelalte Raupen ım Freien
gesammelt, zum andern Teil stammten sie aus Eiern, dıe von einer
bereits im Vorjahre vom Eı an ın Gefangenschaft gezogenen Gene-
ration abgesetzt waren. Irgendwelche Unterschiede in dem uns
hier interessierenden Verhalten von Kopulation und Eiablage habe
ich zwischen diesen beiden Sorten nicht wahrnehmen können. —
Die Behälter, ın denen die Falter zur Kopulation resp. zur Beoh-
achtung eingesetzt wurden, waren etwa 15 cm hohe, 10 cm breite
Einmachgläser, die mit Gaze zugebunden waren und auf die Seite
umgelegt wurden, so dass die Luft ım Innern sich leicht erneuern
konnte. Die Tiere setzten sich dann mit Vorliebe an der Gaze fest.
Kontrolliert wurden die Versuche meist nur beı Tage, das erste
Mal um 8 Uhr morgens, zuletzt um 8 Uhr abends. Während des
Tages selbst waren sie fast ständig unter Beobachtung, da die
Gläser in meinem Arbeitszimmer ıhren Platz hatten. Kontrolle
während der Nacht fand nur in einigen besonderen Fällen statt
und ist im Protokoll dann speziell vermerkt, während die vielfachen
Tageskontrollen nur eingeschrieben wurden, wenn sie von besonderer
Wichtigkeit erschienen.
Nach diesen Vorbemerkungen gebe ich zunächst eine genauere
Besprechung vom Verhalten normaler Tiere Die weitaus
meisten Falter schlüpften während der Nacht und wurden dann
bei der Mörgenkontrolle schon mit völlig entfalteten Flügeln an-
getroffen. Eine genaue Angabe über das Alter der Tiere ist in
diesem Falle somit nicht möglich. Indessen konnten sie natürlich
nie älter als 12 Stunden sein. Die Weibchen wurden meist an
einer vertikalen Wand des Gefäßes stıllsitzend angetroffen. Die
Vorderränder der dachartig getragenen Flügel lagen der Unterlage
an, die letzten Segmente, die bekanntlich eine bewegliche zapfen-
artig vorspringende Legeröhre darstellen, waren etwas vorgeschoben.
Schon im Laufe dieses ersten Tages wird die Legeröhre etwas weiter
ee
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc. 623
vorgestreckt und man kann vielfach jetzt schon beobachten, dass
sie ein wenig hin und her bewegt wird. Am nächsten Tage reckt
sie sich noch etwas weiter heraus und zugleich sind die Flügel
etwas von der Unterlage abgehoben. Gestört — etwa durch eine
leichte Beschattung durch die Hand — legt das Tier sie sofort an,
zieht wohl auch die Legeröhre etwas ein, um aber bald wieder die
alte Haltung einzunehmen. An den folgenden Tagen steigert sich
diese offenkundige Kopulationsbegier des Weibchens mehr und mehr.
In einem der extremsten Fälle sah ich die Flügel hoch erhoben,
ähnlich wie bei einem Tagfalter, der sie gerade entfalten will, das
Abdomen gleichfalls nach hinten weit von der Unterlage abge-
spreizt, die Legeröhre fast !/, cm weit vorgereckt ın starker hın-
und hertastender Bewegung. Durch leichten Reiz wurde nur ganz
flüchtig ein geringes Senken der Flügel erzielt. Natürlich variiert
die Intensität der Kopulationsbegier bei den einzelnen Tieren, und
auch die allmähliche Steigerung bis zu den höchsten Graden ist
hinsichtlich der Schnelligkeit ihrer Entwickelung individuellen
Schwankungen ausgesetzt. In der freien Natur dürfte es wohl über-
haupt selten zu so hochgradiger Steigerung kommen, da stets
Männchen in genügender Zahl vorhanden sein dürften, so dass die
Weibchen meist schon am ersten oder zweiten Tage begattet
werden. Und nach der Begattung habe ich nie wieder ein Ein-
nehmen dieser Haltung beobachten können.
Was die Kopulation selbst anlangt, so wird sie von den Männ-
chen schon am ersten Tage ihres Lebens vollzogen. Doch auch
hier kann man, wie mir scheint, ein ähnliches, allmähliches An-
wachsen der Kopulationsbegier beobachten wie bei den Weibchen.
Ehen geschlüpfte Männchen sitzen, wenn man sie mit einem Weib-
chen ın das kleine Beobachtungsglas zusammenbringt, manchmal
mehrere Stunden lang ruhig dicht neben dem Weibchen, ohne zu
kopulieren; Männchen dagegen, die einen oder mehrere Tage isohert
gehalten wurden, vollziehen oft fast momentan die Kopula. Der
Ort, wo sich das Weibchen aufhält, wird ihnen offenbar durch den
(Geruchssinn angegeben. Man kann diese für Schmetterhnge ja im
allgemeinen schon lange bekannte Tatsache hier vielfach schön ın
folgender Weise illustrieren: Wenn das Weibchen in dem umge-
legten Glase wie gewöhnlich an der Gaze seinen Platz hat und das
Männchen einige Zentimeter dahinter auf dem Boden des Glases sitzt,
braucht man nur leise an dem Abdomen des Weibchens vorbei ın der
Richtung des Männchens zu hauchen, um vielfach — nicht immer —
die Antennen des Männchens einige rasche zitternde Bewegungen
ausführen zu sehen, die durch den Hauch selbst jedoch unmöglich
hervorgerufen sein können. Dann kriecht es in der Richtung des
Hauchs heran und flattert auf das Weibchen zu, um dann nach
dem üblichen kürzeren oder längeren Umflattern die Kopulation zu
624 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
vollziehen. Es wird dabeı die Hinterleibsspitze stets nach der dem
Weibchen jeweils zugekehrten Seite abgebogen. Kommt es mit
der rechten Seite heran, so biegt sie sich nach rechts, kommt es
von Iinks, so nach links. Eine Prüfung der Frage, welche Reize
wohl die bestimmte Richtung dieser Hinterleibsbewegung auslösen,
habe ıch nicht voll durchgeführt. Dass die Sınnesreize, welche die
jeweils dem Weibchen genäherte Körperseite treffen, es sind, welche
die Reizung der gleichseitigen motorischen Zentren im Hinterleib
und damıt dessen gleichsinnige Bewegung veranlassen, liegt auf
der Hand. Ob es taktische Empfindungen, etwa durch die Flügel
vermittelt, sind, die ja das Weibchen bei diesem Umflattern ständig
berühren, oder ob es ın der Antenne der gleichen Seite lokalisierte
Geruchsempfindungen sind, könnte man vielleicht durch Experi-
mente entscheiden. Versuche mit normalen Männchen, denen die
Flügel beim Auskommen verkrüppelt waren, gaben mir indessen
keine eindeutige Auskunft, und die einseitige Amputation der An-
tennen, die ja gleichfalls zur Analyse dieser Frage verwendet werden
müsste, nahm ich nicht vor, um mein knappes Material nicht der
Möglichkeit einer noch größeren Beschränkung auszusetzen. Es ist
das ja auch eine Frage für sich, die mit dem Hauptproblem nur
ın loser Beziehung steht. — Man kann übrigens Kopulationsversuche
der Männchen auch auslösen, wenn das Männchen dicht unterhalb
des Weibcehens an der Gaze ruhig sitzt, und man dann leicht gegen
die Stelle der Gaze klopft, wo der Hinterleib des Weibchens sich
befindet. Meist beginnt das Männchen dann sofort mit dem üb-
lichen Umflattern. So kann man z. B. bei Männchen, die vor kurzem
erst die Kopula vollzogen haben, oft wieder eine Erneuerung der-
selben auslösen; besonders leicht, wie es scheint, wenn ihnen ein
neues Weibchen zur Verfügung gestellt wird.
Im allgemeinen allerdings liegt zwischen zwei normalen Kopu-
lationen eine längere Zwischenzeit. Fälle, wie ein von mir beob-
achteter, wo eın normales Männchen innerhalb von 8 Stunden fünf-
mal mit einem Weibchen kopulierte, sınd selten. Normalerweise
dauert eine Kopulation 2—4 Stunden). Dann folgen einige Stunden
Ruhe. Noch nicht lange geschlüpfte Weibehen benehmen sich bei
dem Anflug der Männchen wie bei jeder anderen Störung (s. oben).
Sie legen die vorher gelüfteten Flügel an, ziehen auch die Lege-
röhre völlıg ein, so dass das Männchen zuweilen lange Zeit braucht,
um seine Hinterleibsspitze unter dem Flügelrand durchzuschieben.
Weibchen dagegen, bei denen die Kopulationsbegier sehr gesteigert
ist, behalten oft die Flügel erhohen, so dass man fast versucht wäre
zu glauben, sie wollten dem Männchen entgegenkommen. Offenbar
1) Vgl. auch J. Meisenheimer, Experimentelle Studien zur Soma- und Ge-
schlechtsdifferenzierung. 1. Beitrag, Jena 1909.
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc. 625
liegt das aber an ihrer herabgeminderten Reaktionsfähigkeit gegen
äußere Reize (s. oben).
Wenn auch die Kopulation vom Männchen leicht bei Tage voll-
zogen wird, so scheint die Kopulationslust bei Nacht resp. Dunkel-
heit doch noch zu wachsen, wie mir entsprechende Kontrollen
zeigten. Stets in der Dunkelheit, normalerweise also bei Nacht,
scheint die Eiablage vollendet zu werden. Nur einmal konnte
ich sie am hellen Tage beobachten, bezeichnenderweise bei einem
Tier, das schon mehrere Tage, ohne kopulieren zu können, dage-
sessen hatte, bevor ich ihm das Männchen beigab. Meist scheinen
die ersten Nachtstunden zur Eiablage benutzt zu werden, wie ich
bei einigen nächtlichen Kontrollen beobachtete. Durch künstliche
Verdunklung des Glases kann eine Verfrühung der Eiablage hervor-
gerufen werden (z. B. schon um 4 Uhr nachmittags in einem völlig
dunkel gehaltenen Falle). Wie die Ablage der Eier erfolgt, darüber
habe ich einmal in jenem oben zitierten Falle einige lückenhafte
Beobachtungen anstellen können, wo das Weibchen bei Tage die
Eier ablegte. Ich sah den Hinterleib in lebhafter Bewegung von
rechts nach links und umgekehrt begriffen, und um besser sehen
zu können, schnitt ich dem Tier die Flügel ab, wodurch es sich
gar nicht stören ließ. Da sah ich denn, dass die Legeröhre bei
diesem lebhaften seitlichen Hin- und Herbewegen des Hinterleibs
aufs eifrigste arbeitete. Wie ein Finger fuhr sie tastend hierhin
und dahin, glättete und presste die abgesetzte Afterwolle gegen die
Unterlage. Die Eiabblage selbst habe ich indessen nicht beobachtet,
da das Tier schließlich doch innehielt.
Was uns nun besonders interessiert, ıst die Frage, wieviel Zeit
zwischen Kopulation und Eiablage liegt. Da habe ich nun mit
einer Ausnahme in sämtlichen Fällen gefunden, dass spä-
testens an dem auf die Kopulation folgenden Morgen die
Eiablage fıx und fertig da ist, gleichgültig, wie alt die kopu-
lierenden Tiere waren. Ob das Weibchen bereits 4 Tage alt war,
oder ob es in der Nacht selbst geschlüpft, also nur erst wenige
Stunden alt war, am Morgen war die normale Eiablage da, sofern
es nur mit einem normalen Männchen kopuliert hatte. Eine solche
normale Eiablage ist gar nicht mit der später zu beschreibenden
. rudimentären zu verwechseln. Es ıst stets ein großer, je nach
der Größe des Weıbchens ein halbes bis mehrere Hundert Eier
enthaltender, rundlicher oder länglicher, schwachgewölbter Klumpen,
der so vollkommen mit der braunen Afterwolle überdeckt ıst, dass
man keines der Eier sieht. Sie sind — bei näherer Untersuchung
erkennt man das — sorgfältig reihenweise angeordnet; die oben
angeführten Beobachtungen über die Arbeit der Legeröhre zeigen,
wie ordentlich dabei verfahren wird. Der Eihaufen ist fest an die
Unterlage angekittet. Die einzelnen Eier und die Wolle ebenfalls
626 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
fest zusammenhaltend. Das Weibchen bleibt nach erfolgter erster
Ablage, wenn es nicht gestört wird, vor dem Haufen sitzen, in der
Stellung, wie es das letzte Ei gelegt hat, und setzt in Zwischen-
räumen noch einige kleinere Nachschübe von Eiern ab — anscheinend
gleichfalls bei Nacht. In Fällen, wo die Männchen eine erneute
Kopula mit einem solchen Weibchen eingingen — ohne dass dieses
übrigens dabei seine Stellung veränderte — sah ich die Neuablage
der Eier auch bei Tage eintreten. Die kopulationsbegierige Haltung
wird indessen, wie schon gesagt, nie wieder eingenommen. Die
zuletzt abgesetzten Eier sind oftmals nicht mehr mit Wolle zuge-
deckt. Anscheinend weil diese schon völlig für die übrigen aufge-
braucht ist. Nach Ablage der letzten Eier stirbt das Weibchen
bald. Nur in sehr wenigen Fällen konnte ich im Leib der Ver-
storbenen noch einige wenige nicht abgelegte Eier antreffen.
Wie verhalten sich nun Weibehen, denen man dauernd
die Männchen vorenthält? Über das Verhalten solcher Weib-
chen in den ersten 4 Lebeustagen habe ich vorhin (S. 622 u. 625)
schon berichtet: ihre hochgradige Kopulationsbegier bekundet sich
durch starkes Abheben der Flügel und des Abdomens und lebhafte
Bewegungen der weit vorgestreckten Legeröhre. Am Morgen des
nächsten (d.) Tages — bisweilen noch später (am 6., 7., ja erst
8. Tag), selten früher (nur zweimal schon am 4. Tag) — sitzt das
Weibchen mit der Unterlage genähertem Abdomen da und hat
etwas Wolle abgesetzt, aber nicht fest wıe ein normales, begattetes
Weibchen es tut, sondern so locker, dass man sie zum großen Teil
fortblasen kann. Meist liegen in jedem Wollhäufchen ein oder
einige wenige Eier, die gleichfalls nur locker angekittet sind. Am
Tage nimmt es dann meist wieder seine kopulationsbegierige Hal-
tung ein. Am nächsten Morgen eine erneute, ebenso rudimentäre
las doch meist etwas er (6—10 Bier). Dann schließlich
erfolgt am nächsten oder übernächsten Morgen eine Hauptablage,
die nun aber ganz anders aussieht als eine normale. Wenn sie
auch annähernd gleiche Ausdehnung wie diese erreichen kann: Die
Eier sind unregelmäßig und meist weniger fest angeheftet, zuweilen
so locker, De sie enehislllen. das Ganze nur wenig oder gar nicht
mit Wolle überdeckt. aan ıst vielleicht len zu erklären,
dass eine Menge Wolle schon für die ersten rudımentären Ablagen
verbraucht ist und der Vorrat daher nicht mehr reicht. In einigen
Fällen, und zwar in relativ mehr als bei normalen begatteten Weib-
chen, habe ich ım Leib der Verstorbenen. noch gut ausgebildete
Eier angetroffen, und zwar ın erheblich größerer Zahl (30—40 Stück).
Was die Zahl der von mir genau kontrollierten Fälle angeht,
so ıst diese, wie gesagt, eine verhältnismäßig geringe (8). Aber alle
acht stimmen miteinander überein.
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc. 627
Von normalen Kopulationen habe ich weit mehr beobachtet,
allein in diesem Jahre 18, die genau kontrolliert und registriert
wurden, jener zahlreichen Fälle ungerechnet, die ich bei meinen
Vererbungsstudien in diesem und im Vorjahre beobachtete, ohne
die genaueren Daten weiter aufzuzeichnen.
Nur in drei Fällen habe ich gewisse Abnormitäten beobachten
können. Sie seien hier nach dem Protokoll wiedergegeben.
ie Ball:
21. VII. morgens 5 Uhr ein soeben geschlüpftes Weibchen mit 3 Tage altem
Männchen zusammengesperrt.
10 Uhr vormittags in Kopula.
2 Uhr mittags nicht mehr in Kopula.
22. VII. morgens 8 Uhr Weibchen ohne Eiablage. Männchen entfernt.
23. VII. morgens 8 Uhr eine starke normale Eiablage.
Das Abnorme an diesem Falle besteht darin, dass die Eiablage
nicht in der auf die Kopula folgenden Nacht, wie sonst stets in solchen
Fällen, sondern erst ın der nächsten Nacht vollzogen wurde.
2, Ball:
21. VII. mittags 3—4 Uhr. Weibchen geschlüpft. Allein belassen bis
23. VII. nachmittags. Sitzt da mit allen Zeichen höchstgradiger Kopulationsbegier.
Ein an den Flügeln verkrüppeltes Männchen dazu gesetzt, das im Laufe
des Abends mehrfach intensive Kopulationsversuche macht, ohne zum
endgültigen Ziel zu gelangen.
10 Uhr abends ein wenig Wolle ohne Ei abgesetzt.
24. VII. zwischen 12 und 6 Uhr morgens ein wenig neue Wolle mit 5 Eiern. —
Ein anderes in gleicher Weise verkrüppeltes Männchen dazu, das auch
Kopulationsversuche macht, die ihm nicht gelingen.
25. VII. morgens S Uhr keine erneute Ablage. Weibchen in kopulationsbegieriger
Haltung. Männchen entfernt. Männchen mit normal entwickelten Flügeln
dazu gesetzt. Sofort Kopulation von mehreren Stunden.
6 Uhr abends eine normale große Eiablage, aber mit verhältnismäßig
wenig Wolle wird begonnen. Das Zimmer war seit Mittag dunkel gehalten.
Das Anormale besteht hier ın der ohne vorangegangen Kopu-
lation bereits am Beginn des dritten Tages erfolgten Eiablage. An-
scheinend handelt es sich um ein Tier, das viel früher als normal,
auch ohne Beisein des Männchens zur rudimentären Eiablage ge-
schritten wäre. Die hochgradige Kopulationsbegier bereits am zweiten
Lebenstage spricht hierfür. Oder sollten etwa auch bloße Kopu-
lationsversuche durch die damit verbundenen Reizungen eine
solche rudimentäre Eiablage auslösen können?
3ekall
24. VII. morgens 8 Uhr. Weibchen in der Nacht vorher geschlüpft.
25. VII. abends 8 Uhr. Weibchen mit allen Zeichen der Kopulationsbegier. Männ-
chen vom 22. VII. dazu gesetzt. Sofort Kopula. Das große, sehr starke
Weibchen kriecht fort und entzieht sich dem Männchen. Sofort erneute
Kopula. Dasselbe Manöver wie vorher. Wieder in Kopula. Weiter nicht
beobachtet, daher zweifelhaft, ob dieselbe von Dauer ist.
625 v. Reichenau 7.
26. VII. morgens S Uhr. Weibchen vor einer festen Eiablage, aber nicht sehr viele
Eier (fraglich. ob als normal anzusprechen).
27. VII. abends 8 Uhr. Weibchen hat an mehreren Stellen größere Eihaufen ab-
gesetzt. Männchen tot.
28. VII. morgens S Uhr in erneuter Eiablage.
Das Abnorme bei diesem Fall besteht darın, dass nicht eine
große, normale Eiablage, sondern eine ganze Anzahl nicht ganz
normal scheinender kleinerer vorgefunden wurde. Vielleicht erklärt
sich dies so, dass das überaus lebhafte Weibchen mehrfach gestört
wurde, daher den Platz wechselte und dann ın der Eiablage fortfuhr.
(Schluss folgt.)
Mainz. Am 1. September hat Professor Dr. von Reichenau,
der langjährige, verdienstvolle Leiter des hiesigen Naturhistorischen
Museums, einen Urlaub angetreten, von dem er nicht wieder in sein
Amt zurückkehren wird.
Das Mainzer Museum verliert in ıhm einen Mann, der ıhm
über ein Menschenalter seine ganze Kraft, sein ganzes, reiches
Wissen gewidmet, der es zu einer erstklassigen Anstalt empor-
gehoben hat. Erwähnt sei hier die Gründung einer paläonto-
logischen Sammlung, der Ausbau und die Neuordnung der Vogel-
und der Insektensammlung, sowie eine den Anforderungen der
Neuzeit entsprechende Aufstellung größerer Säugetiergruppen.
Unter von Reichenau’ zahlreichen Veröffentlichungen sind
neben seiner „Flora von Mainz und Umgebung“ besonders seine
Arbeiten auf paläontologischem Gebiet zu nennen. In Anerkennung
der letzteren wurde ihm durch die Universität Gießen die Doktor-
würde honoris causa verliehen. Eine größere Arbeit über die
fossilen Pferde soll in Kürze erscheinen.
Hoffen wir, dass es der Stadtverwaltung gelingt, unter den
sicherlich zahlreichen Bewerbern als seinen Nachfolger einen Mann
zu finden, der so wie von Reichenau gründliches, vielseitiges
Wissen mit aufrichtiger Liebe zur Natur und einer trefflichen Be-
obachtungsgabe in sich vereinigt.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
jologisches Gentralblatt
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtzebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem der Zoologie
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zu wollen.
Bd. XXXIL
20.November 1913. il.
Inhalt: Klatt, Experimentelle Untersuehungen zwischen Kopulation und Eiablage beim Schwamm-
um ze spinner, — Semon, Die Experimentaluntersuchungen Schübeler’s. — Hentschel, Uber die
Anwendung der funktionalen Betrachtungsweise auf die biologische Systematik. — Szymanski,
Zur Analyse der sozialen Instinkte. — Mräzek, Enzystierung bei einem Süfswasser-
oligochaeten. — v. Natzmer, Zur Psychologie der sozialen Instinkte bei den Ameisen. —
Ruschkamp, Eine dreifach gemischte natürliche Kolonie. (Formica sanguinea-[usca-pra-
tensis.) — Wasmann, Nachschrift. Uber pratensis als Sklaven von sanguinea. — Molisch,
Mikrochemie der Päanze. — Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksiehtigung des
Menschen. — De Vries, Gruppenweise Artbildung.
Experimentelle Untersuchungen über die
Beziehungen zwischen Kopulation und Eiablage
beim Schwammspinner.
Von Dr. Berthold Klatt.
(Aus dem Zoologischen Institut der Kgl. Landwirtschaftl. Hochschule zu Berlin.)
(Schluss.)
Entsprechend dem in der Einleitung angegebenen Versuchsplan
kam es nun darauf an, zu sehen, welchen Einfluss eine durch
Kastraten vorgenommene Kopulation auf die Eiablage aus-
lösen würde. Zu dem Zweck hatte ich eine größere Anzahl Raupen
(43 männliche) in dem fünften Lebensalter kastriert. Die Technik
wich von der von Meisenheimer angegebenen insofern ab, als
ich die Tiere nicht narkotisierte. Das Vorderende der Raupe wurde
zwischen zwei Fingern gehalten, mit der Pinzettenschere ein leichter
querer Schnitt am Rücken des Genitalsegmentes geführt, worauf,
wenn es sich um eine männliche Raupe handelte, die großen Go-
naden meist schon von selbst hervorquollen und mit der Pinzette
entfernt wurden. Von einem Verschluss der Wunde nahm ich Ab-
stand, da nach Erfahrungen, die ich bei früheren Kastrations- und
XXXII. 41
630 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
Transplantationsversuchen gemacht hatte, einmal die Blutung von
selbst steht und zweitens durch Kollodiumverschluss die Tiere leicht
bei der nächsten Häutung stecken bleiben und so zugrunde gehen.
Auch jetzt habe ich wieder kein einziges Tier während der Häutung
eingehen sehen und die starke Sterblichkeit, welche die Tiere dezi-
mierte (12 Puppen und nur 4 normal gebildete Falter), erklärte
sich zum größten Teil durch die schon vorher vorhandenen außer-
ordentlich zahlreichen Infektionen in meinen diesjährigen Beständen.
Dass solcherart kastrierte Männchen ebenso leicht, womöglich
sogar noch eifriger als normale kopulieren, ist ja seit langem be-
kannt. Die Kopulationsdauer ist, wie schon Meisenheimer be-
merkt, die normaler Tiere.
Eskam nun nur daraufan, möglichst junge Weibchen auszuwählen,
da beı älteren eine ohnehin etwa zu erwartende rudimentäre Eı-
ablage das Versuchsergebnis trüben konnte. Sieben derartigen Ein-
wänden nicht ausgesetzte Versuche konnte ich anstellen. In vier
von ihnen waren die Weibchen beim Zeitpunkt der Kopulation noch
nicht 24 Stunden, in drei Fällen noch nicht 2 Tage alt. Von diesen
sieben Versuchen verliefen fünf übereinstimmend so, dass ebenso
wie beiKopulationen durch normale Männchen spätestens
am Morgen nach der Kopulation eine Ablage da war,
aber dieselbe war eine rudımentäre wie bei Weibchen,
welche ohne Männchen belassen waren’).
Es wird also durch die Kopulation des Kastraten ein Reiz aus-
geübt, der die Eiablage hervorruft, aber dieser Reiz ist nicht völlig
adäquat dem, wie ihn normale Männchen ausüben. Auch etwaige
erneute Kopulationen dieser Kastraten konnten keine normale Eiablage
auslösen. Gleichgültig, ob die Weibchen nochmals kopulierten oder
nicht, ihr Verhalten war von nun ab ganz dasselbe wie von Weib-
chen, die nie kopuliert hatten, nur dass eben dieses Verhalten in-
folge Kopulation mit den Kastraten verfrüht einsetzte. Die endgültige
große Eiablage kam aber hier nicht früher, sondern entsprechend
spät, wie bei solchen gänzlich unbegattet belassenen Weibchen.
In einem Falle machte ich dann die Probe und ließ eines dieser
Weibchen noch nachträglich mit einem normalen Männchen kopu-
lieren und erhielt auch prompt die erwartete normale Eiablage,
wodurch erwiesen wird, dass nicht eine Abnormität des Weibchens
2) Es ist von Bedeutung, dass Oudemans in seinem einzigen Versuch, wo
er einen Vollkastraten kopulieren ließ, als Erfolg gleichfalls die Ablage von vier
Eiern beschreibt, wonach das Tier zu legen aufhörte. „Ob es später dies fort-
gesetzt haben würde, ist wahrscheinlich, blieb jedoch unbestimmt, da ich das Exem-
plar tötete.“ (I. Th. Oudemans, Falteraus kastrierten Raupen, wie sie aussehen
und wie sie sich benehmen. Zool. Jahrb. Abt. f. Syst., 1899.) Da Oudemans die
Unterschiede zwischen normaler und rudimentärer Eiablage nicht kannte resp. sie für
bedeutungslos hielt, ist diese von einem somit völlig unvoreingenommenen Beobachter
mitgeteilte Tatsache für mich eine wertvolle Bestätigung.
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc. 631
schuld an dem Verhalten dieser Tiere war, sondern eben die unzu-
reichende Kopulation durch den Kastraten.
Abnormitäten, die dem Weibchen an sich zukamen und nicht
durch die Kopulation hervorgerufen waren, konnte ich in zwei
Fällen konstatieren. Es sind gleichartige Abweichungen, wie sie
oben für einige Fälle, wo normale Männchen kopulierten, beschrieben
sind. Das Nähere sagen die Bemerkungen zum Protokoll, das ich
hier folgen lasse und in dem bei der Wichtigkeit dieser Versuche
alle sieben Fälle mitgeteilt werden.
Porz]
19. VII. morgens S Uhr. Weibchen in der Nacht geschlüpft. Dazu 2 Männchen
(Kastraten) vom gleichen Tage.
9 Uhr vormittags. Beide versuchen zu kopulieren; da sie sich gegenseitig
hindern, wird der eine entfernt.
ll Uhr vormittags. Männchen in Kopula.
2 Uhr mittags. Dieselbe beendet angetroffen.
4 Uhr nachmittags. Ein wenig Afterwolle, aber kein Ei abgesetzt.
20. VII. morgens. Etwas mehr Afterwolle und 4 Eier abgesetztzt.
Nachmittags andauernde Kopulationsversuche; bis 5 Uhr nicht in Kopula.
21. VII. morgens ein Ei abgesetzt.
Mittags in kopulationsbegieriger Stellung.
. VII. morgens nichts Neues.
3. VII. morgens 2 Eier einzeln ohne Wolle abgesetzt (liegen frei im Glase).
. VII. morgens weitere 4 Eier abgesetzt und ein drittes Häufchen von 10 Eiern
mit wenig Wolle.
25. VII. morgens nichts Neues.
26. VII. morgens ein größeres Eihäufchen von ca. 40 Eiern.
27. VII. abends ein weiteres festes größeres Eihäufchen.
28. VII. morgens Weibchen tot. Kein Ei mehr im Leib.
Bemerkungen: Das Männchen scheint am 21. gestorben zu sein.
Im Protokoll ıst es vergessen worden, hierüber etwas mitzuteilen.
Am 27. war erst am Abend das erste Mal kontrolliert worden.
2. Fall.
DDOD
PF ww
27. VII. ein Weibchen geschlüpft.
28. VII. morgens. Ein kastriertes Männchen in der Nacht geschlüpft. Beide zu-
sammengesetzt.
'/,10 Uhr morgens in Kopula angetroffen.
ll Uhr vormittags diese gelöst. Männchen herausgenvmmen.
29. VII. morgens an einer Stelle nur ein wenig Wolle (fest), an einer anderen
ebensoviel Wolle und ein Ei abgesetzt.
30. VII. morgens nichts Neues. Weibchen in wenig kopulationsbegieriger Haltung.
31. VII. morgens dasselbe wie tags zuvor.
1. VIII. morgens ein wenig Wolle abgesetzt, kein Ei.
2. VIII. morgens nichts Neues.
3. VIII. morgens nur etwas Wolle abgesetzt.
4. VIII. morgens Weibchen tot. Der Leib mit Eiern gefüllt.
Bemerkungen: Hier fehlt also sogar die endgültige Eiablage.
Das Weibchen war ein großes, starkes Tier und schien sonst ge-
sund. Sein genaues Alter ıst nicht bekannt, da vom 26. abends
41*
632 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
bis 27. abends nicht kontrolliert war. Zur Zeit der Kopula war es
jedoch höchstens 1'/, Tage alt.
3BalE
27. VII. ein Weibchen geschlüpft.
28. VII. vormittags 11 Uhr das Männchen von Fall 2 dazu gesetzt.
8 Uhr abends in Kopula. Dauer derselben unbekannt.
Zwischen 10 und 2 Uhr nachts ist bereits etwas Wolle abgesetzt.
29. VII. morgens 6 Uhr noch etwas mehr Wolle und 6 Eier.
Mittags neue Kopula.
30. VII. morgens nichts Neues abgesetzt. Am Hinterleib hängen Wollbüschel, die
beim Aufheben des Glases abfallen. Männchen entfernt.
31. VII. morgens 2 Eier und ein wenig Wolle abgesetzt.
1. VIII. morgens große Anzahl von Eiern lose unten im Glase nebst loser Wolle.
Weibchen tot. Kein Ei mehr im Leib.
Bemerkungen: Bezüglich des Alters des Weibchens gilt das-
selbe wie für Fall 2. Dieses hier war höchstens 2 Tage alt zur
Zeit der Kopulation.
4. Fall.
21. VII. nachmittags 4 Uhr. Weibchen eben geschlüpft. Flügel etwas verkrümmt,
sonst groß und kräftig. Dazugesetzt Männchen vom 19. VI.
22. VII. morgens 5 Uhr in Kopula.
Morgens 7 Uhr dieselbe beendet. Bis abends 7 Uhr nichts Neues.
23. VII. morgens. Weibchen hat ein wenig Wolle, aber kein Ei abgesetzt.
Nachmittags 3 Uhr Männchen entfernt.
24, VII. morgens nichts Neues, Normales Männchen vom 22. VII. dazu ge-
setzt. Sofort Kopula von mehreren Stunden.
Abends 8 Uhr eine größere normale Eiablage vollendet. (Das Zimmer
war seit Mittag dunkel gehalten.)
25. VII. morgens nichts Neues.
26. VII. morgens ebenfalls.
27. VII. abends. Weibchen tot aufgefunden. Im Leib noch ca. 20—30 Eier.
Bemerkungen: Dieses war der Fall, wo die Prüfung des Weib-
chens durch nachträgliche Kopulation mit einem normalen Männchen
stattfand. Sein Verhalten nach der Kopula entsprach der Erwar-
tung. Sonderbar ıst nur die verhältnismäßig große Zahl von Eiern,
die noch ım Leib zurückbehalten wurde.
5. Ball.
22. VII. morgens. In der Nacht ein Weibchen geschlüpft.
23. VII. nachmittags 3 Uhr Männchen von Fall 4 zugesetzt.
Nachmittags 5 Uhr in Kopula.
Abends 10 Uhr dieselbe gelöst. Eine Viertelstunde später setzt das Weib-
chen Afterwolle ab (nicht so locker wie sonst, sondern fest), aber ohne Eier.
24. VII. morgens nichts Neues.
25. VII. morgens nichts Neues. Zwei normale Männchen vom 25. VII. morgens
dazu gesetzt, die jedoch sicht kopulieren, und, da sie anderweitig gebraucht
werden, am Abend herausgenommen werden.
26. VII. morgens nichts Neues.
27. VII. abends ebenso.
28. VII. morgens ebenso.
29. VII. morgens ebenso.
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc. 3:
> )
wi
ww
30. VII. morgens ebenso. Das Weibchen macht eigentümlich stark zuckende Be-
wegungen mit dem Hinterleib.
31. VII. morgens tot. Kein Ei im Leib.
Bemerkungen: Dieser Fall ıst interessant deswegen, weil kein
einziges Ei abgesetzt wurde und auch keines im Leib des Tieres
sich vorfand. Es handelte sich zwar um ein recht kleines Tier,
aber andere von gleicher Größe hatten doch immer wenigstens
40-50 Eier produziert. Ob es vielleicht bei mangelnder: Kopulation
bisweilen zu einer Resorption der Eier kommt, wie das für manche
Fische, wenn sie nicht abgelaicht haben, behauptet wird? ... oder
lag hier ein Fall parasitärer Kastration vor?
6. Fall.
30. VII. morgens 8'/, Uhr. Ein Weibchen soeben geschlüpft. Flügel noch nicht
entfaltet. Dazu das Männchen, welches schon in Fall 2 und 3 kopuliert
hat. Durch Klopfen des Weibchens gereizt (s. darüber S. 624), versucht
es sofort die Kopulation.
Vormittags 10 Uhr in Kopula.
12 Uhr vormittags dieselbe beendet.
31. VII. morgens 7 Uhr trotz vorhergegangener Kopulation kein Ei und
keine Wolle abgesetzt.
Bis nachmittags 5 Uhr im Dunkeln gehalten. Um diese Zeit bei der
Kontrolle beide Tiere dicht nebeneinander angetroffen, als ob sie eben
kopuliert hätten. Beide sind darauf außerordentlich lebhaft. Auch das
Weibchen fliegt herum.
6 Uhr nachmittags in Kopula.
8!/, Uhr abends dieselbe beendet, worauf das Weibchen wiederum heftig
herumflattert.
9 Uhr abends etwas Wolle und 2 Eier abgesetzt.
. VIII. morgens nichts Neues.
. VIII. morgens nichts Neues. Männchen lebt nur noch schwach.
. VIII. nicht kontrolliert.
. VIII. morgens etwas Wolle und 2 Eier abgesetzt. Männchen tot.
. VIII. morgens größerer Klumpen (ca. 30—40) von Eiern unregelmäßig und locker
abgesetzt. Weibchen liegt im Sterben. Im Leib kein Ei mehr.
- Bemerkungen: In diesem Fall handelte es sich anscheinend
um ein anormales Weibchen. Sein Verhalten entspricht ganz dem
auf S. 627 beschriebenen abnormen Fall eines Weıibchens, welches
mit einem normalen Männchen kopuliert und auch erst in der über-
nächsten Nacht seine Eier abgesetzt hatte.
7. Ball
19. VII. morgens ein Weibchen in der Nacht geschlüpft.
20. VII. morgens ein Weibchen, das mit allen Zeichen der Kopulationsbegier da-
sitzt, hat ein wenig Afterwolle und ein Ei abgesetzt.
11 Uhr vormittags kastriertes Männchen vom 19. VII. dazu gesetzt.
1 Uhr mittags in Kopula angetroffen.
3 Uhr nachmittags dieselbe beendet.
21. VII. morgens 6 Eier abgesetzt. Mittags in kopulationsbegieriger Stellung.
4 Uhr nachmittags erneute Kopula.
6 Uhr nachmittags dieselbe beendet.
22. VII. morgens kleines Häufchen von 8 Eiern abgesetzt.
om m
034 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
23. VII. morgens 7 weitere Eier dazu gelegt.
24. VII. morgens nichts Neues.
25. VII. morgens ein größeres, etwa 20 Eier haltendes Häufchen, abgelegt.
26. VII. nichts Neues.
27. VII. noch beträchtlich mehr Eier dazu gesetzt.
28. VII. morgens tot. Kein Ei mehr im Leib.
Bemerkungen: Auch hier handelt es sich anscheinend um ein
anormales Weibchen ganz entsprechend Fall 2 (s. S. 627), wo gleich-
falls vorzeitig eine rudimentäre Eiablage sich fand. Wenn das Tier
trotzdem zur Kopulation mit dem Kastraten benutzt wurde, so ge-
schah es deshalb, weil kein anderes Weibchen zur Verfügung stand
und weil ja auch geprüft werden sollte, ob nicht etwa eine normale
Eiablage durch die Kopulation mit dem Kastraten ausgelöst werden
kann, was aber auch in diesem Falle, wie man sieht, nicht geschah.
Fehlten diesen eben beschriebenen Kastraten nur die Hoden
selbst und waren die übrigen Teile des Genitalapparates erhalten,
so kam es in der letzten Versuchsreihe darauf an, Männchen zur
Kopulation zu bringen, denen auch noch die übrigen Teile
des Genitalapparates, besonders die Samenblasen mit
den Nebendrüsen genommen, die äußeren Genitalien
aber geblieben waren. Ich dachte zunächst daran, das
Herold’sche Organ, wie es Meisenheimer schon getan hatte,
ım Raupenstadium zu exstirpieren. Es wäre in diesem Falle jedoch
auch die Penisanlage mit entfernt und eine Kopulation unmöglich
gemacht worden (vgl. die diesbezüglichen Angaben bei Meisen-
heimer). Eine Entfernung der Nebenapparate auf dem Puppen-
stadıum war insofern schwierig, als hier die Hauptentwickelung
des Herold’schen Organs vor sich geht, seine topographische Ana-
tomie also ein von Tag zu Tag wechselndes Bild aufweist und es
somit schwer ist, den zur Operation geeigneten Zeitpunkt und Ort
festzustellen. Es hätte also erst genauester Vorarbeiten an einem
großen Material bedurft, die mir zurzeit unmöglich waren. Blieb
also nur die Exstirpation der Nebenapparate am Falter selbst. Und
diese war leichter als ich gedacht hatte. Auch hier arbeitete ich
wieder ohne Narkose. Der Falter wurde an den über dem Rücken
mit den Öberseiten zusammengelegten Flügeln erfasst, mit der
rechten Seite auf eine Korkplatte gelegt und durch 3 oder 4 dicht
neben dem Körper und schräg über die Flügel in den Kork ge-
steckte Nadeln in dieser Lage fixiert. Dann wurden die Schuppen
vom Hinterleib abgepinselt, darauf in die Haut des sechsten oder
siebenten Abdominalsegmentes seitlich ein kleiner Einschnitt mit
der Pinzettenschere gemacht und mit einer spitzen Pinzette die ge-
rade unter der Wunde liegenden Organe gefasst und hervorgezogen.
Nach einer Reihe vergeblicher Versuche hatte ich bald die nötige
Klatt, Experimentelle Untersuchungen ete. 635
Erfahrung?) und erfasste mit ziemlicher Sicherheit die Samenblasen
und den Ductus ejaculatorius, der herausgezogen und möglichst
weit analwärts durchschnitten wurde. Samenblasen, Vasa deferentia
und Hoden wurden nach Möglichkeit herausgezogen. Meist wurden
auch andere Organe, besonders der Darm, Tracheen und Vasa
Malpighi mit zerstört und fortgenommen, was den Tieren aber an-
scheinend keine wesentlichen Störungen verursachte. Von einem
Verband mit Kollodium wurde hier gleichfalls abgesehen, um die
zur Kopulation nötige Beweglichkeit des Abdomens nicht zu beein-
trächtigen. Die Tiere flatterten, sobald ich die haltenden Nadeln
entfernte, aufs lebhafteste umher und versuchten, zu Weibchen
gesetzt, sofort die Kopulation. Da es auch hier wieder darauf an-
kam, die Tiere mit möglichst frischen Weibchen zusammenzusetzen
(s. oben S. 630), und ich nur noch wenige Weibchen zur Verfügung
hatte, konnte ich nur vier ın dieser Beziehung einwandfreie Ver-
suche anstellen. Wie bei den Meisenheimer’schen Tieren, denen
infolge Exstirpation des Herold’schen Organs der Penis fehlte,
blieb es auch hier in drei Fällen bei andauernden Kopulations-
versuchen. Nur einem der so operierten vier Männchen gelang
es, die Kopulation zu vollziehen. Der Erfolg war derselbe wie bei
den Kastratenversuchen: Es erfolgte eine sofortige, doch
rudimentäre Eiablage. Die Sektion dieses Männchens ergab eine
Durchtrennung des Ductus ejaculatorius in der Höhe des sechsten
Abdominalsegments. Von allen oralwärts gelegenen Teilen des
(renitalapparates, Samenblasen, Nebendrüsen, Vasa deferentia, Hoden
nichts weiter zu finden. Von allen inneren Teilen des Genital-
apparates also nur der fast in ganzer Länge erhaltene, mit dem
Penis in intakter Verbindung stehende Ductus ejaculatorius vor-
handen. Darm in der Höhe des sechsten Abdominalsegmentes
durehschnitten und der mehr oralwärts liegende angrenzende Teil
entfernt. Nervensystem, soweit bei makroskopischer Präparation
zu entscheiden möglich, intakt. Ob diese letztere Tatsache oder
das verhältnismäßig vollständige Erhaltensein des Ductus ejacula-
torius*) oder noch andere Besonderheiten zu erklären, dass speziell
diesem einen Männchen die Kopulation gelang, müssen umfassendere
Versuche zeigen.
Es folgt das Protokoll.
3) Beim Weidenspinner mit seinem dickeren Hinterleib ist diese Operation
noch viel leichter mit gutem Erfolge und ohne andere Teile zu verletzen, auszu-
führen; ein Vorzug dieser Spezies gegenüber den oben erwähnten Nachteilen.
4) Bei den übrigen operierten Männchen war dies nicht in diesem Maße der
Fall und auch bei meinen Weidenspinnerversuchen war es charakteristisch. dass
bei dem einzigen Männchen, welchem die Kopulation gelang, der Ductus ejacula-
torius in beträchtlicher Länge erhalten war, während er bei vier anderen, die nicht
kopuliert hatten, dicht hinter seiner Mündung in den Penis durchtrennt war.
29. VIE
26. VII.
2X NIT:
28, ‘VI.
ZI VL:
SO. VIE.
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
1. Fall.
nachmittags Weibchen geschlüpft.
Abends S Uhr Männchen vom 24. VII. morgens dazu gesetzt, welches
am 25. nachmittags 6 Uhr operiert worden war. Sofort lebhafte Kopulations-
versuche, die jederzeit leicht durch Klopfen hervorzulocken sind. Keine
Kopulation.
10 Uhr abends Männchen herausgenommen.
morgens nichts Neues. Männchen wieder herzugesetzt.
abends Männchen tot. Weibchen ohne Spur einer Eiablage. Operiertes
Männchen von Fall 2 dazu gesetzt.
morgens zweites Männchen auch tot. Weibchen setzt Wolle ohne Ei ab
morgens. Weibchen hat erneute Wolle ohne Eier abgesetzt.
morgens nichts Neues u. s. w. bis zum 4. VIII. morgens, wo das Weibchen
tot ohne Eier im Leib angetroffen wird.
Bemerkungen: Auch hier hatte das ziemlich kleine Weibchen
keine Eier abgesetzt, noch solche nach dem Tode im Leibe (vgl.
Fall 5 der Kastraten).
2.SoV1I:
26. ‚VIM.
27. VAL.
28. VI.
2I SV
SUSSVIT.
3. VI:
AL SVIET,
2. VII.
ED Ya.
26. VL
Aids WW LL
SV DEN
Damall
morgens. Ein Weibchen in der Nacht geschlüpft.
7 Uhr abends Männchen vom 25. VII. morgens, welches soeben operiert:
ist, hereingesetzt, sofort lebhafte Kopulationsversuche, ohne Erfolg.
Zwischen 10 und 12 Uhr nachts gleichfalls lebhafte Kopulationsversuche,
ebenso bei der Kontrolle am
morgens 6 Uhr. Etwas Wolle ist abgesetzt, aber kein Ei.
nichts Neues. Männchen heraus. Ein normales, aber an den Flügeln
verkrüppeltes Männchen herein.
morgens. Das Männchen, das schon am Abend vorher sehr schlaff war,
hängt halbtot an der Gaze. Eine Kopula hat anscheinend nicht statt-
gefunden. Sonst nichts Neues.
morgens nichts Neues.
morgens Männchen tot. Sonst nichts Neues. Anderes in gleicher Weise
verkrüppeltes normales Männchen vom selben Tage herein. Keine Kopula
beobachtet.
morgens etwas Wolle, 2—3 Eier.
morgens etwas Wolle, einige Eier.
morgens große, aber nicht normale Eiablage.
Kan.
morgens. Ein Weibchen in der Nacht geschlüpfe.
8 Uhr abends. Soeben operiertes Männchen vom 23. VII. dazu gesetzt.
Sofort lebhafte Kopulationsversuche.
10 Uhr abends Männchen tot. An seiner Stelle Männchen von Fall 1
herein, das bis 12 Uhr nachts andauernde Kopulationsversuche macht.
Bei der Kontrolle nachts um 3 Uhr wieder mit Kopulationsversuchen be-
schäftigt.
. morgens 6 Uhr gleichfalls. Etwas Wolle, aber kein Ei ist abgesetzt.
Männchen wieder heraus. An seiner Stelle ein normales Männchen vom
25. VII. abends hereingetan.
Mittags in Kopula.
. abends eine sehr große, normale Eiablage.
. morgens. Weibchen lebt immer noch, hat inzwischen noch weitere Eier
dazu gesetzt, die letzteren ohne Wolle.
Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc. 6537
6. VIII. morgens Weibchen im Sterben. Die Wolle bei dem sehr großen Tier
völlig abgescheuert, im Leib kein Ei mehr.
Bemerkungen zu den Fällen 2 und 3: Es ist darauf hinzuweisen,
dass eine ganz minimale Menge von Wolle auch hier am Morgen
nach den Kopulationsversuchen an der Gaze haftend vorgefunden
wurde. Es ıst möglich, dass diese bei den ständigen Kopulations-
versuchen der Männchen, die anscheinend auch in der Nacht an-
dauerten (s. Protokoll), einfach abgeschabt wurde. Es wäre aber
auch daran zu denken, ob nicht vielleicht auch schon die bloßen
ständigen Kopulations versuche und die damit verbundenen mecha-
nischen Reizungen beim Weibchen ein aktives Absetzen der Wolle
ausgelöst haben. Diese Ansicht könnte gestützt werden durch den
auf S. 627 beschriebenen abnormen Fall (s. Bemerkungen zu diesem).
A=Kall:
27. VII. Ein Weibchen geschlüpft.
28. VII. nachmittags ein operiertes Männchen vom 27. VII. dazu gesetzt.
8 Uhr abends sichere Kopula beobachtet.
10 Uhr abends noch in Kopula.
29. VII. 2 Uhr morgens. Etwas Wolle und 2 Eier abgesetzt.
8 Uhr morgens noch ein Häufchen Wolle und ein Ei abgesetzt.
30. VII. morgens etwas Wolle und ein Ei abgesetzt. Männchen, das halb tot ist,
heraus. 2 normale Männchen vom 29. VII. herein.
1/,10 Uhr morgens. Das eine in Kopula, die beim Kontrollieren gelöst
wird.
'/,11 Uhr vormittags erneut in fester Kopula.
®/,1 Uhr mittags dieselbe beendet.
4 Uhr nachmittags. Weibehen bei einer großen normalen Eiablage (das
Zimmer war völlig dunkel gehalten). Beim Kontrollieren aufgeschreckt,
kriecht das Tier umher.
7 Uhr abends wieder im Dunkeln gehalten, hat es den Rest der Eier ab-
gesetzt und liegt tot da ohne ein Ei im Leib.
Bemerkungen: Das Weibchen war zur Zeit der Kopulation mit
dem .operierten Männchen höchstens 1!/, Tage alt (s. Bemerkungen
zus Hall27S. 631).
