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Full text of "Biologisches Zentralblatt"

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Biologisches Centralblatt. 


1915. 











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jologisches Gentralblatt, 


Begründet von J. Rosenthal. 
In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 
Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Prof. der Botanik Prof. der Zoologie 
in München. 


EBünfunddreissigster Band. 


IgI5. 


Mit 38 Abbildungen, 3 Tafeln und 7 Tabellen. 





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Leipzig 1915. 
Verlag von Georg Thieme, 























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K. B. Hof- und Univ.-Bnehäruckerei von Junge & Sohn in Erlangen, 
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Inhaltsübersicht 


des 
fünfunddreissigsten Bandes. 


O0 = Original; R = Referat. 


Seite 
Abderhaldeu, Emil. Abwehrfermente R. \ od 131 
— Lehrbuch der Physiologischen Chemie in en R. 3 582 
Abgabe von Nährgelatine durch die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene 
in Berlin-Dahlem DER 64 
Bateson, W. Mendel’s Vererhangstheokien) Tema ; 583 
Baur, E. Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. R EN DAR 
Bönner, W., 8. J. Die Überwinterung von Formica picea und andere bio- 
hoßische Beobachtungen. O. Ga 65 
Bokorny, Th. Bindung von Sana alicch da Zelleneiveiß, Ö. 25 
Brehm’s Tierleben. R 395 
— Tierbilder. RB. 397 
— Tierleben. R . NEE SB LE re RAR EN ra rar 
Brun, Rudolf. Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund 
experimenteller Forschung bei den Ameisen. O0 . . .. ........190. 225 
Buddenbrock, W. v. Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. O 481 
Buttel- Rechen! H. v. Leben und Wesen der Bieuen. R ausol 
Dahl, F. Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln und zum Kenk 
servieren von Tieren. R. . RE 5 IE N DAA 
Driesch, Hans. Gibt es harmonisch- äguipotetile Systemen Eine Er- 
widerung. O. . 545 
Duncker, Georg. Die alle ir Beh kombinalionen 
bei Mehrlinggeburten des Menschen und des Schweins. O. 06 
Emery, ©. Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen 
Mitteln ersetzen? O MR, Ra ER EN MT 252 
Fischer, E. Berichtigungen zu ©. Piiöchnews analytischer Methode bei 
den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. O 145 
Fruwirth, ©. Die Pflanzen der Feldwirtschaft. R. DER ERTRRH ENG): 
Goebel, K. Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluft- 
wurzeln? R 209 


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VI Inhaltsübersicht. 


Goldschmidt, Richard. Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur 


Vererbung und Bestimmung des Geschlechts. O R 
Grandori, Remo. Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla ilogera delle 
Vvite., Bi... 205, Vene ee SU Ne 0. 
Grunewald, Marta. Über Veränderung der Eibildung bei Moina reeti- 
rostris. OÖ. u SL IE Se en. 206 
Heikertinger, Franz. Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutz- 
mitteln gegen Tierfraß und ihre Lösung . O 
Hinneberg, Paul. Die Kultur der Gegenwart, As ale) nl 1 
Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie. R 
— Die Kultur der Gegenwart. Zellen- und Gewebelchr, Morphalasıs id 
Entwicklungsgeschichte R . ur: s TEE 
Jollos, V. Stanislaus v. Prowazek +. O. 8 
Kohlbrugge, J. H. F. War Darwin ein tnelles Genie? 0) 
Kranichfeld, Hermann. Zum Farbensinn der Bienen. O 
Lakon, Georg. Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Enhe 
bei den Ba Ö : 5 : 
Lehmann, Ernst. Art, Reine Linie, Tsogene Binheib, 0) 
Lindau, G. Kryptogamenflora für Anfänger. R. 
Löhner, Leopold. Über künstliche Fütterung und Verdunungszersuche 
mit Blutegeln. O a u 
Mayer, P. (Jena). Einführung in die Mikrosdhrel Rn 
Mertens, Robert. Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Tactia 
a -Gruppe. O e BEN 
Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Pre ai Meteorölsgiet R 
Nachtsheim, Hans. Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? O 
Natzmer, @. v. Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insekten- 
BIABLEn- ER Fe Rn TE LE ee ee AR RC ET ge 
Nöller, Wilhelm. Die Übertragungsweise der ee R 
Palladin, W. J. Pflanzenanatomie. R Ser: 
Polimanti, Osv. Sul Reotropismo nelle Larve dei Ba (Bufo: © Baia 0 
—  Physiologische Untersuchungen über das pulsierende Gefäß von Bombyx 
mori L. © ; es : 
Prat, S. Einige neuere - > die Wirkans des on auf di 
lebenden Organismen. R Ara urn 
Pringsheim, Ernst G. Die Kultur von Panama, Burkdiın 10) 
Prochnow,Oskar. Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 0 
Reichard, Adolf ©. Die deutschen Versuche mit gezeichneten Schollen. R 
Reisinger, Ludwig. Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der 
Fische O. ee ne et en.) nee REN FENgE: 
Röder, Ferdinand. Über den Zusammenhang der Energien in der be- 
lebten Natur. O 2 u Se rl A Ser ee: 
Roux, Wilhelm. Die Selbstregulation ein charakteristisches und nicht not- 
wendig vitalistisches Vermögen aller Lebewesen. R 
Schaxel, Julius. Die Leistungen der Zelle bei der Entwicklung der Meta- 


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ZOEN. ı le, ray. en ee RR I EN. . 
Scheuring, Ludwig. Beobachtungen über den En Pe 
Jungfische, OA Dee fe ARTE En = 
Schleiermacher, A. Über das Blitzen von Blüten. O 2. 3 20.“ 


Inhaltsübersicht. 


Schneider, K. ©. Die rechnenden Pferde. ©. 
Schroeder, H. Über die Einwirkung von Silbernitrat a: die Keimfshie- 
keit von Getreidekörnern. 0) 
Sedgwick, W.T. und Wilson, E. B. htalan: in its lien: 


Biologie R BR a tee niet roh Re a AR 
Seitz, Ad Die Großschmetterlinge der Erde. R 
Sms Ji Indisch Natuuronderzoek R. 


a een Erich. Über Vererbung und Variabilität B Bee 0 
Tschermak, A. v. Über Verfärbung von Hühnereiern durch Pre 
und über Keftidaner dieser Farbänderung. 0 ee 
Vries, Hugo de. Über künstliche ae der Wesnmalne in 
Samen durch Druck. ©. 
Warming’s Laune der ökblomschen FPflanzengeokraphiß‘ R Me: 
Wasmann,E., S.J. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. ö 
— Das Geeischarklehen der Ameisen. Das Zusammenleben von Ameisen 
verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Bei- 
träge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. R . 
— Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. ER 
— Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. ©. : 5 De 
Werner, F. Einige Bemerkungen zu den Salamandra- renen von 
Sederov und Kammerer. O . u 
Zehnder, Ludwig. Der ewige Kreislauf de Weltalls. R 





In schwerer Zeit. 


Die Unterbrechung des Verkehrs mit dem Ausland sowie 
der Umstand, dass viele unserer einheimischen Mitarbeiter 
im Felde stehen, hat auch unser Blatt schwer betroffen. Die 
wertvollen Beiträge, welche wir von Angehörigen anderer 
Staaten erhielten und vieler einheimischer Mitarbeiter fallen 
fort. Trotzdem halten wir es für unsere Pflicht, das Er- 
scheinen des Blattes fortdauern zu lassen, solange es möglich 
ist, als Zeugnis dafür, dass die schweren Lasten, welche der 
Krieg uns auferlegt, die Fortführung der Kulturarbei' nicht 
verhindern, da alle, denen dıe unmittelbare Teilnahme an den 
Kämpfen versagt ist, doch ın der Friedenstätigkeit nicht er- 
lahmen. Unsere geehrten Leser aber müssen wir bitten, 
etwaige Störungen zu verzeihen. Hoffen wir, dass es über 
kurz oder lang möglich sein wird, sich wieder mit voller Kraft 
der Friedenstätigkeit zu widmen. 


Die Herausgeber des Biologischen Centralblatts. 


Wir Unterzeichneten erfüllen die traurige Pflicht, der 
voranstehenden Mitteilung noch die weitere hinzuzufügen, 
dass zwei Tage nach ihrer Niederschrift der hochverdiente 
Begründer dieser Zeitschrift, Geheime Rat Prof. Dr. J. Rosen- 
thal, am 2. Januar in Erlangen, dem Ort seiner lang- 
jährigen akademischen Tätigkeit, sanft entschlafen ist. Eine 
eingehende Darstellung seines Lebens und Wirkens muss 
einer späteren Nummer des Biologischen Centralblattes 
vorbehalten bleiben. Wir möchten aber jetzt schon zum 
Ausdruck bringen, welche großen Verdienste sich der Ver- 
storbene durch sein unermüdliches Interesse um das Ge- 
deihen dieser Zeitschrift erworben hat und wie sehr wir 
den Verlust unseres langjährigen Mitarbeiters beklagen. 

Bis auf Weiteres hat der Sohn des Verstorbenen, Herr 
Prof. Dr. W. Rosenthal (z. Zt. in Nürnberg, Reserve-Lazarett|) 
die Vertretung seines Vaters übernommen. 


Prof. K. Goebel. Prof. R. Hertwig. 















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Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr.'R..Gocbel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik 
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wolien. 


Bd. XXXY. 20. Januar 1915. 1. 

















Inhalt: Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. — Schroeder, Über die Einwirkung von 
Silbernitrat auf die Keimfahigkeit von Getreidekörnern. — Bokorny, Bindung von Am- 
moniak durch das Zelleneiweiß. — v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben 
der Insektenstaaten. — Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana). 
— Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. — Tschermak, Über Verfärbung von 
Hühnereiern dureh Bastardierung und über Nachdauer dieser Faıb ınderung. — Fruliwirth, 
Die Pflanzen der Feldwirtschaft. — Grandori, Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla 
Filossera della Vite. — Nährgelatine. 








Über das Blitzen von Blüten. 
Von A. Schleiermacher (Karlsruhe i./B.). 


Vor kurzem hat Herr Professor Dr. F. Thomas (Öhrdruf ı./Th.) 
eine Monographie über „Das Elisabeth Linne-Phänomen (sog. Blitzen 
der Blüten) und seine Deutungen“ veröffentlicht!), worin meine 
frühere Mitteilung über diese Erscheinung?) einer Kritik unterzogen 
wird, der ich unmöglich zustimmen kann. Da ıch vergebens versucht 
habe, Herrn Thomas über den Irrtum, ın dem er sich meiner 
Meinung nach befindet, brieflich aufzuklären, sehe ich mich veran- 
lasst, an dieser Stelle auf den Gegenstand, der ja in der botanischen 
Literatur seit langer Zeit behandelt wird, einzugehen. 

Linne’s Tochter Elisabeth beschrieb zuerst?) (1762) die Erschei- 
nung, die sie in der Dämmerung an Blüten der indianischen Kresse 
bemerkt hatte, aber so undeutlich, dass daraus nicht mit Sicherheit 
entnommen werden kann, was eigentlich beobachtet wurde. Sie 
sagt, dass die Blumen „blitzten“. Herr Thomas möchte das schwe- 





1) G. Fischer, Jena 1914. 

2) Bd. 20 d. Verh. d. Naturw. Vereins Karlsruhe 1908. 

3) Die Literatur findet sich am vollständigsten in der Schrift von F. Thomas. 
1* 


4 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 


dische „blicka“ lieber mit „blicken“ übersetzen, führt aber selbst 
die triftigsten Zeugnisse an, wonach im 18. Jahrhundert die Be- 
deutung des Wortes blicka ne von „Blitzen, Wetterleuchten“ war, 
und so ist es auch von deutschen Übersetzern*) damals und später 
verstanden worden. Herr Thomas vertritt nämlich die Meinung, 
dass das El. Linne-Phänomen nichts anderes sei als das sogen. 
Purkinje-Phänomen, mit dem blitzartigen Auftreten und Ver- 
schwinden eines momentanen Nachbildes nichts zu tun habe und 
darum nicht dureh Blitzen oder Wetterleuchten bezeichnet werden 
könne. 

Das Purkinje- Phänomen’) besteht darin, dass in der Dämmerung 
(d. h. im gemischten Tages- und Dämmerungssehen) rote und orange- 
farbene Gegenstände verhältnismäßig (zum reinen Tagessehen) dunkler 
aussehen als blaue und grüne. Dazu kommt, dass das Phänomen 
in der Fovea centralis (wo sich nur Zapfen befinden) fehlt. Be- 
trachtet man also einige orangerote Papierstücke oder Blumen auf 
grünem oder blauem Hintergrund, so erscheint das gerade fixierte 
(dessen Bild also auf die Fovea fällt) heller und lebhafter rotgelb 
gefärbt gegenüber den seitwärts der Blickrichtung liegenden, die 
ım Vergleich zu dem relativ heller gesehenen Hintergrund dunkel- 
braunrot erscheinen. Beim Wandern des Blickes von einem zum 
andern roten Fleck erhellt sich der jetzt fixierte im Gegensatz zu 
dem dunkler werdenden, der vorher fixiert wurde. So lange die 
Blickrichtung unverändert bleibt, ändert sich auch nichts, der fixierte 
Fleck bleibt hell, dıe übrigen dunkel. Dieses Phänomen, zu dessen 
Beobachtung Herr Thomas seiner Abhandlung eine sehr geeignete 
Tafel beigegeben hat, wird in der Tat niemand als Blitzen oder 
Wetterleuchten bezeichnen wollen. 

Ganz anders verhält es sich mit dem, was ich beobachtet, be- 
schrieben und abgebildet habe®): ein weißliches, momentanes 
Aufhellen seitwärts an einzelnen der Mohnblüten, das sich jedes- 
mal zeigte, wenn man den Blick in 20—40 cm Höhe über den 
etwa 2m entfernten Blüten rasch horizontal wandern ließ. Beim 
dauernden Fixieren der einzelnen Blüte war durchaus nichts zu 
bemerken. Ich konnte die gleiche Erscheinung etwas später an 
einem orangeroten Papierfleck auf blauem Hintergrund in der 
Dämmerung beobachten und mich von der Richtigkeit meiner ersten 
Beobachtung überzeugen, freilich, da es unterdessen Winter ge- 
worden war, unter ungünstigeren Beleuchtungsverhältnissen. In 
den diesjährigen Sommermonaten habe ich die Versuche mit ge- 
färbten Papieren immer mit dem gleichen Erfolg wiederholt und 
ebenso viele andere Personen, junge und alte, geübte und ungeübte, 


4) Kästner, Fürnrohr. 
.) Vergl. v. Helmholtz, Handb. d. phys. Optik, 3. Aufl., Bd. 2, 8. 302. 
)alsae: 
1* 


Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 5 


Normal-, Weit- und Kurzsichtige wiederholen lassen. Jeder Zweifel 
an der Richtigkeit der Beobachtung muss danach als ausgeschlossen 
gelten. Einzelne Beobachter erklärten, dass sie die blitzartigen, 
weißlichen Nachbilder seitwärts der roten Farbflecke gerade an 
der Thomas’schen Farbtafel besonders lebhaft bemerkten. 

Die beschriebene Erscheinung wird, worauf Herr Augenarzt 
Dr. Spuler nach meinem Vortrag ım Naturwissenschaftlichen Verein 
in Karlsruhe zuerst aufmerksam machte, nach der neueren Duph- 
zıtätstheorie (v. Kries) als sekundäres Bild oder Ghost bezeichnet’) 
und als primäre Erregung der farbenblinden Stäbchen, die etwa 
!/, Sekunde später als die Erregung der Zapfen einsetzt, gedeutet. 
Weil die Stäbchen ın der Fovea fehlen, kann dieses farblose (weiß- 
liche) Nachbild nur peripherisch bemerkt werden, ganz in Überein- 
stimmung mit dem, was ich bei den Blüten beobachtet hatte. 

Es ıst hiermit wohl festgestellt, dass Herr Thomas und ich 
zwei ganz verschiedene Phänomene beobachtet und beschrieben 
haben. In der Tat sagt Herr Thomas „Der Kernpunkt meiner 
Kritik bleibt: dass Schl.’s Deutung als Bedingung ein ausschließ- 
lich peripheres Sehen im Momente des Aufleuchtens voraussetzt 
und dass unter strikter Erfüllung dieser Bedingung weder 
von mir noch von einem meiner Helfer die Erscheinung 
gesehen wurde®). Wie es aber zugeht, dass Herr Thomas, der 
doch die Vorschrift über meine Versuchsbedingungen in Händen 
hatte und sich jahrelang mit solchen Beobachtungen beschäftigte, 
selbst oder irgendeiner seiner Helfer („17 Personen, darunter zwei 
Physiker und ein Arzt, die alle drei in exakten, subtilen Beobach- 
tungen geübt und bewährt sind“)’) das sekundäre Bild niemals 
beobachten konnten, ist mir geradezu rätselhaft. Ich habe Per- 
sonen, die gar nicht wussten, welche Erscheinung zu erwarten war, 
und die nur hinsichtlich der Augenbewegung unterrichtet waren, 
beschreiben lassen, was sie bei dem Versuch sahen, und sie haben 
das sekundäre Bild genau so beschrieben, wie ich es selbst sehe. 
Ich könnte mir also nur denken, dass Herr Thomas das sekundäre 
Bild nicht bemerkt, weil er das Auge nicht rasch genug bewegt 
oder in schon zu weit fortgeschrittener Dämmerung beobachtet, wo 
zwar sein Phänomen noch vollkommen deutlich ıst, das sekundäre 
Bild aber schon zu schwach. Herr Dr. W. Trendelenburg, 
Prof. der Physiologie in Innsbruck, schreibt mir: „Es ist kein 
Zweifel, dass die Beobachtungen (über das sekundäre Bild) zutreffen. 
Wenn sie in der freien Natur oder passend nachgemachten Be- 
dingungen oft widerstritten werden, so dürfte das daran liegen, 
dass diese Bedingungen im Einzelfall doch zu verschieden sind, ge- 

7) Vergl. Helmholtz, Bd. 2, S. 369. 


8) Thomas, S. 38. 
9) Thomas, S. 33. 


6 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 


wiss ist auch die Beobachtungsgabe, Übung und Sorgfalt sehr ver- 
schieden.* 

Bei dieser Sachlage möchte ich darauf verzichten, auf das ein- 
zelne in der Kritik meiner Mitteilung einzugehen. Weil Herr 
Thomas meint, ich hätte das gesehen oder sehen müssen, was er 
beschreibt, nämlich das Purkinje-Phänomen, so ist von vornherein 
klar, dass alles, was er heranzieht, um nachzuweisen, dass und wie 
ich mich getäuscht haben könnte, schief und unzutreffend sein 
muss. Ich bleibe auch der Meinung, dass die Übersetzer das schwe- 
dische Blieka richtig mit Blitzen wiedergegeben haben, weil dies 
das nur momentan erscheinende weißlich aufleuchtende sekundäre 
Bild ganz richtig bezeichnet. Unter günstigen Umständen ist das 
sekundäre Bild tatsächlich viel heller als der grüne oder blaue 
Untergrund, den Glanz eines wirklichen Blitzes oder einer Bogen- 
lampe darf man sich freilich nicht davon erwarten. 

Für Leser, die Interesse an diesen Erscheinungen haben, möchte 
ich noch einige Bemerkungen anschließen über die Bedingungen, 
unter denen das sekundäre Bild am deutlichsten erscheint. Man 
lege auf einen ultramarınblauen, nicht glänzenden Bogen Papier 
(je größer, je besser) ein quadratisch oder beliebig geformtes Papier- 
stück orangeroter Farbe von etwa 7 cm Seitenlänge (z. B. Filtrier- 
papier, das in einer wäßrigen Lösung von Flavein mit Zusatz von 
etwas Brillianterocein satt gefärbt ist) und beobachte in 1-2 m 
Abstand, indem man den Blick (Fixierungsrichtung) am oberen 
Rand des Bogens, d. h. etwa 20—40 cm oberhalb des roten Fleckes 
rasch entlang bewegt. Wesentlich ıst der Dämmerungsgrad und 
die Farbe der Dämmerung: klarer Himmel, etwa !/,—!/, Stunde 
nach Sonnenuntergang, häufig auch noch später, jedoch bei einer 
Helligkeit, bei der das Lesen noch ohne große Anstrengung mög- 
lich ıst. Das sekundäre Bild erscheint dann im Sinn der Augen- 
bewegung gegen den roten Fleck verschoben. Das weißliche Auf- 
blitzen ist häufig schon bei den unwillkürlichen Augerbewegungen 
in der Nachbarschaft des roten Fleckes oder auch am Rand des 
blauen Papierbogens und auch bei nicht ganz klarem oder sogar 
bedecktem Himmel zu bemerken. Rötliche Abenddämmerung ist 
im Gegensatz zu dem, was Herr Thomas für sein Purkinje-Phä- 
nomen bemerkt, ungünstig. Gerade eine „blaue“ Beleuchtung bei 
möglichst reinem Himmel scheint mir für den Glanz der Erschei- 
nung wesentlich zu sein. Dass diese günstigste Beleuchtung ın 
unserer Breite verhältnismäßig selten vorkommt, halte ich für die 
Ursache, weshalb das Blitzen von Blüten vor dem grünen Hinter- 
grund von Blättern bisher so selten beobachtet wurde. Denn es liegt 
sonst aus Deutschland nur eine Beobachtung aus dem Jahr 1799 
von Goethe vor, die ebenfalls an perennierendem Mohn gemacht 
wurde. Seine Beschreibung stimmt in allem wesentlichen mit der 


Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 7 


von mir gegebenen überein, ohne dass ich, wie Herr Thomas 
will, von Goethe beeinflusst gewesen wäre, denn ich hatte die 
Stelle der Farbenlehre erst nachträglich aufgefunden. Nur ist dort 
die Farbe des sekundären Bildes nicht als weißlich, sondern als 
die „geforderte“ (d. h. komplementär zu orange) oder in dem von 
Herrn Thomas abgedruckten Brief an Schiller als „sehr hell- 
grün“ bezeichnet. Dass das sekundäre Bild tatsächlich unter Um- 
ständen schwach gefärbt erscheint, habe ich selbst an der Farbtafel 
des Herrn Thomas bemerkt, indem es auf dem mehr graublauen 
Grund einen bläulichen Ton annimmt. Es tritt also zu der farb- 
losen Stäbchenerregung ein schwaches komplementär gefärbtes 
Nachbild der Zapfen. Man bemerkt das Blitzen ja auch am deut- 
lichsten auf einer Zone der Netzhaut, wo die Farben noch sehr 
deutlich unterscheidbar sind, wo sich also noch reichlich Zapfen 
vorfinden. Bei einer reinen Stäbchenempfindung sollten schwarze 
Papierflecke ebensogut blitzen wie die stäbchendunklen roten, falls 
sie nicht etwa mehr blaues Licht reflektieren als diese. Ich finde 
jedoch die Erscheinung für schwarze Flecke schwächer als für die 
mohnroten. Es ıst weiter auffallend, dass ein grüner Hintergrund 
die Erscheinung soviel schwächer hervortreten lässt als ein blauer, 
obwohl auch nach den neuesten Bestimmungen!) das Maximum 
der Empfindlichkeit für die Stäbchen im Grün bei 515 uu liegt. 
Seit der Beobachtung im Juni 1905 habe ich vor dem grünen 
Hintergrund von Blättern an Mohnblüten das Blitzen niemals 
wiedergesehen und an mohnfarbenen Papierstücken auch nur an- 
deutungsweise auffinden können und ich kann diesen Misserfolg 
nur dem Mangel einer günstigen Beleuchtung zuschreiben. In 
höheren Breiten mit ihren „weißen Nächten“ scheint eine gün- 
stige Beleuchtung und Adaption öfters einzutreten, z. B. konnte 
Fries!!) das Blitzen während 1!/, Wochen beobachten. Leider hat 
auch er nicht genau beschrieben, was beobachtet wurde, da er sich 
aber auf die Goethe’sche Beschreibung bezieht und ein mit ıhm 
Beobachtender voll Erstaunen ausrief: es blıtzt aus den Blumen, 
muss man annehmen, dass es ebenfalls das sekundäre Bild war. 

Sollte es einem der Leser, besonders solchen, die ın höheren 
Breiten wohnen, gelingen, die Erscheinung vor dem grünen Hinter- 
grund von Blättern wieder aufzufinden, so wäre es von Interesse, 
alles festzustellen, was über die Farbe des Dämmerungslichtes An- 
halt geben kann, also Grad der Abendröte, Reinheit des Himmels, 
Reflex von Wolken, Aussehen farbiger Papiere im Vergleich mit 
der Empfindung bei Tage. 

10) OÖ. Lummer, Physikal. Zeitschr. Bd. XIV, S. 97. — 1913. 

11) Flora, 1859, Nr. 11 und 12. 


8 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 


Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die 
Keimfähigkeit von Getreidekörnern. 
Von H. Schroeder. 


Vor etwas über Jahresfrist hat V. Birckner!) in dieser Zeit- 
schrift meine Angaben, dass Gerste nach 24stündiger Behandlung 
mit 5% iger Silbernitratlösung normal keimen könne, in Zweifel 
gezogen bezw. als unersichtlich bezeichnet. Ebenso hat derselbe 
— indem er meine Arbeitsweise oberflächlich nennt — die ent- 
sprechenden Ergebnisse meiner Versuche mit Weizen, wenn auch 
nicht gerade direkt bestritten, so doch durch Benutzung von Worten 
wie „angeblich“, „gibt an“ zum mindesten als fragwürdig hin- 
gestellt. 

Ich möchte dieser anmaßenden Kritik gegenüber mit neuen 
Tatsachen aufwarten. 


T. 


Zuvor sei des mir gemachten Vorwurfes gedacht, dass es un- 
zulässig sei, aus Versuchen mit 11 Individuen Keimungsprozente 
zu berechnen?). Dessen war ich mir natürlich jederzeit bewusst 
und habe eben darum bei allen Versuchen mit geringer 
Individuenzahl die absoluten Werte zugefügt. Die Prozent- 
zahlen sollten lediglich bequeme Vergleichsdaten liefern. Vielleicht 
wäre es, um dies schärfer hervorzuheben, zweckmäßiger gewesen, 
auf eine andere Zahl zu beziehen als gerade auf 100. Übrigens 
stützte ich mich, um die Widerstandsfähigkeit gegen die Silber- 
lösung zu erweisen, nicht nur auf diesen einen von Birckner be- 
mängelten Versuch, sondern es lag noch eine ganze Anzahl weiterer 
vor, die auch zum Teil in meiner Arbeit mitgeteilt sind?). 

Die Beschränkung in der Individuenzahl war für mich in 
manchen Fällen schlechtweg eine Notwendigkeit. Nämlich dann, 
wenn es darauf ankam, den Erfolg des Sterilisationsverfahrens für 
jedes einzelne Korn separatim zu prüfen. Das verlangte zur Ver- 
meidung einer nachträglichen Infektion beim Auswaschen, Nach- 
quellen und Versetzen in die Nährbouillon, zumal bei den für der- 
artige Arbeiten damals recht unzulänglichen Einrichtungen des 
Bonner botanischen Institutes, umständliche Manipulationen, die 
sich nur in kleinem Umfange durchführen ließen. Außerdem richten 
sich aber die Anforderungen an die Individuenzahl nach der Höhe 
der Ausschläge. Wenn z. B. von 24 Körnern nach 18 Stunden 
1) Band 33 (1913), S. 181, speziell S. 188, 189. Die angegriffene Arbeit: 
Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 492, im folgenden 
einfach zitiert als: Schroeder. 

2) Der ganze Versuch umfasste übrigens immerhin 27 Individuen. Schroeder: 
S. 502. 

3) Schroeder: S. 494, 503. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 9 


Behandlung mit 0,2 oder 0,7%, HgCl, nicht ein einziges keimt, nach 
24 Stunden 5%, AgNO, hingegen von der gleichen Anzahl volle 
20 Stück), so genügen diese Zahlen, um die Tatsache einer Ver- 
schiedenheit in der Wirkung beider Salze und die relative Harm- 
losigkeit des Silbernitrates zu erweisen. 


Il. 


Was zunächst die Frage nach der Möglichkeit einer nor- 
malen Entwickelung der Keimpflanzen nach 24stündiger 
Weiche in 5% Silbernitrat anbelangt, so habe ich im vorigen 
Sommer meine Versuche mit rotem Schlanstedter Sommer- 
weizen, mit Hannagerste und mit nackter oder Edelgerste°) 
wiederholt. Der Gang der Behandlung war folgender: 

18 oder 24 Std. 5%, AgNO, (eine Serie hell, eine dunkel). 

3t1/, Std. 5%, NaCl (einmal erneuert). 

4 Std. 0,5% NaCl. 

Wasser so lange, dass eine Gesamtweichdauer von 52 Stunden 
resultierte. 

Die Nachbehandlung wurde gleichfalls in verschiedenen Serien 
— hell neben dunkel — durchgeführt, derart, dass die am längsten 
dunkel gehaltenen selbst die ersten Keimungsstadien bei Licht- 
abschluss durchliefen, während andere nach beendigter Weiche, 
andere nach Abschluss der NaCl-Wirkung ins Helle verbracht 
wurden. Da diese ungleiche Behandlung Verschiedenheiten nicht 
bewirkte, gehe ich nicht weiter darauf ein. 

Es entwickelte sich danach von jeder Probe ein größerer oder 
geringerer Prozentsatz — davon gleich — völlig normal. Ganz be- 
sonders deutlich lässt sich dies beim Weizen erkennen, da bei 
diesem die drei ersten schon im Ruhezustand ziemlich weit ausge- 
bildeten Würzelchen namentlich bei Bauchlage des Kornes regel- 
mäßig übers Kreuz gestellt vorbrechen und ihnen danach seitlich 
zwei weitere folgen‘°),. Schädigungen, wie solche in später zu be- 
sprechenden Versuchen an Samen mit entblößtem Embryo regel- 
mäßig auftreten, dokumentieren sich sofort durch Verringerung der 
Wurzelzahl, die bis zum gänzlichen Fehlen sich steigern kann, 
Kurzbleiben von einem oder mehreren der Würzelchen oder ge- 
ringer Länge der Coleoptile. Die von mir als normal keimend be- 
zeichneten Körner zeigten von alledem nichts, auch brach in der 
Folge die Plumula in typischer Weise durch. War dies geschehen, 
so wurden, wie schon früher’), Stichproben von je 10 Keimlingen 


4) Schroeder: S. 494. 

5) Sämtlich von Haage u. Schmidt, Erfurt. 

6) Vergl. Körnicke in Körnicke-Werner: Handbuch des Getreidebaues, 
Bd. Inse2s: 

7) Schroeder: S. 504 (damals Sägemehl; diesmal Gartenerde + Sand). 


10 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 


in Töpfe verpflanzt und diesmal sogar bis zur Blühreife beob- 
achtet. Alle 50 derart gezogene Pflanzen entwickelten sich gut 
weiter und kamen ohne jeden Ausfall zur Blüte. Beistehend Repro- 
duktionen einiger der Töpfe mit blühenden Versuchspflanzen nach 
Photographien, für deren Herstellung ich Herrn Dr. Harder ver- 
pflichtet bin. Das wird genügen, um die Möglichkeit einer normalen, 
d. h. ohne Regeneration verlorener Teile verlaufenden, Entwicke- 
lung nach 24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat zu erweisen. 


Ill. 


In den Keimprozenten hatte ich in diesen Versuchen zum 
Teil einen erheblichen Ausfall. Denn es keimten vom Sommer- 
weizen, und zwar in allen Serien etwa gleichmäßig®) nur 37—56 %,, 
von der Hannagerste 65— 82% und von der nackten Gerste etwa 
25—40%,. Da nun ohne Sılbernitrat caeteris parıbus die Keimfähig- 
keit für Weizen 99—100%, für Hannagerste nach 48 Std. Weiche 
38—50%, nach 72 Std. Weiche 84%, und für nackte Gerste 79—89, 
betrug, so war nur für dıe Hannagerste eine dem normalen Wert 
entsprechende Keimungszahl erreicht, während Weizen und nackte 
Gerste rund 50%, Ausfall ergaben. 

Um zuverlässig unversehrten und gut ausgereiften Weizen zu 
erhalten, setzte ich meine Versuche bis zur Ernte 1913 aus und 
besorgte mir dann im August Weizenähren direkt vom Felde°), die 
ich als solche aufbewahrte und aus denen ich mir die Einzelkörner 
zu den Versuchen jeweils herauslöste. Mit diesen musste ich 
bis Anfang Dezember warten, da vordem nur vereinzelte Körner 
keimten. Dann erst war die Nachreife beendet und es keimten 
von den Kontrollen durchgängig 99—100%. Genau der 
gleiche Prozentsatz entwickelte sich aber auch nach 
24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat und entsprechen- 
der Nachbehandlung, wie folgender Versuch lehrt: 

Serie A. 24 Std. 5%, AgNO, geheiztes Zimmer, 
B. 24 „ 5% AgNO, ungeheiztes Zimmer, 
GIER wie Al 
D.4187 Es liwie B; 

Mit der Nachbehandlung war ich ın diesen Versuchen über- 
trieben!®) vorsichtig und ließ 6 Std. in 2%, 18 Std. in 0,2%, 24 Std. 
in ganz verdünntem Na0l, und zwar all dies im kühlen Raum. 
Zum Schluss weichte ich noch 24 Std. in Wasser im warmen Zimmer 
nach. Es keimten: 


8) Siehe vorstehend: 8. 9. 

9) In Laubenheim bei Mainz. 

10) „Übertrieben“‘, weil das gleiche Resultat, 100% Keimlinge, auch bei ein- 
facherer Nachbehandlung erzielt werden konnte. Es genügte nach dem Silber zwei- 
maliges kurzes Abspülen mit Wasser, gefolgt von: 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 11 


Nach 2 Tagen Nach 3 Tagen Nach 7 Tagen 


Serie A. 92 98 100%, 
B. 97 98 100%, 
©. 93 97 99%, 
D. 56 98 Yan; 


oder da jeweils 100 Stück benutzt wurden, von 400 nicht weniger 
wie 398, d. h. 99,5%. Von den beiden nicht gekeimten war über- 
dies das eine am Embryo deutlich verletzt. 

Die Entwickelung wurde — wie immer — bis zum Durchbruch 
der Plumula verfolgt und ergab keinerlei Abweichung von den un- 
behandelten Körnern. 

Ich konnte aber die Einwirkungsdauer des Silbernitrates auf 
volle 72 Stunden ausdehnen, ohne die Keimfähigkeit zu vernichten. 

50 Körner, die im Warmen 72 Std. mit 5% Sılbernitrat be- 
handelt waren, keimten sämtlich, und von 50, dıe im Kühlen dem 
gleichen Verfahren unterworfen wurden, 48. Allerdings entwickelten 
sich in diesen Versuchen nicht mehr alle Keimlinge normal, denn 
bei 3—4 von jeder Serie verkrümmte die Coleoptile in eigentüm- 
licher Weise !!), bei den übrigen zeigte sich bis zum Durchbruch der 
Plumula keine Abweichung vom Typus. 

Nehme ich meine Versuche zusammen, so ergeben sie bei 685 
Weizenkörnern, die 24 Std. mit 5%, Silbernitrat behandelt wurden, 
681 oder 99,4%, normaler Keimpflanzen. 

In Übereinstimmung damit keimten je 100 Körner, nach 24 Std. 
Quellung in !/,, oder !/,.o Normalsilbernitrat, sämtlich ohne jede 
Spur einer Schädigung. 

Aber auch eine höhere Silbernitratkonzentration, nämlich 10°, 
wurde 17 Std. lang ohne Schädigung ertragen. Denn aus 100 derart 
behandelten Körnern erwachsen ebensoviele normale Keimpflanzen '?). 


IV. 


Dass es sich bei dieser Resistenz um eine Schutzwirkung, aus- 
geübt von einer selektiv-permeablen Hülle, handle, hatte ich seiner- 
zeit u. a. daraus erschlossen, dass Körner mit entblößtem Em- 
bryo schon bei einer kürzeren (14 Std.) Sılbernitratbehandlung 


3 Std. 2% NaCl, dann Wasserweiche oder 
24 Std. 0,2% NaCl, danach Wasserweiche oder 
48 Std. ca. 0,02% NaÜl, gefolgt von sofortigem Auslegen ins Keimbett. 
Jede dieser drei Serien umfasste 50 Körner, die sich ausnahmslos normal ent- 
wickelten und das bis zum Durchbruch der Plumula durch die in üblicher Länge 
ausgebildete Coleoptile. 
11) Siehe im folgenden: S. 12 und 20. 
12) Behandlung: 17 Std. 10% AgNO,; 6 Std. ca. 31),% NaCl; 
18 Std. 0,2% NaCl; 8 Std. Wasser. 
Von 100 Körnern nach 48 Std. Keimbett gekeimt 100. 


42 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


ausnahmslos zugrunde gingen‘). Hier das ausführlich mitgeteilte 
Resultat der Wiederholungsversuche, bei denen ich mir die Arbeit 
insofern erleichterte, als ich nicht mehr den Embryo in seiner 
ganzen Ausdehnung freilegte, sondern mich damit begnügte, durch 
vorsichtiges Anritzen mit einer Nadel die Kontinuität der Hüllen 
über demselben zu unterbrechen. Das Ergebnis war eine volle Be- 
stätigung meiner früheren Versuche. Denn von je 25 derart ver- 
letzter Samen keimte nach 24 Std. in 5%, AgNO, nicht einer. 
Ebensowenig trat bei den auf diese Weise angeritzten Körnern 
Keimung ein, wenn die Konzentration der Silberlösung auf !/,,, Nor- 
mal, also etwa !/,, des obigen Wertes herabgesetzt wurde. 

Die ın gleicher Weise wie oben (S. 10) durchgeführte Nach- 
behandlung war auch bei entblößtem Embryo ohne schädigende 
Wirkung. So entwickelten sich von 25 angeritzten Körnern nach 
6 Std. 2%, 18 Std. 0,2%, 24 Std. 0,02%, NaCl und 24 Std. Wasser 
24 normal und eines verkrüppelte. In einem entsprechenden Ver- 
such, in dem auch noch das 2%, NaCl wegblieb, sonst in gleicher 
Weise verfahren wurde, keimten alle normal. Oder mit anderen 
Worten, die Nachbehandlung ergab quantitativ und qualitativ das- 
selbe wie die Kontrollen, womit zugleich die Harmlosigkeit der 
Schalenverletzung an sich dargetan ıst, was außerdem noch in 
einem besonderen Versuche erwiesen wurde. 

Wurde bei den, wie angegeben, verwundeten Körnern die Dauer 
der Silberwirkung herabgesetzt, so ergab sich bei den wenigen von 
mir in dieser Richtung angestellten Versuchen das vorauszusehende 
Resultat, dass die Schädigung mit Abnahme der Wirkungszeit wie 
der Konzentration zurückging. 

Körner mit über dem Embryo verletzter Schale: 

5% AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimt nicht einer. 

!/\oo Normal-AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimen 9. 

Aber von diesen entwickeln 4 nur 2 Würzelchen, worunter eines 
außerdem ohne Blattkeim, und 3 nur je 1 Würzelchen, wobei aber- 
mals 1 ohne Blattkeim. Die beiden anderen bildeten zunächst 
überhaupt keine Wurzeln aus, sondern schoben nur den Blattkeim 
vor. Durchgängig war ferner die Coleoptile sitzen geblieben, so 
dass der Blattkeim meist nur aus der verkrümmten Plumula be- 
stand. Kurz von allen 9 oben als keimend bezeichneten Körnern 
war nicht eines normal. Von den übrigen spitzten, d. h. blieben 
auf den allerersten Stadien der Keimung stehen 3, während 5 über- 
haupt kein Anzeichen von Entwickelung verrieten. Selbst nach 
2stündiger Einwirkung von !/,.o Normalsilbernitrat, auf den unge- 
schützten Embryo war eine Schädigung durchweg erkennbar, wenn 


13) Schroeder: S. 494. Bezüglich der anderen Gründe siehe im folgenden: 
S. 23 und 24. 








{4 Schroeder, Über die Einwirkung von S$ilbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


auch weniger ausgesprochen als ın den eben besprochenen Ver- 
suchen mit 4 Std. Behandlung. 

Aber nicht jede Schalenverletzung oder jede Verletzung über- 
haupt bewirkt bei ca. 24 Std. Berührung mit 5%, AgNO, Verlust 
der Keimfähigkeit. Diesen Effekt haben lediglich Wunden un- 
mittelbar am Embryo oder doch nur in solcher Entfernung von 
demselben, dass das durch Ausfällung und Adsorption wohl gegen 
das Wasser zurückbleibende Sıilbernitrat in der gewählten Einwir- 
kungszeit bis zu ıhm zu diffundieren vermag. Denn als ich bei je 
25 Körnern die äußerste Spitze bis zum makroskopisch erkennbaren 
Bloßlegen des Stärkeendosperms glatt abschnitt und sie dann für 
24 Std. ın 5%, oder in !/,., Normal-AgNO, einbrachte, danach wie oben 
mit NaCl und Wasser bearbeitete, keimten von der !/,., Normal- 
serie alle 25, von der 5%,-Serie 21, während 3 der letzteren auf- 
fallend ın der Entwickelung zurückblieben und eines überhaupt nicht 
keimte. Schnitte lehrten, dass die am Lichte sich schwärzende 
Chlorsilberzone, wenn typische Keimung eintrat, nicht bis zum Seu- 
tellum reichte, zuweilen allerdings erst unmittelbar davor endete. 
Bei den nur gespitzten oder nach eingetretener Keimung bald ab- 
sterbenden Körnern war die Silberlösung bis in die Spitze des 
Scutellums vorgedrungen!*). Prinzipiell ebenso verhielten sich 
Körner, die vor der Ag-Weiche durch einen Nadelstich am Rücken 
verletzt waren. In anderen Versuchen resultierte etwas mehr Aus- 
fall, das ıst verständlich und es ıst wertlos, hier nach bestimmten 
Keimungsprozenten zu streben. Die Größe der Wunde, der variable 
Abstand Embryo, Wunde, dıe Temperatur mit ıhrer Beeinflussung 
der Diffusionsgeschwindigkeit, geben genügende Gründe für schwan- 
kende Resultate. 


Als Fazit aus diesen Versuchen mit dem selbstgeernteten 
Weizen ergibt sich demnach, dass: Die Keimfähigkeit beim 
unversehrten Material — wie es ohne Auslese beim Isolieren 
von der Spindel vorlag — durch 24stündige Behandlung mit 
5% Sıilbernitratlösung in keiner Weise .alteriert wurde, 
sondern es resultierte danach der gleiche Prozentsatz 
normal entwickelter Keimpflanzen wie bei den Kon- 
trollen. Gegenversuche an Körnern mit entblößtem Embryo lehren, 
dass diese Widerstandsfähigkeit als Membranfunktion an- 
zusprechen sei. 


Oder mit anderen Worten genau das, was ich in der ange- 
griffenen Arbeit auf Grund meiner damaligen Befunde behauptet 
hatte. 


14) Als gespitzt bezeichne ich Körner, bei denen der Keimling eben die Schale 
durchbrochen hat. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 15 


M. 

Ich habe mich bisher auf Weizen beschränkt, weıl mir dieser 
das Hauptobjekt meiner früheren Arbeiten!’) besonders nahe lag 
und weil gerade dieser, wie oben ausgeführt, jede Schädigung be- 
sonders deutlich erkennen ließ. 

Die gleichen Resultate erzielte ich mit Roggen (Ernte 1913 
aus hiesiger, Kieler Gegend). Auch dieser stand mir, dank der 
freundlichen Vermittlung von Herrn Dr. Blohm, ungedroschen zur 
Verfügung und wurde durch mich von der Spindel gelöst. 


Versuch 1. Je 50 Körner. (Vorversuch.) 
Behandlung: A. 22 Std. 5%, AgNO,; 7, Std. 2% NaCl; 16 Std. 
0,2%, NaCl. 
26 Std. Wasser. 
Gesamtweiche: 71!/, St. 


B. Kontrolle 50 Std. ın Wasser. 

















Gekeimt nach Tagen: 4 | Be | 12 | 20 | Ungekeimt 
a eo tn en Aal ae 1 
Bee“ Le 312 


Versuch 2. Je 100 Körner. 
Behandlung: r. 21Std. 5%, AgNO,; 5%, Std. 2%, NaCl; 17:), Std. 
0,2% NaCl. 
24 Std. Wasser. 
Gesamtweiche: 71 Std. 


B. Kontrolle 65 Std. ın Wasser. 








Gekeimt nach Tagen: 2 | el) Ungekeimt 
I 
Au mil 96 , 96 (ferner 1 nur gespitzt) | 3 
B.| 44 | 72 | 96 (ferner 2 gespitzt) 2 


Die Plumula hatte die Coleoptile durchbrochen: 














Nach Tagen: ZUR ROSE | ) 
Bei A in | 70 Da nen 
Bei B in | 57 I 77 ESG AB 


\ 


Diese 91 Keimpflanzen hatten sich trotz der Silberbehandlung 
in typischer Weise entwickelt!®). Zu ihnen kommen noch 5, denen 


15) Vergl. außer der mehrfach zitierten Arbeit auch: Flora 102 (1911), 8. 186. 

16) Vielleicht waren die, übrigens sonst gut ausgebildeten, Wurzelhaare bei 
den mit. Silber behandelten Pflanzen nicht ganz so zahlreich als bei den Kontrollen. 
Doch bin ich dem nicht weiter nachgegangen, so dass auch andere Ursachen als die 
Silberbehandlung wirksam gewesen sein können. 


16 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


der Durchbruch durch die Schale Schwierigkeiten bereitete. Von 
4 derselben wurden diese überwunden, während 1 mit seiner aus 
der Coleoptile hervorgestreckten Plumula innerhalb des breiigen 
Endosperms in mannigfacher Weise hin- und hergewachsen war. 
Bei den 4 schließlich — natürlich ohne mein Zutun — befreiten 
brach ebenso die Plumula aus der mehr oder weniger verkrümmten 
Coleoptile durch und 2 derselben waren in der Lage, zu typischen 
Keimlingen auszuwachsen. Die beiden anderen hingegen blieben 
verkrüppelt, besonders behielt die Spitze des ersten Laubblattes 
eine Einkrümmung neben einer anormalen Verdickung. Bezüglich 
der möglichen Gründe für diese bei den Kontrollen nicht oder sehr 
viel seltener beobachteten Anomalie verweise ich auf das Folgende !”). 
Zunächst dürfen wir sie außer acht lassen, denn selbst, wenn man 
die fraglichen 5 und ebenso die bloß gespitzten Körner weglässt, 
resultieren im Silbernitratversuch 91 normale Keimlinge gegen 96 
in der Kontrolle oder 95%, des normalen Wertes. Andernfalls er- 
hält man die Keimziffer der unbehandelten Proben. 

Die Resektionsversuche verliefen beim Roggen genau 
wie beim Weizen, wie folgende Zusammenstellung zeigt: 
Behandlung: Je 20 Körner. 

A. Schale über Embryo durchgerissen. 
B. Spitze des Kornes weggeschnitten. 
'. Im oberen Drittel durch einen Nadelstich in der 
Flanke verletzt. 

D. Unverletzte Kontrolle. 

AD: 18 Sid. 5%, AgNO,, 51], Std. 2% Na@C]; 172], Std. 

0,2% Na0l; 24 Std. Wasser, Gesamtweiche 65 Std. 

E. Schale über Embryo durchrissen; nicht mit AgNO, 

behandelt, sonst wie oben; also 5!/, Std. 2%, 
NaCl u. s. w.; Gesamtweiche 47 Std. 








Nach 8 Tagen: A. | B, | Sl | E. 











Gekeimt 0 1622) | 18 '5) 

Nicht gekeimt | 20 Lv 2,2 ne 
Also wie beim Weizen tötet die Silberbehandlung (5%; 18 Std.) 
die Körner mit entblößtem Embryo ausnahmslos, nicht aber die ın 
gewisser Entfernung vom Keimling verletzten. Ebensowenig alteriert 
die Nachbehandlung allein beim Fehlen des Sıilberbades die Keim- 
fähigkeit von Roggen mit unbedecktem Embryo. Doch zeigten von 





Ir 
| 








17), 8220: 

18) Bei ©. und D. die beiden fehlenden Körner nur gespitzt. In letzterer 
Serie entwickelte sich das eine davon in der Folge normal weiter, das andere blieb 
stehen. Bei Ö. zeigte das eine, der Untersuchung geopfert, die geschwärzte AgOl- 
Zone, bis in die Spitze des Scutellums reichend. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 17 


den 20 ın letzterem Falle (E.) gekeimten nicht weniger als 6 Un- 
regelmäßigkeiten, wie Verkrümmung der Coleoptile, basal seitliches 
Herausschieben der Plumula aus dieser bezw. Einrollung und An- 
schwellung der Spitze des ersten Laubblattes; kurz Erscheinungen, 
die an die (S. 16) beschriebenen Anomalien erinnern. 

Im übrigen verweise ich auf das vorn S. 12 beim Weizen Aus- 
geführte und füge nur zu, dass nach 10 Tagen der Durchbruch der 
Plumula mit folgender Frequenz registriert wurde: A. 0; B. 18; 
05160. 1.022): BE. 2020)" Individuen. 


AL 

Der Besprechung des Verhaltens der Gerste sei eine kurze methodische 
Bemerkung vorangestellt. Die Keimung vollzog sich in den Versuchen mit Weizen 
und Roggen durchweg in geschlossenen sterilisierten Petrischalen auf 3—4 Lagen 
Filtrierpapier bei loser Bedeckung mit einer Einzellage. Weizen, Roggen und die 
infolge der Behandlung mit einer Ohlorsilbereinlagerung in Spelzen und Schale ver- 
sehenen Gerstenkörner keimten dabei normal, d. h. zu 90-100 % oder doch im 
gleichen Prozentsatz wie beiderseits umhüllt von 4 Lagen Filtrierpapier zwischen 
Glasplatten. Nicht versilberte Gerste zeigte jedoch bei letzterer Behandlung zumeist 
eine höhere Keimfähigkeit. Es dürfte dies wohl auf ein größeres Feuchtigkeits- 
bedürfnis der Gerste zurückzuführen sein, das aber bei Silbereinlagerung, vielleicht 
infolge erschwerter Durchlässigkeit für Wasser, nicht zutage tritt. Wenigstens scheint 
dies die einfachste Erklärung, weiter verfolgt habe ich die Frage nicht. 

Als Konsequenz aus dieser Erfahrung ergab sich, dass die Keimung der Gerste 
zwischen Glasplatten zu erfolgen hatte; natürlich dann für Kontrollen und mit 
Silbernitrat behandelte Körner in gleicher Weise. Doch habe ich im folgenden auch 
die älteren Versuche in Petrischalen mit aufgeführt, jedoch jedesmal unter ausdrück- 
lichem Hinweis auf die Methodik. 

Die Weiterentwickelung bis zum Durchbruch der Plumula wurde nach Schei- 
dung der gekeimten und der ungekeimten Körner einfach in der offenen Petrischale 
weiter verfolgt. Wurde der Boden recht feucht gehalten, es stand bei diesen vor- 
gerückten Stadien in der Regel Wasser darin, so erübrigte jeder Transpirationsschutz. 

Die Methoden sind primitiv, da sie aber zweifelsfreie Resultate ergaben, hatte 
ich keine Veranlassung, von denselben abzugehen. 


v1. 


Auch unter den Gersteproben fand ich unschwer solche, die 
nach der Silberbehandlung die gleichen Keimprozente ergaben wie 
die Kontrollen: Dies Verhalten zeigte z. B. die eingangs erwähnte 
Hannagerste?!) (Erntejahr unbekannt). Ebenso Handelsware (Ernte 
1912), wie folgende Tabelle zeigt (s. oben S. 17): 

Das gleiche Material ergab in Petrischalen für die AgNO,-Serie 
nach 12 Tagen 84 normale Keimlinge, 5 mit verkrümmter Coleop- 
tile und 11 ungekeimte Körner. Bei 75 der Keimlinge war zu 
diesem Termin die Plumula durchgebrochen. Von den Kontrollen 
(65 Std. Wasserweiche) keimten bei dieser Anordnung nur 55 von 100. 


19) Darunter 1 abnorm Verkrümmtes. 

20) Darunter die 6 vorstehend erwähnten verkrümmten Individuen. 
21) 8.9. 

XXXV. 2 


18 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete 


Versuch A. 100 Körner, Keimung zwischen Glasplatten. 
Serie I: 24 Std.5%, AgNO,; 7 Std.2%, NaCl; 15 Std. 0,2%, NaCl, 
26 Std. Wasser. Gesamtweiche 72 Std. 
Serie Il: Wasser (mehrmals erneuert) 72 Std. 














Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2 
Serie IT| 84(13)*) | 86(11) 87 (10) 88 (9) 
Bere Il | - 79 (21), 1 Salelz). Wr Seren 8614) 


Die eingeklammerten Werte: Anzahl der ungekeimten Körner. 

*) Die 3 fehlenden waren gekeimt, hatten Schwierigkeiten beim Durchbrechen 
der Schale. 

Bei einer selbst von der Spindel befreiten Probe??) konnte ich 
nach Silbernitratbehandlung in Petrischalenkultur von 100 Körnern 
nach 4 Tagen 74 und nach 9 Tagen 83 durchaus normale Keim- 
linge erzielen. Nach 13 Tagen war bei diesen allen die Plumula 
durchgetreten. Verkrüppelte Individuen beobachtete ich hier über- 
haupt nicht. 

Wenn auch die Kontrolle in der Petrischale nur 25 Keimlinge 
bei 75 ungekeimten Körnern ergab, stelle ich den Versuch doch 
hierher, weil zwischen Glasplatten von unbehandelten Körnern 
88— 92%, keimten. 

Bei anderen Proben fand ıch aber tatsächlich eine Erhöhung 
der Keimprobe durch die Silberbehandlung??). So bei einer Hanna- 
gerste des Handels (Ernte 1913). 


Versuch B. 100 Körner. Keimung zwischen Glasplatten. 
Serien und deren Behandlung wie bei Versuch A. 

















Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2 
Serie 1 Er en) 
Serie II 46 | 46 | 48 | 48.(52) 


3ei Serie II (unbehandelte Kontrolle) vom 5. Tage ab starke Entwickelung 
von Schimmelpilzen, die mich am 7. Tage veranlasste, den Versuch abzubrechen. 


In der Petrischale war in diesem Falle die Keimung sehr 
schlecht, doch ergab sich auch so ein Plus für die Silberbehand- 
lung. Das eine Mal keimten 62 der Silberserie gegen 12 der Kon- 
trolle, das andere Mal 48 gegen 24; alles von je 100 Körnern. 

Ebenso verhielt sich eine andere Gerstenprobe, die ich wieder 
selbst entspindelte. 


22) Auch die Gerstenähren verdanke ich Herrn Dr. Blohm. 

23) Ebenso gibt Appel eine Erhöhung der Keimziffer nach Silberbehandlung 
an (Jahresber. der Vereinigung für angewandte Botanik. Jahrg. IX (1912), S. XIV). 

24) Die Klammerwerte Anzahl der ungekeimten Körner. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat. auf die Keimfähigkeit ete. 19 


Versuch C. Frequenz, Behandlung, Serien wie bei Versuch A u. B. 











(Gekeimt nach Tagen: 4 5 | 6 S 








| — ———— 
Serie I 79 | s0 | 80@0) 80 (20)%) 
Serie II 27 a \ 30 (70) 


| ! 

Auch in der Petrischale keimten von der Kontrolle nur 30, von 
der Silberserie 80 von jeweils 100. Von diesen hatten 7 Schwierig- 
keiten beim Durchbruch der Coleoptile. Doch konnten sie sämt- 
lich in der Folge dies ausgleichen und zu gesunden Pflänzchen er- 
wachsen. 

Diese fördernde Wirkung kann natürlich nur bei relativ schlechtem 
Keimgut in Erscheinung treten. Die Gründe dafür werden sekundär 
sein. Vor allem ıst an die in obigen Versuchen deutlich erkenn- 
bare desinfizierende Wirkung des Silbernitrates zu denkep. Auch 
reagierte meine Lösung gegen Lackmus schwach sauer, was viel- 
leicht günstig bezw. als Reiz gewirkt haben mag°®). 

Resektionsversuche habe ich mit Gerste nicht vorgenommen. 


vn. 


Aus den vorstehend ausführlich beschriebenen Ver- 
suchen geht ın völlig einwandfreier Weise hervor, dass 
für Weizen, Gerste und Roggen nach 24stündiger Be- 
handlung mit 5% Silbernitrat qualitativ und quantitativ 
normale Keimung möglich ist. Doch zeigten nicht alle unter- 
suchten Proben dieses Verhalten. Wohl keimte stets ein gewisser 
Prozentsatz ın normaler Weise, aber der Ausfall war zuweilen recht 
erheblich. So betrug bei dem eingangs erwähnten Sommerweizen 
die Keimfähigkeit der silberbehandelten Körner nur 37—56%, des 
normalen Wertes und bei der nackten Gerste ca. 30—50% des- 
selben. Oder mit anderen Worten, die Hälfte bis zwei Drittel der 
keimfähigen Körner sind durch das Salz getötet worden, es muss 
dasselbe also bis zum Embryo vorgedrungen sein. Dies wird mög- 
lich sein bei einer durch Außenfaktoren bewirkten Verletzung der 
selektiv permeablen Hülle, welche nicht ın allzu großer Entfernung 
vom Embryo gelegen ist. 

Nun scheint aber aus leicht ersichtlichen Gründen gerade diese 
Region der Schale am meisten gefährdet und ein alter Versuch 
von Werner”) lehrt schon, dass bei Maschinendrusch — und bei 
den beiden bei mir in Frage kommenden Handelsproben dürfte 


25) Von diesen 20 waren 17 gespitzt, dann aber in der Entwickelung stehen 
geblieben. 

26) Vergl. Lehmann und Ottenwälder: Zeitschr. f. Botanik, Bd.5 (1913) 
und die dort zitierte Literatur. 

27) Angeführt nach Körnicke-Werner: Handb. d. Getreidebaues, Bd. II 
(1885), S. 48, 49. Der Versuch selbst wurde schon 1867 publiziert. 


230 Schroeder, Über die Einwirkuug von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


dieser wohl vorgelegen haben — Schalenbeschädigungen in obigem 
Umfange vorkommen kann. Werner fand für Weizen, dass die 
übliche Dreschmethoden die Keimkraft nicht beeinträchtigen, er er- 
zielte durchweg rund 97%. Wurde das Saatgut mit Kupfervitriol 
gebeizt, so fielen bei Handdrusch nur 2—4%,, bei Maschinendrusch 
hingegen je nach der Art der Behandlung 25-62% aus. D. h,, 
dieser Anteil hatte Schalenverletzungen, die einen Zutritt des Giftes 
zum Embryo gestatteten. Wenn also die heutigen Verfahren nicht 
schonender sind, was ich nicht weiß, so kann man allein damit 
Ausfälle von der oben angegebenen Größenordnung befriedigend 
erklären. Es werden aber noch andere Umstände einen Ausfall 
bei der Silberbehandlung bewirken können. So z. B. Auskeimen 
auf dem Felde, das nicht unbedingt bezw. sofort den Verlust des 
Keimvermögens zur Folge zu haben braucht ?®), wohl aber die Kon- 
tinuität. der Hüllen gerade über dem Embryo zerstören wird. Oder 
ungenügende Reife begleitet von unvollkommener Ausbildung der 
selektiv permeablen Schicht u. s. w.2?). 

Man wird daher diese — beı meinen Versuchen — Ausnahmen 
weder gegen dıe wohlbegründete Annahme®®) einer semipermeablen 
Hülle der oben genannten Getreidearten verwerten können noch 
auch gegen das Nicht- oder doch sehr langsame®!) Permeieren des 
Silbernitrates, das nach Versuchen von Shull??) die sonst mit ähn- 
lichen Qualitäten ausgerüstete Samenschale von Xanthium glabratum 
leicht durchwandert. 

Entsprechendes gilt für die mehrfach erwähnten Körner, bei 
welchen der Durchbruch der Coleoptile durch die Schale nur 
schwierig oder in sehr seltenen Fällen überhaupt nicht sich vollzog 
und eine mehr oder weniger verkrümmte Coleoptile resultierte; 
beim Roggen zum Teil auch die Spitze des ersten Laubblattes in 
Mitleidenschaft gezogen war®?). Denn es handelt sich auch hierbei 
um Ausnahmen, die zuweilen ganz fehlten und wo sie vorkamen, 
stets ın bescheidenen Grenzen blieben (3—7%,), so dass auch nach 
ihrem Abzug — und sie sind vorstehend den keimenden Körnern 
entweder nicht zugezählt oder der Zahl nach ausdrücklich aufge- 
führt — annähernd normale Keimprozente resultieren. Trotzdem 
liegt offensichtlich eine Folge der Behandlung vor, denn wenn auch 
unter den zahlreichen Kortrollen mir hin und wieder ein derartiger 


28) Vergl. Rabe: Flora, Bd. 95 (1905), S. 253 bezw. 255 und die dort ange- 
[o) ’ ’ 
ebene Literatur. 
5 
29) S. auch im folgenden (S. 21) die Erörterung der Möglichkeit eines lang- 
samen Permeierens des Silbernitrates. 
30) Vergl. auch die in meinen Arbeiten zitierten Abhandlungen von A. Brown. 
8 8 
31) S. folgende Seite. 
32) Bot. Gazette, Bd. 54 (1913), S. 169. 
33) Uber ähnliche Missbildungen berichtet auch Birkner, l.c., S. 188. 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 21 


Krüppel begegnete, so waren sie doch dort sehr viel seltener. Die 
Beobachtung, dass ähnliche Anomalien und in höherer Proportion 
bei meinen Resektionsversuchen vorkamen und zwar dann, wenn 
die Verletzung wohl vom Embryo entfernt lag, aber doch so, dass 
das Gift bis ins Scutellum vordrang, legte die Vermutung nahe, 
dass auch bei den abnormen Körnern derartige lokalısierte Wunden 
vorhanden gewesen seien. Da ich aber das dann im Endosperm 
zu erwartende Silber dort nicht finden konnte, halte ich diese Deu- 
tung für ausgeschlossen. Wahrscheinlicher scheinen mir die folgen- 
den Alternativen, zwischen denen ich eine Entscheidung nicht treffen 
kann. Entweder handelt es sich um eine durch die Behandlung 
verursachte Änderung der mechanischen Eigenschaften der Korn- 
hüllen, schon das eingelagerte Chlorsilber könnte vielleicht derart 
wirken, womit auch die Beeinflussung des ersten Laubblattes durch 
die nicht getötete Coleoptile hindurch befriedigend erklärt wäre. 
Oder aber das Gift kommt wirklich — aber dann nur für kurze 
Zeit und ın geringer Konzentration, sonst müsste der Effekt ein 
stärkerer sein — in Berührung mit der Coleoptile. Das wäre mög- 
lich, wenn der quellende Dil: sich streckende Keimling am Ende 
der Einwirkungszeit oder doch ehe das ausfällende Kochsalz weit 
genug vorgedrungen, die Hülle an einer Stelle sprengt. Aber dann 
dürfte doch wohl zuerst eine Schädigung der Wurzel zu erwarten 
sein). Daher halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass eine 
Spur des Silbersalzes innerhalb der 24 Stunden bei einzelnen Körnern 
gewisser Proben eben die selektiv permeable Hülle passiert. Das wider- 
spricht der Annahme einer derartigen Hülle nicht, denn, wie ich früher 
wiederholt betonte®’) und wohl auch allgemein angenommen wird, 
dürfen wir in permeierenden und nichtpermeierenden Stoffen keine 
prinzipiell verschiedenen Körperklassen erblicken, sondern nur den 
Ausdruck einer durch Zwischenglieder verknüpften extremen gra- 
duellen Verschiedenheit. Und da es mir seinerzeit gelang, durch 
Änderung der Zusammensetzung des Außenmediums (Alkoholzusatz)°*) 
ein rasches Eindringen des Sılbernitrates zu bewirken, halte ich 
ein langsames aus rein wässeriger Lösung für sehr wohl möglich. 
Hier müssen weitere Versuche einsetzen. Doch sei auch darauf 


34) Eine solche beobachtete Nestler (Sitzungsber. d. Wien. Akademie Math.- 
Nat. Klasse: Bd. 113, Abteil. I (1904), S.542, Anm.) bei Zolium temulentum nach 
24stünd. Behandlung mit 10 % Kupfersulfat. 


35) Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 494, Anm. 
Flora, Bd. 102 (1911), S. 186. 

36) Die Möglichkeit, dass durch den Alkohol eine Lösung gewisser Membran- 
stoffe bewirkt und damit die Änderung der Durchlässigkeit veranlasst werde, scheint 
mir ausgeschlossen ; wenigstens konnte ich in in Alkohol (50 %) vorbehandelten Körnern, 
nach Trocknen, bei darauffolpendem Einweichen in En AgNO, kein Silber im 
Korninneren auffinden. 


99 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


hingewiesen, dass beı verletzten Körnern NaCl-Behandlung allein 
einen starken Prozentsatz ähnlicher Krüppel ergab ’’”). 

Wenn also auch im einzelnen noch gewisse Fragen der Auf- 
klärung harren, so stört dies nicht die allgemeinen Resultate, weder 
in theoretischer noch in praktischer Hinsicht. In letzterer — metho- 
disches Hilfsmittel bei physiologischen Versuchen — und diese 
steht eigentlich hier allein in Frage, hatte ich schon früher Sorg- 
falt bei der Auswahl des Keimsaatgutes empfohlen ®®). Man wird also 
zunächst nach widerstandsfähigen Proben zu suchen haben. Doch 
dürfte deren Beschaffung keine unüberwindliche Schwierigkeiten 
bieten, denn meine diesmal benutzten Gersteproben zeigten mit 
alleiniger Ausnahme der nackten Gerste diese Resistenz, ebenso 
der einzige geprüfte (selbstentspindelte) Roggen und von zwei 
Weizenmustern das eine selbstgeerntete °°). 

Den Widerspruch zwischen meinen Befunden und denen Birk- 
ner’s mit von diesem persönlich entspindelter, also wohl unver- 
letzter Gerste, kann ich nicht aufklären. Denn er erhielt z. B. nach 
12 Stunden nur noch die folgenden Keimprozente: N/10AgNO, : 3%» 
N/50:25% und N/100: 159, Die Annahme, dass etwa wie in 
den Rechen Arcichovskijs*) mit Erbsen die schwächere 
(N/10—N/100) Giftkonzentrationen Birkner’s ın höherem Maße 
schädigend gewirkt haben könnten als meine stärkeren (5%), wird 
dadurch ausgeschlossen, dass ıch sowohl bei Weizen wie Mi Gerste 
gegen N/10 und N/100 AgNO, die gleiche Widerstandsfähigkeit 
fand wie gegen 5%, Lösung. Auch in Birkner’s Versuchen ergibt 
sich Zunahme der Intensität der Wirkung mit steigender Konzen- 
tration. Im übrigen scheint Birkner bei höheren Temperaturen 
gearbeitet zu haben wie ich, wenigstens glaube ich diese aus der 
Kürze seiner Weichdauer (36 Stunden) und aus der Tatsache er- 
schließen zu können, dass er die Keimfähigkeit bereits nach 36 Stunden 
registriert. Vielleicht verhält sich auch sein — amerikanisches — 
Material anders als das Meine. Aber abgesehen von den damit 
eröffneten Möglichkeiten kann ich mich des Verdachtes nicht ganz 
erwehren, dass Birkner bei der Entfernung bezw. dem Unschäd- 
lichmachen des ın der Fruchtschale vorhandenen Silbernitrates nicht 
sorgfältig genug vorgegangen sei. Denn er spült nach dem Silber- 


37) Die Missbildungen (Schleifen), die Nestler (l. c., S. 541) für Lolium 
temulentum nach HgÜl, beschreibt, dürfte anderer Natur sein. 

38) Schroeder: 8. ap: 

39) oz auch die S. 18 zitierte Angabe Appel’s. Ferner Jauerka (Diss, 
Halle 1912, S. 15). Letzterer fand für zwei Weizenproben nach Silberbehandlung 
(5 % Lösung), folgende Keimfähigkeit: Blaue Dame 87,5 und Strube’s Schlesischer 
72% des normalen Wertes. Der Rückgang wird von ihm auf den Einfluss ver- 
letzter Körner zurückgeführt. 

40) Biochem. Zeitschr., Bd. 50 (1913), S 


DD 
SS) 
wo 


Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 25 


bad lediglich ab, quillt dann in destilliertem Wasser — also bei 
völligem Ausschluss von Chlorid — und nun erst unmittelbar vor 
der Übertragung ins Keimbett folgt NaCl-Behandlung. Diese be- 
steht aber ebenfalls nur im Abspülen und ein gründliches Nach- 
waschen mit Wasser beseitigt auch rasch wieder das somit nur 
kurze Zeit, d. h. oberflächlich vorhandene Chlorid. 

Dass eine Störung der Bakterienentwickelung die Ursache des 
Rückganges der Keimprozente sei, glaube ich nicht. Denn in 
meinen früheren Versuchen keimten die Körner in klarer — also 
steriler — Bouillon*). Vielleicht ist diese immer wiederkehrende 
Behauptung der Notwendigkeit einer Bakterienmitwirkung bei der 
Gerstenkeimung darauf zurückzuführen, dass Säurebildung durch 
jene die fehlende Nachreife ersetzt. 

IX. 

Unlängst hat sich Th. Bokorny *) mit meiner Arbeit beschäftigt 
und will, wenn ich ıhn recht verstehe, den Unterschied in der Wir- 
kung des Sublimates und des Silbernitrates damit erklären, dass 
dieses in höherem Maße der Ausfällung unterliege als jenes. Dass 
Silbernitrat stark ausgefällt und adsorbiert wird, ıst sicher und bei 
den Versuchen mit an der Spitze angeschnittenen Körnern werden 
diese Faktoren die Ursache sein, warum es volle 24 Stunden und 
mehr dauert, bis das Gift zum Embryo gelangt, aber am unver- 
sehrten Korn halte ich doch die selektiv permeable Membran für 
ausschlaggebend, und zwar aus folgenden Gründen, die zum Teil 
meinen älteren Arbeiten entnommen sind *). 

1. Isotone Lösungen von Silbernitrat und Chlornatrium depri- 
mieren die Wasseraufnahme des unversehrten Weizenkornes an- 
nähernd um den gleichen Betrag*). Für NaCl wurde dabei eine 

41) Schroeder: S. 503. 

42) Biochem. Zeitschr., Bd. 62 (1914), S. 58 

43) Den beiden oben zitierten Abhandlungen. 

44) Dass die Depression der Wasseraufnahme durch Silbernitrat nicht durch 
veränderte Durchlässigkeit der mit Silbersalz imprägnierten Schale bedingt ist, in 
der Weise etwa, wie ich das früher für Osmiumsäure gefunden habe, beweist auch 
noch folgender Versuch: 

Vorbehandlung: Serie A. Weizen 24 Std.in5 % AgNO, geweicht, danach zuerst in 
Luft, dann im Trockenschrank bei ca. 50° C getrocknet. 
Serie B. Weizen 24 Std. in Wasser geweicht, darauf getrocknet 

wie A. 

Wasseraufnahme in % des Anfangsgewichtes beim Einweichen der so vorbe- 
handelten Körner in reinem Wasser. 








Nach Stunden: 7 22 











i 
Serie IR | 20 | 34,5 
Serie B. 23 | 35,5 


D.h., die Körner der Serie A, deren mit Silber durchsetzte Schale dunkelbraun 
gefällt war, nehmen das Wasser ebenso rasch auf als die nur mit Wasser vorbehandelten. 


94 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 


Titerzunahme der Lösung festgestellt, die unter Berücksichtigung 
der durch die Tiefenlage der semipermeablen Membran bedingten 
Korrektur rund der durch direkte Wägung ermittelten Wasserauf- 
nahme entsprach. Bei angeschnittenen Körnern ist eine Hemmung 
der Wasseraufnahme nicht festzustellen *). 

2. Während sich im Inneren des verletzten Kornes das Sılber 
unschwer feststellen lässt, misslang sein Nachweis bei unversehrter 
Kornhülle. 

3. Die Resistenz ıst streng an die Kontinuität der Schale über 
dem Embryo geknüpft. 

Im Gegensatz dazu bewirkt Sublimat keine Depression der 
Wasseraufnahme, ist ım intakten wie im angeschnittenen Korn 
leicht aufzufinden und äußert seine Giftwirkung auch bei Abwesen- 
heit von Verletzungen. 

Von diesen Tatsachen spricht in erster Linie die Titerzunahme 
für die Bedeutung einer semipermeablen Membran. Ich habe darum 
neuerdings auch Silbernitrat ın dieser Beziehung untersucht und 
auch für dieses eine Titerzunahme gefunden, aber mit Sicherheit **) 
nur dann, wenn relativ viel Weizen (100 Körner) mit kleinen Mengen 
(10 ccm) halle (10%) Salzlösung behandelt wurde. So 
enthielt einmal die Lösung in 5 cem vor der Weiche 0,496 g AgNO, 
und nachher 0,522 g; an han Körner inssuer bewirkten 
eine Titerabnahme auf 0,468 g ın 5 cem. Ein anderer Versuch er- 
gab vorher 0,480 g in 5cem und nachher 0,521 g. Die aus letzteren 
Daten errechnete Wasseraufnahme beträgt 0,5 g gegen 1,35 des 
tatsächlichen Befundes. Diese Differenz ıst größer als die früher bei 
NaÜl-Versuchen gefundene, d.h. geht über den Betrag dessen, was 
an Salzlösung die Fruchtschale imbibiert, hinaus. Das dürfte auf 
Silberfällung bezw. Adsorption zurückzuführen sein, eine Annahme, 
mit der die oben erwähnte Titerabnahme bei Verwendung ange- 
schnittener Körner übereinstimmt. 

Durch die Titerzunahme der Silberlösung unter dem Einfluss 
quellender unbeschädigter Weizenkörner ıst aber einwandfrei be- 
wiesen, dass der Lösung Lösungsmittel in stärkerem Maße entzogen 
wurde als gelöste Substanz. Diese Tatsache dürfte in Verbindung 
mit den oben vorgebrachten Gründen ziemlich deutlich zugunsten 
der Annahme einer selektiv permeablen Hülle sprechen. 

Kiel, 1. August 1914. 


45) Vergl. für Silbernitrat speziell den auf Kurve I S. 189 (Flora, Bd. 102) 
wiedergegebenen Versuch. 

46) Sie war aber auch bei schwächeren Konzentrationen N/10 (10 ccm auf 
100 Körner) erkennbar. 


Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 35 
Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweils. 
Von Dr. Th. Bokorny. 

Verfasser hat schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen (Chem. 
Ztg. 1912, p. 1050), dass die Schädlichkeit des Tabakrauches bei 
Pflanzen, die nach H. Moliseh (Bakt. Centralbl. Bd. 31, Nr. 11/15 
und Naturw. Umschau, 1912, S. 51) erstaunlich groß ist, wahr- 
schemlich durch den Ammoniakgehalt des Rauches hervorgerufen 
wird. 

Das Kohlenoxyd, welches von H. Molisch verantwortlich ge- 
macht wird, ist nicht schuld; denn dasselbe wirkt auf Pflanzen gar 
nicht giftig. 

Für höhere Tiere (Vögel, Säugetiere) ıst das Kohlenoxyd töd- 
lich durch Kohlenoxydhämoglobinbildung. 

Auch das Nikotin kann es nicht sein, was den Tabakrauch so 
schädlich für Pflanzen macht, denn es wirkt schon bei 0,1%, Ver- 
dünnung nicht mehr recht nachteilig. 

Ammoniak aber wirkt noch bei 0,1, sogar 0,05 und 0,025%, 
schädlich und wachstumshemmend auf Pflanzen, z. B. Keimlinge 
ein. Ja sogar 0,01%, hat noch eine Verzögerung des Wachstums 
zur Folge; es tritt zwar eine Keimung ein (an Kresse, Gerste, 
Wicke, Hanf, Erbse, Bohne), aber langsamer als beim Kontroll- 
versuch. 

Der Grund, warum das Ammoniak so schädlich wirkt, liegt ın 
der leichten Verbindungsfähigkeit des Ammoniaks mit 
dem Zelleneiweiß. 

In vielen Fällen lässt sich mikroskopisch eine Körnchenbildung 
innerhalb des Protoplasmas erkennen, wenn sehr verdünntes Am- 
moniak eingewirkt hat (Ammoniakgranulationen, die den mit Coffein 
und einigen anderen basischen Stoffen erhältlichen Granulationen 
zu vergleichen sind). 

Das Ammoniak hat sich dann mit dem Zelleneiweiß verbunden, 
was bald zum Tode der Zellen führt. 

Nur wenn man das Ammoniak sogleich wieder auswäscht, kann 
man eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, d.h. ein 
Verschwinden der Körnchen erreichen und damit ein Weiterleben 
ermöglichen. 

Wie jede chemische Bindung findet auch diese ihr Ende bei 
einer gewissen höheren Verdünnung. 

Man muss aber beim Ammoniak sehr hoch gehen. 

Denn ich fand, dass man an Spirogyren mit Ammoniak sogar 
bei Verdünnung 1:20000 noch Körnchenausscheidung erhalten könne. 

Ohne jede Einwirkung dürften also nur noch höhere Verdün- 
nungen sein; das werden auch die Konzentrationen sein, bei welchen 
das Ammoniak ernährend auf die Pflanzen einwirkt. Die ernährende 
Wirkung des freien Ammoniaks muss dann naturgemäß schwach sein. 


6 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 


Ammoniaksalze reagieren teilweise auch mit dem Zelleneiweiß, 
z. B. das kohlensaure Ammoniak, aber viel schwächer; ıhre Schäd- 
lichkeit wird also viel geringer sein. 

-Kohlensaures Ammoniak (und kohlensaures Natron) können 
„Aggregationserscheinungen“, das sind jene Granulationen, hervor- 
bringen. Die Verdünnungsgrenze, bei welcher die Wirkung hier 
eintritt, liegt aber wesentlich tiefer als beim freien Ammoniak. 

Das freie Ammoniak scheint eine besonders große Verbindungs- 
fähigkeit zu haben. Sogar die starken fixen Basen Kalı und Natron 
können sich damit nicht vergleichen. 

Wir müssen übrigens unterscheiden zwischen Bindung 
des sehr verdünnten Ammoniaks und Bindung des relativ 
wenig verdünnten Ammoniaks. 

Letztere tritt analog der gewöhnlichen Basenbindung durch das 
Zelleneiweiß ein, indem NH, mit Wasser zu NH,-OH wird und 
nun als Base sich mit den Säuregruppen des Eiweißes ver- 
bindet, gerade wie Kalı und Natron. 

Erstere ist eine Bindung als Aldehydammoniıak, indem die 
Aldehydgruppen des aktiven Albumins mit dem Ammoniak reagieren, 
was ım anderen Falle nicht möglich ıst, da sofort Umlagerung statt- 
findet (siehe-O. Loew, Uhem. Kraftqu., p. 23). 

Konzentrierte Ammoniaklösungen bewirken ebenso wie auch 
andere Schädlichkeiten sofort ein Absterben des Protoplasmas und 
damit eine Umlagerung des aktiven Albumins nach dem Schema: 


CH—NH, CH—NH 
| 
C—-6C=0O = >—C—OH 
I IHN 
Gruppe im aktiven Gruppe im passiven 
Eiweiß. Eiweiß. 


Darum können konzentriertere, z. B. 1%\,ıge Lösungen von Am- 
moniak nicht zu einem Versuch über den Unterschied zwischen 
lebendem und totem Protoplasma dienen. 

Dazu muss man hochverdünnte Lösungen anwenden. wie sie 
bei den oben erwähnten Versuchen zur Anwendung kamen; nur 
mit solchen erhält man die Granulationen und sonstigen Aggre- 
gationserscheinungen (siehe Verf. in Pringsh. Jahrb. 1878) an Spiro- 
gyren und anderen Objekten des Pflanzenreiches. Nur solche er- 
geben vermutlich Aldehydammoniakbildung mit den Aldehydgruppen 
des aktiven Eiweißes. 

Dieses Mal arbeitete ich mit Hefe und suchte durch quantı- 
tatıve Bestimmung der Ammoniakbindung einen chemischen Unter- 
schied zwischen lebendem und totem Protoplasmaprotein festzustellen. 


Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 27 


Ich ließ !/,oö n-Ammoniak (= 0,017%, NH,) auf lebende und 
tote Hefe einwirken. 

20 g Presshefe wurden in 1000 ce !/,.. n-Ammoniak lebendig 
gebracht und 24 Stunden lang darin unter öfterem Umrühren be- 
lassen (im bedeckten Glase). 

Ferner wurden 20 g Presshefe nach vorausgegangener Ab- 
tötung durch 3 Minuten langes Verweilen in 100 ce der kochend 
heißen !/;no M-Ammoniaklösung ebenfalls in 1000 ce kalter !/,oo 
n-Ammoniaklösung versetzt und 24 Stunden darin belassen (be- 
deckt). 

Die lebende Hefe nahm aus der Lösung (die bei der Titration 
insgesamt, nicht partiell, verwendet wurde) 0,075 g Ammoniak 
weg, die getötete (scheinbar) 0,0187 g, also ungefähr ein Viertel 
der ersteren Menge. 

Damit dem Einwand begegnet werde, dass hier vielleicht durch 
das kurze Erwärmen Substanz von ammoniakbindender Kraft aus- 
trete und weggegossen werde, oder dass Ammoniak während des 
Erwärmens gebunden und damit die ammoniakbindenden Atom- 
gruppen des Hefeplasmas abgesättigt werden, wurden die 100 ce 
t/ 00 a-Lösung, die zum Erhitzen und Abtöten der 20 g Presshefe 
Verwendung finden sollten, aus der 11 betragenden Gesamtmenge 
der ?/,.. n-Versuchslösung selbst genommen und dann die übrigen 
900 ce nach dem Erkalten hinzugefügt. 

Die Differenz von der soeben angegebenen Größe stellte sich 
trotzdem heraus. 

Ob die 0,018 Ammoniak wirklich durch die getötete Hefe ge- 
bunden wurden, ist übrigens doch sehr fraglich, da ja durch das 
Kochen ein Verlust von Ammoniak entsteht. 100 cc !/,,, n-Ammoniak 
enthalten 0,017 g NH,. Das entspricht nahezu der aus der Lösung 
nach Ausweis der Titration verschwundenen Ammoniakmenge. 

Somit nimmt die getötete Presshefe (20 g) soviel wie kein 
Ammoniak aus 11 '/,.o n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden 
weg, während lebende Presshefe (20g) 0,075 g Ammoniak 
aus 1 1 !/,,, n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden bindet. 

Man kann also auf diese Weise den Nachweis führen, dass 
lebendes Plasma auch chemisch verschieden ist von dem 
toten. 

Das aktive (lebende) Protein enthält nach ©. Loew Aldehyd- 
gruppen, welche beim Absterben durch chemische Umlagerung ver- 
schwinden. So ist das Resultat mit !/,,, n-Ammoniak verständlich. 

Ammoniak reagiert leicht mit Aldehydgruppen. Darum bindet 
das lebende Protoplasma Ammoniak. 

Das getötete Protoplasmaprotein enthält keine Aldehydgruppen 
mehr in seinen Proteinmolekülen, darum keine Ammoniakbindung. 


28 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 


Dieser Beweis für den chemischen Unterschied zwischen leben- 
dem und totem Zelleneiweiß ist kaum umzustoßen. 

Denn durch Austritt von reaktionsfähiger Substanz beim Ab- 
töten der Zellen ist hier keine Täuschung möglich. Die Substanz 
ist (bei der zweiten oben angegebenen Versuchsanstellung) nach wie 
vor dem Abtöten da; es kann sich also nur um einen Verlust des 
Ammoniakbindungsvermögens durch Umlagerung handeln. 

Das auf Aldehydgruppen zurückführbare Ammoniakbindungs- 
vermögen durch Hefe ist nicht groß, es beträgt nur etwa !/,, des 
Ammoniakbindungsvermögens der Hefe aus konzentrierten, ca. 1 %,igen 
Lösungen; in letzterem Falle erfolgt sofort Umlagerung und reagieren 
somit nicht die Aldehydgruppen, sondern die auch im toten Plasma- 
protein noch vorhandenen Säuregruppen, welche bei !/,,, n-Am- 
moniaklösung gar nicht in Aktion treten (wegen der zu großen Ver- 
dünnung). 

Ein vergleichender Versuch mit n-Ammoniak (= 1,7%, NH,) 
ergab nämlich, dass 20 g Presshefe von 30%, Trockensubstanz, 
lebend ın 100 ce n-Ammoniaklösung verbracht, binnen 24 Stunden 
ca. 1 g Ammoniak aus der Lösung wegnehmen, d. h. chemisch 
binden. 

Das Ammoniakbindungsvermögen der Hefe ist somit erstaun- 
lich groß, entsprechend dem hohen Eiweißgehalt derselben. 

Das gebundene Ammoniak beträgt ca. 5%, des Lebendgewichtes 
der Hefe oder 15%, der Trockensubstanz. Der Eiweißgehalt der 
Hefe beträgt 50—60%, der Trockensubstanz. 

Weiterhin wurde noch eine !/,, n-Ammoniaklösung (0,17%, 1g) 
auf Hefe einwirken gelassen. 

20 g Presshefe wurden mit 100 ce einer !/,, n-Ammoniaklösung 
zerrieben bis zum Verschwinden der Brocken und Knöllchen. 

Dann wurde der Versuch 48 Stunden stehen gelassen. 

Es trat Fäulnisgeruch auf. 

Die Titration ergab, dass 0,13 g Ammoniak verschwunden waren. 

Nach dem Resultat des obigen Versuches (mit 1,7%,ıgem Am- 
moniak) hätte aber viel mehr verschwinden müssen, ja das ganze 
Ammoniak (0,17 g) hätte gebunden werden können, ohne die Binde- 
kraft der Hefe zu erschöpfen. 

Das Defizit wird begreiflich durch den Fäulnisgeruch; denn die 
Fäulnisbakterien hatten Ammoniak aus dem Hefeneiweiß entwickelt 
und damit eine Vermehrung des Ammoniakgehaltes in der Flüssig- 
keit bewirkt. 

Die „Ammoniakhefe“, wie sie durch Behandeln von Hefe mit 
ca. 1%,ıge Ammoniaklösungen erhalten wird, riecht nıcht nach Am- 
moniak (nach dem Auswaschen der anhängenden überschüssigen 
Lösung), reagiert nicht alkalisch, das Ammoniak ist gebunden. 


Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 29 


Durch Kochen mit fixen Alkalıen kann man das gebundene 
Ammoniak aus der Hefe frei machen. 

Die Bindung des Ammoniaks ım sehr verdünnten Zustande 
(0,017 %), sowie auch die aus konzentrierteren Lösungen (1,7%), 
wie sie hier an Hefe nachgewiesen wurde, entbehrt nıcht des che- 
mischen wie physiologischen Interesses. 

Sie ist meines Wissens noch von niemandem beobachtet worden. 

Zweifellos könnte dieselbe auch an anderen Organismen quan- 
tıtatıv erwiesen werden, z. B. an Bakterien, die ja auch ın an- 
nähernden Reinkulturen erhältlich sind, an tierischen und pflanz- 
lichen Mikroorganismen, wenn sie ın Kulturen vorliegen. In allen 
diesen Fällen könnte sowohl die erste als die zweite Art von Bin- 
dung erprobt werden. 

Beı höheren Pflanzen und Tieren müsste man wohl zu einer 
Zerteilung der Organismen schreiten. Dabei würden die Zellen ab- 
sterben und könnte die erste Art von Ammoniakbindung nicht mehr 
erwiesen werden. 

Hingegen müsste die zweite Art der Bindung überall nach 
Maßgabe des Eiweißgehaltes stattfinden. 

Die Hefezelle bindet übrigens eine Menge von anderen Stoffen 
auch noch, z. B. verschiedene Basen und Säuren, entsprechend dem 
mannigfaltigen chemischen Charakter des Eiweißmoleküles. 

Dasselbe enthält (lebend und tot) eine große Anzahl von Amido- 
gruppen und wirkt hierdurch als Base, bindet Säuren; durch den 
(Gehalt an Säuregruppen bindet es, wie schon erwähnt, Basen. 

Säuren werden demnach von der Hefe durch Salzbildung ge- 
bunden. 

Indem die (konzentriertere) Säure, sei es auch eine schwache, 
gebunden wird, stirbt das Protoplasma, wenn es lebend war, ab, 
sobald eine gewisse (letale) Quantität derselben gebunden ist; oder 
meist schon eher durch die lebensfeindlichen Atomstöße, die von 
derselben ausgehen. 

Ebenso ist es bei Einwirkung von Basen. 

Ferner bei den meisten anderen schädlich wirkenden Stoffen. 

Im allgemeinen kann man sagen, dass ein Stoff um so giftiger 
wirkt, je leichter er sich mit dem Protoplasmaeiweiß verbindet. 

Das Ammoniak gehört zu den Stoffen, die noch bei großer 
Verdünnung schädlich wirken. 

Es stimmt das überein mit der Beobachtung, dass dasselbe 
noch bei großer Verdünnung von den Hefezellen gebunden wird 
(als Aldehydammoniak). 

Durch meine fortgesetzten Beobachtungen über die Schädlich- 
keit des Ammoniaks für Mikroorganismen, speziell auch Hefe, bin 
ich nur bestärkt worden in der Ansicht, dass der den Pflanzen so 


30  v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 


schädliche Tabakrauch vorwiegend durch seinen Ammoniakgehalt 
schädlich wirkt. 

Übrigens wäre es nicht ohne Interesse, die Einwirkung des 
freien Ammoniaks noch bei recht vielen Pflanzen auszuprobieren. 

Da auch Ammoniaksalze bis zu einem gewissen Grade mit dem 
Protoplasma reagieren können, so vermute ich, dass die manchmal 
beobachtete weniger günstige Einwirkung von Ammoniaksalz (als 
Stickstoffdünger) auf Pflanzen hierauf zurückzuführen sei. 


Das biogenetische Grundgesetz im Leben 
der Insektenstaaten. 
Von G. v. Natzmer. 


Im folgenden will ich den Versuch machen, das biogenetische 
Grundgesetz ın übertragender Bedeutung auf die Insektenstaaten 
anzuwenden und so in der Entwickelung eines einzigen derartigen 
Staatengebildes die ganze Phylogenie wieder zu erkennen. Zwar 
sind schon einzelne Erscheinungen des sozialen Lebens, wie z. B. 
die Entwickelung der Termitennester (Holmgren), zum Gegen- 
stand ähnlicher Betrachtungen gemacht worden, doch fehlte es bis- 
her an einer zusammenfassenden, von der Basis des biogenetischen 
Grundgesetzes ausgehenden Phylogenie der Insektenstaaten. Die 
Phylogenien, welche einzig und allein an Hand der auf verschie- 
denen Entwickelungsstufen stehenden Staatengebilde aufgestellt 
worden sınd, bleiben ın ıhren Einzelheiten stets nur mehr oder 
minder Hypothese und können im besten Fall nur einen gewissen 
Wahrscheinlichkeitswert für sich in Anspruch nehmen. Ich habe 
es deshalb unternommen, für die Entwickelung der Insektenstaaten 


auch den wissenschaftlichen Beweis — soweit das innerhalb einer 
kurzen Abhandlung möglich ist — zu erbringen, indem ich, die 


induktive Methode anwendend, von der Ontogenie des einzelnen 
Staatengebildes auf die Phylogenie verallgemeinernd schloss. 

Wie eine vergleichende Betrachtung lehrt, muss sich das ge- 
sellschaftliche Leben bei den Insekten aus dem solitären, das sich 
bei den primitivsten Bienen und Wespen vorfindet, entwickelt haben. 
Die Weibchen dieser Arten legen, jedes für sich, einige meist roh 
gearbeitete Zellen an, die sie mit Nahrung versehen, bestiften und 
sodann verschließen, worauf sie bald zugrunde gehen. Diese Bienen 
(Prosopis, Andrena, Antophora, Xylocopa, Osmia, Colletes u. a.) und 
Wespen (Crabronidae, Eumenes u. a.) leben völlig einsam und unter- 
halten keinerlei Beziehungen zu ihren Artgenossen. Das Weibchen 
sorgt selbst für Nestbau, Brutpflege und Fortpflanzung, während all 
diese Funktionen bei den sozial lebenden Arten nur noch von ganz 
bestimmten Individuen ausgeübt werden, was in dem von E. Goeldi 


v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im. Leben der Insektenstaaten. 31 


aufgestellten Gesetz der Kompensation zwischen Gonepitropie (Über- 
tragung der Geschlechtsfunktionen) und Ergepitropie (Übertragung 
der Brutpflege und Nahrungsfürsorge) zum Ausdruck gelangt!). Von 
dieser Entwickelungsstufe hat, wie schon gesagt, nach 
Ansicht aller Forscher das soziale Leben bei den Insekten 
seinen Ausgangspunkt genommen. Deshalb ıst die Tat- 
sache bemerkenswert, dass die Lebensweise der Hummel- 
und der sozialen Wespenweibchen im Frühjahr bei der 
Gründung der Kolonie in allem völlig derjenigen der 
eben genannten solitären Arten gleicht. Erst wenn dann 
die Arbeiterinnen erscheinen, bildet sich allmählich jene Arbeits- 
teilung heraus, die wir in den höher entwickelten Staatengebilden 
beobachten können. Dieselbe ist aber anfänglich, so lange die Kolo- 
nien noch volksschwach sind, durchaus nicht streng durchgeführt, 
was für eine phylogenetische Betrachtung ebenfalls bemerkenswert 
ist. Dies gilt vor allem für die Hummeln, die ın den einfachsten 
und in jeder Hinsicht primitivsten Verbänden leben. Bei ihnen 
sind die Arbeiterinnen nur kleine Weibchen, die sich sonst, im 
Gegensatz zu den anderen staatenbildenden Insekten, ın nichts 
von den eigentlichen Weibchen unterscheiden. Sıe folgen nur, da 
sie selbst unbegattet geblieben sind, ıhren Brutpflegeinstinkten, wenn 
sie die Nachkommenschaft ihrer Stammutter mit Nahrung versorgen. 

Verwerten wir all diese Tatsachen im Sinne des bio- 
genetischen Grundgesetzes, so ergibtsich damit eine über- 
raschende Bestätigung derjenigen Theorie, welche das 
Entstehen des sozialen Lebens bei den Insekten daraus 
herleitet, dass ein ursprünglich solitäres Weibchen 
unter besonders günstigen Bedingungen das Erscheinen 
seiner Nachkommenschaft noch erlebte. Dieses Stadium ist 
nicht hypothetisch, sondern findet sich tatsächlich in der Natur bei 
manchen Halictus- Arten vor. 

Besonders interessant ıst die Tatsache, dass bei manchen Arten 
dieser Bienengattung die zweite Generation nur aus Weibchen he- 
steht, denn hiermit nehmen die Dinge eine den Hummelstaat im 
wesentlichen ganz ähnliche Gestaltung an. Es ist, um mit 
H.v. Buttel-Reepen zu sprechen, wohl möglich, „dass diese Weib- 
chen, die keiner Befruchtung bedurften, beim Anblick der noch 
offenen Zellen sofort ihren Fütterinstinkten gehorchten und Nahrung 
herbeitrugen und so der Mutter zur Hand gingen“ ?). 

Während bisher nur die Wahrscheinlichkeit für diese 
Annahme sprach, wird es durch die Betrachtung eines 


1) E. Goeldi. Der Ameisenstaat. Leipzig 1911. 
2) H. v. Buttel-Reepen. Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienen- 
staates. Leipzig 1903. 


39  v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 


der vorher erwähnten Staatengebilde vom Standpunkt 
des biogenetischen Grundgesetzes bestätigt, dass der 
Ursprung des sozialen Lebens bei den Insekten ein ganz 
ähnlicher gewesen sein muss! 

Auf ein phylogenetisch früheres Stadium scheint bei den Hummeln 
auch die erste Anlage des Nestes durch das Weibchen hinzuweisen. 
Dieses errichtet nämlich anfangs ein Häufchen aus Blütenpollen 
und Honig, in welches das erste Ei abgelegt wird. Dies ist der 
Entwickelungsgrad, den wir bei den primitivsten solitären Bienen 
antreffen, und der erst von dem Hummelweibchen noch einmal 
kurz durchmessen werden muss, ehe es mit dem Bau von Zellen 
beginnt. 

Auch die Weibchen der Ameisen, deren Staatenleben meist viel 
höher entwickelt ıst, leben anfangs als solitäre Insekten. Nachdem 
sie nach dem Hochzeitsflug zu Boden gesunken sind und ihre Flügel 
verloren haben, legen sie ın Erde oder Holz eine einfache, allseitig 
abgeschlossene Kammer an, die sicherlich insofern auf eine phylo- 
genetisch weit zurückliegende Zeit hindeutet, als das Urameisennest 
jedenfalls in einer ähnlichen, roh gearbeiteten Höhlung bestanden 
haben wird. Auch bei jungen Kolonien, die noch wenige Einwohner 
besitzen, ıst die Nestanlage die denkbar einfachste. Die Bauten 
weisen noch in allem den Typus derjenigen der primitivsten Arten auf 
und lassen noch nichts von jener kunstvollen Architektonik ahnen, 
welche sie später auszeichnet. Überhaupt kann man in der Ent- 
wickelung eines einzelnen Ameisen- sowie auch Termitenstaates ın 
dieser Hinsicht noch deutlich die verschiedensten Stufen der Phylo- 
genie erkennen. Doch ich kann auf dieses Thema hier nicht weiter 
eingehen, da es allein Stoff genug zu einer besonderen Abhandlung 
bietet. 

Es lässt sich indessen auch hinsichtlich der Insekten- 
staaten der Satz aufstellen, dass die Wiederholung ver- 
gangener Entwickelungsphasen einerseits desto genauer 
ist, je mehr sich dieselben dem gegenwärtigen Zustand 
nähern, während es andererseits desto abgekürzter ist, 
je weiter sie im phylogenetischen Stammbaum zurück- 
liegen. 

Dies findet sich durch alle biologischen Tatsachen bestätigt. 
So spiegelt die Ontogenie der hoch organisierten Staaten die Phylo- 
genie oft nur noch undeutlich und in mancher Beziehung modifiziert 
wieder. Dies zeigt sich auch darin, dass das Ameisenweibchen den 
einmal aufgesuchten Schlupfwinkel nie wieder verlässt, sondern von 
den in seinem Körper aufgespeicherten Fettmassen zehrt, sowie den 
größten Teil seiner eigenen Eier als Nahrung für sich selbst als 
auch für die Brut verwendet. Diese Lebensweise hat sich sicher- 
lich erst später herausgebildet und es dürfte früher jedenfalls üb- 


v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im: Leben der Insektenstaaten. 55 


lich gewesen sein, dass auch das Weibchen während seines solitären 
Daseins auf Nahrungssuche ausging. Hochinteressant würden Be- 
obachtungen sein, wie sich die primitivsten Ameisen, so z. B. die 
Ponerinen oder ZLeptothorax in dieser Hinsicht verhalten, worüber 
meines Wissens noch keine Berichte vorliegen. Ähnliche Instinkts- 
änderungen, die sich im Lauf der phylogenetischen Entwickelung 
vollzogen haben, habe ich bei Ameisenweibehen beobachtet. Die 
Weibchen vieler in höher entwickelten Staaten lebender Arten 
kümmern sich nämlieh nach meinen Wahrnehmungen schon nicht 
mehr ım geringsten um Wohl und Wehe der Brut, wenn erst 
ganz wenige Arbeiterinnen erschienen sind, während sich bei- 
spielsweise die Weibchen von Leptothorax auch dann, wenn Ihre 
Kolonien verhältnismäßig hoch entwickelt sind, wie gewöhn- 
liche Arbeiterinnen an allen Beschäftigungen beteiligen. Diese all- 
mähliche Differenzierung der Instinkte und die mit ihr parallel 
laufende Arbeitsteilung hängt aufs allerengste mit denjenigen Organı- 
sationsveränderungen der Einzelindividuen zusammen, die durch 
das staatliche Leben direkt bedingt worden sind und die demgemäß 
in den unentwickeltsten Staaten am wenigsten ausgebildet sind. 
Dies habe ich bereits an anderer Stelle zum Gegenstand einer be- 
sonderen Abhandlung gemacht, auf die ıch deshalb verweise). 
Ebenso ist selbstverständlich die Art der Koloniegründung bei 
den dulotischen und parasitischen Ameisen nicht die ursprüngliche, 
sondern sie ist erst später, verursacht durch besondere Umstände, ent- 
standen. Dies gilt vor allem auch für den Bienenstaat, der bekannt- 
lich nicht durch ein Weibchen allein gegründet wird, sondern der 
durch Spaltung eines Volkes in zwei Teile mit je einer Königin 
an der Spitze entsteht. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass dieser 
Modus nicht den ersten Anfängen des Staatenlebens bei den Vor- 
fahren von Apis mellifica entsprechen kann. Fast scheint es also, 
als ob das biogenetische Grundgesetz hier in willkürlicher Weise 
in der Ontogenie des einzelnen Staates außer Kraft getreten wäre. 
Doch diese auffällige Abweichung liegt, wie ich gleich zeigen werde, 
in anderen Lebensgewohnheiten der Vorfahren von Apis mellifica, 
die mit der phylogenetischen Entwickelung an sich nicht ım ge- 
rıngsten Zusammenhang stehen, ursächlich begründet. Das Schwärmen 
dürfte sich nämlich, wie auch H. v. Buttel-Reepen annimmt, 
aus dem Wanderinstinkt entwickelt haben, der sich beı zahlreichen 
Bienen der wärmeren Erdteile vorfindet. Bei diesen Arten zieht, sobald 
der alte Wohnsitz den Bienen aus irgendeinem Grunde nicht mehr be- 
hagt, das ganze Volk ab, um sich wo anders anzusiedeln. In den 
Nestern dieser Bienen, die biologisch als die Vorläufer von Apis 


3) G. v. Natzmer. Die Entwickelung der sozialen Instinkte bei den staaten- 
bildenden Insekten. In: Die Naturwissenschaften. Jahrg. II, Nr. 53 (1914). 


XXXV. 3 


34  v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 


mellifica zu betrachten sınd, leben nun fast stets mehrere Weibchen 
friedlich nebeneinander. Aus dem Wanderinstinkt dürfte nun 
die Gewohnheit entstanden sein, dass bei zu großer Bevölkerungs- 
zahl, wenn Nahrung und Raum knapp wurden, nicht das ganze 
Volk, sondern nur ein Teil desselben mit einem der Weibchen ab- 
z0g. Dieser Koloniegründungsmodus war sicherlich im Kampf ums 
Dasein gegenüber der Gründung durch ein einzelnes Weibchen von 
ungeheurem Vorteil und wird deshalb, einmal entstanden, allmählich 
vorherrschend geworden sein. Da sich nun in der Natur nur das 
Nützliche erhält und totes Kapıtal zugunsten anderer Zwecke aufge- 
zehrt wird, so mussten die Weibchen im Lauf der Zeit all jene Fähig- 
keiten verlieren, die ihnen ehemals zur Gründung einer Kolonie 
nötig waren. Da sie hiermit aber auch unfähig wurden, sich selbst und 
ihre Brut am Leben zu erhalten, so musste die einstige bloße Gewohn- 
heit, die Gründung einer neuen Kolonie durch Spaltung vor sich 
gehen zu lassen, zur Notwendigkeit werden. Die Sachlage ıst also 
die, dass die Staaten von Apis mellifica heutigen Tages in 
Wahrheit überhaupt nicht mehr im eigentlichen Sinne des 
Wortes neu gegründet werden, sondern dass sie ıhr Da- 
sein bereits auf einer hohen Entwickelungsstufe begin- 
nen. Aus diesem Grunde ist es auch nıcht möglich, dass 
diese Staaten eine eigentliche ontogenetische Entwicke- 
lung durchmachen. Betrachten wir die Insektenstaaten als ein- 
heitliche Organısmen höherer Ordnung, so drängt sich bei der ver- 
schiedenen Art der Koloniegründung unwillkürlich der Vergleich mit 
der geschlechtlichen und der ungeschlechtlichen Vermehrung der 
Schwämme und der Korallpolypen auf. Während bei der ersteren 
die Flimmerlarven ein phylogenetisch vergangenes Stadium ver- 
körpern, befinden sich die Individuen bei der letzteren, die durch 
Knospung vor sich geht, bereits von Anfang an in einem relatıv 
fertigen Zustand. Die Verhältnisse liegen also ganz ähnlich wie 
bei der Gründung eines Insektenstaates durch ein einzelnes Weib- 
chen einerseits und bei der Spaltung einer Kolonie andererseits. 
Nicht unerwähnt will ıch lassen, dass das Schwärmen bei Apes 
mellifica durchaus nicht gänzlich vereinzelt dasteht und nicht völlig 
unvermittelt auftritt, sondern dass sich im Gegenteil eine allmäh- 
liche Entwickelung dieser Lebensgewohnheit erkennen lässt, die 
biologisch von den Meliponinen und Trigonen über manche indische 
Apis-Arten bis zu unserer Honigbiene fortschreitet‘). Bemerkens- 
wert ist die Tatsache, dass sich das Schwärmen völlig selbständig 
auch bei manchen brasilianischen Wespen und Hummeln entwickelt 


4) Interessant wären Untersuchungen darüber, inwieweit sich parallel mit der 
Entwickelung des Schwärmens jene Fähigkeiten zurückbilden, die es dem Weibchen 
ermöglichen, selbständig Kolonien zu gründen. 


y7 


v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 35 


hat. Die Teilung einer Kolonie in mehrere Zweignester, die bei 
manchen Ameisenarten, besonders bei Formica rufa, vorkommt, ist 
auch ein ganz ähnlicher Vorgang. Das Weibchen der eben ge- 
nannten Ameise scheint übrigens nach E. Wasmann auf dem besten 
Wege zu sein, die Fähigkeit, selbständig Kolonien zu gründen, 
ebenfalls einzubüßen. 

Ist innerhalb des Staates von Apis mellifica die phylogene- 
tische Entwickelung nicht mehr deutlich erkennbar, so bietet 
die ÖOntogenie des Termitenstaates für die Phylogenie desselben 
wertvolle Aufschlüsse. Nach übereinstimmenden Berichten ver- 
schiedener Forscher beginnt bei den Termiten nicht das Weibchen 
allein mit der Nestgründung, während das Männchen wie bei den 
anderen staatenbildenden Insekten nach der Begattung zugrunde 
geht, sondern beide Geschlechter gehen hierbei gemeinschaftlich 
ans Werk. So legen nach G. Jakobsen bei Hodotermes turkestanicus 
Männchen und Weibchen zusammen den ersten Schlupfwinkel an, 
während nach Beobachtungen von C. Tollin an anderen Arten das 
Männchen sogar allein mit dem Nestbau beginnt. Fest steht auch 
die Tatsache, dass dem Termitenmännchen anfangs ein Hauptanteil 
an der Brutpflege zufällt! Nun hat aber auch bei den Termiten 
die männlich Kaste einen weiteren Ausbau erfahren, der mit dem 
sozialen Leben im engsten Zusammenhange steht. So setzen sich 
die Arbeiter und Soldaten sowohl aus Angehörigen des männlichen 
als auch des weiblichen Formenkreises zusammen. In dieser Hin- 
sicht unterscheidet sich denn auch der Termitenstaat grundlegend 
von allen anderen Staatengebilden im Insektenreich, denen er sonst 
in seiner Organisation so überraschend ähnlich ist’). Dies veran- 
lasste mich bereits früher, in einer anderen Arbeit den Satz aufzu- 
stellen, dass schon in den ersten Urstadien des gesellschaftlichen 
Lebens bei den Termiten die Männchen im Gegensatz zu den anderen 
‚staatenbildenden Insekten an der Brutpflege u. s. w. Anteil ge- 
nommen haben müssen. Da nun die Entwickelung jedes 
Staates die ganze Phylogenie noch einmal kurz durch- 
läuft, so erfährt diese bisher allein durch theoretische 
Erwägungen gestützte Annahme durch die oben mitge- 
teilten Einzelheiten aus der Koloniegründung bei den 
Termiten eine schlagende Bestätigung. 

So trägt auch beim Studium der Lebenserscheinungen der In- 
sektenstaaten die Heranziehung des biogenetischen Grundgesetzes 
zur Lösung manches entwickelungsgeschichtlichen Problems bei oder 
bringt sie wenigstens derselben näher. 


5) In einer Arbeit, die demnächst in der „Zeitschrift für wissenschaftliche In- 
sektenbiologie“ erscheinen wird, habe ich es unternommen, Konvergenzen in der 
Lebensweise, die zwischen Termiten und Ameisen bestehen, auf natürliche Weise zu 
erklären. 


36 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana). 


Wenn auch mittels der hier angewandten Betrach- 
tungsweise nichts über die Ursachen der Entwickelung 
selbst ausgesagt werden kann, so ıst sie doch deshalb für 
die Forschung von bedeutendem Wert, weil sie gestattet, 
auch die kompliziertesten Erscheinungen des sozialen 
Lebens bei den Insekten auf eine phyletisch einfache 
Wurzel zurückzuführen‘). 


Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana). 
Per Osv. Polimanti. 
(Dall’ Istituto di Fisiologia dell’ Universitä di Perugia.) 

Da molti annı, percorrendo nella primavera la campagna romana, 
osservando stagnı e canalı dı scolo, dı maggiore 0 minore portata 
dı acqua, la mıa attenzione fu richiamata da un fenomeno carat- 
teristico che presentavano larve dı Bufo e Rana. Neglı stagnı, 
ossıa ad acqua completamente ferma, queste larve erano situate 
nelle piü svariate direzioni e cambiavano dı posto con molta fre- 
quenza. Mentre invece nei canali, dove l’acqua scorre sempre in 
una determinata direzione, queste larve giacciono immobili, quası 
costantemente sul fondo del canale colla superficie ventrale, sempre 
tenendo l’estremo cefalico verso la direzione della corrente. Un 
fatto caratteristico, che ho notato anche, sı & che si ritrovano quası 
costantemente nel filo d’acqua, dove la corrente @ minore (ai latı 
del canale e non nel centro) e specialmente poı dove & minore la 
profonditä di questa. Osservate queste larve nelle diverse ore della 
giornata, sı riscontra che varı sono ı movimenti che compiono e 
sempre di breve durata e sempre vengono eseguiti contro corrente. 
Talvolta, quando questa & molto forte, vengono travolte le giovanı 
larve, perö vanno quası subito a posarsi in una zona morta della 
corrente acquea, dove sı mettono sempre in direzione cefalica contro 
la corrente. Nei canalı, dove la corrente € molto forte, e quindı 
le larve non possono adagiarsı sul fondo, non sı trovano mai 0 
almeno molto raramente. Forse quelle rare larve che vi sı ritro- 
vano risalgono qui dai canali, dove la corrente & molto minore. 
Un fatto costante da me osservato & difatti questo, che cıioe & 
maggiore il numero delle larve dı Bufo e Rana nei canalı, ove la 


6) Die eigentlichen Ursachen der Entwickelung der Insektenstaaten, die sich 
völlig unabhängig voneinander überall im Prinzip ganz gleicher Weise vollzogen 
hat, habe ich in einer ausführlichen Abhandlung zu erfassen versucht. Siehe: 
G. v. Natzmer, Die Insektenstaaten. Grundriss zu einer natürlichen Erklärung 
ihrer Entwickelung und ihres Wesens. In: Entomolog. Zeitschr. Frankfurt a. M., 
Jahrg. XXVII, Nr. 34 u. s. w. (1913). Diese Arbeit kann jedoch nur als ein aller- 
erster Grundriss gelten. Gegenwärtig bin ich mit einer umfassenden Zusammen- 
stellung und gründlichen Ausarbeitung meiner Anschauungen beschäftigt. 


J 


Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e kana). 3 


corrente dell’ acqua & minore, rispetto a quelli, dove questa & molto 
piü forte. Volendo darsi una spiegazione di questo fenomeno, si 
pensa subito che & una manifestazione di „Reotropismo* 

Össervazioni analoghe ed una spiegazıone simile avevano avan- 
zato appunto per le larve dı Batracı, ın queste determinate con- 
dizion, Camerano!) e Dewitz?), perö sıa l!’ uno che l’altro autore 
non erano penetrati nell’intimo del fenomeno per poterne dare una 
spiegazione plausibille. Camerano aveva inoltre notato che larve 
dı Rana muta, nei corsı d’acqua delle Alpı ıtaliane, hanno un’ appen- 
dice caudale molto piü lunga dı quelle di pianura, appunto perche 
le prime debbono sopportare, per risalıre la corrente, una maggiore 
resistenza, data dalla maggiore velocitä dell’acqua e quindi deb- 
bono essere dotate dı un organo caudale locomotore molto piü 
valido. 

Come bene sappiamo, il fenomeno del reotropismo € molto 
comune in natura, sia nel regno vegetale che ın quello anımale?°). 
Perö, questa Sram dı reotropismo, che sı osserva in queste larve 
di Batraci, & tutta speciale ed ha le sue caratteristiche particoları. 
Abbıamo visto innanzı tutto, come queste larve dı Bufo e dı Rana 
rımangono coll’ estremo cefalico nella direzione opposta alla cor- 
rente, ma si ritrovano solamente nei corsi d’acqua non molto rapıdi 
e poi rimangono quasi costantemente poggiate sul fondo colla 
superficie ventrale, dove rımangono immobili quası tutta la giornata. 
Dunque & questa una forma di reotropismo, differente ad esempio 
da quella che sı osserva nei pescı*), che risalgono delle correnti 
anche molto forti, sempre stando in quası continuo movimento. 
Anche mettendo queste larve in un bicchiere pieno di acqua e 
poı agitando in un determinato senso, si dispongono con |’ estremo 
cefalico contro corrente, solo quando questa non & molto forte, 
altrimenti sı lasciano trasportare passivamente. Dunque, perch& sı 
abbıano fenomeni di reotropismo in larve dı Bufo e di Rana, 
occorre che la corrente acquea, dove queste sı trovano, sia di 
modica veloecitä. 

Il rimanere poı dı queste larve, quası costantemente adagıate 
sul fondo, cı porta a ritenere che, affinche questa forma di reotro- 
pismo abbia luogo, occorre ıl contatto con una superficie solida. 





1) L. Camerano. Bollettino del Museo di Zoologia e Anatomia Comparata 
Torino 1893, vol. VIII. Atti della R. Academia di Torino classe ricerche fisiche 
1890—91, vol. XXVI. 

2) J. Dewitz. Über den Rheotropismus bei Tieren. Arch. f. Anat. u. Physiol. 
(physiologische Abteilung). Suppl.-Band 1889, p. 231—244. 

3) J. Loeb. Die Tropismen in Handb. d. vergl. Physiologie von H. Winter- 
stein. Jena, Fischer, 1912. Bd. IV, p. 451-519. 

4) Lyon, E. P. On Rheotropism. I. Amer. Journ. Physiol., vol. 12, 1904, 
p- 149. — Ders. Rheotropism in fishes. Biol. Bull., vol. 8, 1905, p. 253. — 
Ders. On Rheotropism. II. Amer. Journ. Physiol., vol. 24, 1907, p. 244. 


38 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e Rana). 


Un riscontro dı questo reotropismo & stato visto da Parker?) ın 
Amphioxus, da Lyon in pesci accecatı e da Jennings‘) in Para- 
maecium. $ı tratta in fondo dı una forma dı „Reotropismo 
negativo.“ 

Rimane ora dı rendersi conto del „siguificato biologico dı tale 
forma di reotropismo“ ın queste larve dı batracı. Uno sguardo 
alle osservazioni di fisiologia comparata, compiute sopra questo 
argomento, cı convince subito che in questo modo !’ alımentazione 
delle larve viene ad essere dı molto facılıtata. I detriti vege- 
talı ed animalı, larve di insetti, ecc., trasportatı dalla corrente 
acquea, penetrano nell’ orificio boccale dı queste larve. Ognuno 
quindi vede in questa speciale posizione reotropica un fattore della 
pıü alta importanza, anzı ıl principale per la ricerca del nutrı- 
mento. Q@uesta mia idea trova una conferma in osservazioni com- 
piute ın altrı ordini dı anımalı, sıa viventi, come anche fossilı. 
Lo Bianco’) ha osservato, ed anch’ io ho potuto constatare, che 
moltissimi polipı idroidi del golfo dı Napoli, ad esempio Coryden- 
drium, Eudendrium, Gemmaria, Tubularia, ecce. stanno coı loro 
sıfonı rivolti sempre contro le onde marine, apportatricı appunto 
del nutrimento. Il caratteristico poi si & che perdono gli ıidranti e 
cadono ın stato dı vita latente nella stagione ınvernale, quando le 
onde marine sono molto violente e quindı non potrebbero ricavare 
anche nutrimento alcuno da queste, perche glı organısmi microscopici 
che a cıö dovrebbero servire, data la violenza della corrente marina, 
non potrebbero soffermarsi sulle bocche dı questi individui, le 
quali dı conseguenza debbono rimanere costantemente chiuse. 

Non meno interessantı sono le osservazionı che sono state fatte 
a questo proposito sopra glı anımalı fossilı. 

Weissermehl®°) ha vısto che ı corallı fossılı sono rivolti tuttı 
coı loro tentacoli verso quel punto, da dove viene ıl nutrimento; 
da qui anche lo speciale incurvamento che spesso presentano. Nel 
caso la corrente marina fosse venuta da piü partı, allora ıl tronco 
del corallo rimaneva piü 0 meno verticale. Questa ipotesi era stata 
gia avanzata da Jäkel”) per i crinoidi fossil, come anche, molto 
prima di questi autori, Semper!®) riteneva che lo sviluppo e 

5) Parker, G. H. The sensory reactions of Amphioxus. Proc. American 
Academy of arts and sciences, vol. 43, 1903, p. 415—455. 

6) Jennings, H. S. Contributions to the study of the behavior of lower 
organism. Carnegie Institution of Washington. Publ. Nr. 16, 1904, 256 pp., 
81 figs. — Ders. Behavior of the lower organisms. New York 1906. 

7) S. Lo Bianco. Notizie biologiche riguardanti specialmente il periodo di 
maturitä sessuale degli animali del golfo di Napoli Mitteilung a. d. Zoolog. Station 
zu Neapel, 19. Bd., 1909, p. 513—763. P 

8) W. Weissermehl. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1897, Bd. 49, 
S. 865. 

9) Jäkel. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1891, Bd. 43, S. 595. 

10) Semper. Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere. 1880, Bd. II, S. 65. 


Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 3,5) 


l’aumento dei banchi di corallo fosse sotto la diretta influenza del- 
l’azione delle onde marine; da qui la formazione delle roccie e@ 
delle isole, una teoria questa, contraria a quella emessa da Darwin, 
Una tale ipotesi, eio6 che il reotropismo negativo di larve dı Rana 
e di Bufo sia in diretta dipendenza dell’ alimentazione di queste, 
trova anche una completa conforma nel suecessivo sviluppo di 
queste. Appena difatti cominciano a comparire gli arti posteriorı, 
ma specialmente poi, quando i quattro arti sono completamente 
sviluppati, ossia quando i movimenti di traslazione vengono ad 
essere molto piü facilitati, di quando esiste solamente una coda, ıl 
reotropismo va man mano scomparendo. Dunque, rendendosi 
sempre piü completi e perfetti i movimenti di locomozione, anche 
la ricerca del nutrimento risulta molto prü facilitata ed ıl fenomeno 
del Reotropismo diviene biologicamente inutile. 


Zum Farbensinn der Bienen. 
Beobachtungen in der freien Natur. 
Von Hermann Kranichfeld, Konsistorialpräsident a.D. 


Das Problem des Farbensinns der Bienen kann noch nicht als 
gelöst angesehen werden. Während die Versuche von Lubbock, 
Forel, H. Müller, von Buttel-Reepen, von Dobkiewiez, 
Frisch u. a. für die Farbentüchtigkeit der Bienen zu sprechen 
scheinen, haben Plateau, Bethe und Heß gleichfalls auf Grund 
von Experimenten das Gegenteil behauptet, und es ist noch nicht 
gelungen, die Widersprüche auszugleichen. In einem Punkte ist 
man sıch allerdings näher gekommen. Die neuesten Untersuchungen, 
welche von Heß und Frisch ausgeführt wurden, haben überein- 
stimmend festgestellt, dass die Bienen das Rot nicht sehen können 
und-infolgedessen Rot mit Schwarz, Purpurrot mit Blau und Vio- 
lett, Orange mit Gelb verwechseln. Während sich aber nach Heß 
die Bienen auch gegenüber den anderen Farben wie total farben- 
blinde Menschen verhalten und nur Helligkeits werte unterscheiden 
können, sollen sie nach Frisch noch Gelb und Blau wahrnehmen 
und Farbenwerte in dem gleichen Umfang wie Rotblinde er- 
kennen. 

Bei biologischen Experimenten lässt sich die betreffende Teil- 
erscheinung niemals vollständig isolieren und es bekommt daher 
der Forscher auch die einzelnen Faktoren nicht so sicher wie beim 
physikalischen und chemischen Experiment in die Hand. Daraus 
erklärt sich in unserem Falle zum Teil die Unsicherheit der Re- 
sultate. Da diese Unzulänglichkeit der experimentellen biologischen 
Untersuchung konstitutionell ist und sich nicht beseitigen lässt, 
empfiehlt es sich, letztere durch die Beobachtung im Freien zu er- 
gänzen. Bei ihr verzichtet man von vornherein auf Isolierung der Teil- 


40 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 


erscheinung. Indem man aber die Verhältnisse in der Komplikation, 
wie sie die Wirklichkeit bietet, beobachtet!), kann man die Bedeu- 
tung, welche das einzelne Isolationselement für das ganze zusammen- 
gesetzte Erscheinungsgebiet besitzt, erkennen und daraus hück- 
schlüsse auf die Beschaffenheit des Isolationselementes selbst ab- 
leiten. 

Die Beobachtung der Bienen im Freien ist allerdings mit ge- 
wissen Schwierigkeiten verbunden. Bei meinen Schweizerreisen 
hatte ich bemerkt, dass die Bienen mit besonderer Vorliebe die in 
den Voralpen häufige, hinsichtlich der Farbe unscheinbare Kohl- 
distel (Oirsöum oleraceum) aufsuchen. Ich hatte mir vorgenommen, 
diese auffallende Erscheinung zu verfolgen, fand aber in den nächsten 
Jahren keine Gelegenheit dazu, da an den Orten, welche ich be- 
suchte, entweder der Reichtum der Flora bezw. der Bienenstände 
zu gering oder die Beobachtung durch äußere Umstände zu sehr 
erschwert war. Außerordentlich günstig lagen dagegen die Ver- 
hältnisse im Kanton Appenzell, wo ich mich im Sommer 1912 auf- 
hielt. Auf den Wiesen und Almen zwischen Weißbad und Steinegg 
fand ich nicht nur eine große Mannigfaltigkeit blühender Pflanzen, 
die fast immer von Bienen besucht waren, man konnte hier auch, 
da alle Wiesen von Fußwegen gekreuzt werden, leicht Beobach- 
tungen anstellen. Besonders günstig war der Umstand, dass aul 
den 2-3 m breiten Rainen zwischen den Grundstücken und an 
den Wegen das Gras vielfach noch längere Zeit stehen blieb, nach- 
dem die Wiesen bereits gemäht waren. Die Bienen waren in diesem 
Falle mit ihrem Flug auf die Raine beschränkt und konnten oft 
während der ganzen Dauer desselben bequem verfolgt werden. 

Ich habe meine Beobachtungen in der Zeit zwischen dem 22. 
und 31. Juli während der Morgenstunden 10—12 Uhr gemacht und 
dabei mein Augenmerk vor allem auf zwei Punkte gerichtet: Ob 
1. bei der Wahl der zuerst beflogenen Blüten sich eine Vorliebe 
für eine bestimmte Farbe geltend macht und 2. ob bei der sogen. 
Konstanz, d.h. der während eines Ausfluges beobachteten Beständig- 
keit hinsichtlich der einmal gewählten Blüte die Farbe derselben 
als Erkennungszeichen dient. 

Das Resultat war in betreff des ersten Punktes eindeutig ein 
negatives. Wenn sich auch bei den Bienen bei der experimen- 
tellen Untersuchung eine Vorliebe für eine bestimmte Farbe oder 
für sanftere Farben (blau, violett) überhaupt herausstellen sollte 
(H. Müller), so trat sie doch jedenfalls bei der Wahl der Blüten 
nicht hervor. 


1) Die Beobachtung im botanischen Garten (Plateau) entspricht dem nicht, 
da hier nicht die bunte, wechselnde Mannigfaltigkeit wie im Freien herrscht. 


Kranichfeld, Zum Farbensinn. der Bienen. 


Hn 


Beobachtungen. 
Am 22. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 


1. Rain mit Blüten von Cirsium oleraceum (gelblichweiß), La- 
thyrus pratensis (gelb), Trifokum pratense (rot), Trifohum repens 
(weiß), Crepis (gelb), Heracleum sphondylium (weiß), Campanula 
rotundifolia (blau), Tragopogon pratensis (gelb), Chrysanthemum Leu- 
canthemum (weiß), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb). 

9 Bienen auf Cirsium oleraceum; auf einem Köpfchen gleich- 
zeitig 3. Die Bienen bleiben, soweit man das Feld übersehen kann, 
während der Beobachtungszeit dem Oöirsium oleraceum treu, doch 
lässt sich 1 Biene auf einen Moment auf Lathyrus pratensis nieder; 
1 Biene fliegt suchend von Blüte zu Blüte (Lathyrus pratensis, Tri- 
folium repens, Chrysanthemum Leucanthemum u. s.w.). Am Schlusse 
der Beobachtungszeit sind noch 8 Bienen auf dem Rain. 

2. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1. 

3 Bienen auf Cörsium oleraceum, die während der Beobachtungs- 
zeit dem Cirs. olerae. treu bleiben; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt. 

Am 24. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 

3. Rain mit Blütenstand ähnlich wie 1.; doch ohne (irsium 
oleraceum, dagegen mit Centaurea phrygea (rot). 

Von Bienen nicht besucht ?). 

4. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Crrsium 
oleraceum. 

Von Bienen nicht besucht?). 

5. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; mit einzelnen Stauden 
von Ülrsium oleraceum. 

Von Bienen nicht besucht?). 

6. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Cirstum 
oleraceum, dagegen mit zahlreichen Exemplaren von (entaurea 
phrygia (vot). 

4 Bienen auf Centaurea phrygia, die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt’). Eine Biene auf Cent. phrygia 17 Minuten lang ver- 
folgt. Sıe zeigte vollkommene Konstanz. Auch am Schlusse der 
Beobachtungszeit nur Cent. phrygia von Bienen besucht. 

7. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 1., außerdem Cent. 
phrygia (rot) und Cirsium palustre (vot). 

2 Bienen auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt®). Die Bienen auf ( oleraceum konstant. 


2) 2 Hummeln auf Centaurea phrygia und Trifolium pratense. 


3) 1 Hummel auf Rhinanthus major. 
4) 1 Hummel auf Rhinanthus major, 1 Hummel auf Cirsium oleraceum. 
5) 1 Hummel auf Centaurea phrygia. 
6) 1 Hummel auf Cirsium oleraceum. 





49 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 


8. Rain mit ähnlichem Blütenstand wıe 1., doch ohne Cirsium 
oleraceum”). 

1 Biene auf Trifolium repens (weiß); nur kurze Zeit verfolgt; 
konstant. 

9, Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; außerdem (irsium 
palustre (rot) und Knautia (blau). 

1 Biene auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz. | 

10. Gemähte Wiese mit zahlreichen weißen Blütendolden und 
Trifolium repens (weiß). 

1 Biene auf Trifolium repens. Konnte nicht verfolgt werden. 

11. Rain mit Centaurea phrygia (rot), Chrysanthemum Leucan- 
themum (weiß), Ranunculus (gelb), Crepis (gelb), wenig Trifoliwm 
pratense (rot), Plantago media (weiß-rötlich). 

2 Bienen auf Centaurea phrygia; 1 Biene auf Plantago media. 
1 Biene fliegt bisweilen, scheinbar von der Farbe getäuscht, von 
Centaurea phrygia auf Trifolium pratense zu, ohne sich auf dasselbe 
niederzulassen. 

25. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 

12. Rain mit Blüten von (irsium oleraceum (gelblichweiß), 
Campanula rotundifolia (blau), Rhinanthus major (gelb), Hypericum 
perforatum (gelb), Spiraea ulmaria (weiß), Lotus corniculatus (gelb), 
Lathyrus pratensis (gelb), Prunella major (blau), Cirsium palustre 
(rot), Vicia eracca (violett), Heracleum sphondylium (weiß). 

2 Bienen auf Cirsium oleraceum, die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz. 

13. Wiese mit Cirsium oleraceum (gelblichweiß). Trefokum 
pratense (rot), Cirsium palustre (rot), Gymmadenia conopsea (purpur- 
rot), Dinanthus superbus (vosarot), Oentaurea phrygia (rot). 

4 Bienen auf Cörsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen 
nicht besetzt°®). Vollkommene Konstanz, soweit Beobachtung mög- 
lich war. Natürlich konnten bei der größeren Anzahl von Bienen 
nur einzelne verfolgt werden. 


14. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 13. 

Zahlreiche Bienen auf Cirsium oleraceum; einige auf Centaurea 
phrygia. Soweit Beobachtung möglich war, konstant. 

15. Wiese am Appenzeller Wasserreservoir. Cirsium oleraceum 
(gelblichweiß), COentaurea phrygia (vot), Knautia (blau), Trifolium 
incarnalum (purpur), Lathyrus pratensis (gelb), Vicia eracca (violett), 
Gymnadenia conopsea (purpurrot), Orchis maeculata (violett-weiß). 
7) und ohne (entaurea phrygia. 

5) 2 Hummeln auf Cirsium oleraceum, 1 Hummel auf Centaurea phrygia. 
Letztere fliegt in !/, Stunde etwa 300 Blüten an, lässt sich dabei nur dreimal auf 
Oirsium palustre nieder. An Üirsium oleraceum fliegt sie stets vorbei. 


ww 


Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 4 


Die Stauden von Cirsium oleraceum stehen in 3 etwa 5 m von- 
einander entfernten Gruppen. 

Die Köpfchen von (irsium oleraceum sind von zahlreichen 
Bienen besetzt. Auf Centaurea phrygia nur 1 Biene’). Soweit Be- 
obachtung möglıch war, konstant. 


Am 26. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 


16. Rain an einer Fichtenhecke. Nach der Hecke zu stehen: 
Cirsium oleraceum (gelblichweiß), Heracleum sphondylium (weiß), 
Galium mollugo (weiß), Spiraea ulmaria (weiß) (alle Stauden unge- 
fähr gleichhoch); auf dem Rain selbst: Trrfohum pratense (rot), 
Trifolium repens (weiß), Prunella grandiflora (blau), Lotus corni- 
culatus (gelb), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb), Orepis 
(gelb), Hypericum perforatum (gelb), Centaurea phrygia (rot). 

5 Bienen auf Cirsium oleraceum, 3—4 Bienen auf Heracleum 
sphondylium, 1 Biene auf Centaurea phrygia. Eine Biene auf Heracı. 
sph. '/, Stunde lang verfolgt. Sie wechselt den Blütenstand etwa 
30mal, fliegt stets an (irsium oleraceum, Centaurea phrygia Vor- 
bei und bleibt dem Heracl. sph. treu. 1 Biene fliegt von Centaurea 
zu Prunella, Trifohum pratense, Trifolium repens etc. 

Am 31. Juli 1912. Heller Sonnenschein. 

17. Wiese mit Centaurea phrygia (rot), Hypericum perforatum 
(gelb), Tragopogon pratensis (gelb), Rhinanthus major (gelb); Lathyrus 
pratensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb), Kuphrasia officinalis 
(weiß), Scabiosa columbaria (blau). Kein Cirsium oleraceum. 

2 Bienen auf Centaurea phrygia, 1 Biene auf Hypericum per- 
foratum'®). Letztere besucht in 3 Minuten etwa 40 Blüten, fliegt 
dabei nur einmal Tragopogon pratensis an. 

18. Sumpfwiese mit (irscum oleraceum (weiß-gelblich), Cörscum 
palustre (vot), Centaurea phrygia (rot), Lotus corniculatus (gelb), 
Trifolium pratense (vot), Gymmadenia conopsea (purpur), Kuphrasia 
offieinalis (weiß), Lathyrus pratensis (gelb), Parnassia palustris (weiß). 

Zahlreiche Bienen auf (irsium oleraceum, 1 Biene auf Cirsium 
palustre bezw. Centaurea phrygra. 

Mit Anfang August setzte Regenwetter ein, das meinen Beob- 
achtungen ein Ende machte'!). 


Resultate. 


Von den 18 beobachteten Feldern wurden 15 von Bienen be- 
sucht. 10 von diesen 15 Feldern enthielten Stauden von (irstum 


9) 1 Hummel auf Trifolium incarnatum; 10 Minuten lang beobachtet. Sie 
wechselt in dieser Zeit 39mal den Blütenstand, fliegt dreimal G@ymnadenia conopsea 
an, ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen, einmal Trifolium pratense. 

10) 1 Hummel auf Centaurea phrygia, 1 Hummel auf Scabiosa. 

11) Nach der Regenperiode wurde Cirsium oleraceum im allgemeinen nicht 
mehr von Bienen und Hummeln beflogen. 


44 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 


oleraceum. In diesen 10 Feldern saßen die Bienen entweder aus- 
schließlich (in 5 Fällen) oder doch in ihrer Mehrzahl auf den Köpfen 
von Cirsium oleraceum. In 1 Fall wurde außer Cirsium oleraceum 
noch Lathyrus pratensis, ın 2 Fällen Centaurea phrygia, ın 1 Fall 
Oentaurea phrygia und Heracleum sphondylium, ın 1 Fall Oirsium 
palustre beflogen. 