Durch meine Beobachtungen scheint mir als sicher festgestellt,
dass die Eiablage beim Schwamnispinner je nachdem, ob eine normale
Kopulation vorhergegangen ist oder nicht, in verschiedener Weise
erfolgt. Im ersten Fall in der bekannten normalen Art, im zweiten
Fall als eine rudimentäre, wie sie oben beschrieben wurde. Bei
Kopulationen durch Männchen, denen eine Übertragung von Sperma
unmöglich gemacht ist, wird eine Eiablage der letztgenannten Art
veranlasst. Welche Reize es sind, die diese rudimentäre Ablage
hervorrufen, ob nur die mechanischen Reize durch Einführung des
Penis, ob chemische von seiten der Nebendrüsensekrete, kann aus
den bisherigen Versuchen nicht geschlossen werden, da unbekannt
ist, sowohl ob in dem einen Falle, wo ein der Nebendrüsen be-
635 Klatt, Experimentelle Untersuchungen etc.
raubtes Männchen die rudimentäre Eiablage auslöste, nicht vielleicht
doch etwas Nebendrüsensekret in dem verhältnismäßig lang er-
haltenen Ductus ejaculatorıus vorhanden war und übertragen wurde,
als auch ob in den von den Kastraten ausgeführten Kopulationen
eine Ejakulation stattgehabt hatte. Aus gleichen Gründen bleibt
es auch fraglich, ob die normale Eiablage in irgendeiner Art durch
das Sperma oder durch Wirkungen des Nebendrüsensekretes ver-
anlasst wird. Nur soviel kann Positives auf Grund meiner Ver-
suche ausgesagt werden, dass die bloßen mechanischen Reize durch
den Penis nicht den Reiz bilden, der die normale Eiablage aus-
löst. -—— Es war ein Fehler in der Annahme vorhanden, von der
ich ausging, nämlich die Voraussetzung, dass Männchen, denen die
Hoden genommen, die Nebendrüsen aber geblieben waren, nun auch
Nebendrüsensekret ejakulieren würden. Das braucht ja keineswegs
notwendig der Fall zu sein. Es wäre sogar denkbar, dass über-
haupt schon die Bildung des Nebendrüsensekretes bei auf dem
Raupenstadium kastrierten Männchen unterbliebe. Denn wenn auch
durch die umfassenden Meisenheimer’schen Untersuchungen
solcher Kastraten, die völlig intakte morphologische Ausbildung
des restierenden Genitalapparates nachgewiesen ist, so können der-
artige Abänderungen in den feineren physiologischen Vorgängen
doch vorhanden sein. Es sind also vor allem genauere histologische
Untersuchungen über event. mangelnde oder vorhandene Sekretion
der Nebendrüsenzellen bei normalen und kastrierten Tieren nötig,
welche durch histologische Untersuchungen der weiblichen Genital-
ausführwege vor und nach erfolgter Kopulation durch normale wie
kastrierte Männchen ergänzt werden müssten. Nur durch solcherart
kombinierte experimentelle und histologische Methoden wird man
ermitteln können, welche Reize die normale, welche die rudimen-
täre Eiablage auslösen. Zu einer möglichst vollkommenen Analyse
der sich hier abspielenden Prozesse sind ferner nötig noch weitere
genaueste Beobachtungen über die Art, wie Wolle und Eier bei
den Weibchen unter den verschiedenen Bedingungen abgesetzt
werden. Wenn solehe Untersuchungen vorliegen, wird man auch
Nebenfragen entscheiden können, wie z. B. die, ob das vielfach be-
obachtete, weniger feste Ankitten der Eier bei nicht normal be-
gatteten Weibchen durch ein weniger sorgfältiges Funktionieren
des Ablageinstinktes hervorgerufen wird oder etwa durch eine
bei mangelnder oder unvollständiger Kopulation herabgesetzte Zell-
tätigkeit der weiblichen Nebendrüsen. Auf alle Fälle ist es hier
beim Schwammspinner möglich, das bei wirbellosen Tieren so gut
wie gänzlich unbeackerte Gebiet der feineren Physiologie des
Genitalapparates einer experimentellen Bearbeitung zu erschließen.
Semon, "Die Experimentaluntersuchungen Schübeler’s. 659
Die Experimentaluntersuchungen Schübeler’s.
Von Richard Semon.
Auf die Ausführungen N. Wille’s in Nr. 5 des vorliegenden
Bandes dieser Zeitschrift!) habe ich folgendes zu erwidern.
Wille hat vor einiger Zeit?) die Auffassungen Schübeler’s über
die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten nach dem Tode
dieses Forschers einer ausführlichen Kritik unterzogen. Wenn ich
seinerzeit (Mneme, 2. Aufl., S. 86, Anm.) in bezug auf diese Kritik
gesagt habe, ich wolle ihre „Berechtigung in anderen Punkten
weder bestreiten noch zugeben“, so bedeutet dieser klare Wortlaut
einfach einen Verzicht auf ein eigenes Urteil, nicht aber, wie
Wille ganz falsch herausliest eine Andeutung, dass ich seine Kritik
auch über die von mir näher ins Auge gefassten Punkte hinaus für
wertlos hielte. Darüber ıst kein Wort zu verlieren.
Um so entschiedener bin ich aber gegen einen bestimmten
Teil der Wille’schen Kritik aufgetreten. Wille sagt dort
(a. a. O., 1905. S. 563): „Schlägt man ın der erstgenannten Ar-
beit („Kulturpflanzen“, S. 24) nach, so findet man, dass Schü-
beler’s Versuche nur darin bestanden, dass er Samen verschiedener
Pflanzenarten, welche in Kanada, Frankreich oder Deutschland ge-
sammelt waren, in Norwegen (den größten Teil in Christiania, einige
in Trondhjem) aussäen ließ; er beobachtete dann an den Samen
eine Gewichtszunahme von bis 71%. Auf der anderen Seite ließ
er Samen aus Norwegen in Breslau aussäen, wo man eine Gewichts-
abnahme von 27,6%, feststellte. Diese Versuche sind jedoch im
allgemeinen nur ein einziges Jahr lang und in Massenkultur aus-
geführt worden und man hat keine Bürgschaft dafür, dass die aus-
gesäten und die abgeernteten Samen nach einheitlichen Grundsätzen
verglichen sind, da nämlich die Einsammlung an den verschiedenen
Stellen von verschiedenen Personen vorgenommen worden zu sein
scheint. Die Versuche ermangeln daher der wesentlichsten Be-
dingungen, um wirklich als streng komparativ gelten zu können.
Dass die Vegetationsdauer sich nach Norden zu stark verkürzt,
schließt Schübeeler ebenda („Kulturpflanzen“, S. 26), wie es scheint,
im wesentlichen aus dem, was man ihm über Getreideaussaat und
Erntezeit in Alten (in Norwegen, 70° n. Br.) erzählt hat, sowie
1) N. Wille. Über die Veränderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten.
Eine Antwort an Herrn Richard Semon. Biolog. Centralbl., 33. Bd., Nr. 5,
20. Mai 1913, S. 246—254.
2) N. Wille. Über die Schübeler’schen Anschauungen in betreff der Ver-
änderungen der Pflanzen in nördlichen Breiten. Biolog. Centralbl., 25. Bd., 1905,
S. 561—574.
3) Vgl. besonders die folgenden drei Werke F. ©. Schübeler’s: Die Kultur-
pflanzen Norwegens. Christiania 1862. — Die Pflanzenwelt Norwegens. Christiania
1873—75. — Viridarium norwegieum. Christiania 1885, 1. Bd.
640 Semon, Die Experimentaluntersuchungen Schübeler’s.
aus den Angaben eines schwedischen Journals über Saat- und
Erntezeit ın Piteä (65° 19 13“ n. Br.) aus den Jahren 1740—51
und in Upsala (59° 51‘ 34“ n. Br.) aus den Jahren 1747—52. Dass
der Farbstoff in den Früchten nach Norden hin zunimmt, schließt
Schübeler („Kulturpflanzen“, S. 29) aus sehr wenigen und keines-
wegs einwandfreien Versuchen.*
Jeder, der diese Ausführungen liest, muss unbedingt aus ihnen
entnehmen, dass Schübeler eigene, unter seinen Augen ablaufende
Versuche nur über die Veränderungen des Samengewichtes (diese
im wesentlichen nur in einem Jahre) sowie über die Abnahme des
Farbstoffes in den Früchten angestellt hat, während er nach Wille
„wie es scheint“ die Veränderungen der Vegetationsdauer nur auf
Grund fremder Angaben erschlossen hat. Dies und dies allein
war und ist der springende Punkt meiner Gegenkritik.
Ich bin aufgetreten gegen die Nichtberücksichtigung der über
12 Jahre ausgedehnten Experimentaluntersuchungen Schübeler’s
über die Veränderung der Vegetationsdauer von Getreide, das er
aus südlicheren oder nördlicheren Breiten nach Christiania versetzte
und fortlaufend in drei, vier, ja fünf Generationen selbst kultivierte.
Die Tatsache dieser Nichtberücksichtigung ergibt sich ohne wei-
teres aus den zitierten Sätzen sowie den ganzen folgenden Aus-
führungen Wille’s, die zehn Druckseiten umfassen, und sie bleibt
auch nach den neueren, gegen mich gerichteten Auslassungen
Wille’s bestehen.
Nicht etwa nur um die in Breslau vorgenommene Gegenprobe
handelt es sich dabei, auch nicht allein um die in den Jahren 1857 —59
vorgenommenen Experimentaluntersuchungen über die allmähliche
Verkürzung der Vegetationszeit von besonders aus südlicheren
Breiten importierten Getreiderassen, die W ille früher ebenfalls igno-
riert hat und die er jetzt durch Hinweis auf meteorologische Daten
zu entkräften sucht, auf die ich unten noch zurückkomme. Sondern
ferner noch um die von Schübeler während der Jahre 1852—57
in Christiania ausgeführten Versuche mit Hühnermais (Pflanzenwelt
Norwegens, $. 80, Viridarium I, S. 55), sowie um die Versuche
mit aus Alten bezogenen Gerste, diei im Jahre 185963 vorgenommen
wurden (Pflanzenwelt Na asen, S. 53, Viridarium I, S. 59):
Alle diese Versuche hat W le er absolut igmorierh, Erst
jetzt in seiner Erwiderung an mich schenkt er wenigstens den in
den Jahren 1857-59 vorgenommenen Versuchen Beachtung und
wendet nunmehr ein, diese 3 Jahre seien in Norwegen meteoro-
logisch che, sogen. „Wunderjahre“ gewesen; ferner sei
die Lage ir Kulturfläche in Christiania eine eigenartige (ein nach
Süden abfallender Hang) gewesen.
Nun wird aber durch diese jetzt von Wille herangezogenen
Daten das Wesentlicheder Schübeler’schen Ergebnisse, die allmäh-
Semon, Die Experimentaluntersuchungen Schübeler's. 641
lich fortschreitende Verkürzung der Vegetationszeit in keiner
Weise erklärt. Wird nämlich, wie Wille angibt, eine frühe Reife-
zeit in Christiania vorzugsweise durch hohe Wärme und Trocken-
heit im Monat August hervorgerufen, so müsste die Vegetations-
dauer im Jahre 1857 eine kürzere gewesen sein als ım Jahre 1859.
Denn die Temperatur betrug im Mittel 19° C. ım August 1857,
dagegen nur 16,7°C. ım August 1859; die Regenmenge betrug 21,1
im August 1857, dagegen 58,5 im August 1859. Der August des
Jahres 1857 war also viel wärmer und trockener als der des Jahres
1859. Zieht man auch noch die Daten über dıe klimatischen Ver-
hältnisse in den übrigen Monaten mit in Betracht, so lässt sıch
aus ihnen ebenfalls ın keiner Weise ein Grund dafür herauslesen,
dass das Klima des Jahres 1859 eine Frühreife mehr begünstigt
habe als das des Jahres 1857. Ebensowenig erklärt sich daraus
die Verkürzung der Vegetationszeit der nach Deutschland zurück-
versetzten dritten Generation gegenüber der von dort herrührenden
Stammkultur. Dies um so weniger, als ja, wıe Wille festgestellt
hat, die Lage der Kulturfläche des neuen deutschen Standortes
(Breslau) einer Frühreife keineswegs besonders günstig war.
Diese nunmehr vorgebrachten Einwände treffen also den Kern
der Sache, die von Schübeler beobachtete allmählich fort-
schreitende Verkürzung der Vegetationszeit bei der Versetzung
der Kultur in nördlichere Breiten nicht. Zudem handelt es sich,
wie schon betont, bei diesen Schübeler’schen Experimentalunter-
suchungen keineswegs bloß um die Jahre 1357 —59, sondern um
den viel längeren Zeitraum von 1852 —1863. Auf keinen Fall recht-
fertigt also dieser Einwand nachträglich ein vollständiges Tot-
schweigen der die Vegetationszeit betreffenden Schübeler’schen
Versuche.
Es liegt mir fern zu bestreiten, dass diese Versuche mancherlei
Fehlerquellen in sich bargen, und ich halte eine kritische Nach-
untersuchung mit unseren jetzigen geschärften Methoden, vor allem
Kultur ın „reinen Linien“ für durchaus erforderlich. Aber es ist
doch ganz etwas anderes, Versuchsergebnisse nicht für einwandfrei
zu halten, ihnen nicht viel Beweiskraft zuzutrauen, zu erklären, sıe
„könnten höchstens als „Orientierungsversuche dienen“, wıe Wille
es jetzt tut, als sie, wie er es in seiner eingehenden Kritik ge-
tan hat, vollständig mit Stillschweigen zu übergehen und bloß die
von unserem heutigen Standpunkt aus viel weniger schwerwiegenden
anderen Argumente mit großer Ausführlichkeit zu widerlegen.
Ich kann aber nicht umhin zu bemerken, dass Wille auch ın
seiner letzten Publikation (1915) über die Werke seines Lands-
mannes und Amtsvorgängers Angaben macht, die irreführend sind.
So sagt er (S. 248): „Ich habe wirklich aber diesen Breslauer Ver-
suchen nicht viel Beweiskraft im Vergleich mit den späteren Ver-
642 Semon, Die Experimentaluntersuchungen Schübeler's.
suchen Schübeler’s durch 30 Jahre in Norwegen zugetraut. Und
Schübeler selbst scheint später dieselbe Auffassung zu haben, er
hat nämlich in der letzten Ausgabe (Viridarium norwegicum I,
S. 151) nur ganz kurz (in 6 Zeilen) diese Breslauer Versuche er-
wähnt, während er viele Seiten mit seinen anderen Beweisen an-
führt. Herr Semon hat ja diese letzte Auflage nicht gelesen!“ Jeder
Leser dieser Zeilen muss unbedingt aus ihnen entnehmen, dass
Schübeler in seinen früheren Werken (oder Auflagen, wie Wille
sie jetzt bezeichnet) längere Ausführungen über diese Versuche ge-
bracht und dieselben im Viridarium gekürzt und mehr beiläufig
gefasst, jedenfalls anders gebracht habe als früher. In Wirklichkeit
aber ist die Fassung und der Umfang der betreffenden Ausführungen
in den „Kulturpflanzen“ (1862, S. 28) und in der „Pflanzenwelt
Norwegens“ (1873---75, S. 81) genau dieselbe wie „im Viridarium“
(I, S. 151), nur dass die deutschen 6 Zeilen ın der „Pflanzenwelt“
in 6 norwegische Zeilen im „Viridarıum“ übersetzt und zwar wört-
lich übersetzt sind. Der einzige Unterschied ist der, dass Schü-
beler in den beiden älteren Werken bezüglich der zahlenmäßigen
Details auf die diesen beiden Büchern beigefügte tabellarische Über-
sicht verweist, die die Resultate noch sehr vieler anderer Anbau-
versuche mit den verschiedensten Pflanzen ın Christiania, Bres-
lau, Alten und Throndhjem wiedergibt. Diese Tabelle ist im Viri-
darıum nicht wieder mit abgedruckt; dafür weist aber Schübeler
in einer besonderen Anmerkung auf sie hin unter Angabe der
Seiten, wo sie in den „Kulturpflanzen“ (S. 24—25) oder in der
„Pflanzenwelt Norwegens“ (S. 54-55) zu finden ist. Der Versuch
Wille’s, Schübeler einen Meinungswechsel zu imputieren, ist
also ebenso ungerechtfertigt wie der gegen mich erhobene Vorwurf,
ich hätte in das „Viridarıum“ keinen Einblick genommen. Dieser
Vorwurf ist nach dem eben Mitgeteilten nicht nur belanglos, sondern
er ıst auch unbegründet. „Viridarıum norwegicum“ hat mir seiner-
zeit im Exemplar der Münchener Staatsbibliothek vorgelegen, und
ich habe meine Leser nur deshalb in einer eingeklammerten Be-
merkung auf ein ım Biolog. Oentralblatt in deutscher Sprache er-
schienenes Referat hingewiesen, weıl ein solches ausführliches Referat
eines in norwegischer Sprache erschienenen, nicht überall zugäng-
lichen Werkes für deutsche Leser wertvoll ist. Wie man daraus
einen Vorwurf gegen mich konstruieren will, ist mir unverständlich.
Ebenso unbegründet endlich ist der Vorwurf Wille’s, ich hätte
die Untersuchungen L. P. Nilssen’s über die wirkliche Vegetations-
zeit der Gerste in Norwegen nicht erwähnt und nicht berücksichtigt.
In „Stand der Frage nach der Vererbung erworbener Eigenschaften“
(Fortschritte d. naturw. Forschung, 2. Bd., Berlin und Wien 1911,
S. 37) sage ich darüber: „Bei der ‚vernichtenden Kritik‘ Nilssen’s
handelt es sich überhaupt nicht, wie man aus den Angaben
Semon, Die Experimentaluntersuchungen Schübeler’s 643
Johannsen’s entnehmen müsste, um einen Widerspruch gegen die
Experimentaluntersuchungen Schübeler’s, sondern um eine
Kritik gewisser vegetationsstatistischer Angaben und Generalisationen,
bei denen Schübeler geirrt oder nicht ganz das Richtige getroffen
haben mag, die aber für die Beurteilung seiner experimentellen
Leistungen vollkommen irrelevant sınd.“
Gegen das Ignorieren der Ergebnisse von höchst interessanten,
ihrer Zeit weit vorauseilenden Experimentaluntersuchungen in der
Wille’schen Kritik habe ich protestiert, und wenn ich es mir nicht
anders erklären konnte, als dass dasselbe einem zufälligen Übersehen
oder einem Auslassen des Gedächtnisses, dem wir ja alle unter-
worfen sind, zuzuschreiben sei, so glaube ich auch heute noch, da-
mit die mildeste Erklärung emes unzweifelhaften Fehlers gegeben
zu haben. Es schien mir unmöglich, anzunehmen, Wille habe die
Ergebnisse zum mindesten sehr schön ausgedachter und mühevoll
durchgeführter Pionierexperimente in bewusster Absicht völlig un-
erwähnt gelassen, während er die Argumente Schübeler’s, soweit
sie sich auf die Angaben Anderer über Getreide- und Kartoffelbau
im hohen Norden beziehen, einer höchst ausführlichen Kritik für
wert erachtete. Nach seinen neuerlichen Äußerungen scheint es,
dass ich mich in der Erklärung des Zustandekommens eines von
ihm gemachten, unbegreiflichen Fehlers geirrt habe; der Fehler
als solcher bleibt nach wie vor bestehen.
Mein Protest gegen denselben war um so gerechtfertigter, als
eine ganze Reihe von Autoren auf Wille’s Kritik hin nicht nur
die sonstigen Ansichten Schübeler’s, sondern auch seine von
Wille nicht berücksichtigten Experimentaluntersuchungen über die
Verkürzung der Vegetationszeit für endgültig widerlegt angesehen
haben.
Meinen eigenen Standpunkt den Schübeler’schen Kultur-
versuchen gegenüber habe ich wiederholt, z. B. Mneme, 2. Aufl.,
1908, S. 88, 3. Aufl., 1911, S. 79, „Problem der Vererbung“, 1912,
S. 63, 64) dargelegt und schließe mit einem Zitat aus letzterer
Arbeit. Nachdem ich dort auseinandergesetzt habe, dass bei Schü-
beler’s COhristiania-Versuchen die Möglichkeit einer durch zu
frühes Ernten bedingter Auslese der frühreifen Individuen laut
Wille’s eigenen Angaben über die Art des Erntens im südlichen
Norwegen ganz fortfällt, fahre ich fort: „Dennoch ist die Möglich-
keit nicht in Abrede zu stellen, dass bei den von Wille übersehenen
Kulturversuchen Schübeler’s unbewusste Auslese in irgendeiner
Weise eine Rolle gespielt hat. Diese Versuche, ebenso wie die
verwandten von Hoffmann (1887), Cieslar (1890, 1895, 1899)
und Wettstein (1902, 1903) sind nicht mit „reinen Linien“ oder
Reinzuchten elementarer Arten vorgenommen worden, sondern mit
Gemengen solcher, mit Populationen oder Phaenotypen, und es ist
644 Hentschel, Uber die Anwendung der funktionalen Betrachtungsweise etc.
zuzugeben, dass alsdann bei solchen Massenkulturen ein vielleicht
gar nicht immer erkennbarer Auslesefaktor mitspielen kann. Um
wirklich beweisend zu sein, müssten diese Versuche an reinen
Linien oder Äquivalenten reiner Linien angestellt werden.“
Das Schlussergebnis also ıst, dass die die Vegetationszeit be-
treffenden Versuche Schübeler’s von Wille in seiner ersten Kritik
(1905) ignoriert, nicht aber widerlegt worden sind, und dass sie
durch die meteorologischen Daten, die Wille neuerdings (1913)
bringt, ın ihrem Kern nicht berührt werden; dass sie aber, um
eigentliche Beweiskraft zu erlangen, einer Nachprüfung mit modernen
Methoden noch durchaus bedürfen.
Über die Anwendung der funktionalen Betrachtungsweise
auf die biologische Systematik.
Von Ernst Hentschel (Hamburg).
Jede Systematik beruht auf der Existenz verschiedener Arten
von untereinander Ähnlichen Gebilden, dıe das Bedürfnis der über-
sichtlichen Anordnung in uns erwecken. Diese Anordnung nach
dafür zweckmäßig erscheinerden, möglichst aus der Natur der
betreffenden Gebilde hergeleiteten Prinzipien heißt eben Systematik.
Die Arten der Zoologie und Botanik sind Massen von Individuen,
die als zusammengehörig betrachtet werden, weil sie im wesentlichen
ın ıhren Merkmalen übereinstimmen. Die in einer Diagnose zu-
sammengestellten Merkmale kennzeichnen den Begriff der betreffenden
Art. Der Artbegriff setzt sich also aus Merkmalsbegriffen
zusammen.
Die Zusammengehörigkeit der verschiedenen, in einer Art
vereinigten Merkmale ist uns in der Anschauung gegeben. Wir
können ihr Zusammensein an den einzelnen Individuen viele Male
beobachten. Die Merkmale sind räumlich und zeitlich aneinander
gebunden. Unsere Vorstellungen von der Art und Weise dieser
Zusammengehörigkeit sind jedoch wesentlich mannigfaltiger, als sie
aus der einfachen Anschauung der „In-dividualität* entspringen
könnten.
Sie sind unter anderem mannigfaltig geworden durch die An-
schauungen, die wir über ihren Ursprung gewonnen haben. Etwas
einigermaßen Sicheres über den Ursprung von Merkmalen auszu-
sagen, vermögen wir nur dann, wenn sie sich als Anpassungsmerk-
male, als zweckmäßige Bildungen kennzeichnen. Wır können dann
überzeugt sein, dass ihre Existenz zu den Bedingungen der um-
gebenden Verhältnisse in Beziehung steht. Bei den meisten anderen
Merkmalen ist uns über den Ursprung nichts einigermaßen Sicheres
bekannt. Man wird vielleicht einwenden: Streng genommen wissen
wir überhaupt nichts über den Ursprung von Merkmalen. Es würde
Hentschel, Uber die Anwendung der funktionalen Betrachtungsweise ete. 64)
aber augenscheinlich absurd sein, wenn man behaupten wollte, dass
zu den Entstehungsbedingungen der Nagezähne des Bibers nicht
die Existenz von Holz oder anderen nagbaren Stoffen gehört.
Wenn nun eine Art durch gewisse unzweifelhafte Anpassungs-
merkmale von anderen Arten ausgezeichnet ıst, so haben die An-
passungsmerkmale augenscheinlich eine besondere Stellung unter
den Merkmalen der Artengruppe. Sıe erscheinen gleichsam als etwas
von außen an den Organismus Herangebrachtes. Sie gehören ge-
wissermaßen weniger der Artengruppe, als der Umgebung an. Ihre
Zugehörigkeit zu den übrigen Merkmalen ıst eine besondere.
Wenn in den häufigen Fällen „konvergenter“ Anpassung die
Umgebung verschiedenen, in sehr vielen Merkmalen einander fremden
Tiertypen übereinstimmende Anpassungsmerkmale aufgeprägt zu
haben scheint, so wird es noch deutlicher, dass diese Merkmale eine
gewisse Unabhängigkeit von den übrigen Merkmalen haben.
Dasselbe zeigt sich aufs klarste, wenn verschiedene Merkmale
eines und desselben Tieres in Anpassung an verschiedene Eigen-
tümlichkeiten der Umgebung entstanden sind, beispielsweise das
Gebiss des Bibers ın Anpassung an dıe Nahrung, sein Ruderschwanz
ın Anpassung an das Medium, in dem er lebt; oder die Barten
eines Wals in Beziehung zum Planktongehalt, seine Flossen in Be-
zıehung zu den mechanischen Eigentümlichkeiten des Wassers.
Da wir über den Ursprung von nicht ausdrücklich als Anpas-
sungsmerkmale gekennzeichneten Bildungen nichts Befriedigendes
aussagen können, so ist es schwer, sich ein Urteil über die Art
ihrer Zusammengehörigkeit zu bilden. Dass aber hier etwas Ähn-
liches stattfindet, wie ın den besprochenen Fällen, zeigt sich darın,
dass auch nicht adaptive Merkmale ın sehr verschiedenen Tier-
gruppen wiederholt auftreten können. Als Beispiele dazu mögen
Merkmale der Zeichnung bei Wirbeltieren, Gliedertieren, Mollusken
u. Ss. w. dienen.
Für alle Merkmale, adaptive sowohl wie nicht adaptive, ist
aber ferner die Erfahrung von großer Bedeutung, dass wir Gattungs-
merkmale, Familienmerkmale u. s. w. von den Artmerkmalen unter-
scheiden können, oder, was die Verhältnisse richtiger und allgemeiner
ausdrückt, dass wır neben den Merkmalen, die nur der Art ange-
hören, andere und wieder andere finden, die immer größeren Kreisen
von Arten gemeinsam eigentümlich sind. Wir legen bei dem Auf-
bau des Systems diesen generelleren Merkmalen einen anderen Wert
bei, als den spezielleren. Wenn mit bestimmten „Gattungsmerk-
malen“ einmal diese, einmal jene „Artmerkmale“ verbunden sind,
so ıst das ein Beweis, dass Gattungs- und Artmerkmale vonein-
ander unabhängig sind. Ein bestimmtes Gattungsmerkmal kann in
Verbindung, es kann aber auch außer Verbindung mit einem be-
stimmten Artmerkmal vorkommen. Oder, um es ohne Beziehung
XXXI. 42
646 Hentschel, Über die Anwendung der funktionalen Betrachtungsweise etc.
auf die künstlichen Kategorien der Systematik auszusprechen: Eın
Merkmal, welches bei einer größeren Zahl von Arten vorkommt, ist
bis zu einem gewissen Grade unabhängig von jedem, welches nur
einer geringeren Zahl von Arten angehört.
Man wird also ganz allgemein sagen können: Die Merkmale
einer und derselben Art sind bis zu einem gewissen
Grade selbständig.
Natürlich immer nur bis zu einem gewissen Grade. Es ist
selbstverständlich und gehört zum Wesen des ÖOrganısmus, dass
nichts in ihm ganz selbständig, ganz unabhängig sein oder auch nur
gedacht werden kann. Auch wurde im vorstehenden schon darauf
hingewiesen, dass die verschiedenen Merkmale in verschiedenem
Grade voneinander unabhängig sind. Das Prinzip der Selb-
ständigkeit der Merkmale, das ja in etwas anderem Sinne aus der
Vererbungslehre bekannt ist, lockert also für unsere Betrachtung
die durch die Individualisierung anschaulich dargebotene Einheit der
Art. Die Art wird dadurch gewissermaßen in ıhre Merkmale zerlegt. —
Die Anordnung der Arten in einem System beruht auf ihren
Übereinstimmungen und ihren Unterschieden. Um diese festzu-
stellen bedarf es der Vergleichung. Da aber die Art begrifflich
nur gleich der Summe ihrer Merkmale ist, müssen die einzelnen
Merkmale verschiedener Arten miteinander verglichen werden.
Man vergleicht die Größe oder Gestalt eines Körperteils einer Art
mit der Größe oder Gestalt desselben Körperteils bei einer anderen
Art. Es werden immer Merkmale, und zwar entsprechende Merk-
male miteinander verglichen.
Diese allen systematischen Untersuchungen eigentümliche An-
schauung, dass Merkmale verschiedener Arten einander entsprechen,
deutet auf eine andere Weise der Zusammengehörigkeit von
Merkmalen hin, die mit der bisher besprochenen Zusammen-
gehörigkeit im Individuum oder der Art nichts zu tun hat. Die
einander entsprechenden Merkmale verschiedener Arten bilden ın
einem gewissen Sinne eine Einheit. Diese zweite Art der Zusammen-
gehörigkeit wird wieder, ganz wie die Selbständigkeit der Merkmale,
besonders deutlich bei Anpassungsmerkmalen, weil sich da die ge-
meinsamen Züge der betreffenden Merkmale, an denen wir ihre
Zusammengehörigkeit erkennen, als Folgen gemeinsamer Ent-
stehungsbedingungen verstehen lassen. Die Untersuchung ver-
schiedener Arten in bezug auf dieZusammengehörigkeit ihrer Merkmale
führt also einerseits zur Zerlegung der räumlich-zeitlich-anschaulichen
Einheit der Art (des Individuums), andererseits zur Zusammen-
setzung der begrifflichen und wohl kausalen Einheit der einander
entsprechenden Merkmale. Die Gesamtheit der in einer solchen
Einheit zusammengehörigen Merkmale will ich als „Merkmalsgruppe“
bezeichnen.
Hentschel, Über die Anwendung der funktionalen Betrachtungsweise ete. 647
Ich möchte außer diesem Ausdruck hier noch zwei andere Bezeich-
nungen, die sich auf den Merkmalsbegriff beziehen, einführen, näm-
lich die Worte „Merkmalswert“ und „Merkmalsschema“. Unter
Merkmalswert will ich das einzelne Merkmal im engeren Sinne
verstehen, wie es zur Unterscheidung einer Art von der anderen
gebraucht wird. Beispielsweise wenn Insekten nach der Zahl ihrer
Fühlerglieder unterschieden werden, so sollen die einzelnen vor-
kommenden Zahlen, z. B. 9, 13, 24 u. s. w., die Merkmalswerte sein.
Oder wenn ich von der Farbe von Käferflügeln spreche, so sollen
die einzelnen Farben, rot, braun, olivgrün, als Werte des Merkmals
bezeichnet werden. Jenen allgemeinen Begriff aber, der gewisser-
maßen die leere Form für die Aufnahme der einzelnen Merkmals-
werte ist, das, wonach gefragt wird, wie z. B. Fühlergliederzahl,
Flügeldeckenfarbe, und worauf mit der Nennung des Merkmalswertes
die Antwort gegeben wird, das will ich „Merkmalsschema“ nennen.
Diese drei Begriffe verhalten sich also derart zueinander, dass eine
Merkmalsgruppe die Gesamtheit der Merkmalswerte ist, welche einem
Merkmalsschema angehören.
Betrachtet man die Merkmale, soweit das möglich ist, kausal,
so wird man ohne weiteres zugeben, dass die Entstehungsbedingungen
aller unter ein und dasselbe Schema fallenden Merkmale bis zu
einem gewissen Grade die gleichen sein müssen, daß aber, insofern
die Werte innerhalb des Schemas verschiedene sind, auch die Ent-
stehungsbedingungen bis zu einem gewissen Grade verschieden sein
müssen. Man wird sich also diesen Komplex der Entstehungs-
bedingungen als etwas innerhalb der Gattung u. s. w. Veränder-
liches vorstellen müssen. Wenn verschiedene Arten in bezug auf
ein Merkmalsschema verschiedene Werte haben, so muss man ent-
sprechende Änderungen des Bedingungskomplexes annehmen. Dies
Verhältnis aber wird seinen besten Ausdruck in dem Funktions-
begriff finden. Das Merkmal, als etwas innerhalb der Gattung
Veränderliches, ist dann als Funktion seiner (unbekannten) Ent-
stehungsbedingungen zu betrachten.
Nun ist es ohne Zweifel nicht selten, dass verschiedene Merk-
malsgruppen einer Artengruppe bis zu einem gewissen Grade von
denselben Bedingungen abhängen. Für die einzelne Art äußert sich
dies Verhältnis in Korrelationen. Betrachtet man Artengruppen, d.h.
Einheiten mit veränderlichen Merkmalen (die „Art“ als konstant
gedacht, die Variabilität vernachlässigt), so werden also verschiedene
solche Merkmale Funktionen von den gleichen Veränderlichen sein.
Dann müssen sie, wie das ja aus der Anwendung des Funktions-
begriffs in der Mathematik, Physik u. s. w. bekannt ist, sich auch
als Funktionen von einander betrachten lassen.
Wenn diese theoretische Überlegung zu Recht besteht, so muss
sich das in günstigen Fällen empirisch nachweisen lassen. Es muss
42
648 Hentschel, Uber die Anwendung der funktionalen Betrachtungsweise ete.
sich durch Untersuchung verschiedener Merkmalsgruppen derselben
Artengruppe zeigen, ob die betreffenden Merkmale voneinander
abhängig sind, ob eine funktionale Beziehung zwischen ihnen be-
steht. Während die Betrachtung der Merkmale als Funktionen
ihrer Entstehungsbedingungen für sich allein von geringem Werte
ist, verspricht ıhre Betrachtung als Funktionen von einander neue
wissenschaftliche Resultate.
Ich habe mich bemüht, derartige Fälle von Merkmalsfunktionen
zu finden und habe vor kurzem ım Zoologischen Anzeiger (Bd. 42
p. 252) unter dem Titel „Über einen Fall von Orthogenese hei den
Spongien“ ein Beispiel davon veröffentlicht. Der Gegenstand der
Untersuchung war die Gattung Mycale ( Esperella auct.) der monaxonen
Kieselschwämme.
Es wurde für verschiedene Merkmale der Spieulation eine Dar-
stellungsform gesucht, welche gestattete, die einzelnen Merkmals-
werte durch einfache Zahlen auszudrücken. Die Längenmaße der
Spicula waren dafür ohne weiteres geeignet; Formen ließen sich
zum Teil durch Verhältuwiszahlen (Ausdehnungsverhältnisse) kenn-
zeichnen; über die Zusammensetzung der Spiculation gab die An-
zahl der Spiculatypen ın jeder Art einige Auskunft; auch das bloße
Vorkommen oder Nichtvorkommen eines Merkmals ließ sich in ge-
wisser Weise zahlenmäßig ausdrücken. Darauf wurden die Arten
nach steigenden Werten eines dazu besonders geeigneten Merkmals
(der Länge der Skelettnadeln) angeordnet, und untersucht, ob bei
dieser Anordnung auch andere Merkmalswerte eine gesetzmäßige
Folge zeigten, ob in den anderen Wertreihen sich ein gleichzeitiges
Steigen, Fallen oder sonst eine regelmäßige Veränderung von Art
zu Art nachweisen ließ.
In der Tat war eine derartige Gesetzmäßigkeit erkennbar, wenn
man Durchschnittswerte für Abteilungen von Arten aus der so ge-
bildeten Artenreihe berechnete. Es ließ sich also zeigen, daß die
verschiedenen Merkmale ın Abhängigkeit voneinander stehen, dass
mehrere Merkmale als Funktionen des zugrunde gelegten Haupt-
merkmals (und damit als Funktionen von einander) betrachtet werden
können.
Meines Erachtens ist damit eine tiefere Einsicht ın die Gestal-
tungsverhältnisse der Gattung Mycale gegeben worden. Wahrschein-
lich wird etwas Ähnliches in anderen Fällen möglich sein. Man
wird jedenfalls sagen können, dass verschiedene, einer Arten-
gruppe eigentümliche Merkmale sich wahrscheinlich in
vielen Fällen als voneinander abhängige Funktionen be-
trachten lassen, die in jeder Art einander zugeordnete
Werte annehmen.
Der Wert dieser Betrachtungsweise liegt darin, dass sie zu
einer unvoreingenommenen Darstellung der Beziehungen, welche
Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte. 649
zwischen den Merkmalen und Arten bestehen, führt und dadurch
mithelfen kann, die Erkenntnis der Gesetze vorzubereiten, welche
die Entstehung von Merkmalen und Arten beherrschen.
Zur Analyse der sozialen Instinkte.
Von Dr. J. S. Szymanski (Wien).
Methodisches.
Die sozialen Instinkte, wie überhaupt das instinktive Verhalten,
sind keine einfachen, weiter nicht zerlegbare Erscheinungen'!); es
lassen sich in denselben mindestens zweierlei Reihen von Reaktionen
unterscheiden Die erste Reihe fasst diejenigen Reaktionen zusammen,
welche, abgesehen von etwaigen sozialen Einflüssen, dem Indivi-
duum, also dem Vertreter einer bestimmten Gattung eigen sind;
das glückliche Zusammenwirken dieser individuellen Reaktionen
innerhalb der koloniebildenden Art ermöglicht überhaupt die Ent-
stehung der Gemeinschaft (primäre Reaktionen).
Die zweite Reihe bilden diejenigen Reaktionen, welche als
Folge des Zusammenlebens vieler Individuen entstanden sind (sekun-
däre Reaktionen).
Um nun die beiden Arten der Reaktionen, die einen sozialen
Instinkt bilden, voneinander trennen zu können, untersucht man
zunächst kausal die Reaktionen der einzelnen Individuen, d. h. man
bemüht sich zu ermitteln, was für ein Reiz eine bestimmte Be-
wegung bewirkt. Sobald dies geschehen ist, beobachtet man, wie
die einzelnen Individuen einer künstlich zerstörten Gemeinschaft
arbeiten, um mit den Genossen in Fühlung zu treten und die
Kolonie wieder herzustellen. Dabei versucht man in den Kolonie-
bildung bewirkenden Bewegungen des einzelnen die schon früher
analysierten individuellen Reaktionen auf einen uns bekannten Reiz
wiederzufinden. Wenn es uns gelänge, alle Bewegungen, die einen
sozialen Instinkt bilden, auf die auch außerhalb der Gemeinschaft
beobachteten individuellen Reaktionen zurückzuführen, würde unsere
Aufgabe gelöst sein. Wenn aber ein „Rest“ bleibt, ist es wohl
denkbar, dass man es hier mit einer sekundären Reaktion zu tun
hat. Die sekundären Reaktionen, also die Reaktionen, die durch
die Gemeinschaft bewirkt sind, d. h. durch einen „sozialen“ Reiz
ausgelöst werden, lassen sich als die bloß für die kolonienbildenden
Arten einer Gattung spezifischen Reaktionen auf einen bestimmten
äußeren oder inneren Reiz nicht schwer erkennen und weiter unter-
suchen.
1) Vgl. meine Arbeit im „Biol. Centralbl.“ „Methodisches zum Erforschen
der Instinkte“ (Bd. 33, p. 260, 1913).
650 Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte,
Für eine unter dem oben erwähnten methodischen Gesichts-
punkte durchgeführte Analyse der sozialen Instinkte schien es mir
angebracht, möglichst einfache und primitive Instinkte zu wählen.
Solche Instinkte glaube ich im Leben der sozialen Insekten-
larven gefunden zu haben; ich möchte im folgenden zwei Fälle der
sozialen Instinkte bei diesen Tieren, und zwar die Bildung des ge-
meinsamen Gespinstes bei den Raupen der Baumspindelmotte
(Hyponomeuta evonymella) und die Bildung der Fressgesellschaft bei
den Afterraupen einer Blattwespe Arye (Hylotoma) ustulata L. etwas
genauer analysieren.
Die Bildung des gemeinsamen Gespinstes bei den Raupen der
Baumspindelmotte (Hyponomeuta evonymella)?).
Die Raupen dieser Motten leben in selbstgefertigten, unregel-
mäßig-kugelförmigen Gespinsten. Das Gespinst ıst gewöhnlich
zwischen mehreren Zweigen der Nährpflanze ausgespannt; in der
Mitte desselben sitzen unbeweglich die Raupen; zwischen einzelnen
Individuen bleiben kleine, von Spinngewebe erfüllte Zwischenräume.
Die Analyse der individuellen Reaktionen der einzelnen Indi-
viduen hat ergeben, dass die Raupen keine Tropismen zeigen. Die
einzige Ausnahme bildet der stark ausgesprochene negative Stereo-
tropismus. Einzeln auf den Boden gesetzt, bewegen sich die Raupen
äußerst langsam; die Bahnen, welche sie dabei beschreiben, haben
die Form einer unregelmäßigen, in sich geschlossenen Schleife
Beinahe auf jeder Stelle der Peripherie bleiben die Raupen stehen,
und führen ausgiebige „Probierbewerbungen“ (Jennings), d. h. die
pendelnden Bewegungen mit dem Vorderkörper aus; dabei ver-
suchen die Tiere, einen aus ihrem Mund herausquellenden Spinn-
faden irgendwo zu befestigen. Falls dies ihnen gelingt, bewegen
sie sich von der Befestigungsstelle fort.
Wenn wir die Bahn einer Raupe durch einen großen Kreis
und die Stellen, wo die „Probierbewerbungen“ ausgeführt wurden,
durch schwarze Punkte mit radial ausstrahlenden Pfeilen markieren,
so können wir, wie dies in Fig. 1 geschehen ist, rein schematisch
die Bewegungsart dieser Raupen darstellen?).
Diese Bewegungsart ist aber nichts anderes als das auf eine
Fläche projezierte Geschäft der Herstellung des Gespinstes, denn
eine in dreidimensionalem Raume befindliche Raupe stellt durch
ähnliche Bewegungen das Gespinst her; dabei kommt ihr negativer
Stereotropismus zur Geltung. Derselbe äußert sich darin, dass die
gewebespinnende Raupe sich stets weiter und weiter von der Be-
2) Herr Prof. F. Werner hat die Freundlichkeit, die Art dieser Raupe für
mich zu bestimmen.
3) Über die Bewegungen dieser Raupen siehe meine Arbeit: „Ein Beitrag zu
den tropischen Bewegungen“, die demnächst in Pflüger’s Arch. erscheinen wird.
Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte. 651
festigungsstelle ihrer ersten Spinnfäden zu entfernen bemüht. Dies
geschieht dadurch, dass die Raupe, nachdem sie ein Spinngewebe
hergestellt hat, dessen eine Seite frei bleibt, sich auf die der
Befestigungsstelle gegenüberliegende freie Seite des Spinngewebes
begibt. In den Mittelpunkt desselben angelangt, führt sie neuer-
dings die „Probierbewegungen“ aus, um eine neue, möglichst weit
von daselbst gelegene Befestigungsstelle zu finden, u. s. f.
Auf diese Weise verfertigt die einzelne Raupe ıhr Gespinst.
Um nun zu untersuchen, ob dieses individuelle Verhalten für
die Bildung des gemeinsamen Gespinstes, das die ganze Kolonie
beherbergen soll, genügt, habe ich .ın ein rundes Glas 8 Raupen
derart untergebracht, dass 6 derselben sich bei A und je eine bei
B und © befanden (vgl. Fig. 2).
Fig. 2. Die Figur
stellt den sche-
matischen Quer-
schnitt durch das
Gefäß dar; die
Pfeile zeigen die
Richtung, in der
die Arbeit vor sich
gegangen ist; die
feinen Linien sol-
len das Spinnge-
webe markieren.
Bei A 6 Raupen;
bei B und © je
eine Raupe.
Alle Raupen machten sich sofort an die Arbeit, die genau so
ausgeführt wurde, wie ıch dies oben beschrieben habe. Die Raupen,
welche bei B bezw. bei © plaziert worden waren, arbeiteten jede für
sich. Desgleichen dıe 6 Raupen bei A; jedoch kamen deren Ge-
spinste wegen der räumlichen Nähe der einzelnen Individuen vom
Anfang an mitemander in Berührung. Nach einiger Zeit vereinigten
sich auch die Gespinste von B und © mit denen von A; denn es
ist der Moment gekommen, in welchem die Raupen B bezw. ©
durch ihren negativen Stereotropismus getrieben, indem sie sich
auf ihrem neu hergestellten Gewebe stets vorwärts bewegten, so-
weit sich von dem Punkte B bezw. C entfernten, bis sie endlich
den Rand des viel größeren Gespinstes von A erreichten und eine
Brücke herüberschlagen konnten. Dann arbeiteten sie weiter, und
nach 4 Stunden ruhten alle in der Mitte der neu hergestellten ge-
meinsamen Wohnung.
Es ıst wohl denkbar, dass die Herstellung des gemeinsamen
Gespinstes in der Natur ähnlich vor sich geht. Die Arbeit wird
wahrscheinlich begünstigt durch die mangelnde Neigung zur Fort-
652 Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte.
2 « )
bewegung‘) und das enge räumliche Zusammenfinden der gleich
jungen Raupen, die aus einem Gelege gleichzeitigherausgekrochen sind.
Wie wir sehen, lässt sich die Herstellung der gemeinsamen
Wohnung in diesem Falle restlos auf die primären Reaktionen zu-
rückführen. Dies ıst aber nicht gelungen ım Falle eines anderen
sozialen Instinktes, zu dessen Analyse ich jetzt übergehen will.
Die Bildung der Fressgesellschaft bei den Afterraupen von
Arye (Hylotoma) ustulata L.°).
Die Afterraupen dieser Blattwespe bilden ıhre Kolonien auf
den Weidenarten in der Weise, dass sie auf dem Blattrand in ganz
bestimmter Stellung zur Blattspreite rıttlings hintereinander sitzen.
Wenn das Blatt schief zum Horizonte steht, was bei Weiden ge-
wöhnlich der Fall ıst, so bildet die longitudinale Achse des Vorder-
körpers der Raupe einen spitzen Winkel mit dem Blattrand; der
Hinterkörper — von den ersten Hinterleibsegmenten bis zur Leib-
Fig. 3. I. Die Kolonie in der Ruhe.
II. Dieselbe bei der leisen Erschütterung der Blattspreite.
spitze gerechnet — wird nach unten gekrümmt und zusammen-
gerollt; derselbe hängt frei auf der Blattunterseite (vgl. Fig. 31
und Fig. 4]).
Die Afterraupen folgen derart dicht aufeinander, dass die nach-
folgende die ersten Hinterleibsegmente der vorhergehenden mit ihrem
Kopf berührt.
In dieser Stellung bleiben die Tiere ein paar Stunden be-
wegungslos sitzen; sie fressen dabei das Blatt vom Rande her.
Nach Ablauf dieser Zeit löst sich, wenigstens bei ziemlich erwachsenen
Larven, die Kolonie auf. Die Auflösung geht gewöhnlich derart
vor sich, dass die Larve, welche der Blattspitze am nächsten sitzt,
zunächst ihren Platz verlässt. Den Anlass dazu gibt wahrscheinlich
4) Die Raupen Jassen sich zum progressiven, mehr oder weniger geradlinigen
Fortbewegung erst durch mechanische Reizung (Berührung) des Hinterkörpers
bringen.
5) Herr Dr. F. Maidl aus dem K. K. Naturhistorischen Hofmuseum hat die
Freundlichkeit, die Art für mich zu bestimmen.
Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte. 653
der Nahrungsmangel. Da die Raupen den Hauptnerv des Blattes un-
berührt lassen, wird die obere Raupe, welche die schmalste Stelle
der Blattspreite einnimmt, mit ihrem Nahrungsvorrat zunächst fertig;
sie kriecht dann weg. Dabei lassen sich drei Fälle beobachten:
1. Entweder kehrt sie um, kriecht die Blattspreite hinunter
und verlässt überhaupt das Blatt;
2. oder sie wandert bis an das Ende der Kolonie über die
Rücken ihrer Genossen hinunter, dann setzt sie sich hinter der
letzten Larve und beginnt von neuem zu fressen;
3. oder aber schließlich geht sie auf den anderen Blattrand
hinüber, um dort zu fressen.
Besonders schöne und individuenreiche Kolonien bilden die
ganz jungen Larven; mit dem fortschreitenden Alter werden die
Kolonien allmählich kleiner, und die ganz ausgewachsenen Larven
sind schließlich meistens vereinzelt oder in höchstens 2 Exemplaren
auf einem Blatt zu treffen.
Il
Fig. 4. I. Schematische‘,Darstellung der zwei Tiere in der Ruhastellang (von
oben gesehen).
II. Schematische Darstellung derselben nach der Erschütterung der Blatt-
spreite (von oben gesehen).
(Die gleichen Zahlen der Fig. 3 u. 4 korrespondieren miteinander.)
Um nun den Instinkt der Bildung der Fressgesellschaft bei
diesen Larven in seine Elemente zu zerlegen, begann ich mit der
Prüfung des individuellen Verhaltens der einzelnen Individuen außer-
halb der Kolonie.
Was zunächst die Tropismen betrifft, sind ‘die mittelgroßen
Larven positiv-phototropisch, negativ-geotropisch und positiv-stereo-
tropisch. Diese Tatsachen konnte ich durch folgende Beobachtungen
feststellen:
Bei einseitiger Beleuchtung kriechen die Larven stets gegen
die Lichtquelle hin (positiver Phototropismus).
2. Auf ein gleichmäßig beleuchtetes Stäbehen bezw einen eben-
solchen Zweig gesetzt, bewegen sich die Tiere nach oben (negativer
Geotropismus). Die andere Äußerung des Geotropismus ist wahr-
scheinlich die Lage, welche die Larve im Raume einnimmt, und
zwar ist der Hinterleib immer halb gebeugt und nach unten gerichtet.
3. Auf eine Stelle gebracht ballen sich die Larven zusammen
und bilden einen Knäuel; wobei sie sich mit den außerordentlich
biegsamen Hinterleibern zusammenhalten (positiver Stereotropismus).
654 Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte.
Der zuletzt genannte Stereotropismus steht wahrscheinlich ım
Zusammenhang mit der Art der Fortbewegung, welche allen von
mir näher untersuchten Vertretern dieser Gattung eigen ist. Die
Larven bewegen sich nämlich derart, dass sie zunächst einen dünnen
Zweig, Blattrand bezw. Blattstiel mit ihren Brustbeinen umfassen;
der Hinterleib wird auf eine Seite gedreht und mit seiner Spitze
der Unterlage fest angepresst (angesaugt?). Die eigentliche Fort-
bewegung besteht aus zweı aufeinanderfolgenden Phasen: zunächst
bewegt sich der Vorderkörper mittels der Brustbeine möglichst
weit nach vorwärts; der Hinterleib bleibt unbeweglich angepresst
(Fig. 5I von a, bis a,). In der zweiten Bewegungsphase löst sich
der Hinterleib los, wird nach vorwärts angezogen und befestigt
sich neuerdings an der Unterlage (Fig. 5II von b, bis b,); darauf
bewegt sich wiederum der Vorderleib u. s. f.
Schon diese kurze Beschreibung zeigt, welche wichtige Rolle
der Hinterleib im Mechanismus der Fortbewegung dieser Larven
spielt. Aber auch in bezug auf die reflek-
torische Empfindlichkeit für die Berührungs-
reize ist er dem Vorderkörper weit über-
legen. Wenn der Kopf und die Brust-
segmente auf Berührungsreize keine moto-
! rische Reaktion zeigen, verhält sich der
Hinterleib durchaus anders. Derselbe ist
für diese Kategorie von Reizen außerordent-
lich empfindlich. Folgende Reflexe habe
ich als motorische Reaktion auf Berührungs-
reize beobachtet:
1. Wenn man die hintere Körperspitze mit einem fein zuge-
spitzten Stäbchen berührt, richtet sich die hintere Körperhältte auf.
2. Wenn man die eine Seite des Hinterkörpers berührt, richtet
sich der Hinterkörper mehr oder weniger auf („wölbt sich“) und
dreht sich derselbe von der berührten Stelle weg.
3. In die Kategorie der auf mechanische Reize erfolgenden Be-
wegungen gehört wohl der Aufrichtereflex bei leiser Erschütterung
der Unterlage, auf der die Larve ruht.
Um nun zu prüfen, ob die Bildung der Kolonie sich auf dieses
individuelle Verhalten der einzelnen Larven zurückführen lässt, bin
ich folgendermaßen vorgegangen. Ein Weidenzweig wurde in einen
mit feuchtem Sand gefüllten Blumentopf gesteckt; darunter wurde
eine Anzahl Individuen, die aus verschiedenen Kolonien gesammelt
wurden, untergebracht. Nach einiger Zeit begannen die Tiere sich
zu rühren und infolge des negativen Geotropismus zunächst den
Stengel, dann den Blattstiel und schließlich den Blattrand hinauf-
zusteigen. Da nun die Tiere infolge des positiven Phototropismus
immer auf der dem Lichte zugekehrten Seite kriechen, versammeln
ei SEE. Ms ee Me En
Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte. 655
sich die meisten unter diesen Umständen in der Regel auf dem
untersten, der Lichtseite zugekehrten Blatt. Dass die Larven das
unterste Blatt bevorzugen, lässt sich durch die Art ihrer Bewegung
erklären. Die Larven bewegen sich, indem sie rittlings die Unter-
lage umfassen; sie werden deshalb durch die ihnen am meisten
zusagenden, d. h. möglichst dünnen Stäbchen angelockt. Da der
Blattstiel dünner als Stengel und stärker als Blattrand ist, müssen
die Larven zunächst vom Stengel auf den ersten ihnen begegnenden
Blattstiel und daraufhin auf den Blattrand hinübergehen.
Wenn dabei die Blattspreite so steht, dass die Blattränder
sich nicht auf dem gleichen Niveau befinden (ein Rand höher als
der andere), so sammeln sich die Larven kraft ihres negativen Geo-
tropismus auf dem höherstehenden Rande. Wenn aber in der Blatt-
ränderstellung keine Differenz hinsichtlich der relativen Lage vor-
handen ist, verteilen sich die Larven gleichmäßig auf denselben
(vgl. Fig. 3 Abb. ]).
Bei Erkletterung des Blattrandes herrscht keine
Regelmäßigkeit. Die Larven kriechen hin und her;
dabei kann die nachfolgende Larve entweder über
den Rücken der vorhergehenden fortkriechen oder
sie stößt die vorhergehende von hinten und zwingt
sie dadurch die letztere zum Fortkriechen. Hat
eine der Larven die Blattspitze erreicht, so kehrt
sie entweder um und kriecht wieder hinunter oder
sie geht auf den anderen Blattrand hinüber. Bald
machen jedoch einige, wahrscheinlich besonders
nahrungsbedürftige Tiere Halt und beginnen zu Fig. 6.
fressen: sie bilden den Kern der zukünftigen
Kolonie. Nach und nach schließen sich die übrigen Tiere ihnen
an; dieselben nehmen die noch unbesetzten Stellen am Blatt-
rande ein. Noch herrscht keine Ordnung; die zwei Hauptmerk-
male, die der Kolonie den Eindruck des sozialen Gebildes ver-
leihen, und zwar die einheitliche Stellung mit den Hinterleibern
nach unten und der enge Kontakt, der durch die Berührung der
vorderen Hinterleibsegmente der vorhergehenden Larve durch den
Kopf der nachfolgenden zustande kommt, fehlen noch. Zwar sitzen
die meisten Tiere in der ihnen üblichen Stellung mit den Hinter-
leibern nach unten, doch bei weitem nicht alle; auch sind viele
Larven durch freie Zwischenräume getrennt. Die Kolonie erhält
schließlich durch folgenden Vorgang, den ich wiederholt beobachtet
habe, ihr übliches, sozusagen soziales Aussehen (vgl. Fig. 6).
Die durch einen Zwischenraum getrennten Larven (wie über-
haupt alle Vertreter dieser Art) fressen im Blattrand eine kleine
Vertiefung (Fig. 6b bezw. d) heraus, indem sie den Blattrand von
vorne nach hinten bogenförmig verzehren; dabei bewegen sie sich
656 Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte.
allmählich vorwärts (gegen a bezw. c der Fig. 6). Stellen wir uns
vor, dass die nachfolgende Larve (Fig. 6 II) schneller als die vor-
hergehende (Fig. 61) frısst.
Das beide Larven trennende Blattstück (Fig. 6c) verschwindet
nach und nach, und schließlich kommt der Moment, in welchem
die zweite Larve (II) die vorderen Hinterleibsegmente der ersten (I)
mit dem Kopf von unten berührt. Diese Berührung löst aber
allmählich bei der berührten Larve den uns schon bekannten Reflex
aus: der Hinterleib derselben richtet sich auf und dreht sich von
der berührten Seite weg. Wenn der Hinterleib der vorhergehenden
Larve sich, was die Regel ıst, nicht nach der Blattunterseite dreht,
kommt die Körperspitze wieder ın Berührung mit dem Vorderkörper
der nachfolgenden Larve, was neuerdings die motorische Reaktion
der vorhergehenden Larve zur Folge hat; die Ruhe wird erst her-
gestellt, wenn die letztgenannte Larve ihren Hinterkörper zusammen-
ballt und nach unten legt°).
Auf diese Weise bekommt die Kolonie zum Schluss ihr üb-
liches wohlgeordnetes Aussehen.
Die Koloniebildung bewirkenden Faktoren waren dabei folgende:
1. Einengung vieler Individuen auf einem kleinen Raum.
2. Tropische Bewegung.
3. Beschaffenheit des Vorder- und Hinterleibes ın Hinsicht auf
ihre reflektorischen Tätigkeiten.
4. Fortbewegungs- und Ernährungsart.
Wie aus dieser kurzen Beschreibung der Koloniebildung her-
vorgeht, spielen die primären Reaktionen dabei eine hervorragende
Rolle, denn die meisten Koloniebildung bewirkenden Bewegungen
lassen sich auf das auch im individuellen Leben beobachtete Ver-
halten zurückführen. \
Und doch, wie mir scheint, nicht restlos.
Die gebildete, wohlgeordnete und einige Zeit ungestört bleibende
Kolonie zeigt einen Reflex, der, obwohl er sich mit Leichtigkeit bei
jedem einzelnen Individuum auslösen lässt, durch ein eigentüm-
liches Merkmal auffällt. Wie schon oben erwähnt, richtet sich der
Hinterleib bei der leisesten Erschütterung der Unterlage, auf der
die Larve ruht, auf. Dieselbe Reaktion zeigt die ganze Kolonie’)
(Fig. 3Il und Fig. 4 II).
6) Aus dieser Beschreibung folgt, dass eine Kolonie nur auf einem mehr oder
weniger horizontal stehendem Blatte ihr wohlgeordnetes Aussehen bekommen kann.
Und in der Tat zeigten die Kolonien, die ich auf einem senkrecht herabhängenden
Blatt sich bilden ließ, kein einheitliches soziales Gebilde, denn die Hinterleiber
der einzelnen Individuen waren unregelmäßig entweder nach links oder nach rechts
gedreht.
7) Wegen der außerordentlichen Leichtigkeit der Auslösung ist dieser Reflex
aller Wahrscheinlichkeit nach schon von vielen Entomologen beobachtet worden;
Szymanski, Zur Analyse der sozialen Instinkte. 657
Was hier aber besonders auffällt, ist der merkwürdige Syn-
ehronismus im Auftreten der Reaktion: Alle koloniebildenden Indıi-
viduen beantworten gleichzeitig und, wenn ich mich so ausdrücken
darf, explosiv den Reiz durch das plötzliche Aufrichten ıhrer Hinter-
leiber, um in dieser Stellung ganz unbeweglich längere Zeit hin-
durch zu verharren.
Wenn wir uns der überaus großen individuellen Verschieden-
heiten, die sich bei der Auslösung jeder Reaktion beobachten lassen,
erinnern, können wir den Gedanken nicht ohne weiteres abweisen,
dass man es hier möglicherweise mit der Folge des Lebens in Ge-
meinschaft zu tun hat. Dafür spricht auch der Umstand, dass
dieser Reflex um so schöner auftritt, je wohlgeordneter und jünger
die Kolonie ist.
Bei den ganz erwachsenen Exemplaren, die keine Kolonien
mehr bilden, habe ich keinen Aufrichtereflex bei Erschütterung des
Blattes beobachtet. Über die biologische Bedeutung dieses Reflexes
bin ich nicht im klaren. Wenn jedoch ın der Lehre von den
Schreckstellungen und Schreckbewegungen mehr als der bloße
Anthropomorphismus steckt, haben wir vielleicht hier einen solchen
Fall vor uns.
Wie auch dem sei, möchte ich vielleicht diesen Reflex wegen
seines Synehronismus als einen Fall der sekundären Reaktion auf-
fassen.
Anhang.
Als das Hauptergebnis meiner Untersuchungen möchte ich die
Vermutung aussprechen, dass nicht die „sekundären* (sozialen),
sondern die „primären“ (individuellen) Reaktionen die Kolonie-
bildung in den von mir untersuchten Fällen bewirken. Die Kolonie
wird nicht durch „den Geist der Gemeinschaft“, eine Art des
Maeterlinck’schen „Geistes des Bienenstockes“ ins Leben gerufen;
im Gegenteil, sie hat sich bilden müssen als notwendige Folge
des individuellen Verhaltens der einzelnen Individuen. In diesem
Punkte stimmen meine Versuchsergebnisse mit den Resultaten der
Untersuchungen von Öornetz®) und Wagner’) über die gemein-
same Arbeit bei Ameisen überein. Die letztgenannten Forscher
haben nämlich gefunden, dass es in Wirklichkeit kein derartiges
Zusammenarbeiten gibt; das Verhalten jeder einzelnen Ameise wird
ob derselbe bereits beschrieben ist, weiß ich nicht. In der mir zugänglichen Lite-
ratur habe ich bloß ganz allgemeine Bemerkungen über den Anrichtereflex gefunden;
so z. B. schreibt Rudow, dass „Hylotoma rosarum Fbr. bei Störung den Hinter-
leib aufrichten“ (Rudow, Afterraupen der Blattwespen und ihre Entwickelung,
Entom. Rundschau, Jahrg. 27, 1910, p. 109).
8) V.Cornetz, L’Illusion de l’entraide chez la fourmi (Rev. des Idees, 9° annee,
pP. 292,.1912).
9) W. Wagner, Biologische Grundlagen der vergleich. Psychologie (russ.), 1913,
658 Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochatene.
durch individuelle Reaktionen bewirkt. Wenn jedoch daraus etwas
einheitliches herauskommt, so hängt es davon ab, dass viele räum-
lich zusammengedrängte Individuen das gleiche Benehmen zeigen.
Wenn diese Untersuchungen, welche sich jetzt noch im aller-
ersten Anfange befinden, durch weitere Forschungen bestätigt werden,
und wenn man voraussetzen könnte, dass die gleichen Gesetze für
die Bildung der menschlichen Gesellschaft gelten, so ließen sich
daraus die Schlüsse von großer Tragweite ziehen.
Ich möchte bloß auf ein Problem hinweisen, welches daraus
für dıe Pädagogik herauswachsen müsste. Wenn ich mich in einer
rein naturwissenschaftlichen Untersuchung auf eine derartige Frage
einlasse, so geschieht dies deshalb, weil Schriften von berufensten
Seiten in allerneuester Zeit erschienen sind, die große Bedeutung
der Lehre vom Verhalten der Tiere für die pädologischen Wissen-
schaften beimessen. Ich möchte in erster Linie den interessanten
Aufsatz von Ed. Claparcde!®) nennen.
Dieses Problem bestehe im folgenden: Wenn das persönliche
Verhalten des Individuums das primäre bei der Bildung der Ge-
meinschaft sein sollte, so wäre der sicherste Weg zur sozialen Ver-
vollkommnung die Vertiefung und Verfeinerung des individuellen
Verhaltens. Nicht Unterdrücken der Individualität, sondern vielmehr
die Entfaltung und fortschreitende Verfeinerung derjenigen Triebe,
aus denen sich die sozialen Instinkte integrieren, verbürge am
sichersten die Vervollkommnung und Höherentwickelung des sozialen
Verhaltens des Individuums.
Enzystierung bei einem a
Von Prof. Dr. Al. Mräzek, Prag.
Mit 6 Textabbildungen.
Im Frühjahr des laufenden Jahres fand ıch bei uns in Böhmen
in der Elbeniederung bei Celakovice einen Vertreter der Lumbri-
culidengattung Olaparedeilla. Dieser interessante Fund zeigt deut-
lich erstens, wie schlecht es mit der faunistischen Erforschung der
niederen Tierwelt bei uns in Mitteleuropa noch bestellt ist, und
zwar auch in Gegenden, die sonst als relativ besser durchforscht
bezeichnet werden können, und zweitens, wie leicht auch offenbar
weitverbreitete, häufige und ziemlich auffällige Formen übersehen
werden. Denn es erscheint mir als gesichert, dass Olaparedeilla
keineswegs eine Seltenheit ist, sondern auch anderswo in ähnlichen
Verhältnissen vorkommt, und auf unserer Lokalität von jeher ver-
10) Ed. Claparede, Die Bedeutung der Tierpsychologie für die Pädagogik
(Z. £. päd. Psych., 1911, p. 145); in allerneuester Zeit hat P. Hachet-Souplet
ein ganzes Werkchen dem nämlichen Gegenstande gewidmet (De l’animal ä l’enfant,
Paris 1913).
Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochaeten. 659
treten war, d. h. keineswegs als eine rezente Einschleppung ange-
sehen werden kann. Wahrscheinlich wurde die Form schon oft
angetroffen (ich selber muss sie schon gewiss früher gesehen haben),
aber von Lumbrieulus nicht auseinander gehalten, dem sie habituell
sehr ähnlich ist, wie denn auch Claparede sie mit dem Zumbri-
culus variegatus vermengte.
Ich gedenke über die Organisationsverhältnisse ete. der mir
vorliegenden Olaparödeilla-Art seinerzeit an einem anderen Orte aus-
führlicher zu berichten, hier will ich nur einer interessanten bio-
logischen Eigentümlichkeit der Olaparedeilla Erwähnung tun, näm-
lich ihrer Fähigkeit, sich zu enzystieren. Die Nomenklatur unserer
Form werde ich in der ausführlichen Arbeit behandeln, im folgen-
den werde ich kurzwegs stets nur von (laparedeilla sprechen.
Die Olaparedeilla kommt auf der von mir durchforschten Strecke,
die etwa 3 km lang ist, in zahlreichen Tümpeln längs des Elbeufers
vor. Dieselben sind teilweise gebildet durch natürliche kleinere Un-
ebenheiten des Bodens oder durch alte Flussbette der Elbe, teil-
weise sind es die zwischen den nn Korbweidenkulturen
angelegten Gräben.
ur Mehrzahl dieser Lokalitäten steht im Winter und Frühjahr
unter Wasser. Das ganze Gebiet ist oft Überschwemmungen unter-
worfen, aber ım mar bei niedrigem Wasserstande der Elbe
größtenteils vollkommen trocken gelegt. Zur biologischen Charak-
terisierung dieser Lokalitäten mag noch bemerkt werden, dass auf
demselben Apaus produetus und Branchipus vorkommen.
Eine Erklärung auf die Frage, wie die Olaparederlla auf solchen
vollkommen im Sommer austrocknenden Stellen ıhr Leben fristen
kann, ließ nicht lange auf sich warten.
An den ins Laboratorıum gebrachten Tieren sah ıch bereits
nach Verlauf einiger Tage, wie sich die einzelnen Individuen zu
einem Kügelchen zusammenrollten und unter Ausbildung einer
Schleimzyste sich regelrecht enzystierten. Dieser Vorgang wurde
anfangs nur vereinzelt beobachtet, wurde jedoch bald häufiger, so
dass schließlich nach 2 Monaten in meinen Kulturen kein einziger
freibeweglicher Wurm sich befand, sämtliche Tiere haben sich
enzystiert'').
Da die einzelnen Tiere bezüglich ihrer Größe ziemlich varııerten,
so sind auch die Zysten von recht verschiedener Größe. Die kleineren
Zysten haben 2-3 mm ım Durchmesser und sind entweder von
rein kugeliger oder mehr eiförmiger Gestalt. Soweit ich beob-
achten konnte, enzystieren sich die Tiere einzeln, d. h. ein einziges
1) Dieser Umstand, resp. dieses biologische Vermögen der Ulaparedeilla griff
unliebsam störend ein in die von mir unternommenen entwickelungsmechanischen
Untersuchungen. Die Versuchstiere enzystierten sich öfters kurz nach der Operation
und entzogen sich so weiterer Beobachtung.
660 Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochaeten.
Individuum für sich und die Zyste kann vollkommen isoliert bleiben.
Aber meistens fand ich in meinen Zuchtgläsern, dass neue Zysten
im engen Anschluss an andere Zysten gebildet wurden. Die ein-
zelnen Zysten verkleben dann untereinander und es entstanden
so Zystengruppen, die bis Haselnußgröße erreichten, aber meistens
von einer unregelmäßigen Gestalt waren (vgl. Fig. 1).
Claparedeilla vermag also durch
/ystenbildung dem periodischen Aus-
ng trocknen ihrer natürlichen Fundorte zu
1 widerstehen. Wahrscheinlich verkriechen
sich die Würmer bei beginnender Aus-
trocknung unter das abgefallene Laub in
die tieferen Schlammschichten und en-
zystieren sich hier klumpenweise?).
Die Zyste zeigt, frisch untersucht,
AR, Bi eine innere dünne, feste Schicht, die von
Fig. 1. Zysten und Zysten- 2 ? ; IR
an un Ola, , Si breiteren weicheren, schleimigen
(Natürl. Größe. Photographie.) Hülle umgeben ist. Die Zyste ist wohl
ein Produkt der Schleimdrüsen, die
vereinzelt im Kör-
perepithel zer-
streut sind. Diese
Drüsen lassen sich
vorzüglich deut-
lich machen bei
der Behandlung
der Schnittpräpa-
rate mit Thionin,
Fig. 2. Schleimdrüsen im Hautepithel. 520 X vergr. wo sie sich schön
rot färben und sıch
auf diese Weise scharf von den blaugefärbten Kernen des Hautepithels
abheben. Genau denselben Farbenton nimmt auch die Zyste an,
doch färbt sich die Zyste mit Thionin sehr rasch, erscheint rot
schon zu einer Zeit, wo das Gewebe des Wurmes noch überhaupt
ungefärbt ist. Wırd das ganze Präparat endlich gefärbt, so hat
2) In dem Claparedeilla-Distrikt kommen noch zwei andere Vertreter der
Lumbrieulidensippe, der gewöhnliche Lumbriculus variegatus und Rhynchelmis
limosella vor, teilweise sogar alle drei Formen gleichzeitig in demselben Tümpel.
Wie verhalten sich diese Formen gegenüber dem Trockenwerden der Fundorte ?
Rhynchelmis bewohnt solche Stellen, wo das Wasser fließt oder im direkten Zu-
sammenhang mit dem Flusse steht, oder wo auch im Sommer in der Trockenperiode
an den niedrigsten Stellen der Tümpel (so besonders in den Gräben in den Weiden-
feldern) Wasser stehen bleibt. Lumbriculus habe ich aber auch in Gemeinschaft
mit Olaparedeilla in vollkommen austrocknenden Fundorten gefunden. Ob der-
selbe der Austrocknung wirklich widerstehen kann und wie, ist noch zu ermitteln.
Jedenfalls zeigt aber Lumbriceulus in der Gefangenschaft nie eine Zystenbildung.
#
Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochaeten. 661
sich die Farbennuance der Zyste schon lange verändert (ins Vio-
lette), behält jedoch immer einen selbständigen Ton.
Die Claparcedeilla-Zysten beobachte ich nun mehr als 5 Monate.
Es scheint mir, als ob die Zysten und Zystengruppen kleiner ge-
worden wären und eine mehr unregelmäßigere eckigere Form an-
genommen hätten. Da ich jedoch ursprünglich nicht die Dimen-
sionen der Zysten notiert habe, so könnte es sich nur um eine
subjektive Täuschung handeln. Möglicherweise könnten aber an
dem geänderten Aussehen der Zysten die inneren Vorgänge inner-
halb der Zyste und die Veränderungen der Zystenwand schuld tragen.
N
) .
EFF
Fig. 3. Schnitt durch eine größere Einzelzyste, bald nach der Enzystierung.
30 X vergr.
Die aus erhärtendem Schleim bestehende Zystenwand wächst
nämlich im Laufe der Zeit. Bei frischen Zysten, die am zweiten
Tag nach ihrer Bildung fixiert wurden, erscheint die Zystenwand
an Schnittpräparaten dünn (Fig. 3). Bei 5 Monate alten Zysten
ist jedoch die Zystenwand sehr dick, offenbar durch viele nach-
träglich abgesonderte Schleimschichten verstärkt (Fig. 4). Wie ein-
gangs erwähnt wurde, verkleben oft die Zysten zu Klumpen, oder
die Würmer enzystieren sich von vornherein im Anschluss an schon
bestehende Zysten. Mit bloßem Auge und bei Lupenbetrachtung
sind die einzelnen Abteilungen einer solchen Gruppe deutlich nach-
weisbar. An Schnittpräparaten zeigt sich, dass das Diekerwerden
XXXIU. 43
662 Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochaeten.
der Zystenwand nur da geschieht, wo die Zysten an die Außen-
welt stoßen, da wo sich die einzelnen Zysten berühren, bleibt die
verklebte Wand dünn (Fig. 5). Es kann nicht ausgeschlossen werden,
dass es vielleicht nicht zu einem Platzen der Querwand und freier
Kommunikation zwischen den beiden Zystenhöhlen kommt.
Die Zystenwand ist vollkommen durchsichtig, so dass man die
einzelnen Windungen etc. der Zystenbewohner deutlich sieht.
Wenn auch schon das Vermögen der Claparedeilla, sich zu
enzystieren, von Interesse ist, so steigert sich das letztere ın An-
betracht der weiter mitzuteilenden Beobachtungen.
Fig. 4. Schnitt durch eine 5 Monate alte kleinere Zyste. 45 X vergr. Die Quer-
schnitte des Bauchnervenstranges zeigen deutlich die Orientierung der Würmer
innerhalb der Zyste an.
Wie erwähnt liegen die Zysten jetzt schon über 5 Monate.
Als ich eine solche schon alte Zyste konservierte und schnitt, fiel
mir auf, dass in der kleinen regelmäßig kugeligen Einzelzyste von
kaum 2 mm Durchmesser mehrere Würmer sich befanden. Obgleich
nach meinen früheren Beobachtungen sich regelmäßig die Würmer
einzeln enzystieren, konnte man doch immerhin annehmen, dass in
diesem Fall drei kleinere Individuen gemeinschaftlich eine einzige
/yste bildeten. Diese Möglichkeit bewog mich, eine Anzahl weiterer
7ysten zu untersuchen, jedesmal mit dem Erfolg, dass in einer
jeden Zyste oder Zystenabteilung mehr als ein Individuum gefunden
wurde. Schon ein Bliek auf einen einzigen Schnitt, wie ıhn z. B.
Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochaeten. 663
unsere Fig. 5 abbildet, belehrt den Beobachter, dass die Zahl der
Würmer in einer größeren Zyste eine größere sein muss.
Dieser Umstand ist an und für sich schon ganz bemerkens-
wert, es gesellt sich jedoch noch ein anderer dazu. Die von mir
gesammelten Tiere waren nicht alle gleich groß, und es befanden
sich unter denselben auch kleinere Individuen. Auch befanden sich
Fig. 5. Schnitt durch eine Zystengruppe, zwei aneinanderstoßende Zysten treffend.
20 X vergr.
unter dem Zystenmaterial auch enzystierte bloße Teilstücke (Hälften)
aus meinen Regenerationsversuchen. Aber immerhin ist es sehr
auffallend, dass jetzt nach 5 Monaten sämtlich offenbar nur kleinere
Individuen in den Zysten vorhanden sind. Ein Vergleich der Fig. 3
und 4 ist gewiss lehrreich. In der größeren Zyste von 3 mm
Durchmesser aus Mai ein einziger großer Wurm, in der kleineren
Zyste aus September drei Würmer. Wir werden zu der Annalıme
43*
064 Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochaeten.
+ ; h 8 fe)
gezwungen, dass sich die Individuenzahl innerhalb der Zysten ım
Laufe der Zeit vermehrt, dass sich die Würmer teilen. Und dies
wird zur Gewissheit, wenn man genauer die histologische Struktur
der verschiedenen Würmer resp. ihrer einzelnen Körperteile verfolgt.
Einzelne Körperstrecken der Würmer tragen deutlich den Charakter
eines jungen Regenerationsgewebes zutage. Kurz und gut: (la-
paredeilla pflanzt sich ungeschlechtlich fort innerhalb der
Zysten.
Diese Tatsache ist von einem großen biologischen Interesse.
Die Eigenschaft der ungeschlechtlichen Fortpflanzung teilt Clapa-
redeilla mit ıhrem nächsten Verwandten Zumbriculus?), doch dürften
beı Claparedeilla, da hier die ungeschlechtliche Fortpflanzung auch
mit jährlich wohl regelmäßig wiederkehrenden Enzystierungen ver-
gesellschaftet erscheint, die Verhältnisse des Fortpflanzungszyklus
stabilerer, bestimmterer Natur sein als bei Zumbriculus. Jedenfalls
wird es nötig sein, den ganzen Entwickelungszyklus der Olaparedeilla
und zwar eventuell auch an verschiedenen Lokalitäten genau zu
verfolgen. Eine diesbezügliche Beobachtung kann aber schon jetzt
mitgeteilt werden. Sämtliche von mir ım Frühjahr gefundenen
und dann ım Laboratorium gehaltenen Würmer waren nicht ge-
schlechtsreif, zeigten keine Spuren der Geschlechtsorgane. Beim
Durchmustern der zahlreichen in den geschnittenen Zysten befind-
lichen Würmer fand ich aber in einigen etwas größeren Exem-
plaren, die auch sonst noch nach dem Aussehen der übrigen Ge-
webe, insbesondere z. B. der Chloragogenzellen sich als schon
normal fertig entwickelte Tiere manifestierten, die Anlagen der
Gonaden. Es dürfte demnach anzunehmen sein, dass die Geschlechts-
periode wohl unmittelbar nach dem Verlassen der Zyste beginnt.
Zum Schluss mögen noch einige Bemerkungen über die Orien-
tierung der Würmer innerhalb der Zyste angeführt werden. Zuerst
sehen wir an den Schnittpräparaten, dass die einzelnen Windungen
der vielfach gekrümmten Tiere stets voneinander durch deutliche
Zwischenräume getrennt sind, dass es nirgends zur direkten Be-
rührung zweier Flächen kommt. Inwiefern hier Schrumpfungs-
erscheinungen bei der Fixation, Entwässerung und Einbettung oder
das eventuelle Vorhandensein einer Schleimschicht auf der Ober-
fläche des Körpers, welche einen direkten Kontakt hindern würde,
mitbeteiligt sind, mag unentschieden bleiben. Wir wollen uns lieber
mit einem weit interessanteren Verhalten der enzystierten Clapa-
rödeilla befassen. Die Würmer sind innerhalb der Zyste in ganz
3) Morgulis hat zwar die Existenz einer ungeschlechtlichen Fortpflanzung
von Lumbriculus bestritten, aber ich habe in einer größeren, zurzeit im Druck be-
findlichen Arbeit (Beiträge zur Naturgeschichte von Lumbrieulus variegatus. Sitz.-
Ber. K. B. Ges. d. Wiss. 1913) u. a. auch dargetan, dass Lumbrieulus sich tatsäch-
lich auf ungeschlechtlichem Wege vermehrt.
in ee ee a nn
Mräzek, Enzystierung bei einem Süßwasseroligochaeten. 669
eigentümlicher charakteristischer Weise orientiert. Diese Orien-
tierung, die sofort ins Auge fällt, wenn man auf einem Schnitt
sich die Lage des Querschnittes des Bauchnervenstranges als Orien-
tierungszeichen genauer ansieht, ist z. B. auf der Fig. 4 m sehr
instruktiver Weise deutlich. Überall ist die Rückenseite der Würmer
gegen die Peripherie der Zyste gekehrt, nicht nur in der äußeren
Schieht, sondern auch in den zentralen Partien der Zyste, überall
erscheinen die Querschnitte des Bauchnervenstranges zentripetal
gerichtet. Von diesem Verhalten gibt es keine Ausnahme. Nirgends
sehen wir ein Bild, wo die Bauchseite direkt zu der Zystenwand
gekehrt wäre. Da wo der Querschnitt des Bauchnervenstranges
Fig. 6. Ein Schnitt derselben Serie wie Fig. 4, die Orientation der Kopfenden
innerhalb der Zyste zeigend.
aus dem Radius der Zyste seitlich verschoben erscheint oder wo
wie hier und da in den inneren Lagen die Orientierung der Würmer-
querschnitte eine entgegengesetzte zu sein scheint, zeigt ein ge-
naueres Verfolgen der Schnittserien, dass die vermeintlichen Aus-
nahmen nur Täuschungen eines Anschnittsbildes sind. Es sind
eben immer nur Stellen, wo der Schnitt eine Biegung trifft. Mit
dieser Orientierung ist aber noch eine weitere gepaart. Die Schwanz-
enden der Würmer scheinen oft an der Peripherie, unterhalb der
Zystenwand zu liegen. Die Kopfenden jedoch sind stets einge-
schlagen in das Innere der Zyste. Dieses Verhalten ist schon auf
der Fig. 4 sichtbar, ich habe jedoch in Fig. 6 einen anderen Schnitt
derselben Serie schematisch dargestellt, wo die Anordnung der
Kopfenden in besonders typischer Weise hervortritt.
566 v. Natzmer, Zur Psychologie der sozialen Instinkte der Ameisen.
Man könnte wohl versucht sein, die soeben beschriebene Orien-
tierung der Würmer innerhalb der Zyste physiologisch zu erklären
als eine Adaptation an die Verhältnisse des Zystenlebens. Womög-
lichst großes Abschließen des Nervensystems von den Eindrücken .
und Einflüssen der Außenwelt. Möglich ist aber, dass der Zu-
sammenhang mit den Funktionen des Nervensystems, wenn ein
solcher schon besteht, ein nur entfernterer ıst, insofern die Funktion
des Nervensystems mit der Architektur des Körpers kausal zu-
sammenhängt. Ich glaube, dass die Anordnung der Würmer inner-
halb der Zyste wohl nur der extreme Fall ihrer normalen Bewegungs-
stellungen ist. Vergleicht man die einzelnen Bilder wie Fig. 4, 5
und 6, so sieht man, dass oft nebeneinander eine Anzahl von Quer-
schnitten der Würmer liegt. Verfolgt man aber die einzelnen
(Juerschnitte auf der Schnittserie, so sieht man, dass die neben-
einanderliegenden Querschnitte einem und demselben Wurm ange-
hören. Das ganze Arrangement ıst dasjenige des sich schlängelnden
Wurmes, wie man ein solches Bild bekommt, wenn man z. B. den
Wurm aus dem Schlamm auf einem vermodernden Blatt herausholt.
Zusammenfassung.
1. Olaparedeilla besitzt die Fähigkeit, Schleimzysten zu bilden
und vermag auf diese Weise dem periodischen Austrocknen ihrer
natürlichen Fundorte zu widerstehen.
2. Die Enzystierung ist mit der ungeschlechtlichen Fortpflanzung
verbunden, indem die Zerfallsteilung innerhalb der Zyste geschieht.
28. September 1913.
Zur Psychologie der sozialen Instinkte der Ameisen.
Von G. v. Natzmer.
Es gilt als eine feststehende Tatsache, dass die Beziehungen
zwischen den Angehörigen der verschiedenen Ameisenkolonien, auch
wenn dieselben der gleichen Art angehören, überaus feindlicher
Natur sind. Gerät nämlich eine Ameise in ein fremdes Nest, so
fallen die Insassen desselben sofort über den Eindringling her, um
ihn zu töten. Von dieser Regel macht nun nach meinen
sowohl in der freien Natur als auch im künstlichen Nest
oft wiederholten Beobachtungen und Experimenten allein
Lasius fuliginosus eine bemerkenswerte Ausnahme! Meine
diesbezüglichen Studien möchte ich deshalb im folgenden mitteilen.
Setzte ich nämlich eine Anzahl Arbeiter von Lasius fuli-
ginosus in eine andere Kolonie derselben Art, so wurden
sie dort fast stets völlig unbehelligt gelassen oder höch-
stens neugierig betastet. Nur in den allerseltensten Fällen
fanden ganz geringe Angriffe statt, die aber immer sehr bald wieder
1
v. Natzmer, Zur Psychologie der sozialen Instinkte der Ameisen. 667
aufgegeben wurden. Noch eingehender konnte ıch diese Unter-
suchungen in künstlichen Nestern ausführen. So wurden Ar-
beiter und Geschlechtstiere von Lasius fuliginosus, dıe ich
in ein solches, das von derselben Art bewohnt war,
brachte, vom ersten Augenblick an als Mitglieder der
Kolonie aufgenommen. Auf diese Weise erzielte ich ohne die
geringste Mühe Mischnester, die sich aus den Angehörigen der ver-
schiedensten Kolonien zusammensetzten. Ebenso wurden auch Larven
aus fremden Kolonien wie die der eigenen aufgezogen. Noch be-
merken will ich, dass die Nester, denen ich die Ameisen entnahm,
nicht einander benachbart waren, sondern dass sie sich zum Teil
in weit voneinander entfernten Gebieten befanden, wodurch die
Möglichkeit eines Zusammenhanges zwischen ıhnen völlig ausge-
schlossen ist. Erwähnen will ich noch, dass Lasius fulrginosus
gegen Angehörige anderer Arten, die ich in seine Nester setzte,
aggressiv vorgeht. Um nun die Frage nach den Ursachen dieser
internationalen Beziehungen zwischen den Lasius fuliginosus-Staaten
beantworten zu können, muss man sich vor allem hüten, diese als
etwas bewusstes anzusehen‘). Vielmehr können diese sich nur
auf rein mechanische Weise allmählich entwickelt haben. So ist
es vielleicht möglich, dass es die Anlage von Zweigniederlassungen, die
sich bei Zasius fuliginosus häufig vorfinden, mit sich gebrachthat, dass
sich die sozialen Instinkte, die sich ursprünglich nur auf die Kolonie
beschränkten, ım Lauf der Zeit auf die ganze Art ausdehnten und dass
auf diese Weise das „Nationalgefühl“ ganz allmählich zu einem
„Artgefühl“ wurde. Doch dürfte diese Erklärung deshalb nicht große
Überzeugungskraft besitzen, weil ja auch viele andere Ameisenarten,
bei deren diese „internationalen Beziehungen“ nicht vorhanden sind,
zur Bildung von Zweigkolonien neigen. Mehr hat vielleicht die
Annahme für sich, dass der eigentümliche penetrante Geruch, der
bekanntlich Zasius fuliginosus eigen ist, einen eigentlichen Nest-
geruch, der nach den Untersuchungen von E. Wasmann, A.Betheu.a.
das einzige Mittel ist, durch das sich die Mitglieder einer Kolonie
erkennen, nicht aufkommen lässt.
Vielleicht werden diese Beobachtungen über die sozialen In-.
stinkte von Lasius fuliginosus noch zum Gegenstand weiterer Unter-
suchungen gemacht.
l) Übrigens versagen die sozialen Instinkte oftmals gerade dort, wo man ihr
Vorhandensein am meisten erwarten sollte. So beobachtete ich im Lauf meiner hier
publizierten Studien mehr als einmal, dass Lasius fuliginosus-Arbeiterinnen, an denen
sich eine andere Ameise festgebissen hatte, nicht die geringste Hilfe von seiten
ihrer Genossinnen zuteil wurde.
565 Rüschkamp, Eine dreifach gemischte natürliche Kolonie.
Eine dreifach gemischte natürliche Kolonie.
(Formica sanguinea-fusca-pratensis.)
Von F. Rüschkamp S. J. (Feldkirch, Vorarlberg).
Im Juni 1911 hatte ich bei Valkenburg (Holl. Limburg) eine
neue Adoptionskolonie rıfa-fusca entdeckt und ım Biol. Centralbl.
1912, N. 4, S. 213—216 beschrieben; es handelte sich dabei, wie
durch genaue Untersuchung sich feststellen hieß, um eine rufa-
Königin, die in einer weisellosen, alten fusca-Kolonie erst vor kurzem
Aufnahme gefunden hatte, also um ein sehr frühes „Stadium 1“ einer
rufa-fusca- Adoptionskolonie.
Im folgenden will ich über eine dreifach gemischte Kolonie
sangwinea-fusca-pratensis berichten, die ich im Sommer 1912 eben-
falls bei Valkenburg fand, und die nach ihrer Vorgeschichte sich
herausstellte als eine Raubkolonie sanguinea-fusca, in welcher nach
Verlust der sangrrinea-Königin eine pratensis-Königin aufgenommen
wurde, also als eine Raub- und Adoptionskolonie.
Natürliche sanguinea-Kolonien, in denen neben fusca oder
sogar anstatt derselben rufa oder pratensis als Hilfsameisen sich
fanden, sind überhaupt selten. Bei einer fünfjährigen, 410 Kolonien
umfassenden Statistik eines sangwinea-Gebietes bei Exaten ın Holland
konnte Wasmann!) nur fünf solcher „anormal gemischter Kolo-
nien“ feststellen.
a) 1 Kolonie, welche nur pratensis als Hilfsameisen hatte (Nr. 66-67).
b) 1 Kolonie, welche pratensis und fusca zugleich als Hilfsameisen
hatte (Nr. 247).
c) 1 Kolonie, welche rufa und fusca zugleich hatte (Nr. 0).
d) 1 Kolonie, welche rufo-pratensis (eine zwischen beiden Rassen
stehende Varietät) und fasca zugleich hatte (Nr. 105).
e) 1 Kolonie, welche pratensis, rufo-pratensis und fusca zugleich
hatte (Nr. 84).
Die unter b genannte Kolonie Nr. 247 sangwinea-pralensis-
fusca, deren Geschichte Wasmann mehrere Jahre hindurch
(1597—-1899) verfolgte, erwies sich als eine Raubkolonie sangeinea-
fusca, ın welcher nach Verlust der sangruinea-Königin eine pratensis-
Königin aufgenommen worden war. Dieser Kolonie scheint die
von mir bei Valkenburg entdeckte dreifach gemischte Kolonie am
ähnlichsten zu sein. Wasmann hat auf die letztere bereits in
einem Vortrage auf der deutschen Naturforscherversammlung zu
Münster 1. W. September 1912?) kurz hingewiesen und meinen Be-
richt über dieselbe im Biol. Centralblatt in Aussicht gestellt.
1) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der
Ameisen (Allgem. Zeitschr. f. Entomologie, Bd. VI u. VII, 1901 u. 1902), 1902,
S. 33—37, 72—77 (S. 12—20 Separat.).
2) Verhandl, II. Teil 1. Hälfte, S. 267.
Rüschkamp, Eine dreifach gemischte natürliche Kolonie. 669
Die Geschichte der von mir entdeckten sanguwinea- fusca-
pratensis-Kolonie ıst folgende. Sie wurde von mir in Begleitung
P. Wasmann’s am 17. April 1911 gefunden auf dem Hügelzug, der
an der Geul entlang von Valkenburg nach Houthem geht. Damals
war sie eine volkreiche sangzuinea-Kolonie mit relatıv zahlreichen
fusca-Sklaven. Das Nest wurde auf Lomechusa von uns untersucht,
ohne es zu zerstören. Damals waren sicher keine pratensis in dem-
selben vorhanden.
Am 2. Maı 1911 entnahm mein Kollege W. Bönner?) der-
selben Kolonie ungefähr 100 Arbeiterinnen von sanguinea und fusca
und eine sanguinea-Königin, um zu Hause ein Beobachtungsnest
damit einzurichten. Die Königin wurde zwar einige Zentimeter
vom Nest entfernt gefangen, gehörte aber sicher zu dieser Kolonie,
da sie in dem Beobachtungsneste von Anfang an als Königin be-
handelt wurde. Pratensis waren auch jetzt noch keine vorhanden.
Am 21. Februar 1912 fing W. Bönner in demselben Neste
abermals eine etwas kleinere sangwinea-Königin, die unter dem
obersten Stein des Nestes mitten unter den sangwinea und fusca
saß. Sie wurde mitgenommen und isoliert gehalten, bis am
25. Februar 20 sanguwinea und 5 fusca zu ihr gesetzt wurden, die
an diesem Tage aus derselben Kolonie geholt worden waren und
die Königin sofort wiedererkannten. Diese im Februar aus der
Kolonie geholte Königin war die einzige in dem natürlichen Nest
noch befindliche gewesen. Beim Ausgraben desselben Ende Februar
war keine mehr zu finden. Die Kolonie war also weisellos ge-
worden.
Am 7. August 1912 besuchte ich das Nest wiederum, um doch
nochmals nach einer sangeinea-Königin zu suchen, die ich zu Be-
obachtungszwecken brauchte. Das Nest wurde diesmal ganz aus-
gegraben. Schon unter dem Sandsteinblock, der das Nest bedeckte,
und wo es sonst bei warmem Wetter von Ameisen wimmelte, fiel
mir die mannigfache Größe und Färbung der rot und schwarzen
Ameisen auf; aber ich achtete nicht weiter darauf, zumal auch
unter den fusca zweierlei Größenstufen vertreten waren, die aus
verschiedenen Sklavenkolonien stammten. Um eine Königin zu
finden, wurde Gang für Gang des Nestes in den aus weißem Sand
bestehenden Wänden bis zu einer Tiefe von 75 em sorgfältig ver-
folgt, bis wir auf den Kreidefelsen stießen. Aber obwohl zahlreiche
Kammern vollgepfropft von Arbeiterinnen beider Färbung waren,
blieb das Suchen lange vergebens. Endlich in der letzten, hühnerei-
großen Kammer unmittelbar über dem Felsen fand sich mitten ın
einem’ Arbeiterklumpen eine Königin. Dieselbe wurde mit einer
3) Dieselbe übersandte mir diese Notizen von Charlottenlund (Dänemark) aus,
wo er jetzt weilt.
670 Rüschkamp, Eine dreifach gemischte natürliche Kolonie.
beträchtlichen Anzahl Arbeiterinnen für ein Beobachtungsnest mit-
genommen. Zum Schluss überzeugte ich mich nochmals davon,
dass auch wirklich das ganze Nest ausgegraben und kein Gang
mehr übrig sei. Die zurückgebliebenen Arbeiterinnen bauten das
Nest zum Teil wieder auf, starben aber bis zum Juni 1913 ent-
weder aus oder wanderten fort; ıch fand vor meiner Abreise nach
Vorarlberg das Nest völlıg verlassen.
Das Aussehen der hier gefangenen Königin hatte mich zwar
schon im ersten Augenblick stutzig gemacht. Aber ım Eifer der
Ausgrabungsarbeit hatte ich darauf nicht weiter geachtet. Erst zu
Hause, als das Fangglas zur Übersiedlung der mitgebrachten Ameisen
an ein Lubbocknest angeschlossen worden war, bemerkte ich an
der dunkleren Färbung des Rückens der Königin, dass es sich um
ein pratensis-Weibchen handelte. Auch ein Teil der mitgebrachten
vermeintlichen sanguinea- Arbeiterinnen erwies sich als pratensss.
Darunter waren zwei große neben anderen nur mittelgroßen Indi-
viduen; die letzteren waren frisch entwickelt, und eins der-
selben hatte noch Reste der Puppenhaut auf dem Rücken kleben.
Die sanguinea waren durchschnittlich mittelgroß, aber auch einige
kleine darunter; es waren sämtlich alte, ausgefärbte Exemplare.
Unter den damals mitgebrachten Ameisen kamen auf 47 sangurnea-
Arbeiterinnen und 41 fusca nur 7 pratensis, die zusammen mit der
Königin der letzten Kammer entnommen waren. P. Wasmann hat
sowohl die Königin als die Arbeiterinnen später näher untersucht,
nachdem sie in Alkohol gesetzt worden waren.
Um die Entstehung dieser dreifach gemischten Kolonie
zu erklären, sind folgende tatsächliche Anhaltspunkte zu berück-
sichtigen:
1. Die Kolonie war ursprünglich eine normal gemischte Raub-
kolonie sanguinea-fusca (April 1911).
2. Durch Wegnahme der beiden sangıuinea-Königinnen im Mai
1911 und Februar 1912 war sie weısellos geworden.
3. Im August 1912 besaß sie als einzige Königin ein be-
fruchtetes pratensis-Weibcehen. Dasselbe muss im Frühling oder
Sommer 1912, jedenfalls nach dem 21. Februar, daselbst adoptiert
worden sein.
4. Auch unter den Arbeiterinnen befanden sich jetzt eine An-
zahl pratensis. Die Kolonie war somit jetzt eine dreifach ge-
mischte natürliche Kolonie sanginea-pratensis-fusca geworden.
5. Die pratensis-Arbeiterinnen waren zum großen Teil frisch
entwickelte Individuen, die samguinea dagegen nur alte. Dadurch
wird bestätigt, dass keine sangerinea-Königin mehr im Neste war.
Leider wurde beim Ausgraben des Nestes auf den Brutbestand der
Kolonie nicht weiter geachtet. In dem samt der Königin mitge-
brachten Ameisenklumpen befanden sich keine Eierpakete.
Rüschkamp, Eine dreifach gemischte natürliche Kolonie. 671
6. Auffallend ıst die relative bedeutende Körpergröße der mit-
gebrachten pratensis- Arbeiterinnen, unter denen auch einige große
(S mm) neben mittelgroßen, aber keine kleine sich befanden. Die
erste Arbeitergeneration, die aus den Eiern einer jungen Königin
stammt, ist nämlich auch bei pratensis gewöhnlich nur klein bis
mittelgroß. (Dies hatte P. Wasmann auch bei der obenerwähnten
sanguinea-pratensis-fusca-Kolonie Nr. 247 bei Exaten nach Aufnahme
der pratensis-Königin in dieselbe bestätigt gefunden.)
Schlussfolgerung. Dass dıe von mir bei Valkenburg ent-
deckte dreifach gemischte Kolonie eine Raub- und Adoptionskolonie
darstellt, insofern ın der ehemaligen sangwinea-fusca-Kolonie eine
pratensis-Königıin nach Verlust der sangwinea-Königinnen adoptiert
worden war, ist somit sicher.
Dagegen ist die relativ bedeutende Körpergröße der pratensis-
Arbeiterinnen ın dieser Kolonie keineswegs eindeutig. Es sind
hier folgende Möglichkeiten zu erwägen.
a) Die aufgenommene pratensis-Königin war keine junge, vom
Paarungsfluge desselben Frühjahrs stammende, sondern eine bereits
ältere, die vielleicht aus einer durch die Händler mit Ameisen-
eiern geplünderten, benachbarten pratensis-Kolonie versprengt und
in der sangwinea-fusca-Kolonie adoptiert worden war. Dadurch
würde sich die bedeutende Größe der pratensis-Arbeiterinnen direkt
erklären lassen.
b) Oder es war zwar eine junge Königin, aber die günstigen
Erziehungsverhältnisse ihrer Larven in der noch ziemlich volkreichen
sanguinea-fusca-Kolonie gestatteten eine reichliche Larvenernährung.
Denn der Hauptgrund für die Kleinheit der ersten Arbeitergeneration
in den jungen pratensis- und rufa-Kolonien liegt in der kümmer-
lichen Larvenernährung bei beschleunigter Erziehung derselben.
Obwohl die Königinnen von rufa und pratensis ıhre neuen Kolo-
nien*) als Adoptionskolonien mit Hilfe von Arbeiterinnen von fuse«
(bezw. rufibarbis) gründen und somit ihre erste Arbeiterschaft nicht
selber erziehen, so bleibt jener Grund doch auch ın den schwach
bevölkerten jungen Adoptionskolonien bestehen.
c) Oder die pratensis-Arbeiterinnen in der dreifach gemischten
Kolonie stammten überhaupt noch nicht aus den Eiern der erst
vor kurzem adoptierten, Jungen pratensis-Königin, sondern waren
durch Puppenraub der sangrrinea aus einem benachbarten schwachen
pratensis-Nest dorthin gelangt. Dadurch würde die Körpergröße
jener pratensis- Arbeiterinnen und ihr frischer Entwickelungszustand
sich leicht erklären; ebenso auch die Abwesenheit von Eierpaketen
in dem die Königin umgebenden Ameisenklumpen.
4) Ich sage „neue Kolonien“ im Gegensatz zu der bei ihnen sehr häufigen
Zweigkolonienbildung von einem Mutterneste aus.
672 Wasmann, Nachschrift. Uber pratensis als Sklaven von sanguinea.
d) Oder nur die etwas älteren, bereits ausgefärbten, großen
pratensis-Individuen stammten aus einem vor mehreren Wochen
erfolgten Puppenraub, während die jüngeren, nur mittelgroßen, ganz
frisch entwickelten bereits aus den von der adoptierten Königin in
dieser Kolonie gelegten Eiern sich entwickelt hatten. Dagegen
spricht allerdings der Umstand, dass weder Larven noch Eierpakete
ın dem aus der Kolonie mitgebrachten Nestmaterial sich fanden.
Es ist somit wahrscheinlicher, dass die Eiablage der jungen, neu
aufgenommenen pratensis-Königin noch gar nicht begonnen hatte.