In den Feldern, auf welchen es keine Stauden von (irsium 
oleraceum gab, waren in 

1 Felde Blüten von Centaurea phrygia; 


LE & „ Oentaurea phrygia und Plantago media; 
1 ARE 5 „  Oentaurea phrygia und Hypericum perforatum; 
2 Feldern „ „ Trifolium repens besetzt. 


Alle anderen Blüten wurden von Bienen nicht besucht. 

Die besuchten Blüten waren zum bei weitem größten Teile 
von unscheinbarer Farbe: 

Cirsium oleraceum, Trifolium repens, Heracleum sphondylıum, 
Plantago media: 

weiß in verschiedenen Abstufungen, 
Ventaurea phrygia und Cirsium palustre: 
rot, 

Hypericum perforatum, Lathyrus pratensıs: 

gelb. 

Auch bei der relativ noch am meisten besuchten Oentaurea 
phrygia war es offenbar nicht die Farbe, was anlockte. Bei der 
Wahl der Blüten scheint daher die Farbe nicht bestimmend zu sein. 

Ein anderes Resultat ergibt sich hinsichtlich der Frage, ob den 
Bienen bei der Konstanz die Farbe als Erkennungszeichen dient. 

Was zunächst die Konstanz selbst betrifft, so haben meine Be- 
obachtungen nur bestätigt, dass sie bei den Bienen einen relativ 
hohen Grad erreicht und stärker als bei den Hummeln ausgebildet 
ist. Dass beide fast durchweg dem einmal beflogenen Cirsium 
oleraceum treu bleiben, kann man allerdings kaum als Beweis für 
dieselbe ansehen, da die Blütenköpfe dieser Pflanze ihnen eine be- 
sondere Lieblingskost zu bieten scheinen. Die Biene bleibt aber auch 
dann bei der einmal erwählten Blüte, wenn diese nicht zu den bevor- 
zugten gehört. So konnte ich auf dem Rain Nr. 16 eine Biene 
auf Heracleum sphondylium ‘|, Stunde lang verfolgen. Sie wechselte 
während dieser Zeit 30mal den Blütenstand und flog dabei oft dicht 
an den mit anderen Bienen besetzten Stauden von Cirsium olera- 
ceum, sowie an Centaurea phrygia u.s. w. vorbei, ohne sich ım ge- 
ringsten beirren zu lassen. Die Konstanz der Hummeln ist wohl 
schwächer als die der Bienen, aber doch immer noch recht groß 
(gegen Plateau). Während !/, Stunde sah ich ım Feld Nr. 13 
eine Hummel etwa 300mal die Centaurea phrygia befliegen. Sie 
setzte sich in dieser Zeit zweimal auf Cörsium palustre, aber nie- 


Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 45 
mals auf das von Hummeln sonst ebenfalls bevorzugte (irstum 
oleraceum. 

Welche Erkennungszeichen die Bienen und Hummeln beim 
Aufsuchen der gleichen Blüten leiten, würde man schwer feststellen 
können, wenn die Konstanz eine absolute wäre. Das ıst sıe aber 
nicht; auch nicht bei den Bienen. Wir haben bei ihnen sogar zwei 
verschiedene Fälle der Inkonstanz zu unterscheiden. Im ersten 
seltenen Fall scheint die Konstanz überhaupt zu fehlen. So flog 
in Feld Nr. 1 eine Biene suchend von Blüte zu Blüte (Zathyrus 
pratensis, Trifolium repens, Urysanthemum Leucanthemum ete.); ın 
Feld Nr. 16 fiog eine Biene von Centaurea phrygia zu Prunella 
grandiflora, Trifolium pratensis, Trifolium repens etc. Da alle Blüten 
ın großer Anzahl vertreten waren und die anderen Bienen auf der 
Oentaurea phrygia sich konstant zeigten, ıst hier die Annahme Pla- 
teau’s, dass die Bienen ın solchem Falle die Tracht mit der gleichen 
Blüte nicht vervollständigen könnten, nicht zulässig. Ich möchte 
vielmehr die Vermutung aussprechen, dass es sich um junge Bienen 
handelte, bei denen die Konstanz noch mangelhaft ausgebildet war. 
Für unsere Betrachtung ist nur der zweite Fall von Inkonstanz von 
Bedeutung, bei welchem die Bienen und Hummeln die Blütenart 
wechseln, weil ihre Kennzeichen sıe täuschen. Ich führe bei den 
wenigen hier ın Betracht kommenden Beobachtungen auch die 
Hummeln mit an, da dıe Anzahl der Fälle sonst zu klein wäre, um 
Schlüsse aus ihnen ziehen zu können. In Feld Nr. 11 (1) blieben 
die Bienen der Centaurea phrygia (rot) treu, flogen jedoch bisweilen 
auf Trifolium pratense zu (rot), ohne sich auf ıhm niederzulassen. 
In Feld Nr. 13 (2) flog, wie schon erwähnt, eine Hummel, die einige 
hundertmal der Centaurea phrygia (rot) treu geblieben war, zweimal 
auf Cirsium palustre; ın Feld Nr. 15(3) besuchte eine Hummel in 
10 Minuten 39mal Trifolium incarnatum (purpur), einmal Trifohium 
pratense (rot), dreimal näherte sie sich der Gymnadenia conopsea 
(purpurrot), ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen; in Feld 
Nr. 17 (4) wechselte eine Biene in 3 Minuten 39mal den Blüten- 
stand (Hypericum perforatum (gelb)), und flog dabei einmal Trago- 
pogon pratensis (gelb) an; eine Hummel, welche ich 10 Minuten 
beobachtete, besuchte dort (5) in den Flügen 1—30 die Centaurea 
phrygia (rot), in den Flügen 31—41 nacheinander Lathyrus pra- 
tensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb) und Trifolium pratense (vot); 
ın den Flügen 4253 wieder Centaurea phrygia (rot), in den Flügen 
54—59 abwechselnd Centaurea phrygia (rot) und Trifolium pratense 
(rot). Im Feld Nr. 14 (6) endlich flog eine Biene von (irsium olera- 
ceum auf Centaurea-Centaurea-Centaurea und kehrte dann wieder 
auf Cirsium oleraceum zurück. 

Es sind im ganzen nur sechs Beobachtungen, bei denen aber 
eine größere Anzahl von Fällen der Inkonstanz konstatiert werden 


46 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


konnte. Die Beobachtungen 1—4 dürften ein Beweis dafür sein, 
dass sich Bienen und Hummeln durch die Farbe täuschen lassen. 
Die Bienen und Hummeln flogen von roten bezw. gelben Blüten 
einer Art auf rote bezw. gelbe einer anderen Art. Besonders inter- 
essant ist die Beobachtung (3) auf Feld Nr. 15. Die Hummel flog 
hier verschiedene Male dicht an die Gymnadenia conopsea heran. 
Da diese einen so intensiven Geruch hat, dass man auch einen ein- 
zelnen Stengel nicht im Zimmer behalten kann, muss man annehmen, 
dass die Hummeln sich entweder vom Geruch nicht leiten lassen 
oder dass ihr Geruchsinn nur auf Nektar eingestellt ist und andere 
(Gerüche nicht perzipiert. Bei den Beobachtungen 5—6 kommt die 
Farbe für die Inkonstanz gar nicht oder erst in zweiter Linie in 
Betracht. Das Resultat der zweiten Beobachtungsreihe ist daher 
nicht ganz eindeutig, doch dürfte sich auf diesem Wege bei einer 
größeren Anzahl von Einzelbeobachtungen der Wahrscheinlichkeits- 
beweis für die Farbentüchtigkeit der Bienen und Hummeln ver- 
stärken lassen. Die Beobachtungen stimmen mit den von Herrn 
Geheimrat K. v. Frisch in Freiburg vorgeführten Experimenten 
überein, wenn man annımmt, dass die Konstanz der Bienen mehrere 
Tage anhält und die Farbe auch dort als Erkennungszeichen 
diente. 


Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung 
und über Nachdauer dieser Farbänderung. 
(Farbxenien und Färbungstelegonie.) 

Von A. v. Tschermak (Prag). 


Durc’'h systematische Bastardierungen zwischen Kanarienweibchen 
und Männchen verwandter Wildvogelarten (Fringilliden: Hänfling, 
Girlitz, Zeisig, Stiglitz, Gimpel) konnte ich vor einigen Jahren 
(1910) den ersten zuverlässigen Beweis dafür erbringen, dass auch 
ım Tierreiche sogen. Xenien vorkommen. Man versteht darunter 
Abänderungen, welche mütterliche Organe oder die Hüllen der Frucht 
(durch Bastardierung) in einer korrespondierenden, patroklinen d. h. 
durch den: Vatertypus bezeichneten Richtung erfahren. In den er- 
wähnten Versuchen betraf die patrokline Abänderung die Zeichnung 
der Eischale. Während nämlich ein Kanarienweibchen bei Befruch- 
tung durch ein art- und rassegleiches Männchen Eier legt mit un- 
scharfer hellbirauner Fleckung, welche an unbefruchteten Eiern nur 
angedeutet ist, oder nahezu fehlt, liefert dasselbe Individuum bei 
Befruchtung ‘durch ein Männchen der genannten fremden Arten 
Eier, die bestimmte schwarzbraune Abzeichen aufweisen. Diese 
Punkte, Doppselpunkte, Punktreihen, Kurzstriche, Kommata, Geißeln 
oder Fäden ?ihneln in hohem Maße der typischen Zeichnung der 
Reinzuchteier der betreffenden Wildvogelart, so dass daraufhin für 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 47 


ein geübtes Auge geradezu die Bestimmung der an der Bastar- 
dierung beteiligten Vaterart möglich ist. Meine damalıge Fest- 
stellung nahm bereits ausdrücklich Bezug auf die älteren Angaben 
von W. von Nathusius (1867) und von Kutter (1877—1878), 
dass eine „gewöhnliche“ bei Reinzucht weißschalige Eier legende 
Haushenne (wahrscheinlich war die vielverbreitete Rasse Italiener 
Rebhuhn gemeint) nach Befruchtung mit einem Hahn der Cochin- 
chinarasse, welche bei Reinzucht braune Eier produziert, nunmehr 
gelbliche Eier legen soll. Diese etwas schwankende Abänderung 
soll schon wenige Tage nach Beginn der Bastardpaarung einsetzen 
und im Laufe des Verkehrs der Tiere zunehmen, ohne allerdings 
die typische Cochinchinafärbung zu erreichen. Diese älteren An- 
gaben sind in umgekehrtem Sinne — nämlich Aufhellung der braunen 
Reinzuchteifarbe von Plymouth Rock durch Bastardierung mit 
einem Hahn der typisch weißeiigen Rasse „Italiener oder Livor- 
neser Rebhuhnfarben“ — inzwischen von P. Holdefleiß (1911) er- 
härtet und erweitert worden. Hingegen ist in letzterer Zeit A. Wal- 
ther (1914) bei der Paarung von Thüringer Pausbäckchenhenne 
(bei Reinzucht weiße bis gelbliche, ja hellbraune Eifarbe) und Nackt- 
halshahn (rötlichbraune Eifarbe), Krüperhenne (weiß bis gelblich) 
x. Japanesenhahn (weiß bis gelblich, ja hellbraun), Millefleurhenne 
(braun bis hellbraun) X Pausbäckchenhahn (weiß bis gelblich, ja 
hellbraun) zu einem wesentlich negativen, höchstens ım Fall III 
angedeutet positiven Resultat bezüglich des Verhaltens der Eifarbe 
(durchaus negativ bezüglich der Größe bezw. des Gewichtes, der Form 
und des Glanzes) gelangt. Für dieses Ergebnis möchte ich einerseits die 
erhebliche, zum Teil von weiß bis hellbraun gehende Variabilität 
der Eipigmentproduktion bei den gerade gewählten Rassen und Indi- 
viduen verantwortlich machen, andererseits wohl auch einen be- 
sonderen Charakter der benützten Rassen, welcher sie gerade für 
solche Versuche ungeeignet macht (vgl. meine eigenen Erfahrungen 
unten!). 

Die Feststellung von ganz spezifischen Zeichnungsxenien führte 
mich dazu, beim Erklärungsversuche die Alternative aufzustellen: 
entweder spezifische Mitbestimmung der Pigmentierung der Ei- 
schale seitens des bastardierten Eidotters (intraovale Xenienreaktion) 
oder charakteristische, geradezu korrespondierende Umstimmung 
des mütterlichen Eischalenbildungsapparates durch irgendwelche 
Bestandteile des fremdartigen Samens (extraovale Xenienreaktion). 
— Die erstere Möglichkeit bezeichnete ich als zwar einfacher und 
leichter vorstellbar, die andere jedoch als keineswegs ausgeschlossen. 

Diese hier nur ganz kurz erwähnte Alternative, welche ich be- 
reits früher (1910— 1912) ausführlich behandelt habe, sei durch zweı 
schematische Figuren veranschaulicht. Denselben sei noch ein Dia- 
gramm über die älteste, heute jedoch überwundene Vorstellung hin- 


48 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


zugefügt, dass gewisse Spermabestandteile direkt — ohne Umweg 

über die befruchtete Eizelle — eine chemische Veränderung der 

Eihüllen bezw. der Eischale zu bewirken vermögen (Seidlitz 1869). 
Die drei Bilder bedürfen wohl keiner näheren Erklärung. 


1. EB Ill. 





KEI- 
l 
) U 
) 
| 
| 
l 
f 
A A 
Direkter Einfluss des Intraovale Xenienreaktion Extraovale Xenienreaktion 


Samens (Seidlitz 1869). (W. v. Nathusius 1879, (A. v. Tschermak 1910). 
P. Holdefleiß 1911). 


Schema der drei Möglichkeiten der Xenienreaktion: 
(Abkürzungen: #L —+ U=Eileiter und Uterus, Ov = Ovarium.) 


Eine Entscheidung in der oben erwähnten Alternative können 
einerseits Versuche von Imprägnation mit unfruchtbar, doch sonst 
nicht unwirksam gemachtem Samen bringen, andererseits Experi- 
mente über eventuelle Nachwirkung einer Farbenabänderung nach 
Aufgeben der Bastardzucht und Wiederherstellung der Reinzucht. 

Für eine solche, bisher allerdings nicht sichergestellte Nach- 
wirkung von Bastardierung an den Fruchthüllen oder gar an der 
Frucht selbst besteht bereits der Terminus „Telegonie“. Im spe- 
zıellen Falle hier handelt es sich um die Frage bloßer Hüllen- 
telegonie bezw. Eifarbentelegonie. Der eventuelle Nachweis 
eines solchen Vorganges würde für die oben an zweiter Stelle er- 
wähnte Vorstellung, also für einen extraovalen Ursprung der Fär- 
bungs- und Zeichnungsxenien des Vogeleies sprechen und damit 
zur Vorstellung führen, dass bei der Imprägnation irgendwelche Be- 
standteile des Samens zur Einwirkung auf den mütterlichen Eiı- 
schalenbildungsapparat gelangen und dessen Tätigkeitszustand mit- 
bestimmen, eventuell in spezifischer Weise verändern. In der 
Frage der Färbungstelegonie von Vogeleiern liegt bisher nur die 
ungefähre, nicht näher präzisierte und detaillierte Angabe von 


. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 49 


Kutter (1878) vor, dass nach Bastardierung einer weißeiigen 
Henne mit einem Cochinchinahahn die gelbliche Verfärbung der 
Eier auch nach Wiederherstellung von Reinzucht abnehmend nach- 
dauere; noch nach Monaten soll hie und da ein gefärbtes Ei ge- 
legt werden. 

Von den bezeichneten Gesichtspunkten aus habe ich seit 1912 
umfangreiche Versuche über Verfärbung von Hühnereiern durch 
Bastardierung und über Nachdauer dieser Farbenänderung durch- 
geführt!). Zur prinzipiellen Sicherstellung von Xenien ist zwar das 
Auftreten von charakteristischen Zeichnungen, wie sie an den 
bastardierten Kanarieneiern beobachtet wurden, weit beweiskräftiger 
als das Auftreten oder Verschwinden von diffuser Färbung, welche 
beispielsweise Seidlitz (1869), allerdings mit Unrecht, auf eine 
einfache chemische Reaktion des fremdartigen Samens mit dem 
Sekret der Uterindrüsen bezog; für die Frage der Nachwirkung ist 
jedoch das Verhalten der diffusen Eifarbe an dem weit bequemeren 
Hühnermaterial ohne Einwand brauchbar. Zudem wurden Studien 
über die Vererbungsweise einzelner Merkmale an den gewonnenen 
Rassenbastarden ausgeführt und gleichzeitig mancher Fingerzeig für 
die züchterische Praxis gewonnen. Über diese Ergebnisse wird 
jedoch bei anderer ee berichtet werden. 

In meinen Versuchen kamen folgende Rassen zur Verwendung, 
welche gleich in jener Reihenfolge nebeneinander gestellt seien, 
nach welcher während bestimmter Fristen Bastardzucht in beiderlei 
Verbindungsweise durchgeführt wurde. 


Tabellarısche Übersicht der verwendeten Rassen: 


weißeilg brauneiig 
Italiener Weiß Langshan 
Italiener Rebhuhnfarben Plymouth Rock 
Minorka weiß („alte“ Spezialform) Cochinchina 


Die verwendeten Tiere waren von renommierten, für die 
betreffenden Rassen als Spezialisten geltenden Züchtern bezogen 
und von diesen als durchaus rasserein bezeichnet. Es wurden 
nur solche Hennen verwendet, welche mit den rassegleichen Hähnen 
Reinzuchteier produzierten, die an Farbe, aber auch an Größe und 
Form nicht besonders stark variierten. Es kam also keine Henne 
in Verwendung, die etwa bald reinweiße, bald gelbe oder braune Eier 
legte. Dieses Verhalten wurde überdies vor Aufnahme der hybriden Ver- 


1) Die Durchführung der Versuche wurde mir finanziell ermöglicht durch eine 
»weimalige Subventivn seitens des k. k. österreichischen Ackerbauministeriums, dem 
ich auch hier meinen besten Dank ausspreche. Ferner bin ich dem I. Österreichischen 
(eflügelzuchtverein für die Überlassung von Volieren für die Dauer der in Wien 
durchgeführten Versuche sehr verpflichtet. Seit 1. Nov. 1913 wurden die Versuche 
im physiologischen Institut der Deutschen Universität in Prag fortgesetzt. 

xXXXV. A 


50  Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


bindung in eigener Versuchseinrichtung noch durch eine etwa 2 Mo- 
nate währende Reinzucht (Rı) kontrolliert; die dabei gewonnenen 
Reinzuchteier wurden als Standardmaterial konserviert. Nach einer 
siebenwöchentlichen Isolationszet —- erfahrungsgemäß reichen 
20 Tage aus, um eine Nachwirkung des ersten Hahnes auszuschließen?) 
(D. Barfurth) — wurde die erste Bastardzucht (Br) begonnen und 
durch 10 Monate fortgesetzt, worauf wieder Reinzucht (Rır) herge- 
stellt wurde. Auf diese wurde teilweise neuerliche Bastardierung 
(Brr) und neuerliche Reinzucht (Rım) folgen gelassen. Von jeder 
Rasse kamen nur je ein Hahn und je eine Henne in Verwendung, 
was zwar vom züchterischen Standpunkte aus nicht vorteilhaft ist, 
zur erstmaligen absoluten Sicherung und für die Übersichtlichkeit 
der Versuchsergebnisse jedoch zweckmäßiger genannt werden muss. 
Durchwegs beziehen sich also die gewonnenen Ergebnisse auf je 
eine und dieselbe Henne, welche abwechselnd in Reinzucht und in 
Bastardzucht gehalten wurde; so weit als möglich wurde auch ein 
und derselbe Hahn bei Reinzucht bezw. bei Bastardzucht verwendet. 
In einer zweiten Versuchsreihe (ab Winter 1914) wird unter Ein- 
engung der Rassenzahl — auf Grund der Erfahrungen, die durch 
die erste Versuchsreihe (1912—1914) gewonnen wurden — zur Ver- 
wendung einer Mehrzahl von Hennen gleicher Rasse übergegangen 
werden. 

Über die Ergebnisse meiner Versuche orientiert die tabellarische 
Übersicht, in welcher auch manche interessant erscheinende Einzel- 
beobachtungen kurz vermerkt sind. Für jeden speziellen Versuch 
ist am Schlusse des Kolumnenabschnittes das Resume gezogen (in 
Kursivschrift). 

Aus den drei in beiderlei Verbindungsweise durchgeführten 
Versuchsserien ergibt sich in kurzer Zusammenfassung folgendes: 

I. Bezüglich Verfärbung durch Bastardierung (Xenio- 
dochie). 

In so gut wie allen Fällen ließ sich eine Verfärbung 
der Hühnereier durch Bastardierung nach der durch die 
Vaterrasse bezeichneten Richtung hin erkennen. Aller- 
dings war diese Xeniodochie in zwei Fällen (Prot. Nr. 1 Br — in 
Bir‘ fehlend — und Prot. Nr. 4 Br) nur angedeutet, in einer Neben- 
beobachtung (Prot. Nr. 2 Anm.) nur eben merklich und in einer 
anderen solchen (Prot. Nr. 5 Anm.) nur gelegentlich vorhanden. 
In den anderen Fällen war jedoch eine solche Verfärbung deutlich 
(Prot. Nr. 2 Bı und Bır‘, Prot. Nr. 5 Br), ja sehr deutlich (Prot. Nr. 3 Bı, 
minder Bır; Prot. Nr. 6 Br und Bir). Besonders eindringlich tritt 


2) Es ist daher im allgemeinen die Vorsicht geboten, die Eier der ersten 
>» Wochen einer Zucht für die entscheidende Beurteilung betreffs Xeniochie und 
Telegonie auszuschließen. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 51 


jener Einfluss hervor bei den Rassenkombinationen: Italiener Reb- 
huhnfarben 9 X Plymouth Rock 5 sowie Cochinchina 9 X Minorka 
weiß („alte“ Spezialform) $ — wenigstens bei den gerade von mir 
benützten Individuen. Die Farbenänderung durch Bastardierung 
erfolgte in meinen Beobachtungsfällen ebenso oft in der Rich- 
tung von Verstärkung der Pigmentierung von weiß zu braun 
(Prot. Nr. 1 nur angedeutet, Prot. Nr. 3 sehr deutlich, Prot. Nr. 5 
deutlich) als in der umgekehrten Richtung von Abschwä- 
chung der Pıgmentierung von braun zu weiß (Prot. Nr. 2 deut- 
lich und zwar unter Farbentonänderung ins Rötliche, Prot. Nr. 4 
nur angedeutet, Prot. Nr. 6 sehr deutlich). Der Grad der Ab- 
änderung ist augenscheinlich wesentlich abhängig von jeder der 
beiden Rassen bezw. von der gewählten Rassenkombination, ferner 
von der Verbindungsweise — die reziproken Versuche ergaben 
keineswegs eine Abänderung von gleichem Grade (Prot. Nr. 1 nur 
angedeutet — Nr. 2 deutlich; Prot. Nr. 3 sehr deutlich — Nr. 4 
nur angedeutet; Prot. Nr. 5 deutlich — Nr. 6 sehr deutlich). Auch 
die Individualität mag von Einfluss sein, doch vermögen meine zu- 
nächst absichtlich auf je eine Henne beschränkten Versuche darüber 
nichts auszusagen. 

Dass die Breite der Variation der Eischalenpigmentierung bei 
einer und derselben Henne (unter sonst gleichen Bedingungen) die 
Möglichkeit einer Entscheidung bezüglich Vorhandenseins oder 
Fehlens von Xeniodochie beeinflussen, ja aufheben kann, braucht 
kaum nochmals betont zu werden. Speziell zu berücksichtigen ist 
das Vorkommen von allmählıcher, sozusagen spontan fortschreitender 
Farbenänderung der Eier im Laufe des Lebens einer Henne (eventuell 
auch des Hahnes) trotz möglichstem Konstanthalten der äußeren 
Bedingungen. Hierüber scheinen noch exakte Studien zu fehlen, 
während bezüglich der Größe, bezw. des Gewichtes und der Form 
solche an der Rasse Plymouth Rock bereits vorliegen (Maynie 
R. Curtis unter Leitung von R. Pearl). Einen speziellen Fall 
solcher Art konnte ich beobachten bei Reinzucht von Bastarden 
erster Generation aus Minorka weiß, „alte“ Spezialform 9 X Cochin- 
china g: die Eifarbe blasste binnen 1!/, Monaten in der Beobach- 
tungszeit von 5. II. bis 25. IV. 1914 von dem ursprünglichen hell- 
gelbbraun, allmählich fortschreitend, ab bis zu einem weiterhin 
recht stabil bleibenden schwach bräunlichem Weiß. Ein hyper- 
kritischer Beurteiler könnte vielleicht versucht sein, die angegebenen 
Fälle von Xeniodochie auf Täuschung durch eine solche spontan 
erfolgende „Altersveränderung“ der Pigmentierung zurückführen zu 
wollen. Demgegenüber sei bemerkt, dass einerseits von einer solchen 
allmählichen Veränderung in all den unter Prot. Nr. 1—6 ver- 
zeichneten Hauptbeobachtungen während der Reinzuchten nichts zu 
bemerken war. Vielmehr trat nach der während der Bastardzucht 

4* 


52 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


Tabellarische 


der Versuche (1912—1914) über Farbxenien 








Mutterrasse zur 


| Vaterrasse 























B Reinzucht (R) Eier bei erst- : ch Ale) 
= | zur Bastard- | . : Eier bei erstmaliger 
5 und zur Bastard- zucht (B) maliger Rein- Bietardzete (Bn) 
2 zucht (B) a zucht (Rı) 
A| verwendet 
| verwendet | | 
— nn [ | — —- ——s = = 
1 | Italiener Weiß | Langshan Rı bis 15. IX. 1912. | Bı4. XI. 19121. IX.1913. 
(Dauernd eine | Rein weiße Farbe, Rein weiß bis Spur gelb- 
' u. dieselbe Henne rundliche — plumpe lich, ungeänderte Form. 
, verwendet.) Form. Angedeutete Xeniodochie. 
2 | Langshan Italiener |Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XT. 1912—31. VII. 
Weiß Farbe ziemlich va- 1913. 


(Dauernd eine 
u. dieselbe Henne 
verwendet.) 








riant, von mittelgelb- 
braun bis stark gelb- 
braun, etwa die halbe 
ıZahl der Eier mit 
dunkler oder dunkel 
| brauner Fleckung, 
bezw. Puderune. 





Deutlich stärkeres Vari- 
ieren der Färbung unter 
fortschreitendem Sinken des 
Mittelwertes, nicht unter 
einfach fortschreitendem 
Abblassen. — Variation von 
recht sattem, etwas rötlichen 
Gelbbraun bis zu Gelbweiß. 
Maximum — Extrem von 
‚Bı erheblich satter und 
\ mehr rötlich als Max. Ex- 
‚trem von Rı. Minimum — 
Extrem (relativ selten!) von 
Bıı weitaus blasser als Min. 
Extrem von Rı. Fleckung- 
Puderung ab 25. IV. 1913 
‘für die weitere Dauer von 
| Br verschwunden. 

Deutliche Steigerung der 
Variabilität durch Bastar- 
dierung, deutliche Xenio- 
ı dochie bezw. Abschwächung 
der Pigmentierung unter 
Anderung des Farbentons 
aus Gelblich- in Rötlich- 
braun, Verschwinden der 


, Zeichnung in der zweiten 





Hälfte von Bı. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Übersicht 


und Färbungstelegonie an Hühnereiern. 


53 











Eier bei zweiter Rein- 
zucht (Rıt) 


Eier bei zweiter Bastard- 
| zucht (Bir) 


I 
| 


Eier bei dritter Rein- 
zucht (Rıt) 

und bei dritter Bastard- 
zucht (Bııı) 








Rır 1. IX. 1913—25. IV. 
1914. 


(Hahn 20. III. 1904 er- 
setzt.) i 

Rein weiß, typische Form. 

Keine Telegonie. 


Bır‘ 25. IV.—5. VII. 1914. 


'  (Bastardzucht mit Zwerg- 
'cochinchinahahn, der bei 
vorausgeschickter Reinzucht 


liche Eier erzeugt hatte.) 
Rein weiß, ungeänderte 


wohl unbefruchtet, wenig- 
stens nicht anbrütbar. 


Keine Xeniodochie. 





gelblichweiße, kleine, läng- 


Form und Größe — Eier | 


| Rın 5. VIL—14. VII. 1914. 
Rein weiß, typische Form. 


| Bını 14. VIL.—13. X. 1914. 
Rein weiß, typische Form. 
| Keine Xeniodochie. 








Rs III — 25T DV: 
1914. 

(Hahn 7. II. 1914 er- 
setzt.) 

Ziemlich variant von star- 
kem Rötlichbraun bis Weiß- 
braun, Mittel minder satt 
und mehr rötlich als in Rı. 
Max. Extrem von Rıı min- 
der satt als Max. Extrem 
von Rı oder gar Bı; Min. 
Extrem von Rır erheblich 
weißlicher als Min. Extrem 
von Rı, jedoch etwas weniger 
weißlich als Min. Extrem 
von Br. Puderung nur auf 


dem ersten Reinzuchtei 
vom 3. II. 1914 in der 
Spitzpolhälfte vorhanden, 


sonst dauernd verschwunden 
wie bereits in der zweiten 
Hälfte von Bı. 


Deutliche Minderung der 
Variabilität durch Wieder- 
herstellung der Reinzucht, 
deutliche Telegonie bezw. 
Nachdauer der Abschwä- 
chung der Pigmentierung, 
Nachdauer der Tonände- 
rung in Rötlichbraun und 
Nachdauer des Verschwun- 
denbleibens der Zeichnung 
(mit einem Ausnahmefall). 


Bır‘ 25. IV.—9. VII. 1914. 
(Bastardzucht*) mit / F, 
[Minorka weiß 2 X Cochin- 
china Z'|, der bei voraus- 
geschickter Reinzucht mit 
Schwester 2 F, [Minorka 
weiß 2 X Cochinchina g'| 
zuerst hellgelbbraune, später 
fortschreitend hellere, bis 
schwach bräunlichweiße 
Eier produziert hatte.) 
Geringe Variabilität von 
rötlichem Weißbraun bis 


Weiß, Mittel noch weniger 
satt als in Rıı. Max. Ex- 
trem von Bır‘ sehr erheb- 
lich minder satt als Max. 


trem von Bı1‘ etwas weniger 
weiß als Min. Extrem von 
Rıı oder als Min. Extrem 
von Bı. — Puderung dau- 
ernd ausnahmslos ver- 
schwunden. — Verglichen 
mit Reinzucht von @F, X 
d F, (Geschwister — 5.11. 


paarten Bastardes, zeigt das 
Mittel von Bır‘ stärkere Pig- 
mentierung als das Mittel 
dieser Reinzucht, zeigen 
beide Extreme von Bir’ stär- 
kere Pigmentierung als beide 
Extreme dieser Reinzucht. 
Siehtliche Xeniodochie 
bezw. weitere Abschwä- 
chung der Pigmentierung 
und Verschwundenbleiben 
der Zeichnung infolge 
neuerlicher Bastardierung. 





rötlich oder gelblichbraunem | 


Extrem von Rıı; Min. Ex- | 


bis 25. IV.i914) des ange- | 


Rın 9.—14. VII. 1914. 
Keine Eiproduktion. 


Bu [4 S VI EXT T9TA 
(mit Ital. Weiß). 


Eiproduktion 10.—26. IX. 
Zieml. gleichmäßig, durch- 
schnittlich zwischen dem 
Mittel von Rıı und von Brı‘ 
stehend. 


Geringere Xeniodochie 
als in Bır'. 
*) Anm. Bastardzucht 


einer reinen Form mit einem 
Hybriden ist durch das Sym- 
bol Bı‘ bezeichnet. — Die 
umgekehrte Bastardierung 
F, [Minorka weiß 2 X 
Cochinchina Langs- 
han g' 25.IV.—9. V1I.1914 
ergab ganz geringe, vari- 
ierende Verstärkung der 
Pigmentierung (etwas stär- 
ker bräunlichweiß) gegen- 
über dem letzten Stadium 
der vorausgegangenen Rein- 
zucht (5. II.—25. IV. 1914), 
doch weit unter dem ersten 
Stadium dieser Reinzucht. 

Eben merkliche Xenio- 
dochie. 





54 Tschermak, Über ‚Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Tabellarische 





der Versuche (1912—1914) über Farbxenien 





Mutterrasse zur | 


| 


N 


























u : Vaterrasse . . 
1 Reinzucht (R) zur Bastard- Eier bei lg Eier bei erstmaliger 
s und zur Bastard- | HB maliger Rein- ee (Bı 
3, zucht (B) HN zucht (Rı) BEI SZUCFUNNEN 
Ai verwendet | Yerwen er 
3 | Italiener Reb- Plymouth |Rı bis 15.IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX. 
huhnfarben Rock Wenig variierende, | 1913.%) 
(Dauernd eine ganz schwach gelb-- Unter geringem Oszil- 
u. dieselbe Henne \lichweiße Färbung, lieren anfangs (bis April 
und je ein und ‚längliche und grazile 1913) recht starke Verfär- 
derselbe, Hahn ‘Form (dauernd un- bung in helles Braungelb, 
verwendet.) ‚ verändert bleibend).  allmähliche Abnahme, später 
|(?. V. 1913) schon weit 
| ı weniger gelb, nur gelbweiß 
| — doch durchwegs noch 
'gelblicher als Max. Extrem 
von Rı. 
' Steigerung der Varia- 
‚bilitat durch Bastardie- 
| rung, sehr deutliche Xenio- 
| ‚ dochie bezw. Verstärkung 
der Pigmentierung infolge 
ı Bastardierung. 
| 
4\ Plymouth Rock |ItalienerReb-| Rı bis 15. IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX. 


(Dauernd eine | 


huhnfarben 





' u.dieselbe Henne 
und je ein und 
derselbe Hahn 
verwendet.) 


| 








Ziemlich vari- 
‚lerende Eifarbe von 
weißbraun bis mittel- 
‚braun, mit braunen 
Flecken. 

| (Heller als die Eier 
in sonstigen Rein- 
zuchten von Ply- 
ı mouth Rock.) 





1913. 

Deutlich stärker und zwar 
unregelmäßig variierend von 
satter gelb- oder rötlich- 
braun bis graugelb oder 
ıbraunweiß. Min. Extrem 
| von Bı ist ein wenig heller 
als Min. Extrem von Rı 
(1 Ei am Stumpfpol stark 
| rötlichbraun, am Spitzpol 
| mittelbraun). — Fleckung 
‚dauernd verschwunden. 


Deutliche Steigerung der 
Variabilität durch Bastar- 
dierung, Xeniodochie nur 

| angedeutet. 





Tsehermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


Übersicht 


und Färbungstelegonie an Hühnereiern. 


St 
or 











Eier bei zweiter Bastard- 
zucht (Bıı) 


Eier bei zweiter Rein- | 
zucht (Rıı) | 





Eier bei dritter Rein- 
zucht (Rın) 

und bei dritter Bastard- 

zucht (Bıır) 








Rır g7 IX. 191: 3—25. zZ | Brı 25. IV.—7. VI. 1914. 
1914. Etwas satter gelblich als | 

Ziemlich variante gelb- in Rır gegen Schluss, nicht 
weiße Färbung, anfangs |so satt wie in Rır zu An-ı 
sogar etwas satter als am | fang. 

Ende von Br, satteste Stufen Minder deutliche Xenio- 
ganz auffallend an satteste dochie bezw. geringe neuer- 
Stufen von Br heran- |%ene Verstürkung der Pig- 
reichend; allmählich (spe- mentierung. 

ziell ab 11. IV. 1914) ab-| 

nehmend — doch nie so| | 
schwach gelblichweiß wie 
in Rı, noch immer etwas 
gelblicher. 

Sehr deutliche Telegonie, 
bezw. Nachdauer verstärk- 
ter Pigmentierung und er- | 
höhter Variabilität. | 





am, 7 


VI.—14. VII. 1914. 


(kelativ früh aufgenom- 
men, da Plymouth Rock- 
Hahn 7 7. VI. 1914.) 

Zum Teil weißlicher als 
in Bır, vereinzelt an Max. 
Extrem von Bir heran- 
reichend, nicht so stark pig- 
mentiert wie in Rıı zu An- 
fang. Doch von Rı noch 
immer merklich verschieden, 

ı besonders auffällig in den 


| satteren Stufen, z. B. noch 
kamel25SVIIE: 1914 deutlich 
‚ gelbweißes Ei produziert. 


Minder deutliche Tele- 
gonie bezw. Nachdauer 


wenig verstärkter Pigmen- 


ı bierung. 





RE IIIRBZ5. Ve 1914: — | 
(Plymouth Rock-Henne?r.) 

Ziemlich variant, doch 
Spielraum deutlich enger 
als in Br, von mittlerem 
Rötlichbraun bis Weiß-Röt- 
lichbraun. Mittel von Rıı | 
erheblich satter als Mittel | 
von Rı, kein Ei so satt wie | 
Max. Extrem von Bı; Min. 
Extrem von Rıretwasblasser 
als Min. Extrem von Rı 
und als Min. Extrem von 
Br. Fleckung dauernd ver-. 
schwunden. 

Deutliche Minderung der | | 
Variabilität durch neuer- | 
liche Reinzucht; betreffs 
Telegonie keine Aussage 
möglich. 











| licher, 
‚licher als in Rım. 


| ursachten Tode 


Bırm‘ ab 14. VII. 1914. 


Bastardzucht mit  F, 
[Plymouth Rock 2 X. Ital. 
‚ Rebh. 

Stärker variierend als in 
Rını, Max. Extrem gelb- 
licher, Min. Extrem weiß- 
Mittel etwas gelb- 


Angedeutete Keniodochie, 





*) Anm. Eine Bastard- 
henne $F, (Ital. Rebh. 2 
> Plymouth Rock fg‘), ver- 
leint gehalten mit f F, 


(Plymouth Rock 2 X Ttal. 


Rebh. 5) vom 5. 1I.—11. 
| III. 1914, enthielt nach 
ihrem durch Legenot ver- 


(1125ER: 
1914) ein Ei mit weißgelb- 


‚licher Schale. 


96 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Tabellarische 


der Versuche (1912—1914) über Farbxenien 
































„| Mutterrasse zur | Yuter | 
2| Reinzucht (R) ee ı Eier bei erst- RR Min. 
3 .ı | zur Bastard- 0 Er Eier bei erstmaliger 
= und zur Bastard- ht (B) maliger Rein- Basta BITE 
= zucht (B) Zr L C t zucht (Rı) Be lSurt lan HUN) 
A verwendet We 
5  Minorka weiß |Cochinchina | Rı bis 15. IX.1912.*) | 4. XI. 1912—24. V. 1913. 
(Dauernd eine, Ziemlich variant, | : (Henne + 24. V. 1913.) 
‚u. dieselbe Henne reinweiß bis gelblich- | Stark variant, von gelb- 
verwendet.) | , weiß. lichweiß bis hellgelbbraun, 
| | Mittelwert erheblich höher 
| als Mittelwert von Rı. 
Steigerung der Varia- 
bilität durch Bastardie- 
rung; deutliche Xenio- 
dochie bezw. Verstärkung 
der Pigmentierung. 
6  Cochinchina ı Minorka Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XI 1912 —1. RX. 


u. dieselbe Henne 
und ein und der- 
selbe Hahn zur 
Bastardierung 
verwendet.) 





(Dauernd eine | 





Wenig variierend, 
ı mäßig bis mittel röt- 
‚ lieh-gelbbraun. 





| bihität 





1913. 


Stark variierend von satt 
rötlich-gelbbraun (z. T. er- 


\heblich satter als in Rı) 


durch braungelb bis zu 


 bräunlich-weiß und zwar in 


irregulärem Schwanken (1Ei 
maximal rotgelbbraun mit 
weißen Spritzern an der 
Stumpfpolhälfte; 1 Ei am 


| Stumpfpole mittelbraun, am 
| Spitzpole 


bräunlich-weiß). 
Steigerung der Varia- 
durch Bastardie- 
rung, sehr deutliche Xenio- 


| dochie bezw. Abschwächung 


der Pigmentierung. 


Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Übersicht 


und Färbungstelegonie an Hühnereiern. 


= 


57 








Eier bei zweiter Rein- 
zucht (Rıı) 





Eier bei zweiter Bastard- 


| 
| 
| zucht (Bir) 








Eier bei dritter Rein- 
zucht (Rııı) 











Rır 1. IX. 1913—5. II. 
1914. 
(Unbefruchtete Eier wäh- 
rend Isolierung, da Cochin- 
china-Hahn + 24. V. 1913.) 
Gleichmäßig, satt rötlich- 
gelbbraun wie Max. Ex- 


treme unter Bı, erheblich | 


satter als Rr. Vor dieser 
Legeperiode sehr lange 
Pause: 


1. IX. 1913—20. I. 1914. 

Aufhören des Variierens 
bei Aufgeben der Bastard- 
zucht, keine Telegonie (aller- 
dings große Pause!) 


Bır ab 5. II. 1914. 
Neuerlich starkes Vari- 


‚ieren, ähnlich wie in Br 


von satt rötlich-gelbbraun 
‚ bis weißlich-gelb bezw. grau- 
gelb.» Min. Extrem in Bıı 
nicht so licht wie in Br. 


'rotgelbbraun mit weißen 
Punkten auf der ganzen 


mit braunen Punkten in 
der Spitzpolhälfte; 1 Ei 
mittelgelbbraun am Spitz- 
pol, bräunlichweiß am 
Stumpfpol.) 

Steigerung der Varia- 
‚bilität durch Bastardie- 
rung, doch mit etwas ge- 
ringerem Spielraum als in 
Br. Sehr deutliche Xenio- 
ı dochie bezw. Abschwächung 
der Pigmentierung. 





— (1 Ei gleichmäßig satt | 


Oberfläche; 1 Ei weißgelb | 





*) Anm. Über die von 
Nachkommen aus dieser Ba- 
stardierung(Q und Z'F, [Mi- 
norka 2 X Cochinchina |) 
erzeugten Eier siehe unter 
Prot. Nr. 2. — Eine Henne 
einer anderen Spezialform 
der Rasse Minorka weiß 
(als Minorka „neu“ bezeich- 
net) legte bei Reinzucht 
rein weiße Eier, bei Bastar- 
dierung zuerst mit einem 
atypischen, dann mit einem 
typischen Hybriden %' F, 
[Cochinchina 2 X Minorka 
weiß „alt“ gJ'] im allge- 
meinen rein weiße, nur ver- 
einzelt gelbliche Eier, was 
einer gelegentlichen Xenio- 
dochie entspricht. 


58 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


Bı oder Bır erfolgten Abänderung die Tendenz zu einer gegensätz- 
lichen Veränderung während der folgenden Reinzucht Rır oder Rın 
hervor. Andererseits wäre es sehr sonderbar, wenn eine spontane 
Altersveränderung bei den weißeiigen Rassen in einer Zunahme der 
Pigmentierung, bei den brauneugen Rassen gerade umgekehrt in 
einer Abnahme der Pigmentierung gelegen wäre. Endlich schließt 
der zweifellose Einfluss, den die Bastardierung gleichzeitig auf den 
Spielraum der Eifarbenvariation besitzt, eine solche Annahme 
völlig aus. 

An der Möglichkeit bei Auswahl geeigneter Rassen und 
Individuen und beı geeigneter Rassenkombination und 
Verbindungsweise zweifellose Eischalenxenien zu pro- 
duzieren, ist demnach für Rassenkreuzungen in der 
Formengruppe „Haushuhn“ ebensowenig zu zweifeln als 
für die früher mitgeteilten Artbastardierungen ın der 
Familie der Fringilliden. Im Gegensatze zur Veränderung: der 
Hühnereifarbe durch Bastardierung wurde eine solche der Größe 
und der Form nicht beobachtet (in Bestätigung des Befundes von 
A. Walther). Ich gelange somit zu einer Erhärtung meiner 
früheren Angaben und zu einer Bestätigung der Beobachtungen von 
W. v. Nathusius, Kutter und P. Holdefleiß. Die ersteren 
beiden Autoren konstatierten, wie oben erwähnt, eine Zunahme 
der Pigmentierung bei der Bastardierung weißeiig (Ital. Rebhuhn?) 
9 X brauneiig (Cochinchina) 5, der letztgenannte Beobachter eine 
Abnahme der Pigmentierung bei der umgekehrten Verbindung braun- 
eiig (Plymouth Rock) 9 X. weißeiig (Ital. Rebhuhnfarben) J.. 

Als interessantes Datum muss die Erscheinung hervorgehoben 
werden, dass Bastardierung wenigstens in bestimmten Fällen, 
die Variabilität der Eifarbe in deutlichem Ausmaße er- 
höht. Es wurde dies speziell in den Fällen Prot. Nr. 2, 3, 4, 5, 6 
konstatiert und durch die Feststellung einer Minderung der Varia- 
bilität nach Aufgeben der Bastardzucht (Br), also bei nachfolgender 
Reinzucht erhärtet. 

Diese Folge der Bastardierung weist m. E. darauf hin, dass 
durch die Imprägnation mit fremdrassigem Sperma die Pigment- 
sekretionsstätten in einen geänderten Reaktions- bezw. Tätigkeits- 
zustand versetzt werden, welcher bald zu einer sogar verstärkten 
Ausprägung des Rassencharakters an Eipigmentierung, bald zu einer 
Minderung derselben in der Richtung der bastardierenden Vater- 
rasse führt. Man kann geradezu von einer Gleichgewichtserschütte- 
rung sprechen, von einem Versetzen in Oszillation unter Verschie- 
bung der Mittellage nach der väterlichen Seite hin, von. einer Art 
Wettstreit zwischen Rassencharakter und Fremdcharakter, wobei 
bald der eine, bald der andere siegt und der Rassencharakter ge- 
legentlich sogar stärker zum Ausdrucke kommt als zuvor bei Rein- 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 50 


zucht. Ausdruck eines Wettstreites der beiden gegensätzlichen 
Faktoren ist auch die mitunter beobachtete ungleichmäßige Fär- 
bung der beiden Eipole bezw. Eihälften (vgl. Prot. Nr. 4Bı sowie 
Nr. 6Bı und Br). 

Bezüglich des Verhaltens der Xeniodochie bei wieder- 
holtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht sei be- 
merkt, dass der verfärbende Einfluss der Bastardierung immer 
schwächer auszufallen scheint. So war derselbe beı Fall 2 ın 
Bir‘, noch mehr ın Bım weit geringer als in Bı; auch bei Fall 3 
war die Wirkung ın Bır, noch mehr in Bim‘ geringer als in Bı. 
Es scheint der pigmentbildende Anteil des Sexualapparates wieder- 
holt gegensätzlich beeinflusster Hennen überhaupt minder reaktions- 
fähig zu werden, gewissermaßen an Plastizität seiner Funktion zu 
verlieren und mehr oder weniger ın einer Mittellage zu erstarren 
(vgl. das über Telegonie bei wiederholtem Zuchtwechsel zu Be- 
merkende). 

Mit der vorstehenden Darstellung ıst allerdings die oben nur 
als Möglichkeit erwähnte Vorstellung einer extraovalen Xenien- 
reaktion als gesichert vorweggenommen. Die Berechtigung wird 
sich jedoch aus den nachstehenden Ausführungen über Telegonie 
ergeben. 


II. Bezüglich Nachdauer der durch Bastardierung 

erfolgten Verfärbung (Telegonie). 

In bestimmten Fällen ließ sich eine gewisse Nachdauer 
der durch Bastardierung bewirkten Veränderung der 
Schalenfarbe während der nachfolgenden Reinzucht er- 
kennen. Eine sölche Telegonie wurde zwar bei Fall 1 und 6 (bei 
Fall 5 fehlt Rır) vermisst, auch war bei Fall 4 infolge relativ großer 
Variabilität keine Aussage möglich — doch war bei Fall 3 ın Rıı 
die Nachwirkung sehr deutlich (in Rıı minder deutlich), ebenso bei 
Fall 2 ın Rır unverkennbar. In Fall 3 bestand der telegone Effekt 
in einer nachdauernden Verstärkung, in Fall 2 in einer nach- 
dauernden Minderung der Pigmentierung und Farbentonänderung 
ins Rötliche. In Fall 3 erfolgte ein allmähliches Abklingen, ohne 
dass nach siebenmonatlicher Reinzucht (Rır) die ursprüngliche Eı- 
farbe (von Rı) erreicht worden wäre. Auch ın Fall 2 war die 
Veränderung nach der gleichen Zeit noch merklich. Beide einmal 
(dann neuerdings) bastardierten Hennen blieben in ihrer Pigment- 
produktion alteriert, sozusagen aus der durch Rı bezeichneten 
typischen Lage abgelenkt. Vom züchterischen Standpunkte sind 
die benützten Hennen, d. h. die Italiener Rebhuhn-Henne als 
durch Bastardierung mit einem Plymouth Rock-Hahn, ebenso 
die Langshan-Henne als durch Bastardierung mit einem Italiener 
Weiß-Hahn nachhaltig „verdorben“ zu bezeichnen, da die 


60 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 


erstere Henne atypischerweise statt weißer oder ganz schwach 
gelblichweißer Eier solche mit deutlich gelblicher, mitunter sehr 
deutlich gelblicher Schale legt — die Langshan-Henne statt satt- 
brauner nur weißbraune Eier produziert. 

Andererseits vermochte neuerliche Bastardierung auch aus der 
telegonen Ablenkungslage heraus — neben neuerlicher Steigerung 
der Variabilität — eine neuerliche Ablenkung nach der Richtung 
der bastardierenden Vaterrasse hin zu bewirken: eine solche neuer- 
liche Xeniodochie von telegoner Lage aus wurde in Fall 2 (Bır 
und Bım) und in Fall 3 (Bır und Bu‘) festgestellt. Im ersteren 
Falle erfolgte sie ım Sinne weiterer Abschwächung, im anderen 
Falle im Sinne weiterer Verstärkung der Pigmentierung. 

Bei wiederholtem Wechsel von Bastardzucht und Reinzucht 
scheint die Telegonie — ebenso wie dies oben von der Xenio- 
dochie bei wiederholtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht 
bemerkt wurde — abzunehmen (so bei Fall 3 in Rım gegenüber Rın), 
ohne dass — wenigstens in der bisherigen Beobachtungsdauer — 
die Ausgangslage (Rr) wieder erreicht wurde. Auch die Steigerung 
der Variabilität durch Bastardierung scheint, trotz sichtlicher Ab- 
nahme infolge neuerlicher Reinzucht (Rır bezw. Rır), in gewissem 
Grade nachzudauern (vgl. Fall 3). 

Die nächste Versuchsreihe soll die bisher gemachten Fest- 
stellungen an einer größeren Anzahl von Hennen der Italiener Reb- 
huhn- und der Langshan-Rasse nachprüfen?). 

Schon durch die abgeschlossene erste Beobachtungsreihe glaube 
ich den ersten stichhaltigen Beweis (von der nur gelegent- 
lichen Angabe Kutter’s |1878] abgesehen) erbracht zu haben für 
das Vorkommen von Eischalentelegonie, bezw. Nachdauer 
der bastardiven, xeniodochischen Verfärbung an Hühnereiern. Ein 
genauer Systematiker mag ja diese Art von Xeniodochie nur als 
eine Pseudoform bezeichnen, weil sie nur die Eihüllen, nicht weiter 
abliegende mütterliche Teile betreffe. Allerdings sind Fälle von 
korrespondierender Abänderung solcher Art, also „echte“ Xenien 
— ebenso Fälle von „echter“ Telegonie, welche oogene Teile bezw. den 
Embryo selbst betreffen würde, — überhaupt nicht mit irgendwelcher 
Zuverlässigkeit beobachtet und zwar weder bei Pflanzen noch bei 
Tieren. Auf die diesbezüglichen Literaturangaben sei hier nicht 
weiter eingegangen. Nur sei nachdrücklich betont, dass mit der 
Feststellung einer Färbungstelegonie der Hühnereischale ın gewissen 
Fällen meinerseits keineswegs die Möglichkeit oder Wahrscheinlich- 


3) Ich beabsichtige dann deren Ergebnisse in Zusammenhang mit jenen der 
ersten Versuchsserie ausführlicher darzustellen unter gleichzeitiger Anführung kolori- 
metrischer Angaben über die Färbungsgrade. Das bisher gewonnene Material wurde 
als ziemlich umfangreiche Sammlung konserviert, soweit es nicht zur Nachzucht 
Verwendung fand. 


Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 61 


keit einer „echten“ Embryotelegonie behauptet wird. Vielmehr 
sind die festgestellten Erscheinungen des ersteren Gebietes prinzipiell 
ganz anders zu beurteilen als die angeblichen Phänomene des letz- 
teren Gebietes. Der Nachweis des Vorkommens einer chromatischen 
Eihüllentelegonie gestattet überhaupt keinerlei Schluss zugunsten 
der Annahme einer Embryotelegonie. 

Der Nachweis des Vorkommens von chromatischer Eischalen- 
telegonie entscheidet, wenigstens mit höchster Wahrscheinlichkeit, 
die eingangs erörterte Alternative: intraovale oder extraovale Natur 
der Xenienreaktion im letzteren Sinne. Mit der Möglichkeit einer 
extraovalen Xenienreaktion hatte ich schon beim erstmaligen 
Nachweise von chromatischen Eischalenxenien an Fringillidenarten 
gerechnet. ‚Jedoch musste diese Eventualität damals noch als gleich- 
wertig mit der entgegenstehenden Möglichkeit einer intraovalen 
Xenienreaktion behandelt werden. Ich gelange demnach auf Grund 
des Nachweises, dass bastardıve Verfärbung der Hühnereischale bei 
neuerlicher Reinzucht nachdauern kann, dass ferner Bastardierung 
die individuelle Variabilität der Pigmentproduktion steigert, dazu, 
eine charakteristische Beeinflussung des weiblichen Genitaltraktes 
durch gewisse Bestandteile des rasse- oder artfremden Spermas 
(eventuell auch des art- und rassegleichen, bloß individual- oder 
körperfremden) anzunehmen. Diese Beeinflussung hat die Tendenz, 
den noch nicht genau bekannten Ort und Modus der Pigment- 
produktion nach der durch die bastardierende Vaterart bezeichneten 
Richtung hin abzuändern. Diese Einflussnahme zielt also ab auf 
eine korrespondierende, patrokline Umstimmung des die 
Eischalenproduktion, speziell die Eischalenpigmentierung besorgenden 
Anteiles des weiblichen Genitalapparates. Nach dieser Auf- 
fassung erfolgt — im Prinzip unabhängig von der Befruchtung der 
Eizelle — irgendeine Imprägnation auch der bleibenden Anteile 
des mütterlichen Fortpflanzungsapparates *). Es kommt dabei, wenig- 
stens in gewissen Fällen, zu einem deutlichen Wettstreit der ur- 
sprünglichen, mütterlichen bezw. rasse- oder artgemäßen Disposition 
oder Tätigkeit des Pigmentierungsapparates und dem intoxikativen, 
rasse- oder artfremden Faktor. Dieser Wettstreit äußert sich spe- 
ziell in einem Wechsel zwischen Verstärkung der rassegemäßen 
Pigmentproduktion und rassefremder Minderung derselben — ein 
Wechsel, welcher an einem und demselben Ei merklich sein kann. 
Dieser Wettstreit hat einen ähnlichen Charakter wie jener, welcher 
bei gewissen Intoxikationen oder Infektionen zu beobachten ist 


4) In solchen Fällen könnte man geradezu von einer „Genitaltrakt-Befruch- 
tung“ sprechen und diese in eine gewisse Analogie zum sogen. vegetativen Befruch- 
tungseffekt am pflanzlichen Fruchtknoten setzen — ein Effekt, der gleichfalls im 
Prinzip unabhängig ist von der Befruchtung der Eizelle selbst (vgl. E. v. Tsehermak,). 


62 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 


zwischen einer erzwungenen abnormen Tätigkeit und der eventuell 
reaktiv verstärkten normalen Tätigkeit desselben Organs. 

Über den Ort, die Art und die Vermittlungsstoffe dieser Ein- 
flussnahme ist heute noch keine spezielle Aussage möglich. Ist 
doch beim Vogel auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass das 
Ovarıum das Pigment bezw. eine Vorstufe des Pigments für die 
Eischale liefert oder wenigstens irgendwie an der Pigmentbildung 
mitwirkt (Wiekmann 1893). Ob dabei ein direktes Eindringen 
von Spermatiden ın mütterliches Gewebe, speziell in die Schleim- 
haut des Eileiters, beim Vogel speziell in das Ovarialgewebe oder 
in die Kalkdrüse des sogen. Uterus in Betracht“ kommt, bleibe 
dahingestellt. Eine solehe Immigration oder Infektion’ der Mucosa- 
drüsengänge, der Mucosazellen und des submucösen' Bindegewebes 
ist bekanntlich von Kohlbrugge (1912) sowohl für das Haus- 
huhn als auch für Maus und Kaninchen angegeben, von anderer 
Seite jedoch bestritten worden. Sicher ist mit der Möglichkeit 
eines Eindringens des fremdrassigen oder fremdartigen Sperma- 
eiweiß ın gelöster Form und zwar mit einem Eindringen in die 
Uteruswand, speziell in die Elemente der Kalkdrüse, aber auch ın 
das Ovarialgewebe, weiterhin in die Blutbahn zu rechnen. So konnten 
Waldstein und Ekler (1913) das Auftreten spezifischer Abwehr- 
fermente im Sinne von Abderhalden gegen rasse- oder art- 
gleiches, nur individual- oder körperfremdes Spermaeiweiß ım Blute 
weiblicher Tiere nachweisen, welche vorher belegt worden waren. 
Die Vorstellung, dass gewisse Stoffe des Spermas eine intoxikative 
Umstimmung an den die Eischalenpigmentierung besorgenden An- 
teilen des weiblichen Genitalapparates bewirken, kann sich also be- 
reits auf eine Anzahl von Beobachtungen stützen, welche von ganz 
verschiedenen Gesichtspunkten aus unternommen wurden. Über den 
Träger der sozusagen toxischen Stoffe, sowie über deren Natur, 
dürften Versuche Aufklärung bringen, in denen Xenienwirkung an- 
gestrebt werden soll durch Einbringung von Spermatiden gleicher 
Art neben fremdartigem bezw. fremdrassigem Sperma, dessen Sperma- 
tıden entfernt oder sei es mechanisch, sei es aktinisch, durch ultra- 
violette oder durch Radıumstrahlungen, zerstört worden sind (von 
mir bereits 1912 geplant), oder neben Stoffen, die man aus dem 
fremdartigen bezw. fremdrassigen Sperma isoliert hat. 

(sewiss wird diese Vorstellung sowie die damit eröffnete weitere 
Perspektive, dass die Resorption gewisse Spermabestandteile, spe- 
zıell bei Rassen- oder Artverschiedenheit, aber vielleicht auch beı 
Rassen- oder Artgleichheit, also bloßer sexualer Typenverschieden- 
heit, eine Intoxikation des weiblichen Organismus und eine spezi- 
fische, ja korrespondierende Beeinflussung gewisser Funktionen des- 
selben hervorzurufen vermag, manchem etwas zu kompliziert und 
zu kühn erscheinen. Doch führen die mitgeteilten Beobachtungen 


Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 63 
fe) g ) 


über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung und über 
Nachdauer dieser Verfärbung ungezwungen zu jener Annahme, die 
sich bereits als Arbeitshypothese bewährt hat. Weitere Beobach- 
tungen werden über deren Zuverlässigkeit zu entscheiden haben. 


Zitierte Literatur, 


Curtis, Maynie R., A Biometrical Study of Egg-Production in the Domestic Fowl. 
IV. Factors influeneing the size, shape and physical constitution of eggs. 
Arch. f. Entw.-Mech. Bd. 39, S. 217—327, 1914. 

Holdefleiß, F., Versuche über Xenienbildung und Vererbungsgesetze bei der 
Kreuzung von Hühnern. Ber. a. d. physiol. Labor. und der Versuchsanstalt 
des landw. Inst. d. Univ. Halle. H. 20, 1—20. Hannover 1911. 

-—— Die Beziehungen zwischen der Pflanzen- und Tierzüchtung in ihren Arbeits- 
methoden und gemeinsamen Aufgaben im Anschluss an Vererbungsversuche 
mit Mais und Hühnern. 25. Flugschrift d. D. Ges. f. Züchtungskunde 1913. 

Kohlbrugge, J.H.F., Der Einfluss der Spermatozoiden auf den Uterus. Zeitschr. 
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— Die Verbreitung der Spermatozoiden im weiblichen Körper und im befruch- 
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Kutter, Betrachtungen über Systematik und Oologie vom Standpunkte der Selektions- 
theorie. 1. Teil. Cabanis’ Journal f. Ornithol. Bd. 25, S. 396-423, 1877; 
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en F. T., Die Farbe der Eier. D. Landw. Presse, 36. Jahrg., Nr. 27 

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ne W. v., Über die Hüllen, welche den Dotter des Vogeleies umgeben. 
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— Betrachtungen über die Selektionstheorie vom Standpunkte der Oologie. 
Cabanis’ Journ. f. Ornithol. 27. Jahrg., S. 225—261, spez. S. 238—239, 1879. 

Pearl, R., Studies on the physiology of reproduction in the domestic fowl. I. Regu- 
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Pearl, R. and Surface, Frank M., The nature of the stimulus which causes a 
shell to be formed on the bird’s egg. Rep. of the Maine Agric. Exp. Station 
1909. 

Seidlitz, G., Die Bildungsgesetze der Vogeleier in histologischer und genetischer 
Beziehung und das Transmutationsgesetz der Organismen. 58 S., spez. S: 26. 
Leipzig 1869, Engelmann. 

Tschermak, A. v., Einfluss der Bastardierung auf En Farbe und Zeichnung 
von Kanarieneiern. Umschau, 14. Jahrg., Nr. 39, S. 764—766 (24. Sept. 1910). 

— Über den Einfluss der Bastardierung auf Form, ae und Zeichnung von 
Kanarieneiern. Biol. Oentralbl. Bd. 30, Nr. 19, S. 641—646 (1. Okt. 1910). 

— Über ae von Kanarieneiern durch Bastardierung. Urania (Wien), 
5. Jahrg., Nr. 1, S. 2—4 (6. Januar 1912). 

— Über Veränderung der Form, Farbe und Zeichnung von Kanarieneiern durch 
Bastardierung. Pflüg. Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 148, S. 367—395, 1912 
(zugleich erschöpfende Literaturübersicht). 

Tschermak, E. v., Über den Einfluss der Bestäubung auf die Ausbildung der 
Fruchthüllen. Ber. d. D. Bot. Ges. Bd. 20, S. 7—16, 1902. 

Waldstein, E. und Ekler. R., Der Nachweis resorbierten Spermas im weiblichen 
Organismus. Wien. klin. Wochenschr. 26. Jahrg., H. 42, S. 1689-1692 
(Okt. 1913). 

Walther, Ad. R, Über den Einfluss der Rassenkreuzung auf Gewicht, Form, 
Glanz und Farbe der Hühnereier. Landw. Jahrb. Bd. 46, S. S9—104, 1914, 


’ 


64 Fruhwirth, Die Pflanzen der Feldwirtschaft. 


C. Fruwirth. Die Pflanzen der Feldwirtschaft. 


Gr. 8. VIII und 160 Seiten, mit 4 farbigen und 3 schwarzen Tafeln, 85 Abbild. 
im Text. Stuttgart 1913. Franck’sche Buchhandlung. 


Das im Rahmen eines populären Werkes (Die Pflanzen und 
der Mensch) als 2. Band erschienene Werk behandelt die für den 
Menschen wichtigsten Pflanzen der Feldwirtschaft. Nach einer 
kurzen geschichtlichen Übersicht über Ursprung und Wanderung 
der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen werden in einem zweiten 
Abschnitt die Getreide, die Hülsenfrüchte, die Hackfrüchte, die 
Handels- und die Futterpflanzen eingehend besprochen. In einem 
dritten Abschnitt wird erörtert, wie neue Formenkreise bei Kultur- 
pflanzen entstehen. Im vierten Abschnitt bespricht Verf. den Wert 
dieser Pflanzen für die Privat- und Weltwirtschaft. Ein Anhang 
endlich erörtert die Technik der landwirtschaftlichen Pflanzenkultur. 

RP. 


Remo Grandori. Risultati dei nuovi Studi Italiani 


sulla Filossera della Vite. 


Kl. Ss. XV und 256 Seiten. Mit 17 Tafeln und 1 Fig. im Text. Mailand 1914, 
Ulrico Hoepli. 


In Frankreich, wo die Verheerungen durch die von Amerika 
auf unbekanntem Wege eingeschleppten Phyloxera sich zuerst in 
erschreckendem Maße gezeigt hatten, waren schon zahlreiche Beob- 
achtungen über die Lebensgewohnheiten des Insektes angestellt 
worden, ohne jedoch alle Unsicherheit zu beseitigen. In Italien 
sind auf Anregung des Ministeriums der Landwirtschaft eingehende 
Studien über die Biologie der Phyloxera angestellt worden, durch 
Grassi und seine Schüler, deren Ergebnisse im Jahre 1912 ver- 
öffentlicht worden sind. Im vorliegenden Bändchen gibt der Verf., 
einer der Mitarbeiter Grassi’s, eine gedrängte Übersicht jener 
Studien in der Hoffnung, dass sie allen, welche an denselben ein 
Interesse haben, von Nutzen sein werde. P. 





anstalt für Wasserhygiene in bDerlin-Dahlem, Post: Berlin- 
Lichterfelde 3, Ehrenbergstrafse 38, 40, 42. 

Die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene hat mit der 
Abgabe von Nährgelatine, die für die Zwecke der bakteriologischen Wasser- 
untersuchung bestimmt ist, begonnen. Der Preis für je ein Reagensgläschen mit 
10 cem Nährgelatine (ausschließlich Verpackung) ist, den Selbstkosten der An- 
stalt entsprechend, auf 18 Pfg. festgesetzt. 

Eine Abgabe unter 10 Stück kann nur in Ausnahmefällen stattfinden; für 
größere Aufträge muß sich die Landesanstalt eine Lieferzeit von etwa 8 Tagen 
vorbehalten. 








Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr.'R: Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


ss von Georg Thieme in Leipzig. 


en Nase für 12 Hefte Bakazı >0 Mark 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik 

an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


Ba. xXXXY. 20. Februar N: R. 


Inhalt: Ann Die Überwintering von Form mica picea Bar andere ash Beobachtungen. —_ 
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Lacerta muralis- Gruppe. — 
IE ochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. — Kohlbrugge, War 
Darwin ein originelles Genie? — Abderhalden, Abwehrfermente, 






































Die Überwinterung von Formica picea und andere 
biologische Beobachtungen. 
Von W. Bönner S. J. (Charlottenlund, Dänemark). 
(Mit einer Tafel.) 

Die Woche nach Neujahr 1914 brachte zum ersten Male starken 
Frost ohne vorausgehenden Schneefall. Es war mir somit Gelegen- 
heit gegeben, die geplanten!) Untersuchungen betreffs der Über- 
winterung von Formica picea ın Angriff zu nehmen. Wenn diese 
Ameise überhaupt das Moor im Winter verließ, musste sie jetzt 
ausgewandert sein, überwinterte sie aber im Moor, so bot die ge- 
frorene Sphagnumdecke die einzige Möglichkeit, in dieser Jahres- 
zeit zu ihr vorzudringen. 

Am 10. Januar begann ich meine Untersuchungen. Es herrschte 
7°C Kälte. Nachts sank die Temperatur bis — 10°C. Auf den 
Straßen lag noch hier und da festgetretener Schnee vom Dezember; 
das Moor aber war schneefrei und die picea-Nester also leicht zu finden. 

Bevor ich die einzelnen Nester untersuchte, stellte ich fest, 
dass die Sphagnumdecke 12—15 cm tief gefroren war. Der Wasser- 
spiegel lag 17—20 cm tief. Die Demmereiln innerhalb des gefrorenen 
Sphagnums war Null. Die unmittelbar darunter esancı: unge- 


l) Siehe Formica fusca pieea, eine Moorameise. Biol. Centralbl., Heft 1, 1914. 
XXXV. 5 


66 Bönner, Die Überwinterung von Formica pricea etc. 


frorene Schicht sowie das Wasser zeigten + 2°C. Damit stimmen 
die Messungen J. Steenstrup’s?) überein, der mehrmals die Tem- 
peraturen unterhalb gefrorener Moorschichten gemessen hat und 
sie niemals unter + 2° © fand. 

Ich suchte die Ameisen zuerst ın der erwähnten ungefrorenen 
Moorschicht zwischen dem Wasserspiegel und der gefrorenen 
Sphagnumdecke. Die Untersuchung war leicht; ich brauchte die 
Nester nur ringsum loszuschneiden und abzuheben; aber ich suchte 
vergebens. Ich begann nun eines der größeren Nester freizulegen 
und seiner ganzen Ausdehnung nach in schmale Scheiben auseinander 
zu schneiden, die ich dann einzeln nach Ameisen und anderen In- 
sekten untersuchte. In einem der mittleren Gänge des ge- 
frorenen Nestes traf ich auf Ameisen (s. Fig. 1). Ungefähr 
100 Arbeiterinnen saßen dicht gedrängt um 2 Königinnen. Alle 
Wände des Ganges wie des ganzen Nestes waren weiß 
von auskristallisierten Eisnadeln und so hart, dass sie 
wie Glas zersplitterten. An den Ameisen waren die Exkre- 
mente und andere Eispartikel festgefroren. Die Bewohner des 
Nestes blieben trotz der Erhellung und obgleich ich die Nestteile 
eine Stunde weit transportierte, um sie zu Hause zu photographieren, 
an der gleichen Stelle sitzen. Sie waren aber keineswegs steif ge- 
froren oder auch nur erstarrt, sondern geschmeidig wie gewöhnlich. 
Nicht selten bewegten sie Beine oder Fühler. Im warmen Zimmer 
erholten sie sich nach einigen Stunden völlig und kletterten mit 
gewohnter Lebhaftigkeit im Beobachtungsnest umher. Im Moor 
untersuchte ich noch eine Anzahl Nester; in allen, die eine voll- 
ständige Durchsuchung gestatteten, fand ich die Ameisen in einem 
der Gänge eingefroren. Meist saßen sie etwas unterhalb oder in 
der Mitte des Nestes. Sie waren also bei der allmählich ein- 
dringenden Kälte nicht einmal in die tiefer liegenden Moorschichten, 
von denen die unterste sogar noch ungefroren war und +2° C 
zeigte, hinabgestiegen. Bei einigen besonders großen und alten 
Nestern war das Baumaterial so zusammengefroren, dass es mir 
mit dem Werkzeug, das ich bei mir führte, unmöglich war, die 
Masse zu zertrümmern. Nur in solchen Nestern fand ich die 
Ameisen nicht. 

Die Widerstandsfähigkeit von Formica picea gegenüber der 
Kälte erfährt eine interessante Erläuterung durch eine Beobachtung, 
die mein Freund J. Wolfisberg(Kopenhagen) machte. Er hatte ein 
Beobachtungsnest der Moorameise nach der von mir angegebenen Art 
und Weise eingerichtet und im Dachgarten seiner Wohnung frei aufge- 
stellt. Unverhofft eintretende Kälte ließ das ganze Nest zu einem 
Eisklumpen zusammenfrieren, der durch seine Ausdehnung das Glas 


2) Amtl. Bericht d. 24. Versammlung deutsch. Naturf. und Ärzte in Kiel 
1846, p. 135. 


Bönner, Die Überwinterung von Formica pieca ete. 67 


zertrümmerte. Er hielt das Nest für vernichtet und hieß es an Ort 
und Stelle liegen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Wie staunte 
er, als er nach einigen Wochen den aufgetauten Sphagnumklumpen 
in die Hand nahm und die Ameisen noch munter und unbeschädigt 
vorfand. Leider wissen wir nicht, wie die Ameisen sich in diesem 
Fall während des Frostes verhalten haben, aber es scheint mir nicht 
ausgeschlossen, dass Formica picea, wie es von anderen Tieren be- 
kannt ist, ein völliges Hartfrieren und Wiederauftauen überleben 
kann. Der Temperaturwechsel muss nur langsam vor sich gehen, 
wie es Ja unter den natürlichen Umständen auch der Fall ıst. Das 
Wasser findet dann Zeit, aus den Geweben auszukristallisieren 
bezw. wieder ın sie einzudringen, ohne sie zu zerstören. Selbst- 
verständlich dürfen die Ameisen ebensowenig wie die Tiere, bei 
denen man ein schadloses Hartfrieren nachgewiesen hat, völlig vom 
Wasser umgeben sein, da sonst der Druck, der durch dıe Gefrier- 
ausdehnung des Eises entsteht, den Organısmus zermalmt. Künst- 
liche Einfrierungsversuche, die ıch anstellte, blieben alle erfolglos; 
teils, weil es recht schwierig ist, eine genügend langsame Tempe- 
raturerniedrigung künstlich herzustellen, teils weil es nicht ausge- 
schlossen ıst, dass die Ameisen durch die benutzten Kältemischungen 
(Kohlensäure oder Äther) Schaden gelitten hatten. 

Im Anschluss daran möchte ich auf einige in botanischen Ar- 
beiten niedergelegte Beobachtungen über die Überwinterung von 
Ameisen hinweisen, auf die mich Prof. Eug. Warming aufmerk- 
sam machte. In den Salzmarschen der Nord- und Ostseeküsten 
findet man eine auffällig große Anzahl Ameisenhaufen, die wegen 
ihrer eigentümlichen Vegetation seit langem das Interesse der 
Botaniker auf sich gezogen haben. Über den Einfluss, den die 
Ameisen hier auf die Zusammensetzung der Flora ausüben, möchte 
ich im Zusammenhang an anderer Stelle berichten. An dieser Stelle 
solluns nur das Überwinterungs- oder genauer das Überschwemmungs- 
problenı dieser Ameisen beschäftigen, mit um so mehr Grund, als 
das UÜberschwemmungsproblem auch für Formica picea von Be- 
deutung ist, wie wir später sehen werden. 

Die Entstehung der Salzmarschen als eine Ablagerung des 
Meeresschlammes zur Zeit der Flut bedingt ihre geringe Höhe über 
dem Meeresspiegel. Die Folge davon ist, dass die Salzmarschen 
im Herbst und Frühling teilweise oder ganz für kürzere oder längere 
Zeit unter Wasser stehen. Oft ragen dann die 30—40 em hohen 
Haufen von Lasius flaruıs und Myrmica ruginodis mit ihrem obersten 
Teil über die Wasserfläche heraus, und hier oben hausen dann die 
Ameisen; oft aber steht auch der ganze Haufen unter Wasser, und 
dann leben die Ameisen in der Tiefe des Baues. Die Überschwem- 
mung der Ameisen ist auf Fanö von Warming°), auf Langeoog 


3) Dansk Planteväkst, Bd. 1, p- 254. Dort findet man auch die übrige Literatur. 


ı) 


65 Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 


von Buchenau, auf Amager von E. H. Ostenfeld und mir be- 
obachtet worden. Die Ameisen werden von den Fluten nicht ge- 
tötet. Diese Tatsache ıst in jedem Falle merkwürdig. Die Be- 
wohner von Langeoog erzählten Buchenau®), die gelben Ameisen 
(Lasius flarus) konstruierten ım Herbst eine etwa eigroße und sehr 
harte Hülle, in der sie den Winter überdauerten. Diese Hülle seı 
wasserdicht und bewahre die Tiere vor Berührung mit dem See- 
wasser. Buchenau bat ım November 1874 einen Bewohner von 
Langeoog um Zusendung einiger solcher Gebilde. Er erhielt nur 
das Stück eines Ameisennestes, aber absolut nichts, was einer Hülle, 
einem Gespinst oder dergl. entsprochen hätte. Die erdige Sand- 
masse, die man ihm zusandte, war von zahlreichen Gängen durch- 
setzt, in denen einige Ameisen umherliefen. In der Mitte befanden 
sich Höhlungen, ın welchen die Ameisen massenhaft beisammen 
waren; auch diese Tiere waren munter. Einige Höhlungen waren 
mit Puppen sehr verschiedener Entwickelungsstadien angefüllt. 
Soviel Buchenau’s Mitteilungen. Genaueres kann ich leider auch 
nicht angeben; ich wollte nur auf diese zerstreuten Beobachtungen 
hinweisen und kehre zu Formica picea zurück. 

Die gefrorenen Sphagnumnester ließen einen klaren Einblick 
in ihre Bauart gewinnen. Die weiße Sphagnumkuppel, die ich 
früher als Sonnendach bezeichnete, ıst äußerst leicht gebaut und 
hat kaum die Dicke eines Löschpapiers. Sie ist trocken, luftgefüllt 
und deshalb weiß; ıhr Zweck ist offenbar, vor direktem Sonnen- 
licht zu schützen und doch eine völlige Durchwärmung der obersten 
Nestkammer zu ermöglichen. Gegen direkte Bestrahlung ist pice« 
sehr empfindlich: und zwar sınd es die Wärmestrahlen, die sie ge- 
nieren, wie aus folgendem Versuch hervorgeht. Ein kleines Be- 
obachtungsnest, das 2 Königinnen und ein Dutzend Arbeiterinnen 
enthielt, wurde ca. 20cm unter den Kohlenspitzen einer elektrischen 
Bogenlampe von 500 Kerzen Lichtstärke aufgestellt, deren Strahlen 
noch durch eine Sammellinse konzentriert wurden. Bei Schluss des 
Lichtkreises musste das Lichtbündel unmittelbar auf die Ameisen- 
gruppe fallen ohne dass sie durch die geringste Erschütterung ge- 
stört worden wäre. Ich konnte somit die ausschließliche Wirkung 
der Belichtung studieren. Obgleich das Licht nach dem Ein- 
schalten mit blendender Fülle die Ameisen überflutete, so dass 
eine Beobachtung ohne Schutzbrille kaum möglich war, zeigten 
diese auch nicht mit dem geringsten Fühlerzucken eine Wahrneh- 
mung desLichtes; es war als ob sie blind wären. Nach 20—30 Se- 
kunden wurden die Fühlerbewegungen lebhafter zum Zeichen einer 
behaglichen Stimmung; nach 40 Sekunden wurden die Bewegungen 
unruhiger und hastiger und nach 50-60 Sekunden seit Einschalten 
des Strömes verließen alle ın eiliger Flucht, dıe Königinnen voran, 





4) Abh. Naturw. Vereins Bremen IV, p. 215, Nachtrag p. 276. 


Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieeq etc. 69 


den Lichtkreis. In den unbeleuchteten Nestteilen angelangt, waren 
sie bald wieder ruhig; einzelne, die sich beim Umherlaufen dem 
Lichtkreis näherten, fuhren plötzlich gleichsam von Schmerz durch- 
zuckt zurück, wenn sie mit einem Körperteil in den Lichtkreis ge- 
raten waren. Eine Anzahl, die nicht aus dem Lichtkreis entfliehen 
konnten, lagen bald mit zitternden Gliedmaßen verendend am Boden. 
Die Temperatur innerhalb des Lichtkreises war gegen Ende des 
Versuches auf 37° © gestiegen; die Flucht der Ameisen fand bei 
26—28°C statt. Bei einem weiteren Versuch, der den natürlichen 
Bedingungen besser entsprach, ließ ich das Licht aus ca. 15 cm Ent- 
fernung direkt auf die Sphagnumdecke eines Beobachtungsnestes 
fallen. Obgleich die Wärmewirkung das im Torf enthaltene Wasser 
zum Verdampfen brachte, wurden die Ameisen, die wenige Zenti- 
menter tiefer hausten, kaum gestört. Eine Anzahl Exemplare, die 
oben auf dem Sphagnum herumliefen, verhielten sich gegenüber 
der direkten Wärme ebenso, wie die Ameisen des ersten Versuches: 
sobald sie in den Lichtkreis gerieten, stürzten sie auf demselben 
Wege, auf dem sie hineingekommen waren, wieder hinaus. Im 
natürlichen Nest schützt das Sonnendach vor den direkten Wärme- 
strahlen; die Temperatur wird aber selbst in der obersten Kammer 
nicht unerträglich werden, da ja schon der Boden und die Wände 
dieser obersten Etage mit Wasser getränkt sind, das durch seine 
Verdunstung die Temperatur herabsetzt und durch die bekannte 
Kapillarwirkung des Sphagnumtorfes immer wieder ersetzt wird. 
Das Endresultat ıst also jene den Ameisen überaus angenehme 
feucht-warme Treibhausluft. So weit über die Nestkuppel. 

Die übrigen Wandungen des Nestes (s. Fig. 2 und 3) sind 
2—5 mm dick und bilden ein System von ziemlich deutlich etagen- 
förmig angeordneten Gängen. Nur in den unteren Partien findet 
man zuweilen größere Kammern. Als Stütze des Baues dienen 
vor allem die ungemein festen Oxycoccusstengel. Schon bei den 
Untersuchungen des Moores im vorigen Sommer war mir die 
Festigkeit besonders älterer Bauten aufgefallen. Sie sind bedeutend 
stärker als die umgebende Sphagnumdecke. Die kleinen Moos- 
partikel sind so eng zusammengepackt, dass das aus ihnen be- 
stehende Baumaterial härter und solider wird als der gepresste 
Torf, den man als Belag von Insektenkasten verwendet. Die Nester 
scheinen mir vielmehr ın das lebende Sphagnum hineingebaut als 
aus ıhm herausgegraben zu sein, in dem Sinne, dass die Ameisen 
Nestmaterial zum Bau zusammentragen und nicht aus ihm heraus- 
tragen. Auf das Hineintragen grüner Sphagnumspitzen werde ich 
später noch zu sprechen kommen. Nach Adlerz ®) sind die Nester 


5) Arkiv för Zoologi v. 8, p. 1, 1914. Formica fusca-picea Nyl., en torf- 
mossarnas myra. Diese Abhandlung ist auch an den übrigen Stellen gemeint, wenn 
nichts Besonderes angegeben ist. 


70 Bönner, Die Uberwinterung von Formiea picea ete. 


ausgegraben und das ausgegrabene Material zum Bau der Nest- 
kuppel verwandt worden. Jedoch übersteigt die Sphagnummasse, 
die innerhalb eines Nestes auf einem bestimmten Raum angehäuft 
ist, sicherlich die Sphagnummasse, die das Sphagnum selbstätig auf 
einem gleichgroßen Raum anhäuft. Dieser Unterschied ist wohl nur 
durch die Annahme erklärbar, dass die Ameisen Material zum Bau 
oder zu anderen Zwecken herbeitragen. Vielleicht ist es noch am 
besten, wenn man sagt, es handle sich weder um ein einfaches Aus- 
graben noch ein einfaches Aufbauen, sondern um ein Umbauen 
der lockeren Sphagnummasse zu einem festen Nest, wobei kaum 
ein Sphagnumblättchen auf seinem ursprünglichen Platz bleibt und 
auch neue Moosfragmente herbeigeschafft werden. 

Über die Entwickelungsstadien der Nester kann ich folgendes 
mitteilen. Mehrmals fand ich Nester an Stellen, wo jede Spur 
von einem Kuppelbau fehlte. Diese Nester waren sehr volkarm 
und hatten weder Larven noch Puppen. Ich vermute deshalb in 
diesen Nestern junge Niederlassungen; ganz unter den gleichen 
Umständen fand ich im Moor eine aus einem Dutzend Arbeiterinnen 
und einer toten Königin bestehende Myrmica laevinodis-Kolonie. 
Wenn die Nester Brut hatten, fand ich sie stets mit einer Kuppel 
überwölbt‘®). Durch diesen Bau gehen die Sphagnumpflanzen, so- 
weit sie nicht schon von den Ameisen abgebissen sind, zugrunde; 
Oxycoceus palustris, Eriophorum vaginatum, Empetrum nigrum 
und Calluna vulgaris, die für das Lyngbymoor charakteristisch sind, 
wachsen ungestört weiter und geben dem Bau einen Teil seiner 
Festigkeit. Indem diese Pflanzen die Kuppel allmählich überwuchern, 
entziehen sie sie den Blicken. Die alten, großen Nester werden 
deshalb gerade durch das Vorherrschen der genannten Phanero- 
gamen verraten. 

Formica picea scheint ıhre Wohnung sehr leicht zu verlegen. 
Alle Nester, die ich, wenn auch nur ganz oberflächlich, störte, fand 
ich stets beim nächsten Besuche verlassen. Dazu stimmt die An- 
gabe Sahlberg’s, er habe die gemischte Kolonie sangwuinea-picea 
nicht wiederfinden können; sie war wohl ausgewandert. Diese Eigen- 
tümlichkeit hängt bei picea vielleicht mit den anspruchslosen 
Forderungen zusammen, die sie an einen Wohnort stellt. An jeder 
Stelle der Sphagnumdecke findet sie sie vollauf befriedigt, und 
mit wenig Arbeit ist das Heim notdürftig hergestellt. Vielleicht 
gelten ähnliche Gesichtspunkte auch für andere Ameisen z. B. baut 
Tapinoma erraticum, die, wie der Name sagt, sehr häufig wechselt, 
ganz kunstlose und oberflächliche Nester in Erdhäufchen oder unter 
Steinen, während Lasius fuliginosus, der wohl am schwersten aus 
seinem Bau zu vertreiben ist, das kunstvollste Nest unter unseren 
einheimischen Ameisen verfertigt. Auch folgende Beobachtung 


6) Vgl. die unten angeführten Beobachtungen von Kuhlgatz. 


Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 1 


beweist noch, wie leicht picea auswandert. Eine ganze Anzahl von 
Nestern, die ich zu Hause untersucht hatte, wurden mit allem In- 
halt an einer feuchten Stelle zwischen Moos und Irisstengeln aus- 
geschüttet. Ich setzte noch einige Königinnen zu dem Haufen und 
sah dann, wie die Ameisen in den nächsten Tagen ein Nest 
einrichteten. Wochenlang konnte ich sie auf den lIrisblättern 
herumlaufen sehen. Seitdem ich aber das Nest geöffnet habe, um 
zu erfahren, wie sie sich den neuen Verhältnissen angepasst 
hatten, sind alle spurlos verschwunden. Es handelte sich um 
mehrere tausend Ameisen. In diesem Falle lag aber die nächste 
Sumpfgegend wohl einen Kilometer entfernt. 

Ich fand die Nester mehrmals gegen den Wasserspiegel hin 
durch eine 1—2 em dicke Schicht aus Sphagnumfragmenten ab- 
gegrenzt; besonders war das bei alten Nestern der Fall. Nach 
Adlerz’ Beobachtungen setzten sich die Gänge des Nestes unter 
dem Wasserspiegel fort, ja die Ameisen suchten sogar auf der 
Flucht vor dem Verfolger unter dem Wasser ıhr Versteck, wo sie 
sich noch festbissen, um nıcht ın die Höhe getrieben zu werden. 
Nach einigen Minuten kamen sie dann wieder zum Vorschein und 
versteckten sich ın Nestteilen über dem Wasserspiegel. Adlerz 
vermutet, es liege hier eine ziemlich weit fortgeschrittene An- 
passung an das feuchte Element vor. In dieser Ansicht wurde er 
bestärkt durch einige einfache Versuche. Von fünf picea nämlıch, 
die er 24 Stunden unter Wasser setzte, bestanden zwei die Wasser- 
probe, indem eine völlig gesund, die andere nur mit einem kleinen 
Rest von Leben davonkam. Ich wiederholte das Experiment mit 
picea. Nach 24 Stunden entnahm ich die Ameisen dem Wasser; 
nach weiteren 24 Stunden waren alle wieder zum normalen Leben 
zurückgekehrt, so dass ich sie wieder zu ihren Kameraden ins Be- 
obachtungsnest setzen konnte. Um zu entscheiden, ob es sich 
wirklich um eine Anpassung ans Wasserleben handelt, die Formica 
picea eigentümlich ist, machte ich einen Gegenversuch mit Lasius 
flavus, die ich aus ihrem Winterquartier ausgrub. Ich ließ ihnen 
im warmen Zimmer Zeit, sich etwas zu erholen und unterwarf dann 
ebenfalls fünf Exemplare dem Versuch. Nach 10 Stunden Aufent- 
halt unter Wasser entnahm ich zwei dem Gefäß; 3 Stunden später 
waren sie wieder völlig munter. Die drei übrigen blieben 20 Stunden 
unter Wasser, wo ein Sieb den Auftrieb verhinderte. Abends be- 
befreite ich sie aus ihrem feuchten Gefängnis; am folgenden Morgen 
liefen auch sie umher ohne ein Zeichen irgendwelcher Beschädigung. 
Einen Tag später fand ich zwar alle fünf tot, wahrscheimlich aber 
nur, weil ich vergessen hatte, sie aus einem kleinen, fest ver- 
schlossenen, trockenen Glasröhrchen herauszunehmen. Wegen 
Mangel an Versuchsmaterial kann ich augenblicklich nicht ent- 
scheiden, inwieweit diese Beobachtungen von anderen Ameisen 


m Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 


gelten”); sicher aber kann man diese Tatsache kaum als einen 
Grund für eine besondere Anpassung von Formica picea ans 
Wasserleben anführen. Höchst interessant wäre es, wenn sıch die 
freiwillige Flucht unter das Wasser bei Formica picea bestätigte. 
Jedoch glaube ich, dass bis jetzt noch eine einfachere Erklärung 
möglich ist. Das Benehmen der Ameisen, die im Beobachtungs- 
nest unter das Wasser gerieten, machte mich stutzig. Da diese 
Nester einige CGentimeter hoch mit Wasser gefüllt sind, ist es sehr 
leicht, Ameisen, die sich ın den untersten Gängen des Nestes be- 
finden, unter das Wasser zu bringen: man braucht das Glas nur 
schief zu halten. Bei diesen Versuchen beobachtete ich, wie die 
betreffenden Ameisen in sichtbarer Unruhe und ohne jede 
Orientierung in Nestteilen, die ihnen völlig bekannt 
waren, umherirrten. Den Körper dicht an die Unterlage ge- 
presst, um nicht durch den Auftrieb des Wassers losgerissen zu 
werden, krochen sie, mit den Fühlern unruhig umhertastend, lang- 
sam durch die Gänge, um oft, wenn sie dieht unter dem Wasser- 
spiegel angelangt waren, wieder ins tiefere Wasser zurückzukehren. 
Nach 2—3 Minuten verloren sie das Bewusstsem. Der Mangel an 
Orientierung lässt sich durch das Versagen der topochemischen 
Wahrnehmungsorgane der Ameisen erklären, die unter Wasser 
ihren Zweck wohl nicht mehr erfüllen können. Liefen die Ameisen 
nach Adlerz’ Beobachtungen dennoch ins Wasser, so möchte ich 
dafür die „kopflose Angst“ verantwortlich machen. Nach einer 
brieflichen Mitteilung glaubt Adlerz, dass er die Nester zufällig 
bei sehr hohem Wasserstand getroffen habe, und dass deshalb das 
Wasser in die unteren Nestgänge eingedrungen sei. Es ist nicht 
einmal notwendig, dıes anzunehmen, um zu erklären, weshalb ein- 
zelne Gänge unter den Wasserspiegel führten. Wenn man ım Moor 
vor einem Neste steht, um es zu untersuchen, so ist durch die Körper- 
schwere die ganze Sphagnumdecke im Umkreis von einem Meter 
5—10 em, wenn das Moor sehr schwankend ist noch mehr, herab- 
gedrückt. Infolgedessen werden die untersten Nestpartien leicht 
unter Wasser gesetzt. Wie dem aber auch sein mag, ich glaube, 
wir müssen annehmen, dass die Ameisennester im normalen Zu- 
stand völlig über dem Wasser liegen. Eine Ameise, die auf einem 
der untersten Gänge entflieht — und hierhin entfliehen die meisten 
— kann recht wohl, wenn der Gang zufällig unter Wasser steht, 
in dieses hingeraten und sich in dem Sphagnum festbeissen. Nach 


”) P. Wasmann teilt mir mit, dass Arbeiterinnen von Formica-Arten, die 
im Zuckerwasser des Fütterungsapparates seiner Beobachtungsnester ertrunken waren 
und viele Stunden oder selbst einen Tag darin gelegen hatten, wieder zum Leben 
kamen, wenn sie in reines Wasser gelegt, damit die Stigmen nicht zukleben, und 
dann langsam getrocknet wurden. Königinnen von Monomorium Pharaonis kamen 
sogar nach 3 Tagen wieder zum Leben, nachdem sie unterdessen im Wasser gelegen 
hatten. 


Bönner, Die UÜberwinterunge von Formiea picea etc. 3 
s (x 


einiger Zeit wird sie Bemühungen machen aus dem Wasser heraus- 
zukommen, und wenn ihr das gelingt, möchte ich es eher einen 
Zufall nennen. Welche von beiden Erklärungen die richtige ıst 
möchte ich aber noch nicht entscheiden. 

Die bei Formica picea zuerst gefundenen und beschriebenen 
Moornester sind für diese Ameise nicht charakteristisch, da sie 
weder stets noch ausschließlich bei ihr gefunden werden. [Dies 
bestätigt auch eine, während der stark verzögerten Drucklegung 
dieser Arbeit erschienene Notiz von Forel. Er fand Formica picea 
in den Torfmooren von Boche bei Yvorne. Die Ameisen bauten 
hier ähnlich wie die r«fa-Arten. Auf dem Korrekturbogen bei- 
gefügt.] 

Am 25. Februar fand ich eine große Anzahl der Birken, die 
das Lynbymoor bewachsen, abgehauen. Durch die zahlreichen 
30—50 em hohen Strünke, die zurückgeblieben waren, wurde ıch 
auf die morschen Birkenstrünke aufmerksam, die von früheren Ab- 
holzungen herstammten. Ich begann sie zu untersuchen, und 
gleich der erste, den ich mit leichter Mühe abbrach, war ge- 
füllt mit Formica picea. In eigroßen, ovalen Räumen saßen Hun- 
derte von Arbeiterinnen mit einigen Königinnen. Die Ameisen 
waren noch in der Winterruhe und verhielten sich ziemlich ruhig. 
Die Kammern waren anscheinend von Käferlarven ausgehöhlt und 
von den Ameisen erweitert; einige engere Gänge waren nämlich 
noch mit Holzmehl angefüllt, wie man es als Arbeit von Käfer- 
larven findet. Die von Ameisen bewohnten Kammern konnte man 
leicht erkennen; ihre Wände waren von einer schwarzen Farbe 
durchdrungen, die mehrere Millimeter tief ins Holz eingedrungen 
war, während die Kammern, die nicht von Ameisen benutzt wurden, 
die natürlich weißen Wände zeigten. Dieser Aufenthaltsort war 
von außen um so schwieriger zu erkennen, als alle Ausgänge des 
Nestes unten im Stamm innerhalb der Sphagnumschicht lagen, 
was wohl auf eine Beziehung der Ameisen zum Moore hindeutet. 
Unter der Rinde des gleichen Birkenstämmchens lebte eine Kolonie 
Leptothorax acervorum, die kleine Larven enthielt. Es war eine 
sehr kleine Form mit spärlicher Behaarung, ganz ähnlich Nylan- 
ders Lept. muscorum, die ja für die alten Birkenstämme in Hoch- 
mooren charakteristisch ist. Von drei weiteren Stämmen, die ich 
untersuchte, war wieder einer von picea bewohnt. 

Die Mn ornehter sind um so weniger für pecea eigentümlich, 
als sie auch bei anderen Ameisen ln lar worden sind; sie 
scheinen ein allgemeinerer mes pus der Ameisen an das 
Moorleben zu sein und bilden einen neuen Beweis für die große 
Anpassungsfähigkeit der psychischen Begabungen der Ameisen. 
Aus Sahlberg’s Schilderung des sangwinea-picea-Nestes konnte 
man das nicht schließen, da der Nesttypus sich häufig nach der 


‚) 


Ta Bönner, Die UÜberwinterung von Formica picea ete. 


Sklavenart richtet. Anders liegt es bei Kuhlgatz’ °) Beobachtungen, 
dessen Beschreibung ich wörtlich anführen will: „Auf einem anderen 
(srasbult entdecke ich zwischen aufragenden Halmen einen 
eigentümlichen Kuppelbau. Die nähere Betrachtung seines 
Details mit Hilfe der Lupe zeigt, dass der Bau aus winzigen 
Rudimenten von Sphagnummoos besteht. Ich nehme eine 
Skizze und trage dann die Kuppel vorsichtig ab. Sofort sehe ich 
auch hier wieder die Knotenameise (Myrmica scabrinodis) hausen. 
Die Kuppel dient den Tieren zur Pflege ihrer Brut. Eier, Larven 
und Puppen bedürfen zu ihrer Entwicklung viel Wärme und 
Sonnenschein. Aber die hohen Halme des Bultes beschatten zu 
sehr. So bauen die Ameisen sich ein Türmchen zur Sommerkur 
für ihre Nachkommenschaft. Bei bedecktem Himmel und Regen- 
wetter tragen sie sie wieder hinunter. — In manchen Grasbulten, 
die ich sonst noch öffnete, fand ich andere Ameisenarten, in den 
Bulten überhaupt ein reiches Tierleben. Die Bulte sind als Trocken- 
inseln in der feuchten Sphagnummatte für viele Kleintiere Wohn- 
und Entwickelungsstätte. Man kann sıe als Zentren auffassen, aus 
denen immer wieder neues Leben ın das Moor ausgeht.“ Augen- 
scheinlich haben wir es hier mit dem gleichen Nesttypus zu tun, 
wie er von picea beschrieben ist. 

Auch die Mitteilungen Kuhlgatz’ über „andere Ameisen“ ım 
Moore verdienen Interesse. Die Zahl der Ameisen nämlich, die 
ın ziemlich feuchter Umgebung oder gar ım Moor gefunden wurden, 
ist gar nicht gering. Adlerz teilt sie nach der größeren oder ge- 
ringeren Gesetzmäßigkeit, mit der sie ın Sumpfgegenden auftreten, 
in mehrere Gruppen ein. 

Gruppe 1 bilden jene, die nur ausnahmsweise auf feuchtem 
Boden getroffen werden; wahrscheinlich wurden die Weibchen nach 
dem Paarungsflug dorthin verschlagen, es gelang ıhnen aber, sich 
allein oder mit fremder Hilfe in den neuen Verhältnissen zurecht 
zu finden. Hierhin gehören nach Adlerz: Formica sangwinea, 
Form. fusca, Camponotus herculeaneus, Lasius niger, Leptothorax 
acervorum und Harpagoxenus sublaevis. Für sangwinea sind diese 
Angaben durch Sahlberg und vielleicht auch durch Bondroit 
bestätigt. Nach mündlicher Mitteilung fand Mag. Henriksen 
Formica fusca und Lasius mixtus in einem Sphagnummoore. Im 
gleichen Moor fand er ın quartären Schichten Tetramorium caespi- 
fım und Myrmica scabrinodis, welch letztere Adlerz aber der fol- 
genden Gruppe zuteilt. Ich selbst fand, wie oben schon gesagt, 
ebenfalls Leptothorax acervorum und außerdem ZLasius niger ım Moor. 

(sruppe 2 umfasst nach A dlerz Formica exsecta, Myrmica scabri- 
nodis, ruginodis und laevinodis, man findet sie nach ıhm zwar auf 

S) 32. Bericht des Westpreußischen Botanisch-Zoologischen Vereins. Danzig 
1910, p. 80. 


Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieea etc. 75 


trockenem Boden, jedoch meistens und am zahlreichsten in Sümpfen 
und feuchten Örtlichkeiten. Für ruginodis, laevinodis und exsecta 
ist das bekannt, für scabrinodis jedoch überraschend, da ihr bisher 
immer eine Vorliebe für trockene, ja dürre und sandige Stellen zu- 
geschrieben wurde. Doch fanden Kuhlgatz und Henrichsen 
sie ebenfalls ın Mooren. 

Gruppe3 bildet Formica sueeica Adl., die ausschließlich in der 
Nähe von Sümpfen oder wenigstens von Wasser vorkommt, jedoch 
keine besondere Anpassung erkennen läßt. 

Gruppe 4 stellt Formica picea, die sich „anscheinend vollständig 
für das Leben ım Hochmoor angepasst hat, in dem ich sie bisher 
nur angetroffen habe“ (Adlerz). 

Diese letzte Bemerkung von Adlerz gibt mir Gelegenheit, etwas 
auf die Verbreitung von Form. picea einzugehen. Die Vermutung, 
dass bei manchen in der Literatur angeführten Fundorten für 
gagates eine Verwechslung mit pzcea vorliegt, hat in den meisten 
Fällen eine Bestätigung gefunden. Für England war eine Revision 
der Angaben Saunder’s bereits von Donisthorpe°) im vorigen 
Jahre durchgeführt. Von ıhm und anderen wurde picea unter 
gleichen Umständen im New Forest gefunden. Adlerz !%) publi- 
zierte gleichzeitig mit mir und unter demselben Titel eine Arbeit 
über pzcea, die große Übereinstimmung mit der meinigen zeigt. 
Er fand die Ameisen in Sphagnummooren des mittleren Schweden 
bei Borgsjö, Liden und Alnö. Nach einer brieflichen Mitteilung 
beziehen sich seine früheren Augaben über yagates bei Kongsvold 
in Norwegen auf Formica picea. Dagegen sind die Ameisen, 
die er auf Öland fand und als gagates bezeichnete, keine 
picea, sondern müssen als eine gagates-ähnliche fusca-Form ange- 
sehen werden wie die fasco-gagates-Varietät, dıe Forel aufstellte. 
Adlerz fand diese Ameisen auch nicht ın Mooren, sondern auf 


trockenem Boden. Im nördlichen Osteobottnien — nebenbei be- 
merkt wohl dem nördlichsten Fundort für Ameisen, fast unter dem 
Polarkreis! — wo Nylander picea schon gefunden hatte, hat sie 


neuerdings Räsänen!!) wiedergefunden, aber als gagates bestimmt. 
Die Vermutung, die Emery 1909 aussprach, nämlich dass pice«a 
wohl bis nach Ostasien und China verbreitet sei, hat eine interes- 
sante Bestätigung gefunden, indem Forel!?) unter dem Material, 
das ihm von der Insel Formosa zugesandt wurde, eine Varietät von 
Formica picea fand, der er den Namen v. formosae gab. Dieser 
Fundort ist auch insofern auffällig, als dıe Fauna der Insel haupt- 


9) The Entomologist’s Record v. 25 p. 67—68, Myrmecophilous notes for 1912, 

10) 1. ec. oben S. 69 Anm. 5. 

11) Meddelanden af:Soc. pro Fauna et Flora fennica v. 38 p. 52 (finnisch mit 
schwedischem Resume). 

12) Arch. für Naturgeschichte v. 79, 1913, Heft 6, p. 201. 


76 Bönner, Die Überwinterung von Formica picea etc. 


sächlich malaischen Charakter trägt, picea v. formosae also (mit 
einigen anderen Arten) als ein paläarktischer Überläufer zu be- 
trachten ist. Leider fehlen noch biologische Angaben, so dass wir 
nicht wissen, ob diese Varietät auch an Moore gebunden ist. 

Zum Schlusse möchte ich noch die Aufmerksamkeit auf einige 
Punkte lenken, über die ich keine Klarheit gewinnen konnte. Ad- 
lerz fand in dem Sphagnummaterial der picea-Nester Pilzhyphen, 
die nach seiner Ansicht zur Festigkeit des Baues beitragen oder 
auch den Ameisen zur Nahrung dienen können und deshalb viel- 
leicht von ihnen kultiviert werden, wie es von anderen Ameisen 
bekannt ist. Ähnliche oder sogar die gleichen Pilzbildungen waren 
mir auch aufgefallen. Ich hielt sie für die bei den Ericaceen, Empe- 
traceen und vielen Humusbewohnern häufigen Mykorrhizabildungen, 
und Genaueres habe ich auch bis jetzt noch nıcht feststellen können. 

In Nestern, die ich ım Moor untersuchte, fand ich mehrmals 
grüne Stengelspitzen von Sphagnum, die eben abgerissen zu sein 
schienen, an Stellen, wohin sie unmöglich von selbst kommen 
konnten. Ganz das gleiche beobachtete ich in künstlichen Nestern 
Ich kann das nur durch die Annahme erklären, dass die Ameisen 
diese Moosfragmente losgerissen und ins Nest geschleppt hatten; 
jedoch habe ich nie eine Ameise solch einen frischen Sphagnum- 
teil tragen gesehen. Vielleicht steht diese Beobachtung in Be- 
ziehung zu den Pilzhyphen. 

Ähnlich ging es mir mit einem eigentümlichen Dimorphismus der 
Arbeiterinnen von Formica picea. Bei Untersuchungen der Nester 
in der freien Natur fielen mir die zwei Typen zuerst als hellere 
und dunklere Exemplare auf, die ungefähr ın gleicher Anzahl 
vorhanden waren. Da es Januar war, konnten es schwerlich un- 
ausgefärbte Exemplare sein. Im Beobachtungsnest sah ich dann, 
dass die hellen, fast grauen Individuen meist 1—2 mm größer 
waren als die tiefschwarzen; der Hinterleib war unverhält- 
nısmäßig größer. Zu diesen morphologischen Unterschieden 
lernte ich biologische kennen. Die großen Individuen sitzen mei- 
stens im Innern des Nestes in Klumpen zusammen, die kleinen 
Individuen sind oben auf dem Neste oder ordnen das Nest. Bei 
Störung des Nestes fliehen die großen Exemplare nach unten, die 
kleinen stürzen zur Verteidigung heraus. Dies fiel mir besonders auf, 
als ich einmal das Nest unvorsichtig öffnete und mir die Ameisen 
wütend entgegen kamen. Ehe ich geschlossen hatte, waren 26 
herausgelaufen, ich fing sie ein; es waren alles kleine schwarze 
Exemplare, was unmöglich Zufall sein konnte. Der letzte Umstand 
erklärt auch, warum einem beim Öffnen eines Nestes in freier 
Natur zuerst nur die kleinen schwarzen auffallen, so dass man sie 
auf den ersten Blick mit großen Lasius niger verwechseln kann, 
wie ich früher schrieb. Wahrscheinlich haben wir es hier mit einer 


Biologisches Centralblatt 1915. Taf. 1. 











Eisal® 
Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchgeschnitten (?/,). Rechts etwas unter der 
Mitte die Ameisen. 





Fig.2. Fig: 3. 
Stück aus dem Innern eines Nestes von Das gleiche Stück wie Fig. 2, aber von 
F. picea. Von oben gesehen. (Etwas vergrößert.) der Seite gesehen. (Etwas vergrößert.) 


27 


er 





Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. er 


gynäkoiden Arbeiterform zu tun, wie sie Wasmann!*) schon 
bei Formica sangwinea, Formica rufibarbis und Polyergus rufescens 
beobachtet hat. Auch dort bildeten sie die obere Grenze der Ar- 
beitergröße, waren heller und fielen durch die Größe des Hinter- 
leibes auf. Merkwürdig scheint mir nur ihre große Anzahl; sie 
bilden — wenigstens in dem Beobachtungsnest, mit dem ich augen- 
blicklich arbeite —, gut die Hälfte der Arbeiterinnen. Auch konnte 
ich bisher nicht entscheiden, ob die vorhandenen zahlreichen Eier 
von den Königinnen allein oder auch von ihnen stammen. Das 
alles wird sich aber leicht durch Experimente klarstellen lassen. 
Adlerz bemerkte auch, dass die Arbeiterinnen, die ın den tieferen 
Teilen des Baues waren, einen auffallend stark angeschwollenen 
Hinterleib hatten, der die helleren Ligamente der Hinterleibsringe 
deutlich durchscheinen ließ. Er benutzt diese Tatsache zur Stütze 
seiner Hypothese, dass die Ameisen von den erwähnten Pilzhyphen, 
die sich vor allem ın den unteren Teilen des Nestes finden, leben. 


Erklärung der Abbildungen. 
Fig. 1. Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchschnitten (?/,). Rechts 
etwas unter der Mitte die Ameisen. 
Fig. 2. Stück aus dem Inneren eines Nestes von F. picea. Von oben ge- 
sehen (etwas vergrößert). 
Fig. 3. Das gleiche Stück wie in Fig. 2, aber von der Seite gesehen (etwas 
vergrößert). a 
Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen 
aus der Lacerta muralis-Gruppe. 
Von Robert Mertens, Leipzig. 


Die im Jahre 1572 von Theodor Eimer entdeckte und als 
Lacerta muralis coerulea beschriebene Eidechse erregte sofort wegen 
ihres Farbenkleides größtes Interesse im Kreise der Zoologen. 
Während man zu der Zeit nur braune oder grüne Mauereidechsen 
kannte, war diese auf dem steilen (äußersten) Faraglionifelsen bei 
Capri beheimatete Eidechse von auffallend schwarzblauer Färbung. 
Nach und nach lernte man noch drei weitere schwarze (resp. schwarz- 
blaue) Formen der Mauereidechse kennen; alle sind sie Insel- 
bewohner. Außer der eben erwähnten ZLacerta coerulea Eimer 
(= faraglionensis Bedriaga) sind es noch die Lacerta lilfordi var. 
typica Günther von den Balearen, die Lacerta melissellensis Braun 
von einigen dalmatinischen Felseninseln (z. B. Melissello) und die 
Laeerta fülfolensis Bedriaga vom Filfolafelsen bei Malta. 

Es ıst klar, dass diese schwarzen Formen sofort Anlass zu 
vielen Untersuchungen gaben, um Grund und Ursache dieses merk- 


13) Biol. Centralbl. v. 15, 1895, p. 606; ferner: Ameisenarbeiterinnen als 
Ersatzköniginnen (Mitt. Schweizer Ent. Ges. XI, 1905, Heft 2), und Zur Kenntnis 
der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg III. Teil 1909. 


7s Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 


würdigen Melanismus zu erforschen. Allein keine einzige Hypothese 
konnte genügen. Inzucht, durch Isolation bedingt, konnte den 
Melanısmus nicht fördern, denn sonst wären auch die noch viel 
weiter im Meere gelegenen Gallifelsen von solchen schwarzblauen 
Tieren bevölkert; dortige Tiere sind nach Eimer und meinen per- 
sönlichen Erfahrungen grün, nur die Bauchseite zeigt einige Ver- 
dunkelung (statt weißgrau); auch die Bauchrandschilder sind größer 
und intensiver blau gefärbt. Das Klıma konnte auch nicht die Ur- 
sache des Melanismus sein, denn auf dem nur 150 m entfernten 
Capri, wo klimatische Verhältnisse doch die gleichen sein müssen, 
kommen nur grüne oder grünlichbraune muralis- oder richtiger serpa- 
Echsen vor. Dass den Eidechsen auf dem Faraglioni irgendwelche 
Nahrung zu Gebote steht, die den Melanısmus zur Folge hat, ist 
kaum anzunehmen, denn Eimer, der Arthropoden, die ja in erster 
Linie die Nahrung unserer Echsen darstellen, vom Faraglionifelsen 
bekam, erkannte darunter nichts Auffallendes. Andererseits kann 
auch einseitige Nahrung das Dunkelwerden nicht bedingen, denn 
sonst würden wir ın unseren Terrarien, wo viele Eidechsen meist 
auf einseitige Beköstigung mit Mehlwürmern angewiesen sind, schon 
längst solches wahrgenommen haben, Dass auch ferner, wie es 
Eimer annimmt, die Faraglionieidechsen durch ihre schwarze Fär- 
bung, Schatten und Risse auf hellem Gestein imitieren, d. h., es 
also sich hier um weiter nichts als eine Schutzfärbung handelt, 
braucht wohl nicht erwähnt zu werden, denn was für Feinde sollten 
die Eidechsen auf steilem, auch dem Menschen fast unzugänglichen 
Felsen haben? Eımer erwähnt die Möven, doch nie habe ich 
solche Echsen fangen sehen, da sie doch in erster Linie Fischfresser 
sind. Wenn aber auch wirklich die Eidechsen in den Möven einen 
schlimmen Feind hätten, so wären auch Echsen auf anderen Fara- 
glionifelsen ebenfalls schwarzblau. 

Das Problem wurde noch schwieriger, als man Lacerten vom 
Monacone und den Gallifelsen mit berücksichtigte. Hier sınd 
Eidechsen zu finden mit mehr oder weniger Andeutung an das 
Dunkelwerden der Färbung. Was konnte nun diese Schwarzfärbung 
bedingen? Auf ganz Capri treffen wir nur grüne und braune La- 
certen an, auf dem nur wenige Meter entfernten Felsen plötzlich 
dunkelschwarzblaue; auf anderen Felsen bei Capri finden wir, was 
um so merkwürdiger ist, wiederum gewöhnliche oder nur etwas 
dunkler gefärbte Formen. Nicht als ob es sich auf dem einen Fara- 
glionifelsen etwa um eine neue Art handelte — im Gegenteil, weder 
im Habitus, noch in Beschuppung oder Beschilderung finden wir 
eine Differenzierung von den gewöhnlichen Eidechsen. 

Das heisst nun aber, die Lösung dieses interessanten Problems 
muss auf einem anderen Wege versucht werden. Wenn wir uns 
nämlich die Schwarzfärbung der Faraglioniechse nicht sekundär, 


Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 19 


wie man es jetzt allgemein tut, sondern primär vorstellen, so müssen 
wir auch die relativ dunkleren Galli- und Monaconeechsen nicht als 
Formen auffassen, die ım Begriff sind, dunkler zu werden, sondern 
die einstmal dunkel waren und jetzt heller werden. Mit anderen 
Worten, dieses läuft darauf hinaus, dass vor Jahrtausenden ın 
Europa Eidechsen lebten, welche alle ähnlich wie die jetzige schwarz- 
blaue coerulea gefärbt waren. Was nun diese ursprüngliche Fär- 
bung bedingte, ıst ja schließlich Nebensache, doch bin ich der An- 
nahme, dass es das Bedürfnis sich zu sonnen war, das den überaus 
wärmeliebenden Lacerten die Schwarzfärbung verlieh, um die 
Sonnenstrahlen besser absorbieren zu können. Diese Einrichtung 
ist auch jetzt noch bei allen Lacerten durch die Schwarzfärbung 
der Mesenterien erhalten. Nun musste diese auffallende Schwarz- 
färbung der Oberseite den Eidechsen wohl für die Aufnahme der 
dem regeren Stoffwechsel notwendigen Wärme von großem Nutzen 
sein, konnte sie jedoch nicht ın genügendem Maße vor ihren Feinden 
schützen. Es bildete sich also nach und nach eine grünliche Fär- 
bung mit dunklerer netz- oder streifenartigen Zeichnung, die ja den 
Grasboden, Gestrüpp, Steine etc., auf dem die Eidechsen leben, im 
höchsten Maße nachahmt. Dieses ist nun die Färbung der jetzigen 
italienischen Lacerten. Noch zu der Zeit, wo alle Eidechsen dunkel 
gefärbt waren, musste der Faraglionifelsen, der früher zweifellos 
mit Caprı ın Verbindung stand, sich losgelöst haben und den 
schwarzen Lacerten, die dort absolut keine Feinde haben können 
und darum auch keine Änderung in der Färbung erfuhren, blieb 
nun ihr Urkleid erhalten. Bemerken möchte ich auch, dass dieser 
Felsen durch seine Steilheit fast ganz unzugänglich ist. Dass auch 
Eidechsen dort beim Anblick des Menschen sich gänzlich furchtlos 
verhalten, berichtet auch Eimer. Ich kann dasselbe aus eigener 
Erfahrung nach vielen in meinem Besitze befindlichen Tieren be- 
stätigen. Alle anderen Felsen, wie z. B. der Monacone und die 
Galliinseln werden von Fischern, die letzteren sogar regelmäßig 
von Wachteljägern besucht. In alter Zeit waren da auch Bauwerke 
errichtet, was jetzt die dort befindlichen Ruinen beweisen. Die 
Eidechsen, die auf diese Weise mit dem wenig tierfreundlichen 
Menschen bekannt geworden sind, sind jetzt im Begriffe, ihre Fär- 
bung zu ändern, also Schutzfärbung anzunehmen; d.h. heller zu 
werden. Auf den Galliinseln soll auch die Zornnatter (Zamenis 
gemonensis), bekannt als eine arge Eidechsenfeindin, vorkommen. 
Der blaue Axillarfleck sowie die blauen Seitenschilder wäre alles, 
was den jetzigen Lacerten von ihrem eimstmaligen Kleide erhalten 
blieb. Interessant ist noch die Frage, warum wohl die Faraglioni- 
echsen durchschnittlich größer werden als die Echsen vom Fest- 
lande. Mag der regere Stoffwechsel wegen der günstigeren Auf- 
nahme von Wärme, die die Dunkelfärbung zur Folge hat und die 


s0 Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 


Annahme, dass sie auf dem steilen Felsen ın ihrem Daseın voll- 
ständig ungestört höheres Alter erreichen mögen, diese Tatsache 
bedingen. 

Diese Ausführungen, die natürlich nur rein hypothetisch zu 
nehmen sind, werden sich wohl ohne weiteres nicht nur auf die 
Faraglioniechsen, sondern auch auf andere melanotische Inselformen 
beziehen lassen. Auch auf andere ZLacerta-Arten kann man diese 
Hypothese anwenden. So z. B. auf die Echsen der Lacerta ocellata- 
Gruppe, an die sich die Eidechsen der Kanarischen Insel anschließen. 
Es handelt sich hier um relativ große Tiere (Zacerta ocellata, pater, 
tangintana, galloti, simonyi), die untereinander ım Habitus ziemlich 
ähnlich sind. Hier finden wir auch die auf dem Festlande be- 
heimateten Lacerta ocellata, pater, tangintana durchaus grün; die 
die Kanaren bewohnenden galloti und sömonyi sind durchweg alle 
dunkel (schwärzlich) gefärbt. Doch auch diese letzteren sind stark 
im Aufhellen begriffen. Auch noch einer Eidechse unserer heimischen 
Fauna sei hier gedacht. Es ist dies die rätselhafte ZLacerta nigra, 
eine schwarze Varietät unserer Lacerta rivipara. Ich habe dieses, 
sowohl auf der Ober- als auch auf der Unterseite kohlschwarz ge- 
färbte Tier bei Oberhof (Thüringen) auf ziemlich trockenem Terrain 
fangen können. Man war der Meinung, dass Feuchtigkeit diese 
eigentümliche Schwarzfärbung verursacht. Nach unseren Aus- 
führungen können sıe nichts anderes als Relikte einer ursprüng- 
lichen Eidechsenfärbung darstellen. 

Wenn wir uns zum Schlusse noch den histologischen Verhält- 
nissen der Haut der Faraglionieidechsen zuwenden, so sei vor allem 
bemerkt, dass die schwarzblaue Farbe der Eidechsen nicht etwa 
durch ein blaues Pigment bedingt wird, sondern eine Lage von 
schwarzen Bindegewebszellen, über der sich noch eine Schicht farb- 
loser Epidermis befindet, die blaue Färbung in unseren Augen her- 
vorruft. Bei den grünen Eidechsen befindet sich dagegen zwischen 
der schwarzen und der farblosen Schicht noch eine Schicht von 
gelbem Pigment, die nun den Eindruck von grün bedingt!). Nun 
sehen wir auch hier, dass die histologischen Verhältnisse der Haut 
bei der Faraglioniechse viel einfacher, ursprünglicher sind Jals bei 
den grünen Echsen. So müssen wir denn bei den letzteren auch 
die Schicht der gelben Pigmentzellen als eine sekundäre Einlage- 
rung betrachten; erst diese bedingt die sogen. Schutzfärbung bei 
unseren jetzigen Echsen. Den Faraglioniechsen fehlt diese Lage 
der gelben Pigmentzellen noch, ihr schwarzblaues Kleid braucht 
diese Schutzeinrichtung nicht. 


Zusätze: 1. Die ın letzter Zeit vorgenommenen Untersuchungen 
von W. J. Schmidt haben gezeigt, dass bei den grün gefärbten 


1) Vel. Th. Eimer, Zoolog. Studien auf Capri 11. 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 51 


Eidechsen die grüne Farbe durch das Strukturblau der Guano- 
phoren und das darüber gelagerte Lipochromgelb erzeugt wird. 
Unter diesen beiden Schichten befinden sich noch die sogen. Melano- 
phoren, die aber am Zustandekommen des Grüns nicht beteiligt 
sind. Sie erzeugen die schwarze Zeichnung der Oberseite, indem 
an diesen Stellen die Guanophoren und das Lipochromgelb durch 
die Melanophoren gänzlich verdrängt werden. Bei den blauschwarzen 
Faraglioniechsen scheint in erster Linie der Lipochromfarbstoff zu 
fehlen, so dass an der Färbung nur die Guanophoren und die 
Melanophoren beteiligt sind. 

2. Es liegt mir natürlich fern, meine Hypothese über den Mela- 
nismus als Urfarbe der Lacertiden auch auf andere Tiere beziehen 
zu wollen. So sind wir z. B. ziemlich sicher, dass der Melanısmus 
bei gewissen Säugetieren (Nagetieren) als durchaus sekundär auf- 
zufassen ist. Der Verfasser. 


Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 
Von Oskar Prochnow in Berlin-Lichterfelde. 
(Mit 4 Figuren.) 


1: 
Die Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen. 


Alle Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen sind Be- 
wegungen durch Rückstoß und können in zwei Gruppen eingeteilt 
werden: 

1. in Bewegungen durch Rückstoß mit Beanspruchung des um- 
gebenden Mediums oder in Bewegungen durch Abstoßen von 
dem umgebenden Medium, 

2. in Bewegungen des ganzen Körpers infolge von beschleunigten 
oder gehemmten Bewegungen einzelner Teile des Körpers oder 
in Bewegungen durch Selbstrückstoß. 

Zu der ersten Gruppe von Bewegungen gehören das „Schlagen“ 
eines Gewehrs beim Abfeuern, ..die Bewegung der Turbinen, das 
aktive Schwimmen der Lebewesen im Wasser sowie der Flug der 
Vögel, alle Bewegungen der auf Rädern laufenden Maschinen und 
schließlich unser Gehen, Laufen und Springen, —- zu der zweiten 
Gruppe von Bewegungen gehören viele Regulierbewegungen bei 
lebhaften Bewegungen, unsere Hilfsbewegungen der Arme beim 
Springen, alle Rückdrehbewegungen des Ganzen, wenn ein Teil 
beschleunigt oder gehemmt wird in einer Drehung. Hierzu gehört 
auch die Drehbewegung beim Sprung der Ellateriden, unserer Schnell- 
käfer, wie ich im folgenden beweisen werde. 

De Gruppen von Eigenbewegungen mögen durch Beispiele näher beschrieben 
werden: 

1. Wie ist es möglich, dass wir gehen? — Allgemeiner: Welches sind 
die physikalischen Gründe, dass sich ein Körper durch eine in seinem Innern er- 


xXXXV. 6 


82 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 
zeugte Kraft relativ zu einem andern fortbewegt? Wenn wir sagen, wir kontrahieren 
die Muskeln auf der Streckseite eines Beines, so dass es gehoben wird, verlegen dadurch 
den Schwerpunkt des ganzen Körpers etwas nach vorn, lassen den Körper auf dieses 
Bein fallen, dann das andere durch die Gleichgewichtslage hindurch nach vorn pen- 
deln u. s. w., so haben wir dadurch die aufgeworfene Frage nicht physikalisch be- 
antwortet. 

Auf die Bedingungen eines Ereignisses werden wir am ehesten aufmerksam, 
wenn wir feststellen, wann es nicht eintritt. Ich frage daher: Unter welchen Be- 
dingungen können wir nicht oder doch nur sehr schwer gehen. Im Sande — wird 
man sagen. Der Grund dafür ist der, dass wir uns dort nicht so leicht von der 
Erde abstoßen können. Denn zu jeder Bewegung eines Körpers durch eigene Kraft 
relativ zu einer Unterlage ist eine träge Masse nötig, die durch ihren Trägheits- 
widerstand dem sich bewegenden Körper einen Stützpunkt bietet, von dem er sich 
abstoßen kann. Es ist — kinetisch betrachtet — beim Gehen des Menschen nicht 
anders als beim Abfeuern einer Kanone: wie die Pulverladung auf Geschoss und 
Geschütz einwirkt und die leichtere Kugel weit nach vorn, das schwerere Geschütz 
ein wenig nach hinten wirft, so wirkt die „Muskelentladung‘“ auf den Körper des 
Lebewesens wie auf die Erde ein, indem sie beide auseinander treibt, das Lebewesen 
um Schrittlänge nach vorn und die „unendlich“ viel schwerere Erde — ich rechnete 
einmal aus, dass die Erde 10° — 100000 Trillionen mal so viel wiegt wie ein er- 
wachsener Mensch — um einen unmessbar kleinen Betrag zurück. 

Eine andere Bedingung des Gehens ist die Reibung zwischen unserer Stütz- 
fläche und dem Boden; denn ohne Reibung können wir den Trägheitswiderstand 


der Erde nicht hervorrufen, so dass wir uns nicht von ihr — oder eigentlich sie von 
uns — abstoßen können. 

Es ist also beim Gehen wie beim Schwimmen, Fliegen u. s. w. derselbe 
Vorgang: 


Das Tier, das sich fortbewegen will, drückt mit Teilen seines Körpers gegen 
die Unterlage, die Luft, das Wasser, den Erdboden. Dadurch wird der Trägheits- 
widerstand des Mediums hervorgerufen, das sich nicht ohne Rückwirkung auf das 
Tier aus der Ruhelage herausbringen lässt. Darauf aber gerade ist es abgesehen ; 
denn der Rückstoß des Mediums ist es, der die Richtung hat, nach der „sich‘ das 
Tier bewegen will; er ist es, der das Tier während der ganzen Dauer des Stoßes 
entgegen seinen Bewegungen dorthin treibt, wohin es will. 

Alle Eigenbewegungen relativ zu einer Unterlage erfolgen also nach dem Prinzip 
von Aktion und Reaktion; das Tier führt eine Aktion aus und nutzt die dadurch 
hervorgerufene Reaktion. 

2. Welchen Nutzen haben unsere Armbewegungen beim Springen? 
— Beim Schlussprung in die Höhe schleudern wir die Arme im Augenblick des 
Absprungs ruckartig nach vorn und besonders nach oben und hemmen die Arm- 
bewegung möglichst plötzlich während des Sprunges selbst. Während des Ab- 
sprunges wird dadurch der Druck auf die Unterlage, z. B. das Sprungbrett, ver- 
stärkt, also auch der nutzbare Gegendruck der Unterlage auf den Körper. Während 
des Sprunges selbst wirkt die Hemmung der Armbewegung in demselben Sinne 
fördernd auf den Springer. Von der Tatsache dieses Antriebes überzeugt man sich 
leicht, wenn man, auf einem Stuhle sitzend, folgende Armbewegung ausführt: die 
Arme ungefähr gleichmäßig .beschleunigt hebt und sie dann möglichst kräftig an- 
hält; man wird an der Druckverminderung auf das Gesäß merken, dass dieses 
Bremsen der Bewegung des einen Körperteils den ganzen Körper nach oben treibt. 
Diese Wirkung erklärt sich auch durch den Rückstoß. Beschleunigen wir die Arm- 
bewegung, so wird auf den Körper eine entgegengesetzte Beschleunigung ausgeübt. 
So macht sich bei jeder Bewegung eines für diese Betrachtung vom umgebenden 
Medium unabhängigen Körpers eine entsprechende Gegenbewegung geltend. Es ist 
wie in dem obigen Beispiel vom Gehen auf der Erde: an die Stelle des die Erde 
durch seine Fußtritte von sich wegdrehenden Menschen ist der Arm getreten, an 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 83 


die Stelle der Erde und des Menschen auf ihr der Mensch allein. Wenn der Mensch 
sich durch seine einzelnen stoßartigen Fußtritte von der Erde abstößt, so dreht er 
sie in entgegengesetzter Richtung zu der, in der er sich bewegt; hemmt er dagegen 
plötzlich seinen Lauf, etwa dadurch, dass er den Fuß in den Boden einstemmt, so 
übt er damit ein dem ersten entgegengesetztes Drehmoment auf die Erde aus, dessen 
Wirkung also mit der Bewegung des Läüfers vor dem Hemmen des Laufs gleiche 
Richtung hat. Wie also jede Beschleunigung eines Körperteils dem ganzen Körper 
eine dieser Beschleunigung entgegengesetzt gerichtete Beschleunigung erteilt, so er- 
teilt jede Hemmung einer Eigenbewegung eines Körperteils dem ganzen Körper eine 
Beschleunigung in Richtung der Eigenbewegung des bewegten Körperteils. Ich be- 
zeichnete derartige Bewegungen oben als Bewegungen durch Selbstrückstoß. 

Um solche Bewegungen handelt es sich auch, wenn man in den dafür ge- 
eigneten Spreewaldkähnen hin und her läuft oder sich in den Knien hin und her 
wiegt oder in einem Rollsitzboot auf der Rollbahn hin und her fährt. Wenn man 
dabei die Beschleunigungen passend einrichtet, so kann man dem Kahn oder Boot 
— strömungsloses Wasser und Windstille vorausgesetzt — leicht eine dauernd fort- 
schreitende Bewegung nach der Seite des wirksameren Rückstoßes aufzwingen. Soll 
z. B. das Boot nach vorn fahren, so ziehe man den Körper, wenn er am Ende der 
Rollbahn nach der Spitze des Bootee zu angekommen ist, mit großer Kraft zu dem 
Stemmbrett heran und bremse diese Bewegung gegen das Ende langsam ab, dann 
gehe man langsam zurück und bremse diese nach der Spitze des Bootes gerichtete 
Körperbewegung zum Schluss stark ab. 

Auf einen Unterschied der Abstoßbewegungen von den Selbstrückstoßbewegungen 
soll noch hingewiesen werden: Während bei den Abstoßbewegungen auch konstante 
Geschwindigkeiten des sich bewegenden Körpers wirksam sind zur Erzielung von 
Rückstoßbewegungen, da ja dadurch in der Regel die Teilchen des umgebenden 
Mediums beschleunigt werden und infolgedessen eine Reaktion ausüben, kommen 
Selbstrückstoßbewegungen nur durch Geschwindigkeitsänderungen, also durch Be- 
schleunigungen oder Hemmungen zustande. 

Ich musste auf diese beiden Arten von Rückstoßbewegungen eingehen, weil 
die Schnellbewegung der Elateriden aus beiden zusammengesetzt ist. 


1. 


Kritik der bisher aufgestellten Erklärungen der Schnell- 
bewegung, insbesondere der zuletzt veröffentlichten Er- 
klärung Otto Thilo’s (Biolog. Centralblatt, Bd. XXXIV, Nr. 2 
S. 150—156). 

Soviel ich sehe, behaupten alle Autoren, dass Elateriden, die 
— was wegen der starken Wölbung der BauchSeite und flachen 
Wölbung der Rückenseite und der dadurch bedingten Schwerpunkts- 
lage in der Nähe der Rückenseite nicht selten geschieht — auf den 
Rücken gefallen sind, mit ihren kurzen Beinen den Boden nicht 
berühren, jedenfalls aber sich mit ihrer Hilfe nicht wieder auf- 
richten könnten, wenn sie in der Schnellbewegung nicht ein Mittel 
dazu hätten. 

Ich habe mehrmals gesehen, dass sie es doch vermögen, aller- 
dings scheint es ihnen mehr Mühe zu machen als das Empor- 
schnellen. Meist versuchen die Käfer dieses Mittel erst, wenn 
sie sich mehrmals emporgeschnellt und trotzdem — eben der 
Schwerpunktslage wegen — die normale Lage nicht erreicht haben; 

6* 


) 


S4 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


sie helfen dann auch wie andere Käfer durch Spreizen der 
Elytren nach. 

Das Instrument des Käfers für die von einem knipsenden Schall 
begleitete Schnellbewegung besteht im wesentlichen aus einem Dorn 
am Hinterrande des Prosternum und einer passenden Grube am 
Vorderrande des Mesosternum. 

H. Landois (1874) erklärt sich das Schnellen folgendermaßen: 

„Wenn das Tier auf dem Rücken liegt, biegt es die Vorder- 
brust rückwärts und bringt so den Dorn derselben aus der Höhle, 
in der er in der Ruhe belegen ist. Nun krümmt sich der Körper 
plötzlich nach der Bauchseite und dadurch schießt der Dorn wieder 
in die Grube und das Insekt stößt dabei mit dem Rücken des 
Thorax kräftig auf den Boden und wird durch diesen Stoß empor- 
geschnellt. Dieses Emporschnellen des Käfers ist mit einem knipsen- 
den Ton verbunden ... Der Dorn der Vorderbrust ist ziemlich 
lang und auf der Oberfläche, wie auch an der Spitze ziemlich stark 
behaart, weswegen der knipsende Ton nicht dadurch hervorgebracht 
werden kann, dass etwa die Spitze des Dorns auf den Grund der 
Höhle stieße. Bei größeren Elateren, etwa KHlater oculatus aus 
Illinois, sieht man auf der Unterseite des Dornes in einiger Ent- 
fernung von der Spitze desselben schon mit freien Augen einen 
erhabenen glatten Wulst. Dieser wird beim Emporschnellen des 
Käfers über den erhabenen Vorderrand der Grube gezwängt. Hat 
der Wulst den Rand passiert, so knipst es...“ („Tierstimmen*, S. 105). 

R. Hesse (1910) schreibt (in „Tierbau und Tierleben‘“ I, S. 212): 

». .. Der Käfer stemmt zum Schnellen den Dorn gegen den 
Vorderrand der Grube und lässt ihn unter starker Anspannung der 
Streckmuskulatur plötzlich abgleiten, wobei durch das Hineinfahren 
des Dorns in die Grube der knipsende Ton entsteht. Dabei ergibt 
sich ein heftiges Zusammenknicken des gebeugten Gelenkes, so dass 
der vorher konkave Teil der Rückenseite jetzt konvex vorspringt 
und gegen die Unterlage stößt; durch deren Rückstoß wird der 
Käfer ın die Höhe geschleudert. Da dieser Stoß aber nicht im 
Schwerpunkt angreift, sondern vor demselben, so wird das Tier in 
der Luft um die durch den Schwerpunkt gehende Querachse ge- 
dreht und kommt mit der Bauchseite nach unten herab.“ 

Otto Thilo (1914) bemängelt (im Biol. Centralblatt S. 150ff.) 
an diesen Beschreibungen und Deutungen mit Recht die Ungenauig- 
keit der Beobachtung und gibt eine andere Erklärung. Er weist 
zunächst darauf hin, dass die Krümmung des Rückens stets gering 
ist und insbesondere gering wird, wenn der Käfer seine Vorberei- 
tung zur Schnellbewegung — das Anstemmen des Dornendes gegen 
den Grubenrand — ausführt. Thilo meint daher, dass der Aus- 
gleich dieser Krümmung nicht ausreichen könne, um den Käfer so 
hoch zu schleudern, und sagt in den „Ergebnissen“: 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. s5 


„Der Sprungkäfer schleudert sich dadurch in die Höhe, dass 
er mit seinem Brustdorn gegen den zweiten Brustring schlägt. Der 
Dorn ist hierbei keine Sperrvorrichtung, sondern dient nur zur 
Führung und Sicherung der Bewegung.“ 

Diese Ansicht begründet Thilo nicht durch Versuche, sondern 
durch teilweise wenig geschickte Vergleiche mit anderen springenden 
Geräten, einer mit einem Schlagbügel versehenen Mäusefalle, die 
sich durch das Aufschlagen des Bügels auf das eine Ende in der 
Richtung der Bewegung des Bügels überschlägt, und durch Hin- 
weis auf das Klippholz oder Prellholz, das die Kinder über einen 
Stein legen und durch einen Schlag auf das eine Ende zum Über- 
schlagen über dieses Ende veranlassen. 

Nun sind jedoch die Ursachen des Überschlagens dieser beiden 
Geräte durchaus nicht dieselben. Das Prellholz der Kinder 
springt nach dem Gesetz vom zweiarmigen Hebel (Wurfhebel), die 
Mäusefalle und das Klippholz Thilo’s, das ja ım Prinzip nichts 


anderes ıst als eine Mäusefalle — die Maus müsste nur die 
Zündschnur durchfressen und dann schnell nach dem anderen 
Ende laufen — springt nach dem oben erläuterten Gesetz vom 


Selbstrückstoß. Das scheint Thilo übersehen zu haben; sonst 
würde er wohl nicht in der Wirkung des Schlages auf das eine 
Ende die Erklärung des Sprunges der Mäusefalle und der Elateriden 
gesehen haben. Ganz haltlos wird aber dieser Erklärungsversuch, 
wenn man bedenkt, dass, wenn der „Schlag“ auf das eine Ende 
des doch krummen Rückens der Elateriden die Schnellbewegung 
auslösen sollte, der Käfer sich in der Richtung über das getroffene 
Ende hinweg überschlagen müsste, also über den Kopf und nicht, 
wie Thilo und Hesse angeben, über den Hinterleib. 

So war ich denn, als ich Thilo’s Arbeit gelesen hatte (mit 
deren Ergebnissen er in der „Umschau“ einen größeren Leserkreis 
bekannt machte), davon überzeugt, dass diese fast jedem Kind be- 
kannte Erscheinung bisher noch keineswegs physikalisch einwand- 
frei erklärt ist und wurde in dieser Ansicht noch dadurch bestärkt, 
dass sogar die Richtung des Überschlags in den verschiedenen, auf 
biologische Verhältnisse überhaupt eingehenden Lehrbüchern nicht 
übereinstimmend angegeben wird: Hesse (a. a. ©.) gibt wie Thilo 
an, dass sich der Käfer über den Hinterleib überschlägt, Schmeil 
(Lehrbuch der Zoologie, 1912, S. 376), dass die Drehung um das 
Kopfende erfolgt. 

IM. 
Die Gestalt des Sprungorgans. 

Das Sprungorgan variiert in der Familie der Elateriden nicht 
unbeträchtlich. Übereinstimmend ist jedoch bei allen Arten der 
Dorn am Hinterrande des Prosternum und die dazu passende Grube 
am Vorderrande des Mesosternum. Der Dorn (Fig. 1 und 3) er- 


S6 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


scheint, von der Bauchseite aus gesehen, schwach konvex gekrümmt. 
Er trägt an der Unterseite, etwa um !/, bis !/, der Länge von der 
Spitze entfernt, einen Wulst. Dahinter ist die Unterseite kopf- 
wärts mehr oder minder deutlich gekielt. Die ganze Unterseite 


Fig. 1. 





Fig. 1. Schattenriss eines zum Absprung bereiten Schnellkäfers 
(Athous rufus Degeer). Der Wulst des Dorns ist gegen den Rand der 
Grube gepresst; das Pronotum berührt die Untterstützungsfläche nicht. 
Vergr. 4:1. 

Fig. 2. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von 
unten gesehen. 

D Dorn, @ Grube, ® Vorsprung am Hinterrande des Prosternum, 

9 Bremsgrube zur Aufnahme des Vorsprungs v, A hinterer seitlicher Vor- 
sprung des Hinterrandes des Prosternum, f Gelenkfurche zur Aufnahme 
des Vorsprunges h. Vergr. 5:1. 

Fig. 3. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von 
der Seite gesehen. Vergr. 7:1. 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet, S7 


des Dorns ist unbehaart und sehr glatt, die Spitze und die Ober- 
seite kurz behaart. 

Die Grube passt nicht bei allen Arten gleichgut für den Dorn. 
Ihre Öffnung ist ungefähr oval; hinten ist die Grube am tiefsten. 
Der Vorderrand springt etwas vor und zeigt in der Mitte einen 
Ausschnitt. In diesen passt der Kiel der Unterseite des Dorns 
hinein. Vom Vorderrande der Grube führt eine glatte, ein wenig 
gekrümmte Gleitbahn in die Tiefe der Grube. Darauf gleitet der 
Dorn bei der Schnellbewegung abwärts. Neben und unterhalb der 
Gleitbahn ist die Grube weniger glatt und z. T. schwach behaart. 

Das Gelenk für die Drehung des Prothorax wird von den 
Skeletteilen des Pro- und Mesonotum gebildet. Da der dorsale 
Einschnitt zwischen Pro- und Mesothorax ziemlich tief ist, so liegt 
der Drehpunkt nur wenig dorsal von der transversalen Median- 
ebene. Zu diesem Drehgelenk gehören auch die äußeren seitlichen, 
bei allen Arten mehr oder minder deutlich entwickelten Fortsätze 
des Prothorax, für die teilweise (z. B. Fig. 2 bei f) Gelenkfurchen 
am Vorderrande des Mesothorax entwickelt sind. 

Eine Skeletteigentümlichkeit ist bisher übersehen worden, die 
für die Wirkung des Sprungorgans von großer Bedeutung ist. 

Der Hinterrand des Prosternum springt jederseits vom Dorn 
(Fig. 2, D) etwa in der Mitte zwischen der Medianlinie und dem 
äußeren Rande jederseits in Gestalt einer Spitze (r) oder eines 
Bogens nach hinten zu vor. Diesem Vorsprunge entspricht am 
Vorderrande des Mesosternums eine Grube (g), in die die Spitze oder 
der Bogen hineinpasst. Ich habe sie in Fig.3 als Bremsgrube be- 
zeichnet. Ist der Dorn in die Grube (G@) hineingedrückt, so greifen 
auch diese Vorsprünge in ihre Gruben ein. 

IV. 
Versuche über das Springen der Schnellkäfer. 

1. In welcher Weise hängt der Sprung von der Ela- 
stizität der Unterlage ab? 

Ein und derselbe Elater sanguineus L., 16 mm lang, diente für 
alle Versuche als Versuchstier. Es wurde zunächst die Sprunghöhe 


gemessen. 
a) Auf Glas: Sprunghöhe: 
1. Versuch 7 cm 
% ” 8 E2] 
3. 3 _ ER 
b) Auf einer Aluminium- 
schachtel von 1 mm 
Wandstärke und 9 cm 
Durchmesser: F 
1. Versuch £ B7Z 
3 11 


+ 93 Te 


Ss Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


c) Aufeiner Pappschachtel 
von 1'/,mm Wandstärke, 
Größe 14 X 19cm: 


1. Versuch IR, 
2. 1 12.5, 
Bel, Iuzer 


d) Auf einem zusammen- 
gefalteten Taschentuche: 


1. Versuch Ele Am folgenden Tage richtete sich der 
2. % LICH: | Käfer auf dieser Unterlage in zwei 
3 r I, von drei Fällen mit den Beinen auf. 
e) Auf trockenem, feinem 
Sande: Sprunghöhe: 
1. Versuch 1!/,cm 
2. „ 1 „ 
Su, Se, 
f} Auf Watte: 
5; Versuch R 2 Der Käfer richtet sich mit Hilfe seiner 
i 2 2 Beine auf. 
u , 0 
g) Anf derselben Papp- 
schachtel wie oben (ec): 
1. Versuch 10: ,, 
2. „ 12 „ 
Bu lem, 


Alle Versuche wurden kurz hintereinander angestellt, der letzte 
Versuch zu dem Zwecke, um festzustellen, ob der Käfer schon er- 
müdet war. Eine Kontrollversuchsreihe am folgenden Tage zeigt 
bei anderer Anordnung der Versuche die gleichen oder nur ganz 
wenig davon abweichende Sprungleistungen. 

Wie zu erwarten war, zeigte sich eine direkte Abhängigkeit 
von dem Widerstand der Unterlage: der Sprung ıst höher, wenn 
die Unterlage aus nicht nachgebenden Teilen besteht, insbesondere, 
wenn die Unterlage federt. 

Die Sprungleistungen sind allerdings auf der Pappschachtel 
nur wenig höher als z. B. auf Glas. Am zweiten Versuchstage 
tritt dies noch deutlicher hervor. 

Da ergab sich auf Pappe, Aluminium Glas 
die Reihe der Sprunghöhen 10,12,10; 10,11,11; 10,10, 11 (cm). 

Den Haupteinfluss scheint daher die Elastizität des Chitins zu 

haben. 


2. Stößt sich der Käfer mit Prothorax und Elytren 
von der Unterlage ab? 

Wenn ein Schnellkäfer in der Rückenlage ist, berührt er mit 
dem Pronotum die Unterlage im allgemeinen nicht (Fig. 1). Ob 
dies beim Sprunge geschieht, untersuchte ich „durch folgende zwei 
Versuchsanordnungen. 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. Ss) 


Ich legte den Käfer mit einer Pinzette rücklings auf eine mit 
Ruß geschwärzte Glasplatte und ließ ihn springen. Dann haftet 
der Ruß von allen den Stellen an seinem Körper, die er vor oder 
beim Sprunge berührt. Auf diese Weise konnte ich nun feststellen, 
dass eine starke Berührung des Pronotum mit der Unterlage nicht 
nötig ist (vgl. Fig. 4, b). 


Fig. 4. 

Berührungsstellen ab- 
springender Elateriden mit 
einer berußten Glasplatte. 
(Nat. Gr. Phot.) a 

Hinten Berührungsstelle der 
Elytren, davor von Prothorax 
und Fühlern, seitlich von den 
Beinen. 

a und b von Elater sangui- 
neus L., e und d von Athous 
niger Redt. Bei a und d Be- 
rührung mit den Beinen, bei d 
vor dem Sprunge heftige ab- 
stoßende Beinbewegung. Bei c, 
besonders aber bei db nur ganz 
schwache Berührung des Protho- 
rax, möglicherweise nur von der 
Krümmung rückwärts und nicht 
vom Sprunge herrührend. 


b 





Den Beweis, dass eine solche Berührung überhaupt nicht statt- 
zufinden braucht, erbrachte folgender Versuch: 

Ich legte den Käfer mit einer Pinzette so auf den Rand einer 
Glasplatte oder eines Mikroskopierspatels oder eines etwa 1 cm 
breiten Blechstreifens, dass nur die Elytren aufliegen, das Pronotum 
aber über den Rand ganz hinausragt. Der Käfer trachtet zwar, 
sich durch Drehen oder vorzeitiges Abspringen zu befreien, doch 
gelingt der Versuch nach einiger Übung, so dass sich der Käfer 
kurze Zeit vor dem Sprunge in der gewünschten Lage befindet. Es 
zeigte sich, dass der Käfer auch aus dieser Lage abspringen kann — 
also ohne dass er das Sprunggelenk zum Abstoßen gebraucht. 

3. Nach welcher Richtung überschlägt sich der Käfer? 

Die Beantwortung dieser Frage ist für die Erklärung der Sprung- 
bewegung von großer Wichtigkeit. 

Die direkte Beobachtung ist sehr schwer, da die Gesamtdauer 
des Emporschnellens und Niederfallens !/, bis !/, Sekunde beträgt. 
Trotz angespanntester Aufmerksamkeit ist es nicht in allen Fällen 
möglich, mit Bestimmtheit zu sagen, ob das Überschlagen über den 
Kopf oder über den Hinterleib erfolgt. In allen Fällen, wo der 


90 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


Verfasser und die hinzugezogenen Beobachter mit Bestimmtheit 
sagen konnten, nach welcher Richtung die Drehbewegung erfolgte, 
lautete das Urteil: über den Hinterleib. Erstaunlich ist, dass der 
Käfer auch in diesen Fällen sehr häufig nach der Richtung zu 
niederfällt, wo vorher sein Kopf lag. 

Auch bei den Versuchen, wo der Käfer allein mit den Elytren 
auf einem Blechstreifen auflag, lautete das Urteil in allen Fällen, 
wo Bestimmtes gesagt werden konnte, dahin, dass die Drehung 
über die Hinterleibsspitze erfolgte. Trotzdem fiel der Käfer nach der 
Richtung von seiner Ausgangslage aus nieder, wohin der Kopf zeigte. 

Ohne Mühe kann man die Richtung der Drehbewegung fest- 
stellen, wenn man den Käfer auf feinem, trockenem Sande seine 
Sprünge ausführen lässt. Der Käfer kann sich dann nur ganz wenig 
erheben und die ganze Bewegung ist in den meisten Fällen nichts 
anderes als eine Drehung des Käfers um die Hinterleibsspitze aus 
der Rückenlage in die Bauchlage. 

Diese Versuche reichen zur Auflösung der Sprungbewegungen hin. 


V. 
Erklärung des Springens der Schnellkäfer. 


Wenn sich der Käfer emporschnellen will, bewegt er den Pro- 
thorax so lange auf und ab, bis der glatte Wulst auf der Unter- 
seite des Dorns gegen den Rand der Grube stößt. — Man kann 
dieses Anpassen in der Regel beobachten. Führt man am toten 
Käfer dieses Anpassen aus und zwängt dann den Dorn in die Grube, 
so hört man, wie schon Landois beobachtete, einen knipsenden 
Ton in dem Augenblick, wo der Wulst über den Rand der Grube 
gleitet. Es fällt in diesem Augenblick offenbar der gekielte proxi- 
male Teil des Dorns auf den gekerbten Rand der Grube. Dann 
gleitet der Dorn schnell in die Grube hinein. Die Bewegung wird 
durch das Anschlagen der Vorsprünge des Prosternum-Hinterrandes 
an die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrande und wohl auch 
durch das Auftreffen des Dornendes auf den Grund der Grube ab- 
gebremst. Dass der Grund der Grube schwächer chitinisiert ist als 
die Gleitbahn, lässt darauf schließen, dass das Abbremsen der Be- 
wegung an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung ist. Zu 
Thilo’s Darstellung ist hier zu bemerken, dass der Dorn nicht fest 
in der Grube sitzt wie ein Säbel in seiner Scheide, sondern bei 
manchen Arten ziemlich großen Spielraum hat. Weiter scheint mir 
irrtümlich, dass die Haare zur Verminderung der Reibung dienen 
sollen. Sie vermehren zweifellos die Reibung und finden sich daher 
nur dort, wo Reibung nicht vorhanden oder bedeutungslos ist, z. B. 
auf der Oberseite des Dorns, der nicht fest in die Scheide passt. 

Die Versuche lassen zunächst darauf schließen, dass drei Be- 
wegungsursachen vorliegen: 


Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 91 


1. Der Selbstrückstoß durch Abbremsen der Prothoraxbewegung, 
der eine Drehung um die Hinterleibsspitze herbeiführt (Versuch 
auf Sand, vgl. IV), 

2. die Stoßwirkung des Abhremsens der Prothoraxbewegung, 
wodurch der Käfer wie ein Wurfhebel um den Unterstützungspunkt, 
also über den Kopf gedreht wird (Auffallen kopfwärts), 

3. die elastische Gegenkraft des Chitins und der Unterlage 
(Versuche über die Sprunghöhe). 

Zu erörtern bleibt noch, welchen Zweck der Wulst auf der 
Dornunterseite hat. 

Eine Bewegung löst das Hinweggleiten des Wulstes über den 
Grubenrand wohl nicht aus. Es könnte nur, während der Wulst 
auf den Grubenrand hinaufgleitet, wenn also seine Bewegung be- 
schleunigt ist, eine Selbstrückstoßbewegung eintreten, die der unter 
1. genannten entgegenwirkt; wenn der Wulst jedoch hinabgleitet 
von dem Grubenrande, müsste eine Stoßwirkung auftreten, die in 
demselben Sinne wirkt wie die Kraft, die unter 2. genannt ist. 
Diese Kraft scheint in der Tat nicht unbedeutend zu sein, denn 
der knipsende Ton, der offenbar von dem Aufprallen des Dorns 
auf die Gleitbahn herrührt, ist stets deutlich hörbar. Man könnte 
zwar meinen, dass das Abbremsen der Prothoraxbewegung von dem 
Geräusch begleitet ist; doch überzeugen Versuche am toten Tiere 
davon, dass es bereits „knipst“, wenn der Wulst über den Gruben- 
rand hinweggedrückt ist, ehe noch der Vorsprung die Bremsgrube 
berührt hat. 

Die Hauptbedeutung des Dornwulstes suche ich jedoch anderswo. 
Ich sehe sie darin, dass es dem Käfer so möglich wird, zunächst 
einen festen Halt zu finden und, wenn der Widerstand dann durch 
starke Muskelanspannung beseitigt ist, sehr schnell eine große Be- 
wegungsgeschwindigkeit zu erzielen, so dass beim Abbremsen dieser 
Geschwindigkeit eine große Selbstrückstoßkraft auftritt. 

Diese ist nämlich das stets Wirksame, auch wenn die Unter- 
lage für einen hohen Sprung keine Möglichkeit bietet. Die Wurf- 
hebelwirkung ist zweifellos unbedeutender. Denn der Käfer indi- 
vidualisiert den Sprung nicht; er müsste also, wenn die Wurfhebel- 
wirkung stark wirksam wäre, auch auf nachgiebiger Unterlage mehr 
oder minder senkrecht in die Höhe springen oder auf der Stelle 
liegen bleiben — indem sich die beiden entgegengesetzten Dreh- 
kräfte dann das Gleichgewicht hielten. 

Ist die Wurfhebelwirkung auf dieser nachgiebigen Unterlage 
nicht wirksam, so kann sie doch bei fester Unterlage in Erschei- 
nung treten. Denn die Drehwirkung wird sicher dadurch gehemmt, 
dass die Unterstützungsstelle dem Druck nachgibt. Dadurch erklärt 
sich teilweise das mehr oder minder senkrechte Emporschnellen 
sowie das häufige Auffallen kopfwärts. 


92 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 


Schließlich findet, wie auch die Photographie der Berührungs- 
stellen beweist, in manchen Fällen ein Abrollen der Elytren auf 
der Unterlage statt, so dass dabei auch ein Abstoßen der hinteren 
Teile der federnden Chitindecken eintritt, das offenbar das Ergebnis 
hat, dass der Körper einen Antrieb zum Sprung nach der Seite 
des Kopfes hin bekommt. 

Sehr wünschenswert wären gute kinematographische Aufnahmen 
der Schnellbewegung. 

Ergebnisse. 

1. Das Sprungorgan besteht erstens aus einer Vorrichtung zur 
Ermöglichung einer schnellen Drehbewegung des Prothorax und 
zweitens aus einer Vorrichtung zum Abbremsen der Bewegung. 

Zur Erzielung der schnellen Drehbewegung dient der Dorn des 
Prosternum, dessen an der Unterseite befindlicher Wulst gegen 
den Rand der Grube vorn am Mesosternum gepresst und dann nach 
Einsetzen des vollen Muskeldrucks darüber hinweggezwängt wird. 

Das Abbremsen dieser Bewegung geschieht wohl teilweise durch 
das Auftreffen des Dorns auf den Grubengrund, vorwiegend aber 
durch das Anstoßen der seitlichen inneren Vorsprünge des Prosternum- 
Hinterrandes gegen die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrand. 

2. Die Schnellkäfer können auch auf wenig festen Unterlagen 
ihre Sprünge ausführen, z. B. auf feinem, trockenem Sande. Dann 
besteht die Schnellbewegung in einer Drehung um das Hinterleibs- 
ende. Auf fester Unterlage spielt die Elastizität des Chitins eine 
größere Rolle als die der Unterlage. 

Die Drehung beim Sprunge scheint stets um das Hinterleibs- 
ende zu erfolgen, auch dann, wenn der Käfer, was sehr häufig ge- 
schieht, kopfwärts von der Absprungsstelle landet. 

3. Die Schnellkäfer brauchen beim Absprunge die Unterlage 
nur mit den Elytren zu berühren. Die Elytren rollen sich dabei 
bisweilen bis zur ganzen Länge auf der Unterlage ab. 

4. Alle bisher aufgestellten Erklärungen der Schnellbewegung 
sınd falsch: 

Der Käfer stößt sich nicht mit dem Pronotum und den Elytren 
ab (z. B. Hesse, Tierbau und Tierleben I, S. 212); er springt 
ebenso gut, wenn nur die Elytren aufliegen. 

Er schleudert sich auch nicht durch die Schlagwirkung auf den 
Vorderrand des Mesosternums in die Höhe (Thilo, Biol. Oentralbl., 
1914, S. 150ff.), denn dann müsste die Drehung wegen der Wurf- 
hebelwirkung über den Kopf erfolgen. Die Schlagwirkung ist nur 
eine Teilursache. 

5. Beim Schnellen wirken folgende Bewegungsursachen: 

a) Der Selbstrückstoß infolge der Hemmung der Drehbewegung 

des Prothorax, der die Drehung über das Ende des Abdomens 
bedingt, 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 93 


b) der Schlag des Dorns auf die Gleitbahn nach dem Hinüber- 
gleiten des Wulstes über den Grubenrand und der Brems- 
schlag der mittleren seitlichen Chitinvorsprünge hinten am 
Prosternum gegen die Bremsgruben vorn am Mesosternum 
als Ursachen einer Wurfhebeldrehung des Käfers um die 
Unterstützungsstelle der Elytren als Drehstelle, wodurch 
die Drehbewegung um das Ende des Abdomens abgeschwächt 
und der Druck auf die Unterlage verstärkt wird, 

c) die Federkraft des Chitins infolge des Drucks auf die Unter- 
lage und der Abrollung der Elytren auf der Unterstützungs- 
fläche. 

Der Selbstrückstoß und die Wurfhebelwirkung wirken einander 
entgegen und pressen, wenn beide wirksam sind, den Käfer gegen 
die Unterlage. Auf nachgiebiger Unterlage gibt die Unterstützungs- 
stelle dem Druck nach und die Wurfhebelwirkung kommt nicht 
zur Geltung. Dann bleibt nur die Drehung des Selbstrückstoßes 
übrig, die den Käfer über die Spitze des Abdomens dreht. Das 
Auffallen in der Richtung des Kopfes von der Absprungstelle aus 
scheint dadurch bedingt zu sein, dass die sich auf der Unter- 
stützungsfläche abrollenden Elytren auf den Käfer abstoßend ein- 
wirken. Dass die Drehung anscheinend stets über die Spitze des 
Abdomens erfolgt, lässt auf die vorherrschende Wirkung des Selbst- 
rückstoßes infolge der Hemmung der Drehbewegung des Prothorax 
schließen. 


War Darwin ein originelles Genie? 
Von J. H. F. Kohlbrugge, Utrecht. 

Wie dachte Darwin selbst über seine Originalität? 

Am schärfsten sprach er sich darüber wohl in den folgenden 
Worten aus: “I was forestalled!) in only one important point, 
which my vanity has always made me regret.” Alles andere, was 
er in seinen Werken in bezug auf die Deszendenztheorie gebracht 
hatte, war also von ihm entdeckt, von ihm geschaffen worden! 

Ähnlich klingen die folgenden Worte, die auf das Ganze zielen: 
“It has?) some times been said, that the success of the origin proved 
‘that the subject was in the air’, or ‘that men’s minds were prepared 
for it’. I do not think this is strietly true, for I occasionly 
sounded not a few naturalists and never happened to come across 
a single one, who seemed to doubt about the permanence of 
species”. 


1) Bei Erwähnung von Forbes’ Erklärung der Arktischen und Hochgebirgs- 
Fauna und Flora durch die Eisperioden. Life and letters. Vol. I, p. 71, New 
York 1887. 

2) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol, 1, p. 71, New 
York 1887. 


94 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


Ungefähr dasselbe äußerte er in der ersten Auflage seiner 
Origin of species (p. 481). “Why, it may be asked, have all the 
most eminent living naturalists and geologists rejected this view 
of the mutability of species”. Auf S.6 lesen wir “The view which 
most naturalists entertain that each species has been independently 
created.” 

Wir sehen also, dass Darwın glaubte, dass er nahezu alle 
wichtigen Beweise (alle bis auf einen) oder Erklärungen zu seiner 
Deszendenzlehre selbst und selbständig gefunden habe. Dass er 
allein stehe in seiner Auffassung der Variabilität der Organismen, 
dass die übrige Welt noch versunken sei in der Schöpfungslehre 
und dass er demnach durch seine selbstgefundenen Auffassungen 
und Erklärungen gegen diese Welt in die Schranken trat und sie 
überwand. 

Darwin hielt sich selbst also für ein durchaus schöpferisches 
Genie! 

Diese Selbsteinschätzung wurde z. B. durch Mantegazza be- 
stätigt?). 

Darwin & un creatore: „anch’ egli dopo vent’annı di osser- 
vazıone e dı meditazione disse nel mondo delle forme vive: Sıa 
la luce, e anch’egli morendo nelle supreme ore della sua serena 
agonia, poteva, guardandosi indietro, compiacersi di s& stesso et dell’ 
opera sua. E. Darwin vide che la luce era buona.“ 

Diesen Worten nach dürfte man Darwin also mit den Worten 
des alten Kirchenliedes: „Veni creator spiritus“ begrüßen. 

Ich habe nicht weiter nach derartigen Äußerungen in der 
Darwinistischen Literatur gesucht, aber nach Radl?), der sie gut 
kennt, tragen die Darwinisten die Sache stets so vor, als ob der 
Darwinismus eine absolute, von der Zeit unabhängige, durch seinen 
genialen Kopf entdeckte Wahrheit sei; als ob alle Forscher vor 
Darwin an direkte Erschaffung jeder Spezies glaubten. Erst 
Darwin habe die historische, kausale Methode und das exakte 
Denken in die Naturwissenschaften eingeführt, welche denn auch 
durch ihn, da er sie aus den theologischen und teleologischen Fesseln 
befreite, zur Wissenschaft wurde. Da wir nun keinen Grund haben, 
dieses alles gläubig anzunehmen, so wollen wir zunächst einmal 
untersuchen, ob wirklich die Variabilität der Organismen zu Dar- 
win’s Zeit eine unbekannte oder von allen verurteilte Lehre war. 
Es könnte doch sein, dass Darwin seine Zeitgenossen und die 
Literatur nicht kannte, um so mehr, da er ja von sich selbst be- 
zeugte: “During my whole life I have been singularly incapable of 





3) Archivio per l’ antropologia e etnologia. Firenze 1905, p. 311. 
4) E. Radl. Geschichte der biologischen Theorien. T. IT, Leipzig 1905, 
S. 113, 273, 554. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 95 
mastering any language?°).” Sein Urteil beruhte also vielleicht nur 
auf seinen Erfahrungen, die er durch Gespräche mit einigen seiner 
Landsleute machte. Von diesen schrieb H. Hauff: „Nur in Eng- 
land klebt noch ein Teil der Naturforscher hartnäckig an dem Buch- 
staben der Schrift, was wohl daher rührt, dass so viele Lehrer der 
Naturgeschichte Geistliche der bischöflichen Kirche sind,“ was 
Judd bestätigt!‘) 

Zuvor muss ich noch einem zuweilen gemachten Einwand be- 
gegnen, dass zumal der induktiv arbeitende Forscher, der zahllose 
neue Tatsachen ans Licht bringt, die Literatur vernachlässigen 
dürfe, wenn ihn diese bei seinen originellen Untersuchungen auf- 
halte. Ich gebe gerne zu, dass diese Auffassung eine gewisse Be- 
rechtigung für sich hat, so lange wenigstens, wie solch ein Forscher 
sich auch kein Urteil erlaubt über die Literatur, über die Auf- 
fassung seiner Zeitgenossen oder über die Geschichte seiner Wissen- 
schaft. Oben sahen wir aber, dass Darwin sich wohl erlaubte, 
seine Zeitgenossen und den Zeitgeist zu beurteilen. Dann muss 
man aber auch von ıhm fordern, dass er beide kannte. Kannte er 
sie nicht und erlaubte er sich trotzdem ein Urteil, so fehlte es ıhm 
an wissenschaftlichem Ernst! 

Zwar hat Darwin sein berühmtes Buch anfangs ohne jede 
historische Einleitung erscheinen lassen, wodurch er ganz besonders 
den Eindruck erweckte, dass seine Tat, seine Theorie’), eine origi- 
nelle, neugeschaffene sei. Später jedoch zunächst in der ersten 
deutschen Auflage und dann ın der amerikanischen Auflage brachte 
er eine historische Einleitung und zwar auf Antrieb Bronn’s°). 
Obgleich diese Einleitung äußerst oberflächlich und kurz gehalten 
ist, so ist es doch immerhin eine historische Einleitung. Einerseits 
gibt uns diese nun das Recht, von ihm zu fordern, dass er die 
Geschichte, über die er schrieb, kannte, anderseits vernichtete er 
durch diese Einleitung die selbstbehauptete Originalität. 

Wir wollen uns nun zunächst unter Darwin’s Zeitgenossen 
von 1830— 1859 umsehen, ob unter ıhnen namhafte Forscher sich 


5) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol. I, p. 29, New 
York 1887. 

6) H.Hauff. Vermischte Schriften. Bd.I. Skizzen aus dem Leben und der 
Natur. Stuttgart und Tübingen 1840, S.202. J.W.Judd. The coming of evolution, 
1910, p. 25 schrieb “Uniformitarianism and Plutonisme were looked upon, with 
aversion and horror as subversive of religion and morality.” Coneybeare, Sedg- 
wick, Buckland, Whewell, Henslow waren Geistliche. Judd, ]. c. schrieb 
weiter in bezug auf England (p. 1). “At the beginning of the century the few who 
ventured to entertain evolutionary ideas where regarded by their scientific contem- 
poraries, as wild visionairies, or harmless ‘cranks’, by the world at large as ignorant 
‘quacks’ or ‘designing atheists” (vgl. auch Judd S. 61). 

7) Er selbst schrieb oft “my theory”. So auf S. 206, 280, 302, 463, 465 der 
ersten Auflage. Darüber handelt auch Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246. 

8) Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246. 


I6 


finden lassen, die die Variabilität der Organısmen lehrten. 
finden dann die folgenden Autoritäten. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


ich selbst gelesen habe. 


I# 
2. 
3. 


4. 
. Omalius d’Halloy 


Qu 


Wilbrand 1830. 
Matthew 1831. 

E. Geoffroy St. Hilaire 
1831. 

Aug. de St. Hilaire 1831. 
1831, 
1846. 


. Nodier 1832. 

. Leuckart 1832. 

. de la Beche 1833. 

. von Baer 1834, 1859. 
Grant 1834. 

. Poiteau 1834. 

. Heer 1834, 1855, 1858. 

. Schubert 1835, 1839, 1852. 
. Ehrenberg 1835, 1838. 

. Rossmässler 1835, 


1847, 
1856. 


. Rafinesque 1836. 

. Schopenhauer 1836, 1850, 
. Reichenbach 1837. 

. Herbert 1837. 

. Oken 1837. 
Dutreichet 1837. 

. von Berg 1837, 1843. 
. Bucher de Pertes 1838. 
. Burdach 1838, 1840. 
. Spring 1838, 1853. 
liıttre 1838 

.v. Martius 1839. 

. Wimmer 1839. 

. Meunier 1839. 

. Carpenter 1839, 1841. 
. Wetter 1839. 
00121839. 

. Kehlau 1840, 

. Hauff 1840. 

. Illgen 1840. 

. Perty 1841, 1846. 

. Moritzi 1842. 

. Landbeck 1842. 

. Balsac 1842, 1848. 


40. 
41. 
. Hooker 1844, 1853, 1859. 
. Lindley 1844. 

. Chambers 1844, 1853 etc. 
. Pietet 1844,°1853. 

. Vogt 1845, 1847. 

. Wimmer 1846. 

. Fraas 1847. 

. Gerard 1847. 

. Cotta 1848. 

. Cockburn 1849. 

. Martin 1849. 

. Schleiden 1850, 1852. 

. Braun 1851, 1859. 

. Reichenbach 1851. 

. Freke 1851. 

. Kützing 1851, 1856. 
>Bronns18hr 

. Donders 1851. 

. Naudın 1852, 1858. 

. Quenstedt 1852. 

. Unger 1852. 

. Eschricht 1852. 

. Spencer 1852. 

. Schaaffhausen 1853. 

. Brehm 1853. 

. Baumgärtner 1853. 1855. 
. Carus 1853. 

. Keyserling 1853. 

. Mac Gregor 1853. 

. Nägelıi 1853, 1859. 

. Lecocq 1854. 

. Schultz - Schultzenstein 


Wır 
Ich gebe nur solche, die 


Haldeman 1843. 
Regel 1843. 


1854. 


. Baden Powell 1855. 
. de ÖCandole 1855. 

. Büchner 1855. 

. Laugel 1856. 

. Müller 1856. 

. Burmeister 1856. 

. Serres 1857. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 07 


81. Jaeger 1857. 85. Maury 1859. 
82. Virchow 1858. 86. Hudson Tuttle 1859. 
83. Wallace 1858. 87. Hooker 1859. 


84. Huxley 1859. 


Diese 87 Namen von Zeitgenossen, die sich durch weiteres 
Nachforschen wohl werden vermehren lassen, zeigen in unwider- 
leglicher Weise, dass Darwın die Literatur nicht kannte und dem- 
nach den Zeitgeist nicht beurteilen konnte. Dann war es allerdings 
leicht, sich selbst zu suggerieren, dass er ein origineller Schöpfer 
sel. Dieses Namenverzeichnis beweist weiter, dass Darwın sich 
die nutzlose Aufgabe zuerteilte um offene Türen einzurennen, als 
er schrieb: „Mag ich mich auch geirrt haben ... indem ich die 
Tragweite der natürlichen Zuchtwahl überschätzte .... trotzdem 
glaube ich wenigstens dadurch etwas Gutes gestiftet zu haben, dass 
ich das Dogma von einzelnen Schöpfungen umgestoßen habe“). 
Oder wir müssen annehmen, dass Darwın für die ganz speziellen 
damaligen englischen Verhältnisse schrieb, die aber, wie die oben 
gebrachten englischen und amerikanischen Namen beweisen, auch 
nicht ganz seiner Beschreibung des Zeitgeistes entsprachen, was er 
in seiner Einsamkeit auf Down wohl nicht erfahren hatte. Oder 
Darwin wollte sich vielleicht mit seinem Buche an die Theologen 
und das große Publikum wenden, die allerdings der Meinung waren, 
dass jede Spezies einzeln geschaffen worden sei? Gegen letztere 
Auffassung ıst aber einzuwenden, dass Darwin in den oben ge- 
gebenen Zitaten selbst immer von den „naturalist“ spricht, also 
von seinen Fachgenossen. Dann kannte er wohl nur einige der 
damaligen, heute längst vergessenen englischen Dozenten, während 
er die Literatur einfach nicht kannte. Um dies noch stärker hervor- 
treten zu lassen und weil Darwin in seiner später gegebenen histo- 
rischen Einleitung weit über die selbstdurchlebte Periode hinausgeht, 
so empfiehlt es sich, dass wır uns auch nach den Vertretern der Varia- 
bilität umsehen, die vor 1830 gelehrt haben. Dabei wollen wir die 
älteren Autoren, solche z. B., die Variabilität annahmen, weil sonst 
in der Arche Noah kein Raum für alle Tiere gewesen sei, außer 
acht lassen und ebenso die mittelalterlichen, oft recht phantastischen 
Anschauungen über Variabilität. Wir fangen darum erst mit dem 
18. Jahrhundert an. 


88. de Maillet 1715, 1748. 93. Buffon 1756, 1761. 
89. Marchant 1719. 94. Duhamel du Monceau 
90. Needham 1747, 1749. 1758: 
91. Baumann (Maupertuis) 95. Wolff 1759. 
1751. 96. Robinet 1761. 
92. Diderot 1754, 1769. 97. Bonnet 1764, 1769. 


9) Der englische Text folet unten auf S. 108. 
XXXV. 7 


98 
98. Duchesne 1766. 129. 
99. Maupertuis 1768. 130. 
100. Holbach (Mirabaud) 131. 
1710: 1323 
101. Kawersnief 1775. 133. 
105 Pallas 1777,.41780.31811.. 243% 
103. Zimmermann 1778. 135. 
104. Leske 1779. 136. 
105. Soulavie 1780. lauf 
106. Fabricius 1781, 1804. 138. 
107. Ealecone&r 1782. 139. 
108. Douglas 1785. 140. 
109. Forster 1786. 141. 
110: E. Darwin 1789, 1796. 142: 
ON ar 
112. Hunter 1794. 143. 
113.0 0-b anası 1.796,17797: 144. 
114. Deleuze 1800. 145. 
115. de Lazepede 1800. 146. 
116. Rodig 1801. 147. 
117. de Lamarck 1801, 1809. 148. 
118. Schelver 1802, 1812. 149. 
119. Playfair 1802. 150. 
120. Treviranus 1802. 
1217 Bertrand 3803. 
122. Gautierı 1806. 151 
1232 V.0181.1808,.1817, 1823. 152. 
124. Hagen 1808. 93} 
125. Philites 1809. 154. 
126. Bonellı 1809. 155. 
127. Meiners 1811. 156. 
128. Spix esilale 197 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


Fries 1814. 

Feburier 1815. 
Lawrence 1816. 
Doornik 1816. 
Lenhossek 1816. 
Schweigger 1818, 1820. 
Wells 1818. 

Tauscher 1818. 
Ballenstedt 1818. 
Poiret 1819, 1820. 

v. Schlottheim 1820. 
Agardh 1820. 

Link 1821. 

Pander, d’Alton 1821 bıs 
11825; 

Meckel 1821. 

Körte 1821, 1824. 
Nöggerath 1822. 
Herbert 1822, 1837. 
Gaede 1823. 

Hayn 1823. 

Stahl 1824: 

Bory St. Vincent (Dietion. 
de l’histoire naturelle) 1824 
bis 1830. 

Defrance 1824. 

v. Buch 1825. 

Grant 1826. 

Prichard 1826, 1834. 
Lyell 1827, 1836. 
Ritgen 1828. 

Kaup 1829. 


Zu diesen wären dann noch diejenigen zu fügen, welche nicht 
eine Variabilität durch äußere oder innere Einflüsse, sondern eine 
Entstehung neuer Spezies durch Kreuzung lehrten. Von diesen 
will ich hier nur die folgenden nennen. 


158. Linne 1743—1762. 163. Henschel 1820. 
159. Gmelin 1749—1760. 164. Knight 1821, 1823. 
160. Koelreuter 1761, 1764. 165. Sageret 1830. 

161. Adanson 1763. 166... Eu vıSs91837. 


162. Ackermann 1812. 


Hier wären besonders noch manche Botaniker hinzuzufügen !°). 
10) Ältere Arbeiten finden sich z. B. noch bei J. Dryander: Catalogus 


bibliothecae historico-naturalis Josephi Banks. Londini 1797. T. III. Abteilung 
Transmutatio specierum. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 99 


Eine weitere kleine Reihe von Forschern, die Variabilität für eine 
bestimmte Gruppe lehrten, werde ich weiter unten bringen. 

Wir wissen nun, mit welchem Leichtsinn Darwin urteilte und 
ebenso Haeckel!!) als er schrieb: „Um die Bedeutung dieses 
doppelten Verdienstes richtig zu würdigen, muss man bedenken, 
dass fast die gesamte Biologie vor Darwin den entgegengesetzten 
Anschauungen huldigte und dass fast bei allen Zoologen und Bota- 
nikern die absolute Selbständigkeit der organischen Spezies als 
selbstverständliche Voraussetzung aller Form-Betrachtung galt. Das 
falsche Dogma von der Beständigkeit und unabhängigen Erschaffung 
der einzelnen Arten hatte eine so hohe Autorität und eine so allge- 
meine Geltung gewonnen, und wurde außerdem durch den trügen- 
den Augenschein bei oberflächlicher Betrachtung so sehr begünstigt, 
dass wahrlich kein geringer Grad von Mut, Kraft und Verstand 
dazu gehörte, sich reformatorisch dagegen zu erheben und das 
künstlich darauf errichtete Lehrgebäude zu zertrümmern.“ Wir 
wissen nun, wie wir über diesen Mut und das Zertrümmern zu 
denken haben!?). Auf diese trockenen Namenverzeichnisse, be- 
sonders auch weil ich diese einstweilen ohne den näheren Literatur- 
nachweis bringe”), mögen nun noch einige Zitate folgen, welche 
dasselbe beweisen wie die Namen. 

Wir haben oben bereits Hauff als Zeugen angeführt, dass 
man um 1840 auf dem Kontinent ziemlich allgemein an die Ver- 
änderlichkeit der Spezies glaubte. Gleiches lehrt uns die 1842 zu 
Erlangen erschienene Streitschrift!*) von G. F. Müller, welche diese 
Konstanz heftig verteidigt und nicht erschienen sein würde, wenn 
die Variabilität nicht viele Anhänger gehabt hätte. Deutlich sind 
auch die Worte von K. E. von Baer. „Es wäre!) geradezu un- 
möglich, alle Aussprüche von Naturforschern aufzuzählen, welche 
sich gegen die Konstanz der einzelnen Arten erklärt haben.“ Auch 


11) Schöpfungsgeschichte, 9. Aufl., S. 107. 

12) Man vergleiche damit die Worte von Dewar (D. Dewar u. F. Finn. 
The making of Species. London 1909, p. 6, 7): “We hear much of the “magnitude 
of the prejudices” which Darwin had to overcome, and of the mighty battle which 
Darwin and his lieutenant Huxley had to fight before the theory of the origin 
of species by natural selection obtained acceptancee. We venture to say that 
statements such as these are misleading. We think we may safely assert that 
scarcely ever has a theory which fundamentaly changed the prevailing scientific 
beliefs met with less opposition.” 

13) Ein Artikel wie dieser würde durch einen ausführlichen Literaturnachweis 
allzu große Dimensionen annehmen. Ich gedenke ihn später zu bringen, wenn die 
Verhältnisse die Herausgabe eines Buches „Die Geschichte der Evolution“ ge- 
statten. 

14) G. Fr. Müller. Die Entstehung des Menschengeschlechts. Erlangen 1842. 

15) K. E. v. Baer. Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften. 1876, 
P. 273. 

7* 


100 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ? 


Ehrenberg’s Schrift von 1852'%) wäre hier zu nennen, in der 
man auch (S. 1) diese Worte findet: „Die neueste Bewegung in 
den organischen Naturwissenschaften stellt alle Formbeständigkeit 
in Frage.“ Diese Bewegung hatte außer der Evolutionstheorie noch 
verschiedene Wurzeln. Wir nennen hier: 

Erstens aus den am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahr- 
hunderts sehr beliebten Untersuchungen über die Generatio spon- 
tanea und das Leben der niedrigsten Organismen. Diese hatten zu 
der Überzeugung geführt, dass wenigstens die niedrigen Organismen 
direkt ineinander übergehen können. Im 18. Jahrhundert ging diese 
Auffassung von Needham aus, der deshalb durch Voltaire scharf 
angegriffen wurde. Im 19. Jahrhundert war Agardh der Haupt- 
repräsentant dieser Richtung, an den sich die meisten anderen 
anschlossen. Die mir bekannt gewordenen Forscher, welche die 
niederen Formen ineinander übergehen ließen, bringt das nach- 
folgende Verzeichnis. 


167. Needham 1747, 1749. 183. Eichwald 1821. 

168. Richard 1780. 184. Ramdohrius ' 
169. Engramelle | nn 185. Vaucher Eichw ld 
170. Muller ek, 186. Gruithuizen | la 


| Richard 


171. Le Bossu 187. Wiegmann 1822. 


172. Ingerhous 1784. 188. Fries 1821, 1822, 1829. 

173. Lichtenstein 1797. 189. Meyer 1825. 

174. Treviranus 1802. 190. Turpin 1826. 

175. Girod Chantran 1802. 191. Edwards 1826. 

176. Sprengel 1804, 1812. 192. Meyen 1827. 

177. Trentepohl 1807, 1823, 193. Borry St. Vincent: 1827. 
1826. 194. Unger 1827, 1830, 1843. 

198.4 Nitzschw181%. 195. Leuckart 1827. 

179. Agardh 1814, 1820, 1823, 196. Hundeshagen 1829. 
1826, 1828, 1829. 197. Himley 1838. 

180. Schweigger 1820. 198. Carpenter 1839, 1841. 


181. Nees v. Esenbeck 1820. 199. Kützing 1841. 
182. Hornschuh 1821. 


Da auch diese Autoren die Konstanz der Art wenigstens für 
die niederen Organismen bekämpfen, so wäre unsere Zeugenreihe 
auf fast 200 angewachsen, während Darwin in seiner historischen 
Einleitung nur 2317) zu nennen wusste. Dabei habe ich erst einen 
kleinen Teil der Literatur durchgesucht. Ich bezweifle, ob man 

16) ©. G. Ehrenberg. Über die Formbeständigkeit und den Entwicklungs- 
kreis der organischen Formen. Aus den Monatsberichten der Akademie, Berlin 1852. 

17) Man findet 25 Namen, von denen ich glaube, dass Owen und Isid. 
Geoffroy St. Hilaire besser fortgelassen werden. Diese, wie viele andere zweifel- 
hafte Zeugen, wird man auch in meinen Verzeichnissen nicht finden. G. Seidlitz 
brachte später auch nur 47 Namen (Darwin’sche Theorie, 2. Aufl., Leipzig 1875). 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ? 101 


solch eine stattliche Reihe gleich bedeutender Forscher wird zu- 
sammenstellen können, welche die Konstanz der Art verteidigten, 
wenn ich auch einige tüchtige Geologen zu nennen wüsste, welche 
den Standpunkt Cuvier’s übertrieben auffassten. 

Zweitens wurde obengenannte Bewegung sehr gestützt durch 
Schwann’s Zellenlehre Ehrenberg (l. c. S. 30—31) bemerkt 
dazu: „Jetzt wird häufig die Ansicht laut und öffentlich gebildet, 
dass eine Zelle mit ihrem Zellkerne einem Ei gleiche und alle Eier 
samt den ganzen Infusorien nur solche Zellen wären. Nichts ge- 
rıngeres als die ım Erdinnern geologisch wahrnehmbare Aufeinander- 
folge verschiedener Formenreihen, deren Erkenntnis noch so mangel- 
haft und deren Darstellung oft so wenig physiologisch richtig ist, 
glaubt man sogar damit zu erklären.“ „Freilich (l. ce. S. 10) löst 
sich jetzt jede Pflanzenvorstellung in der Literatur der Botanik fast 
allein in Zellen auf, die so wenig das Bild einer Pflanze geben 
können als Mauersteine das eines Hauses, oder es zergeht die Vor- 
stellung in ein Nebelbild proteischer Fortbildung und Verwandlung, 
welche alle Formbegrenzung nach allen Seiten hin aufhebt, alle 
Genera und Spezies vernichtet'?). 

Drittens wirkte hier der 1842 von Steenstrup entdeckte 
Generationswechsel kräftig mit, der den Übergang des einen Tieres 
in ein anderes direkt zu zeigen schien. 

Viertens zeigte auch hier die Naturphilosophische Lehre von 
der Metamorphose ihren Einfluss (Ehrenberg, l. c. S 141), da sie 
überall nach Urformen suchte. Sie ließ alle Seitengebilde der 
Pflanze mit Goethe aus dem Blatt entstehen und alle Unterteile 
des tierischen Körpers aus Wirbeln. Sie verflüssigte also auch die 
Formen. 

Fünftens stimmte für dıe Variationsfähigkeit der Organismen 
die geologische Formenreihe. Dazu bemerkte Ehrenberg'’): „Zu 
läugnen ist es nicht, dass die bisherige häufig ausgesprochene Vor- 
stellung, als wären alle neuere Organismen samt dem Menschen 
die Nachkommen und vervollkommnetenr Verwandlungsstufen von 
Trilobiten und Farnkräutern etwas Widerstrebendes hat.“ 

Dieses alles hatte zur natürlichen Folge, dass man bei der 
einfachen Variabilität nicht stehen blieb, welche nur für verwandte 
Formen gemeinsame Abstammung annahm, sondern vollständige 
Stammbäume für Tiere und Pflanzen entwarf, kurz zu einer Deszen- 
denztheorie überging. Auch diese Bestrebungen, die den seinen so 
nahe kamen, waren Darwin meist unbekannt geblieben, wie nicht 


18) Darüber handeln besonders: M. J. Schleiden, Die Pflanze und ihr 
Leben, Leipzig 1850; O. Schmidt, Goethes Verhältnis zu den organischen Natur- 
wissenschaften. Berlin 1853, 8. 8. 

19) ©. G. Ehrenberg. Über noch zahlreiche jetzt lebende Tierarten der 
Kreidebildung. Berlin 1840, S. 83. 


102 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 

nur seine historische Einleitung, sondern auch die folgenden Worte 
zeigen, die er schrieb: “With respect to books on this subject I 
do not know of any systematical ones, except Lamarcks.” Ob 
man nun der Deszendenztheorie ein Buch, oder ein Kapitel, oder 
nur einige Seiten widmete, ist nebensächlich, wenn man nur eine 
deutliche Vorstellung des Deszendenzgedankens gab. Das taten 
aber die nachfolgenden Autoren ?°), die alle eine Abstammung aller 


Wesen aus einigen oder wenigen Formen annahmen. 


de Maillet 1748. 

Needham 1749. 

Baumann (Maupertuis) 1751. 
Maupertuis 1768. 

Delisle de Sales 1777. 

E. Darwın 1789—1796. 
Fabricius 1781—1804. 

Rodig 1801. 

Treviıranus 1802. 

Bertrand 1803. 

Gautierı 1806. 

Hagen 1808. 

Voigt 1808—1817. 

de Lamarck 1809. 

Bonelli 1809—1830. 

Fodera 
Marmocchi 
Doornik 1816. 

Tauscher 1818. 

Bander d’Alton 18201825. 
Meckel 1821. 

Link 1821. 

Nöggerath 1822. 
Reichenbach 1828-1837. 
Kaup 1829, 1835. 

Nodıer 1832. 

Littre 1838. 

Illgen 1840. 

Perty 1841, 1846. 


| nach Gamerano 


Moritzi 1842. 

Chambers 1844, 1853. 
Rossmässler 1844, 1847, 1856. 
Gerard 1844, 1845, 1847. 
Cotta 1848. 

Braun 1851, 1359. 
Donders 1851. 

Freke 1851. 

Spencer 1852. 

Unger 1852. 

Schleiden 1852. 
Quenstedt 1852. 

Naudin 1852, 1858. 
Schaaffhausen 1853. 
Baumgärtner 1853, 1855. 
Naegelı 1853, 1859. 
Schultz-Schultzenstein 1854. 
Baden Powell 1855. 
Büchner 1855. 

Heer, 1855, 1858. 

Laugel 1856. 

Kützing 1856. 

Jaeger 1857. 

Huxley 1859. 

Wallace 1859. 

Hudson Tuttle 1959. 
Weinland 1860—1861. 
Carpenter 1862. 


Das wären also fast 60 Namen von Deszendenztheoretikern! 


Würde ich nun hier auch noch die Namen derjenigen herzählen, 
die, wenn sie auch keine fleischliche Deszendenz annahmen, doch 
eine gleichzeitige Schöpfung aller Formen verwarfen und für die 


20) Es sind natürlich zum Teil dieselben, die oben bereits für die Variabilität 
der Art genannt wurden, 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 103 


Organismen eine ideell gedachte, sich über weite Zeiträume aus- 
dehnende Evolution verteidigten, dann könnte ıch fast alle Namen 
der bedeutenderen Zoologen, Botaniker und Geologen hier zusammen- 
stellen, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt haben. 
Fast alle waren Evolutionisten, verwarfen das Sechstage-Werk und 
nahmen ein sehr hohes Alter für die Erde und ihre Organismen an. 
Vielleicht werden auch unter den Lesern dieser Zeilen noch einige 
sein, die, trotzdem schon so oft darauf hingewiesen wurde, meinen, 
dass Deszendenztheorie und Evolution dasselbe sei. Das ist aber 
durchaus nicht der Fall. Es wurde diese irrige Auffassung aber eifrig 
propagiert, denn ındem man Evolution und Deszendenz identifi- 
zierte, konnte man sagen: „Es gebe nichts zwischen Deszendenz- 
lehre und dem aus der Bibel hergeleiteten Schöpfungsbegriff.“ 
Dazwischen liegen aber viele vitalistische Evolutionstheorien. In 
bezug auf die Verallgemeinerung dieses damals schon alten Evo- 
lutionsgedankens ist aber noch besonders hervorzuheben, dass für 
diesen Spencer?!) und Lyell?) mehr taten als Darwin. 

Deszendenz ist einfach die materiell gedachte Evolution. Dass 

die Evolution allgemein anerkannt und auf allen Universitäten ge- 
lehrt wurde, bezeugen auch M. Müller und H. Lotze?). Was 
Theologen und Laien dazu dachten, geht uns Naturforscher (Natura- 
lists) wohl weiter nichts an. Wir haben mit der langen Reihe 
Namen sattsam nachgewiesen, dass die Deszendenztheorie nicht 
mehr aus den Gedanken der Forscher wich, seit sie durch de Maillet 
einmal eingeführt und durch de Lamarck weiter ausgearbeitet 
worden war. Das habe ıch übrigens schon in zwei Arbeiten aus- 
führlich gezeigt ?*). 
Burmeister schrieb denn auch 1856?) von der „Umwand- 
21) A. Thomson. Progress of science in the century. London 1906, p. 426. 
Biological problems of to day. Edinburgh review. Jan. 1909, p. 194. E. Clodd. 
Pioneers of Evolution p. 174—183, London 1897. W. A. Locy. Biology and its 
makers, p. 346, New York 1908. R. Mackintosh. From Comte to Kidd, p. 64, 
London 1899. Ch. Hodge. What is Darwinisme, p. 11, London, Edinburgh 1874. 
O. Zöckler. Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissen- 
schaft, II, S. 806. Gütersloh 1877. R. H. Lock. Recent progress in the study 
of variation 3e ed. London 1911. p. 23. 

22) Judd, l. c. p. 73, 74, 81, 103, 150. Judd’s Urteil ist darum besonders 
wertvoll, da er alle englischen Forscher dieser Periode persönlich gekannt hat. 
Übrigens bestätigt Darwin Judd’s Auffassung in der ersten Auflage der Origin of 
species S. 282. 

23) M. Müller. Natürliche Religion. Leipzig 1891, p. 251. H. Lotze. 
Mikrokosmus. Leipzig 1858, p. 58. 

24) J. B. de Lamarck und der Einfluss seiner Deszendenztheorie von 1809 
bis 1859. Zeitschr. f. Morphologie u. Anthropologie, Bd. XVIII, Stuttgart 1914. 
B. de Maillet, J. de Lamarck und Ch. Darwin. Biolog. Centralblatt, S. 505, 
Bd. XXXI, Leipzig 1912. 

25) H, Burmeister. Zoonomische Briefe. Pd. I, 1856, Anm. S. 20. 


104 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


lungstheorie der Spezies beim Übergange aus einer Schöpfung in 
die andere, welche von vielen namhaften Forschern vertreten wird.“ 
Bei A. Gaudry lesen wir: „Lorsque M. Darwin dans son livre 
sur l’origine des especes a pretendu qu’il y avait des transformations 
ıl a repondu aux aspirations d’un grand nombre d’observateurs“ ?°), 

Grant Allen?”), der seinen Landsmann Darwın durchaus zu 
schätzen wusste, bezeugte “On every side (p. 17) evolutionism, in 
its crude form was already in the air. Long before Ch. Darwin 
himself published his conclusive ‘origin of species’ every thinking 
mind in the world of science elder and younger was deeply engaged 
upon the self-same problem °®)’” Darum konnten Darwin’s Ge- 
danken so schnell Eingang finden (l. c. S. 19). Weiter setzt Allen 
auseinander (l. c. S. 192), dass, wenn Darwın’s Buch nicht er- 
schienen wäre, wir doch alles das wissen würden, was wir heute 
wissen, dass wir auch alle von Darwin verteidigten Ideen ohne 
ıhn kennen gelernt haben würden, aber sie würden dann beschränkt 
geblieben sein auf: “a small philosophical and influential band of 
evolutionary workers.” Durch Darwin’s Auftreten verbreiteten 
sie sich über die ganze Welt! Wir sind der Auffassung, dass letz- 
teres wohl nicht durch Darwın selbst geschah, sondern durch ein zu- 
fälliges Zusammentreffen mit anderen Strömungen (unten S. 109). Auf 
S.23 schrieb Grant Allen “that the theory of ‘natural selection’ was 
the only cardınal one in the evolutionary system on which Eras- 
mus Darwin did not actually forestall his more famous and 
greater namesake”?®). Das klingt ganz anders als Darwin’s eigener 
Satz, den wir am Anfang dieser Arbeit brachten, ın dem auch das 
Wort “forestall” benutzt wurde. 

Asa Gray, Darwin’s Freund, wies ausdrücklich darauf hın, 
dass viele wie Darwin, Hooker, de Oandolle, Agassız und 
er selbst, jeder selbständig ın der gleichen evolutionistischen Rich- 
tung nach einer Erklärung suchten ®%). Dazu rechnete er auch 
Dana°!). Lyell sprach die gleiche Überzeugung aus nach seinem 
Besuche bei OÖ. Heer??). 


26) A. Gaudry. Animaux fossiles de l’attique. Paris 1862. 

27) Grant Allen. Charles Darwin, English worthies edited by Andrew 
Lang. .London 1885. 

28) Hierzu auch E. Krause (Ü. Sterne). Charles Darwin und sein Ver- 
hältnis zu Deutschland. Darwinistische Schriften. 2. Folge, Bd. 6, Leipzig 1885, 
p: 9120292. 

29) 1. c. p.23. Hiermit stimmt E Th. Clodd, Pioneers of evolution. London 
1897, p. 104, überein, der Allen’s Buch “excellent little monograph” nennt. 

30) Letters of Asa Gray, 1893. To Dana 13. Dec.. 1856, p. 424. 

31) Letters of Asa Gray, 1893, 7. Nov. 1857. 

32) Ch. Lyell. Life letters and journals, Vol. II, p. 246, London 1881. 
Oswald Heer. Lebensbild eines Naturforschers von K. Schröter. Zürich 1885, 
p- 349. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? I05 


A. Newton°?) schrieb: “There was among naturalists during 
the second quarter of the nineteenth century a feeling of dissatis- 
faction with respect to current ideas concerning the origin of species, 
accompanied in many cases with one of expectation that a solution 
might soon be found.” Gleiches besagen Dewars?*) Worte: “As 
we have seen the theory was enunciated at the psychological 
moment, at the time when zoological science was ripe for ıt. Most 
of the leading zoologist were evolutionist at heart and were only 
too ready to accept any theory which afforded a plausible explana- 
tion of what they believed to have occurred. Hence the rapturous 
welcome accorded to the theory of natural selection by the more 
progressive biologists.” Hier ıst Dewar nicht ganz genau. Freudig 
begrüßt wurde die große Materialsammlung Darwin's, wodurch 
die Lehre der Variabilität besser begründet und so die Deszendenz- 
theorie gestützt wurde. Die Erklärung aber, welche er zu der Des- 
zendenztheorie gab, also “natural selection” wurde als formbestim- 
mender Faktor nicht allein von allen bedeutenden Forschern des 
Kontinents verworfen®?), sondern auch von den meisten seiner 
englischen Freunde mit Ausnahme Hooker’s°®®). Darauf will ich 
jetzt nicht näher eingehen. Jauchzend begrüßt wurde aber gerade 
die rein materiell gedachte “natural selection” von einer anderen 
Gruppe, die wir weiter unten erwähnen werden. 

In seinem Buche Darwiniana?”) schrieb Asa Gray (p. 238): 
“A notable proportion of the more active minded naturalists had 
already come to doubt the received doctrine of the entire fixity of 
species and still more than that of their independent and super- 


33) Macmillians magazine Febr. 1888, p. 241 nach Judd, |. c. 

34) D. Dewar, F. Finn. The making of species. London 1909, p. 3. 

35) Ich nenne einstweilen K. E. von Baer, Bronn, Köllicker, Nägeli, 
Virchow. Vergl. Krause l. c. 

36) Über die Differenzen zwischen Darwin und seinen Freunden Wallace, 
Lyell und Asa Gray vergleiche: E. Krause. Ch. Darwin und sein Verhältnis 
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 128, 133, 146. Asa Gray. Letters 1893, 
18. Febr. 1862, 20. April 1863, 7. Juli 1863. Asa Gray. Natural science and 
religion. New York 1880, p. 48, 72. J. Marcou. Life letters and works of 
Agassiz, New York 1896, p. 117. Ch. Lyell. Principles of geology, 10 ed. 
1868, II, p. 613. Life letters journal. London 1881, II, p. 363, 365, 366, 
442. E. Th. Clodd. Pioneers of evolution, 1897, p. 133, 149. R. Wallace. 
Contributions to the theory of natural selection, London 1870. Für Huxley 
vergleiche: Life and letters of Huxley, 1900, I, S. 173 und Radl, l.c., II, S. 156. 
Weiter: Une vietime du Darwinisme. Revue des deux mondes. 15. Dee. 1900. 
E. B. Poulton. Essays on evolution. Oxford 1908, p. 201-202. Clodd. 1. ce, 
p- 22, 90, 92. Für Herschel vergleiche W. May. Wissenschaftliche Rundschau, 
Heft 18, 1911—1912. G.J. Romanes kehrte ganz in den Schooß der Kirche zu- 
rück. Life and letters of Romanes, London 1896, am Schluss. 


37) Darwiniana. Essays and reviews pertaining to Darwinism,. New York 
1876. 


06 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 
} gs 8 


natural origination.” Schleiden behauptete: „Die®*) hier gegebene 
historische Übersicht wird wohl jedem klar machen, dass die Dar- 
win’schen Lehren nur dem mit der Wissenschaft gänzlich unbe- 
kannten als etwas Neues und Unerhörtes erscheinen konnten.“ Bei 
A. de Candolle lesen wir: „I y a?) des notions tres importantes 
qui se repandent spontanement et qui s’imposent pour ainsı dire 
a une certaine epoque sans qu’on puisse les attribuer a tel ou tel 
individu. C’est le cas de la transformation des etres organıses dans 
la serie des temps, quı etait deja admire implieitement, de quelque 
maniere, par la plupart des naturalistes, comme un fait incomprehen- 
sıble, lorsque l’idee neuve de la selection offrant un moyen d’expli- 
cation vient donner ä la theorie un appui tres important.“ Schon 
im Jahre 1855 hatte De Candolle die Frage, ob neue Formen 
aus den früheren entstehen oder geschaffen wurden, als die große 
Frage der Naturgeschichte des 19. Jahrhunderts bezeichnet *°). 
G. Jäger nannte sie „diese Jahrhunderte alte Streitfrage“ *'). Sehr 
bezeichnend schrieb auch D. Wetterhahn. „Auch hieraus®?) ıst 
ersichtlich, dass Darwin’s Buch keineswegs wie ein Blitz aus 
heiterem Himmel in die im Immunitätsglauben ruhende wissen- 
schaftliche Welt gekommen ist.“ Der beste Beweis hierfür ist wohl 
der buchhändlerische Erfolg, der nicht nur Darwın's Werk, sondern 
auch den älteren echt evolutionistischen Werken von Ch. Lyell 
(Principles of geology) und von R. Chambers (Vestiges of Creation) 
zufiel. 

Der erste Band von Lyell erschien 1829 und wurde in 1500 
Exemplaren aufgelegt, nach 3 Monaten waren bereits 650 Exem- 
plare verkauft. Mit dem zweiten Bande erschien denn auch 1832 
eine neue Auflage des ersten Bandes, und mit dem dritten Bande 
eine zweite Auflage des zweiten Bandes. 1834 wurde das ganze 
dreibändige Werk von neuem verlegt. In 10 Jahren erschienen 
so sechs Auflagen und ım ganzen zwölf Auflagen). Die Vestiges 
of Creation erlebten von 1844—1853 zehn Auflagen. Es war denn 
auch wohl kein Zufall, dass Darwın ın dem Erscheinungsjahr der 
Vestiges (1544) seinen ersten kurzen Entwurf vom Jahre 1842 


38) Der Darwinismus und die mit ihm zusammenhängenden Lehren. Unsere 
Zeit, 1869, p. 264. 

39) Histoire des sciences et des savants. Gendve 1882, 2e ed., p. 481. Ähn- 
lich in seinem Artikel „Darwin“. Arch. des sciences de la bibliotheque universelle, 
T. VII, Mai 1882. 

40) A. de Candolle. Geographie botanique raisonnee 1855. Einleitung. 

41) Schriften zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien. 
Bd. I, 1862, 8. 81-110. 

42) D. Wetterhahn, Beiträge zur Geschichte der Entwicklungslehre in 
Kosmos, Bd. 16, 1885, S. 410. 

43) J. W. Judd. The coming of evolution. Cambridge 1910. 


Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 107 


(35 Seiten) zu einem neuen Entwurf von 230 Seiten ausdehnte **). 
Wir wissen ja, dass Darwin die Vestiges eifrig studiert hat®?). 
Über den großen Einfluss, den dieses Buch auf Darwin ausübte, 
handelte besonders Judd*). Allerdings verurteilten die englischen 
Autoritäten das Buch Chambers ebenso wie Sedgwick, Whewell, 
Buckland, Henslow, de la Beche das Buch Lyell’s verurteilt 
hatten’). Es wirkt geradezu komisch, die abfällıgen Kritiken auf 
erstgenanntes Buch zu lesen von Leuten, die sich später auf Dar- 
win’s Seite stellten und gegen diesen dieselben Argumente hätten 
benutzen können, die sie gegen Chambers angeführt hatten ®*). 

Zum Schluss noch das Zeugnis eines Mannes, der die Literatur 
wie wenige kennt: 

Radl schreibt (l. c. S. 113): „Nicht bei allen lautet die Ant- 
wort auf die Frage nach der Entwickelung ganz gleich, aber ihre 
positiven Antworten sind da nebensächlich, das wichtigste ıst, dass 
fast alle großen Biologen aus den 30er und 40er Jahren des 19. Jahr- 
hunderts mit Interesse entwickelungsgeschichtliche Fragen ver- 
folgten.“ 

Alle diese Autoren bezeugen also dasselbe, was ich mit meinem 
Namenverzeichnis bewiesen habe. Nun lese man oben nochmals 
Darwin’s selbstgefälliges Eigenlob und die Worte Mantegazza’s 
oder auch die folgende Stilprobe aus Haeckel: „Ein einziges 
kolossales Dogma*?) beherrscht die gesamte Wissenschaft nach Art 
des drückendsten Absolutismus. Denn nur als ein kolossales Dogma, 
welches ebenso durch hohes Alter geheiligt und durch blinden 
Autoritätsglauben mächtig, wie ın seinen Prämissen haltlos und ın 
seinen Konsequenzen sinnlos ist, müssen wir hier offen die gegen- 
wärtige immer noch herrschende Ansicht bezeichnen, dass die 
Spezies oder Art konstant und eine für sich selbständig erschaffene 
Form der Organisation ist.“ „Nur durch Annahme ‚einer völligen 
Verstumpfung der Organe des Anschauens‘ begreift man, wie dieses 
in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma 130 Jahre hindurch 
fast unangefochten bestehen und wie dasselbe nicht allein dıe Masse 
der gedankenlosen Naturbeobachter, sondern auch die besten und 
denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte.“ „Einem 


44) Judd. 1.c. p. 121—122. Ch. Krause Darwin und sein Verhältnis 
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 69—70. 

45) Fr. Darwin. Life and letters of Ch. Darwin I, S. 302, Anm. New 
York 1887. 

46) 1. c. S.73, 74, 81, 103, 150. 

47) Judd. 1 c. p. 70, 72. 

48) Siehe Th. Huxley, Scientific memoirs. Supplementary volume p. 21. 
Für Herschel vergleiche A. R. Wallace, The wonderful century p. 377—378. 
London 1898, 1903. 

49) Generelle Morphologie. Berlin 1866, Bd. I, S. 90. 


108 Kohlbrugge. War Darwin ein originelles (Genie? 


Götzen gleich steht allmächtig und allbeherrschend dieses paradoxe 
Dogma da.“ 

So schrieb man Geschichte! Das hat man dem Volke 
und einer Generation von jungen Gelehrten eingelöffelt! Warum? 
Nun, weil der Darwinismus, wie C. Vogt?) bezeugte, „zu einer 
Religion geworden war, auf die der Darwinist ebenso schwörte wie 
ehemals die Gläubigen auf die Bibel und den Koran.“ Darum 
musste natürlich auch alles richtig sein, was Darwin in selbstge- 
fällıger Weise über sıch selbst und sein Werk geäußert hatte. Darum 
musste Darwın zum unantastbaren Heiligen kanonisiert werden. — 
Auch das Tatsachenmatersal, auf welches Darwın sich bei seinen 
Spekulationen stützte und die wichtigsten sich daran anschließenden 
Verallgemeinerungen waren schon vor Darwin gesammelt und be- 
kannt, wenn er auch eine ganze Reihe höchst wichtiger Beobach- 
tungen hinzufügte. Darauf will ich jetzt nicht eingehen, ich hoffe 
später darauf zurückzukommen. Ich will hier einstweilen nur darauf 
hinweisen, dass man das Material zu einem Buche wie die “Origin 
of species” bereits bei Meckel°!), Bronn°?) und Carpenter”) 
vorfinden konnte. Originell in Darwin’s Zusammenstellung war 
nur°*) der Gedanke, dass der schon vielfach erörterte Kampf ums 
Dasein nicht nur das ungeeignete ausmerze, sondern auch neue 
Formen aus der unbegrenzt gedachten Variabilität hervorrufen 
könne. In dieser “Natural selection” genannten Idee sah Darwin 
aber selbst nicht das Hauptziel seiner Tätigkeit, denn er schrieb°°): 
“Hence ıf I have erred ın giving to natural selection great power, 
which I am far from admitting, or in having exaggerated its power, 
which ıs in itself probable, I have at least, as I hope, done good 
service in aidıng to overthrow the dogma of separate creations°®). 

50) Des Darwinisten Zweifel. Frankfurter Zeitung, 1875. Radl. l.c., II, S. 170. 
1) J. F. Meckel. System der vergleichenden Anatomie. 1821, Bd. I. 
2)H. G. Bronn. Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze. 
Leipzig 1858. Untersuchungen über die Entwickelungsgesetze der organischen Welt. 
Stuttgart 1854. Nach R. Burckhardt (Geschichte der Zoologie, S. 114. Leipzig 
1908) gehören sie zu den wichtigsten Vorarbeiten, auf denen Haeckel fußte. 

53) W. B. Carpenter. Principles of general and comparative physiology, 
1839, 1841, 1854. 

54) Das versichert auch E. Häckel. Generelle Morphologie 1866, II, p. 165 
und Natürliche Schöpfungsgeschichte, 9. Auflage, S. 107, 108. Weiter A.R. Wal- 
lace. Darwinismus. Darstellung der Theorie der natürlichen Zuchtwahl. 1889, im 
Vorwort. F. Rolle. Charles Darwin’s Lehre von der Entstehung der Arten. 
Frankfurt 1867. C. Naegeli. Entstehung und Begriff der naturwissenschaftlichen 
Art. München 1865, S. 16, Anmerk. Grant Allen in Fortnightly Review 1897, 
vol. 61, p.254. W.A.Locy. Biology and its makers. New York 1908, p. 346—348. 
M. Hoernes. Natur und Urgeschichte des Menschen. Wien 1909, S. 46. 

55) The descent of man. London 1871, Vol. I, p. 153. 

56) Vergl. Asa Gray an Darwin. July 21, 1863. ‘But as you say now, 
you don’t so much insist on natural selection if you can only have derivation of 
species.” Dasselbe Fr. Darwin: Charles Darwin. 1892, p. 246. 





) 
5 
> 





Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 109 


Wir haben oben gesehen, dass dieses Dogma der Systematiker 
unter den Naturforschern schon längst seinen Einfluss verloren 
hatte. Um dieses zu bekämpfen, brauchte kein Darwin mehr zu 
kommen. Niemand nahm es ihm übel, dass er nochmals dieses 
längst verblichene Dogma angriff und dies weit kräftiger als seine 
Vorgänger tat, wodurch die Variabilität der Art über allen Zweifel 
erhoben wurde. Was man an ihm verurteilte, war, dass er viel zu 
viel mit seiner ja an und für sich nicht abzuleugnenden “natural 
selection” und so alles mechanisch erklären wollte. Übrigens ist 
es ja richtig, dass er obengenanntes Dogma, das auch heute beı 
Theologen und Laien noch wohl bekannt ist, bei vielen von diesen 
umgestoßen hat, gleichzeitig mit dem Glauben an die gesetzgebende 
Kraft des Buchstabens der Bibel für Erscheinungen der Natur. 
Nicht aber durch eigene Kraft gelang ıhm letzteres, sondern durch 
den deutschen philosophischen Materialismus. Dieser war von dem 
agnostischen Positivismus von Comte’’) und von Feuerbach’s 
Kritik der Religion ausgegangen und von Strauss, Büchner, 
C. Vogt, Moleschott u. a.°*) . propagiert worden, denen sich 
Huxley mit seinem Agnostizismus anschloss. Es ging diese Strö- 
mung zum Teil aus dem Abscheu gegen den Idealismus der Natur- 
philosophie hervor. 

Diese Materialisten °’) fanden in den Lehren Darw in’s geeignetes 
Material für ihre Naturbetrachtungen, zumal es nach ihrer Auffassung 
diesem Engländer gelungen war, an die Stelle der übernatürlichen 
Kraft eines Schöpfers oder der Zweckmäßigkeit das mechanisch 
wirkende Selektionsprinzip oder dieblinde Notwendigkeit zu stellen °°). 
Darwin’s Arbeit wurde dann aber besonders durch Haeckel aus- 
genutzt zum Ausbau seiner monistischen Religion, zu deren Dogma®') 
sie gehört‘). Zwar interessiert dieses Dogma, wie überhaupt jedes 


57) R. Mackintosh. From Comte to Benjamin Kidd. London 1899. 

58) Vergleiche: E. Daequ&. Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte. 
S. 111, München 1904. Manche von den damaligen Materialisten wollten übrigens 
anfangs auch nichts von Darwin wissen. Vergl. Wetterhahn in Kosmos, 1855, 
S.405—408 und E. Löwenthal. Herr Schleiden und der darwinistische Arten- 
Entstehungs-Humbug. Berlin 1864. 

59) L. Weiß. Der Streit über die Berechtigungen der Realschulen beleuchtet 
durch die Untersuchung der Frage: Was ist Naturwissenschaft? Ruhrort 1869. 

60) J. Moleschott in seinen Vorträgen (©. R. Darwin, Denkrede, Vor- 
träge, Gießen 1883, S. 19) zeigte den Anschluss der Materialisten an Darwin. 

61) Von einem Dogma spricht auch E. Dacque. Der Deszendenzgedanke 
und seine Geschichte. München 1904, S. 118. ©. v. Nägeli. Mechanisch-physio- 
logische Theorie der Abstammungslehre. München 1884. Einleitung, S. 6. „Die 
Lehre wurde dogmatisiert, systematisiert, schematisiert.“ B. Erdmann. Über den 
modernen Monismus. Deutsche Rundschau März 1914. 8.325 „Neues Evangelium“, 
S. 327 „religiöse Grundstimmung“, S. 328 „religiös Gesinnten“. 

62) Dass Darwin sich stets mehr an diese Partei anschließen musste, zeigte 
Krause. Charles Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland. Leipzig 1885, 


410 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 


Dogma, den Naturforscher als solchen nicht direkt, aber es hat die 
Naturwissenschaft sehr unter dieser Strömung gelitten, da sie, wie 
schon Sachs hervorhob‘°), dadurch zu einer rein deduktiven Wissen- 
schaft wurde, also ganz wie ım Mittelalter, wenn auch in anderer 
Weise. 

Vielleicht wird die neue Zeit eine Losringung aus diesem 
von England ausgegangenen Einfluss und eine Rückkehr zur induk- 
tiven Methode bringen. Dann wird man auch Darwın’s Beiträge 
zur Naturforschung, aber entkleidet von dem ihnen besonders von 
seinen Freunden umgehängten halb philosophischen, halb religiösen 
Mantel, richtiger einschätzen und verwerten können. Es war in 
den vergangenen Jahrzehnten ja fast unmöglich geworden, Dar- 
win’s Arbeiten an sich und rein sachlich zu betrachten und es 
wurde schon öfter darauf hingewiesen, dass Darwin zu dem Stoß- 
seufzer berechtigt gewesen wäre: „Gott beschütze mich vor meinen 
Freunden, mit meinen Feinden will ich schon selbst fertig werden“ ®*). 
Das Schicksal teilt er mit Goethe. Beide trifft aber auch dieselbe 
Schuld. Denn ebensowenig wie Goethe sich kräftig gegen die 
Auswüchse seiner Naturphilosophie widersetzte, tat dies Darwin 
ın bezug auf seine deutschen oben aufgezählten Freunde und 
seinen Trabanten Huxley, deren naturphilosophische Werke er 
zitierte und rühmte. 

Der französische Naturphilosoph Serres behauptete schon vor 
Darwin: „L’universest expliqu& et nous le voyons, c’est 
un petit nombre de principes generaux et feconds qui 
nous en ont donn& la clef!* 

So etwas könnte Haeckel auch geschrieben haben! Man nahm 
eben alles vorweg, woran noch Jahrtausende arbeiten müssen. Das 
hatte zur Folge, dass man die Tatsachen der Theorie zur Liebe 
fälschte. Was der aus deutscher Schule hervorgegangene Uuvier, 
ein Joh. Müller, Nägeli, v. Baer, Bronn u. a. geleistet haben, 
wird stehen bleiben, und auf diese sollte die deutsche Wissenschaft 
zurückgreifen. Von dem aber, was nach 1860 geschah, wird sehr 
viel von neuem untersucht werden müssen, weıl man mit Sıeben- 
meilenstiefeln gehen wollte und die Theorie mehr liebte als die 
Tatsachen. Ich glaube, dass wir die Nachwirkungen dieser bösen 
Periode am besten überwinden durch ein „ıgnoramus“ und nun 
tüchtig weiter arbeiten, nicht um in amerikanischer Weise in Er- 
staunen zu setzen, sondern um wirklich gutes Material zu liefern. 


S. 166. Die darwinistischen Schriften Krause’s wie der Kosmos propagierten 
diese Richtung. 

63) J. Sachs. Geschichte der Botanik. München 1866, p. 184—185. 

64) Difficulties of the theory of natural selection. The mouth 1869, S. 142. 
Westminster review, Januar 1869. 


Abderhalden, Abwehrfermente. 111 


Dabei braucht man aber die großen Ziele und die vorhandenen 
Theorien gar nicht aus den Augen zu verlieren. An ein hoffnungs- 
loses „ıgnorabım us“ sollte niemand denken! Der ernste Forscher 
soll heute in bezug auf Theorien hemmen und kritisieren und zu 
weit gehende Schlüsse einschränken. Besonders in dieser Zeit der 
Reklame! Ab und zu ist es ja auch wieder gut, wenn einer einmal 
eine gewagte Hypothese ausspricht, wir können ja nicht ohne Ar- 
beitshypothesen auskommen, aber man soll sie nicht dogmatisieren 
und vor allem nicht wieder ın die Fehler der Schule verfallen, ın 
der wir groß geworden sind, die das „L’univers est explique“ als 
Wahlspruch hatte. 


Emil Abderhalden: Abwehrfermente. 


Das Auftreten blutfremder Substrate und Fermente im tierischen Organismus unter 
experimentellen, physiologischen und pathologischen Bedingungen. 4. Aufi. Berlin 
1914, Springer. 404 + XV S., 55 Textfiguren und 4 Tafeln. 

Die erste Auflage dieses Buches ıst vor 2 Jahren erschienen 
und unter ihrem damaligen Titel „Schutzfermente* an diesem Ort 
von A. Fodor, einem Mitarbeiter des Verf., besprochen worden. 
Die Grundgedanken A.'s, die ıhn zu seinen Untersuchungen führten 
und die er durch diese bestätigt fand, sind dort klar wiedergegeben 
worden (Biol. Centralbl., 33. Bd., S. 105). 

Nach genau 2 Jahren ist die 4. Auflage erschienen, der Um- 
fang des Buches ist mehr als verdoppelt, das Verzeichnis der nach 
der 1. Auflage erschienenen Arbeiten, die das neu eröffnete Feld 
beackern, umfasst allein 335 Nummern und ist nach des Verfassers 
Angabe nicht einmal ganz vollständig. Es ist das wohl ein buch- 
händlerischer und anregender Erfolg, wie er im Gebiet der reinen 
Wissenschaft (die medizinischen Heilmittel beiseite gelassen) noch 
nicht da war. Dieser äußere Erfolg beruht gewiss zu sehr großem 
Teil darauf, dass die neuen Theorien und Methoden, wenn auch 
keine therapeutische, so doch diagnostische Anwendbarkeit ın der 
praktischen Medizin in Aussicht stellten. 

Fragen wir nun, welche Fortschritte durch diese enısige Tätig- 
keit erreicht sind, so finden wir die Theorien des Verfassers un- 
verändert; auch die Namensänderung, die damit begründet wird, 
dass die Bezeichnung als „Abwehrfermente“ nicht die Behauptung 
enthalte, dass die neu, gegen blutfremde Stoffe gerichteten Fer- 
mente jedesmal einen wirklichen Schutz darstellten, ist nicht wesent- 
lich. Eine Fortbildung seiner Anschauungen nach den vielfachen, 
großenteils klinischen Untersuchungen ist aber die Vorstellung, dass 
ganz spezifische Fermente gegen, sonst noch gar nicht definierte, 
Eiweißstoffe der einzelnen Organe und Zellformen auftreten; nach 
den Tierexperimenten, auf die sich die 1. Auflage hauptsächlich 
stützte, schienen die „Schutzfermente* gerade nicht so spezifisch 
zu sein wie die Antikörper, die uns die Immunitätsforschung bis 
dahın kennen gelehrt hatte, und bei denen sich wohl die Art- 


419% Abderhalden, Abwehrfermente. 


spezifität, aber nur ausnahmsweise Organspezifität nachweisen ließ. 
Eine befriedigende Aufklärung für dies verschiedene Ergebnis der 
ersten und der neueren Untersuchungen finden wir nicht und so 
scheint uns, trotz der ungeheuren darauf verwendeten Mühe, das 
ganze Forschungsgebiet noch ganz im Bereich der Hypothesen zu 
liegen. A. betont selbst die Widersprüche zwischen den Ergeb- 
nissen verschiedener Untersucher und die sehr zahlreichen Fehler- 
quellen der Methoden und dass, infolge ungenügender Beherrschung 
derselben oder ungenügender Veröffentlichung, „der allergrößte Teil 
dieser Forschungen nicht vollwertig“ sei. Er glaubt aber diejenigen 
als zuverlässig ansehen zu dürfen, die in Übereinstimmung mit den 
Untersuchungen in seinem eigenen Institut, die Zuverlässigkeit der 
Methode ergeben, insbesondere zur Diagnose der Schwangerschaft 
durch den Nachweis von Ferment im zirkulierenden Blut, das Pla- 
zentareiweiß abbaut. Andere von ıhm unabhängige Forscher, und 
zwar auch solche, die einen wohlbegründeten-Ruf als gewissen- 
hafte physiologische Chemiker besitzen, waren aber nicht imstande, 
auf diesem als Prüfstein dienenden Gebiet, überhaupt nur verwert- 
bare Ergebnisse zu erzielen. Dem Referenten erscheint daher die 
Zuverlässigkeit der A.’schen Methoden und damit die Grundlage 
seiner Lehre noch nicht sicher erwiesen. Auch die Ausführung, 
dass er zu den gleichen Ergebnissen mit zwei, voneinander unab- 
hängigen Methoden (der Dialysier-Ninhydrinprobe und der „optischen 
Methode“) gelangt sei, erbringt diesen Beweis nicht. Denn einmal 
gibt er selbst zu, dass diese beiden Verfahren gar nicht auf durch- 
aus gleiche Fermente sich beziehen. (einmal wird die Überführung 
durch Kochen koagulierten Eiweißes in dialysable Abbaustoffe nach- 
gewiesen, das andere Mal eine Änderung des Drehungsvermögens 
an wässerigen Lösungen alkohollöslicher Peptone, also schon stark 
hydrolytisch abgebauter Eiweißstoffe), andererseits sind beide Ver- 
fahren gleich heikel und sehr vielen Fehlerquellen ausgesetzt, drittens 
ist die „optische Methode“ nur erst selten und fast gar nicht außer- 
halb des Instituts des Verfassers angewendet worden. Erscheinen 
so die Grundlagen der Lehre durchaus nicht ganz gesichert, so 
fällt um so mehr auf, welche neue weittragende Folgerungen, frei- 
lich immer in hypothetischer Form, der Verfasser auf ihr aufbaut. 
Die zweite Hälfte des Buches ist ausschließlich der Beschrei- 
bung des Untersuchungsverfahrens und seiner Fehlerquellen ge- 
widmet. Hier sind auch, neben den zweı genannten, noch einige 
Verfahren beschrieben, die in besonderen Fällen oder zur weiteren 
Kritik der älteren gebraucht werden sollen, die aber, nach des Ver- 
fassers eigener Meinung, noch nicht zur völligen Zuverlässigkeit 
durchgebildet worden sind. Jedenfalls wırd jeder, der sich mit 
diesem ebenso interessanten wie schwierigen Forschungsgebiet be- 
fassen will, diese neueste Auflage des Buches zum Führer wählen 
müssen. W. 
Verlag von Be Thie me in Tas Anlonden 15. — DEE der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


DEI K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








r 


Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik 
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


Bd. XXXY. 20. März 1915. x 8. 

















Inhalt: Wasmann, Uber Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. — Nachtsheim, Entstehen 
auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? — Polimanti, Physiologische Untersuchungen 
über das pulsierende Gefäß von Bombyx mori L. — Fischer, Berichtigungen zu O. Proch- 
now’s analytischer Methode bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. — 
Schneider, Die rechnenden Pferde — Sedgwick und Wilson, Einführung in die allge- 
meine Biologie. 





Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung''). 
(Zugleich 208. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.) 
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg, Holland). 


Schon 1910 (Biol. Centralbl. XXX, Nr. 13, S. 457) habe ich 
darauf aufmerksam gemacht, dass unter den fünf verschiedenen 
Erklärungsversuchen für die bisher bekannten anormal gemischten 
Kolonien aus Rassen der rufa-Gruppe (rufa-truncicola, pratensis- 
truneiecola, rufa-pratensis) auch die Kreuzungshypothese berück- 
sichtigt werden muss, um zu einem allseitigen Verständnis der sehr 
mannigfaltigen tatsächlichen Befunde zu gelangen. Beispiele für 
die übrigen Erklärungen durch primäre oder sekundäre Allome- 
trose in ihren verschiedenen Formen der Allianz- und Adoptions- 
kolonien etc. wurden dort bereits angeführt. Bei Besprechung der 
Kreuzungshypothese wurde bemerkt, dass wegen der früheren Er- 


1) Eine vollständigere Behandlung dieses Themas wird gegeben werden im 
II. Bande des im Druck befindlichen Buches „Das Gesellschaftsleben der Ameisen. 
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Ter- 
miten. Gesammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen“. 2, Aufl., 
Münster i. W. 1915. 


XXXV. 8 


114 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


scheinungszeit der geflügelten Geschlechter von rufa und pratensis 
gegenüber jenen von trumncicola die Kreuzungsmöglichkeit zwischen 
den beiden ersteren Rassen eine weit größere ist als zwischen ihnen 
und Zruncicola, und dass hieraus auch die größere Häufigkeit der 
rufo-pratensis-Kolonien im Vergleich zu den rufo-truncicola- und 
den truncicolo-pratensis-Kolonien ganz zwanglos sich erklären lasse. 
Ich fügte ferner damals schon bei: „Da nach den Mendel’schen 
Gesetzen der Rassenhybriden in der zweiten Hybridengeneration 
eine Spaltung der elterlichen?) Merkmale eintritt, könnten die 
aus Kreuzung von rufa und truncicola oder truncicola und pratensis 
stammenden Kolonien sogar Arbeiterinnen beider Formen scharf 
getrennt enthalten, ohne dass wir deshalb genötigt wären, auf 
die Anwesenheit von Königinnen beider Rassen, also auf Allome- 
trose, ın jener Kolonie zu schließen.“ 


1. Ein solches Beispiel bietet die in jener Arbeit von 1910 
(S. 459) provisorisch in Klammern erwähnte pratensis-truneicola- 
Kolonie bei Luxemburg, über welche die Beobachtungen und die 
genauen Untersuchungen der Nestbewohner noch nicht abgeschlossen 
waren. Ich glaubte sie damals für eine stark geschwächte pratensis- 
Kolonie halten zu sollen, in welcher nachträglich auch eine Königin 
der Bastardform truncicolo-pratensis Aufnahme gefunden hatte. 
Diese Erklärung musste ich jedoch seither bei näherer Prüfung der 
tatsächlichen Verhältnisse, die hier für die Mendel’sche Hypothese 
ohne Zuhilfenahme einer Allometrose sprechen, wesentlich ändern, 
wie sich aus dem folgenden Berichte ergibt. 

Die gemischte Kolonie wurde am 12. April 1910 auf dem Süd- 
abhang von Schötter-Marial bei Luxemburg-Stadt von mir und 
meinem Kollegen H. Klene S. J. entdeckt und als truncicola- 
Kolonie Nr. 19°) in mein stenographisches Tagebuch eingetragen. 
Leider war sie Ende Juni (während meiner Abwesenheit in Lipp- 
springe) vollständig ausgewandert und wurde nicht wiedergefunden. 
Die Kämpfe mit einer benachbarten starken Polyergus-Kolonie 
(Nr. 7%), mit rufibarbis und glebaria als Sklaven) hatten sie wahr- 
scheinlich vertrieben. 

Jene pratensis-truncicola-Kolonie hatte ihr Nest unter einem 
großen Stein und war verhältnismäßig schwach; ein Haufenbau 
über dem Steine war nicht vorhanden, woraus zu schließen ist, 
dass die Kolonie noch relativ jung war. Die Gesamtzahl der Ar- 


2) Richtiger muss es heißen der „großelterlichen Merkmale,“ da es ja um die 
F?-Generation sich handelt, und die elterlichen Unterschiede in der F’!-Generation 
manchmal gar nicht zur phänotypischen Erscheinung kommen. 

3) Im III. Teil der ‚Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ (Arch. 
trimestr. Inst. Grand-Ducal IV., fasc. 3 u. 4, 1909) schließt die Statistik der trun- 
ceicola-Kolonien bei Luxemburg-Stadt mit Nr. 16 (S. 32). 

4) Ebenfalls im III. Teil der „Ameisen v. L.“ noch nicht enthalten, 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 415 


beiterinnen, die ich während meiner Besuche in diesem Neste 
sah, betrug höchstens 250. Unter diesen waren etwa '/, reine 
truncicola (von 5-8 mm), */, reine pratensis (von 4,5—8 mm); Über- 
gänge zwischen beiden Rassen waren bloß spärlich und in schwachem 
Grade vorhanden, indem nur einige wenige trumeicola (von 5—6 mm) 
auf Kopf und Rücken einen Anflug von grauschwarzer pratensis- 
Färbung zeigten’). Entflügelte Weibchen fand ich bei mehreren 
aufeinander folgenden Untersuchungen des Nestes im ganzen 12. 
Es waren sämtlich pratensis-Königinnen von verschiedener 
Größe (8,5 —10 mm), aber mit weniger mattem Rücken und Hinter- 
leıb als die Normalform, durch stärkeren Glanz (besonders des 
Hinterleibes) und schwächere Pubescenz einen deutlichen r«fa-Ein- 
schlag verratend aber nicht so stark glänzend wie rufa! —, 
während die Färbung ganz den dunklen pratensis-Charakter hatte, 
sowohl am Rumpf wie an den Extremitäten; nur ein Individuum 
mit ein wenig helleren, teilweise braunroten Beinen war darunter ®). 
Meine anfängliche Annahme, dass auch eine echte, hellgefärbte 
truncicola-Königin im Neste sich befinde, musste ich bei wieder- 
holter sorgfältiger Untersuchung des Nestes als irrtümlich aufgeben. 
Auch eine als solche phänotypisch erkennbare Bastardkönigin trun- 
cicolo-pratensis war nicht zu finden. 

Wie ist die sonderbare Mischung dieser Kolonie und der schein- 
bare Widerspruch zwischen dem phänotypischen Charakter der 
Weibchen und der Arbeiterinnen in derselben zu erklären? Meines 
Erachtens haben wir hier einen interessanten Fall Mendel’scher 
Kreuzung vor uns, der folgendermaßen zu deuten ist: 

Die zahlreichen entflügellen Weibchen im Neste gehörten 
wahrscheinlich der ersten Tochtergeneration (F!), einer Kreu- 
zung zwischen einem trumneicola-g und einem pratensis-9 an und 
folgten daher dem „Uniformitätsgesetz“, indem sie sämtlich phäno- 
typisch untereinander gleich waren. Zugleich zeigten sie „totale 
Dominanz“ der dunklen pratensis-Färbung über die „völlig rezessive* 
helle truncicola-Färbung (Dominanz von Schwarz über Rot), ver- 
bunden mit einem scheinbar neuen, in Wirklichkeit aber atavistischen 
Einschlag”) von rufa-Skulptur. Ein Teil der im April 1910 vor- 





5) Individuen mit angedunkeltem Rücken findet man übrigens unter den mitt- 
leren und kleineren Arbeiterinnen auch in reinen, ungemischten Kolonien von trun- 
cicola. 

6) 6 Königinnen und mehrere Dutzend Arbeiterinnen aus dieser Kolonie be- 
finden sich in meiner Sammlung. Der Färbungsgegensatz zwischen den hellroten 
Arbeiterinnen von truncicola und den fast schwarzen von pratensis ist sehr auf- 
fallend. 

7) Solche atavistische Rückschläge sind in der ersten Filialgeneration von 
Rassenkreuzungen im Pflanzen- wie im Tierreich bekanntlich oft beobachtet, z. B. 
das Wiederauftreten der Wildfärbung bei Kreuzung von andersfarbigen Mäuserassen. 
Siehe die Werke von Bateson, Baur, Goldschmidt, Haecker u.s.w. Diese 


8* 


116 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


gefundenen pratensis-Arbeiterinnen — vielleicht die Hälfte derselben 
oder ?/,. der gesamten Arbeiterzahl — gehörte wahrscheinlich eben- 
falls der F!-Generation an; auch bei ihnen dominierte daher die 
dunkle pratensis-Färbung total über die helle truncicola-Färbung, 
d.h. es waren keine truneicola unter ihnen. Ein eventueller Skulptur- 
einschlag von rufa konnte bei den Arbeiterinnen®) ohnehin nicht 
so deutlich sichtbar werden wie bei den Weibchen. 

Aus der Paarung von in jenem Neste erzogenen Männchen 
der F'-Generation mit Weibchen der nämlichen Generation?) ging 
dann 1909 durch Inzucht die zweite Tochtergeneration (F?) 
hervor, in welcher nach dem „Spaltungsgesetz“ die Komponenten 
des großelterlichen Eigenschaftspaares in den verschiedenen Gruppen 
der Enkel getrennt zutage treten. Nach dem Spaltungsgesetz 
bei Monohybriden haben wir hier wegen der Dominanz von pra- 
tensis über truncicola das phänotypische Verhältnis von 3:1 zu er- 
warten, d.h. auf eine truncicola-Arbeiterın kamen drei pratensis- 
Arbeiterinnen!®). Für die Richtigkeit dieser Erklärung spricht auch 
der Umstand, dass unter den truneicola-Arbeiterinnen trotz ihrer 
geringen Zahl sich relativ mehr große Individuen befanden als 
unter den pratensis, wo die mittleren und kleinen weit überwogen; 
die größten Arbeiterinnen sind aber als der jüngeren Generation 
angehörig zu betrachten, da bei Formica die Größe der Arbeiterinnen 
von der ersten Generation an zunimmt!!). Die Gesamtzahl der 
Arbeiterinnen beider Generationen F! und F? musste daher aus */, 
pratensis und !/, truncicola sich zusammensetzen, wie es die Be- 
funde von 1910 zeigten. Leider konnte wegen des Verschwindens 
der Kolonie dıe Entwickelung der Ende April zahlreich vorhandenen 
Eierklumpen nicht verfolgt werden. Unter den frisch entwickelten 


„Hybridatavismen“ sind nach Abel die einzigen bisher experimentell bestätigten 
Entwickelungsrückschläge. Vgl. die Diskussion über das Thema .‚Atavismus“ in 
den Verh. d. Zool. Bot. Gesellsch. Wien vom 26. Febr. und 12. März 1913 (Verh. 
1914, Heft 1 u. 2). 

8) Einige der betreffenden kleinen bis mittelgroßen (5—6,5 mm langen) pra- 
tensis jener Kolonie zeigen allerdings eine schwächere, rufa-ähnlichere Behaarung 
als die übrigen, namentlich als die größeren Exemplare aus demselben Neste (in 
meiner Sammlung). 

9) Wahrscheinlich waren nicht alle die zahlreichen entflügelten Weibchen von 
1910 befruchtet, sondern nur eines oder zwei. Sonst hätte die Zahl der Arbeiterinnen 
eine größere sein müssen; auch war der Hinterleib der meisten Arbeiterinnen nur 
schmal, besonders der kleineren. — Die Fortpflanzung durch Inzucht (Paarung in 
oder nahe bei dem Neste) kommt bei rufa und pratensts nicht selten vor. 

10) Beide Rassen sind relativ (im Vergleich zu rufa) stark behaart. Bei 
truncicola sind die abstehenden Haare gelb, bei pratensis grau. 

11) Es kommt hierbei nicht so sehr auf das Alter der Königin an wie auf 
jenes der Kolonie. Eine junge Königin erzeugt in einer bereits einigermaßen er- 
starkten Kolonie schon in der ersten Generation größere Arbeiterinnen, weil die Er- 
nährungsbedingungen der Larven günstigere sind. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 417 


Ameisen hätten sich die Prozentverhältnisse von pratensis und 
truncicola genau feststellen lassen. 


2. Es ist dies wohl der erste Versuch, die Mendel’schen 
Gesetze auch auf die Rassenkreuzung bei Ameisen anzuwenden. 
Trotz der großen Schwierigkeiten, die hier der Beobachtung ent- 
gegenstehen, dürften doch weitere Forschungen die Richtigkeit der 
Mendel’schen Theorie auch auf diesem Gebiete bestätigen. Manche 
der bisher für Allianzkolonien gehaltenen, aus Arbeiterinnen ver- 
schiedener Rassen derselben Art gemischten Kolonien von Formica, 
Dorymyrmex, Pogonomyrmex, Messor u. s. w. werden sich bei näherer 
Prüfung günstiger erweisen für eine Erklärung durch die Kreuzungs- 
hypothese. Auf einige in der Literatur verzeichnete Fälle möchte 
ich hier noch kurz aufmerksam machen. 

Forel!?) erwähnt eine volkreiche gemischte Kolonie von fruncicola 
mit pratensis, die er am 30. April 1875 beı München fand. Die 
Arbeiterinnen umfassten außer einer großen Zahl reiner truncicola 
und reiner pratensis auch eine beträchtliche Menge (un bon nombre) 
von Übergängen zwischen beiden. Nähere Prozentverhältnisse sind 
leider nicht angegeben. Geflügelte Geschlechter waren um jene 
Jahreszeit nıcht vorhanden, und das Nest wurde nicht näher auf 
die Königinnen untersucht. Ich vermute, dass es sich hier um eine 
Kolonie handelte, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreu- 
zung zwischen pratensis-Z und trunecicola-9 angehörte und durch 
Inzucht befruchtet war. Es wird dies durch die verschiedene 
Mischung jener Kolonie im Vergleich zu der von mir oben er- 
wähnten vom April 1910 nahe gelegt. Je nachdem in der P-Gene- 
ration das Männchen fZruneicola und das Weibchen pratensis ist 
oder umgekehrt, lässt sich wohl auch hier wie z. B. bei den Kreu- 
zungen zwischen Goldhahn und Silberhenne (nach den Versuchen 
von Hagedoorn®’)) ein verschiedenes Spaltungsresultat erwarten. 
Für die Annahme einer Allometrose spricht die Mischung jener 
Forel’schen Kolonie nicht, da es zu unwahrscheinlich ist, dass eine 
reine truncicola-Königin mit einer reinen pratensis-Königin und mit 
einer Königin der „Var. truncicolo-pratensis“ sich hier zusammen- 
gefunden haben sollte. Es sei übrigens bemerkt, dass letztere 
„Varietät“ wohl überhaupt nur als eine Hybridform aufgefasst 
werden kann ebenso wie die „Var. rufo-truncicola* und die „Var. 
cronicoloides For.“ der F. truncicola. Wahrscheinlich gilt dasselbe 
auch für die sehr häufige „Var. rufo-pratensis“ von F. pratensis und 
auch für manche der als eigene „Varietäten“ oder sogar „hassen“ 
aufgestellten zwischen F. fusca und rufibarbis stehenden Formen. 


12) Etudes myrm&col. en 1875, p. 27 (59) (Bull. Soc. Vaud. Sc. Nat. XIV). 
13) Zitiert bei Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre, 
8. 150. 


118 Wasmann. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


Ein anderes Beispiel einer sehr wahrscheinlich Mendel’schen 
Kreuzung bietet eine aus rufa und truneicola gemischte Kolonie, 
die ich am 25. April 1889 bei dem Dorfe Panheel (bei Roermond, 
Holl. Limburg) fand'#). Die ziemlich volkreiche Kolonie, deren 
Haufenbau um einen alten Strunk angelegt war, bestand aus unge- 
fähr !/, (25%) truneicola-Arbeiterinnen und ?°/, (759) rufa, mit ganz 
allmählichen Übergängen zwischen beiden; letztere bildeten beiläufig 
25% der Gesamtbevölkerung. Die größten Individuen waren aus- 
schließlich reine tramnezcola; unter den mittleren waren einige ebenfalls 
reine Zrumeicola, ferner zahlreiche Übergänge von der truncicola- 
Färbung zur rufa-Färbung und endlich reine rufa; die kleinen Ar- 
beiterinnen hatten ausschließlich nur r«fa-Färbung (Kopf oben ganz 
braun, Vorder- und Mittelrücken teilweise). Aber auch letztere 
zeigten (ebenso wie die übrigen rufa dieser Kolonie) in den zahl- 
reichen, aber nur sehr kurzen, gelben Börstchen des Hinterleibs 
einen Kleinen Einschlag von tr manner Behaarung (nach den Exem- 
plaren in meiner Sammlung). Geflügelte Geschlechter waren in 
dieser Jahreszeit nicht vorhanden'’). Eine Königin wurde wegen 
des festen Strunkes nicht gefunden. Dass hier, wie ich bereits 
1591 aussprach, ein Kreuzungsprodukt zwischen truncicola und 
rufa vorlag, dürfte ziemlich sicher sein. Die Königin dieser Kolonie 
gehörte wahrscheinlich der F!-Generation an, und die Spaltung er- 
folgte in der von ıhr abstammenden F?-Generation im Verhältnis 
von: 1 truneicola: 1 rufo-truneicola: 2 rufa, also nach dem Spal- 
tungsgesetz der Monohybriden. Theoretisch müsste das Verhältnis 
eigentlich lauten: 1 truncieola: 2 rufo-truncieola: 1 rufa. Aber bei 
partieller Dominanz von rufa über truneicola wird unter den rufo- 
truncicola der rufa-Charakter überwiegen, wodurch das obige phäno- 
typische Verhältnis herauskommen würde. 

Merkwürdig ist, dass diese Kolonie im September des näm- 
lichen Jahres nur noch 5% Arbeiterinnen der reinen trumeicola- 
Färbung aufwies gegen 25%, im Frühjahr. Die im September durch 
Aussieben des Nesthaufens gefundenen Gäste waren die nämlichen 
wie bei F! rufa: Dinarda Märkeli Ksw., Thiasophila angulata Er., 
Notothecta flavipes Grav., N. anceps Er., Oxypoda haemorrhoa 
Sahlbg., Stenus aterrimus Er. und Formicoxenus nitidulus N.yl. 


14) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen, 
1. Aufl, 1891, S. 173 (Die 2. Aufl. ist im I. Bande von ‚Das Gesellschaftsleben 
der Ameisen‘ als Teil I mit derselben Paginierung enthalten, Münster i. W. 1915.) 

15) In reinen rufa-Kolonien sind sie Ende April öfters schon zur Paarung 
fertig. Am 29. April 1890 sah ich bei Exaten bereits mehrere geflügelte Männchen 
und Weibchen und ziemlich viele entflügelte Weibchen von rufa auf Wegen umher- 
laufen. 1893 fand bereits am 17. und 18. April ein Paarungsflug von rufa statt. 
Die geflügelten Weibchen wurden jedoch nur auf Wegen laufend, nicht fliegend, 
angetroffen. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 119 


Eine ähnliche Zusammensetzung wie der Herbstbefund obiger 
Kolonie zeigte auch eine rufo-truncicola-Kolonie, die ich bei Deren- 
bach im Luxemburger Ösling am 23. Mai 1906 fand!‘). Das Nest 
war in die Schieferplatten einer Mauer gebaut und über demselben 
erhob sich ein Haufen von rufa-Bauart. Unter den ca. 5000 Ar- 
beiterinnen waren etwa 5%, von reiner truncicola-Färbung, und 
zwar ausschließlich große Individuen; unter den übrigen großen 
Arbeiterinnen hatte ein Teil Übergänge zur rufa-Färbung; die 
mittleren und kleinen waren ausschließlich rufa, aber auch hier 
(wie ım vorigen Falle von 1889) zeigte sich durch die gelben 
Börstehen namentlich der letzten Hinterleibssegmente ein leichter 
Einschlag von truncicola-Behaarung. Die Königin konnte wegen 
der festen Steinplatten der Mauer nicht gefunden werden. Ge- 
flügelte Geschlechter waren im Haufen nicht zu sehen. An der 
nämlichen Stelle hatte sich im August 1904 eine reine truncicola- 
Kolonie befunden, die jetzt durch die rufo-truncicola-Kolonie ersetzt 
war. Ich neigte deshalb 1910 (Biol. Centralbl. XXX, S. 458) zur 
Annahme, dass in jener truncicola-Kolonie nachträglich eine Königin 
von rufa oder von einer Bastardform rufo-truncicola aufgenommen 
worden sei. Gegenwärtig scheint mir jedoch, dass die Mischung 
jener Kolonie sich ohne Allometrose einfacher erklären lässt, durch 
die Kreuzungshypothese allein. Wenn die ursprüngliche Königin 
der Kolonie ein Bastardweibchen der F!-Generation aus einer Kreu- 
zung zwischen rufa und truncicola war, dann trat wegen des Uni- 
formitätsgesetzes (bei Dominanz von truncieola über rufa) ın der 
von ihr direkt abstammenden Generation noch keine Spaltung ein, 
sondern dieselbe hatte das Aussehen reiner truncicola (1904). Erst 
beim Auftreten der F?-Generation (durch Paarung eines Weibchens 
der F!-Generation mit einem Männchen derselben Kolonie) erfolgte 
die Spaltung in truncicola, rufa und Übergangsformen. Allerdings 
müssten wir dann wegen des starken Überwiegens der rufa 1906 
für die F?-Generation einen „Dominanzwechsel“ annehmen. 

Forel!’) erwähnt eine aus der schwarzen und der gelben 
Varietät von Dorymyrmex pyramicus Rog. gemischte Kolonie aus 
Faisons in Nord-Karolina, welche mehrere, einige Meter voneinander 
entfernte Nester bewohnte, in denen die Arbeiterinnen sämtlich 
aus schwarzen pyramicus und gelben pyramicus flavus bestanden, 
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Färbungen. In einem 
der Nester, das er aufgrub, fanden sich sowohl Männchen und 


16) Siehe „Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ III, S. 20. Meine 
Begleiter P. H. Schmitz und V. Ferrant unterstützten mich bei der Unter- 
suchung des Nestes. 

17) Exeursion myrmecologique dans L’Amerique du Nord (Ann. Soc. Ent. Belg. 
1899), p. 422, und: Ebauche sur les moeurs des Fourmis de l’Amer. du Nord 
(Rivista d. Sc, biol. II, n. 3, 1900), p. 5 Sep. 


120 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


Weibchen von pyramicus als auch Männchen von pyramicus flavus. 
Forel nahm daher hier eine Allianzkolonie an, entstanden 
durch eine Verbindung von befruchteten Weibchen beider Varie- 
täten. Es kann aber auch ebensogut eine Bastardkolonie ge- 
wesen sein, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreuzung 
beider Varietäten angehörte und durch Inzucht befruchtet war; in der 
von ihr abstammenden F?-Generation trat dann die Spaltung der 
Färbungscharaktere in die schwarze und gelbe Varietät wieder ein. 

Wheeler!‘) fand bei Aguas Calientes in Mexiko im Dezember 
1900 einen großen Nestkegel der „Ackerbauameise“ Pogonomyrmex 
barbatus Sm., dessen Bewohnerschaft aus der typischen barbatus- 
Form mit schwarzem Kopf und Thorax und aus der ganz roten 
Var. molifaciens Buck]. zu ungefähr gleichen Teilen gemischt war, 
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Formen. Ein tieferes 
Aufgraben des Nestes war wegen des harten Bodens nicht mög- 
lich. Aber Wheeler glaubte, diese gemischte Kolonie in ähnlicher 
Weise wie die obenerwähnte von pyramicus niger und flavus für 
eine Allianzkolonie halten zu müssen, die aus der Verbindung 
zweier oder mehrerer Königinnen der beiden Varietäten entstand. 
Auch ich teilte früher diese Ansicht!°). Heute scheint mir jedoch, 
dass der Befund Wheeler’s ebensogut oder noch besser erklärlich 
ist, wenn wir annehmen, dass es um die F?-Generation einer 
Bastardkolonie sich handelte, deren Königin der F'!-Gene- 
ration aus einer Kreuzung zwischen beiden Varietäten angehört 
hatte. Die Mischung der Kolonie zu „ungefähr gleichen Teilen“ 
aus Arbeiterinnen beider Färbungen stimmt allerdings nicht mit 
dem einfachen Mendel’schen Spaltungsgesetz bei Monohybriden. 
Es fehlt jedoch eine nähere Kontrolle der wirklichen Mischungs- 
verhältnisse, und zudem gibt es auch Mendelfälle komplizierterer 
Art (mit Faktorenabstoßung ete.), wo das phänotypische Zahlen- 
resultat 1:1 ist?°). 

Moggridge?!) berichtet, dass er beim Öffnen eines großen 
Messor-Nestes bei Cannes in Südfrankreich die Kolonie zu ungefähr 
gleichen Teilen zusammengesetzt fand aus Ameisen, “which in colour 
and appearance might be said to represent the three forms structor, 
barbara and the redheaded variety of the latter. There were also 
a few ants with pale yellowish brown heads (Mentone and Cannes)”. 
Diese Angabe klingt zwar stark mendelistisch, dürfte aber in ihrer 
Deutung große Vorsicht erfordern. Die Arbeiterinnen mit blass 


18) The compound and mixed nests of American Ants 1901, Part. II, p. 723 
(American Naturalist XXXV, Nr. 417). 

19) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der 
Ameisen. 1901-1902, S.22—23, Sep. (Allgem. Zeitschr. f. Entomol. Bd. VI-VIH). 

20) Siehe z. B. Baur, a.a. ©. S. 150. 

21) Harvesting ants and trap-door spiders. London 1873, p. 64. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. om 
gelbbraunem Kopf, von denen ausdrücklich bemerkt wird, dass sie 
nicht bloß in diesem Neste, sondern auch anderswo sich fanden 
(Mentone und Cannes), scheiden offenbar aus als unausgefärbte 
Individuen. Wenn die übrigen Arbeiterinnen jener Kolonie wirk- 
lich aus den drei Formen: Messor structor, barbarus und der Varietät 
des letzteren mit hell blutrotem Kopfe zusammengesetzt war, so 
haben wir vielleicht die F?-Generation einer Mendel’schen Kreuzung 
zwischen barbarus und structor vor uns; Näheres lässt sich darüber 
nicht sagen. 

[Ich fand im März und April 1912 bei Gardone und an anderen 
Punkten der Umgebung des Gardasees zahlreiche Kolonien von 
Messor barbarus structor??) Var. tyrrhenica Em., aber nur sehr 
wenige von Messor barbarus barbarus Var. nigra Andre. Eine 
der letzteren Kolonien (31./3.) zeigte eine leichte Beimengung von 
Strukturelementen des structor. Die Bildung des Epinotums und 
der Fühlerbasis sowie die tiefschwarze, glänzende Färbung entsprach 
barbarus niger, aber bei den mittleren und großen Arbeiterinnen 
war der Kopf trotz des Glanzes viel deutlicher und dichter gestreift 
als bei der reinen barbarus-niger-Form derselben Gegend. Wenn 
bei jener Kolonie auch vielleicht ein Kreuzungsprodukt zwischen bar- 
barus und structor vorlag, so lässt es sich doch nicht in Zusammen- 
hang mit den Mendel’schen Gesetzen bringen.] 


3. Diese der Ameisenliteratur entnommenen Andeutungen über 
Kolonien mit Mendel’scher Mischung werden hoffentlich dazu beı- 
tragen, dass die Myrmekologen ihre Aufmerksamkeit nicht bloß auf 
die aus verschiedenen Arten, sondern auch auf die aus verschie- 
denen Rassen oder Varietäten zusammengesetzten Kolonien 
richten und bei Erklärung der letzteren die Kreuzungshypothese 
und das Verhältnis der Befunde zu den Mendel’schen Gesetzen 
mehr berücksichtigen als bisher. Am günstigsten für diesen Zweck 
sind jene Kolonien, die aus Rassen von extrem kontrastierender 
Färbung wie Formica truneicola und pratensis gebildet sind, zumal 
hier auch die Übergangsformen zwischen beiden Rassen von den rein- 
rassigen Individuen sich leichter unterscheiden lassen. Die tatsäch- 
lichen Mischungsverhältnisse der Arbeiterschaft des Nestes 
müssen auf ihre prozentuale Zusammensetzung möglichst genau ge- 
prüft werden, namentlich unter den frisch entwickelten Indi- 
viduen. Dasselbe gilt auch für die geflügelten Geschlechter, 
wenn solche vorhanden sind. Ferner muss sorgfältig untersucht 
werden, welche Königinnen (bezw. welche alte, entflügelte Weib- 
chen) vorhanden sind. Aus dem Vergleichen dieser drei Kompo- 


22) In Emery’s Fassung als Rasse von barbarus ausgedrückt. Vgl. dessen: 
Beiträge zur Monographie der Formieiden des paläarkt. Faunengebietes III. S. 437 ff. 
(Deutsch. Ent. Zeitschr. 1908). 


122 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


nenten untereinander können sich dann die Anhaltspunkte zur Be- 
urteilung eines Mendel-Falls ergeben. Unter den Arbeiterinnen 
können sich neben jenen der F?-Generation, wo die Spaltung der 
großelterlichen Allelomorphen zutage tritt, auch noch solche der 
uniformen F'-Generation finden. Unter den Königinnen können, 
wenn mehrere Jahre nacheinander Inzucht im Neste stattgefunden 
hat, solche der P-Generation (von welcher die Kreuzung ausging) 
neben solchen der F!-Generation und der F?-Generation ete. neben- 
einander vorfinden. Wenn man also in einem solchen Neste bei- 
spielsweise eine reine pratensis-Königin, eine reine truncicola-Königin 
und eine (F!-)Königin von pratensis-Färbung mit einem (atavistischen) 
Einschlag von r«fa-Skulptur entdeckt, so darf man daraus noch 
nicht ohne weiteres auf Allometrose schließen, da es sich ja um 
Weibchen ein und derselben hybriden Generationsreihe 
handeln kann. Dadurch wird selbstverständlich auch die Aufklärung 
der Spaltungsverhältnisse in der tatsächlich vorliegenden Arbeiter- 
schaft einer solchen Kolonie bedeutend erschwert. Weil die Spal- 
tung der Charaktere erst in der F?-Generation beginnt, kann die 
Beobachtung Mendel’scher Fälle ın freier Natur überhaupt nur 
beı Kolonien einsetzen, deren Arbeiterschaft dieses Stadium erreicht 
hat. Hierdurch wird abermals die Deutung der Genesis der be- 
treffenden Kreuzungsresultate erheblich schwieriger, weil man die 
Vorgeschichte der Kolonie nicht kennt. 

Nur selten werden die Anhaltspunkte zur Entscheidung der 
Frage, ob eine Mendel’sche Spaltung vorliegt oder nicht, so 
günstig sein wiein der eingangs von mir beschriebenen Kolonie praten- 
sis-Iruncicola von Luxemburg 1910. Da hier unter den zahlreichen tat- 
sächlich vorgefundenen entflügelten Weibchen im Neste weder eine 
truncieola-Königin, noch eine reine pratensis-Königin, noch eine 
Zwischenform zwischen beiden, sondern lauter Weibchen von pratensis- 
Färbung mit einem Einschlag von rufa-Skulptur waren, während 
die Arbeiterschaft in einem Verhältnis von 4:1 aus scharf geschie- 
denen pratensis und truncicola bestand, war es hier ausgeschlossen, 
die Mischung der Kolonie durch Allometrose zu erklären, sei es 
nun auf dem Wege der Allianz zwischen den ursprünglichen Königinnen 
(primäre Allometrose) oder auf dem Wege der nachträglichen Adop- 
tion einer trumcieola-Königin in dem pratensis-Neste (sekundäre Allo- 
metrose). Es blieb also nur die Mendel’sche Erklärung übrig, 
weil durch die phänotypische Verschiedenheit der entflügelten Weib- 
chen von den Arbeiterinnen ein deutlicher Gegensatz zwischen einer 
hybriden F'-Generation und F?-Generation im Mendel’schen Sinne 
ausgedrückt war. Dabei bleiben allerdings die oben gegebenen 
Details der Genesis dieses Falles noch hypothetisch?°), da weder 


23) Die Königin der P-Generation war nach meiner Voraussetzung ein reines 
pratensis-Weibchen, das von einem truncicola-Männchen befruchtet worden war. 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 123 


die Vorgeschichte jener Kolonie vor April 1910 noch die weitere 
Entwickelung derselben im Sommer aus den vorhandenen Eier- 
klumpen beobachtet werden konnte. 

Manche Vererbungsforscher werden es befremdlich finden, dass 
ich nicht den Vorschlag mache, auf dem viel sichereren experi- 
mentellen Wege die Mendel’schen Gesetze der Kreuzung zwischen 
Ameisenrassen zu untersuchen. Prof. R. Goldschmidt-München 
sprach mir auf der Versammlung deutscher Naturforscher in 
Münster i. W. im September 1912 seine Wünsche in dieser Rich- 
tung aus. Ich machte ihn auf die Schwierigkeiten aufmerksam, 
die der praktischen Verwirklichung dieses Vorschlages entgegen- 
stehen. Für Myrmekologen, die mit der Lebensweise und nament- 
lich der Fortpflanzungsweise der Ameisen und ihrem diesbezüglichen 
Verhalten in künstlichen Beobachtungsnestern vertraut sind, brauche 
ich dies kaum zu bemerken. Einen eine ganze Reihe von Punkten 
umfassenden Plan zu einer experimentellen Kreuzung zwischen 
pratensis und truncicola habe ich zwar längst skizziert. Da sich 
hierbei jedoch die praktische Wahrscheinlichkeit des Gelingens der- 
selben als quasi Null herausstellte, sehe ich von einer Veröffent- 
lichung desselben lieber ab. 


4. Anhang. Über das relative Alter unserer rufa- 
Rassen, mit Berücksichtigung ıhrer Gäste. 

Um die Verschiedenheit der Resultate besser verständlich zu 
machen, die bei Kreuzungen zwischen pratensis und truncicola einer- 
seits und zwischen rıfa und truneicola andererseits sich ergeben, 
sei darauf aufmerksam gemacht, dass rufa die älteste und weitver- 
breitetste unserer drei europäischen rufa-Rassen ıst?*), und dass 
wir pratensis und truneicola als nach verschiedenen Richtungen von 
ihr biologisch divergierende jüngere Zweige aufzufassen haben, wie 
das umstehende Schema andeutet. 

Rufa ıst dem Leben im arktischen Wald durch ihren hohen 
Haufenbau am besten angepasst; pratensis hat sich deın Leben am 
offenen Waldrand und auf Wiesen durch ihren tieferen und 
flacheren, der Austrocknung besser widerstehenden Haufenbau an- 
gepasst; truncicola endlich, die als jüngste der drei Rassen anzu- 
sehen ist, hat sich noch mehr vom Waldleben emanzipiert; ihr Nest 


Wegen der großen Zahl der pratensis-Arbeiterinnen schrieb ich einen Teil derselben 
der F'-Generation zu, welcher auch die tatsächlich vorgefundenen entflügelten 
Weibchen angehörten. Die P-Königin fand ich dagegen nicht. Entweder war sie 
schon gestorben oder sie ist mir unter den 12 pratensis-farbigen Weibchen ent- 
gangen. Nur 6 derselben wurden zur Untersuchung mitgenommen, 6 im Neste 
gelassen. Unter diesen kann auch ein Weibchen mit matterem Hinterleib ge- 
wesen sein, das ich wegen der Geringfügigkeit des Skulpturunterschiedes übersah. 

24) Siehe hierüber auch „‚Über den Ursprung des sozialen Parasitismus‘“ u. s, w. 
(Biolog. Centralbl. 1909, Nr. 19—22, 2. Kapitel). 


124 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


ist häufig unter Steinen und gleicht auch durch den kleineren, aus 
feinerem Material bestehenden Haufen mehr demjenigen von san- 
guinea als von rufa und pratensis. In ihrer Koloniegründung ist 
sie vom fakultativen zum obligatorischen temporären sozialen Para- 
sitismus übergegangen, indem ihre Weibchen regelmäßig durch 
fremde Hilfsameisen (fusca) sich adoptieren lassen, während rufa 
und pratensis meist Arbeiterinnen der eigenen Art und Rasse, bezw. 
der eigenen Kolonie (Zweigkoloniebildung) hierzu benutzen. 


rufa. 
bi A x 
N \ 


ee N 


pratensis. \ 


N 
truncicola. 

Aus dem im obigen Schema angedeuteten Verhältnis, in welchem 
truncicola zu rufa und pratensis steht, erklärt sich wahrscheinlich 
der atavistische Einschlag von rufa-Skulptur ın der F!-Generation 
bei einer Kreuzung zwischen truncicola und pratensis sowie die 
Dominanz der pratensis-Färbung über die truncieola-Färbung in der 
F!- und F?-Generation einer solchen Kolonie (s. o. S. 115ff.). 

Von besonderem Interesse für die stammesgeschichtlichen Be- 
ziehungen von F. truncicola zu rufa und pratensis sind ihre Gäste. 
Diese liefern ein wertvolles biologisches Dokument für ihren phylo- 
genetischen Zusammenhang mit jenen Rassen und für ihr relatives 
Alter. Dieses Thema erfordert eigentlich auf Grund meines reichen 
Sammlungsmaterials namentlich bezüglich der bisher am besten er- 
forschten myrmekophilen Koleopteren eine eigene umfangreiche 
Arbeit und kann hier nur kurz skizziert werden. 

Rufa hat weitaus die meisten Gastarten, pratensis etwas weniger, 
Iruncicola am allerwenigsten, und zwar haben die beiden letz- 
teren nur solche gesetzmäßige Gäste, die entweder auch 
bei rufa vorkommen oder von rufa-Gästen direkt abzu- 
leiten sind”). So fehlen z. B. unter den gesetzmäßigen pratensis- 
Gästen zwei der größeren myrmekophilen Staphyliniden, Dinarda 

25) Die durch ihre dunklere Färbung von Thiasophila angulata Er. ab- 
weichende Thias. pexca Motsch. kommt nicht bloß bei pratensis vor, sondern 
auch bei rufa neben der ersteren (Valkenburg). 


Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 195 


Märkeli und Q@uedius brevis, obwohl sie ın den rufa-Nestern der- 
selben Gegend häufig sind. Truncicola scheint ihre Gäste überhaupt 
nur aus rufa- oder pratensis-Nestern der betreffenden Gegend zu 
erhalten, die zu ihr übergehen, und sie hat je nach dem Alter ihrer 
Niederlassung daselbst teils nur auffallend wenige Gäste (z. B. bei 
Luxemburg), teils eine größere Anzahl (z. B. bei Lippspringe i. W.). 
Bei rufa und pratensis dagegen ist die „Gastgarnitur“ ihrer Nester 
in den verschiedensten Gegenden ihres Verbreitungsbezirkes eine 
viel konstantere und gleichmäßigere. 

Eine ausgesprochene Differenzierung zwischen den Gästen 
von rufa, pratensis und truneicola findet sich nur bei den größten 
ihrer Symphilen, nämlich bei den Staphyliniden der Gattung Ate- 
meles?°). At. pubicollis Bris. hat als Larvenwirt F. rufa und ist 
über das ganze Verbreitungsgebiet der Wirtsameise, wenngleich 
sporadischer als die übrigen vufa-Gäste, verbreitet. Die Entstehung 
dieser Anpassung ist daher als eine relativ alte anzusehen im Ver- 
gleich zu den folgenden. At. pratensoides Wasm., der den pubi- 
collis bei F. pratensis vertritt, ist zwar morphologisch als „eigene 
Art“ von pubicollis abgegrenzt, kommt aber nur äußerst selten vor 
trotz der großen Häufigkeit des Wirtes; er ist bisher überhaupt 
nur in einem pratensis-Neste bei Luxemburg 1903 gefunden worden. 
Er ist wahrscheinlich durch eine relativ rezente, lokal begrenzte 
Anpassung von pubicollis an F. pratensis hervorgegangen. At. pubi- 
collis subsp. truncicoloides Wasm., der den pubicollis bei truncicola 
vertritt, ist nur als Rasse von ihm abgegrenzt und im Vergleich 
zum Verbreitungsgebiet der Wirtsameise äußerst selten (Lipp- 
springe 1. W. und Niederranna in Niederösterreich). Seine An- 
passung an truncicola ıst auf einen relativ rezenten, lokal be- 
grenzten Übergang von pubicollis zur Lebensweise bei truncicola 
zurückzuführen ?”). 

Unter den myrmekophilen Acarinen hat Ztruneicola von pra- 
tensis an manchen Orten den Loelaps (Hypoaspis) laevis Mich. er- 
halten, der bei pratensis allgemein häufig ist, bei rufa dagegen fehlt 
und daselbst durch den panmyrmekophilen Zoelaps (Hypoaspis) 
myrmecophilus Berl. ersetzt ist. 

Besonders auffallend ist, dass sämtliche gesetzmäßigen trunci- 
cola-Gäste aus rufa-(oder pratensis-)Nestern der betreffenden Gegend 
stammen, kein einziger dagegen aus sanguinea-Nestern, wenngleich 
letztere ebendort zahlreich sind. Dies ist um so auffallender, weil 


26) Vgl. Die Anpassungscharaktere der Atemeles (Extr. d. I. Congr. Intern, 
d’Entomologie Bruxelles, 1910, p. 265—272). 
27) Vgl. auch: Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen und Ter- 


mitengästen (Festschr. Rosenthal, 1906, S.43—58 und Biolog. Centralbl. XXVI, 
Nr. 17—18). 


126 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 


der Nestbau von truncicola weit mehr jenem von sanguinea gleicht 
als jenem von rufa oder pratensis! Da die myrmekophilen In- 
sekten auf ihrer Wanderung von einem Neste zum andern durch 
den Geruchssinn geleitet werden, ist jene Erscheinung wohl nur 
daraus zu erklären, dass die umherstreifenden rufa-Gäste vom 
truncicola-Geruch angezogen werden wegen der zwischen beiden 
Wirtsrassen bestehenden nahen Verwandtschaft, während für die 
sanguinea-Gäste der truncicola-Geruch indifferent bleibt. 

Unter den sanguwinea-Gästen ıst nur Lomechusa strumosa an 
einigen Orten von ihrer normalen Wirtsameise auch gelegentlich 
zu F.rufa bezw. zu F\ pratensis übergegangen. Für ihr Vorkommen 
bei F. truncicola liegen überhaupt keine zuverlässigen Funde vor, 
obwohl der Nestbau dieser Ameise demjenigen ihres normalen 
Wirtes am ähnlichsten ist. Die an F! sanguinea angepasste Dinarda 
dentata Grav., die als die älteste unserer zweifarbigen Dinarda- 
Rassen zu betrachten ist, wird bei rufa durch D. Märkeli ver- 
treten®®); D. dentata ist nur in einzelnen Überläufern sehr selten 
bei rufa gefunden worden trotz ihrer großen Häufigkeit bei san- 
guinea. Hetaerius ferrugineus ist ein gemeinschaftlicher Gast sämt- 
licher einheimischer Formica-Arten, mit besonderer Vorliebe für 
F. fusca, und kommt bei sangwinea weit häufiger vor als bei rufa 
und pratensis; bei truncicola habe ich ıhn überhaupt noch nie ge- 
funden. Übrigens scheidet er wegen seiner Neigung zur Panmyrme- 
kophilie ohnehin aus unserer obigen Betrachtung aus. 

Diese Andeutungen dürften zur Genüge zeigen, dass uns die 
Myrmekophilenkunde auch über die phylogenetischen Beziehungen 
zwischen manchen Ameisenarten und Rassen wertvolle Aufschlüsse 
zu geben vermag. 

Zum Schluss noch eine berichtigende Bemerkung. Es ist mir 
niemals eingefallen, unsere heutige Formica sanguinea von unserer 
heutigen F. truneicola oder von irgendeiner heutigen Art oder 
Rasse der rufa-Gruppe abzuleiten. Solche Anachronismen möge 
man mir deshalb auch nicht zuschreiben. Was ich in meiner Ar- 
beit von 1909 (Über den Ursprung des sozialen Parasitismus etc.) 
zu zeigen suchte und wohl auch gezeigt habe, ist, dass wir in der 
biologischen Phylogenese von F. sanguinea ein rufa-ähnliches 
(bezw. ein truncicola-ähnliches) Stadium anzunehmen haben. 


28) Die bei F. truneicola von mir gefundenen Dinarda sind kaum als eigene 
Varietät von Märkeli zu trennen, indem die Oberseite des Hinterleibes (entsprechend 
der stärkeren Behaarung von truneicola im Vergleich zu rufa) ein wenig dichter 
und länger behaart ist als bei Märkeli und meist auch die ersten Hinterleibsringe 
etwas heller (rötlich) gefärbt sind. Aber die Unterschiede sind sehr gering und 
nicht einmal konstant, so dass sie schwerlich eine systematische Abtrennung der 
bei truncicola lebenden Form von der bei rufa lebenden rechtfertigen. 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 197 


Nachsehrift. 


In vorliegender Arbeit wurde angenommen, daß die hier er- 
wähnten gemischten Kolonien von truncicola mit pratensis und von 
truncicola mit rufa dem Spaltungsgesetz der Mendel’schen Mono- 
hybriden folgen. Es wurde dabei hauptsächlich auf die leicht 
sichtbaren Färbungscharaktere Bezug genommen, auf die Skulptur- 
und Behaarungsverhältnisse nur nebenbei, zumal die Details der 
letzteren nur unter der Lupe wahrnehmbar sınd und daher keine 
Prozentverhältnisse für dieselben bei der Beobachtung der Kolonien 
in freier Natur sich aufstellen lassen. Eine mikroskopische Nachprüfung 
der Skulptur und Behaarung der Arbeiterinnen ın den beiden Kolonien 
truncicola-rufa (Derenbach 1906) und truncicola-pratensis (Luxem- 
burg 1910) machte es mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Be- 
haarung und Skulptur unabhängig von der Färbung mendeln, ja 
vielleicht sogar wieder unabhängig voneinander. Die Mischungs- 
verhältnisse dieser Kolonien wären infolgedessen nach den Spal- 
tungsgesetzen der Di- bezw. der Trihybriden zu beurteilen. Siehe 
meine spätere Arbeit: Luxemburger Ameisenkolonien mit 
Mendel’scher Mischung (Monatsberichte der Gesellsch. Luxem- 
burger Naturfreunde 1915). 


Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 

Eine Kritik der Anschauungen OÖ. Dickel’s über die Ge- 

schlechtsbestimmung bei den Hymenopteren, insbeson- 
dere bei der Honigbiene. 


Von Hans Nachtsheim, Freiburg i. Br. 


Wieder einmal wird der Versuch gemacht, die Dzierzon’sche 
Theorie zu stürzen. In den beiden letzten Nummern des vorigen 
Jahrganges dieser Zeitschrift veröffentlicht Otto Dickel einen 
längeren Aufsatz, betitelt „Zur Geschlechtsbestimmungsfrage bei 
den Hymenopteren, insbesondere bei der Honigbiene“. Er meint, 
dass seine Darlegungen „der Auffassung einer syngamen Geschlechts- 
bestimmung bei der Biene, bei der sie ja als am gesichertsten gilt, 
den Boden vollständig entziehen.“ Wenn ich auch nicht glaube, 
dass ein wirklicher Kenner der Biologie der Hymenopteren und 
speziell der Honigbiene sich infolge der Dickel’schen Ausführungen 
veranlasst sehen wird, seine Ansichten über die Dzierzon’sche 
Lehre einer Revision zu unterziehen, so wird, da Dickel kein 
schlechter Anwalt seiner Sache ist, vielleicht doch manch einer, 
der mit den Verhältnissen weniger vertraut ist, sagen: „Die Fort- 
pflanzungsverhältnisse bei der Honigbiene — wie bei den Hyme- 
nopteren überhaupt — scheinen doch trotz der zahlreichen Unter- 
suchungen und trotz der jahrzehntelangen Diskussionen noch 


428  Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


keineswegs geklärt zu sein.“ Schon aus diesem Grunde dürfen die 
Dickel’schen Behauptungen nicht unbeantwortet bleiben. Gibt es 
wirklich, wie Dickel behauptet, Tatsachen, die beweisen, „dass 
das Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern keine seltene 
Ausnahme, sondern zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen 
physiologischen Zuständen die Regel bildet?“ Wir wollen nicht 
dem Grundsatze huldigen: die Tatsachen stimmen nicht zu der 
Theorie — um so schlimmer für die Tatsachen! „Wir müssen 
uns an das halten, was wissenschaftlich sicher festgestellt ist, mag 
es der Theorie auch noch so unbequem sein“, schreibt Dickel. 
Sehr richtig, schade nur, dass Dickel nicht recht weiß, was es 
eigentlich heisst, etwas „wissenschaftlich sicher“ feststellen. 
Dickel hat — dieses Resultat der folgenden Ausführungen sei 
hier schon ım voraus mitgeteilt — auch nicht den geringsten wissen- 
schaftlichen Beweis für die Richtigkeit seiner „Sekrettheorie“ er- 
bracht, die Dzierzon’sche Lehre besteht auch weiter ebenso zu 
Recht wie zuvor. „Dickel begeht immer wieder den gleichen 
Denkfehler: die bloße Möglichkeit einer Deutung der Beobach- 
tungen anderer Autoren im Sinne seiner Lehre einem unmittelbaren 
Beweise selbst gleichzusetzen.“ Dieses von Bresslau (1908 b)!) 
stammende Urteil über Ferdinand Dickel hat, wie wir sehen 
werden, für Dickel jun. die gleiche Gültigkeit. 


Die Dickel’sche „Sekrettheorie“. 


Ehe wir dazu übergehen, die „Beweise“ Dickel’s einer kri- 
tischen Betrachtung zu unterziehen, sei seine „Sekrettheorie“* kurz 
skizziert. Die „verachtete epigame Geschlechtsbestimmungsweise“ 
will Diekel durch seine Darlegungen wieder „ın den Vordergrund 
des Interesses rücken helfen“?). Es ist nach Dickel zwar richtig, 


1) S. das Literaturverzeichnis am Schluss. 

2) Dickel scheint sowohl die Theorie der syngamen wie auch die der pro- 
gamen Geschlechtsbestimmung allgemein abtun zu wollen. „Die Lehre von der 
progamen Geschlechtsbestimmungsweise“, schreibt er, „hat durch die Untersuchungen 
Shearer’s (1911) einen starken Stoß erlitten... Bewahrheiten sich Shearer’s 
Angaben, dann ist das jetzt schon sehr rissige Fundament jener Auffassung voll- 
kommen zerstört.“ Hätten sich die Angaben Shearer’s über die Eibildung und 
Befruchtung bei Dinophilus bestätigen lassen, so wäre das ein eigenartiger Fall 
syngamer, nicht aber epigamer Geschlechtsbestimmung gewesen. Shearer hat 
aber, wie ich bereits kurz dargelegt habe (1914 a), seine Befunde größtenteils falsch 
gedeutet; in meiner im Laufe des Jahres erscheinenden Arbeit über die Geschlechts- 
bestimmung bei Dinophilus — da ich bei Kriegsausbruch meine Experimente vor- 
zeitig abbrechen musste, verzögert sich leider der Abschluss der Arbeit sehr — 
werde ich den ausführlichen Beweis dafür erbringen. Bei Dinophilus ist das Ge- 
schlecht bereits im unbefruchteten Ei unabänderlich festgelegt. Sicherlich aber 
haben wir hier ebenso einen erst sekundär erworbenen Modus der Geschlechts- 
bestimmung vor uns wie bei Bonellia, bei der nach den Untersuchungen Baltzer’s 
(1914) die Larve geschlechtlich noch indifferent ist. 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 129 


„dass aus unbefruchteten Eiern nur Männchen entstehen, richtig 
ist auch, dass die zu gewissen Jahreszeiten in Drohnenzellen abge- 
setzten Eier der normalen, begatteten Königin unbefruchtet sind. 
Falsch aber ist die Behauptung, dass sich Drohnen ausschließlich 
aus unbefruchteten Eiern entwickeln. Vielmehr ist es Regel, dass 
zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen physiologischen Stock- 
zuständen auch die Drohnen ihre Entstehung aus befruchteten Eiern 
nehmen.“ Nicht die Befruchtung bestimmt das Geschlecht, sondern 
die Geschlechtsbestimmung ist Sache der Arbeiterinnen. Jedes be- 
fruchtete Ei ist sexuell noch indifferent, ja selbst die Arbeiter- 
larven sind nach Dickel noch „intermediäre Formen“, aus denen 
die Arbeiterinnen jede der drei Formen des Bienenstaates erziehen 
können. Es ist die Qualität der Nahrung, die „den ausschlag- 
gebenden Faktor bildet, deren Verschiedenheit durch Zufuhr ver- 
schiedenartiger Sekrete bedingt ist“. Vergleichen wir die Sekret- 
theorie OÖ. Dickel’s mit den phantasievollen Vorstellungen F. Dickel’s 
über die Fortpflanzungsverhältnisse im Bienenstaat, so kommen wir 
zwar zu dem Resultat, dass an der Theorie O. Dickel’s wenig 
Neues ıst — es soll der „gute Kern“ der Theorie F. Dickel’s 
sein — aber seine heutigen Anschauungen bedeuten doch immerhin 
insofern einen Fortschritt, als er das Entstehen von Drohnen aus 
unbefruchteten Eiern ın der ungestörten normalen Bienenkolonie 
wenigstens für „gewisse Jahreszeiten“ zugibt. 


Die „Möglichkeit“ der Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern. 


In seinen einleitenden Bemerkungen schreibt Dickel, dass 
„schon früher aus den Reihen überzeugter Anhänger dieser Lehre 
Stimmen laut geworden sind, die die Möglichkeit einer gelegent- 
lichen Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern zugeben“. 
Diese Stimmen mehrten sich. Es haben in der Tat selbst die 
eifrigsten Verfechter der Dzierzon’schen Lehre (s. z. B. v. Buttel- 
Reepen, 1911) immer darauf hingewiesen, dass wohl gelegent- 
lich auch einmal ein befruchtetes Ei eine Drohne liefern kann. 
Auch die Autoren, welche das Geschlechtsbestimmungsproblem bei 
den Hymenopteren auf Grund zytologischer Untersuchungen erörtert 
haben (z. B. Schleip, 1912; Armbruster, 1913) heben allgemein 
hervor, dass eine gelegentliche Entstehung von Hymenopteren- 
männchen aus befruchteten Eiern sich theoretisch sehr wohl erklären 
lässt, ebenso wie eine gelegentliche Entstehung von Weibchen aus 
unbefruchteten Eiern bei den sozialen Hymenopteren. Ich habe 
ausgeführt (1913), dass es ein Charakteristikum der Hymenopteren- 
männchen ist, dass sie nur ein Uhromosomensortiment besitzen, 
während die Weibchen der Hymenopteren zwei aufweisen, also die 
diploide Chromosomenzahl. Nun ist es aber sehr wohl denkbar 
— schon Schleip (1912) hat hierauf hingewiesen —, dass aus 

XXXV. 9 


130  Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


irgendwelchen Gründen einmal die vom Spermakern stammenden 
Chromosomen ihre normale Funktion nicht auszuüben vermögen. 
Der sich entwickelnde Embryo besäße dann zwar beide Chromo- 
somensortimente, aber nur ein „aktives“ Sortiment, das befruchtete 
Ei würde ein Männchen liefern. Doch es wäre nicht einmal nötig 
anzunehmen, dass alle Chromosomen des einen Sortimentes funk- 
tionsunfähig sind, es müsste ein Defekt des Chromosoms bezw. der 
Chromosomen, die Träger der Erbfaktoren für das Geschlecht sind, 
. genügen, um die Entstehung eines Weibchens aus dem befruchteten 
Ei unmöglich zu machen. Die Entstehung eines Weibchens aus 
einem unbefruchteten Bienenei ließe sich mit der Annahme erklären, 
dass ın dem betreffenden Eı die Reduktionsteilung unterblieben 
ist. Das Weibchen entstände ähnlich, wie die aus unbefruchteten 
Eiern sich entwickelnden Weibchen der Blatt- und Gallwespen. 
Ich brauche wohl kaum noch besonders zu betonen, dass also nach 
unserer Auffassung die Entstehung einer Drohne aus einem befruch- 
teten bezw. einer Arbeiterin oder Königin aus einem unbefruchteten 
Bienenei ein pathologischer Vorgang ist. Der eine wie der andere 
Fall dürfte außerordentlich selten sein. Eine Beobachtung, die für 
eine Entstehung einer weiblichen Biene aus einem unbefruchteten 
Ei spräche, ist auch bisher noch nicht gemacht worden°®). Für die 
gelegentliche Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern lassen 
sich ‚einige Beobachtungen anführen, aber beweisend sind diese Be- 
obachtungen durchaus nicht, denn sie lassen — wir werden im 
folgenden hierauf noch zurückkommen — auch sehr verschiedene 
andere Deutungen zu. 


Drohnen in Arbeiterinnenzellen. 


Der erste „Beweis“ Dickel’s, dass Drohnen „recht häufig“ 
auch aus befruchteten Eiern entstehen, ist die unter verschiedenen 
Verhältnissen zu beobachtende Tatsache, dass auch aus Arbeiterinnen- 
zellen Drohnen hervorgehen können. Ich will zunächst schildern, 
welche Erklärung der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre dieser 
Tatsache gibt und dann damit die Dickel’sche Ansicht vergleichen. 

Schon des öfteren ist beobachtet worden, dass junge, eben be- 
gattete Königinnen anfangs die Arbeiterinnenzellen mit Drohnen- 
eiern besetzen, um allmählich zu einer völlig normalen Eiablage 
überzugehen. Ein vorübergehender Defekt an der Muskulatur des 
Samenblasenganges kann die Ursache sein, dass die Spermapumpe 
zunächst nicht funktioniert. Es ist auch möglich, dass sich hier 
der Instinkt, die in Arbeiterinnenzellen abzusetzenden Eier zu be- 


3) Es ist für die Art der Beweisführung Dickel’s charakteristisch, dass ihm 
das Fehlen einer solchen Beobachtung genügt, um kategorisch zu erklären: „Es ist 
ganz unmöglich (von mir gesperrt. N.), dass sich ein unbefruchtetes Bienenei 
zu einer Arbeitsbiene oder Königin entwickelt.“ 





Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 131 


fruchten, gewissermaßen verspätet einstellt. So ziemlich in jedem 
Bienenstocke aber kann man ab und zu einzelne Arbeiterinnenzellen 
finden, die mit Drohnenlarven besetzt sind, oder auch umgekehrt 
Drohnenzellen, die Arbeiterinnen enthalten. In diesen Fällen liegt 
wohl kein Defekt an der Spermapumpe vor, sondern wir haben 
hier eine der mannigfachen „Instinktsirrungen“ vor uns, wie wir 
sie ım Bienenstaate nicht selten beobachten können. Instinkts- 
irrungen dieser Art können bei verschiedenen Königinnen sehr ver- 
schieden häufig vorkommen. Während die einen sich nur selten 
„irren“, belegen andere ständig einzelne oder gar zahlreiche Zellen mit 
der falschen Eisorte. v. Buttel-Reepen (1904a) erwähnt mehrere 
solche Fälle. Ein Bienenzüchter berichtet nach v. Buttel-Reepen 
sogar, dass eine junge Königin „ihrer Mutter in dieser Unart nach- 
artete*. Natürlich kann es gelegentlich auch vorkommen, dass bei 
der Ablage eines Eies in eine Arbeiterinnenzelle die Spermapumpe 
in Funktion tritt, dass aber die Spermatozoen die Mikropyle des 
Eies nicht erreichen oder gar nicht bis ın den Eileiter gelangen, 
so dass das Eı „gegen den Willen“ der Königin unbefruchtet ab- 
gelegt wird. Zumal bei älteren Königinnen, deren Samenvorrat zur 
Neige geht, wird dieser Fall eintreten, und zwar allmählich immer 
häufiger, die Drohnen überwiegen schließlich die Arbeiterinnen, 
und zuletzt ist die Königin nur noch zur Erzeugung von Drohnen 
fähig. v. Buttel-Reepen, der in seiner soeben erschienenen Bio- 
logie (1915) einige der obigen Erscheinungen bespricht, bemerkt 
dazu: „Vorstehende Tatsachen sind insbesondere sehr beachtens- 
wert für solche, die ohne eingehende Kenntnis der Biologie der 
Honigbiene über Geschlechtsbestimmungsfragen, Parthenogenesis 
u.s. w. arbeiten wollen, da durch die Nichtbeachtung solcher Vor- 
kommnisse zahlreiche Irrtümer entstehen können.“ 

Dickel kennt freilich diese Tatsachen sehr genau, ja er benutzt 
gerade diese Tatsachen zum Teil als „Beweis“ für seine Theorie. 
Was zunächst einmal die Beobachtung anbetrifft, dass frisch be- 
gattete Königinnen bisweilen anfangs nur Drohnen erzeugen, ob- 
wohl sie ıhre Eier in Arbeiterinnenzellen absetzen, so bezeichnet 
Dickel die Erklärung, dass hier der Geschlechtsapparat einen vor- 
übergehenden Defekt aufweist, als „weder anatomisch noch biologisch 
haltbar“. Die Eier dieser Königinnen sind nach Dickel befruchtet, 
aber in diesem Falle sind es nicht die Arbeiterinnen, die aus den 
befruchteten Eiern Drohnen entstehen lassen, sondern die Ursache 
liegt in den Eiern selbst. Dickel behauptet, dass „mit einer ge- 
wissen Regelmäßigkeit der geschilderte abnorme Fall eintritt, wenn 
die Königin durch ungünstige Witterungsverhältnisse am Begattungs- 
flug längere Zeit verhindert worden war“. Die ersten Eier, welche 
die betreffende Königin ablegt, sollen infolgedessen überreif ge- 
worden sein, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen 

9% 


152 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln“. Die 
Wege, die Dickel zur Entstehung von Drohnen führen lässt, sind 
also recht mannigfach! Alle unbefruchteten Eier ergeben Drohnen, 
ebenso alle befruchteten überreifen Eier, und aus jedem anderen 
Bienenei vermögen die Arbeiterinnen vermittels ihrer Sekrete eine 
Drohne zu erziehen. Wir werden weiter unten die Haltlosigkeit 
der Dickel’schen Theorie der „Überreife“ in einem besonderen 
Abschnitte dartun, hier sei nur hervorgehoben, dass die Angabe 
Dickel’s, der geschilderte abnorme Fall trete unter den obigen 
Verhältnissen „mit einer gewissen Regelmäßigkeit“ auf, 
nichts weiter als eine kühne Behauptung ist, für die er auch nicht 
die Spur eines Beweises zu erbringen vermöchte. 

Dass die gelegentliche Entstehung einer Drohne in einer Ar- 
beiterinnenzelle auf eine Instinktsirrung der Königin zurückzu- 
führen ist, diese Erklärung glaubt Dickel ebenfalls ohne weiteres 
ablehnen zu können. Es sei eine „recht sonderbare Interpretation“, 
wenn Petrunkewitsch (1901) und ich (1913) sagten, die Bienen- 
königin „irre“ sich bisweilen. Da ich nicht direkt von einer In- 
stinktsirrung gesprochen, sondern mich damit begnügt habe, das 
Wort „irren“ ın Anführungszeichen zu setzen, hat Dickel den Sınn 
meiner Worte offenbar gar nicht verstanden. Er ist natürlich davon 
überzeugt, dass diese Drohnen in Arbeiterinnenzellen aus befruch- 
teten Eiern sich entwickelt haben und „beweist“ seine Ansicht 
durch Mitteilung einer Reihe von Beobachtungen, die verschiedene 
Bienenzüchter gemacht haben. Auch die übrigen „Beweise“ Dickel’s 
für seine Theorie gründen sich fast ausschließlich auf Beobachtungen 
von Imkern. Man kann speziell ın dem vorliegenden Falle gegen 
ein solches Verfahren nicht scharf genug protestieren! Niemand 
wird dıe großen Verdienste verkennen, die sich Männer wie Dzier- 
zon, v. Berlepsch um die Erweiterung unserer Kenntnisse des 
Bienenlebens erworben haben. Aber wie bereits zu Dzierzon’s 
Zeiten von kritiklosen Dilettanten -—- meist Gegnern Dzierzon’s — 
„die unrichtigsten, abenteuerlichsten und abgeschmacktesten Be- 
hauptungen über die Verteilung der Geschlechtsfunktionen, über 
Begattung, Befruchtung, Eierlegen der Bienen u. s. w. in vollem 
Ernste als ausgemachte Wahrheiten hingestellt wurden“ (v. Sıe- 
bold, 1856), so sind auch heute manche Imker einem wahren 
„Spekulationswahnsinn“ verfallen, um einen Ausdruck Zander’s 
(1911) zu gebrauchen. Das Verfahren Dicke!’s ist um so mehr 
zu beanstanden, als die von ihm angeführten Beobachtungen die 
gleichen sind, die sein Vater ın seinen zahllosen Artikeln als „Be- 
weise“ für seine Theorie gebracht hat. Seit dem Jahre 1900 ist aber 
immer und immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass 
diese „Beweise“ keine Beweise sind, dass in den Experimenten die 
oft sehr zahlreichen Fehlerquellen gar nicht oder nicht genügend 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 133 


berücksichtigt worden sind. Und jetzt, nachdem der Kampf 15 Jahre 
gedauert hat, wagt es O. Dickel, anstatt auch nur ein einziges 
eigenes Experiment mit genauem Protokoll vorzulegen, zu be- 
haupten, dass „Fehlerquellen in diesen Versuchen unmöglich nach- 
gewiesen werden können“! Es dürfte ein fruchtloses Bemühen 
sein, Dickel sen. und jun. davon zu überzeugen, dass die von 
ihnen angeführten Experimente und Beobachtungen keinen wissen- 
schaftlichen Wert haben, um aber die Art und Weise ©. Dickel’s, 
etwas zu „beweisen“, noch weiter zu charakterisieren, möge auf 
einige von diesen Experimenten noch näher eingegangen werden. 

Der Lehrer der Bienenzucht Meyer, Gadernheim, berichtet 
Dickel, „besaß ein starkes Volk mit prächtiger Königin. Aus 
rationellen Gründen unterdrückte er, gegen seine sonstige Gewohn- 
heit, jede Drohnenzellenanlage. Bis Mitte April gelang ıhm das, 
Alle Waben zeigten lückenlosen Arbeiterbau mit entsprechender 
Brut. ‚Bei genauer Besichtigung zeigten sich in verschiedenen 
Ecken doch wieder Drohnenzellen, die schleunigst entfernt wurden.‘ 
Schon nach einiger Zeit trat mitten in der Arbeiterbrut vereinzelte 
Drohnenbrut auf, die in den folgenden Tagen in so beunruhigen- 
dem Maße zunahm, dass er beschloss, die Königin zu töten. Mit- 
leid mit dem prächtigen Tier ließ ihn aber von seinem Vorhaben 
absehen. Er hing vielmehr dem Volke zwei Drohnenwaben ein ‚in 
der Erwägung, dass einem richtigen Volk im Sommer auch Drohnen- 
brut gehört.‘ Als er nach einiger Zeit das Volk wieder revidierte, 
waren beide Drohnenwaben mit regelrechter Drohnenbrut besetzt, 
während alle Arbeiterwaben wieder das ursprüngliche Bild, nämlich 
tadellos geschlossene Arbeiterbrut zeigten.“ 

Wer mit der Biologie der Bienen vertraut ist, wird das Ver- 
halten der Königin nicht merkwürdig finden. Es ist ein schon des 
öfteren wiederholtes Experiment, ein Volk im Herbste auf lauter 
Drohnenbau zu setzen. Die Königin legt dann nach einigem Zögern 
in die Drohnenzellen befruchtete Eier ab, es entstehen in den 
Drohnenzellen Arbeiterinnen. Der Trieb, Drohnen zu erzeugen, ist 
um diese Jahreszeit normalerweise nicht mehr vorhanden, es „ver- 
sagen“, um mit R. Hertwig (1904) zu sprechen, „in einer solchen 
Zwangslage die normalen Reflexe oder Instinkte“. Der Versuch 
des Bienenzüchters Meyer stellt das entgegengesetzte Experiment 
dar. In einem starken Volke wird mit beginnendem Frühling, wenn 
die Tracht- und Witterungsverhältnisse günstig sind, der Trieb, 
Drohnen zu erzeugen, immer mächtiger. Nicht nur bauen die Ar- 
beiterinnen, wo es nur eben möglich ist, Drohnenzellen, falls keine 
Drohnenwaben vorhanden sind, sondern die Königin sucht auch im 
ganzen Stocke nach solchen, um ihren Trieb, „Drohneneier“ abzu- 
legen, zu befriedigen (s. Nachtsheim, 1914b). Entfernt man die 
Drohnenzellen immer wieder, so bringt man auch hier die Königin 


134 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen’? 


in eine Zwangslage, sie setzt „Drohneneier“ in die Arbeiterinnen- 
zellen ab. 

Und Dickel’s Erklärung? Da die Bienen „in Arbeiterzellen 
zur Entwickelung kamen, also (von mir gesperrt. N.) sicher be- 
fruchtet waren“, ıst das Entstehen von Drohnen der Fähigkeit der 
Arbeitsbienen, „aus Arbeiterlarven Drohnen zu erziehen“, zu ver- 
danken. Noch einige ähnliche Fälle, wo „ausdrücklich (von mir 
gesperrt. N.) betont wird, dass die entstandenen Drohnen nur be- 
fruchteten Eiern entstammen konnten“, führt Dickel an und schließt 
dann diesen Abschnitt mit folgender Behauptung: „Haben wir so- 
mit eine Reihe von Tatsachen kennen gelernt, die beweisen, dass 
Drohnen nicht unbedingt aus unbefruchteten Eiern entstehen müssen, 
vielmehr recht häufig auch aus befruchteten Eiern hervorgehen, so 
dürfen wir wohl ohne Gefahr eines Fehlschlusses die eingangs er- 
wähnte biologische Erscheinung dahin deuten, dass sich die Königin 
bei ıhrer Eiablage nicht ‚geirrt‘ hat, dass vielmehr auch in diesen 
Fällen, die bald seltener, bald recht häufig vorkommen, aus be- 
fruchteten Eiern Drohnen hervorgegangen sind... Nicht bei der 
Königin, sondern bei den Arbeitsbienen ist der ‚Irrtum‘ zu suchen.“ 
„Mit solchen Bemerkungen wie diese letzten gibt man aber nıchts 
Wissenschaftliches, wie Dr. Dickel jetzt auch wohl empfinden 
wird. Die Wissenschaft fordert einwandfreie Tatsachen und 
es wäre besser, nur auf solchem Boden zu arbeiten. Hoffentlich 
geschieht solches in Zukunft!“ Diesen Vorwurf, den v. Buttel- 
Reepen OÖ. Dickel bereits vor 11 Jahren (1904b) machen musste, 
hat dieser leider ganz unbeachtet gelassen, sonst wäre mir diese 
Kritik erspart geblieben. 


Können die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen erziehen ? 


Eine zweite Gruppe von Beobachtungen soll beweisen, dass 
die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen zu erziehen ver- 
mögen. Abgesehen von einem stammen auch diese Experimente 
alle von Imkern, das eine aber rührt von Bresslau (1908b) her, 
der eine Zeitlang für Diekel sen. eingetreten ist, schließlich aber 
auch seine Ansichten bekämpft hat. Lassen wir Bresslau zunächst 
selbst sprechen: „Am 18. März 1905 wurde aus einem kleinen normalen 
Volke D, das nur auf einer von 6 Arbeiterwaben ein etwa hand- 
tellergroßes Brutnest besaß, die Königin und etwa die Hälfte der 
Bienen entnommen und in einen Versuchskasten E auf dem Neben- 
stande umlogiert. Nach 10 Tagen wurden in dem jetzt weisellosen 
Volk D, dem die Brutwabe belassen worden war, inmitten der 
z. T. nach Arbeiterart gedeckelten, z. T. noch ungedeckelten Brut 
neben 5 Weiselzellen 6 hochgedeckelte, also Drohnenlarven ent- 
haltende Zellen beobachtet. Später kamen noch mehrere hinzu, 
am 9. April habe ich notiert: ın Stock D zahlreiche junge Drohnen. 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 135 


Da bis dahin seit dem Beginne des Experiments nur 28 Tage, also 
der Zeitraum, der ungefähr der normalen Entwickelungsdauer von 
Drohnen entspricht, verflossen waren, so können diese Drohnen nur 
aus der am 18. März in den Arbeiterzellen des anscheinend nor- 
malen Völkchens vorhanden gewesenen Brut, nicht aber, wie man 
sonst vielleicht annehmen könnte, aus den Eiern drohnenbrütig ge- 
wordener Arbeiterinnen hervorgegangen sein. Die Königin, von der 
diese Eier abgelegt worden waren, hatte inzwischen im Kasten E 
regelrechte Arbeiterbrut abgesetzt und erwies sich auch späterhin 
als durchaus normal.“ Dieses Resultat scheint in der Tat zunächst 
sehr zugunsten Dickel’s zu sprechen. Aber hören wir, was Bress- 
lau weiter sagt: „Trotz wiederholter mehrjähriger Bemühungen ist 
es mir aber nicht gelungen, den Versuch noch einmal mit ähn- 
lichem Ergebnis zu wiederholen. Ich bin daher nicht in der Lage, 
nach dem nur einmaligen positiven Ausfall dieses Versuches 
Dickel’s Deutung dieser Experimente ohne weiteres akzeptieren 
zu können. Denn bei der Singularität des Ergebnisses sind auch 
noch eine Anzahl anderer Erklärungsmöglichkeiten denkbar und 
jedenfalls nicht auszuschließen.“ Bresslau äußert sich nicht näher 
über diese Erklärungsmöglichkeiten, dass solche gegeben sind, er- 
scheint auch mir sicher. Eine Erklärung wäre z. B. diese: Die 
Königin verhielt sich nicht ganz normal bei der Eiablage, sie legte 
außer befruchteten Eiern auch unbefruchtete in Arbeiterinnenzellen. 
In dem weisellosen Volke (D) wurden die aus diesen Eiern ent- 
stehenden Drohnenlarven gepflegt, in dem Völkchen mit Königin (E) 
hingegen war der Trieb, Drohnen aufzuziehen, jedenfalls nicht vor- 
handen, die jungen Drohnenlarven wurden von den Arbeiterinnen 
immer wieder entfernt und konnten so von Bresslau nicht beob- 
achtet werden. Dass Drohnen und Drohnenlarven zu gewissen 
Zeiten im Bienenstock nicht geduldet werden, ist ja eine allbe- 
kannte Tatsache. Eine Beobachtung, die ich vor einigen Jahren 
gemacht habe (1914b), scheint mir dafür zu sprechen, dass die Ar- 
beiterinnen die verschiedenen Eier nicht zu unterscheiden ver- 
mögen, wohl aber selbst die kleinsten Drohnenlarven von den 
Arbeiterinnenlarven; erst diese wurden entfernt. Es gibt, wie ge- 
sagt, noch einige andere Möglichkeiten, das Resultat des Bress- 
lau’schen Experiments zu erklären. Es möge dieser Hinweis ge- 
nügen. Soviel geht jedenfalls schon aus dem Gesagten hervor, dass 
bei Experimenten mit Bienen sehr zahlreiche Faktoren zu berück- 
sichtigen sind, und dass nur Experimente mit ganz genauem Protokoll 
Wert für uns haben. Nur in solchen Fällen lässt sich entscheiden, 
ob wirklich die Fehlerquellen nach Möglichkeit ausgeschieden, ob 
also die aus dem Experiment gezogenen Schlüsse berechtigt sind. 
Dickel führt einige Beispiele dafür an, dass in weisellos ge- 
wordenen Völkern bisweilen in nachträglich zu Drohnenzellen um- 


136 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 


gebauten Arbeiterinnenzellen Drohnen entstehen, verschweigt aber 
ganz die sicher auch ihm bekannte Tatsache, dass häufig in weisellos 
gewordenen Völkern, die nur bestiftete Arbeiterinnenzellen besitzen, 
die Arbeiterinnen vergeblich den Versuch machen, aus den „Ar- 
beiterinneneiern“ Drohnen zu erziehen. Im ersten Falle waren 
einige unbefruchtete Eier in die Arbeiterinnenzellen abgesetzt 
worden, im zweiten Falle nicht, und deshalb bemühten sich die 
Arbeiterinnen hier vergeblich, Arbeiterbrut ın Drohnenbrut zu ver- 
wandeln. So sagt der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre. 
Dickel sagt, die Eier waren in Arbeiterzellen abgesetzt worden, 
also sicher befruchet, das Geschlecht haben die Arbeiter durch ihre 
Sekrete bestimmt. Weshalb ist es aber dann den Arbeitern nur 
gerade in den von Dickel zitierten Fällen möglich gewesen, aus 
Arbeitereiern oder -larven Drohnen zu erziehen, weshalb fehlt ihnen 
sonst diese Möglichkeit? Auf diese Frage vermag uns Dickel 
keine Antwort zu geben. v. Buttel-Reepen (1901), der einige 
in einem weisellosen Volke in nachträglich zu Drohnenzellen umge- 
bauten Arbeiterinnenzellen zur Entwickelung gekommene Bienen 
untersuchte, stellte fest, dass es typische Arbeiterinnen waren. Das 
wahrscheinlich veränderte Futter — bezw. das andere Sekret, wie 
Dickel will — hatte keinen Einfluss auf das Geschlecht ausgeübt. 

Schon mehrmals sind Königinnen beobachtet worden, die un- 
fähig waren, Drohneneier abzulegen. Aus allen ın die Drohnen- 
zellen abgesetzten Eiern gingen Arbeiterinnen hervor, obwohl der 
Trieb, Drohnen zu erzeugen und aufzuziehen, bei Königin und Ar- 
beiterinnen vorhanden war. Grobben (1895) z. B. beschreibt einen 
solchen Fall. Er spricht die Vermutung aus, dass eine „Nerven- 
schwäche“ die Ursache der Erscheinung war. Die Königin hatte 
die Spermapumpe „nicht in ihrer Gewalt und konnte bei der Ei- 
ablage einen Zufluss von Sperma nicht hemmen.“ Auch diese Fälle, 
die er ebenfalls mit seiner „Sekrettheorie“ nicht zu erklären ver- 
mag, erwähnt Dickel nicht. 

Doch ist die Frage, ob die Arbeiterinnenlarven „intermediäre 
Formen“ sind und eine Beeinflussung der Larven für das Geschlecht 
von Bedeutung ist, überhaupt noch diskutabel? Ich glaube mit 
Zander (1914, 1915) und v. Buttel-Reepen (1915) diese Frage 
verneinen zu müssen. Schon Petrunkewitsch (1903) hat darauf 
hingewiesen, dass sich das Geschlecht eines Bienenembryos vor dem 
Ausschlüpfen bereits deutlich als männlich oder weiblich zu er- 
kennen gibt. Bei dem weiblichen Embryo (aus der Arbeiterinnen- 
zelle) ıst die Zahl der Geschlechtszellen wesentlich geringer als bei 
dem gleich alten männlichen (aus der Drohnenzelle). Da diese 
Arbeit Petrunkewitsch’s sich in manchen Punkten als unzuver- 
lässig erwiesen hat, ist es um so erfreulicher, dass in jüngster Zeit 
Zander (1914, 1915) die nachembryonale Entwicklung der Ge- 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 137 


schlechtsorgane bei Königin, Drohne und Arbeiterin eingehend 
studiert hat und zu ähnlichen Resultaten wie Petrunkewitsch 
gekommen ist. „Die von frühester Jugend an scharf geprägten 
Geschlechtsmerkmale der Königin und Drohne“, sagt Zander in 
seiner demnächst erscheinenden Arbeit (1915)*), „gestatten ein 
sicheres Urteil über den sexuellen Charakter der Arbeiterin. Wie 
schon Koshevnikov betonte und Herr Meier (der Mitarbeiter 
Zander’s. N.) jetzt über jeden Zweifel erhoben hat, besitzt die 
Arbeitsbiene am Beginne ihres Larvenlebens bereits dıe vollkommene 
Organisation einer Königin. Bei keinem Teile ihres primitiven Ge- 
schlechtsapparates kann darüber auch nur der leiseste Zweifel be- 
stehen. Die Ausbildung der Imaginalscheiben, der Verlauf der 
Genitalstränge und der Bau der Genitaldrüsen sind von frühester 
Jugend an typisch weiblich“. Auch bei den solitären Bienen ist 
das Geschlecht bereits sehr frühzeitig zu erkennen (s. Armbruster, 
1913). Die vorläufige Mitteilung Zander’s (1914) dürfte Dickel 
bei der Niederschrift seines Artikels noch nicht bekannt gewesen 
sein, die Feststellungen Petrunkewitsch’s und vor allem Arm- 
bruster’s kannte er jedenfalls. Trotzdem erwähnt er sie mit 
keinem Worte und behauptet, durch seine Darlegungen den Be- 
weis erbracht zu haben, „dass die Arbeiterlarven ıntermediäre Formen 
darstellen“! 


Die Übertragungsexperimente. 


„Eine sehr entscheidende Rolle bei der Beurteilung unserer 
Frage“, so beginnt Dickel seinen nächsten „Beweis“, „spielen 
die Übertragungsversuche. Hier ist allerdings große Vorsicht ge- 
boten, denn nirgends fließen die Fehlerquellen so reichlich wie bei 
diesen Versuchen. Ich werde mich daher auf zwei, jeder Kritik 
standhaltende Beispiele beschränken. Nach einigen allgemeinen 
Bemerkungen folgen die beiden Experimente, ebenfalls von Imkern 
ausgeführt. 1904 schrieb ©. Dickel noch von den gleichen Ex- 
perimenten, die er persönlich zusammen mit seinem Vater 
gemacht hatte: „Wenngleich es mir natürlich nicht möglich ist, mit 
aller Bestimmtheit zu behaupten, dass jede Fehlerquelle vermieden, 
jeder Irrtum völlig ausgeschlossen ist — das wird man überhaupt 
nur bei einem Bruchteile aller physiologischen Experimente tun 
können — so kann ich doch die Versicherung abgeben, dass Dickel 
stets mit größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vorgegangen ist.“ 
Heute heisst es von den beiden aus dem Jahre 1898 stammenden 
Experimenten der Gesinnungsgenossen seines Vaters: „Fehlerquellen 
können in diesen Versuchen unmöglich nachgewiesen werden.“ Um 
so viel unkritischer ist OÖ. Dickel inzwischen geworden! 





4) Herr Prof. Zander hatte die Freundlichkeit, mir diese Stelle aus seinem 
Manuskript zur Verfügung zu stellen. 


138 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


Betrachten wir kurz die von Dickel zitierten Experimente 
und sehen wir, ob hier wirklich „Fehlerquellen unmöglich nach- 
gewiesen werden können“! In beiden Experimenten wurden ım 
Juli (am 13. bezw. 21. Juli) in Drohnenzellen abgesetzte Eier in 
Weisel- bezw. Arbeiterinnenzellen übertragen und die Waben mit 
diesen Eiern weisellosen Völkern beigegeben. In beiden Fällen 
zogen die Arbeiterinnen aus den angeblichen „Drohneneiern* 
Königinnen. Ich bin ganz mit Dickel einverstanden, wenn er 
sagt, dass zur Erklärung dieser Experimente „die Angaben über 
die Zeit der Eiablage uns eine Handhabe bieten“. „In beiden 
Fällen“, sagt er weiter, „wurden die Bier im Monate Juli ın 
Drohnenzellen abgesetzt, zu einer Zeit also, zu der normaler- 
weise Drohnen nicht mehr entstehen (von mir gesperrt. N.), 
oder um mit dem Imker zu sprechen, der Drohnentrieb erloschen 
ist. Da um diese Zeit, wie der Versuch Heck’s beweist, die Eier 
in der Regel befruchtet sind, auch wenn sie in Drohnen- 
zellen abgelegt werden (von mir gesperrt. N.), so wird es sehr 
wahrscheinlich gemacht, dass die begattete Königin während der 
Schwarmzeit in Drohnenzellen ausschließlich unbefruchtete Eier, mit 
dem Abflauen des Triebes nach Erzeugung von Geschlechtstieren 
mehr und mehr befruchtete, unter Umständen ausschließlich be- 
fruchtete Eier absetzt.“ Diesen Folgerungen Dickel’s stimme ich, 
wie gesagt, vollkommen zu. Aber was berechtigt Dickel anzu- 
nehmen, dass die von Heck aus Drohnenzellen in Weiselzellen 
übertragenen Eier in ihren ursprünglichen Zellen Drohnen ergeben 
hätten? Dickel sagt selbst, dass in dem betreffenden Volke der 
„Drohnentrieb“ erloschen war. In einem Volke aber, ın dem der 
Drohnentrieb erloschen ist, bestiftet die Königin normalerweise die 
Drohnenzellen überhaupt nicht. Sie bestiftet sie nur dann, wenn 
ihr andere Zellen nicht zur Verfügung stehen, oder wenn man eine 
Drohnenwabe mitten in das Brutnest hängt, da leere Waben dort 
nicht geduldet werden. Diese Eier sind allerdings in der Regel 
befruchtet, aber es entstehen dann aus diesen befruchteten Eiern 
— vergl. das oben besprochene Experiment — auch keine Drohnen 
sondern Arbeiterinnen. Ich habe bereits an anderer Stelle (1914b) 
darauf hingewiesen, dass es sehr wohl möglich ist, selbst im August 
noch wirkliche „Drohneneier“, d. h. unbefruchtete Eier, in Drohnen- 
zellen zu erhalten, nämlich dann, wenn man das Erlöschen des 
Drohnentriebes durch geeignete Mittel verhindert bezw. hinaus- 
schiebt. Ich habe in den Monaten April, Mai, Juni, Juli und August 
des Jahres 1911 viele Hunderte von Eiern aus Drohnenzellen fixiert. 
Ich habe kein befruchtetes Eı darunter gefunden. 


Die Kreuzungsexperimente. 
Was die Kreuzungsexperimente mit verschiedenen Bienenrassen 
anbetrifft, die von Dickel ebenfalls als „Beweis“ für seine Theorie 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 139 


angeführt werden, so verweise ich auf meine früheren Ausführungen 
(1913). Hier möchte ich nur die Angaben Dickel’s über Cuenot’s 
Schlussfolgerungen aus seinen Experimenten richtigstellen und zu- 
gleich zeigen, in welch unverantwortlicher Weise Dickel die An- 
sichten anderer Autoren entstellt. Cu&not (1909) untersuchte die 
Nachkommen einer schwarzen Bienenkönigin, die von einer gelben 
Drohne begattet worden war. Die weiblichen Nachkommen hatten 
alle Hybridencharakter, die ungefähr 300 untersuchten Drohnen 
aber waren fast alle schwarz wie die Mutter. Nur zwei wiesen 
ein breites gelbes Band auf dem ersten Hinterleibsring auf. Wie 
ist das Auftreten dieser beiden Drohnen zu erklären? Cuenot 
selbst äußert verschiedene Vermutungen. „Ces deux mäles a bandes 
peuvent &tre des hybrides, des varıants ou des &migrants de ruches 
lointaines; hypothese la plus vraısemblable serait celle des vari- 
ants.“ Ich habe dem hinzugefügt, dass die Angaben Cuenot’s auch 
nicht ausschließen, dass die beiden Drohnen von einer eierlegenden 
Arbeiterin, also einem Hybriden, stammten. Wie sich unsere An- 
gaben im Munde Dickel’s umgestalten, zeigt folgender Satz: 
„Cuenot konnte sich ıhr Auftreten nicht erklären, wogegen Nachts- 
heim die Behauptung aufstellt: „dass die beiden Drohnen von einer 
eierlegenden Arbeiterin, also von einem Hybriden abstammten.* 
Während es an dieser Stelle (S. 742) heisst, Cu&@not habe sich 
das Auftreten der beiden Drohnen nicht erklären können, schreibt 
Dickel auf S. 720, Cuenot sei „auf Grund von Vererbungserschei- 
nungen bei Kreuzungen der französischen und italienischen Rasse“ 
zu der Anschauung „gezwungen“, dass gelegentlich auch aus be- 
fruchteten Eiern Drohnen entstehen. Cuenot schließt seine Ab- 
handlung mit den Worten: „Somme toute, le resultat que j’ai 
obtenu, bien que passıble de critiques, parle contre l’opinion de 
Dickel et de Kuckuck, et confirme la theorie de Dzierzon.“ 
Die von mir ausgesprochene Vermutung kritisiert Diekel mit 
folgenden Worten: „Also nur um diesen Fall ins Dzierzon’sche 
Schema zu zwängen, greift er zu einer Erklärung, die mit dem 
scheinbar (von mir gesperrt. N.) nie durchbrochenen Gesetze 
unvereinbar ist, dass in Gegenwart einer normalen Königin Arbeits- 
bienen niemals zur Eiablage schreiten.“ Im Gegensatze hierzu liest 
man auf S. 774, dass bei der deutschen Rasse „der Streit um die 
sogen. Drohnenmütterchen nie zu Ende gekommen ist“; die dies- 
bezüglichen Angaben der Autoren seien „sicherlich nicht völlig aus 


der Luft gegriffen“. Meine Vermutung — um mehr handelt es 
sich ja nicht — ist also doch wohl auch nach Dickel nicht ganz 


und gar unberechtigt. 
Gibt es „überreife“ Bieneneier ’? 
Ich habe bereits Dickel’s Theorie der „Überreife“ erwähnt. 
Königinnen, die einige Zeit am Begattungsausfluge verhindert wurden, 


140 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


sollen zunächst nur Drohnen erzeugen, da ihre Eier „überreif“ ge- 
worden sind, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen 
bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln, die 
bei langer Einwirkung der sie bedingenden Faktoren sich bis zur 
ausschließlichen Produktion von Drohnen steigern kann.“ Beob- 
achtungen Huber’s (1814) bilden für Dickel den Anlass zu dieser 
Behauptung. Eine Königin, die längere Zeit am Begattungsausfluge 
gehindert worden war, schließlich aber doch noch den Hochzeitsflug 
ausführte, erzeugte ausschließlich Drohnen, obwohl sie nach Huber 
„mit den unzweideutigen Zeichen der Befruchtung“ zurückgekehrt 
war. Dickel genügt diese Angabe Huber’s als Beweis dafür, dass 
die von dieser Königin abgesetzten Eier befruchtet waren, und für 
ihn „bleibt nur die Annahme, dass in der Verzögerung des Be- 
gattungsfluges, mit anderen Worten in der Überreife der Ovarialeier 
die Ursache zu suchen ist“ (S. 744). Vergleichen wir hiermit, was 
Dickel auf S. 790f. sagt: „Auch Autoren, die durchaus auf dem 
Boden der Dzierzon’schen Lehre stehen, haben darauf hingewiesen, 
dass Jdie Eier erst unter dem Einflusse der Begattung voll ausreifen. 
Es besteht die, allerdings wenig beachtete Tatsache, dass unbe- 
gattete Königinnen viel weniger fruchtbar sind wie begattete, dass 
sie nach Absetzen einer verhältnismäßig geringen Zahl von Eiern 
ihre Tätigkeit beschließen ... Unter dem Einfluss der stattgehabten 
Kopula geht mit dem Legetier eine so starke Veränderung vor sich, 
dass es nach 24-—36 Stunden kaum wieder zu erkennen ist.“ Diese 
Angaben Dickel’s sind vollkommen richtig. Ich habe junge, noch 
nicht begattete Königinnen untersucht. Ihre Eierstöcke sind winzig 
im Vergleich zu denen einer jungen Königin auch nur kurze Zeit 
nach der Begattung. Während hier die Ovarien den größten Teil 
des ganzen Hinterleibes ausfüllen und die Eiröhren reife Eier in 
großer Zahl enthalten, lehren Schnitte durch das Ovar einer unbe- 
gatteten Königin, dass bei dieser selbst die ältesten Eier noch nicht 
in die Wachstumsperiode eingetreten sind. Wohl sind die Nähr- 
kammern und die Eikammern im unteren Teile der Eiröhren be- 
reits deutlich abgegrenzt, aber die Eizellen übertreffen dıe Nähr- 
zellen erst wenig an Größe, und auf diesem Stadium, das schon 
von der Puppe erreicht wird, bleiben die Ovarien zunächst stehen. 
Erst die Begattung ist für die Eier der Anreiz zur Weiterentwicke- 
lung. Unterbleibt die Begattung, so erfolgt erst nach längerer Zeit 
die Weiterentwickelung der Eier, aber auch dann reift nur, wie 
ja auch Dickel hervorhebt, eine verhältnismäßig geringe Zahl von 
Eiern’). Wenn Dickel also die Feststellung R. Hertwig’s, dass bei 


5) Nicht nur bei der Honigbiene hat die Begattung einen solch außerordent- 
lichen Einfluss auf die Entwickelung des weiblichen Keimstockes. Unbegattete 
Schmetterlingsweibchen verhalten sich ganz ähnlich wie die unbegattete Bienen- 


Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 141 


Fröschen Überreife der Eier männchenbestimmend wirkt, verallge- 
meinern will, so vergisst er ganz, dass bei der Honigbiene die Vor- 
bedingungen für ein Überreifwerden der Bier gar nicht gegeben sind. 
Und selbst wenn man zugeben wollte, es könnte das längere Verweilen 
der jungen Eizellen auf dem genannten Stadium bei der Honigbiene 
den gleichen Effekt haben wie das längere Verweilen der Eier ım 
Uterus bei den Fröschen, so wäre gar nicht einzusehen, weshalb 
in dem von Huber mitgeteilten Falle sich die späteren Eier, die 
bei der begatteten Königin ständig aus Ovogonien erzeugt werden, 
genau so verhielten wie die ersten. 


Die Zwitterbienen. 


Auch die Zwitterbienen sollen überreifen Eiern entstammen, 
Eiern, „die eine je nach dem Grade der Überreife stärkere oder 
schwächere Tendenz zur Bildung des männlichen Geschlechts be- 
saßen.“ Ich glaube, auf eine weitere Diskussion der Dickel’schen 
Theorie der Überreife verzichten zu können. 


Wir haben hiermit alle „Beweise“ Dickel’s für das „recht 
häufige“ Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern einer 
Kritik unterzogen. Das nächste Kapitel des Dickel’schen Auf- 
satzes betitelt sich: „Was ist die Ursache der geschlechtlichen 
Differenzierung der indifferenten Formen?“ Wir können uns nach 
den bisherigen Ausführungen ein Eingehen auf dieses Kapitel ver- 
sagen. Neben einer Reihe von Unrichtigkeiten enthält es — das 
sei hier nicht unerwähnt gelassen — einen interessanten Versuch 
OÖ. Dickel’s. Er zeigt, „dass der Futterbrei, der ın Königin-, 
Drohnen- und Arbeiterzellen abgesetzt wird, spezifisch verschieden 
voneinander ist.“ Diese Feststellung ist nicht neu, aber der Weg, 
auf dem Dickel zu seinem Resultat kommt, ist noch nicht be- 
gangen worden. 

Dickel behandelt dann weiter die Frage: „Gilt die Dzier- 
zon’sche Theorie für andere Hymenopteren?“ Er beantwortet 
natürlich die Frage im negativen Sinne. Ich kann mir ein Eingehen 
auf dieses Kapitel um so eher ersparen, als Kollege Armbruster 
demnächst Dickel eine Antwort auf seine Behauptungen geben 
und zugleich neue Beweise für die Richtigkeit der Dzierzon’schen 
Lehre erbringen wird. 

Auf Grund des Gesagten komme ich zu folgenden Resultaten: 

Die Ausführungen Otto Dickel’s sind nicht geeignet, 
die Richtigkeit der Dzierzon’schen Lehre auch nur irgend- 


königin (s. z. B. die Experimente Klatt’s, 1913). Auch bei Dinophilus ist das 
Verhalten des begatteten Weibchens sehr verschieden von dem des unbegattet ge- 
bliebenen (s. Nachtsheim, 1914a). 


149 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 


wie in Zweifel zu ziehen. Es wird auch von den An- 
hängern der Dzierzon’schen Lehre die Möglichkeit einer 
gelegentlichen Entstehung von Drohnen aus befruch- 
teten Eiern zugegeben, aber es liegt bisher kein wissen- 
schaftlicher Beweis für eine solche Entstehung einer 
Drohne vor, geschweige denn dafür, dass zu gewissen 
Jahreszeiten Drohnen recht häufig aus befruchteten Eiern 
sich entwickeln. Dickel’s Behauptung, dass die Arbeiter- 
larven intermediäre Formen darstellen, ist nicht ein- 
mal mehr diskutabel. Auch die übrigen Behauptungen 
sind nicht mehr als zum Teil sehr kühne Spekulationen, 
denen jegliche exakte Grundlage fehlt. 


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Bd. I 


Physiologische Untersuchungen über das pulsierende 
Gefäfs von Bombyx mori L. 


Von Osvaldo Polimanti. 
(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Perugia.) 


I. Der Einfluss der Temperatur auf den Rhythmus des 
pulsierenden Gefäßes. 


Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur auf die Zahl 
der Pulsationen des pulsierenden Gefäßes der Insekten stammen 
vonNewport!), der bei Anthophora retusa beobachtete, dass, wenn 
das Tier 1—2 Stunden lang den Sonnenstrahlen ausgesetzt wurde, 
die Zahl dieser Pulsationen von 100 auf 140 stieg. Yersin?) sah, 
dass die Pulsationen des dorsalen Gefäßes einiger Insekten (Motten, 
Grillen) einen fast das Doppelte betragenden Unterschied zeigten, 
wenn die Außentemperatur warm war, im Vergleich mit der bei 
kalter Temperatur beobachteten Zahl. 

Dogiel°) studierte zuerst systematisch den Einfluss der Tem- 
peratur (0—38° C.) auf das Herz der Larve von Corethra plumi- 


1) Newport. Artikel „Insecta“ in Cyclopaedia of anatomy and physiology 
by Tood. Vol. VIII, p. 981, London 1839. 

2) Yersin, A. Zitiert von M. Girard. Traite &l&mentaire d’entomologie. 
T. I, p. 21, Paris 1873. 

3) Dogiel. Anatomie und Physiologie des Herzens von Corethra plumicornis. 
Memoires Acad&mie de St. Pötersbourg VII, 1877 (p. 16, Extrait). 


144 Polimanti, Physiologische Untersuchungen etc. 


cornis und beobachtete, dass eine Erniedrigung der Temperatur 
seinen Pulsationsrhythmus verlangsamt, während eine Erhöhung 
derselben ihn beschleunigt. Aus diesen Versuchen schließt er, dass 
das Herz dieser Larve sich der Temperatur gegenüber wie das Herz 
der Vertebraten verhält. 

In einer Reihe von Untersuchungen, die ich*) über das Herz 
eines Schaltieres (Maja verrucosa M. Edw.) ausgeführt habe, stu- 
dierte ich auch den Einfluss der Temperatur auf den Pulsations- 
rhythmus des Tieres und wollte sehen, ob das Gesetz von Arrhe- 
nius und van’t Hoff anwendbar wäre, nach welchem die 
chemischen Reaktionen infolge jeder Temperaturzunahme von 10° 


um das Doppelte oder Dreifache zunehmen: al — 0410: 

In dieser Arbeit berechnete ich eben auf Grund dieses Gesetzes 
die Resultate, die Plateau?) erhalten hatte, als er die Pulsschwan- 
kungen des dorsalen Gefäßes eines Käfers (Oryctes nasicornis) stu- 
dierte, und ich fand genau: Q10 = 1,46. Dieses selbe Gesetz 
wandte ich auf den Atmungsrhythmus bei Fischen®) und auf den 
Rhythmus des embryonalen Herzens von Fischen’) an und fand, 
dass es auch hier innerhalb gewisser Grenzen gilt. In diesen meinen 
Abhandlungen findet sich die vollständige Literatur über die An- 
wendung dieses Gesetzes von Arrhenius und van’t Hoff auf die 
Lebenserscheinungen, weshalb ich an dieser Stelle nicht wiederhole, 
was die verschiedenen Biologen über diese Frage veröffentlicht haben. 

Ich hielt es für interessant, systematische Untersuchungen an- 
zustellen über den Einfluss, den die Temperatur auf den Rhythmus 
des pulsierenden Gefäßes der Larve eines Insektes (Bombyx mori L.) 
ausübt, eines Gefäßes, mit dessen anatomischem Bau sich in jüngster 
Zeit E. Verson°) mit großem Erfolg beschäftigt hat; gleichzeitig 
wollte ich untersuchen, inwieweit auch in diesem Falle das oben 
erwähnte Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff anwendbar sei. 
Wie wir schon gesehen haben, liegen von derartigen Untersuchungen 
nur die von Plateau über Oryctes nasicornis vor, deren Resultate 


4) OÖ. Polimanti. Beiträge zur Physiologie von Maja verrucosa M. Edw. 
— I. Herz. Archiv f. Anatomie und Physiologie (physiologische Abteilung), 1913, 
p. 117—204, Fig. 71 im Text. 

5) F. Plateau. Recherches physiologiques sur le cur des crustaces deca- 
podes. Archives de Biologie, 1880, T. I, p. 595—695, Pl. 2 (XXVI—XXVI). 

6) OÖ. Polimanti. Einfluss niedriger Temperaturen auf Pigmentierung und 
Atmung von Apogon rex mullorum C. Bp. Centralblatt f. Physiologie, Bd. XXV, 
1912, p. 1209—1213. 

7) O. Polimanti. Influence des agents physiques, concentration, temperature 
sur l’activitG du ceur embryonnaire des poissons. Journal de physiologie et de 
pathologie gen£rale, 1911, p. 797—808. 

8) E. Verson. Sul vaso pulsante della sericaria. Atti del R. Istituto Veneto 
di Scienze, Lettere ed Arti T. LVII, parte II, anno 1907—1908. Estratto p. 33, 2 tav. 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 145 


eben von mir nach der Formel dieses Gesetzes berechnet wurden. 
Diese meine Versuche machte ich an Larven von Bombyx mori, 
die sich im letzten Lebensalter befanden (Länge 7—7,5 em). Die 
Larven wurden derart ın Maulbeerblätter enthaltende Gefäße ge- 
bracht, dass sie immer Nahrung fanden; diese Gefäße waren doppel- 
wandig, so dass ich mittels eines Stromes von warmem Wasser 
sehr leicht bewirken konnte, dass die Temperatur des inneren Ge- 
fäßes varıierte. Die Larven wurden Temperaturen von 15 —20— 
25--30—35—40°C. ausgesetzt; es wurden 20 Reihen von Versuchen 
ausgeführt und in jeder Reihe wurden 25 Larven beobachtet, die 
nacheinander Temperaturen von 15—40°Ü. ausgesetzt wurden. Die 
Temperatur wurde immer um je 5° ©. erhöht und die Larven ver- 
blieben mindestens 30 Minuten lang in einer jeden von diesen ge- 
steigerten Temperaturen, nämlich so lange, bis die Zahl der bei allen 
Larven beobachteten Pulsschläge gleichmäßig geworden war. 

Die erhaltenen Resultate bringe ich ın Gestalt einer Tabelle: 


Zahl der Pul- Wert von 


sationen des pul- ne Kt+10 Bemerkungen 
sierenden Gefäßes gw=— IX, 


15 34 Indem Maße, wie die Tem- 





Temperatur 
(in Celsiusgraden) 


20 40 1.588 peratur von 15 auf 35° C. 
25 54 I steigt, fressen die Larven 
£ 1,625 E * t 
30 65 1388 mit größerer Gier. 
35 75 1,200 Bei 40° C. fressen die 
40 90 Larven nicht mehr und sind 
Mittelwert 1,450 sehr unruhig. 


Mithin ist dieser Wert von Q10 = 1,45, für das dorsale Gefäß 
der Larve von Bombyx mori bei Temperaturen zwischen 15 und 
40°C. fast gleich dem von Plateau gefundenen und von mir für 
das dorsale Gefäß eines anderen Insektes, des Käfers Oryetes nasicornis, 
für Temperaturen zwischen 24 und 34° C. berechneten (Q 10 = 1,46). 

Wir können also schließen, dass innerhalb gewisser Grenzen 
das Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff auch für den Puls- 
rhythmus des dorsalen Gefäßes der Insekten, sowohl im Larven- 
zustand als bei dem erwachsenen Tiere, ın Geltung steht. Zu be- 
merken ist auch der Umstand, dass, wenn die Temperatur (von 
25—40°C.) gesteigert wird, der Wert von Q10 stufenweise allmäh- 
lıch abnimmt, während er zwischen 15 und 30°C. allmählich leicht 
zunimmt. 


Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode 
bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. 
Von Dr. med. E. Fischer in Zürich. 

In Nummer 5 (20. Mai 1914) dieser Zeitschrift ist von OÖ. Proch- 
now eine kurze Abhandlung: „Die analytische Methode bei 
der Gewinnung der Temperatur-Aberrationen der 

XXXV. 10 


446 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 


Schmetterlinge“ gebracht worden. Obgleich darin mit beson- 
derer Hervorhebung eine, wenn auch späte, Bestätigung meiner 
bereits vor nahezu 20 Jahren aufgestellten und durch die experi- 
mentellen Erfolge seit 1898 als richtig erwiesenen Theorie gebracht 
wird, so musste ich doch beim Durchlesen eine Anzahl Rand- 
bemerkungen und Fragezeichen anbringen, deren Bedeutung ich 
hier als Ergänzungen und Berichtigungen des Prochnow’schen 
Aufsatzes darlegen möchte. 

Der Verfasser führt zunächst p. 302/03 an, dass alle Experi- 
mentatoren dieses Gebietes sich bisher der von den ersten auf 
diesem Felde tätigen Forschern veröffentlichten Methoden bedient 
hätten; dieses Verfahren sei, soweit es insbesondere die Bestim- 
mung des kritischen Stadiums betreffe, nicht ausreichend genau und 
damit stehe das in der Regel nicht günstige Ergebnis der Versuche 
in Beziehung, indem sich meist neben einigen aberrativ veränderten 
Stücken eine Menge von Übergangsformen und gar nicht veränderten 
Faltern ergaben. 

In diesen Umständen sieht der Verfasser die Notwendigkeit 
einer verbesserten, analytischen Methode begründet, wie eine solche 
in seinem Sinne zur Bestimmung des kritischen oder sensiblen 
Stadiums der Schmetterlingspuppen bisher noch nicht angewendet 
worden ist. 

Im Anschlusse hieran möchte ich auf eine mir BObW ende er- 
scheinende Unterscheidung aufmerksam machen. 

Seit der Wiederaufnahme der Dorfmeister- Weismann’schen 
Temperaturexperimente war man naturgemäß bestrebt, diese Me- 
thode nach Erfordernis und Möglichkeit zu verbessern. Da aber 
nur mit mäßig von der normalen Temperatur abweichenden Kälte- 
und Wärmegraden experimentiert wurde, indem bei den sogen. 
Kälteexperimenten ca. + 1 bis 4 8° C., bei den Wärmeexperi- 
menten +35 bis + 38° C. in Anwendung kamen, schien jene un- 
gefähre Bestimmung des kritischen Stadiums, nach welchen die 
Puppen ziemlich frisch, d. h. im Alter von mehreren Stunden zur 
Exposition gelangten, annähernd auszureichen. Da von den ge- 
nannten Temperaturen eine Schädigung nicht gerade zu befürchten 
war, wurden die Puppen zumeist auch ziemlich frisch und somit 
noch früh genug, d. h. vor Ablauf des kritischen Stadiums ver- 
wendet. 

Anders verhielt es sich dagegen, als 1895 von mir jene neu- 
artigen Experimente eingeführt wurden, bei denen Temperaturen 
unter dem Nullpunkte (—4 bis —20° C.) mit intermittierenden 
Expositionen zur Einwirkung gebracht wurden, wobei alsdann ganz 
extrem veränderte Formen, sogen. Aberrationen auftraten, die, 
entsprechend der von mir 1894 aufgestellten Hemmungstheorie in 
gleicher Weise auch durch sehr hohe Wärmegrade (+ 40 bis + 45° C.) 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s ‚ analytischer Methode ete. 147 


erzeugt werden konnten. Bei diesen Frost- und Hitzeexperi- 
menten, auf die sich ©. Prochnow in seinen Ausführungen be- 
zieht, ergaben die Puppen im allgemeinen zunächst nicht besonders 
hohe Prozente an Aberrationen, z. T. starben die Puppen auch ab. 

Vielleicht lag der Grund davon schon im experimentellen Ver- 
fahren selber, z. B. in der Art der Expositionen, da hier, im Gegen- 
satze zu den Kälte- und Wärmeexperimenten, nicht mit 3—4 Wochen 
lange dauernder und konstanter Einwirkung verfahren wurde, sondern 
nur einige Tage hindurch täglich etwa einmal je eine bis einige 
Stunden die Puppen unter dem Nullpunkte gehalten wurden. Immer- 
hin erhielt ich damals 8—-25%, trotz Verwendung einer geringen 
Puppenzahl. 

In der Verfolgung dieser Versuche beobachtete ich auch weiter- 
hin ein starkes Schwanken der Prozente und es galt daher, die 
Ursache dieses Schwankens ausfindig zu machen. Der Natur dieser 
Experimente entsprechend musste zunächst tastend nach dem rich- 
tigen Maße der verschiedenen, dabei einwirkenden Umstände wie 
Temperaturgrad, Dauer und Zahl der Expositionen und der Zwischen- 
pausen gesucht werden. Es hatte sich mir hieraus bald ergeben, 
dass das Schwanken der Prozente in einer Verschiedenheit im 
Alter der verwendeten Puppen gelegen sein müsse und dass somit 
hier eine viel genauere und engere Umgrenzung des sensiblen Sta- 
diums nötig sei, um einerseits die Puppen nicht durch zu frühe Ver- 
wendung zu schädigen, andererseits nicht durch zu späte Exposition 
das kritische Stadium zu verpassen. Eine Anzahl Kontrollversuche 
ergab bald die Richtigkeit dieser Annahme und zeigte, dass bei 
exaktem Experimentieren 60— 80%, und sogar 100 %, Aber- 
rationen bei verschiedenen Puppenserien und verschie- 
denen Arten erreicht werden konnten. Inzwischen war 
Standfuß, der von 1896 an solche Frost- und Hitzeexperimente 
ausführte, zu einem ganz anderen, gegenteiligen Resultate ge- 
langt, indem er trotz Verwendung einer sehr großen Puppenzahl 
stets nur etwa 2%, aberrativer Falter erreichte. Dieses Ergebnis 
verleitete ihn zu dem Fehlschlusse, dass die Entstehung der Aber- 
rationen auf einer rein individuellen Veranlagung (individuellen 
Variabilität) beruhe, die eben nur etwa 2%, der Puppen eigentüm- 
lich sei und durch die extremen Temperaturgrade alsdann ausgelöst 
werden könne. Aus diesem Grunde verblieb Standfuß auch 
weiterhin beim Massenexperiment, in der Meinung, dass nur mit 
der Zahl der Puppen die absolute Zahl der Aberrationen zunehmen 
könne; es ist dieser Irrtum ganz besonders auch in seinem 1897 
vorgenommenen Vererbungsversuche mit urticae- Aberrationen so- 
wohl in der verwendeten Puppenzahl als in dem prozentualen Er- 
gebnis zum Ausdruck gekommen. — In den Standfuß’schen Ver- 
suchen war offenbar gerade die Verwendung großer Puppenmengen, 


10* 


148 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 


die der Experimentator für einen besonderen Vorteil und Vorzug 
hielt, die Ursache der geringen Prozente, weil dabei eine aus- 
reichend genaue Bestimmung des sensiblen Stadiums nicht möglich 
war. Auch hatte offenbar die Befürchtung, dass die Puppen die 
tiefen Kälte- und hohen Hitzegrade im frischen Zustande nicht er- 
tragen würden, dazu geführt, sie erst in etwas vorgerücktem Alter 
zu verwenden; damit war aber das sensible Stadium, das bei 

Sommertemperatur ohnehin rasch vorübergeht, bereits abgelaufen 

und die Puppen konnten trotz extremer Temperatureinwirkung 

keine Aberrationen mehr ergeben. 

Gemäß meinen Beobachtungen hatte ich große Puppenserien 
sogar im Anfang nie angewandt und war nach den oben mitge- 
teilten Feststellungen sehr bald zu ganz kleinen Serien übergegangen, 
weil nur so ein richtiges, exaktes Verfahren, insbesondere eine ge- 
naue Bestimmung der kritischen Phase und eine gleichmäßige Be- 
einflussung sämtlicher Puppen durch die Temperatur möglich war. 
Über die Untersuchungen, die ich über diese Frage 1898 anstellte 
und über ıhre sehr günstigen Ergebnisse habe ich ım XIII. Jahr- 
gange der Societas entomologica Nr. 22 und 23 (1899) berichtet 
(„Experimentelle kritische Untersuchungen über das prozentuale 
Auftreten der durch tiefe Kälte erzeugten Vanessen-Aberrationen‘“) 
und ließ 1901 ın Nr. 7 und 8 der gleichen Zeitschrift eine zweite 
Publikation folgen, die sich außer mit der Frage nach den höchst- 
möglichen Prozenten auch mit dem Mindestmaße der Expositions- 
dauer und der Hitzegrade befasste. Als sicher feststehend hatte 
sich damals das Resultat ergeben: 

1. dass es tatsächlich möglich ist, sämtliche Puppen zur An- 
nahme des aberrativen Kleides zu zwingen, also 100%, zu er- 
reichen; 

2. dass es eine nur einigen wenigen Individuen zukommende 

aberrative Schwankungsfähigkeit nicht gibt, sondern dass diese 

Anlage jeder Puppe eigen ist. 

3. dass somit geringe Prozente nicht auf individueller Disposition 
der Puppen, sondern in einem experimentellen Fehler 
beruhen müssen und 
4. dass sämtliche Puppen bei genau gleicher experimenteller 

Behandlung auch durchweg in gleicher Weise sich verändern, 

also Aberrationen ergeben, die sich in der gleichen Ent- 

wickelungsrichtung bewegen. 

Ein Vergleich dieser vor 15 Jahren sicher gestellten Tatsachen 
mit den neulich von ©. Prochnow bekannt gegebenen lässt eine 
bemerkenswerte Übereinstimmung erkennen. 

Was nun die zur Bestimmung des kritischen Stadiums 
von mir seinerzeit gewählte Methode betrifft, so hatte ich sie nach 
zwei, sich gegenseitig ergänzenden Richtungen hin vorgenommen, 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 149 


nach einem bestimmten Grade der Abnahme des Haut- 
glanzes und, nach dem Härtegrad der Chitinhaut der Puppe. 
Ich hatte auf diesem Wege feststellen können, dass die Puppe dann 
eine genügende Widerstandsfähigkeit gegen die extreme Temperatur 
und zugleich eine noch ausreichende Sensibilität für dieselbe be- 
sitzt, wenn der feuchte Hautglanz auf den Flügelscheiden eben ver- 
schwunden, auf der dazwischen gelegenen Rüsselscheide aber noch 
vorhanden ist. 

Da diese Abnahme des Glanzes natürlich mit einer zunehmen- 
den Erhärtung der Chitinhaut einhergeht, so zog ich auch den 
Härtegrad der Hinterleibsringe, also den Grad der Nachgiebigkeit 
gegen einen leichten, mit stumpfer, schräg gestellter Nadel ausge- 
übten Druck zur Beurteilung heran. 

Die positiven Erfolge der nach dieser Bestimmung vorge- 
nommenen Frostexperimente ergeben sodann, dass diese zwei Zu- 
stände, d.h. ein bestimmter Grad der Härte und des Glanzverlustes 
mit dem Höhepunkt des sensiblen Stadiums und der ausreichenden 
Resistenz gegen Frostgrade zeitlich zusammenfallen. In jenen 
beiden Zuständen der Chitinhaut war somit ein Indikator für das 
sensible Stadium gefunden. 

Es muss nun allerdings gesagt werden, dass die hier erwähnte 
Art der Bestimmung ein großes Maß persönlicher Erfahrung und 
Übung voraussetzt und dass bei gewissen Arten, wie z. B. denen 
der Gattung Argynnis, die Beurteilung des feuchten Hautglanzes 
schwieriger ist, weil diese überhaupt nie eine matte Oberfläche er- 
halten, sondern mit dem Erhärten einen lackähnlichen Glanz an- 
nehmen, während andererseits der Härtegrad der Ohitinhaut bei 
verschiedenen Arten der Gattung Apatura, Limenitis u. a. ein ver- 
schiedener ist. 

Demgegenüber besitzt nun die Prochnow’sche Methode den 
Vorteil, dass sie diese subjektive Erfahrung, die bei meiner Methode 
eine nicht geringe Rolle spielen wird, durch ein rein physikalisches 
Messverfahren ersetzt. 

Aber dieser Vorzug wird z. T. dadurch wieder vermindert, 
dass nicht nur für jeden Temperaturgrad innerhalb der Tagestempe- 
ratur von etwa 4 17° bis + 25° C., sondern auch für jede Puppen- 
art eine besondere, sehr umständliche Bestimmung der Entwicke- 
lungsgeschwindigkeit nötig ist, wie sie Prochnow p. 306 in einer 
Tabelle für vier Vanessen bereits aufgestellt hat und dass ferner, 
nachdem diese Maße ermittelt sind, der Experimentator genötigt 
ist, beständig auf den Zeitpunkt, in dem sich jede Raupe verpuppt, 
auf die jeweilen herrschende Temperatur, in der sich die Puppe 
vor Beginn des Experimentes befindet un auf den Termin, der 
seit der erfolgten Verpuppung verstrichen ist, Obacht zu geben, 
wenn er das Richtige treffen will, während die Bestimmung des 


150 Fischer, Berichtigungen zu OÖ. Prochnow’s analytischer Methode ete. 


kritischen Stadiums nach meiner Methode von diesen drei Faktoren 
in weitem Maße unabhängig und darum insofern einfacher ist; auch 
gestattet sie, sofern es Zeit und Umstände erfordern, und z.B. die 
erste Exposition verschoben oder Puppen von verschiedenem Alter 
miteinander exponiert werden sollen, durch Verbringen der Puppen 
ın kühlere oder höhere Temperatur den Eintritt und Ablauf des 
kritischen Stadiums zu verzögern bezw. zu beschleunigen, während 
ein solcher Temperaturwechsel bei der analytischen Methode Proch- 
now’s eine umständliche rechnerische Kontrolle erfordern würde. 

Aus den beiden vorausgegangenen Abschnitten ergibt sich so- 
mit, dass das von mir angewandte Verfahren mit seinem Endeffekt 
von 80—100% Aberrationen wohl ebenso leistungsfähig ist wie das 
vonO.Prochnow angegebene und dass die dabei befolgte Methode 
zur möglichst sicheren Umgrenzung des sensiblen Stadiums auch 
als eine wissenschaftliche bezeichnet werden darf. 

Wenn übrigens von solch hohen Prozenten die Rede ist, so 
bezieht sich eine solche Angabe zunächst immer auf die Arten der 
Gattung Vanessa, die von allen bekannten wohl am leichtesten zur 
Aberrationsbildung neigen und mit denen darum von jeher und 
vorherrschend experimentiert zu werden pflegt, und auch die Proch- 
now’schen Angaben beziehen sich, wie aus dem Text seiner Ab- 
handlung zu entnehmen ist, nur auf die Vanessen. Entsprechend 
verhalten sich nach meinen Beobachtungen auch die nächstver- 
wandten Gattungen Polygonia und Pyrameis u.a. Aber hohe und 
höchste Prozente bei allen diesen Gattungen würden meines Er- 
achtens noch nicht zu der Annahme berechtigen, dass die analytische 
Methode auch bei den Arten fernerstehender Gattungen gleich 
gute Resultate ergeben müsse. Abgesehen davon, dass es Arten 
geben kann, bei denen eine sensible Phase wahrscheinlich überhaupt 
nicht vorkommt, bringen auch wirklich „reaktionsfähige“ Arten dem 
Temperaturexperiment andere Eigenschaften entgegen als die Va- 
nessen. Der Unterschied scheint durch ihr Vorleben ım Ei- und 
Raupenstadium bedingt zu sein; denn da die Vanessen ım Ei- und 
Raupenstadium gesellschaftlich, d. h. nesterweise leben, sich also 
unter annähernd gleichen äußeren Einflüssen und zwar zumeist in 
der warmen Jahreszeit entwickeln, bringen auch ihre Puppen durch- 
weg gleiche Beanlagungen mit, wenn sie dem Experiment unter- 
worfen werden und verändern sich, falls für wirklich (nicht bloß 
scheinbar) gleiche Beeinflussung aller Puppen in jeder Hinsicht ge- 
sorgt wird, auch ın gleicher Weise, d. h. es treten sehr hohe Pro- 
zente ganz gleichsinnig und sogar gleich stark veränderter Aber- 
ratıonen auf. So habe ich wiederholt Serien von 50—100 Puppen 
von Vanessa urticae probeweise ım Frost exponiert und aus sämt- 
lichen Puppen stark veränderte Aberrationen von einer fast er- 
müdenden Gleichförmigkeit erhalten. 


Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 151 


Abweichend davon verhalten sich schon die Argynnis-Arten 
und zwar offenbar zufolge einer anderen Lebensweise; sie über- 
wintern nicht wie die Vanessen im Falterstadium, sondern als 
ganz junge oder halb erwachsene Raupen, leben ganz zerstreut 
und sind individuell verschiedenen klimatischen Einflüssen ausge- 
setzt. Standfuß hat auf Grund negativer Resultate angenommen, 
dass die Argynnis-Arten und überhaupt alle als Raupen über- 
winternden Arten nur durch Hitze, aber niemals durch Frost- 
grade Aberrationen ergeben. Diese Annahme ist indessen als 
unrichtig erwiesen, denn auch die Argynnis-Arten ergeben z. B. 
beim Frostexperiment ebenso gut und ebenso hochgradig veränderte 
Aberrationen wie die Vanessen, ohne dass etwa stärkere Frostgrade 
nötig wären, aber man muss entsprechend ihrer anderen Konsti- 
tution die Frosteinwirkung etwas anders gestalten. 

Einen ganz auffallenden Gegensatz zu allen diesen genannten 
Arten bilden nun aber jene, die (wenigstens in einer Generation) 
im Puppenstadium überwintern und sehr wahrscheinlich wird für 
diese die Prochnow’sche Methode nicht ohne weiteres eine An- 
wendung finden können, denn nach bisher gemachten Erfahrungen 
tritt bei diesen das sensible Stadium nur bei den Puppen der 
Sommergeneration im Anfange, bei den Puppen der Wintergene- 
ration dagegen erst am Ende der Puppenentwickelung auf und 
nach der nach erfolgtem Experiment festgestellten, sehr verschie- 
denen Dauer bis zum Ausschlüpfen des Falters und anderweitigem 
Verhalten muss man schließen, dass entweder die sensible Phase 
je nach Individuum in verschiedenen Altersstadien eintritt, oder 
aber, dass es im Leben dieser Puppen mehr als eine solche gibt. 

Als eine weitere Vereinfachung seiner Methode führt O. Proch- 
now an, dass er nur eine einzige Exposition benötige, um 
selbst die vom Typus am meisten entfernten Aberrationen zu er- 
zielen. Wenn man sich den Gang der Flügelentwickelung ver- 
gegenwärtigt, so kann schon theoretisch abgeleitet werden, dass 
eine einzige Exposition genügt und nicht nur bei Frost-, sondern 
namentlich bei Hitzeexperimenten sind schon vor Jahren von 
C. Frings, mir und anderen sehr kurze einmalige Expositionen 
angewendet und dabei stark veränderte Aberrationen erreicht worden. 
Ich ziehe es aber doch immer vor, 2—3 (selten 4) Expositionen 
vorzunehmen, weil so eine gleichmäßigere und wohl auch kräftigere 
Farbengebung möglich ist. Die Hinter- und Vorderflügel entwickeln 
sıch nämlich, wie zuerst Bemmelen nachgewiesen und Standfuß 
zur Erklärung der oft nicht gleichzeitigen Veränderung derselben 
herangezogen hat, nicht zur gleichen Zeit; die Hinterflügel färben 
sich früher als die Vorderflügel und Kontrollversuche mit extremen 
Temperaturen haben ergeben, dass auch das kritische Stadium der 
Hinterflügel früher eintritt; aber noch bevor es abgelaufen ist, be- 


159 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 


ginnt auch dasjenige der Vorderflügel; sie fallen also in einem 
gewissen Zeitpunkte teilweise zusammen, und wird die Puppe in 
diesem Zeitpunkte exponiert, so können Hinter- und Vorderflügel 
gleichzeitig und ausreichend durch diese einmalige Einwirkung ver- 
ändert werden. Aber es will mir scheinen, dass in diesem Falle 
die beiden sensiblen Zustände einander nicht ganz gleichwertig seien 
und wahrscheinlich liegt darın der Grund, weshalb bei den Proch- 
now’schen Versuchen eine „nicht unbedeutende Variabilität von 
störendem Einfluss“ war und nicht in allen Versuchen ein voll- 
prozentiges Resultat erreicht wurde; denn wenn man die sensibeln 
Stadien der Hinter- und Vorderflügel in ıhrem An- und Abschwellen 
als zwei wellenförmige Kurven dargestellt denkt, so würde der ab- 
steigende Schenkel der ersteren Kurve (also für die Hinterflügel) 
etwa in halber Höhe von dem eben ansteigenden der zweiten (also 
für die Vorderflügel) geschnitten werden. Absteigender und auf- 
steigender Schenkel der beiden Kurven werden aber, auf die phy- 
siologischen Prozesse der entsprechenden Flügelpaare bezogen, nicht 
gleichwertig sein; die Hinterflügel werden also von der extremen 
Temperatur in einer etwas anderen Verfassung getroffen als die 
Vorderflügel. Anders verhält es sich aber, wenn zwei Expositionen 
vorgenommen werden, von denen die erste im Höhepunkt des krı- 
tischen Stadiums der Hinterflügel (im Gipfel der ersten Kurve), die 
zweite in dem der Vorderflügel erfolgt, die beide einander eher 
gleichwertig sınd als in dem vorhin angeführten Falle. Eine dritte 
und eventuell vierte Exposition kann dann dazu dienen, den bereits 
erreichten Effekt zu festigen oder zu verstärken. — 

Als Ergebnis seiner Prüfungen hat Prochnow beobachtet, 
dass jede Puppe der untersuchten Arten eine Aberration ergeben 
kann und dass alle Aberrationen einer Art, die aus dem gleichen 
Experiment hervorgehen, in der gleichen Richtung vom Typus 
abweichen, und er schließt daraus: 

1. dass jede Puppe die Anlage zur Aberration in sich trage; 

2. dass daher die Aberrativität eine normale (nicht pathologische) 
Eigenschaft jeder Puppe sei und 

3. dass die Aberrationen als Rückschläge (Atavismen) aufge- 
fasst werden müssen. 

Jede dieser Beobachtungen ' und Schlussfolgerungen ist eine 
volle und fast wörtliche Bestätigung jener Lehrsätze, die ich in 
früheren Publikationen und auch im Spuler’schen Werke („Die 
Schmetterlinge Europas“) aufgestellt habe. Nur die Art, wie 
Prochnow seine Auffassung der Aberrationen als Rückschläge 
begründet, kann ich nicht für richtig halten. 

Dass die Aberrationen nicht bloß individuelle Farbenspiele 
oder gar krankhafte Gebilde sind, ist experimentell und durch ge- 
wisse Normalformen unserer Fauna erwiesen. Ob sie aber Formen 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 453 


einer fernen Vergangenheit oder aber der Zukunft sind, ist nicht 
leicht zu bestimmen; vieles spricht immerhin dafür, dass sie pro- 
gressive oder Zukunftsformen sein können. Aber vielleicht sind 
unsere Ansichten über Rückschlag und Zukunftsformen überhaupt 
nicht ganz richtig und bedürfen einer Neugestaltung. Prochnow 
macht wohl selber eine entsprechende Andeutung, wenn er p. 303 
von einem „wenigstens partiell atavistischen Charakter“ spricht. 
Aus dem Umstande aber, dass alle Puppen in der gleichen Rich- 
tung aberrieren, folgt, wie mir scheint, durchaus noch nicht, dass 
die Aberrationen Rückschläge sein müssten. Mit gleicher Be- 
rechtigung könnte man sie auf jene Tatsache hin als reine Re- 
aktionsprodukte im Sinne von Neubildungen auffassen, denn da 
z. B. unter normalen Verhältnissen sämtliche Puppen einer Vanessen- 
art Falter ergeben, die einander zum Verwechseln gleichen, so 
müssen solche Puppen auch gleiche Eigenschaften (ohne individuelle 
Neigung zu Abirrungen) in sich tragen; folglich werden solche 
Puppen auf gleiche experimentelle Behandlung, z. B. mit Frost von 
— 12° C., auch in gleicher Weise reagieren, also in gleicher Rich- 
tung vom Normaltypus abweichen, so dass man diesen Vorgang 
bildlich etwa durch den mathematischen Lehrsatz ausdrücken könnte: 
Gleiches zu Gleichem addiert, gibt Gleiches. Daran wird nichts 
Wesentliches geändert, wenn man die Wirkung der Frost- und 
Hitzegrade als eine die Entwickelung hemmende auffasst. 
Prochnow stellt zwar p. 307 ın Aussicht, dass der Nachweis 
des Rückschlages durch früheren oder späteren Beginn der Tempe- 
ratureinwirkung möglich sein könnte, weil auf diese Weise ein 
älteres bezw. jüngeres phyletisches Zeichnungsstadium bei der onto- 
genetischen Wiederholung festgehalten werden könnte. Es ist 
jedoch wahrscheinlicher, dass hierbei nicht bloß die frühere oder 
spätere Exposition, sondern die Stärke und Dauer der Frost- 
oder Hitzegrade den Ausschlag geben und darum der von Proch- 
now vermutete Entscheid auf diesem Wege nicht möglich ist. 


Die rechnenden Pferde. 
Erwiderung auf ©. Schröder’s Kritik. 
Von K. C. Schneider, Wien. 

Erst vor kurzem erhielt ich — ich wohne, da seit 2 Jahren 
beurlaubt, nicht in Wien — Kenntnis von einem Artikel ©. Schrö- 
der’s, Berlin, im Biolog. Gentralblatt (Nr. 9 des XXXIV. Bandes), 
der dıe rechnenden Pferde behandelt und sich vor allem gegen 
meine in Nr. 3 des XXXIII. Bandes entwickelte Auffassung über 
die Leistungen der Elberfelder Pferde wendet. Anderweitige Ar- 
beiten hielten mich ab, den Angriff sogleich zu beantworten; auch 
kann ich ihm keinen besonderen Wert beilegen und antworte auch 


154 Schneider, Die rechnenden Pferde. 


jetzt nur, weil Schröder mir Ansichten unterschiebt, die ich nicht 
geäußert habe. Der Angriff ıst typisch für die vulgäre Art und 
Weise, wıe man Angaben von Gegnern behandelt. Schröder 
kann meinen Artikel nur ganz flüchtig gelesen haben, jedenfalls 
hat er ihn nicht verstanden; die Polemik wäre andernfalls ganz 
überflüssig gewesen. 

Meine Ansicht lautete dahin, dass die Rechenleistungen der 
Krall’schen Pferde nicht dafür beweisend sind, dass sich die 
Menschen aus den Tieren entwickelt haben. Denn die mathematische 
Veranlagung ist eine apriorische und wird nicht durch Erfahrung 
erworben; auch haben die Pferde nicht das geringste Bestreben, 
sie durch Übung zu vervollkommnen. Nun wendet Schröder mir 
zunächst ein, dass die Pferde ja nicht nur rechnen, sondern auch 
reden sollen. Als wenn ich das nicht selbst gewusst und auf p. 178 
erwähnt hätte! Aber dass Tiere reden können, das habe ich be- 
reits früher anerkannt und in dieser Hinsicht konnten mich die 
Pferde nichts Neues lehren. Die mathematische Veranlagung aber 
bei Tieren hatte ıch bestritten, weil Mathematik mir, auf Grund 
der Lektüre logistischer Schriften, echt logischer Natur zu sein 
schien, was ich jetzt nicht mehr annehme. Ich bestreite nicht ım 
geringsten, dass man die Mathematik weitgehend logisch vertiefen 
kann — sind doch die Metageometrien derart entstanden —, aber 
es kann meiner Meinung nach nicht dein geringsten Zweifel unter- 
liegen, dass es auch einen Formen- und Zahlensinn gibt, die im- 
stande sınd, schwierige Aufgaben einfach durch Anschauung zu 
lösen. Nur so verstehen wir die Fälle abnormen mathematischen 
Talents bei Kindern und Idioten und — eben auch bei den Pferden! 
Denn dass die wirklich rechnen, das ist durch Schröder’s Be- 
hauptungen nicht ım geringsten widerlegt. 

Dies zur Einleitung. Wer mich widerlegen will, der muss vor 
allem zeigen, dass die Mathematik empirischer, nicht apriorischer 
Natur ist. Schröder macht es sich bequem. Er unterschiebt mir 
als Gewährsmann Schopenhauer und da kommt er leicht zurecht. 
Ich habe mich aber in dieser Hinsicht gar nicht auf Schopen- 
hauer berufen, denn dieser verstand von Mathematik vielleicht 
sogar noch weniger als ich. Ich berief mich (p. 172) auf Cou- 
turat, Russel und Royce, also auf echte Mathematiker, und hätte 
auch Hilbert, Voss, Dedekind, Cantor und viele andere 
zitieren können, wenn ich das für nötig gehalten hätte. Es dürfte 
schwer sein, diese Denker zu widerlegen, jedenfalls genügt mir 
ihre Autorität gegenüber Schröder, dessen Einwände herzlich 
schwach sind. So sagt er p. 598: „Schon die Tatsache, welche 
bekannt genug ist, dass verhältnismäßig nur wenige Menschen in 
das Verständnis dieser Wissenschaften (nämlich der höheren Ana- 
lysıs und deren Anwendung auf die Geometrie) einzudringen ver- 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 155 


mögen, hätte verhindern sollen, in der Mathematik ein apriorisches 
Vermögen zu sehen.“ Ich folgere aus dieser Tatsache gerade das 
Gegenteil von Schröder. Mathematik setzt eben ein angeborenes 
Spezialtalent voraus, eines, von dem der Mathematiker Pasch ın 
Gießen sagen konnte, es müsste der menschlichen Natur ım Grund 
zuwider laufen (zitiert aus Pringsheim’s Artikel: Wert und. Un- 
wert der Mathematik, in Zukunft Bd. 12, Nr. 34, p. 308). Im Reden 
bringen wir es alle durch Übung weit, im Rechnen versagen offen- 
kundig sehr viele rasch; wie kann man da folgern, es wäre Mathe- 
matik aus dem Empirischen abzuleiten? — Übrigens kenne ich 
Mach’s und anderer Autoren Gründe für eine empiristische Theorie 
der Mathematik, finde durch sie aber die Argumente der oben 
zitierten Denker nicht entwertet. 

Schopenhauer habe ich nicht ın Hinsicht auf die Apriorität 
der Mathematik zitiert, sondern in Hinsicht auf eine besondere an- 
schauliche Evidenz ın dieser. Er redet von einer ratio essendi in 
der Geometrie und Arıthmetik, die er mit Nachdruck von der ratio 
cognoscendi im Logischen unterscheidet und aus der räumlichen 
und zeitlichen Form des Bewusstseins — mit Kant — ableitet. 
Die ratio essendi wird in der Geometrie selbst von Couturat an- 
erkannt und in der Arıthmetik vertritt sie z. B. Voss, der da 
sagt: Es handelt sich ın der Mathematik um die extensiven 
Größen im Sinne von Kant, und der die Ariıthmetik direkt als 

„Wissenschaft von der Zahl“ von der Logik unterscheidet (siehe: 
Über das Wesen der Mathematik, 2. Aufl., 1913). Bei Natorp 
(Die logischen Grundlagen der Naturwissenschaften) und bei Poin- 
car& (Wissenschaft und Methode) findet sich entsprechendes. 
Überall wird anerkannt, dass die Logik zwar für die Entwickelung 
der Mathematik höchste Bedeutung hat, dass dieser aber auch 
eigene Bestandteile zukommen, die sie von der Logik zu unter- 
scheiden gestatten. Eben diese Besonderheiten sind es, an die wir 
anknüpfen müssen, um das Pferdethema zu bewältigen. Das ist 
aber ein Punkt, der mit der Aprioritätsfrage gar nichts zu tun hat. 
Schröder muss meinen Artikel sehr flüchtig gelesen haben, dass 
er mir betreffs Schopenhauer so Inn annes nachsagen konnte. 

Über die Komplexität der Mathematik ea. ich hier ein 
kurzes Wort einflechten. Wir haben an ihr vier Komponenten zu 
unterscheiden. Die erste und sozusagen natürliche Komponente 
ist die Anschaulichkeit der Mathematik. Insofern es sich in ihr 
um extensive Größen, also um Formen (in der Geometrie) und um 
Zahlen (in der Arithmetik) handelt, herrscht Anschaulichkeit in ihr, 
über deren Grenzen sich nicht ohne weiteres bestimmtes aussagen 
lässt. Wenn Schopenhauer meint, dass unsere unmittelbare An- 
schauung der Zahlen nicht weiter als etwa bis Zehn reicht, so 
scheint mir das ebenso unzulänglich, wie wenn Georg Müller, 


156 Schneider, Die rechnenden Pferde. 


Göttingen, in der Umschau (1912) meint, dass die hervorragenden 
rechnerischen Leistungen eines Mathematikers aus dem bloßen 
sinnlichen visuellen Gedächtnis nicht zu erklären sind. Anschauung 
der Zahlen ist etwas ganz anderes als visuelles Gedächtnis und in 
ihrem Gegebensein vermutlich größten Differenzen unterworfen. 


Man untersuche die abnormen Fälle — aber nicht bei methodisch 
vorgehenden Mathematikern — genauer und wird jedenfalls ganz 
unerwartete Aufschlüsse über einen „Zahlensinn“ erhalten. — Die 


zweite Komponente an der Mathematik ist die Logik. Diese hat 
es ım Grunde gar nicht mit Zahlen und Formen zu tun, sondern 
mit den Operationen des Bewusstseins dabei, für die sie grund- 
legende Gesetze als Normen, die auf jeden Fall zu befolgen sind, 
aufstellt. Sie ıst neben dem anschaulichen Teil der gesetzgeberische 
in der Mathematik. -— Die dritte Komponente bedeutet die wissen- 
schaftliche Erforschung des Gegenstandes, die einerseits als Me- 
thodenlehre zu charakterisieren ist, anderseits die Gründe, aus denen 
heraus Mathematik entstanden ist, untersucht. — Die vierte Kom- 
ponente endlich wäre die Anwendung der Zahlen auf die Erfahrung, 
worüber weiteres nicht ausgesagt zu werden braucht. 

Selbstverständlich macht es zurzeit große Schwierigkeiten, die 
einzelnen Komponenten scharf zu unterscheiden, was aber an ihrer 
Existenz zu zweifeln nicht gestattet. Es ist ein wahres Glück, dass 
wir die Elberfelder Pferde haben, die zur genaueren Untersuchung 
des Gebietes drängen. Krall hat in dieser Hinsicht große indirekte 
Verdienste, die sich allmählich mehr und mehr werden bemerkbar 
machen. 

Nun weiter zum Thema. Schröder benutzt die Erfahrungen 
an Kindern, um Krall zu widerlegen. Das ist eine ganz unzuläng- 
liche Beweisführung. Jede neue Erfahrung kann unser Wissen in 
irgendeiner Hinsicht sprengen; weil Menschen fast durchweg nur 
langsam ım Rechnen vordringen, kann doch bei Pferden ein be- 
sonderer Zahlensinn gegeben sein, der sie spielend vorwärts führt. 
Und Kinder sollen „denkend“ rechnen lernen! Das heisst gerade: 
wenn sie einen angeborenen Zahlensinn haben, so dürfen sie ıhn 
doch nicht anwenden, weil sie beim Rechnen zugleich Denken lernen 
sollen. Man hindert sie an dem, was eigentlich das Natürlichste 
ist, und schließt dann auf geringe Veranlagung! Ich habe gar nichts 
gegen die heutige Lehrmethode einzuwenden, denn Denken ist mir 
auch wichtiger als Rechnen. Ferner habe ıch gar nichts dagegen 
gesagt, dass das Rechnen, so wie es in den Schulen betrieben wird, 
ein vorzügliches Mittel der menschlichen Geistesbildung sei, wie 
Schröder auf p. 601 anzudeuten sucht. Ich habe weiterhin nicht 
im geringsten behauptet, dass das Rechnen die Mathematik er- 
schöpfen soll, wie es auf p. 598 heisst. So schlecht ich ın Mathe- 
matik unterrichtet bin, so weiß ich doch auch etwas von höherer 


re 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 157 


Analysis und habe den höchsten Respekt vor ihr. Aber wer be- 
weist, dass Differentiationen und Integrationen nur mit Hilfe der 
Logik möglich sind? Und sind etwa die Menschen so rasch zur 
höheren Analysis gekommen? Von der Funktionenlehre, vom 
Koordinatenbegriff, vom Infinitesimal und Integral hatten die Alten 
noch keine Ahnung und waren doch zweifellos tüchtige Mathe- 
matiker. Ich weiß eigentlich nicht, was mir Schröder mit seinen 
diesbezüglichen Ausführungen am Zeuge flicken will. Was ihm 
gerade einfällt und für seinen Begriff passt, daraus macht er eine 
Waffe gegen mich, magihre Anwendung an sich auch ganz sinnlos sein. 

Vor allem freut ihn, was ich über das eventuelle Zählen der 
Bienen bei ıhren Arbeiten, über das Rechnen des Hundes beim 
Sprunge sage, und er benutzt es, mich durch einen Witz abzu- 
führen. Ich fühle mich dadurch nicht geschlagen, denn meiner 
Überzeugung nach spielen sich in der Psyche eines Insekts und 
eines Säugers mehr Prozesse ab als wir jetzt ahnen. Ohne dass 
sie deshalb dächten! Schröder meint (p. 603): Die Aufnahme von 
Einheiten im Rhythmus und das Zählen sind grundverschiedene 
Dinge. Woher weiß er das? Ich möchte doch wissen, wie er einen 
Rhythmus beim Mangel einer formativen (numerativen) Komponente 
des Bewusstseins überhaupt feststellen könnte. Das Messen und 
Zählen spielt beim kleinen Kind schon eine Rolle, wenn es erfasst, 
dass die Umgebung ıhm nicht direkt am Auge klebt, sondern 
distanziert ist; wenn es überhaupt eine Vielheit unterscheidet. 
Logisch bleibt das ganz unbewusst und darum behaupten dann die 
Schulmeister, dass Kindern das Rechnen so schwer falle, wenn sie 
es denkend meistern sollen; aber ın der Anschaulichkeit kann vieles 
bereits bewältigt sein, bevor der Verstand sich ihm zuwendet, es 
entwertet und neue Grundlagen schafft. Warum stellte denn ein 
Helmholtz die Lehre von den unbewussten Schlüssen zur Er- 
klärung der Raumanschauung auf? Weil er zugeben musste, dass 
unbewusst — ich wiederhole nochmals: denkend unbewusst! — 
Hervorragendes geleistet wird bei Abschätzung einer Entfernung. 
Darum ist die mathematische Befähigung eines Hundes nicht ohne 
weiteres abzulehnen, von den Bienen ganz zu geschweigen. Es ist 
billig, Witze darüber zu reißen; besser wäre ein wenig Vertiefung 
in die Probleme. 

Wie wenig überhaupt die Logik bei der Behandlung des Pferde- 
problems strapaziert wird, das zeigt folgende Bemerkung Schrö- 
der’s. Er betont, dass neuerdings viel Stimmen über den offen- 
kundigen Rückgang der Pferde in Hinsicht auf ihre sogen. Leistungen 
berichten, und findet darin einen Gegenbeweis gegen deren Können. 
„Während der Unterricht ... den Menschen zu fortschreitender 
Vertiefung und höherer Leistung auf geistigem Gebiete, immer mehr 
innerem Zwange folgend, treibt, ist das Verhalten der Pferde nie 


158 Schneider, Die rechnenden Pferde. 


über die Mohrrübendressur hinausgegangen“ (p. 609—610). Aber 
wie kann denn der Rückgang der Pferde etwas beweisen, wenn 
man ihnen eigene Fähigkeiten bestreitet und behauptet, dass ihre 
Leistungen nur das Können Krall’s spiegeln? Dann würde höch- 
stens folgern, dass der Lehrer an Fähigkeit zurückgegangen ist, was 
eben an den Tieren zum Ausdruck käme. Nicht sie versagen, 
sondern der, der sich mit ıhnen abgibt. Mir ist gerade dieser 
Rückgang Beweis, dass die Tiere selbständig gearbeitet haben. 
Dass weder unbewusste noch bewusste Hilfen sie nötigten, noch 
das Gedächtnis, das Schröder auch sehr betont, für ıhr Können 
in Betracht kommt. Warum sollten denn Krall und andere Ex- 
perimentatoren nicht mehr so gut rechnen wie früher? Warum 
sollte das Gedächtnis beı jungen Tieren so rasch nachlassen? Der 
eigentliche Grund liegt auf der Hand: das Können der Pferde war 
ihnen, wenn auch möglich, doch nicht naturgemäß, und deshalb 
wurde es allmählich wieder von den natürlichen Trieben übertönt, 
nachdem es eine Zeitlang künstlich aufrecht erhalten worden war. 

Mir ist der ganze Angriff Schröder’s gegen mich eigentlich 
unbegreiflich. Er kann mir nicht den geringsten Widerspruch 
nachweisen und steht ım wesentlichen ganz auf meinem Grund und 
Boden, nämlich auf der Anschauung, dass die Befunde an den 
Pferden für die Entwickelungslehre nichts beweisen. P. 608 sagt 
er: Einem solchen Ansteigen (d. h. einer progressiven Evolution) 
würden die Leistungen der Pferde, wenn sie auf ihrem eigenen 
Denkvermögen beruhten, ganz bestimmt widersprechen.“ Da möchte 
ich schier fragen: Wozu der Lärm? Um so mehr als ich im Grunde 
ja nur darlege, wie man sich die Leistungen der Pferde zu er- 
klären vermag, vorausgesetzt, dass sie wirklich gegeben sind! Wohl 
wahr, ich nehme an, dass sıe wirklich gegeben sınd, da ich sie mir 
eben zu erklären vermag. Aber selbst festgestellt habe ich doch 
gar nichts und dass Krall nicht sich hätte ırren können, kann ich 
auch nicht behaupten. Selbst wenn er sich geirrt hat, kann das 
meine Theorie nicht berühren. Die Möglichkeit, dass höhere Tiere 
rechnen können, würde ıch auch dann noch vertreten, denn an den 
Grundlagen meiner Theorie kann ich nicht zweifeln, weil sie logisch 
entwickelt sind. Ich habe es schon in meinem Artikel betont und 
betone es nochmals, dass ohne grundlegende Hypothesen Wissen- 
schaft überhaupt nicht möglich ist und halte eine Hypothese für 
viel wichtiger als eine Tatsache; denn Tatsachen kann man immer 
finden, Hypothesen liegen aber nicht auf der Straße herum. Und 
hat etwa Schröder nicht eine grundlegende Hypothese, von der 
er bei seinen Erörterungen ausgeht? Auch nach ihm, wie nach 
mir, sollen die Pferde nıcht denken können — wenigstens spricht 
das deutlich aus jeder Zeile seines Artikels, wenn er auch am 
Schlusse sagt: seine Weltanschauung würde an „denkenden“ Tieren 


Schneider, Die rechnenden Pferde. 159 


keinen Schiffbruch leiden. So ist es denn nur die Beurteilung der 
Mathematik, die uns eigentlich trennt. Aber auch da sind die Diffe- 
renzen überbrückbar, ja sie sind vielleicht gar nicht vorhanden, 
sondern beruhen nur auf Missverständnissen. Wenn Schröder 
sich ein wenig mehr Mühe gibt, mich nicht misszuverstehen, so 
werden wir uns ganz gut zusammenfinden. 

Zum Schlusse möchte ich einen Wunsch aussprechen. Man 
möge sich doch nicht solche Blößen geben als es die Art und Weise, 
wie man über Krall’s Vorgehen redet, bedeutet. Ist es nicht 
geradezu empörend, wie dieser doch auf jeden Fall verdienstvolle 
Mann, dessen Glaubwürdigkeit alle, die ıhn kennen, betonen, von 
seinen Gegnern behandelt wird? Sind seine Methoden nicht ein- 
wandfrei, so prüfe man die eigenen, ob sie besser sind. Wie 
Schröder vorgeht, das habe ıch oben charakterisiert; ich finde 
nicht, dass seine logische Behandlung der Themen einwandfrei sei. 
Er wirft unter anderem Krall vor, dass er mit seinen Untersuchungen 
eine vorhandene Anschauung beweisen wollte und findet darin den 
gänzlichen Mangel an wissenschaftlich prüfendem Zweifel beı ihm 
(p. 595—596). Ja, ıst das nicht geradezu ein Nonsens, den er da 
ausspricht? Sind nicht die wahrhaft großen bewundernswerten 
Entdeckungen, z. B. eines Hertz, Paul Ehrlich, Arrhenius u.a. 
allein durch vorweggegebene Hypothesen, die in Experimenten veri- 
fiziert wurden, möglich geworden? Wie ich schon sagte: Hypo- 
thesen sind wichtiger als Tatsachen, denn sie führen unbedingt zu 
Tatsachen, während der umgekehrte Weg nur ein zufälliger ist. 
Wieviel Kritik bei solchen Verifikationen aufgewendet wird, das 
kann der Fernstehende oft nur sehr schwer ermessen. 

Wie stand es bei Abfassung des berüchtigten Protestes gegen 
Krall, den so viel Zoologen unterschrieben? Gingen die etwa 
nicht von einer vorgefassten Meinung aus? Ich anerkenne zwar, 
dass jeder Standpunkt ein Recht auf Selbstverteidigung hat, denn 
in gewisser Hinsicht ist er sicher unangreifbar; aber es wirkt depri- 
mierend, wenn nun ein Gegner gleichsam vogelfrei erklärt und über 
ihn ein Gift ausgespritzt wird, das nur den also Vorgehenden 
schändet. Der Protest war wahrhaftig kein Ruhmesblatt in der 
Geschichte der modernen Zoologie. 

Außerst kritiklos mutet es mich auch an, wenn man Krall immer 
wieder den Vorwurf macht, dass er wissenschaftliche Kommissionen 
zur Untersuchung seiner Pferde ablehne. Die heutigen physio- 
logischen Untersuchungsmethoden des Seelischen können dessen 
Feinheiten absolut nicht gerecht werden; es bedarf eines Kontakts 
von Seele zu Seele, wenn so schwerwiegende Probleme geprüft 
werden sollen. Gerade neuerdings arbeitet die Psychologie des 
Denkens neue Methoden aus, über die Külpe zusammenfassend in 
einem Artikel der internat. Monatsschr. f. Wissenschaft, Kunst und 


160 Sedgwick und Wilson, Einführung in die allgemeine Biologie. 


Technik: Über die moderne Psychologie des Denkens (1912), be- 
richtet. Da lesen wir, wie wenig die alten Methoden sich bewährt 
und wie viel überraschend Neues die moderne Behandlung bereits 
zutage gefördert hat. Man hat das Denken als etwas Selbständiges 
sozusagen überhaupt erst entdeckt. D. h. meiner Ansicht nach 
handelt es sich nıcht um das Denken, sondern um eine besondere 
gnostische Anschauungsweise, auf die ich in meinen tierpsycho- 
logischen Praktikum ausführlich eingegangen bin. Jedenfalls um 
ein psychisches Geschehen handelt es sich, das bis jetzt noch nicht 
genauer gewürdigt wurde, gerade aber auch in Hinsicht auf höhere 
Tiere ın Betracht kommen dürfte. Von ıhm ausgehend sollte man 
sich der mathematischen Veranlagung zuwenden, da wäre vielleicht 
eine neue Einbruchspforte zu gewinnen. Auch an Freud’s psycho- 
analytische Methode und an Ach’s Methoden der Bestimmung 
indeterminierter Handlungen möchte ich erinnern. All diese neuen 
Methoden zeigen, wie heutzutage in der Psychologie alles in Fluss 
ist, und da will man es Krall verübeln, dass er gegen die An- 
wendung unzulänglicher alter Methoden, noch dazu durch Kom- 
missionen, bei seinen Pferden sich ablehnend verhält. Recht hat 
er, tausendmal recht! Und er hat den Trost, dass auch besonnene 
Naturforscher ihm zustimmen. Jedenfalls wird er die Zukunft auf 
seiner Seite haben. 
Spitz a. Donau, 15. Dez. 1914. 


W.T. Sedgwick und E. B. Wilson. Einführung in die 
allgemeine Biologie. 
Autorisierte Übersetzung von R. Thesing. 8. X und 302 S. Leipzig und Berlin 
1913. B. G. Teubner. 

Die Bücher über allgemeine Biologie sind in den letzten Jahren 
sehr zahlreich geworden. Ein jedes derselben zeigt gewisse Be- 
sonderheiten, durch die es sich vor ähnlichen auszeichnet. Aber 
immer häufiger finden wir einen Gang der Darstellung, der meines 
Wissens auf Huxley und Parker zurückzuführen ıst: Nach einer 
grundlegenden Einleitung wird der eigentliche Lehrgang an einem 
bestimmten Lebewesen eingehend erläutert, von welchem spe- 
ziellen Teil aus das Gesamtbild Leben und Charakter erhält. Im 
vorliegenden Werkchen ist es der Regenwurm für die Tiere, das 
Farnkraut für die Pflanzen, welche als Paradigmata dienen. Ihnen 
folgen dann Kapitel über die einzelligen Organısmen, Amoeben, 
Infusorien, Protococeus, Hefen, die Organismen eines Heuaufgusses. 
Zum Schluss werden Anleitungen für Arbeiten ım Laboratorium 
und für Demonstrationen gegeben. 

Die Übersetzung ist gewandt und liest sich gut. Sie wird 
durch eine große Zahl guter Abbildungen bestens unterstützt. P. 








Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Oentralblatt 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem &esamtgebiete der Botanik 
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


Bd. XXXV. 20. April 1915. N 4. 

















Inhalt: De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme in Samen durch Druck. 


— Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten von Sederov und 
Kammerer. — Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. — 
Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller For- 
schungen bei den Ameisen. — Wasmann, Das Gesellschaftsleben der Ameisen. Das Zu- 
sammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Ge- 
sammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. 








Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme 


in Samen durch Druck. 
Von Hugo de Vries. 


Wie die Samen der meisten anderen Pflanzen, keimen auch 
diejenigen der verschiedenen Arten der Gattung Oenothera beim 
Befeuchten mit Wasser nur teilweise sofort. Manche Körner bleiben 
in der feuchten Erde Wochen oder Monate, nicht wenige sogar 
jahrelang in Ruhe, bevor sie austreiben. Diese verspäteten Körner 
werden als makrobiotische bezeichnet; man kann sie auch einfach 
Trotzer nennen. Der Gehalt der einzelnen Ernten an ihnen schwankt 
je nach Umständen; oft hat man Proben, welche innerhalb weniger 
Tage nahezu vollständig keimen, oft aber auch erhält man auf 
Tausende von Samen nur ganz einzelne Keimpflanzen. 

Bei den mutierenden Arten liegt die Möglichkeit offenbar vor, 
dass diese trotzenden Samen mehr Aussicht auf neue Typen bieten 
als die schnell keimenden. Deshalb schien es mir wichtig, eine 
Methode auszuarbeiten, welche es ermöglichen würde, sämtliche 
oder doch nahezu sämtliche keimfähige Körner innerhalb der ge- 


wöhnlichen Zeitfrist auch wirklich zum Keimen zu bringen. Nur 
xXXXV. 11 


162 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


in dieser Weise erhält man eine Aussicht, das Mutationsvermögen 
einer gegebenen Art erschöpfend kennen zu lernen und neue Arten 
in dieser Beziehung vollständig beurteilen zu können. Neben O. La- 
marckiana und O. biennis zeigen bis jetzt etwa ein halbes Dutzend 
von Arten aus derselben Gruppe Mutationserscheinungen, und die 
Annahme scheint durchaus berechtigt, dass eine weit größere Zahl 
sich in derselben Weise verhalten wird. 

Die trotzenden Samen bleiben nach der Aussaat im Innern 
trocken; das Wasser des Bodens dringt nicht in sie hinein: Sobald 
solches aber der Fall ıst, fängt die Keimung an, vorausgesetzt, dass 
der Keim noch lebensfähig ıst. Dieses dauert bei den von mir auf- 
bewahrten Samen in der Regel mehrere Jahre; nach 5 Jahren darf 
man noch auf eine ausreichende Keimung rechnen, dann aber nımmt 
der Prozentsatz ziemlich schnell ab. Von der Ernte von 1907 
keimen jetzt noch manche Proben ın ausreichender Weise, manche 
andere aber sind bereits völlig abgestorben. Samen von 1905 
keimen noch in einzelnen Fällen; ältere Samen lohnt es sich über- 
haupt nicht mehr auszusäen. Beal erwähnt einen Versuch, in 
welchem er Samen von einer amerikanischen Form von O. biennis 
in angefeuchtetem Sande in einer Flasche in einer Tiefe von etwa 
einem Meter im Boden eingegraben hat. Nach einem Aufenthalt 
von 25 Jahren fand er noch keimfähige Samen'). 

Pammel und Miss King haben neuerlich das Verhalten dieser 
trotzenden Samen bei Pflanzen aus verschiedenen Familien studiert, 
und die wichtigsten Ergebnisse aus der früheren Literatur zusammen- 
gestellt?). Seit 1901 untersuchen sie die Keimfähigkeit von Un- 
kräutern aus dem Staate Iowa unter den verschiedensten Bedin- 
gungen. Stratifizieren oder Aufbewahren in feuchtem Sande zeigte 
sich im allgemeinen als günstig; namentlich wenn die Samen im 
Winter dem Froste ausgesetzt wurden; manche Arten keimen ohne 
eine solche Vorbereitung, d. h. bei trockenem Aufbewahren, nicht 
oder fast gar nicht, aber nachher sehr kräftig. Die Zunahme der 
Keimkraft, bezw. dıe erforderliche Dauer des Stratifizierens war bei 
verschiedenen Arten sehr großen Schwankungen unterworfen, je 
nach der Härte der äußeren Samenhaut. 

In den Samen der Oenotheren bildet die äußere Samenhaut 
aber nicht die Hartschicht. Das äußere Integument der Samen- 
knospen besteht aus mehreren Zellenschichten, nimmt aber um die 
Mikropyle herum an Dicke zu. Diese Zellen erhärten nicht, sondern 
bilden ein lockeres, pseudoparenchymatisches Gewebe, welches beim 
Reifen austrocknet und zusammenschrumpft. Bei Benetzung be- 


1) Proc. Soc. Prom. Agric. Sci. T. 26, S. 89, 1905. 

2) L. H. Pammel and Charlotte M. King, Delayed Germination, 
Proceedings Iowa Academy of Science Vol. XV, Contributions Botanical Department 
Iowa State College of Agriculture and Mechanie Arts, Nr. 45, S. 20. 





De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 163 


feuchtet es sich sofort und in allen Körnern, ohne damit aber not- 
wendigerweise ein Aufquellen des Keimes zu veranlassen. Denn 
die Hartschicht wird hier von dem inneren Integumente gebildet, 
welches nur aus zweı Zellschichten besteht, mit Ausnahme der 
nächsten Umgebung der Mikropyle, welche etwas dicker wird. Beim 
Reifen der Samen färbt sich dieses Integument etwas dunkler gelb 
bis braun, namentlich in seiner innersten Schicht und bereits in 
unreifen Samen bietet diese dem Eindringen von Fixierungsfiüssig- 
keiten bedeutenden Widerstand’). 

Die Dauer der Zeit, während welcher aufbewahrte Samen noch 
am Leben bleiben können, ıst bekanntlich für verschiedene Arten 
eine sehr verschiedene*). Namentlich unter den Leguminosen, dann 
aber unter den Malvaceen und den Labiaten kommen langlebige 
Arten vor. Ferner unter den Cruciferen und den Gräsern, u. S. w. 
Ganz besonders scheint die Erscheinung unter den Unkräutern der 
Kulturfelder verbreitet zu sein. Vielleicht hängt dieses damit zu- 
sammen, dass das Trotzen die betreffenden Arten befähigt, die Jahre 
zu überleben, in denen sie nicht zur Entwickelung oder doch nicht 
zum Hervorbringen reifer Samen gelangen können. Am besten ist 
die ganze Erscheinung wohl für die sogen. kleineren Kleearten (gelb- 
blühende Arten von Trifolium, Arten von Medicago, Melilotus u. s.w.) 
bekannt. Diese keimen oft im ersten Jahre nach der Aussaat gar 
nicht und sind aus diesem Grunde vielfach als Kulturpflanzen un- 
brauchbar. In der Praxis werden sie, namentlich in Schweden, 
vor der Aussaat in größeren Maschinen angefeilt, und diese Behand- 
lung bringt ihre Keimfähigkeit oft auf nahezu 100%, d. h. lässt 
nahezu alle Körner sofort nach der Aussaat keimen. 

Dass die Keime trotzender Samen in feuchter Erde trocken 
bleiben, ergibt sich auch aus der bekannten Tatsache, dass manche 
unter ihnen in diesem Zustande die Hitze des kochenden Wassers 
ertragen können. In meinen Kulturen wird die Erde für die Saat- 
schüsseln bei etwa 95° C. sterilisiert. Dadurch werden auch die 
Unkrautsamen in der Regel getötet, aber Samen von Kleearten 
überleben dieses Sterilisieren nicht gerade selten und keimen dann 
zwischen den Oenotheren. 

Außer durch Anfeilen kann die Hartschicht trotzender Samen 
durch geeignete Behandlung mit verschiedenen chemischen Verbin- 
dungen für Wasser permeabel gemacht werden, und namentlich 
Schwefelsäure wird dazu vielfach benutzt. Ich habe entsprechende 
Versuche mit den Samen der Oenotheren gemacht, aber die lockere 


3) J. M. Geerts, Beiträge zur Kenntnis der Cytologie und der partiellen 
Sterilität von Oenothera Lamurckiana, Amsterdam 1909, S. 31—33. 

4) Vergl. namentlich A. J. Ewart, Proc. Roy. Soc. of Victoria T. 21, Prt. I, 
S.1, 1898. Ewart beobachtete die Keimung von Samen von Malvaceen, Legumi- 
nosen und anderen, welche 55—77 Jahre lang aufbewahrt worden waren. 


LE 


164 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


äußere Samenhaut erschwert das nachträgliche Auswaschen der 
Säure, und bietet dieser somit die Zeit, um in den Keim einzu- 
dringen und diesen zu töten. 

Außer dieser und anderer gebräuchlicher Methoden habe ich 
verschiedene Mittel versucht, um die Keimkraft der Samen von 
Oenothera zu erhöhen, wie bedeutende Wechslungen in der Tempe- 
ratur des umgebenden Wassers, Einwirkung von Temperaturen in 
der Nähe der Lebensgrenze (40—50° C©. und höher), u. s. w., aber 
ohne damit merkliche Erfolge zu erzielen. 

Dann habe ich mich entschlossen, das Wasser unmittelbar ın 
die Samen hineinzupressen, in der Hoffnung, damit den Keim zu 
erreichen und diesen zum Aufquellen zu bringen. Ich ging dabeı 
von der geläufigen Ansicht aus, dass die quellenden Samen das 
Wasser durch feine Risse ın ihrer Hartschicht, für gewöhnlich also 
in ihrer äußeren Samenhaut aufnehmen. Diese Risse befinden sich 
teils in der Gegend der Mikropyle, teils zerstreut über den ganzen 
Umfang des Kornes. In den Samen der Oenotheren sind sie ım 
inneren Integumente anzunehmen, wie aus der oben gegebenen 
Beschreibung hervorgeht. Diese Risse sollen durch die kutikulari- 
sierten äußeren Schichten der Hartschicht bis in die angrenzen- 
den weicheren Zellhäute oder Zellhautschichten führen. Sind sie 
mit Wasser gefüllt, so ermöglichen sie dessen Eintritt in den Keim, 
und durch das Aufquellen des Keimes werden dann bald einige 
unter ihnen derart erweitert, dass die Aufnahme von Wasser all- 
mählıch erleichtert und beschleunigt wird. 

In den trockenen Samen, muss man aber annehmen, sind diese 
äußerst feinen Rısschen mit Luft erfüllt. Wird nun die Hart- 
schicht befeuchtet, so kann das Wasser in diese Risse nur dadurch 
eindringen, dass es die Luft in ihnen auflöst. Man nımmt nun an, 
dass dieses nur in den weitesten Risschen ausreichend schnell statt- 
finden kann, um die Keimung innerhalb einiger Tage anfangen zu 
lassen, dass aber ın den trotzenden Samen auch die größten Risse 
so eng sind, dass das Wasser nur ganz allmählich vordringen kann, 
und Wochen, Monate oder Jahre braucht, um die tieferen nicht 
kutikularisierten Wände der Risse zu erreichen. Sobald diese aber 
erreicht sind, kann auch dann das Aufquellen des Keimes anfangen. 

Ich habe die Gültigkeit dieser Erklärung nicht durch eine mikro- 
skopische Untersuchung geprüft, sondern einfach aus ihr das Prinzip 
meiner Methode abgeleitet. Und da ich meinen Zweck erreicht 
habe, glaube ich, dass dieser Erfolg wenigstens als ein Beweis für 
die Brauchbarkeit der Vorstellung betrachtet werden darf. 

Presst man Wasser künstlich ın die Risse der Hartschicht 
hinein, so wird man die Luft in ihnen komprimieren und damit ein 
Eindringen bis an die zarteren Teile der Risswände befördern. 
Außerdem aber beschleunigt man das Auflösen der Luft in dem 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 465 


Wasser und hierdurch muss, nach kürzerer oder längerer Frist, 
eine völlige Ausfüllung der Risse mit Flüssigkeit erreicht werden. 
Ob dieses letztere erforderlich ist, dürfte schwer zu entscheiden 
sein, ist aber für die Praxis der Anwendung meiner Methode offen- 
bar gleichgültig. 

Es handelt sich im wesentlichen darum, wie stark der Druck 
sein muss und wie lange er einwirken muss. Und da die ruhenden 
Samen im Boden nach sehr verschiedenen Zeiten zu trotzen auf- 
hören, darf man annehmen, dass die weitesten Risse — denn nur 
auf diese kommt esan — ın den einzelnen Samen von sehr verschie- 
dener Weite sind. Daraus ergibt sich dann die Erwartung, dass 
auch unter künstlichem Druck die Samen nicht gleichzeitig, sondern 
nach und nach im Innern befeuchtet werden und dass auch bei 
langer Versuchsdauer und sehr hohem Drucke wohl noch einige der 
härtesten Exemplare unberührt bleiben können. Nach meinen bis- 
herigen Erfahrungen ist es leicht, 95%, und mehr der keimfähigen 
Samen rasch zum Austreiben zu bringen und bisweilen erhält man 
auch eine erschöpfende Auslösung der Keimkraft. Zumeist bleiben 
aber wohl 1—2%, und bisweilen mehr Samen unbefeuchtet. In den 
gewöhnlichen Versuchen wird man ohne merklichen Schaden auf deren 
Mitwirkung verzichten können. 

Jetzt komme ich zu der Beschreibung meines Apparates. Dieser 
besteht aus einem gewöhnlichen Autoklaven und einer Luftpumpe, 
wie solche für das Füllen von Automobilreifen benutzt werden. 
Der Autoklav ist ein Dampfsterilisator, der bis zu 10 Atm. Druck 
ertragen kann, für gewöhnlich aber nur bis zu 8 Atm. benutzt 
wird. Das Füllen erfordert nur etwa 5 Minuten. Der lichte 
Durchmesser des Behälters ist 20 cm, und es können in ihm über 
100 Röhrchen mit Samenproben Platz finden. 

Bevor die Samen in den Apparat gelangen, müssen sie soweit 
wie möglich mit Wasser gesättigt werden und muss wenigstens die 
lockere äußere Samenschale der Oenothera-Samen ganz aufgeweicht 
sein, damit das Wasser überall die Hartschicht berühre. Dazu 
werden die Samen in Glasröhrchen mit Wasser geschüttelt und 
während einer Nacht bei 30° C. oder während etwa 24 Stunden 
bei der Zimmertemperatur aufbewahrt. Im Autoklaven habe ich 
sie bis jetzt zumeist 2—3 Tage lang unter einem Druck von 
6—8 Atm. gelassen; sie keimen während dieser Zeit bei niedriger 
Temperatur nicht oder lassen höchstens an ganz einzelnen Körnern 
die weiße Wurzelspitze sichtbar werden. Die Keimkraft der ganzen 
Probe erleidet durch die Behandlung gar keinen Nachteil. 

Sollen die Samen in Keimschüsseln ausgesät werden, um später 
für die Kultur im Garten zu dienen, so müssen sie locker auf die 
Erde gestreut werden. Dazu ist es erforderlich, sie vorher ober- 
flächlich abzutrocknen, was durch sanftes Pressen zwischen zwei 


{66 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


Tüchern leicht erreicht wird. In dieser Weise habe ich die ganze 
Aussaat für alle meine diesjährigen Kulturen behandelt. 

Beabsichtigt man nur, die Anzahl der keimenden Körner in 
einer gegebenen Probe zu bestimmen, so empfiehlt es sich, die 
Samen nicht auf Erde auszustreuen. Auch das Auslegen auf feuchtes 
Fließpapier ist zumeist ungenügend, um sämtliche Körner keimen 
zu lassen. Am besten ist es, sie in einer kapillaren Wasserschicht 
an einer Glaswand hangen zu lassen. Man kann dazu umgekehrte 
Uhrgläser oder Schälchen benutzen; am bequemsten ist es aber, sie 
ın einer geschlossenen Glasröhre mit sehr wenig Wasser an der 
einen Längsseite der Wand zu verteilen und dann die Röhre hori- 
zontal hinzulegen und so zu drehen, dass dıe Körner an der oberen 
Seite haften. Hier fließt das überflüssige Wasser ab und die Samen 
finden gerade so viel Luft und so viel Feuchtigkeit als zu ihrem 
Wachstum erforderlich ist. Behufs des Auszählens der Keime 
werden sie dann mittels einer spiralig gedrehten Nadel aus der 
Röhre herausgeschoben und auf einer nassen Glasplatte ausgebreitet. 

Das Ankeimen geschieht in denselben Röhrchen wie das Ein- 
pressen des Wassers im Autoklaven, nur werden die Röhren nach 
dem Abgießen und nötigenfalls nach dem Erneuern des Wassers 
mit einem Korke geschlossen. Ich benutze Röhrchen von 10 cm 
Länge und 1,5 cm Weite. Gewöhnlich sind nach 2 Tagen schon 
zahlreiche Würzelchen sichtbar geworden, wenn die Röhrchen im 
Keimschrank bei etwa 30° C. aufbewahrt werden. Nach 2—4 Tagen 
nimmt die Keimung rasch ab, und bewahrt man die Proben während 
längerer Zeit auf, indem man von Zeit zu Zeit die Luft in den 
Röhrchen erneuert, so dauert es bisweilen mehrere Wochen, bis 
die letzten Samen zu keimen anfangen. 

Den Einfluss des Hineinpressens von Wasser kann man in ver- 
schiedener Weise prüfen. Entweder indem man von einer Probe 
die eine Hälfte der Operation unterwirft, die andere aber nicht, 
oder so, dass man in der ganzen Probe zuerst die raschkeimenden 
Samen wachsen lässt. Sobald man dann sieht, dass dieser Prozess 
aufhört oder doch sich ganz erheblich verzögert, presst man das 
Wasser in die noch ruhenden Samen im Autoklaven ein und bringt 
darauf die Röhrchen in den Keimschrank zurück. Fast stets erfolgt 
dann eine rasche Keimung, welche dann nur damit erlischt, dass 
die lebensfähigen Keime alle oder bis auf einige wenige Prozente, 
ihre Würzelchen sichtbar werden lassen. Nach Ablauf von weiteren 
2—4 Tagen öffnet man die noch übrig gebliebenen Körner mit 
einer harten Stahlnadel mit umgebogener Spitze, um die Zahl der 
etwa noch ruhenden Keime und jene der im Samen gestorbenen 
Exemplare zu ermitteln. 

Ich führe jetzt eine Reihe von Beispielen an, um die Einzel- 
heiten des Prozesses näher beschreiben zu können, und beschränke 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 467 


mich dabei aus leicht ersichtlichen Gründen auf die bereits mehr- 
fach erwähnten Samen der Oenotheren. Für jede einzelne Probe 
dienten fast stets 200 aus einer einzelnen Frucht herausgenommene 
und abgezählte Samen. Es entspricht diese Zahl nahezu dem ge- 
wöhnlichen Gehalte einer Frucht an Samen. 

Oenothera biennis und andere Arten. Die Samen von Oeno- 
thera biennis L., der ın den holländischen Dünen und sonst in 
Europa weitverbreiteten Art, keimen in der Regel rasch und leicht, 
indem bei 30° C. unter guten Bedingungen in den ersten 5 Tagen 
etwa 80—90 %, und mehr Würzelchen hervorgetrieben werden. In 
solchen Fällen lohnt es sich kaum, Wasser in sie hinein zu pumpen. 
Hat man aber die Samen auf spät verpflanzten, ungenügend ge- 
düngten oder aus sonstigen Gründen schwach gebliebenen Exem- 
plaren gesammelt, so ist die Keimkraft oft eine viel geringere. Ich 
wähle als Beispiel ein Exemplar von O. biennis sulfurea, welches 
im Sommer 1914 in meinem Garten wuchs und seine Blüten in 
Pergaminbeuteln geöffnet hatte, somit rein mit sich selbst befruchtet 
worden war’). 

200 Samen wurden im Keimapparat ausgelegt; es keimten bei 
30°C. in 2 Tagen nur 4, darauf in den beiden nächstfolgenden 
Tagen noch 78 Körner. Zusammen also ın 4 Tagen 41%. Eine 
Kontrollprobe wurde zuerst während 2 Tagen m Wasser einem 
Drucke von 6 Atm. bei niedriger Temperatur ausgesetzt und kam 
erst dann in den Keimapparat bei 30°C. Hier keimten innerhalb 
3 Tage 80% der Samen, d.h. fast alle lebensfähigen Körner. 

Durch die Anwendung künstlichen Druckes war somit die Pro- 
duktion von Keimpflanzen in diesem Falle etwa verdoppelt worden. 

In derselben Weise untersuchte ich Oenothera syrticola Bart- 
lett‘), d. h. die schmalblättrige Art unserer Dünen, welche bis 
dahin O. muricata L. genannt wurde und deren doppeltreziproke 
Bastarde mit O. biennis früher von mir beschrieben worden sind”). 
Von einem selbstbefruchteten Exemplare meiner Rasse entnahm ich 
einer Frucht 200 Samen. Es keimten innerhalb von 5 Tagen 30%. 
. Eine zweite Probe setzte ich zuerst während zweier Tage einem Drucke 
von 6 Atm. aus und brachte sie dann unter denselben Bedingungen 
wie die erste zur Keimung. Es brauchte jetzt 3 Tage um 80 9, 


5) Über das Entstehen dieser Varietät durch Mutation aus der leuchtend gelb- 
blühenden Art, vergl. Th. J.Stomps, Parallele Mutationen bei Oenothera biennis L. 
Ber. d. d. botan. Gesellsch. 1914, Bd. 32, S. 179—188, und meinen Aufsatz: The 
Coefficient of Mutation in Oenothera biennis L., in Botanical Gazette, Bd. XVIII, 
Chicago 1915. 

6) H. H. Bartlett, Twelve elementary species of Onagra, in Cybele Colum- 
biana, Vol. I, Nr. I, S. 37, 1914. 

7) Uber doppeltreziproke Bastarde von Oenothera biennis L. und O. muri- 
cata L. Biol. Centralbl. Bd. 31, S. 97—104, 1911, und „Gruppenweise Artbildung‘“, 
Berlin 1913, S. 39—41, 


168 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


der Würzelchen hervorbrechen zu sehen. Die Keimkraft war somit 
durch die Anwendung des Druckes etwas mehr als verdoppelt und 
nahezu erschöpft worden. 

Noch bedeutender werden die Differenzen, wenn man Arten 
mit schwacher Keimkraft wählt. Eine solche Form erhielt ich von 
Herrn T. D. A. COockerell ın Boulder in Colorado; ich habe sie 
unter dem Namen O. Cockerelli in meiner „Gruppenweisen Art- 
bildung“ beschrieben und abgebildet®). Selbstbefruchtete Samen 
aus den Kulturen meines Gartens keimen gewöhnlich nur spärlich, 
oder erwarten einen sonnigen Tag, bevor sie zu wachsen anfangen. 
Aus einer Frucht erhielt ich im Keimapparat bei 30°C. aus 200 Samen 
innerhalb von 5 Tagen nur 3 Keime. Darauf wurde eine Kontrollprobe 
während zweier Tage in Wasser einem Drucke von 6 Atm. ausgesetzt 
und darauf bei 30°C. ausgelegt. Es keimten nun in 3 Tagen 72%,. 
Fast alle sonstigen Trotzer waren somit durch die angegebene Be- 
handlung zum Keimen gebracht worden. 

Einen vierten Versuch habe ich mit O0. suaveolens Desf. ge- 
macht. Auf diese Art komme ich weiter unten zurück. Ich benutzte 
eine schmalblättrige Varietät aus Coimbra in Portugal. Es keimten, 
unter 200 reinen Samen, ohne Druck ın 5 Tagen nur 5,5 nach 
Anwendung von Druck unter denselben ausm wie in den 
vorigen Versuchen, innerhalb dreier Tage 14. 

Ich fasse jetzt die mitgeteilten Zahlen übersichtlich zusammen. 


Einwirkung eines Druckes von 6 Atm. während zweier Tage, auf 
die Keimkraft. 

















IPORELE _ Kontroll- 
Keimlinge 
| versuche 
Oenothera nach 3 Tagen 
| in % ohne Druck 
IRRE 29 (5 Tage) 
a un m ll Bene nissen ST = — 
O. biennis sulfurea . . | 80 41 
O. syrticola (0. muricata L) | s0 18 
ON CockerEND N | 72 2 
OÖ. sumeodieens . .» 2. | 14 5 
| 


Die Beschleunigung der Keimung durch vorheriges Hinein- 
pressen von Wasser in die Samen ist in allen diesen Versuchen 
eine auffallende. Zahlreiche weitere Versuche, namentlich mit ge- 
kreuzten Samen oder mit den Samen von Bastarden, haben diesen 
Satz seitdem bestätigt. 

Oenothera sp. aus Minnesota. In der Umgegend des Ortes 
North Town Junction bei Minneapolis in Minnesota habe ich 
im September 1904 an verschiedenen Stellen eine bis jetzt unbe- 
schriebene, aber von ihren Verwandten deutlich getrennte Art ge- 


8) Gruppenweise Artbildung. S. 53—54 und 114—115. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 169 


sammelt°). Ausihren Samen habe ich eine Rasse abgeleitet und deren 
im Jahre 1914 in meinem Garten gereifte Samen geprüft. Ich ent- 
nahm von vier Pflanzen je eine selbstbefruchtete Frucht, zählte aus 
jeder 200 Samen aus und legte diese zum Keimen bei 30°C. aus. 
Die Keimlinge wurden nach 2 und nach 4 Tagen gezählt und ent- 
fernt. Die übrigen Samen wurden darauf bei Zimmertemperatur wäh- 
rend dreier Tage einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und wiederum 
zum Keimen ausgelegt. Nach 2 Tagen wurden die neuen Keim- 
linge abgezählt und die ungekeimten Körner mit einer Nadel ge- 
öffnet, um zu erfahren, wie viele unter ihnen etwa leer waren. 