P. Wasmann, der mir diese Erklärungsmöglichkeiten angab,
neigt selber zur dritten (c), da er sie nach seinen Erfahrungen
über mehrere mit pratensis gemischte sangwinea-Kolonien bei
Exaten für die wahrscheinlichste hält. Er wird Näheres darüber
in einer eigenen Nachschrift anführen. Ich dagegen möchte den
zweiten, unter b genannten Lösungsversuch vorziehen, weil das
die Reste der Puppenhaut tragende Exemplar sich an Größe von
den zwei größten pratensis nicht viel unterscheidet und somit auch
diese beiden als frischentwickelte Individuen angesehen werden
können. Demnach wären die sämtlichen, sowohl die mittelgroßen
als großen pratensis- Arbeiterinnen Nachkommen einer in der weisel-
losen Raubkolonie sangwinea-fusca adoptierten pratensis-Königin?°).
Nachschrift. Über pratensis als Sklaven von sanguinea.
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg).
Unsere Kenntnis der anormal gemischten natürlichen Kolonien
von Formica sanguinea ıst durch obige interessante Entdeckung
Rüschkamp’s um einen neuen Baustein bereichert worden. Unter den
oben (S. 668) zitierten, von mir bei Exaten beobachteten fünf Fällen
anormal gemischter sanguinea-Kolonien gleicht dieser Fall am meisten
der Kolonie Nr. 247, deren Schicksale ich 1902!) in der „Allgem.
Zeitschr. f. Entomologie“ eingehend beschrieben habe. Auch hier
wurde ın einer Raubkolonie sangwinea-fusca ein befruchtetes pra-
tensis-Weibehen aufgenommen, wodurch eine dreifach gemischte
Raub- und Adoptionskolonie sunguinea-fusca-pratensis entstand. Die
5) Der frische Entwickelungszustand jener pratensis-Arbeiterinnen lässt sich
ebensogut durch die Annahme erklären, dass dieselben aus einem erst kürzlich er-
folgten Puppenraub stammten. Die Größe der Arbeiterinnen und die Abwesenheit
von Eierklumpen bei der Königin stimmen jedenfalls besser zu der dritten Er-
klärungsmösglichkeit als zu der zweiten. Der Puppenraub von pratensis durch die
sanguinea erfolgte wahrscheinlich erst nach der Adoption der pratensis-Königin
und war vielleicht gerade durch letzteren Umstand psychologisch veranlasst. (An-
merkung von E. Wasmann.)
1) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien, S. 12—20
(Separ.)
a m. u ee u u LU _
Wasmann, Nachschrift. Uber pratensis als Sklaven von sanguwinea. 6753
weiteren Schicksale der Rüschkamp’schen Kolonie würden sich
ebenfalls ähnlich gestaltet haben, wenn man sie hätte weiter ver-
folgen können. Gleich der Kolonie Nr. 247 würde sie in ein oder
zwei Jahren durch Aussterben oder Auswandern der letzten sangwinea-
fusca zu einer reinen pratensis-Kolonie geworden sein.
Was die Valkenburger Kolonie jedoch von der Exatener Kolonie
Nr. 247 unterscheidet und Erklärungsschwierigkeiten bietet, ist das
Vorhandensein von relativ großen statt kleinen pratensis-Arbeiter-
innen in der gemischten Kolonie zu einem Zeitpunkt, der auf die
Adoption der pratensis-Königin nahe folgte Wenn ıch es für das
wahrscheinlichste halte, dass diese Arbeiterinnen nicht aus den Eiern
der neuen Königin stammten, sondern als Kokons durch Puppen-
raub in das sanguinea-Nest gelangten, so sind meine Gründe dafür
folgende.
Unter den fünf in meiner Statistik des sangrinea-Gebietes bei
Exaten beobachteten anormal gemischten Kolonien finden sich außer
der Kolonie Nr. 247 noch drei andere (Nr. 66—67, 84 und 105),
welche pratensis als Hilfsameisen hatten (siehe oben S. 668). In
der Nähe dieser sanguinea-Kolonien lagen schwach bevölkerte Nester
von pratensis bezw. von var. rufo-pralensis; aus diesen müssen die
sanguinea sich durch Sklavenraub pratensis-Arbeiterinnen ver-
schafft haben. Dies geht aus den folgenden, noch unveröffent-
lichten Notizen über jene Kolonien hervor, die ich meinen steno-
graphischen Tagebüchern entnehme.
Kol. Nr. 66—67. — Sie wurde am 20. Mai 1895 entdeckt
und bis ın den September 1898 beobachtet. (Im Winter 1898 —99
wurde sie durch Umgraben des Heidelandes zerstört.) Sie bewohnte
abwechselnd oder gleichzeitig drei, ein Dreieck bildende Nester,
die mehrere Meter voneinander entfernt waren. Bei 30 Besuchen
während vier Jahren sah ich niemals auch nur eine fasca als Hilfs-
ameise in denselben, sondern nur sangwinea und pratensis?). Als
ich die Kolonie entdeckte, war sie bereits mittelstark (ca. 1000 Ar-
beiterinnen) und enthielt in dem einen der beiden kleinen Nest-
haufen etwa 10%, pratensis, ım andern gegen 40%; es waren mittel-
große bis große Individuen. Aus dieser großen pratensis-Zahl ist
zu schließen, dass die Kolonie’ damals noch eine Adoptionskolonie
war, entstanden durch die Aufnahme eines sanguinea-W eibchens ın
einer weisellosen pratensis-Kolonie. Hieraus erkläre ich mir die
Sitte dieser sangeainea, auch künftig pratensis als Sklaven zu rauben,
weil die ersten Arbeiterinnen durch pratensis erzogen worden waren
(vgl. Biol. Centralbl. 1905, S. 125 und 281; 1909, S. 600). Eine
2) Es sei hier darauf aufmerksam gemacht, dass bereits Forel in der Schweiz
(Etud. myrmecol. en 1875, p. 57) eine natürliche sanguwinea-rufa-Kolonie und später
(Et myrm. en 1886, p. 139) eine natürliche sanguwinea-pratensis-Kolonie, beide
ohne fusca, fand.
574 Wasmann, Nachschrift. Über pratensis als Sklaven von sanguinea.
pratensis-Königin war sicherlich nicht in derselben; denn die ge-
flügelten Geschlechter gehörten stets nur sanguinea, niemals pra-
tensis an. Da die Zahl der sangeunea-Arbeiterinnen in dieser Kolonie
1895 rasch wuchs, sank die relative Zahl der pratensis in den folgen-
den Jahren auf durchschnittlich 10%, immerhin eine verhältnismäßig
hohe Hilfsameisenzahl für eine über mittelstarke sangwinea-Kolonie.
Die Kolonie war bei ihrer Entdeckung schon wenigstens zwei oder
drei Jahre alt. Da aber das individuelle Alter der Formica-Arbeiter-
innen nach meinen Versuchen in Beobachtungsnestern und in freier
Natur (Biol. ( Centralbl. 1905, S. 210ff.) drei Jahre nicht übersteigt,
müssen in obiger Kolonie neue Hilfsameisen aus einem pratensis-
Neste er aubt worden sein; sonst ist ihre konstante Mischung
mit pratensis bis Herbst 1898 nicht zu erklären. Einmal sah ich
auch (im August 1898) frisch entwickelte pratensis in einem der
Nester dieser sangueinea-Kolonie. Wenn zwei oder drei der zu ihr
gehörigen Nester gleichzeitig bewohnt waren, war in einem der-
selben die Zahl der pratensis meist viel größer als im andern; dem-
entsprechend war dann auch die Bauart der Nester eine verschie-
dene, dem groben Kuppelbau von pratens’s oder dem feinen von
sanguinea sich nähernd. Beim nächsten Besuche hatte manchmal
schon wıeder die Artverteilung der Bewohner in den Nestern und
deren Bauart gewechselt. Dass diese Kolonie eine wirkliche Raub-
kolonie sanguinea-pratensis war, halte ich für sicher.
Kol. Nr. 84. — Eine ziemlich volkreiche sangawinea-Kolonie,
die ich schon seit mehreren Jahren kannte, aber erst am 26. Mai
1895 notierte und näher untersuchte. Sie hatte damals außer etwa
3% fusca noch 3%, pratensis-Sklaven von zwei deutlich verschie-
denen Färbungen, einer dunklen, fast schwarzen Rasse und einer
helleren, rwfa-ähnlichen (var. rufo-pratensis), war also vierfach
gemischt. Dieses Verhältnis blieb bestehen bis zum September,
wo sie auswanderte und später nicht wieder gefunden wurde. Auch
hier müssen die pratensis durch Sklavenraub in die sanguinea-
Kolonie gelangt sein, da sie nur in geringer Zahl vertreten waren
und zweierlei Varietäten angehörten.
Kol. Nr. 105. — Eine starke sangwinea-Kolonie an einem
Waldrand, am 27. Mai 1896 notiert und bis zum 27. August 1898
beobachtet. (Im folgenden Winter wurde sie durch Umeriben der
Heide zerstört.) Während des Jahres 1896 und im Frühling 1897
hatte sie nur fusca als Sklaven. Am 12. Juni 1897 traf ich in ihr
außer etwa 3%, fusca noch 2%, rufo-pratensis (helle Varietät); am
8. Juli noch etwas mehr von beiden Sklavenarten (je ca. 5%).
Eine Königin von refo-pratensis war sicher nicht ım Neste; denn
die geflügelten Weibchen, die ich hier fand, waren nur sanguinea
und die Prozentzahl der pratensis-Arbeiterinnen blieb auch 1898
noch fast dieselbe wie jene der fusca. Wäre eine rufo-pratensis-
Molisch, Mikrochemie der Pflanze. 675
Königin 1897 adoptiert worden, so hätte die Zahl ihrer Arbeiterinnen
im folgenden Jahre bedeutend steigen müssen, wie es in Kol. 247
tatsächlich der Fall war. Kol. 105 zeigt überdies, dass auch eine
ursprünglich mit fusca gegründete sanguinea-Kolonie später zum
pratensis-Raub übergehen kann, wenn schwache Kolonien dieser
Art in ihrer Nähe liegen.
Diese Beispiele zeigen zur Genüge, wie mannıgfach verschiedene
Verhältnisse bei den dreifach gemischten Kolonien sangwinea-pra-
tensis-fusca vorliegen können. Nur durch längere Beobachtung wird
es gelingen, ihre jeweilige Entstehungsgeschichte klarzustellen, wo-
beı man sich vor jeder vorgefassten Schablone zu hüten hat.
Zum Schluss noch eine Bemerkung über die abhängige Kolonie-
gründung von Formica rufa. Obwohl ich mit Wheeler, Brun,
Reichensperger, Rüschkamp und Kutter der Ansicht bin,
dass eine weisellose fusca-Kolonie — ebenso wie bei der Kolonie-
gründung von F. truncicola mit fusca — die günstigsten Be-
dingungen für die Adoption eines rufa-Weibchens ın der Hilfs-
ameisenkolonie bietet, so liegt doch auch die bereits tatsächlich
bestätigte Möglichkeit vor, dass eine rufa-Königin, die nach dem
Paarungsfluge ın ein fusca-Nest eindringt, das noch eine eigene
Königin hat, diese während ihrer Adoption durch die fesca-Arbeiter-
innen gewaltsam beseitigt. Einen in freier Natur eingeleiteten
und im Beobachtungsnest fortgesetzten Vorgang dieser Art habe
ich im Biol. Centralbl. 1905°), S. 663 u. 683ff. als Augenzeuge be-
richten können. R. Brun hat diese Beobachtung wohl nicht mehr
ın Erinnerung gehabt, als er kürzlich das zu allgemeine Urteil aus-
sprach): „Jedenfalls kann man bei rufa den von Santschi-Forel
an Wheeleriella und Bothriomyrmex, von Emery an Polyergus be-
obachteten Modus, wonach das eindringende Parasitenweibchen die
Königin der Hilfsameisenart tötet und sich an ihrer Stelle adop-
tieren lässt, ziemlich sicher ausschließen.“
Hans Molisch. Mikrochemie der Pflanze.
X und 395 S. 116 Abbildungen im Text. Gustav Fischer. Jena 1913.
Wie stark das Bedürfnis der biologischen Wissenschaften nach
einer zusammenfassenden und kritischen Darstellung der mikro-
chemischen Methoden und der mit ihrer Hilfe gewonnenen Unter-
suchungsergebnisse geworden ist, lässt sich aus der wachsenden
Zahl der ın den letzten Jahren zur Veröffentlichung gelangten,
3) Über den Ursprung des sozialen Parasitismus, der Sklaverei und der Myr-
mekophilie bei den Ameisen.
4) Zur Biologie von Formica rufa und Camponotus herculeanens i. sp. (Zeitschr.
f. wissensch. Insektenbiol. 1913. Heft 1, S. 16).
676 Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksichtigung des Menschen.
diesem Gegenstand gewidmeten Publikationen ersehen. Es er-
schienen, um nur die auffälligsten zu nennen, die wertvollen, ein-
schlägigen Werke Czapek’s, Wehmer’s, Euler’s, Emich’s,
Grafe’s und Tunmann'’s, denen sich nunmehr die „Mikrochemie
der Pflanze“ von Hans Molisch anreiht. Es ıst dankbar zu be-
grüßen, dass ein Mann wie Molisch sich zu einer solch mühe-
vollen Arbeit entschloss, der ja, durch so manche eigene sowie
unter seiner Leitung durchgeführte, mikrochemische Fragen be-
handelnde Arbeiten auf das günstigste vorbereitet, dazu besonders
bestimmt war. Wie sehr ihm die Lösung der Aufgabe gelungen ist,
die er sich in seinem Buche gestellt hat, nämlich die Mikrochemie
der Pflanze in weiterem Umfange auf der Basis der heutigen
Erfahrungen zu behandeln, wobei das Vorhandene kritisch zu
prüfen und über den Wert und die Brauchbarkeit der Reaktionen
jedesmal durch eigene Anschauung ein Urteil zu bilden war, zeigt
deutlich der Inhalt des Werkes an. Dieser gliedert sich in einen
allgemeinen und einen speziellen Teil. Im ersten findet sich neben
den einleitenden Abschnitten über Licht- und Schattenseiten der
Mikrochemie, ferner über die Ergebnisse der Mikrochemie in ihrer
Bedeutung für die Anatomie, Physiologie und Systematik der Pflanze
die mikrochemische Methodik sehr anschaulich dargestellt. Im spe-
zıiellen Teil, der sich in einen anorganischen und einen organischen
gliedert und dem noch ein solcher über die Zellhaut und weiter
über Einschlüsse des Kerns, Plasmas und Zellsafts angefügt ist,
werden die einzelnen Stoffe in übersichtlicher Zusammenstellung
der Reihe nach behandelt, und zwar jedesmal über ıhr Vorkommen
und die besten Möglichkeiten ihres Nachweises berichtet. Jedem
Abschnitt ist ein reichhaltiges Literaturverzeichnis beigegeben. Eine
Anzahl trefflicher Originalfiguren machen das Buch besonders wert-
voll. So wird das Buch für jeden, der sich mit der pflanzlichen
Mikrochemie beschäftigt, sei es, dass er sich in die zugehörige Me-
thodik einarbeiten, seı es, dass er sich über das Vorkommen und
die einwandfreisten Nachweismittel der verschiedenen in den Pflanzen
sich findenden Stoffe orientieren will, ein zuverlässiger Wegweiser
sein, zudem zur Weiterarbeit manche Anregung geben.
Max Koernicke, Bonn.
L. Plate. Vererbungslehre mit besonderer
Berücksichtigung des Menschen.
Für Studierende, Ärzte und Züchter.
Handbücher der Abstammungslehre herausgegeben von Prof. L. Plate. Jena.
II. Band. 519 S. 179 Figuren und Stammbäume im Text und 3 farbige Taf.
Leipzig 1913. Wilhelm Engelmann. Preis: Mk, 18.—, geb. Mk. 19.—.
Zu den im Jahre 1911 ın Deutschland herausgegebenen drei
Lehrbüchern der Vererbungswissenschaft von Baur, Haecker
(2. Auflage 1912) und Goldschmidt erschien im Winter 1913
ein viertes von Plate. Die drei gleichzeitig veröffentlichten Arbeiten
Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksichtigung des Menschen. 6577
komplettierten einander vorzüglich, indem Baur hauptsächlich den
Mendelismus behandelte, den er vorwiegend durch Beispiele aus
der Pflanzenwelt illustrierte, Haecker wiederum sein Werk in
erster Linie dem zytologischen Zweige der Vererbungslehre mit be-
sonderer Berücksichtigung der Tierwelt widmete, während schließlich
Goldschmidt sein Interesse vor allem der von den zwei eben
genannten Forschern kaum oder nur beiläufig berücksichtigten
Variationsstatistik zuwandte.
Ein gemeinsamer Zug der drei Werke ist, dass sie die Ver-
erbung bei dem Menschen nur vorübergehend streifen, und es scheint
Ref. deshalb ein glücklicher Gedanke von Plate gewesen zu sein,
gerade diesen wichtigen, bis jetzt noch wenig behandelten jüngsten
Zweig der Vererbungslehre, einschließlich der Eugenik oder Rassen-
hygiene, zu einem wesentlichen Abschnitt (ca. 100 Seiten) seines
Werkes gemacht zu haben. Hierdurch verteidigen alle vier deutschen
Vererbungslehren ıhr Dasein, indem sie das bald unübersehbare
Material unter verschiedenem Gesichtswinkel betrachten.
Es ist selbstverständlich nicht möglich, eine so umfassende
und inhaltsreiche Arbeit, wie die vorliegende, eingehender zu
referieren, weshalb ich mich hier auf einige Worte über die Auf-
stellung der Arbeit und die Behandlungsweise des Themas beschränken
muss und zum Schluss Plate’s Auffassung ın einigen besonders
wichtigen und umstrittenen Fragen erwähnen werde.
Im 1. Abschnitt werden zunächst die allgemeinen Tatsachen
über Erblichkeit, Nichterblichkeit, Variabilität und Selektion be-
handelt. In den drei folgenden Kapiteln wird der Mendelismus
sehr eingehend besprochen, worauf das 5. Kapitel der Vererbung
des Geschlechts und den geschlechtsabhängigen Merkmalen gewidmet
wird. In dem 6. Abschnitt bringt Verfassser, wie gesagt, eine aus-
führliche Zusammenstellung unsere jetzigen Kenntnisse von der
Vererbung beim Menschen. Hiernach folgen Erörterungen theore-
tischer Art, die verschiedene Probleme der Vererbungslehre be-
handeln, wie z. B. die Natur der angenommenen Vererbungsträger
oder Gene, das Verhalten vom Mendelismus zur Abstammungslehre
und zur Mutationstheorie. Sodann berührt Plate die zytologischen
Forschungen, welche die Mendel’schen Spaltungsgesetze in zyto-
morphologischer Hinsicht begründen, und zum Schluss folgen noch
einige Worte über die praktische Bedeutung der modernen
Genetik.
Bei der Behandlung des Stoffes hat Plate den Wunsch gehegt,
nicht nur ein Buch zu schreiben, das bloß die Hauptzüge der Ver-
erbungslehre bringt, die Schwierigkeiten und Streitfragen dagegen
bei Seite lässt, sondern ein Werk zu schaffen, das mit einer ele-
mentaren Darstellungsweise eine gewisse Vollständigkeit und Kritik
vereint. Die Aufgabe ist keine leichte gewesen, möge es aber gleich
gesagt sein, daß Verf. sie dennoch sehr glücklich gelöst hat. Die
Einteilung der Kapitel in Paragraphen und diese in Momente macht
es dem Anfänger leicht, sich zu orientieren, und der vorgeschrittene
Forscher findet mühelos eine Zusammenstellung der wichtigsten be-
XXXII. HH
678 Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksichtigung des Menschen.
kannten Fälle irgendeiner Form der Vererbung. Selbstverständlich
wird die Lektüre durch die immer wiederkehrende Kategorisierung
und die pädagogische Behandlungsweise des Stoffes weniger genuss-
reich. Plate ist sich aber dessen offenbar bewusst gewesen, hat
es jedoch für wichtiger gehalten, der Arbeit den Charakter eines
Handbuches der Vererbungswissenschaft zu verleihen.
Eine der ersten brennenden Fragen in der Genetik, die von
Plate diskutiert wird, ıst der Begriff der Vererbung. Plate lehnt
entschieden die von Baur u. a. gegebene Definition ab, nach welcher
ein Merkmal als solches oder seine Anlagen nicht vererbt werden,
sondern nur die Fähigkeit, unter denselben äußeren Bedingungen
ähnlich wie die Eltern zu reagieren. Plate gesteht zwar, dass der
an und für sich richtige Gedanke, dass auch die erblichen Eigen-
schaften von der Außenwelt nıcht unabhängig sind, in der Definitton
zum Ausdruck kommt, meint aber, dass wenn wir an dieser Auf-
fassung festhalten, wir alle Merkmale als erblich ansehen müssen.
Er möchte deshalb die Weismann’sche Anschauung aufrecht er-
halten, welche eine scharfe Grenze zwischen den von der Außenwelt
relativ unabhängigen erblichen Merkmalen oder Variationen und den
überwiegend von dem Milieu erzeugten Eigenschaften oder den
Somationen zieht. Die von Plate vertretene Ansicht wird sich
wohl in den meisten Fällen als richtig erweisen und hat vor allem
einen praktischen Wert, aber allgemeine Gültigkeit kann sie trotz-
dem nicht beanspruchen. Es gibt nämlich besonders ım Pflanzen-
reich Eigenschaften, die zweifellos durch Erbeinheiten bestimmt,
aber trotzdem von den Milieueinflüssen so verändert werden, dass
sie nicht mehr erkennbar sind. Ein solches Beispiel sind die be-
kannten von Johannsen gezüchteten reinen Linien von Bohnen.
Die Bohnengröße ıst ein erbliches Merkmal; sie wird jedoch so
leicht durch verschiedene äußere Bedingungen beeinflusst, dass man
die besonderen Rassen nur durch Beurteilung ihrer Nachkommen-
schaft sicher erkennen- kann. In einem solchen Fall kommt man
also tatsächlich nicht ohne die Definition von Baur aus.
Das Prinzip, nach dem die Erbeinheiten benannt werden sollen,
wird von Plate erörtert, und er betont, wie wichtig es ıst, dass
die Buchstaben so gewählt werden, dass sie, wenn möglich, irgend-
eine Beziehung zu der Eigenschaft haben, die das von ıhnen be-
zeichnete Gen hervorruft, z. B. B (black), © (colour). Vor allem
wiederholt Plate seinen schon früher gemachten Vorschlag, dass
man auch in der (Genetik das Prioritätsgesetz gelten lassen sollte
und nicht fortwährend die schon eingebürgerten Buchstaben ver-
ändern, denn sonst wird die schon jetzt bemerkbare Verwirrung
mit jedem Jahr größer. Es wäre zu hoffen, dass dieser gut be-
gründete Vorschlag unter den Genetikern allgemeinen Anschluss
fänden.
Unter den Kapiteln, die den Mendelismus behandeln, fällt be-
sonders das dritte über die dihybriden Kreuzungen auf. Plate hat
hier eine sehr verdienstvolle und klare Zusammenstellung einer
großen Anzahl verschiedener Fälle ausgearbeitet, die sicher das Ver-
Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksichtigung des Menschen. 679
ständnis für die oft sehr verwickelten Spaltungen erheblich erleichtern
wird. Der Mendelismus wird sodann durch Beispiele in erster Linie
aus der Säugetierklasse erläutert, unter denen die von Plate selbst
gekreuzten Hausmausrassen am eingehendsten besprochen werden.
Selbstverständlich finden auch andere Tierklassen und auch ver-
schiedene Pflanzen wie z. B. die Löwenmaulrassen von Baur Er-
wähnung.
Die Homomerie -— mit welchem Ausdruck Plate die Erscheinung
bezeichnet, dass ein Außenmerkmal durch die Wirkung zweier oder
mehrerer selbständiger gleichsinniger Faktoren hervorgerufen wird
(Polymerie nach Lang) —, findet eine sehr eingehende Erörterung,
und Plate kommt zu dem Resultat, dass alle bisher beschriebenen
Fälle von konstant-intermediärer Vererbung (OÖhrenlänge der Ka-
ninchen, Mulattenfarbe) durch die Annahme einer gegenwärtigen
Homomerie eine völlig befriedigende Erklärung erhalten. Plate
zweifelt überhaupt an dem Vorkommen einer intermediären Ver-
erbung zwischen nahe verwandten Formen, deren Gameten also
immer spalten sollten. Dagegen scheint es Plate nicht unmöglıch,
dass es konstant-intermediär vererbende Artbastarde gıbt, obgleich
sie ın der Regel steril oder sehr wenig fruchtbar und aus diesem
Grunde einer Untersuchung nicht zugänglich sind.
In bezug auf die Erklärung der Entstehung der intermediären
Bastarde will Plate die von ıhm früher verteidigte Hypothese von
einer Verschmelzung der Gene nicht mehr aufrecht erhalten, son-
dern meint ganz ım Gegenteil, dass die Gene ihre Selbständigkeit
bewahren. Die Richtigkeit dieser ın jeder Hinsicht weit besser be-
gründeten Auffassung ıst inzwischen durch Untersuchungen der
Keimzellen von Schmetterlingsbastarden wenigstens für diese Gruppe
bewiesen.
In dem Abschnitt über die Vererbung beim Menschen wird
zuerst die graphische Darstellungs- und Registrierungsweise in der
Familienforschung durch Beispiele erläutert. Sodann behandelt
Plate die normalen Merkmale, die den Mendel’schen Regeln folgen.
Es sind Haarform und -farbe, Irisfarbe, Hautfarbe einschließlich
des Albinismus, Lebensdauer, Alkaptonurie, der Habsburger Familien-
typus und der jüdische Gesichtstypus. Hiernach bringt Plate
einige Leitsätze zur Beurteilung von erblichen Missbildungen und
Krankheiten und erklärt, wie die Anlagen sich vererben, je nach-
dem, ob sıe dominant, rezessiv oder vom Geschlecht abhängig sind.
Zuerst werden die dominanten Anomalıen behandelt, unter denen
die Brachydaktylie die am besten bekannte ist und allgemein als
Paradebeispiel Erwähnung findet. Bei den übrigen: Phalangenver-
wachsung, Polydaktylie, Spaltfuß, Haararmut, Hypospadie, Lippen-
und Kieferspalte sowie Zwergwuchs durch Achondroplasie liegen die
Verhältnisse nicht ganz so klar, sondern Ausnahmen kommen noch
vor, die wohl durch Heranziehung eines größeren Materials in der
Zukunft ihre Erklärung finden werden. Unter den dominanten
Krankheiten werden weiter verschiedene solche der Haut aufgezählt.
Hierher gehören auch solche Störungen des Stoffwechsels, wie
44:
680 Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksichtigung des Menschen.
Diabetes insipidus und mellitus, Zystindiathese und erbliche Gelb-
sucht. Auch einige Nerven- und mehrere Augenkrankheiten scheinen
dem dominanten Typus anzugehören, wie Star, Glaucoma, Retinitis
pigmentosa (auch rezessiv), Anıridie, Hemeralopie, Nystagmus u.a
Unter den rezessiven Anomalien sind die angeborene Hüftgelenk-
verrenkung und der echte Zwergwuchs die wichtigsten. Als ver-
mutlich rezessiv werden noch folgende Krankheiten angeführt:
hereditäre Taubheit, Epilepsie und Schwachsinn, Xeroderma pig-
mentosum und Friedreichsche Ataxie. Das größte Interesse bean-
spruchen die geschlechtsabhängigen Krankheiten, unter denen die
Farbenblindheit und Hämophilie die bekanntesten und gründlichst
untersuchten sınd. Es kommen aber eine große Anzahl anderer
Krankheiten vor, die dem gynephoren Vererbungstypus angehören,
d.h. durch äußerlich gesunde Mütter auf die Söhne übertragen
werden. Es würde zu weit führen, die verschiedenen interessanten
Erklärungsversuche dieser eigenartigen Form der Vererbung hier
näher zu erörtern. Es wird aber immer wahrscheinlicher, dass
dieselbe mit den Geschlechtschromosomen ın Verbindung steht.
Das größte Interesse in Plate’s Werk knüpft sich zweifellos
an seine Grundfaktor-Supplement-Hypothese, die er hier eingehend
begründet. Er hat schon längst seine Zweifel über die Richtigkeit
der Presence-Absence- Hypothese gehabt und diese auch ausgesprochen.
Er muss zwar zugeben, dass dieselbe für die Genetik von außer-
ordentlich großer Bedeutung gewesen ist und durch die einfache
und klare Bezeichnungsweise mächtig zu ihrer Entwicklung bei-
getragen hat, aber sie hat dennoch nicht den Nagel auf dem Kopf
getroffen, und deshalb sah sich Plate veranlasst, seine Grund-
faktor-Supplement-Hypothese aufzustellen. Verschiedene Verhält-
nisse zwingen uns nämlich anzunehmen, dass der rezessive Zustand
nieht nur etwas negatives darstellt im G egensatz zu dem positiven domı-
nanten Zustand, wie die Presence- Absence- Hypothese lehrt, sondern
dass beide durch bestimmte Stoffe hervorgerufen werden. So er-
klärt sich der häufig vorkommende Valenzwechsel, womit Plate
den Übergang vom dominanten zum rezessiven Zustand und vice
versa versteht, viel leichter unter Voraussetzung solcher Stoffteilchen
auch für die rezessiven Typen. Zu dieser Annahme zwingt uns
geradezu das Verhalten der sekundären Geschlechtsmerkmale beider
Geschlechter, wenn wir die Bestimmung der Sexualität mit Hilfe
der Faktorenhypothese erklären wollen. Beide Geschlechter ent-
halten nämlich die Anlagen des anderen in latentem oder rezessivem
Zustande und unter gewissen Umständen können diese aktiv werden.
Plate setzt deshalb voraus, „dass der rezessive Zustand der ur-
sprüngliche ist und auf einen „Grundfaktor“ beruht und dass durch
Hinzutritteines,Supplements“ von vermutlich enzymartigem Charakter
das höhere dominante Merkmal ausgelöst wird.“ Da Enzyme in
inaktiver Form auf!reten können und dann wirkungslos sind, so
kann man sich vorstellen, dass das Supplement als indifferenter
Körper den Grundfaktor begleiten kann und plötzlich aktiv wird,
d.h. den dominanten Zustand hervorruft.
Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksichtigung des Menschen. 681
Plate’s Hypothese scheint Ref. ein Fortschritt zu sein, ob-
gleich sie sich eigentlich nicht erheblich von der Presence-Absence-
Hypothese unterscheidet. Dagegen kann Ref. die Kritik über diese
in allen Punkten nicht billigen. So dürfte wohl die Behauptung
(S. 400), dass sie das Vorkommen erbungleicher Teilungen fordert,
kaum zutreffend sein. Plate meint nämlich, dass wenn Faktor A
zu 2 A heranwächst, so ginge die Zelle vom herterozygotischen in
den homozygotischen Zustand über. Hierbei berücksichtigt Plate
jedoch nicht, dass gleichzeitig auch alle die übrigen Gene verdoppelt
werden, wodurch das gegenseitige Verhalten zugleich des Faktors A
zu der S Summe der übrigen Gene also forknahren ganz dasselbe
bleibt. Denselben Vorwurf könnte man übrigens auch der Grund-
faktor-Supplement-Hypothese machen. Sie wäre aber hier ebenso
unberechtigt. Auch der Versuch (S. 249), zu beweisen, dass es nach
der Presence-Absence-Hypothese gleichgültig ıst, ob man das Abrawas
grossulariata 9 DDWm oder DRWm chen kommt Ref. nicht
überzeugend vor, obgleich man andererseits auch zugeben muss,
dass die Annahme, alle in der Natur vorkommenden 99 seien ee:
zygotisch, auch nicht zusprechend ist. Hier hilft man sich wohl am
besten aus, wenn man den @rossulariata-Faktor ın das X-Chromosom
verlegt und das 9 als heterogametisch, das 5 als homogametisch
betrachtet, wozu man völlig berechtigt ist, seitdem es gelungen ist,
ein solches Verhalten bei einer anderen 'Schmetterlingsart festzu-
stellen.
Die Bedeutung der zytologischen Forschungen für die Genetik
wird von Plate im 9. Kapitel betont, wobei er sich ım schärfsten
Gegensatz zu der extrem mendelistischen Schule stellt, die jedes Ver-
ständnis für die zytologische Richtung in der Vererbungswissenschaft
entbehrt. Durch die neuesten Arbeiten auf dem Gebiete der Hetero-
chromosomen-Forschung wird wohl die unberechtigte Skepsis weichen
müssen, und es ist als besonders erfreulich zu begrüßen, dass
Plate, der selber nur auf dem Gebiete der experimentellen Genetik
tätig gewesen ist, die zytomorphologische Schule so hoch zu
schätzen weiß.
In dem 1. Bande der in Rede stehenden Handbücher, das
gleichzeitig die 4. Auflage von Plate’s bekanntem Buche „Das Dar-
win’sche Selektionsprinzip“ bildet, wird Plate die Selektions-
theorie eingehend behandeln. Hier wird deshalb nur die Bedeutung
der modernen Vererbungslehre und der Mutationstheorie für die
Auswahlslehre kurz erörtert. Plate ist bekanntlich seit der Ver-
öffentlichung der Mutationstheorie ein eifriger Bekämpfer dieser
gewesen. Er hat, mit Anerkennung der Bedeutung der experimen-
tellen Arbeiten von de Vries, die auf diese aufgebauten theoreti-
schen Anschauungen bestimmt abgelehnt. Er gehörte zu den ersten,
die den Gedanken aussprachen, dass Oenothera Lamarckiana keine
reine Art, sondern ein komplizierter Bastard sei. Demzufolge seien
die de Vries’schen Mutationen nicht als solche, sondern "als ge-
wöhnliche Spaltungsprodukte aufzufassen. Diese Annahme wurde
von anderen Forschern als falsch erklärt und zurückgewiesen. In-
682 Plate, Vererbungslehre mit besonderer Berücksichtigung des Menschen.
zwischen hat die Plate’sche Auffassung durch Arbeiten amerika-
nıscher Forscher immer mehr an Wahrscheinlichkeit gewonnen und
dürfte durch die experimentelle Nachprüfung der de Vries’schen
Versuche von Heribert-Nıilsson endgültig als richtig festgestellt
sein. Leider erschien die Arbeit des schwedischen Genetikers zu
spät, um ın Plate’s Arbeit berücksichtigt werden zu können.
In einer so jungen Wissenschaft wıe der Genetik hat die Ter-
minologie selbstverständlich noch keine größere Festigkeit erreicht,
und man findet oft, dass die Genetiker denselben Ausdruck in ganz
verschiedener Bedeutung benutzen. So wird beispielsweise der von
Johannsen geschaffene Ausdruck „reine Linie“ sehr oft als
gleichbedeutend mit Homozygot benutzt, was ganz falsch ıst. Plate
hat sich dagegen bemüht, die ursprüngliche Bedeutung der Fach-
termini beizubehalten, und wo sie ıhm nicht gut und charakteristisch
schienen, hat er neue geschaffen, wie dies z. B. mit dem erwähnten
Terminus Homomerie geschah. In einem Fall möchte Ref. Plate
dennoch nicht beistimmen, nämlich in bezug auf die Anwendung
des Wortes Biotypus. Plate meint, dass alle Individuen, welche
dieselbe genotypische Zusammensetzung haben, also auch die Hetero-
zygoten zu einem Biotypus gehören. Ref. möchte dagegen die
Bezeichnung Biotypus für Homozygoten, Mikroarten, Kleinrassen,
reine Linien u. s. w. reservieren; in diesem Sinne dürfte er wohl
auch zuerst von Johannsen gebraucht worden sein. — Plate’s
Erwähnung des Walnusskammes als Beispiel eines Heterozygoten,
der etwas neues darstellt, ıst wohl als ein Lapsus anzusehen,
denn unter den Amphimutationen wird er auch ganz richtig an-
geführt.
Für eine zweite Auflage des ausgezeichneten Werkes, die wohl
nicht allzu lange auf sich warten lassen wird, möchte Ref. den
Wunsch aussprechen, dass die Abbildung, welche die Vererbung
der Abraxas grossulariata- und lacticolor-Formen darstellt, mit einer
neuen ersetzt würde. In der jetzigen sınd die Bezeichnungen der
Faktoren irreführend und die Etiketten mit Angabe der Generationen
streng genommen auch nicht korrekt. Da Verf. sich außerdem im
Text verschrieben hat und ein störender Druckfehler vorkommt,
wird das Auffassen der an und für sich schon verwickelten Uriss-
Uross-Vererbung dem Anfänger große Schwierigkeiten bieten.
Plate’s Werk kann also jedem biologisch interessierten Ge-
bildeten aufs wärmste empfohlen werden, und der selbständige
Forscher wird es, wie gesagt, oft zu Rate ziehen. Es verdient eine
weite Verbreitung.
Ausstattung und Druck des Buches sind, wie man es bei dem
bekannten Verlage gewohnt ist, vornehm, und die 3 farbigen Tafeln
geben eine eute- Vorstellung von den Farbenrassen der Hausmaus
und einigen Löwenmaulsippen. Harry Federley, Helsingfors.
I ae u
u
De Vries, Gruppenweise Artbildung. 683
Hugo de Vries, Gruppenweise Artbildung.
365 S. mit 121 Abb. im Text und 22 farb. Tafeln, Berlin 1913. Gebr. Borntraeger.
Das neue Werk von de Vries enthält nicht die wohl von
vielen Seiten ‘erwartete Abrechnung mit seinen Gegnern. Auch die
von anderen Forschern inzwischen beigebrachten Tatsachen zur
Umbildung der Arten werden nicht besprochen. Vielmehr wird an
erweitertem experimentellem Material das Verhalten der Mutanten
und älteren Arten von Oenothera bei Selbstbefruchtung und be-
sonders bei Kreuzung dargestellt. Der Verf. beschränkt sıch also
ganz auf die hauptsächlich von ıhm studierte Gattung, deren Ver-
treter und ihre Bastarde mustergültig beschrieben und abgebildet
werden. Es werden eine Menge von Tatsachen niedergelegt, deren
Bedeutung sich noch schwer übersehen lässt. Hauptzweck des Verf.
ist, zu zeigen, dass seine Mutanten sich anders verhalten als ge-
wöhnliche Varietäten. Er hält dabeı an dem, z. B. von Baur be-
kämpften Standpunkte fest. dass die Gültigkeit der Mendel’schen
Regeln auf Varietäten beschränkt ist, d.h. auf solche Formen, die
ihre Entstehung dem Verlust oder der Wiedererlangung verlorener
Eigenschaften verdanken, dass dagegen Arten durch das Auftreten
neuer Eigenschaften gekennzeichnet sind und bei Kreuzung eine
konstante Mittelform liefern.
Die Mutanten von de Vries lassen sich, soweit genauer unter-
sucht, nach ihrem Verhalten bei Kreuzungen folgendermaßen ein-
teilen:
„A. Gigas-Gruppe. Entstehung von intermediären Hybriden.
B. Brevistylis-Gruppe. Spaltung nach der Mendel'schen Regel.
0. Nanella-Gruppe. Spaltung bisweilen ın der ersten, bisweilen
in der zweiten Generation. 0, nanella und rubrinervis.
D. Lata-Gruppe. Spaltung stets bereits in der ersten Gene-
ration, oder doch niemals erst in der zweiten. O.lala, O. scintillans,
vielleicht auch ©. oblonga.“
O0. Gigas zeigt also ein besonderes Verhalten. Sıe bildet mit
allen Verwandten Bastar de, die Arthybriden entsprechen. Dem ent-
spricht auch die mangelhafte Fruchtbarkeit. Gleichzeitig ist sie
durch den Besitz der doppelten Chromosomenzahl gegenüber den
anderen Oenotheren ausgezeichnet. Sıe dürfte also durch das Auf-
treten neuer Erbschaftsträger entstanden sein.
O. brevistylis ıst eine Verlustvarietät, woraus sich das Ergebnis
der Kreuzungen erklärt.
O. rubrinervis ist in der Hauptsache durch Verlust des „Festig-
keitspangens“ entstanden, und zwar tritt diese Veränderung zunächst
in einer Sexualzelle auf, woraus die Halbmutante 0. subrobusta
hervorgeht. Diese stellt einen Bastard zwischen O0. Lamarckiana
und rubrinervis dar, der dann reine Rubrinervis abspaltet. Daher
zweierlei Nachkommen in F, bei Kreuzung mit Lamarekiana. Bei
Bastardierung mit den ferner stehenden Arten tritt die Aufspaltung
erst in F, auf.
654 De Vries, Gruppenweise Artbildung.
O. nanella verhält sich im Prinzip ebenso. Bei ihr ıst eine
Erbeinheit, das Alta-Pangen, für Hochwuchs ınaktıv geworden. In
Lamarckiana ıst es labıl, ın den älteren Arten aktıv.
O. lata, scintillans und wahrscheinlich auch oblonga geben bei
Kreuzungen immer schon ın F, Spaltung, weil das bestimmende
Pangen in allen Arten außer der betreffenden Mutante inaktiv, ın
dieser aber labil ıst.
Am klarsten ist die Erblichkeitsstruktur von O. scintillans. Bei
Selbstbefruchtung spaltet sıe auf, weil sie nur ım weiblichen Ge-
schlecht mutiert ıst, also eine Halbmutante, einen Bastard darstellt.
Bei Kreuzung bringt der Pollen keine Scintillans hervor, dıe Eizellen
stets. Reine Scintillans, ın beiden Geschlechtern mutiert, also kon-
stant, werden nicht hervorgebracht, weil das Pangen nie ın den
männlichen Geschlechtszellen vorkommt. Genau so würde sich ver-
mutlich ©. /ata verhalten, wenn sıe nicht rein weiblich wäre.
0. oblonga ist bei Selbstbefruchtung konstant, ihr Pangen ist also
in beiden Geschlechtern im selben Zustand vorhanden. Bei Kreu-
zung mit anderen Arten spaltet sie ın F,, also ıst die betreffende
Eigenschaft ın diesen inaktiv, in ıhr selbst labıl.
Der Zustand der Pangene lässt sich nach de Vries an folgen-
dem erkennen: Labilität eines Pangens zeigt sich erst bei Kreuzung,
Inaktivwerden bedingt Verlustmutation. Wenn Spaltungen in F,
auftreten, so sind inaktıve und labile antagonistische Pangene zu-
sammengetroffen. Kommt Spaltung erst ın F, vor, so haben
inaktive und aktıve Pangene zusammengewirkt. Gar keine Spal-
tung findet man, wenn keine Verschiedenheiten vorhanden sind
(normale Befruchtung), wenn ein Pangen keinen Partner findet
(Artbastarde) und wenn aktıve mit labılen Antagonisten sich kom-
binieren.
Ziemlich unabhängig von diesen Ergebnissen, aber darum nicht
weniger wichtig, sind die Erfahrungen an Kreuzungen mit den
anderen Oenothera-Arten. Die meisten Bastarde sind einförmig und-
konstant.
Besonders O0. biennis und muricata aber verhalten sıch anders,
indem hier von den sichtbaren Merkmalen einige nur durch den
Pollen, andere nur durch die Eizellen übertragen werden, so dass
die reziproken Kreuzungen einander ungleich sınd. Das Ergebnis
ist z. B. bei O. biennis, dass sein Pollen auf anderen Arten Bastarde
erzeugt, die fast Biennis gleichen, dass die Eizellen aber mit fremden
Pollen bestäubt eine ganz andere Nachkommenschaft ergeben, in
der keine Biennis-Merkmale zu erkennen sind.
Diese kleine Auslese der wichtigsten Resultate wird zeigen,
dass die Mutationsforschung an Oenotheren auch weiterhin vieles
aufdeckt, was einer Einordnung in das von anderen Arten bekannte
Schema noch widerstrebt. Pringsheim (Halle).
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt,
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München,
herausgegeben von
Dr. J. Rosenthal
Prof. der Physiologie in Erlangen.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Rosenthal, Erlangen, Physiolog. Institut
einsenden zn wollen.
0. Dezember 1913.
Inhalt: Iltis, Uber eine Symbiose zwisehen Planorbis und Batrachospermum. — Mräzek, Die
Schwimmbewegungen von Branchipus und ihre Orientierung. — Kutter, Zur Biologie von
Formica rufa und Formica fusca i. sp. — (Car, Die Erklärung der Bewegung bei einigen
Protozoen. — Zander, Das Geruchsvermögen der Bienen. — Tendt, Eine Erklärung der
Geruchserscheinungen. —- Schreiber, Herstellung von Nährgelatine zu Wasseruntersuchungen
durch die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene in Berlin-Dahlem. — Demoll, Ge-
legentliche Beobachtungen an Libellen. — Przibram,,, Experimentalzoologie. — Verworn,
Kausale und konditionale Weltanschauung. — Roux, Über kausale und konditionale Welt-
anschauung und deren Stellung zur Fntwiekelungsmechanik. — Tier- und Pflanzenleben
der Nordsee. — Register.
Bezatn,
Über eine Symbiose zwischen Planorbis
und Batrachospermum.
Von Hugo Iltis.
(Mit 3 Textfiguren.)
Der Begriff Symbiose wurde bekanntlich von De Bary (1366)
und Schwendener (1869) für das ganz eigenartige Verhältnis von
Pilz und Alge in den Flechten aufgestellt!). Seither sind sehr viele
Fälle von wechselseitiger Förderung zusammenlebender Organismen
bekannt geworden, aber keiner von solcher Innigkeit des Verbandes
und so formbildender Kraft wie jener der Flechtensymbiose, durch
die ja eine völlig neue Organismenklasse geschaffen wurde. In
vielen Fällen handelt es sich um das Zusammenleben zweier
Pflanzen: es sei an verschiedenartigen Erscheinungen, die unter
dem Namen Mykorrhixa zusammengefasst werden, an die Bakterien-
knöllchen der Leguminosen, an den in Lolium temulentum lebenden
Pilz, an das Auftreten von Nostoc im Thallus von Lebermoosen
1) Neuere Literatur siehe: Kammerer, D. P. Genossenschaften von Lebewesen
auf Grund gegenseitiger Vorteile. Stuttgart 1913.
XXXII. 45
686 Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum.
(Anthoceros ete.) und Oycadeenwurzeln, von Anabaena im Gewebe
von Axolla, von Sceytonema in Gunnera, an das erbliche Zusammen-
leben von Bakterien und tropischen Pflanzen, namentlich Rubiaceen,
erinnert. Häufig gehen ferner zwei Tierarten eine Lebens-
gemeinschaft ein, so z.B. die Einsiedlerkrebse mit Aktinien oder
mit Suberites. Endlich können sich pflanzliche und tierische
Organismen zu einer Symbiose vereinigen: die Gelb- bezw.
Grünfärbung vieler Tiere (Radiolarıen, Aktinien, Amöben, Infu-
sorien, Spongien, Würmer, Wasserkäferlarven etc.) durch Zooxan-
thellen und Zoochlorellen sei hier erwähnt. — Dem ursprünglichen
Sinn des Begriffes Symbiose entsprechen am meisten jene Fälle,
wo wie in den oben angeführten eine körperliche Vereinigung
zweier Lebewesen vorliegt: doch spricht man von Symbiose auch
dann, wenn Organismen ohne feste physische Verbindung durch
Instinkt, Gewohnheit, gegenseitige Anpassung etc. miteinander ın
Beziehung gebracht werden. Es sind hier z. B. die Rädertiere (Calli-
dina)?) ın den Lebermoos-„Auriculae“, die Ameisen und myrme-
kophilen Pflanzen, Ameisen und Ameisengäste, im weitesten Sinn
des Wortes auch Ameisen und myrmekochore Pflanzen und endlich
Insekten und Blütenpflanzen in ihren vielfältigen Beziehungen im
Hinblick auf die Bestäubung zu nennen. Ebenso dürfen wir bei
einer weiteren Fassung des Begriffs Symbiose jene Fälle ın
seinen Umfang stellen, die den wechselseitigen Nutzen nicht
klar erkennen lassen und die in mannigfachen Abstufungen einer
seits zum Parasitismus, anderseits zum Epiphytismus oder zum
bloßen Nebeneinanderleben, hinabführen. Wenn wir alle diese Fälle
durch den Begriff Symbiose bezeichnen, so wird natürlich sein
Geltungsbereich sehr erweitert, seine Präzision aber vermindert.
Man kann aber auch den einzelnen Varianten entsprechende Ter-
mini zuordnen, wie dies ja durch Aufstellung der Bezeichnungen
Mutualismus, Helotismus, Synökie, Parabiose, Epiphytismus, Raum-
parasitismus ete. geschehen ist. Eine scharfe Einordnung der Einzel-
fälle in die Gebiete dieser Begriffe wird aber nur schwer durch-
zuführen sein, da sich selbst für das klassische Beispiel, die Flechten,
eine genaue Bestimmung der Vorteile (bezw. Nachteile), die aus
der Symbiose für jeden der beiden Symbionten entspringen, heute
noch nicht durchführen lässt, und da in vielen anderen Fällen (so
z. B. im Falle der myrmekophilen Pflanzen, für die neuerdings jede
Förderung durch die auf ihnen lebenden Ameisen bestritten wird ’°)),
eine derartige Konstatierung noch schwieriger ist.
Aber auch bei einer sehr weiten Fassung des Begriffes darf
eine Erscheinung nur dann mit dem Namen Symbiose bezeichnet
2) Kerner, A. v. Pflanzenleben I, p. 234.
3) Jhering, v. Die Ceceropien und ihre Schutzameisen. Engl. bot. Jahrb.,
Bd. 39, 1907.
Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum. 687
werden, wenn sie nicht etwa ein zufälliges Zusammentreffen zweier
Organismen darstellt, sondern wenn vielmehr die betreffenden Lebe-
wesen sich unter bestimmten Bedingungen regelmäßig zusammen-
finden, wenn es sich ferner nachweisen lässt, dass die Trennung
der Gemeinschaft für einen oder für beide Symbionten mit einem
Nachteil verbunden ist. Also auch dann, wenn es sich nieht um
ein obligates, sondern nur um ein fakultatives Zusammenleben han-
delt, wird die häufige Wiederholung der gleichen Lebensgemein-
schaft unter gleichen oder ähnlichen Bedingungen zu den Kriterien
der Symbiose gehören.