Auf demselben Beete hatte ich einige Blüten auf zwei Indi- 
viduen kastriert und mit dem Pollen meiner O. Lamarckiana belegt. 
Ihre Samen wurden in derselben Weise untersucht. Ich erhielt die 
folgenden Zahlen. 


Samen einer Oenothera aus Minnesota. 
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft (in 9%). 
































I] = 
Vor Anwen- Sn an | Keim- 
dung des er ns | Summe haltige 
Druckes D n Samen 
ruckes 
m 
Nach Tagen: | 2 4 2 
Pflanze A (Selbstbefr.) 60315 3 80,5 92 
tler BE 5 85 e125 42 | 68 87 
ie - On zen 29,5 46,5 84,5 
a, ” 1 2 40 43 92 
” E (gekreuzt mit 0. Lam.) 0 0) 209 I 38 
» F ( ER ” „ 2) ) (0) I: 37,5 38.5 | 95 








In den Samen dieser sechs Pflanzen war die Keimkraft eine 
sehr verschiedene. Nur eine (A) keimte leicht und schnell, auf sie 
hatte die Anwendung des Druckes, wie zu erwarten, keinen wesent- 
lichen Einfluss. In den beiden folgenden (Bund) war die Keim- 
kraft gering: 17—26°%, und die nachträgliche Behandlung hat die 
Anzahl der Keime auf 46,5— 68%, gebracht, also mehr als verdoppelt. 
Die selbstbefruchteten Samen von D und die gekreuzten Samen 
keimten innerhalb der gewöhnlichen Keimesfrist nicht oder nahezu 
nicht, aber nach Anwendung des Druckes zu etwa 25—40%,. Hier 
würde das Sfudium der Nachkommen gänzlich misslungen oder 
doch in sehr unangenehmer Weise beschränkt worden sein, wenn 
die Samen nur in der gewöhnlichen Weise ausgesät worden wären. 
Auch habe ich für meine diesjährige Kultur die Samen dieser 
Pflanzen nur nach Anwendung des Druckes ausgesät. 


9) Siehe die Abbildung in: Gruppenweise Artbildung, Berlin 1913, S. 35, 
Fig. 10. 


470 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 


Oenothera Lamarckiana. Auf drei zweijährigen Pflanzen wurde 
am Hauptstengel jeden dritten Tag eine Blüte in einem kleinen 
Beutel mit dem eigenen Pollen rein befruchtet; die Früchte wurden 
mit Marken bezeichnet und später einzeln geerntet. Nach der Ernte 
wurden aus jeder Frucht womöglich 200 Samen abgezählt und zum 
Keimen ausgelegt. Die gekeimten Samen wurden nach 2 und nach 
4 Tagen gezählt. Dann wurden die übrigen in Wasser unter Druck 
gebracht und zwar für die Pflanze A während 24 Stunden bei 
6 Atm., für B während 48 Stunden bei demselben Druck und für 
Ü 3 Tage lang bei 8 Atm. Darauf wurde wiederum die Anzahl 
der Keimlinge nach 2 und nach 4 Tagen ermittelt. Schließlich 
wurden die nicht gekeimten Samen mit einer Nadel geöffnet und 
die noch vorhandenen, teils noch lebenden aber ruhenden, teils 
toten und zu einem Zellenbrei gewordenen Keime zusammen gezählt. 

Nachdem die Zählungen für die 54 Einzelproben abgelaufen 
waren, wurden für jede Pflanze die Summen und die Mittelzahlen 
berechnet. Die drei Versuche hatten den Zweck, zu ermitteln, ob 
der Prozentsatz der normalen Keime an den Rispen auf verschie- 
dener Höhe, und somit zu verschiedener Jahreszeit und beı ver- 
schiedenem Wetter merkliche Differenzen aufweisen würde. 

Die ersten Blüten öffneten sich am 23. und 26. Juni und am 
2. Juli; die Versuche dauerten bis etwa Mitte August, an jeder 
Rispe haben während dieser Zeit etwa 100 Blüten geblüht. Das 
Wetter war bis zum 23. Juli warm und hell und die Anzahl der 
geöffneten Blüten pro Tag eine verhältnismäßig große; später aber 
war der Himmel meist bewölkt und ging das Aufblühen langsamer 
vor sich. Die Keimungsprozente für die dreitägigen Perioden zeigten 
aber zu diesem Wechsel keine Beziehungen; sie schwankten um die 
Mittelzahlen der ganzen Rispe in unregelmäßiger Weise. Ich habe 
die Resultate in Kurven umgerechnet und diese verglichen mit den 
Kurven für Temperatur und Sonnenschein, welche im Versuchs- 
garten neben den Pflanzen ermittelt worden waren, konnte aber 
keinen Parallelismus nachweisen. 

Da somit die Keimungsprozente auf der ganzen Rispenlänge die- 
selben waren, verzichte ich auf die Mitteilung der Einzelzahlen und 
gebe nur die aus den Summen berechneten Prozentzahlen für die 
drei Rispen. Sie sind ın der nebenstehenden Tabelle zusammengestellt. 

Aus dieser Tabelle ergibt sich, dass die drei untersuchten 
Pflanzen sich im wesentlichen gleich verhielten. Die Keimungs- 
geschwindigkeit war unter den günstigen Bedingungen des Ver- 
suchs in den ersten Tagen eine bedeutende (4,5—15%), fiel dann 
aber rasch auf 1,5—4,5%, herab. Zahlreiche Kontrollversuche haben 
gelehrt, dass diese Abnahme unter sich gleich bleibenden Bedin- 
gungen längere Zeit anzuhalten pflegt bis schließlich in mehreren 
Wochen nur noch ganz einzelne Samen nachkeimen. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 171 


Oenothera Lamarckiana. 
Keimungsprozente vor und nach Einwirkung erhöhten Druckes. 











Anzahl der Gekeimt nach Tagen Prihende 

















Pflanze Reina Summe 
Früchte | Samen 2 4 Atm. 6 8 
A 20 3800 4,5 1,5 D. 6 18 4,5 6 34,5 
B 16 3200 8 4,5 D. 6 17 25 5,5 37,5 
C 18 3400 15 3 DES 22 1 5 46 

















Nach den vier ersten Tagen wurden die Samen ın Wasser dem 
oben angegebenen Drucke von 6—8 Atm. ausgesetzt und darauf 
wiederum im Keimschrank zum Keimen bei 30° C. ausgelegt. In 
den beiden ersten Tagen keimten dann 17—22°%,, also viel mehr 
als vor der Einwirkung des Druckes. Darauf fiel der Prozentsatz 
ab, aber die Ursache davon lag in der Erschöpfung der Proben an 
keimfähigen Samen, denn als nach 4 Tagen die nicht gekeimten 
Samen geöffnet wurden, enthielten nur noch 5--6%, einen Keim, 
während die übrigen taub waren. Unter jenen Keimen war etwa 
die Hälfte offenbar noch lebendig, die andere Hälfte aber gestorben 
und einer Fäulnis anheimgefallen, welche sie in ihre einzelnen Zellen 
auflöste. 

Wir sehen somit, dass ohne Druck etwa 6—18%, Samen keimen, 
dass mit Anwendung künstlichen Druckes diese Zahl um 19—23 %, 
erhöht und dadurch auf etwa 50—40%, gebracht wird. Und ferner, 
dass nach dieser Behandlung nur noch ganz wenige Samen (etwa 3 %,) 
fortfahren zu trotzen. 

Die Pflanze C enthielt ın ıhren Samen etwa 46% Keime; A und 
B aber nur 34,5 und 37,5%. Die Ursache dieses Unterschiedes 
liegt in der Kultur, da die beiden letzteren auf ungedüngtem oder 
fast ungedüngtem Boden wuchsen, während C auf einem sehr stark 
gedüngten Beete gepflanzt worden war. Ähnliche Unterschiede 
habe ich sehr oft beobachtet. 

Die Samen von Oenothera Lamarckiana enthalten immer etwa 
zur Hälfte gute Keime, während diejenigen der anderen Hälfte leer 
sind. Diese Erscheinung ist in jüngster Zeit von O. Renner ein- 
gehend studiert worden!”). Er fand, dass die tauben Samen in 
gewöhnlicher Weise befruchtet werden und dass ihr Keim die ersten 
Teilungen durchläuft, dann aber zu wachsen aufhört und schließ- 
lich abstirbt. Die Samenschale entwickelt sich aber in annähernd 
normaler Weise, erreicht etwa dieselbe Größe und anscheinend 
denselben Bau wie diejenige der keimhaltigen Samen. Sie bleibt 


10) O. Renner, Befruchtung und FEmbryobildung bei Ornothera Lamarckiana 
und einigen verwandten Arten. Flora Bd. VII, Heft 2, 1914, 8. 115—150. 


72 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 


aber, soweit meine Erfahrungen reichen, auch im reifen Zustand 
für Wasser viel leichter permeabel. Harte Samen enthalten wohl 
fast stets gute Keime. 

Bei günstiger Kultur fand ich im Sommer 1914 den Gehalt an 
keimhaltigen Samen meist etwa 43—46 %, als Durchschnittszahlen 
aus zahlreichen Versuchen, welche je meist 400 Samen umfassten. 
Bei weniger günstigen Bedingungen fiel dieser Gehalt auf 32—39% 
(etwa 20 Versuche mit je 400 Samen) und im Sommer 1913 war 
er noch bedeutend niedriger gewesen. Dass dabei die Anzahl 
der Renner’schen Keime zunimmt, scheint mir nicht wahrschein- 
lich, da dıe Erscheinung genau mit demjenigen übereinstimmt, was 
man auch bei Arten ohne solche beobachtet!!. Doch habe ich 
diese Frage nicht untersucht. 


Oenothera suaveolens Desf. ist eine Art, welche mit O. La- 
marckiana ın dem Besitze tauber Samen übereinstimmt. Sie wächst 
in Frankreich und in Portugal an zahlreichen Stellen im Freien 
und wurde früher als Synonym von O. grandiflora Ait. betrachtet. 
Als ich aber Samen der ersteren Art im Forste von Fontainebleau 
und von letzterer unweit Castleberry in Alabama gesammelt hatte 
und daraus die Pflanzen nebeneinander ın meinem Versuchsgarten 
blühen ließ, ergab sich, dass diese beiden Arten durchaus verschieden 
sind. Die Samen der Form von Fontainebleau, im Herbste 1914 
in meinem Versuchsgarten nach künstlicher Selbstbefruchtung ge- 
sammelt, enthielten nur 18—29%, guter Keime. Ich untersuchte 
vier Pflanzen, von jeder zwei Früchte und aus jeder Frucht 200 Samen. 

Aus Portugal schickte mir Herr A. Cortezao, jetzt Direktor 
des landwirtschaftlichen Versuchswesens auf den westafrikanischen 
Inseln San Tom& und Prinzipe, Samen einer Unterart von O. sua- 
veolens, welche von ihm unweit Coimbra gesammelt worden waren. 
Ich erzog die Pflanzen daraus im Sommer 1914 und fand, dass die 
Blätter wesentlich schmäler waren als in der französischen Art, 
dass sie sonst aber mit dieser in den Hauptzügen übereinstimmten. 
Die nach reiner Befruchtung geernteten Samen benutzte ich zu dem 
folgenden Versuche. Es wurden aus zwei Früchten je 200 Samen 
abgezählt und zum Keimen ausgelegt. Es keimten bei 30° C. nach 
2 Tagen 14,5%, und in den beiden nächstfolgenden Tagen nur noch 
4%. Darauf wurden die übrigen während dreier Tage in Wasser 
einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und nachher 6 Tage lang im 
Keimapparat sich selber überlassen. Es keimten jetzt noch 10,5 %. 
Von den übrigen enthielten 4,5%, teils lebensfähige, teils faulende 
Keime, während alle übrigen leer waren. Zusammen also 33,5% 
keimhaltiger und 66,5%, tauber Samen. 


11) Vergl. hierüber den weiter unten beschriebenen Versuch mit einer neuen 
Mutante aus Oenothera Lamarckiana. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 173 


L 


Durch das Einpressen des Wassers wurden hier somit etwa ein 
Drittel der vorhandenen Keime, welche sonst wohl ruhend geblieben 
wären, zum Austreiben veranlasst. 

Sollte die erbliche Eigenschaft, welche das Taubwerden von 
mehr als der Hälfte der Samen bedingt, in O0. Lamarckiana und 
O. suaveolens dieselbe sein, so würde man erwarten, dass ıhre 
Bastarde denselben Gehalt an leeren Samen aufweisen würden. Dem 
ist aber nicht so; im Gegenteil sind die gekreuzten Samen eben so 
vollständig keimfähig wie diejenigen von (0. biennis und den übrigen 
oben mit dieser angeführten Arten. Es geht dieses aus den beiden 
folgenden Versuchen hervor. 

Im Sommer 1914 befruchtete ich O0. Lamarckiana aus meiner 
Kultur mit dem Blütenstaub einer der aus Fontainebleau her- 
stammenden Pflanzen und zählte nach der Ernte aus einer Frucht 
200 Samen ab. Es keimten in den 3 ersten Tagen 126, in den 
beiden folgenden noch 54, aber in weiteren 2 Tagen nur noch ein 
einziger Same. Zusammen also 181. Die übrigen 19 wurden nun 
ın Wasser während 3 Tage bei 8 Atm. Druck aufbewahrt. Nach 
dieser Behandlung keimten in 2 Tagen 7, in den beiden folgenden 
Tagen aber keine Samen, während die Untersuchung mit der Nadel 
noch 7 teils lebendige, teils faulende Keime und 5 Samen ohne 
sichtbaren Keim ergab. Im ganzen somit 195 oder 97,5%, keim- 
haltiger Samen. 

In demselben Jahre machte ıch die reziproke Kreuzung: O. sua- 
veolens von Fontainebleau mit ©. Lamarckiana aus meiner Rasse. 
Auf 200 Samen aus einer einzelnen Frucht erhielt ich nach 3 Tagen 
59, in den folgenden beiden Tagen 41, und in den beiden darauf- 
folgenden 18 Keimlinge. Zusammen also 118. Nach dreitägiger 
Einwirkung eines Druckes von 8 Atm. keimten nun in zwei weiteren 
Tagen noch 37 und in den beiden folgenden nur noch ein einziger 
Same, während die Nadelprobe noch 23 Keime aufwies. Zusammen 
also 179 Keime auf 200 Samen oder 89,5%. 

In beiden Versuchen war, trotz einer großen normalen Keim- 
kraft, der Gehalt an keimenden Samen durch Anwendung des 
Druckes wesentlich erhöht worden (um 3,5 und 19%), und damit 
jener an trotzenden Keimen auf einen geringen Rest zurückgebracht. 

Die mikroskopische Untersuchung der heranreifenden Samen 
von O. suaveolens verspricht, in Verbindung mit den oben erwähnten 
Befunden an O. Lamarckiana und den beiden Kreuzungen, wichtige 
Ergebnisse, doch habe ich eine solche noch nicht angefangen. 

Oenothera Lamarckiana mut. rubricalye Gates. Die meisten 
Mutanten von O. Lumarckiana verhalten sich in bezug auf die Keim- 
fähigkeit wie die Mutterart. Es lohnt sich deshalb nicht, hier mehr 
als ein Beispiel anzuführen. Ich wähle dazu die schöne von Gates 
gewonnene OÖ. rubricalye. Sie entstand in seinen Versuchen aus 


474 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 


O. rubrinervis, von der sie sich namentlich durch die dunkelroten 
Blütenkelche unterscheidet!?). Sie stellt nach Gates eine pro- 
gressive Mutation dar. Ich erhielt einige Samen von Herrn Gates 
ım Winter 1913/14 und erzog daraus etwa 25 Pflanzen, welche sämt- 
lich geblüht haben. Aus einer selbstbefruchteten Frucht zählte ich 
200 Samen aus und überließ diese in der üblichen Weise der 
Keimung. 

Die Einrichtung des Versuches war genau dieselbe wie im 
letztbeschriebenen Fall; ich erhielt die folgenden prozentischen 
Zahlen auf 200 Samen. 


Oenothera rubricalyx Gates. 
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft. 























Vor An- Nach An- er: 
wendung des | wendung des Summe "Sa altıge 
Druckes Druckes amen 
Nach Tagen: 2 | 4 o | 
Keimlinge 2124. .r0% 21 il 18,5 40,5 | 47 





Wie man sieht, war der Erfolg ebenso deutlich als sonst. 

Oenothera Lamarckiana mut. nov. Die Eigenschaft von O. La- 
marchkiana, etwa zur Hälfte taube Samen hervorzubringen, geht bei 
den Mutationen nicht immer unverändert auf die neuen Formen 
über. Namentlich fehlt sie bei O. gigas. Ebenso verhalten sich 
einige meiner neuen, noch nicht beschriebenen Mutanten. Mit 
einer von diesen, welche ich vorläufig als B bezeichnen will, habe ich 
einen Versuch über den Einfluss der Kultur auf die Keimkraft der 
Samen gemacht. Die Form ist verwandt mit O. rubrinervis, aber 
nicht so spröde wie diese, blasser ın der Farbe und mit lockeren 
Blütenrispen, und soll später veröffentlicht werden. 

Ich gebe zunächst die erhaltenen Zahlen: 


























Vor An- Nach An- Keimhati 
wendung des | wendung des Summe S Ren 
Druckes Druckes er 
Nach Tagen: 2 4 
A. Normale Kultur 54 10,5 24 88,5 99 
B. 5 ” 15,5 | 19 45 79,5 99 
OÖ. Schwache Pflanze 45 6 25 53,5 SH 
D. 5 > 52 1 0 53 72,5 











12) R. R. Gates, The new Phytologist, Vol. 12, Nr. 8, S. 291, 1913. 


De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc, 175 


Von jeder Pflanze wurden 200 Samen aus je einer Frucht bei 
30°C. zum Keimen ausgelegt, und die Keimlinge nach 2 und nach 
4 Tagen ausgezählt. Darauf wurden die übrigen Samen bei Zimmer- 
temperatur (etwa 15°C.) während dreier Tage in Wasser einem Drucke 
von 8 Atm. ausgesetzt und dann wieder in den Keimapparat zurück- 
gebracht. Als nach weiteren 5 Tagen die Anzahl der neuen Keim- 
linge ermittelt worden war, wurden die übrigen Samen mit einer 
Nadel geöffnet, um zu sehen, wie viele unter ihnen deutliche Keime 
enthielten. 

Die Pflanzen A und B standen in ausreichenden Entfernungen 
auf einem gut gedüngten Boden und wurden gut begossen. Die 
Exemplare C und D standen dicht zusammen auf schlechtem Boden 
und konnten sich nur kümmerlich bewurzeln. Die ersteren wurden 
sehr stark und grün, hatten reich ausgestattete Blütenrispen und 
erreichten eine Höhe von 1 m. Die letzteren blieben schwach und 
dünnstengelig, konnten jede nur etwa 4—6 Blüten zur Ausbildung 
bringen und erreichten nur 60 cm Höhe. Namentlich aber wies in 
ihnen eine auffallend rote Färbung des Laubes und der Kelche auf 
eine kümmerliche Bewurzelung hin. 

Der Einfluss dieses Unterschiedes auf die Keimkraft der Samen 
ist auffallend. Die kräftigen Pflanzen hatten fast gar keine tauben 
Samen, die schwachen etwa 25%. Die ersteren keimten zu 80—88 '/,, 
die letzteren nur zu 53%. Die Ausbildung tauber Samen war also 
in diesem Falle eine Folge der künstlich stark herabgesetzten Lebens- 
bedingungen. Ich habe in jeder der beiden Gruppen noch zwei 
weitere Exemplare untersucht, mit fast genau demselben Erfolg 
(75 und 75%, gegen 97 und 96,5%, keimhaltiger Samen). Man darf 
hieraus und aus zahlreichen analogen Versuchen folgern, dass durch 
mangelhafte Ernährung oder Wasserversorgung u. s. w. ein nicht 
unerheblicher Teil der Samen ohne guten Keim bleiben kann und 
dass solches auch für andere Arten von Oenothera Geltung hat. 

Bei der normalen Kultur war der Einfluss eines künstlichen 
Druckes auf die Keimkraft auffallend, bei den schwachen Pflanzen 
aber unmerklich. 


Zusammenfassei:d sehen wir, dass Samenproben von Oenothera, 
welche unter gewöhnlichen Bedingungen eine ungenügende Anzahl 
von Keimlingen hervorbringen, durch sofortige oder nachträgliche 
Einwirkung eines Druckes von 6-8 Atm. 2—3 Tage lang, zur 
vollen oder nahezu vollen Keimung gebracht werden können. 

Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass durch diesen Druck 
das Wasser in sehr feine lufthaltige Risse der Hartschicht hinein- 
gepresst und dass dadurch ein beschleunigtes Aufquellen des Keimes 
ermöglicht wird. 


17 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc. 


Die Ermittlung des Gehaltes an leeren Samen, gleichgültig, ob 
dieser durch erbliche Ursachen oder durch ungünstige Lebens- 
bedingungen veranlasst wurde, wird offenbar durch die Anwendung 
der Methode des künstlichen Druckes wesentlich erleichtert. 


Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten 


von Secerov und Kammerer. 
Von F. Werner (Wien). 


In Band XXXIV Nr. 5 des „Biolog. Uentralblattes“ (20. Mai 
1914) bringt Herr Dr. Slavko Seterov Mitteilungen über das 
Farbkleid von Feuersalamandern, deren Larven auf gelbem oder 
schwarzem Untergrunde gezogen waren. Diese Ergebnisse fordern 
in mancher Beziehung zu einer Kritik heraus, da sie mir nichts 
weniger als beweiskräftig erscheinen. Ich will dabei ganz davon 
absehen, dass diese Untersuchungen mit ganzen 12 Individuen, die 
noch dazu zu vier verschiedenen Versuchen benützt wurden, aus- 
geführt sind; aber sehen wir weiter. Der Verfasser hat die Ver- 
suche am 8. Maı 1911 begonnen und am 27. Juni desselben Jahres, 
also nach etwas mehr als 7 Wochen abgeschlossen, da um diese 
Zeit die Hälfte der Tiere der Hitze erlag (!), die andere konserviert 
wurde. Er teilte die teils dem Uterus entnommenen, teils auf 
natürlichem Wege geborenen Jungen eines Weibchens der Varietät 
taeniata in zwei Gruppen, in eine helle und eine dunkle, hielt von 
beiden einen Teil auf gelbem, einen anderen auf schwarzem Papier 
und beschreibt nun die Färbung der Jungen nach 7wöchigem Aufent- 
halte unter diesen Bedingungen. Verf. bringt nun auf einmal Ab- 
bildungen von vier Jungen (Fig. 2—5), von denen er behauptet, sie 
hätten unter dem Einflusse der gelben, bezw. schwarzen Unterlage 
ihre Zeichnung erhalten. Aber er zeigt nicht, wie sie vorher aus- 
gesehen haben. Und das ıst doch nicht so unwichtig. Wenn ein 
junger Salamander aus der hell- oder dunkelgraubraunen Wasser- 
färbung ohne weiteres in die abgebildete Landfärbung übergeht, 
wie will Verf. beweisen, dass die Unterlage an dem Auftreten dieser 
schuld ist? Wenn aber ein schwarzgelbes, anders gezeichnetes Vor- 
stadium vorlag, warum bildet er es nicht ab und lässt unserer 
Phantasie alles zu erraten übrig? Ich möchte nun ferner darauf 
hinweisen, dass Sederov im Irrtum ist, wenn er annimmt, die 
beiden Jungen, die auf Fig. 2 und 4 abgebildet sind, hätten (infolge 
Haltung auf gelbem Papier) mehr Gelb als das Muttertier; es scheint 
diese Selbsttäuschung darauf zurückzuführen zu sein, dass das Gelb 
namentlich bei Fig.2 anders verteilt ist und auf dem Kopfe einen 
größeren zusammenhängenden Raum bedeckt als bei der Mutter. 
Es bleibt aber auch hier zu beweisen, dass die Gelbfärbung dem 


Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4177 


gelben Papier zu verdanken ist, es kann sehr wohl das betreffende 
Jungtier schon von vornherein soviel Gelb gehabt haben. 

Die beiden auf schwarzem Grund gehaltenen Jungen (Fig. 3 
und 5) sind ausgesprochene Kümmerformen und da schon Kam- 
merer in einem Kapitel „Hunger und Mast“ (auf p. Y95ff. seiner 
großen Arbeit!)) angıbt, dass Hunger Dunkelfärbung zur Folge 
habe, so könnte man vielleicht annehmen, dass die Ursache der 
überwiegenden Schwarzfärbung dieser beiden Jungtiere auf diesen 
Umstand zurückzuführen sei, wenn man überhaupt annımmt, dass 
die Zeichnung der Salamander durch äußere Faktoren noch beein- 
flusst werden kann; von ihnen scheinen mir erheblich mehr als die 
Färbung der Umwelt, die chemische Beschaffenheit des Mediums ?) 
von einiger Bedeutung zu sein, obwohl sie ım Freileben des Sala- 
manders kaum eine Rolle spielt. Wenn wir die Secerov’schen 
und Kammerer’schen Experimente und ihre Ergebnisse betrachten, 
so drängt sich uns unwillkürlich die Frage auf: Sind die Verhält- 
nisse, unter denen die Tiere gehalten werden, solche, die erwarten 
lassen, dass sie auch nur einige Monate am Leben bleiben können? 
Ich möchte es sehr bezweifeln. Die ganze Versuchsanordnung ist 
ein Gewaltakt gegen die natürlichen Lebensbedingungen des Sala- 
manders und es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, dass ein so 
elend und halbverhungert aussehendes Individuum, wie z. B. Fig. 10 
auf Taf. XIV der Kammerer’schen Arbeit noch 4 Jahre ausge- 
halten haben sollte oder dass eine Behandlung, welche ein Indi- 
vıduum vom Aussehen der Fig. 14 derselben Tafel erzeugt hat, 
natürlichen Lebensbedingungen entspricht. Eın Tier, das ein so 
intensives Bedürfnis hat, sich zu verbergen, wie der Salamander, 
das ım Freien den größten Teil seines Lebens unterirdisch ver- 
bringt, zu zwingen, sich lebenslang auf einer deckungslosen Fläche 
aufzuhalten, einerlei, ob sie nun gelb oder schwarz ist, heisst ein- 
fach, es einem langsamen Sıechtum aussetzen. Hat aber auch 
Kammerer mit den natürlichen Existenzbedingungen von Sala- 
mandra ein Kompromiss geschlossen — und dass er dies in manchen 
Fällen getan hat, indem er den Tieren Moos zum Verbergen gab, 
ist außer Zweifel —, wo bleibt dann die Elimination von Faktoren, 
die das Experiment beeinflussen können?, und warum sträubt er 
sich so hartnäckig dagegen, Ergebnisse, die an freilebenden Sala- 
mandern gewonnen wurden und die den seinigen diametral gegen- 
überstehen, anzuerkennen? Es ist ein wenig Selbsttäuschung dabei, 
wenn Kammerer annimmt, dass bei seinen Versuchen die Sala- 


1) Vererbung erzwungener Farbveränderungen IV. Archiv f. Entwickelungs- 
mechanik XXXVI, 1913. 

2) Irena Pogonowska, Über den Einfluss chemischer Faktoren auf die 
Farbenveränderung des Feuersalamanders. Archiv f. Entwickelungsmechanik XXXIX, 
1914, p. 351—362 

XXXV. 12 


178 Werner, Einige Bemerkungen an den Salamandra-Experimenten etc. 


mander unter gleichmäßigeren Bedingungen leben als an vielen 
Fundorten, an denen z. B. ich selbst sie beobachtet habe — dass 
freilich an solchen Fundorten, wo Bodengrund, Feuchtigkeits- und 
Belichtungsverhältnisse jahraus jahrein mindestens ebenso gleich- 
artig sind wie bei den Kammerer’schen Versuchen, sehr stark 
gelbe und sehr stark schwarze Salamander jahrelang am selben 
Fleck hausen, ist freilich sehr ärgerlich. 

Bei Betrachtung der Schnelligkeit, mit der jetzt mitunter 
experimentelle Untersuchungen zur Welt gebracht und (s. Sederov)?) 
mit spärlichem Material Ergebnisse gewonnen werden, die auf Be- 
achtung Anspruch machen sollen, drängt sich mir — und wohl auch 
manchem anderen Leser bereits vorher — die Frage auf: Warum 
werden diese Stadien nicht photographiert? Heutzutage, wo in jeder 
besseren Aquarien- und Terrarienzeitschrift gute Photos eine ganz nor- 
male Erscheinung sind (man vergl. z. B. die Abbildungen von Molge 
vittata ın den Mitteilungen von Lantz und diejenigen der Salamandra 
caucasica bei Gyren*) sollte eine Arbeit, die auf wissenschaftliche 
Exaktheit Anspruch macht, der Zuhilfenahme der Photographie um 
so weniger entraten, als ja dem Nachprüfer der Untersuchungen 
über Veränderungen des Farbkleides infolge Einwirkung der Um- 


3) Ein anderer Jünger Kammerer’s, Alois Gaisch, bringt in den Verh. 
zool. botan. Ges. Wien, LXII, 1912, p. 54 unter dem Titel „Ein weiterer Beitrag, 
zur künstlichen Schwarzfärbung des gefleckten Salamanders (Sulumandra macu- 
losa Laur.)“ auch gleichzeitig einen weiteren Beitrag zu der Methode, mit der heut- 
zutage mitunter „experimentell zoologisch“ gearbeitet wird. Der Verfasser brachte 
Anfang Mai 1911 einen Salamander in ein Aquaterrarium, dessen Bodenteil schwarzer, 
feuchter Torfmull bildete. Nach 3 Monaten beobachtete er, dass eine Änderung der 
Zeichnung vor sich gegangen war; die Flecken waren viel kleiner geworden, ob einige 
schon verschwunden waren, wagt Verf. nicht zu entscheiden, da er das Tier bis zur 
Entdeckung der Veränderung nicht kontrolliert hatte. Auch hatten die 
Flecken einen düsteren Ton angenommen und es traten innerhalb ihres Grenzbereiches 
eine Menge feiner schwarzer Pünktchen auf. Jedermann, der sich mit Salamandern 
näher befasst hat, erwartet nun, dass das Tier, das augenscheinlich krank und 


außer stande war, sich zu häuten — daher die düstere Färbung der sonst hellen 
Flecken — nächstens eingehen werde; das geschah nun auch; Verf. fand das Tier 


tot im Wasser und stellte fest, dass die düstere Färbung nur scheinbar war und 
unter der alten Haut die gelben Flecken sichtbar wurden. Bei zwei anderen, unter 
gleichen Verhältnissen gehaltenen Exemplaren war trotz wiederhoiten Nachsehens 
keine Veränderung zu beobachten. Resultat der so gründlichen Beobachtung: Der 
Salamander wurde anfangs gar nicht näher angesehen, erst nach 3 Monaten, als er 
(angeblich) verändert war. Die Verdüsterung war eine scheinbare. Die beiden 
„Kontrollsalamander‘‘, bei denen „wiederholt nachgesehen“ wurde, veränderten sich 
— wie zu erwarten stand — gar nicht. Und ein solches Ergebnis nimmt drei 
Druckseiten in Anspruch und soll die Annahmen Kammerer’s stützen. Da kann 
wohl die experimentelle Zoologie sagen: ‚Herr, bewahre mich vor meinen Freunden !“, 
denn solche Freunde sind diskreditierend für sie. 

4) Bl. Aq. Terr. Kunde 23, 1912, p. 181—188; Ber. Senkenbg. Ges. 42, 1911; 
schöne Autochrombilder von Salamandra bei R. Weigel: Über homöoplastische 
und heteroplastische Hauttransplantation bei Amphibien mit besonderer Berück- 
sichtigung der Metamorphose. Arch. Entw.-Mech. XXXVI, 1913, Taf. XXVIII. 


Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4179 


welt außer dem Endstadium, dem Ergebnis des Experimentes eigent- 
lich gar nichts positives zur Verfügung steht. Ergebnisse experi- 
menteller Untersuchungen sollten aber doch nicht nur auf Treu 
und Glauben hingenommen werden müssen, und wo die Möglichkeit 
wirklich vorhanden ist, Vorstadien des endgültigen Resultates ın 
einwandfreier Weise abzubilden, da soll man sie auch benützen. 
Ich kann auch Kammerer den Vorwurf nicht ersparen, dass er 
dieser Mühe ausgewichen ist und es vorgezogen hat, die beob- 
achteten Veränderungen ın vorgezeichnete Umrisse einzutragen. 
Nicht darum handelt es sich, ob die photographischen Abbildungen 
genauer sind als die gezeichneten, sondern darum, dass man den 
Entwickelungsgang der Zeichnung der einzelnen Individuen wirklich 
sehen kann und nicht bloß glauben muss. In der Wissenschaft 
sollen wir uns doch lieber auf das verlassen, was wır sehen können 
(wo wirklich etwas zu sehen ist), als auf das, was uns auch der 
ausgezeichnetste Experimentator zu glauben vorlegt. 

Und dass Kammerer trotz gegenteiliger Außerungen eigent- 
lich nicht sehr darauf erpicht ıst, dass seine Experimente bald 
wiederholt werden, geht aus den Worten seiner Einleitung (p. 7) 
zu der vorzitierten großen Arbeit hervor, in denen er die großen 
Schwierigkeiten eindringlich und nachdrücklich hervorhebt, die dem 
Experimentator bei der Ausführung dieser Versuche begegnen 
würden: „will er hier mit dauerndem und sicherem Erfolg experi- 
mentieren, so muss er ein gutes Stück seines Lebens daran wenden; 
unter einem bis zwei Jahrzehnten geht es nicht ab.“ Wenn das 
nicht Abschreckungstheorie ist, so weiß ich nicht, was es sonst 
sein soll. Einem eventuellen Nachprüfer prophezeien, dass er erst 
vielleicht in 20 Jahren seine Ergebnisse als richtig oder falsch er- 
weisen kann, d. h. doch nichts anderes, als ihm den Wink geben, 
seine kostbare Zeit lieber auf etwas anderes zu verwenden. Ich 
habe eine solche Warnung schon vorgeahnt, als ich in einem 
Referat über Boulenger’s Alytes-Arbeit (Zentralbl. f. Zoologie II, 
1913, p. 349, Ref. 656), der zu wesentlich anderen Ergebnissen kam 
als Kammerer, sagte: „Man muss bedenken, dass diese Versuche 
de facto unkontrollierbar sind, da der Experimentator immer die 
Divergenzen auf nicht vollkommen übereinstimmende Versuchs- 
anordnung beim Kontrollversuch zurückführen kann.“ 

Aus einem Vortrage von F. Megusar während der Versamm- 
lung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien, 1913°) geht nun 
hervor, dass dieser nicht nur auf Grund unrfangreichen (und, wie ich 
nach Besichtigung seiner Zuchten sagen kann, in tadellosem Gesund- 
heitszustande befindlich gewesenen) Untersuchungsmaterials zu dem 
Ergebnisse gekommen ist, dass die Zeichnung des Feuersalamanders 

5) Siehe das allerdings sehr kurz gehaltene Autoreferat im Sitzungsbericht B, 


Zweite Untergruppe der naturw. Abt. Nr. 13. p. 719. 
12* 


480 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc. 


durch die Farbe des Bodengrundes nicht beeinflusst wird, sondern 
dass seit einer Reihe von Jahren die Pflege der Versuchstiere gar 
nicht mehr in den Händen Kammerer’s selbst lag, vielmehr 
Megusar anvertraut war, der jedenfalls keine Dezennien brauchte, 
um herauszubringen, was schon von vornherein zu erwarten war — 
dass Kammerer, der selbst die Begriffe von physiologischem und 
morphologischem Farbenwechsel mit Recht auseinanderhält, gar 
nicht bemerkt hat, dass es einen morphologischen Farbenwechsel 
nur insofern gibt, dass während der postembryonalen Entwickelung 
gewisse Zeichnungsformen einander ablösen, d. h. die phylogenetisch 
älteste, die bei der Jugendform auftritt, allmählich (und zwar 
ohne Rücksicht auf die Umwelt) durch eine andere ersetzt 
wird. Es könnte also die Fleckenfärbung sich von bleichgelb zu 
hochgelb und gelbrot verändern, aber von einer relativen Größen- 
veränderung (ein absolutes Wachstum der Flecken gleichzeitig mit 
dem Wachstum des Tieres selbst ist ja selbstverständlich) kann 
nach meinen eigenen Erfahrungen keine Rede sein. Hätte die 
Fleckenzeichnung nicht stammes- oder ım speziellen Falle wenigstens 
familiengeschichtliche Bedeutung, so wäre es höchst unverständlich, 
dass gewisse Zeichnungen, wie die auf dem oberen Augenlid und 
an den Extremitätenwurzeln so hartnäckig sich erhalten. Die von 
einer Mutter stammenden Tiere Megusar’s, die ich gesehen hatte 
(und sie erwiesen sich auch dadurch als Geschwister, dass sie trotz 
großer Zahl alle von gleicher Größe waren — und zwar damals 
einem Stadium, das im Freien überhaupt selten gefunden wird und 
daher unmöglich in so großer Zahl gefangen werden kann) zeigten 
in der Zeichnung unverkennbare Übereinstimmung und zwar trotz- 
dem sie unter den verschiedensten Lebensbedingungen gehalten 
worden waren. (Auch Kammerer spricht an verschiedenen Stellen 
von solchen hochgradigen Familienähnlichkeiten — Taf. X u. XIV, 
Fig. 10—11; Taf. X u. XV, Fig. 16—17 —, merkwürdig ist dabei 
nur, dass die Familienähnlichkeit bei ihm immer erst nach experi- 
menteller Behandlung herauskommt — in den Anfangsstadien merkt 
man nichts davon.) 

Zum Schlusse möchte ich noch bemerken, dass Stadien, wie 
sie die großen Tiere auf Taf. XIII darstellen (Fleckenverdüsterung 
ohne wesentliche Fleckenverkleinerung), sehr leicht dadurch ent- 
stehen, dass man die Tiere recht trocken hält (Kammerer gibt 
selbst an: Q der P-Generation auf trockenem Boden); sie können 
sich dann nicht häuten, ‘die alte Haut, die auf den hellen Flecken 
festhaftet, ruft den Eindruck einer Verdüsterung hervor. Ich bin 
nicht davon überzeugt, ob Kammerer mir auch nur ein Exemplar 
dieser Düsterform vorweisen kann, für das diese Erklärung ver- 
sagen würde. 

Wien, 13. Juli 1914. 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 181 


Nachschrift. Erst jetzt im Oktober ersehe ich aus den „Be- 
merkungen zu Kammerer’s Abhandlung: Vererbung erzwungener 
Farbveränderungen IV“ von Erwin Baur (in Arch. Entw.-Mech. 
XXXVII (1914, p. 682—684), dass den Tafeln XIV u. XV der 
Kammerer’schen Arbeit, die allerdings keine Serien, sondern nur 
Anfangs- und Endstadien vorstellen, photographische Aufnahmen 
zugrunde liegen. Schade, dass gerade diese, wie Herr Prof. Baur 
bemerkt, sehr schlechte, vielfach retuschierte Photographien sind, 
schade ferner, dass Kammerer erst jetzt die Retusche der Figuren 
— wenigstens 9 und 26 — auf Taf. XIV u. XV (nicht XV u. XV], 
wie er angıbt) erwähnt. Nicht ganz verständlich ist der Passus 3 
(ad „Anfangs- und Endstadium“) der Aufklärungen Kammerer’s. 
Stellen die hier erwähnten Abbildungen durchwegs’verschiedene Tiere 
vor, so begreift man nicht recht, was ihre Abbildung für einen 
Zweck haben soll; solche Einzelexemplare kann man auch leicht 
zusammenkaufen, man braucht sie nicht zu züchten. Eine einzige 
photographierte Serie wäre vertrauenswürdiger als diese Neben- 
einanderstellung geduldiger Stadien verschiedener Serien. Aber 
eine solche Serienaufnahme vermisse ich schmerzlich. 


Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer 
Jungfische. 


Von Dr. Ludwig Scheuring, Helgoland'). 


Symbiose und Parasitismus sind zwei Erscheinungsformen von 
Lebensgemeinschaft, die durch viele Übergänge miteinander ver- 
bunden, es dem Beobachter oft schwer machen, sich für die eine 
oder andere zu entscheiden. Erschwert wird die Trennung beider 
sowohl durch die Variationsbreite der symbiotischen Erscheinungen, 
als auch durch die Mannigfaltigkeit der möglichen parasitären 
Lebensweisen. Bei der Symbiose werden nur in den allerseltensten 
Fällen beide Symbionten der gleichen Gemeinschaft aus dieser ein 
gleiches Maß von Vorteil ziehen; weit mehr wird der Fall eintreten, 
dass das Plus des Einen sich auf Kosten des Anderen vermehrt. 
Verschiebt sich das Verhältnis immer mehr zugunsten des einen 
Gesellschafters, so kommen wir zu Erscheinungen, die sich je nach- 
dem einem Fress- oder einem Ektoparasitismus immer mehr nähern 
und schließlich zu einem echten Parasitismus führen können. Deshalb 
können nur sehr exakte Besbachtungen beider Symbionten in ihren 
natürlichen Verhältnissen und passende Experimente die Frage klar 
entscheiden, haben wir es in diesem oder jenem Fall mit Sym- 
biose oder mit Parasitismus zu tun? 


1) Diese Arbeit wurde dem Biol. Centralbl. im November 1913 eingereicht; 
infolge bedauerlicher Umstände wurde eine frühere Veröffentlichung, entgegen dem 
Wunsche des Verfassers, verhindert. 


482 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 


In folgendem soll das Verhältnis zweier Tiere, über deren gegen- 
seitige Beziehungen noch Unklarheit bestand, näher betrachtet 
werden. 

In dem Aquarium der Biologischen Anstalt Helgoland werden 
in einem der großen Schaubecken während des Sommers Quallen 
(Oyanea capillata und Aurelia aurita) gezeigt. Häufig sieht man 
hier unter der Scheibe der Haarqualle und zwischen ihren lang 
herabhängenden Fangfäden kleine Fische herumspielen, anscheinend 
völlig unbekümmert um die Nesselzellen, mit denen die langen 
Senker bewaffnet sind. Wir haben es hier mit den Jungen von 
Gadus merlangus und Caranz trachurus zu tun, die beide die Ge- 
wohnheit haben, sich unter dem Schirm der Qualle oder in deren 
nächster Nähe aufzuhalten. 

Über den Zweck dieses eigentümlichen Aufenthaltes wusste 
man nichts ganz Sicheres. Im großen und ganzen ging die land- 
läufige Meinung dahin, dass es sich bei dem Zusammenleben von 
den Jungfischen mit der Qualle um ein „ideelles Freundschafts- 
bündnis“ handle: Die Qualle gewährt der zarten Brut Schutz unter 
und hinter ihren mit Nesselzellen bewehrten Tentakeln und lässt 
auch die Fische von dem Überflusse der an ihren Senkfäden hängen- 
bleibenden kleinen Planktontieren zehren, wofür sie durch diese 
von den parasitischen Amphipoden (Hyperia galba), die sich in ihren 
Schirm einnagen, befreit wird. Jedoch wurde dieser Deutung als 
unbewiesen immer wieder Zweifel entgegen gestellt, und meist 
wurde das Verhältnis von Fisch und Qualle nicht weiter untersucht 
und nur auf die Abhängigkeit des Vorkommens der Jungfische von 
dem der Qualle hingewiesen. 

Die Literaturangaben, die das Zusammenleben von Fischen mit 
Quallen behandeln, sind sehr spärlich und weit zerstreut. Mög- 
licherweise ist mir deshalb auch die eine oder andere Quelle ent- 
gangen, um so mehr, da häufig sich derartige Notizen in größeren 
Arbeiten finden, deren Titel sie nicht vermuten lässt. 

Der erste Forscher, der das Vorkommen von Jungfischen unter 
(uallen beobachtete und sich auch über die Art dieses Verhält- 
nisses äußerte, war A. W.Malm. In Öfversigt af Kong]. Vetenskaps.- 
Akademiens Förhandlingar. Attonde Argängen 1852 berichtet er in 
einem Aufsatze: Über die Brut von (Caranx trachurus (Om yngel 
af Caranz trachurus) auf p. 226 folgendermaßen?). „Während 
meines Aufenthaltes in den Schären von Bohuslän im letzten 
Sommer sagte mir ein alter Fischer, dass der Wittling (Merlangus 


2) Ich gebe das Zitat in deutscher Übersetzung wieder, weil doch die Kenntnis 
des Schwedischen nicht allgemein verbreitet ist. Für die Übersetzung bin ich 
Herrn Geh.-Rat Prof. Dr. Heincke und Herrn Rektor Erichsen, Helgoland, 
zu Danke verpflichtet. 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 183 


vulgaris) in der Qualle (Oyanea capillata) „gestiftet“ (geboren) werde; 
ein anderer versicherte, dass die Qualle Heringsbrut fresse. 

Um die Ursache dieser Äußerungen zu ergründen, fing und 
untersuchte ich eine Menge Quallen und fand in einer 7, in einer 
anderen 3 und in einer dritten 5 kleine Junge von Trachurus. Sie 
wurden alle zwischen den Ovarien der Qualle angetroffen. Und als 
ich versuchte, diese kleinen Tiere zu fangen, arbeiteten sie sich so 
weit als möglich unter den Schirm der Qualle. Mit der letzten, die 
ich erhielt, stellte ich folgende Versuche an: Nachdem ich die Fische 
in ein Gefäß mit Wasser gesetzt hatte, erhielt die Qualle ihre Frei- 
heit wieder; und als ich sofort darauf einen Fisch nach dem anderen 
frei ließ, sah ich zu meinem größten Vergnügen, dass alle unter 
die Qualle, die sich um zwei Fuß gesenkt hatte, tauchten und 
augenblicklich unter den Schirm derselben flohen. Der Versuch 
wurde erneuert, aber vier meiner kleinen Fische starben dabei, so 
dass der eine allein seine, wie es schien, geliebte Qualle erreichte. 
Jetzt nahm ich die Qualle und setzte sie in ein am Strande liegendes, 
zur Hälfte gesunkenes Boot, und während der 3 Tage, die ich ın 
Christineberg war, besuchte ich oft diese Qualle, unter deren Ovarien 
sich der kleine Fisch leise bewegte. Nachdem ich den Darmkanal 
des Fisches untersuchte und ıhn voll mit Eiern der Qualle fand, 
zweifelte ich nicht mehr, dass diese kleinen Fische wie eine Art 
Parasiten bei der Oyanea capillata leben. Als Grund für diese meine 
vielleicht gewagte Annahme kann ich weiter anführen, dass ich beı 
Anstellung genauerer Untersuchungen diese Fischjungen niemals 
anders als bei der genannten Qualle antreffen konnte. Es verdient 
auch noch erwähnt zu werden, dass ich niemals eine andere Fischart 
bei der genannten Qualle gefunden habe, obwohl iclı sie dann und 
wann unter tausenden Individuen von Gobius ruthensparri Euphras 
und anderen Fischen fand. Dass die Stachelmakrele schon sehr 
früh zwischen die Ovarien der Qualle geht, um sich dort zu nähren 
und dort bleibt bis der Fisch eine vollkommenere Entwickelung 
erreicht hat, kann schließlich auch daraus gefolgert werden, dass 
die Individuen, die in derselben Qualle gefunden wurden, fast alle 
dieselbe Größe hatten.“ 

In seinem bekannten Werke: Göteborgs och Bohusläns Fauna, 
Ryggradsjuren 1877 kommt Malm p. 421 auf diese Beobachtungen 
zurück und fügt noch einige Ergänzungen hinzu. 1853, 1854, 1873 
konnte er in Christineberg immer das gleiche Schauspiel beobachten. 
Immer fand er junge Stöcker unter der Oyanea capillata. Nur ein ein- 
ziges Mal traf er sie auch unter Rhixostoma aldrovandii an und istgewillt, 
in dieser Tatsache eine Ausnahme zu erblicken, die auf einem Irr- 
tum des Fisches beruhe. P. 485 lesen wir zum ersten Male, dass 
auch junge Brut von Gadus merlangus mit der Qualle zusammen- 
lebt. „Im Sommer kann man vom Lande oder von einem Boot aus 


184 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismur pelagischer Jungfische. 


oft mehrere Exemplaye sehen (gemeint junge Gadus merlangus)... ., 
welche ich in dem klaren Wasser der Qualle CUyanea capillata 
folgen sah, genau if derselben Weise, wie dies bei den Jungen 
von Caranz der Fall ist...“ Am 3. Juni 1856 erhielt ich bei 
Känsö einige Junge von 19—30 mm Länge ın Gesellschaft der ge- 
nannten Qualle; den 7. August 1865 bei Strömstad auf dieselbe 
Weise, welche von 15—30 mm Länge und weiter an derselben 
Stelle in demselben Jahre welche von 50—60 mm Länge, die aber 
getrennt schwammen.“ 

Collet (1875) berichtet, dass während ihres pelagischen Lebens 
die Jungen von Gadus morrhua unter Oyanea capillata und Medusa 
aurita gegen die vielen Gefahren Schutz suchen (p. 106) und dass 
die Brut von Gadus aeylefinus und Gadus merlangus zusammen mit 
Oyanea gefunden wird (p. 108 u. 109). 

Möbius und Heincke erwähnen in ıhrem bekannten Werke: 
Die Fische der Ostsee, sowohl für Caranz als auch für Gadus aegle- 
finus und Gadus merlangus, dass deren Jugendformen zusammen mit 
der Qualle Cyanea capillata vorkommen „Nach Beobachtungen 
anderer Forscher sollen ganz junge Stöcker in den Ernährungs- 
höhlen von Quallen leben“ (p. 216). 

Smitt bezieht sich in: A history of Scandinavian Fishes, was 
Caranz anbetrifft, auf die Beobachtungen von Malm, die durch 
brieflich an Eckström berichtete Angaben von I. W. Grill be- 
stätigt werden (p. 87 u. 88). In bezug auf Schellfischbrut heisst 
es p. 471 „Like the young of several other fishes, of the Horse 
Mackerel and the Cod for example, the Haddock fry according to 
Sars and Collett, seek shelter and food under the bodies of 
Medusae, together with which they drift about, until they are more 
than 50 mm long.“ Auch junge Dorsche suchen nach Smitt den 
Schutz der Qualle auf: „The fry now (10—15 Tage alt) seek shelter 
under Medusae and other floating objekts“ (p. 478). P. 491 be- 
spricht der Autor dann das Verhältnis von jungen Wittlingen zu 
der Qualle, und hier wird zum ersten Male die schon vorn skizzierte 
Ansicht geäußert, dass der junge Merlangus als „Freund“ der Qualle 
diese von ıhren Parasiten befreie... „The fry may be seen assem- 
bled ın fairly great numbers under the large jelly-fish (Oyaneca 
capillata) ın which the sea abounds. Thus the fry of the Whiting 
like those of the Cod and other fishes, fly for shelter to these 
creatures and feed upon the erustaceans which live as parasites ın 
the body of the jelly-fish or adhere to its long, filiform, and slımy 
tentacles. During the summer... small Whiting from 10 to 12 mm 
long may olten be seen keeping close to a jelly-fish for hours, 
following its sluggish movements ın a manner that seems to indi- 
cate a certain intimacy and mutual confidence between these strangely- 
assorted companions.“ 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 185 


In den Veröffentlichungen der Internationalen Meeresforschung 
wird häufig das Vorkommen von jungen Gadiden und Caranz 
zusammen mit Quallen erwähnt und die Abhängigkeit der ersteren 
von letzteren betont. Die Art des Abhängigkeitsverhältnisses aber 
wird nieht näher untersucht. 

In „Eier und Larven von Fischen der deutschen Bucht“ be- 
tonen Heincke und Ehrenbaum ausdrücklich, dass man wohl 
das Zusammenleben von Fisch und Qualle schon lange kenne, über 
den Zweck desselben aber noch nicht genügend unterrichtet: seı. 
„Die Jugendformen der Bastardmakrele sind längst bekannt und 
oft beobachtet, namentlich wenn sie in kleinen Gruppen die Schirm- 
quallen der Gattungen Cyanea und Rhixostoma umschwärmen, mit 
denen sie noch nicht völlig aufgeklärte Beziehungen erhalten“ 
(p. 277). 

Ausdrücklich hebt auch Heincke in: Die Eier und Jugend- 
formen der Nutzfische ın der Nord- und Ostsee und die Alters- 
bestimmungen der Nutzfische, die Abhängigkeit des Vorkommens 
von Jungfischen von dem der Quallen hervor. „Es ist bekannt, 
dass die jungen Wittlinge, so lange sie noch etwas kleiner sind 
und eine pelagische Lebensweise führen, fast immer mit Quallen 
(meist Oyanea) zusammen gefunden werden. Ob dieser so 
charakteristische Aufenthalt der jungen Fische unmittelbar neben 


den Quallen, ja zwischen ihren Fangfäden — wie wir es oft ın 
unseren Aquarien und zuweilen auch auf offener See nahe der 
Wasseroberfläche gesehen haben — eine Art echter Lebensgemein- 


schaft ist und welcher Art, ist noch nicht bekannt. Sicher ist, 
dass wir ın unseren Oberflächennetzen fast niemals pelagische Witt- 
linge gefangen haben ohne auch zugleich Quallen zu fischen und, 
dass meist um so mehr Wittlinge in einem Fang waren, je mehr 
Quallen er enthielt. Wie weit übrigens auch die Jungfische anderer 
Gadiden-Arten, wie z. B. kleine Schellfische und Kabeljaue, mit 
Quallen zusammenleben, können wir aus Mangel an Beobachtungen 
noch nicht bestimmt sagen; wir wollen hier nur betonen, dass 
alle unsere pelagischen Jungfisch-Fänge Quallen ent- 
hielten und, dass Kabeljaue und Schellfische, wenn sie in solchen 
Fängen vorhanden waren, immer mit Wittlingen zusammen gefunden 
wurden, wobei die letzteren fast ausnahmslos in der Mehrzahl 
waren“ (p. 39). 

Ähnlich spricht sich der gleiche Forscher in dem 3. Jahres- 
bericht: Die Arbeiten der Kgl. Biologischen Anstalt auf Helgoland 
in.der Zeit vom 1. April 1904 bis 31. März 1905, aus. „Von be- 
sonderem Interesse ıst die durch unsere Untersuchungen festgestellte 
merkwürdige Abhängigkeit der Brut gewisser dorsch- 
artıiger Fische, wie des Kabeljaues, des Schellfisches und des 
Wittlings, von dem Vorkommen der Quallen, besonders der 


456 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 


sogen. Haarqualle.e Wenn die Brut dieser Fischarten das Larven- 
stadium vollendet hat, führt sie eine Zeitlang ein pelagisches Leben 
ın freiem Wasser und geht erst allmählich zum Leben auf dem 
Meeresboden über, am spätesten der Wittling, am frühesten der 
Kabeljau. Während dieses pelagischen Lebens nun trifft man diese 
drei Fischarten fast ausschließlich in Gesellschaft der ge- 
nannten Quallen, in deren unmittelbarer Nähe und zwischen 
deren Fangfäden sie umherschwimmen. Dieses eigenartige, in seiner 
wahren Bedeutung noch nicht erkannte Zusammenleben von Fischen 
und Quallen ist in der Nordsee ein so enges, dass dort, wo keine 
Quallen sind, auch fast niemals junge Fische der genannten Arten 
gefunden werden. Wir sind in der nordwestlichen Nordsee auf 
hoher See tagelang gefahren, ohne eine Qualle gesehen und ohne 
einen pelagischen jungen Gadiden gefangen zu haben; sobald dann 
aber die ersteren wieder sich zeigten, waren auch diese sofort 
wieder da. 

Da die Quallen in hohem Grade planktonische Tiere sind und 
durch Strömungen wahrscheinlich weit umhergetrieben werden, 
muss man annehmen, dass auch die Verbreitung der jungen Brut 
des Kabeljaues, Schellfisches und Wittlings in erheblichem Maße 
durch Strömungen beeinflusst werden kann.“ 

Einige Seiten später heisst es dann noch in bezug auf den 
Wittling: „... Sie leben von 2—5 cm Länge in den Sommer- 
monaten in enormen Mengen zusammen mit den Quallen 
ın den oberflächlichen und mittleren Wasserschichten und bleiben 
auch sehr häufig noch dort, wenn sie zu 10, 15 und mehr Zenti- 
meter herangewachsen sind“ (p. 79). 

Haben Heincke und Ehrenbaum darauf verzichtet, etwas 
Bestimmtes über die Art der Lebensgemeinschaft zwischen Jung- 
fischen und Quallen zu behaupten, so wird an anderer Stelle die 
Ansicht geäußert, dass die ersteren bei den letzteren Schutz suchten. 
So sagt z. B. Griffini in bezug auf Caranz in einer Ittiologia 
ıtalıana: „Fu osservato come ıi giovanı individul accompagnino 
talora le grosse meduse, riparandosı anche sotto l’ombrello di 
queste, e trovando cosi una protezione neglı organı urticantı di 
quei celenterati“ (p. 408). 

Auch T. W. Bridge und G. A. Boulenger machen sich bei 
der Bearbeitung der Fische in: The Cambridge Natural History 
diese Auffassung zu eigen. „The young... of Caranz trachurus 
keep together in small bands in the neighbourhood of medusae, under 
which they seek shelter when disturbed.“ 

Nicht nur in der Familie der Gadiden und der Öarangiden 
finden wir ein Zusammenleben von Jungfischen mit Quallen. So 
weist z. B. die Familie der Stromateiden eine ganze Reihe von 
Arten auf, die mit Quallen zusammen angetroffen werden. Bekannt 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 187 


ist, dass Physalia oft von einem Fisch dieser Familie, Nomeus gro- 
novii Gmelin, begleitet wird. Waite berichtet in Rec. Austral. 
Museum Bd. 4, p. 39 darüber wie folgt: „It is noticed that Nomeus 
is only found on our coast, when the ‚Portuguese men-of-war“ 
are driven ashore, and this is quite in accord with the habit 
of the fish in swimming beneath the Physalia.“ Über die Art der 
gegenseitigen Beziehungen der beiden äußert sich Waite p. 40: 
„The relationship which exists between Nomeus and Physalia is a 
very curious one, and invites speculation as to the advantage of 
the association. A similar partnership is known between fishes and 
medusae. The benefit must be primarily with the fish, for ıt ıs a 
voluntary agent, whereas the Physalia has no power of locomotion. 
If the fish secures safety from ıts enemies by entering the area 
embraced by the deathly tentacles of the Physalia, which attains a 
length of ten to twelve feet, it must be immune to their influence; 
a remarkable condition considering that as I have previously recorded, 
small fish have often been seen in their stomachs and entangled 
in their tentacles* (Waite, Austral. Museum Mem. Bd. 4, 1899, 
p. 15)°). Auch in bezug auf den Nahrungserwerb stellt sich nach 
seiner Ansicht der Fisch bei dem Zusammenleben mit der Qualle 
besser. „It ıs probable that, in addition to protection, the fish 
derives its food from association with Physalia ... The Physalia 
doubtless paralyses many more anımals than ıt can consume. — 
The residue falling to the lot of the fish, which may be present 
to the number of ten* (p. 41). 

Um endlich über das Verhalten von Jungfisch zur Qualle Klar- 
heit zu erhalten, stellte ich in den Becken der Biologischen Anstalt 
eine Reihe von Beobachtungen und Versuchen an. In der Haupt- 
sache wurden dazu junge Wittlinge und Oyanea capillata benutzt 
und nur die wesentlichsten Befunde wurden an jungen Caranz 
nachgeprüft. 

Die Quallen halten sich in den Becken nur für kürzere Zeit 
vollkommen frisch und werden deshalb öfter durch andere ersetzt. 
Bei dieser Gelegenheit fiel mir auf, dass die in dem Becken be- 
findlichen Fische sich gierig auf die bei dem Transport der Qualle 
von dieser losgerissenen Ovarfetzen stürzten und sie verschlangen. 
Dieses Tun erweckte ganz den Anschein, als ob hier die Fische 
ihre natürliche Nahrung vor sich hätten, die selbstredend am liebsten 
genommen wird. Bestärkt wurde ich in diesem Gedanken durch 
den Umstand, dass die Aufzucht von Wittlingsbrut zusammen mit 
Quallen fast immer Erfolg hat, wogegen die Fische, wenn sie ge- 
trennt von Quallen gehalten werden, viel eher sterben, selbst wenn 


3) Nach Garman (Bull. Lab. Nat. Sc. 1896, p. 86) werden aber auch die 
kleinen Nomeus selber häufig von der Physalia getötet und verzehrt. 


488 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 


sie regelmäßig und reichlich mit frischem Plankton gefüttert werden. 
Beobachtete man die Fische weiter, so konnte man oft genug sehen, 
wie, nachdem sie alle losgerissenen und herumtreibenden Ovar- 
fetzen der Quallen aufgefressen hatten, sie lebhaft nach deren Genital- 
höhlen stießen und Eibündel herausrissen. Aber nicht nur die 
Eierstöcke der Quallen waren solchen Angriffen ausgesetzt, sondern 
oft wurde auch an den Tentakeln herumgezerrt. Nie aber konnte 
ich beobachten, dass die häufig in dem Schirm der Quallen schma- 
rotzenden Amphipoden eo galba), dıe in allen Größen vor- 
handen waren, irgendwie von den Fischen beachtet wurden. 

Bei der Magenuntersuchune eines Fisches, der mehrere Tage 
ständig mit Quallen zusammen war, fand ich die Verdauungsorgane 
prall angefüllt mit Ovar- und Tentakelfetzen, konnte aber nicht die 
Spur von Kopepoden oder anderen Krustern finden, obgleich die 
Quallen (und somit auch die Fische) täglich reichlich mit Plankton 
gefüttert wurden und oft genug tote Krebschen an ihren Senkfäden 
hingen. 

Nun isolierte ich einige Fische verschiedener Größe von den 
Quallen und ließ sie 1—2 Tage hungern. Dann wurden sie mit 
Övarfetzen gefüttert. Rasch wurden diese verschlungen; und solche 
Mengen nahmen die Fische zu sich, dass man ıhrer äußeren Körper- 
form deutlich den überfüllten Magen ansehen konnte. 

Nach einer abermaligen Hungerperiode wurde den Fischen ein 
Gemisch von Ovarfetzen und kleinen lebenden Krustern (Kope- 
poden und Dekapodenlarven) gereicht. Wieder stürzten sich die 
kleinen Wittlinge gierig auf die ersteren, während letztere gar keine 
Beachtung fanden. 

Dann wurde den gut ausgehungerten Tieren eine größere 
Menge von Hyperia galba ın allen Größen vorgesetzt. Aber auch 
nicht eine der Amphipoden fand den Weg in den Magen der jungen 
Wittlinge. 

Auf reines Plankton, das den Fischen gereicht wurde, gingen 
die meisten gar nicht; nur die größeren Exemplare (über 9 cm) 
nahmen nach einigem Zögern wenige Kruster, aber, wie es schien, 
durchaus nicht mit Eifer und Fresslust, sondern nur weil sie an- 
scheinend der Hunger dazu trieb. Die jüngsten Fische dagegen 
weigerten die Annahme von Plankton vollkommen. 

Alle die vorliegenden Versuche wurden mehrfach wiederholt 
und auch zum Teil an Caranxz nachgeprüft. Nach ihnen steht so- 
mit fest, dass die jungen Wittlinge und Pferdemakrelen als echte 
Parasiten der Qualle aufgefasst werden müssen. Sie leben aus- 
schließlich von Teilen der Qualle. Malm hatte also mit seiner 
diesbezüglichen Vermutung recht. Die Qualle hat von dem Zu- 
sammenleben mit den Fischen gar keine Vorteile, denn ihre Para- 
sıten werden ja von diesen als Nahrung verschmäht; es kann des- 


» 


Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 189 


halb nicht von einem Freundschaftsverhältnis zwischen Qualle und 
Fisch die Rede sein, es handelt sich um einen Parasitismus, 
nicht um eine Symbiose. 

Fragen wir uns, wie und warum sich vermutlich das Para- 
sitieren der Jungfische bei den Quallen herausbildete, so müssen 
wir den Grund hierfür in einer Anpassung an das.pelagische Leben, 
verbunden mit einem stigmotaktischen Fluchtinstinkt, suchen. 

Sehr viele freilebende Jungfische werden nur unter treibenden 
Algen u. s. w. angetroffen. Diese gewähren ihnen sowohl Schutz 
als auch Nahrung; bei Verfolgung verschwinden die Larven rasch 
unter und zwischen dem Gewirr von Halmen und Stengeln, und 
die an den Pflanzen ansitzenden und daran herumkriechenden Tiere 
bilden ihre Hauptnahrungsquelle. Treibende Tangmassen finden 
sich aber immer mehr ın der Nähe der Küste als auf der offenen 
See. Extrem pelagische Larven werden deshalb auf der Hochsee 
nicht genug Unterschlupf unter derartigen Treibmassen finden. 
Diese passen sich nun den rein pelagischen, ebenfalls treibenden 
Quallen an und suchen bei ihnen, genau wie ihre Verwandte unter 
Algen, Schutz und Nahrung. 

Eine gute Stütze für diese hier skizzierte wahrscheinliche Heran- 
bildung des Parasitismuses bietet das Verhalten der Jungfische ver- 
schiedener Gadiden. 

Die jungen Gadus pollachius führen kein eigentlich pelagisches 
Leben und werden ausnahmslos unter und zwischen Algen der 
Strandregion gefangen. Gadus virens zeigt schon etwas die Ten- 
denz zum Leben in freiem Wasser; seine Larven finden sich haupt- 
sächlich unter Triftmassen. Gadus morrhua lebt wohl in der Jugend 
pelagisch, geht aber früh zum Leben auf dem Grund und in der 
Tangregion über. Seine Brut wird ın der Hauptsache unter treiben- 
den Algen angetroffen, kommt aber auch zuweilen unter Quallen 
vor. Später als der Dorsch geht der Schellfisch!) zum Boden- 
leben über. Seine Larven schätzen denn auch das Zusammenleben 
mit der Qualle, obgleich auch ihr Vorkommen unter Triftmassen 
allgemein ist. Der pelagischste Gadide ist der Wittling. Seine 
Brut ist vollkommen auf das Parasitieren bei der Qualle spezialisiert 
und hat verlernt, sich, wie ihre Verwandten, von kleinen Krustern 
zu nähren. (Man vergleiche die oben zitierten Beobachtungen von 
Heincke.) 

Durch meine Experimente wurde die Frage nach der Immunität 
der Jungfische gegen die Nesselzellen der Qualle nicht angeschnitten. 
Ich möchte dazu nur die Vermutung äußern, dass eine derartige 


4) Ich hatte leider keine Gelegenheit, mit jungen Gadus aeglefinus zu experi- 
mentieren, um festzustellen, ob diese noch Plankton, besonders kleine Kruster als 
Nahrung annehmen. 


190 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete, 


absolute Unverletzbarkeit des Fisches nicht angenommen zu werden 
braucht. Die Mund- und Rachenpartien müssen zwar gegen die 
Wirkung der beiden unempfindlich sein, da die Tentakel ja ge- 
fressen werden. Im übrigen kann man häufig sehen, wie es dem 
Fisch gelingt, infolge seiner geschickten Bewegungen die Berührung 
der nesselnden Fäden mit dem Körper zu vermeiden. Außerdem 
fragt es sich doch noch, ob bei einer eventuellen Berührung die 
Nesselfäden genug Kraft haben, die ziemlich dieke schleimige Epi- 
dermis des Fisches zu durchstoßen. 


Literaturverzeichnis. 

Bridge, T. E. and Boulenger, G. A. 1904. Fishes. In: Cambridge Natural 
History, Bd. 7. 

Collet, R. 1875. Norges Fishe med Bemaerkninger om deres Udbredelse, Trykt 
som Tillaegsh. til Vidensk. Selsk. Forh. f. 1874. 

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Heincke, Fr. und Ehrenbaum, E. 1900. Eier und Larven von Fischen der 
Norddeutschen Bucht. In: Wiss. Meeresunters. N. F., Abt. Helgoland, Bd. 3. 

Heincke, Fr. 1905. Die Eier und Jugendformen der Nutzfische der Nord- und 
Ostsee und die Altersbestimmungen der Nutzfische. In: Rapports et Proc®s- 
verbeaux, III. Gesamtbericht, Anlage E. 

— 1906. Die Arbeiten der Kgl. Biologischen Anstalt auf Helgoland im Interesse 

der Internat. Meeresforschung in der Zeit vom 1. April 1904 bis 31. März 
1905. In: ‘Die Beteiligung Deutschlands an der Internat. Meeresforschung, 
III. Jahresbericht. 

Malm, A. W. 1852. Om yngel af Caranx trachurus, in Öfersigt af Kongl. Vitensk. 
Akad. Förh. Attonde ÄArgängen 1852. 

— 1877. Göteborgs och Bohusläns Fauna, Ryggradjuren. 

Möbius, K. und Heincke, Fr. 1883. Die Fische der Ostsee. Kiel. 

Smitt, F. A. 1893. A History of Scandinavian Fishes, II. Ed. 

Waite, E. R. 1908. Additions to the Fish-Fauna of Lords Howe Islands, Nr. 2. 
In: Rec. Austral. Mus. Bd. IV, 1901—1903. 


Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf 
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen!'). 
Von Dr. med. Rudolf Brun, 

Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich. 

M.H.! Das Problem der Orientierung im Raum bietet bekanntlich 
auch beim Menschen ein nicht geringes psychophysiologisches und 
klinisches Interesse; — ıch erinnere hier nur an das staunenswerte 
Örientierungsvermögen, welches, nach den Berichten zahlreicher 
Forschungsreisender, Angehörige gewisser wilder Völkerschaften an 
den Tag legen sollen, sowie andererseits an jene merkwürdigen und 
schweren Orientierungsstörungen, welche der Neurologe bei der 
Rinden- und bei der sogen. Seelenblindheit zu beobachten Gelegen- 


1) Vorträge, gehalten in der psychiatrisch-neurologischen Gesellschaft in 
Zürich, am 12. Dezember 1914 und am 23. Januar 1915. 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc, 191 


heit hat. Doch ist diese Frage beim Menschen naturgemäß eine 
außerordentlich verwickelte; sie ist hier (wie übrigens auch bei den 
Säugern) experimentell noch kaum ernstlich in Angriff genommen) 
und daher selbst mit Bezug auf die Beteiligung der wesentlichsten 
Komponenten noch sehr wenig geklärt. Dagegen vermag die experi- 
mentelle Analyse der um vieles einfacheren Verhältnisse bei 
niedrigeren Organismen (Vögeln, Insekten) uns wenigstens einen 
rohen Einblick in die Prinzipien zu gewähren, nach denen der kom- 
plizierte Mechanismus der Fernorientierung sich abwickelt, und 
eine Reihe wichtiger Gesichtspunkte als Basıs für künftige Frage- 
stellungen. Durchgeht man aber die reiche diesbezügliche Lite- 
ratur, so ist man vielfach überrascht zu sehen, wie willkürlich 
manche sonst streng wissenschaftliche Autoren bei der theore- 
tischen Beurteilung ihrer an sich sehr sorgfältigen und klaren 
Beobachtungen verfuhren; — eine Willkür, die vielfach selbst vor 
der Aufstellung ganz abenteuerlicher, physiologisch unbegreiflicher 
und schon erkenntnistheoretisch von vornherein unhaltbarer Hypo- 
thesen nicht zurückschreckte: Geheimnisvolle, noch unentdeckte 
Kräfte (Fabre, Bethe), eine „absolute, von allen sinnlichen An- 
haltspunkten der Außenwelt unabhängige innere Richtungskraft“ 
(Cornetz), eine absolute Kenntnis der vier Kardinalpunkte des 
Raumes (Berthelot), Wahrnehmung des Erdmagnetismus (V iguier) 
oder „infraluminöser Strahlen“ (Duchatel), ein „nasaler Raum- 
sinn* (Öyon), eine minutiöse kinästhetische Registrierung sämtlicher 
beim Hinweg ausgeführter Körperdrehungen (Bonnier, Reynaud, 
Pieron), eine Polarisation chemischer Duftteilchen (Bethe); — 
alle diese und noch manche andere mysteriöse Fähigkeiten wurden 
nacheinander zur „Erklärung“ der Fernorientierung der Brieftauben, 
Bienen und Ameisen mit herangezogen. Die Ursache aller dieser 
wissenschaftlichen Missgriffe ist m. E. in einem gewissen Mangel 
an allgemein-biologischen Gesichtspunkten zu suchen; es fehlte 
an einer festeren theoretischen Grundlage, welche eine einheitliche 
Betrachtungsweise der Orientierungsphänomene im allgemeinen, 
ihrer verschiedenen biologischen Stufen und der allgemeinen psycho- 
physiologischen Gesetze, welche sie beherrschen, ermöglicht hätte. 
Eine solche theoretische Basis habe ich in meiner Monographie 
über die Raumorientierung der Ameisen?) in ihren Umrissen zu 
skizzieren versucht und die dabei gewonnenen Gesichtspunkte 
haben sich mir auch bei meinen speziellen experimentellen Frage- 
stellungen als praktisch und fruchtbar erwiesen. Ich möchte Sie 


2) Systematische Untersuchungen über den kinästhetischen Richtungssinn des 
Menschen wurden erst in jüngster Zeit von Szymanski (Pflüger’s Arch. f. d. 
ges. Phys. 1913) ausgeführt. 

3) Brun, Die Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem 
im allgemeinen. — Gustav Fischer, Jena 1914. 


199 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


daher auch an dieser Stelle zunächst mit diesen allgemeinen Ge- 
sichtspunkten bekannt machen, bevor ich, im zweiten Teile meines 
Vortrages, zur Darstellung der experimentellen Ergebnisse bei den 
Ameisen übergehe, — um so mehr, als eine solche theoretische 
Übersicht Ihnen auch das Vers ‚tändnis der dort zu erörternden, oft 
recht komplizierten Versuchsanordnungen wesentlich erleichtern 
dürfte. 
T: 
Über Raumorientierung im allgemeinen. 

Als Orientierung ım Raum können wir ganz allgemein die 
Fähigkeit der Organismen definieren, ihren Körper oder Teile des- 
selben ın bestimmter Weise auf die einwirkenden Reize einzustellen, 
bezw. ihre räumliche Fortbewegung in irgendeiner gesetzmäßigen 
Weise auf die betreffenden Reizquellen zu beziehen. Nach dieser 
allgemeinen Definition kommt die Orientierungsfähigkeit wohl sämt- 
lichen Organısmen, auch den sesshaften, ohne Ausnahme zu: Sie 
ist eine primäre Eigenschaft des lebenden Protoplasmas und als 
solche schon mit jeder primären Reizbeantwortung verknüpft. 

Versuchen wir, die ungeheure Mannigfaltigkeit aller hier in 
Betracht kommenden Erscheinungen nach biologischen und physio- 
logischen Gesichtspunkten zu gruppieren, so können wir sie zu- 
nächst zwanglos ın zwei Hauptkategorien unterbringen und unter- 
scheiden: 

I. Eine propriozeptive (absolute) und II. eine exterozeptive 
(relative, relationelle) Orientierung. 

I. Die propriozeptive Orientierung empfängt ihre Angaben 
ausschließlich von inneren, d. h. bei passiven oder aktiven Be- 
wegungen ın den bewegten Teilen selbst entstehenden Reizen; sie 
hat deshalb keinerlei nähere Beziehungen zur Außenwelt, sondern 
orientiert den Organısmus lediglich über seine absolute Lage im 
umgebenden Raum, bezw. über die gegenseitige Stellung seiner 
Glieder. Natürlich trıtt die propriozeptive Obiehtrerune nn bei 
der exterozeptiv orientierten Lokomotion jeweilen ausgiebig in 
Funktion, jedoch nur als notwendige Vorbedingung zur hen 
Ausführung der dabei stattfindenden Einzelbewegungen, niemals im 
Sinne einer Direktion der Gesamtleistung, hinsichtlich des Be- 
wegungszieles. 

Die propriozeptive Orientierung ist eine statische oder eine 
dynamische, je nachdem, ob dr Zweck sich ın der einfachen 
Beantwortung der primären een erschöpft, oder ob das 
Resultat dieser primären Antwortbewegungen seinerseits wieder ın 
einem höheren Zusammenhange registriert und zum Aufbau neuer, 
sekundärer Orientierungen verwertet wird. 

1. Bei der statischen Orientierung handelt es sich um ein- 
fache Einstellungsbewegungen des Körpers oder seiner Teile ın 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 193 


einem bestimmten Verhältnis zur Lotrichtung der Schwerkraft. Bei 
den Pflanzen sind diese Bewegungen äußerst träge; sie beruhen 
hier offenbar auf polar ungleicher Wachstumsintensität in den von 
dem Reize getroffenen Zellen und führen so allmählich zu jenen 
Wachstumseinstellungen des Pflanzenkörpers, wie sie als Axotro- 
pismen (Geotropismus, Heliotropismus u. s. w.) bekannt sind. Wir 
können diese primitivste Form der räumlichen Orientierung als 
plasmostatische Orientierung bezeichnen und der neuro- 
statischen Orientierung der Tiere gegenüberstellen, wo die 
betreffenden Einstellungsbewegungen äußerst prompt und in feinster 
Anpassung an die fortwährend stattfindenden aktiven Änderungen 
des Körpergleichgewichts durch Vermittlung komplizierter stato- 
tonischer Sinnes- und Reflexapparate erfolgen. 

2. Die dynamisch-propriozeptive Orientierung baut sich 
auf aus einer mehr oder minder komplizierten zeitlichen Sukzession 
derjenigen sekundären propriozeptiven Registrierungen, welche man 
als Kinästhesien (im weitesten Sinne) zu bezeichnen pflegt. 

Die Statolithenapparate, die Organe der Seitenlinie, die Bogen- 
gänge des Labyrinths, zeigen dem Organısmus passive Lageverände- 
rungen der Körperachse bekanntlich auch dann an, wenn alle übrigen 
Kinästhesien und exterozeptiven Merkzeichen ausgeschaltet sind. 
Dass dem so ist, beweist die interessante Tatsache, dass Taub- 
stumme unter Wasser (wo der myostatische Sinn ausgeschaltet, 
bezw. sehr herabgesetzt ıst) sehr oft jede Orientierung über die 
absolute Lage ıhres Körpers im Raum verlieren und sogar nicht 
mehr wissen, was oben und unten ist. Wir können die Funktion 
der statischen Apparate zusammen mit dem myostatischen Sınn 
(nebst den entsprechenden passiven Spannungswahrnehmungen in 
den Sehnen, Gelenken und der Haut) als passıven Lagesinn 
oder als passive Kinästhesie zusammenfassen. Im Gegensatz zu 
ihm orientiert die aktive Kinästhesie, der Muskelsinn sens. strict. 
oder besser: der „Bewegungssinn“ in ziemlich genauer Weise 
über den jeweiligen aktiven Kontraktionsgrad in den verschiedenen 
Muskelgruppen und somit auch über die bei Ausführung bestimmter 
kinetischer Figuren (z. B. „Vierteldrehung rechts“) zu benutzenden 
Synergien und Sukzessionen. Als Barästhesie („Schwere- oder 
Kraftsinn*“) registriert er ferner in roher Weise die aktive Erhöhung 
des Muskelwiderstandes, welcher beim Bergansteigen zur Überwin- 
dung der Schwere oder beim Bergabsteigen zur Verhinderung des 
passiven Falles erfordert wird und ermöglicht so eine gewisse Schät- 
zung des Neigungswinkels. Und schließlich wäre es denkbar, dass 
auch von der Länge einer zurückgelegten Wegstrecke dadurch eine 
gewisse Vorstellung entstehen würde, dass die Intensität der dabei 
auftretenden Ermüdungsgefühle der Weglänge irgendwie proportional 
ist. In diesem Sinne ist man also auch berechtigt, von einem „Er- 

XXXV. 13 


194 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


müdungssinn“, oder — nach seiner Funktion — geradezu von einem 
'Strecken- oder Podometersinn zu sprechen. 

Die Bedeutung aller dieser Kinästhesien für die räumliche 
Orientierung wird im allgemeinen entschieden unterschätzt; man 
hat sich gewöhnt, dieselben unter die sogen. „dunkeln Empfin- 
dungen“ zu rechnen, welche: keine klarer assozuerten Vorstellungen 
zu erwecken vermögen. Das ist aber ein Irrtum, denn schon die 
alltägliche Beobachtung lehrt, dass diese komplexen Sensationen 
unter Umständen sehr deutliche kınästhetische Engramm- 
sukzessionen?) hinterlassen, die — im Verein mit exterozeptiven 
Sinneserfahrungen, aber nur mit diesen! — auch für die lokomoto- 
rische Orientierung im Raume von der größten Bedeutung sind. 
Jeder weiß z. B. aus eigener Erfahrung, wie sicher man im Dunkeln 
die nötigen Drehungen und Wendungen ausführt, um, sagen wir, 
vom Bette zum Waschtisch oder zur Zimmertür zu gelangen, Aber 
hier hat uns der Tastsınn zuvor über die relative Lage des Bettes 
belehrt und von diesen exterozeptiven Anhaltspunkten aus können 
wir dann getrost die gewohnte kinästhetische Reise ins Dunkle an- 
treten, die uns im fremden Hotelzimmer natürlich an ganz verkehrte 
Orte hinbefördern würde. — Noch viel feiner sind die kinästhetischen 
Engrammsukzessionen bekanntlich bei den Blinden entwickelt; sie 
bilden hier wohl den wesentlichsten Inhalt des Engrammschatzes, 
welcher diesen Leuten ihre oft so staunenswerte Sicherheit in den 
ihnen bekannten Räumen, ja selbst in den Straßen ihrer Heimat- 
stadt verleiht. 


II. Während die propriozeptive Orientierung sich nur auf die 
Lage und Bewegung des Körpers ın einem sozusagen „absoluten“ 
Raume bezieht, orientieren die exterozeptiven Sinne den Organis- 
mus relationell, d. h. sie setzen ıhn in Beziehung zu ganz be- 
stimmten Punkten ın der Außenwelt. Die notwendige Voraus- 
setzung hierzu ist natürlich eine mehr oder minder scharfe sinn- 
liche Lokalisation der betreffenden Reize, oder mit anderen 
Worten: Die Ausstattung der betreffenden Sinne mit Ortszeichen. 
Sich im Raum exterozeptiv orientieren heisst also: Ex- 
terozeptive Reize auf den rezipierenden Sinnesflächen 
scharf lokalisieren. 

Ein Beispiel wird Ihnen dies klar machen: Beim Menschen kommt 
der Geruchssinn für eine exaktere räumliche Orientierung nur deshalb 


nicht in Betracht, weil die rezipierende Sinnesfläche — die Riech- 
schleimhaut — tief ım Inneren des Schädels versteckt liegt und 


daher die von den verschiedenen Gegenständen ausgehenden Ge- 


4) Ich bediene mich im folgenden (wie schon in früheren Arbeiten) zur Bezeich- 
nung mnemischer Vorgänge im wesentlichen der einfachen und klaren Terminologie 
von R. Semon (Die Mneme, 2. Aufl., Leipzig 1908). 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 195 


ruchsemanationen nicht räumlich getrennt, sondern in diffuser 
Mischung empfängt. Anders bei den Ameisen: Hier sind die 
Geruchssensillen oberflächlich an symmetrischen und äußerst be- 
weglichen Organen, den Fühlern, angebracht und mit diesen ihren 
„beweglichen Nasen* (wie Forel sich treffend ausdrückt) pflegen 
die Ameisen außerdem fortgesetzt alle Objekte, die sie beriechen 
wollen, ın allen Ebenen des Raumes abzutasten. Der Geruchssinn 
der Ameisen ist also ein Kontaktgeruchssinn, ein relationeller 
„topochemischer Sinn“ (Forel), welcher seinen Trägern ganz 
exakte olfaktorısche Raumempfindungen (und event. olfak- 
torısche Raumvorstellungen) vermitteln muss. — 

Die exterozeptive Orientierung fängt nicht erst bei der Loko- 
motion an, sondern sie erstreckt sich zunächst auch 

1. auf den eigenen Körper und dessen nächste Umgebung. 
Sie kann hier eine reflektorische oder eine spontane sein. 

a) Zu den exterozeptiven Orientierungsreflexen ge- 
hören alle diejenigen reflektorischen Antwortbewegungen, welche 
mit Ortszeichen versehen sind, d. h. deutlich nach der gereizten 
Stelle hinzielen. Unter den spinalen Orientierungsreflexen dieser 
Kategorie sind der Wischreflex des dekapitierten Frosches (bei Be- 
tupfen des anderen Beines mit Säure) und der Kratzreflex des 
Rückenmarkshundes (Sherrington) schöne, jedem Physiologen be- 
kannte Beispiele. Von den kortikalen Reflexen gehören hierher 
der Plantarreflex des Fußes, die Seh- und die Hörreflexe (Augen- 
einstellung nach dem optischen Reiz, Kopf- und Blickwendung nach 
der Schallquelle). 

b) Die höchste Stufe der orientierten Gliedbewegungen bilden 
die spontanen Zielbewegungen, das Greifen, Zeigen, Abtasten 
mit den Fingern, das Fixieren mit den Augen u.a. m. 

2. Mit dem Auftreten der spontanen Lokomotion nimmt 
die Orientierung im Raum wesentlich andere Formen an. Sie wird 
zur lokomotorischen Fernorientierung, welche nicht mehr 
allein auf die Befriedigung unmittelbarster Bedürfnisse des nächsten 
Raumes hinzielt, sondern zum Teil auf entferntere biologische Ziele 
gerichtet ist: Aufsuchung des andern Geschlechts, Herbeischaffung 
von Nahrung und Baumaterial zum Nest — oft aus weiter Ferne, 
endlich Nestwechsel, Raub- und Kriegszüge aller Art mit voraus- 
gehenden Erkundungsreisen einzelner: Eine ganze biologische Welt. 

Während eine reflektorische Gliedorientierung gewöhnlich durch 
jeden beliebigen (genügend kräftigen) Reiz der betreffenden Sinnes- 
qualität ausgelöst werden kann (z. B. eine Augeneinstellungsbewegung 
durch jeden beliebigen optischen Reiz), so ist für die orientierte 
Lokomotion charakteristisch, dass es hier selbst in den aller- 
primitivsten Fällen nur ganz bestimmte, nach Quantität und Qualität 
spezifische Reize sind, auf welche der Organısmus mit einer 

13* 


196 Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen etc. 


nach Vorzeichen?) und Richtung meist ebenfalls spezifischen Orien- 
tierung antwortet. Ein so spezialisierter Prozess hat nun offenbar 
mit primärer Reizbeantwortung schon nichts mehr zu tun, er setzt 
vielmehr unbedingt noch das Dazwischentreten eines weiteren, 
mnemischen Faktors voraus. Nach der Natur dieses mnemischen 
Prozesses, wie er sich, Hand ın Hand mit der fortschreitenden 
Ausbildung besonderer Reizleitungs- und Reizspeicherungsapparate, 
im Laufe der Phylogenie allmählich differenzierte, kann man nun 
bei der lokomotorischen Fernorientierung wiederum zwei Haupt- 
formen unterscheiden: Eine mehr primitive, die unmittelbare oder 
direkte Orientierung, und eine höhere Stufe, die mittelbare oder 
indirekte Orientierung. 

a) Eine unmittelbare oder direkte Orientierung liegt 
dann vor, wenn das Endziel der Lokomotion als aktueller Reiz 
direkt sinnlich wahrgenommen wird. 

Entspricht einem spezifischen Fernreiz ein vorgebildeter 
Mechanismus, der ım ÖOrganısmus gleichsam ab ovo für ıhn 
bereitlag, so ist die resultierende Orientierung als Ekphorie eines 
erblichen Engrammkomplexes zu betrachten und zwar kann 
es sich da wieder entweder um einen Tropismus, oder um einen 
Reflexautomatismus, oder endlich um einen Instinktautomatismus 
handeln. 

Wenn eine direkte Orientierung unabänderlich ın der Einfalls- 
achse des Reizes erfolgt, so ist man berechtigt, von einem Tropis- 
mus (Loeb, Verworn) zu sprechen. Doch sollte m. E. diese 
Bezeichnung ausschließlich auf die entsprechenden einfachen Reiz- 
beantwortungen niederster Organismen, bei denen weder spezifische 
Sinnesorgane noch ein zentrales Nervensystem ausgebildet sind, 
beschränkt bleiben®). Bei den höheren Tieren, wo diese Apparate 
vorhanden sind, bringt der „tropische Reiz“ gewöhnlich einen kom- 
plizierteren vorgebildeten Automatismus zur Auslösung, nämlich 
einen Reflex-, bezw. einen Instinktautomatismus. 

Eine reflektorische Fernorientierung darf nur dann an- 
genommen werden, wenn eine zwangsmäßig erfolgende Lokomotion 
zeitlich streng an die Fortdauer des adäquaten richtunggebenden 
Reizes gebunden ist und bei Erlöschen dieses Reizes sofort eben- 
falls aufhört. Ein Frosch z. B. kriecht und springt nur so lange 
nach der Fliege, als diese sich bewegt; sobald sie stillsitzt, erlischt 


5) Nach der Reizquelle hin oder von ihr weg. 

6) Vollends als Missbrauch ist es zu bezeichnen, wenn Szymanski (Arch. 
f. d. ges. Physiologie 138. 1911) neuerdings sogar den Begriff des „Mnemo- 
tropismus“ aufstellt und darunter solche Fälle versteht, wo eine bestimmte Rich- 
tung unter dem Einfluss einer mnemischen Erregung (z. B. bei Ameisen in- 
folge der Erinnerung an eine vorher stattgehabte Winkelabweichung, zu der man 
sie gezwungen hatte) eingeschlagen wird. „Tropisch“ im eigentlichen Sinne des 
Wortes können unter allen Umständen nur aktuelle (originale) Reize wirken. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 197 


das Interesse des Amphibiums an dem soeben noch anscheinend 
heiß begehrten Nahrungsobjekt. Wir können solche reflektorischen 
Fernorientierungen als einphasige Bewegungskomplexe be- 
zeichnen, weil hier der hereditäre Engrammkomplex sich in der 
einen Phase der orientierten Lokomotion vollständig erschöpft. 

Anders beim Instinktautomatismus. Hier ekphoriert der 
primäre Richtungsreiz einen bereits hochdifferenzierten, mehr- 
phasigen hereditären Engrammkomplex, der sich, einmal angetönt, 
durch alle seine Phasen in ziemlich autonomer Weise, d.h. unab- 
hängig von der Fortdauer des prımär auslösenden Reizes, 
wie eine willkürliche Handlung, abwickeln kann. Das hängt mit 
zwei Eigentümlichkeiten solcher mehrphasiger hereditärer Komplexe 
(= Instinkte) zusammen: Einmal damit, dass sie aus einer Reihe 
sukzessiv assoziierter Einzelengrammkomplexe (zeitlicher Phasen) 
zusammengesetzt sind, welche durch sogen. „phasogene Ek- 
phorie“* manifest werden können, indem die durch den Ablauf 
jeder Phase jeweilen neu entstandene energetische Situation an 
sich wiederum als „adäquater Reiz“ ekphorisch auf die nächst- 
folgende Phase wirkt”). Zweitens besitzen aber die meisten In- 
stinkte auch eine gewisse Plastizität (individuelle Anpassungs- 
fähigkeit), die sich darin äußert, dass sie sich mit plastischen En- 
grammen, d. h. solchen, welche erst während ihres Ablaufs neu 
erworben wurden, assoziieren und so gewisse Veränderungen (Kor- 
rekturen, Ergänzungen, Hemmungen) ihres Ablaufs erleiden können. 

Ein Beispiel möge das veranschaulichen. Es gibt Nachtschmetter- 
linge, welche den Duft ihrer Weibchen auf kilometerweite Ent- 
fernung zu wittern imstande sind. Sobald ein solcher Schmetter- 
ling diesen spezifischen Duft rezipiert, wird er sich nach derjenigen 
Richtung in Bewegung setzen, nach welcher der Reiz zunimmt. 
Angenommen nun, ein Windstoß verwehe auf einige Minuten diese 
äußerst feine Emanation. Wird das Männchen seinen Flug unter- 
brechen? Keineswegs! Denn da die hereditäre Engrammsukzession 
(in unserm Falle die verschiedenen Phasen des Sexualınstinkts) 
noch nicht durchlaufen ist, sondern sich vielmehr erst in ihrer 
ersten oder Orientierungsphase befindet, so dauert die entsprechende 
mnemische Erregung fort. Da aber anderseits der tropische Original- 
reiz, welcher den Ablauf dieser Phase realisierte, verschwunden 
ist, so kann der Flug des Männchens jetzt natürlich nicht mehr 
orientiert sein, sondern wird einen unruhig hin- und herpendelnden 
Charakter annehmen: Das Tier „sucht“ gleichsam den verloren ge- 
gangenen Reiz°). 

7) Das bedingt zugleich einen gewissen Zwang, die einmal begonnene Suk- 
zession unter allen Umständen zum Ende zu führen: Die mnemische Erregung 
dauert während des ganzen Ablaufs an. 


8) Diese instinktive Unruhe wird regelmäßig beobachtet, wenn man den Ab- 
lauf einer hereditären Engrammsukzession plötzlich dadurch unterbricht, dass man 


198 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


Es besteht aber noch eine zweite Möglichkeit: Das Tier hatte 
vielleicht während seines ziemlich geradlinigen Fluges nach der Duft- 
quelle zugleich konstant das Bild des Mondes in den vorderen Ab- 
schnitten seiner Fazettenaugen wahrgenommen und diesen aktuellen, 
einer ganz andern Sinnessphäre angehörenden Reizkomplex sekun- 
där mit der Richtung seines Fluges assozuert. Dann könnte dieser 
sekundär erworbene plastische Richtungsengrammkomplex nach 
Verschwinden des primär tropischen Reizes offenbar vikariierend 
an dessen Stelle treten und so die bisherige Orientierung wenig- 
stens noch eine Zeitlang aufrecht erhalten: Die ursprünglich direkte 
Orientierung ist sekundär zur indirekten geworden. Ähnliche Mecha- 
nismen, wie der eben angedeutete, sind bei Ameisen tatsächlich 
wiederholt nachgewiesen worden. — 

Bei den bis jetzt genannten Formen der direkten Orientierung 
reicht, wie wir sahen, dıe erbliche Mneme wenigstens zur Erzeugung 
des Initialphänomens vollkommen aus. Es gibt nun aber selbst- 
verständlich auch eine direkte Orientierung, welche auf Ek- 
phorie individuell erworbener plastischer Engramme be- 
ruht. Die Reizkomplexe, welche diese Ekphorie bewirken, treffen 
im Organismus nicht eimen eigens für sie vorgebildeten primären 
Mechanismus, sondern verdanken ıhre sekundär-tropische Kraft 
lediglich dem Umstande, dass ihre erste Einwirkung seinerzeit von 
einer direkten sinnlichen Anziehung oder Abstoßung gefolgt war. 
Es erfolgt dann bei jeder späteren Wiederkehr einer ähnlichen 
(oder auch nur scheinbar ähnlichen) Situation prompt die nämliche 
Reaktion, infolge einer „Ähnlichkeitsassoziation“ oder eines „ein- 
fachen Analogieschlusses“. Ein Beispiel: 

Forel’) reichte Bienen Honig auf künstlichen verschiedenfarbigen Blumen 
aus Papiermache. Nachdem die Bienen den Vorrat durch Zufall entdeckt hatten, 
stürzten sie sich gierig auf sämtliche Artefakte und kehrten erst dann wieder zu 
den natürlichen Blumen zurück, nachdem das letzte Honigtröpflein aufgeleckt war. 
Nach einiger Zeit legte Forel in die Nähe des Blumenbeetes. auf dem die Bienen 
weideten, zwei einfache Stücke roten und weißen Papiers, aber ohne diesmal Honig 
darauf zu tun. Trotzdem stürzten sich alle Bienen sofort wieder auch auf diese 
neuen Attrappen, untersuchten sie peinlich genau und ließen erst dann wieder von 
denselben ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass wirklich kein Honig darauf 
sei. Bienen, welche jene günstige Erfahrung eines Honigfundes auf Papier früher 
nie gemacht hätten, wären nie dazu gekommen, irgendwelchen farbigen Papier- 
stückchen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken! 


b) Die höchste Stufe der lokomotorischen Orientierungsfähig- 
keit ıst in der mittelbaren oder indirekten Orientierung 


den aktuellen Reiz, welcher die betreffende Phase realisierte, eliminiert. Ich habe 
die Erscheinung, in Ermangelung eines schöneren griechischen Wortes, als „Reiz- 
suchung“ bezeichnet. Dieselbe ist also für das Vorhandensein einer mne- 
mischen Erregung charakteristisch. Das Phänomen wurde u. a. auch von 
Bethe ganz richtig beobachtet, von ihm aber fälschlich als ‚Suchreflex“ bezeichnet. 
9) Forel, A., Das Sınnesleben der Insekten. — Reinhardt, München 1910. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 199 


erreicht. Was wir unter einer solchen zu verstehen haben, ist nach 
allem früher Gesagten ohne weiteres ersichtlich: Im Gegensatze 
zur direkten Orientierung ist hier das Endziel der Lokomotion nicht 
mehr sinnlich, als direkter tropischer Reiz gegeben, sondern im 
„Sensorium“ des Tieres lediglich als Engramm vertreten. Die Ek- 
phorie dieses Zielengramms veranlasst zwar die Lokomotion 
als solche, d. h. sie bildet den inneren Antrieb zu derselben und 
begleitet sie als mnemische Erregung während ihrer ganzen Dauer, 
doch sagt es natürlich an sich gar nichts aus über die reelle räum- 
liche Lage des Zieles und somit auch nichts über die zur Er- 
reichung dieses Zieles einzuschlagende Richtung. Die Richtung 
der Lokomotion, mit anderen Worten die eigentliche Orien- 
tierung (bei der Realisation) wird hier vielmehr mittelbar be- 
stimmt, durch sekundäre intermediäre Komplexe, welche mit 
dem Reizkomplex des Ausgangspunktes einerseits, mit dem des 
Zieles andererseits assoziativ verknüpft sind und zwar, sofern es 
mehrere sind, durch kontinuierliche sukzessive Assoziation !%). Jeder 
dieser intermediären Reizkomplexe hinterließ bei seiner ersten Ein- 
wirkung einen entsprechenden Engrammkomplex und die gesamte 
Reihe dieser letzteren vom Ausgangspunkt bis zum Ziele bildet so- 
mit einen sukzessiv assoziierten Engrammkomplex. Der Vorgang 
der indirekten Orientierung besteht nun darin, dass jeder dieser 
intermediären Komplexe bei seiner aktuellen Wiederkehr zunächst 
das ıhm entsprechende Engramm zur Ekphorie bringt. Die bei 
diesem inneren Vorgang auftretende mnemische Erregung wird als 
mehr oder minder übereinstimmend mit der betreffenden (sekun- 
dären) Originalerregung empfunden; es findet somit eine Deck- 
empfindung (ein „Gleichklang“) zwischen beiden statt, die wir mit 
Semon als identifizierende mnemische Homophonie be- 
zeichnen; oder vulgärpsychologisch als „Wiedererkennung*“. 
Zweitens wirkt aber diese mnemische Erregung ihrerseits auch 
wieder ekphorisch auf das nächstfolgende Engramm der inter- 
mediären Reihe und erzeugt den Trieb, den diesem zweiten En- 
grammkomplex homophonen Reizkomplex mit den Sinnen aufzu- 
suchen: Es kommt zu jener Erscheinung, die wir bereits im vor- 
hergehenden Abschnitt als „Phänomen der Reıizsuchung“ kennen 
gelernt haben. 


10) Die sukzessive Assoziation einer Reihe aufeinanderfolgender En- 
grammkomplexe kommt nach Semon bekanntlich dadurch zustande, dass die auf- 
einanderfolgenden einzelnen Originalerregungen vermittelst ihrer sogen. „akoluten 
Phasen“ (Abklingungsphasen) kontinuierlich ineinander überfließen, derart, dass 
der Beginn jeder nächstfolgenden Erregung zeitlich noch mit dem Abklingen der 
vorausgegangenen Erregung zusammenfällt, also mit ihr „akolut-synchron“ 
ist. Zeitlich weiter auseinanderliegende Originalerregungen können sich somit nicht 
zu einem sukzessiven Engrammkomplex assoziieren. 


200 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


In dieser Weise wird der gesamte intermediäre Komplex vom 
Ausgangspunkt bis zum Ziele sukzessive wieder abgewickelt, wobei 
natürlich dieser mnemische Ablauf in der ursprünglichen Reihenfolge 
stattfinden muss bei einfacher Wiederholung eines „Hinweges“ 
(Reiteration), dagegen in der umgekehrten Folge, sofern es sich 
um einen Rückweg handelt (sukzessive Reversion). 

Die Rückkehr von einer indirekten Fernreise wäre also dem- 
nach ım Prinzip stets eine sukzessive Reversion des Hinweges 
(„Loi du econtre-pied“ von Reynaud!!)). Die theoretische Be- 
gründung dieses — vom rein logischen Standpunkt aus eigentlich 
selbstverständlichen — Mechanismus begegnet aber, namentlich mit 
Bezug auf die Rückkehr von einer Erstreise, doch gewissen 
Schwierigkeiten: Nach Semon ist nämlich der mnemische Ablauf 
sukzessiv assoziierter Engrammkomplexe bekanntlich ein „polar 
ungleichwertiger“, indem sukzessiv erzeugte Engramme weit stärker 
in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufeinander ekphorisch wirken 
als umgekehrt. So wırd z. B. eine in der umgekehrten Tonfolge 
(nach rückwärts) gesungene Melodie niemals erkannt und ebenso 
macht eine bekannte optische Sukzession (z. B. die Bewegungsfolge 
irgendeiner ganz alltäglichen Handlung) einen ganz bizarren Ein- 
druck, wenn sie im Kinematographen nach rückwärts abgewickelt 
wird. Demnach müsste also auch die Rückkehr von einer einiger- 
maßen ausgedehnten Erstreise zum mindesten eine sehr unsichere, 
wenn nicht unmögliche Sache sein, da eben die beim Hinweg suk- 
zessiv angetroffenen optischen Komplexe ın der umgekehrten Reihen- 
folge nicht richtig „assoziiert“ werden können. Allein in Wirklich- 
keit wird eine solche Erstreise niemals auf größere Entfernungen 
ausgedehnt, vielmehr lernen die jungen Tiere die Umgebung ihres 
Nestes nur ganz allmählich auf sukzessive immer weiter ausge- 
dehnten „Orientierungsreisen“ kennen, wobei jede folgende Reise 
den bei der letzten Reise erreichten Endpunkt zu ihrem Ausgangs- 
punkt nımmt!?). Der Endpunkt «a der ersten Reise ist sozusagen 
noch in Sehweite des Nestes gelegen, er wird daher mit dem Kom- 
plex Nest noch akolut-synchron assozuert und die erste Rückkehr 


11) Reynaud, Theorie de l’instinet d’orientation, ©. R. Acad. Sc. 125, 1897. 
— ND’orientation chez les oiseaux, Bull. Inst. gen. Psychol. I, 1902. — Bonnier 
(Revue scientif. 1598) und Pi@ron (Bull. Inst. gen. Psychol. 1904) führten die Er- 
scheinung auf den „Muskelsinn“ zurück, d. h. sie stellten sich vor, dass die Tiere 
beim Rückweg eine minutiöse sukzessive Reversion sämtlicher beim Hinweg evol- 
vierter kinetischer Figuren ausführen. 

12) Dieser Modus ist durch Hachet-Souplet (Annales de Psychol. Zool. 
V, 1902) bei Brieftauben, durch v. Buttel-Reepen (Biol. Centralbl. 1900) bei 
jienen, durch Bates (The Naturalist on the River Amazone, London 1873) und 
C. und E. Peckham (Wisconsin Nat. Hist. 1893) bei anderen fliegenden Hyme- 
nopteren, durch Ernst (Arch. f. d. ges. Psychol. 1910 und 1914) und mich (l. e.) 
bei Ameisen übereinstimmend nachgewiesen worden. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 201 


ist nicht eine sukzessive, sondern eine simultane Reversion des 
akolut-synchronen Engrammkomplexes a—-N. Der nämliche Vor- 
gang wiederholt sich bei der zweiten Reise (von a aus) hinsichtlich 
des Komplexes b und so fort, bis schließlich eine ausgedehnte, 
durch zahlreiche Intermediärkomplexe a—x vermittelte Fernreise 
entsteht. Die sukzessiv assoziierten Intermediärkomplexe 
einer ausgedehnten indirekten Fernreise sind also im 
wesentlichen nichts anderes als die ursprünglichen End- 
etappen der früheren Teilreisen und die indirekte Orien- 
tierung auf Grund sukzessiv assoziierter Engramm- 
komplexe kann in der Weise aus der direkten Orien- 
tierung abgeleitet werden, dass man sie auffasst als eine 
etappenweise fortschreitende Serie direkter ÖOrien- 
tierungen auf diese Intermediärkomplexe, als die ur- 
sprünglichen direkten Ziele’), Und die Rückkehr von 
einer solchen etappenweisen Fernreise ist in Wirklich- 
keit weniger eine unmittelbare Reversion des gesamten 
sukzessiven Engrammkomplexes, als eine Reiteration 
einer zweiten, in der umgekehrten Richtung ablaufenden 
Sukzession, welche ebenso etappenweise wie dieHinweg- 
Sukzession und unabhängig von derselben ım Laufe der 
wiederholten Rückwege erworben wurde. 

Wir gingen bisher von der stillschweigenden Voraussetzung 
aus, dass die indirekte Fernorientierung stets durch mehrere oder 
zahlreiche verschiedene Intermediärkomplexe vermittelt werde. Das 
trifft aber in Wirklichkeit nur in einer sehr beschränkten Zahl von 
Fällen zu, für welche ich allein den Namen des echten, asso- 
zıativen Ortsgedächtnisses reservieren möchte. Unter einem 
echten Ortsgedächtnis wäre also — um eine exakte Definition des- 
selben zu geben — nur diejenige höchste Stufe der indirekten Orien- 
tierungsfähigkeit zu verstehen, welche auf dem Vorhandensein einer 
Sukzession zahlreicher qualitativ verschiedener („differenzierter“) 
Ortsengramme beruht. Der Typus eines solchen Ortsgedächtnisses 
ist die Orientierung des Menschen in den Straßen einer bekannten 
Stadt, nach den zu beiden Seiten sukzessive angetroffenen optischen 
Engrammen der verschiedenen Gebäudekomplexe, verbunden mit 
den kinästhetischen Engrammkomplexen eines Abzweigens bald 
nach links, bald nach rechts, u. s. w. Es ıst klar (und damit haben 
wir eine letzte Eigentümlichkeit dieser differenzierten indirekten 
Orientierung erwähnt), dass bei einem solchen Orientierungsmodus 
die relative Richtung der Orientierung (relativ zum Aus- 


13) Nur mit Hilfe dieser Annahme ist es auch zu erklären, wie diese schein- 
bar ganz zufällig gewählten Intermediärkomplexe, die ja an sich gar nichts mit dem 
Endziel der Reise zu tun haben, überhaupt dazu kommen, als „Anhaltspunkte“ (zur 
Agnostizierung des Weges bis zu diesem Ziele) zu dienen. 


202 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete. 


gangspunkt oder zum Ziele) unter allen Umständen un- 
mittelbar eindeutig bestimmt wird durch die zeitliche 
Folge der verschiedenen Engrammkomplexe, d. h. durch 
ihre Ablaufsrichtung. — 

In zahlreichen einfacheren Fällen genügt aber schon ein ein- 
ziges intermediäres Richtungszeichen, um die indirekte Orientierung 
zu ermöglichen, nämlich dann, wenn dieses Richtungszeichen die 
gesamte Strecke vom Ausgangspunkt bis zum Ziele als stabiler 
Komplex begleitet. Das ist z. B. der Fall bei einer Ameisenstraße, 
die von dem am Fuße einer Mauer gelegenen Nest N dieser Mauer 
entlang zu einem Blattlausstrauche 1 führt (Fig. 1). 





Fig. 1. 


Es ist klar, dass ein so beschaffener gleichförmiger Komplex 
nur in globo, in einer zeitlichen Phase engraphiert wird; er hinter- 
lässt einen einphasigen (globalen) Engrammkomplex, zum 
Unterschied von den mehrphasigen (differenzierten) Komplexen, auf 
denen das echte, sukzessiv assozierte Ortsgedächtnis beruht. 

In dem soeben angeführten Beispiel wird die globale Orien- 
tierung durch die Mauer gleichsam kanalısiert; wir können deshalb 
diese Form füglıch als kanalisierte Orientierung bezeichnen. 
In diese Kategorie gehören offenbar alle Fälle, bei denen sich die 
Orientierung auf räumlich vorgezeichneter Bahn bewegt, sei 
es, dass wirkliche gebahnte Straßen oder räumliche Wegmarken 
aller Art: Fußspuren, Geruchsfährten, bestimmte topographische 
Linien, wie Mauern, Flussufer o. dgl. als orientierendes Merkmal 
benutzt werden. Das Gemeinsame aller dieser Fälle liegt darin, 
dass hier der orientierende globale Reizkomplex in unmittelbarer 
Nähe der rezipierenden Sinnesflächen (Augen, Geruchs- und Tast- 
organe) gelegen ist, so dass schon eine geringe seitliche Abweichung 
das Tier außerhalb des Wirkungsbereiches der betreffenden Reiz- 
quelle bringt und es daher notwendigerweise vollständig desorien- 
tieren muss. 

Ganz anders verhält sich die Sache in denjenigen Fällen, wo 
die Quelle des globalen Orientierungsreizes sich ın relativ unend- 
licher Entfernung von den aufnehmenden Sınnesflächen befindet. 
Typische Beispiele hierfür sind die Orientierung nach den magne- 
tischen Polen (d.h. nach dem Kompass) und nach einer entfernten 
Lichtquelle, z. B. nach der Sonne. Die relativ unendliche Ent- 
fernung dieser Reizquellen bedingt einerseits eine ÜUbiquität der 
von ihnen ausgehenden Reizwellen und anderseits, dass diese letz- 
teren innerhalb sehr weiter (praktisch unendlich weiter) Grenzen 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 203 


u 


in allen von ihnen getroffenen Punkten parallel einfallen. Infolge- 
dessen wird hier selbst eine sehr bedeutende seitliche Abweichung 
(z. B. experimentell vermittelst seitlichen Transportes des Tieres) 
an der absoluten Richtung der Orientierung offenbar gar nichts 
ändern: Das Tier (oder, bei der Kompassorientierung: das Schiff) 
wird seinen bisherigen Kurs beibehalten; es wird mit anderen Worten 
eine Scheinorientierung oder virtuelle Orientierung 
(Santschi)'*) ausführen, deren absolute Richtung der früher einge- 
haltenen genau parallel sein wird und die daher wohl sehr exakt 
ist hinsichtlich der räumlichen Lage der benutzten intermediären 
Orientierungsquelle, nicht aber mit Bezug auf das erstrebte reelle 
Ziel. Daraus folgt, dass eine solche „freie“ Orientierung (im 
Gegensatz zur eben besprochenen kanalisierten Orientierung) nur 
so lange eine reelle sein wird (mit Bezug auf ein bestimmtes Ziel 
in der Außenwelt), als die räumlich-kinetische Kontinuität der Reise 
streng gewahrt bleibt. — 

Noch auf eine letzte wichtige Erscheinung möchte ich hier auf- 
merksam machen. Wir haben gesehen, dass bei der indirekten 
Orientierung auf Grund mehrphasiger (differenzierter) Komplexe 
die relative Richtung eindeutig aus der zeitlichen Reihen- 
folge der verschiedenen Intermediärkomplexe hervorgeht. Bei der 
einphasigen, globalen Orientierung kann dies natürlich schon des- 
halb nicht der Fall sein, weil hier ja entweder nur ein einziger 
globaler Komplex vorhanden ist, oder, falls eine Sukzession besteht 
(wie z. B. bei einer kontinuierlichen Fußspur), die sich folgenden 
Einzelkomplexe vollkommen gleichförmig beschaffen sind. Wenn 
nun trotzdem auch hier die relative Richtung der Fortbewegung in 
den meisten Fällen unmittelbar eindeutig bestimmt erscheint (man 
denke wieder an das Beispiel der Fußspurfährte!), so kann dies 
nur auf der räumlichen Anordnung der betreffenden Komplexe 
beruhen, oder, physiologisch ausgedrückt: auf der Art ihrer sinn- 
lichen Lokalisation. Und in der Tat finden wir in allen Fällen, 
wo ein glohaler Komplex eine eindeutige relative Richtungsangabe 
vermittelt, dass die betreffenden Reize asymmetrisch auf 
scharf umschriebenen Sinnesflächen lokalisiert sind und 
daher bei der Rückkehr eine sinnliche Reversion auf die 
korrespondierenden, bezw. diametral symmetrischen 
Sinnesflächen der anderen Seite erfahren. Überall dort 
dagegen, wo dies nicht der Fall ist — so vor allem bei diffuser 
oder bilateral-symmetrischer Lokalisation — erscheint die globale 
Orientierung mit Bezug auf ihre relative Richtung im Prinzip zwei- 
deutig determiniert (Gesetz der sinnlichen Reversion). So 


14) Santschi, F., Comment s’orientent les Fourmis. — Revue Suisse de 
Zoologie 21, 1913. 


204 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


sind in unserem ersten Beispiel von der eine Mauer flankierenden 
Ameisenstraße (Fig. 1 S. 202) die beiden Richtungen dieser Straße 
— nach den Blattläusen, nach dem Nest — an jedem Punkte ein- 
deutig bestimmt infolge der asymmetrischen Lokalisation des ein- 
phasigen Orientierungskomplexes der Mauer. Alle vom Nest nach 
den Blattläusen wandernden Ameisen fühlen nämlich diese Mauer 
mit dem rechten Fühler und sehen sie mit dem rechten Fazetten- 
auge; bei der Rückkehr dagegen nehmen sie den Komplex mit den 
entsprechenden Sinnesflächen der anderen Körperseite wahr. Falls 
sie nun diese konstanten asymmetrischen Lokalisationen mit den 
entsprechenden Zielengrammen assoziieren, so werden sie offenbar 
jederzeit wissen, ın welcher der beiden Richtungen das Nest, in 
welcher der Blattlausstrauch liegt. Nun nehmen Sie aber an, die 
Ameisenstraße verlaufe wie ein Hohlweg zwischen zwei ganz 
gleichen Mauern. Dann empfangen die links- und rechtsseitigen 
Sinnesorgane genau identische und symmetrische Eindrücke, welche 
eine sinnliche Reversion im obigen Sinne nicht zulassen. Würde 
man also eine Ameise von einer solchen Straße abfangen und 
nach einiger Zeit wieder zurückversetzen, so wäre sie zweifellos 
unfähig, auf Grund dieser symmetrischen globalen Komplexe zu 
entscheiden, in welcher Richtung das Nest und in welcher der 
Blattlausstrauch liegt und wäre somit genötigt, irgendeine der beiden 
Strecken aufs Geratewohl zu verfolgen, um erst am Ende des Kom- 
plexes zu erkennen, ob sie zufällig richtig oder falsch gegangen 
ist. — Genau das gleiche Prinzip gilt mutatis mutandis auch für 
alle übrigen einphasigen Orientierungskomplexe, kanalisierende wie 
freie: Eine Orientierung nach dem Kompass, nach einer entfernten 
Lichtquelle wird hinsichtlich ihrer relativen Richtungen immer ein- 
deutig bestimmt sein; wären dagegen zwei genau symmetrisch 
lokalisierte Lichtquellen vorhanden oder würden auf dem Kompass 
die Bezeichnungen für die Himmelsgegenden N—S fehlen, so wäre 
die Orientierung lediglich hinsichtlich ihrer absoluten Richtungs- 
achse bestimmt. Eine Fußspur oder eine Wegmarkierung durch 
rote Pfeile stellt einen Orientierungskomplex dar, dessen einzelne 
Richtungszeichen sinnlich polarisiert sind; würde die Weg- 
markierung einfach aus gleichartigen roten Strichen, statt Pfeilen 
bestehen, so wäre sie hinsichtlich der relativen Richtungsanzeige 
offenbar wertlos. Ebenso könnte eine vollkommen homogene Ge- 
ruchsspur, deren kleinste chemische Teilchen auf jeder Teilstrecke 
qualitativ und quantitativ gleichartig wären’), niemals eine rela- 
tive Richtungsanzeige vermitteln. — 

Zum Schluss noch einige allgemeine Bemerkungen über den 


15) Wir werden später sehen, dass dies bei den Geruchsfährten der Ameisen 
nur für gewisse Fälle zutrifft. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 205 


mnemischen Mechanismus und die biologische Bedeutung der indi- 
rekten Orientierung. 

Was zunächst die Natur des Engrammschatzes anbetrifft, auf 
dem sich die indirekte Orientierung aufbaut, so dürfte klar sein, 
dass derselbe im wesentlichen der im individuellen Leben er- 
worbenen (plastisch-assoziativen) Mneme angehören muss. 
Für die mehrphasige Orientierung (differenziertes Ortsgedächtnis) 
ist dies eigentlich selbstverständlich, indem der Standort des Nestes, 
in dem die verschiedenen Generationen zur Welt kommen, doch 
innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte fortwährendem Wechsel 
unterworfen ist. Aber auch von den einphasigen Intermediär- 
komplexen muss für gewöhnlich von jedem Individuum — oft sogar 
für jede einzelne Reise!®) — ein mit Bezug auf seine jeweilige sinn- 
liche Lokalisation besonderes Engramm erworben werden, — 
wennschon natürlich die Disposition, sich vorzugsweise nach 
diesen oder jenen globalen Intermediärkomplexen (z. B. nach der 
Sonne) zu orientieren, als solche eine hereditär fixierte sein kann. 
Das letztere gilt auch für die Ekphorie des „Zielengramms“: Es 
wäre z. B. denkbar, dass sowohl das Zielengramm „Nest“ als das- 
jenige gewisser Nahrungsquellen, wie Blattläuse, bei Wiederkehr 
bestimmter Situationen primär-instinktiv zur Ekphorie gelangen 
würde. 

Die biologische Bedeutung der indirekten Orien- 
tierungsfähigkeit liegt auf der Hand: Beı Tieren, die ohne 
festen Wohnsitz frei herumschweifen, reicht die direkte Orientierung 
natürlich zur Bestreitung aller Lebensbedürfnisse vollkommen aus. 
Anders bei den nestbauenden, und ganz besonders bei den 
sozialen Tieren; da wird die indirekte Orientierungsfähigkeit, 
infolge der Notwendigkeit, von allen Streifzügen immer wieder zu 
einem bestimmten Wohnsitz zurückzukehren, zur notwendigen 
Existenzbedingung. Sie ist denn auch hier, wenn auch viel- 
fach erst in ihren primitiveren Formen, wohl überall ohne Aus- 
nahme nachweisbar. 

Natürlich erfordert die Leistung einer indirekten Orientierung 
auf Grund individuell erworbener Engrammassoziationen weit mehr 
Hirnsubstanz, oder — physiologisch ausgedrückt -—— das Vorhanden- 
sein von weit komplizierteren Erregungsbögen, als die Abwicklung 
einer auf festgefügten hereditären Mechanismen beruhenden direkten 
Orientierung, wie ja überhaupt selbst die kompliziertesten Instinkte 
mit einem viel geringeren Aufwand von Neuronkomplexen arbeiten, 
als verhältnismäßig einfache plastische Leistungen. Doch darf auf 
der andern Seite die bei der indirekten Fernorientierung jeweilen 
aktuell geleistete Nervenarbeit auch nicht überschätzt werden; — 


16) So z. B. bei der Orientierung nach der Sonne. 


206 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete. 


kann doch selbst eine so ungeheuer komplizierte Sukzession asso- 
ziierter optischer, kinetischer und akustischer Engrammkomplexe, 
wie der tägliche Gang ins Geschäft, ın einer Großstadt, nach häufiger 
Wiederholung fast unbewusst sich abwickeln! Diese sekundäre 
Automatisierung ursprünglich hochbewusster plastischer Engramm- 
komplexe ist eine der interessantesten Erscheinungen auf dem Ge- 
biete der Biologie der Mneme; sie beruht in erster Linie auf dem 
Gesetz der Ekphorie, nach welcheın schon die partielle Wieder- 
kehr eines kleinen Bruchteils desjenigen Erregungskomplexes, 
welcher vormals engraphisch gewirkt hatte, genügt, um den ge- 
samten sukzessiv assoziierten Engrammkomplex zu reaktivieren, 
indem die sukzessive Ekphorie gleichsam „wie ım Lauffeuer“, 
autonom sich von einem Engramm aufs andere ausbreitet. 


Damit sind wir am Ende unserer theoretischen Betrachtungen 
angelangt. Wenn dieselben vielleicht auch vielfach äußerlich einen 
etwas abstrakt-philosophischen Charakter hatten, so sind sie doch 
nichts weniger als sterile Spekulationen: Ich hoffe vielmehr, Sie im 
zweiten, experimentellen Teil meines Vortrages hinlänglich davon 
überzeugen zu können, dass alle die soeben erörterten psychobio- 
logischen Mechanismen auch ın der Natur mit eben der strengen 
Gesetzmäßigkeit sıch abspielen, wie wir sie hier zunächst rein theore- 
tisch-logisch abgeleitet haben und dass die stete Vergegenwärtigung 
dieser Gesetzmäßigkeiten auch für die fruchtbare experimentelle 
Analyse der oft sehr verwickelten Einzelfälle von eminenter 
praktischer Bedeutung ıst. Dabei ist aber allerdings nie zu 
vergessen, dass die Natur auch hier meist mit mannigfachen Mitteln 
arbeitet, indem bei der Fernorientierung nicht allein der höheren 
Tiere, sondern auch der Ameisen, viele jener, aus Gründen der 
Einfachheit für sich analysierten Mechanismen ständig in den mannig- 
fachsten Kombinationen bald simultan, bald sukzessiv assozuert 
zusammenwirken. 


Biologische Einteilung der Orientierungsphänomene. 
I. Propriozeptive (absolute) Orientierung. 
1. Statisch-propriozeptive Orientierung. 
a) Plasmostatische O. (axotropische Wachstumseinstel- 
lungen). 
b) Neurostatische ©. (statotonische Reflexapparate). 
2. Dynamisch-propriozeptive (kinästhetische) Orientierung. 
a) Passive Kinästhesie. 
a) Passive Lageveränderungen der Körperachse: Vesti- 
bularsınn. 
P) Passive Lageveränderungen einzelner Glieder: Passiver 
Lagesinn, insbesondere: Myostatischer Sinn. 


Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen etc, 207 


b) Aktive Kinästhesie: Myodynamischer Sinn, Schwere- 
und Kraftsinn (Barästhesie), Ermüdungssinn (sogen, 
Strecken- oder Podometersinn). 

II. Exterozeptive (relationelle) Orientierung. 
1. Orientierungsbewegungen einzelner Gliedmafsen. 

a) Exterozeptive Orientierungsreflexe. 

b) Spontane Zielbewegungen. 

2. Orientierte Lokomotion (Fernorientierung). 

a) Unmittelbare (direkte) Fernorientierung. 

a) Auf Grund hereditär-mnemischer Automatismen (Tro- 
pismen, Reflex- und Instinktautomatismen). 

ß) Auf Grund individuell erworbener (plastischer) En- 
grammkomplexe. 

b) Mittelbare (indirekte) Fernorientierung. 

a) Vermittelst einphasiger (globaler) Intermediärkomplexe 
(sinnlich reversible — irreversible), 
kanalisierte Orientierung, 
freie Orientierung. 
ß) Vermittelst mehrphasiger (differenzierter) Intermediär- 
komplexe (echtes Ortsgedächtnis). (Schluss folgt.) 


E. Wasmann. Das Gesellschaftsleben der Ameisen. 
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten 
und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Beiträge 
zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. 
Zweite, bedeutend vermehrte Auflage. — 1. Band. Mit 7 Tafeln und 16 Figuren 
im Texte. — Aschendorff’sche Verlagsbuchhandlung, Münster (Westf.), 1915. 

Das neue Buch Wasmann’s, dessen I. Band mir vorliegt, ist 
zum großen Teil eine zweite, erweiterte Auflage verschiedener Ab- 
handlungen des hochverdienten und unermüdlichen Forschers des 
Lebens der Ameisen und ihrer Gäste. Er hat, wie er selbst ın dem 
Vorwort schreibt, dieselben nicht zu einem neuen Buch etwa nach 
Art von Wheeler’s Werk „Ants“ umarbeiten, sondern in ihrer 
historischen Reihenfolge unter einem neuen Titel zusammenfassen 
wollen. 

„Der Plan des vorliegenden Werkes ist somit folgender: Wegen 
seines 800 Druckseiten übersteigenden Umfangs musste es in zwei 
Bände geteilt werden. Der vorliegende I. Band enthält den I. und 
II. Teil, der im nächsten Jahre folgende II. Band wird den II. 
und IV. Teil enthalten.“ 

„Der I. Teil ist die Neuauflage der ‚ZZusammengesetzten 
Nester und gemischten Kolonien‘ von 1891. Auf besonderen 
Wunsch mehrerer Fachkollegen wurden, um das Nachschlagen und 
Zitieren zu erleichtern, die Seitenzahlen der ersten Auflage beibe- 
halten. Die neuen Zusätze sind auf die allernotwendigsten Ergän- 


208 Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen ete. 


zungen beschränkt, die in eckigen Klammern teils im Texte, teils 
in den Anmerkungen beigefügt sind.“ 

„Der II. Teil ıst die zweite Auflage meiner 1901—1902 in der 
‚Allgemeinen Zeitschrift für Entomologie‘ erschienenen Abhandlungs- 
serie ‚Neues über die zusammengesetzten Nester und die 
gemischten Kolonien der Ameisen‘. Dieser Teil ist inhaltlich 
um mehr als die Hälfte des früheren Umfangs durch neue seit- 
herige Beobachtungen vermehrt und hat fünf neue photographische 
Tafeln erhalten.“ 

„Der III. Teil (im 1I. Bande) enthält meine gesammelten Bei- 
träge zur Stammesgeschichte der sozialen Symbiose, die 
von 1905—1915 im ‚Biologischen Centralblatt‘ und anderen Fach- 
zeitschriften erschienen. Auch dieser Teil ist inhaltlich stark ver- 
mehrt und mit kritischen Bemerkungen über den Fortschritt unserer 
Anschauungen versehen. Er wird ferner ebenfalls eine Reihe neuer 
photographischer Tafeln erhalten.“ 

„Der IV. Teil (im II. Bande) wird ganz neu sein. Er soll 
eine zusammenfassende Übersicht des gegenwärtigen 
Standes unserer Tatsachenkenntnis über die soziale Sym- 
biose bei den Ameisen, sowie eine kritische Zusammen- 
fassung derstammesgeschichtlichen Hypothesen aufdiesem 
Gebiete enthalten. Ein ausführliches Literaturverzeichnis wird 
den Schluss dieses Teiles bilden.“ 

Die einzelnen Serien von Abhandlungen, welche die ersten drei 
Teile bilden, führen den Leser durch des Verfassers Darstellungen 
der eigenen oder fremden Beobachtungen, theoretischen Zusammen- 
fassungen und Hypothesen und veranschaulichen, wie er das höchst 
umfangreiche und mannigfache Material behandelt, eigenartige An- 
schauungen entwickelt und Polemik gegen abweichende Ansichten 
geführt hat. 

Zwischen der Veröffentlichungszeit des I. und des II. Teils be- 
steht ein Raum von etwa 10 Jahren. Unterdessen hat die Ent- 
deckung des temporären Parasıtismus einer Reihe von Ameisen bei 
der Gründung ihrer Gesellschaften stattgefunden, welche viele Fälle 
von gemischten Gesellschaften in einem ganz neuen Licht erscheinen 
lassen. Der IIl. Teil wird hauptsächlich veranlasst durch die theo- 
retischen Folgen obiger Tatsache und durch die neue Debatte über 
die Entstehung der Sklaverei und des Parasıtismus bei den Ameisen, 

Nach den Zusätzen zu urteilen, welche Verfasser zur neuen 
Auflage eingeschaltet hat und die fast ausschließlich tatsächlichen 
Inhalts sind oder Detailansichten betreffen, darf man schließen, 
dass er seine damaligen allgemeinen und speziellen Anschauungen 
nicht wesentlich geändert hat. 

Ref. ist in mehreren fundamentalen Anschauungen bekanntlich 
mit dem Verf. durchaus nicht einverstanden; aber eine Polemik 
hier anzuknüpfen, wäre nıcht am Platze. C. Emery. 





Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Dre = m bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Centralblatt 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 


Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13, 
einsenden zu wollen. 


BEXXXV 20. Mai 1915. M 5. 


Inhalt: Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? — Brun, 
Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller Forschungen bei 
den Ameisen. — Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen 
Mitteln ersetzen? — Nöller, Die Ubertragungsweise der Rattentrypanosomen. — Lindau, 
Kryptogamenflora für Anfänger. 























Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei 
Orchideenluftwurzeln? 
(Mit 10 Abbildungen im Text.) 
Von K. Goebel. 


Die Luftwurzeln mancher Orchideen weisen sehr eigenartige 
und für allgemein morphologische Fragen wichtige Gestaltungs- 
verhältnisse auf. 

Wir sehen dabei ganz ab von der aus toten Zellen bestehenden 
Wurzelhülle, dem oft besprochenen „Velamen“, ferner der Tat- 
sache, dass diese Wurzeln, soweit sie dem Lichte ausgesetzt sind, 
wohl alle Chlorophyll bilden (was bei gewöhnlichen Erdwurzeln 
nur ausnahmsweise, z. B. bei Menyanthes trifoliata der Fall ıst) und 
berücksichtigen ausschließlich die Symmetrieverhältnisse. Während 
die Erdwurzeln mit einigen Ausnahmen!) radıär sind, finden sich 
unter den Örchideenluftwurzeln, wie zuerst Janczewskı?) nach- 


1) Z. B. Isoötes (vgl. Goebel, Organographie der Pflanzen I, 2. Auflage 
(1913), p. 307. 
2) Ed. de Janczewski, Organisation dorsiventrale dans les racines des 
Orchidees. Ann. des science. nat. Bot. 7%me serie, t. 2 (1855). 
XXXV. 14 


910 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


wies, solche, die auffallende Dorsiventralität zeigen. Diese äußert 
sich in der Gestalt und im anatomischen Bau. Die dorsiventralen 
Wurzeln pflegen nicht rund, sondern mindestens auf einer Seite 
abgeflacht zu sein, was bei manchen so weit geht, dass sie mit 
Blättern verwechselt wurden’). 

Im anatomischen Bau ist die Lichtseite der Wurzeln ausge- 
zeichnet vor allem dadurch, dass die Zellen hier stärkere Wand- 
verdickung zeigen und dass die Wurzelhülle auf dieser Seite der 
einen ihrer Funktionen, der der Wasseraufsaugung ganz oder fast 
ganz entzogen ist — andere Verschiedenheiten werden sich aus 
dem Folgenden ergeben. 

Nun fand Janczewskiı, dass bei zwei dorsiventralen Orchideen- 
luftwurzeln (denen von Epidendrum nocturnum und Sarcanthus 
rostratus*)) die dorsiventrale Ausbildung durch das Licht bedingt 
ıst, also verschwindet, wenn man die Wurzeln im Dunkeln sıch 
weiter entwickeln lässt. Bei andern aber gelang dieser Nachweis 
nicht, die Wurzeln behielten auch an den im Finstern neu zuge- 
wachsenen Teilen ihre dorsiventrale Struktur beı. 

Da nun zweifellos alle diese Wurzeln ursprünglich radıär waren und 
die dorsiventrale Ausbildung erst in Verbindung mit der epiphytischen 
Lebensweise angenommen haben, so schienen hier zwei Fälle vor- 
zuliegen: Der einer „induzierten“ Dorsiventralität bei Epedendrum 
nocturnum, Sarc. rostratus und Sarc. Parishü, der einer „auto- 
nomen“ bei Aeranthus fasciola, Phalaenopsis und Taeniophyllum. 

Nichts lag näher, als anzunehmen, dass hier vielleicht ein Bei- 
spiel für die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ vorliege, indem 
ein ursprünglich induziertes Gestaltungsverhältnis später autonom 
geworden sei. In dieser Richtung ist auf das Verhalten der Orchi- 
deenluftwurzeln hingewiesen worden vom Verf.?) und von Francis 
Darwin®). Die nähere Untersuchung von zwei der obengenannten 
Orchideen zeigte indes, dass eine solche Annahme nicht haltbar ist, 
dass vielmehr auch hier induzierte Dorsiventralität vorliegt. 

Das mag ım folgenden näher erläutert werden. 


1. Phalaenopsis. 
Die einzelnen Arten dieser Gattung verhalten sich bezüglich 
der Gestaltung ihrer am Lichte wachsenden Wurzeln verschieden’). 


3) Auf eine andere Ausbildung der Dorsiventralität, welche sich dadurch 
äußert. dass die dem Substrat anliegende Wurzelseite abgeflacht und schwächer ent- 
wickelt ist, soll hier nicht eingegangen werden (vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilde- 
rungen, p. 195, Fig. 87 B). 

4) Ebenso verhält sich Sarcanthus Parishii (vgl. Goebel, Pflanzenbiol. 
Schilderungen, p. 351). 

5) Goebel, Organographie, 1. Aufl., 1I, 285. 

6) Fr. Darwin, Presidents address, British Assoc. for the advanc. of science. 
Dublin 1908. 

7) Vgl. Goebel, Organographie, 1. Aufl., p. 485, Fig. 36. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 211 


Bei Ph. Esmeralda sind die Wurzeln radıär, bei Ph. Lüddemanniana 
deutlich, bei Ph. Schilleriana und Ph. amabils sehr bedeutend ab- 
geflacht; das chlorophyllhaltige Rindengewebe ist flügelartig auf 
beiden Flanken der Wurzel in die Breite entwickelt. 

Licht- und Schattenseite sind verschieden: 1. Im Bau des 
Velamens. 2. In dem der unter dem Velamen liegenden Zellschicht, 
der „Exodermis“ (Abbildungen bei Janezewskia.a.O. und Goebel, 
Organogr., 1. Aufl., p. 485). Auf anatomische Einzelheiten braucht 
hier nicht eingegangen zu werden. Es sei nur erwähnt, dass das 
„Velamen“ auf der Schattenseite aus zwei Schichten dünnwandiger, 
Wasser aufsaugender Zellen besteht und 
dass dort allen die „Durchlüftungs- 
streifen“ vorkommen, welche durch ıhren 
Luftgehalt hervortreten, wenn die übrigen 
Zellen mit Wasser gefüllt sind. An der 
Oberseite ist die innere Zellschicht des 
Velamens stark verdickt, Wasserauf- 
saugung kommt hier nicht mehr in Be- 
tracht. 

Die Exodermiszellen der Oberseite 
sind gleichfalls mit ungemein stark ver- 
dickten Außenwänden versehen. Außer- 
dem sınd sie länger als die Exodermis- 
zellen der Unterseite (vgl. Fig. 1 / und II) 
und es sind zwischen ihnen viel weniger Fig. 1. Phalaenopsis Schil- 
„Durchlasszellen“ vorhanden. leriana. Flächenschnitt der 

So bezeichnet man bekanntlich kurze, Exodermis. /der Ober-, II der 

s < - Unterseite bei gleich starker 
protoplasmahaltige Zellen, welche Ne ene D. Durchlass- 
schen die toten Exodermiszellen einge- zllen. 
streut sind. Man nimmt von ihnen wohl 
mit Recht an, dass sie den Übertritt von Wasser und darin ge- 
lösten Nährstoffen aus dem Velamen in die Zellen der Wurzelwände 
vermitteln °). 

Die Bedeutung der Dorsiventralität in teleologischer Beziehung 
ist klar: Die Lichtseite ist gegen Transpiration geschützt, die 
Schattenseite besorgt die Wasseraufnahme, dementsprechend sınd 
hier auch die Durchlüftungsstreifen und zahlreiche Durchlasszellen. 

Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Phal. amabilis außer 
den dorsiventralen Lichtwurzeln auch radiäre Wurzeln ım Substrat 
vorkommen, vermutete Janezewski, dass die Dorsiventralität der 
Phalaenopsis- Wurzeln eine induzierte sei. 

Auf Grund der Beobachtung, dass ein in einer verfinsterten 
Glasröhre neu zugewachsenes, mehrere Zentimeter langes Stück 





8) Sie zeigten bei Dendrobium nobile einen wesentlich höheren osmotischen 
Druck als die Rindenzellen (25: 10 Atmosph.). 
14* 


21 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


einer Phalaenopsis-Wurzel noch ebenso abgeflacht war wie am Lichte 
und (abgesehen von durch die feuchte Umgebung bedingten Verschie- 
denheiten gegenüber der Lichtwurzel) noch einen dorsiventralen Bau 
aufwies, glaubte ich früher, dass bei Ph. Schilleriana die Abflachung 
der Wurzel nicht durch das Licht bedingt seı. 

Das war indes ein durch zu kurze Dauer des Versuchs be- 
dingter Irrtum. Später ergab sich folgendes’): „Eine in eine ver- 
dunkelte Glasröhre eingeführte Wurzel hatte in 3!/, Monaten in 
dieser ein neues Stück von 14 cm Länge gebildet. 6 cm lang war 
die Abflachung noch deutlich erkennbar, dann verlor sie sich, die 
Wurzel wurde fast zylindrisch. Auch die Verteilung der Durch- 
lüftungsstreifen auf die Unterseite verlor sich.“ Es war die Wurzel 
also bei Lichtabschluss radiär geworden, bezw. radiär geblieben. Nur 
war eine länger dauernde „Nachwirkung“ zu überwinden, ehe die 
Dorsiventralität verschwand. Hinzugefügt sei, dass auch eine Um- 
kehrung der Dorsiventralität leicht gelingt. 

Am 15. Februar wurde eine Wurzel von Phal. Schilleriana um 
180° gedreht auf einem feucht gehaltenen Holzstück befestigt. 

Am 9. April ergab die Untersuchung, dass die Wurzel in der 
alten Farbe (welche der Unterseite, die jetzt nach oben gekehrt 
war, eigentümlich ist) 3,5 em lang weiter gewachsen war. 

Auch hier also wirkte die Induktion längere Zeit nach. Daran 
schloss sich ein mit dunkler Farbe (beruhend auf Anthocyanbil- 
dung in den oberen Schichten) versehenes Stück von 2 cm Länge. 
An diesem war die frühere Unterseite anatomisch als Oberseite 
ausgebildet. Das ergab sich vor allem aus Gestalt und Ver- 
dickung der zweiten Velamenschicht, welche sich der für die Ober- 
seite eigentümlichen Ausbildung näherte. Dagegen waren die 
Exodermiszellen auf der neuen Oberseite noch dünnwandig, ohne 
Zweifel aber würde bei weiterem Fortwachsen auch hier die für 
die Oberseite charakteristische starke Wandverdickung einge- 
treten sein. 

Auf der jetzigen Unterseite dagegen hatte das Velamen den 
Bau der Schattenseite angenommen. 

Andere Wurzeln zeigten, dass man auch eine der Flanken zur 
Ausbildung als Oberseite oder Unterseite veranlassen kann. 

Die Wurzeln werden also, was die Lage der Licht- und Schatten- 
seite anbetrifft, nicht dauernd induziert, sie bleiben ohne einseitige 
Beleuchtung radıär und können eine beliebige Seite als Licht- oder 
Schattenseite ausbilden. Ob es möglich ıst, durch gleichstarke Be- 
leuchtung von zwei entgegengesetzten Seiten hier etwa zwei Licht- 
seiten auszubilden, wurde nicht untersucht. 


9) Goebel, Organogr., 2. Aufl. (1913), p. 310. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 913 


2. Taeniophyllum. 


Taeniophyllum ist eine höchst interessante, auf Baumstämmen 
als Epiphyt wachsende Orchidee. 

In der Umgebung von Buitenzorg ist Taeniophyllum Zollingeri 
häufig namentlich auf Palmstämmen, sie ist dort vom Verf.!%) und 
Wiesner!) untersucht worden. 

Merkwürdig ist die Pflanze dadurch, 
dass die Blätter zu kleinen Schuppen ver- 
kümmert sind, welche nur noch für den 
Schutz der Stammknospe, nicht mehr aber 
für die Kohlenstoffassimilation in Betracht 
kommen. Diese wird ausschließlich von 
den Wurzeln besorgt, deren Chlorophyll- 
gehalt und starke Abflachung bedingten, 
dass Blume, welcher die Gattung auf- 
stellte, die Wurzeln für Blätter hielt (vgl. 
das Habitusbild Fig. 2). 

Es gibt ım malaischen Florengebiet 
eine Anzahl von Arten, die sich insofern 
nicht ganz gleich verhalten, als bei den 
einen, z. B. T. Zollingeri und T. philippinense 
(Fig. 2), die Wurzeln dem Substrat — Baum- 
rınden — fest angedrückt sınd, bei den 
andern, namentlich Gebirgsbewohnern, da- 
gegen frei herabhängen. Selbstverständlich 
wirken äußere Faktoren dabei mit: 7. phi- 
Iippinense, das ıch (durch die Güte des Herrn 
A. Loher in Manila) nur mit anliegenden 
Wurzeln erhalten hatte, bildete nach einiger 
Zeit in einem feuchten Gewächshaus auch 
von dem Stück Holz, auf dem die Pflanze 
wuchs, abstehende Wurzeln. 

Im Gegensatz zu den europäischen 
Orchideen gehört Taeniophyllum zu den 
Angehörigen dieser großen Familie, bei denen EM 

2 ar ? ; lippinense. 
man Keimpflanzen häufig antrifft. Die Ver- Blübönden pie nat 
mehrung durch Samen ist hier die einzige, de an: ehem, ein. 
Einrichtungen zu ungeschlechtlicher Ver- 
mehrung, wie sie z. B. unsere erdbewohnenden Orchideen durch 
ihre Knollen u. s. w. besitzen, fehlen hier vollständig. 





Fig. 2. Taeniophyllum phi- 


10) Goebel, Pflanzenbiologische Schilderungen, I (Marburg 1889), p. 193. 

11) Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg, VI. Zur 
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri. Sitz.-Ber. d. Kais. Akad. d. Wiss. in 
Wien, Math. Phys. Klasse Bd. CVI, 1897. 


914 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Schon die Keimung ist sehr merkwürdig '?), und zwar einer- 
seits durch die Gestaltung des Hypokotyls, dann durch seine Haft- 
organe und endlich durch das Verhalten des Kotyledons. 

Da der Keimling zunächst ganz wurzellos ist, muss das Hypo- 
kotyl die Anheftung an einer Baumrinde besorgen. 

Demgemäß ist es dorsiventral entwickelt, während es bei 
aufrecht keimenden Orchideen radıär ist. 

Die dem Substrat anlıegende Seite ist als „Sohle“ ausgebildet, 
die dem Lichte zugekehrte annähernd messerklingenförmig (vgl. 
Fig. 3). Das Gewebe ist also zum Lichte in „Profilstellung“ '?). 
Es ist klar, dass es für einen wurzellosen, einer Palmenrinde ange- 
klebten Keimling, der zur Wasseraufnahme auf die „Wurzelhaare“ 
seiner Sohle angewiesen ist, von Vorteil sein wird, dass er nicht 
allzuviel transpiriertt und doch seine Assimilations- 
fläche nicht zu klein ausfällt. Das wird durch deren 
Profilausbildung erreicht. Dass die Dorsiventralität 
des Hypokotyls mit den Lebensverhältnissen zusammen- 
hängt, ist also klar. Wie weit diese vom Lichte ab- 
hängig ist, bleibt zu untersuchen. Eine Beeinflussung 
erscheint mir wahrscheinlich, wenn auch vielleicht 
die dorsiventrale Ausbildung selbst nicht davon ab- 
hängt. Es wäre sehr interessant, die Keimlinge bei 
Liehtabschluss mit Zuckerernährung zu erziehen — 
Fig.3. Taenio- falls dies möglich ist. Es könnte ja schon die Keimung 
phyllum Zol- vom Lichte abhängen. 
lingeri. Quer- Jedenfalls gewinnt im Freien der Keimling die 
schnitt durch Baumaterialien, welche zu dem länger dauernden 
ein Hypokotyl. 3 3 
Die ee Heranwachsen des Hypokotyls notwendig sind durch 
Zonepunktiert. eigene Assimilation. Wie weit daran der Pilz, der 

in der dem Substrat zugekehrten Seite des Hypokotyls 
sich einfindet, beteiligt ıst, ist noch nicht untersucht. 

Der Kotyledon ist als ein leitbündelloses Anhängsel am Ende 
des Hypokotyls wahrnehmbar. 

Die Spaltöffnungen, welche am Hypokotyl und Kotyledon vor- 
handen sind, sind die einzigen, die für die Kohlensäureaufnahme 
in Betracht kommen. Bei den Schuppenblättern der Stammknospe 
sind sie äußerst spärlich, und da diese so gut wie kein Chlorophyll 
haben, für die Kohlenstoffassimilation gleichgültig. Die Hochblätter 
an der Infloreszenz javanıscher Taeniophyllen haben etwas mehr 
Spaltöffnungen '*). 

Taeniophyllum ıst also eines der jedenfalls seltenen Beispiele, 
dass eine nicht untergetaucht lebende Samenpflanze, abgesehen vom 





12) Vgl. Goebel, Pflanzenb. Schilder., Fig. 88. 
13) Der Querschnitt erinnert an den einer Riella-Pflanze. 
14) Ob sie funktionsfähig sind, ist aber fraglich. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 215 


ersten Keimungsstadium und der Infloreszenz, keine besonderen 
Eintrittsstellen für Kohlensäure hat. Die Kohlensäureaufnahme 
(teils mit Wasser, teils direkt durch die Zellmembranen '°)) wird 
demgemäß auch eine langsame sein — schon dadurch ist das lang- 
same Wachstum der Pflanze erklärlich. — 

Die Haftorgane des Hypokotyls treten auf ın Gestalt zahl- 
reicher, nur auf der Sohle gebildeter Zellscheiben, deren Zellen 
protoplasmareich und vielfach nach unten vorgewölbt sind (Fig. 4). 
Sie scheiden offenbar eine Klebesubstanz aus, welche das Hypo- 
kotyl anheftet, vielfach sieht man z. B. der Sohle kleine Lebermoose 
fest ankleben. Morphologisch stellen diese Haftorgane, die später 
von N. Bernard und Burgeff 


auch — wenngleich, wie es scheint, ae E> 
meist in einfacherer Ausbildung — 9.0 0 (@. 

bei den Hypokotylen anderer Orchi- N OD Sa 

deen aufgefunden worden sind — 0% 009 2 
offenbar eine eigenartige Ausbildung ) O0 ll. 
bezw. Neubildung von „Wurzel- Ub 

haaren“ dar. Der einzige ähnliche L & 


Fall, der mir bekannt ist, findet sich 

bei einigen epiphytischen Leber- &n, 
moosen aus der großen Gattung “E 
Lejeunea, welche gleichfalls aus W 
Rhizoiden Haftscheiben entwickelt Fig. 4. Re Zollingeri. 
haben '!®). Bei Taeniophyllumscheinen IT Stück der „Sohle“ eines Hypo- 
die Haftscheiben stärker entwickelt kotyls mit Haftscheiben. // Haft- 


7 bei H kotvlen Scheibe stärker vergr. III Eine andere, 
Bee beiden VE die Grenzzellen und die Innenzellen 


anderer Orchideen, bei denen sie yimmern durch IP Dane snchriit 
später gefunden wurden. Sie treten eines Hapters, die Innenzellen mit X 
auf dem Hypokotyl in großer Zahl bezeichnet. 

auf (vgl. die Flächenansicht Fig. 47). 

In Flächenansicht fallen zunächst die oben erwähnten protoplasma- 
reichen Zellen auf, die in wechselnder Zahl vorhanden sınd. Ihrer 
Anordnung nach sind sie aus Teilung einer Zelle hervorgegangen. 
Sie können alle zu Rhizoiden auswachsen, so dass diese dann 
büschelig zusammenstehen. 

Umgeben ist die Scheibe von einem Kranz hellerer (proto- 
plasmaärmerer) Zellen. Unter der Scheibe sind noch Basalzellen !”) 
vorhanden (in Fig. 4 1/7 punktiert, in Fig. 4/V mit X bezeichnet) in 
geringerer Zahl als die Scheibenzellen. 


15) Es ist natürlich wohl möglich, dass nur die in Wasser gelöste Kohlen- 
'säure in Betracht kommt, wie dies z. B. auch für epiphytische Moose. nachgewiesen 
wurde (Goebel, Flora 1893, p. 439). 

16) Vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilder., p. 161, Fig. 66. 

17) Vgl. Burgeff, Die Wurzelpilze der Orchideen (1909), p. 75. 


916 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Leider war es mir wegen Materialmangel nicht möglich, die 
Entwickelungsgeschichte der Haftscheiben zu verfolgen. Nach 
Burgeff!”) waren die Basalzellen von Laelio-Cattleya aus Teilung 
einer hypodermalen Zelle entstanden. No&äl Bernard macht über 
die Entstehung der Rhizoidbüschel keine Angaben. Es ist nicht 
ausgeschlossen, dass der ganze Apparat, also Rhizoidbüschel mit 
Basalzellen, aus der Teilung einer Dermatogenzelle hervorgeht, doch 
ist wahrscheinlicher, dass nur die Scheibe aus der Epidermis ent- 
steht. 

Wie dem auch sei, jedenfalls liegt hier eine eigentümliche 
Organbildung vor, welche bei den genannten Formen auf das Hypo- 
kotyl beschränkt ist: ein Organ, das erst als Klebscheibe zu dienen 

scheint, dann in Rhizoiden auswächst, 
die an Stelle der fehlenden ersten 
Wurzel die Befestigung am Sub- 
strat übernehmen. Diese Organe, 
die wir als primitive „Hapteren“ be- 
zeichnen können, finden sich bei 
einigen andern Orchideen an den 
Rhizomen. Denn die „Haarwurzel- 
büschel“, welche Irmisch vor 
langer Zeit für Coralliorhiza und 
Goodyera angegeben hat, sind offen- 
bar nichts anderes als die am Hypo- 

kotyl auftretenden „Hapteren“. 
II Bei der wurzellosen, saprophy- 
f : tisch lebenden Coralliorhixa treten 
= T sie offenbar als teilweiser Ersatz 
Bien. Ob yanıhes BT Hapten für die Wurzeln auf, ähnlich wie am 
in Außenansicht. II Ein anderer im Hypokotyl von Taeniophyllum u. a. 
Längsschnitt. Die Untersuchung der Corallio- 
rhixa-Rhizome ergab, dass die 
„Hapteren“ mit denen von Taeniophyllım im wesentlichen überein- 
stimmen, nur dass die Büschel von Wurzelhaaren auf einem mäch- 
tigeren Gewebepolster sitzen und auch in der Jugend nicht als 

„Scheiben“ auftreten. 

Die auffallendsten Hapteren sitzen (nach mündlicher Mit- 
teilung des Herrn Dr. Burgeff) an den Ausläufern der javanıschen 
Coryanthes pieta, von der ich dank der Freundlichkeit von Herrn 
Prof. Stahl Untersuchungsmaterial erhielt. 

Fig. 5 / zeigt, dass die Rhizoidenbüschel auf einem weit über 
die Oberfläche vorspringenden Gewebepolster sitzen, die einzelnen 
Rhizoiden hängen unten ein Stück weit zusammen. 

Wir haben es hier also mit einem eigenartigen, auf die Sprosse 
von Orchideen beschränkten Organ zu tun, das namentlich in Funktion 





Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität, bei Orchideenluftwurzeln? 2147 


tritt dort, wo Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sind. Dass 
sie am Hypokotyl der Keimlinge besonders auffallend hervortreten, 
ist also nicht zu verwundern, da die Entwickelung einer Haupt- 
wurzel am Hypokotyl der Orchideen ausnahmslos unterbleibt. 

Raciborski'®) fand später eine dorsiventrale Ausbildung des 
Hypokotyls auch bei anderen Orchideen: Aerides, Vanda, Phalae- 
nopsis. Bei Aerides vermehren sich sogar die Keimpflanzen durch 
Adventivsprossebildung (leider ist nicht angegeben, ob dabei neue 
Keimpflanzen, mit Hypokotyl u.s. w. oder direkt beblätterte Sprosse 
entstehen !?). Er nennt den Keimspross einen „Protokorm* — eine 
Bezeichnung, auf welche unten zurückzukommen sein wird. 

Die Angaben des Verf. über die Keimung von Taeniophyllum 
sind später von No&öl Bernard in seiner schönen Abhandlung 
„L’evolution dans la Symbiose, les Orchidees et leur champignons 
commensaux“ ?°) bestätigt worden. 

Fig. 6. Taeniophyllum Zollingert. 
] Spitze eines Keimlings in Außen- 
ansicht: Der Kotyledon Co ist mit 
dem ersten Blatt db, scheidenförmig 
verwachsen, b, zweites Blatt. II Das- 
selbe im Längsschnitt, v Vegetations- 
punkt. III Spitze eines jüngeren 
Keimlings schräg von unten und der 
Seite, So Sohle des Hypokotyls mit 
Haftscheiben. 1. I. I. 

Doch ist Noöl Bernard in einem Punkte anderer Ansicht als 
der Verf. Er sagt (a. a. O. p. 66): „Goebel a considere comme 
un rudiment de cotyledon la partie saillante anterieure de la crete 
dorsale?!), mais cette interprötation me parait inexacte; icı en effet, 
comme chez les Phalaenopsis, la premiere feuille, au lieu d’etre 
oppose A ce pretendu cotyledon, se developpe du meme cöte que 
lui par rapport au sommet vegetatif.“ 

Wenn das so wäre, so würde allerdings meine Deutung un- 
haltbar sein. 

Ich untersuchte deshalb die Reste meines vor 30 Jahren in 
Java gesammelten Materials an Keimlingen. Obwohl es nicht mehr 
sehr reichhaltig war, genügte es, um zu zeigen, dass der Irrtum 
nicht auf meiner, sondern auf No&öl Bernard’s Seite liegt. Denn 
wie Fig. 6 zeigt, entsteht das erste Blatt (D,) nicht (wie N. Ber- 





18) Raciborski, Biol. Mitteilungen aus Java, Flora S5 (1898). 

19) Ob auch die Jueniophyllum solche Adventivbildungen hervorbringen 
können, ist fraglich. An den im Freien gesammelten fand ich keine, möglicher- 
weise sind sie aber durch Wegnahme des Vegetationspunktes hervorzurufen, wie 
denn Keimpflanzen regenerationsfähiger zu sein pflegen als spätere Entwickelungs- 
stadien (vgl. Goebel, Über Regeneration im Pflanzenreich, Biol. Centralbl. XXIV). 

20) Annales des sciences naturelles, IX. Ser., botan., t. IX (1909), p. 65. 

21) Raciborski bezeichnet diesen Teil als Nase“. Anm. des Verf. 


918 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 


nard angibt) auf derselben Seite wie der Kotyledon, sondern, ent- 
sprechend der bei den Orchideen am meisten verbreiteten zwei- 
zeiligen Blattstellung ihm gegenüber — auf der andern Seite 
des Vegetationspunktes. Außerdem kommen auch Fälle vor, in 
welchen der Kotyledon etwas mehr entwickelt ist als sonst (nament- 
lich bei älteren Keimlingen), d. h. auf seiner dem Vegetations- 
punkt zugekehrten Seite eine Abflachung aufweist, die sich einer, 
freilich in den ersten Anfängen steckenbleibenden Scheidenbil- 
dung nähert, ja diese Scheide kann mit der des gegenüber- 
stehenden ersten Blattes verwachsen (Fig. 6B). Es kann an der 
Richtigkeit meiner alten Deutung also wohl kein Zweifel mehr be- 
stehen — wie Noöl Bernard zu seiner unrichtigen Angabe kam, 
ist mir rätselhaft. Vermutlich untersuchte er ältere Keimlinge, bei 
denen eine Verwechslung bezüglich der Blattstellung möglich ist. 
Dass ein Leitbündel im Kotyledon nicht ausgebildet wird, ist natür- 
lich kein Grund, ıhm die Blattnatur abzusprechen. 

Er stellt ein extremes Beispiel eines „unifazialen“ Blattes 
dar??), da eigentlich nur seine abaxıale Seite (die Unterseite, welche 
dem Lichte zugekehrt ist) entwickelt ist. Ohne Zweifel ıst das be- 
dingt dadurch, dass das Hypokotyl sich mit seiner Lichtseite weit 
stärker entwickelt als auf seiner Schattenseite (Fig. 3), da der 
Kotyledon nur ein kleines Anhängsel des Hypokotyls darstellt, ist 
eine solche Beeinflussung leicht verständlich. 

Ich bin hier auf diese Frage nach dem Kotyledon eingegangen, 
nicht um No&öl Bernard’s Einspruch gegen meine Auffassung ab- 
zuweisen. An sich ist es ja ziemlich gleichgültig, wer ın einer 
solchen Spezialfrage recht hat. Aber hier wird zugleich eine Frage 
von einigem allgemeinen Interesse berührt. 

Treub hatte seinerzeit für Lycopodium-Keimlinge den Begriff 
eines „Protokorm“ aufgestellt, und in diesem einen Vorläufer 
des beblätterten Sprosses der heutigen Pteridophyten erblicken zu 
können glaubte, also ein phylogenetisch „primitives“ Organ. Dem- 
gegenüber hob der Verf. hervor??), dass es sich bei diesem Proto- 
korm wesentlich nur um eine (vielleicht mit der „Pilzsymbiose 
zusammenhängende“) eigenartige Ausbildung eines Hypokotyls 
handle, die ın verschiedenen Verwandtschaftskreisen auftreten könne, 
namentlich auch bei solchen, die wie die Orchideen das Gegen- 
teil von primitiver Struktur aufweisen. Auch hier liegt eine Rück- 
bildung schon darin vor, dass diesem Hypokotyl die Wurzel fehlt 
und dass der Kotyledon — wie der Streit um ihn zeigt — nur 
wenig entwickelt ıst. Für diese Auffassung aber ist es von Inter- 
esse, nachzuweisen, dass Taeniophyllum einen Kotyledon hat, also 


22) Vgl. Goebel, Organographie, 2. Auflage (1913, p. 278). 
23) Goebel, Organographie, 1. Auflage, p. 440, 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität.bei Orchideenluftwurzeln? 219 


der darunter befindliche Teil mit Recht den Namen eines Hypokotyls 
trägt. 

Noel Bernard dagegen glaubte nachgewiesen zu haben *), 
„que l’apparition et l’evolution du protocorme chez les Orchid6es 
sont des ev&nements dus aux progres de la symbiose*. 


Das ist ein Irrtum. Das Auftreten (l’apparition!) des Proto- 
korm hängt nicht von der Symbiose ab. Das Hypokotyl war schon 
vorhanden. Es kann, wie ja auch Verf. als möglich annahm, im 
Zusammenhang mit der Pilzsymbiose andere Eigenschaften ange- 
nommmen haben, aber entstanden ist es sicher nicht dadurch! 


Auf Noäöl Bernard’s phantastische Annahme (a. a. O. p. 18), 
dass die Gefäßpflanzen infolge einer hohen Anpassung gewisser 
Muscineen an eine Smhloss mit Pilzen entstanden seien, näher 
einzugehen, ist wohl nicht erforderlich. Sie ist ebenso wie die 
Aufstellung des Protokorms eines der zahlreichen Beispiele dafür, 
dass phylogenetische Spekulationen auf Abwege geraten sind. 
Außerdem: die Erscheinung, dass einem Forscher, der eine Ent- 
deckung macht, diese nun zum Ausgangspunkt kühner Theorien 
wird, wiederholt sich ja oft. — Bernard’s Verdiensten können aber 
seine phylogenetischen Phantasmagorien keinen Abbruch tun. — 
Mir scheint es zweifellos, dass der „Protokorm“ der Orchideen nichts 
ist, als ein eigentümlich entwickeltes, beimanchen Formen lange fort- 
wachsendes Hypokotyl und dass deshalb die ganze Bezeichung am 
besten fallen gelassen würde. Übrigens verhalten sich nos des 
Kotyledons = Keimpflanzen von Phalaenopsis ganz ebenso wie die 
von Taeniophyllum, nur dass bei ersterer Orchidee der Kotyledon 
sich später entwickelt als bei letzteren. Es ist mir unerklärlich, 
wie No&l Bernard angeben konnte, dass auch hier das erste Blatt 
auf der Seite des „prötendu cotyledon“ stehe. 


Die bessere Kenntnis der Keimungserscheinungen der Orchi- 
deen, welche wir jetzt besitzen, gestattet uns auch, uns ein Bild 
zu machen, wie eine so sonderbare Form wie Taeniophyllum ent- 
stand. 


Bernard schildert, dass die Keimlinge von Phalaenopsis (einer 
Kreuzung von Ph. rosea und amabihs) im Keimlingsstadium redu- 
zierte Blätter besitzen, während die Wurzeln verhältnismäßig mächtig 
entwickelt und offenbar auch als Assimilationsorgane von größerer 
Bedeutung sind als die Blätter. Erst später gewinnen diese dann 
bei Phalaenopsis eine bedeutende Entwickelung. Die flachen grünen 
Wurzeln können dann bei den Arten, welche in der Trockenheit 
ihre Blätter verlieren, vorübergehend dieselbe Rolle spielen wie bei 
Taeniophyllum zeitlebens (Fig. 7). 


24) A.a. 0. p. 17. 


390 Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Taeniophyllum bleibt einfach auf einem Stadium stehen, 
welches bei Phalaenopsis ein bald vorübergehendes Jugend- 





Fig. 7. 
(nach No&l Bernard). 
Verf... #4 Hypokotyl, W, 
Co Kotyledon, 1—4 Blätter. 


Phalaenopsis amabilis X Ph. rosea 
4 Monate alte 
Keimpflanze 4fach vergr. (Bezifferung vom 
W Wuızeln, 


stadium ist. Es ist also 
nicht nötig anzunehmen, dass 
die Laubblätter, welche die 
Vorfahren von Taeniophyllum 
jedenfalls besessen haben, all- 
mählich kleiner wurden und 
verkümmerten. Es brauchte 
einfach deren Bildung von 
vornherein, also miteinem 
„Sprung“, schon bei der Kei- 
mung gehemmt zu werden. 
Die Pflanze war trotzdem weiter 
existenzfähig, weil sie grüne 
Wurzeln schon besaß und 
konnte vermöge ihrer geringen 
Ansprüche an Standorten ge- 
deıhen, welche sonst nur für 
Flechten und Moose, die perio- 
dische Austrocknung ertragen, 
bewohnbar sind. 


Sie lebt dort im wesentlichen (wie auch Wiesner hervorhebt) 


wie eine Krustenflechte. 





Pi 
II. 
Fig. 8. Taeniophyllum  philip- 
pinense. I Querschnitt einer 


Wurzel, das chlorophyllreiche Ge- 
webe punktiert. /I Querschnitt 
durch die Ober-, /II durch die 
(Querseite der Exodermiszellen mit 
X. bezeichnet, V Velamen. 


Wie diese ist sie auf das von der Baunr- 


rınde herabrieselnde Wasser ange- 
wiesen, das von der Unterseite der 
Wurzeln aufgenommen wird. 

Diese fallen auf durch ihre Ab- 
flachung. 

Am auffallendsten abgeflacht fand 
ich die Wurzeln bei T. philippinense. 
Hier ist der Breitendurchmesser der 
Wurzeln mehr als fünfmal so groß 
wie der Höhendurchmesser (Fig. 8 7). 
Der dorsiventrale Bau der Wurzel 
tritt hier ungemein deutlich hervor. 
Zunächst schon darin, dass das Chloro- 
phyll auf der Lichtseite stärker ent- 
wickelt ıst als auf der Substratseite. 
Zur Ausbildung eines typischen Assi- 
milationsparenchyms ist es freilich 
auch hier nicht gekommen. Sodann 


ın der Ausbildung der Wurzelhülle. 


Bei T. philippinense und 


T. Zollingeri ıst das Velamen auf der 


Oberseite nur ın Resten vorhanden, während es auf der Unterseite 


Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 291 


in zwei Zellschichten erhalten bleibt (Fig. 8 IT und III). Besonders 
eigentümlich ist die „Exodermis“, 

Auf der Oberseite sind die nach außen gekehrten Zellwände 
und die Seitenwände der Zellen ungemein verdickt, auf der Unter- 
seite ganz dünnwandig (Fig. 8 /Z und IIT). 

Es ıst klar, dass die starke Verdiekung der nach außen ge- 
legenen Zellwände einen wirksamen Schutz gegen Transpiration 
darstellt, welcher auf der dem Substrat zugekehrten Seite un- 
nötig ist. 

Kausal ist die Verschiedenheit wohl durch die Verschiedenheit 
der Transpiration bedingt, bezw. dadurch, dass letztere auf der 
Lichtseite eine stärkere Anhäufung organischer Baustoffe zur Folge hat. 

Außerdem spricht sich die Dorsiventralität auch noch darin 
aus, dass die Exodermis der Wurzeln von T. I nur auf 





der Unterseite „Durchlasszellen“ hat 

(Fig. 9). Damit haben die Taeniophyllum- NN 
Wurzeln den höchsten Grad von Dorsi- N 
ventralität erreicht, welcher für Orchi- || 
deenluftwurzeln bis jetzt bekannt ist. 
Denn selbst die Luftwurzeln von Aeran- a 








zewski an der Exodermis der Ober- 
seite noch Durchlasszellen. 

Dass diese Zellen auf der Oberseite, 
wo keine Wasseraufnahme stattfindet, Fig. 9. as yllum phi- 
überflüssig sind, ist natürlich noch keine lippinense. Flächenansicht der 
Erklärung für ihr Fehlen. Offenbar er. Fxodermis. I der Ober-, II der 
= E : \ 2 ; Unterseite einer Wurzel. 
fährt die Oberseite einerseits eine Ent- 
wickelungshemmung, wie sie sich in der Reduktion des Velamens 
und im Unterbleiben der Abtrennung der Durchlasszellen ausspricht 
— andererseits eine abweichende Ausbildung, die sich in stärkerem 
Wachstum und stärkerer Wandverdickung der Exodermiszellen der 
Oberseite (vgl. die Flächenansicht Fig. 9 7 mit 9 II) zeigt. Ob diese 
beiden Eigentümlichkeiten auf denselben Reiz oder auf verschiedene 
zurückzuführen sind, ist fraglich. 

In physiologischer Beziehung wurde Taeniophyllum untersucht 
von Wiesner?). Er stellte u. a. fest, dass die Wurzeln sehr 
langsam wachsen und meint, es sei in hohem Grade wahrscheinlich, 
dass die Wurzeln im Finstern überhaupt nicht wachsen. 

Damit wäre ein sehr wesentlicher Unterschied von den typischen 
Wurzeln, den Erdwurzeln festgestellt, von denen sich doch zweifellos 


thus fasciola — einer gleichfalls „blatt- 
losen“ Orchidee — haben nach Janc- N 


25) J. Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg IV zur 
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri. 


922 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


die Taeniophyllum-Wurzeln ableiten. Denn diese werden bei Licht- 
schluss in ihrem Wachstum nicht gehemmt. Im Gegenteil erfolgt 
durch die Beleuchtung eine Verlangsamung des Wachstums 2°), 
Taeniophyllum befindet sich allerdings in anderen Bedingungen als 
andere Wurzeln. Diese erhalten ihre organischen Baumaterialien 
von den chlorophyllhaltigen oberirdischen Teilen, bei Taeniophyllum 
liegen vollständig autotrophe Wurzeln vor, die auch ihren Kohlen- 
stoffbedarf selbständig durch Assimilation aus der atmosphärischen 
Kohlensäure decken, nur die ersten Entwickelungsstadien werden 
auf Kosten der im Stämmchen oder älteren Wurzeln gespeicherten 
Reservestoffe zurückgelegt. Wenn es eine Pflanze gibt, bei ‘der 
man ein „Erblichwerden erworbener Eigenschaften“ vermuten 
könnte, so würde man sie wohl in Taeniophyllum suchen können. 
Die Wurzeln hätten die Fähigkeit, im Dunkeln zu wachsen ver- 
loren und eine nicht mehr direkt durch das Licht induzierte Dorsi- 
ventralität angenommen. 

Der Direktion des botanischen Gartens ın Buitenzorg verdanke 
ich eine Anzahl lebender Taeniopkyllum-Pflanzen. Diese wachsen 
— wenigstens eine Zeitlang — in Kultur ganz gut, wenn man sie 
möglichst in Ruhe lässt, namentlich nicht viel spritzt, da sie sonst 
leicht faulen. 

An zweien wurde die Stammknospe durch Überbinden eines 
schwarzen Tuches und aufgelegte Watte verdunkelt, die äußeren 
Wurzelteile blieben unbedeckt. 

Eine der Pflanzen ging — auf nicht näher aufgeklärte Weise — 
verloren. Die andere zeigte nach etwa 8 Monaten, als der Verband 
geöffnet wurde, drei neue, unter diesem entwickelte bleiche, chloro- 
pbyllose Wurzeln. Die längste war 1!/, cm lang. 

Das zeigt zunächst, dass die Wurzeln die Fähigkeit, sich 
ım Dunkeln zu entwickeln, nicht verloren haben — wenig- 
stens wenn sie von Anfang an im Dunkeln auftreten. Ob die Spitze 
einer Luftwurzel im Dunkeln weiter wächst und wie sich die Zu- 
wachsgeschwindigkeit ım Licht und ım Dunkeln verhält, wurde 
nicht untersucht und derzeit haben die noch übrigen Exemplare 
keine gesunden Wurzelspitzen. Indes ıst es nun, nach den Eır- 
fahrungen, die über Phalaenopsis mitgeteilt wurden, sehr wahrschein- 
lich, dass auch die am Lichte angelegten Taeniophylium-Luftwurzen 
sich im Dunkeln weiter entwickeln können. Wenn man die ganze 
Pflanze verdunkelt, so können leicht schädliche Stoffwechselprodukte 
entstehen, die eine Weiterentwickelung verhindern — es gibt auch 
andere chlorophyllhaltige Pflanzen, die sich im Dunkeln nicht weiter 
entwickeln und nicht etiolieren. Mich interessierte hauptsächlich die 
Frage, ob die Dorsiventralität der Taeniophyllum-Wurzeln eine 
induzierte ist oder nicht. 


26) Vol. die in Pfeffer’s Pflanzenphysiologie II, p. 110 mitgeteilten Messungen. 


Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 993 


Es zeigte sich, dass das erstere zutrifft. Die im Dunkeln ent- 
wickelten Wurzeln waren, wie die Querschnitte Fig. 10 zeigen, 
nicht abgeflacht, sondern annähernd zylindrisch, ‚selbstverständlich 
können Abweichungen schon durch mechanische Beeinflussung vor- 
kommen. Auch war in der Beschaffenheit des Velamens und der 
Exodermis kein durchgreifender Unterschied zwischen den verschie- 
denen Seiten festzustellen. Namentlich waren Durchlasszellen in 
der Endodermis überall vorhanden. Damit ist nachgewiesen, dass 
die Dorsiventralität der Wurzeln auch hier vom Lichte bedingt ist. 

Natürlich wäre es wünschenswert, den Versuch in größerem 
Maßstab und im Heimatland der Pflanze zu wiederholen. Dann 
werden sich Einzelfragen näher untersuchen lassen, wie die, ob 
nicht eine gewisse „Nachwirkung“ (die hier aber durch den Spross 
vermittelt sein müsste) insofern vorkommt, 
als kleinere Unterschiede im Bau von ada- 
xialer und abaxialer Seite der Wurzeln sich 
noch nachweisen lassen. 

Als Hauptresultat scheint mir aber auch n 7 
durch die einzige Versuchspflanze erwiesen: 

Die Wurzeln von Taeniophyllum haben, trotz- 

dem sie seit ungezählten Generationen nur 

am Lichte sich entwickeln, ihre Fähigkeit, In. 

im Dunkeln zu wachsen, nicht verloren. Fig. 10. Taeniophyllum 
Ihre Dorsiventralität wird direkt Zollingeri.  Querschnitte 
erchdas Tıcht bestimmt. Ob eme, dureh Wurzeln? I und TE 
5 Be im Dunkeln, //I am Lichte 
Nachwirkung stattfindet und wie die Wachs-  ntwickelt (Be Tan 
tumsgeschwindigkeit ım Licht sich zu der unten gekehrt). 

im Dunkeln verhält, bleibt näher zu unter- 

suchen. Der einzige Fall, in welchem jetzt noch eine „autonome“ 
Dorsiventralität von Orchideenwurzeln vorzuliegen scheint, ist der 
von Aeranthus fasciola. 

Janczewski (a. a.0. p. 26) sagt: „L’organisation dorsiventrale 
apparaissant de si bonne heure doit etre une qualit& innde a la 
racıne de l!’Aöranthus fasciola; experience le prouve d’une maniere 
incontestable,. en nous apprenant que cette organisation ne peut 
etre eliminee par la developpement de la racine dans l’obscurite.“ 

Das Experiment, auf welches sich diese Angabe stützt, ıst 
folgendes. Eine mit Stanniol umwickelte Wurzelspitze stellte ihr 
Wachstum ein. Später regenerierte sich die Wurzelspitze (d.h. es 
entstand offenbar eine Seitenwurzel, wie das nach der Verletzung 
von Orchideenluftwurzeln oft eintritt ?”)), die Wurzel war der Haupt- 
sache nach dorsiventral, ı:ur fehlten die „Flügel“, zu deren Ent- 
wickelung auch nach Janczewski’s Ansicht Licht notwendig ist. 


27) Vgl. Goebel, Einleitung in die exper. Morphologie, p. 169. 


224 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ? 


Es ist natürlich möglich, dass die verschiedenen Orchideen sich 
verschieden verhalten und Aeranthus fasciola tatsächlich eine auto- 
nome Dorsiventralität der Wurzeln aufweist. Aber der Janc- 
zewskische Versuch dürfte auch noch einer anderen Deutung fähig 
sein. Und zwar aus folgenden Gründen. 

1. Es ist nicht nachgewiesen, dass die neue Wurzel wirklich 
auch ım Dunkeln entstand, sie konnte schon vorhanden, am Lichte 
induziert und nun weiter gewachsen sein. 

2. Selbst wenn sie ım Finstern entstand, kann die Wurzel, 
an der sie sich bildete, auf sie eine Nachwirkung ausgeübt haben, 
wie wir oben eine solche bei Phalaenopsis nachwiesen. Bei längerer 
Dauer des Versuchs wäre auch diese Wurzel wohl radıär geworden. 
Es scheint mir also derzeit wahrscheinlich, dass bei allen dorsi- 
ventralen Orchideenluftwurzeln nur eine labile Induktion vorliegt. 
Ob diese Auffassung zutrifft, werden weitere experimentelle Unter- 
suchungen zeigen müssen, die ja namentlich ın der Heimat dieser 
Pflanzen leicht auszuführen sind. 


Inhaltsübersicht. 


1. Die auffallende dorsiventrale Ausbildung der Luftwurzeln 
mancher Orchideen beruht auf zwei Vorgängen: 

a) Eine Hemmung der anatomischen Differenzierung auf der 

Lichtseite, 

b) eine stärkere Wandverdickung der Außenzellen auf der 

Lichtseite. 

2. Die Hemmung macht sıch bei den einzelnen Gattungen in 
ungleichem Maße geltend. Sie betrifft teils die Ausbildung 
des Velamens, teils die Exodermis. Bei letzterer werden beı 
den meisten Formen die „Durchlasszellen* auf der Oberseite 
in geringerer Zahl ausgebildet als auf der Unterseite. Bei 
Taeniophyllum wunterbleibt ıhre Differenzierung ganz. Die 
Wurzeln dieser Gattung stellen also die am meisten dorsi- 
ventral ausgebildeten dar. 

3. Die dorsiventrale Ausbildung ist ın allen vom Verf. unter- 
suchten Fällen vom Lichte abhängig, auch bei Taeniophyllum, 
von dem Wiesner annahm, dass ein Wachstum der Wurzeln 
im Dunkeln nicht stattfinden könne. 

Es macht sıch aber eine länger andauernde Nachwirkung, 
namentlich bei Phalaenopsis, geltend. Die ım Dunkeln ent- 
wickelten Wurzeln zeigen allseitig die Ausbildung, welche 
sonst der (nicht gehemmten) Schattenseite zukommt. Die ab- 
weichende Angabe von Jancze wskı betreffend Aeranthus fas- 
ciola ıst wahrscheinlich durch „Nachwirkung“ bedingt. 

4. An den Sprossteilen einer Anzahl von Orchideen finden sich 
eigentümliche „Hapteren“, hervorgegangen aus der Teilung 


Brun, Das Orientierungsproblem im. allgemeinen etc. 395 


einer Oberhautzelle und einer Anzahl darunter liegender Zellen. 
Sie dienen bei Tueniophyllum zunächst als Haftscheiben, später 
wachsen die äußeren Zellen zu Wurzelhaarbüscheln aus. Außer 
bei Keimlingen sind diese „Hapteren“ auch bekannt an den 
unterirdischen Sprossteilen von Coralliorhixa, Goodyera, an 
den Niederblättern von Microstylis, Sturmia, Malaxis?°). 

Ihre höchste bis jetzt bekannte Entwickelung erreichen sie 
bei Corysanthes. Sie sind offenbar namentlich dann von Be- 
deutung, wenn Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sınd. 

6. Ob die Dorsiventralität des Hypokotyls mancher Orchideen 
eine „autonome“ oder eine durch die Außenwelt bedingte ist, 
bleibt zu untersuchen. 

Es liegt aber kein Grund vor, bei den Orchideen von einem 
„Protokorm“ zu sprechen. Was so genannt wurde, ist nichts 
als ein Hypokotyl von oft eigenartiger Ausbildung, an welchem 
keine „Hauptwurzel“ sich findet. Dieses Hypokotyl spielt viel- 
fach auch eine wichtige Rolle als erstes Assimilationsorgan. 

7. Der Kotyledo ist bei Tueniophyllum -— entgegen der An- 
gabe von N. Bernard — in normaler Stellung vorhanden, 
aber sehr rückgebildet. 


Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf 
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen. 
Von Dr. med. Rudolf Brun, 

Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich. 
(Schluss.) 


IT. 


Experimentelle Ergebnisse über die Fernorientierung 
der Ameisen. 


Nachdem wir im vorhergehenden die allgemeinen psychobio- 
logischen und mnemischen Gesetze, welche den verwickelten Mecha- 
nismus der Fernorientierung beherrschen, in großen Umrissen 
skizziert haben, wollen wir uns nunmehr den Ergebnissen der experi- 
mentellen Analyse eines ganz besonders lehrreichen Spezialfalles 
zuwenden, nämlich der Fernorientierung der Ameisen. Die Er- 
kenntnis der großen Bedeutung, welche diese Spezialfrage für das 
Örientierungsproblem im allgemeinen besitzt, veranlasste nicht nur 
Entomologen von Fach, sondern auch zahlreiche Biologen, Psycho- 
logen und Physiologen, sich mit derselben näher zu befassen und 
so entstand allmählich eine ziemlich umfangreiche Literatur, ın 


28) Vgl. Goebel, Zur Biologie der Malaxideen, Flora 88 (1901), p. 100, Fig. 6. 
XXXV. 15 


326 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen: etc. 


De 


welcher ein reiches und äußerst interessantes Tatsachenmaterial 
niedergelegt ist!”). 

Die Ameisen eignen sich nämlich zu Studien über die Fern- 
orientierung aus zwei Gründen in ganz besonderem Maße: Einmal 
wegen ihrer sesshaften, sozialen Lebensweise, welche sie nötigt, 
von ihren Fernwanderungen immer wieder zu einem ganz bestimmten 
Ausgangspunkt, dem Neste, zurückzukehren; — dann aber auch 
deshalb, weil sie (im Gegensatz zu den Bienen) in der Arbeiter- 
kaste flügellos sind und daher eine verhältnismäßig langsame, leicht 
verfolgbare Fortbewegung haben. 

Das richtige Verständnis einer so komplizierten biologischen 
Leistung, wie sie die Fernorientierung der Ameisen darstellt, setzt 
natürlich vor allem eine genauere Kenntnis der Anatomie und Phy- 
siologie der beteiligten Sinnesorgane, sowie des diesen Sinnen über- 
geordneten zentralen Assoziationsapparates voraus. Ich möchte 
daher, bevor ich auf die biologischen Erscheinungen eingehe, noch 
ganz kurz die wesentlichsten dieser anatomischen und physio- 
logischen Tatsachen in Erinnerung bringen. 

Die Sinne, die bei der Orientierung der Ameisen in Be- 
tracht kommen können, sind im wesentlichen der Geruchssinn, 
der Tastsınn, der Gesichtssinn und die kinästhetischen Registrie- 
rungen. Was die Mitwirkung dieser letzteren betrifft, so sind 
wir da natürlich ausschließlich auf die experimentell-physiologische 
Analyse angewiesen. Über die Funktionen der anderen Sinne kann 
uns, teilweise wenigstens, schon die anatomische Struktur der be- 
treffenden Organe wichtige Fingerzeige geben. 

Der @eruchssinn ist bekanntlich der biologisch weitaus wich- 
tigste Sinn der Ameisen. Wie wir schon im allgemeinen Teil dieser 
Arbeit (S. 195) gesehen haben, kommt derselbe hier auch für die 
exterozeptive Orientierung im Raume sehr wesentlich in Betracht, 
weil seine peripheren Endapparate oberflächlich, an den sym- 
metrischen und äußerst beweglichen (geknieten) Antennen lokalı- 
siert sind. Der Geruchssinn der Ameisen gehört daher, wie unser 
Auge, zu den relationellen Sinnen, d. h. er ist in erster Linie 
ein Kontaktgeruchssinn, welcher die von den verschiedenen 
Objekten ausgehenden Duftemanationen nicht, wie unsere Riech- 
schleimhaut, in diffuser Mischung, sondern in ganz bestimmter 
räumlicher Anordnung, entsprechend den gleichzeitig durch die 
Tasthaare der Fühler wahrgenommenen Formen der duftenden Ob- 
jekte, rezipieren muss. Auf diese Überlegungen gründete Forel°®) 

17) Ich werde im folgenden nur die wichtigsten einschlägigen Arbeiten an- 
führen und verweise im übrigen auf meine kürzlich erschienene Monographie („Die 
Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem im allgemeinen“, — 
Gustav Fischer, Jena 1914), welche ein ausführliches Literaturverzeichnis enthält. 

15) Forel, Experiences et remarques critiques sur les sensations des insectes. 
— Rivista di Se. Biolog. II u. III, Como 1900—1901. — Die psychischen Fähig- 


Brun, Das Orientierungsproblem im -allgemeinen etc. Ser 


fe 


bekanntlich seine geistreiche Kontaktgeruchstheorie oder 
Theorie des topochemischen Fühlersinnes, welche eben be- 
sagt, dass die Ameisen vermittelst ihrer Fühler räumlich scharf 
umschriebene „Geruchsformen“ wahrnehmen. Sie werden also bei- 
spielsweise runde von viereckigen, harte von weichen, elliptische 
von kugeligen Gerüchen unterscheiden und werden diese verschie- 
denen Geruchsformen in eben der gegenseitigen räumlichen Anord- 
nung und zeitlichen Folge, wie sie im umgebenden Raume ange- 
troffen wurden, auch im Gedächtnis als assozuerte topochemische 
Engrammkomplexe aufspeichern. Doch betont Forel ausdrück- 
lich, dass die Ameisen von dieser topochemischen Assoziation, ent- 
sprechend der absoluten Kleinheit ihres Gehirns, natürlich nur in 
sehr beschränktem Umfange Gebrauch machen können. Diese 
selbstverständliche Einschränkung vorausgesetzt, besteht seine Theorie 
zweifellos auch heute noch zu Recht. 

Im Vergleich zum Kontaktgeruchssinn ıst das Ferngeruchs- 
vermögen der Ameisen offenbar nur sehr gering entwickelt; man 
kann sich wenigstens leicht davon überzeugen, dass Ameisen selbst 
stark duftende und für sie ungemein „lustbetonte* Substanzen, wie 
Honig, nur auf wenige Zentimeter zu wittern imstande sind. 

Auch der Gesichtssinn weist bei den Ameisen —- wie bei 
den Insekten überhaupt — eine Reihe von Besonderheiten auf, 
welche von vornherein vermuten lassen, dass derselbe bei der 
Fernorientierung wohl ın ganz anderer Weise funktioniert als bei 
den Wirbeltieren. Bekanntlich entwerfen die Fazettenaugen der 
Insekten nach der Müller-Exner’schen Theorie des musivischen 
Sehens von den Objekten der Außenwelt ein einziges aufrechtes 
Mosaikbild (Appositionsbild), dessen Schärfe in erster Linie von der 
Zahl der Fazetten, in zweiter Linie von der Länge und Schmalheit 
der einzelnen Ommatidien abhängt: Je zahlreicher nämlich die Fa- 
zetten, in um so zahlreichere Bildpunkte wird das Gesamtbild auf- 
gelöst und desto kleinere Objekte werden somit noch einigermaßen 
deutlich „erkannt“; je länger und schmäler die Ommatidien, um so 
konzentriertere Lichtbündel leiten sie den entsprechenden Netzhaut- 
elementen zu, indem die Randstrahlen abgeblendet werden. Die 
Augen der bestsehenden Ameisen haben (im Arbeiterstand) eine 
verhältnismäßig geringe Fazettenzahl'!’) und ziemlich kurze Omma- 
tidien. Ihr Fernpunkt, der hauptsächlich von der Wölbung der 
Kornealinsen abhängt, ıst bei den meisten Arten bis auf wenige 
Millimeter oder Zentimeter ans Auge herangerückt. Die Unbeweg- 
lichkeit der Fazettenaugen bringt es ferner mit sich, dass die Auf- 
keiten der Ameisen, 2. Aufl., Reinhardt, München 1902. — Sinnesleben der In- 
sekten, ebend. 1910. 

19) Bei Formica rufa, einer der bestsehenden Arten, beispielsweise nur 600, 
gegenüber 20000 bei vielen Libellen! 


15* 


338 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


Frl Fr) 


merksamkeit des ruhenden Insekts nur durch bewegte Objekte zu 
erregen ist. — Die Augen der Ameisen scheinen demnach haupt- 
sächlich für das Sehen großer, bewegter Objekte aus nächster Nähe 
eingerichtet (Forel). Man glaubte daher früher allgemein, dass 
der Gesichtssinn bei der Fernorientierung dieser Insekten nur eine 
sehr untergeordnete Rolle spielen könne. Es ist hauptsächlich 
Santschi’s?°) Verdienst, diesen Irrtum, der, im Verein mit einer 
gewissen Voreingenommenheit zugunsten des Geruchssinnes, das 
unbefangene Urteil in der Deutung mancher Tatsachen lange Zeit 
trübte, endgültig widerlegt zu haben. Wır werden auf die wichtigen 
neuen Ergebnisse der Forschungen dieses hervorragenden Myrme- 
kologen noch ausführlich zurückzukommen haben. -— 


Die Frage, ob die Ameisen „hören“, scheint trotz allen darauf 
gerichteten Untersuchungen noch immer nicht ganz einwandfrei 
entschieden zu sein. Man hat eigentümliche, im Inneren der Tibien 
ausgespannte sogen. „chordotonale“ Organe wiederholt als Gehör- 
organe angesprochen; — falls dieselben wirklich echte Schallwellen 
rezipieren, dürften sie aber wohl nur für die Wahrnehmung jener 
feinsten Zirplaute („Stridulationen“) aus nächster Nähe in Betracht 
kommen, welche manche Ameisen durch Aneinanderreiben gewisser 
Teile ıhres Chitinpanzers erzeugen. Was endlich statische Organe 
anbetrifft, so sind solche bis jetzt bei Insekten überhaupt nicht 
nachgewiesen worden. — 

Vergleichen wır die eben kurz angedeuteten Sinnesfunktionen 
mit Bezug auf ihren direkten Wirkungsbereich, so stellen wir ohne 
weiteres fest, dass durch keine derselben eine direkte Rezeption 
des Nestes (oder besser: des psychophysiologischen Erregungskom- 
plexes „Nest“) aus größeren Entfernungen als höchstens einem Meter 
ermöglicht wird. Daraus folgt, dass jede Fernorientierung 
der Ameisen über einen Meter hinaus eine indirekte sein 
muss, d.h. dass sie nicht nach einem sinnlich (als aktueller Reiz- 
komplex) gegebenen, sondern nach einem im „Sensorium“ der 
Tiere lediglich als Engramm vertretenen Ziele erfolgt, mit Hilfe 
von intermediären, mit ‘diesem Zielengramm sekundär assoziierten 
Richtungszeichen. Nun setzt aber, wie wir gesehen haben, jede, 
auch die einfachste Form einer indirekten Orientierung im Prinzip 
die Fähigkeit zur Erwerbung und Assoziation individueller En- 
grammkomplexe voraus und es fragt sich daher, ob wir berechtigt 
sind, so winzigen Geschöpfen wie Ameisen ein solches plastisches 
Engraphie- und Assoziationsvermögen zuzuschreiben. Manche Autoren 


20) Santschi, F., Observations et remarques eritiques sur le mechanisme de 


’orientation chez les Fourmis. Revue Suisse de Zool. 1911. — Comment s’orientent 
les Fourmis. Ibid. 1913. — L’wil compos6 considere comme organe d’orientation 


chez la Fourmi. Revue Zool. Africaine III, 1913. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 399 


— unter ihnen namentlich Bethe?!) — haben den Insekten be- 
kanntlich alle „psychischen“ Qualitäten (oder sagen wir besser: 
eine individuelle Mneme) rundweg abgesprochen, und wo ihre eigenen 
Experimente sie mit dieser vorgefassten Meinung in Widerspruch 
brachten, waren sie eher geneigt, ihre Zuflucht zu irgendeiner phy- 
siologisch unerklärlichen „unbekannten Kraft“ zu nehmen, als ihre 
These aufzugeben. Bevor wir indessen diesen Autoren auf das 
dunkle Gebiet der wissenschaftlichen Mystik folgen, werden wir 
doch gut tun, uns vorerst noch danach umzusehen, ob im Zentral- 
nervensystem der höheren Insekten nicht anatomische Strukturen 
vorhanden sind, welche als das morphologische Substrat jener 
biologisch nachweisbaren plastischen Neurokymtätigkeiten ange- 
sehen werden könnten. 








vo 


Fig. 2. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der 


roten Waldameise (Formica rufa L.). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 65 X. 

Hämatoxylin-Eosin. Cp = Corpora peduneulata Dujardini. F' = Fazettenauge. 

Lo — Lobus opticus. Lolf. — Lobus olfactorius. MI. — Massa lateralis proto- 
cerebri. Ri = Regio intercerebralis. 


Wenn wir einen Frontalschnitt durch den vorderen Abschnitt 
(„Proto- und Deutocerebron“) des Gehirns (Öberschlundgang- 
lions) einer phylogenetisch hochstehenden Ameise be- 
trachten (Fig. 2), so fallen uns daran sofort vier eigentümlich struk- 
turierte dorsale Gebilde in die Augen, welche in diesen Frontalebenen 
einen relativ sehr bedeutenden Teil des gesamten Hirnquerschnitts 
einnehmen. Es sind dies die sogen. pilzhutförmigen Körper 
oder Corpora pedunculata von Dujardin. Dieselben präsen- 
tieren sich im Frontalschnitt als vier symmetrische, tief eingebuch- 
tete, bezw. gewundene Massen grauer Substanz vom Typus des 
flächenförmigen oder Rindengraus, bestehend aus einer dor- 
salen kompakten Rindenschicht sehr dichtstehender indifferenter 


21) Bethe, A., Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten 
zuschreiben? — Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 70, 1898. 


230 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec. 


Körnerzellen und einer tieferen, semmelförmig gebuchteten diekeren 
Molekularschicht. Diese Massenanhäufung von Substantia mole- 
cularıs besteht im wesentlichen aus nichts anderem als aus den, 
zu einem unentwirrbaren Neuropilemfilz verflochtenen, Fibrillen- 
aufsplitterungen und Axonen zahlreicher Projektions-, Assoziations- 
und Kommissurenfasern, welche teils aus den Körnerzellen der 
Rindenschicht hervorgehen, teils aus allen übrigen Hirnregionen 
(Lob. olfactorius, Lob. opticus u. s. w.) herbeifließen, um sich um 
die Körnerzellen aufzusplittern. Jede Windung entsendet zwei dicke 
Stiele (Pedunculi), welche tief in die Zentralmasse des Protocere- 
brons eintauchen (in dem Mikrophotogramm Fig. 2 sind nur die vor- 


RER 





Fig. 3. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der 

Schmeißfliege (Calliphora vomitoria). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 40 X. 

Toluidinblaufärbung. Cp = die kaum andeutungsweise entwickelten Corpora pedun- 
culata. Die übrigen Bezeichnungen wie in Fig. 2. 


deren Umbiegungen dieser mächtigen Stiele zu sehen, da ihre Ver- 
einigung mit den Corp. pedunec. erst in etwas kaudaleren Ebenen 
erfolgt). 

Die eben geschilderte mächtige Entwickelung der Corpora 
peduneulata findet sich nun aber bezeichnenderweise nur bei den 
phylogenetisch jungen sozialen Hymenopteren (Ameisen, Bienen, 
Wespen), und auch da nur in der Weibchen- und Arbeiterkaste, 
welche ja auch allein jene höheren plastischen Fähigkeiten verraten, 
von denen wir oben gesprochen haben. Bei den viel dümmeren 
Männchen sind diese Organe, wie Forel zuerst nachwies, stets 
wesentlich kleiner, nur wenig gefaltet, oft geradezu rudimentär und 
bei den übrigen (nicht sozialen) Insekten stellen sie bestenfalls nur 
einfach geschichtete, dorsale Höcker, ohne jede Faltung dar, oder 
fehlen vollständig. So werden Sie dieselben z. B. bei den stu- 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 231 


piden Fliegen, diesen Proletariern unter den Insekten, vergeblich 
suchen; man sieht hier (Fig. 3) an der entsprechenden Stelle nur 
medial eine spärliche Ansammlung von Körnerzellen, während die 
ganze dorsale Partie des Protocerebrons zwischen den (hier dafür 
um so mächtiger entwickelten) Lobi optici einfach fach abgeschnitten 
erscheint. — Mit Rücksicht auf alle diese Tatsachen ist man m. E. 
gewiss zu dem Schlusse berechtigt, dass man in den Gorpora 
pedunculata tatsächlich einen phylogenetisch relativ 
spät auftretenden, funktionell hochwertigen zentralen 
Assoziationsapparat vor sich hat, welcher also insofern 
gewissermaßen ein Analogon des Großhirns der Wirbel- 
tiere darstellen dürfte. — 

Und nun wollen wir uns den merkwürdigen biologischen Pro- 
blemen zuwenden, vor welche die staunenswerte Orientierungsfähig- 
keit der Ameisen die Wissenschaft gestellt hat. Wir unterscheiden 
dabei, nach dem Vorgehen von Cornetz, zunächst aus rein prak- 
tischen Gründen scharf zwischen zwei Grundphänomenen: 
Einer Massenorientierung zahlreicher Individuen auf kollektiv 
begangenen Wegen und der Orientierung einzeln vom Nest aus- 
gehender Individuen. Bei vielen Arten, so namentlich bei den 
augenlosen und schlecht sehenden, wie Lasius fuliginosus, ist aus- 
schließlich der erste Modus im Gebrauch, andere Arten gehen nach 
Belieben bald scharenweise, bald einzeln vom Neste aus (Formica, 
Polyergus, Lasius niger), noch andere immer nur vereinzelt (Cata- 
glyphis). Die psychobiologischen Grundlagen beider Orientierungs- 
arten sind z. T. wesentlich verschieden. 


1. Die Massenorientierung. 


Dieselbe ist in der Regel (aber durchaus nicht immer) eine 
Orientierung auf vorgezeichneter Bahn, welche zumeist 
durch eine chemische Spur, seltener durch eigentliche von den 
Ameisen angelegte gebahnte Straßen markiert wird. Uns inter- 
essiert hier vor allem die Orientierung auf Geruchsspuren, 
da diese Erscheinung trotz ihrer scheinbaren Einfachheit ein Pro- 
blem in sich birgt, das bis vor kurzem noch aller Erklärungs- 
versuche zu spotten schien. Es bietet sich dabei gewöhnlich folgendes 
Bild: Man sieht auf einer Strecke von 5, 10, ja selbst 100 und 
mehr Metern eine ununterbrochene Kette von Ameisen zwischen 
Nest und Ziel (gewöhnlich ein Blattlausstrauch) hin- und herwandern; 
dabei folgt jedes Tier, fortwährend den Boden mit den Fühlern ab- 
tastend, genau seinem Vordertier, ohne auch nur einen Finger breit 
vom Weg abzuweichen. Dass die Ameisen dabei in der Tat eine 
auf dem Boden deponierte materielle Geruchsspur verfolgen, geht 
aus einem einfachen Versuch hervor, den der Genfer Gelehrte 
Ch. Bonnet schon vor mehr als 100 Jahren machte. Zieht man 


232 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


nämlich mit dem Finger einen Strich quer über die Straße, so 
stauen sich die Ameisen zu beiden Seiten desselben an; sie suchen 
aufgeregt mit den Fühlern herum, bis endlich eine es wagt, das 
Hindernis langsam, zögernd zu überschreiten, worauf die übrigen 
folgen und der Verkehr sich allmählich wieder herstellt. Neuer- 
dings (1911) hat übrigens Santschı durch aufmerksame Beobach- 
tung mit der Lupe festgestellt, dass viele Ameisen ihre Spur 
aktiv markieren, indem jedes Individuum von Zeit zu Zeit stehen 
bleibt und ein winziges, wahrscheinlich den Analdrüsen entstammen- 
des Sekrettröpfehen auf dem Boden deponiert. Über die Flüchtig- 
keit, bezw. die Zähigkeit des Festhaftens des Spurgeruches gewann 
ich selbst auf folgende Weise einige Anhaltspunkte: Ich ließ Ameisen 
(Lasius niger) durch ein System kommunizierender Glasröhren wan- 
dern, schaltete dann einzelne Röhren für eine bestimmte Zeit aus 
und sodann wieder ein. Ich fand, dass der Spurgeruch der aus dem 
Verkehr ausgeschalteten Röhre noch nach 2, 4 und 8 Stunden in fast 
unverminderter Stärke anhaftete; auch durch Ausblasen mit dem 
Munde, ja selbst durch 5 Minuten langes Auswaschen in kaltem 
Wasser wurde er nicht völlig entfernt. Um eine vollständige Ver- 
kehrsunterbrechung zu bewirken, musste ich das Lumen der Röhre 
nach der Spülung mit Watte ausreiben! 

Nach alledem sollte man denken, dass die Orientierung auf 
Geruchsspuren ein sehr einfacher, vielleicht gar reflektorischer Vor- 
gang sei. Nun hat aber Bethe (l. c.) im Jahre 1898 die merk- 
würdige Entdeckung gemacht, dass die Ameisen nicht allein die 
Spur als solche, sondern auch die beiden Richtungen derselben 
anscheinend unmittelbar zu unterscheiden vermögen, und zwar 
nicht etwa mit Hilfe zufälliger Nebenwahrnehmungen anderer Sinne 
(z. B. Wahrnehmung der Lichtrichtung), sondern auf rein olfaktivem 
Wege. Infolge dieser wichtigen Entdeckung Bethe’s gestaltete 
sich die Frage der Orientierung auf Geruchsspuren zu einem der 
schwierigsten und umstrittensten Probleme der Insektenpsychologie. 

Bethe leitete eine Fährte von ZLasius niger, dıe zu einem Blatt- 


lausstrauch führte, über drei aufeinanderfolgende schmale Brettchen, 
a, b und 


(Blattläuse) + | < c — | - b - | — a <| (Nest) 


Drehte er nun eines dieser Brettchen (z. B. b) rasch um 180°, 


(Bl.) os ze 5 .- (N.) 


so entstand an den beiden Grenzen des Drehstückes jedesmal eine 
sehr deutliche Verkehrsstörung, ähnlich wie im Bonnet’schen 
Versuch, obschon ja durch das Drebungsmanöver die Spur als solche 
nicht unterbrochen wurde. Dagegen bewirkte die bloße Vertauschung 








Brun, Das Örientierungsproblem im. allgemeinen etc. 233 


der Brettehen keine Verkehrsstörung, so lange dieselben nicht gleich- 
zeitig auch gedreht wurden: 


Nun legte Bethe die Brettehen b und e nebeneinander, 
und zwar b nicht gedreht, ce um 180° gedreht: 


RT SONENEIRE FAR b 
(Bl.) DT > ine a -| + (N.) 


Die Folge war natürlich einmal eine komplette Verkehrsunter- 
brechung an der Stelle, wo e früher gelegen hatte, seitens der von 
den Blattläusen heimkehrenden Ameisen. Die vom Nest her auf 
dem Teilstück a ankommenden Ameisen hingegen gingen von a 
sämtlich auf das nicht gedrehte Teilstück b über, suchten an dessen 
Ende eine Weile nach der unterbrochenen Spur und wanderten 
dann aufec wieder nach a zurück. Daselbst neue Verwirrung, 
abermaliges Übergehen nach b, wiederum Zurückwandern auf ce 
u.s. w., „wie in einem Circulus vitiosus gefangen“. 

Aus diesen merkwürdigen Resultaten seiner Experimente glaubte 
Bethe den Schluss ziehen zu müssen, dass die chemischen Duft- 
teilchen der Ameisenspur eine polare Anordnung besitzen, so 
zwar, dass alle in der Richtung vom Nest nach den Blattläusen 
verlaufenden Spuren negativ polarisiert seien, alle in der umge- 
kehrten Richtung (nestwärts) führenden dagegen positiv polarisiert. 
Die olfaktive Rezeption dieser Polarisation sollte dann in den 
Ameisen einen „Chemoreflex“ auslösen, welcher sie zwingen würde, 
die verschiedenen Fährten stets nur im Sinne ihrer „Polarität“ zu 
verfolgen. 

Die Bethe’sche Polarisationshypothese hat indessen trotz ihrer 
bestechenden Einfachheit bei den Kennern des Ameisenlebens eben- 
sowenig Anklang gefunden, wie die übrigen nihilistischen An- 
schauungen dieses Autors über das psychische Leben der Insekten. 
Sie wurde insbesondere durch Wasmann?) als theoretisch wie 
sachlich gleichermaßen unbegründet vollständig widerlegt. Auf 
die scharfsinnige und gründliche Beweisführung Wasmann’s brauche 
ich hier nicht näher einzugehen, da Bethe’s Polarisationslehre, 
wie seine Reflextheorie überhaupt, längst von allen Forschern ver- 
lassen ist und heute nur noch historisches Interesse besitzt. Nur 
ein Hauptpunkt der Wasmann’schen Kritik sei hier wenigstens 
angedeutet, die Tatsache nämlich, dass ja die Ameisen auf ıhren 
Geruchsfährten stets in beiden Richtungen verkehren, so dass 
somit eine beim Hinweg allenfalls entstandene Polarisation der 


22) Wasmann, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. II. Aufl. — 
Schweizerbart’scher Verlag (E. Nägele), Stuttgart 1909. 


234 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


„Hinspuren* durch die umgekehrt polarisierten „Rückspuren“ der 
heimkehrenden Ameisen vorweg wieder aufgehoben würde; — 
es sei denn, dass die beiden en stets säuberlich getrennt neben- 
einander herlaufen würden. Das ist aber keineswegs der Fall; 
vielmehr überkreuzen und überlagern sich auf dem sehr schmalen 
Terrainstreifen natürlich Tausende von Hin- und Herspuren in 
wirrem Durcheinander. 

Wasmann’s Erklärung des Bethe’schen „Polarisationsphäno- 
mens“ gipfelt in der Annahme, dass die Ameisen imstande seien, 
die „Geruchsform“ ihrer Fußspuren zu unterscheiden. Die- 
selbe müsste natürlich für die hin- und zurückführenden Spuren 
verschieden sein (d. h. eine verschiedene Richtung haben), da die 
Stellung der Füße in beiden Fällen eine entgegengesetzte ist. Nimmt 
man nun außerdem noch an, dass dıe Hinspuren wahrscheinlich einen 
gewissen Nestgeruch, die Rückspuren dagegen mehr einen Blatt- 





Fig. 4. Schema zur Veranschaulichung der „Fußspurentheorie“ von 

Wasmann: Das Mittelstück der Fährte N Z: a # y ö ist um 180° gedreht. Weiße 

Keile: Die mit Nestgeruch behafteten „Hinspuren“. Schwarze Keile: Die nach 

Futter duftenden „Rückspuren“. Die bei ab, bezw. cd vor dem Drehstück an- 

kommenden Ameisen treffen dort plötzlich verkehrt stehende ‚„Geruchsformen“ 

(Hin- und Rückspurformen) an. — (Aus Brun, Raumorientierung der 
Ameisen.) 


lausgeruch an sich haben, so wären durch eine solche Kombination 
zweier verschieden gerichteter Spurformen mit zwei verschiedenen 
Geruchsqualitäten die beiden Richtungen der Fährte allerdings un- 
mittelbar eindeutig erkennbar. Die Sache wäre dann nämlich, um 
ein Gleichnis aus unserer Sinneswelt zu gebrauchen, ungefähr so, 
wie wenn auf einer Landstraße alle von der Stadt nach dem Dorfe 
wandernden Passanten mit roter Farbe angestrichene Schuhe an- 
hätten und somit rote, dorfwärts gerichtete Fußabdrücke hinter- 
lassen würden, alle in der umgekehrten Richtung wandernden Leute 
dagegen blaue (Fig. 4). 

Es ist ohne weiteres zuzugeben, dass diese „Fußspurentheorie* 
Wasmann’s (wie wir sie nennen wollen) sämtliche von Bethe 
beobachteten Erscheinungen in befriedigender Weise erklärt. Be- 
denkt man aber anderseits, dass die Gehspur einer Ameise sechs- 
füßig ist und dass auf einer vielbegangenen Fährte nicht zwei, 
sondern Tausende von solchen sechsfüßigen Einzelspuren sich ın 
wirrem Durcheinander überlagern, so wird man zugeben müssen, 
dass der Wasmann’sche Erklärungsversuch doch zum mindesten 
ein sehr gewagter und gekünstelter ist. 


Brun, Das Orientierungsproblem im ‚allgemeinen etc. 235 


Noch anders, wiewohl ebenfalls auf der Grundlage seiner topo- 
chemischen Theorie, suchte Forel das Bethe’sche Phänomen zu 
erklären. Im Gegensatz zu Wasmann verlegt er das Hauptgewicht 
nicht auf die Spur selbst, sondern auf den benachbarten Raum 
links und rechts neben der Spur und stellt sich vor, dass die 
Ameisen bei häufiger Begehung einer bestimmten Fährte von den 
sukzessive angetroffenen Gegenständen links und rechts der Spur 
allmählich eine gewisse Summe assoziierter topochemischer 
Engramme gewinnen werden. Sie werden, mit anderen Worten, 
allmählich eine förmliche „Geruchskarte“ ihres Weges aufnehmen, 
mit deren Hilfe sie sich jederzeit darüber orientieren können, was 
links und rechts, was vorn und hinten ist und sie werden also, 
wenn man nun plötzlich eine Teilstrecke des Terrains um 180° 
dreht, offenbar „eine plötzliche Umkehrung des Raumes verspüren, 
die sie notwendig desorientieren muss“, da jetzt die Reihenfolge 
der links und rechts angetroffenen Geruchsformen sich nicht mehr 
in Übereinstimmung befindet mit der in ihrem Gedächtnis engra- 
phierten Sukzession. 

Auch durch diese geistreiche Theorie wird m. E. das Zustande- 
kommen des Bethe’schen Phänomens nicht in allen Fällen erklärt. 
Denn wenn es auch zweifellos richtig ıst, dass die Ameisen auf 
ihren Reisen von der sukzessive wechselnden allgemeinen Be- 
schaffenheit des Bodens, über welchen sie gewandert sınd?), viel- 
leicht auch von gewissen, besonders charakteristischen Örtlichkeiten 
topochemische Engramme fixieren, so ist doch schwer einzusehen, 
wie eine sukzessive Engraphie zahlreicher differenter Einzelengramme 
auch unter den künstlich vereinfachten Bedingungen des Bethe’- 
schen Versuchs zustande kommen soll, wo die Spur über drei 
ganz gleichartige homogene Brettchen führte. 

Diese kritischen Bedenken, die ich sowohl der Wasmann’schen 
wie der Forel’schen Deutung des Spurdrehungsphänomens ent- 
gegenhalten musste, veranlassten mich, die merkwürdige Erschei- 
nung unter variablen Versuchsbedingungen nochmals nachzuprüfen 
und genauer zu analysieren. Ich ging dabei von den folgenden 
Überlegungen aus: 

Falls die Ameisen wirklich, wie Wasmann annımmt, die Ge- 
ruchsform ıhrer Fußspuren zu unterscheiden vermögen, so müssten 
sie offenbar auch imstande sein, die beiden Richtungen ihrer Fährte 
augenblicklich, vom Fleck weg, wo man sıe hinsetzt, zu er- 
kennen, und zwar ganz gleichgültig, ob sie die betreffende Fährte 
von früheren Gängen her „kennen“ oder nicht. Hätte dagegen 
Forel recht, so wäre die Richtungsunterscheidung den Ameisen 
natürlich nur auf solehen Fährten möglich, welche sie von früher 


23) Ich werde hierfür weiter unten noch nähere Beweise anführen. 


236 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 


her kennen, nicht aber auf solchen, die sie früher nie begangen 
haben (da sie ja keine Engramme von solchen besitzen). Aber 
auch auf „bekannten Fährten“ wäre ıhnen die Entscheidung zwischen 
den beiden Richtungen jedenfalls nicht sofort, vom Fleck weg, wo 
man sie hinsetzt, möglich, sondern sie wären zweifellos genötigt, 
durch kurzes Hin- und Herwandern in beiden Richtungen zu- 
nächst den Gang der topochemischen Sukzession festzustellen. 
Meine Versuche, die ich ın ihrer Gesamtheit als den „mne- 
mischen Versuch“ bezeichnet habe, bestanden demnach im Prin- 
zıp darin, dass ich Ameisen auf irgendeinen Punkt bald einer ihnen 
im obigen Sinne „bekannten“, bald einer sicher unbekannten Fährte 
setzte und nun beobachtete, ob und auf welche Weise sie eine 





Fig. 5. (Aus Brun, Raumorientierung der Ameisen.) 


Richtungsentscheidung zu treffen imstande waren. Zu diesem 
Zwecke teilte ich eine Kolonie der glänzend schwarzen Lasius fuli- 
ginosus (eine Art, die sich fast ausschließlich auf Geruchsfährten 
bewegt) in zwei getrennte Abteilungen A und B. Die Abteilung A 
kam in einen provisorischen Behälter, aus dem ich nach Be- 
darf Ameisen und Brut entnehmen konnte. Die Abteilung B da- 
gegen etablierte ich ın einem künstlichen Beobachtungsnest (N) 
dessen gläserne Ausgangsröhre auf den Anfang einer 1 m langen 
schmalen Papierbrücke mündete (Fig. 5). Diese Brücke verlief 
quer über den Mittelpunkt eines nach meinen Angaben konstruierten 
kreisrunden Experimentiertisches zu einer kleinen Plattform (Pl), 
auf welcher ich den Ameisen nach Bedarf Honig reichte. Der zen- 
trale Kreis des Tisches samt dem über ıhn führenden Brückenstück 
konnte für sich gedreht werden. 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 237 


Um eine rein olfaktorische Orientierung zu haben, musste ich 
natürlich alle übrigen Orientierungsmöglichkeiten durch geeignete 
Maßnahmen sicher ausschließen, in erster Linie die optische Orien- 
tierung. Dies geschah erstens dadurch, dass ich in einem Dunkel- 
zelt arbeitete, dessen gleichmäßig schwarze Wände und Gewölbe 
keinerlei visuelle Anhaltspunkte boten und zweitens durch „bipo- 
lare“ Beleuchtung, indem ich statt einer Lichtquelle deren 
zwei an genau symmetrischen Punkten links und rechts am Tische 
(quer zur Achse der Brücke) aufstellte. Bei dieser Versuchsanord- 
nung ist es klar, dass eine von der Mitte der Brücke abgehende 
Ameise in beiden Augen streng symmetrische Lichteindrücke 
empfangen muss, deren sinnliche Lokalisation sich gleichbleibt, ob 
sie nun in der Richtung N oder in der entgegengesetzten Richtung 
läuft; mit anderen Worten die Orientierung wird hinsichtlich der 
sinnlichen Lokalisation der Lichtquelle zweideutig bestimmt sein 
und keinerlei Indikation der relativen Richtungen gewähren. 

Die Ameisen zögerten nicht, eine lebhaft begangene „Futter- 
fährte* zu dem Honig auf P! zu etablieren. Nun führte ich die 
oben angedeuteten Versuche wie folgt aus: 

I. 1. Ich fing Ameisen, die eben, vom Honig gesättigt, nach 
dem Nest zurückkehren wollten, bei Pl vermittelst eines Bleistifts 
ab und ließ sie von dessen Spitze auf die Mitte der Brücken- 
fährte absteigen, und zwar in der falschen Richtung, d. h. gegen 
Pl. Resultat: Alle Ameisen behielten diese falsche Rich- 
tung zunächst noch eine Strecke weit bei. Nach einer Weile 
aber stutzten sie, schwankten ein- oder mehrmals, indem sie kurze 
Schleifen nach beiden Richtungen beschrieben und kehrten dann 
schließlich definitiv nestwärts um. Sie benahmen sich also genau 
so, wie wir es nach der Forel’schen Hypothese erwartet hatten: 
Als ob sie den Gang der topochemischen Sukzessionen feststellen 
wollten. 

2. Ich lasse die Ameisen näher beim Nest auf die Brücke ab- 
steigen. Gleiches Resultat, doch erfolgt jetzt die Umkehr aus der 
falschen Richtung viel früher als von der Mitte aus. 

3. Abstieg von der Mitte in der Richtung N: Die im Ver- 
such 1 beobachteten Schwankungen werden zumeist vermisst; 
die Ameisen verfolgen die gute Richtung anfangs zögernd, dann 
immer sicherer bis zum Nest. 

II. Ich wiederholte die gleichen Versuche mit Ameisen aus der 
Abteilung A, denen also die Brücke vollständig „unbekannt“ (im 
Sinne Forel’s) sein musste. Um eine eindeutige Reaktion zu haben, 
benutzte ich aber zu diesen Versuchen nur solche Ameisen, die 
gerade eine Larve trugen, denn diese können selbstverständlich 
nur ein Ziel haben: Das schützende Nest. Resultat: Diese 
Ameisen benahmen sich genau ebenso wie die Ameisen B, d.h, 


238 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec. 


auch sie erkannten, nach anfänglichem Falschgehen, regelmäßig 
ihren Irrtum und korrigierten nach N. Folglich kann diese 
olfaktorische Richtungsunterscheidung nicht auf 
dem Vorhandensein einer topochemischen Engramm- 
sukzession beruhen, wie es anfangs den Anschein hatte. 
Aber auch Wasmann hat Unrecht, denn diese Richtungs- 
unterscheidung erfolgte in keinem einzigen Falle un- 
mittelbar vom Fleck weg, wo die Ameisen hingesetzt 
wurden, sondern erst nach Zurücklegung einer gewissen 
Wegstrecke und eventuell unter wiederholtem Schwan- 
ken zwischen beiden Richtungen. 

Iil. Nunmehr ersetzte ich den Honig auf der Plattform durch eine 
große Menge Larven, welche die Ameisen sofort ins Nest abzuholen be- 
gannen. Nach einigen Stunden war der Larventransport noch in vollem 
Gange. Ich wiederholte die verschiedenen Varianten des mnemischen 
Versuchs und war überrascht zu sehen, dass jetzt alle in der falschen 
Richtung abgestiegenen Ameisen diese falsche Richtung bis zur 
Plattform beibehielten, ohne unterwegs jemals zu schwanken oder 
gar zu korrigieren, mit anderen Worten, dass auf Fährten, über 
welche längere Zeit Brut getragen wurde, eine olfakto- 
rische Richtungsindikation vollständig zu fehlen schien. 
Das wurde noch deutlicher, als ich nun die Larven, anstatt von der 
Plattform, von der Mitte der Fährte abholen ließ: Die vom Nest 
her bei dem Larvenhaufen ankommenden Ameisen stutzten, stiegen 
auf den Larven herum, ergriffen schließlich eine und wollten mit 
ihr nach Hause eilen. Gut die Hälfte gingen aber nach der 
falschen Seite ab, gelangten zur Plattform, wo sie lange nach 
dem Nesteingang suchten und kehrten dann erst nestwärts um oder 
verirrten sich gänzlich °%). 

Nun brachte ich an der einen Seite der Brücke eine 5 mm 
hohe Brüstung aus steifem Papier an, so zwar, dass die vom Nest 
zur Plattform wandernden Ameisen dieses Geländer links hatten, 
die heimkehrenden Ameisen dagegen zur Rechten. 3 Tage ließ ich 
diese Versuchsanordnung bestehen und wiederholte sodann den Ver- 
such des „Larvenabholens aus der Mitte“. Und siehe da! Diesmal 
ging nur etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Ameisen aus der 
Mitte nach der falschen Seite ab und auch von diesen falsch ge- 
gangenen korrigierten die meisten, sobald sıe zufällig mit dem 
Fühler ans Geländer stießen. Sie stutzten dann, traversierten 
schräg zur geländerfreien Seite hinüber, stutzten abermals und 
kehrten um! Der merkwürdige Vorgang wiederholte sich so kon- 
stant, dass ein Zufall vollkommen auszuschließen ist. Die Probe 


24) Ich erinnere hier nochmals, dass sämtliche Versuche im Dunkelzelt unter 
bipolarer Beleuchtung ausgeführt wurden. 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 239 


w 


aufs Exempel erhielt ich übrigens sofort, als ich das Geländer mit 
der Schere wieder abschnitt: Sofort gingen wieder 50%, der Ameisen 
falsch und keine einzige stutzte unterwegs oder kehrte um. Dieser 
Versuch beweist somit, dass die Ameisen die topoche- 
mischen Eindrücke ıhrer linken Körperseite von den- 
jenigen der rechten unterscheiden und dass sie auch ım- 
stande sind, solche konstant einseitig lokalisierten 
Eindrücke mit der entsprechenden Wegrichtung zu asso- 
ziieren, bezw. die Wegrichtung daraus zu erkennen. 

Diese verschiedenen Varianten des mnemischen Versuchs haben 
uns über die Natur des Bethe’schen Phänomens eigentlich mehr 
negative Aufklärung gebracht, neben einigen positiven Hinweisen. 
Wir wissen jetzt, dass diese geheimnisvolle Richtungsindikation 
nicht vom Fleck weg, sozusagen von Millimeter zu Millimeter, ent- 
steht, dass sie (auf gleichförmig begrenzter Fährte) nicht auf dem 
Vorhandensein einer topochemischen Engrammsukzession beruht, 
dass sie näher beim Nest rascher zustande kommt als in der Mitte 
der Fährte und endlich, dass sie auf Fährten, über welche längere 
Zeit Brut getragen wurde, vollständig fehlt. 

Zum Zwecke einer weiteren Aufklärung der Erscheinung 
wiederholte ich nun auf meiner Brückenfährte auch die Bethe’- 
schen Drehungsexperimente, und zwar einerseits auf der 
„Futterfährte“, andererseits auf der „Brutfährte“, mit folgenden 
Modifikationen: Ich legte auf das Nestende und auf das Platt- 
formende der Brücke gleichbrete mobile Papierstreifen 
von sukzessive zunehmender Länge. Nachdem sich der Ver- 
kehr notgedrungen seit einigen Stunden über diese Hindernisse 
wieder hergestellt hatte, drehte ich erstens jeden Streifen an Ort 
und Stelle um 180° sodann vertauschte ich beide Streifen mit- 
einander, bald um 180° gedreht, bald nicht gedreht. Es wurde 
jedesmal an beiden Orten beobachtet, ob eime Verkehrsstörung ein- 
trat oder nicht und der Grad derselben zahlenmäßig (nach den 
Reaktionen der 12 ersten bei den Drehstücken ankommenden Ameisen) 
festgestellt, wobei ich vier verschiedene Grade des Stutzens unter- 
schied. So erhielt ich eine fortlaufende Serie zahlenmäßiger Be- 
lege, aus deren Vergleichung im wesentlichen folgendes her- 
vorgeht: 

1. Es zeigte sich, wie im mnemischen Versuch, dass das 
Bethe’sche Phänomen auf der „Brutfährte“ vollständig 
negativ ist, indem alle Ameisen sowohl die an Ort und Stelle 
gedrehten als die miteinander vertauschten Streifen stets passierten, 
ohne ım geringsten zu stutzen. 

2. Dagegen ıst das Phänomen auf der Futterfährte aller- 
dings durchweg positiv, jedoch mit folgenden wichtigen Besonder- 
heiten: | 


240 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 


a) Im Gegensatz zu Bethe’s Angaben kam eine starke Re- 
aktion auch dann zustande, wenn der Neststreifen mit dem Platt- 
formstreifen ohne Drehung vertauscht wurde ?°). 

b) Die Reaktion nımmt zu mit zunehmender Länge des ge- 
drehten Spurabschnittes; 

c) sie fällt stärker aus nach Vertauschung der (gedrehten) Teil- 
stücke als nach bloßer Drehung derselben an Ort und Stelle; 

d) sie ıst am Nestende der Fährte um das Vielfache intensiver 
als am Futterende; 

e) und endlich reagieren die vom Nest zum Futter wandernden 
Ameisen an beiden Orten stets viel intensiver als die heimkehren- 
den Ameisen. 

M.H.! Alle diese Tatsachen lassen sich m. E. in befriedigender 
Weise nur durch die Annahme erklären, dass der Geruchskom- 
plex der Ameisenspur im Verlaufe seiner Kontinuität ein 
sukzessives Intensitätsgefälle gewisser Komponenten 
aufweist, und zwar wahrscheinlich nach beiden Rich- 
tungen: Beim Ausgehen vom Neste verschleppen Tausende von 
Ameisen den Nestgeruch an den Füßen und Fühlern in sukzessive 
abnehmender Intensität ın der Richtung des Zieles, und umgekehrt 
verschleppen die heimkehrenden Ameisen den Honiggeruch in 
abnehmender Stärke nestwärts. Die Fährte wird also ın der Nähe 
des Nestes starken Nestgeruch und keinen oder nur schwachen 
Honiggeruch aufweisen, während in der Nähe des Zieles das Um- 
gekehrte der Fall sein wird. Dreht man nun sagen wir in der 
Nähe des Nestes — ein Teilstück der Fährte um 180°, so werden 
die vom Nest her bei demselben ankommenden Ameisen plötzlich 
eine starke Intensitätsschwankung wahrnehmen, die natürlich 
um so stärker ist, je länger das gedrehte Teilstück ıst. Betreten 
sie aber das Drehstück trotzdem, so werden sie bei weiterer Ver- 
folgung der Fährte anstatt zunehmenden Honiggeruchs wieder zu- 
nehmenden Nestgeruch verspüren, was sie vollends desorien- 
tieren muss. In der Nähe des Zieles liegen die Verhältnisse ähnlich 
mit Bezug auf den Honiggeruch, doch dürfte dieser letztere sich 
der Fährte mit viel geringerer Intensität mitteilen, als der Geruch 
des Nestes, in dem sich die Ameisen den größten Teil des Tages 
über aufhalten. Auch werden die Ameisen in der Nähe des Zieles 
nicht mehr in dem Maße fähig sein, auf kleinste Intensitätsschwan- 
kungen zu reagieren wie beim Nest, teils wegen direkter Ermüdung 
der Geruchsorgane, teils weil sie, nach Zurücklegung des größten 
Teiles des Weges, ihrer Sache nunmehr sicherer geworden sind. 
So erklärt sich die viel geringere Reaktion der Ameisen in der 





25) Dieser Widerspruch mit Bethe’s Resultaten dürfte sich so erklären, dass 
bei meinen Versuchen die beiden Teilstücke viel weiter auseinanderlagen als in den 
3ethe’schen Experimenten. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 341 


Nähe des Zieles, verglichen mit der Reaktion beim Nesteingang. 
In noch höherem Maße wird das zuletzt erwähnte — mnemische — 
"Moment sich bei den heimkehrenden Ameisen ‚geltend machen, 
denn diese alle haben ja die gesamte Strecke schon einmal beim 
Hinweg durchmessen und dürften daher ım Besitze gewisser aktueller 
Engramme sowohl von der allgemeinen topochemischen Beschaffen- 
heit der Fährte als von deren Länge sein. Sie haben es daher 
nicht mehr nötig, die Spur so sklavisch mit den Antennen zu ver- 
folgen wie beim Hinwege und so werden ihnen feinere Intensitäts- 
schwankungen ın der Zusammensetzung des Spurgeruches leicht 
entgehen. Daher die geringe Reaktion der heimkehrenden Ameisen 
auf die Spurdrehung. 

Wesentlich anders legen die Verhältnisse auf der „Brut- 
fährte*. Hier wird der Zielgeruch (in diesem Falle also der 
Larvengeruch) nicht bloß ın Gestalt spärlicher Geruchspartikel auf 
die Spur verschleppt, sondern die Fährte wırd, infolge des Trans- 
portes der Larven, mit diesem Zielgeruch ın gleichmäßiger 
und originärer Stärke gleichsam bestrichen. Die Fährte 
wird daher in allen ihren Abschnitten allmählich einen vollkommen 
homogenen Brutgeruch annehmen, welcher den Nestgeruch um so 
eher übertäuben wird, als dieser letztere, infolge der Gegenwart von 
vielen tausend Larven ım Neste, im wesentlichen wohl selbst einen 
„Brutgeruch“ darstellt und welcher weder ın der einen noch ın 
der anderen Richtung ein merkliches Intensitätsgefälle darbieten 
wird. — 

Damit haben wır das geheimnisvolle Spurdrehungsphänomen, 
wie ich glaube, ın einfacher und befriedigender Weise erklärt, — 
ohne Herbeiziehung eines physiologisch unfassbaren, mystischen 
Prinzips, wie es die Bethe’sche „Polarisation“ ım Grunde ist und 
ohne andererseits den Ameisen irgendwelche außerordentlichen sınn- 
lichen oder psychischen Fähigkeiten zuzuschreiben. Glauben Sie aber 
nicht, dass die Frage der Orientierung auf Geruchsfährten damit 
erschöpft sei; — der olfaktorısche Faktor ıst nur eine, allerdings 
sehr wesentliche Komponente dieses verwickelten Mechanismus, 
welche nötigenfalls für sich allein zur Indikation der relativen Rich- 
tungen ausreicht. Die übrigen Faktoren, welche hier noch eine 
Rolle spielen, werden wir bei der Orientierung auf Einzelwande- 
rung kennen lernen, deren experimenteller Analyse wir uns nun- 
mehr zuwenden wollen. 


2. Die Orientierung auf Einzelwanderung. 

Die Rolle des Geruchssinnes bei der Orientierung der Ameisen 
wurde früher ım allgemeinen überschätzt, obschon man längst wusste, 
dass es sogar gewisse Formen der Massenorientierung gibt, bei 
welchen dieser Sinn von sekundärer Bedeutung zu sein scheint. 

XXXV. 16 


342 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


So versagt z. B. der Bonnet’sche Fingerversuch auf den Heerstraßen 
der roten Waldameise (Formica rufa) vollkommen. Bei der gleichen 
Art blendete Forel die Fazettenaugen, indem er sie mit schwarzem 
Lack überzog; er fand, dass die so behandelten Tiere die größte 
Mühe hatten, die Ameisenstraße zu verfolgen und alle Augenblicke 
seitwärts abirrten. Forel?®) sowie Fabre?’) berichten ferner über- 
einstimmend, dass die von ihren Raubzügen heimkehrende Armee 
der Amazonenameise (Polyergus rufescens) durch Abschwemmen des 
Bodens mit dem Wasserstrahle in der Einhaltung ihrer Richtung 
keineswegs beeinträchtigt wird. Auch Miss Fielde°®), die Ameisen 
auf der Heimkehr durch Unterwassersetzen des Bodens zum 
Schwimmen zwang, konstatierte die gleiche Erscheinung. Was- 
mann (l. ce.) wies in seiner Kritik der Bethe’schen Polarisations- 
theorie unter anderm auch auf die Saisonumzüge der Formica san- 
guinea hin, welche keineswegs auf einer schmalen Fährte erfolgen. 
Alle diese Autoren kamen zu dem Schlusse, dass, zum mindesten bei 
den genannten Arten, auch der Gesichtssinn, bezw. ein gewisses 
Maß von visuellem Ortsgedächtnis, bei der Orientierung wesent- 
lich beteiligt seı. 

Man wusste ferner längst, 


Nenn! )_ x en dass"Ameisen? Schr Xof Jauch 
einzeln vom Nest ausgehen 


R x1 und dass sie dabei oft so- 

gar recht weite Wanderungen 

Fig. 6. unternehmen; man setzte aber 

ohne weiteres voraus, dass 

diese Einzelgänger auf ihrer eigenen Hinspur zum Neste zurück- 

finden. Diese durch nichts begründete Annahme wurde dann durch 

den französischen Psychologen H. Pi@eron?’) zum ersten Male 
experimentell widerlegt. 

Pieron fing einzeln wandernde Ameisen auf der Heimkehr 
zum Nest bei irgendeinem Punkt & ab und versetzte sie mehrere 
Meter seitwärts, auf einen Punkt x, (Fig. 6): 

Die so transportierten Ameisen setzen ihre Reise ruhig fort, 
jedoch nicht mehr in der Richtung des Nestes, sondern in einer 
Richtung, welche der vor dem Transport eingehaltenen 
genau parallel ıst und noch ungefähr so weit, als der 
Distanz («—N) entspricht, die sie, ohne Transport, noch 
bis zum Neste hätten zurücklegen müssen. Dann beginnen 


26) Forel, Fourmis de la Suisse, Geneve 1874. 

27) Fabre, Souvenirs entvmologiques Il; Paris, Delagrave 1870. 

28) Fielde, Experiments with ants induced to swim. Proc. Acad. Nat. 
Sc. Philadelphia 1903. 

29) Pieron, Du röle du sens musculaire dans l’orientation des Fourmis. 
zull, Inst. gen. Psychol. 1904. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 345 


sie wirre „konzentrische Kurven“ zu beschreiben, als ob sie das 
Nest suchen wollten. Mit anderen Worten: Die Ameisen verhalten 
sich nach dem seitlichen Transport genau so, als ob sie einen 
inneren Kompass hätten, an dem sie die absolute Richtung ihrer 
Orientierung ablesen könnten und als ob sie einen Schrittmesser 
(Podometer) besäßen, der ihnen die noch zurückzulegende Distanz 
in Streckendifferenzen anzeigen würde. 

Von dieser interessanten Erscheinung ausgehend hat dann der 
algerische Ingenieur V. Cornetz°®) die Einzelwanderung bei Ameisen 
eingehend studiert. Er bediente sich dabei der graphischen 
Methode, indem er die von den Ameisen beschriebenen Kurven 
jeweilen dicht hinter den Tieren im Terrain markierte, sodann aufs 
Genaueste ausmaß und in verkleinertem Maßstab in einen geo- 
metrischen Plan einzeichnete. Er erhielt so überaus exakte Bilder 
der gesamten Reise mit allen Einzelheiten ihres Verlaufs. Das 
erste, was Cornetz feststellte, war die Tatsache, dass die Einzel- 
wanderer nicht auf einer Geruchsspur gehen, denn man 
kann den ganzen Boden vor ihnen her ausgiebig mit dem Besen 
bearbeiten, ohne dass sie davon im geringsten Notiz nehmen. Die 
Reise ist kein regelloses Umherirren, sondern sie lässt gewöhnlich 
eine bestimmte Hauptrichtung erkennen, zu welcher das Tier 
nach vorübergehenden seitlichen Abschweifungen immer wieder 
mit bemerkenswerter Genauigkeit zurückkehrt. Die Rückkehr 
zum Nest erfolgt niemals auf der „Hinspur“, sie verläuft 
jedoch in der Nähe derselben und ist ihr im großen ganzen parallel. 
Selten kommt es vor, dass eine Ameise ım Verlaufe der Reise 
nacheinander zwei (oder drei) verschiedene Hauptrichtungen ein- 
schlägt, die dann meist senkrecht aufeinander stehen. Beı der 
Rückkehr wird das so entstandene Dreieck oder Polygon nie direkt 
vermittelst der Diagonale geschlossen, sondern die verschiedenen 
Hauptachsen werden sukzessive in der umgekehrten Reihenfolge 
und auf ungefähr gleiche Distanzen wieder aufgenommen. Hat sich 
die Ameise dem Nest wieder bis auf eine gewisse (wechselnde) 
Distanz genähert, so verlässt sie ın der Regel die meist etwas 
fehlerhafte Hauptrichtung plötzlich an irgendeinem Punkte und 
korrigiert genauer nach N; meist schießt sie jedoch etwas am Ziele 
vorbei, wodurch eine neue Korrektur nötig wırd; der gleiche Vor- 
gang kann sich noch einige Male wiederholen, so dass die Ameise 
das Nest in immer engeren konzentrischen Kurven umkreist, bis 
sie schließlich genau den Nesteingang trifft. Interessant ist dabei, 
dass diese Korrekturen von den betreffenden Punkten aus (aber 
nur von diesen!) immer in der gleichen Richtung erfolgen: Ver- 


30) Cornetz, Trajets de fourmis et retours au nid. Me&moires de l’Institut 
gen. Psychol. 1910. 


16* 


44 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 


27 


setzt man beispielsweise eine Ameise, die von Y nach Z (Fig. 7) 
korrigiert hat, wieder nach Y zurück, so läuft sie wieder nach Z, 
bringt man sie aber auf irgendeinen Punkt der Strecke zwischen 
Y—Z, so läuft sie in einer beliebigen anderen Richtung?!). 

Was den Pıeron’schen Parallellauf betrifft, so wıll Cornetz 
denselben selbst im tiefsten Waldesschatten, sowie nach Transport 
aus der Sonne in den Schatten, oder umgekehrt, beobachtet haben. 
Dagegen versagt dıe Erscheinung meist vollständig, wenn der Trans- 
port auf einen dem früheren ganz unähnlichen Boden (z. B. von 
Sandboden auf eine Wiese) erfolgt, — m. E. ein Beweis, dass 
die Ameisen auf ihren Wanderungen die allgemeine 
Bodenbeschaffenheit engraphieren. Nach primärem Trans- 
port vom Nest weg fand Cornetz die Ameisen stets vollständig 
desorientiert, mit Ausnahme eines einzigen Falles, der sich folgender- 
maßen verhielt: Eine Ameisenfährte überquerte in schräger Rich- 
tung eine Landstraße; das Nest befand sich unter einem Randstein 
des Trottoirs. Als Cornetz einige Tage später den Ort wieder 

.N aufsuchte, war diese Fährte einge- 
Zn ES WR gangen. Er nahm nun einige Ameisen 

Y direkt beim Nesteingang und setzte 

rn sie mitten auf die Landstraße, einige 

Meter seitlich von der früheren Fährte. 

Die Tiere liefen sofort zum Randstein zurück und zwar in einer Rich- 

tung, welche der alten Fährte genau parallel war, und am Rand- 

stein angekommen bogen sie nach links ab, genau wie auch jene 
Fährte verlaufen war. — 

So tüchtig und gewissenhaft sich Cornetz als Beobachter er- 
wiesen hat, so ratlos ließen ıhn die von ıhm beobachteten Tatsachen 
bezüglich ihrer Deutung. Der Pieron’sche Parallellauf und die 
Konstanz der Reiserichtung sind für ıhn Rätsel, die uns zur An- 
nahme eines uns noch ganz unbekannten Richtungssinnes zwingen 
sollen. Und so stellt Cornetz denn allen Ernstes die folgenden 
erstaunlichen Behauptungen auf: 

Die Orientierung der einzeln wandernden Ameise sei 
ım Prinzip gänzlich unabhängig von irgendwelchen sınn- 
lichen Anhaltspunkten in der Außenwelt, — sie erfolge 
vielmehr kraft eines unbekannten, absoluten, inneren 
Richtungssinnes, einer Richtungsangabe, welche während 
der Hinreise ım Sensorium des Tieres entstehe und ıhm 
erlaube, eine früher einmal innegehaltene absolute Rich- 
tung des Raumes jederzeit (selbst nach Tagen) wieder 
aufzunehmen. 


31) Cornetz, La connaissancee du monde environnant son gite pour une 
fourmi d’espece sup£rieure. Revue des Idees 1912. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 945 


Diese Lehre, die schon erkenntnistheoretisch völlig unhaltbar 
ist, wurde in neuester Zeit von Dr. Santschi°?), einem in Tunis 
lebenden Myrmekologen, aufs heftigste angegriffen und durch glän- 
zende Gegenexperimente vollständig widerlegt. 

Für Santschi stand es von vornherein fest, dass jede orien- 
tierte Lokomotion sich auf irgendwelche in der Außenwelt wirkende 
Reizquelle beziehen muss. Wenn also eine Ameise nach seitlichem 
Transport von einem Punkte x nach x, vom letzteren Ort aus ohne 
weiteres ihre frühere Richtung wieder aufnimmt, so kann es hier- 
für logischerweise nur eine Erklärung geben: Nämlich die, dass der 
bei x wirkende tropische Reizkomplex auch bei x, in genau der 
nämlichen räumlichen Beziehung (zum sinnlichen Rezeptor des 
Tieres) gegenwärtig ist. Ein solcher allgegenwärtiger und an jedem 
beliebigen Ort aus der gleichen Richtung fallender tropischer Reiz 
ist z. B. das Licht, speziell das Licht der Sonne. Sollten sich 
nicht die einzeln wandernden Ameisen nach dem Lichte orientieren? 
Alles, was wir über die Anatomie und Physiologie des Insekten- 
auges wissen, scheint Santschi zugunsten dieser Hypothese zu 
sprechen: 

Wir haben gesehen, dass die Fazettenaugen hauptsächlich für 
das Sehen von Bewegungen, d.h. der relativen Ortsverände- 
rungen des Netzhautbildes eingerichtet sind. Wenn dies 
richtig ist, so scheinen sie aber auch umgekehrt geeignet, bei gerad- 
liniger Fortbewegung des eigenen Körpers, große, entfernte stabile 
Objekte oder entfernte direkte Lichtquellen ın ungemein 
exakter Weise räumlich zu lokalisieren. Da nämlich die 
schmalkonischen Ommatidien nur den mehr oder minder senkrecht 
einfallenden Strahlen den Zutritt zur lichtempfindenden Sinnesfläche 
gestatten, alle schrägen Strahlen dagegen in ihren pigmentumhüllten 
Wänden absorbieren, so wird sich eine solche Lichtquelle jeweilen 
nur in wenigen Fazetten abbilden, und zwar wird diese Lokalisation 
— bei geradliniger Fortbewegung — konstant die nämliche sein, 
dank der unendlichen Entfernung der Lichtquelle. Mit anderen 
Worten: um eine bestimmte gerade Richtung einzuhalten, hat das 
Tier nur dafür zu sorgen, dass das Sonnenbild konstant in die 
nämlichen Fazetten fällt. Und wenn es sich ferner bei der Rück- 
kehr nun so zur Lichtquelle einstellt, dass deren Bild jetzt ebenso 
konstant die diametral entgegengesetzten (korrespondierenden) 
Fazetten des andern Auges trifft, so ıst klar, dass sein Kückweg dem 
Hinweg parallel sein wird und es somit ziemlich genau zum Aus- 
gangspunkte zurückführen muss. Und nun formuliert Santschi 
aus diesen Prämissen seine geistreiche Theorie wie folgt: 


32) Santschi, Comment s’orientent les fourmis. Revue Suisse de Zoo- 
logie 21, 1913. 


246 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


Die Fazettenaugen der Ameisen sind gewissermaßen 
Lichtkompasse, welche den Tieren mit Hilfe einer exak- 
ten sinnlichen Lokalısation der Lichtquelle und — bei 
der Rückkehr — vermittelst sinnlicher Reversion dieses 
lokalisierten Lichteindruckes auf diametral symme- 
trische Sinnesflächen eine geradlinige Richtungseinhal- 
tung und eine sichere Rückkehr zum Ausgangspunkte 
ermöglichen. Der Pıieron’sche Parallellauf aber ist nichts 
anderes als eine virtuelle Orientierung nach der Licht- 
quelle. 

Unter den zahlreichen experimentellen Tatsachen, durch welche 
Santschi die Richtigkeit seiner „Lichtkompasstheorie“ be- 
legt, will ich hier nur seine Spiegelexperimente®®), als die be- 
weiskräftigsten, hervorheben: 

Bei einzeln heimkehrenden Ameisen beschattete Santschı das 
Terrain durch einen großen Schirm und projizierte sodann das Bild 
der Sonne vermittelst eines großen Spiegels auf die andere Seite. 
Der Erfolg war jedesmal der, dass die Tiere sofort umkehrten und 
so lange in der entgegengesetzten Richtung (also jetzt gerade vom 
Neste weg) liefen, als Santschi die falsche Sonne einwirken ließ. 
Drehte Santschi den Spiegel so, dass die falsche Projektion der 
Sonne nur 90° betrug, so wichen die Ameisen dementsprechend 
auch nur in einem rechten Winkel aus ihrer Richtung ab. Der 
Spiegelversuch ergab Santschi selbst auf Ameisenstraßen und mir 
sogar auf Geruchsfährten (bei Zasius fuliginosus) noch positive 
Resultate, — ein Umstand, der beweist, dass die Lichtorientierung 
selbst hier noch der ausschlaggebende Indikator der relativen Rich- 
tung ist! 

Santschi ist übrigens nicht der erste, der die Orientierung nach 
dem Lichte bei Ameisen nachgewiesen hat; er hat sie aber physio- 
logisch näher begründet. Lubbock°*) (nachmals Lord Avebury) 
hatte nämlich schon vor mehr als 30 Jahren gezeigt, dass Ameisen 
augenblicklich auf ihrem Weg umkehren, wenn man die relative 
räumliche Lokalisation der Lichtquelle um 180° ändert, sei es 
durch Umstellung des Lichtes auf die andere Seite, sei es durch 
Drehung der Unterlage bei feststehendem Licht. Die Ameisen ant- 
worten dann sofort mit einer entsprechenden Gegendrehung im 
umgekehrten Sinne, welche ausbleibt, wenn man die Lichtquelle in 
geeigneter Weise verdeckt oder wenn die Lichtquelle die Drehung 
mitmacht. Hätte Bethe diesen letzteren Umstand beachtet, so 
hätte er nicht, ın gänzlicher Missverstehung der Experimente Lub- 
bock’s, aus der Erscheinung einen „Drehreflex“ gemacht. Gegen 


33) Revue Suisse de Zoologie 19, 1911. 
34) Ants, bees and wasps. — London 1881. 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 937 


29 


einen solchen spricht auch die Tatsache, dass blinde Ameisenarten 
auf Drehungen der Unterlage niemals mit einer Gegendrehung 
reagieren. 

Auf noch anderem Wege gelang es mir selbst, bei Ameisen 
die Tatsache der Orientierung nach der Sonne nachzuweisen 
und zugleich zu zeigen, wie exakt der eben geschilderte Mechanis- 
mus der sinnlichen Reversion des Lichteindrucks arbeitet. Es war 
mir aufgefallen, dass die Rückkurve der von mir vermittelst der 
Cornetz’schen Methode verfolgten Einzelwanderer von der 
Hinweglinie meist um einen kleinen Winkel nach rechts ab- 


wich. Ich ging nun so vor, dass mA 

= = > = RG Da L 

ich eine Ameise, die — fast gerad- no u Zu2 
linig der Sonne entgegen — über 7 


einen mit Sand bestreuten Spiel- 
platz wanderte, an einem Punkte x 
fixierte, indem ich eine kleine 
runde Schachtel über ihr ın den r 
Sand stülpte. Es war genau 3 Uhr 
nachmittags. Ich ließ die Ameise ‚30 
genau 2 Stunden gefangen. Als ich . 
um 5 Uhr das Schächtelchen weg- / 
nahm, saß die Ameise unbeweglich X 
im Zentrum des kleinen Kreises. Sie 
drehte sich langsam um und wan- o 
derte wiederum fast geradlinig über 5"pm 
den Sandplatz zurück, in der Rich- arm 
tung des Beetrandes, an dem sich fig. 88 Nachweis der Orien- 
ihr Nest befand. Doch wich ıhre tierung nach der Sonne durch 
Rückweglinie von der Hin- den „Fixierversuch“. (Nach 
kurve um 30° nach rechts ab, Brun, Raumorientierung der 
E Ameisen.) 

d.h. um genau so viele Bogen- 
grade, als dieSonne während der 2Stunden am Firmament 
nach links gewandert war (Fig. 8). Ich wiederholte den Ver- 
such, indem ich den Zeitraum der Fixierung variierte: Der Ab- 
weichungswinkel der Rückkurveentsprach in allen Fällen 
dem betreffenden Sonnenwinkel, mit einem Fehler von meist 
nur !/,—1 Bogengrad (nur in einem Falle betrug er 6 Bogengrade). 
— Dass die Ameisen die Zeit ihrer Gefangenschaft und die Tat- 
sache, dass die Sonne inzwischen am Firmament weiter wandert, 
nieht in Rechnung bringen, ist nicht verwunderlich; — es wäre im 
Gegenteil wunderbar, wenn sie diesen logischen Schluss machen 
würden! 

Ich denke, diese Beobachtungen dürften vollkommen genügen, 
um die Richtigkeit der Lichtkompasstheorie von Santschi darzu- 
tun. Bedarf es da noch positiver Beweise gegen die Cornetz’sche 


248 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


Lehre von der Existenz eines (erkenntnistheoretisch unmöglichen 
und physiologisch undenkbaren) absoluten Richtungssinnes? Ich 
bin indessen im Falle, auch solche positive Gegenbeweise anzu- 
führen, und zwar haben wir dieselben bereits kennen gelernt. Sie 
erinnern sich an jene Brückenfährte, auf welcher wir das Bethe’sche 
Polarisationsphänomen analysierten. Wir hatten damals die Mög- 
lichkeit der Lichtorientierung vermittelst der Methode der bipolaren 
Beleuchtung vollständig ausgeschaltet. Trotzdem waren die Ameisen 
zur Not noch imstande, die beiden Richtungen ihres Weges zu 
unterscheiden, da ihnen das „Wärmer- und Kälterwerden“ des Nest- 
geruchs noch immer eine gewisse Richtungsangabe vermittelte. Als 
‘wir ihnen aber, durch Verwandlung der Futterfährte ın eine Brut- 
fährte auch diese letzte Möglichkeit genommen hatten und nun 
Larven von der Mitte der Brücke abholen ließen, da zeigte es sich, 
dass die Ameisen vollständig dem Zufall ausgeliefert waren, ob sie 
in der Richtung des Nestes oder in der entgegengesetzten Richtung 
aus der Mitte abgingen, denn 50% gingen eben falsch. Dieses 
Falschgehen von 50% aller Ameisen nach Ausschaltung 
aller äußeren sinnlichen Orientierungszeichen beweist, 
dass etwas ähnliches wie ein absoluter innerer Rich- 
tungssinn nicht existiert. 

Andererseits versagt aber mein „Fixierversuch“* gerade 
bei den mit den besten Augen ausgestatteten und auch psychisch 
höherstehenden Arten der Gattung Formica meist vollständig, 
indem die Tiere nach der Fixierung ihre frühere Richtung ohne 
merkbare Abweichung wieder aufnehmen. Auch sonst deutet 
manches darauf hin, dass diese Ameisen sich auf ihren Einzel- 
gängen meist in viel freierer Weise orientieren als dies mit dem 
Lichtkompassmechanismus von Santschi vereinbar wäre. Es 
gelang mir hier auch verhältnismäßig selten, einen typischen 
Pieron’schen Parallellauf zu erzeugen, namentlich dann nicht, 
wenn der seitliche Transport nur einige Meter betrug, indem die 
Ameisen dann nicht selten die seitliche Abweichung durch ent- 
sprechendes Traversieren prompt ausglichen. Kurz, man hat den 
Eindruck, dass die Fernorientierung hier größtenteils durch diffe- 
renzierte visuelle Komplexe vermittelt wird, vielleicht durch 
-die mehr oder weniger verschwommene Wahrnehmung gewisser 
entfernter großer Objekte (Bäume, Häuser o. dgl.), mit deren Stand- 
ort die räumliche Lage des Nestes assoziiert wird. Zugunsten dieser 
Annahme sprechen auch die Resultate gewisser anderer Experi- 


mente, die ich — ursprünglich, um den Einfluss kinästhetischer 
Winkelregistrierungen zu studieren — bei Formica sangutnea VOr- 


nahm. Dieselben bestanden darin, dass ich eine Ameise vom Nest 
fortjagte und durch Lenken mit den Händen zwang, auf dem oben 
erwähnten freien Sandplatz einen in bestimmter Weise kurvierten 


Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 349 


Weg zurückzulegen, den ich vorher in den Sand gezeichnet hatte. 
Zu meiner Überraschung kehrten die Ameisen nach Absolvierung 
eines solchen „Zwangslaufes“ stets ohne weiteres und auf der 
direktesten Linie zum Neste zurück, obwohl der Endpunkt, wo 
ich sie freigab, oft recht weit, 20—34 m, vom Nest entfernt war. 
Und zwar erfolgte die Rückkehr nach rechtwinkligem (zwei- 
achsigem) Zwangslauf merkwürdigerweise nicht mittelst sukzes- 
siver Reversion der beiden Schenkel des Weges, sondern gegen die 
Cornetz’sche Regel, in der Diagonale, also durch direkte 
Schließung des Polygons (Fig. 9). Nun ließ ich die Ameisen 
große Kreisbögen oder in anderen Fällen sehr komplizierte viel- 
winklige Kurven mit zahlreichen Gegenrichtungen beschreiben; die 
Rückkehr geschah in den ersten Fällen prompt in der Sekante, in 
den zweiten Fällen in 
der ungefähren Resul- 
tante der Hinkurve, also 
wiederum ziemlich di- 
rekt in der Richtung des 
Nestes. Wurden die Ameı- 
sen vor Ausführung des 
Zwangslaufes, direkt vom 
Nest auf den Endpunkt 
der Kurve transportiert, 
so zeigten sie sich voll- x 
ständig desorientiert; — Fig.9. Das „Zwangslaufexperiment“. Zwei- 
ein Beweis, dass das allge Ze ms Nr (gestrichelte Linie). 
eireffönde Bichtimes Rückkehr in der Diagonale (ausgezogene Linie). 

: oO (Nach Brun, Die Raumorientierung der 
engramm tatsächlich wäh- Ameisen.) 


rend des Zwangslaufes 
erworben wurde. Nun blendete ich mehreren Ameisen die Fazetten- 
augen nach Forel’s Methode und ließ sie dann einen einfachen zwei- 
achsigen Zwangslauf ausführen: Sie waren absolut unfähig zur Heim- 
kehr, nur ein einziges Tier machte einen mühsamen Versuch, den 
zweiten Schenkel der Reise zu revertieren. Folglich kann der 
Diagonallauf nicht etwa auf komplizierter Assoziation kinetischer 
Winkelengramme beruhen! Und endlich ließ ich eine Ameise einen 
zweiachsigen Zwangslauf auf sehr große Distanz ausführen, einen 
Weg, dessen zweiter Schenkel weit über jenen freien Sandplatz 
hinausführte. Der Erfolg war der, dass das Tier bei der Rückkehr 
zunächst nicht die Diagonale einschlug, sondern den zweiten Schenkel 
des Weges revertierte und erst nach Wiederankunft auf dem 
freien Platz plötzlich in der Richtung des Nestes korrigierte. 
Und nun zur Frage: Ist bei Ameisen auch ein echtes, aus 
sukzessiv assoziierten Engrammen aufgebautes individuelles Orts- 
gedächtnis, wie es bekanntlich bei Bienen in einwandfreier Weise 





250 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 


festgestellt werden konnte, nachweisbar? Unsere bisherigen Beob- 
achtungen scheinen nicht dafür zu sprechen, sie zeigen höchstens, 
dass einige psychisch hochstehende Arten imstande sind, im Laufe 
einer aktuellen Reise gewisse visuelle Richtungszeichen zu engra- 
phieren, mit welchen sie die Lage des Nestes simultan assozileren; 
doch schienen sie nicht mehr fähig, im weiteren an diesen Rich- 
tungskomplex nun auch die Örtlichkeit, welche den Endpunkt ihrer 
Reise bildete, zu assoziieren und somit einen sukzessiv asso- 
zuerten Engrammkomplex a—b—-ec zu fixieren, — ein Vorgang, 
welcher allein den Namen eines echten Ortsgedächtnisses verdient. 
Auch Cornetz hat die Existeuz eines solchen ohne weiteres ver- 
neint, gestützt auf seine Erfahrung, dass Ameisen nach Transport 
vom Nest weg sich in allen Fällen vollständig desorientiert zeigen. 
Demgegenüber verfüge ich aber über eine ganze Reihe 
von Beobachtungen bei Formica, in welchen diese Ameisen 
sich nach dem besagten primären Transport auf 30 m Ent- 
fernung fast augenblicklich auf dem kürzesten Wege 
nach dem Nest reorientierten. Allerdings hatte ich meine 
Ameisen nicht wahllos an irgendeinen beliebigen Ort x versetzt, 
sondern auf eine Örtlichkeit, die von der betreffenden 
Kolonie früher einmal nachweislich sehr häufig besucht 
worden war, und von der somit noch am ehesten zu er- 
warten war, dass zahlreiche Individuen individuelle 
Engramme von derselben besaßen. Natürlich führte ich aber 
die Experimente jeweilen erst dann aus, nachdem dieser Verkehr 
seit Wochen gänzlich eingestellt war und wandte auch dann 
noch alle Kautelen an, um die Möglichkeit, dass die Tiere vielleicht 
doch eine noch vorhandene Geruchsspur verfolgten, mit Sicherheit 
ausschließen zu können. 

Es ıst somit diesen Tieren ein individuelles, auf suk- 
zessiv assoziierten Richtungsengrammen aufgebautes 
echtes Ortsgedächtnis unbedingt — wenn auch in be- 
scheidenem Umfange — zuzuschreiben. Wie wir uns diesen 
Mechanismus im einzelnen vorzustellen haben, darüber kann ich 
mich vorläufig nur vermutend äußern. Wahrscheinlich wird der 
Engrammkomplex der betreffenden entfernten Örtlichkeit zunächst 
auf topochemischem Wege ekphoriert; hierauf stellen sich die 
weiteren, vermutlich in erster Linie visuellen, Richtungsengramme 
ein, welche diese Örtlichkeit mit einer zweiten intermediären oder 
mit dem Neste assoziativ verknüpfen. Die diesen Engrammen ent- 
sprechenden (homophonen) Komplexe in der Außenwelt (bestimmte 
Baumgruppen, das verschwommen perzipierte Bild einer weißen 
Hauswand u. s. w.) werden aufgesucht und nun wird dieser, aus 
drei, event. noch mehr Gliedern bestehende Richtungsengramm- 
komplex sukzessive wieder abgewickelt. — 


- 


Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete., 251 


Haben wir jetzt alle ÖOrientierungsmittel, über welche die 
Ameisen möglicherweise verfügen, erschöpft? Keineswegs! Noch 
haben wir eine wichtige Gruppe — die kinästhetischen Rich- 
tungszeichen — kaum erst erwähnt. Allerdings ist die Frage 
der kinästhetischen Orientierung bei Ameisen noch sehr mangelhaft 
studiert und auch die wenigen bisher vorliegenden Angaben der 
Autoren sind m. E. nicht einwandfrei. Man hat sich lange darüber 
gestritten, ob Insekten imstande seien, die Schwerkraft zu 
empfinden und man glaubte im allgemeinen diese Frage verneinen 
zu müssen im Hinblick auf das ungemein geringe Körpergewicht 
der Insekten, das bei der relativ ungeheuren Muskelkraft, welche 
diese Tiere bekanntlich entwickeln, gar nicht in Betracht komme. 
Demgegenüber gelang es mir, den Nachweis zu erbringen, dass 
Ameisen nicht allein fähig sind, schon mäßige Terrain- 
steigungen auf rein kinästhetischem Wege wahrzu- 
nehmen, sondern dass sie zur Not — d.h. bei Ausschluss 
aller übrigen Richtungszeichen — auch imstande sind, 
sich auf Grund dieses einzigen dürftigen kinästhetischen 
Engramms allein noch einigermaßen zu orientieren. 

Meine Versuchsanordnung war folgende: Ich befestigte am 
Rande meines großen Experimentiertisches ein künstliches Nest 
mit einer kleinen Kolonie von F. rufa. Die Ausgangsröhre des 
Nestes mündete auf die Tischplatte. Dieser Tisch ist so konstruiert, 
dass seine Platte in allen Ebenen des Raumes drehbar ist und 
zwar sind alle Bewegungsachsen genau zentriert. Bei diesen Experi- 
menten nun war die Tischplatte in der Ausgangsstellung um 
20° nach der Nestseite geneigt, derart, dass der Nesteingang die 
tiefste Stelle bildete. Die Tiere mussten von hier zum Honig, der 
sich genau im Zentrum des Tisches in einem runden Näpfchen 
befand, ansteigen. Durch bipolare Beleuchtung, die in der Trans- 
versalebene des Tisches zu beiden Seiten desselben angebracht war, 
wurde für Ausschaltung der Lichtorientierung gesorgt und das ganze 
System befand sich im Zentrum eines Dunkelzeltes. Ich wartete 
nun jeweilen, bis eine Ameise am Honig saß und kehrte dann 
die Neigung des Tisches geräuschlos in die entgegen- 
gesetzte um, so dass sich das Nest jetzt oben befand. Die Tiere 
wollten, nachdem sie genug gefressen hatten, natürlich nach Hause; 
aber da war guter Rat teuer! Die Ameisen schwankten zunächst 
eine geraume Zeit unentschlossen zwischen beiden Richtungen hin 
und her, indem sie nach jeder Seite nur einige Zentimeter zurück- 
legten und immer wieder zum Honig zurückkehrten. (Man beachte 
hier die Differenz mit den Lasius unserer Brückenspur, die gewöhn- 
lich ohne weiteres aufs Geratewohl in einer Richtung davonrannten; 
— die Formica dagegen schienen sich offenbar eines Dilemmas 
bewusst zu sein.) Endlich entschlossen sie sich aber doch für eine 


359 Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete. 


Richtung, und zwar gingen alle ohne Ausnahme abwärts, ziem- 
lich genau nach dem tiefsten Punkt, wo sie lange Zeit 
eng begrenzte Kurven beschrieben, ganz als ob sie den 
verschwundenen Nesteingang suchten! Sie hatten somit in 
der Tat eine virtuelle Orientierung nach der Schwerkraft 
ausgeführt! 

Damit will ich meine Ausführungen schließen. Die Aufgabe, 
das verwickelte Thema im knappen Rahmen einer Stunde vorzu- 
führen, gestattete mir nicht, auf zahlreiche interessante Einzelfragen 
näher einzugehen. Ich denke aber, Sie werden nach allem, was 
Sie eben gehört haben, doch die Überzeugung gewonnen haben, 
dass die Fernorientierung der Ameisen ein ungemein 
komplizierter psychophysiologischer Vorgang ist, bei 
welchem je nach den vorwaltenden Umständen und je 
nach der Organısation der betreffenden Art, Erfahrungen 
der verschiedensten Sinnesgebiete: topochemische, topo- 
graphische, visuelle, kınästhetische Eindrücke bald für 
sich allein, häufiger aber kombiniert zur individuellen 
Engraphie und Ekphorie gelangen. Wir haben es in der 
Hand, in jedem Einzelfalle die Art der Mitbeteiligung jedes einzelnen 
dieser Faktoren durch geeignete Versuchsanordnungen festzustellen 
und so allmählich zu einer befriedigenden Analyse des ganzen kom- 
plexen Mechanismus fortzuschreiten. 

Dank der Anwendung solcher ım streng physiologischen Sinne 
exakter Versuchsanordnungen in Verbindung mit der neutralen 
Terminologie von Semon sind wir nunmehr auch ein- für allemal 
der Versuchung enthoben, unsüber vergleichend-psychologische Fragen 
in unfruchtbaren Spekulationen zu verlieren; die vergleichende 
Psychologie ist zur exakten Wissenschaft geworden, zur 
vergleichenden Physiologie der individuellen Mneme. 


Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter 
aus eigenen Mitteln ersetzen? 
Von €. Emery (Bologna). 

Anfang November 1910 erhielt ich aus Porticı eine Anzahl 
Arbeiterinnen und viele kleine Larven von Messor barbarus minor 
Er. Andr& aus einem Nest; kein Weibchen war vorhanden. 
Ich setzte die Ameisen in ein Janet-Nest und hielt es, während des 
Winters, in meinem geheizten Studierzimmer. Die Larven ent- 
wickelten sich sehr langsam; die erste Puppe sah ich am 6. Juni 
1911, die ersten Arbeiterinnen erst Mitte Juli. Eine Larve wurde 
gewaltig groß; daraus entwickelte sich am 11. August ein geflügeltes 
Weibchen. 

Am 3. März hatte ich einen Klumpen von ungefähr 30 Eiern 
bemerkt, die jedenfalls von den Arbeiterinnen gelegt waren; andere 


Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete. 353 


Eier kamen dann und wann hinzu. Die Eier der Arbeiterinnen 
entwickelten sich und die Larven, dıe daraus ausschlüpften, wuchsen 
verhältnismäßig rasch. Einmal groß geworden, wurden sie aber 
sehr verschieden von den gewöhnlichen Larven, d. h. von den Ar- 
beiterinnen- und Weıibchen-Larven. Sie schwollen an, wurden sozu- 
sagen hydropisch; ‚die meisten wurden von den Arbeiterinnen auf- 
gefressen oder an andere Larven verfüttert; eine einzige gelangte 
endlich zum Puppenstadium und lieferte Ende September ein Männ- 
chen, leider mit geschrumpften Flügeln. Im Oktober sah ich 
mehrere hydropische Larven, welche sich zu Männchen-Puppen 
umwandelten, aber gefressen oder verfüttert wurden; keine wurde 
zur lmago!'). 

Ich weıß nicht, ob das Weibchen, das anscheinend normal ent- 
wickelt war (es hatte nur ein verkrüppeltes Bein) und unterdessen 
seine Flügel zum Teil verloren hatte, mit dem Männchen kopuliert 
hatte. Ich glaube nicht, dass das Weibchen bis zu seinem Tod 
Eier gelegt hat; es lebte bis zum 25. Juni 1912. 

Diese Beobachtung ist deswegen interessant, weil sie vermuten 
lässt, dass gewisse Ameisen, falls ihre Königin durch irgendwelchen 
Zufall stirbt und sie junge Larven haben, nicht nur ein junges 
Weibchen erziehen, sondern fast gleichzeitig aus den parthenogene- 
tischen Eiern der Arbeiterinnen Männchen bekommen können. 
Letztere mögen mit den Weibehen ım Nest kopulieren und die- 
selben befruchten. So würde eine echte befruchtete Königin zu- 
stande gebracht werden. 


Wasmann berichtet?), dass P. E. Deckelmeyer beim Um- 
wälzen eines Steines bei Barro in Portugal einen merkwürdigen 
Fund machte. Ein starkes Nest von Pheidole pallidula enthielt, 
außer Arbeiterinnen und Soldaten, einige Männchen-Puppen und 
5 sonderbare Individuen (2 ausgefärbte, 2 unausgefärbte und eine 
ganz weiße Puppe), die Wasmann als ergatoide Weibchen deutet; 
sie waren durch das Vorhandensein einer Stirnocelle, sowie eines 
langen Hinterleibes ausgezeichnet. Kein geflügeltes Weibchen und 
keine Königin war vorhanden. 

Wasmann nimmt an, die Männchen und die ergatoiden Weib- 
chen seien Schmarotzerameisen einer arbeiterinnenlosen Art (Phei- 
dole symbiotica Wasm.), die im Nest von Ph. pallidula haust. Er 
ist in seiner Annahme bestärkt durch kleine Unterschiede in den 
Fühlern der Männchen-Puppen von Ph. symbiotica gegen Ph. palli- 
dula. Die .Fühler sind nämlich schlanker, das erste Geißelglied 
weniger verdickt und das Endglied ist länger (doppelt so lang wie 
das vorletzte). 

l) Vergl. Rend. Accad. Se. Bologna, Anno 1911—12, p. 108. 

2) Diese Zeitschrift, Bd. 29, p. 693; Bd. 30, p. 515 (1909—1910). 


254 Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen. 


Die Fühler des Männchens von Pk. pallidula sind aber ın 
ihrem Bau ziemlich veränderlich; ich finde nämlich Charaktere, 
wie die, welche von Wasmann bei Ph. symbiotica beschrieben 
wurden, bei einem Männchen von var. Zristis For. aus Tunesien 
und bei Männchen aus Portugal, die mit normal geflügelten Weib- 
chen gefangen wurden. 

Der Bau der Männchen beweist also nichts für die Anschauung 
Wasmann’s, aber er beweist auch nichts dagegen. 

Das von Wasmann abgebildete ergatoide Weibchen bietet eine 
auffallende Ähnlichkeit mit den Individuen von Ph. absurda For. aus 
Costa Rica, die ich damals ebenfalls als ergatoide Weibchen beschrieben 
und abgebildet habe und die sich nachträglich als mit Mermis infi- 
zierte Weibchen (oder Soldaten) entpuppt haben. Diesen Verdacht 
teilte ich Herrn Wasmann mit. Er hatte die Güte, eines seiner 
Exenplare ın Zedernöl zu legen und dadurch durchsichtig zu machen, 
um, falls der vermutete Wurm vorhanden wäre, ıhn unter dem 
Mikroskop zu erkennen. Das Resultat war vollständig negativ; die 
ergatoiden Weibchen von Ph. symbiotica enthielten keinen Mermis. 

Wasmann’s Ansicht, dass die ergatoiden Weibchen und die 
Männchen, die sich in demselben Nest vorfanden, einer besonderen 
parasitischen arbeiterinnenlosen Ameise angehören, ıst ganz gut 
annehmbar, aber sie ıst durchaus nicht bewiesen. 