Auf keinen Fall soll man sich ferner verleiten lassen, irgend-
eine Art von Symbiose anthropomorphistisch aufzufassen, an irgend-
etwas Bewusstes, an eine Art von Gesellschaftsvertrag, an ethische
Momente etc. zu denken. Obwohl das eigentlich ganz selbstver-
ständlich ist, scheint doch ein Hinweis darauf am Platze, da ın der
neueren Zeit namentlich in der populär-wissenschaftlichen Literatur
eine derartige Auffassung häufig anzutreffen ist. Die Symbiose ist
also nicht dadurch entstanden, dass zwei Lebewesen, des Alleinseins
müde, miteinander eine Verbindung eingegangen sind, sondern es
ist das erste Zusammentreffen der Symbionten dem Zufall zuzu-
schreiben und erst der aus der gegenseitigen Förderung der Lebens-
funktionen sich ergebende Vorteil gibt der Selektion die Handhabe,
aus der zufälligen eine regelmäßige Erschemung zu machen und
eine Anpassung der Symbionten aneinander zu bewirken. Die
Wahrscheinlichkeit des zufälligen Zusammentreffens zweier Lebe-
wesen wird sehr groß sein, wenn sich auf engem Raum ein reiches
Leben zusammendrängt: im Süßwassertümpel, auf den Boden der
Flachsee werden wir am häufigsten, ebenso wie alle Arten des Kampfes
ums Dasein, auch alle verschiedenen Stadien beginnender oder
schon gefestigter Lebensgemeinschaften antreffen können. An einer
solchen Lokalität, wo vielfältigstes Leben auf kleinstem Raum ein
Inbeziehungtreten der nebeneinander wohnenden Lebewesen nach
sich zog, wurde auch die im folgenden beschriebene Symbiose
konstatiert.
Im März des vorigen Jahres (1912) unterzog der Autor die
Tümpel des sogenannten Paradieswäldchens in der Nähe von Brünn
einer botanischen Untersuchung. Im Frühjahr sind diese Tümpel
durch zahlreiche Wasseradern des vielfach überschwemmten Terri-
toriums miteinander in Verbindung. Im Sommer erscheinen sie
getrennt und namentlich die kleineren oft ganz oder teilweise aus-
getrocknet. So wird oft reiches Leben auf einen kleinen Raum kon-
zentriert. Ein solcher Grabentümpel am Rande des Paradieswäld-
chens wies ein besonders reiches Tier- und Pflanzenleben auf. Er
war ca. 30 m lang, 1m breit und !/, m tief. Häufige Besuche des
Grabens in den folgenden Monaten ergaben ein ungefähres Bild
45*
688 Iltis, Uber eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum.
seiner Flora und Fauna. Auf der Wasseroberfläche und im Wasser
schwammen Lemna minor und L. trisulea, am Grabenrand und am
Fig. la u. 1b. Lebende Planorbis planorbis mit
aufgewachsenen Batrachospermumsträuchlein.
Grunde des Tümpels wu-
cherten Galium palustre,
Mentha aquatica, Teu-
erimu Scordium, Lysi-
machta nummularia, Ra-
nunculus repens, Alisma
plantago, Carex acutifor-
mis, Typha angustifolia,
Rumex obtusifollus, Ly-
Ihrum salicarta, Sparga-
nium racemosum und
Salix amygdalina. Von
Tieren seien erwähnt
zahlreiche Egel (nament-
lich Clepsinearten), Cope-
poden und Phyllopoden,
eine große Zahl von
Phryganiden und Libel-
lenlarven, Argyroneta
glauca, und eine Unzahl
von verschiedenen Mol-
lusken, namentlich Pisi-
dium spec., Limnaea stag-
nalis, Limmnaea palustrts,
Planorbis corneus und
namentlich Planorbis pla-
norbis L. — Besonders
die letztgenannte kleine
Tellerschnecke war in vie-
len hunderten von Exem-
plaren vertreten; einjeder
Zug mit dem Kätscher
brachte eine große Zahl
herauf. Und ein jedes
Exemplar, ohne Aus-
nahme, trug einen, seinen
Durchmesser an Länge
oft um das Fünffache über-
treffenden, dichten Rasen
einer sehr zierlichen, dun-
kelgraugrünen bis gelb-
braunen Batrachosper-
mumart(Fig. lau. 1b). Die
Su au, A
Iltis, Uber eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum. 68)
Schnecke Planorbis planorbis L.(— P. umbilicatus Müll. = P. margi-
natus Drap.) weist in ausgewachsenen Exemplaren ca. 14—20 mm
Durchmesser auf, ıst dunkelhornbraun und festschalig. Es sind 5—6
Windungen vorhanden, die letzte ıst oben stark, unten schwach ge-
wölbt, die flache Unterseite der letzten Windung ist am Rande stumpf
gekielt. Der Algenpelz auf der Schnecke besteht aus bis 5 cm hohen
Sträuchlein oder Rasen einer zarten und wenig schleimigen Batracho-
spermumart. Die Alge ist vornehmlich an der Grube der Oberseite und
an der gewölbten Außenwindung angewachsen. Auf der flachen Unter-
seite entspringen fast gar keine Algen. Die gesunde Alge ist dunkel-
braungrün oder dunkelolivgrün gefärbt. Sie sitzt der Schnecke mit
langen, kriechenden, farblosen Vorkeimfäden auf, die nur vereinzelte,
bikonkave Querwände aufweisen. Aus diesen rhizoidenartigen Vor-
keimfäden, die sich der Unterlage anschmiegen und so die Be-
festigung der Alge auf der Schnecke bewirken, entspringen nun
einerseits die eigentlichen Batrachospermumpflanzen, andererseits
lange gegliederte Zellfäden, die sich in einzelne Brutzellen (Gonidien)
auflösen. Der unterste Teil des Algensträuchleins lässt fast gar
keine Knoten unterscheiden, da auf der ganzen Länge zylinderbürsten-
artig Interstitialzweige entspringen. Oben folgen die Internodien
dicht aufeinander. Die Endzellen der einzelnen Zweige gehen alle
in farblose Fäden aus, die oft so lang sınd als die Breite der ganzen
Alge beträgt und am zugespitzten Ende eine starke Lichtbrechung
aufweisen. Diese Endfäden, die ın dem die Alge umhüllenden
Schleim stecken und diesen möglicherweise selbst ausscheiden, sınd
oft von Fadenbakterien dicht umwunden. Die zahlreich vorhandenen
Gonimoblasten stehen auf ganz kurzen Seitenzweigen, so dass sie
dem Hauptstamm fast anzuliegen scheinen. Ein Vergleich mit
Batrachospermum moniliforme Bory, das auf Steinen in einem un-
weit unseres Tümpels fließenden Bächlein aufgefunden wurde, zeigte,
dass diese Art bedeutend robuster und schleimreicher ist wıe das
Schneckenbatrachospermum. Das letztere hat ungefähr 350 « breite
Stämmchen, die Gliederzellen der Seitenäste sind ca. 10—20 u lang
und 7 « breit. Bei B. moncliforme sind die Stämmchen 500 u breit,
die Gliederzellen am Grunde der Äste ca. 40 « lang und 15 u breit.
Ein wichtiger und meines Wissens in keiner Algenflora beachteter
Unterschied besteht in der Stellung der Gonimoblasten: während
sie, wie erwähnt, beim Schneckenbatrachospermum auf ganz kurzen
Seitenzweigen stehen und so dem Stamm ganz nahe gerückt er-
scheinen, stehen sie bei B. moniliforme an der Spitze von viel
längeren Seitenzweigen und weit vom Hauptstamm entfernt.
Bei der Bestimmung zeigte unsere Alge am meisten Ähnlich-
keit mit B. vagum (Roth.) Ag.*). Bei dem bekannten Polymorphis-
4) Rabenhorst. Flora europea algarum Seet. III, p. 407, und Migula,
Kryptogamenflora von Deutschland, Bd. IIl/2, p. 1S£f.
690 Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Datrachospermum.
mus der Gattung war von vornherein eine völlige Übereinstimmung
mit der Diagnose nicht zu erwarten. Ein Unterschied zeigte sich
namentlich in der Farbe, die bei dieser Art nach den Floren bläu-
lichgrün oder spangrün (aerugineus) sein soll, während sıe hier
tatsächlich dunkelbraungrün oder dunkelolivgrün ist. Ferner werden
als Fundorte dieser Art „Torfmoose und Torfgewässer* angegeben,
während die beschriebene Symbiose in gewöhnlichen Wiesengräben
gefunden wurde.
Es wäre also das Schneckenbatrachospermum als 5. vagum
(Roth.) Ag. forma epiplanorbis zu bezeichnen. Nach Nave’) kommen
in Mähren nur die beiden Arten B. moniliforme Bory und B. con-
fusum H. vor. Für die nächste Umgebung Brünns gibt diese sonst
sehr zuverlässige Flora keine Froschlaichalge an. DB. vagum ist also
für die Algenflora Mährens neu und auch der Fundort des BD. monil-
forme, eine Viertelstunde von der Stadt entfernt, war bisher nicht
bekannt. Jedenfalls ist B. vagım eine in Mähren überaus seltene
Pflanze. Begreiflicherweise bemühte ich mich, die Alge auch sonst
in dem betreffenden Grabentümpel oder in anderen des Paradies-
wäldehens aufzufinden. Auf keiner der anderen Schneckenarten
des Grabens, die allerdings nicht so zahlreich vorhanden waren,
fand sich eine Spur der Floridee. Ebensowenig konnte auf Pflanzen
oder leblosen Gegenständen des betreffenden Tümpels Datracho-
spermum nachgewiesen werden. Der Umstand, dass auf so vielen
Hunderten von Schnecken einer und derselben Art sich eine für
das Gebiet so seltene Alge regelmäßig, ja ausnahmslos vorfand,
während sie weder auf den anderen unter den gleichen Bedingungen
lebenden Schneckenspezies noch sonst in dem Tümpel zu finden
war, wies auf eine innige Wechselbeziehung zwischen den beiden
Lebewesen hin und ließ einen rein zufälligen Epiphytismus unwahr-.
scheinlich erscheinen. Einen solchen anzunehmen, wäre dann nahe-
liegend gewesen, wenn die betreffende Alge wahllos auf verschie-
denen Schnecken bezw. auf anderen lebenden oder toten Objekten
sich gefunden hätte. So kommt es recht häufig vor, dass Schnecken,
z. B. Limnaeaarten, von einem dichten Pelz von Grünalgen (nament-
lich Vaucheria, Cladophora und Oedogoniumarten) bewachsen sind.
Doch finden sich in diesem Falle die gleichen Algen auch neben
den Schnecken an anderen Objekten aufgewachsen und andererseits
zeigen nur einzelne, meist alte und verschiedenen Arten angehörige
Schnecken einen reichlichen Algenwuchs. Obwohl auch hier wechsel-
seitige Vorteile keineswegs ausgeschlossen sind, möchte ich doch
für dieses mehr zufällige Zusammenleben nicht den Ausdruck Sym-
biose wählen. Über die vielfältigen Vorteile, die auch in diesem
5) Nave. Vorarbeiten zu einer Kryptogamenflora von Mähren und Schlesien I.
Bd. II der Verh. d. Nat. Ver. Brünn 1863, p. 56.
de nn
Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum. 691
Falle aus dem Zusammenleben resultieren können, macht Kam-
merer‘) ausführliche Angaben. Die Vorteile, die die Algen den
Schnecken bieten, sind vor allem die Sauerstoffabgabe und das Ge-
währen einer Schutzfarbe; ferner halten die Algen besonders alle
Wasserschimmelarten (Saprolegnia etc.) ab, die in verunreinigten
Gewässern oft die Schnecken befallen. Wie ich oft beobachten
konnte, ist gerade in verunreinigten Gewässern der Algenwuchs auf
den Schnecken besonders reich. — Andererseits bedeutet das Zu-
sammenleben auch für die Algen einen Vorteil. Sie gelangen in
stets frisches Nährmedium und werden von den emporgewirbelten
Schneckenexkrementen gedüngt. Gegen-
seitige Förderung liegt also auch bei dem
weder innigen, noch irgendeine Gesetzmäßig-
keit aufweisenden Zusammenleben zwischen
Chlorophyceen und Schnecken vor.
Viel auffälliger und interessanter als
der Epiphytismus von Fadenalgen ıst das
Auftreten einer unserer schönsten und an-
sehnlichsten Grünalgen, Chaetophora Cornu
damae (Roth.) Ag. auf Limmnaea palustris
Müll. (Fig. 2). In einem großen Tümpel
beim Bahndamm in der Nähe des Fund-
ortes der Batrachospermumsymbiose fand
ich im heurigen Sommer (1913) sowohl die
Rotalge auf Planorbis, als auch eine bis
5 em lange, vielfach gleichartig verzweigte,
gallertartige, lebhafte grüne Alge auf den
(Gehäusen zahlreicher Exemplare von ZLim- Fig. 2.
naea palustris. Im ersten Augenblick Limnaea stagnalis mit
glaubte ich auch auf dieser Schnecke das Chatophora cornu damae.
Batrachospermum gefunden zu haben, aber
die lebhaft grüne Farbe und der viel festere und starrere Thallus
zeigten mir bald den Irrtum. Bei der Bestimmung”) erwies sich
die Alge, wie gesagt, als Chaetophora Cornu damae (Roth.) Ag.
und zwar als dıe variatio endiviaefolia Hansg. Einzelne Exem-
plare der Alge waren an den dichotom verzweigten Enden ganz
flach, so dass eine gewisse Ähnlichkeit mit Riceia fluitans zustande
kam®). Der geweihartige Thallus entsprang aus oder neben lebhaft
6) Kammerer, P. Allgemeine Symbiose und Kampf ums Dasein als gleich-
berechtigte Triebkräfte in der Evolution. Arch. f. Rassen- und Geschlechtsbiologie,
1909, 5. Heft.
7) Migulal. c. Bd. 11/1, p. 818.
8) Auf der Alge befanden sich zahlreiche eingekapselte Cercarien von Distoma
spez., die in der Limnaea ihren Zwischenwirt hatten. Auch schwammen, wie die
mikroskopische Untersuchung zeigte, zahlreiche freie Cercarien um die Alge herum.
692 Iltis, Uber eine Symbiose zwischen Planorbis und batrachospermum.
smaragdgrünen, gleichfalls festgallertigen Halbkugeln, die, wie die
Untersuchung zeigte, nur ein primäres Entwickelungsstadium der
Chaetophora darstellten. Die gleichen smaragdgrünen Halbkugeln
fanden sich übrigens neben Datrachospermum vagıın auch des öfteren
auf Planorbis planorbis, doch kommt es auf dieser Schnecke nie
zur Ausbildung der geweihartigen Form der Alge. Es bilden eben
verschiedene Schnecken durch die verschiedene Art ihrer Bewegung,
die verschiedene Form und Zusammensetzung ihrer Schale ete. ein
spezifisches Substrat, auf dem immer nur bestimmte Algen gedeihen
können. — Die Alge Chaetophora Cornu damae (Roth.) Ag. (= Ch.
endiriaefolia Ag.) wird von Nave°’) für das Paradieswäldchen an-
gegeben. Zur Zeit, da die Alge auf der Schnecke in üppigster Ent-
wickelung war (20. August 1913), konnte ich sie an dieser Lokalität
sonst nirgends finden. Es scheint also auch in diesem Falle, wie
es für Datrachospermum weiter unten gezeigt wird, die Symbiose
mit der Schnecke der Alge das Leben auch zu einer Jahreszeit zu
ermöglichen, in der die freilebenden Algen der betreffenden Spezies
ihren Zyklus bereits abgeschlossen haben und mit Ausnahme der
Dauersporen bereits abgestorben sind. —
Eine genaue Untersuchung der zahlreichen Tümpel in der Um-
gebung des ersterwähnten Grabentümpels ergab, dass in vielen von
ihnen Planorbis planorbis ebenfalls, aber ohne Rotalge vorhanden
war. Nur an zwei Orten, jenem großen Tümpel beim Bahndamm,
in dem sich auch die Symbiose von Limnaea mit Chaetophora fand,
und in einem ganz schmalen Wassergraben ın ziemlicher Entfernung
(ca. !/, km) gelang es mir, die Symbiose zwischen Rotalge und
Schnecke wieder zu finden. Schon dieser Umstand bekräftigte den
Eindruck, dass es sich nicht um ein zufälliges Zusammentreffen,
wie bei den epiphytischen Grünalgen, oder um eine rein lokale Er-
scheinung handle, noch mehr aber die Bemerkung, die Raben-
horst über das verwandte B. moniliforme var. B. Kühneanum
macht: „habitat in cochleis aquatılibus germaniae prope Bunzlau,
Radeberg ad Dresdam“!P). Es handelt sich also bei unserem Vor-
kommen um eine für manche seltene Formen von Batrachospermum
geradezu charakteristische Lebensgemeinschaft.
Da es mir trotz eifrigen Suchens ım Jahre 1912, in welchem
ich die Symbiose zum ersten Male beobachtete, nicht gelang,
BD. vagum irgendwo in der Nähe aufzufinden, so glaubte ich
fast, dass die Alge stets ihre ganze Entwicklung auf der Schnecke
durchlaufe. Erst Anfang März des nächsten Frühjahrs (1913) fand
9) Name, Je cap. :56.
10) Rabenhorst ]. c., p. 405. Desgleichen heisst es auch in Raben-
horst’s Kryptogamenflora von Sachsen, 1863, p. 280/81, sowohl von B. Kühneanum
als auch von B. tenuissimum, dass sie auf Wasserschnecken im Torfmoos Pohlenz
bei Wurzen vorkommen.
u A De u =
Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum. 645
ich an mehreren Orten des Paradieswäldchens D. vagem ohne Schnecke
auf abgestorbenen Schilfstengeln oder Blättern vor. Namentlich
in einem Grabentümpel, in dem alle lebenden und leblosen Gegen-
stände mit einer diehten Schichte von Eisenbakterien und Eisen-
oxydhydrat überzogen waren, fanden sich große Rasen der gleichen
Batrachospermumspezies. Die Verbreitung der Alge, die ich später auch
in anderen Tümpeln fand, erfolgt häufig durch Köcherfliegenlarven.
Diese fügen oftmals feste Gegenstände, Stengel, Blätter ete., auf
denen Batrachospermum, Draparnaldia, Chaetophora oder andere Algen
sitzen, ihrem Gehäuse ein und verbreiten so die Algen. Auch die
Einwanderung in den Tümpel, in dem die Symbiose erstmals auf-
gefunden wurde, mag ähnlich erfolgt sein.
Frei lebend fand sich B. vagum noch Anfang Mai in mehreren
Tümpeln des Paradieswäldchens. Von dieser Zeit an ließen sich
an der frei lebenden Alge deutliche Zeichen von Degeneration
bemerken. Die Farbe wurde ganz hell oder fast schwarz, der Schleim
begann zu zerfließen. Als gegen Ende Juni die Wassertemperatur
eine beträchtliche Höhe (20° C) erreicht hatte, war das freilebende
Batrachospermum nirgends zu finden; nur das auf den Schnecken
wachsende hatte sich erhalten. Es ermöglicht also die Symbiose
mit den Schnecken dem Batrachospermum auch das Weiterleben ım
Sommer, zu welcher Zeit die freilebenden Algen bereits zugrunde
gehen. Am 26. Juli zeigte es sich, dass der Algenpelz auf allen
den HundertenSchnecken des Tümpels nicht nur vorhanden, sondern
auch noch beträchtlich gewachsen war, so dass die Länge der B.-
Sträuchlein auf den älteren Schnecken bis gegen 5 cm betrug.
Freilich zeigten auch hier einige Algenstöcke Degenerationserschei-
nungen. Die Degeneration äußerte sich auf drei verschiedene Arten.
Entweder sie erfolgte durch Farbloswerden der Chromatophoren
und Auflösung des Schleims oder durch Abwerfen der Zweige oder
endlich durch Überwucherung der verschiedenen, auf der Rotalge
epiphytisch wachsenden Algen.. Auch im September und Oktober
war das Batrachospermum noch auf zahlreichen Schnecken zu finden,
wenngleich die Degeneration weitere Fortschritte aufwies. — Im
folgenden Frühjahre (9. März 1913) zeigte es sich, dass die Algen auf
den alten Schnecken überwintert hatten. Auf vielen waren ganz
stattliche Sträuchlein vorhanden, auf anderen war das Datrachosperum
bis auf eine weißliche Kruste, aus der sich einzelne verkalkte Knötchen
abhoben, zugrunde gegangen. Aus diesen verkalkten Knötchen
wuchsen jetzt neue Algenpflanzen hervor. Die Alge schützte sıch
also augenscheinlich durch eine Kalkhülle vor dem Erfrieren. Aber
nicht nur auf den alten, auch auf den ganz jungen Schnecken von
3—4 mm Durchmesser war ein zierliches, 2 mm hohes Batracho-
spermumräschen ausgebildet. Die Algensträuchlein auf diesen Jungen
Schnecken erschienen viel zarter als die auf den ausgewachsenen
6594 Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum.
und hatten eine hellblaugrüne Farbe. Epiphytische Blaualgen waren
auf diesen jungen Algen nicht zu sehen. Die Alge überwintert also
nicht nur auf den alten Schnecken, sondern sie wird ım Frühjahr
auch gleich mit dem Laich auf die jungen Schnecken übertragen.
Beim Ablaichen bleiben auf dem klebrigen Laich die Gonidien, die
sich gerade um die Zeit des Ablaichens massenhaft bilden, haften,
entwickeln sich im Schleim teilweise und gelangen so, indem aus
ihnen Rhizoiden hervorwachsen, auf die jungen Schnecken. Tat-
sächlich gelang es mir auch öfters Batrachospermumgonidien und
auch ganze Zellfäden dieser Alge auf dem Laich von Planorbis
planorbis ın dem Graben zu len. — Es wird also bei dieser Sym-
biose die Kontinuität durch Infektion des Laichs hergestellt. Ähnlich
werden bei dem Protozoen (Radiolarıen) die jungen Tiere immer
aufs neue durch Schwärmer der Xanthellen infiziert!!). Ähnlichkeit
zeigt die Übertragung der Symbiose in unserem Fall auch mit
jener bei Convoluta roscoffensis '?), einer Planarie, bei welcher ge-
wisse Zoochlorellen zur Zeit der Ablegung der Eikapseln Schwärmer
bilden, welche sich an der Eikapsel festsetzen und nach dem Aus-
schlüpfen die jungen Planarien infizieren.
Das Batrachospermum, das mit der Schnecke symbiotisch lebt,
ist selbst der Ort einer interessanten Lebensgemeinschaft.
In den Achseln der Zweigbündel des B. vagum oder mitten ın
ihnen drinnen, sehr oft an der Stelle, wo sich sonst die Gonimo-
blasten befinden, finden sich fast ee elnlis größere und kleinere
ovale oder kugelige on Mehrere solche Klumpen
hängen miteinander durch kubische, gelbgefärbte Grenzzellen zu-
sammen, so dass sie förmliche Rosenkränze bilden, die sich zwischen
den Batrachospermumzweigen winden und sie oft ganz einhüllen.
Bei der Bestimmung stellt sich die Alge als Nostoc spaerieum V auch.
(= N. lichenoides Kg g.) heraus. Dieser findet sich nach Engler
und Prantl sonst none tisch in den Atemhöhlen von Antho-
ceros und Chamaeceras, zwischen .den Zellen von Blasia, Pella,
Diplotaena, Aneura, Riccia, Sauteria und in den durchlöcherten Zellen
von Sphagnum on Nach Leitgeb!*) geschieht die
Infektion von Anthoceros durch Nostoce durch die Spaltöffnungen,
solange diese noch nahe dem Thallusscheitel gelegen und meist
Ba mit Schleim gefüllt sind. Nach der Infektion schließt sich
1) Moroff. jemerkungen über vegetative und reproduktive Erscheinungen
bei Thalassicola. Biol. Centralbl. XXX, 1910.
») F. Keeble und F. Gamble. The Origin and Nature of the green zells
of Convoluta roscoffensis. Quart. Journ. of Mikrosc. Sc. Vol. 51, 1907.
13) Engler und Prantl. Natürliche Pflanzenfamilien. I. Bd., p. 73/76. (In
Migula’s Kryptogamenflora erscheint bei dieser Art das endophytische Vorkommen
gar nicht erwähnt!)
14) Leitgeb. Nostockolonien im Thallus von Anthocerosarten. K. Akad. d.
Wiss. Wien 1878, p. 417.
Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum. 695
die Spaltöffnung und von den Zellen der Interzellularen werden
jetzt Papillen nach Innen gebildet. Auch bei Batrachospermum ist
es der Schleim, in welchen die Nostockolonie eindringen. Beim
Lebermoos wie bei der Rotalge dringen neben Nostoc auch Diato-
meen und zwar namentlich Grammatophora ein. Auch bei Batracho-
spermum erzeugt die Anwesenheit des Parasiten Zellwucherungen.
Die Nostocklumpen haben die Stellung und Grösse der Gonimo-
blasten, denen sie auch sonst ähneln. Sie erscheinen wie diese
von um sie herum wachsenden Zellfäden eingehüllt. Auch das B.
der überwinterten Schnecken zeigten Nostochallen und außerdem
im Schleime massenhaft Bakterien. An diesen überwinterten B.
zeigen sich viele kleine, weiße Kügelchen, die mit HC] aufbrausen.
Nach der Lösung des Kalkes bleibt ein Nostocballen zurück, der
also den Winter in einer schützenden Kalkhülle verbringt. Die
Überwucherung mit Nostoce nimmt im allgemeinen zu, wenn das DB.
unter ungünstigen Bedingungen lebt, wenn es z. B. lange in ge-
schlossenen Eprouvetten gehalten wird'?).
15) Dass übrigens auch unter der übrigen, auf dem engen Raum unseres
Tümpels zusammengedrängten Tier- und Pflanzenwelt die kompliziertesten und
mannigfaltigsten Wechselbeziehungen’ bestehen, zeigten zahlreiche Individuen von
Cyelops, von denen derselbe Tümpel wimmelte und die eine interessante Lebens-
gemeinschaft aufwiesen: sie erschienen alle völlig grün gefärbt, so dass ich im
ersten Momente an Zoochlorellengehalt dachte. Doch zeigte die mikroskopische
Untersuchung, dass die grüne Färbung von einem einzelligen grünen Flagellaten
herrühre, der die ganze Oberfläche der Krebslein bedeckt. Die einzelnen Individuen
des Epiyhyten, von eiförmiger Gestalt, waren von einer Gallertscheide umgeben und
mit einem Gallertstiele aufgewachsen. Zahlreiche Individuen erschienen längsgeteilt,
wodurch eine Art Kolonienbildung zustande kam. Es waren Kolonien bis zu acht
Zellen vorhanden. Die Bestimmung, die ich Herrn Professor Dr. Pascher
danke, ergab Oolacium vesieulosum Ehrbg. Die Kolonien saßen auf allen Teilen
des Cyelops und umgaben namentlich den mittleren Teil mit einem dichten
grünen Mantel. Doch waren auch die Schwanzstacheln und Eiersäcke dicht mit
Colacien bedeckt. Wurde das Deckglas aufgelegt, so wurde bei einer großen Zahl
von Colacien die Gallerthülle zerrissen und sie schwärmten zu hunderten um den
Cyelops herum. Später zeigten sie oft amöboide Bewegung. Neben den Colacien
zeigten sich auf denselben Cyelopsindividuen auch Kolonien von Carchesium, Epi-
stylis und viele Vorticellen. Da außerdem die Stacheln und Gliedmaßen der
Krebschen von farblosen Fadenbakterien spiralig umwunden waren, so erschien buch-
stäblich kein Fleckchen der Körperoberfläche unbesetzt und es musste wundernehmen,
dass die Beweglichkeit der Copepoden nicht im geringsten darunter litt. Sie be-
wegten sich ebenso elegant hüpfend, wie ihre farblosen, unbesiedelten Genossen. —
Wenn grüne mit Epistylis besetzte Oyelops mit normalen, farblosen zusammen in
fauliges Wasser gebracht wurden, so bedeckten sich in ca. 5 Tagen auch die nicht-
infizierten völlig mit einem Pelz von Epistylis, Vorticella und Colacium. Auch
zahlreiche farblose Fadenbakterien schlangen sich um Füße und Borsten des Cyelops.
— Die Besiedlung mit Zpistylis wurde um so reicher, je fauliger das Wasser war,
d. h. je mehr Bakterien sich darin fanden. Im allgemeinen waren die größten
Cyclops so mit Infusorien bedeckt, dass sie wie in einen weißen Nebel gehüllt er-
schienen. Ihre Beweglichkeit wurde dadurch in keiner Weise gehindert. Die Infu-
sorien waren voll mit Vakuolen und alle Vakuolen voll gefressener Bakterien. Die
6965 Iltis, Uber eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum.
Durch das Auftreten der gleichen Symbiose an Hunderten von
Exemplaren einer Schneckenart und nur an dieser, durch ähnliche
in der systematischen Literatur für Arten bezw. Varietäten von
Datrachospermum geradezu als charakteristisch bezeichnete Vor-
kommen und endlich durch den Umstand, dass die im Frühjahr
auch frei existierende Alge im Hochsommer sich bloß auf den
Schnecken erhält, erweist sich die Verbindung zwischen Schnecke
und Rotalge schon als eine innigere und regelmäßigere als das häufige,
aber mehr zufällige Zusammenleben zwischen Fadenalgen und
Schnecke. Zu den Vorteilen, die aus letzteren Zusammenleben für
die Schnecken erwachsen, kommt bei unserer Symbiose noch eine
sehr täuschende Mimikry. Die mit Batrachospermum bewachsenen
Schnecken krochen zwischen dem reich verzweigten Wurzelwerk
von Galium aquaticum umher. Die Galiumwurzeln, die zum Teil
von braunem Diatomeenschlem umwuchert waren, unterschieden
sich kaum von den gleich dicken, ähnlich gefärbten und gleichfalls
verzweigten Batrachospermumpflanzen, so dass die algenbewachsenen
Schnecken in dem Wurzelwerk völlig verschwanden. Einzelne mit
Batrachospermum bewachsene Schnecken flottierten frei im Wasser.
Wenn eine solche Schnecke fiel, so geschah dies langsam und
elegant gleitend. Die elastische Floridee funktionierte als Fall-
schirm.
Viel mehr Ähnlichkeit mit unseren Fall als das Zusammen-
leben von Schnecken und Grünalgen zeigt eine von Kammerer'*)
beobachtete Symbiose zwischen Oedogonium undulatum Alex. Braun
und den Larven von Aeschna ceyanaea Müll. Auch Kammerer
fand an der betreffenden Örtlichkeit, einem seichten Wiesenweiher
mit zeitweise verunreinigtem Wasser hunderte von Larven dieser
Art mit einem dichten Algenfilz umhüllt. Andere Libellenlarven
(Gattung Anazx), die gleichfalls in dem Weiher lebten, zeigten nie
eine Spur der Alge. Auch hier sollen die Algen im Vorfrühling
und Spätherbst, solange die Lebensbedingungen fur sie günstiger
sınd, im Weiber ohne Larven vorkommen; im Sommer bleiben sie
bloß auf den Larven erhalten.
An den frisch gehäuteten Larven sprosst sehr rasch ein neuer
Algenrasen hervor, indem die Algen durch die Spalten der Chitin-
Infusorien funktionierten also als Bakterienvertilger. — Sobald ein Oyelops starb,
gingen die peritrichen Infusorien zugrunde und es traten massenhaft Paramaecien
auf. Neben den genannten Epiphyten wuchsen auf einzelnen Cyclops auch grüne
Fadenanlagen, so dass sie mit einem förmlichen Wald von Pflanzen und Tieren be-
deckt erschienen. — In dem gleichen Tümpel fand sich ferner die sonst recht seltene
Galle, die das Rädertier Notommata Werneckii auf Vaucheria hervorruft. Die
Alge flottierte in Watten im Wasser, in deren Mitte eine große Anzahl der cha-
rakteristischen keuligen Gallen zu finden waren.
16) Kammerer, P. Symbiose zwischen Libellenlarve und Fadenalge. Arch.
f. Entwickelungsmeehanik, XXV. Bd., 1907.
ee
Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum. 697
platten zur neuen Haut vordringen. Auf diese Weise ist dafür
gesorgt, dass die Larve ihren wertvollen Symbionten nicht verliere.
— Durch zahlreiche Experimente sucht Kamm erer die gegenseitige
Abhängigkeit der Symbionten darzutun.
Auch ich versuchte durch zwei Versuchsreihen die Frage zu
beantworten, ob und inwiefern Rotalge und Schnecke einander
gegenseitige Vorteile zu bieten imstande wären.
1. Versuchsreihe.
Vorteile, die der Alge von der Schnecke geboten werden.
1. Versuch, 16.VI. Je ein Zweiliterglas wurde mit Leitungs-
wasser gefüllt. Sechs lebende Schnecken mit Batrachospermum-
rasen bezw. sechs mit D. besetzte Schneckenschalenstücke wurden
hineingegeben. In jedes Glas kam außerdem ein Stück Galium
palustre. Die Gläser wurden an einem Ostfenster aufgestellt. Die
Temperatur stieg bis 20° ©.
Schon am dritten Tage zeigten die Algen, die auf den Schnecken-
schalenstücken, teils auf dem Boden, teils auf den Galiumzweigen
lagen, dıe ersten Anzeichen von Degeneration. Diese äußerte sich
in einem Aufeinanderkleben der verquellenden Zweige.
Am 26. VI. zeigte sich die Alge auf den lebenden Schnecken
völlig frisch, nur teilweise von den Schnecken gegenseitig abge-
fressen. Noch am 15. X.,also nach vier Monaten, waren die Algen-
sträuchlein auf den lebenden Schnecken dieses Versuches teilweise
(soweit nicht abgefressen) erhalten. An diesem Tage wurden die
Gläser durch ein Versehen ausgeleert. Die ursprünglich gleich
große Algensträuchlein auf den Schalenstücken waren schon am
26. VI. völlig degeneriert und verquollen. Unter dem Mikroskope
zeigten sich die Zellkonturen zum Teil zerfließend, die ursprünglich
blaugrüne Farbe gelblich und der Schleim von Bakterien durchsetzt.
2. Versuch, 26. VI. Um das gegenseitige Abfressen der Algen
durch die Schnecken zu verhindern, wurden je sechs kleine, Ein-
fünftellitergläser mit einzelnen, algenbewachsenen Schnecken, je
sechs gleiche Gläser mit ganzen, nicht zertrümmerten Schnecken-
schalen, aus denen die Schnecken vorsichtig mit gebogener Pinzette
und Präpariernadel entfernt worden waren, besetzt. Um ein even-
tuelles Faulen zu verhindern, wurden alle Reste des Weichkörpers
beseitigt. Das Versuchsergebnis war das gleiche wie im Versuch 1.
Auch hier gingen die Algen auf den leeren Gehäusen zugrunde,
die Algen auf den lebenden Schnecken erhielten sich, wenn auch
nicht so schön wie ın der Natur, längere Zeit lebend.
3. Versuch, 26. VI. Versuchsanstellung analog jener des zweite
Versuchs. Nur wurden die Batrachospermumsträuchlein nicht auf
den Schneckenschalen belassen, sondern mit dem Scalpell abgelöst.
698 Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis uno Batrachospermum.
Versuchsergebnis wie im zweite Versuch, nur gingen die abge-
lösten Algen noch früher zugrunde.
Die Versuche ergaben also, dass D. vagum var. epiplanorbis
nicht imstande ist, im ruhigen Leitungswasser von höherer Tempe-
ratur längere Zeit zu leben, dass dagegen der Alge die Existenz
ermöglicht wird, wenn sie durch die Schnecke bewegt wird. Die
Bewegung selbst, durch die die Alge stets mit frischem Wasser in
Berührung gebracht wird, die Kohlensäureabgabe durch die Schnecke
und die dadurch bedingte Assimilationstätigkeit sind es, welcher
der Alge die Existenz ermöglichen. Vielleicht kommt es im Freien
wegen der Bewegung der Schnecke auch nicht so leicht zu einem
Ersticken des B. durch Parasiten bezw. zum Abfressen durch Tiere.
Diese aus den Experimenten sich ergebenden Schlussfolge-
rungen werden auch durch die Beobachtung unterstützt. BD.
vagum ist, wie erwähnt, in den Tümpeln des Paradieswäldchens
bei Brünn im Frühjahr in großen Mengen vorhanden. Im Sommer,
wenn die Wassertemperatur sich in dem stehenden Wasser be-
trächtlich (bis auf 24°C.) erhöht, sucht man es vergeblich. Es ist
überall zugrunde gegangen — mit Ausnahme von jenen Orten, wo
es epiphytisch auf Planorbis lebt. Hier überwintert es, wird im
Frühjahr teils durch die Schnecken selbst, teils durch die Köcher-
fliegen verbreitet und beim Ablaichen auf die jungen Schnecken
übertragen.
2. Versuchsreihe.
Vorteile, die der Schnecke von der Alge geboten werden.
1. Versuch, 20. VI. Je drei Exemplare von Planorbis planorbis,
die einen mit, die anderen ohne Alge wurden in mit ausgekochtem
Wasser gefüllte Standgläschen (20 etm.? Inhalt) gegeben und diese
dann verkorkt.
27. VI. Alle Schnecken am Leben. In den Gläschen, die algen-
besetzte Schnecken enthielten, tritt infolge von Degeneration des B.
eine Trübung auf.
28. VI. Algenbesetzte Schnecken alle lebend, algenlose
Schnecken liegen am Boden, geben aber bei Berührung noch Lebens-
zeichen.
29. VI. Algentragende Schnecken alle lebend, kriechen an den
Wänden; von den algenlosen Schnecken, die am Boden liegen, eine
bereits tot.
30. VI. Algentragende Schnecken alle lebend, aber (wohl infolge
der durch allmähliche Degeneration des BD. verursachten Trübung
des Wassers) am Boden liegend, algenlose Schnecken alle tot.
2. Versuch, 27. VI. 11 Uhr vormittags. Kultur im kohlen-
säurehältigem Wasser (nach Kammerer)!"). Jezweizirkaein Achtelliter
17) Kammerer, P. |. c. p. 58.
du
ni 5 ee ee Be u u
Iltis, Über eine Symbiose zwischen Planorbis und Batrachospermum. 669
fassende Gläser wurden zur Hälfte mit Leitungswasser, zur Hälfte
mit Sodawasser gefüllt. In das eine Glas kamen fünf Schnecken mit
Algen, in das andere fünf algenlose Schnecken. Verschluss durch
eingefettete Glasplatte.
27. VII. 4 Uhr nachmittags. Die algenlosen Schnecken alle
am Boden liegend, eine tot, die algenbewachsenen alle lebend.
28. VII. 8 Uhr vormittags. Algenlose Schnecken alle tot,
algenbewachsene arn Boden liegend, aber noch reagierend.
29. VII. 10 Uhr vormittags. Die algenbewachsenen Schnecken
noch immer am Leben.
Es ergibt sich aus diesen Versuchen, dass der von der Alge
bei Assımilation entwickelte Sauerstoff genügt, um den Tod durch
Sauerstoffmangel oder Kohlensäureüberfluss, der bei der algenlosen
Schnecke schon am zweiten Tage eintritt, wenigstens einige Zeit
hintanzuhalten. Wenn auch die Versuchsbedingungen der beiden
Versuche einigermaßen künstliche sind, so können auch in der
Natur Umstände auftreten, die den Sauerstoffgehalt des Wassers
unter das für die Schnecke erforderliche Minimum vormindern. In
diesem Falle wird die Alge für die Schnecke als Sanerstofflieferant
fungieren und ihr Weiterleben ermöglichen.
Zusammenfassung.
=
In der vorliegenden Arbeit wurde das Zusammenleben einer
Rotalge, Batrachospermum vagum Roth.) Ag. var. epiplanorbis, mit
der Schnecke Planorbis planorbis L. beschrieben, das in mehreren
Tümpeln in der Nähe von Brünn an hunderten von Exemplaren
dieser Schneckenart beobachtet wurde. Die Alge DB. vagum,
deren Vorkommen ın Mähren bisher nicht bekannt war und die
jedenfalls zu den seltenen Arten gehört, findet sich im Frühjahr
außer auf den Schnecken auch auf leblosen Gegenständen ın anderen
Tümpeln derselben Lokalität. Im Sommer geht das freilebende
B. zugrunde. Das auf den Schnecken wachsende hält sich und
überdauert den Winter. Indem die Gonidien der Alge auf den
Schneckenlaich gelangen, wird die Alge auf die jungen Schnecken
übertragen und so die Symbiose gleichsam vererbt.
Durch das regelmäßige Vorkommen der seltenen Floridee auf
allen Exemplaren einer bestimmten Schneckenspezies, durch die
Tatsache, dass nur die auf der Schnecke lebende Alge den Sommer
über sich lebend erhält, durch das Resultat von Experimenten, die
es sicher stellten, dass die Alge von der Schnecke einen Vorteil
hat und es wahrscheinlich machten, dass auch die Schnecke durch
die auf ihr lebende Alge gefördert wird, endlich auch durch die
Tatsache, dass die Alge durch Laichinfektion von einer Schnecken-
generation auf die nächste übertragen wird, erscheint die Bezeich-
nung „Symbiose“ für die geschilderte Lebensgemeinschaft auch dann
‘00 Mräzek, Die Schwimmbewegungen von Branchipus und ihre Orientierung.
gerechtfertigt, wenn dieser Ausdruck nur im engeren Sinne gebraucht
wird. Dass es sich nicht um eine rein lokale zufällige Lebens-
gemeinschaft handelt, ergibt sich auch daraus, dass für manche
seltene Formen von .Batrachospermum in systematischen Algen-
werken das Vorkommen auf Schnecken als charakteristisch ange-
führt wird. —
Als Schmarotzer auf Batrachospermum vagum (Roth.) Ag. var.
epiplanorbis wurde Nostoc sphaericum Vauch., der bisher nur als
Endophyt in Moosen bekannt war, konstatiert.
Endlich wurde eine zweite Lebensgemeinschaft einer Alge mit
einer Schnecke beschrieben, das Auftreten von Ühaetophora Cornu
damae (Roth.) Ag. auf Limnea palustris Müll. Auch diese ansehn-
liche Alge erhält sich zu gewissen Zeiten nur auf der Schnecke
lebend, während die freiwachsenden Algen schon ihren Lebenszyklus
abgeschlossen haben.
Die Schwimmbewegungen von Branchipus
und ihre Orientierung.
Von Prof. Dr. Al. Mräzek (Prag).
Branchipus ıst bekanntlich durch sein spezifisches Benehmen
beim Schwimmen charakterisiert, indem er sich gewöhnlich hori-
zontal, mit nach unten gekehrter Rückenseite schwimmend fort-
bewegt, ein Rückenschwimmer par excellence ist.
Ich habe seinerzeit über den event. Zusammenhang der eigen-
artigen Schwimmweise mit phototaktischen Reaktionen einige Beob-
achtungen und Experimente angestellt. Ich habe darüber nichts publi-
ziert, da einerseits meine Versuche zu meiner eigenen Belehrung ausge-
führt wurden (zu denselben wurde ich durch die damals erscheinen-
den interessanten Studien Kollegen Rädl’s angeregt), andererseits-
auch deshalb, weil meine Beobachtungen nur fragmentarisch bleiben
mussten. Die biologischen Verhältnisse des periodischen Auftretens
von Branchipus und seiner Lokalitäten machen es schwer, sich
ein genügendes Material zu eingehender experimentell-biologischer
Untersuchung zu verschaffen. Wenn ich jetzt zu der Frage zurück-
kehre, so geschieht dies aus dem Grunde, weil in jüngster Zeit
drei amerikanische Forscher das Problem der Schwimmweise von
Branchipus berührt haben und dies mich an meine alten Beobach-
tungen erinnert hat. Ich ersehe aus den erwähnten Arbeiten, dass
es angebracht wäre, meine Resultate mitzuteilen, da diese Arbeiten
leicht zu einer falschen Betrachtung der Tatsachen führen könnten.
Am eingehendsten befasst sich mit dem Benehmen und Re-
aktionen von Branchipus Mary OÖ. MeGinnis!), doch sind ihre
1) MeGinnis, Mary O.: Reactions of Branchipus serratus to light, heat
and gravity. Journ. Exp. Zoology, Vol. 10, 1911, p. 227—240,
1
2
N
Mräzek, Die Schwimmbewegungen von Branchipus und ihre Orientierung. 701
Aussagen über den Zusammenhang der Schwimmorientierung und
photischen Reize reserviert. Sie sagt nur: *When Branchipus reacts
to light the ventral side of the body is usually turned toward the
source of light, with the long axis of the body lying at right angles
to the light rays.”
S. J. Holmes äußert sich in seiner Arbeit, die übrigens früher
erschienen ist, schon bestimmter: “Swimming on the back in Eu-
branchipus is due in part at least to the lıght?).”
Bei Pearse?) endlich lesen wir: “The orientation of the body,
as Holmes (1910) and MeGinnis (1911) have pointed out is such
that the ventral side is toward the source of light (hence usually
uppermost).”
Das Problem der Orientierung von Branchipus scheint mir
aber nicht so einfach zu sein und ich kam zu etwas anderer Auf-
fassung. Der Grund dafür ıst, dass ich bei meinen Beobachtungen
nicht so sehr die Reaktionen der schwimmenden Tiere im direktiven
Licht studierte, sondern von vornherein bemüht war, das Benehmen
der Tiere unter Verhältnissen, die den direktiven Einfluss des Lichtes
ausschließen, zu erforschen.
Dazu gab es allerlei Wege. Der eine bestand ın der opera-
tiven Entfernung der Augen. In der Neuzeit haben Holmes)
und McGinnis?) ähnliches versucht, aber, wie die unten zitierten
Sätze zeigen, ohne Erfolg. Im schroffen Gegensatz dazu stehen
meine Erfahrungen. Die Amputation der gestielten Augen ist eine
für das Tier unbedeutende Operation, die auch nicht besonders
schwierig auszuführen ist. Natürliche Vorbedingung für die Ope-
ration ıst, dass man mit der zarten Beschaffenheit des Körpers
rechnen muss. Die Tiere kamen bei der Operation nicht aus dem
Wasser, sie wurden aus dem Zuchtgefäß mit einem Löffel auf ein
dickes Objektglas mit einem tiefen länglichen Ausschliff gebracht
und es wurden ihnen hier die Augen mit einer feinen Schere abge-
trennt. Natürlich muss man viel Geduld haben und es gelingt auch
nicht ein jeder Versuch. Die Bewegungen der Tiere vereiteln oft
die Schnittrichtung, führen zu größeren Verwundungen des Kopfes etc.
Aber wie gesagt wurde, gelingt es doch öfters, die Augen beider-
seitig glatt zu amputieren.
2) Holmes, S. J.: Description of a new species of Kubranchipus from
Wisconsin, with observations on its relations to light. Trans. Wise. Acad. XVI,
1909, p. 1252—1254.
3) Pearse, S. A.: Observations on the Behavior of Eubranchipus dalayt.
Bull. Wise. Nat. Hist. Society, Vol. X, 1913, p. 109—117.
4) l.c. p. 1254. “One eye was cut off in a number of individuals but the
shock effect prevented any response to light and in few hours all were dead.”
5) l.e. p.224. “An effort was made to remove the eyes, in order to determine
whether any other parts of the body is sensitive to light. The operation howewer
though very carefully performed, proved fatal to the animals.
XXXII. 46
702 Mräazek, Die Schwimmbewegungen von Branchipus und ihre Orientierung.
In solehen Fällen verursachte die Operation keinen bemerk-
baren Schaden den Versuchstieren, keine Schockerscheinungen ete.
Die Tiere, in das Beobachtungsgefäß zurückgebracht, erholten sich
sofort. Von Interesse aber ist, dass solche augenlose Tiere in
ihren Bewegungen (die Beobachtungen wurden bei schwachem
diffusen Tageslicht angestellt) keine bemerkbaren Unterschiede
von den normalen Tieren zeigten. Sie schwammen wie früher
in der Rückenlage!
Es blieb jedoch den Tieren noch das Medianauge, und die
Augen brauchen ja nicht die einzigen Photorezeptoren zu sein. Ich
habe deswegen noch andere Versuchsreihen angestellt.
Die Versuchstiere wurden gleichzeitig von oben und unten dem
diffusen Licht ausgesetzt, sie wurden am Abend bis zum Eintreten
der Finsternis beobachtet, und ich versuchte auch in der Nacht,
durch plötzliches Beleuchten mich von der Orientierung der Tiere
zu überzeugen. Ich kam immer wieder zu dem Resultate, dass die
Tiere unter diesen Umständen ıhre normale Bewegungsart be-
halten.
Diese Beobachtungen zeigen deutlich, wie an sich sehr wichtige
und interessante Experimente leicht zu einer einseitigen und des-
halb falschen Auffassung des Benehmens eines Tieres führen können.
Würde man in Unkenntnis der phototropischen Experimente
die Bewegungsweise von Branchipus betrachten, so könnte man
auch auf den Gedanken kommen, dass die Orientierung von Branchi-
pus vielleicht mit geotaktischen Erscheinungen zusammenhängt.
Und könnte man die Richtung der Schwerkraftwirkung beliebig
ändern, wie wir dies bei den phototropischen Versuchen mit dem
Lichte tun, so würde man wahrscheinlich finden, dass Dranchipus
auch hier sich immer zur Versuchsrichtung transversal stellt und
ihn in einen Bauchschwimmer verwandeln können. Die eventuellen -
Schlussfolgerungen wären aber wieder nur einseitig und teilweise
falsch.
Die Bewegung eines beliebigen Tieres mit allen ihren Einzel-
erscheinungen ist ein äußerst komplizierter Vorgang, der sich keines-
wegs ın einfach mechanischer Weise kausal erklären lässt. Ebenso-
wenig wie man sagen darf, dass der aufrechte Gang des Menschen
eine Folge von Phototaxis und Geotaxis ıst, ebensowenig kann
man die Bewegung von Branchipus ın unmittelbaren einfachen Zu-
sammenhang mit der Phototaxis ete. bringen! Ebenso falsch wären
auch beliebig andere Erklärungen, zu denen man Zuflucht nehmen
könnte, so z. B. besonders die Annahme der Orientierung als einer
adaptiven Schutzvorrichtung gegenüber mechanischen Insulten, Fein-
den etc.®).
6) Vgl. Calman, W.T.: The life of Orustacea London. Methuen. 1910, p. 163.
Kutter, Zur Biologie von Formica rufa und Formica fusca i. sp. 103
Nach meiner Ansicht sind wir heutzutage nur berechtigt zu
der Annahme, dass ein jedes Tier seine spezifisch charakteristische
Bewegungsweise besitzt. Sehr schön sehen wir dies gerade bei den
Phyllopoden, zu denen ja der Dranchipus gehört, z. B. bei den
Cladoceren. Daphnia, Ceriodaphnia, Simocephahıs, Scapholeberis,
Sida etc. sind alle phototaktisch, eine jede von diesen Gattungen
verhält sich jedoch dabei in spezifischer Weise. Simocephalus z. BD.