Ich möchte eine andere Erklärung resp. Hypothese äußern. 
Ph. pallidula hat ın jedem Nest, wie ich beobachtet habe, stets nur 
eine Königin; wenn sıe stirbt und nicht ersetzt wird, ıst das Volk 
weisellos. Ich vermute, dass das Nest von Barro im Winter 
oder im Beginn des Frühlings weisellos wurde. Die 
ergatoiden Weibchen würden aus dem Rest von Larven 
der toten Königin stammer, welche nicht jung genug 
waren um zu normalen, geflügelten Weibchen gezüchtet 
zu werden. Die Larven der Männchen dagegen würden 
sich aus parthenogenetischen Eiern der Soldaten ent- 
wickelt haben. ' 

Die hypothetische Erklärung, die ich vorschlage, ist ungefähr 
dieselbe, die in meinem künstlichen Nest sıch als Tatsache ereignete, 
aber mit einem Unterschied: dass ım Fall von Messor das Weib- 
chen normal geflügelt ist, im Fall von Ph. symbiotiea die Weibchen 
ergatoid sind. Ich habe versucht, durch meine Vermutung den 
Grund des Unterschiedes klarzulegen. 


Wilhelm Nöller: Die Übertragungsweise der 
Rattentrypanosomen. 
Jena 1914, Gustav Fischer, gr. 8, 33 S., S Textfig. u. 2 Tafeln. 
Als Broschüre sind hier zwei Abhandlungen vereinigt, die 1912 
und 1914 im Archiv für Protistenkunde veröffentlicht worden sind. 
Besonders wichtig ist zunächst die Technik des Verfassers: er be- 


Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen. 355 


schreibt genau, wie es ıhm gelang, in Nachahmung des Verfahrens 
der Flohzirkusleute, Flöhe, und zwar vorzugsweise Hundeflöhe, in 
ein Drahtgestell zu fesseln, in diesem regelmäßig an Versuchstieren 
zu füttern und sie so einzeln wochenlang in Gefangenschaft zu 
halten. Auch über die Präparation der Flöhe zur mikroskopischen 
Untersuchung und über die zweckmäßige Fesselung von Ratten für 
solche Versuche finden sich genaue Angaben. 

Diese technischen Fortschritte haben es ermöglicht, sichere Er- 
gebnisse zu gewinnen über die Bedeutung der Flöhe für die Über- 
tragung von Trypanosomen; sie werden sich auch auf andere, meist 
oder zuweilen durch Flöhe übertragene Infektionskrankheiten an- 
wenden lassen. Ein Seitenzweig der Forschungen N.s betrifft die 
Flagellaten als Darmparasiten der Flöhe: mehr oder weniger aus- 
führliche Angaben über Leptomonas Aenocephali Fantham, eine 
noch unbenannte Leptomonas aus Ceratophyllus gallinae und colum- 
bae, Legerella parva N., Nosema pulicis N., Malpighiella refringens 
Minchin sind in der Arbeit enthalten. 

Die Hauptergebnisse sind, dass Trypanosoma Lewisi zunächst ım 
Flohmagen eine intrazelluläre Entwickelung und Vermehrung durch- 
macht, wie schon Minchin und Thomson beobachtet hatten, dann 
aber die jungen Flagellaten sich im Enddarme frei an dem Epithel fest- 
heften und sich hier (nicht bei allen infizierten Flöhen) derart vermehren, 
dass sie ein Hindernis für den Kot darstellen und nach mehreren Tagen, 
während oder nach einem neuen Saugakt, in großen Mengen mit 
dem Kot entleert werden. Die Ratten erwerben die Infektion durch 
das Ablecken der trypanosomenhaltigen Flohfäces. Wahrscheinlich 
kann auch Verspritzen der Fäces auf Schleimhäute (wie die Augen- 
bindehaut) oder Einreiben derselben in die Stichwunde die Infektion 
übertragen. Ein direktes Einimpfen durch den Flohstich, infolge 
einer Überwanderung der Trypanosomen durch das Cölom der 
Flöhe in Speicheldrüsen oder infolge Regurgitierens von Magen- 
inhalt kommt nicht vor oder nur ganz ausnahmsweise. Diese Ver- 
mehrung der Trypanosomen im Floh scheint aber ın der Regel nur 
beim Saugen auf einer ziemlich frisch infizierten Ratte einzutreten. 
Flöhe, die an vor längerer Zeit infizierten, chronisch kranken 
Ratten saugen, werden nicht infektiös. 

Das Ergebnis, dass die Flöhe nach Ablauf einer nichtinfektiösen 
Periode leicht durch ihre Fäces infizieren, erscheint dem Verfasser 
für die phylogenetische Ableitung der Blutflagellaten interessant. 
Er sıeht darin den einfachsten Weg, auf dem Insektenflagellaten 
zu Blutparasiten der Wirbeltiere werden konnten. Mit den Floh- 
fäces ausgestoßene Trypanosomen seien auf den Schleimhäuten des 
Säugetierwirts in günstige Lebensbedingungen geraten und seien 
dann in die Blutbahn eingedrungen, von der aus sie wiederum den 
blutsaugenden Insektenwirt infizieren konnten. 

Die Versuche v. Prowazek’s über die Übertragung des Tryp. 
Lewisi durch die Rattenlaus, Hämatopinus spinulosus Burm., kann 
Verfasser, wie schon andere Forscher, ım ganzen bestätigen. Er 
glaubt aber doch „die Entwickelungsformen“ in der Laus nicht als 
solche im spezifischen Hauptwirt, sondern als Degenerations- oder 


256 Lindau. Kryptogamenflora für Anfänger. 


Kulturformen deuten zu sollen. Sein Hauptargument ist, dass die 
infizierten Läuse nur kurze Zeit, allerhöchstens 20 Tage infektions- 
tüchtig bleiben und sich m ihnen eine Steigerung der Infektions- 
tüchtigkeit der Trypanosomen durchaus nicht zeige, die dagegen im 
Kote der infizierten Flöhe sehr deutlich sei. Auch bei den infi- 
Ben Läusen finden sich die Trypanosomen im Kot; den von 

„. Prowazek beobachteten Übertritt in die Leibeshöhle der Läuse 
ee N. immer auf Verletzungen (beim Fangen der Läuse) zurück- 
führen zu müssen. 

Seiner Arbeit schließt N. eine versuchsweise Einteilung der 
Trypanosomen nach ihrer Übertragungsweise an; dieser Versuch 
soll hauptsächlich zu einer genaueren Beachtung der letzteren bei- 
tragen, denn selbstverständlich will der Verfasser Morphologie und 
Tierpathogenität i in ihrer systematischen Bedeutung nicht erschüttern. 
Die Frage, ob ein Trypanosoma in zwei Blutsaugern, die ganz ver- 
schiedenen Tiergruppen angehören, beidemal eine echte Entwicke- 
lung durchmachen könne, sieht er für noch nicht entschieden an. 
Ein ausführliches Literaturverzeichnis bis Ende 1913 schließt die 
Abhandlung. W.R. 


G. Lindau, Kryptogamenflora für Anfänger. 
Bd. IV,2. Die Algen. 8, 200 S. mit 437 Fig. Berlin 1914, J. Springer. 

Der vorliegende Band der Kryptogamenflora enthält einige 
besonders schwierige Familien, z. B. die Desmidiaceen und Oedo- 
goniaceen, in denen es für den Anfänger schwer ist, sich zurecht- 
zufinden. Um so notwendiger ist eine Anordnüng der Bestimmungs- 
tabellen, die praktische Zwecke verfolgt, ohne die wissenschaftliche 
Grundlage vermissen zu lassen. Das dürfte gut gelungen sein. 
Nur erscheint es dem Ref. zweifelhaft, ob es gut ist, die heute 
als Mesotaeniaceen zusammengefassten Gattungen, die eine recht 
natürliche Gruppe bilden, wieder unter die Desmidiaceen einzuordnen 
und die Gattungeu Penium und Closterium zwischen sie einzuschieben, 

Wer physiologisch und ökologisch zu denken gewöhnt ist, 
kann das Bändchen nicht durchbl: ättern ohne den Wunsch zu hegen, 
dass recht viele dieser hier aufgeführten, z. T. recht sonderbaren, 
fast wie durch eine Laune der Natur geschaffenen Formen hinsicht- 
lich ihrer Bedürfnisse und Standortsverhältnisse auf Grund von 
Beobachtungen und Züchtungsversuchen erforscht werden möchten. 
Es sind das Aufgaben, zu denen gar keine großen Mittel gehören, 
die größtenteils selbst ohne eigentliches Laboratorium in Angrift 
genommen werden können. Einige Glasgefäße und Salze sowie ein 
Destillierapparat zur Herstellung reinen Wassers genügen neben 
dem natürlich unentbehrlichen Mikroskop. Und welche Fülle von 
Anregungen und Ergebnissen, die erst in ihrer Gesamtheit volle 
Früchte tragen werden, erwarten den, der die nötige Geduld hat. 

Möge die Lindau’sche Flora in diesem Sinne anregend wirken! 

E. G. Pringsheim. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 


Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


DESK, Goebel und... ‚Dr.’R& Hertwie 

Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 

Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 





Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem 
Berg 14, einsenden zu wollen. 


Bd. XXXV. 20. Juli 1915. 


E7TT 











Inhalt: Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln gegen Tierfraß und 


ihre Lösung. — Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien. — War- 
ming's Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie. — v. Buttel-Reepen, Leben und 
Wesen der Bienen. — Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre 


Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie. 








Die Frage von den natürlichen Pfianzenschutzmitteln 
gegen Tierfrals und ihre Lösung. 

Erörtert in kritischer Besprechung von W. Liebmann’s Arbeit 
„Die Schutzeinrichtungen der Samen und Früchte gegen unbefugten 
Tierfraß“. 

Von Franz Heikertinger in Wien. 

Die nachfolgende Abhandlung bildet die Ergänzung einer 
anderen, die im Vorjahre unter dem Titel „Über die beschränkte 
Wirksamkeit der natürlichen Schutzmittel der Pflanzen 
gegen Tierfraß“ ın dieser Zeitschrift erschien. Wie dort 
E. Stahl’s Studie „Pflanzen und Schnecken“, so bildet hier die ım 
Untertitel genannte Arbeit Liebmann’s!) Ausgangspunkt und Grund- 
lage der Darlegungen. 





1) Jenaische Zeitschr. f. Naturwissensch., Bd. 46, S. 445—510, Jahrg. 1910, 
und Bd. 50, 8. 775—838, Jahrg. 1913. — Liebmann hat seine Untersuchungs- 
ergebnisse überdies in populärer Form in einer selbständigen Broschüre „Die Be- 
ziehungen der Früchte und Samen zur Tierwelt“ (Leipzig 1914, Verl. 
Quelle & Meyer) veröffentlicht. Da dieselbe im wesentlichen nur ein Auszug aus 
seiner erstgenannten Publikation ist, habe ich sie im folgenden nicht besonders be- 
rücksichtigt. 

XXXV. 17 


258 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


Was meine seinerzeit?) zum Ausdrucke gebrachte Auffassung 
der Dinge anbelangt, so finde ich auch im gegenwärtigen Falle 


nicht nur keinen Anlaß, von meinem — übrigens völlig theorien- 
losen — Standpunkte abzugehen, sondern glaube im Gegenteile 


mit Vorliegendem einen neuen Beweis für die Richtigkeit desselben 
erbracht zu haben. Das Urteil hierüber will ich allerdings dem 
Leser überlassen, den ich um nichts als um Vorurteilslosigkeit bitte. 
Er möge sich von manchem, das er früher gelesen oder vielleicht 
sogar geschrieben hat, frei und unabhängig machen. 

Einigen Einwänden, die meinen früheren Artikeln gegenüber 
gemacht wurden, bin ich hier erläuternd begegnet und glaube alles 
in allem die Lösung der so hoffnungslos scheinenden Frage wenn 
nicht gegeben, so doch angebahnt zu haben. 

Was die Arbeit Liebmann’s selbst anbelangt, so fühle ich 
mich verpflichtet, ausdrücklich zu erwähnen, dass dieselbe, sofern 
positive, experimentell gewonnene Feststellungen in Betracht kommen, 
außerordentlich hochwertig ist. Seine Untersuchungen über den 
Geschmackssinn der Vögel sind von weittragender Bedeutung und 
ich werde mir gestatten, mich bei anderer Gelegenheit auf sie zu 
berufen. Dass Liebmann zu (meines Erachtens) falschen Schluss- 
folgerungen gelangte, war lediglich die Folge falscher Voraus- 
setzungen, war das Dogma von dem unbedingten Vorhandensein 
natürlicher Pflanzenschutzmittel, von dem er ausging. 

Nochmals stelle ich fest: Hier wie in meinen eingangs genannten 
Abhandlungen handelt es sich mir nicht um Verfechtung einer vor- 
gefassten Meinung, einer Theorie, sondern lediglich um ein ein- 
faches, unbefangenes Ergründen der wahren Zusammenhänge der 
Dinge. Und was an scharfen Worten fallen sollte, gilt keiner 
Person, sondern nur einer Sache, die ich als Irrtum mit voller 
Kraft bekämpfen zu müssen glaube. 


I. Die Grundlagen der Schutz- und Anloekungsmitteltheorie. 


Der Standpunkt, auf dem Liebmann von vornherein steht, 
ist derjenige der typischen Schutzmitteltheorie. 

Ich zitiere aus der Einleitung zu seiner Abhandlung: 

(S. 445.) „... Es ıst jedoch bekannt, dass sämtlichen Pflanzen, 
auch scheinbar ganz wehrlosen, irgendwelche Einrichtungen zu Ge- 
bote stehen, mittels deren sie die wichtigsten tierischen Feinde 
abhalten können; eine Pflanze ohne jedes Schutzmittel wäre ganz 


2) „Über die beschränkte Wirksamkeit der natürlichen Schutz- 
mittel der Pflanzen gegen Tierfraß. Kine Kritik von Stahl’s biologischer 
Studie ‚Pflanzen und Schnecken‘ im besonderen und ein zoologischer Ausblick auf 
die Frage im allgemeinen.“ Biol. Centralbl. XXXIV, S. 8S1—-108; 1914. — „Gibt 
es natürliche Schutzmittel der Rinden unserer Holzgewächse gegen 
Tierfraß? Ein Beitrag zur Frage des ‚Kampfes ums Dasein‘ zwischen Pflanze 
und Tier.“ Naturwiss. Zeitschr. f. Forst- und Landwirtsch. XII, S. 97”—113, 1914. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 959 


undenkbar, weil sie sofort ihres guten Geschmackes und ihrer 
leichten Erreichbarkeit halber von den Tieren ausgerottet werden 
würde. Keine von diesen Einrichtungen ist so vollkommen, dass 
sie alle Feinde abschrecken könnte; meist geht der Schutz nur so 
weit, dass die Erhaltung des Individuums gerade gesichert ist.“ 

Nach dieser Schutzmitteltheorie sind die „Schutzmittel“ also 
das arterhaltende Prinzip im Daseinskampfe der Pflanze gegen das 
Tier. Welcher Art diese Schutzmittel sind, ıst bekannt genug. 
Wir haben chemische in Gestalt von abwehrendem Geruch oder 
Geschmack oder von Giften, wir haben mechanische in Gestalt von 
harter Oberhaut, von Haaren, Stacheln, Dornen u. s. f. — Es ist ja 
ın den letzten Jahrzehnten genug darüber geschrieben worden. 

Im Falle der Schutzmittel der Früchte, die den Gegenstand 
der folgenden Abhandlung bilden sollen, kompliziert sich die Frage 
jedoch ein wenig. Neben hartschaligen, schutzfarbenen, trockenen 
Früchten, die in jeder Hinsicht kampfbereit der Tierwelt gegen- 
überzustehen scheinen, finden sich auch weiche, angenehm riechende 
und schmeckende Früchte von auffälliger Färbung. Wie bestehen 
diese im Kampfe? 

Die Frage ist scheinbar leicht zu lösen. Diese schönen, wohl- 
riechenden und wohlschmeckenden Früchte haben im Innern relativ 
kleine, harte Samen. Die Tiere nun, die diese weichen Früchte 
fressen, kümmern sich um die Samen nicht; diese letzteren werden 
entweder zurückgelassen oder mitgefressen und gehen im letzteren 
Falle meist unverdaut und ohne Beeinträchtigung ihrer Keimfähig- 
keit durch das Tier. Die fleischige Frucht bedarf also keiner Schutz- 
mittel, da ihr Untergang nicht zugleich auch die Samen trifft und 
mithin die Existenz der Pflanzenart nicht gefährdet. Der nächste 
Schritt auf dem Wege dieser Überlegungen war die Erkenntnis, 
dass die Pflanzen durch das Besen derartiger Früchte 
sogar Nutzen davontragen, indem sie durch die Tiere weiter ver- 
breitet werden — und weiters der nächste Schritt war die An- 
nahme, dass die Pflanzen überhaupt nur darum fleischige, grell- 
farbige, wohlschmeckende Früchte ausgebildet haben, um sich diesen 
Verbreitungsvorteil durch Tiere zu sichern. In mehr oder minder 
teleologischer Fassung finden wir diese Annahme, von manchem 
Autor zur Gewissheit gestempelt, allenthalben wieder. Streng 
selektionistisch, also kausal-mechanistisch, den Weg des Werdens 
solcher Eigenschaften zu verfolgen, daran denkt kaum jemand. 
Nicht einmal die zur Klarheit des Ganzen so unbedingt notwendige 
reine, selektionistische Stilisierung findet stets Anwendung. Die 
Stilisierung treibt vielfach die üppigsten Blüten teleologischer, also 
die wirklichen Verhältnisse völlig verschleiernder Redewendungen. 

Um nur ein Beispiel gleich aus der hier besprochenen Arbeit 
zu geben: 

me: 


260 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


(S. 447.) „... Jedoch auch für pflanzliche Gebilde ist es unter 
Umständen vorteilhaft, an einen anderen Ort zu gelangen, wenn 
es sich nämlich um die Verbreitung der Samen und Früchte handelt. 
Manche Pflanzen haben sıch nun die größere Beweglichkeit ihrer 
tierischen Feinde, ın unserem Falle also der Vögel und Säugetiere, 
zu nutze gemacht um diesen Zweck zu erreichen.. .?).* 

„Sich etwas zu nutze machen“ „um einen Zweck zu erreichen“, 
einen Zweck, der wie hier noch dazu den Interessen des Individuums 
an sich völlig fern und ın weiter Zukunft liegt, das wären Bewusst- 
seinshandlungen so komplizierter Natur, dass selbst der weitestgehende 
Pflanzenseelenverteidiger sie für einen beerentragenden Strauch 
nicht in Anspruch nehmen wird. Ich weiß wohl, dass der. Autor 
es nicht in diesem Sinne gemeint hat; aber bei Dingen, bei denen 
es wie hier lediglich auf die Auffassung ankommt, ist es unbe- 
dingtes Erfordernis, dass die Auffassung des Autors in der Stili- 
sierung klar und eindeutig zum Ausdruck komme. Nachlässigkeiten 
in der Stilisierung oder unüberlegte Redeblumen rächen sich schon 
am Autor selbst, indem sie unbewusst die Klarheit seiner Vor- 
stellungen und dadurch die Exaktheit seiner Schlüsse beeinträch- 
tigen; sie veranlassen vollends aber erst die oft recht wenig 
kritischen Leser, die ganze Sache von einer schiefen Seite aufzu- 
fassen. Und dann schießen von solcher Basıs aus die kühnsten, 
unbedachtesten Schlussfolgerungen empor. 

Gewisse Früchte haben also angeblich — wie der oft ge- 
brauchte Ausdruck lautet: — „Anlockungsmittel ausgebildet“, um 
sich die endozoische Verbreitung zu sichern. 

Das ıst der Stand der Sache von den Pflanzen aus gesehen. 
Von den Tieren ausgehend, sagt die Schutzmitteltheorie folgender- 
maßen: 

Es gibt Tiere, die Samen fressen und damit den Arterhaltungs- 
kampf der bezüglichen Pflanzen erschweren. Ein solcher Tierfraß 
ist für die Pflanzen sozusagen unerwünscht. Kerner*) sprach noch 
von „unberufenen* Gästen, Liebmann spricht bereits von einem 
„unbefugten“ Vogelfraß. Das Adjektivum „unbefugt“ bringt die 
zunehmende Selbstsicherheit der Theorie zum Ausdrucke. 

Es gibt aber anderseits auch Tiere, die große, fleischige Früchte 
fressen und deren Samen endozoisch verbreiten — und das ist der 
„befugte“ Tierfraß. 

Der „unbefugte“ Tierfraß wird seitens der Pflanze durch „Schutz- 
mittel“ erschwert, der „befugte* durch „Anlockungsmittel“ begünstigt. 

Das ist, kurz gesagt, der Gedankengang der Theorie. 


3) Sperrdruck von mir. 
4) A. Kerner, Die Schutzmittel der Blüten gegen unberufene 
Gäste. Festschr. z. 25jähr. Best. d. k. k. zool.-botan. Ges. Wien, 1876, S. 189ff. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 261 


Ohne mich hier über die Berechtigung der Ausdrücke „befugt“ 
und „unbefugt“ und ihre begrifflichen Grundlagen zu verbreiten, 
möchte ich nur kurz erwähnen, dass ich dieselben selbst vom 
Standpunkte der Schutzmitteltheorie aus ziemlich unglücklich ge- 
wählt finde. 

Meiner ablehnenden Haltung gegenüber der Schutzmitteltheorie 
überhaupt habe ich an den angegebenen Orten genügend Ausdruck 
gegeben. Es erübrigt mir daher nur noch eine kurze Darlegung 
jener Prinzipien, die ich an Stelle dieser Theorie als wirklich maß- 
gebend für die dauernde Arterhaltung im Pflanzen- wie auch im 
Tierreiche anerkenne und die ich als Ersatz für die abgelehnte 
Schutzmitteltheorie bieten will. Nach einem kurzen Streiflicht auf 
diese theoretische Grundlage möchte ich den Erklärungswert der 
von mir aufgestellten Sätze an Liebmann’s Arbeit praktisch er- 
proben. 

11. Die Prinzipien der Arterhaltung. 

Da ich die Schutzmitteltheorie als Prinzip der Arterhaltung 
ablehne, obliegt mir die Pflicht, die Tatsache der Arterhaltung ın 
ihren natürlichen Bedingungen klar darzulegen und die wirklichen 
Prinzipien dieser Arterhaltung offen zur kritischen Beurteilung vor- 
zuführen. 

Ohne in den Fehler zu verfallen, einer Theorie wieder eine 
Theorie entgegenzustellen und so den Teufel durch Beelzebub aus- 
treiben zu wollen, möchte ich nur mit etlichen wenigen Erfahrungs- 
sätzen arbeiten, die so einfach, so selbstverständlich, so alltäglich 
und naiv sind, dass sie des üblichen Arsenals der Theorien, der 
zusammengesuchten „Belege“, gar nicht bedürfen. Es macht fast 
den Eindruck, als wären sie der Wissenschaft allzu alltäglich, allzu 
einfach gewesen. Nur so lässt es sich denken, dass man an der 
verblüffend einfachen Lösung der ganzen Frage bis zur Stunde 
vorübergegangen ist. 

Drei Sätze sind es, die ich als klare Richtpunkte aufstellen 
möchte: 

1. Den Satz vom erschwinglichen Tribute oder der zu- 
reichenden Überproduktion. 
2. Den Satz von der@eschmacksspezialisation der 

Tiere. 

3. Den Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen. 

Diese Sätze wollen weder neu noch originell, sie wollen nichts 
als klar und einleuchtend sein. Mit diesen Sätzen möchte ich nun 
— wie gesagt —- moderne Theorien ersetzen und auf der solcher- 
gestalt neu geschaffenen Basis zu arbeiten versuchen. 

1. Für die Theorie vom „Kampfe ums Dasein“ setze 
ich die Lehre vom ständigen, ersehwinglichen Tribute und 
der zureiehenden Überproduktion. 


262 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


Jede Organismenart zahlt schutz- und kampflos ihren Tribut 
an andere. Die Art als solche kämpft nicht, bedarf darum auch 
keines mechanischen oder chemischen Schutzes und sucht auch 
keinen. Was zu kämpfen oder zu entrinnen sucht, ist nur das 
Individuum für sich; es sucht rein persönlich nicht unter den 
Tribut zu geraten. Das mag als „Auslese“ wirken, das Artbild 
modifizieren, aber mit der Herausbildung eines „Schutzes“ der Art 
hat es nichts zu tun. Denn der Tribut wird trotz aller Modi- 
fikationen bei Heller und Pfennig von der Art eingetrieben. Und 
die Art kann ihn leisten, denn dieser Tribut ist keine Geißel, 
sondern nur ein wohltätiger Regulator, der die Art von dem Über- 
schuss der Nachkommenschaft befreit, der von jeder Generation 
erzeugt wird und der keinen Lebensraum und keine Erhaltungs- 
möglichkeiten fände. Dieser Überschuss soll ja sozusagen gar 
nicht geschützt sein, er soll ja untergehen, er muss untergehen, 
damit das Gleichgewicht im Naturleben erhalten bleibt. Das ist 
doch der erste Satz, mit dem Darwin’s Selektionstheorie beginnt, 
auf dem sıe fußt. 


Wir haben also eine Auslese, die ein Artbild ändern mag, 
wir haben aber keinen Schutz, weil die ausgelesenen Formen von 
ihren natürlichen Feinden noch genau so gut gefunden und ge- 
fressen werden wie einst die Urform und weil dieser Tribut als 
Ablenkung des Überschusses heute wie damals im „Naturwillen“ 
liegt. 

Als Arterhaltungsproblem betrachtet, stellt sich die Sache so: 
Organismen, die nicht dauernd eine Nachkommenschaft erzeugten, 
welche zahlreich genug war, um den Ausfall zu decken (den Tribut 
zu erschwingen) und sich außerdem noch fortzupflanzen — solche 
Organismen traten vom Schauplatz ab. Übrig konnte nur dasjenige 
bleiben, bei dem die Produktion stets größer war als der 
Konsum durch feindliche Mächte. Die absoluten Ziffern 
beider sind vollständig gleichgültig — die hinreichend hohe aktive 
Bilanz ist das einzig Wesentliche. Das ist der Satz von der 
„zureichenden Überproduktion“. 

Welche Faktoren sichern nun diese Bilanz? 


Ich denke, es gibt nur eine ehrliche Antwort hierauf: Wir 
wissen heute nicht das mindeste Sichere darüber. Die 
ökologischen Lebensbedingnisse jeder einzelnen Art sind so unend- 
lich kompliziert, so verworren ineinandergewoben und so ver- 
schleiert, und wir wissen so beschämend wenig davon, dass es ge- 
radezu naiv erscheint, aus tausend untrennbar ineinandergreifenden 
Faktoren einen beliebigen herauszureissen und dem staunenden 
Leser zu sagen: „Nun will ich dir einmal zeigen, wie von dem da 
alles abhängt!“ 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 26: 


Welche Anmaßung, welches Verkennen der Wege und Auf- 
gaben der Wissenschaft liegt doch in solchem Beginnen! Und 
welch krause Irrwege muss ein solcher Gedankengang im weiteren 
Verfolge einschlagen, wie viele muss er irreführen, die ihm ver- 
trauend folgen! 

Was wir tun können ist: Teil um Teil vornehmen und einzeln 
erforschen. Und was die Betrachtungsweise anbelangt, so darf sıe 
weder final noch kausal, sondern muss einzig konditional sein. Wir 
dürfen nie auf ein Ganzes schließen, das sich aus hundert ver- 
schiedenartigen Faktoren zusammensetzt — wenn wir nur einen 
einzigen Faktor notdürftig kennen. Das lehrt uns die Mathe- 
matik, das Musterbild exakter Wissenschaft. Welcher Mathematiker 
würde den verstehen, der aus einem gegebenen Produkte von hundert 
Faktoren den Wert eines einzigen Faktors herausrechnen wollte, 
wenn ihm die neunundneunzig anderen unbekannt sind?! 

Um ein Beispiel zu geben: Ich habe jahrelange Mühe der Er- 
forschung der Nährpflanzen meiner erwählten Spezialgruppe, der 
Haltieinen, gewidmet, habe ein nach Möglichkeit klares Bild von 
ihnen erhalten und weiß, dass jede Art nur auf ganz bestimmten 
Pflanzenarten lebt. 

Warum aber lebt jede Halticinenart nur auf gewissen Pflanzen- 
arten? Nichts erschien (und erscheint mir heute noch) zweck- 
loser, unverständlicher als ein „Warum?“ an solcher Stelle. Wer 
diese Frage im Ernste stellt, ist entweder ein Kind oder der allzu- 
eifrige Diener einer Theorie. Aber damit kommen wir bereits zum 
nächsten Punkte. 

2. Für die Theorie von den „natürlichen Schutz- 
mitteln der Pflanzen gegen Tierfraß“ setze ich die Tat- 
sache der Gesehmacksspezialisation der Tierwelt. An anderer 
Stelle habe ich die Frage bereits eingehend behandelt, stelle daher 
hier nur kurz fest: Nicht mechanische und chemische Schutzmittel 
schützen eine Pflanze, sondern der angeborene Geschmackssinn der 
Tiere. Jedes Tier greift normal nur einen bestimmten Kreis von 
Organismen als Nahrung an, unbekümmert um „Schutz“, und 
kümmert sich um alle anderen Pflanzen, ob „geschützt“ oder „un- 
geschützt“, überhanpt nicht, greift sie gar nicht an. Im ersten 
Falle, bei der Normalnahrung, ist ein „Schutz“ logisch undenkbar. 
Im zweiten Falle ist er unnütz, denn wo regulär kein Angriff er- 
folgt, ist auch kein „Schutz“ nötig. 

Eine Kiefernraupe verschmäht das schutzlose, saftige, weiche Salat- 
blatt und will starrsinnig die harte, harzig-bittere Kiefernadel. „Sie frisst 
keinen Salat“ sagt der gemeine Mann ruhig und denkt mit Recht 
nie. daran, „warum“ sie ihn nicht frisst. Das sind eben Geschmacks- 
geheimnisse, deren jedes Tier sein besonderes hat und für die es 
weder eine Erklärung noch einen einheitlichen Maßstab von „gut“ 


264 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


oder „schlecht“ schmeckend gibt, weil der Geschmack jedes Tieres 
ein anderer ist. Man hat die „Spezialisten“ — die Monophagen 
und Oligophagen meiner Auffassung’) — als Ausnahme hingestellt®). 
Das ist ım tiefsten Grunde unrichtig. Engere oder weitere Spe- 
zıalısation ist allgemeime Regel ın der Tierernährung und wirkliche 
„Omnivoren“ gibt es wohl überhaupt nicht. 

Durch die Tatsache der Geschmacksspezialisation in der Tier- 
welt nun werden die Angriffe verteilt — auf jeden Organismus 
fällt nur eine gewisse Anzahl von Feinden. Und die Tatsache der 
effektiven Existenz eines Organısmus beweist, dass er imstande 
war, bis zur Stunde alle seine natürlichen Feinde zu befriedigen 
und mit dem verbleibenden Reste von Individuen seine Art fort- 
zupflanzen. Die „geschütztesten“ Pflanzen aber haben durchschnitt- 
lich nicht weniger Feinde als die „ungeschütztesten“. Man werfe 


einen Blick in die lebendige Natur hinaus oder nehme — wenn 
dies etwas umständlich scheint — den alten, aber immer noch 


mustergültigen Kaltenbach’) zur Hand. So veraltet er auch ist, 
diese Tatsache geht klar aus ihm hervor. 

3. Zur Erklärung des anscheinend tierabwehrenden 
Charakters der heutigen Pflanzenwelt setze ich die Lehre 
von der Bevorzugung des Zusagenderen. 

Ein Gleichnis wird den einfachen Gedanken am besten ver- 
mitteln. 

Auf einem Markte werden zu einem Einheitspreise Äpfel feil- 
geboten. Die Frauen kommen, wählen aus, kaufen. Die schönsten 
Äpfel gehen zuerst ab. In den späten Vormittagsstunden wird die 
(Qualität des Vorhandenen (im Vergleiche zum ursprünglichen Ge- 
samtangebot) bereits erheblich gesunken sein. Die Äpfel mit 
„käuferabwehrenden“ Eigenschaften wiegen auffällig vor. Sind diese 
Äpfel nun „geschützt“? Sicherlich nicht. Die Käufer, die nun 
kommen, passen sich der verschlechterten Qualität an und wählen 
unter dem Vorhandenen weiter aus. Gegen Mittag sind nur wenige 
Reste mehr, das „Käuferabwehrendste“, vorhanden. Aber dieses 
ist nun „geschützt“?! Mit nichten. Das gibt die Äpfelfrau den 
Jungen, die sich um ihren Standplatz drücken, und macht ihnen 
immer noch eine Freude damit. 

Das aber ıst die simple Lösung der Frage von dem tier- 
abwehrenden Habıtus der heutigen Pflanzenwelt: Unter sonst 
gleichen Verhältnissen werden Pflanzen, die an einem Orte von 
einer dominierenden Tierart bevorzugt werden, am stärksten leiden. 


5) Vergl. meinen Artikel über die Standpflanze (Wien. Entom. Zeit. XXXI, 
S. 207 £f., 1912); ferner „Zoologische Fragen im Pflanzenschutz“ (Centralbl. 
f. Bakt., Paras. etc., II. Abt., 40. Bd., 8. 233 f., 1914). 

6) Stahl, Ludwig u.a. 

‘) Die Pflanzenfeinde aus der Klasse der Insekten. Stuttgart 1874. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 265 


Wir können uns unbedenklich vorstellen, dass eine Anzahl Pflanzen 
einer dauernden Bevorzugung schließlich sogar erlag. Man wird 
sagen, dieser Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen sei nichts 
als das einfache Selektionsprinzip. Und man hat recht, insoferne 
es sich um nichts anderes als um eine „Auslese“ allein handelt. 
Wenn es sich jedoch um den Begriff „Selektion“ handelt, wie er 
heute zur Erklärung aller erdenklichen Dinge angewendet wird, so 
muss ich ihn rundweg ablehnen. 

Denn es wird uns ferne liegen, alle anscheinend tierabwehren- 
den Eigenschaften solchergestalt mit Auslese erklären zu wollen. 
Ein großer Teil davon wäre sicherlich ohne tierische Auslese ım 
gleichen Ausmaße vorhanden wie mit derselben; es sind eben 
Struktureigentümlichkeiten, die von selbst entstehen und die gar 
keinen Selektionswert zu haben brauchen, um erhalten zu bleiben. 
Wieviele von den solchergestalt richtungslos entstandenen Merk- 
malen ohne Selektion da wären, vermag niemand auch nur an- 
nähernd zu beurteilen. Doch nehmen wir für den vorliegenden 
Fall eine Wirksamkeit der Auslese ım weitestmöglichen Ausmaße an. 

Es wird sich nun lediglich darum handeln, festzustellen, was 
jetzt geschah. Waren die nun übrigbleibenden Pflanzen durch ihre 
missliebigen Eigenschaften „geschützt* ? 

Sie waren es in keiner Weise. Nachdem das Bevorzugte ver- 
schwunden war, musste das minder Bevorzugte heran. Und mangels 
des Besseren ıst das Gute auch stets willkommen und ersetzt 
ersteres vollständig. Den Beweis liefert uns ein einziger Blick ın 
die Natur: da wimmelt es von „Schutzmitteln“ — nach Versiche- 
rung der Schutzmitteltheoretiker ıst ja keine einzige Pflanze ganz 
ohne „Schutzmittel“, weil sie dann sofort unterliegen würde °) — 
und da wimmelt es aber auch gleichzeitig von phytophagen Tier- 
arten, die mit einem Appetit, den keine Theorie hinwegzuleugnen 
vermag, in dieser „geschützten“ Pflanzenwelt fressend wüten. 
Stahl’) sagt selbst, dass es „denn auch wohl keine einzige Pflanze 
gibt, welche der Tierwelt nicht ihren Tribut zu zahlen hätte“. Die 
sonderbare Ausflucht, die „Schutzmittel“. seien nur „bedingt“ wirk- 
sam, schützten nur gegen einige, nicht aber gegen alle Tiere, ıst 
leicht zu widerlegen. Man fasse jene Tiere, gegen die die „Schutz- 
mittel“ angeblich wirksam sind, nur einmal zoologisch kritisch ıns 
Auge und man wird leicht nachweisen können, dass diese Tiere 
ihre Normalnahrung ganz anderswo finden, einer anderen, vielleicht 
noch kräftiger „geschützten“ Nahrung von Natur aus angepasst 
sind, dieselbe schonungslos vernichten und darum die angeblich 


8) Stahl, Liebmann u. a. 
9) Pflanzen und Schnecken. ‚Jenaische Zeitschr. f. Naturw. u. Med. XXII, 
INCH. SNV..Bep.ıD. 2, 


266 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


„geschützte“ Pflanze normal gar nicht benötigen und daher auch 
gar nicht angreifen. 

Jedes phytophage Tier besitzt seine angestammte Normalnahrung 
normal in Fülle, mehr verlangt es gar nicht. Diese den Bedarf in 
der Natur vollauf deckende Normalnahrung aber ist dem Tiere 
gegenüber absolut ungeschützt — bezw. nur durch ihre Masse „ge- 
schützt“ —, wird in Unmengen vernichtet. In Spezialfällen mag 
ja das Leben einer Pflanze einmal von ihrer Bedornung oder ihrem 
scharfen Safte abhängen, wenn nämlich den ortsbewohnenden Tieren 
ihre Normalnährpflanzen ausgehen. Aber das ist eben ein Zufall 
und kein Naturprinzip. 

Wir Zoologen vermögen angesichts des unermesslichen, ver- 
nichtenden Tierfraßes an einen wirksamen bewaffneten Schutz der 
Pflanzenwelt gegen Tiere nicht zu glauben. Gerne aber wollen wir 
an eine hier und dort wirksam gewesene „Auslese“ glauben, die 
das am meisten Begehrte verschwinden machte und das minder 
Bevorzugte — aber darum keineswegs Verschmähte oder gar „Ge- 
schützte* übrig ließ. Dieses minder Bevorzugte gibt nun der 
heutigen Pflanzenwelt ihren anscheinend tierabwehrenden Zug, mit 
dem sich die heutige Tierwelt aber, wie das Naturleben zeigt, in 
vollem Umfange abgefunden hat und der den Pflanzen nunmehr 
nicht das mindeste nützt. 

Ich habe das Wort „Auslese“ gebraucht und habe gezeigt, 
wie weit man mit meiner Auffassung der Dinge an die Lehre 
Darwin’s, soweit sie das Walten einer im ausmerzenden Sinne 
wirksamen Selektion betrifft, heran kann. Wir können deren Grund- 
lagen anerkennen, bis das Wort „Schutz“ fällt — dann scheiden 
sich die Wege. Die Auslese erzeugt minder begehrenswert scheinende 
Formen — einen wirksamen Schutz gegen wirkliche Feinde aber er- 
zeugt sie nicht, weil die feindliche Tierwelt jeden Schutz durch stete 
unvermerkte Gegenanpassung zu nichte macht. Wohl kaum ein 
Tier der Erde ist durch dieses allmähliche Verschwinden des von 
ihm Bevorzugten und das Vortreten des von ihm minder Bevor- 
zugten zugrunde gegangen. Wohl aber kann ein durch seinen Ge- 
schmackssinn (ohne Rücksicht auf Schutz, der ja bei Spezialisten 
gänzlich außer Betracht fällt) angepasster Spezialist bei Ver- 
schwinden seiner Pflanze mit verschwinden. 

Das sind die Gedankengänge, die ich dem Leser zur reiflichen 
Erwägung vorführen möchte. 

Und nun will ich mich der Kritik des experimentell-sachlichen 
Teiles des Liebmann’schen Artikels zuwenden. An ıhm soll 
das soeben Entwickelte die Probe auf seinen Erklärungswert be- 
stehen. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 267 


II. Der Gesehmackssinn der Vögel und die Wirksamkeit der 
„chemischen Schutzmittel“. 

Die Einleitung zu dem Artikel Liebmann’s gibt neben einer 
Darlegung der leitenden Gesichtspunkte der Arbeit einen allge- 
meinen Überblick über den Verdauungsapparat und die Sinnes- 
organe der Vögel, soweit letztere in Beziehung zur Nahrungsauf- 
nahme stehen. 

Der Autor kommt zu dem sehr interessanten, für die Abwehr- 
und Anlockungstheorie indes doch vielleicht ein wenig unbequemen 
Schlusse, dass bei den Vögeln zum Auffinden der Nahrung das 
Auge die wichtigste Rolle spielt, dagegen Geruchs- und Geschmacks- 
sinn nur eine ganz untergeordnete. Das Innere der Mundhöhle 
samt der Zunge der Vögel ist hart und verhornt, Speichel wird 
sehr wenig abgesondert. Für die geringe Empfindlichkeit des Ver- 
dauungstraktes spricht schon die Tatsache, dass Sand und Steinchen 
ihm nichts anhaben, sondern von den Tieren vielfach freiwillig 
aufgenommen werden. 

Ein sprechendes Beispiel für die ganz unerwartet große Ge- 
schmacksstumpfheit der Vögel geben die Experimente, die der Autor 
mit verschiedenen Vogelarten (vgl. S. 486ff.) anstellte. Ich zitiere 
kurz hieraus. 

(S. 487 ff.; Tannin.) „... Alle Vögel fraßen die gerbsäure- 
haltige!‘) Nahrung vollständig auf; kein einziger ließ etwa nach 
dem ersten Bissen ab, was er getan haben würde, wenn er ihm 
schlecht schmeckte.“ 

„Kein Vogel erlitt irgendwelchen sichtbaren Schaden durch 
diese Experimente, trotzdem teilweise ganz beträchtliche Quantitäten 
Tannin vertilgt worden waren.“ 

(S. 4389—490; Zitronensäure.) „... wirkt in solchen Kon- 
zentrationen, wie sie in den folgenden Versuchen angewandt wurden, 
sehr scharf und ätzend.“ 

Gequetschter Hanf und Ameisenpuppen, die 6 Stunden in einer 
etwa 7prozent. Lösung von Zitronensäure gelegen waren, wurden 
von drei Meisenarten, Stieglitz und Dompfaff, bezw. drei Meisen- 
arten, Kleiber und Rotkehlchen, „scheinbar gern“ verzehrt; zurück- 
gelassen wurden nur die Hanfschalen. 

„Endlich bekamen alle Vögel als Trinkwasser eine etwa 
2!/,prozent. Zitronensäurelösung; sie verweigerten dieselbe durchaus 
nicht.“ 

(S. 490; Ameisensäure.) „Ferner warf ich Mehlwürmer in 
reine Ameisensäure hinein; die Kohlmeise holte mit dem Schnabel 
die sich lebhaft krümmenden Tiere heraus und fraß sie ohne wei- 
teres mit Behagen stückweise auf.“ 


10) D. h. künstlich mit Tannin vermischte Nahrung. 


268 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


(S. 490; Pıkrinsäure.) „Einen äußerst widerlichen Geschmack 
zeigt die Pikrinsäure, welche auch noch giftig ist. Selbst ın mini- 
malen Mengen genossen schmeckt sie entsetzlich ... Deshalb 
scheint sie zu Experimenten über den Geschmack besonders ge- 
eignet, wenn man sie auch, soviel mir bekannt, bis jetzt im Pflanzen- 
reiche noch nicht nachgewiesen hat.“ 

„In einer etwa 3prozent. Lösung von dieser Säure wurde 
„Wealdfutter“ !!) eine Nacht über hen gelassen... Die aufge- 
nommene Nahrungsmenge blieb beträchtlich Finer der normalen 
zurück !?). Immerhin aber hatten beide Vögel (Kohlmeise und Grün- 
fink) so viel verzehrt, dass Schnabel und Exkremente hochgelb 
gefärbt waren... Mehlwürmer, mit einem dünnen Pikrinsäurebrei 
bestrichen, wurden von der Meise anstandslos vertilgt. Irgendeinen 
sichtbaren Nachteil trugen die Tiere nicht davon.“ 

(S. 492; Kaliumbioxalat, Sauerkleesalz.) „Da es sehr scharf 
schmeckt und außerdem giftig ist, scheint es als Schutzmittel sehr 
geeignet zu sein.“ 

In einer bei Zimmertemperatur gesättigten Lösung dieses Salzes 
wurden Ameisenpuppen und gequetschte Hanfkörner mehrere Stunden 
lang eingeweicht. Erstere wurden hierauf an drei Meisenarten, 
letztere an diese und an Stieglitz und Dompfaff verfüttert. „Alle 
Tiere nahmen wiederholt davon, als ob es gewöhnliches Futter 
wäre; hätte es ihnen zu schlecht geschmeckt, so würden sie gleich 
nach dem ersten Versuche von ıhrem Vorhaben abgelassen haben.“ 

Die Versuche wurden noch mit größeren Salzmengen vorge- 
nommen. „Schädliche Folgen traten nirgends ein, trotz der Giftig- 
keit für andere Tiere.“ 

Lediglich der Milchsaft von Euphorbia Myrsinites konnte den 
Versuchstieren das Futter verekeln. 

Zusammenfassend sagt der Autor selbst (S. 494): 

„Was geht nun aus diesen Versuchen hervor? Jedenfalls so 
viel, dass der Geschmackssinn der Vögel nur sehr wenig 
ausgeprägt ist, wenn auch nicht behauptet werden kann, 
dass er vollständig fehlt. In solchen Quantitäten, wie sie hier 
verwandt wurden, kommen chemische Substanzen ın Samen und 
Früchten kaum vor... Man kann also nicht erwarten, dass irgend- 
welche Substanzen, die als chemische Schutzeinrichtungen ange- 
sehen werden können, auf Vögel irgendwie einwirken .. .* 

Ich habe den Worten des Autors nichts zuzufügen. Seine 
Worte besagen klar: Es gibt keine wirksamen chemischen 
natürlichen Schutzmittel der Pflanzen gegen Vogelfraß. 

1) Käufliche Nahrung der Körnerfresser, der Hauptsache nach Samen von 
„Picea excelsa, Phalaris canariensis, Panicum miliaceum, Brassica-Arten, Can- 
nabis sativa, Linum usitatissimum, Dipsacus laciniata und Lactuca sativa“. 

12) Hier spielt möglicherweise die durch die Pikrinsäure verursach te auffallende 
intensive elbfärbung des Futters mit. 


Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 269 


Wir halten diese Konstatierung schon hier fest und legen da- 
mit die gesamten „chemischen Schutzmittel* gegen Vogelfraß ebenso 
berechtigt als gänzlich unwirksam ad acta, wie wir seinerzeit die 
„chemischen Schutzmittel“ der Rinden unserer Holzgewächse gegen 
Säugetierfraß ad acta gelegt haben'?). Und in beiden Fällen habe 
ich den Nachweis allein mit den eigenen Worten der Autoren, die 
doch ausgezogen waren, um die Wirksamkeit der Schutzmittel 
nachzuweisen, führen können. Beiden Autoren muss voll und ganz 
eines zugestanden werden — die unbedingte wissenschaftliche Wahr- 
haftigkeit, mit der sie die Ergebnisse ihrer Experimente darlegen, 
auch dann, wenn sie ihrer Theorie entgegenlaufen. Nur diese 
Wahrhaftigkeit, dieses Nichtsverschweigen hat den Nachweis er- 
möglıcht. 

Seinen eigenen Untersuchungen fügt der Autor noch die Er- 
wähnung gleichsinniger Forschungsergebnisse anderer an. Man hat 
überhaupt erst im Jahre 1904 Geschmacksorgane in der Mundhöhle 
— nicht auf der Zunge! — der Vögel nachgewiesen; diese Sinnes- 
organe stehen jedoch hinter jenen der Säugetiere weit zurück. 

Dr. O. Heinroth (zitiert auf S. 497) schreibt: „... Wäre der 
Geschmack für den Vogel wirklich sehr wichtig, so würden Beeren, 
Mehlwürmer, Eicheln und andere festschalige Futtermittel nicht 
unzerstückelt verschluckt werden, wie dies bekanntlich doch meist 
geschieht.“ 

Und auf S. 498 sagt der Autor: 

„Bei den Körnerfressern aber, die ihre Nahrung zerbeißen, ist 
ein Schmecken deshalb nicht möglich, weil nur nasse oder einge- 
speichelte Substanzen mittels des Geschmackssinnes wahrgenommen 
werden können; die fleischigen Früchte und Tierchen jedoch, die 
diese Bedingung erfüllen, werden von Körnerfressern verschmäht, 
von Weichfressern dagegen unzerkleinert verschluckt, wobei eine 
Einwirkung auf den Geschmack auch nicht stattfindet.“ 


IV. Die „.Abwehrmittel** gegen Körnerfresser. 

Auf S. 449ff. bespricht der Autor die Einteilung der Vögel in 
„Körnerfresser“ und „Weichfresser*“. 

Die Körnerfresser besitzen einen kurzen, starken Schnabel, 
einen sehr kräftigen Muskelmagen und nähren ‚sich von hartem 
Futter, vorwiegend Körnern und harten Früchten, die sie zumeist 
mit dein Schnabel zerstückeln und mit dem Muskelmagen zermahlen. 

Die Weichfresser besitzen einen längeren, dünneren, zum 
Hervorholen von kleinen Tieren, nicht aber zum Zerkleinern ge- 
eigneten Schnabel, einen muskelschwachen Magen und nähren sich 


13) Vergl. meine eingangs zitierte kritische Abhandlung über die Arbeit 
A. Räuber’. 


370 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


in erster Linie von Insekten, Würmern u. dgl., in zweiter von 
fleischigen Früchten, also durchwegs von weicheren Objekten, die 
sie in der Regel unzerstückelt hinunterschlucken. 

Mit dem Blicke des Unbefangenen sehen wir hier zweierlei. 

1. Fall. — Vögel, die vorwiegend von Samen leben. Wenn 
sie davon leben, zerstören sie zweifellos die Samen. Und wenn 
sie davon leben, können die Samen ihnen gegenüber nicht „ge- 
schützt“ sein. Also: „unbefugter“ Fraß, d. ı. reine Vernichtung, 
Fehlen wirksamer Schutzmittel, Weiterbestand der Pflanze 
durch Überproduktion gesichert. 

2. Fall. — Vögel, die normal von Kleintieren, ausnahmsweise 
— oder sagen wir fallweise — von fleischigen Früchten leben '*). 
Der Befall der Fleischfrüchte ist wohl weit nıinder belangreich als 
der Samenbefall im vorigen Falle. da dort eine Normalnahrung, 
hier aber nur eine Eventualnahrung vorliegt. Es ist absolut nicht 
einzusehen, warum für diesen sicherlich viel schwächeren Befall 
der ım vorigen Falle wirksam gewesene allgemein gültige Modus 
der Arterhaltung nicht hinreichen sollte — warum dem Zufalle, 
dass hier die Samen keimfähig durchgehen, eine prinzipielle Be- 
deutung zugemessen werden soll. Dieser Zufall mag die Zahl der 
Individuen dieser Sträucher vermehren — für die Sicherstellung 
der Artexistenz aber genügt, wie im vorigen Falle, so auch hier, 
ganz gewiss die einfache Überproduktion an Samen. Ich wenig- 
stens sehe nicht ein, warum das, was dort weit heftigeren Angriffen 
standhielt, hier für den schwächeren Befall nicht genügen sollte. 
Niemand kann beweisen, dass — einzelne ganz spezialisierte Fälle 
extremer Anpassungen ausgenommen!) — der sogen. „befugte“ 
Fraß für das Bestehen der Pflanzenarten notwendig ist. Und 
um die Notwendigkeit allein handelt es sich doch. Eine ein- 
fache Förderung mag das Vegetationsbild beeinflussen, ist aber 
prinzipiell bedeutungslos. 

Wir haben eine so ungeheure Fülle von Pflanzen, die ohne 
„befugten“ Fraß auskommen, ja die sogar „unbefugt“ aufs äußerste 


14) Erst im Herbst (früher reifen die Früchte in der Regel nicht) nehmen die 
Weichfresser neben der Kerbtiernahrung auch fleischige Früchte an. 

15) An anderer Stelle möchte ich mich ausführlicher über solche Fälle — ein 
Beispiel für dieselben ist die Mistel — äußern. Hier sei nur kurz erwähnt, dass 
die völlige Abhängigkeit einer Pflanze von der Verbreitung durch Tiere nichts Pri- 
märes, nichts Prinzipielles an sich haben kann, sondern nichts ist als ein Zufall. 
Primär kann sie nicht sein, denn ehe ein Vogel eine Frucht fraß und dadurch ver- 
breitete, musste diese Frucht doch gewachsen sein und die Pflanze musste ohne 
Vogel bereits Erdalter hindurch gelebt und sich fortgepflanzt und verbreitet haben. 
Der Vogel hat ihre Verbreitung darum nicht gesichert, sondern nur modifiziert, 
von sich abhängig und damit in gewissem Sinne sogar unsicher gemacht. Das ist 
kein Prinzip, sondern dasjenige, was wir — ohne uns vor dem deutschen Worte zu 
scheuen — „Zufall“ nennen, 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 274 


geplündert werden und die doch gemeiner, häufiger und weiter ver- 
breitet sind als viele „befugt“ gefressene, eine solche Fülle, dass 
wir nicht begreifen können, warum gerade die wenigen „befugt“ 
gefressenen unbedingt auf diesen Fraß angewiesen sein sollten, 
weshalb gerade bei ihnen die Natur ein neues Erhaltungsprinzip 
nötig gehabt haben sollte. 

Überlegungen solcher Art indes liegen abseits vom Wege des 
Autors der rezensierten Arbeit. 

Ein kurzer Blick auf den Weg, den er gekommen, lässt uns 
seinen Standpunkt verständlich erscheinen. 

Er kommt aus der Schule der Selektion. 

In Pflanzen- und Tierwelt tobt der Daseinskampf; die Pflanze 
kämpft so gut wie das Tier. Hätte sie keine Waffen, so ginge sie 
unter. Jede Pflanze muss demnach Waffen haben. Sein Thema 
lautet: Suchet die Abwehrmittel der Pflanzen und zeiget ihre Wirk- 
samkeit im einzelnen. 

Die Körnerfresser vernichten nun die Samen gewisser Pflanzen. 
Um nicht unterzugehen, müssen diese Pflanzen an Früchten und 
Samen „Abwehrmittel“ gegen die Körnerfresser ausbilden. 

Anders liegt der Fall bei den Weichfressern. Die Weichfresser 
vernichten mit ihrem Fraß keine Samen, sie verbreiten solche ım 
Gegenteile.. Um Vorteile zu haben, um im Daseinskampfe zu be- 
stehen, haben nun diese Pflanzen die Weichfresser in ıhren Dienst 
gestellt, sie haben an den Früchten „Anlockungsmittel“ für diese 
ausgebildet. 

Es ist nicht zu leugnen, dass die Sache in dieser Form nicht 
nur interessant, sondern auch völlig plausibel klingt. Wenn man 
nämlich den Detailgang der einzelnen hierzu notwendigen selek- 
tiven — (an anderes als an Selektion kann ja hier nicht gedacht 
werden) — Vorgänge nicht weiter verfolg. Dann kann man 
ohne weiteres an den Nachweis der „Anlockungsmittel“ einerseits, 
der „Schutzmittel“ anderseits gehen. Man kann sicher sein, auf 
jeder Seite übergenug zu finden, das sich derart deuten lässt. 

Der kritische Geist aber sollte sich vorerst wohl doch noch 
einige Gedanken machen. Er sollte vorerst doch überlegen, ob 
dasjenige, was weiter oben über die beschränkte Wirksamkeit von 
Schutzmitteln ausgeführt wurde, nicht vielleicht auch hier Geltung 
habe. Die „Schutzmittel“ wären ja hochwertvoll, wenn wir es nur 
mit körnerfressenwollenden Vögeln zu tun hätten. So aber haben 
wir es mit tatsächlich körnerfressenden zu tun — und die 
fressen die Körner wirklich und kümmern sich nicht im mindesten 
um die vielen „Abwehrmittel“, die wir Menschen mit einigem Eifer 
an den Körnern ausfindig machen. Was aber die Wirksamkeit der 
„Abwehrmittel“ gegenüber den „anderen“ Vögeln anbelangt, so 
sind diese „anderen“ Vögel eben keine Körnerfresser oder doch 


372 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


keine, die von solehen Körnern leben. Sie brauchen und suchen 
unsere Körner gar nicht, sondern suchen und fressen andere Körner, 
die vielleicht noch viel hübschere „Abwehrmittel“ besitzen als 
unsere. 


Die Körner also werden gefressen — ob mit oder ohne „Schutz- 
mittel“ ıst gleichgültig. Dass die Pflanze darum nicht ausstirbt, 
verdankt sie also nicht den an maßgebender Stelle ganz unwirk- 
samen „Abwehrmitteln“, sondern der einfachen Tatsache, dass sie 
so viel Samen produziert, dass außer den von Vögeln (und anderen 
Tieren) gefressenen immer noch genug zur Fortpflanzung des Ge- 
wächses übrig bleiben. 


Was aber die anscheinend abwehrenden Eigenschaften dieser 
Früchte und Samen anbelangt, so ıst beispielsweise ihre Harthäutig- 
keit meines Erachtens gar nichts so Verwunderliches und ohne 
weiteres auch ohne tierische Selektion leicht verständlich. Ein Same 
muss den Winter überdauern, muss Kälte, Hitze, Feuchtigkeit, 
mechanische und chemische Einflüsse u. s. w. überstehen — wie 
sollte er anders sein als hart und trockenhäutig?! Sind nicht 
auch die Tiereier harthäutig?! Und gewiss würden wır auch an 
den Tiereiern alle möglichen Zierraten und Anhängsel finden, wie 
an den Samen, wenn das Tierei nicht den Eileiter passieren müsste. 
Ich erinnere nur an die Skulptur und Form mancher Schmetter- 
lingseier. Der Ausbildung aller möglichen Anhänge an den Samen 
aber steht so wenig entgegen, wie den bizarrsten Ausbildungen an 
Pflanzenblättern und Blüten. 


Und sind trockenhäutige Pflanzenteile, z. B. Hüllschuppen, 
Rinden u. s. w. nicht in der Regel auch unscheinlich gefärbt?! 
Bräunlich ist eben die Hauptfarbe trockenhäutiger Gewebe nicht 
nur ım Pflanzenreich, sondern auch im Tierreich (z. B. Orthopteren- 
flügel ete.). Braucht man da unbedingt eine tierische Selektion 
zur „Erklärung“? 

Aber gesetzt auch, wir liebten die Selektion so sehr, dass wir 
sie auch hier um keinen Preis missen möchten, — an einen „Schutz“ 
und eine „Abwehr“ ıst immer noch kein Gedanke. 


Die Selektion arbeitete einfach so, dass das Bevorzugte all- 
mählich unterging und das minder Bevorzugte — eben die Dinge 
in ıhrer heutigen, anscheinend abwehrenden Form — übrig blieb. 
Wird dies nicht gefressen? Ein Blick auf die Körnerfresser zeigt 
uns, dass es genau so gut gefunden und gefressen wird, wie einst 
das minder Selektierte, Einladendere, von dem die Vorfahren unserer 
Vögel (vielleicht) lebten. Die Gestalt mag sich zum minder Ein- 
ladenden geändert haben — ein „Schutz“ ist hieraus in keiner 
Weise erwachsen, denn die heutigen Vögel sind eben wieder den 
heutigen Früchten angepasst und fressen sie. 


Heikertineer, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 97: 
> X zhu 


Diese Überlegungen — für uns alles Wiederholungen von 
weiter oben bereits Dargelegtem — haben für uns etwas so über- 
raschend Einfaches, Natürliches, Zwingendes, dass uns der Eifer, 
mit dem die Wissenschaft „Schutzmittel“ sucht, seltsam verwunder- 
lich berührt. 

Und seltsam verwunderlich sind uns viele Vermutungen und 
Schlüsse, die der Autor ım zweiten Teile seiner Arbeit, der von 
den nichtfleischigen, mit „Abwehrmitteln“ gegen Körnerfresser ver- 
sehenen Früchten und Samen handelt, äußert. Ich überlasse es 
dem nunmehr aufmerksam gemachten Leser, diese Dinge kritisch 
dort nachzulesen. An dieser Stelle würde ihre Erörterung zu weit 
führen. 


Dass aber das ım voraus gegebene Thema „Selektion“ und 
„Sehutzmittel“ auch die Logik beeinflusst, mag nur an etlichen 
Proben dargelegt werden. 


S. 776. — „Die nichtfleischigen Samen und Früchte sind 
also nicht an den Tierfraß. speziell Vogelfraß, angepasst und 
müssen lästige Feinde fernzuhalten suchen. Wie aber schon am 
Anfang der Arbeit hervorgehoben wurde, bieten alle Schutzein- 
richtungen nur einen relativen, keinen absoluten Schutz. Man 
darf sich deshalb nicht wundern, wenn man durch Beobachtungen 
findet, dass große Mengen nichtfleischiger Samen und Früchte, be- 
sonders kleinere, den körnerfressenden Vögeln als willkommene 
Speise dienen. Diese Tatsache ist für die Landwirtschaft 
von weittragendster Bedeutung, weil auf diese Art zahl- 
lose Unkrautsamen vernichtet werden...!P).“ 

Größere Bedeutung für die Landwirtschaft dürfte vielleicht 
doch der Fraß an Kultursämereien beanspruchen. Übrigens ist die 
Tatsache der Vernichtung „zahlloser Unkrautsamen“ ein etwas ein- 
seitiger Trost und sicher keine Empfehlung für die Wirksamkeit 
von Schutzmitteln. Denn der Vogelfraß unterscheidet ja nicht 
kritisch Kultursämereien und Unkrautsamen, sondern trifft rück- 
sichtslos beide. 

S. 782. — „Eine Familie, die von Vögeln besonders gern 
heimgesucht wird, ist die der Compositen; daher zeigt ge- 
rade diese Familie die verschiedensten Organe zum 
Schutze gegen solchen unbefugten Vogelfraß!*).“ 

Der Schluss ist etwas seltsam; ein Unbefangener könnte kaum 
anders sagen als: Je mehr Schutzorgane da sind, desto weniger 
gerne werden wohl die Pflanzen von Vögeln heimgesucht. Der 
Autor verwechselt unbewusst das supponierte Heimsuchen wollen 
mit dem effektiven Heimsuchen; letzteres kann nur ein Beweis 


16) Sperrdruck von mir. 


XXXV. 18 


974 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


dafür sein, dass die Pflanzen den Vögeln zusagen, also keine wirk- 
samen Schutzmittel gegen dieselben besitzen. 

Mehr als einmal geht der Autor an der einfachen Lösung des 
Problems durch den Satz von der zureichenden Überproduktion vor- 
bei, ohne sie aufzugreifen. 

S. 789. — „... Taraxacum und die übrigen Früchte fielen 
allen verwendeten Tieren (Dompfaff, Stieglitz, Meisenarten) verhält- 
nismäßig leicht zum Opfer; auch in der Natur werden sie massen- 
haft von Körnerfressern vertilgt ... Trotzdem weiß jeder, dass 
gerade die genannten Pflanzen zu unseren gemeinsten Unkräutern 
gehören. Das liegt daran, dass die Früchte von der Pflanze 
in großen Mengen erzeugt werden...“ 

S. 798. — „... Die Pflanze (es ist von den Früchten von 
Dipsacus laciniatus die Rede) entgeht der Vernichtung dank 
ihrer massenhaften Erzeugung. Jeder Körnerfresser verzehrt 
sie gern, weshalb sie in dem für diese Tiere bestimmten, käuflichen 
Futter enthalten zu sein pflegen.“ 

Auch an anderen Orten ist dieser klare Gedanke ausgedrückt, 
leider aber unangewandt geblieben. 

Der Autor ist indes ın allen Fällen streng gerecht und führt 
auch jene Fälle, die seinen Voraussetzungen widersprechen, ge- 
wissenhaft auf. 

S. 805. — „Nach allen hier angestellten Erörterungen dürfte 
soviel sicher sein, dass den meisten ätherischen Ölen der Umbelli- 
feren neben etwaigen anderen Funktionen die des sehr wirksamen 
Schutzes gegen unbefugten Vogelfraß zukommt...“ 

Und hierzu S. 806. — „Ob die ätherischen Öle der Früchte 
ihren stammesgeschichtlichen Ursprung lediglich der auslesenden 
Wirksamkeit der Vögel verdanken, erscheint einigermaßen fraglich, 
da auch alle anderen Teile der Doldengewächse von äthe- 
rischen Ölen durchtränkt sind'!*),“ 

Es, wäre in diesem Falle zweifellos recht erzwungen, wollte 
man den Ölgehalt speziell der Samen mittels Selektion durch Vögel 
erklären. 

Auch an der Tatsache der Geschmacksspezialisation der Tiere 
mit ihren unerforschlichen, im Tierbau und nicht ım Pflanzenbau 
begründeten Geheimnissen gleitet der Autor vorüber. 

S. 807. — (Es ist die Rede von den Samen der Papeliona- 
ceen. Der Autor findet es begreiflich, dass die Vögel den großen, 
festen Hülsen mancher Arten nicht beikommen können; ebenso 
können sie manche besonders harte Samen nicht zerbeißen.) „Ganz 
neu und unerwartet ist jedoch die Tatsache, dass die übrigen 
(kleineren) reifen Samen und sämtliche halbreifen verweigert wurden, 
obgleich sıe leicht zu bewältigen sind und weder besonders scharf 
riechen noch schmecken, wenigstens unseren Sınnesorganen nach 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 275 


zu urteilen. Auch durch Aussehen und Form unterscheiden sie 
sich nicht wesentlich von anderen Samen und Früchten; daher 
wurden sie ja von den Tieren auch zunächst probiert und erst 
dann verschmäht.“ 

Die Schutzmitteltheorie erklärt solche Tatsachen nicht. Sie 
lässt das Thema einfach fallen. Im Satze von der Spezialisation 
der Tiere jedoch liegt die natürliche, ungezwungene Erklärung für 
alle Ablehnungen. 

S. 810. — „Manche Forscher, besonders Focke und Buch- 
wald, vertreten die sonderbare Ansicht, dass die Ausbreitung der 
Leguminosen-Samen durch umkommende Vögel erfolgt, so bei 
Erbsen, Bohnen und anderen Hülsengewächsen mit nahrhaften 
Samen. Weil viele Vögel ıhre Nahrung vor der eigentlichen Ver- 
dauung eine Zeitlang im Kropfe behalten, soll die Möglichkeit ge- 
geben sein, dass bei gestorbenen Tieren die Samen von hier aus 
ins Freie gelangen und dort keimen. Focke selbst hat einen 
solchen Fall beobachtet, glaubt aber wegen der Zufälligkeit dieser 
Verbreitungsart nicht, dass sie häufiger vorkommt; Buchwald 
jedoch hält sie für wichtiger.“ 

Ich denke doch, es wird niemand behaupten, dass auf diesem 
etwas gar zu seltsamen Wege eine Selektion wırksam sei. Man 
sollte kaum vermuten, dass derlei abgequälte Erklärungen im Ernste 
abgehandelt werden. 

S. 814. — „Chenopodium glaucum wurde vom Dompfaff 
angenommen, vom Stieglitz aber zurückgewiesen'*). 
Das Chenopodiaceen-Beet ist als Futterplatz bei Sperlingen recht 
beliebt.“ 

Noch klarer sprechen folgende Stellen dafür, dass die Ab- 
weisung auf Grund der Geschmacksspezialisation von vornherein, 
ehe noch ein Schutzmittel wırksam sein konnte, erfolgt. 

S. 825. — „Schwartz beobachtete oft, dass die Versuchstiere 
manche Samen schon beim bloßen Anblick verschmähten, ohne sie 
erst gekostet zu haben.“ 

„Vögel, welche von den gewöhnlichen ‚Körnern‘ leben, werden 
alle Samen, die nicht die Normalform eines ‚Kornes‘ haben, un- 
beachtet lassen!°), weil sie sie nicht als genießbar erkennen.“ 

Was ist dies wohl anders als die Bestätigung der weiter oben 
aufgestellten Behauptung, dass ein Tier nur seine Normalnahrung 
suche und annehme, alles andere aber gar nicht beachte?! 

„Auch Samen, die von der für jede Vogelart normalen Größe 
abwichen, fanden keine Berücksichtigung ''). Die klein- 
schnäbligen Körnerfresser kümmerten sich nicht im geringsten um 
die großen Samen der Eichen und Zirbelkiefer... Der Kreuz- 
schnabel verweigerte von Anfang an alle Samen, welche nicht 
größer waren als ein Hirsekorn .. .“ 

18* 


376 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


„Oft ist auch die Normalfarbe der Sämereien von ausschlag- 
gebender Bedeutung.“ (Der Kreuzschnabel bevorzugte dunkelbraune 
Körner, die Koniferensamen ähnelten, ließ dagegen hellgelbe liegen; 
Stieglitz und Hänfling wiesen lange Zeit trotz Hungers ein sonst 
gern gefressenes Futter zurück, als es blau gefärbt worden war. 
Auch durch Pikrinsäure hochgelb gefärbtes Futter wurde ohne 
Kostprobe verschmäht.) 

Diese Versuchsergebnisse zeigen klar, wie hoch die Ernährungs- 
spezialisation der Tiere gediehen ist und wie verfehlt es ist, alle 
möglichen Tiere mit allen möglichen Pflanzen einfach zusammen- 
zustellen und nun mit menschlichem Raten und Deuten ergründen 
zu wollen, wodurch das eine vor den anderen „geschützt“ ist. 

Als erste, wichtigste gegebene Tatsache muss die Ernährungs- 
spezialisation jeder einzelnen Tierart untersucht und kritisch in 
Rechnung gestellt werden, und zwar dies ehe überhaupt mit 
einem Fütterungsversuch auch nur begonnen wird. Jedem 
Tier darf nur die seinem natürlichen Geschmack entsprechende 
Spezialnahrung vorgelegt werden, sonst ist der Versuch ebenso 
wertlos, wie wenn man einem Menschen Gras und Regenwürmer 
vorlegen würde und untersuchen wollte, wodurch diese beiden vor 
ihm „geschützt“ sind. Sie sind sicher nicht „geschützt“, und er 


nimmt sie dennoch nicht an — einfach weil er sie nicht mag, weil 
sie nicht zu seiner normalen Nahrung gehören. 
S. 827. — „In Übereinstimmung mit der guten Ausbil- 


dung des Vogelauges'°) sind Schutzfarben äußerst wichtig, weil 
sie die Körner vor den Blicken der Vögel verbergen'*).“ 

Dementgegen möchte ich folgendes festlegen: 

Wenn ein scharfäugiges Tier — und die Scharfsichtigkeit 
stoßender Raubvögel, nächtlich jagender Eulen u. dgl. ist zuweilen 
eine für uns Menschen nahezu unfassbare — wenn ein scharfäugiges 
Tier sucht, dann findet es die Samen auch nach der Form alleın 
und bedarf der Hilfe der Färbung nicht. 

Wir nehmen ja auch im Grün der Wiese jede bestimmte Blatt- 
form wahr, wenn wir danach suchen, und wir sehen die unreifen 
Äpfel im gleichfarbigen Laub’ ganz gut, wenn wir überhaupt auf 
den Baum blicken. Unansehnliche Färbung mag einen Gegenstand 
vor einem achtlos Vorübergehenden verbergen, vor einem unab- 
lässig danach suchenden Spezialisten aber sicherlich nicht. 

S. 827. — „Selbstverständlich ist keine der genannten Schutz- 
einrichtungen vollkommen zuverlässig. Besonders die kleinen Samen 
und Früchte haben viel unter Vogelfraß zu leiden, aber 
diese Tatsache ist von größter Bedeutung einerseits für 
die Erhaltung unserer Körnerfresser im Winter... und 
anderseits für die Vernichtung zahlreicher Unkraut- 
samen!P).“ 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 277 


Ich möchte niemanden kränken — aber dieser Satz erscheint 
mir wie ein Bocksprung der Logik. Die Samen sind geschützt — 
aber wie gut ist es, dass sie nicht geschützt sind, weil dadurch 
die Körnerfresser ım Winter die nötige Nahrung finden und Un- 
kräuter vernichtet werden. 

Auch aus dem Anhange zur Arbeit des Autors — worin etliche 
Einrichtungen besprochen werden, die „ohne weiteres als Schutz- 
mittel gegen Tierfraß erkennbar sınd“ (S. 833), gegen Vögel aber 
nichts nützen, daher „anderen Tieren“ gegenüber wirksam sein 
müssen — ließe sich leicht eine Lese bedauerlicher Erzwungen- 
heiten herausgreifen. 

Nur etliche Beispiele. 

Auf S. 833 spricht der Autor von den Borstenhaaren im Innern 
der Rosenfrüchte. 

„Über die Funktionen dieser Haare ist meines Wissens bis 
jetzt nichts bekannt. Nach eingehender Untersuchung der Frage 
glaube ich ihre Bedeutung darin gefunden zu haben, dass 
sie als Schutzeinrichtung gegen Mäuse wirken"), welche 
unbefugterweise den harten Kernen (nicht dem Fleische!) der 
Hagebutten nachstellen.“ 

Ich kann mir mit aller redlichen Mühe nicht vergegenwärtigen, 
wie sich ein Unbefangener ernstlich das Entstehen der Borsten- 
haare in den Rosenfrüchten im Wege einer Selektion durch Mäuse 
vorstellt. Man halte sich vorurteilsfrei das Walten der Auslese 
vor Augen — und man wird nicht begreifen, wozu solche abge- 
quälte Unbedingtdeutungen nur ersonnen werden. Gedient ist doch 
niemandem damit, am allermindesten der Wissenschaft. 

Auf S. 834 wırd die Tannirhaltigkeit der peripheren Schichten 
mancher Samenschalen besprochen; gegen Vögel wirkt sie nicht, 
da diese die Früchte unzerkleinert verschlingen. 

„Die Bedeutung der geschilderten Einrichtungen erhellt viel- 
mehr aus Erfahrungen, die jedermann selbst schon gemacht hat. 
Wenn man beim Verzehren von Johannis-, Stachel- oder Wein- 
beeren zufällig einmal auf einen Kern beißt, nımmt man sofort 
einen intensiv bitteren und zusammenziehenden Geschmack wahr 
und hütet sich deshalb, ein zweites Mal einen Kern zu verletzen. — 
Ebenso dürfte es den Säugetieren beim Vertilgen solcher 
und ähnlicher Fleischfrüchte ergehen'®. Auf diese Art 
wird die drohende Vernichtung!‘) der Kerne durch Säugetiere 
vermieden...“ 

Zerbeißen wir und die Säugetiere (welche?) die Weinbeeren- 
kerne wirklich darum nicht, weil sie bitter sind? Und würden 
wir wirklich alle zerbeißen, wenn sie nicht bitter wären? Wurden 
wirklich alle nicht bitteren zerbissen und starben aus — nur so ist 
doch Selektion denkbar? Ich glaube, es kümmert sich kein Wein- 


278 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc. 


trauben fressendes Tier um die Kerne dieser Früchte; es spuckt sie aus 
oder verschluckt sie, gleichgültig, ob sie bitter sind oder nicht, 
worauf sie sicher vielfach, wie beim Menschen, unverdaut den Darm 
passieren. Dass in diesem Falle irgendwo eine „drohende Ver- 
nichtung“, die durch Bitterwerden abgewehrt wird, gesehen werden 
könnte, wird jedem Unbefangenen befremdlich scheinen. 

Noch ein Beispiel für Annahmen und Beweise, die sich um 
sich selbst drehen. 


S. 835. — „Bei den unreifen Fleischfrüchten ist der Wert 
dieser Eigenschaften des Fruchtfleisches (es handelt sich um den 
Gehalt an schlechtschmeckenden oder giftigen Stoffen) völlig klar. 
Es darf nicht verzehrt werden, weil die Samen noch nicht die 
nötige Ausbildung erfahren haben. Schwieriger liegen die Verhält- 
nisse bei denjenigen reifen Früchten, welche den schlechten Ge- 
schmack bewahrt haben. Vielleicht soll der unbefugte Fraß ge- 
wisser Tiere verhindert werden, die das Fleisch stückchenweise 
vertilgen, ohne dabei die Kerne zu verbreiten; z. B. wäre an manche 
gefräßige Schneckenarten, mehrere Raupen, Würmer und einige 
kleinere Säugetiere zu denken. Die widerlich schmeckenden Arten 
haben vor den angenehmen den Vorteil, dass sie von solchen Tieren 
nicht angegangen werden können und trotzdem für Vögel genießbar 
bleiben. Allerdings ist dann ebensogut der befugte Fraß der Säuge- 
tiere unmöglich; wenn wir aber bedenken, dass schlecht schmeckende 
Fleischfrüchte gewöhnlich an Standorten wachsen, die nur für Vögel 
leicht erreichbar, für Säugetiere aber unzugänglich sind, so scheint 
dieser Einwand wesentlich gemildert zu sein.“ 

Wohl nicht zu mildern ist indessen der Einwand, dass wir mit 
solehen Betrachtungen nicht vorwärts kommen können, sondern 
nur ım Kreise gehen. 

Lassen wir es bei diesen Proben — deren wir ungezählte 
herausgreifen könnten — bewenden und zitieren wir, was der Autor 
zusammenfassend über die vorangegangenen Versuche, die unreife 
und halbreife Samen zum Gegenstande hatten, sagt. 

S. 320. — „Als Schutzmittel gegen unbefugten Vogelfraß ist 
die chemische Beschaffenheit also kaum zu deuten. Diese Fest- 
stellung ist insofern wichtig, als die chemischen Eigenschaften der 
reifenden Früchte wiederholt als Schutzeinrichtung gegen Vögel 
angesprochen wurden und gegenüber anderen Tieren!) (Säuge- 
tieren, Schnecken, Raupen) tatsächlich auch wirksam sind.“ 

Hier — beim Versagen der chemischen Schutzmittel — stellen 
sich wieder die typischen „anderen Tiere“ der Schutzmitteltheorie 
ein, um die Theorie zu retten. 

Was die reifen Samen anbelangt, so fasst sich bei diesen 
der Autor experimentell kürzer. 


Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 279 


S. 821. — „Größere Samen und (nichtfleischige!) Früchte aller 
Familien sind ıhrer gelblichen oder bräunlichen Farbe halber schlecht 
sichtbar und bieten wegen ihrer Härte dem Schnabel der Körner- 
fresser manche unüberwindliche Schwierigkeiten. — Kleine Samen 
und Früchte besitzen ebenfalls eine Schutzfarbe, sind aber oft nach- 
giebig und müssen massenhaft gebildet werden, damit eine 
genügende Anzahl am Leben bleibt. Von großer Bedeutung 
sind auch gute Verbreitungseinrichtungen . .. u. S. w. 

Das ist alles, restlos alles, was uns von den „Schutzeinrich- 
tungen“ der nichtfleischigen Samen und Früchte gegen „unbefugten“ 
Vogelfraß geblieben ist. 

Die chemischen Schutzmittel — Geruch, Geschmack, Giftig- 
keit — haben uns bei genauem Hinsehen vollkommen im Stiche 
gelassen. Nicht nur uns Zweifler, sondern auch den Forscher, der 
auszog, ihre Wirksamkeit zu erweisen. Auch die mechanischen 
Waffen — Haare, Stacheln und andere dräuende Gebilde — sind 
laut experimentell gewonnener Erfahrung desselben Forschers ın 
Anbetracht der Unempfindlichkeit der Mundhöhle der Vögel nicht 
als wirksame „Sehutzmittel“ anzusprechen. 

Bleibt uns nichts, nichts als die dürftigen Eigenschaften einer 
unansehnlichen Färbung und — nicht einmal für alle — einer 
harten Samenschale. 

Beide gewinnen uns wohl kaum mehr ab als ein zweifelndes 
Lächeln. 

Was die unansehnliche Färbung anbelangt, so denke ich da 
an die Spechte und Spechtmeisen, die ich im benachbarten Wald- 
parke des kaiserlichen Lustschlosses Schönbrunn so oft beobachtete. 
Ihre Nahrung ist nicht unansehnlich gefärbt — sie ist überhaupt 
unsichtbar. Sie ist verdeckt unter Baumrinde u. dgl. — und die 
Vögel finden sie doch! 

Wenn alle Tiere verhungern müssten, deren Nahrung nicht 
greli und auffällig gefärbt vor ihnen liegt — dann könnten wir 
den Umfang unserer Zoologiebücher wohl gewaltig reduzieren. 

Nein — jedes Tier weiß seine Normalnahrung zu finden, sie 
mag grellfarbig, schutzfarben oder überhaupt nicht sichtbar, ver- 
borgen in Holz oder Erde sein. Es hat ja den ganzen Tag nichts 
zu tun als seine Nahrung zu suchen. Überdies sehen und kennen 
ja die körnerfressenden Vögel schon von weitem die Pflanzen, deren 
Samen ihnen zur Nahrung dienen. Diese Samen unter den ihnen 
bekannten Pflanzen aufzupicken, haben sie Scharfblick und Zeit 
genug. 

Überdies beweist ein naiver Blick in die Natur: die unansehn- 
liche Färbung der Samen ist kein Hindernis, dass nicht ungemessene 
Vogelscharen diese Samen wirklich zu finden und von ihnen zu 
leben wüssten. 


280 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 


Und gleiches gilt von der harten Samenschale. Die Samen 
werden gefressen trotz der harten Schale und wenn ein Same wirk- 
lich einmal für einen Vogel zu hart ist, so ist dies eben Zufall. 
Einen Vorteil gegenüber den anderen, gefressenen Samen aber hat 
der harte Same nicht, denn die Pflanzen mit weicheren Samen sind 
genau so existenzfähig wie die hartsamigen — und einzig und allein 
nur darum handelt es sich doch. Zudem sagt der Autor selbst, 
dass viele dieser Samen „nachgiebig“ seien. 

Nein — wir sind mit der ganzen Schutzmittelhistorie — man 
verzeihe das drastische Wort — Karussell gefahren und steigen 
nun, etwas schwindlig noch, ab. Und zum Absteigen reicht uns 
der Autor, der unsere Kreisfahrt geführt, unabsichtlich und unbe- 
wusst, selber dıe Hand. 

Er weiß es wohl nicht, dass er mit den Worten, die er dieser 
Schutzmittelzusammenstellung anfügte, das ganze Problem gelöst hat. 

y„:.. Sie müssen massenhaft gebildet werden, damit 
eine genügende Anzahl am Leben bleibt. 

Das ıst alles, das ganze Um und Auf der Lösung des Pro- 
blems — es ist der Satz von der „zureichenden Überpro- 
duktion“, den ich weiter vorne aufgestellt habe. 

Die „Schutzeinrichtungen“ aber sind endgültig versunken. 


* * 
* 


Und nun noch ein letztes Wort. 

Was verliert die Deszendenzlehre, wenn ihr die Schutzmittel- 
theorie genommen wird? 

Ich denke, wohl nichts. 

Dass es Dinge gibt, die man nicht mit Selektion erklären kann, 
hat die heutige Wissenschaft längst zur Kenntnis genommen. Dass 
es ein Substanzproblem gibt, eine unlösbare Frage nach dem Wesen 
der Materie und der Energien, und dass die unendliche Formen- 
und Farbenfülle der Natur ein Teil dieses unlösbaren Problems 
der Materie ist und bleiben wird -—— das konnte die biologische 
Wissenschaft wohl nur vorübergehend vergessen. Formen und 
Farben ohne Bedeutung weist uns das Mineralreich zur Genüge. 

Und der „Kampf ums Dasein“ darf kein Schlagwort sein, das 
uns blind für alles andere macht. Es ist nicht wahr: Die Pflanze 
kämpft gar nicht mit dem Tier, sondern sie zahlt kampflos einen 
Tribut. Und sıe kann ıhn zahlen, weil sie neben dem Tribut noch 
Individuen genug hat, die ihre Art in gleicher Fülle fortpflanzen. 

Und wenn wir die letzten Ursachen hereinziehen, die den 
Kampf der Theorien einst entfacht, die Ursache, warum die Selek- 
tionstheorie einst geschaffen wurde — nämlich das eifrige Ver- 
teidigen und Begründen der damals jungen, stark bekämpften Des- 
zendenztheorie — dann müssen wir uns wohl fragen, ob der Lärm 


4 
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 351 


mit dem Selektionsproblem nicht heute schon etwas überlebt, zu 
spät, im Grunde schon zwecklos ist. 

Denn die Deszendenztheorie, die damals verteidigt werden 
musste mit allen Mitteln, sie ıst heute die unbeschränkte Herrscherin 
im Reiche der biologischen Wissenschaften. Wir brauchen nicht 
mehr zu fürchten, sie zu verlieren, auch wenn wir an die Allmacht 
der Selektion niımmermehr glauben wollen, auch wenn wir den 
Kampf ums Dasein in etwas anderem Lichte sehen als die nächst- 
vordere Forschergeneration. 

Wir dürfen uns frei fühlen und unbeschwert — das was an 
echten Werten die Naturwissenschaft des letzten Halbjahrhunderts 
errungen, die neue Blüte seit Darwin, das kann uns nicht mehr 
genommen werden und das nehmen auch wir ıhr nicht. Auch dann 
nicht, wenn wir manchen Auswüchsen der Selektionstheorie ent- 
gegentreten, auch dann nicht, wenn wir hinter Fragen, die beant- 
wortet schienen, wieder das alte, peinliche Fragezeichen setzen. 

Auch Zurückgehen kann ein Fortschritt sein, wenn es das 
Zurückgehen von einem Irrtum war. Und ein Fragezeichen an 
richtiger Stelle kaun tieferes Wissen sein als eine irrige Antwort. 


Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 
Ein Beitrag zur Entwicklungslehre. 


Zusammenfassende Darstellung der eigenen experimen- 
tellen Untersuchungen. 
Von Dr. Erich Toenniessen, 
Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der medizinischen Klinik. 
Aus der medizinischen Klinik zu Erlangen (Direktor: Geh. Hofrat Penzoldt). 


Robert Koch hatte ım Jahre 1878 durch Anwendung neuer 
Methoden den Beweis erbracht, dass das Reich der Mikroben aus 
verschiedenen Arten besteht, die ın ihren Eigenschaften konstant, 
artfest sind. Die Lehre von der Beständigkeit der verschiedenen 
Bakterienarten wurde durch ihn begründet und gelangte zunächst 
zur uneingeschränkten Geltung. Bald aber zeigte sich durch An- 
wendung der gleichen Methoden, dass innerhalb der Artfestigkeit 
eine sehr weitgehende Variabilität besteht. Eine außerordentliche 
Zahl von Arbeiten beschäftigte sich mit dieser Frage; nur einige 
seien angeführt, um den Gang der Forschung kurz darzulegen. 
G. Hauser war wohl der erste, der Variabilitätserscheinungen ein- 
wandfrei nachwies (1885) und eine Bresche in das starre Dogma 
legte. Später beschäftigte sich Kruse ausführlicher mit den Er- 
scheinungen der Variabilität und stellte in weitergehendem Maße 
Versuche über die Vererbung der erzielten Abänderungen an (1891). 
Neisser und Massini führten den von de Vries (1901) geschaffenen 
Begriff der Mutation in die Bakteriologie ein (1905) und gaben die 


289 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität Dei Bakterien. 


Anregung zu mehreren Arbeiten auf diesem etwas enger begrenzten 
Gebiete. Die Gesichtspunkte der allgemeinen, in ihrem jetzigen 
Stande noch sehr jungen Vererbungslehre wurden jedoch erst ın 
den letzten Jahren auf die Bakterien angewendet. Dies geschah 
hauptsächlich durch Beijerinck, Baerthlein, Eisenberg und 
den Verfasser. 

Die Bakterien sind in mancher Beziehung sehr geeignet zu 
Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Zunächst sind sie leicht 
als erblich-einheitliches Material, als „reine Linie“ zu gewinnen. 
Die Generationen folgen sehr rasch aufeinander, so dass in kurzer 
Zeit eine große Zahl von Generationen überblickt werden kann. 
Die Lebensbedingungen sind sehr einfach: die Bakterien sind daher 
die am leichtesten zu züchtenden Lebewesen, an denen sich die 
Einwirkung äußerer bekannter Reize durch die Erscheinungen der 
Variabilität und Vererbung beobachten lässt. Man kann verhältnis- 
mäßig intensive Einflüsse zur Herbeiführung der Variationen an- 
wenden, ohne dass die Vitalität geschädigt wird. Dass die Bakterien 
wegen ihres einfachen morphologischen Verhaltens und der an- 
scheinenden Einfachheit ihrer sonstigen sichtbaren Eigenschaften 
sich schlecht zur Beobachtung von Variabilitätserscheinungen eignen, 
wie schon behauptet wurde, ist nicht zutreffend; im Gegenteil sind 
sie zu sehr auffallenden und vielseitigen Abänderungen befähigt. 

Der Verfasser wurde durch eine zunächst unwillkommene Be- 
obachtung veranlasst, sich an dieser Forschung zu beteiligen. Bei 
dem Versuch, den im folgenden erwähnten pathogenen Bakterien- 
stamm rein zu gewinnen, fanden sich bei der Kultivierung auf dem 
Schrägagar stets wieder Teile des Bakterienrasens, welche sich in 
ihrem Aussehen von dem übrigen weitaus größeren und typischen 
unterschieden und sich aus morphologisch stark abweichenden Indi- 
viduen zusammensetzten. Diese atypischen Teile wurden zunächst 
für eine Verunreinigung der Kultur gehalten, obwohl sie auch nach 
den Tierpassagen immer wieder auftraten, bis sich endlich ergab, 
dass sie unter bestimmten Bedingungen ganz gesetzmäßig aus dem 
Typus entstanden. Es handelte sich also um eine Variation und 
zwar, wie Variabilitäts- und Vererbungsversuche ergaben, um eine 
Mutation. Im Laufe der ziemlich langwierigen Versuche wurden 
noch zwei andere Variationsformen Bereit, Die Ergebnisse sind 
in mehreren Mitteilungen beschrieben. Als ich : einzelnen 
Varıationsformen nen genau untersuchte, fand ich, dass 
jede neu aufgefundene Variation auch für die vorher gewonnenen 
Resultate neue Gesichtspunkte ergab und dass die Eigentümlich- 
keiten der einzelnen Variationsformen erst durch ihre Gegensätze 
zu den anderen Variationen klar erkannt werden können. Aus 
diesem Grunde scheint mir eine zusammenfassende Darstellung 
meiner Befunde nicht überflüssig. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien, 98 
U 


Allgemein-biologische Grundbegriffe. 

Einige allgemein-biologische Grundbegriffe seien insoweit vor- 
ausgeschickt, als sie für die Beurteilung der experimentell aufge- 
fundenen Tatsachen ın Betracht kommen. Es ist dies notwendig, 
um meine Auffassung der Befunde zu begründen und auch um die 
angewendete Nomenklatur klarzustellen. Die Nomenklatur der Ver- 
erbungsforschung ist leider durchaus nicht einheitlich. Wenn ich 
außerdem auch auf einige Fragen kurz eingegangen bin, die zu 
meinen Befunden nicht in unmittelbarster Beziehung stehen, so ge- 
schah dies einerseits, weil ich eine kurze kritische Zusammenstellung 
dieser Fragen in Beziehung zu neuen Befunden schon durch die in 
der Vererbungslehre herrschende Divergenz der Meinungen für ge- 
nügend begründet halte, andererseits weıl sich bei dem Durchdenken 
meiner Befunde auch einige z. T. neue Anregungen allgemein-bio- 
logischer Art ergeben haben. 

Der Artbegriff. Die „reine Linie“. Die Vererbungs- 
forschung befasst sich mit den Gesetzen der Beständigkeit und Ver- 
änderlichkeit der Arten, ıhre Folgerungen haben den Artbegriff zum 
Gegenstand. Bei dem Versuch, sich über den Artbegriff eine klare 
Vorstellung zu bilden, hat man zwei Gesichtspunkte zu berück- 
sichtigen. Die Systematik fasst auf Grund der unmittelbaren Be- 
obachtung den Artbegriff morphologisch-physiologisch und bezeichnet 
— wobei ich mich besonders an Plate’s Definition halte — als 
Art jede Vielheit von Individuen, die ın ihren sichtbaren Eigen- 
schaften innerhalb eines gewissen Spielraumes gleich sind, sich 
untereinander fortpflanzen und deren Nachkommen wiederum in 
einem gewissen Spielraum die gleichen Eigenschaften wie die Eltern 
besitzen. Dagegen ist der Begriff der „natürlichen Art“ ein gene- 
tıscher und ın der Deszendenztheorie begründet. Wir nehmen an, 
dass die jetzigen Arten sich aus anderen Arten, sogen. Vorstufen, 
entwickelt haben und zwar, dass verwandte Arten aus gemeinsamen 
Vorstufen entstanden sind. Wir bezeichnen demnach als natür- 
liche Art jede Generationsfolge von Individuen, die sich früher 
oder später von einer solchen gemeinsamen Vorstufe abgespalten 
und eine selbständige Entwicklungsrichtung eingeschlagen hat — oder 
kürzer gesagt: eine genetische Einheit von Individuen. Es ist ohne 
weiteres einleuchtend, dass als Endprodukte der phylogenetischen 
Entwicklung unter dem Einfluss ähnlicher Außenbedingungen vıele 
äußerst ähnliche natürliche Arten entstehen konnten, welche ın 
morphologisch-physiologischer Beziehung kaum zu trennen sind und 
demgemäß nur eine einzige systematische Art bilden. Die syste- 
matische Art schließt also, wie besonders de Vries und Johannsen 
betont haben, ein Gemenge natürlicher Arten ein. Sie stellt eine 
Kollektivart dar, deren Abgrenzung gegen andere Arten ohne eine 
gewisse Willkür gar nicht möglich ist. 


284 Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Bei sexuell sich fortpflanzenden Arten wird der Artbegriff noch 
weiter kompliziert durch die Möglichkeit der Kreuzung mit ver- 
wandten natürlichen Arten; die Generationsfolge bleibt also nicht 
einheitlich in sich geschlossen und es kommt dadurch zur Ent- 
stehung komplizierter Polyhybride. Der Artbegriff lässt sich hier 
also auch durch Verwendung deszendenztheoretischer Gesichtspunkte 
nicht scharf umgrenzen (Plate), so dass er bei vielen höheren Arten 
nur systematisch, etwa nach der Definition Plate’s noch am 
schärfsten zu präzisieren ist. 


Bei den asexuellen Arten, wie den Bakterien, lässt sich da- 
gegen der Begriff der natürlichen Art aufrecht erhalten: denn bei 
diesen ist eine Kreuzung verwandter Arten unmöglich und die 
natürlichen Arten bleiben vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an in 
sich geschlossen. 


Die Erkenntnis, dass die Arten der Systematik zum mindesten 
ein Gemenge vieler natürlicher Arten, bei den sexuellen Arten oft 
sogar eine außerordentlich komplizierte Kreuzung natürlicher Arten 
enthalten, ist für die Methodik der experimentellen Variabilitäts- 
forschung von fundamentaler Bedeutung. Denn es ist klar, dass 
wir zum Studium der Veränderlichkeit einer Art erblich einheit- 
liches Material verwenden müssen, da sonst eine anscheinend experi- 
mentell erzielte Veränderung durch Eigenschaften einer anderen 
beigemischten Art (bei Bakterien durch eine sogen. „Verunreinigung“ 
der Kultur) oder bei den Polyhybriden der höheren Arten auf un- 
gleicher Vererbung einer Kombination von Eigenschaften (den 
Mendel’schen Gesetzen entsprechend) beruhen kann. Die erste 
Aufgabe vor Anstellung von Versuchen ist also die Gewinnung 
erblich einheitlichen Materials. Wie dies bei höheren Arten erreicht 
wird, braucht hier nicht erörtert zu werden. Bei Bakterien er- 
halten wir erblich einheitliches Material relativ einfach dadurch, 
dass wir uns eine Reinkultur herstellen. Dies gelingt durch das 
Burri’sche Tuscheverfahren oder mit genügender Sicherheit durch 
wiederholte Plattenisolierungen (Eisenberg, Baerthlein). Eine 
solche Kultur entspricht dem von Johannsen aufgestellten Be- 
griff der „reinen Linie“: „eine reine Linie ist der Inbegriff aller 
Individuen, welche von einem einzelnen, absolut selbstbefruchtenden, 
homozygotischen Individuum abstammen.* 


Bei den höheren Arten (speziell beim Menschen) ist das Ar- 
beiten mit reinen Linien selten bezw. nie möglich, da es sich meist 
um komplizierte Polyhybride handelt. Die nach Einwirkung eines 
bekannten äußeren Reizes eintretende Variation ist also nicht nur 
von dem bekannten Reiz, sondern auch von unbekannten inneren 
Faktoren (Variation durch mendelnde Eigenschaften) abhängig. Bei 
reinen Linien ist dagegen die Variation eindeutig durch den äußeren 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 985 


Reiz bestimmt. Demnach ıst das Verhalten reiner Linien „die 
erste Grundlage für die Erblichkeitslehre* (Johannsen). 

Selbstverständlich sind die bei Bakterien zu beobachtenden 
Gesetzmäßigkeiten nicht ohne weiteres auf die höheren Tiere zu 
übertragen; immerhin können sie zu neuen Fragestellungen und 
Gesichtspunkten führen, wenn die vergleichend-physiologische Me- 
thode mit richtiger Kritik geübt wird. 

Vererbung und Variabilität. Die Vererbungsforschung 
nimmt an, dass die Artmerkmale durch irgend eine, allen Indi- 
viduen der Art gemeinsame, innere Ursache fixiert sind und bei 
der Fortpflanzung von den Eltern durch die gleiche Ursache auf 
die Nachkommen übertragen, vererbt werden. Diese Vererbung 
geschieht bei den sexuellen Lebewesen durch Vermittlung der Keim- 
zellen, bei den asexuellen durch das Soma der Eltern unmittelbar 
— jedoch nur anscheinend, wie sich aus folgendem ergeben wird — 
oder ganz allgemein gesagt: durch eine „Vererbungssubstanz“. 
Nägeli hat für diese Substanz die Bezeichnung ldioplasma einge- 
führt. Weismann hat ım Anschluss an den von ihm geschaffenen 
Unterschied zwischen Soma und Keimzellen die Vererbungssubstanz 
Keimplasma genannt und zunächst angenommen, dass das Keim- 
plasma nur in den Keimzellen vorhanden sei. Auf der Kontinuität 
des Keimplasmas beruht nach W eis mann die Beständigkeit der Arten. 

Auf Grund neuerer Befunde müssen wir jedoch annehmen, dass 
zwischen den sexuellen Lebewesen mit differenzierten Keimzellen 
und den asexuellen ohne differenzierte Keimzellen, z. B. den Bak- 
terıien, hinsichtlich der Zusammensetzung aus Soma und Keim- 
plasma ein prinzipieller Unterschied nicht vorliegt. Denn erstens 
besitzen die sexuellen Lebewesen neben ihrer differenzierten Keim- 
bahn auch ın ihren Körperzellen, d. h. in ihrem Soma Keimplasma 
(Roux, 13), so dass man ein generatives und somatisches Keim- 
plasma unterscheiden muss (wie zuletzt auch Weismann zuge- 
geben hat); andererseits kommt, wie neuere Untersuchungen be- 
sonders Swellengrebel’s zeigen, auch bei den Bakterien (zunächst 
bei Sporenbildnern, nämlich Milzbrand, nachgewiesen) für die Fort- 
pflanzung nicht das ganze Soma der Elternzelle ın Betracht, sondern 
nur ein vom Oytoplasma und dem zentralen Chromatinfaden sich 
abtrennender Teil, und zwar wird ein Teil der Vererbungssubstanz 


zur Sporenbildung verwendet — er ist gewissermaßen morpho- 
logisch differenziertes Keimplasma — ein anderer Teil bleibt ım 


Soma zurück und kann durch Teilung des Somas zur Vererbung 
führen; er ist das Analogon zum somatischen Keimplasma der Lebe- 
wesen mit differenzierter Keimbahn. Es handelt sich demnach nur 
um einen graduellen Unterschied, der darin besteht, „dass der ma- 
terielle Zusammenhang zwischen zeugenden und erzeugten Indi- 
viduen bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung viel inniger ist 


286 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


und viel länger dauert als bei der geschlechtlichen“ (Haeckel, 3). 
Auf Grund des Vorstehenden könnte man auch bei den Bakterien 
den Begriff des Keimplasmas den Vererbungsvorgängen unbedenk- 
lich zugrunde legen. Ich möchte jedoch der Bezeichnung Idio- 
plasma den Vorzug geben: denn das Wort Idioplasma ist eine ein- 
heitliche Bezeichnung für die Vererbungssubstanz und betont außer- 
dem die Arteigentümlichkeit der Vererbungssubstanz. 

Das Idioplasma enthält die Artmerkmale nicht als solche fertig 
ausgebildet, sondern in irgendeiner anderen Weise ursächlich fixiert. 
Wir nehmen an, dass die Artmerkmale als „Anlagen“ in der Ver- 
erbungssubstanz enthalten sind, und zwar, dass den einzelnen Art- 
merkmalen bestimmte Anlagen entsprechen. Der Begründer dieser 
Theorie ist Darwin (Pangenesistheorie). Durch die Mendel’schen 
Forschungen hat die Darwin’sche Theorie sehr an Wahrschein- 
lichkeit gewonnen und wir können es jetzt als eine Grundanschauunng 
für die Vererbungsforschung betrachten, dass die einzelnen Art- 
merkmale bestimmten Anlagen entsprechen und also die Vererbungs- 
substanz aus emzelnen Erbeinheiten zusammengesetzt ist. Diese 
besitzen unter Umständen eine beträchtliche Selbständigkeit und 
können bei Kreuzungen sogar selbständig abgespalten werden. 
Natürlich können wir uns keine bestimmte Vorstellung über die 
Struktur dieser Anlagen machen: aber die Annahme substantiell 
bedingter Erbeinheiten erscheint begründet. Lediglich eine „Fähig- 
keit“ der Vererbungssubstanz zur Bildung der Artmerkmale anzu- 
nehmen ist etwas selbstverständliches und keine Erklärung, wie 
auch Plate sagt. Im Laufe der Forschung sind für diesen Begriff 
mehrere Namen geprägt worden: Gene (Johannsen), Erbeinheiten 
(Baur), Faktoren (Plate), Pangene (Darwin, de Vries), Deter- 
minanten (Weismann), Anlagen (O. Hertwig). 

Unter gleichbleibenden Bedingungen zeigen die Artmerkmale 
große Beständigkeit. Da die Artmerkmale bei der Ontogenese aus 
den Anlagen in ıhrer späteren Form schon gebildet werden, bevor 
sie durch adäquate äußere Reize hervorgerufen sein können 
(O. Hertwig), so folgt, dass die Umwandlung der Anlagen in die 
Artmerkmale aus inneren Gründen geschieht, nämlich aus dem Ver- 
mögen, sich in der für die Art charakteristischen Weise zu ent- 
wickeln. Dieses Beharrungsvermögen der Anlagen muss 
als die Ursache der Vererbung angesehen werden. 

Durch Einwirkung äußerer Reize kann aber die Entwicklung 
der Anlagen beeinflusst werden, sobald die Stärke des einwirkenden 
Reizes das Beharrungsvermögen der Anlagen übertrifft. Hierbei 
sind adäquate Beziehungen vorhanden. Die Anlagen besitzen dem- 
nach die Fähigkeit, auf äußere Reize zu reagieren. Diese Re- 
aktıonsfähigkeit des Idıioplasmas auf äußere Reize ist die 
Ursache für die Variabilität. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 987 


Dies ist noch näher zu erörtern. Zunächst der Begriff der Ursache. Um den 
Begriff der Ursache ist in den letzten Jahren ein besonders lebhafter Streit ent- 
brannt. Den Ursachenbegriff ganz zu eliminieren, wie es die Anhänger des „Kon- 
ditionismus“ tun und einen Vorgang lediglich als einen Komplex von Bedingungen 
zu erklären, halte ich nicht für richtig. Bedingungen ermöglichen einen Vorgang 
nur, höchstens modifizieren sie ihn: „wirkende Bedingungen sind sprachlich und 
sachlich ein Unding‘“ wie Martius (Das Kausalproblem in der Medizin, Beiheft V 
der med. Klinik 1914) sehr richtig betont. Denn sie sind mit dem Begriff der 
Ursache verbunden. Wollten wir den Ursachenbegriff als mystisch ganz eliminieren, 
so müssten wir auch den Begriff der Kraft, der potentiellen und kinetischen Energie 
in der Physik und Chemie, ja sogar den der Funktion im Sinne der höheren Mathe- 
matik eliminieren Niemand wird behaupten können, dass dies mystische Begriffe 
sind. Ich fasse den Ursachenbegriff energetisch auf wie Martius. In diesem 
Sinne ist die Ursache für einen Vorgang ein materielles Substrat mit der ihm inne- 
wohnenden latenten Energie; die Äußerung dieser Energie (= Ablauf des Vorgangs) 
erfolgt durch den auslösenden Faktor, sämtliche äußere und innere Umstände, die 
auf die Entstehung und den Ablauf des Vorganges irgendeinen Einfluss auszuüben 
imstande sind, werden als Bedingungen bezeichnet. 

Weiterhin möchte ich bemerken, dass zur Erklärung der Vererbung zwar un- 
bedingt ein Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der gleichen Artmerk- 
male wie bei den Eltern angenommen werden muss. Doch kann die Bildung der 
Artmerkmale nicht allein auf ein Beharrungsvermögen der Anlagen zurückgeführt 
werden, etwa derart wie beim Wachstum einer Zelle lediglich durch die Teilung 
wieder die gleichen Zellen entstehen. Sonst wäre ja keine Differenzierung zu ver- 
schiedenen Zellen und Organen möglich. Wir müssen also annehmen, dass bei der 
Vererbung die Umsetzung der Anlagen in die Artmerkmale durch irgendwelche 
Reizwirkungen beeinflusst wird (Theorie der Biogenesis von O. Hertwig) und dass 
also eine Reaktionsfähigkeit des Idioplasmas auf Reize nicht nur bei der Variation, 
sondern auch bei der Vererbung beteiligt ist: Die Reize, welche bei der Vererbung 
neben dem Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der Artmerkmale führen, 
sind hauptsächlich innerer Art, wie durch die Wirkung bestimmter Drüsen mit 
innerer Sekretion bewiesen ist. Diese Reize sind die gleichen wie bei den Eltern, 
infolgedessen ist auch das Anlageprodukt das gleiche. Außerdem lässt sich auch 
die Wirkung äußerer Reize nicht ausschließen: sie entsprechen bei der unveränderten 
Vererbung der Artmerkmale dem für die Art charakteristischen Milieu. Bei der 
Variation kommen dagegen neue äußere Reize dazu: infolgedessen wird das Anlage- 
produkt abgeändert, während es lediglich auf Grund des Beharrungsvermögens der 
Anlagen und der Einwirkung der bisherigen Reize das gleiche geblieben wäre. Doch 
spielt auch bei der Variation das Beharrungsvermögen der Anlagen eine wesentliche 
Rolle; denn nicht alle Artmerkmale werden durch irgend einen neuen äußeren Reiz 
abgeändert, die meisten werden unverändert vererbt. Auch wirkt der Reiz nur insoweit 
variierend, als er das Beharrungsvermögen der Anlagen überwindet. Es zeigen sich 
also bei dem Vorgang der Vererbung die gleichen Energieformen des Idioplasmas 
beteiligt wie bei der Variation. nämlich einerseits ein Beharrungsvermögen, anderer- 
seits die Fähigkeit, auf Reize äußerer und innerer Art zu reagieren. In dieser Be- 
ziehung sind Vererbung und Variation nahe verwandte Vorgänge, die Variation nur 
eine durch äußere Reize modifizierte Vererbung. 

Hienach ist die Vererbung vom Kausalitätsstandpunkt folgendermaßen zu 
analysieren. Ursache der Vererbung ist die Vererbungssubstanz hauptsächlich auf 
Grund ihres Beharrungsvermögens, sich in den Nachkommen ebenso zu entwickeln 
wie in den Eltern, außerdem auf Grund ihrer Reaktionsfähigkeit gegenüber äußeren 
und inneren Reizen, der auslösende Faktor sind die gleichen inneren und äußeren 
Reize, die bisher auf die Entwicklung und das Leben der Art eingewirkt haben, 
3edingungen sind das Wachstum und sämtliche Umstände, welche das Wachstum 
ermöglichen. — Ursache für die Variation ist ebenfalls das Idioplasma, jedoch haupt- 


258 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


sächlich auf Grund seiner Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize, weniger auf Grund 
seines Beharrungsvermögens, auslösender Faktor ist ein neuer äußerer Reiz, Be- 
dingungen sind wiederum alle Umstände, welche das Wachstum und das Leben 
der Generationsfolge ermöglichen. Man ist also gezwungen, für den Vorgang der 
Vererbung mehrere Ursachen anzunehmen; dies erklärt sich daraus, dass der Vor- 
gang der Vererbung in Wirklichkeit kein einziger, einheitlicher Vorgang ist, sondern 
sich aus mehreren Vorgängen zusammensetzt. Ebenso ist es bei der Variation 
Grundformen der Variabilität. Die experimentell herbei- 
geführten Variationen zeigen in der Art und Weise, wie sie äußer- 
lich in Erscheinung treten, regelmäßig wiederkehrende Gesetzmäßig- 
keiten, auf Grund deren man verschiedene Formen der Variation 
scharf voneinander trennen kann. Die von mir beobachteten Varia- 
tionen unterschieden sich durch den sichtbaren Variationseffekt, 
durch ihre Entstehungsweise und hauptsächlich durch den Grad 
ihrer Erblichkeit. Es zeigte sich, dass die Erblichkeit zwar nicht 
zur absoluten Trennung der Variationen in erbliche und nicht erb- 
liche brauchbar war, da sich die Varianten nicht prinzipiell, sondern 
nur dem Grade nach hinsichtlich der Erblichkeit unterschieden. 
Diese Unterschiede waren aber sehr scharf und ermöglichten es, 
die der sichtbaren Variation zugrunde liegende Veränderung des 
Idioplasmas zu analysieren. Auf Grund meiner Befunde kam ich 
in teilweiser Übereinstimmung mit den bisherigen Resultaten der 
Variabilitätsforschung zu folgender Einteilung der Variationsformen: 


1. Die Modifikation. Eine Erbeinheit wird derartig beeinflusst, 
dass sie ihr Produkt, das fertige Artmerkmal ın veränderter Weise 
(irgendwie modifiziert dem Grade oder der Art nach) bildet, ohne 
sich dabei selbst zu ändern. 


2. Die Mutation. Eine Erbeinheit wechselt ihren Zustand von 
Aktivität. Sie wird völlig inaktiv: retrogressive Mutation, wodurch 
das Artmerkmal in den betreffenden Generationen verschwindet, 
oder sie wird aus latentem Zustand wieder aktıv: progressive 
Mutation. 

3. Die Fluktuation. Sie führt als retrogressive Fluktuation zu 
einem Verlust, als progressive zu einem Gewinn von Erbeinheiten. 


4. Die Kombination. Bei sexueller Fortpflanzung zweier art- 
verschiedener Eltern entsteht eine erbliche Verschiedenheit der 
Nachkommen gegenüber den Eltern. Diese durch Vermischung 
ungleicher Erbsubstanz entstehende Variation richtet sich nach den 
Mendel’schen Gesetzen. Zur Entstehung neuer Erbeinheiten führt 
sie unmittelbar nicht. Für Bakterien kommt sie, da sich diese 
asexuell fortpflanzen, nicht in Betracht. 

Vorstehende Einteilung stimmt mit der von Beijerinck ge- 
gebenen überein, jedoch nur äußerlich. Denn hinsichtlich der Modi- 
fikation und der Fluktuation kam ich zu einer wesentlich anderen 
Auffassung. Auch gegenüber manchen anderen heutzutage ver- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 389 


breiteten Anschauungen ergaben sich Differenzen; die Begründung 
meiner Auffassung wird an der Hand der Tatsachen erfolgen. 

An dieser Stelle möchte ich die Begriffe Phaenotypus und 
Genotypus kurz erwähnen, welche Johannsen in die Vererbungs- 
forschung eingeführt hat. Diese Begriffe gehen von der Tatsache 
aus, dass sich eine Art ın ihren sichtbaren Eigenschaften ändern 
kann, ohne dass sich die den sichtbaren Eigenschaften zugrunde 
liegenden Erbeinheiten zu ändern brauchen. Als Phaenotypus wird 
das Gesamtbild der äußerlich sichtbaren Eigenschaften einer Art 
bezeichnet, der Genotypus entspricht der wirklichen Zusammen- 
setzung einer Art aus den einzelnen Erbeinheiten (Biotypus ist die 
Gesamtheit der Individuen des gleichen Genotypus). Phaenotypische 
Änderungen brauchen demnach keiner genotypischen Änderung zu 
entsprechen: die etwaige gleichzeitige Abänderung des Genotypus 
ist erst durch Vererbungsversuche festzustellen. 

Die biologische Bedeutung der experimentell er- 
zielten Variationen. Die Vererbung erworbener Eigen- 
schaften. Die wichtigste Frage bei der Beurteilung einer Variation 
ist unstreitig die: führt die Variation zur Überschreitung der Art- 
grenzen, kommt sie für die Entstehung neuer Arten in Betracht? 
Das Wesentliche der Artumbildung besteht bekanntlich darin, dass 
eine Art eine neue Eigenschaft erwirbt, welche erblich ist, d.h. 
im Idioplasma als Anlage fixiert wird. Auch durch den Verlust 
einer Erbeinheit kann eine Artumbildung eintreten. Infolgedessen 
können die Modifikation und die Mutation als artbildende Varıations- 
formen nicht gelten, da hierbei die vorhandenen Erbeinheiten den 
veränderten Außenbedingungen entsprechend sich nur anders äußern 
bezw. ihren Zustand der Aktivität wechseln Die Fluktuation da- 
gegen bringt, wie man aus ihrer außerordentlich hohen Erblichkeit 
schließen kann, mit großer Wahrscheinlichkeit einen Verlust bezw. 
Gewinn von Erbeinheiten mit sich. Die experimentelle Auffindung 
dieser neuen Variationsform veranlasst mich, meine Befunde mit 
dem Problem der Artumbildung in Beziehung zu bringen und kri- 
tisch zu der Möglichkeit der experimentellen Erzielung vererbbarer 
Eigenschaften — oder wie meist formuliert: der Vererbung er- 
worbener Eigenschaften -— Stellung zu nehmen. 

Wollen wir entscheiden, ob durch einen bekannten äußeren 
Reiz die Entstehung einer neuen Erbeinheit herbeigeführt werden 
kann, so müssen wir uns zunächst über die Rolle der äußeren Reize 
bei dem Gewinn nener Erbeinheiten klar sein, so weit dies auf 
Grund der bisher bekannten Tatsachen möglich ist. Die Beobach- 
tung zeigt uns, dass viele der jetzt vorhandenen Artmerkmale er- 
kennbare Beziehungen zu „adäquaten“ Reizen aufweisen. Der Bau 
der Sehorgane z. B. wäre ohne den Einfluss von Lichtstrahlen un- 
verständlich. Jedoch ist es nicht möglich, durch Anwendung be- 

xXXXV. 19 


J90 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


stimmter äußerer Reize beliebig die Entstehung neuer vererbbarer 
Eigenschaften zu bewirken. Die wesentliche Ursache für die Ent- 
stehung neuer Erbeinheiten ist infolgedessen nicht in äußeren Reizen, 
sondern in endogenen, der lebenden Substanz innewohnenden Eigen- 
schaften zu suchen. Diese bestehen zunächst in der Fähigkeit der 
lebenden Substanz und hauptsächlich des Idioplasmas, auf äußere 
Reize zu reagieren — wie schon als Ursache der Variation im all- 
gemeinen erwähnt wurde. Für die erbliche Erwerbung einer 
neuen Eigenschaft muss weiterhin die Fähigkeit des Idioplasmas 
vorausgesetzt werden, ein neu aufgetretenes, in Beziehung zu äußeren 
Reizen entstandenes Artmerkmal als Anlage in sich zu fixieren. 
Dies geschieht für unsere Wahrnehmung unter dem Gewinn neuer 


Funktionen und im Sinne des Fortschrittes. 

Diese Annahme, welche dem Nägeli’schen Prinzip der Progression entspricht, 
scheint mir die natürlichste Erklärung für die Ursache der Fortentwicklung der 
Arten zu sein: das Nägeli’sche Prinzip enthält keinen mystischen, teleologischen 
Begriff (wie auch O. und R. Hertwig betonen), sondern sucht die Entwicklung 
der Arten energetisch zu erklären. Wenn wir mit Haeckel (generelle Morphologie 
der Organismen, 2) annehmen, dass lebende Substanz in einem gewissen Stadium 
der Erdentwicklung aus anorganischen Vorstufen einmal entstanden sein muss — was 
auf Grund des heutigen Standes der Naturwissenschaften ein „logisches Postulat“ 
(R. Hertwig) ist — so ist das Nägeli’sche Prinzip der Progression nur die Fort- 
setzung zu dieser Theorie Haeckel’s. Von diesem Standpunkt aus ist die für uns 
im Sinne eines Fortschrittes erfolgende Differenzierung der Lebewesen zu immer 
komplizierteren Arten zurückzuführen auf die Außerung einer Energieform. welche 
schon für die Entstehung der lebenden Substanz aus anorganischen Vorstufen maß- 
gebend war und deren weitere Einwirkung die Fortentwicklung der lebenden Sub- 
stanz verursachte. Es handelt sich also um einen Vorgang, der, auf Grund dieser 
Energie einmal in Gang gekommen, weiter fortschreitet so lange eben die Differen- 
zierungsfähigkeit der lebenden Substanz auf Grund ihrer physikalisch-chemischen 
Konstitution ausreicht. Natürlich können wir diese, die Entwicklung der lebenden 
Substanz verursachende Energieform ebensowenig wie alle Formen latenter oder 
kinetischer Energie, der sogen. „Kräfte‘‘ ihrem Wesen nach erkennen; wir müssen 
sie aber ihren experimentell zu beobachtenden Außerangen und Gesetzmäßigkeiten 
nach als vorhanden, „gegeben“ hinnehmen. 

Neben dieser inneren Entwicklungsfähigkeit spielen aber bei 
dem Gewinn neuer Eigenschaften äußere Reize eine wichtige Rolle. 
Denn die morphologische und funktionelle Entwicklung der Organe 
ist durch die Eigenschaften der adäquaten Reize, beim Auge z. B. 
durch optische Gesetze, bestimmt. Man muss also annehmen, dass 
äußere Reize bei der Erwerbung neuer Eigenschaften stets beteiligt 
sind, auch wenn sie diese Eigenschaften nicht „unmittelbar be- 
wirken“, sondern nur auslösende oder modifizierende Faktoren sind. 

Auch die Selektion kann unmittelbar keine neuen Erbeinheiten 
hervorrufen; sie schafft nur ein Übergewicht der ım Kampfe ums 
Dasein tüchtigeren Formen und Individuen. Hierdurch kann aller- 
dings die weitere Entwicklung der Art im Sinne eines Fortschrittes 
begünstigt oder wenigstens ermöglicht werden, weil die Selektion 
dysgenetische Faktoren, die bei der Vererbung eine Neigung zur 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 291 


Kumulierung zeigen, ausschaltet. Ebenso schafft die Bastardierung 
unmittelbar keine neuen Erbeinheiten, sondern nur eine neue Kom- 
bination schon vorhandener Erbeinheiten. Trotzdem möchte ich 
den indirekten Einfluss der Selektion und der Bastardierung bei 
der Entstehung neuer Erbeinheiten nicht unterschätzen. Denn der 
Gewinn neuer Eigenschaften ist auf Grund einer inneren Fähigkeit 
bedingt durch den jeweils erreichten inneren Zustand einer Art ın 
steter Beziehung zu äußeren Reizen. Dieser innere Zustand ist 
sicher durch Selektion und Bastardierung beeinflussbar, wie in vor- 
stehendem kurz angedeutet. 

Die Vererbung erworbener Eigenschaften müssen wir aus all 
dem als eine Grundbedingung für die Entwicklung der Arten vor- 
aussetzen. Dies gilt aber nur für die Eigenschaften, die zwar ın 
Beziehung zu äußeren Faktoren, aber auf Grund endogener Fähig- 
keiten entstanden sind, nicht aber für solche Eigenschaften und 
Veränderungen, die beliebig durch äußere Reize (wie durch Ge- 
brauch oder Nichtgebrauch) allein bewirkt werden können. Diese 
spielen sich innerhalb der Reaktionsbreite der Art ab und führen 
nicht zur Veränderung der Vererbungssubstanz. 

Daraus geht hervor, dass wir durch äußere Reize nur dann 
eine neue erbliche Eigenschaft hervorrufen können, wenn wir durch 
den äußeren Reiz eine adäquate, aber noch nicht zur Bildung einer 
Erbeinheit fortgeschrittene Differenzierungsfähigkeit des Idioplasmas 
treffen. Es erscheint infolgedessen außerordentlich erschwert, ex- 
perimentell eine neue erbliche Eigenschaft zu erzielen. Die äußeren 
Reize, wie sie jetzt auf die Lebewesen einwirken, sind sich seit 
langen Zeiträumen, die weit den Bereich der experimentellen For- 
schung überragen, gleich geblieben. Soweit also eine Differen- 
zierungsfähigkeit unter Anpassung an die jetzigen Reize möglich 
war, ist sie entweder schon zu dem ıhr möglichen Ende gekommen 
oder schreitet für unser Wahrnehmungsvermögen unmerklich lang- 
sam weiter. Absolut neue, dem bisherigen Milieu einer Art voll- 
kommen fremde Reize stellen meist einen groben Eingriff ın die 
Lebensbedingungen dar und führen dann lediglich zu einer Schä- 
digung. Ich persönlich erachte den experimentellen Beweis für die 
Vererbung einer neuen, erworbenen Eigenschaft durch die bisher 
beschriebenen Versuche für nicht erbracht, auch wenn die Möglich- 
keit dieses Beweises nicht zu leugnen ist. Insbesondere die als 
„Mutationen“ beschriebenen Versuche beweisen m. E. nicht die Ver- 
erbung erworbener Eigenschaften, da sie zu wenig erblich sind. 
Dagegen ist bei meinen Befunden über die Fluktuation (bei der 
Zurückverwandlung der retrogressiven Fluktuante) ein außerordent- 
licher Grad von Erblichkeit vorhanden; auch wären die Bedingungen 
für die Erwerbung einer vererbbaren Eigenschaft gegeben, wie ich 
nach Besprechung der Befunde darstellen werde. Allerdings handelt 

1135 


299 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


es sich auch bei meinen Versuchen nicht um die Erzielung einer 
gegenüber dem Ausgangstypus neuen, erblichen Eigenschaft, sondern 
nur um die Wiedergewinnung einer experimentell zu Verlust ge- 
brachten, also schon einmal vorhandenen Eigenschaft. 

Mechanismus der Variationsvorgänge. Im Zusammen- 
hang mit meinen Ausführungen darüber, dass zwischen den asexuellen, 
einzelligen Lebewesen und den sexuellen ein prinzipieller Unter- 
schied in der Zusammensetzung aus Soma und Keimplasma nicht 
besteht, möchte ich noch kurz auf die Beziehungen zwischen Soma 
und Keimplasma bei der Variation hinweisen. 

Variationsvorgänge spielen nicht nur während der Entwick- 
lung des Individuums, sondern auch noch im erwachsenen Zustand 
eine Rolle. Dass die infolge der Abnützung der Organe, sowie der 
Verletzung von Organen beständig notwendige Wiederbildung unter 
dem Einfluss des Idıoplasmas steht, zeigen die Regenerationserschei- 
nungen. Dass adäquate Reize auch während des erwachsenen Zu- 
stands eines Individuums eme sichtbar werdende Veränderung be- 
stimmter Anlageprodukte veranlassen können, zeigt die Hypertrophie 
mancher Organe durch gesteigerte Funktion. Wie wir uns aber 
diesen Vorgang und insbesondere sein Extrem, nämlich die Ent- 
stehung einer neuen Eigenschaft und ıhre Vererbung, d. h. ıhre 
Fixierung ım Idıioplasma als neue Anlage, ım einzelnen vorstellen, 
ist m. E. reine Hypothese. 

Eine „somatische Induktion“ kann wohl immer angenommen 
werden insofern, als ein Reiz zunächst das Soma alleın treffen kann; 
die Veränderung, welche er jedoch bei dem betreffenden Anlage- 
produkt bewirkt, erfolgt in der für die Art charakteristischen Weise, 
also jedenfalls schon auf Grund der Reaktionsfähigkeit des soma- 
tischen Idioplasmas. Bleibt diese Veränderung des sichtbaren Art- 
merkmals innerhalb der Grenzen der normalen, für die Art charak- 
teristischen Reaktionsbreite, so bringt sie keine Veränderung des 
Idioplasmas hervor und erstreckt sich nicht über die Grenze des 
Individuums hinaus, d. h. sie ist nicht erblich. 

Ist die Veränderung des sichtbaren Anlageproduktes jedoch 
derart, dass sie die für die Art charakteristischen Grenzen über- 
schreitet, so muss man annehmen, dass der Reiz durch Vermittlung 
des Somas zu einer Veränderung des somatischen Idioplasmas ge- 
führt hat, natürlich eine entsprechende Reaktionsfähigkeit des Idio- 
plasmas als Grundbedingung vorausgesetzt. Hierdurch wird ein 
Unterschied zwischen somatischem und generativem Idioplasma 
geschaffen, der sich irgendwie ausgleicht, indem das generative Idio- 
plasma gleichsinnig verändert wird und die Veränderung als neue 
Eigenschaft vererbbar ın sich fixiert. 

Diese Erklärung, welche den Reiz durch Vermittlung des Somas 
zunächst auf das somatische und hierdurch auf das generative Idio- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 293 
plasma wirken lässt, ist m. E. die wahrscheinlichste. Sie entspricht 
ungefähr der Theorie von der somatischen Induktion. Die Mög- 
lichkeit einer Parallelinduktion in dem Sınne, dass durch den 
äußeren Reiz Soma und generatives Keimplasma ohne Vermittlung 
des somatischen Keimplasmas gleichzeitig und gleichsinnig ver- 
ändert werden, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Auf jeden Fall 
müssen wir annehmen, dass der Vorgang der Artumbildung d.h. 
der Erwerbung einer neuen, vererbbaren Eigenschaft für unsere 
Beobachtung eingeleitet wird durch eine zunächst am Soma 
wahrnehmbare, neue Eigenschaft und zu Ende geführt wird durch 
Fixierung dieser neuen Eigenschaft in der Vererbungssubstanz. 
Dadurch sind die äußeren Reize, welche die Entstehung der neuen 
Eigenschaft ausgelöst haben, bei den folgenden Generationen zu 
inneren Reizen geworden. 


Experimentelle Befunde. 


Ausgangsmaterial. Die den Versuchen zugrunde liegende 
„reine Tinıe* war ein Stamm des Pneumoniebazillus Friedländer. 
Es ist dies ein zu den größeren Mikrobenarten gehörendes Bak- 


terıum von sehr charakteristischen Eigenschaften. 

Veränderungen dieses Bakteriums wurden schon früher von Kruse (30) und 
Wilde (24) beschrieben. Diese Autoren stellten fest, dass man bei Aussaat von alten 
Kulturen auf Gelatineplatten neben den typischen Kolonien auch atypische, dem Bact. 
coli ähnliche erhält (Wilde), sowie, dass alte Laboratoriumskulturen ihr Schleim- 
bildungsvermögen verlieren, wobei die ursprünglich kurzen dicken Stäbchen schlank 
werden und sich von Kolibazillen nicht mehr unterscheiden lassen (Kruse). Die 
Form der Variabilität konnte aber damals von den Verfassern noch nicht analysiert 
werden. In neuerer Zeit hat Baerthlein (21) in seinen Mitteilungen über Mutations- 
erscheinungen kurz angegeben, dass er auch bei Kapselbazillen Mutationserschei- 
nungen beobachtet hat. Nach den Mitteilungen Baerthlein’s hat auch Gilde- 
meister ähnliche Beobachtungen gemacht. 


Der typische Bazillus besteht, wenn er lebend in Tusche unter- 
sucht wird, aus einem als breites Stäbchen geformten Zellproto- 
plasma und einer breiten Zellmembran. Auf die Zellmembran folgt 
noch eine sehr breite, von ihr durch verschiedenes Lichtbrechungs- 
vermögen deutlich abgesetzte Schleimhülle (auch Kapsel genannt), 
die beim Typus bis dreimal so breit als das eigentliche Stäbchen 
mit seiner Membran ist (Fig. 1). Bei Hitzefixierung und Färbung 
mit Methylenblau färbt sich die schleimige Substanz rotviolett, also 
metachromatisch (Heim, 29) und überdeckt die Konturen des eigent- 
lichen Stäbchens (Fig. 2). Das Stäbchen und seine Membran sind 
lebenswichtige Teile der Zelle, während die sogen. Schleimhülle 
ein Sekretionsprodukt vermutlich kolehydratartiger Natur ist. Als 
Bezeichnung für das Zellprotoplasma wird in der Bakteriologie auch 
das Wort „Endoplasma“, für die Zellmembran das Wort „Ekto- 
plasma“ gebraucht, letzteres also in anderem Sinne als in der Proto- 
zoenkunde üblich. 


294 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Auf den künstlichen Nährböden wachsen die Bazillen sehr 
üppig und schnell. Die Bouillon wird dabei gleichmäßig getrübt, 
an der Oberfläche bildet sich ein schleimiges Häutchen. Werden 
die Bazillen mit der Platinöse auf dem Schrägagar ausgestrichen, 
so bilden sie einen zusammenhängenden Bakterienrasen, der zum 
größten Teil aus Bakterienschleim besteht. Dieser Rasen ist schon 
nach 24 Stunden sehr üppig, erhaben, homogen, grau durchscheinend 
und von schleimiger Konsistenz. Lässt man die Bazillen dadurch, 
dass man sie in verflüssigtem Agar verteilt und hiervon Platten 
sießt, zu einzelnen Kolonien auswachsen, so erhält man Kolonien, 
die, wenn oberflächlich gelegen, nach 3 Tagen bis zu 10 mm groß 
sınd, von homogen glasig-grauem Aussehen (Fig. 3) und schleimiger 
Konsistenz. 

Die Pathogenität des Bakteriuns ist eine sehr hohe. Es wurde 
aus einem Falle von Pneumonie beim Menschen gewonnen und 
hatte unter ausgedehnten Zerstörungen zum Tode geführt. Beim 
Tierversuch war die Virulenz ebenfalls sehr hoch. Die weiße Maus 
stirbt nach subkutaner oder intraperitonealer Infektion mit 0,0000001 
bis 0,0000000001 cem 24stündiger Bouillonkultur in 20—40 Stunden 
an Septikämie. 

Die den Versuchen zugrunde gelegte Eigenschaft. 
Die Erscheinungen der Variabilität wurden an einer Eigenschaft 
biochemischer Natur beobachtet. Es war dies das Schleimbildungs- 
vermögen. Diese Eigenschaft war zugleich für das morphologische 
und tierpathogene Verhalten des Bakterıums maßgebend. Denn 
von ihr war die Größe der morphologisch sichtbaren Schleimhülle 
(der Kapsel) des einzelnen Individuums, die Menge der in den 
Kulturen makroskopisch sichtbaren schleimigen Substanz und der 
Grad der Virulenz abhängig und zwar derart, dass die hohe Tier- 
pathogenität an die Bildung der Schleimhülle gebunden war. Die 
Veränderungen des Schleimbildungsvermögens konnten also auf ver- 
schiedene Weise festgestellt werden. Da die Erscheinungen der 
Variabilität außerdem schon makroskopisch d.h. durch das Aus- 
sehen der Kulturen auffielen, war die gewählte Eigenschaft sehr 
geeignet zu Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Den Teil des 
Idioplasmas, der für die Schleimbildung maßgebend ist, kann man 
nach Beijerinck als „Viskoplasma“ bezeichnen. 

Natürliche Existenzbedingungen. Das Milieu, in dem 
sich das Bakterium in seinen typischen Eigenschaften konstant er- 
hält, ıst der Aufenthalt im Körper bestimmter Tierarten. 

Variierender (retrogressiv wirkender) Reiz. Der ab- 
ändernde Reiz wurde lediglich durch die Bedingungen der künst- 
lichen Kultivierung gewonnen und bestand in der Anhäufung der 
Stoffwechselprodukte. Dies ging daraus hervor, daß die Variationen 
am zahlreichsten und raschesten eintreten, wenn man an dıe Bak- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 295 


terien im zusammenhängenden Rasen züchtete, weniger wenn man 
sie als isolierte Individuen in Bouillon wachsen ließ, am wenigsten, 
wenn sie, wie beim Plattenguß, bei jeder erneuten Übertragung in 
isolierten Keimen wachsen. Der abändernde Reiz ließ sich außer- 
dem hinsichtlich der Dauer seiner Einwirkung in weiten Grenzen 
beliebig abstufen. Die Stoffwechselprodukte wirkten retrogressiv 
auf das Viskoplasma ein, indem sie das Schleimbildungsvermögen 
verringerten oder ganz zum Verschwinden brachten. Je nach Dauer 
und Intensität ihrer Einwirkung führten sie die verschiedenen retro- 
gressiven Variationsformen herbei. 