ıst ebenfalls ein Rückenschwimmer. Wenn irgendeine von diesen
Formen auf photische Reize mit Bewegungen antwortet, so kann
dies natürlich nur auf die mechanisch allein mögliche spezifische
Art und Weise geschehen. Die Bewegungsweise ıst wohl in erster
Reihe durch die allgemeine Körperform bedingt. Von dieser ge-
gebenen morphologischen Basis müssen wir bei allen unseren phy-
siologischen Experimenten ausgehen. Wir betrachten natürlich
diese Basıs nicht als eine absolut unveränderliche, sie ıst erst ım
Laufe der Entwickelung zu der heutigen geworden. Und es er-
scheint mir auch wahrscheinlich, dass der Entwickelungsgang
vielleicht im Anschlusse an die stets gleichen direktiven Einflüsse
des Lichtes und auch der Schwerkraft erfolgte. Aber etwas mehr
darüber hinaus auszusagen sind wir heutzutage nicht berechtigt.
Wir stehen hier wie auch anderswo vor dem großen Problem der
spezifischen Form.
Ende September 1913.
Zur Biologie von Formica rufa und Formica fusca i. sp.
Von Heinrich Kutter (Zürich).
Im Laufe der letzten Monate habe ich einige interessante Ex-
perimente mit Ameisen ausgeführt, die sich namentlich auf die
Adoption fremder Königinnen erstrecken und deren wesentlichen
Inhalt ich hier kurz mitteilen möchte.
r
Künstliche Allianz von zwei F. rufa-Stämmen.
Anfangs April 1913 holte ich aus dem Walde:
1. Einen kleinen Sack voll rufa einer Kolonie a.
2. Einen kleinen Sack voll rufa einer Kolonie B.
Aus a isolierte ich am 3. April gegen 100 r«fa-Arbeiter ın
einem Brun’schen Torfapparate ohne tn und Brut. Diese
Kolonie soll mit a, bezeichnet werden. herner versetzte ich 8 Ar-
beiter nebst 2 Weibchen in einen Apparat. Diese zweite Kolonie
benenne ich mit a,.
1. Experiment in der Kolonie a..
Am 4. April setzte ich eine Königin aus B zu diesen Ameisen.
Das fremde Weibchen wurde anfangs zwar heftig angegriffen; aber
46*
104 Kutter, Zur Biologie von Formica rufa und Formica fusca i. sp.
nach Verlauf einer Viertelstunde wurde es beleckt und gefüttert;
war also adoptiert.
Hierauf gab ich meinen rufa auch noch einen Arbeiter aus B.
Er wurde schon nach 2 Minuten gar nıcht mehr beachtet und war
nach weiteren 3 Minuten vollständig adoptiert.
2. Experiment in der Kolonie a..
Diesen rufa gab ich noch am selben Tage ebenfalls eine Königin
aus B. Zuerst wurde sie ziemlich scharf fixiert und namentlich
auch die Weibchen von a, begegneten ıhr feindselig. Jedoch nach
Verlauf dreier Stunden herrschte über ihre Adoption kein Zweifel
mehr.
Nun vereinigte ich a, mit a, und hatte nun also eine neue
künstliche Kolonie A, welche aus ca. 100 Arbeiter nebst 2 Weibehen
aus a und 2 Königinnen mit 1 Arbeiter des Nestes B bestand.
B dagegen besitzt nur noch 14 Königinnen neben ungefähr 100 Ar-
beitern, nachdem von den ursprünglichen 16 Weibchen 2 ın A
adoptiert worden waren.
Am 6. April brachte ich nun sämtliche 14 Weibchen aus B
zu A, und zwar in Zeitabschnitten von je 5 Minuten. Sie wurden
alle ohne weiteres angenommen; ebenso die vielen Eier aus B.
Somit befand sich also bei B kein Weibchen mehr. A hatte somit
16mal eine fremde Königin adoptiert.
Am 7. April verband ich nun die weisellose Kolonie B mit A.
Sofort entwickelte sich ein eifriger Nestverkehr. Nirgends war
eine Spur von Kampf zu sehen. Als jedoch die Arbeiter von B
gemerkt hatten, dass A ihre Königinnen besitze, schafften sie ihrer
so viel sie konnten in den alten Apparat hinüber. Dadurch ver-
söhnten sie sich aber gleichzeitig mit der Gegenpartei, welche jene
überhaupt ganz unbeachtet ließ. Abends 10 Uhr waren alle Ameisen
in einem Nest und der andere Apparat konnte wieder abgetrennt
werden.
3. Das Verhalten der alten Nestgenossen von a gegenüber
der Allianzkolonie.
Am 8. April brachte ich zu meinen Ameisen wiederum ca. 70 Ar-
beiter und S Königinnen der Waldkolonie a. Die neuen Ankömm-
linge gingen zuerst sehr vorsichtig, ja feindselig vor, doch schon
nach 2 Minuten herrschte kompletter Friede. Dabei fiel mir auf,
dass sich von den 18 Weibchen der Allianzkolonie 16 erschrocken
in einen Winkel zurückzogen, während die beiden übrigen ungeniert
vor der Verbindungsröhre umherliefen.
Zu diesen Versuchen nur einige Bemerkungen:
1. Was zunächst die Adoptionen betrifft, so ist die Tatsache,
dass eine rufa-Kolonie eine große Neigung zur Adoption fremder
Kutter, Zur Biologie von Formica rufa und Formica fusca i. sp. 105
Weibchen (Pleometrose) zeigt, nicht neu. Sie wurde durch Was-
mann!) und Brun?) experimentell zur Genüge erwiesen. Das In-
teressanteste an den vorliegenden Versuchen ist jedoch, dass durch
die vorangegangene Aufnahme der Weibchen aus B bei A,
der Weg zu diesem Neste nun auch für die Arbeiter B sozusagen
offen stand. Da die Arbeiter A die Fremden in keiner Weise be-
lästigten, anderseits aber die letzteren ihre eigenen Königinnen und
Brut unversehrt im Neste A wiederfanden, so ist diese rasch, und
ohne künstliche Mischung der Parteien, also gewissermaßen spontan
eintretende Allianz leicht zu erklären.
2. Bei unserem dritten Experiment fiel das Verhalten zweier
Weibchen auf, welche ruhig vor der Verbindungsröhre, durch welche
die neu Ankommenden in das Nest spazierten, verharrten, während
die übrigen 16 Königinnen sich erschrocken flüchteten. Wenn diese
letzteren dem ursprünglichen Stamme B angehörten, die beiden
übrigen dagegen dem früheren Stamme a,, so müsste aus diesem
Verhalten geschlossen werden, dass sich innerhalb der 24 Stunden,
seit welcher Zeit die Alliıanzkolonie A—B bestand, jedenfalls noch
kein reizphysiologischer, einheitlicher Mischgeruch entwickelt hatte,
der als neuer homogener Komplex wirken würde. Oder m.a. W.:
dass sich die verschiedenen Parteien auch nach dieser Zeit noch
wohl zu unterscheiden vermochten. Auch diese Resultate stimmen
vollkommen überein mit den Anschauungen, die in neuester Zeit
Brun?) über die Entstehung der künstlichen Allianzen bei den Ameisen
entwickelt hat, nämlich dass diese Allianzen nicht auf einer ein-
fachen Mischung der Nestgerüche beruhen, sondern auf der Fähig-
keit, wenigstens gewisser höherer Ameisen, individuelle Erfahrungen
zu machen und ihr Verhalten dementsprechend zu ändern.
Ein zweiter Versuch, eine Allianz zweier r«fa-Stämme auf die
eben beschriebene Weise!) zustande zu bringen, glückte ebenfalls.
Die Resultate waren genau dieselben.
IT.
Künstliche Massenadoption von F. rufa-Weibehen bei
F. fusca i. Sp.
In folgendem seien noch einige erwähnenswerte Adoptions-
versuche bei F. fusca geschildert. Es ist mir nämlich gelungen,
16 befruchtete rufa-Königinnen in kurzer Aufeinanderfolge bei
einer weisellosen fusca-Kolonie von ca. 200 Arbeitern zur Adoption
1) Biolog. Centralbl. 1905 u. f.
2) Biolog. Centralbl. 1912.
3) Biolog. Oentralbl. 1912, Bd. XXXII, Nr. 5. — Journal für Psychologie
und Neurologie Bd. 20, 1915.
4) Nämlich dadurch, dass man zuerst die Königinnen der fremden Partei
adoptieren lässt und erst dann die Arbeiter in das Nest bringt.
706 Kutter, Zur Biologie von Formica rufa und Formica fusca 1. sp.
zu bringen, was bisher, soviel ich mir bewusst bin, noch nicht be-
obachtet wurde.
Ich will vorausbemerken, dass alle diese adoptierten Weibchen
meiner oben beschriebenen Allianzkolonie entstammten.
Nachdem die fusca eine Nacht ohne Königin und Brut in einem
Torfapparate zugebracht hatten, gab ich ihnen am folgenden Morgen,
es war der 11. April d. J., ein rufa-Weibchen. Dieses erlag jedoch
bald den Misshandlungen seitens der fusca, ebenso ein zweites,
dieses allerdings erst nach 3 Tagen.
Am 21. April brachte ich 2 neue rufa-Weibchen in meine
fusca-Kolonie. Sie wurden noch am selben Abend adoptiert und
nach 3 Tagen hatten sie schon eine ansehnliche Menge Eier gelegt.
Von nunan wurden sämtliche, später eingebrachten rufa-Weibchen,
ohne weiteres adoptiert.
Ich brachte ein:
Am 21. April 2 rufa-Weibchen
” 29. ”
MSN Mar
12.
ar
Iltehr
aan
a
uni 1 4
Somit besaßen die fusca am 6. Juni 16 vollkommen muntere
rufa-Weıibchen.
Das Verhalten der Tiere war in allen Fällen ein ganz ähnliches:
Es gab einen Augenblick Verwirrung im Apparate, indem die neuen
Königinnen zunächst aufgeregt zwischen den fusca umherliefen,
worauf sich rasch die Ruhe wieder herstellte, und die neuen Weibchen
von den fasca genau so freundschaftlich behandelt wurden, wie die
schon anwesenden.
In überraschendem Gegensatze zu diesen Resultaten wurden
Arbeiter der nämlichen r«fa-Allianzkolonie, welche ich den
fusca zur Kontrolle gab, stets ohne Ausnahme von diesen hart-
näckig angegriffen und getötet. Ich habe den Versuch zwölfmal
wiederholt, und dabei zusammen nicht weniger als 30 rufa-Arbeiter
nacheinander zu den fusca gesetzt, von denen jedoch kein einziger
am Leben blieb.
Diese letzteren Ergebnisse stehen in auffallendem Widerspruch
zu den Resultaten meiner früheren Experimente bei einer weisel-
losen Kolonie der fusca-Rasse einerea, bei welcher es mir wieder-
holt nacheinander gelang, rufa-Arbeiter zur Aufnahme zu bringen’).
DÄAHHme+- De D +
5) Zeitschrift für wissenschaftliche Insektenbiologie Bd. IX, 1913, Heft 6/7,
p. 193—1%6.
En
ee
Car, Die Erklärung der Bewegung bei einigen Protozoen. 70%
— Ein Resultat, das ich damals auf eine bedeutende plastische An-
passungsfähigkeit dieser Rasse beziehen zu dürfen glaubte.
Am 10. Juni verband ich meine Mischkolonie mit einem zweiten
Apparate, welcher mit fremden f«sca-Puppen angefüllt war, und
zwar sowohl mit geschlechts- als auch mit Arbeiterpuppen. Diese
reiche Beute wurde von den frsca sofort in Besitz genommen;
jedoch wurden nur die Arbeiterpuppen gepflegt, während die männ-
lichen und weiblichen Nymphen aus ihren Hüllen gezogen und im
Laufe der nächsten Tage sämtlich umgebracht wurden.
Ich gab nun meiner Kolonie am 20. Juni eine Menge rufa-
Puppen zugleich mit 2 Königinnen und 5 Arbeitern. Diese neuen
Ameisen gehörten der ım ersten Kapitel mehrfach erwähnten
Kolonie a an. Abends 9 Uhr hatten die frsca einen großen Teil
der rufa-Puppen zu sich hinübergenommen und zu schönen Häufchen
zusammengetragen. Wie mir schien, war diese Brut adoptiert.
Die 5 fremden Arbeiter waren sämtlich exekutiert worden; ebenso
merkwürdigerweise die eine der 2 r«fa-Königinnen, welche von den
fusca ohne weiteres getötet und enthauptet wurde. Das zweite
Weibchen konnte sich noch rechtzeitig vor den Angriffen ın einen
Winkel des Nestes flüchten, wo es sich 2 Tage lang still verhielt,
worauf es dann schließlich doch aufgenommen wurde.
Dies letztere Resultat zeigt wiederum deutlich, wie automatisch
Ameisen in solchen Fällen vorgehen können. Durch die rufa-
Arbeiter und die viele Brut erschreckt und aufgeregt, gingen sie
gegen alles, was nach rufa roch, feindselig vor, ohne im ersten
Moment die Königinnen vom Arbeiter zu unterscheiden. Ich bın
aber überzeugt, dass, wenn ich die beiden Weibchen allein zu den
fusca hineingelassen hätte, dieselben ohne weiteres adoptiert worden
wären, wie es bei den vorhergehenden 16 Königinnen der Fall ge-
wesen war.
Die Erklärung der Bewegung bei einigen Protozoen.
Von Professor Dr. Lazar Car (Zagreb).
Schon vor vielen Jahren habe ich einen Versuch gemacht, das
Schweben einiger Fliegen in der Luft in einem Punkte zu erklären.
(Zool. Anzeiger 1893, Nr. 431). Ich will mich mit der Erklärung
des Schwebens hier nicht von neuem befassen, und lasse selbst
die Richtigkeit der von mir dort aufgeworfenen Hypothese vor-
läufig dahingestellt. Doch der Grundgedanke, von welchen ich
damals ausging, nämlich die Erklärung der Bewegung der Flagel-
laten, scheint mir heute noch die richtige zu sein, und dies bewog
mich auch zur weiteren Untersuchung der Lokomotion noch einiger
anderen Protozoen und der Flimmerzellen bei anderen Tieren.
08 Car, Die Erklärung der Bewegung bei einigen Protozoen.
Unterziehen wir die Bewegung der bewimperten Epithelzellen
z. B. der Respirationswege der Vertebraten, scıilicet Frosch, einer
eingehenden Beobachtung. Ruß, kleine Staubpartikelchen ete., die
zufällig in die Luftröhre eingedrungen sind, werden bekanntlich
durch die Flimmerbewegung wieder herausbefördert. Diese Par-
tikelchen kleben an der Schleimschicht an, die die bewimperten
Flächen überzieht. Der Strom, den die Flimmerung erzeugt, hat,
wie es heisst, eine bestimmte Richtung, in diesem Falle nach außen,
und zwar stets nur die eine Richtung, weil nur diese in diesem
Falle zweckmäßig ist. Welche Bewegungen müssen aber die ein-
zelnen Wimpern ausführen, dass gerade diese Richtung zustande
kommt, das ıst eben hier die Frage.
Direktes Beobachten der verschiedenen Lagen der einzelnen
Wimpern und noch dazu in einzelnen außerordentlich kleinen Zeit-
abschnitten ist schier unmöglich. Wir müssen uns also vor allem
mit den Möglichkeiten, die hier mechanisch zustande kommen und
zu erwünschten Resultaten führen könnten, befassen, die jedoch der
aus der Beobachtung erschlossenen Erklärung nicht direkt wider-
sprechen dürfen. Und da ergibt sich, wenigstens für mich, nur
diese eine Möglichkeit.
Die Flimmerzellen sind, wie uns die Beobachtung lehrt, in einer
steten Bewegung begriffen. Es fällt also ein Partikelchen auf einen
bestimmten Punkt dieser bewimperten Oberfläche; die nächst
äußeren Wimpern geraten in eine lebhaftere Schwingung, und
gleich darauf wieder die anderen nächsten, nach außen gekehrten
Wimpern ete. Wo aber in einer Flüssigkeit — hier Schleim —
eine stärkere Bewegung stattfindet, wo also eine Flüssigkeit in Be-
wegung gesetzt wird, da ist auch der Druck der Flüssigkeit auf
dieser Stelle ein geringerer. Ein kleiner Körper, der in einer Flüssig-
keit schwimmt, wird von allen Seiten von der Flüssigkeit gedrückt.
Wenn sich also auf einer Seite ein geringerer Druck bildet, wird
der Körper gegen diesen locus minoris resistentiae verschoben. und
das geht so weiter fort, bis er an die Mündung befördert wird.
Die Flüssigkeit ist es, in der dieser Körper weiter wandert: es
wird nämlich ein Strom in der Flüssigkeit erzeugt, der das Partikel-
chen mitzıeht.
Das Flimmerepithel flimmert in einem fort; ein gleichmäßiges
Flimmern könnte aber keinen Strom in bestimmter Richtung er-
zeugen, es ist also eine Welle von kräftigeren Schwingungen,
die von dem gereizten Punkte aus nach außen zieht, welche diese
Strömung erzeugt hat. Der Anstoß zur energischeren Schwingung
geben die benachbarten Partien, die sich eben selbst etwas früher
in demselben Zustand befunden haben; den Ausgangspunkt aber
für diesen sich fortpflanzenden Reiz gibt, wie wir schon oben be-
merkt haben, der mechanische Anstoß des Partikelchens selbst.
A ee uch
Car, Die Erklärung der Bewegung bei einigen Protozoen. 709
Nun, welche Bewegungen müssen die einzelnen Wimpern aus-
führen, damit sie diese in einer bestimmten Richtung fortlaufenden
Welle, und nota bene zu gleicher Zeit auch die Strömung erzeugen?
Solche Bewegungen, wie sie Verworn in seiner „Allgemeinen
Physiologie“ (3. Aufl. 1909, S. 292) angibt, sind es jedenfalls nicht.
Dass sich die Flimmerbewegungen metachronisch d. h. sukzessiv
abspielen, ist zwar richtig, nur sind die Ebenen, in der die Schwin-
gungen der einzelnen Wimpern ausgeführt werden, um 90° zu
drehen; und ist das Ganze auch nicht als eine Ruderbewegung
aufzufassen, sondern ganz anders. — Die einzelnen Wimpern
schwingen in emer zur Richtung des Stromes rechtwinkeligen Ebene;
also sie neigen sich viel stärker als gewöhnlich rechts links. Und
wenn sich so alle Wimpern in einer Querreihe synchron recht tief
auf die rechte Seite geneigt haben, folgt dieser Bewegung auch
gleich die nächst äußere Querreihe mit einer etwas verspäteten
Phase u. s. w. Die Stellen des stärkeren Hin- und Herschlagens
werden so immer weiter nach außen fortgepflanzt, und diese Stellen
erzeugen in ihrer nächsten, natürlich außerordentlich kleinen Um-
gebung Orte geringeren Druckes ım der Flüssigkeit, zu welchen
das Partikelchen hingezogen wird.
Denn, wenn auch Verworn die Bewegung einer einzelnen
Wimper (S. 295) mechanisch ganz richtig erklärt, übersah er doch,
dass sich solche Bewegungen der Wimpern in einer Längsreihe
gegenseitig absolut stören müssten. Sein ganzer Gedankengang
war aber auch em anderer. Er ging nämlich von der Beobachtung
der Schwimmplättchen der Ctenophoren aus, die freilich eine Ruder-
bewegung ist, und zwang so auch die Wimperbewegung der ciliaten
Infusorien in denselben Rahmen.
Bei der Erklärung der Flimmerbewegung muss man, meiner
Meinung nach, von einem ganz anderen Prinzipe ausgehen. näm-
lich von dem Prinzipe des durch das energischere Schlagen erzeug
ten geringeren Druckes in der Flüssigkeit.
Wenn ein ovaler Körper z. B. ein Flagellate, nur auf einem
Pole mit einer Geißel versehen ist, und diese Geißel in welcher
immer Richtung herumpeitscht, sei es rechts, links, oder in einem
Konus, auf jeden Fall wird durch die Bewegung des Wassers der
Druck an dieser Stelle geringer. Der Druck des Wassers von
rechts und links des Tieres, so wie von oben und von unten, halten
sich Gleichgewicht, der Druck aber von hinten findet keinen ent-
sprechenden Gegendruck vorne, ergo muss das Tier in dieser Rich-
tung vorwärts schießen —- wenn das eine isolierte Zelle ıst, die
nach dem Orte des geringsten Widerstandes, den sie selbst erzeugt
hat, hineilt. — Wenn aber die Zelle zwischen die anderen einge-
keilt ist, wenn es sich um eine bewimperte Oberfläche, eines Or-
ganes, eines größeren Tieres handelt, wenn diese bewimperte Fläche
10 Car, Die Erklärung der Bewegung bei einigen Protozoen.
fix ıst, so bleibt sie an Ort und Stelle und nur die anderen win-
zigen Partikelchen müssen dem Zuge nachfolgen.
Eine durch eine solche vorwärtsschreitenden Welle erzeugter
Strom führt die, natürlich entsprechend kleinen, Körperchen mit,
z. B. das Plankton längs bewimperter Anhängsel oder Flächen bei
verschiedenen Tieren, die Staubpartikelchen in den Luftwegen etc.
Reisst sich aber eine solche bewimperte Zelle aus ihrem Verbande,
wie man es leicht bei Fröschen, Mollusken etc. beobachten kann,
so sehen wir, dass die Wimpern weiter flımmern und der von ihnen
erzeugte Strom die isolierte Zelle selbst bewegen kann, und zwar
jetzt natürlich in entgegengesetzter Richtung. Nachdem aber so
eine Zelle nur an einer Fläche bewimpert ist, so muss sie sich
drehen. Wäre sie allseitig bewimpert und schlugen die Wimpern
so, dass sich die Welle gegen das eine Ende des mehr oder
weniger gestreckten oder ovalen Körpers fortsetzte, so würde er
sich mittels dieser Flimmerung selbst bewegen, und zwar, wie ge-
sagt, in der entgegengesetzten Richtung, als er andere kleinere
Körper in Bewegung versetzen kann.
Und somit hätten wir zu gleicher Zeit die Bewegung nicht
nur der Fremdkörperchen auf bewimperten fixen Flächen, sondern
auch die Bewegung der einzelnen Wimperzellen, sowie der Flagel-
laten und ciliaten Infusorien mittels desselben Prinzipes erklärt.
Es verhält sich die Sache bei den letzteren im Vergleich mit be-
wimperten fixen Flächen gerade umgekehrt. — Und eine richtig
erklärte Wirkung muss sich auch bei der Umkehr der Bedingungen
entgegengesetzt herausstellen.
Der Mechanismus ist zwar sehr einfach, aber nichtsdestoweniger
wunderbar. Also ein ciliates Infusorium wird von einem haupt-
sächlich von rückwärts wirkenden Druck, den es aber selbst er-
zeugt hat, nach vorne geschoben; wie wenn sich der Kern aus
einer Pflaume ohne Biegungen und ohne allen Muskeln selbst
herauszuquätschen vermöchte.
Ganz anders ist die Bewegung bei Gregarinen zu erklären.
Für diese Protozoen heisst es, dass sich ihr Körper durch trans-
versale nach hinten schnell ziehenden Kontraktionen vorwärts be-
wegt. Diese Kontraktionen gleichen vollkommen den peristaltischen
Bewegungen unseres Darms. Wie ın diesem eine Zusammen-
schnürung, die am vorderen Ende anhebt, den ganzen Inhalt nach
rückwärts schiebt in Form einer nach hinten ziehenden ringförmigen
Anschwellung, bis sich so der Schlauch seines Inhalts entledigt,
gerade so läuft eine ringförmige Anschwellung — eine Welle —
bei den Gregarinen nach hinten. Nun hier entledigt sich der
Schlauch aber nicht seines Inhaltes des eigenen Protoplasmas,
welches ın völlig geschlossener Haut zurückbleibt — sondern es
wird dadurch die Gregarine selbst nach vorne geschoben.
Zander, Das Geruchsvermögen der Bienen. 7a
Nun ja, die Beobachtung ist richtig und so läuft der Prozess
auch ab, aber wıe kommt auf diese Art der Körper in Bewegung?
Die am vorderen Ende erzeugte ringförmige Anschwellung schiebt
bei ihrer Wanderung nach hinten eine Wassersäule, oder besser gesagt
einen hohlen Wasserzylinder nach rückwärts. Dieses nach hinten
gedrückte Wasser stößt auf schon vorhandenes Wasser auf. Das-
Wasser ıst zwar außerordentlich beweglich und verschiebbar, aber
nur für gewisse Schnelligkeiten, wenn die Bewegung gar zu rasch
geschieht, so verhält sich das rückwärtige Wasser wie eine feste
Mauer, und so wird der zusammengedrückte Wasserzylinder an diese
Mauer angepresst, von der er gleich wieder abprallt. Es entsteht
also eine Reaktion, ein Gegendruck. Die ringförmige Anschwellung
— die positive Welle — ist gerade in diesem letzten Momente
am hinteren Ende der Gregarıne angelangt. Nun presst der
Wasserdruck diese Scheibe und schiebt dadurch auch den ganzen
Körper nach vorne. Es ist, wie wenn die Gregarine eine hinten
angebrachte Spiralfeder zusammengedrückt hätte, die sich wieder
verlängert und so die ganze Gregarine nach vorne wirft. Diese
Bewegungsart beruht also auf dem Prinzipe der Reaktion. —
Viel schwieriger gestaltet sich die Erklärung für die Bewegung
der Dinoflagellaten. Für diese konnte ich bis jetzt noch keine be-
friedigende Lösung finden, muss aber gleich bemerken, dass mich
die bisher aufgestellten Theorien gar nicht befriedigen. Ja es ist
mir nicht bekannt, dass die Sache überhaupt schon genug ein-
gehend behandelt worden wäre, und so lässt sich auch hier noch
Vieles tun.
Das Geruchsvermögen der Bienen.
Von Prof. Dr. Enoch Zander,
Leiter der K. Anstalt für Bienenzucht in Erlangen.
Vielfach wird in der Literatur die Anschauung vertreten, dass
die Bienen ein schlechtes Geruchsvermögen besäßen. Nach An-
dreae!) z. B. lassen sich zwar laufende und kriechende Insekten
mehr durch Gerüche leiten, aber fliegende Insekten (Apis, Osmia,
Anthophora, Anthidium) haben einen besseren Gesichtssinn. Be-
sonders nachdrücklich vertritt Forel?) diese Meinung und stützt
sie durch die Beobachtung, dass man eine, mit Gaze überspannte
Honigschale in nächster Nähe eines Stockes, ja unmittelbar vor dem
Flugloch aufstellen könne, ohne dass auch nur eine Biene den Ver-
such macht, durch das Gitter zum Honig zu gelangen.
1) Andreae, Eugen. Inwiefern werden Insekten durch Farbe und Duft
der Blumen angezogen? Beihefte zum botan. Centralbl., Bd. 15, S. 427, 1903.
2) Forel, August. Das Sinnesleben der Insekten. München 1910.
TD /ander, Das Geruchsvermögen der Bienen.
(
Seitdem ich an der K. Anstalt für Bienenzucht ausgiebige Ge-
legenheit habe, mich mit den Lebenseigentümlichkeiten der Bienen
zu beschäftigen, ist mir diese Ansicht sehr zweifelhaft erschienen,
denn die tägliche Erfahrung, die bei allen den Geruchssinn reizen-
den Hantierungen (Honiggewinnung, Wachsauslassen ete.) zu äußerster
Vorsicht mahnt, nötigt zu dem gegenteiligen Schlusse. Doch wollte
es mir bisher nicht gelingen, den Widerspruch zu lösen. Ja, die
Wiederholung des von Forel angegebenen Versuches im Sommer
1912 schien seine Behauptung zu bestätigen. Tagelang stand die
Schale unbeachtet in der Flugbahn eines Bienenstockes. Als ich
den Versuch jedoch im September anstellte, fielen dıe Bienen sofort
in Scharen darüber her, so dass ich die Schale nach wenigen Mi-
nuten entfernen musste, um nicht die ärgste Räuberei hervorzurufen.
Damit war ich der Lösung des Problems sichtlich näher gekommen,
denn schon diese beiden Versuche schienen mir darauf hinzudeuten,
dass das Verhalten der Bienen sich mit der Jahreszeit ändert.
Um ein sicheres Urteil zu gewinnen, habe ich die Versuche ım
Laufe dieses Sommers 1913 von Ende April bis Anfang Oktober
mit Unterstützung unseres Bienenmeisters und Fräulein Elfriede
Bambus planmäßig fortgesetzt und in Zwischenräumen von 14 Tagen
das Verhalten der Bienen unter den verschiedensten äußeren Ver-
hältnissen geprüft. Bei allen Versuchen wurde eine weiße Porzellan-
schale etwa 5 mm hoch mit Honig gefüllt und mit feiner grüner
Drahtgaze bespannt, durch deren Maschen die Bienen wohl den
Rüssel stecken, aber den Honig nicht erreichen konnten. Diese
Schale stellte ich während der besten Flugzeit gegen 10 oder 11 Uhr
vormittags auf das Flugbrett resp. das Dach eines frei im Bienen-
garten stehenden Stockes und beobachtete sie !/,—!/, Stunde lang.
Bevor ich das Ergebnis mitteile, will ich den Ausfall der ein-
zelnen Versuche und die begleitenden Umstände in chronologischer
Reihenfolge schildern.
I. Versuch:
30. April, 10— 10%’ Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 19,5° C.,
r Luftfeuchtigkeit 65%,
Südwind,
Sonnenschein.
Obstbäume, Löwenzahn, Raps und andere Pflanzen bieten den
Bienen reiche Nahrung. Ein auf einer Wage stehendes Volk zeigt
100 g Tageszunahme an Honig an. Nach Aufstellen der Honig-
schale auf dem Flugbrette erscheint sofort eine Biene, welche den
Rüssel durch das Gitter steckt. Nach 5 Minuten ist die Aufmerk-
samkeit der Bienen nicht merklich gestiegen. Um 10!° Uhr wird
die Schale auf das Dach des Stockes gestellt. 10'° Uhr suchen 2,
10!” Uhr 4 Bienen zu dem Honig zu gelangen.
Zander, Das Geruchsvermögen der Bienen. 13
IE Mersuch:
15.22.Mars 1410 Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 16,3° C.,
a Luftfeuchtigkeit 58,3%,
Südostwind,
wechselnde Bewölkung.
Obgleich die Wage keine Zunahme an diesem Tage anzeigt,
bieten Obstbäume, Löwenzahn, Kastanien ete. den Bienen aus-
reichende Nahrung.
Auf der Honigschale erscheinen sofort nach Beginn des Ver-
suches einige Bienen. Ihre Zahl bleibt aber gering. 2-3 sieht
man nur gleichzeitig auf dem Gitter.
EETSVersuich:
1-2 Junis 142 Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 25,3° C.,
. Luftfeuchtigkeit 76,6%,
Südwestwind,
wechselnde Bewölkung.
Die Wiesen und Kleefelder stehen in voller Blüte. Die Wage
gibt 650 g Honigzunahme an.
Innerhalb 15 Minuten lässt sich keine einzige Biene sehen.
VS Versuch:
19, Juni, 10. Uhr;
mittlere Tagestemperatur + 17,6° C.,
s Luftfeuchtigkeit 65%,
Ostwind,
Sonnenschein.
Aus Weißklee, Natterkopf, Ochsenzunge etc. erzielt der Wag-
stock eine Tageszunahme von 500 g.
10 Uhr: Nach 1 Minute stellt sich eine Biene auf dem Gitter
eim-10-2 Uhr sind. es 2,1015 Uhr 3.
V. Versuch:
6. Juli, 11 Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 16° ©.,
5 Luftfeuchtigkeit 86,6%,
Nordwind,
Sonnenschein.
Neben Kleearten (Melilotus offieinalis) blühen die Linden.
Die Bienen sind emsig tätig; einen Überschuss an Honig gibt
die Wage allerdings nicht an.
Nach 10 Minuten besucht eine Biene die auf dem Dache
stehende Schale ganz flüchtig und streckt ihren Rüssel nach dem
Honig aus. Dann bringe ich die Schale auf das Flugbrett. Heim-
714 Zander, Das Geruchsvermögen der Bienen.
kehrende Bienen lassen sich auf dem Gitter nieder, werden aber
durch den Honigduft nicht zum Ausstrecken des Rüssels gereizt.
VI. Versuch:
ol, 11 Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 19,3 C,,
a Luftfeuchtigkeit 81,3 %,
Nordwestwind,
leichte Bewölkung.
Außerhalb des Gartens finden die Bienen wenig Nahrung.
Innerhalb !/, Stunde besuchten 5 Bienen nachemander die
Honigschale, dann 2 zugleich.
VIIE\Versuch:
1. August, 101% Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 19,3 ° C.,
e Luftfeuchtigkeit 63,3 %,
Nordostwind,
Sonnenschein.
Beginn der Heideblüte. Wage zeigt keine Honigzunahme an.
Einzelne Bienen nähern sich der auf dem Dache stehenden
Schale, ohne sich niederzulassen. Nach !/, Stunde Schale auf das
Flugbrett gestellt. Nur eine alte Biene trachtet zu dem Honig zu
gelangen.
VIE Versuch:
15. August, 11—11°° Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 14,3 ©.,
5 Luftfeuchtigkeit 93,3 %,
Westwind,
bedeckter Himmel.
Heide in voller Blüte. Wage zeigt keine Zunahme an.
11* Uhr 1 Biene,
14195... u ‘3. Bienen,
12) ” 4 ” ’
a auf dem Gitter.
IX; Versuch:
31. August, 11—11°° Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 19° C.,
r Luftfeuchtigkeit 86,6 %,,
Südwestwind,
wechselnde Bewölkung.
Außerhalb des Gartens Blütenflor fast erloschen.
11° Uhr 3 Bienen,
115 al eifrig bemüht, zum Honig zu gelangen.
Zander, Das Geruchsvermögen der Bienen. 715
X. Versuch:
16. September, 11—11?° Uhr,
mittlere Tagestemperatur + 14,3° O.,
R Luftfeuchtigkeit 90%,
Ostwind,
wechselnde Bewölkung.
Nektarquellen völlig versiegt.
Honigschale nach dem Aufstellen sofort von 15—20 Bienen
befallen. Nach 15 Minuten dicht belagert.
XI. Versuch:
30. September, 11—11?° Uhr,
mittlere Tagestemperatur +12,3° ©.,
. Luftfeuchtigkeit 85%,
Ostwind,
Sonnenschein.
Bienen tragen viel Pollen von spätblühenden Senffeldern ein.
Honigschale sofort von 15—20 Bienen belagert. Nach fruchtlosen
Versuchen, den Honig zu erreichen, verringert sich ihre Zahl.
Überblicken wir diese Beobachtungen, so sprechen nur die
Versuche III vom 1. Juni und V vom 6. Juli für die Ansicht der
Forscher, welche der Biene ein schlechtes Geruchsvermögen zu-
billigen. In allen übrigen Fällen dagegen ließen sich mehr oder
weniger bald nach dem Aufstellen der Honigschale Bienen auf
dem Gitter nieder und bemühten sich, durch seine Maschen den
Honig mit ihren Rüsseln zu erreichen. Die Intensität der Reaktion
wechselte allerdings mit der Jahreszeit. Am 30. April (I), 15. Mai(IN),
15. Juni (IV), 15. Juli (VI), 1. August (VII) übte die Honigschale
eine geringe Anziehungskraft auf die Flugbienen aus. Nur ein-
zelne Bienen wurden zu ihr gelockt. Von Ende August an rea-
gierten dagegen die Bienen sehr stark auf den Duft des unter
dem Gitter geborgenen Honigs. In dichten Schwärmen belagerten
sie sofort das Gefäß. Daraus ergibt sich zunächst der Schluss, dass
man nicht zu allen Zeiten von einem mangelhaften Riechvermögen
der Bienen reden kann. Man wird nun vielleicht einwenden, dass
in diesen Fällen das Auge die Bienen geleitet hätte. Aber davon
kann nicht die Rede sein. Da die Besucher der Schale, wie ıhre
Färbung deutlich bekundete, zum Teil aus entfernt stehenden Stöcken
stammten und das feine grüne Gitter den Honig auch für unser
Auge ziemlich verdeckte, dürften sie ıhn im Fluge kaum gesehen
haben. Lediglich der Duft hat sie hingelockt. Wenn derselbe zu
verschiedenen Zeiten ungleich wirkte, liegt die Erklärung zweifellos
darin, dass die Bienen ihr Verhalten den äußeren Lebensbedingungen
anzupassen vermögen. Eine Prüfung der den einzelnen Versuch
begleitenden Umstände bestätigt das in vollem ‚Umfange. Das
716 Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen.
gänzlich negative Ergebnis des Versuches III vom 1. Juni erklärt
sich sehr leicht aus der reichen Tracht, die Felder und Wiesen
den Bienen darboten. Alle äußeren Faktoren, Südwestwind, 425,3 0.
und eine relativ hohe Luftfeuchtigkeit waren der Nektarbildung
außerordentlich günstig. Eifrig heimsten die Bienen diese Schätze
ein, so dass die Stockwägung am Abend 650 g Honigzunahme
ergab. Da die Natur ihnen überreiche Nahrung bot, ließen die
Bienen die Honigschale völlig unbeachtet. Ähnlich verhielten sie
sich am 15. Juni und zur Zeit der Lindenblüte (V). Im übrigen
waren die klimatischen und Ernährungsverhältnisse des letzten
Sommers den Bienen im allgemeinen wenig günstig. Infolgedessen
stellten sich fast regelmäßig Honigsucher bei der Schale ein. Doch
blieb ihre Zahl gering, solange die Pflanzenwelt noch etwas Nahrung
barg. Das ändert sich aber, sobald die Nahrungsquellen in der Natur
versiegen. Nach der Heideblüte erlischt die Tracht fast vollständig.
Überall wittern die Bienen dann nach Süßigkeiten umher, wie jeder
Imker aus Erfahrung weiß. Daher fanden sie sich auch sofort ın
hellen Scharen von Ende August an auf der Honigschale ein. Es
unterliegt daher gar keinem Zweifel, dass diejenigen Forscher, die
wieLubbock, H.von Buttel-Reepen u.a. den Bienen ein feines
Geruchsvermögen zuerkennen, Recht haben. Zugleich ergibt sich
auch der Schluss, dass die Bienen die Fähigkeit besitzen, zu lernen
und ihre Tätigkeit den äußeren Verhältnissen entsprechend zu modi-
fizieren. Gerade hierauf wird bei psychologischen Experimenten
mit Bienen und anderen Insekten meiner Ansicht nach viel zu wenig
Rücksicht genommen. Auch beim Blütenstaubsammeln lässt sich
das beobachten. Während sie sich dabei in den Sommermonaten
mit großer Beständigkeit an eine Pflanzenart halten, weiden sie im
Vorfrühling und Spätherbste gelegentlich auch verschiedene Pflanzen-
arten auf einem Ausfluge ab. Ich bin überzeugt, dass auch die
widersprechenden Ansichten über den Farbensinn der Bienen durch
Berücksichtigung der äußeren Verhältnisse eine Klärung finden
würden. L. von Dobkiewicz°) hat bereits ausgesprochen, dass
die Blütenfarben nur dann orientierende Bedeutung für die Bienen
haben, wenn sie einen Vorteil damit verbinden können.
Eine Erklärung der Geruchserscheinungen.
Von Dr. phil. Heinrich Teudt.
Zurzeit wird wohl mit Recht fast allgemein als zweifellos ange-
nommen, dass die Geruchsempfindungen durch in die Nase einge-
saugte kleine Körperteilchen verursacht werden; doch hat sich bis
3) Dobkiewiez. L. von. Beitrag zur Biologie der Honigbiene. Biolog.
Centralbl. Bd. 32, S. 664, 1912.
Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen. ag
jetzt noch keine allen Erscheinungen gerecht werdende Erklärung
dafür finden lassen, wie die Erregung der Riechnerven durch die
in der Nase befindlichen Körperteilchen vor sich geht.
Der am meisten verbreitete Erklärungsversuch stammt bekannt-
lich von Johannes Müller, welcher annahm, dass die Riech-
körperchen von dem Schleim, der die regio olfaktorıia überzieht,
aufgelöst werden. Demnach würden also die Geruchsempfindungen
durch chemische Wirkungen der sich auflösenden Riechkörperchen
erzeugt. Auf Grund dieser Theorie pflegt man den Geruchssinn
häufig mit dem Geschmackssinn zusammenzufassen und diese beiden
Sinne dıe chemischen Sinne zu nennen, während man das Gehör
und den Gesichtssinn im Gegensatz dazu dıe höheren Sinne nennt.
Eine andere Hypothese stammt von Zwaardemaker!) und
beruht darauf, dass die Geruchsempfindungen durch intramolekulare
Schwingungen der Riechstoffe bedingt werden, wenn deren Moleküle
mit den Riechnerven in Berührung kommen. Schon vor Zwaarde-
maker führte G. Jäger?) die Entstehung der Gerüche zurück auf
einen Rhythmus der Achsendrehung des Moleküls, der von der
Zahl, Stellung und Qualität der zum Molekül vereinigten Atome
abhängen sollte.
Die drei eben angeführten Theorien nehmen eine direkte Be-
rührung zwischen den Riechnerven und den riechenden Körper-
teilchen an. Aber verschiedene in der Natur auftretende Erschei-
nungen lassen sich, wie weiter unten genauer gezeigt wird, nicht
gut mit der Annahme einer derartigen direkten Berührung in Ein-
klang bringen.
Das Wesen der im folgenden näher zu begründenden Hypo-
these besteht nun daran, dass die Geruchsempfindungen hervor-
gerufen werden durch Elektronenschwingungen im Innern der Mole-
küle oder Atome. Diese Elektronenschwingungen rufen in dem die
Riechkörperchen umgebenden Ather periodische Schwankungen her-
vor, die zu schwach sind, um unter gewöhnlichen Umständen be-
merkt zu werden, die aber durch Resonanzwirkung andere in der
Nähe befindliche Schwingungen verstärken können, wenn diese in
geeigneten Perioden schwingen. Die neue Hypothese nimmt dem-
entsprechend auch an, dass in den Riechnerven elektrische Schwin-
gungen vorhanden sind und dass die Perioden dieser Schwingungen
in den einzelnen Nerven verschieden sind.
Wenn nun ein Molekül eines riechenden Stoffes in die Nähe
des Riechepithels gelangt, rufen die durch seine intramolekularen
Schwingungen auf den Äther ausgeübten periodischen Einwirkungen
nur bei solchen Riechnerven Resonanzwirkungen hervor, welche
1) Ergebnisse der Physiologie 1902, Bd. 1, S. 898.
2) Enzyklopädie der Naturwissenschaften Bd. III, S. 403, 1855.
XXXILU. 47
118 Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen.
selbst in einer entsprechenden Periode schwingen. Nur diese Nerven
werden also durch das betreffende Riechkörperchen erregt. Die
durch diese Erregung bewirkte Verstärkung der Schwingungen eines
Riechnervs empfinden wir dann als Geruch, und zwar wird durch
jeden Nerv ein anderer Geruch erzeugt als durch die anderen
Nerven. Moleküle mit verschiedenen intramolekularen Schwingungen
erzeugen deshalb verschiedene Gerüche, weil sie bei verschiedenen
Riechnerven Resonanzwirkungen hervorbringen.
Da die Riechnerven nach der eben angegebenen Theorie unter
Vermittlung des Äthers erregt werden, brauchen sie nicht in direkte
Berührung mit den in der Nase befindlichen riechenden Körper-
teilchen zu kommen. Dementsprechend ist auch die Nase einge-
vichtet. Beim gewöhnlichen Atmen geht der Luftstrom durch den
mittleren Nasengang, ohne das Riechepithel zu berühren, welches
sich in dem oberen Teil der Nasenschleimhaut befindet. Erst wenn
wir die Luft, um deutlicher zu riechen, absichtlich in die Höhe
ziehen, gelangen die Riechkörperchen in eine größere Nähe des
eigentlichen Riechepithels, so dass die von ihnen ausgehenden
periodischen Zustandsänderungen des Äthers stärker auf die darauf
resonierenden Riechnerven einwirken. Deshalb empfinden wir die
Gerüche beim gewöhnlichen Atmen relativ schwach, beim absicht-
lichen Zuriechen aber stärker.
Die bisherige Annahme einer direkten Berührung zwischen den
Riechnerven und den riechenden Körperteilchen verträgt sich nur
schlecht damit, dass die Riechnerven außerhalb des Weges liegen,
den die Luft beim gewöhnlichen Atmen in der Nase zurücklegt.
Um diesem Widerspruch zu begegnen, hat man die Vermutung auf-
gestellt, dass die Riechkörperchen durch Diffusion in die Riechspalte
hinaufsteigen. Hierdurch wird aber noch nicht erklärt, weshalb
der Geruch immer so bald verschwindet, nachdem der Luftstrom
in die Nase eingezogen ist, auch wenn die eingeatmete Luft noch
länger in der Nase zurückgehalten wird. Es können nicht alle in
die Nase hineingezogenen Riechkörperchen gleichzeitig im ersten
Augenblick nach dem Einatmen in die Riechspalte zum Riechepithel
diffundieren; vielmehr würde die vermutete Diffusion der Riech-
körperchen, wenn sie stattfände, nach und nach stattfinden müssen,
so dass immer neue Geruchsempfindungen durch die nach und nach
in die Riechspalte hineindiffundierenden Riechkörperchen ausgelöst
würden.
Bei der hier entwickelten neuen Theorie aber erklärt sich das
baldige Aufhören der Geruchsempfindung nach jeder Einatmung und
das Wiederentstehen dieser Geruchsempfindung nach jeder neuen
Einatmung in folgender Weise:
Die zur Verstärkung der Schwingungen in den Riechnerven
nötige Energie wird auf Kosten der Elektronenschwingungen der
Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen. 719
, g © (
in der Nähe der Riechnerven befindlichen Riechkörperchen gewonnen,
und deshalb muss bald der Zeitpunkt kommen, in dem die letzteren
keine Energie mehr an die Riechnerven abgeben können. Die
Schwingungsstärke der Riechnerven nimmt dann nicht mehr zu,
und damit hört die Geruchsempfindung auf, auch wenn die Luft mit
den Riechkörperchen noch länger in der Nase zurückgehalten wird.
Sobald aber von neuem Luft in die Nase gezogen wird, geben die
in dieser enthaltenen frischen Riechkörperchen wiederum einen Teil
ihrer Energie an die darauf resonierenden Geruchsnerven ab, und
es entsteht dadurch eine neue Geruchsempfindung. Dies wiederholt
sich bei jedem Atemzuge, bis die Schwingungen in den betreffenden
Geruchsnerven die größte Amplitüde erreicht haben, die beı der
Gestalt und Anordnung dieser Nerven möglich ist. Dann können
diese Nerven keine Geruchsempfindungen mehr hervorrufen, weil
diese nur durch Vermehrung der Schwingungsgröße bewirkt werden.
Daher kommt es, dass wir gegen einen Geruch, den wir längere
Zeit einatmen, bald unempfindlich werden, ohne dass dabei die
Empfindlichkeit gegen andere Gerüche aufhört, welche durch andere
Geruchsnerven mit anderen Schwingungsperioden erregt werden.
Wenn wir dann später aus der Luft, für deren Geruch wir durch
Gewöhnung unempfindlich geworden sind, wieder herauskommen,
gehen die Schwingungen der durch diesen Geruch erregten Nerven
nach und nach wieder zurück und können dann wieder verstärkt
werden, wenn wir von neuem diesen Geruch einatmen.
J. H. Fabre?) fand bei Versuchen mit Nachtpfauenaugen, dass
zahlreiche Männchen dieser Schmetterlingsart durch ein unter einer
Drahtglocke gefangen gehaltenes Weibchen auch dann herangelockt
wurden, wenn eine große Menge Naphthaliın ın der ee der
Drahtglocke ns war. Durch weitere Versuche stellte
Fabre dann fest, dass es nur ein vom Weibchen ausgehender Ge-
ruch sein konnte, der die Männchen aus weiter Ferne herbeilockte.
Weshalb aber dieser Geruch, der für den Menschen überhaupt nicht
wahrnehmbar war, nicht durch den starken Naphthalingeruch ver-
deckt wurde, schien Fabre geradezu unerklärlich. Nach der hier
entwickelten Hypothese aber erklärt sich dies ohne weiteres da-
durch, dass die Schwingungen in den Geruchsorganen der Nacht-
pfauenaugen auf die Schwingungen des Naphthalingeruches ebenso-
wenig reagieren, wie die menschlichen Geruchsnerven auf die
Geruchsschwingungen, die von dem Schmetterlingsweibchen unter der
Drahtglocke ausgingen.
Ähnliches kommt in der Natur häufig vor. So sendet z. B.
eine Menge verschiedener Pflanzenarten ihre verschiedenen Gerüche
in die Luft, und durch jeden dieser Gerüche und Düfte wird eine
3) Fabre, „Souvenirs entomologiques“, Paris und Kosmos 1906, Bd. III, S. 45.
mx
‘
120 - Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen.
andere Insektenart angelockt. Zwischen allen diesen Düften hin-
durch nehmen männliche Schmetterlinge noch den Geruch eines
Weibchens ıhrer Art wahr, wittert das Wild den Geruch seines
Feindes u. s. w. Aus den Hunderten in der Luft verbreiteten Ge-
rüchen heben die Geruchsnerven jeder einzelnen Tierart die Gerüche
heraus, die für die betreffende Tierart von Bedeutung sınd, ebenso
wie eine bestimmte Anzahl von Resonatoren aus einer größeren
Zahl verschiedener Töne die Töne heraushebt, deren Schwingungs-
periode den Resonatoren entspricht.
Die bei der hier entwickelten Hypothese gemachte Annahme,
dass die Geruchsempfindungen durch Elektronenschwingungen — also
durch elektrische Vorgänge — erzeugt werden, gewinnt eine weitere
Stütze darin, dass auch schon direkte Beziehungen zwischen Elek-
trızität und Geruchserscheinungen bekannt geworden sind.
Durch systematische Versuche hat Aronsohn*) nachgewiesen,
dass Geruchserscheinungen dadurch hervorgebracht werden können,
dass man einen elektrischen Strom durch die mit einer indifferenten
Flüssigkeit gefüllte Nase leitet. Das Eigentümliche dabei war, dass
die Geruchserscheinung nur beim Schließen der Kette entstand,
wenn die Kathode in die Nase gelegt war; wurde dagegen die
Anode in die Nase gelegt, so entstand die Geruchserscheinung nur
beim Öffnen der Kette. Diese bisher kaum erklärbare Erscheinung
ergibt sich aus der hier entwickelten neuen Theorie ohne weiteres.
Liegt nämlich die Kathode in der Nase, so hat der Strom eine
Richtung, bei welcher die in den Riechnerven vorhandenen Schwin-
gungen verstärkt werden, und diese Verstärkung wird als Geruch
empfunden. Liegt dagegen die Anode in der Nase, so werden die
Schwingungen der Riechnerven gedämpft, so lange der Strom ge-
schlossen ist; beim Öffnen des Stromes aber nehmen die Schwin-
gungen in den Riechnerven ihre ursprüngliche Stärke wieder an;
und bei dieser Verstärkung der gedämpft gewesenen Schwingungen
wird dann wiederum eine Geruchsempfindung wahrgenommen.
In der eben angegebenen Weise erklärt sich auch eine ın
neuerer Zeit von Bordier und Nogier?’) gefundene Erscheinung.
Es handelt sich dabei um den Geruch, den Luft annimmt, wenn
sie von den ultravioletten Strahlen einer Quecksilberlampe getroffen
wird. Diesen Geruch hatte man bisher auf die Entstehung von
Ozon zurückgeführt. Bordier und Nogier haben aber nach-
gewiesen, dass dieser Geruch auch in Stickstoff und Kohlensäure-
anhydrit, in denen der zur Ozonbildung erforderliche Sauerstoff
fehlte, entsteht, und dass ein Abnehmen des Geruches eintritt, wenn
4) Arch. f. Anat. u. Physiol. phys. Abt. 1884 und W. Nagel, „Handbuch
der Physiologie des Menschen“ Bd. III, S. 603.
5) Comptes rendus Bd. 147, S. 354—355 und „Himmel und Erde“ Bd. 21,
S. 133— 134,
Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen. 7241
man das Gas auf seinem Wege von der Quecksilberlampe zur Nase
durch eine mit dem Erdboden elektrisch leitend verbundene Metall-
röhre führt. Bei genügender Länge der Metallröhre verschwanden
die Geruchserscheinungen ganz, während keine Verminderung des
Geruches festgestellt werden konnte, wenn die Gase durch eine
Glasröhre von gleichen Abmessungen wie die Metallröhre geleitet
wurden.
Unter dem Einflusse der bisher herrschenden Theorie, die eine
direkte Berührung der Riechkörperchen mit den Riechnerven an-
nahm, haben Bordier und Nogier die von ıhnen gefundenen Er-
scheinungen sich dadurch erklärt, dass in den genannten Gasen
durch die ultravioletten Strahlen Ionen frei werden, die gegen die
Geruchsnerven in der Nase stoßen. Da diese Geruchsnerven aber
ganz abseits von dem Wege liegen, den die eingeatmete Luft für
gewöhnlich in der Nase zurücklegt, so wird auch diese Erscheinung
wohl am besten einfach dadurch erklärt, dass der Geruch ın der
vorhin bei den Versuchen von Aronsohn angenommenen Weise
durch einen elektrischen Strom erzeugt wird, der entsteht, wenn
die negativen Ladungen der Ionen sich ausgleichen.
Man hat ferner beobachtet, dass bestimmte Gerüche sich gegen-
seitig aufheben. So erscheint z. B. ein Gemenge von 4 g Jodo-
form und 200 mg Perubalsam nahezu geruchlos und der unangenehme
Geruch des Rizinusöles kann durch das Aldehyd von Ceylonzimtöl
mit Vanille kompensiert werden ®). Diese Kompensation zweier
Gerüche kann nicht in allen Fällen darauf zurückgeführt werden,
dass die in der Luft verteilten riechenden Moleküle sich zu einer
nicht riechenden Verbindung vereinigen. Denn Zwaardemaker
hat gezeigt, dass zwei Gerüche sich auch dann gegenseitig aufheben
können, wenn jeder von ihnen durch ein besonderes Rohr in ein
anderes Nasenloch geführt wird. So kann man z.B. den in das eine
Nasenloch geleiteten Geruch von Paraffin, Wachs, Tolubalsam da-
durch eliminieren, dass man Kautschukgeruch in genügender Menge
in das andere Nasenloch einleitet.
Diese Erscheinung schien bisher nicht recht erklärbar und
einzig dastehend zu sein, da es sonst nie vorkommt, dass zwei
Sinneseindrücke sich gegenseitig aufheben, ohne dass ein neuer
daraus entsteht. Wenn man aber die Geruchsempfindungen als
Wirkungen elektrischer Vorgänge auffasst, wie es bei der hier ent-
wickelten neuen Theorie geschehen ist, so ist ohne weiteres klar,
dass sich die Wirkungen dieser Vorgänge unter bestimmten Ver-
hältnissen gegenseitig aufheben können, ebenso wie sich die Wir-
kungen entgegengesetzt verlaufender elektrischer Ströme gegenseitig
aufheben.
Te 6) Die in diesem Absatz angeführten Beobachtungen sind entnommen aus
Tigerstedt, „Physiologie des Menschen“ 1898, Bd. II, S. 126.
1292 Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen.
Gegen die bisher herrschende chemische Theorie der Geruchs-
erscheinungen spricht auch noch die folgende Überlegung:
Jeder Mensch hat einen besonderen, nur ihm allein eigentüm-
lichen Geruch, den ein guter Hund an den Gegenständen, die der
betreffende Mensch berührt hat und an den Fußspuren deutlich
erkennen und von den Gerüchen anderer Menschen unterscheiden
kann. Diese allgemein bekannte Tatsache kann, wenn man die
Geruchsempfindungen auf chemische Wirkungen zurückführen will,
nur dadurch erklärt werden, dass aus dem menschlichen Körper
fortwährend Stoffe ausgeschieden werden, die bei jedem Menschen
eine andere chemische Zusammensetzung haben. Allerdings ist die
Zusammensetzung des Schweißes und der übrigen menschlichen
Ausscheidungen bei den verschiedenen Menschen nicht ganz gleich
und ändert sich mit der Nahrung und dem jeweiligen Zustande
der Verdauung. Aber die durch solche Änderungen der chemischen
Zusammensetzung bedingten Geruchsverschiedenheiten verursachen
offenbar nicht denjenigen Geruch, durch den ein Hund die Menschen
voneinander unterscheidet. Denn dieser kennt einen Menschen noch
nach Wochen an seinem Geruch wieder, ganz einerlei, was für
Nahrung dieser Mensch inzwischen zu sich genommen hat. Einen
weiteren Beweis dafür, dass der Geruch, durch den sich der eine
Mensch von dem anderen unterscheidet, nicht durch Unterschiede
in der Menge der in den Ausscheidungen vorhandenen Stoffe (Wasser,
Ammoniak, Ameisensäure u. s. w.) bedingt sein kann, geht daraus
hervor, dass ein guter Hund den Geruch seines Herrn noch nach
Stunden aus dessen Fußspuren erkennen kann. Die Zusammen-
setzung der vom Menschen ausgeschiedenen Stoffe würde nicht
stundenlang konstant bleiben, sondern bei der geringen Menge, um
die es sich hier nur handeln kann, sehr bald den Zustand annehmen
müssen, der durch die Dampfdichte der betreffenden Stoffe ge-
geben ist.
Aus den angeführten Gründen kann die Tatsache, dass jeder
Mensch seinen besonderen Geruch besitzt, wohl nur dadurch erklärt
werden, dass jeder Mensch in den Molekülen der von ıhm ausge-
schiedenen Stoffe besondere Schwingungen erzeugt, die sich von
den intramolekularen Schwingungen der Ausscheidungen anderer
Menschen in irgendeiner Weise unterscheiden, die »icht von der
chemischen Zusammensetzung dieser Ausscheidungen abhängig ist.
Hieraus folgt dann ferner, dass es möglich sein muss, verschieden-
artige Geruchsschwingungen in Stoffen gleicher chemischer Zusammen-
setzung zu erzeugen.
Die zuletzt gemachte Folgerung wird noch dadurch gestützt,
dass auch andere Erscheinungen dafür sprechen, dass in den Mole-
külen mancher Körper, z. B. in Luftmolekülen Elektronenschwin-
gungen induziert werden können durch andere Körper mit starkem
Teudt, Eine Erklärung der Geruchserscheinungen. 723
Eigengeruch, d. h. durch solche Körper, die nach der hier ent-
wickelten Theorie starke Elektronenschwingungen in ihren Mole-
külen haben.
Zu diesen Erscheinungen gehört die von Tyndall gemachte
Entdeckung, dass das Absorptionsvermögen der Luft für strahlende
Wärme stark vermehrt wird, wenn man die Luft über riechende
Körper leitet. Nach den Tyndall’schen Versuchen”) betrug diese
Vermehrung z. B. bei Patschuli das 30fache, bei Rosmarin das
T5fache, bei Kamillen das S7fache, bei Spike das 355fache und bei
Anıs das 372fache des Absorptionsvermögens von gewöhnlicher
trockener Luft. Die Menge der von den untersuchten Riechkörperchen
an die untersuchte Luft abgegebenen Teilchen war unmessbar klein,
so dass es kaum glaubbar ist, dass diese unmessbar kleine Menge
Riechstoff die 30—370fache Wärmemenge absorbieren kann als die
wohl millionenmal größere Zahl der Luftmoleküle. Dagegen können
diese Resultate dadurch erklärt werden, dass die Riechstoffe in
den Molekülen der Luft, die in die Nähe ihrer Moleküle gelangen,
Elektronenschwingungen erzeugen, die der Luft den Geruch mit-
teilen und außerdem ıhr Absorptionsvermögen für strahlende Wärme
erhöhen, weil letzteres von den Vorgängen, die sich im Innern der
Luftmoleküle abspielen, abhängig ist.
Auch die Tatsache, dass ganz winzig kleine Mengen mancher
Riechstoffe einen nahezu unglaublich großen Raum mit ihrem Ge-
ruch ausfüllen, spricht dafür, dass der riechende Stoff nicht selbst
über den ganzen Raum, der mit seinem Geruch erfüllt ist, verteilt
ist, sondern dass der Riechstoff seinen Geruch an einen Teil der
Luftmoleküle abgegeben hat.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Geruchsschwingungen eines
Körpers auf die Luftmoleküle übertragen werden können, ist um
so größer, je größer die elektrische Energie dieser Schwingungen
ist, und diese kann um so stärker sein, je mehr Abdome im Molekül
sind, deren Geruchsschwingungen sich addieren. So ergibt sich die
bekannte Tatsache, dass es oft gerade die Körper mit hohem spezi-
fischen Gewicht sind, deren Gerüche sich am weitesten verbreiten,
obgleich doch diese Körper selbst durch ihr hohes spezifisches Ge-
wicht an einer Verbreitung durch Luftströmungen oder durch
Diffusion gehindert werden.
ZAwaardemaker?®) hat schon darauf aufmerksam gemacht, dass
der Geruch nicht die Rolle in der Natur spielen könnte, die er
tatsächlich spielt, wenn die riechenden Körper selbst zu leicht zer-
streut werden könnten. Wenn z.B. der Geruch einer Blume leicht
fortdiffundieren würde, so könnte das Insekt, das durch ihn ange-
7) Tyndall, „Die Wärme betrachtet als Art der Bewegung“, 1875, S. 419.
8) Zwaardemaker, Physiologie des Geruchssinnes 1893, S. 254/55.
(24 Schreiber, Herstellung und Abgabe von Nährgelatine etc.
lockt wird, zwar den Geruch wahrnehmen, aber nicht die Stelle
finden, von wo er ausgeht. Anderseits ist es jedoch wieder er-
forderlich, dass der Geruch in weitere Fernen hineingetragen wird,
denn sonst würden keine Tiere aus weiteren Fernen herangelockt
werden können. Diese beiden sich widersprechenden Aufgaben
werden nach der hier entwickelten Theorie dadurch gelöst, dass
der Geruch zunächst erzeugt wird durch intramolekulare Schwin-
gungen eines Stoffes, der infolge seines hohen spezifischen Ge-
wichtes nicht leicht fortwehen oder fortdiffundieren kann, dass aber
die Verbreitung des Geruches in die Ferne — wenigstens zum
Teil — durch leicht bewegliche Luftmoleküle bewirkt wird, in denen
die betreffenden Geruchsschwingungen von dem eigentlichen Riech-
stoffe induziert sind. Die in den Luftmolekülen induzierten Schwin-
gungen verlieren sich allmählich wieder und hierdurch wird das
Gefälle, mit dem der Geruch mit der Entfernung von seiner Aus-
gangsstelle abnimmt, verstärkt, wodurch es dem Tiere, das von
dem Geruch angelockt wird, erleichtert wird, festzustellen, aus
welcher Richtung der Geruch kommt.
Herstellung und Abgabe von Nährgelatine zu Wasser-
untersuchungen durch die Königliche Landesanstalt
für Wasserhygiene in Berlin-Dahlem.
Von Prof. Dr. Karl Schreiber,
Mitglied der Königlichen Landesanstalt in Berlin-Dahlem.
(Auf Wunsch übernommen aus der Hygienischen Rundschau 1913, Nr. 20.)
Die Feststellung der Keimzahl eines Wassers mit Hilfe von
Nährgelatine, wie sie zuerst vom Reichsgesundheitsamte und der
im ‚Jahre 1892 im Deutschen Reiche gebildeten Cholera-Kommission
zur Kontrolle von Sandfilterwerken empfohlen wurde, hat im Laufe
der Jahre ın der ganzen Welt Anerkennung gefunden. Die An-
wendung dieser verhältnismäßig einfachen Untersuchungsmethode
Prüfung von Trinkwasser auf seine Brauchbarkeit, zur Kon-
trolle von Wasserwerken und zur Feststellung des Reinheitsgrades
von Wasserläufen ist fast unentbehrlich geworden. Es sind zwar
mehrfach Versuche gemacht, an Stelle der Nährgelatine andere Kul-
turmedien, wie z. B den "Nährboden von Hesse und Niedner,
einzuführen, mit der Absicht, eine größere Anzahl von den im
Wasser vorhandenen Keimen zur Entwickelung und somit zur
Zählung zu bringen, ohne dass aber diese Methoden allgemeine Ver-
wendung gefunden hätten. Wenn auch der wissenschaftliche Wert
dieser Nährböden nicht verkannt werden soll, muss doch hervor-
gehoben werden, welcher große Vorzug der üblichen Nährgelatine
darin besteht, dass bei ihrer Verwendung im allgemeinen die harm-
losen Bakterien, die sich mehr oder weniger in jeoen Trinkwasser
befinden, infolge der hohen Konzentration der Nährstoffe und der
Schreiber, Herstellung und Abgabe von Nährgelatine etc. 125
Alkaleszenz der Nährmedien weniger schnell zur Entwickelung ge-
langen als die aus Abfallstoffen und besonders aus menschlichen
und tierischen Abgängen stammenden Keime, die größere Ansprüche
an den Nährgehalt stellen und einen alkalischen Nährboden bevor-
zugen. Entstammt ja doch der erste Gedanke, der z. Z. R. Koch
zur Herstellung der Nährgelatine geführt hat, dem Bestreben, patho-
gene Keime auf dem Nährboden zur Entwickelung zu bringen. Die
Zählung gerade von Keimen aus Abgängen ist aber für die Beur-
teilung der Reinheit eines Wassers von besonderem Wert. Die
Versuchsbedingungen sind fernerhin auch häufig dadurch abgeändert
worden. dass die Keime nicht nach 2, sondern nach 3, 5 und
mehr Tagen gezählt wurden.
Es soll nicht bestritten werden, dass gewisse Abänderungen
der vom Reichsgesundheitsamt angegebenen Methoden von Vorteil
sein könnten, so die Bebrütung der Kulturplatten bei einer um
1—2° höheren Temperatur; ım allgemeinen aber hat sich die Me-
thode der Gelatinekultur ganz außerordentlich bewährt. Überdies
würde eine Veränderung in den Untersuchungsbedingungen heute
nur dann einen größeren Wert haben können, wenn sie durch
internationale Abmachung allgemein eingeführt werden würden.
Man würde andernfalls keine vergleichbaren Resultate erhalten.
Jede Veränderung der Methodik würde überdies die Fülle von Er-
fahrungen, welche man bisher bei der Feststellung der Keimzahl nach
der üblichen Methode gewonnen hat, fast entwerten.
Ein dringendes Bedürfnis, die bisherige Untersuchungsmethode
zu verändern, liegt nicht vor. Deshalb hat auch die frühere König-
liche Prüfungsanstalt für Wasserversorgung und Abwässerbeseiti-
gung, jetzige Königliche Landesanstalt für Wasserbygiene
seit ihrem Bestehen daran festgehalten, dass die vom Reichs-
gesundheitsamt ausgearbeitete Methode streng innegehalten wird,
sowohl was die Herstellung der Nährböden als die Art der Aussaat,
die Zeit und die Temperatur der Bebrütung und die Art der Aus-
zählung der Keime betrifft. Nur ganz unwesentliche Änderungen
in der Herstellung des Nährbodens, die auf die Beschaffenheit des
fertigen Präparates nicht von Einfluss sind, erschienen durch den
geringeren Säuregehalt der jetzt im Handel erhältlichen Gelatine
geboten.
Bisher wird die Nährgelatine zum größten Teil in den Labo-
ratorien der einzelnen Anstalten hergestellt, im denen sie zur Ver-
arbeitung gelangt. Bei dem großen Bedarf, den manche Laboratorien,
wie z. B. bei großen Wasserwerken haben, ist diese Art der Her-
stellung auch im allgemeinen zweckmäßig und lohnend. Anders
liegen die Verhältnisse bei kleinen Wasserwerken, bei Kommunen,
die Vorfluter oder Brunnen nicht durch Bakteriologen, sondern
durch als Keimzähler vorgebildete Laboranten oder Apotheker und
Chemiker in größeren Zeiträumen regelmäßig bakteriologisch unter-
suchen lassen, oder bei Kreisärzten und anderen Gutachtern, die
hin und wieder Keimzählungen vornehmen müssen, aber keinen
regelmäßigen Bedarf an Nährgelatine haben. Hier ıst die Her-
726 Schreiber, Herstellung und Abgabe von Nährgelatine etc.
stellung der Nährgelatine zeitraubend und verhältnismäßig teuer,
ohne dass für ihre gleichmäßige gute Beschaffenheit Gewähr ge-
leistet werden kann.
Die Industrie befasst sich im allgemeinen wenig mit der Her-
stellung von Nährmedien, weil nennenswerte Gewinne hierdurch
nicht erzielt werden.
Aus den angeführten Gründen wäre es daher vorteilhaft, dass
die Nährgelatine von einem fachmäßig geleiteten Laboratorium ım
großen hergestellt und in den Handel gebracht würde und zwar
in einer gleichmäßigen, den Vorschriften entsprechenden Be-
schaffenheit.
Wir haben nämlich die Erfahrung gemacht, dass die Nähr-
gelatine, welche für Keimzählungen verwendet wird, ın dieser Be-
ziehung häufig viel zu wünschen übrig lässt und je nach Art der
verwendeten Rohstoffe und der Herstellung nicht unerhebliche Ver-
schiedenheiten aufweist. Die verwendete Speisegelatine gelangt ın
sehr verschiedener Qualität in den Handel, zeigt in ihrem Säuregehalt,
der Löslichkeit, der Reinheit und damit dem Einflusse auf die Ent-
wickelung der Bakterien und Pilze merkliche Unterschiede und be-
dingt somit eine Verschiedenartigkeit der damit hergestellteo Nähr-
gelatine. Andererseits werden die Vorschriften für die Bereitung
der Nährgelatine nieht überall genau beobachtet. Besonders ist es
uns aufgefallen, dass die Reaktion häufig nicht richtig eingestellt
ist. Es sind uns mehrere Fälle bekannt geworden, wo die schein-
bar günstigen Resultate, welche durch eine Weasserreinigungs-
methode erzielt wurden, oder die angeblich sterile Beschaffenheit
von untersuchtem Trinkwasser sich einfach daraus erklärten, dass
die verwendete Nährgelatine nicht die vorgeschriebene Alkaleszenz
besaß, sondern einen mehr oder weniger hohen Säuregehalt aufwies.
Die Reaktion ist jedoch ebenso wie die Temperatur und die Zeit
der Bebrütung sowie die Art der Zählung von großem Einfluss auf
die Höhe der gefundenen Keimzahlen.
Es scheint uns ein Bedürfnis dafür vorhanden zu sein, dass
die Nährgelatine zu einem verhältnismäßig geringen Preise in einer
gleichmäßigen, den Vorschriften genau entsprechenden Beschaffen-
heit in den Handel gelangt. Die Anstalt hat daher in Erwägung
gezogen, ob sie die Herstellung und die Abgabe von Nährgelatine
ın die Hand nehmen solle. Wir werden bei einer Anzahl von
Wasserwerken und anderen Untersuchungsstellen, die Bedarf an
Nährgelatine haben, anfragen, ob ein Bedürfnis für eine amtliche
Herstellung und Abgabe besteht und wie groß der Bedarf jährlich
etwa zu schätzen ist.
Falls diese Ermittelungen günstig ausfallen. würde die Kgl.
Landesanstalt für Wasserhygiene vom 1. Januar 1914 ab
Reagensgläschen mit Nährgelatine abgeben, die den Vor-
schriften des Reichsgesundheitamtes genau entsprechen. Der Preis,
dem wir lediglich die Selbstkosten zugrunde legen, würde sich
zunächst anfangs für das Gläschen mit 10 cem auf 18 Pfg. ausschließ-
lich Porto und Verpackung stellen, bei steigendem Absatz jedoch
Demoll, Gelegentliche Beobachtungen an Libellen. 127
voraussichtlich herabgesetzt werden können. Gegebenenfalls würden
wir später auch den Vertrieb anderer vielgebrauchter Nährböden
in die Hand nehmen.
Gelegentliche Beobachtungen an Libellen.
Von R. Demoll.
An schönen Herbsttagen dieses Jahres beobachtete ich auf
einem Hügel in der Nähe des Bodensees zahlreiche mittelgroße
Libellen (verschiedene Arten der Gattung Zibellula), die auf niederen
Tännchen, auf Sträuchern, auf den Stangen der Reben und öfter
auch auf dem Boden saßen, um von hier aus ihre Raubzüge zu
unternehmen. Mehrmal traf es sich nun, als ich dort verweilte, dass
etwa nach 3 Uhr ein kühler Wind einsetzte. Dann sah ich die
Tiere in kurzer Zeit alle auf einer großen Steinplatte versammelt,
die den Abschluss einer Mauer bildete. Vermutlich war es die
durch die Sonnenbestrahlung tagsüber aufgenommene Wärme der
Platte, die die Tiere anzog. Für mich hatte es etwas sehr ver-
lockendes die Gesellschaft näher zu beobachten, die mir so bequem
in Augenhöhe da saß und die sich um mich nicht im mindesten
kümmerte, so lange ich es nur vermied hastige Bewegungen auszu-
führen. Dabei konnte ich jedoch langsam hin- und hergehen, ich
konnte an die Tiere so nahe herangehen, als mir erwünscht war,
ja ich durfte mich sogar einer kurzbrennweitigen Lupe bedienen,
um den Fressakt näher verfolgen zu können. Hatte ich aber durch
eine unbeabsichtigte schnelle Bewegung die Tiere verscheucht, so
dauerte es meist recht lange, bis sie sich wieder auf den Stein
niederließen.
Wenn sich die Tiere niedersetzen, so tun sie dies niemals so,
dass sie mit dem Kopf gegen die Sonne gerichtet sind. Anderer-
seits wird die Orientierung mit dem Kopf von der Sonne weg nicht
so streng durchgeführt, wie bei den Tagschmetterlingen, die, wenn
sie auf einer Straße oder auf einer größeren, sich in der Horızontalen
ausbreitende Blume anfliegen, sich stets so lange drehen, bis sie
sie genau von der Sonne abgewandt sind. Die Libellen sieht
man öfter auch mehr oder weniger quer zu den einfallenden
Strahlen sitzen; dabei scheint die Richtung, in der der Wind weht,
eine Rolle zu spielen. Sie setzen sich mit Vorliebe so, dass sie
den Wind im Rücken haben. Da die Flügel gleich, nachdem die
Tiere sich niedergelassen haben, noch besonders niedergedrückt
werden und zwar in einer solchen Stellung, dass sie nach hinten
abfallen, so werden die Tiere durch einen von hinten kommenden
Wind auf den Stein angepresst, während umgekehrt ein von vorn
wehender Wind sie leicht von der Unterlage abheben würde.
Gehörsinn. Zunächst fiel mir auf, dass die Tiere durch eine
Unterhaltung, die ich erst vorsichtig, schließlich aber in der unge-
niertesten Weise mit meinem Vater führte, der etwa 15 m entfernt
saß, sich nicht stören ließen. Ich fing nun an, in allen mir zur
128 Demoll, Gelegentliche Beobachtungen an Libellen.
Verfügung stehenden Tonlagen zu pfeifen. Dabei konnte ich mich
mit dem Mund auf 5 cm dem Tier nähern; sofern ich darauf
achtete, dass ich es nicht wegblies, hielt es sowohl meinem Pfeifen
als auch meinen übrigen musikalischen Leistungen wie Singen und
Jodeln stand. Ich legte besonderen Wert darauf, möglichst alle
Tonlagen zu erproben und aus diesem Grund auch machte ich den
Versuch, zu jodeln. Weiter erprobte ich die Wirkung knistern-
der, rasselnder und reibender Geräusche, und zwar wieder in aller-
nächster Nähe des Tieres. Auch dies ıst nicht überflüssig, denn
es ist sehr wohl denkbar, dass die Tiere zwar alle die anderen
Töne auch hörten, dass sie aber nur auf knisternde etc. Geräusche
mit einem Fluchtreflex antworten. Doch blieben auch diese Ver-
suche erfolglos. Schließlich griff ich zur ultima ratio regis. Ein
Feldschütz, der in den Reben durch Büchsenschüsse die Vögel zu
vertreiben hatte, war so liebenswürdig sein Instrument meinen
Wünschen zur Verfügung zu stellen. Aber auch die alte Donner-
büchse, die einen ganz respektablen Klang hatte, vermochte keine
der zahlreich ın einer Entfernung von 30 em bis etwa 2 m umher-
sitzenden libellen zum Abfliegen zu bewegen. Hieraus darf man
wohl den Schluss ziehen, dass den Libellen ein Gehörsinn
nicht zukommt.
Versuche, die bisher angestellt wurden, um die Frage nach
dem Vorkommen eines Gehörsinnes bei den Insekten zu entscheiden,
haben zum größten Teil zu negativen Resultaten geführt, falls die
nötigen Vorsichtsmaßregeln beobachtet wurden. Nur die von
I. Regen!) festgestellten Tatsachen scheinen doch deutlich darauf
hinzuweisen, dass das Typanalorgan der Orthopteren — die Ver-
suche sind an Männchen von Thamnotrizon angestellt — als Ge-
hörorgan aufzufassen ist. Freilich kann man auch gegen diesen
Schluss noch Emwände machen, die jedoch etwas gezwungen
sind. Bei allen übrigen Insektengruppen muss die Existenz eines
Gehörsinnes bei kritischer Prüfung der Literatur sehr fraglich er-
schemen. Bei den Libellen liegen Beobachtungen und Versuche
in dieser Richtung noch nicht vor.
Gesichtssinn. Es ist leicht festzustellen, dass die Tiere nur
dann nach einem vorüberfliegenden Beutetier jagen, wenn bestimmte
Bedingungen erfüllt sind. Tiere, die in nächster Nähe vorüber-
huschen, werden nie verfolgt. Nur wenn es sich um kleine, auf
und ab tanzende Mücke handelt, beobachtet man bisweilen, dass
die Libellen sich aus einer Entfernung von unter einem Meter auf
sie stürzen.
Auch dann, wenn die Libellen hoch über dem Boden auf einem
dünnen Zweig sitzen, wird man nur ganz ausnahmsweise beobach-
ten können, dass sie nach einer Beute fliegen, die sich tiefer als
sie selbst befand. Und auch dann ist es meist (vielleicht auch
immer) darauf zurückzuführen, dass das Beutetier erst hochflog, sich
aber dann der Verfolgung durch Flucht nach dem Boden zu entziehen
1) Regen, J., Sitzber. Akad. Wien, Math. nat. Kl. 3. Abt. Bd. 117, 1909.
Demoll, Gelegentliche Beobbehtungen an Libellen. 729
suchte. Als Regel gilt, dass die Libelle nnur nach Tieren jagen, die
sich über ihrem Standort befinden, und weiter dass sie nur nach
solchen jagen, die sie in Richtung nach der Sonne oder wenigstens
der hell erleuchteten Partie des Himmels sehen. Es kann sich
dabei nur um ein Sehen von Umrissen handeln, und man .muss
annehmen, dass nur bei einem derartigen Sehen die Verfolgung
eingeleitet wird. Dies wird verständlich, wenn wir später erfahren,
dass die Libellen stets von unten die Beute anzufliegen scheinen.
Eine genauere Prüfung ergibt, dass bei diesen Beutezügen
sowie bei den vorausgehenden Fixierbewegungen die dorsalen
Partien des Fazettenauges allein in Betracht kommen. Das was
einem bei der Beobachtung der Tiere wohl zuerst auffällt, ıst das
lebhafte Bewegen des Kopfes ın bestimmter Richtung, sobald ein
anderes Tier vorbeifliegt. Die Kopfverdrehungen können hierbei
außerordentlich stark sein, und da es selten möglich ist zu gleicher
Zeit die Libelle und das fixierte Beutetier zu kontrollieren, so ge-
lingt es auch nicht leicht zu entscheiden ob der Kopf jeweils so
gedreht wird, dass die ventralen Teile des Auges oder die dorsalen
dem Objekt zugewandt werden. Es gelang mir hierüber erst volle
Sicherheit zu gewinnen, als ich das Fixieren von Schmetterlingen
beobachtete, deren Größe und relativ langsamer Flug es gestattete,
ihre Bewegung zu kontrollieren ohne direkt hinsehen zu müssen.
Und es war günstig, dass an derselben Stelle ziemlich viel Tag-
schmetterlinge flogen, die meist auch von den Libellen fixiert
wurden. Mehrmals kamen diese in der Höhe der Mauer an, um
erst kurz vor dieser etwas in die Höhe zu steigen. In diesen
Fällen konnte leicht konstatiert werden, dass die Tiere dem Objekt
schon wenn es noch 3—4 m entfernt war, die dorsalen Augen-
bezirke zukehrten und damit fixierten. Sıe begnügen sich jedoch
nicht damit, das Objekt in einem beliebigen Bezirk des dorsalen
Gesichtsfeldes zu bringen, sondern sie führen die Fixierbewegungen
stets so aus, dass das Objekt ın die Mediansagittalebene des
Kopfes zu liegen kommt und in dieser so, dass ıhm der Teil des
Kopfes zugekehrt ist, der nach vorn-oben sieht. Auch dies ließ
sich sicher feststellen wenn Schmetterlinge fixiert wurden. Die
Fixierbewegungen zur Seite erreichen im ganzen einen Umfang
von gegen 180°. Es können also in der angegebenen Weise
noch Tiere fixiert werden, die sich in gleicher Höhe wie
die Libelle befinden. Bei Annäherung des Beutetieres von hinten
(oder beim Abfliegen desselben nach dieser Richtung) findet ein
Rückwärtsbeugen des Kopfes um etwa 70° statt. Nach vorn unten
werden keine so ausgiebigen Bewegungen ausgeführt (schätzungs-
weise im Umfang von 30--40°) und zwar jedenfalls deshalb, weil
die Fixierstelle des Auges (wir werden später sehen, dass sie nicht
identisch ist, mit der Stelle deutlichsten Sehens) schon etwas nach
vorn gerichtet ist. Das Neigen der Fixierstelle bis zur Horizon-
talen nicht aber darüber hinaus steht wohl in Beziehung dazu,
dass nur solchen Tieren nachgejagt wird, die sich nicht tiefer als
die Libelle selbst befinden. (Zu berücksichtigen ist dabei, dass die
730 Demoll, Gelegentliche Beobachtungen an Libnllen.
Libellen auf Zweigen etc. nicht immer ganz horizontal sitzen. In
Betracht kommt aber hier die Ebene, die durch die Lage des
Libellenkörpers gegeben ist.)
Nicht alles, was sich über den Tieren bewegt, wird fixiert. Bei
Vögeln konnte ich manchmal beobachten, dass sie eine Fixationsbewe-
gung nicht hervorriefen. Auch Schmetterlingen und Libellen gegen-
über unterbleibt sie bisweilen, wenn auch seltener. Eine Fixierung tritt
nie ein, wenn das betreffende Objekt bei den Tieren einen Flucht-
reflex auslöst, auch dann nicht, wenn das Objekt relativ klein ist,
Ich fuhr mit einem dünnen Bleistift einigemal schnell über die
Tiere weg, wobei jedoch mein Arm für sie unsichtbar blieb, da er
sich unter der Kante der Mauer befand. Die Tiere reagierten meist
nicht sofort, flogen aber schließlich ab ohne vorher Fixierbewe-
gungen ausgeführt zu haben. Dasselbe konnte ich auch dann be-
obachten, wenn ich sie in irgendeiner Weise zu sofortigem Ab-
fliegen veranlasste,
Erfolgt beim Vorüberfliegen eines Objektes kein Nachjagen, so
begleiten die Fixierbewegungen der Libellen trotzdemi oft die Tiere,
bis sie sich weiter entfernt haben. Für das Abfliegen zur Ver-
folgung ist die Größe des Beutetieres und dessen Winkelgeschwin-
digkeit maßgebend. Sind die Libellen mit Fressen beschäftigt, so
machen sie trotzdem Fixierbewegungen. Werden die Vorderbeine
nicht auf den Boden aufgelegt, so folgen sie dem Kopf bei allen
Bewegungen, und es hat dann den Anschein als seien sie an ıhm
mit leichter Krümmung aufgehängt. Fliegt das Beutetier ganz
nahe über den Kopf der Libelle hinweg (in diesem Falle findet nie
ein Verfolgen statt), so werden oft plötzlich mit einem Ruck die
Vorderbeine zu beiden Seiten des Kopfes in die Höhe geworfen,
wie wenn das Tier die Beute damit erfassen wollte. Dies bestärkt
mich in .der Annahme, dass die Libellen die Beute von unten
anflıegen
Aus dem Gesagten geht hervor: Die Beute wird stets erst mit
der Fixierstelle fixiert. Sie wird dann verfolgt, wenn zu erwarten
ist, dass sie bei der Verfolgung im Bereich der dorsalen Augen-
partien bleibt. Diese allein sind es also, die bei den Nahrungs-
erwerb in Betracht kommen. Erregungen der übrigen Bezirke ohne
nachfolgende Fixierbewegungen führen nur zu Fluchtreflexen.
Die dorsalen Augenpartien sind durchaus nicht diejenigen,
denen man nach ihrem Bau das schärfste Sehen zusprechen muss.
Ich habe mich an Schnitten davon überzeugt, dass die Stelle deut-
lichsten Sehens (beurteilt nach der Divergenz der Rhabdome) in
dem Bereich des Appositionsauges zu suchen ist. Sie liegt etwa in
der Horizontalebene des Kopfes. Das Libellenauge ist aus einem
dorsalen Superpositions- und einem die seitlichen und ventralen
Teile einnehmenden Appositionsauge zusammen gesetzt. Die Grenz-
linie verläuft so, dass sie das Superpositionsauge seitlich etwas
weiter herabreichen lässt als vorn und hinten. Wenn man be-
denkt, dass das Superpositionsauge wegen seiner größeren Licht-
stärke uns meist als Anpassung an ein Leben unter ungünstigen
u er
Demoll, Gelegentliche Beobachtungen an Libellen. 131
Beleuchtungsverhältnissen entgegentritt, so ıst man überrascht
bei den Libellen den nach oben gerichteten Teil als ein Super-
positionsauge ausgebildet zu finden. Man vermutete daher schon
früher, dass diese Partien (die Vermutung bezog sich auf Ephe-
meriden u. a.) nur bei der Begattung eine Rolle spielten, die
bei den in der betreffenden Arbeit herangezogenen Tieren ın
die Abendstunde fällt. Mit dem Nachweis, dass dies bei den Iı-
bellen sicher nicht zutrifit, verliert dieser Erklärungsversuch auch
für verwandte Formen an Wahrscheinlichkeit.
Es handelt sich dabei noch nicht einmal um ein normales
Superpositionsauge, sondern um ein extrem pigmentarmes. Dies
tritt einerseits als ein neues befremdendes Moment hinzu, kann
uns aber vielleicht andererseits einen Fingerzeig geben, welche
Momente die Ausbildung gerade dieses Augentypus in der oberen
Kopfregion begünstigt haben. Es scheint mir nıcht ausgeschlossen,
dass eine starke Erwärmung der Rhabdome für deren Funktion
nicht vorteilhaft ıst. Eine solche muss aber ın den ziemlich um-
fangreichen direkt nach oben sehenden Bezirken an wolkenlosen
Sommertagen dann eintreten, wenn sie als Appositionsauge gebaut
sind, das viel weniger des Pıgments entbehren kann, als das Super-
positionsauge. Wie dem auch seı, jedenfalls müssen wir annehmen,
. dass die Empfindlichkeit der dorsalen Rhabdome gegenüber der
der übrigen Teile herabgesetzt ist, da sie nur Umrisse auf hellstem
Untergrund zu unterscheiden haben.
Die Größe der Libellenaugen ließ mich hoffen, falls ein Sen-
sibilisator vorhanden ist, diesen hier auch mit Bestimmtheit nach-
weisen zu können. Ich tötete Tiere nach längeren Aufenthalt, m
einer Dunkelkammer und machte möglichst schnell Zupfpräparate,
die ich unter das Mikroskop brachte. Dann wurde plötzlich be-
leuchtet. Das Ergebnis war stets negativ. Ich wiederholte nun
meine früheren Versuche an Nachtschmetterlingen. Ich machte
Zupfpräparate von den Augen von Schwärmern und Eulen. Auch
hier immer ohne Erfolg. Früher glaubte ich zweimal deutlich ein
Ausbleichen beobachtet zu haben. Ich nehme an, dass ich mich
damals getäuscht habe. Denn durch geeignete Versuche mit nicht
ausbleichenden Farben überzeugte ich mich, wie schwer es ist, mit
dem dunkeladaptierten Augen bei plötzlicher, intensiver Belichtung
zu entscheiden, ob in den ersten Sekunden eine Farbenänderung
stattfindet oder nıcht. Aus diesem Grunde möchte ich auch jetzt
nicht das Vorhandensein eines Sensibilisators unbedingt in Abrede
stellen, ich möchte nur erklären, dass mir meine damalige Beobach-
tung nicht mehr zwingend erscheint.
Zerkleinerung der Beute. Ich schicke zunächst eine Dar-
stellung dessen voraus, was man über das Erhaschen der Beute
und das Zerkleinern derselben bis jetzt weiß und vermutet. Der
Stand unserer Kenntnisse entspricht heute noch den Ausführungen
von D. Sharp aus dem Jahre 1901 (Cambridge natural history),
den ich daher hier zu Wort kommen lasse. Er sagt S. 415: „In
the case of the large dragon-flies we have mentioned, each indi-
1323 Demoll, Gelegentliche Beobachtungen an Libellen.
vidual appears to have a domain, as it were, of its own. West-
wood tells us that he has seen what he believed to be the same
individual hawking daily for several weeks together over a small
pond. The writer observed a specimen of Cordulegaster annulatus
to frequent a particular bush, to which ıt returned — frequently to
the same leaf— after an excursion in search of food. The way in
which these Insects actually seize their prey has not yet been made
clear; ıt is certain that they capture fiying Insects, and it seems
most probable, as we have already said, that this is done by means
of the legs. These, as we have said, are inserted so as to be
very near to the mouth: they are directed forwards, and are held
bent at right angles so as to form a sort of net, and are armed
with a beautiful system of fine spines: ıt is probable that if the
dragon-fy pursue an Insect on the wing and strike it with the trap,
formed by its six legs, then these immediately come together under
the mouth, so that the vietim, direetly it is captured by the leg-
trap of its pursuer, finds itself in the jaws of its destroyer. It ıs
perhaps impossible to verify this ‚by actual observation, as the act
of capture and transfer is so very brief and is performt in the midst
of a rapıd dash of flight, but it seems more probable that the
prey is first struck by the legs than that the mouth is the primary
instrument of capture. The excessive mobility of the head permits
the vietim to be instantly secured by the mouth, and the captured
fly is turned about by this and the front pair of legs, and is nipped
rapidly so that the wings and drier parts fall off; the more juiey
parts of the prey are speedily squeezed ınto a little ball, which ıs
then swallowed, or perhaps we should rather say that the mouth
closes on it, and submits ıt to further pressure for the extraction
of the juices.“
.Ob die Tiere in der Luft die Beute mit allen Beinen ergreifen,
konnte ich nicht feststellen. Doch scheint es mir nicht sehr wahrschein-
lich, da ich vermuten muss, dass die Tiere die Beute von unten
anfliegen. Ob beim Festhalten die drei Beinpaare in Tätigkeit
sind, kann ich auch nicht angeben. Doch habe ıch nie beobachtet,
dass die Tiere beim Zurückkehren nach ihrem Standort die Beute
mit allen Beinpaaren gehalten hätten. Stets sah ich schon bevor
sie sich niedersetzten, “die beiden hinteren Beinpaare frei. Kleine
Tiere wurden nur mit den Mundwerk zeugen gehalten, größere von
diesen und dem ersten Beinpaar.
Es findet eine sehr weitgehende Zerkleinerung statt (Jor-
dan, 1913, I. Bd. Jena.) Die "Oberlippe, die Mandibeln, die ver-
breiterten Taster der Unterlippe (nach anderen die Außenladen
derselben), und die Außen- und Innenladen derselben arbeiten alle
synchron gegeneinander. Die ersten Maxillen konnte ich nicht zu
Gesicht bekommen. Kleinere Tiere werden vollständig verzehrt.
Beı etwas größeren werden während des Zerkauens größere Chitin-
stücke, die von allen Weichteilen befreit sind, wieder nach außen
befördert. Bei noch umfangreicheren Beutetieren werden erst die
Flügel und Beine entfernt, und zwar in der Weise, dass der
Przibram, Experimentalzoologie. 133
Körper des Tieres in den Mund gezogen und von dem ersten Bein-
paar gestopft wird, und dabei die Mandibeln, die Oberlippe und
die Unterlippe über den Thorax immer wieder hingleiten, bıs dieser
von seinen Anhängen befreit ist. Es ist diese Prozedur mit dem
Rasıeren vergleichbar. Ein anderes Verfahren hatte ich nie be-
obachtet. Ich möchte darauf hinweisen, dass die Wespen (Vespa
vulg.) wie ich mich schon mehrmals überzeugte, ebenso regelmäßig
eine andere Sektionsmethode einschlagen. Eine Kristalis wird von
diesen erst getötet, dann der Kopf: und das Abdomen abgebissen
und schließlich die Flügel und dıe Beine dadurch entfernt, dass sie
diese an der Basis mit den Mandibeln abbeissen. Mit dem Thorax
allein fliegt die Wespe dann davon. Die Reihenfolge, in der das
Zerlegen geschieht, kann varieren, die Art ist immer dieselbe.
Einigemal beobachtete ich, dass die Libellen von größeren
Beutetieren nur das Abdomen verspeisten, den Kopf mit dem Thorax
aber wieder abgaben. Obwohl ziemlich viel Zeit verstrich bis das
Tier den Kopf mit dem Thorax abgetrennt hatte, so erschien dieser
Teil des Beutetieres doch wieder vollständig intakt und der Torso
war noch ebenso lang lebensfähig, wie wenn er durch einen Scheren-
schnitt entstanden wäre. Dies zeigt uns, dass die Libellen in keinem
Falle, mag die Beute noch so groß sein, danach streben, das Tier
zuerst zu töten.
Gegen Ende der Mahlzeit werden die Kieferbewegungen bis-
weilen alternierend. Und wenn zum Schluss die Mundteile geputzt
werden, was nach einer ausgiebigen Mahlzeit stets der Fall ıst, so
beobachtet man nur diese alternierenden Bewegungen. Beinahe
regelmäßig finden Kieferbewegungen statt, wenn die Tiere von
einem Flug zurückkehren, mag dieser auch noch so kurz gewährt
haben. Sicher haben sie in diesen Fällen nicht immer eine Beute
erhascht. Man kann in solchen Fällen auch nicht immer an-
nehmen, dass eine ganz kleine Fliege erjagt wurde, die augen-
blicklich verschlungen werden konnte. Denn wenn die Libelle
sich nur wenige Zentimeter erhebt, die Verfolgung aber sofort
aufgibt und sich wieder niederlässt, so treten auch dann meist
diese kauenden - Bewegungen auf. Auch wenn sie auffliegt, um
einer Artsgenossin nachzujagen, kehren sie oft kauend zurück.
Schließlich seien noch eigentümliche, kurze, außerordentlich
schnell ausgeführte Schüttelbewegungen des Kopfes erwähnt, die
ich nur einigemal zu beobachten Gelegenheit hatte und deren Be-
deutung mir unklar ist.
Hans Przibram. Experimentalzoologie.
4. Vitalität. Leipzig und Wien. Franz Deuticke. 1913. S. 179. Mit 10 litho-
graphischen Tafeln.
Es ist der 4. Band von Przibram’s Experimentalzoologie er-
schienen.
In diesem Bande fasst Przibram die durch Versuche er-
mittelten Gesetzmäßigkeiten tierischer Lebenszustände (Kolloidform,
Wachstum, Bewegung) zusammen.
XXXI. 48
+
34 Przibram, Experimentalzoologie.
In der Einleitung rekapituliert Przibram die allgemeinen
Eigenschaften des Lebendigen.
In den folgenden Kapiteln bespricht Przibram im ersten die
Entstehung und Nachahmung des Lebens (Plasmogenie), im zweiten
die Form der Lebewesen (Blasen- und Kolloidform), im dritten die
Polarıtät, ım vierten den Stoffwechsel (Assımilation und Katalyse),
im fünften die Lebensgrenzen, ım sechsten das Wachstum, im
siebenten die Bewegung, ını achten das Gedächtnis (die Mneme)
und im neunten die Energie (Kraftwechsel).
H. Przibram kommt zu folgenden Schlüssen auf Grund des
von ihm dargelegten Materıals:
1. Die einzelnen objektiven Eigenschaften der lebendigen
Struktur sınd meist auch mit anorganischem Materiale nachahmbar;
2. die ım Tierkörper auftretenden geometrischen Formen
lassen sıch auf den Aggregatzustand des Protoplasmas zurückführen;
die besondere Polarıtät des Tierkörpers beruht einerseits
auf der chemisch heterogenen Zusammensetzung der Keimzonen
(Schichtungspolarität), anderseits auf der bestimmt gerichteten An-
un zuwachsender Teilchen (Richtungspolarität);
4. (über Assimilation und Katalyse), weder in der Assymmetrie
der Kohlenstoffverbindungen noch in der reaktionsbeschleunigenden
Wirkung anorganıscher Fermente kann ein die Organismen von
der anorganischen Welt scheidender Faktor aufgefunden werden;
5. die schädigende Wirkung äußerer Faktoren auf die lebendige
Substanz lässt sich großenteils auf die Veränderung des Chemismus,
teilweise auf die Zerstörung der allmählich aus letzterem aufge-
bauten Struktur beziehen, die günstige Einwirkung auf das Optimum
des betreffenden Faktors für den Verlauf der strukturentwickelnden
chemischen Prozesse;
6. die Zunahme an lebendiger Substanz durch das Wachstum
findet derart statt, dass eine Verdoppelung der Masse jeder Zelle
wieder zu ıhrem Zerfalle führt, wobeı ın zeitlicher Beziehung sich
u zur Autokatalyse lebloser Chemismen finden;
die Bewegung der Tiere folgt denselben Gesetzen, welche
auch er Bewegungen ın der anorg sanischen Natur beherrschen und
steht ın strenger Abhängigkeit von der Einwirkung äußerer Fak-
toren, welche allerdings erst auf sehr indirektem Wege durch Rei-
zung richtunggebend zu wirken pflegen;
8. obzwar das Aufbewahren von Eindrücken für dıe Lebewesen
in hohem Grade charakteristisch ist, so lässt sich doch weder die
Bewahrung selbst noch die hierauf beruhende Veränderung des
Verhaltens bei Wiederkehr ähnlicher äußerer Konstellationen als
ein durchgreifender Unterschied gegenüber der leblosen Welt be-
zeichnen;
9. die Energiegesetze der Physik finden auch auf die Orga-
nismen vollkommene Anwendung, aber ob außer den uns aus der
anorganischen Welt bekannten Energieformen noch andere, physio-
logische, psychische oder vitale am Energiewechsel teilnehmen,
kann gegenwärtig noch nicht entschieden werden.
Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung. 735
Wie man aus diesen Sätzen sieht, bemüht sich Przibram, die
möglichen Grenzen zwischen dem Organıschen und dem Anorga-
nischen zu brechen und das Organische auf das Anorganische zu-
rückzuführen. Der Hauptunterschied der Lebenserscheinungen gegen
die anorganischen Vorgänge wäre der komplizierte Bau des Orga-
nischen, welcher zu Leistungen befähigt, die den Eindruck hoher
Zweckmäßigkeit machen.
Die Darstellung ist zu lapidarisch und in einigen Kapiteln tritt
die subjektive Auffassung mehr hervor als es ın den ersten drei
Bänden der Experimentalzoologie der Fall war.
Dr. Slavko Sederov (Belgrad).
Max Verworn: Kausale und konditionale
Weltanschauung.
Jena 1912. 46 S.
Wilhelm Roux: Über kausale und konditionale
Weltanschauung und deren Stellung zur
Entwickelungsmechanik.
Leipzig 1913. 66 S.
Die beiden Schriften führen uns in einen interessanten Streit
von allgemeiner Bedeutung. Verworn hat in seinem Aufsatz, der
zuerst als Vortrag für Studenten verfasst wurde, versucht, eine neue,
„das gesamte Weltbild in tief eingreifender Weise* bestimmende,
natur wissenschaftliche Methode zu formulieren. Die Überpr oduktion
in der wissenschaftlichen Literatur, ın der heute ein wertloser Wust
von Einzelheiten zusammengetragen werde, führe zu der Mahnung,
dass wir dıe Aufgaben für unsere Spezialuntersuchungen nur aus
dem Bedürfnis großer und umfassender Probleme heraus stellen
dürften. In diesem Sinne sei es nötig, die allgemeinen Denkformen
kritisch zu prüfen, um nicht, iu falschen Bahnen gefangen, Probleme
zu stellen, die gar keine Probleme seien.
So solle im folgenden die „kausale Betrachtungsweise“ einer
Revision unterzogen werden.
Nach Verworn ist der Ursachenbegriff erst nach der archäo-
lithischen, am Ende der paläolithischen Kulturstufe entstanden. Im
Neolithikum hätte sich ein gewaltiger Drang zu spekulativer Be-
trachtung des Menschen und der umgebenden Welt bemerkbar ge-
macht. In dieser Zeit hätten wir wohl die spekulative V erwendung
der ursprünglich rein empirischen Erkenntnisse zu der spezifischen
Gestaltung des „Ursachenbegrifis“ zu suchen. Seelenbegriff, Gottes-
begriff und Ursachenbegriff seien in ihrer Entw ickelung untrennbar
ineinander verwoben. In die rein empirisch gefundene Sesetzmäßige
Aufeinanderfolge der Ereignisse sei ein mystisches Zwischenglied
„die Ursache“ is ehe Faktor eingeschoben worden.
Wenn auch der Ursachenbegriff in der heutigen Naturwissen-
schaft nicht mehr eine selbständig neben den wahrnehmbaren Fak-
toren bestehende unsichtbare Triebkraft für die Vorgänge ın der
48*
126 Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung.
Welt bedeute, so räume sie doch der Ursache unter den Fak-
toren, die einen Vorgang bestimmen, noch immer, wenn
auch vielfach unhewusst, eine Sonderstellung ein und züchte damit
auch auf ihren exaktesten Gebieten einen Rest des alten Mysti-
zısmus fort.
Verworn führt weiter aus, dass kein Vorgang oder Zustand
von einem einzigen Faktor allein abhängig sei, dass es daher ganz
verkehrt sei, nach „der“ Ursache zu suchen.
Also fort mit dem Ursachenbegriff!
Jede richtige Betrachtungsweise habe zur Grundlage zu nehmen,
dass jeder Vorgang oder Zustand durch zahlreiche Bedingungen
bestimmt werde, und dass diese Bedingungen für das Zu-
standekommen des Vorganges alle gleichwertig seien.
Der Begriff der Bedingung bringe ein Abhängigkeitsverhältnis zum
Ausdruck, welches das Moment der Notwendigkeit enthalte. Inso-
fern die Bedingungen eines Vorganges oder Zustandes alle not-
wendig seien, seien sie also auch sämtlich gleichwertig für sein
Zustandekommen oder Bestehen. Dies nennt Verworn die Aqui-
valenz der Bedingungen.
Der Verfasser erörtert eingehend, dass keiner der bedingenden
Faktoren durch einen anderen ersetzbar sei. Wo eine Ersetzbar-
keit vorzuliegen scheine, sei die Bedingung nicht genügend präzi-
siert und aus ihrem Zusammenhang herausgeschält. Die wissenschaft-
liche Erforschung alles Seins und Geschehens könne lediglich
bestehen in der Ermittlung seiner Bedingungen. Nach einem
anderen „Wesen der Dinge“, nach „dem Dinge an sieh“ zu forschen,
heisst von einer unmöglichen Problemstellung ausgehen.
Bei der konditionalen Weltanschauung verschwinde die Frage
nach den Beziehungen der psychischen zu den materiellen Vor-
gängen, die Frage nach der Willensfreiheit und der Unsterblichkeit
der Seele.
Nach Verworn verlieren von der Warte seines neuen „Kon-
ditionismus“ zahlreiche Probleme der embryonalen Entwickelung
ihre Bedeutung. So sei die Frage, ob die Entwickelung aus inneren
oder äußeren Ursachen erfolge, endgültig als schief beiseite zu tun,
ebenso seien die analysierenden Begriffe der nötigen, akzessorischen,
determinierenden und realisierenden Ursachen, die bisher der Ent-
wickelungsmechanik (Roux) als (Grundlage und: Werkzeuge der
Forschung gedient haben, gemäß dem Satze von der Aquivalenz
der Bedingungen zu verwerfen.
In ähnlicher Weise werden die Fragen nach der Vererbungs-
substanz und nach der Todesursache als angeblich irrig dargestellt.
Lehren, die in eleganter Form Wahres mit Falschem mischend,
die tiefen Schächte wissenschaftlicher Probleme überbrücken und
ihr Vorhandensein leugnen, haben stets einen großen Anfangserfolg
zu erwarten. So wird auch Verworn’s gewandt geschriebener Auf-
satz weite Verbreitung finden.
Auch die Erkenntniskritiker von Fach werden ihn also lesen
und gewiss ihr Wort dazu sprechen.
Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung. 137
Von berufener biologischer Seite liegt schon heute eine
eingehende Würdigung der „neuen Weltanschauung“ in der ein-
gangs näher bezeichneten Erwiderungsschrift von Wilhelm
Roux vor.
Um die richtige Basis für die Kritik von Verworn’s Schrift
herzustellen, erläutert Roux zunächst nebeneinander Ursachenlehre
und Bedingungslehre und vergleicht sie miteinander. Er schildert,
wie er seinerzeit bei Begründung des Forschungszweiges, dem er
den Namen Entwickelungsmechanik gab, den Ursachenbegriff analy-
siert hat. Ursache eines Geschehens ist danach die Gesamtheit
und Konfiguration aller an einem Geschehen beteiligten Faktoren
oder Komponenten. Diese Gesamtheit bildet die ganze oder voll-
ständige Ursache des betreffenden Geschehens. Sie besteht also
aus Teilursachen oder Faktoren und Komponenten. Von „der“
Ursache im prinzipiellen Gegensatz zu anderen notwendigen
Bestimmungsfaktoren, wie Verworn bei den modernen Biologen
gelesen zu haben glaubt, ist hier also keine Rede.
Durch das Wirken der Faktoren wird mit Notwendigkeit
das Ergebnis, die Wirkung hervorgebracht. Hierin spricht sich das
Wesen der Kausalıtät aus, dem bei solcher Formulierung jedes
mystische Moment fehlt.
Auch die Konfiguration oder Art der Kombination der Fak-
toren ist zu beachten, worunter die Richtung, relative Lage und
Größe aller an einem Geschehen beteiligten und in diesen Sinn
zurzeit ein System bildenden Faktoren zu verstehen sind.
Der entwickelungsmechanische Forscher hat nicht nur die Ge-
samtheit der Ursachen, sondern auch das vollständige Ge-
schehen zu berücksichtigen, also neben dem wahrnehmbaren auch
das zurzeit nichtwahrnehmbare Geschehen. Dann wird er immer
den Satz bestätigt finden, dass andere Ursachen stets andere Wir-
kungen geben. Eine einzige Stoßkraft einerseits und viele gleich-
zeitig wirkende Arten der Kombinationen von zwei oder mehr Stoß-
kräften andererseits können zwar einen Billardball in derselben
Richtung und derselben Geschwindigkeit bewegen. Aber bei der
vollständigen Betrachtungsweise, die eben erwähnt wurde, kann
nicht entgehen, dass bei den beiden Arten der Einwirkung die innere
molekulare Anordnung des Elfenbeins in anderer, wenn auch un-
sichtbarer Weise verändert wird. Gerade solche unsichtbaren inneren
Verschiedenheiten von lebenden Teilen sind für die Entwickelungs-
mechanik von der größten Bedeutung. Denn beim Entwickelungs-
geschehen können unsichtbare Verschiedenheiten, wenn sıe zur
Wirkung gelangen, sichtbare Verschiedenheit der Gestalt und
Struktur der entwickelten Lebewesen veranlassen. Nur auf Grund
dieser Erkenntnis ließ sich z. B. die Frage von Evolution oder
Epigenesis erfolgreich diskutieren.
Nach dieser Darlegung der kausalen Betrachtungsweise, deren
Einzelheiten hier natürlich übergangen werden mussten, schreitet
Roux in seiner Erwiderungsschrift zur Erörterung des Bedingungs-
begriffes.
138 Verworn, Kausale und konditionale Weltanschauung.
Die „Bedingungen“ sınd die Faktoren eines bestimmten Ge-
schehens, also eines bereits vorausgedachten Effekts. Als „Ur-
sachen“ dagegen bezeichnen wir das direkt ein Geschehen Bewirkende
als Bewirkendes ohne jede Rücksicht auf die Art des Ergebnisses. Die
vollständigen Bedingungen eines Geschehens werden die vollständigen
Ursachen desselben. sobald das Geschehen stattfindet. Die Be-
dingungslehre ıst somit gleichsam nur eine chronologische Modi-
fikation der Ursachenlehre: sie setzt zuerst ein bestimmtes Ge-
schehen und fragt, welche Faktoren (auf rund der Kausalıtät natür-
lich) zu ıhm als Bewirkendes nötig sind; die Ursachenlehre setzt
die Faktoren und ermittelt, welches Ge schehen sie bewirken. Die
Bedingungslehre ıst daher bloß möglich auf Grund der Ursachen-
lehre; und sobald sıe ermitteln will, wie das Nötige wirkt, schreitet
sie zur Ursachenforschung fort.
Diese Bedingungslehre ıst ein alter Besitz der Wissenschaft
und besteht neben und durch die Kausalitätslehre. |
Neu ist Verworn’s Lehre von der effektiven Aquivalenz
der Bedingungen. Ihr widmet daher Roux die gebührende ein-
gehende Betrachtung. Dass alle Bedingungen eines Geschehens
zu seinem Zustandekommen nötig und insofern gleichmäßig beachtet
werden müssen, das wird kaum einem ernsten Naturforscher un-
bekannt sein.
Neu und überraschend ist aber die Folgerung, dass auf Grund
hiervon eine Reihe bisher als sehr wichtig geltender biologischer,
resp. entwickelungsmechanischer Probleme hinfällig würden und als
Phantome zu betrachten seien, die aus falscher Fragestellung ge-
boren wären.
Die alte Erkenntnis, dass zu einem bestimmten Geschehen seine
sämtlichen Bedingungen nötig sind, erhält ihre richtige Bezeich-
nung durch Roux als Satz von der Aequinecessitas factorum.
Die unrichtige Bezeichnung „effektive Aquivalenz“ der Faktoren
besagt dagegen ıhrer wörtlichen Bedeutung nach, dass die Faktoren
eines jeden Geschehens „in ıhrem Wirken gleichwertig“ seien. Mit
dieser Benennung wird also unbewusst eine Erweiterung des Satzes
von der Aequinecessitas erschlichen. Wer stark kurzsichtig ist, be-
darf einer gut ausgewählten Brille zum scharfen Sehen. Zu diesem
„bestimmten“ Sehen sind die Augen, das Gehirn, die Blutversorgung
beider und die Brille unbedingt nötig. Haben deshalb alle vier
Faktoren auch den qualitativen gleichen Anteil an dem scharfen
Sehen, sind sie deshalb gleich wertige Faktoren dieses Geschehens?
Es besteht im Gegenteil nicht effektive Äquivalenz, sondern
Verschiedenartigkeit der Wirkung, also effektive Inäquivalenz
der verschiedenen Faktoren in bezug auf ihren qualitativen und
eventuell quantitativen Anteil an der Hervorbringung des Effektes.
Jeder irgendwie in Qualität, Größe, Richtung, Ort u. s. w. anders
beschaffene Faktor eines Geschehens übt eine dieser Verschiedenheit
entsprechende andere Wirkung aus und hat einen dementsprechen-
den anderen Anteil an dem Geschehen. Das ist der von Roux
aufgestellte Satz der Inäquivalenz der Faktoren, der die Grund-
Verworn, Kausale und Ronditionale Weltanschauung. 139
lage der entwickelungsmechanischen Forschung bildet. Vom Stand-
punkt seines „Konditionismus“ glaubt Verworn der Entwickelungs-
imechanık gewichtige Einwendungen machen zu können. Immer
und immer wieder werde gegen die fundamentale Wahrheit ver-
stoßen, dass Ja, wo Ungleiches entsteht, auch ungleiche Bedingungen
sein müssen, und dass da, wo gleiche Bedingungen sind, auch
Gleiches resultieren muss.
Roux hatte früher dargetan, dass es dem entwickelungsmecha-
nischem Forscher nicht gestattet sei, den Satz: „gleiche Ursachen
geben gleiche Wirkungen“ wie beim anorganischen Geschehen um-
zukehren in „gleiche W irkungen beruhen auf gleichen Ursachen“.
Diese Umkehr ıst ja nur erlaubt bei „v nr emsn: Übereinstim-
mung dieser Wirkungen; er setzt also für uns die vollkommene
Kenntnis der Wirkungen voraus, die wir zurzeit auf organischem
Gebiete ın keinem Falle haben.
Sıchtbar Gleiches kann in Wirklichkeit sehr verschieden sein.
Hierzu kommt, dass alles erste Wirken unsichtbar ist, dass aus
dem unwahrnehmbaren ersten Geschehen wahrnehmbares sekundäres
Geschehen werden kann. |
Daraus erklärt sich der Schein eines Widerspruches gegen
die Kausalıtät, die in Wahrheit streng beachtet wird.
Die von Roux seinerzeit eingeführten Begriffe der deter-
minierenden und realisierenden, nötigen und akzessorischen Ursachen
der Differenzierung glaubt Verworn vom Standpunkt des Kon-
ditionismus und des Satzes von der effektiven Aquivalenz der Be-
dingungen als irreführend beseitigen und damit wichtige Probleme
der Entwickelungsmechanik aufheben zu müssen.
Eine vollständige Prüfung der Verworn’schen Auffassung
würde zu einem Referat über die Grundlagen der Entwickelungs-
mechanık führen, das sich nıcht noch kürzer fassen lässt als es
Roux in seiner Erwiderungsschrift getan hat. Hier soll daher nur
ein Punkt hervorgehoben werden.
Sauerstoff, ein gewisser Grad von Wärme und em zur Ent-
wickelung erregtes Ei sind die „Bedingungen“ zur Bildung der
Morula; Sauer stoff, Wärme und eine lebende Morula sind die Be-
dingungen der Gastrula u. s. w. Oder kausal gefasst: Sauerstoff,
Wärme und Ei bewirken die Bildung des Embryos. Und zwar
nach Verworn als gleichwertige Bedingungen resp. Faktoren.
Die entwickelungsmechanischen Experimente haben aber er-
geben, dass diese verschiedenen Gruppen von Faktoren einen sehr
verschiedenen Anteil an der Qualität des Entwickelungsgeschehens
haben. Nur eine Gruppe von Faktoren, nämlich die ım Eı selbst
enthaltenen, bestimmen die typische Qual ität der Produkte.
Daher wurde diese Gruppe als die der determinierenden
Faktoren herausgehoben, was zur wesentlichen Klärung beitrug.
Dass die anderen als die bloß dies Bestimmte „realisierenden“
Faktoren „ebenso notwendig“ zum Zustandekommen des Entwicke-
lungsgeschehens überhaupt sind, wurde dabei stets betont, nur wurde
740 Tier- und Pflanzenleben der Nordsee.
eben erkannt, dass ıhr Einfluss auf die spezifische Qualität des
Produktes relativ gering ist.
Die alte Streitfrage, ob die Entwickelung aus inneren oder
äußeren Ursachen erfolge, ist also doch wohl nicht so unglücklich
gewesen, wie Verworn meint. Denn sie hat eine interessante
Lösung gefunden, allerdings nicht auf Grund des „Konditionismus*,
sondern durch Versuche entwickelungsmechanischer Forscher.
Die kausale Forschung muss im Gegensatz zu Verworn’s Lehre
alle nur irgendwie verschieden wirkende Arten von Faktoren von-
einander zu sondern suchen.
Roux’ Ausführungen schließen mit dem zusammenfassenden
Urteil, dass die alte Bedingungslehre an sich auf Wahrheit beruht.
Sie ist eine Umformulierung der Kausalität. Die neuen Bestand-
teile in Verworn’s Konditionismus aber, insbesondere die Lehre
von der effektiven Aquivalenz der Bedingungen werden als direkt
falsch zurückgewiesen. Oscar Levy, Leipzig.
Im Verlag von Dr. Werner Klinkhardt, Leipzig, erscheint demnächst:
Tier- und Pflanzenleben der Nordsee.
Nach Aufnahmen von Hofphotograph F. Schensky, Helgoland. Heraus-
gegeben von der Kgl. Biolog. Anstalt auf Helgoland.
Das Werk ist auf 3 Lieferungen berechnet. Subskriptionen werden von
allen Buchhandlungen entgegengenommen.
Verlag ‘von Georg Thieme in Leipzig, Rabensteinplatz 2. — Druck der k. bayer.
Hof.- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Alphabetisches Namenregister.
A.
Abderhalden 105. 304. 391.
Abel, ©. 108.
Albertus Magnus 279.
Allard 117.
Ampere 386.
Andrae 711.
Apathy 45 53.
Aristoteles 280. 289.
Aronsohn 720.
Arrhenius 37. 516.
Artom 98. 113.
Ascherson 312.
Autenrieth 304.
B.
Bachmetjew 481.
Bacon, Franeis 288,
Bacon, Roger 290.
Baer 364.
Baglioni 508.
Balfour 370.
Ballowitz 267. 273. 490,
Bally 97.
Balss 508.
Bardeleben, v. 361.
Bary, de 685.
Bateson 117.
Bätzner 156.
Bauer 449.
Baunacke 427.
Baur 252. 676. 679. 683.
Beard 150.
Beckmann 99.
Becher 449.
Behning 460.
Beijerinck 351.
Bel, Le 151.
Benecke 381.
Benedikt 294.
Berlese 500,
Bernstein, Julius 385.
Bernstein, T. 33.
Bert, PA 518:
Berthold 323.
Bertrand 186.
Berzelius 154.
Bethe 57. 433. 508. 667.
Bielschowski 42.
Birkner 181.
Blaauw 587.
Bloch 209.
Blochmann 559.
Bogdan 9.
Bois-Reymond, du 355.
Bönner 669.
Bonnet 5.
Bordage 355.
Bordier 720.
Börner 237.
Böttger 180.
Boulenger 15.
Boveri 113.
Boysen-Jensen 350.
Brachet 301.
Brady 257.
Brandt 361.
Braus 90.
Brehm 180. 580.
Brenner 322,
Brodmaun 383.
Brönstedt 460.
Bros 156.
Brown 182. 339.
Brun 705.
Brun,.E. 17.
Brun, R. 17ff. 675.
Brushi 186.
Buchner, P. 351. 501. 552.
Büchner 291.
Buddenbrock, v. 431.
Burck 4.
Burian 99.
Büsgen 309.
Busse 325.
Buttel-Reepen, v. 382. 512.
716.
©.
Cajal 50. 60.
Car 707.
Carazzi 425.
Carnegie, Andrew 577.
Carrel 305.
Child 301.
Chodat 32.
Christie 252.
Cieslar 643.
Claparede 658. 659.
Clark 434.
Cleaves, Margaret 166.
Cohen, Ernst 516.
Cohnheim 305.
Conklin 585.
Cornetz 657.
Correns 298. 389. 593.
Couturat 172.
Crocker 345.
Czapek 676.
Czerniaew 312.
D.
Daremberg 280.
Dareste, Camille 363.
Darwin, Charles 2. 38. 141.
382. 393. 512.
Darwin, F. 592.
Davis 140.
Demoll 727.
Detto 334.
Dewitz 10.
Dexler 380.
Dieffenbach 459.
Dietze 189.
Digby 98. 145.
142
Dingler 309.
Disse 77.
Dobell 381.
Dobkiewiez 104,
Doflein 109. 508.
Dogiel 39. 57. 86.
Dohrn 52.
Dollo 109.
Donceaster 594.
Donithorpe 27.
Douwe, van 255.
Draudt 192.
Driesch 300. 596.
Drucker 99.
Dunker 65.
Dunlop 340.
E.
East, E.M. 1.
Ebner, v. 71.
Edelstein 304.
Edinger 383.
Ehrlich 37. 229.
Ehrlich, Felix 502.
Emery, Carlo 258. 675.
Emich 676.
Engelmann 81. 334. 587.
Engler 694.
Enriques 222.
Erdl 366.
Erhard 494.
Erlanger, v. 564.
Escherich, K. 577.
Escherich, Paul 19.
Ettinghausen, v. 322.
Euler 676.
Ewald, F. 523.
Ewart 81.
FE.
Faber, v. 344.
Fabinyi 100.
Fabre 719.
Fairchild 156.
Faussek 194.
Fick 391.
Fischel 299.
Fischer, Emil 150.
Fischer, H77351.
Fischer, Martin H. 48. 617.
Fischer-Benzon 282.
Fischler 305.
Fitting 325.
Fleischmann, J. 150.
Flemming 71.
Fleure 573.
Foa, Anna 236.
Fodor 108.
Folin 304.
Alphabetisches Namenregister.
Fonseca, de 237.
Forel 26. 39. 673. 711.
Foster 156.
Fränkel, 244. 305.
BranzeV2 37925212:
Frisch, v. 474ff. 517.
Fühner 304.
%.
Gaidukow 334.
Galvani 386.
Gamble 694.
Gates 92. 113.
Gaupp 377.
Gauss 65.
Geerts 92. 116.
(Gteisenheyner 282.
Gerschler 352.
Gibbs 386.
Giemsa 305.
Gildemeister 253.
MeGinnis 701.
Goebel, v. 4. 329.
Goldschmidt 593.
Golgi 303.
401. 455.
676.
. Graebner 312.
Grafe 305. 676.
Grassi 236.
Grau 252.
Gravier 561.
Gregory 98.
Gros 103.
(Gross 559.
Gruber, Carl 455.
Grüß 341.
Guerin 273.
Guldberg 378.
Gurwitsch 54.
Guttenberg, v. 321.
H.
Haberlandt 335. 592.
Hachet-Souplet 658.
Hacker 391.
Haeckel 291.
Haecker 676.
Haemmerli 26.
Haller, Bela 564.
Hallier 244.
Hamburger 391.
Hansen 56. 77.
Hansteen 182.
Hargitt 223.
Harrington 587.
Harrisson 90.
Hartmann 77.
Haydon 150.
Hayek, v. 214.
Hayes, H. K. 1.
Heer 319.
Hegi 243.
Heidenhain 56.
Heitzmann 38.
Held 51. 90.
Helmholtz, v. 386.
Henschen 590.
Herbst 299. 473.
Heribert-Nilsson 682.
Hermann, L. 386.
Henschen 590.
Hentschel 644.
Herold 634. 635.
Herpig 496.
Hertwig, OÖ. 44. 371. 452.
53.
Hertwig, R. 223. 279. 557.
Heß, v. 494. 519. 543.
Hesse 109. 724.
Heubner 305.
Hicks 428.
Hildebrand, F. 398.
Hildegard, Heilige 279.
His: 39. 51.
Hoff, van’t ‚37. 151.
651.
Hoffa 80.
Hoffmann 253. 643.
Hofmeister 339. 346.
Holderer 342.
Holmes 206. 512. 587. 701.
Holtermann 313.
Hooke 84.
Hoorweg 388.
Hormuth 512.
Herpig 496.
Howard, L. ©.
Huber 327.
Hubrecht 372.
Huene, v. 468.
Huxley 514.
223.
m- -
De
ı®
Ihering 686.
Iltis 685 ff.
Ishikawa 97.
J.
Jacobi, H. 579.
Jäger 8. 717.
Jenner 291.
Jennings 223. 227. 615. 650.
Jenyns 14,
Jochmann 156.
Johannsen 227. 329. 390.
678. 682.
Jollos 222.
Jones, Wood 561.
Jordan 390, 732.
Jörgensen 460.
Jost 328.
Juel 97.
K.
Kaiser 282.
Kammerer 242.
696. 697. 698.
Kanitz, Aristides 516.
Kant 172. 289. 596.
Kapterew 351.
Kaufmann, Ed. 365.
Keeble 98. 694.
Keibel 371.
685.
Kerner von Marilaun 309.
686.
Kinzel 345.
Kirchhoff 173.
Kjeldahl 304.
Klaatsch 381. 512.
Klatt 620. 629.
Klebs 311.
Kleemann 500.
Kollar 237.
Koller 365.
Kölliker, v. 84. 369.
Köppen 312.
Kornfeld, W. 487.
Korschelt 473 559.
Krabbe 341.
Krall 171. 513.
Krasan 319.
Krätschmar 459.
Krausse 264.
Krüger, B. 14. 425.
Krumbach 255.
Krumbeck 307.
Kumagawa 304.
Kupelwieser 517.
Kurz 606.
Küster 299.
Kutter 675. 703 ff.
L.
Laer, van 504.
Lafite-Dupont 273.
Laguesse 71.
Lamarck 603.
Lampe 305.
Lang 679.
Lantermann 40,
Lasch 312.
Laubmann 512.
Lauterborn 457.
Lawdowski 38.
Leaming 587.
Lebedeff 504.
Lehmann 345.
Leibniz 296.
691.
Alphabetisches Namenregister.
Leitgeb 694.
Lenhossek 46.
Lepeschkin 348.
Leontowitsch 36. 49 ff.
Letsche 304.
Levene 305.
Lewin 288.
Lewis 90
Lidfors 345.
Liebig 154. 501.
Lilljeborg 352.
Linck 473
Lindemann 324.
Linden, v. 617.
Linne 251. 283.
Linz 181.
Liwanow 566.
Löb, Jacques 581. 606.
Lochte 365.
Loewe 48.
Lohrisch 304.
Lubbock, J. 519. 587. 716.
Luca, S. de 363.
Lutz, Miss 116.
M.
Maeterlinck 657.
Magnus, Werner 309 ff.
Maidl 652.
Mall 71.
Mangold 427.
Marceau 273.
Marcel 27.
Marziaski 559.
Mast 581.
Mathuse 324.
Mauthner 289.
Maxwell 298.
Mayer 254.
Mazur 71.
Meisenheimer 629. 630. 635.
638.
Meissner 193.
Mendel 1.
672. 683.
Merck 340.
Merejkowsky 518.
Merkel, v. 5. 71.
Merrifield 617.
Metalnikow 193.
Metschnikoff 50.
Metschnikoff, Elias 168.
Meves 71.
Meyer, A. 381.
Meyer, Anna 564.
Meyer, Eduard 564.
Meyer, Ernst, H. F. 283.
Meyer, Siegmund 69.
Michaelis 342.
Michaelis, Leonor 304.
421. 583. 594.
Miescher 392.
Migne 280.
Migula 689. 691.
Miltz 356.
Minkowski 390.
Möbius 425.
Moeser 29.
Mohl, von 309.
Mola, Pasquale 208.
Molisch 675.
Moll 41.
Monnier 32.
Morawitz 304.
Morgan 395. 606.
Morgulis 664.
Morjachin 42.
Moroff 694.
Morris 183. 339.
Mräzek 658. 700 ff.
Müller, C. 114.
Müller, Johannes 717.
Munk 590.
N.
Nägeli 348.
Nagel 508.
Nakao 97.
Natorp 178.
Natzmer, v. 666.
Nave 690. 692.
Nemee 592.
Nernst 386.
Neubauer 304.
Niedner 724.
Nierenstein 305.
Nilssen 247. 642.
Nilsson, Heribert 121.
Nilsson-Ehle 252.
Nosgier 720.
Nordhausen 331.
Nördlinger 309.
Nusbaum 300.
®.
Oker-Blom 387.
Omeltschenko 89.
Oppenheimer 339.
Ortner 559.
Ostwald 175. 387.
Ostwald, Wo. 458.
Ottenwälder 345.
Oudemans 630.
Oxner 300.
>
Pace, Miss 97.
Pallas 209.
Papanicolau 352. 456.
=)
FF
wu
144
Parker 587.
Pascher 695.
Pasteur 155. 169. 505.
Pauly 596.
Pearse 701.
Pearson 65.
Pedanius Dioscorides 281.
Pelseneer 566.
Pergande 258.
Peter 33.
Petersen 192.
Pfeffer 316. 348.
Pfeiffer 305.
Pflüger 184. 585.
Pfungst 173.
Pinceussohn 244.
Plate 385. 513. 676.
Plinius 280.
Poe, Edgard Allan 289.
Pohl 305.
Polimanti 272.
Bolle22:
Pontoppidan, Erich 251.
Poulsson 253.
Prantl 694.
Pregl 304.
Prell 496.
Pringsheim, E.G. 48. 243.
304. 59.
Pringsheim, Hans 501.
Prochnow 500.
Przibram 611. 733.
Puriewitsch 182.
Purkinje 79.
R.
Rabenhorst 689. 692,
Rädl 523. 700.
Ramon y Cajal 39.
Ranvier 40. 74. 387.
Rathke 370.
Ratzel 390.
Rauber 38.
Reh 377.
Reichenau, v. 628.
Reichensperger 675.
Reis 302.
Remak 41. 56. 364.
Renaut 71.
Rhode, E. 42. 54. 67. 87.
304.
Richardson 169.
Richet 200.
Riesenfeld 386:
Riggenbach 219.
Roberts 156.
Robertson 29.
Romeis, B. 14. 425.
Rona 305.
Rösel 497.
Rosenberg, OÖ. 114.
Rosenstadt 80.
Rosenthal, J. 296. 388.
Roux 293. 298. 300. 610.
735.
Royce 172.
Rubner, Max 502 ft.
Rudow 657.
Ruhland 337 ff. 345.
Rüschkamp 668. 672. 675.
Russel 172.
Ruttner 462.
S.
Sabussow 575.
Sachs 84.
Sachse 459.
Saint-Hilaire 4ff.
Santschi 675.
Schäfer, E. A. 579.
Schaffer 56.
Scharfenberg, v. 456.
Schaudinn 557.
Scheiben 251.
Schelenz 365.
Schiff 500.
Schitferdecker 74.
Schild 500.
Schimmel 253.
Schimper 320.
Schmidt 103. 304.
Schmidt, Peter 193.
Schmorl 107.
Schneider 423.
Schneider, Camillo 170.
Schopenhauer 176.
Schott 475.
Schottky 321.
Schramm 331.
Schreiber 724ff.
Schröder 187.
Schübeler 246. 639ff.
Schultze, M. 59. 71.
Schultze, O. 39. 46. 59.
Schumm 305.
Schwann 40. 5Off.
Schwantke 423.
Schwendener 685.
Secerov, Slavko 473. 595.
Sedgwick 39.
Selenka 373.
Seligo 352.
Semon 241. 245. 639ff.
Sharp 731.
Shull, Franklin 576.
Shull, G. H. 4.
Slyke, van 305.
Smith, Pye 366.
Sulger 267.
Spalteholtz 42, 71,
Alphabetisches Namenregister.
Späth 317.
Spatzier 344
Spencer 610.
Staby 314.
Stadler 278.
Standfuß 192. 241. 481. 617.
Stieda 5. 77.
Stoklasa 304.
Stomps 115.
Stoward 186.
Strasburger 93. 115. 304.
394.
Stromer v. Reichenbach 306.
Studnicka 71.
Stuhlmann 559.
Sumner 590.
Swart 342. ;
Szymanski 260. 649.
Ar
Tahara 97.
Targioni 237.
Teudt 716 ff.
Thierfelder, Hans 153.
Thomas Cantimpratensis
279.
Thomas, Nesta 131.
Timofejew 42. 566.
Tischler 97. 113. 145. 343.
Tornier 611.
Totzauer' 573.
Tower 241.
Traube 305.
Traube, Moritz 501.
Tschugunoff 351.
Tunmann 676.
Tyndall 723.
U.
Uexküll, v. 294.
Uhlenhuth, E. 487.
Vv.
Vallery-Radot 169.
Veit 107.
Velden, von den 305.
Verworn 205. 428. 709. 735.
Viehmeyer 19.
Volkens 310.
Volta 386.
Völter 302.
Vouck 305.
Vries, Hugo de 47. 92. 115.
682. 683.
WW.
Wagner 657.
Waldeyer 77 ff.
Warburg 313.
Ward, Marshall 340.
Warming 315.
Wasmann, E. 264. 278.
667. 668. 670. 672.
Wassermann 705.
Waugh 345.
Weichhardt 107.
Weigl 302.
Weinhold 100.
Weismann 456. 678.
Weiss 224.
Werner, F. 14. 78. 112.
425. 650.
180.
Wesenberg-Lund 4ö6ff.
Wettstein 643.
Wheeler 675.
Alphabetisches Nainenregister.
Wieman 115.
Wiesner, von 174.
453.
. Wille 245. 639ff.
Wilson, E. B. 114. 587.
Wilson, Malcolm 150.
Winterstein 427. 496.
Wislicenus 150.
Witmaak 59.
Wohlgemuth 305.
Wohllebe 343. 351.
Wolff 596.
Woltereck 15. 456 ff.
Woodruff, Lorande
34226.
Woodward 572.
Wright 315.
Y.
Yakowleff 560.
Yerkes 518.
2.
Zacharias, Otto 104.
Zander 711ff.
Zemplen 305.
Zimmermann 268.
Zunz (Brüssel) 305.
Zwaardemaker 717,
238
Z/weibaum 222.
(45
Alphabetisches Sachregister.
A.
Abstammungslehre 379. 512.
Acanthaphis spinulosa 237.
Acanthochermes quercus 237.
Aectinosphaerium eichhorni 162.
Aegilops ovata 97.
Aeschna cyanea 696.
Albertus Magnus 279.
Albuca fastıgiata 114.
Alchimilla vulgaris 3.
Alisma plantago 688.
Alligator mississippensis 470.
Aloe Hanburyana 114.
Ameiurus 14.
2 nebulosus 15.
Amoeba 158.
Amphioxus 379.
Anabaena 686.
Anergates 258.
Aneura 694.
Anneliden 431.
Anodonten 451.
Anolis 616.
Anpassung 644.
Antennaria 93.
Anthidium 711.
Anthoceros 656. 694.
Anthophora 711.
Anuraea cochlearis 457.
Apis 711.
Apus produetus 659.
Arenicola 434. 449.
Argyroneta glauca 688.
Arion hortensis 436.
Artbegriff 644.
Artemisia camphorata 192.
EN maritima 190.
; salina 98.
Arye ustulata 652.
Atavismus 311.
Atyrium filie-foemina 93.
Autokatalepsie 206.
Autokatalytische Formel 32.
Azolla 686.
B.
Balancement des Organes 240.
Batrachospermum 685 ff.
R moniliforme 689.
n vagum 689. 690. 693.
Baumspindelmotte 650.
Beschornia superba 114.
Bestimmung des Geschlechts 593.
Bewegung bei Protozoen 707.
Bibio 609.
Bienen 711.
Biochemische Arbeitsmethoden 304.
Biologische Anstalt Helgoland 740.
Biologisches Grundproblem 598.
Biologisches Museum der Universität
Dorpat 4.
Bipinnaria 50.
Blasia 694.
Dosmina 455.
„ coregoni gibbera 463.
> longirostris 463.
Botanik, historische Entwickelung 455.
Branchipus 659. 700.
Brehm’s Tierleben 180,
Brun’scher Torfapparat 703.
Bryonia 593.
L alba 593.
= dioica 593.
Buche 311.
Bulbine annua 114.
C.
Cacops 111.
Caiman latirostris 15.
Callophrys 500.
> rubi 500.
Alphabetisches Sachregister.
Calluna vulgaris 1.
Camponodus ligniperdus 21.
Carausius 104.
i morosus 193.
Carchesium polypinum 161.
Cardamine pratensis 398. 421.
Carex acutiformis 688.
Carum Carvi 252.
Cassia Fistula 343.
Catanlacus 259.
Ceratium hirundinella 460.
Ceriodaphnia 703.
Chamaeceras 694.
Chaetophora cornu damae 691.
Chemische Beeinflussung der Fortpflan-
zungskörper 10.
Chemorezeption 508.
Cercopithecus 313.
Chironomus-Arten 252.
Chromosome 137.
Chondrostoma 268.
Chromosomenmechanismus 92. 115.
Ciona 395.
Cladocera 351.
Öladoceren, Temporal- und Lokalvariation
455.
COladophora 690.
Olaparedeilla 658.
Clupea 268.
Cobitis 14.
Coelenteraten 432.
Colacium vesicolosum 69.
Coloborhombus fasciatapennis 60).
Colopodon 111.
Convoluta roscoffensis 694.
Cordylophora 160.
Ooryphodon 111.
Orepis japonica 9.
„. teetorum 97.
Cremastogaster seutellaris 264.
Örenilabrus 483.
” occellatus 485.
" roissali 485.
Orioceris asparagi 499.
Orocodilus nilotieus #70.
Ctenophoren 709.
Culicoides 255.
Cytologische Untersuchungen 594.
D.
Danaiden 609.
Daphnia 455. 703.
Be magna 450.
En pulex 159.
Daphniden, Lichtsinn der 494.
Dasyhelea 255.
Dauermodifikation 233.
Denken in den Naturwissenschaften 288.
Desmospondylus 111.
Diastase 339.
=!
—
Dieynodon 111.
Dilophus 609.
Dimetrodon 111.
Diploposthe laevis 209.
Diplotaena 694.
Diprotodon 111.
Dixippus 104.
Drosera longifolia 93.
Druentiata Dietze 192.
Dynomische Biochemie 244,
E.
Echidna 111.
Eiablage 620 fff. 6291f.
Einheitlichkeit des Organismus 605.
Eiche 311.
Eledone 273.
Energide S4.
Enzym 337.
2 oxydasisches 340.
Elektrobiologie 385.
Entwickelungsmechanik 300.
Entwickelungsmechanik der Tiere und
Pflanzen 298.
Enzystierung 658.
Ephemeriden 451.
Epiphytismus 680.
Epithelbindegewebe 51.
Epoecus pergandei 258.
Erblichkeitslehre 47.
Eristalis 451.
Eryops 111.
Erytrophore 490.
Esox 268.
Ethologie 109.
Euchirosaurus 111.
Eucomis bicolor 114.
Eupatorium adenophorum 315.
Euphitecien 189.
Euphiticia 190.
absinthiata 1%.
chloerata 1%.
extensaria 1%.
Er lentiscata 190.
Evolution 1.
Exosmoseversuche 343.
Experimentalzoologie 733.
Experimentelle Abänderung von Orga-
nismen 10.
Experimentelle Untersuchungen über Ver-
erbung 593.
”
”
F.
Fagus silvatica 311.
Farbenwechselfragen 473.
Fimbraria fasciolaris 209.
Fitzroya lineata 14.
Flexibilitas cerea 200.
Flimmerzellen 608.
148
Flora und Fauna der Strandtümpel 254.
Foaiella Danesiüi 237.
Formica exsecta 22.
a fusca 22. 668. 703. 705.
5 pratensis 22. 668. 672 £f.
Br rufa 18. 668. 703. 705.
en sanguinea 18. 668. 672ff.
Fressgesellschaft bei den Afterraupen
von Arye ustulata 652.
Funktionale Betrachtungsweise 644.
Funktionsbegriff 647.
G.
Gallecolae 238.
5 direkte 239.
Galtonia candicans 114.
Garneele 508.
Gärung, alkoholische 501.
Gehäuseschnecken 446.
Geotaxis, typische positive 434.
Gerstenkeimung 181.
Geschlechtszellen 302.
Geschwülste 86.
Gespinst der Raupe der Baumspindel-
motte 650.
Gewebe 82.
Giftfestigkeit 231.
Glyptotendipes 255.
Gruppenweise Artbildung 683.
Haemanthus 114.
Hatteria 373.
Harpacticus pulvus 256.
Helikoidale Apparate 60.
Helix hortensis 441.
» pomatia 441.
Helotismus 686.
Hemmungsstoffe 394.
Herold’sches Organ 634.
Hesperia 191.
Hesperornis 111.
Heterozygose 1.
Hevea Brasiliensis 327.
Hieracium 191.
; excellens 93.
» flagellare 93.
Hildegard von Bingen 278.
Holothurien 434.
Hyacinthus orientalis 114.
Hyalodaphnia eucullata 457.
Hydra 612.
uscoelsze
Hylostoma rosarum 657.
Hylotoma ustulata 652.
Hymenolepis 208.
“ lanceolata 209.
> riggenbachi 215.
E rosenthali 209.
Alphabetisches Sachregister.
Hyponomeuta evonymella 650.
Hymenoptera aculeata 259.
Hypsilophodon 111.
I.
Ichthyosaurus 111.
Individualstoffe 389,
Infusorien 222.
Insektenlarven 451.
Instinkt 260. 649.
Invertase 340.
Janthina 432.
K.
Kallium parelecta 609
Kempthaler Ameisengebiet 17.
Kartonnestbauende Ameise 264.
Kastraten 629.
Katalepsie der Phasmiden 193.
Kausalharmonie 599.
Kiementransplantationen 487.
Knochenfische 267.
Kolloide, zelleigene 337.
Kolonie, dreifach gemischte 688ff.
Konvergente Anpassung 645.
Kopulation 620ft. 629 ff.
Krokodile, Extremitätenbewegung 468.
L.
Lasius fuliginosus 26. 666.
Lastrea pseudo-mas 93.
Lemna minor 688.
„» trisulca 688.
Lepidosteus 379.
Lepismina polygoda 266.
Leporinus melanopleura 16.
Leptinotarsa 616.
” decemlineata 616.
7 immaculothorax 616.
s, pallida 616.
> signatrcollis 115.
Leptodora Kindtiü 351.
Leptosporium myrmecophilum 264.
Libellen 727.
Lilwum bulbiferum 398.
Limax agrestis 436.
Limnea 611.
» palustris 688. 691.
n stagnalis 688.
Listera ovata 114.
Lininstoffe 391. 421.
Liometopum microcephalum 264.
Loligo 273.
Lolium temulentum 685.
Alphabetisches Sachregister. 749
Lasius emarginatus 264.
„ flavus myops 265.
» Fuliginosus 264.
„unagen) 265.
Lumbrieulus variegatus 659. 660. 664.
Lutra paranensis 15.
Lysimachia mummularis 688.
Lythrum salicaria 688.
M.
Mechanische Auffassung vom Leben 581.
Melandrium 593.
Mel’certa ringens 161.
Melilotus offieinalis 713.
Membrantheorie 386.
Mendel’sche Spaltung 677 ff.
Mentha aquatica 688.
Merkmalbegriffe 644. 646.
Messor strnetor 265.
Metapone 259.
Mikrochemie der Pflanze 675.
Mikrokryoskopische Versuche 99.
Mineralischer Gehalt der Pflanzen 32.
Misgurnus 14.
Mneme 247.
Monomorium minutum minimum 258.
Moritziella corticalis 237.
Musa sapientum 97.
Mugil auratus 425.
65 eapito 425.
„ cephalus 425.
», „chelo: 426
; saliens 426.
Mullus barbatus 490.
.; surmuletus 490.
Muskelspindeln 59.
Mutation 47, 229,
Mutualismus 688.
Mycale 648.
Mwugnimia aviculus 609.
Mykorrhiza 685.
Mylodon 111.
Myrmica rubida 28.
3 rubra 28.
N.
Nährgelatine 724.
Nais proboscidea 161.
Nemachilus barbatula 473.
Neobalaena 111.
Neotommata Werneckii 596.
Nepa cinerea 435.
Nephrodium molle 93.
Nepiden 429.
Nephritis 48.
Nervenzelle 46.
Nervenspindeln 59.
Nervöse Grau 57.
Nesodon 111.
XXXII.
Neurit 53.
Neuron 49.
Neurosynecellium 66.
Normales Wachstum des Individuums 29,
Nostoc 685. 695.
„. sphaericum 697,
Nyeticorax 16.
®.
Octopus vulgaris 273.
Oedogonium undulatum 696.
Oenothera biennis 47. 115. 684.
% brevistylis 683.
35 erueiata 115.
„ Gigas 48. 92. 115ff. 683.
> grandıflora 47.
> Lamarckiana 48. 92. 115.
55 latı 115 683.
35 marckiana 47.
muricata 115. 684.
s nanella 48. 683.
cr oblonga 684.
& rubricalyx 143.
3 rubrinervis 115. 683.
55 scintillans 684.
x semigigas 115.
Organisation, chemische 337.
Oxmia 711.
Osteolamus tetraspis 469.
Oudenodon 111.
r.
Paläobiologie der Wirbeltiere 108.
Paläozoologie 306.
Plasma 346.
Papilioniden 609.
Pulaeospondylus 111.
Parabiose 686.
Paramaecium aurelia 34.
” caudatum 223.
Paratilapia 14.
Parthenophylloxera ilieis 237.
Pecten 431.
Pellia 694.
Penieillium 184.
Petunia nycetaginiflora 397.
e violacea 397.
Pferde, rechnende 423.
Pflanzenzüchtung 1.
Phascum cuspidatum 97.
Pheidole pallidula 265.
Phototaxis 702.
Phylliium 609.
Phylloxerella confusa 237.
Phylloxeroides italieum 237.
Phylloxeras querceus 237.
Phylloxerinae 236.
Physica der Hildegard von Bingen 279.
a de avibus 282.
4)
50 Alphabetisches Sachregister.
Physica de elementis 282.
“ de lapidibus 282.
5 de metallis 282.
5; de piscibus 282.
> de plantis 282.
de reptilibus 282.
Pigmentströmung 267. 490.
Pimpinella saxıfraga 190.
Pisidium 688.
Pistacia lentiscus 190.
Plagiolepis pigmaea 265.
Planaria lactea 161.
Planorbis 685 ff.
Plasmodium 44.
Primula floribunda 98.
kewensis 98.
Be kewensis farinosa 98.
5 sinensis 98.
a verticillata 98.
Prisomera amaurops 104.
Probierbewegungen 650.
Protozoen 707.
Prosobranchier 441.
Prunus spinosa 190.
Pterochroa 609.
Polyergus rufescens 26.
Ptilodus 112.
Ptuchoptera 451.
Pulmonaten 449.
®.
Quercus pedunculata 311.
5 sessiliflora 321.
R.
Raja clavata 81.
Fr batisasl.
Ranunculus repens 688.
Raumparasitismus 686.
Reseda odorata 395.
Rechnende Pferde 170. 379. 423. 512.
Rechtsdrehendes Albumin 150.
Rechts- und Linkshändigkeit 361.
Regulation der Organismen 595.
2 biologische 611.
7 endogene 611.
% exogene 611.
5 formative 611.
“ heterodrome exogene 616.
homeodrome exogene 616.
Remak’sche Netz 56.
Rhamphorhynchus 111.
Rhamnus infectoria 340.
Riecia 694.
Rhinodoras 15.
Richtungsorgane 462.
Riechstoffe 422.
Riesenwuchs bei Oenothera 140.
Rivulus 16.
Rivulus elegans 16.
„ Hart« 16.
r ocellatus 16.
> santensis 16.
tenius 16.
Rosa 191.
Rumex obtusifolius 688.
Ss.
Sacculina fraissei 615.
Salamandra maculosa 487.
Salamanderlarven 487.
Salix amygdalina 688.
Saprolegnia 691.
Satureia 593.
Sauteria 694.
Saxifraga granulata 97.
sponhemica 97.
Scapholeberis 703.
Scapholeberis mucronata 460.
Schlafstellung bei Süßwasserfischen 14.
der Fische 425.
Schleimdrüsen 660.
Schreckstellung 195.
Schutzfermente 105.
Schutzwirkung 106.
Schwammspinner 620. 629.
Schwann’sche Kerne 59.
Schwimmbewegungen von Branchipus
700ff.
Schwimmplättehen der Otenophoren 709.
Scutellum 181.
Scytonema 688.
Selbststerilität 389.
Selektion OR
Sepia 27
a 16.
Sesia crabroniformis 609.
Simocephalus 494. 703.
Sohidago virgaurea 190.
Somatische Zellen 302.
Soziale Instinkte 649. 666.
Sparganium racemosum 688.
Spezifische Stoffe Johannsen’s 391.
Sphagnum acutifolium 694.
Spirogyra 133.
Sprichthus 191.
Stabheuschrecke 104.
Statice armeria 19%.
Statische Reflexe bei Mollusken 427.
Statisches Sinnesorgan 428.
Statocystenfunktion 427. 449.
Stenorhynchus 615.
Stentor coelureus 163.
Stereomyrmex 259.
Stratiomys 451.
Succias pratensis 191.
Süßwasseroligochaeten 658.
Symbiose 685 ff.
Symplasttheorie 83.
Alphabetisches Sachregister. ‘51
Syncellientheorie 44. VE
Syneitium 44. ee SE
Soli Leben des 36. 49. 67. Variabilität, lokalisierte 468.
Synoekie 686. Varianten, Blasto- 467.
Syncelloplasma 53. un elus- 7467.
Siyndontis 14. Vaucheria 690. 696.
Synaptiden 431. 449. Vegetationsdauer von Getreide 640.
Synzelle 45. 50. Veränderung der Pflanzen 245.
Systematik, biologische 644. Vererbungslehre 676.
Vererbung 593.
q ” erworbener Eigenschaften 241.
£ Vespa erabro 609.
Tabaniden 451. Viola tricolor 3.
Taraxacum officinale 390.
Taenia obvelata 209. WW.
Tapinoma 28.
Teleologisches Problem 604. Wasseruntersuchung 724.
Tetramorium 258. Würmer 432.
n caespitum 260.
Teucerium Scordıum 688. x.
Tetraploide Mutanten 92. 113.
De 500. ae 23 Xenarthra 111.
Theobroma Cacao 327. Y
Thomas Cantim pratensis 279.
Tier- und Pflanzenleben der Nordsee 740. Yueca aloifolia 114.
Tierpsychologie 423. » Draconis 114.
Tierverstand 170. 379. 423. 512. 5 guatemalensis 114.
Tigriopus adriatica 256.
„= Fulvus 256. zZ
u, Lilljeborgi 256. £
Tipula 451. Zweckmäßigkeit 605.
Totenstarre der Cephalopoden 272. N äußere 605.
Trematops 111. 5 des Lebens 595.
Trichodina 158. 5 die Art erhaltende 605.
Triticum dieoccoides 97. ns funktionelle 605.
N vulgare 9%. 5 reflektive 605.
Trysalis 608. * strukturelle 605.
Typha angustifolia 688. Zygaena 191.
Zysten der Olaparedeilla 660#.
U: Zea Mays 181.
Zelle 82. 337.
Umfärbungsphänomen 104. Zelluläre Struktur 49.
Unionen 451. Zephyrus quereus 496.
49*
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