Zwischen abänderndem Reiz und seinem Effekt lassen sich adäquate Be- 
zehungen feststellen. Die Beobachtung ergab, dass die Bazillen nur dann retro- 
gressive Varianten bildeten, wenn sie die Fähigkeit der Schleimbildung entweder in 
vollem oder nur wenig herabgesetztem Maße besaßen; war dieses Vermögen stärker 
herabgesetzt (wenn auch nur durch vorübergehende Verminderung, wie sie z. B. der 
Typus durch die Modifikation erfährt) oder aufgehoben, so trat keine weitere retro- 
gressive Variation ein. Es bestand also eine spezifische Beziehung zwischen Reiz 
und Effekt insofern, als die Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes, 
wenn sie zu einer gewissen Menge und Konzentration eingetreten ist, bei gleich- 
zeitig entstehenden Generationen die weitere Bildung dieses Produktes verhindert. 
Es entspricht dies einer in der organischen und anorganischen Natur allgemein ver- 
breiteten Erscheinung, welche in dem Gesetz der passiven Widerstände (Le Cha- 
telier, van ’t Hoff) zusammengefasst wird. Sobald z. B. durch ein Ferment ein 
Stoff zerlegt wird und die Endprodukte eine gewisse Konzentration erreicht haben, 
hört die weitere Zerlegung des Stoffes auf, auch wenn noch genug Ausgangsmaterial 
vorhanden ist. Neuerdings ist von Mazzetti eine hierher gehörende Erscheinung 
beim Stoffwechsel der Cholerabazillen nachgewiesen worden. Die Cholerabazillen 
können aus Nitraten Nitrite bilden, aber nur bis zu einer bestimmten Konzentration. 
Ist diese Nitritkonzentration im Nährboden schon vor Zusatz der Cholerabazillen 
künstlich hergestellt, so findet keine weitere Nitritbildung mehr statt. Trotzdem 
geht das Wachstum ungestört weiter vor sich, wie sich durch die Indolbildung 
nachweisen lässt. Daraus folgt zunächst, dass es voneinander unabhängige Funk- 
tionen des Stoffwechsels gibt und, was für unsere Beobachtung besonders in Be- 
tracht kommt: dass durch Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes gerade 
die weitere Bildung dieses Produktes gehemmt wird. Der Mechanismus der Varia- 
tion in unserem Falle ist also so zu verstehen, dass die von dem normalen Bazillus 
und gewissen Varianten gebildeten Stoffwechselprodukte durch ihre Anhäufung und 
wohl auch ihre Abbaustufen eine weitere Bildung der gleichen Produkte verhindern. 
Diese Hemmung greift also bei den gleichen Stellen des Stoffwechselapparates an, 
durch welche vordem die in Rede stehenden Stoffwechselprodukte selbst gebildet 
wurden: es werden ganz bestimmte Anlagen in ihrer Funktion beeinflußt und das 
wesentliche dabei ist, dass diese Beeinflussung je nach dem Grade des einwirkenden 
Reizes nicht nur eine vorübergehende, sondern eine erbliche Veränderung der be- 
treffenden Anlagen herbeiführt. Die retrogressive Variation ist also in unserem 
Falle eine nach dem Gesetze der passiven Widerstände erfolgende, dem Reiz adä- 
quate Hemmungserscheinung. 


Progressiv wirkender Reiz. In entgegengesetzter Rich- 
tung wie die Anhäufung der Stoffwechselprodukte wirkten bestimmte 
Bedingungen der künstlichen Kultivierung und besonders der Auf- 
enthalt im Tierkörper auf den Bazillus ein. So konnte lediglich durch 
die Kultivierung unter möglichster Ausschaltung der Stoffwechsel- 


296 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


produkte (Wachstum in einzelnen Keimen beim Plattenguss) eine 
progressive Wirkung auf die Bildung der Schleimhüllen erzielt 
werden, wenn diese Fähigkeit bloß gehemmt war, wie bei der Modi- 
fikation. Bei den Variationen von höherer Erblichkeit dagegen 
waren Tierpassagen nötig, um den normalen Typus wiederherzustellen 
oder eine Wiederannäherung an den Typus zu bewirken. 

Das Wiederauftreten des sichtbaren Artmerkmals unter den angegebenen Be- 
dingungen ist wohl folgendermaßen zu verstehen. Dass sich die bei der Modifi- 
kation nur gehemmten Anlagen schon bei Wegfall der Hemmungen wieder ent- 
falten, ist lediglich auf das Beharrungsvermögen der Erbeinheiten zurückzuführen 
und erfordert nicht die Annahme einer besonderen Reizwirkung. Dass jedoch 
bei den Varianten von höherer Erblichkeit der Aufenthalt im Tierkörper das 
Schleimbildungsvermögen anregt und wieder zum Erscheinen bringt, muss auf 
einen besonderen Reiz zurückgeführt werden. Der Tierkörper enthält bakterizide 
Kräfte gegen den Bazillus. Dies geht daraus hervor, dass die nicht mit Schleim- 
hüllen versehenen retrogressiven Varianten im Tierkörper zugrunde gehen, wenn 
sie nicht in ganz enormen Mengen zur Infektion verwendet werden. Doch auch 
dann führt der Aufenthalt im Tierkörper wohl zunächst zu einer geringgradigen 
Schädigung, auf jeden Fall zu einer „Reizung“ der Bakterienzelle. Diese Reizung 
veranlasst eine Absonderung von schleimiger Substanz — ebenso wie manche Reize 
bei gewissen tierischen Zellen die Absonderung schleimiger Substanzen zur Folge 
haben — und wirkt so in progressivem Sinne auf die Fähigkeit der Schleimbildung. 
Die Wirkung des Reizes ist natürlich nicht allein von ihm abhängig, sondern hat 
ihre Grundbedingung in der inneren Fähigkeit des Idioplasmas, auf den Reiz in 
der angegebenen Weise zu reagieren. 

Der Aufenthalt im Tierkörper stellt also den für die Bildung 
der Schleimhüllen progressiv wirkenden, adäquaten Reiz dar. 


Vererbung und Konstanthalten des normalen 
Phänotypus. 


Der normale Phänotypus lässt sich sehr leicht konstant er- 
halten. Aın einfachsten dadurch, dass man den Bazillus auf dem 
Schrägagar züchtet, einigemale in nicht zu langen Zwischenräumen 
(alle 2—3 Tage) überträgt und dann wieder eine Tierpassage ein- 
schiebt. Ohne das Einschieben von Tierpassagen lässt sich bei fort- 
gesetzter Kultivierung auf dem Schrägagar der normale Phänotypus 
nicht konstant erhalten, da sich infolge des Wachstums im zusammen- 


hängenden Bakterienrasen — bei jeder Übertragung liegen hier 
die Bazillen von Anfang an eng nebeneinander — schon in frühen 


Kulturgenerationen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend 
macht und die retrogressiven Veränderungen bewirkt. Deshalb müssen 
nach einer bestimmten Zahl von Schrägagargenerationen immer wieder 
Tierpassagen eingeschoben werden, die in progressivem Sinne auf das 
Schleimbildungsvermögen wirken und die entsprechenden Anlagen 
wieder zur normalen Entfaltung bringen, so dass sie für mehrere 
Kulturgenerationen wieder normal bleiben. 

Doch läßt sich der normale Phänotypus auch bei fortgesetzter 
Kultivierung außerhalb des Tierkörpers normal erhalten, wenn die 
Bazillen nicht im zusammenhängenden Rasen wachsen. Dies ıst der 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 297 


Fall bei der Kultivierung in der Bouillon, wenn in nicht zu langen 
Zwischenräumen (alle 2- 3 Tage) neu übertragen wird. Bleiben die 
Bouillonkulturen wesentlich längere Zeit stehen, so macht sich auch 
in ihnen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend. 

Sehr ee lässt sich auch auf a Agar der Typus 
normal erhalten, wenn das Plattengussverfahren Sina men wird. 
Hierbei wird eine Anzahl normaler Individuen zunächst in einem 
flüssigen Medium (Bouillon) verteilt, ein kleiner Teil dieser Auf- 
schwemmung mit verflüssigtem Agar vermischt und nach gründlicher 
Mischung in Platten ausgegossen. Der Agar erstarrt und die Keime 
wachsen jetzt zu einzelnen Kolonien aus. Das Wachstum findet dabeı 
zunächst in einem von Stoffwechselprodukten völlig freien Milieu statt, 
da die Keime einzeln liegen. Erst wenn die Kolonien größer werden, 
ist auch bei diesem Verfahren eine Anhäufung von Stoffwechsel- 
produkten anzunehmen, da ja ein zusammenhängender Bakterien- 
rasen gebildet wird. Wird aber von diesem abermals auf die gleiche 
Weise übertragen, so erhält man wiederum nur phänotypisch normale 
Kolonien. Dies kann sogar in langen Zwischenräumen beliebig oft 
fortgesetzt werden, eine Serie blieb bei vierwöchentlicher Über- 
tragung 1'/, Jahre ganz typisch; hierauf wurde der Versuch abge- 
brochen. 

Aus diesen Versuchen geht hervor, dass sich die Eigenschaft 
der Schleimbildung in normalem Umfang weitervererbt ohne dass 
der adäquate Reiz hierfür erforderlich ist, wenn nur die Einwir- 
kung retrogressiv wirkender Reize in genügender Weise ausge- 
schaltet wird. Diese Ausschaltung muss nicht einmal vollkommen 
sein, denn beim Plattengussverfahren wachsen die Generationen 
nur zeitenweise in einem von Stoffwechselprodukten freien Milieu. 
Dieser wenn auch immer nur vorübergehende Wegfall der hemmen- 
den Faktoren genügt aber dazu, um eine konstante Vererbung zu 
ermöglichen. Erst wenn die abändernden Faktoren kontinuierlich 
auf die Generationen einwirken, überwinden sie das Beharrungs- 
vermögen der Erbeinheiten und führen zur Variation. Es zeigte 
sich also sehr deutlich, daß die unveränderte Vererbung des ge- 
prüften Artmerkmals durch das innere Beharrungsvermögen der 
Erbeinheiten erfolgt. Die gleiche Tatsache wird sich auch bei den 
erblichen Varianten zeigen. 

Variabilität. 

Die Anhäufung der Stoffwechselprodukte als variierender Reiz 
bewirkte je nach Dauer und Intensität der Einwirkung die ver- 
schiedenen Variationsformen. Dieser Reiz lässt sich durch Auswahl 
der Kulturbedingungen d.h. des Nährbodens und der Zwischenzeit 
der sn Dan. dosieren. Die gelindeste Einwirkung, 
dıe den Typus aber noch unverändert lässt Sn zur Überwinduug 
des Beharrungsvermögens der Anlagen nicht genügt, bringt die 


298 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Kultivierung in Bouillon und im Plattenguss mit sich, falls nicht 
zu große Zwischenräume (über 4 Wochen) für die Übertragung ge- 
wählt werden. Dies ıst schon bei Schilderung der für die unver- 
änderte Vererbung maßgebenden Bedingungen erwähnt. Die geringste 
varıierende Steigerung des Reizes wird erzielt durch Kultivierung auf 
dem Schrägagar, also Wachstum im zusammenhängenden Bakterien- 
rasen, und fortgesetzte Übertragung in kurzen Zwischenräumen 
(1—2 Tage); eine stärkere durch fortgesetzte Übertragung in längeren 
Zwischenräumen (7 Tage). Bei diesem Verfahren ist die Einwir- 
kung der Reizes bezw. sein Effekt in der Mitte des Bakterienrasens 
und am Rand d.h. bei den zuletzt entstehenden Individuen ver- 
schieden. Die stärkste Abänderung wird erzielt, wenn man die 
einzelnen Kulturen noch länger (2—4 Wochen) der Einwirkung der 
Stoffwechselprodukte überlässt. Eine weitere Verlängerung der 
Einwirkungsdauer des Variationsreizes hat jedoch keine Steigerung 
des Variationseffektes mehr zur Folge. 

Hieraus ergibt sich die für das Verständnis und die Beurteilung 
der Variationen sehr wichtige Tatsache, dass von einem gewissen 
Alter der Kultur ab keine weiteren Varianten mehr entstehen; 
werden in einer Kultur nach einem bestimmten Zwischenraum 
(4—8 Wochen) noch keine Varianten gewonnen, so treten auch 
späterhin keine mehr auf. Sind in den ersten 4 Wochen schon 
Varianten nachweisbar, so nımmt ıhre Zahl bei späteren Unter- 
suchungen nicht mehr zu. Die Varianten entstehen also nur, so 
lange das Wachstum der Kultur fortgeht und zwar unter den ver- 
änderten Bedingungen. Hieraus ergibt sich die Varıabilität 
als eine Funktion des Wachstums unter veränderten Be- 
dingungen. Dies geht weiterhin auch daraus hervor, dass man 
bei fortgesetzter Übertragung in kurzen Zwischenräumen viel rascher 
und reichlicher die Varianten erhält als wenn man eine zunächst 
typisch gewachsene Kultur sehr lange Zeit stehen lässt und dann 
auf Varianten untersucht. Meist erhält man dabei erst nach wieder- 
holten Übertragungen eine Variation d. h. der Variationsreiz muss 
erst auf eine gewisse Anzahl von Generationen eingewirkt haben 
um eine Veränderung zu erzielen. Im Latenzstadium des Wachs- 
tums bleibt der Variationsreiz wirkungslos; das ruhende Idioplasma 
ist nicht variationsfähig 

Gewinnung bezw. Isolierung der Varianten. Methodik 
der Versuche. Die Kulturen bezw. Kulturserien, in denen eine 
Variation erzielt werden sollte, wurden durch Abimpfung von iso- 
lierten Kolonien erhalten; denn nur so kann man sicher sein, dass 
man von erblich einheitlichem Material ausgeht. Dann wurden die 
Kulturen je nach Absicht der Reizdosierung weiter behandelt, d.h. 
in kürzeren Zwischenräumen weiter übertragen oder längere Zeit 
stehen gelassen. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 299 


Die Varianten wurden dadurch isoliert, dass aus den Massen- 
kulturen nach Aufschwemmung in einem flüssigen Medium Agar- 
platten gegossen wurden. Hierbei wachsen die einzelnen Keime zu 
isolierten Kolonien aus. Nur dadurch gelingt es, alle Varianten 
mit Sicherheit zu gewinnen. Denn die Abänderungen betreffen nie 
alle Individuen gleichzeitig, sondern immer nur einen Teil: die 
Varianten treten also in Form der Konvarianten, nicht der De- 
varianten (Plötz) auf. In Massenkulturen (Strichkulturen auf Agar 
oder Bouillonkulturen) lassen sich deshalb die Varianten nur ge- 
winnen, wenn sie gegen die normal gebliebenen Individuen in der 
Mehrzahl vorhanden sind. Solche Varianten dagegen, welche nur 
in sehr spärlicher Zahl auftreten, werden in Massenkulturen durch 
die große Menge der normal gebliebenen Individuen verdeckt. Die 
Gewinnung der Varianten hat demgemäß durch Selektion der aus 
isolierten Keimen gewachsenen Kolonien zu erfolgen. 


Feststellung des Variationscharakters. Die Feststel- 
lung des Variationscharakters erfolgt durch Vererbungsversuche. 
In unserem Falle sind die Abänderungen retrogressiver Natur; ihr 
Verhalten hinsichtlich der Erblichkeit wırd also dadurch geprüft, 
dass die Varianten sowohl lediglich unter Wegfall des varııerenden 
Reizes als auch unter dem Einfluss des entgegengesetzt d.h. pro- 
gressiv wirkenden Reizes gezüchtet werden. 


Die Modifikation. 


Die modifizierte Form erhält man am leichteston durch fort- 
gesetzte Kultivierung auf dem Schrägagar. Die Zwischenräume ın 
denen übertragen wird, betragen am besten 7 Tage (bei kürzeren 
Zwischenräumen bleiben die in den ersten Kulturgenerationen am 
Rand des Bakterienrasens auftretenden Mutanten noch weiterhin 
erhalten, bei längeren Zwischenräumen könnten Fluktuanten neben 
den modifizierten Keimen erhalten werden). Die Übertragung ge- 
schieht so, dass stets von der Mitte des Bakterienrasens der letzten 
Kultur abgeimpft und auf dem neuen Schrägagar ausgestrichen 
wird. Die Kulturen verändern sich dabei allmählich immer mehr. 
Zunächst treten am Rand des Bakterienrasens weißliche Sektoren 
auf, ın späteren Kulturgenerationen erscheint der Rand als kon- 
filuierendes weißliches Band. Diese Veränderungen am Rand des 
Bakterienrasens sind verursacht durch Mutation (stärkere Einwirkung 
der Stoffwechselprodukte bei den zuletzt entstehenden Individuen 
der Kultur, vgl. später). Das Innere des Bakterienrasens bleibt da- 
gegen zunächst unverändert d.h. glasig-grau, durchscheinend, faden- 
ziehend. Bei fortgesetzter Übertragung aus den zentralen, möglichst 
wenig veränderten Partien werden die Kulturen allmählich flacher, 
weißlicher, und zwar auch im Innern des Bakterienrasens. Das End- 
stadium der Modifikation ist dann erreicht, wenn die Kulturen ganz 


300 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


flach, im Innern fast ebenso weißlich geworden sind wie am Rand. 
Der Rasen ist dabei nicht ganz homogen, sondern setzt sich aus 
feinen weißlichen und etwas durchscheinenden Streifen zusammen, 
die am Rand radıär gestellt sind. Dies ıst in der 15.—20, Kultur- 
generation erreicht. Der Rand des Bakterienrasens, der zwar meist 
noch etwas weißlicher gefärbt ıst als die zentralen Partien, aber 
doch bei weitem nicht in solchem Kontrast wie in den ersten Kultur- 
generationen, enthält dann keine Mutanten mehr. Wir haben jetzt 
eine einheitliche (soweit dies möglich ist, wie folgt) Kultur der 
modifizierten Form vor uns. Es ıst von jetzt an gleichgültig, ol 
bei weiteren Übertragungen vom Rand oder von der Mitte des 
Bakterienrasens übertragen wird; die Kulturen verändern sich nicht 
mehr. 

Die einzelnen Individuen sind, wenn wir sie auf die Kapsel- 
bildung untersuchen, in verschiedenem Grade abgeändert: viele be- 
sitzen eine sehr schmale kaum mehr sichtbare Kapsel, einige aber 
auch eine breite Kapsel. Bei den meisten zeigt sich die Breite der 
Schleimhülle zwischen diesen beiden Extremen. Diese Zusammen- 
setzung aus verschiedenartigen Keimen (Fig. 5) erklärt die inhomogene 
Struktur des Bakterienrasens bei den modifizierten Kulturen. Er 
besteht aus modifizierten und typisch gebliebenen Individuen. Auch 
bei beliebig lange fortgesetzter Übertragung der modifizierten Kul- 
turen auf dem Schrigen ohren ie typisch bleibenden 
Individuen nie ganz. Denn zugleich mıt der Entwicklung der Modi- 
fikation nımmt die Schleimbildung der Kulturen d. h. der Variations- 
reiz ab. Diejenigen Individuen des Typus, welche die beginnende 
Modifikation unverändert überstanden haben, werden infolgedessen 
auch durch weitere Übertragungen nicht mehr modifiziert und 
wachsen mit den Eigenschaften des Typus weiter. Es gelingt also 
nicht, durch weitere Übertragungen eine völlige „Reinkultur“ der 
modifizierten Form zu erhalten. 

Immerhin aber werden die meisten Individuen durch die fort- 
gesetzte Übertragung auf dem Schrägagar im Sinne der Modifi- 
kation abgeändert; es gelingt also durch das Verfahren der Massen- 
kulturen, die modifizierte Form zu gewinnen. 

Sehr deutlich treten die Eigenschaften der Variante hervor, 
wenn man von einer modifizierten Schrägagarkultur durch das Guss- 
verfahren Platten anlegt. Man erhält dann die den einzelnen Keimen 
entsprechenden Kolonien isoliert. Einige sind wie die des normalen 
Phänotypus: glasig durchscheinend, groß, erhaben. Sıe bestehen 
aus Individuen mit breiten Kapseln und sind hervorgegangen aus 
den normalen Individuen, die auch bei lange fortgesetzter Übertra- 
gung der modifizierten Kulturen nie ganz aus diesen verschwinden. 
Die Mehrzahl der Kolonien dagegen ist wesentlich verändert und 
zwar lassen sich bis zu den extrem veränderten alle Übergänge 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 301 


nachweisen. Die am wenigsten abweichenden sind fast gleich groß 
wie die normalen, enthalten aber ın ihrer glasigen grauen Grund- 
substanz weiße Sektoren. Diese bestehen aus Bazillen, welche weniger 
breite Kapseln haben und deshalb näher aneinander liegen. Da- 
durch werden diese Partien, gegen eine dunkle Unterlage gehalten, 
weniger durchsichtig und erscheinen weißlich (gegen helle Unterlage 
dunkler, vgl. Abbild.). Die stärker veränderten Kolonien sind kleiner, 
bestehen zu ungefähr gleichen Teilen aus grauen und weißlichen 
Sektoren (Fig. 4), die extrem modifizierten sind noch kleiner (nach 
3 Tagen 3—5 mm), ganz weiß und flach. Bei mikroskopischer Be- 
trachtung lässt sich aber deutlich erkennen, dass auch sie radıär 
gestreift sind. Die einzelnen Individuen dieser extrem veränderten 
Kolonien besitzen meist keine Kapseln mehr, sondern nur Endo- 
plasma und Ektoplasma, ganz wenige aber noch breite Kapseln. 
Dadurch erklärt sich die inhomogene radiärstreifige Struktur. 

Die Modifikation verändert die Virulenz nicht in nachweisbarem 
Grade, da die modifizierte Form beim Aufenthalt ım Tierkörper 
sofort die Schleimhüllen wieder bildet. 

Prüft man die modifizierte Form auf Erblichkeit, so zeigt sich, 
dass durch eine Tierpassage (am besten Maus) sofort der normale 
Phänotypus wieder erhalten wird. Dieser Rückschlag kann nicht 
allein auf Selektion zurückgeführt werden, etwa durch die Annahme, 


dass die neben den modifizierten Keimen stets — wenn auch ın 
sehr geringer Zahl — vorhandenen normalen Individuen mit breiter 


Kapsel und hoher Virulenz allein im Tierkörper zur Vermehrung 
gelangen und deshalb nach dem Tode des Tieres aus dem Blut 
reingewonnen werden. Dies ıst deshalb ausgeschlossen, weil die 
Kulturen der modifizierten Form auch in sehr geringen Dosen die 
gleiche Infektionskraft besitzen als die des normalen Phänotypus. 
Es müssen also auch die modifizierten Individuen rasch ım Tier- 
körper zur Vermehrung gelangen. Da nach einer einzigen Tier- 
passage stets nur normale Individuen aus dem Blut gewonnen 
werden, sind also die modifizierten in den Typus zurückverwandelt. 

Von besonderem Interesse ist das Verhalten der Erblichkeit beim 
Plattengussverfahren. Von einer durch Plattenguss isolierten extrem 
modifizierten Kolonie gehen in der ersten Plattenaussaat verschieden- 
artige Kolonien auf: wenige vom normalen Phänotypus, groß und 
slasig, die meisten Übergänge zwischen ihm und der extrem modi- 
fizierten Form, einige wie die extrem modifizierte Ausgangskolonie, 
d. bh. klein, flach, weißlich. Die weitere Abimpfung und Züchtung 
mittels des Plattenverfahrens ergibt, dass von den typisch er- 
scheinenden Kolonien nur Kolonien des normalen Phänotypus auf- 
gehen, die auch weiterhin die Eigenschaften des Typus beibehalten ; 
dagegen erhält man dureh Abimpfung von einer extrem modifi- 
zierten Kolonie wiederum das gleiche Gemisch von normalen, mittel- 


302 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


stark und extrem modifizierten Kolonien wie von der ersten modi- 
fizierten Kolonie. Dies lässt sich beliebig oft wiederholen. Stets 
ergibt die Abimpfung von einer extrem modifizierten Kolonie ein 
Gemisch von Kolonien des Typus, der modifizierten Form und 
einer Zwischenform beider. 

Dies ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die modifi- 
zierte Ausgangskolonie aus einem Gemisch von Individuen des Typus 
und einer erblichen Variante besteht!). Denn bei einer künst- 
lichen Mischung des Typus und einer erblichen Variante gehen bei 
der Plattenaussaat die Kolonien nie gemischt an, sondern sie 
wachsen immer getrennt oder sie setzen sich, wenn wirklich einmal 
zwei erblich verschiedene Individuen unmittelbar nebeneinander zu 
liegen kommen, scharf gegeneinander ab und bilden zwei exzen- 
trisch geformte Kolonien. Bei Aussaat einer extrem modifizierten 
Kolonie wachsen aber die neuen, extrem modifizierten Kolonien 
regelmäßig schon vom Zentrum an radıär gemischt und in kon- 
zentrischer Anordnung. Daraus geht hervor, dass das Gemisch von 
normalen und modifizierten Individuen in einer extrem modifizierten 
Kolonie von einem einzelnen, ebenfalls extrem modifizierten In- 
dividuum abstammt, bei dessen Proliferation schon die ersten Gene- 
rationen zum Teil in den Typus zurückschlagen, während der andere 
Teil der Nachkommen modifiziert bleibt. Die in den Typus zurück- 
geschlagenen Individuen ergeben bei erneuter Aussaat von vorn- 
herein Kolonien des Typus, die modifiziert gebliebenen Individuen 
liefern wiederum modifizierte Kolonien, in denen sich der soeben 
beschriebene Vorgang wiederholt. Es hat also zunächst den An- 
schein, als ob die Modifikation bei einem Teil der Individuen voll- 
kommen erblich wäre. 

Untersucht man die Plattenkulturen nach längerer Zeit (7 bis 
10 Tage), so bemerkt man, dass sich die extrem modifizierten 
Kolonien mit einem glasigen, homogenen Saum umgeben. Impft 
man von diesem ab (Plattenguss), so erhält man im Gegensatz zur 
Abimpfung von der Mitte nur Kolonien des Typus. Die Peripherie 
der modifizierten Kolonien enthält also von einem gewissen Alter 
der Kultur ab einen Saum von Individuen, die sämtlich ın den 
Typus zurückgeschlagen sind. Dies kommt dadurch zustande, dass 
die modifizierten Individuen auch bei zunehmendem Alter der Kultur 
an Ort und Stelle, wo sie gewachsen sind, also im Bereich der ur- 
sprünglichen Kolonie liegen bleiben, während die zurückgeschlagenen, 
wieder mit Schleimhüllen versehenen Individuen von dem leicht 


1) Die Anregung zu dem in folgendem geführten Nachweis, dass die modifi- 
zierten Kolonien nicht aus einem Gemisch des Typus und einer erblichen Variante 
bestehen und insbesondere, dass die Erblichkeit der Modifikation durch Fortdauer 
des Variationsreizes, nicht aber durch eine wirklich erbliche Abänderung des Idio- 
plasmas verursacht ist, verdanke ich Herrn Professor Plate in Jena. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 303 


erhabenen Bezirk der eigentlichen Kolonie nach der etwas niedrigeren 
Oberfläche des Agars peripherwärts abfließen (wie es ja für die 
Kolonien des Typus charakteristisch ist) und dabei einen konfluieren- 
den Rasen bilden; dieser besteht dann natürlich nur aus Individuen, 
welche in den Typus zurückgeschlagen sind (Fig. 4). Dass dieser 
Saum aus modifizierten Individuen hervorgegangen ist, die erst an 
der Peripherie der Kolonien in den Typus zurückgeschlagen sind, 
halte ich nieht für wahrscheinlich; denn ın diesem Stadium sınd 
die Kolonien schon ziemlich groß, und es hat bereits eine gewisse 
Ansammlung von Stoffwechselprodukten stattgefunden, welche einen 
Rückschlag der Modifikation in den Typus verhindert. 

Auf Grund dieser Beobachtungen lässt sich die Erblichkeit der 
Modifikation folgendermaßen beurteilen. Kommt ein modifiziertes 
Individuum unter Wegfall des variierenden Reizes zur Proliferation, 
so bleibt ein Teil der Nachkommen modifiziert, ein anderer Teil 
schlägt schon in den ersten Generationen in den Typus zurück. Es 
handelt sich also nicht um echte Erblichkeit, da die Variation schon 
in den ersten Generationen abklingt und „der Mittelwert der Nach- 
kommen sich verschiebt“ (Johannsen). Nun hält sich aber die 
Modifikation doch für beliebig viele Kulturgenerationen konstant, 
wenn jedesmal von einer extrem modifizierten Kolonie abgeimpft 
wird. Dies ist aber nicht auf echte Erblichkeit d. h. auf Fortdauer 
der Variation ohne den Variationsreiz, sondern auf erneute Ein- 
wirkung des Variationsreizes zurückzuführen. Denn zugleich mit 
dem Wachstum der modifizierten Kolonie häufen sich die retro- 
gressiv wirkenden Stoffwechselprodukte an, da bei dem Wachstum 
die in den Typus zurückgeschlagenen Keime wesentlich beteiligt 
sind. Infolgedessen geraten diejenigen Nachkommen des modifi- 
zierten Individuums, die nicht schon in den ersten Generationen in 
den Typus zurückgeschlagen sind, von neuem unter die Wirkung 
des Variationsreizes und werden am Rückschlag verhindert. Sie 
wachsen in dieser Kolonie modifiziert weiter und verhalten sich bei 
erneuter Aussaat ebenso wie der modifizierte Keim, von dem sie 
stammen d.h. sie schlagen wieder nur zum Teil in den Typus zurück. 
Die Erblichkeit der modifizierten Form unter den angegebenen 
Bedingungen des Plattengusses ist also nur scheinbar und in Wirk- 
lichkeit ebenso zu erklären wie bei fortgesetzter Kultivierung auf 
dem Schrägagar, d.h. auf die Fortdauer des Variationsreizes zurück- 
zuführen. Die Modifikation ist bei Wegfall des Varıa- 
tionsreizes nur für eine beschränkte Zahl von Genera- 
tionen erblich. 

Wesen und Entstehungsweise der Modifikation. Die 
Modifikation trat als retrogressive Variation derart ın Erscheinung, 
dass durch die gelindeste Wirkung des retrogressiven Variations- 
reizes die Schleimbildung ım Laufe vieler Generationen immer mehr 


304 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


abnahm bis zum Verschwinden der sichtbaren Eigenschaft (bei den 
extrem modifizierten Individuen). Diese Veränderung ging durch 
die Einwirkung des in umgekehrter Richtung wirkenden Reizes 
sehr rasch, etwas langsamer schon bei Wegfall des retrogressiven 
Reizes in den Typus zurück. Deshalb können wir annehmen, dass 
die Abnahme der Schleimbildung bei der retrogressiven Modifikation 
nur auf eine Hemmung des Vıiskoplasmas zurückzuführen ist; denn 
schon bei Wegfall des Variationsreizes, also allein durch ihr Behar- 
rungsvermögen, gelangen die gehemmten Anlagen wieder zur normalen 
Entfaltung. 

Die Entstehung und die Zurückbildung der Modifikation voll- 
zieht sich allmählich. Die Hemmung des Viskoplasmas nimmt im 
Laufe vieler Generationen stetig zu bis sie ihren Endwert erreicht 
hat. Diese allmähliche Zunahme der Variation ist sogar in den 
Generationen der einzelnen Kulturen zu beobachten; denn die zu- 
letzt entstehenden Individuen, also die am Rand des sich aus- 
breitenden Bakterienrasens gelegenen, sind stärker modifiziert als 
die ersten. Nie wird ein extrem modifiziertes Individuum unmittel- 
bar aus dem Typus erhalten. Die Modifikation braucht also eine 
gewisse Zahl von Generationen, bis sie in stetig zunehmendem 
Grade ıhr Extrem erreicht hat. 

Auch die Zurückbildung der Modifikation erfolgt nicht plötz- 
lich in einer Generation. Dies lässt sich zwar nicht bei der Re- 
version durch Tierpassagen, wohl aber durch das Plattengussver- 
fahren nachweisen. Hierbei entfalten sich die gehemmten Anlagen 
erst nach mehreren Generationen wieder in normaler Weise bei 
allen Individuen. Eine gewisse Erblichkeit d. h. eine Fortdauer 
ohne weitere Einwirkung des Variationsreizes lässt sich also bei 
der Modifikation nachweisen, obwohl sıe der geringsten Beeinflussung 
des Idioplasmas entspricht, die sich erzielen liess. Ich habe des- 
halb früher den für das Abklingen einer Variation gebräuchlichen 
Ausdruck „pseudohereditäre Nachwirkung“ hierauf angewendet, 
bin aber jetzt der Ansicht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist 
(wenigstens für unseren Fall), da sie keinem prinzipiell, sondern nur 
graduell verschiedenen Begriff entspricht. 

Die geschilderte Form der Variation entspricht den Gesetzmäßig- 
keiten, die jetzt von den Vererbungsforschern in Anknüpfung an die 
„Standortsmodifikationen* Nägelis als charakteristisch für die Modı- 
fikation bezeichnet werden: unter dem Einfluss äußerer Bedingungen 
ändert sich eine sichtbare Eigenschaft und geht bei Wegfall dieser 
Bedingungen mehr oder weniger rasch in den früheren Zustand 
zurück. Diese Veränderung beruht auf der Fähigkeit einer (oder 
mehrerer) Erbeinheiten, auf eine Veränderung in den äußeren Be- 
dingungen entsprechend zu reagieren, ohne sich dabei selbst zu 
ändern. Die Reaktionsfähigkeit (oder Reaktionsbreite), 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 305 


welche für die Art charakteristisch ist, ändert sich dabei nicht 
(Baur, 12). Die Modifikation ist also nicht erblich. Dass die Modi- 
fikation ın unserem Falle einen gewissen Grad von Erblichkeit be- 
sitzt. muss auf den innigen Zusammenhang zurückgeführt werden, 
der bei Bakterien zwischen zeugendem und erzeugtem Individuum 
infolge der asexuellen Fortpflanzung besteht (Haeckel). Darauf 
wurde schon in der Einleitung hingewiesen. 

Bei den Lebewesen mit differenzierter Keimbahn erstrecken sich 
die Modifikationen meist nur auf eine Generation. Bei Bakterien kann 
man jedoch je nach dem Grade der Erblichkeit, den eine Modifi- 
katıon besitzt, von leicht reversiblen und von Dauermodifikationen 
sprechen. Auf jeden Fall muss jedoch eine als Modifikation be- 
zeichnete Variation schon beim Wegfall des varıierenden Reizes ein 
Abklıngen der Veränderung zeigen. Als weiteres Merkmal der Mo- 
difikation ist die allmähliche Entwicklung der Variation zu fordern. 


Die Mutation, 


Man erhält die Mutante beim Friedländerbazillus ebenso wie 
bei den anderen Bakterien, bei denen besonders Beijerinck (20) 
und Baerthlein (21) die Gewinnung der Mutanten ausführlich 
beschrieben haben, wenn man Agar oder Bouillonkulturen des nor- 
malen Bazillus längere Zeit im Brutschrank oder nach 24 stündiger 
Bebrütung bei Zimmertemperatur stehen lässt und dann Platten 
anlegt. Es genügen 4 Wochen, doch erhält man auf diese Weise 
nicht aus jeder Kultur die Mutante; tritt die Mutation in einer 
Kultur nach 4 Wochen noch nicht ein, so erhält man sie meist auch 
durch längeres Stehenlassen nicht mehr. (Im Latenzstadium des 
Wachstums tritt keine Variation ein). 

Absolut sicher und viel rascher kann man die Mutation her- 
beiführen, wenn man durch fortgesetzte Übertragungen auf dem 
Schrägagar das Wachstum der Bakterien im zusammenhängenden 
Rasen weitergehen lässt. Überträgt man in 3—7tägigen Zwischen- 
räumen in der Weise, dass jedesmal von der Mitte des Bakterien- 
rasens abgeimpft und dieses Material auf dem neuen Schrägagar aus- 
gestrichen wird, so trıtt meist in der 3.—4. Kulturgeneration eine 
plötzliche auffallende Veränderung ein. Während die ersten Kultur- 
generationen aus homogenem, glasig durchscheinendem Bakterien- 
rasen bestanden, treten jetzt plötzlich weißliche Sektoren am Rand 
des Bakterienrasens auf, die bei Fortsetzung des Verfahrens ın den 
nächsten Kulturgenerationen zunehmen, so dass sie schließlich zu 
einem breiten weißen Band zusammenfließen. Diese weißlichen 
Partien bestehen aus Mutanten. (Die Mitte des Bakterienrasens bleibt 
zunächst noch unverändert; durch Weiterimpfung von hier erhält 
man die modifizierte Form.) Legt man von den weißen Sektoren 
oder dem weißen Rand einer Schrägagarkultur, in der die Mutation 

XXXV. 20 


306 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


begonnen hat, durch das Gussverfahren Agarplatten an, so geheu 
zwei bedeutend verschiedene Arten von Kolonien auf, die durch 
keine Übergangsformen verbunden sind. Ein Teil besteht aus den 
großen schleimigen Kolonien des normalen Typus, der andere aus 
kleinen, flachen weißlichen Kolonien, den Mutanten. Die einzelnen 
Individuen der Mutante sınd schlanke Stäbchen, welche nur eine 
sehr dünne Zellmembran besitzen und keine Schleimhüllen bilden. 
Impft man von den peripheren weißlichen Partien auf Schrägagar 
ab, so erhält man eine flache, fast ganz weißliche Kultur; diese 
enthält nur noch wenige glasige, typisch gebliebene Inseln. Wird 
eine solche veränderte Kultur abermals durch Abimpfung von per'- 
pheren, weißlichen Partien auf Schrägagar übertragen, so erhält 
man die Mutante meist schon rein. Die Mutante lässt sich also 
wie die modifizierte Form auch ın Massenkulturen rein gewinnen. 

Die Virulenz ist durch die Mutation ganz erheblich gesunken; 
die dosis letalis minıma für die Maus ist 1,0 cem Bouillonkultur. 

Die durch die Mutation erfolgende Veränderung vollzieht sich 
in einer Generation. Dies geht daraus hervor, dass die ersten 
mutierenden Individuen, die jedoch ın der betreffenden Kultur- 
generation gegen Ende des Wachstums der Kultur entstehen, auf 
einer Zwischenstufe zwischen normalem Typus und Mutante stehen 
bleiben, welche morphologisch sehr charakteristisch ıst (Fig. 6). 
Diese Übergangsformen stellen aber keine für sich beständigen 
Varianten dar. Bei erneuter Übertragung wird stets das End- 
stadium der Mutation erreicht (Fig. 7) und nie eine Übergangsform 
mehr angetroffen. Wären die Übergangsformen auch nur für wenige 
Generationen beständig, so müsste man sie in der erneuten Über- 
tragung wenigstens in einigen Exemplaren noch vorfinden. Sie 
gelangen also nur deshalb zur Beobachtung, weil ın ıhnen die Ent- 
wicklung der mutierenden Individuen nicht zum Abschluß bezw. 
zur Bildung der nächsten Generation kommt; denn die beginnende 
Anhäufung der Stoffwechselprodukte verhindert das weitere Wachs- 
tum der Kultur. Durch das Auftreten dieser auf eine Generation (nicht 
Kulturgeneration) beschränkten Übergangsformen ist der Beweis 
ermöglicht, dass die Mutation im Gegensatz zur Modifikation eine 
sprunghafte Variation ist. Sie setzt ın einer Generation in einem 
gewissen Entwicklungsstadium des Individuums sichtbar ein und ist 
bei den Nachkommen dieses Individuums vollkommen ausgeprägt, 
worauf sie zu keiner weiteren Veränderung mehr führt. 

Dem Beginn der anscheinend so plötzlich eimsetzenden Muta- 
tion geht jedoch ein latente Prämutationsphase voraus. Man er- 
hält z. B. ın einer Serie von Kulturgenerationen in der fünften die 
Mutation, obwohl sich die vierte noch nicht sichtbar gegen die 
erste verändert hatte. Alle von der ersten Kulturgeneration an- 
gelegten Übertragungen ergeben keine Mutation, dagegen tritt die 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 2307 
» S UM 


Mutation in sämtlichen von der vierten Kulturgeneration angelegten 
Übertragungen ein. Deshalb muss man annehmen, dass sich im Laufe 
der Übertragungen latent eine Veränderung in den Kulturen einge- 
stellt hat, die in dem angeführten Beispiel erst bei Übertragung der 
vierten Kulturgeneration manıfest wird, d.h. eine Prämutationsphase. 

Der Variationsreiz, der die Mutation herbeiführt, ıst stärker 
als derjenige, welcher die Modifikation veranlasst. Die Mutanten 
werden entweder nur aus ziemlich alten Kulturen oder bei frischen 
Übertragungen nur an denjenigen Stellen der Kulturen gewonnen, 
die zuletzt d.h. unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechsel- 
produkte entstehen. Hierbei zeigt sich besonders klar, dass die 
Variation eine Funktion des Wachstums ist. Legt man nämlich 
von einer am Rande in beginnender Mutation begriffenen Agar- 
kultur Platten an, so erhält man bei Abimpfung von der Mitte nur 
normale Kolonien, bei Abimpfung vom Rand dagegen reichlich die 
Mutanten. Es sind also nur die zuletzt entstehenden, bei Anhäufung 
der Stoffwechselprodukte noch ım Wachstum begriffenen Keime 
von der Mutation betroffen worden, während der gleiche Variations- 
reiz bei den schon im Latenzstadium des Wachstums begriffenen 
Individuen keine Veränderung erzeugt hat. 

Erblichkeit der Mutation. Die Eigenschaften der durch 
Plattenguss rein gewonnenen Mutante verändern sich bei weiterer 
Kultivierung nicht mehr. Die Mutante ist ein schlankes Stäbchen 
mit schmalem Ektoplasma (Fig. 5), sie bildet auf der Agarplatte 
kleine (in 5 Tagen 3—5 mm große), flache, grauweißliche, homogene 
Kolonien (Fig. 9), auf dem Schrägagar einen flachen, grauweißlichen, 
nicht abfließenden Bakterienrasen. Man kann die Mutante durch 
den Plattenguss, auf Schrägagar oder in Bouillon züchten, sie 
bleibt bei Übertragung in den üblichen Zwischenräumen (alle 1 bis 
4 Wochen) in ihren Eigenschaften vollkommen konstant. Die durch 
die Mutation eingetretene Veränderung bleibt also, sobald sıe ein- 
mal manifest geworden ıst, auf ihrem Zustand bestehen. 

Die Abimpfung von einer Kolonie der Mutante ergibt auf der 
Agarplatte nur Kolonien, die der Ausgangskolonie vollkommen 
gleichen. Der Wegfall des Variationsreizes führt also keinen Rück- 
schlag der Mutante herbei. Der Mittelwert der Nachkommen ver- 
schiebt sich hierbei nicht (im Gegensatz zur modifizierten Form). 

Unter gewissen Bedingungen lassen sich aber doch ganz regel- 
mäßig Rückschläge in den normalen Typus erzielen. Dies gelingt, 
wenn Kulturen der Mutante längere Zeit unübertragen stehen ge- 
blieben sind (mindestens 8 Wochen) und dann neu überimpft werden. 
Dabei schägt ein Teil der Mutanten in den normalen Typus zurück. 
Frische Kulturen der Mutante lassen sich nur durch Tierpassagen 
in den Ausgangstypus umwandeln. Man muss dabei sehr große 
Mengen (wegen der geringen Virulenz) ins Tier verimpfen. Der 

20* 


308 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Rückschlag tritt dann, je nachdem die Mutante erst kürzere oder 
schon längere Zeit auf künstlichen Nährböden fortgezüchtet ist, ın 
der 3.—5. Tierpassage ein. Nach den ersten Tierpassagen ist noch 
keine sichtbare Veränderung wahrzunehmen, in einer bestimmten 
Passage vollzieht sich dann plötzlich der Rückschlag und zwar 
ebenso stoßweise wie die ursprüngliche Mutation. Man muss in- 
folgedessen annehmen, dass auch dem Rückschlag eine latente Prä- 
mutationsphase vorausgeht. 

Bei der Gewinnung des normalen Typus durch Rückschlag der 
Mutante spielen Selektionsvorgänge eine Rolle. Denn nur ein Teil 
der Mutanten schlägt auf den künstlichen Nährböden oder im Tier- 
körper in den Typus zurück. Die im Tierkörper zuerst zurück- 
schlagenden Individuen gelangen wegen ihrer hohen Virulenz auch 
zu starker Vermehrung und werden .unter Umständen schon bei 
der ersten Tierpassage, ın der der Rückschlag stattfindet, aus dem 
Blute rein gewonnen. 

Wesen der Mutation. Vom Standpunkt der Vererbungs- 
forschung lässt sich der Mutationsvorgang mit ziemlicher Wahr- 
scheinlichkeit analysieren. Die Mutation zeigt sich darin, dass eine 
bestimmte Eigenschaft ın einer Generation plötzlich verschwindet 
und nach vielen Generationen wieder sichtbar wird. Dies spricht 
dafür, dass die Erbeinheit der betr. Eigenschaft nicht verloren ge- 
gangen bezw. beim Rückschlag neu entstanden ıst, sondern nur 
ihren Zustand gewechselt hat. Beijerinck hat wohl zuerst vermu- 
tungsweise den Gedanken ausgesprochen, dass bei der Mutation aktive 
Erbeinheiten latent oder latente Erbeinheiten aktiv werden. Diese 
Annahme hat lediglich auf Grund der Mutationserscheinungen viel 
Wahrscheinlichkeit für sich; durch den Gegensatz der Mutation zu 
den anderen Formen der Variabilität, insbesondere zu der später 
zu beschreibenden Fluktuation, erscheint sie mir so gut bewiesen, 
wie es überhaupt für die ja immerhin hypothetischen Erbeinheiten 
nur möglich ıst. Ich schließe mich also der Auffassung Beijerinck’s 
an und führe die Mutation auf eine Zustandsänderung, einen Valenz- 
wechsel von Erbeinheiten, zurück. Die beobachteten Erscheinungen 
sprechen für die Richtigkeit der Theorie Plate’s (8) über den 
Valenzwechsel (Grundfaktor — Supplementtheorie). Es werden da- 
bei entweder aktive Erbeinheiten latent oder inaktiv: dies ist die 
retrogressive Mutation- oder es werden latente Erbeinheiten aktıv: 
dies ıst die progressive Mutation. Die Rückschläge ın den Aus- 
gangstypus sind weiter nichts als eine Mutation, welche in umge- 
kehrter Richtung wie die ursprüngliche verläuft. Neue Erbein- 
heiten entstehen also bei der Mutation nicht, die Artgrenzen werden 
nicht überschritten. 

In unserem Falle ıst die retrogressive Mutation darauf zurück- 
zuführen, dass die für die Schleimbildung maßgebenden Erbemheiten 





Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 309 


inaktiv werden. Das Schleimbildungsvermögen beruht, wie sich bei 
der Fluktuation ergeben wird, auf dem Zusammenwirken mehrerer 
gleichsinniger Erbeinheiten, d.h. eines biologischen Radıkals (Plate); 
es wird also ein Komplex von Anlagen mit dem Verlust der sicht- 
baren Kapselbildung inaktiv. 

Zugleich tritt auch im Endoplasma und Ektoplasma eine sichtbare Verände- 
rung ein, denn aus dem breiten Stäbchen wird plötzlich ein schlankes mit schmalem 
Ektoplasma. Möglicherweise werden also noch andere, mit dem Aufbau des Endo- 
plasmas und Ektoplasmas in Verbindung stehende Erbeinheiten inaktiv, falls diese 
Veränderungen nicht auch irgendwie vom Viskoplasma abhängen. 

Der Rückschlag in den normalen Typus vollzieht sich durch 
die ebenso sprunghaft erfolgende Aktivierung der gleichen Anlagen. 

Die Erblichkeit der Mutation beweist, dass das Beharrungs- 
vermögen der Erbeinheiten das gleiche ist, wenn sie aktiv oder 
latent sind. Die Mutante besitzt im Vergleich zum Typus einen 
wesentlich reduzierten Stoffwechsel, der Varıationsreiz fällt mit dem 
Verlust der Schleimbildung vollkommen weg. Trotzdem bleibt die 
Mutante bei weiterer Kultivierung und zwar sogar beim Platten- 
gussverfahren erblich konstant. Ist jedoch der Rückschlag ın den 
Typus durch bestimmte stärker progressiv wirkende Faktoren ein- 
mal eingetreten, so bleibt der Typus von jetzt ab unter den schon 
bei Besprechung der Vererbung genannten Bedingungen ebenso be- 
ständig wie vor der Mutation — also unter Bedingungen, die an 
sich nicht genügten, um den Rückschlag der Mutante herbeizuführen. 
Daraus folgt, dass Typus und Mutante unter gleichen Bedingungen 
konstant bleiben, sobald einmal der jeweilige Zustand (Aktivität 
oder Latenz) der Erbeinheiten herbeigeführt ist. Die Erbeinheiten 
verharren also in dem Zustand der Aktivität oder Latenz, ın den 
sie durch äußere Faktoren gebracht werden, ohne dass die den be- 
treffenden Zustand herbeiführenden Faktoren ın gleicher Stärke 
andauern. 

Der Rückschlag d.h. die Reaktivierung der latenten Anlagen 
erfordert stärkere progressiv wirkende Bedingungen als die Reversion 
der modifizierten Form. Es ist nicht sicher zu erklären, warum bei 
neuem Wachstum alter Kulturen der Mutante einige Individuen 
in den Typus zurückschlagen und zwar erst, wenn die Kulturen 
ziemlich alt sind und sich schon längere Zeit im Latenzstadium des 
Wachstums befinden. Vielleicht nimmt nach längerem Ruhezustand 
die Fähigkeit zur Aktivierung bei den latenten Anlagen wieder zu, 
besonders wenn der inaktivierende Variationsreiz vollkommen fehlt, 
wie in den Kulturen der Mutante. Man könnte dann annehmen, 
dass die betreffenden Individuen vor dem auf dem neuen Nährboden 
erfolgenden Rückschlag noch in der alten Kultur in einen Prämuta- 
tionszustand geraten. Der Rückschlag im Tierkörper ist so aufzu- 
fassen, dass durch den progressiv wirkenden Reiz, dem vermutlich 
sogar die Entstehung des Schleimbildungsvermögens als äußerem 


310 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Faktor zuzuschreiben ist, die Aktivierung der latenten Erbeinheiten 
verhältnismäßig leicht und rasch gelingt. 

Der zeitliche Entstehungsmechanismus der Mutation ist durch 
die auf eine Generation beschränkten Übergangsformen verständ- 
lich. Die Mutation (zunächst für die Verlustmutation sicher zu 
beobachten) vollzieht sich derart, dass bei einem im Wachstum 
begriffenen Individuum in einem bestimmten Stadium der Ent- 
wicklung Erbeinheiten inaktiviert werden. Auf diese Weise wird 
das entsprechende Anlageprodukt in der mutierenden Generation schon 
nicht mehr in normalem Umfang gebildet, ist jedoch noch in einem 
gewissen Grad vorhanden, soweit es eben vor Einsetzen der Mutation 
schon gebildet war; in der darauffolgenden Generation fehlt es aber 
ganz, da in dieser die betreffenden Erbeinheiten schon von Anfang 
an latent sind. Auf diese Weise erklärt sich am besten das Vor- 
kommen der auf eine Generation beschränkten Übergangsformen 
zwischen Typus und Mutante und das Sprunghafte der Mutation. 

Da sıch der Rückschlag ebenso plötzlich vollzieht, beruht er 
wohl auf einem analogen, aber umgekehrt gerichteten Vorgang, 
auch wenn sich hierbei die Übergangsformen aus leicht begreif- 
lichen Gründen nicht feststellen ließen. 

Da mit dem Namen Mutation heutzutage verschiedene Vor- 
gänge bezeichnet werden, erscheint es mir dringend notwendig, die 
Bezeichnung Mutation für die geschilderte Art der Variation zu 
rechtfertigen. Die heutige Erblichkeitsforschung bezeichnet als 
Mutation eine wirkliche Veränderung der Art durch Abänderung 
ihrer Zusammensetzung aus Erbeinheiten. Wir legten jedoch dem 
Mutationsbegriff nur einen Valenzwechsel, eine Zustandsänderung 
von Anlagen zugrunde, durch welche die Artgrenzen nicht über- 
schritten werden. Wenn ich bei dieser Auffassung bestehen bleibe, 
so geschieht das aus zwei Gründen. 

Erstens: Hugo de Vries, der das große Verdienst hat, die 
Vorgänge der Artbildung experimentell in Angriff genommen zu 
haben, hat den Begriff der Mutation für eine bestimmte Variations- 
form eingeführt. Er fand bei der Züchtung der Nachtkerze, dass 
ein Teıl der Nachkommen „spontan“ mehr oder weniger vom Typus 
abweichende Eigenschaften zeigte, während der größte Teil unter 
den gleichen Außenbedingungen unverändert blieb. Die Verände- 
rungen entstanden sprunghaft, ohne Übergänge und waren erblich. 
Nur ein Teil der veränderten Rassen schlug in späteren Genera- 
tionen wieder in den Ausgangstypus zurück. De Vries glaubte, 
dass es sich hier um einen aus inneren Gründen erfolgenden Ge- 
winn wirklich neuer Eigenschaften handle und dass die Mutation die 
Quelle der Artbildung sei. Wenn sich die von de Vries als reine 
Mutationen aufgefassten Veränderungen der Oenothera lamarckiana 
auch zum größten Teil auf Bastardierungserscheinungen zurückführen 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 314 


lassen, so kann man doch nicht ausschließen, dass echte Mutations- 
vorgänge (in unserem Sinne) damit verknüpft waren. Die von 
de Vries für die Mutation als charakteristisch bezeichneten Ge- 
setzmäßigkeiten haben sich auch später bei anderen Arten wieder- 
gefunden und es werden demnach als Mutationen bezeichnet: stoß- 
weise, nur in einem Teil der Nachkommen erfolgende, spontane 
(„richtungslos“ erfolgende) und in hohem Grade erbliche Verände- 
rungen. 

Nun kann die „Richtungslosigkeit“ auf keinen Fall zur Charak- 
terisierung einer Variationsform verwendet werden; denn jede Varia- 
tion ist durch bestimmte Bedingungen in ihrem Verlauf, d.h. in 
den Beziehungen zwischen Reiz und Wirkung, festgelegt, auch wenn 
wir diese Beziehungen nicht immer erkennen. In unserem Fall ist 
die Richtung der Mutation nach Reiz und Wirkung klar. Maß- 
gebend für den Variationscharakter ist nur der Entstehungsmecha- 
nismus und die Erblichkeit der Variation. In dieser Beziehung 
entspricht die geschilderte Varıationsform den von de Vries ex- 
perimentell festgestellten Gesetzmäßigkeiten. Wenn sich auch her- 
ausgestellt hat, dass die Mutation nicht dem Vorgang entspricht, 
den de Vries lediglich theoretisch von ihr forderte, nämlich den 
wirklichen Verlust oder Gewinn von Erbeinheiten, so halte ich es 
doch für gerechtfertigt, die von de Vries nach den Tatsachen 
charakterisierte und als Mutation bezeichnete Variationsform auch . 
weiter Mutation zu nennen. 

Zweitens: es ist mir gelungen, experimentell eine Variation zu 
erzielen, welche an Erblichkeit die Mutation weit übertrifft. Diese 
Variationsform ist wahrscheinlich mit dem Gewinn bezw. Verlust 
von Erbeinheiten verbunden. Sie zeigt jedoch ganz andere Gesetz- 
mäßıgkeiten als die Mutation. Sie vollzieht sich nicht stoßweise, 
sondern allmählich, indem sie eine kontinuierliche Reihe erblicher 
Zwischenstufen durchläuft. Ich bezeichne sie deshalb als Fluktuation. 
Die Auffindung dieser Variationsform veranlasst mich hauptsächlich 
dazu, die Bezeichnung „Mutation“ für die nur zu einem Valenz- 
wechsel von Erbeinheiten führende Variationsform beizubehalten. 

Als charakteristisch für die Mutation ergab sich also die sprung- 
hafte Bildung der Terminalform, der ebenso erfolgende Rückschlag 
und ein beträchtlicher Grad von Erblichkeit. Zur Reversion war 
die Anwendung des progressiv wirkenden Reizes nötig, nur unter 
einer bestimmten Bedingung (nach langem Latenzstadium des Wachs- 
tums) erfolgte der Rückschlag durch das Beharrungsvermögen der 
Erbeinheiten allein. 

Die bakteriologische Forschung hat durch die genaue Verfol- 
gung der Mutationserscheinungen die Erblichkeitslehre um die Tat- 
sache bereichert, dass durch einen Valenzwechsel von Anlagen erb- 
lich konstante Rassen entstehen können. Der Valenzwechsel als 


312 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Quelle der Variabilität war zwar schon lange bekannt, aber nicht 
als Ursache erblich konstanter und experimentell zu beherrschender 
Variation. Derartige schon längst bekannte Erscheinungen des 
Valenzwechsels erstreckten sich immer nur auf eine oder mehrere 
(senerationen; dass aber durch einen experimentell herbeigeführten 
Valenzwechsel Anlagen beliebig viele Generationen hindurch in ihrem 
Zustand der Latenz oder Aktivität zu halten sind und sich jeder- 
zeit durch gesetzmäßig wirkende äußere Einflüsse in ihren Aus- 
gangszustand zurückführen lassen, ist erst durch die Bakterien- 
mutationen bekannt und bewiesen worden. 


Die Fluktuation. 


Als Fluktuation bezeichne ich eine Art der Variation, welche 
nicht nur zu einer Variante, sondern zu mehreren Varianten führt. 
Diese bilden nach dem verschiedenen Grad ıhrer Abweichung vom 
Typus eine kontinuierliche Reihe. 

Die Gewinnung dieser Varianten ist etwas schwieriger als die 
der bisher geschilderten, weil immer nur sehr wenige Individuen 
einer Kultur diese Form der Variation zeigen. Bei Aussaat einer‘ 
genügend großen Zahl von Individuen, eventuell Verwendung mehrerer 
unter den gleichen Bedingungen gehaltener Kulturen gleichzeitig 
gelingt es jedoch regelmäßig, die Fluktuanten zu gewinnen. Man 
erhält sie folgendermaßen: Von einer durch Plattenguss erhaltenen 
Kolonie des normalen Typus, der vorher noch durchs Tier gegangen 
oder auf Agarplatten in isolierten Kolonien gewachsen war, werden 
Schrägagar- oder Bouillonkulturen angelegt, 24 Stunden bei 37° be- 
brütet und dann bei 15° stehen gelassen. Frühestens nach 10 bis 
14 Tagen, am besten nach 20—30 Tagen, werden von diesen Kul- 
turen (ich habe bei den meisten Versuchen mit Schrägagarkulturen 
gearbeitet) Agarplatten angelegt. Über die Reihenfolge im Auf- 
treten der verschiedenen Fluktuanten ist später noch besonders zu 
berichten. Von allen Teilen des Bakterienrasens wird durch gründ- 
liches Verrühren mit der Platinöse Material entnommen, in Bouillon 
aufgeschwemmt und dort durch wiederholtes Hin- und Herneigen 
des Röhrchens gemischt. Von dieser Aufschwemmung werden ver- 
flüssıgte Agarröhrchen nach dem bekannten Verdünnungsverfahren 
geimpft und zu Platten ausgegossen. Die Platten stehen 24 Stunden 
im Brutschrank, bleiben dann bei Zimmertemperatur stehen und 
werden nach 3—5 Tagen untersucht. Von den Platten sind nur 
diejenigen verwendbar, welche eine genügende Zahl von Kolonien, 
aber doch mindestens in Abständen von !/,—1cm enthalten. Ist 
die Aussaat dichter, so kommen die Kolonien nicht vollständig 
genug zur Entwicklung ihrer typischen Eigenschaften und können 
deshalb nicht beurteilt werden. Auf den Agarplatten, die eine ge- 
eignete Keimzahl enthalten, findet man bei der Untersuchung weit- 





Toenniessen, Über Vererbung uud Variabilität bei Bakterien. 315 


aus die größte Zahl ganz unverändert, einige in der schon ge- 
schilderten Weise durch Radiärstreifung modifiziert, eventuell auch 
Mutanten. Die für die Fluktuation in Betracht kommenden Kolonien 
sind kleiner als die des normalen Typus, und zwar lassen sich 
drei verschiedene Stadien der Fluktuation unterscheiden. Die fluk- 
tuierten Kolonien sind besonders bei mikroskopischer Betrachtung 
mit Sicherheit zu erkennen und zwar dadurch, dass sie homogen 
chagriniert sind und keine radiären Streifen enthalten, sowie im Prä- 
parat durch die morphologischen Eigenschaften der einzelnen Keime. 

Die am wenigsten veränderten Kolonien (Fluktuante I) sind nach 
3—5 Tagen ungefähr zwei Drittel so groß wie die des normalen 
Typus, 7—10 mm im Durchmesser, erhaben, homogen, aber nicht 
ganz so glasig durchscheinend, sondern mehr weißlich-grau. Die 
einzelnen Bazillen haben sämtlich eine etwas schmalere Kapsel als 
die der normalen Kolonien. Werden von solch einer fluktuierten 
Kolonie Platten gegossen, so erhält man die Fluktuante rein. Die 
aufgehenden Kolonien sind sämtlich der Elternkolonie gleich. Bei 
längerem Wachstum konfluieren die Kolonien, jedoch nicht alle. 
Sie überziehen nie die ganze Agarplatte in zusammenhängendem, 
zerfließlichem Rasen wie der normale Typus. Durch Abimpfung 
einer solchen fluktuierten Kolonie auf dem Schrägagar erhält man 
einen homogenen, leicht erhabenen, grau-weißlichen und abfließen- 
den Bakterienrasen. 

Die Kolonien des 2. Stadiums (Fluktuante II) sind noch etwas 
kleiner, nach 3 Tagen 5—7 mm groß, etwas erhaben, stärker weiß- 
lich-gelb, aber noch etwas durchscheinend. Bei Abimpfung ergeben 
sie nur Kolonien, welche der Elternkolonie vollkommen gleichen. 
Die einzelnen Bazillen haben eine Kapsel, die ungefähr zweimal 
so breit ist als der Bakterienleib. Bei längerem Stehenlassen kon- 
fluieren die Kolonien zum Teil mit den benachbarten Kolonien, 
breiten sich aber dann nicht weiter aus. Auf dem Schrägagar er- 
hält man einen noch etwas erhabenen abfließenden Bakterienrasen, 
der am Rande weißlich-grau, im Innern noch grau durchscheinend ist. 

Das 3. Stadium (Fluktuante III) zeigt noch kleinere (3—5 mm 
große), leicht gelblich-weiße, nicht mehr durchscheinende Kolonien, 
die in den ersten Tagen ganz flach sind und makroskopisch voll- 
kommen den extrem modifizierten gleichen. Bei mikroskopischer 
Betrachtung (Fig. 10) unterscheiden sie sich von diesen aber da- 
durch, dass sie keine radiären Strahlen zeigen. Sie erscheinen 
ebenso wie die anderen Fluktuanten homogen chagriniert. Dem- 
entsprechend findet man bei mikroskopischer Untersuchung auch 
nur gleichartige Einzelindividuen vor. Beim Tuscheverfahren er- 
scheinen die Bakterien der Fluktuanten III ohne deutliche Kapsel, 
nur aus Bakterienleib und breiter Membran bestehend. Dass die 
Schleimhülle fehlt oder nur in minimalem Grade vorhanden ist, 


314 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


geht besonders bei der Methylenblaufärbung hervor. Die Bakterien- 
leıber erscheinen dabei zwar scharf konturiert, es fehlt aber dıe für 
die schleimbildenden Individuen charakteristische violette Über- 
deckung (Fig. 11). Auf dem Schrägagar bildet die Fluktuante II 
einen flachen Bakterienrasen, der im Innern grau durchscheinend, 
am Rande etwas weißlich gefärbt ist. Der Rasen ist abfließend im 
Gegensatz zu der ebenfalls weißlich-grauen, flachen Kultur der 
Mutante. Bei Abımpfung einer isolierten Kolonie der Fluktuante Ill 
erhält man wiederum nur Kolonien, welche der Elternkolonie voll- 
kommen gleich sind. 

Die Virulenz ist bei den Fluktuanten parallel zu der Herab- 
setzung der Kapselbildung gesunken. Bei der Fluktuante IH ist 
die dosis letalis minima für die Maus 0,5 cem Bouillonkultur. 

Erblichkeit der Fluktuation. Die 3 Fluktuanten sind in 
ihren Eigenschaften jede für sich außerordentlich beständig (inner- 
halb einer bestimmten, für jede Fluktuante konstanten Variations- 
breite). Die Fluktuanten I und II wurden bis jetzt fast 2 Jahre lang, 
die Fluktuante III über 3 Jahre lang beobachtet. Die Fortzüchtung 
durch das Plattengussverfahren ergibt, dass bei den 3 Fluktuanten 
die Nachkommen vollkommen den Elternkolonien gleichen. Der 
Mittelwert der Nachkommen verschiebt sich also bei Wegfall des 
Variationsreizes nicht. 

Tierpassagen, welche die modifizierte Form und die Mutante ın 
kürzester Zeit in den normalen Typus zurückverwandeln, lassen die 
Fluktuanten selbst nach zahlreicher Wiederholung anscheinend un- 
verändert. Bei Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II wurden 
20, bei Fluktuante III wurden 100 Mäusepassagen vorgenommen. 
Dabei geschah eine Zeitlang die Infektion mit eben tödlichen Dosen, 
und später, als es sich herausstellte, dass bei der Mutante der 
Rückschlag am raschesten durch Impfung mit enormen Dosen ein- 
tritt, wurden außerordentlich große Dosen zur Infektion verwendet. 
Auch hierdurch konnte kein Rückschlag in den normalen Typus 
erzielt werden. Die Fluktuante III ıst durch die 100 Tierpassagen 
nicht einmal in den Typus der Fluktuante II zurückverwandelt. 

Fortzüchiung auf dem Schrägagar lässt die Fluktuanten eben- 
falls unverändert; sie werden allmählich nur geringgradig ebenso 
wie der Typus durch Modifikation verändert, schlagen aber durch 
Plattenguss oder Tierpassage sofort wieder in den früheren Zustand 
(der Fluktuation) zurück. Auch wurde versucht, die Fluktuante I 
in II oder III umzuwandeln bezw. aus Kulturen der Fluktuante 1 
durch längeres Stehenlassen einige Individuen von II oder III zu 
gewinnen, also die gleiche Methode angewendet, bei der Fluktuante I 
aus dem normalen Typus hervorgegangen war. Auch dies war ohne 
Erfolg. Es waren höchstens modifizierte Kolonien oder Mutanten 
der Fluktuante I zu erhalten. 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 315 


Die Fluktuanten waren also von wesentlich höherer erblicher 
Konstanz als die anderen Variationen. 

Aus der Art der Gewinnung der Fluktuanten ergibt sich, dass 
zu ihrer Herbeiführung die stärkste Anhäufung der Stoffwechsel- 
produkte notwendig ist, dass sie also durch den stärksten Varia- 
tionsreiz entstehen; denn sie werden nur aus alten Kulturen des 
Typus gewonnen, nicht aber wie die modifizierte Form oder die 
Mutante auch bei Übertragung in kurzen Zwischenräumen. 

Entstehungsweise der Fluktuanten. Aus diesem Grunde 
ist bei den Fluktuanten eine Beobachtung ihrer Entwicklungsstadien 
wie bei der Modifikation und der Mutation nicht möglich. Denn 
sie gelangen bei der Aussaat alter Kulturen ın der folgenden Kultur- 
generation gleich in ihrem Endstadium zur Beobachtung. Des- 
halb schien es zunächst, dass die Fluktuanten ebenso wie die 
Mutante unmittelbar, d.h. ohne erblich konstante Zwischenformen 
aus dem Typus entstehen, was bei der extremen Fluktuante ein 
fast ebenso großer „Sprung“ wäre wie bei der Mutante. Gegen 
diese Entstehungsweise spricht aber folgendes: Wird von einer 
Schrägagarkultur des Typus nach einer bestimmten Zeit (10 bis 
14 Tage) eine Plattenaussaat gemacht, so erhält man meist allein 
die Fluktuante I, etwas später Fluktuante II und zuletzt (20 bis 
30 Tage) Fluktuante III. Nie wird Fluktuante III vor Fluktuante I 
oder II erhalten. Da die Ursache der Variation die Anhäufung 
der Stoffwechselprodukte ist, könnte man die Reihenfolge ım Auf- 
treten der Fluktuanten so erklären, dass aus Individuen des nor- 
malen Typus bei einer bestimmten Anhäufung der Stoffwechsel- 
produkte die Fluktuante Il entsteht, bei stärkerer Fluktuante II und 
bei stärkster Fluktuante III. Dies wäre möglich, wenn die Ent- 
stehung der Varianten alleın von der Einwirkung der Stoffwechsel- 
produkte abhängig wäre; doch siud hierbei noch zwei weitere Fak- 
toren beteiligt, welche die obige Annahme unwahrscheinlich machen. 
Die Stoffwechselprodukte wirken nämlich nicht nur varıerend, 
sondern auch wachstumshemmend; eine Variation bewirken sie aber 
nur bei denjenigen Individuen, welche im Wachstum begriffen sind, 
die also trotz der wachstumshemmenden Wirkung der Stoffwechsel- 
produkte noch zur Proliferation gelangen. Im Latenzstadium des 
Wachstums befindliche Keime werden, wie sich schon wiederholt 
zeigte, durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte nicht zur 
Variation gebracht. 

Berücksichtigen wir diese für die Enstehung der Varianten 
maßgebenden Bedingungen, sowie die Zeit, welche für die Bildung 
der Fluktuanten nötig ist, so folgt zunächst, dass die Fluktuanten 
unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechselprodukte entstehen; 
denn sie werden in den einzelnen Kulturen später als die anderen 
Varianten, also zuletzt erhalten. Sie entstehen demnach durch 


316 Toenniessen, Uber Vererbung und Kariabilität bei Bakterien. 


Proliferation der letzten noch wachsenden Individuen einer Kul- 
tur. Dabei kommt zunächst die am wenigsten abweichende Fluk- 
tuante I zur Beobachtung. Etwas später, also bei noch stärkerer 
Variationsursache, entsteht Fluktuante II. Auf Grund des oben 
gesagten lässt sich jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit entscheiden, 
ob die Fluktuante II unmittelbar aus dem Typus oder aus der 
Fluktuante I hervorgeht. Entstünde die Fluktuante II unmittel- 
bar aus Individuen des Typus, so müssten diese während einer 
gewissen Zeit, nämlich so lange, als die Bedingungen für die Bil- 
dung der Fluktuante 1 gegeben waren, ıhr Wachstum eingestellt 
haben. (Sonst müssten sie ın die Fluktuante I, zum mindesten in 
die Mutante oder in die modifizierte Form übergegangen sein. 
Letztere beiden kommen aber als Vorstufen der Fluktuante II 
nicht in Betracht, da sie, wie später erwähnt wird, nicht zur Bildung 
der Fluktuante II befähigt sınd.) Etwas später aber, also unter 
den Bedingungen des stärkeren Varationsreizes, müssten diese In- 
dividuen des normalen Typus ıhr Wachstum wieder aufgenommen 
haben und dadurch sprunghaft ın Fluktuante II übergegangen sein. 
Das ist aber nıcht wahrscheinlich; denn mit dem stärkeren Varia- 
tionsreiz hat auch die wachstumshemmende Wirkung der Stoff- 
wechselprodukte zugenommen, und es ist nicht einzusehen, dass 
Zellen, die aus irgend einer Ursache ihr Wachstum schon einmal 
eingestellt haben, bei Verstärkung dieser gleichen Ursache ihr 
Wachstum wieder aufnehmen. Aus diesem Grunde wird eine un- 
mittelbare Entstehung der Fluktuante II und noch mehr der Fluk- 
tuante III aus dem Typus unwahrscheinlich. Es bleibt also nur 
die Möglichkeit übrig, dass die Fluktuante III aus der Fluktuante Il 
und diese aus der Fluktuante I entstanden ist. Es ist auch leicht 
zu verstehen, dass die gleiche Generationsreihe des normalen Typus, 
die durch eine den Durchschnitt übertreffende Wachstumsfähigkeit 
trotz der Einwirkung der Stoffwechselprodukte weiter gewachsen ist, 
dadurch aber zur Entstehung der Fluktuante I geführt hat, durch 
weitere Fortsetzung ihres Wachstums in die Fluktuante II und vom 
Stadium der Fluktuante II aus ın die Fluktuante III übergegangen 
ist. Es wäre dies also eine von Generation zu Generation fort- 
schreitende, quantitativ zunehmende Abänderung, die nicht nur auf 
Grund des Vergleiches der fertigen Varianten, sondern auch ihrer 
Genese nach als fluktuierende Variation bezeichnet werden kann. 

Zur Stütze dieser Annahme mußte aber bewiesen werden, dass 
tatsächlich die Fluktuante III aus Fluktuante II und Fluktuante I 
hervorgehen kann. Es musste also aus Reinkulturen der Fluktuante I 
und II die Fluktuante III gewonnen werden, denn nur in diesen war 
ein sprunghaftes Entstehen der extremen Fluktuante aus dem nor- 
malen Typus auszuschließen. Es wurden also zunächst die Fluk- 
tuante I und II zwei Mauspassagen unterworfen, um sie möglichst 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. BleT 


typisch und durch die künstliche Kultivierung nicht irgendwie 
modifiziert zu erhalten. Dann wurden sie durch Plattenguss in 
einzelnen Kolonien isoliert und, nachdem sie sich als reine Linie 
und ın den für die Fluktuante I und II typischen Eigenschaften 
gezeigt hatten, wurde von einer einzeln stehenden Kolonie auf 
Schrägagar abgeimpft. Wie schon erwähnt, gelingt es nicht, aus 
Reinkulturen der Fluktuanten I und II lediglich durch Stehenlassen 
der Kulturen und Anfertigung einer Plattenaussaat nach längeren 
Zeiträumen noch stärker abweichende Fluktuanten zu gewinnen, 
wie dies beim Typus der Fall ist. Dies ist auch ohne weiteres 
verständlich. Denn die Fluktuanten I, Il und III entstehen aus 
dem Typus durch stärkste Einwirkung der vom Typus gebildeten 
Stoffwechselprodukte. Nun haben aber die Fluktuanten, wie aus 
ihrem viel weniger üppigen Wachstum hervorgeht, einen gegen den 
Typus wesentlich reduzierten Stoffwechsel. Wachsen sıe also in 
Reinkultur, so bilden sie weniger Stoffwechselprodukte als der 
Typus, und dadurch verliert der die Abänderung bewirkende Reiz 
an Intensität. Ich versuchte deshalb die Wirkung der Stoffwechsel- 
produkte bei den Fluktuanten dadurch zu verstärken, dass ich die 
im zusammenhängenden Bakterienrasen, also auf dem Schrägagar 
gewachsenen Kulturen nach verschieden langer Zeit auf einen neuen 
Schrägagar übertrugunddabei die aufdem ersten Nährboden gebildeten 
Stoffwechselprodukte (das Kondenswasser des Agars und den ganzen 
Bakterienrasen) auf den neuen Nährboden brachte. Dies gelang 
durch Anwendung steriler Glaskapillaren mit aufgesetztem Gummi- 
käppchen ganz leicht. Diese Art der Übertragung wurde bei den 
Fluktuanten I und Il in Serien von 7, 14 und 21 Tagen ausgeführt 
und vor jeder Übertragung auf einen neuen Nährboden eine Platten- 
aussaat der vorhergehenden Kultur angelegt, wie schon früher bei 
Schilderung der Gewinnung der Fluktuanten beschrieben. Schon 
in der zweiten Kulturgeneration wurden auf diese Weise bei sämt- 
lichen Serien der Flutuante I und II, also bei Übertragung in 7-, 
14-, und 21tägıgen Zwischenräumen einzelne Kolonien der Fluk- 
tuante III gewonnen. Dass es sich wirklich um Fluktuante III 
handelte, wurde durch 6 Mauspassagen festgestellt, welche die Fluk- 
tuante III nicht in den Ausgangstypus zurückverwandelten, wäh- 
rend die zur Kontrolle gleichzeitig Tierpassagen unterworfene jetzt 
schon fast 3 Jahre lang auf künstlichem Nährboden gezüchtete 
Mutante des Typus schon in der 5. Tierpassage zurückschlug. Es 
war also tatsächlich Fluktuante III aus Fluktuante I und II her- 
vorgegangen. 

Damit war der Beweis erbracht, dass die Fluktuante III aus 
den Fluktuanten II und I entstehen kann. Es ist dies aber nicht 
nur eine Möglichkeit der Entstehungsweise, sondern wohl der regel- 
mäßıge Vorgang; nicht nur die obigen Ausführungen über die 


318 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


Reihenfolge ım Auftreten der einzelnen Fluktuanten in der gleichen 
Kultur machen dies wahrscheinlich, sondern auch die später zu 
erwähnenden Beobachtungen über die progressive, d. h. umgekehrt 
gerichtete Fluktuation. Die Fluktuation unterscheidet sich 
also von der Mutation neben ihrer bedeutend stärker 
ausgeprägten Erblichkeit besonders dadurch, dass sie 
durch mehrere für sıch konstante Zwischenstadien, d.h. 
ım Laufe mehrerer Generationen zu ihrer Terminal- 
form führt. Hinsichtlich dieser allmählichen Entwicklung zeigt 
die Fluktuation Übereinstimmung mit den Vorgängen der Modifi- 
kation. Die Modifikation führt ebenfalls zu mehreren Varianten 
verschiedenen Grades der gleichen Abweichung. Auch bei ıhr ent- 
stehen nie die extremen Varianten durch einen Sprung aus dem 
Typus, sondern stets aus weniger abweichenden. Bei der Modifi- 
katıon sind jedoch diese Zwischenstufen nur von sehr geringer 
erblicher Konstanz; bei der Fluktuation zeigen sowohl die Zwischen- 
stufen als auch die Termmalform die höchste experimentell erziel- 


bare Erblichkeit. 


Es folgt hieraus, dass die Bildung einer kontinuierlichen Reihe 
gleichsinniger Varianten bei verschiedenen Varıationsformen vor- 
kommt und an sich noch nicht für den Variationscharakter, also 
auch für die Erblichkeit bestimmend ist (Plate unterscheidet des- 
halb somatische und „mutative“ Fluktuationen). Auch der morpho- 
logische Effekt einer Variation ist nıcht maßgebend für den Variations- 
charakter; denn die Modifikation führt zu den gleichen morpho- 
logischen Abänderungen wie die Fluktuation. 


Reversionsversuche an den Fluktuanten. Es wurde schon 
erwähnt, dass die einzelnen Fluktuanten selbst durch den stärksten 
für die Wiedergewinnung des Typus wirksamen Reiz, nämlich durch 
Tierpassagen nicht in den Typus zurückverwandelt werden konnten, 
ja dass die stärker abweichenden Fluktuanten nicht einmal das 
Stadium der nächsten, weniger abweichenden Form erreichten. Bei 
Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II 20, bei Fluktuante 111 
bis jetzt 100 Tierpassagen (Maus) angewendet. Es zeigte sich aber 
doch eine deutliche Zunahme der Kapselbildung und Virulenz, die 
zum Teil nach einigen Agarpassagen wieder zurückging, also auf 
Modifikation beruhte, zum Teil aber doch erblich war. Bei Fluk- 
tuante III wurde die Frage, ob durch wiederholte Tierpassagen eine 
wenn auch nur geringe, aber doch erbliche Annäherung an die 
Fluktuante Il zu erzielen ıst, näher untersucht. 


Dies ließ sich durch Feststellung der Zunahme von Kapsel- 
bildung und Virulenz entscheiden. Die Virulenz stieg bei subl 
kutaner Infektion (24stündige Bouillonkulturen) folgendermaßen: 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 319 


Fluktuante III vor Tierpassagen 0,5 Maus bleibt am Leben 
nach 10. Maus Q,1 Sy Fr 5; 
ll... , 0:2 Maus stirbt in 3 Tagen 
Blasen 0] 2 > „ 3 Tagen 
Dr ls Maus bleibt am Leben 
a 0) a | Maus stirbt in 2 Tagen 
DOSE ON! en % „ 36 Stunden 
to 0:01 Tr RR TS TEEN 
200 5,7001 es 0) „> 
er 0.001 ER SHE, 


0.000001 en ni „ 4 Tagen. 

Es war also eine erhebliche Zunahme der Virulenz durch Tier- 
passagen zu erzielen. Diese Zunahme der Virulenz war von einer 
gleichzeitigen Zunahme der Kapselbildung (Tierkörper) und Schleim- 
bildung (bei künstlicher Kultivierung) begleitet. Doch hatte diese 
letztere Fähigkeit noch nicht wieder den Grad wie bei Fluktuante II 
(aus dem Typus isoliert, ohne Tierpassagen) erreicht. 

Jetzt wurde versucht, ob die Zunahme der Virulenz eine erb- 
liche war oder ob sie durch Züchtung außerhalb des Tierkörpers 
wieder zurückging. Die Kultur wurde zu diesem Zweck alle 7 Tage 
neu auf Agar übertragen und die Virulenz im Laufe der Agar- 
passagen geprüft, indem von den betreffenden Agarkulturen Bouillon- 
kulturen angelegt und diese nach 24stündigem Wachstum ın die 
Maus verimpft wurden. Die Virulenz war folgende: 

Nach SO. Maus unmittelbar 0,000001 Maus stirbt in 4 Tagen 


en 2. Agarpassage 0,001 e » „ 44 Stunden 
0,00001 Maus bleibt am Leben 
= 58 = 0,001 Maus stirbt in 52 Stunden 
0,0001 55 EN 
10. ie 0,001 5: Re NE er 
0,0001 Maus bleibt am Leben 
ey alar r 0,01 Maus stirbt in 72 Stunden 
0,001 55 wie Tagen 
20: 0,01 % DA Stunden 
0,001 Maus bleibt am Leben 
u ” 0,01 Maus stirbt in 50 Stunden 
0,001 e" 0 Tagen: 


Es geht also die durch Tierpassagen erreichte. Virulenzsteige- 
rung der Fluktuante III durch die künstliche Kultivierung zunächst 
zurück, bleibt aber von der 15. Agarpassage ab auf einer konstanten 
Höhe. Die Dosis letalıs minima ist 0,001 geworden, also ungefähr 
1000mal höher als vor den Tierpassagen, jedoch nicht so hoch wie 
die Virulenz der Fluktuante II, bei der 0,000001 auch nach beliebig 
langer künstlicher Kultivierung meist in 48 Stunden tödlich ist. 
Auch die durch die Tierpassagen erzielte Zunahme der Kapsel- und 
Schleimbildung der Fluktuante III bleibt trotz der künstlichen 
Kultivierung auf einem höheren Wert als vor den Tierpassagen. 
Die Fluktuante III hat sich also durch Anwendung einer großen 
Reihe von Tierpassagen sehr langsam und allmählich der Fluk- 


320 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


tuante II genähert, und zwar ın erblicher Weise. Es ist dies eine 
progressive Fluktuation, sie findet allmählich statt. Dies ist ein 
weiterer Beweis dafür, dass auch die retrogressive Fluktuation stets 
allmählich vor sich geht. 

Bei Fortsetzung der Tierpassagen wäre also zu erwarten, dass 
die Fluktuante III allmählich das Stadium der Fluktuante II, hier- 
auf das Stadıum der Fluktuante I erreicht und schließlich ganz in 
den Typus zurückgeht. 

Wesen der Fluktuation. Vom Wesen der Fluktuation 
können wir uns auf Grund der sichtbaren Veränderungen und deren 
Erblichkeit folgende Vorstellung machen. Die zunächst erhaltene 
Fluktuation war retrogressiv. Sie bestand darin, dass die Fähig- 
keit der Kapselbildung bei den Fluktuanten in verschiedenem Grade 
bis zum anscheinend völligen Verschwinden abnahm. Lediglich auf 
eine Hemmung oder Inaktivierung von Anlagen kann diese Ver- 
änderung nicht zurückgeführt werden. Denn wir sahen, dass bei 
der Modifikation ein erheblicher Grad von Hemmung und bei der 
Mutation sogar eine völlige Inaktivierung von Anlagen jederzeit 
durch gewisse Bedingungen rückgängig wird und in die normale 
Funktion wıeder übergeht. 

Es könnte sich um eine dauernde Lähmung der betreffenden 
Anlagen im Sinne einer Schädigung oder „Degeneration“ handeln. 
Es müssten dann bei den drei Fluktuanten je nach dem Grade 
der Abänderung drei Grade der Degeneration vorliegen, von denen 
sich jede ganz in der gleichen Ausdehnung der Degeneration weiter 
vererbt. Dies ist aber sehr unwahrscheinlich. Denn man kann 
kaum annehmen, dass die Degeneration einer Anlage, wenn sie ein- 
mal so hochgradig geworden ist, dass die Anlage trotz bester Be- 
dingungen für ıhre Entfaltung kein Anlageprodukt mehr bildet, 
genau in diesem Grade der Schädigung bei der Proliferation er- 
halten bleibt und weiter vererbt wird. Diese konstante Vererbung 
der drei Fluktuanten, auf Grund deren keine Fluktuante in die 
andere übergeht, spricht gegen eine Veränderung der Anlagen 
im Sinne einer bloßen Schädigung oder „Degeneration“. Denn 
Degenerationen aus äußeren Gründen gehen unter Wiederherstellung 
günstiger Bedingungen zurück, Degenerationen aus inneren Gründen 
haben eine Neigung zur Verstärkung. Ich nehme infolgedessen ın 
Konsequenz mit der Deutung der Modifikation und Mutation an, 
dass der gleiche variierende Reiz, der bei gelindester Einwirkung 
eine Hemmung von Erbeinheiten und bei stärkerer eine Inaktı- 
vierung veranlasst, bei stärkster Einwirkung zu einer völligen Zer- 
störung der Anlagen, also zu einer Ausschaltung dieser Anlagen 
aus der Vererbungssubstanz führt. Theoretisch können wir uns 
vorstellen, dass diese Anlagen bei der Proliferation so stark ge- 
schädigt werden, dass sie sich am Wachstumsvorgang des Idio- 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 39 
o- Im 


plasmas nicht beteiligen können und so aus dem Gefüge der Ver- 
erbungssubstanz verschwinden. Wir nehmen also zur Erklärung 
des erblichen Verlustes einer sichtbaren Eigenschaft bei 
der Fluktuation einen wirklichen Verlust der betreffen- 
den Erbeinheiten an. 

Dadurch wird es unwahrscheinlich, dass die Fähigkeit der Kapsel- 
bildung auf einer einzigen Erbeinheit beruht. Denn es ist nicht 
vorstellbar, dass eine einzige Erbeinheit zu einem verschiedenen 
Teile verloren geht. Man müsste diese Erbeinheit dann wieder in 
einzelne, unabhängig voneinander funktionsfähige Faktoren teilen. 
Wenn wir aber bei der Vorstellung der Erbeinheit als des kleinsten 
für eine Eigenschaft maßgebenden Teilchens der Erbsubstanz fest- 
halten, müssen wir in unserem Falle annehmen, dass die in ver- 
schiedenem Grade zu Verlust gehende sichtbare Eigenschaft auf 
mehreren Erbeinheiten beruht. Die völlige Ausbildung der normal 
entwickelten Kapsel beruht also auf dem Zusammenwirken mehrerer 
gleichsinniger Faktoren. Die Kapselbildung ist ein polygenes Merk- 
mal, ein „biologisches Radiıkal“. 

Die verschiedenen für sich erblich konstanten Stadien der retro- 
gressiven Fluktuation beruhen also darauf, dass je nach dem Grade 
der Abweichung eine oder mehrere der gleichsinnigen Erbeinheiten 
verloren gehen. Nur durch diese Annahme lässt sich m. E. die 
erbliche Konstanz der verschiedenen Stadien begreifen. Besonders 
klar wird dies durch das Verhalten der einzelnen Fluktuanten bei 
weiteren Varjabilitätsversuchen und durch den Gegensatz der Fluk- 
tuation zu den anderen Formen der Variabilität, besonders der Mu- 
tatıon. Hierbei werden die gleichsinnigen Erbeinheiten in ihrer 
Gesamtheit gleichzeitig verändert. Das biologische Radikal wird im 
vollen Umfange latent bezw. aktiv. Dadurch erklärt sich der große 
Unterschied, der „Sprung“, welcher vom normalen Typus zur Mu- 
tante führt, gegenüber den schrittweisen Veränderungen, welche 
die Fluktuation bewirkt. 

Der Entstehungsmechanismus der Fluktuation wäre also 
folgendermaßen zu denken: Wächst eine Generationsreihe des nor- 
malen Typus unter dem schon sehr gesteigerten Einfluss der Stoff- 
wechselprodukte weiter, so geht zunächst eine gewisse geringe An- 
zahl von Erbeinheiten zu Verlust. Dabei entsteht die Fluktuante I, 
welche für sich konstant bleibt, wenn sie in diesem Zustand isoliert 
und in Reinkultur, also nicht unter dem Einfluss der Stoffwechsel- 
produkte des Typus, fortgezüchtet wird. Geht aber ihr Wachstum 
in der alten vom Typus angelegten Kultur noch weiter, so werden 
durch Fortdauer und ech sogar Verstärkung des Variations- 
reizes noch weitere Erbeinheiten zu Verlust gebracht, wodurch die 
Fluktuante II entsteht. Diese ist, wenn sie jetzt isoliert wird, 
ebenfalls in dem erreichten Stadium konstant. Gelangt sie jedoch 

XXXV. 21 


322 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


in der alten Kultur zur weiteren Proliferation, so entsteht durch 
einen weiteren Verlust von Erbeinheiten die Fluktuante Ill. Diese 
ist die Terminalform der Fluktuation. 

Wenn wir die retrogressive Fluktuation auf einen Verlust von 
Erbeinheiten zurückführen, so müssen wir annehmen, dass bei der 
Reversion der Fluktuanten, auch wenn sie nur zu einer Annäherung 
der extremen Fluktuante an die Fluktuante Il durchgeführt wurde, 
die vordem zu Verlust gegangenen Erbeinheiten teilweise und all- 
mählich wiedergewonnen werden. Denn diese progressive Verände- 
rung war ebenso erblich wie retrogressive Fluktuation. Die pro- 
gressive Fluktuation bringt also den Gewinn neuer, vererbbarer 
Eigenschaften mit sich und ist experimentell zu beobachten. 

Diese Annahme erscheint auf Grund dessen, was wir über die 
Vererbung erworbener Eigenschaften vorausgesetzt haben, als mög- 
lich. Die Erwerbung einer neuen Eigenschaft hat als Ursache eine 
innere Fähigkeit des Idioplasmas. Diese Fähigkeit ist in unserem 
Falle gegeben; denn sonst könnte sich ja das Schleimbildungs- 
vermögen nicht beim Typus finden. Der progressiv wirkende Reiz 
ıst durch den Aufenthalt ım Tierkörper gegeben. Er führt dazu, 
dass das Idioplasma auf Grund seiner derzeitigen Struktur die neue 
Erbeinheit bildet, ebenso wie er dıe Reaktion der schon entwickelten 
Erbeinheit veranlasst. Denn es ist anzurehmen, dass „die ein- 
zelnen Organe (hier das Vıskoplasma) durch Reize, auf welche sie 
zu reagieren eingerichtet sind, auch in das Leben gerufen werden“ 
(OÖ. Hertwig, 5). Ist man also imstande, den für die Entstehung 
bestimmter Anlagen adäquaten Reiz lange genug einwirken zu 
lassen, so kann man bei gegebener Fähigkeit des Idioplasmas diese 
Anlagen zu bilden, eine progressive Fluktuation, d. h. eine Er- 
werbung vererbbarer Eigenschaften erzielen. Unseren Befunden 
nach zu schließen geht dies allerdings äußerst langsam vor sich, 
selbst wenn es sich um die Bildung von Erbeinheiten handelt, 
welche schon einmal vorhanden waren. 

Obwohl die retrogressive Fluktuation die anderen Variationen 
an Erblichkeit weit übertraf und obwohl die extreme Fluktuante 
durch lange Einwirkung des progressiven Reizes nicht in den Typus 
zurückverwandelt werden konnte, war die Fluktuation doch nicht 
absolut erblich. Dies ist aber von keiner Variationsform, auch nicht 
von der artbildenden, zu verlangen: denn eine absolute Beständig- 
keit des Artbildes existiert bei keiner Art. Infolgedessen spricht 
nichts gegen die Annahme, dass die Fluktuation als artbildende 
Varıationsform ın Betracht kommt. 

Die Benennung „Fluktuation“ rechtfertigt sich zum Teil durch 
Anschauungen und Beobachtungen, welche schon von Darwin her- 
rühren, zum Teil durch Ergebnisse der modernen Erblichkeits- 
forschung. Fluktuierende Variabilität wird jetzt gewöhnlich jede 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 32: 


Variabilität genannt, welche zwischen normalem Typus und extremer 
Variante kontinuierliche Reihen von Übergängen, Zwischenformen 
bildet. Man versteht darunter im allgemeinen die Erscheinung, 
dass die Individuen einer reinen Linie in der gleichen Generation 
sich nie ganz gleich sind, sondern in ihren Eigenschaften um einen 
bestimmten Mittelwert schwanken. Hierher gehören die schon er- 
wähnten Plus- und Minusvarianten. Diese fluktuierende Variabilität 
ist jedoch nicht erblich. Es gelingt nicht durch Selektion von Plus- 
und Minusvarianten eine erblich veränderte Rasse zu gewinnen 
(Johannsen). Ich möchte deshalb diese Form der Variabilität ın 
Anknüpfung an de Vries „individuelle Variabilität“ nennen und 
die Bezeichnung Fluktuation für die oben beschriebene Varıations- 
form anwenden, welche ebenfalls ın kontinuierlichen Reıhen statt- 
findet, aber erblich ist. Den Begriff des Erblichen hat schon Dar- 
wın mit der Fluktuation verbunden. Es erscheint mir auf Grund 
meiner Resultate als begründet, den von Dar wın geschaffenen Be- 
griff der Fluktuation wieder zur Geltung zu bringen, und zwar in 
seiner ursprünglichen Bedeutung. 

Als charakteristische Merkmale der Fluktuation wurden dem- 
nach experimentell festgestellt: der außerordentlich hohe Grad von 
Erblichkeit (Reversion nur durch sehr lange fortgesetzte Einwirkung 
des progressiv wirkenden Reizes möglich) und die allmähliche Ent- 
wicklung der Terminalform unter Bildung einer kontinuierlichen 
Reihe erblicher Zwischenstufen. 


Uber die Beziehungen der einzelnen Variationsformen 
zueinander. 


Die Beständigkeit der verschiedenen erblichen Varianten wird 
besonders deutlich, wenn man sie weiterhin auf Variabilität prüft. 
Der Reiz, welcher zur Entstehung der Varianten führt, erleidet, 
sobald die Varianten einmal in Reinkultur gewonnen sind und auf 
die gleiche Weise wie der normale Typus fortgezüchtet werden, 
eine Veränderung seiner Intensität: denn die Varianten haben sämt- 
lich einen gegen den normalen Typus reduzierten Stoffwechsel, was 
sich durch die Abnahme der Schleimbildung bemerkbar macht. 
Dadurch verliert der Reiz für eine weitergehende Veränderung der 
Varianten an Intensität. Unter diesem Gesichtspunkt wird das 
Verhalten der isolierten Varianten gegenüber Variabilitätsversuchen 
verständlich. 

Die modifizierte Form wächst viel weniger üppig als der Typus. 
Weitaus die Mehrzahl der Individuen bildet keine Kapsel mehr. 
Aus ıhr lassen sich keine Mutanten oder Fluktuanten gewinnen; 
auch bei beliebig langem Stehenlassen der Kulturen werden immer 
nur wieder modifizierte Kolonien erhalten. Die Gewinnung von 


Mutanten und Fluktuanten ist erst dann wieder ınöglich, wenn 
2 


394 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


durch Plattenguss oder Tierpassagen der normale Typus wieder 
gewonnen wird. So erklärt sich die auch von anderen Autoren, 
besonders Baerthlein, beobachtete Tatsache, dass die pathogenen 
Bakterien gerade in den kurz den Tierpassagen folgenden Kulturen 
besonders leicht mutieren. 

Die Fluktuanten I, II und III zeigen in gleicher Reihenfolge 
eine zunehmende Reduktion des Stoffwechsels und der Schleim- 
bildung. Sie sind, wie schon erwähnt, nicht mehr imstande, durch 
Anhäufung ihrer Stoffwechselprodukte auf gleiche Weise wie der 
Typus Fluktuanten abzuspalten. Für die Entstehung von Mutanten 
genügen dagegen die von Fluktuanten I und II gebildeten Stoff- 
wechselprodukte. Die Fluktuanten I und Il sind imstande, unter 
den gleichen Kulturbedingungen wie der normale Typus Mutanten 
zu bilden, die sich’morphologisch nicht von der Mutante des nor- 
malen Typus unterscheiden. Fluktuante III dagegen bildet keine 
Mutanten mehr. Erst wenn sie sich durch 80 Tierpassagen der 
Fluktuante II genähert und das Vermögen der Schleimbildung ın 
gewissem Grade wiedergewonnen hat, ist sie zur Bildung von Mu- 
tanten befähigt. Die Mutanten der Fluktuanten zeigen die gleichen 
Eigenschaften hinsichtlich der Vererbung und des Rückschlags wie 
die Mutanten des normalen Typus. Beim Rückschlag entstehen 
wieder die entsprechenden Fluktuanten, ein weiterer Beweis für 
die erbliche Konstanz der einzelnen Fluktuanten. Zur Modifikation, 
welche durch die geringste Einwirkung der Stoffwechselprodukte 
herbeigeführt wird, sind sämtliche drei Fluktuanten befähigt. Die 
Modifikation zeigt sich darın, dass jede Fluktuante bei fortgesetzter 
künstlicher Kultivierung (Schrägagar) allmählich immer schmalere 
Kapseln bildet bıs zu einem für jede Fluktuante bestimmten Minimal- 
wert. Bei Fluktuante III ıst dann gar keine Schleimhülle mehr 
vorhanden, nur breites Ektoplasma. Durch Tierpassagen wird sofort 
der für jede Fluktuante charakteristische Maximalwert der Kapsel- 
bildung wıeder erreicht, ebenso wie bei der modifizierten Form 
des Typus. | 

Die stärkste Reduktion des Stoffwechsels weist die Mutante 
auf. Bei ıhr ist also der für eine weitere Variation ın Betracht 
kommende Reiz am geringsten, und so wird es verständlich, dass 
die Mutante keine weiteren Variationsformen abspaltet, ja dass sıe 
in alten Kulturen spontan ın den Typus zurückschlägt. Nur zur 
Modifikation ist die Mutante befähigt. Das Ektoplasma nımmt bei 
sehr langer Kultivierung auf dem Schrägagar bis zum fast völligen 
Verschwinden ab und umgekehrt durch Tierpassagen (bevor der 
Rückschlag eintritt) zum ursprünglichen Wert wieder zu 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 325 


Die arterhaltende Bedeutung („Zweckmäßigkeit“) der 
Variationen. 

Sowohl die progressiven als die retrogressiven Variationen er- 
weisen sich als nützlich für die Erhaltung der Art. 

Die progressiven Variationen führten dazu, dass die schleim- 
hüllenlosen Varianten beim Aufenthalt im Tierkörper ihre Schleim- 
hüllen wieder bildeten. Durch die Schleimhüllen sind die Bazillen 
gegen die bakteriziden Kräfte des Tierkörpers geschützt; denn die 
Varianten, welche keine Schleimhüllen besitzen, gehen im Tierkörper 
zugrunde, wenn nicht, wie bei den Reversionsversuchen, enorme 
Mengen zur Infektion benützt werden. Wir müssen auch annehmen, 
dass die Eigenschaft, beim Aufenthalt im Tierkörper sehr rasch die 
Schleimhülle zu bilden, phylogenetisch durch Anpassung an die 
bakteriziden Substanzen des Tierkörpers entstanden ist (vermutlich 
zunächst durch Anpassung an den toten Tierkörper, der geringere 
bakterizide Eigenschaften hat). Die Bildung der Schleimhüllen beim 
Aufenthalt im Tierkörper erscheint demnach als „zweckmäßig“ und 
manche Autoren haben sich zu der Annahme verleiten lassen, dass 
die Schleimhüllen aus Gründen der Zweckmäßigkeit von den Ba- 
zillen gebildet würden, um sich gegen die bakteriziden Substanzen 
zu schützen. 

Auch die retrogressiven Variationen erscheinen „zweckmäßig“. 
Denn sie treten durch die Bedingungen der künstlichen Kultivierung 
ein und zwar durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte. Sie 
führen zu einer Reduktion des Stoffwechsels und bewirken, dass 
die retrogressiven Varianten unter den gleichen Bedingungen der 
künstlichen Kultivierung länger lebensfähig sind als der Typus. 

Trotzdem darf als Ursache der Variationen nicht die Zweck- 
mäßigkeit angenommen werden. Zweckmäßigkeit als Ursache, als 
„energetisches Prinzip“ eines Vorgangs ist nur denkbar, wenn der 
Vorgang in seinem Ablauf beeinflusst wird durch eine von dem 
materiellen Substrat des Vorgangs unabhängige, also exogene Kraft. 
Für eine derartige „zweckmäßige“ Beeinflussung ist es charakte- 
ristisch, dass der Vorgang auf Grund einer Erfahrung zu einem 
gewollten Ende geführt wird. Dies setzt das Wirken eines erinne- 
rungsfähigen und zielbewussten Wesens voraus, welches außerhalb 
der Materie des Vorgangs steht. 

Die Ursache der Variationen dagegen ist eine endogene, wie 
schon bei der Frage nach der Erwerbung erblicher Eigenschaften 
erwähnt: nämlich das Idioplasma mit der ihm innewohnenden Fähig- 
keit, auf äußere und innere Reize zu reagieren und diese Reaktionen 
unter Umständen erblich zu fixieren. Will man aber dennoch die 
Zweckmäßigkeit mit der Erklärung des Variationsvorgangs ver- 
binden, so kann man mit einer gewissen Willkür Variationen dann 
zweckmäßig nennen, wenn sie arterhaltende Wirkung haben. Dann 


396 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


ist jedoch „Zweckmäßigkeit* kein absolut vorhandener Faktor, 
sondern ein vom Beobachter dem Vorgang untergeschobener sub- 
jektiver Begriff. Diese Zweckmäßigkeit zeigt sich darin, dass der 
Folgezustand einer Variation gegenüber dem veranlassenden Reiz 
für das Leben der Art irgendwie förderlich ist. Hieraus ergibt 
sich, dass die „Zweckmäßigkeit“ einer Variation ein Begriff ıst, der 
erst von dem Augenblick an existieren und mit dem Variations- 
vorgang verbunden werden kann, ın dem der Folgezustand der 
Variation fertig ausgebildet und zu den umgebenden Reizen in Be- 
ziehung getreten ist. Wie soll also die Zweckmäßigkeit imstande 
sein, die vorausgehenden Phasen des Vorgangs zu beeinflussen und 
als Ursache auf den Verlauf des Vorgangs einzuwirken, bevor sie 
selber vorhanden ıst!? Bei Variationen ist also die Zweckmäßig- 
keit erst der Folgezustand, eine Begleiterscheinung des Vorgangs, 
aber keinesfalls dessen Ursache. 

Weit mehr als die bloße Logik zwingt uns die Berücksichtigung 
der Tatsachen zu der Erkenntnis, dass die Zweckmäßigkeit als Ur- 
sache der Variationen nicht in Betracht kommen kann. Denn nur 
ein Teil der Variationen erwies sich bei dem Entwicklungsprozess 
der Arten und erweist sich auch heute noch als „zweckmäßig“, eın 
anderer Teil nicht. Dieser wird durch den Kampf ums Dasein 
ausgeschaltet. Das Überwiegen der zweckmäßigen Reaktionen, wie 
es sich unserer jetzigen Beobachtung zeigt, ıst also die Folge der 
Selektion. 

Die Tatsache, dass die Reaktionen des Idioplasmas auf äußere 
Reize meist arterhaltende Wirkung haben, ist demnach nicht auf 
einen bewussten Zweck der Arterhaltung zurückzuführen. Die 
„Zweckmäßigkeit“ in den Reaktionen des Idioplasmas muss viel- 
mehr als notwendige Voraussetzung für die Existenz der lebenden 
Substanz gelten. Ohne diese Eigenschaft wäre die lebende Sub- 
stanz, wenn sie überhaupt entstanden wäre, schon längst wieder 
ausgestorben. 

Von diesem Standpunkt aus lässt sich das Vorkommen der 
schleimbildenden Form des Friedländer-Bazillus als pathogener Rasse 
dadurch erklären, dass nur sie im Tierkörper lebensfähig ıst und 
zwar auf Grund der inneren Fähigkeit, auf den Reiz der bakteri- 
zıden Substanzen die Schleimhüllen zu bilden ?). Die übrigen Rassen 
gehen dagegen beim Aufenthalt im Tierkörper zugrunde. 

Andererseits ist die anscheinend so zweckmäßige retrogressive 
Variation mit einem sehr unzweckmäßigen Vorgang kombiniert. 


2) Die Virulenz ist hauptsächlich durch die Schleimhüllen bedingt und 
zwar in unspezifischer Weise. Sie ist jedoch in gewissem Grade auch von art- 
spezifischen Eigenschaften des Endo- und Ektoplasmas abhängig. Diese genügen 
aber nicht dazu, um dem Bakterium selbst für die empfänglicheren Tierarten eine 
in Betracht kommende Pathogenität zu verleihen. (Näheres hierüber vgl. Toen- 
niessen, Centralbl. f. Bakt. Bd. 73, p. 272.) 


Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 397 


Denn die retrogressiven Varianten entstehen in einem Stadium der 
Kultur, in dem es schon zu einer beträchtlichen Anhäufung der 
Stoffwechselprodukte gekommen ist. Sie werden also ım Zustand 
des Wachstums von der schädlichen Wirkung der Stoffwechsel- 
produkte betroffen und gehen, wie Versuche ergeben haben, in der 
gleichen Kultur viel eher zugrunde als die ältesten Individuen, die 
zur Zeit der Anhäufung der Stoffwechselprodukte schon ım Latenz- 
stadium des Wachstums sich befinden. Nur wenn die retrogressiven 
Varianten nicht zu lange Zeit nach ihrer Entstehung isoliert werden 
und in Reinkulturen weiter wachsen, sind sie bei künstlicher Kultı- 
vierung länger existenzfähig als der Typus. 

Zusammenfassung. 

Die den Versuchen zugrunde gelegte „reine Linie* war ein 
Stamm des Friedländer’schen Pneumonie-Bazillus. Die Erschei- 
nungen der Variabilität und Vererbung wurden an einer Eigenschaft 
biochemischer Natur, nämlich dem Schleimbildungsvermögen, be- 
obachtet. 

Die natürlichen Existenzbedingungen, welche den Phaenotypus 
unverändert erhalten, sind durch den Aufenthalt im Tierkörper ge- 
geben, als abändernder Reiz wurden die bei der künstlichen Kultı- 
vierung sich anhäufenden Stoffwechselprodukte verwendet. Die 
durch die Einwirkung der Stoffwechselprodukte erzielten Variationen 
waren retrogressiv, d.h. sie bestanden in einer Abnahme sichtbarer 
Eigenschaften und sind zurückzuführen auf eine Beeinflussung von 
Stoffwechselfunktionen durch Anhäufung von Stoffwechselprodukten. 
Der Aufenthalt im Tierkörper wirkte im entgegengesetzten Sinne, 
d. h. als progressiver Reız. 

Die Vererbung des unveränderten Phaenotypus fand nicht nur 
unter ständiger Einwirkung des progressiv wirkenden Reizes, sondern 
auch bei künstlicher Kultivierung statt, wenn nur eine zu intensive 
Einwirkung des retrogressiv wirkenden Reizes vermieden wurde. 
Dadurch war die Vererbung auf das Beharrungsvermögen der Erb- 
einheiten zurückgeführt. 

Die Variabilität zeigte sich in drei verschiedenen Variations- 
formen, die je nach Intensität und Dauer des abändernden Reizes 
eintraten. Der Variationscharakter ließ sich sehr scharf durch Ver- 
erbungsversuche bestimmen, indem die Kultivierung unter Wegfall 
der abändernden Bedingungen und durch Einwirkung des pro- 
gressiv wirkenden Reizes fortgesetzt wurde. Die Variationen wurden 
durch Züchtung der Bakterien in Massenkulturen (hauptsächlich 
Schrägagar) herbeigeführt und die Varianten aus den Massenkulturen 
durch das Plattengussverfahren isoliert. 

Die verschiedenen Variationsformen waren: 

1. Die Modifikation. Durch gelindeste Einwirkung der Stoff- 
wechselprodukte geht das Schleimbildungsvermögen im Laufe 


328 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 


mehrerer Generationen allmählich zurück, bis zum völligen Ver- 
schwinden bei den extrem modifizierten Individuen. Die meisten 
Individuen der Massenkulturen wurden von der Veränderung be- 
troffen. Durch Tierpassagen stellt sich das Schleimbildungsvermögen 
sofort, beim Wachstum in isolierten Kolonien allmählich wieder ın 
normalem Umfang ein. Die Modifikation beruht auf einer Hem- 
mung von Anlagen, die sich schon bei Wegfall des Variationsreizes 
wieder normal entfalten. 

2. Die Mutation. Durch stärkere Einwirkung der Stoffwechsel- 
produkte geht das Schleimbildungsvermögen plötzlich ganz verloren 
und zwar nur bei einem geringen Teil der Individuen der Massen- 
kulturen. Diese Veränderung vollzieht sich im Laufe einer Gene- 
ration, also „sprunghaft“. Sie ist bei der üblichen Art der Über- 
tragung erblich, schlägt aber durch Tierpassagen (allerdings schwerer 
als die Modifikation) und auch durch Aussaat alter Kulturen wieder 
in den Ausgangstypus zurück. Bei der Mutation handelt es sich 
um einen Valenzwechsel von Erbeinheiten. Die retrogressive Mu- 
tation beruht auf dem Inaktivwerden von Anlagen, der Rückschlag, 
d.h. die progressive Mutation auf dem Aktivwerden latenter An- 
lagen. 

3. Die Fluktuation. Durch stärkste Einwirkung der Stoffwechsel- 
produkte entstehen mehrere Varianten, die sich immer nur ın sehr 
spärlicher Zahl in den Massenkulturen finden. Nach dem Grade 
ihrer Abweichung bilden sie eine kontinuierliche Reihe. Es wurden 
drei Fluktuanten isoliert. Es ließ sich zeigen, dass die extremen 
Fluktuanten nicht unmittelbar aus dem Typus, durch einen „Sprung“ 
wie die Mutanten entstehen, sondern durch eine allmähliche, ım 
Laufe vieler Generationen zunehmende Abänderung, die zu erb- 
lichen Zwischenformen führt. 

Die Fluktuation zeigt von den erzielten Variationsformen den 
weitaus höchsten Grad von Erblichkeit. Selbst durch eine große 
Reihe von Tierpassagen (100) ließ sich keine Reversion der Fluk- 
tuante III in den Typus erzielen, doch trat hierbei eine stetig zu- 
nehmende (also ebenso allmählich wie die retrogressive Fluktuation 
verlaufende) und zwar erbliche Wiederannäherung der extremen 
Fluktuante an die Fluktuante II ein. Es ist infolgedessen wahr- 
scheinlich, dass bei Fortsetzung der Tierpassagen sogar völlige 
Rückkehr in den Typus zu erzielen ist. 

Die retrogressive Fluktuation führt wahrscheinlich zu einem 
Verlust, die progressive dementsprechend zu einem Gewinn von 
Erbeinheiten. Die Fluktuation kommt als artbildende Variations- 
form in Betracht, während die Modifikation und Mutation nicht 
zur Überschreitung der Artgrenzen führen. 


Biologisches Centralblatt 1915. | 112 











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Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 399 


Literatur. 
Vererbungs- und Variabilitätsforschung: 
. Darwin, Die Entstehung der Arten. 1859. 
. Haeckel, Generelle Morphologie. 1866. 
— ‚ Natürliche Schöpfungsgeschichte. 1889. 
Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. 1884. 
Hertwig, Oskar, Allgemeine Biologie. 1912. 
Hertwig, Richard, Lehrbuch der Zoologie. 1912. 
Weismann, Vorlesungen über Deszendenztheorie. 1913. 
Plate, Vererbungslehre. 1913. 
— , Selektionsprinzip. 1913. 
10. — , Leitfaden der Deszendenztheorie. 1913. 
ll. Johannsen, Elemente der exakten Erblichkeitslehre. 1913. 
12. Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. 1911. 
13. Roux, Uber die bei der Vererbung von Variationen anzunehmenden Vor- 
gänge. 1913. 
14. Goldschmidt, Einführung in die Vererbungswissenschaft. 1913. 
15. Haecker, Allgemeine Vererbungslehre. 1912. 


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Bakteriologıie. 

Aus der großen Zahl der Originalarbeiten über die Variabilitätserscheinungen 
sind nur die genannt, welche zu meinen Befunden in unmittelbarer Beziehung stehen. 
16. Koch, Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfektionskrankheiten. 1878. 
17. Hauser, Über Fäulnisbakterien 1885. 

18. Kruse, Ztschr. für Hyg. 1891. 

19. Neisser und Massini, Arch. f. Hyg. 1907. 

20. Beijerinck, Mutation bei Mikroben (Folia miecrobiol. 1912). 

21. Baerthlein, Arb. a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte 1912 und die dort eitierten 
Arbeiten des gleichen Verf. 

22. = Centralbl. f. Bakt. Abt. I, Ref. Bd. 57 (7. Tagung der freien 
Vereinig. f. Mikrobiol. Berlin 1913). 

23. Eisenberg, Centralbl. f. Bakt. Abt. I Orig. Bd. 63 u. 66. 

24. Wilde, Über den Baeillus pneumoniae Friedländers (Diss... Bonn 1896. 

25. Toenniessen, Centralbl. f. Bakt. Abt. I Orig. Bd. 69, 73 und 75. 

26. Mazzetti, Centralbl. f. Bakt. Abt. I Orig. Bd. 68. 

27. Swellengrebel, Arch. f. Protistenk. Bd. 31 1913. 


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Zusammenfassende Werke. 
28. Pringsheim, Die Variabilität niederer Organismen. 1910. Hier ausführliche 
Literaturangaben über die Einzelbefunde. 
29. Heim, Lehrbuch der Bakteriologie. 4. Aufl. 
30. Gotschlich, Kolle-Wassermann’s Handbuch. 2. Aufl. Bd. 1, 1912. 
3l. Kruse, Allgemeine Mikrobiologie. 1910. 


Photogramme. 

Die Bilder habe ich im Einverständnis mit dem Verlag Gustav Fischer in Jena 
meiner Originalarbeit im Centralblatt für Bakteriologie Orig. Bd. 73 entnommen. 
Ich sage dem Verlag für dieses Entgegenkommen meinen besten Dank. Für die 
Anfertigung der Mikrophotogramme bin ich Herrn Prof. Heim zu Dank verpflichtet. 

Fig. 1. Normaler Phaenotypus in Tusche aufgeschwemmt. Man sieht deut- 
lich die Zusammensetzung des Bazillus aus Endo- und Ektoplasma sowie die 
Schleimhülle. 

Fig. 2. Agarkultur des phaenotypisch normalen Bazillus, auf dem Objektträger 
ausgestrichen, durch Hitze fixiert und mit Methylenblau gefärbt. Sämtliche Indi- 
viduen erscheinen in gleicher Weise in die Schleimsubstanz eingebettet. 


330 Warming’s Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie. 


Fig. 3 Agarkolonie (Gussplatte), phaenotypisch norınal, 4 Tage alt (war 
24 Stunden bei 37°, 3 Tage bei 15° C. gewachsen). 7fache Vergrößerung. Die 
Kolonie zeigt nur eine Spur von Radiärstreifung. 

Fig. 4. Zwei modifizierte Kolonien, Sfach vergrößert. Deutliche Radiärstreifung. 
Die dunkler erscheinende Kolonie ist stärker, die hellere in mittlerem Grade modi- 
fiziert. Die konfluierende Partie ist homogen und enthält nur Individuen, die in 
den Typus zurückgeschlagen sınd. 

Fig. 5. Ausstrichpräparat einer modifizierten Kolonie (Hitzefixation, Methylen- 
blaufärbung). Die Individuen erscheinen je nach Menge der gebildeten Kapselsub- 
stanz heller oder dunkler. 

Fig. 6. Nicht zum Abschluss gekommene Mutation. Die mutierenden Indi- 
viduen erscheinen als helle Gebilde, da sie keine Schleimhüllen bilden. 

Fig. 7. Die Mutation vollendet. Neben den normal gebliebenen Bazillen 
schlanke Stäbchen, die Mutanten. 

Fig. 8. Reinkultur der Mutante. 

Fig. 9. Kolonie der Mutante, 4 Tage alt, 7fach vergrößert. Keine Radiär- 
streifung. Die kleinen Kolonien sind tiefliegende. 

Fig. 10. Kolonie der Fluktuante III. 4 Tage alt, 7fach vergrößert. Keine 
vadiärstreifung. 

Fig. 11. Fluktuante III (Hitzefixation, Methylenblaufärbung). Die Schleim- 
hüllen fehlen, das Endoplasma ist unverändert geblieben. Die Bazillen liegen als 
plumpe, fast farblose, säckchenförmige Gebilde eng aneinander. In ihrem Innern 
zeigen sie besonders deutlich die zu kugeligen oder ovalen Formen geschrumpfte 
Chromatinsubstanz. 


Eugen Warming’s Lehrbuch der ökologischen 


Pflanzengeographie. 
3. umgearbeitete Auflage von E.E Warming und P. Graebner. 1. Lief. Oktav. 
80 S., 42 Abb. Berlin 1914. Gebr. Borntraeger. 


20 Jahre ıst es her, seit die erste Auflage von Warming’s 
Ökologischer Pflanzengeographie es zum ersten Male unternahm, 
die Verteilung der Pflanzen auf der Erde, die gemeinsamen Züge 
der Pflanzengenossenschaften und die Grenzen ihrer Verbreitung 
mit Hilfe der schon reich ausgebildeten ökologischen Forschung zu 
erklären. Seitdem ist die zuerst mit Hilfe weniger geeigneter Ver- 
suchspflanzen entstandene Physiologie auf eine breitere Grundlage 
gestellt worden, und auch die Anatomie begnügt sich nicht mehr 
damit, Grundtypen aufzustellen, sondern vergleicht den Bau ver- 
schiedener Pflanzen und selbst derselben Art unter verschiedenen Be- 
dingungen. Damit ist ein Material geschaffen worden, das der Pflanzen- 
geographie zugute kommen muss. Diese umgekehrt bietet der phy- 
siologischen Ökologie, der Wissenschaft der Gegenwart und Zukunft 
reichliche Fragestellungen. Denn nur dadurch, dass die durch bloße 
Beobachtung gewonnenen Deutungen der Zusammenhänge zwischen 
Bau und Aufgabe der Teile im Versuch erhärtet werden, gewinnt 
das Ganze die genügende Sicherheit, um weiter darauf zu bauen, 
und wird der Blick des Forschers so geschärft, dass er nicht an 
oberflächlichen Deutungen hängen bleibt. Es sei hier nur an zwei 
Beispiele von sehr vielen, den Laubwechsel und die Ameisenpflanzen 
erinnert, die deutlich zeigen, wie wichtig der Versuch auch für 
pflanzengeographische Fragen ist. 


v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen. 331 


Die neue Auflage des Warming’schen Werkes ıst mit zahl- 
reichen, sehr guten Abbildungen versehen, die bisher fehlten und 
eine wertvolle Bereicherung darstellen. 

Der Text hat die alte Anordnung beibehalten, ist aber überall 
ergänzt worden. Die vorliegende Lieferung enthält die Schilderung 
der ökologischen Faktoren, Licht, Wärme, Feuchtigkeit u. s. f. ın 
ihrer Wirkung auf Pflanzenleben und Pflanzengestalt. Die Dar- 
stellung ist natürlich sehr gedrängt, aber klar. Bei größerer Breite 
wäre ja aus diesem Teil schon ein ganzes Handbuch der öko- 
logischen Physiologie geworden. Die Auswahl der Tatsachen ist 
manchmal etwas willkürlich, im ganzen aber glücklich. Nach Er- 
scheinen der übrigen Lieferungen kommen wir auf das Werk zurück. 

E. 6. Pringsheim. 


H. v. Buttel-Reepen. Leben und Wesen der Bienen. 
Mit 60 Abbildungen und einer Tabelle. Braunschweig 1915. Vieweg u. Sohn. 


Das Leben der Bienen ist bereits des öfteren monographisch 
dargestellt worden. Manche von diesen Darstellungen aber machen 
schon von vornherein keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit 
— ich erinnere nur an Maeterlinck’s „wundervollen Bienen- 
roman“, wie ihn v. Buttel-Reepen nennt —, andere sind im 
wesentlichen für die Imker bestimmt, und auch in diesen findet 
sich häufig genug Wahrheit und Dichtung in buntem Gemisch. In 
so kritischer Weise wie in dem vorliegenden Werke v. Buttel- 
Reepen’s ist indessen das Thema wohl bisher überhaupt noch nicht 
behandelt worden. Es dürfte aber auch unter den heute lebenden 
Bienenforschern wohl kaum einer gefunden werden, der geeignet 
wäre, in ähnlicher Weise wie der Verf. in der umfangreichen Lite- 
ratur, die sich mit der Biene befasst, die Spreu vom Weizen zu 
sondern. v. Buttel-Reepen kennt nicht nur die gesamte Lite- 
ratur wie kein zweiter, er beschäftigt sich auch selbst seit vielen 
Jahren mit den verschiedensten Problemen dieses Gebietes, so dass 
er so ziemlich in jedem Kapitel seines Werkes sein Urteil auf eigene 
Untersuchungen gründen kann. 

Entsprechend dem Titel zerfällt das Buch in zwei Teile. Der 
erste ist dem „Leben der Bienen“ gewidmet, der zweite, handelt 
vom „Wesen der Bienen“. Einen kurzen systematischen Überblick 
über die Gattung Apis schickt der Verf. dem ersten Kapitel voraus. 
Wenn er trotz Prioritätsgesetz die richtigere Bezeichnung Apis 
mellifica — anstatt der älteren falschen A. mellifera — wählt, so 
wird man ihm wohl ziemlich allgemein zustimmen. 

„Die Urheimat der Bienen“ behandelt das erste Kapitel. Da 
unsere Kenntnisse über fossile Bienen verhältnismäßig gering sind, 
so sind wir hier natürlich vielfach auf Vermutungen angewiesen. 
In Zentraleuropa sieht der Verf. die Heimat der verschiedenen 
Bienengeschlechter, die sich vermutlich in der Kreide von den 
Grabwespen abgezweigt haben. In der Kreide dürfen wir wohl 
auch den Beginn primitiver Staatenbildung bei den Apiden ver- 


332 v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen. 
muten. Einen eingehenden Überblick über die heutige Verbreitung 
der verschiedenen Varietäten der Honigbiene und ihrer nächsten 
Verwandten gewährt das nächste Kapitel. Da die meisten Bienen- 
rassen in den verschiedensten Ländern vielfach vermischt worden 
sind, haben wir mancherorts heutzutage kaum noch reine Varietäten, 
und wer einmal die Honigbiene zu Variations- und Vererbungs- 
studien benutzt, darf diese Tatsache nicht außer acht lassen. Ihm 
wird die Zusammenstellung v. Buttel-Reepen’s ein wertvoller 
Wegweiser sein. 

Ganz kurz werden dann die verschiedenen Kasten im Bienen- 
staat und die wichtigsten Stadien der Entwickelung des Embryos 
geschildert. 

Über das vielerörterte Problem der Fortpflanzung der Honig- 
biene wird ım vierten Kapitel eine gedrängte Übersicht gegeben, 
denn „es würde wohl ein Buch für sich bedeuten, wollte man die 
Geschichte der Parthenogenesis, der ‚jungfräulichen Zeugung‘ bei 
der Honigbiene nur einigermaßen ausführlich schildern, es würde 
zugleich eine Geschichte menschlicher Irrungen, Wirrungen und 
laienhafter fixer Ideen sein, eine Schilderung der sonderbarsten 
leidenschaftlichsten Kämpfe, und schließlich ein Abklingen in Welt- 
anschauungsfragen....“ Es kann heute keinem Zweifel mehr unter- 
liegen, dass die Dzierzon’sche Theorie zu Recht besteht. Zahl- 
reiche biologische Beobachtungen und zytologische Untersuchungen 
berechtigen uns zu dieser Behauptung. Nach v. Buttel-Reepen’s 
Ansicht gründet sich „die ganze Staatenbildung auf dem Vorhanden- 
sein einer parthenogenetischen Zeugung.“ Der weiteren Aufklärung 
bedürfen jedoch noch einige Beobachtungen über die Vererbung 
bei der Honigbiene, so z. B. die Beobachtung des Verf., dass bei 
einer bestimmten Kreuzung zweier Bienenrassen die Königin im 
ersten Jahre zwar Arbeiterinnen erzeugt, die offensichtlich Bastarde 
sınd, während im nächsten und in den folgenden Jahren ihre Nach- 
kommen kaum noch Merkmale vom Vater zeigen. Sollten die 
Samenfäden im Receptaculum im Laufe der Jahre ihre vererbende 
Kraft verlieren? Die Honigbiene ist bisher zu wissenschaftlichen, 
einwandfreien Vererbungsstudien überhaupt noch nicht verwandt 
worden, obwohl doch gerade die Tatsache, dass das eine Geschlecht 
parthenogenetisch entsteht, besonders interessante Untersuchungen 
ermöglichen würde. Freilich, leicht ist es nicht, mit der Honig- 
biene einwandfrei zu experimentieren!'). 


1) Verf. kommt in diesem Kapitel auch auf die Zwitterbienen zu sprechen. 
Er akzeptiert die Erklärung Boveri’s, der es für möglich hält, „dass der Eikern 
sich schon vor der Kopulation mit dem Spermakern, auf Grund seiner partheno- 
genetischen Fähigkeiten, teilt und der Spermakern erst mit einem der Furchungs- 
kerne verschmilzt“. v. Buttel-Reepen meint dazu, man brauchte im Eugster’- 
schen Falle „nur anzunehmen, dass die betreffende Königin die Eigenschaft besessen 
hätte, die Eier außergewöhnlich lange im Ovarium zurückzubehalten, so dass Tei- 
lungsvorgänge bei der Befruchtung vor sich gehen konnten.“ Es scheint jedoch, 
dass das Entstehen von Zwitterbienen nicht auf eine Anormalität der betreffenden 
Königin zurückgeführt werden kann, sondern die Ursache dürfte in der Regel in 


v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen. 333 


Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienenstaates hat 
der Verf. bereits vor einer Reihe von Jahren zum Thema einer 
umfassenden Studie gemacht. Die wichtigsten Ergebnisse seiner 
damaligen Untersuchungen teilt er auch hier mit, ergänzt durch in 
der Zwischenzeit gewonnene Erfahrungen. Besonderes Interesse 
wird auch der zweite Teil dieses Kapitels finden, betitelt „Zur 
‚Geschiehtsphilosophie‘ des Bienenstaates“, in dem v. Buttel- 
Reepen zu verschiedenen Ansichten über "einzelne Probleme der 
Staatenbildung Stellung nimmt. So erörtert er, um nur einiges zu 
nennen, die Frage des polygynen oder monogynen Ursprungs der 
Staatenbildung, das Wesen der verschiedenen Schwarmarten, sodann 
die seinerzeit zwischen Weismann, H.Spencer, 0. Hertwi igu.a. 
viel diskutierte Frage, wieviele Keimesanlagen im Keimplasma der 
Bienenkönigin anzunehmen sind. 

Da das Werk kein Lehrbuch für Bienenzüchter sein soll, kann 
der Verf. sich auf eine kurze Darstellung der Wohnungen der 
„modernen“ Biene beschränken. Der „Stabilbau“ ıst mehr und 
mehr durch den „Mobilbau“ verdrängt worden, nur in wenigen 
Gegenden, z. B. in der Lüneburger Heide, sieht man noch das 
Wahrzeichen der alten Bienenzucht, den bekannten Stülpkorb aus 
Stroh. Als den Begründer des Mobilbaues betrachtet der Verf. 
Francois Huber. Dass die Kastenbienenzucht mit beweglichen 
Waben in Deutschland einen so großen Aufschwung genommen 
hat, verdanken wir in erster Linie Dzierzon, dem Erfinder der 
„Stäbehen“, und v. Berlepsch, der diese zu den „Rähmchen“ 
vervollkommnete, die, nur unwesentlich verändert, noch heute all- 
gemein in Gebrauch sind. 

Im nächsten Kapitel schildert der Verf. das Leben und Treiben 
einer Bienenkolonie ım Laufe eines Jahres. Die Biologie der Honig- 
biene bietet eine so unendliche Fülle des Interessanten, dass man 
es bei dem Geschick, mit dem der Verf. alle Fragen kritisch zu 
behandeln weiß, eigentlich bedauern muss, dass einzelne Abschnitte 
hier etwas kurz dargestellt worden ‚sind. Zwei besonders inter- 
essante Kapitel aus der Biologie werden allerdings dann ım folgen- 
den noch etwas ausführlicher behandelt: das Pollensammeln und 
die Wachsausscheidung. Erst in den letzten Jahren hat man die 
Vorgänge sowohl beim Pollensammeln wie auch bei der Wachs- 
ausscheidung richtig verstehen gelernt. Einzelnen Organen der 
Arbeiterin hatte man gänzlich falsche Funktionen zugeschrieben. 
Die „Wachszange“ dient nicht, wie man bis vor kurzem glaubte, 
einer vorausgegangenen Kreuzbefruchtung zu suchen sein. Die Eugster’sche 
Königin war nach v. Siebold eine von einer deutschen Drohne begattete reine 
Italienerin. Auch die jüngst durch v. Engelhardt beschriebenen Zwitterbienen 
„stammten von einer italienischen Königin ab, die von einheimischen Drohnen be- 
fruchtet worden war.“ Dass aber bei einer Kreuzbefruchtung das Spermium in dem 
„fremden“ Ei sich mitunter nicht so rasch in den männlichen Vorkern umzuwandeln 
vermag wie unter normalen Verhältnissen — so dass der weibliche Vorkern die 


Möglichkeit zu einer parthenogenetischen Entwickelung erhält —, dürfte nicht weiter 
verwunderlich erscheinen. 


334 v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen. 


zum Erfassen der zwischen den vier untersten Bauchsegmenten 
ausgeschiedenen Wachslamellen, sondern sie ist ein Pollensammel- 
apparat, wie Sladen als erster feststellte und der Verf. dann auch 
durch eigene Beobachtungen bestätigen konnte. Zum Herausziehen 
der Wachslamellen dienen die Bürsten an den Metatarsen. Die 
beiden Kapitel sind durch besonders gute Abbildungen nach den 
Originalen des amerikanischen Bienenforschers Oasteel illustriert. 

Der zweite Teil des Buches handelt, wie gesagt, „vom Wesen 
der Honigbiene“. Zunächst werden die Sinne besprochen. Dass 
den Bienen ein vortreffllicher Ortssinn eigen ist, lässt sich am 
Bienenstande leicht beobachten, jeder Imker rechnet damit. Nach 
des Verf. Ansicht vollzieht sich die Orientierung „in der Haupt- 
sache durch das Sehvermögen, alle anderen Faktoren spielen durch- 
aus eine Nebenrolle“. Der Farbensinn der Honigbiene ist ın den 
letzten Jahren von verschiedenen Seiten untersucht worden, Unter- 
suchungen, die zu der Kontroverse zwischen v. Hess und v. Frisch 
geführt haben. v. Hess glaubt bekanntlich bewiesen zu haben, dass 
die Fische und sämtliche Wirbellosen keinen Farbensinn besitzen, 
dass sie vielmehr die Farben wie der total farbenblinde Mensch 
nur nach Helligkeitswerten unterscheiden. v. Buttel-Reepen er- 
hebt zwar gegen die Untersuchungen von v. Hess eine Reihe von 
Einwänden, vermeidet es aber doch, direkt gegen ıhn Stellung zu 
nehmen. Hätte ıhm bei der Niederschrift dieses Abschnittes be- 
reits die soeben erschienene ausführliche Arbeit v. Frisch’s vor- 
gelegen, in der dieser neben dem Farbensinn auch den Formensinn 
eingehend behandelt, hätte er zudem noch, wie der Referent, die 
Versuche v. Frisch’s während des letzten Zoologenkongresses ge- 
sehen, so würde wohl auch er keine Bedenken mehr getragen haben, 
den Bienen einen Farbensinn zuzuerkennen?). Im Abschnitt über 
das Geruchsvermögen konnte der Verf. eben noch die interessanten 
neuen Untersuchungen McIndoo's berücksichtigen. Die von 
MeIndoo entdeckten, hauptsächlich an den Beinen liegenden 
Organe sind zweifellos Geruchsorgane, dass aber den antennalen 
Organen keinerlei Geruchsfunktionen zukommen, wie MelIndoo 
meint, bezweifelt v. Buttel-Reepen wohl mit Recht. Ausführlich 
wird dann noch erörtert der Gehörsinn. Auch einen solchen ver- 
mag man heute den Bienen nicht mehr abzusprechen. 

Den Instinkten und der Psyche der Bienen sind die beiden 
letzten Kapitel gewidmet, den Instinkten, soweit diese nicht bereits 
in den früheren Kapiteln besprochen worden sind. Es kommt dem 
Verf. hier besonders darauf an, „eine Reihe von Instinkten und 
einige morphologische Ausgestaltungen im Licht deszendenztheore- 
tischer Betrachtungen darzulegen“. Es sind da in erster Linie die 
zahlreichen atavistischen Erscheinungen im Bienenstaat zu nennen, 


2) Anm. bei der Korrektur. In einem inzwischen erschienenen Referat 
der Arbeit v. Frisch’s (Haben die Bienen einen Farbensinn? Die Naturw., 
3. Jahrg., 1915) sagt denn auch v. Buttel-Reepen: „Es scheint mir, dass auch 
der letzte Zweifel an dem Vorhandensein eines Farbensinnes durch diese Ausführungen 
zum Schwinden gebracht wird.“ 


Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwickelung und ihre Ziele. 335 


die Instinktsirrungen u. s. w. Des Verf. Ansicht über die Höhe 
der seelischen Qualitäten der Bienen sei mit seinen eigenen Worten 
wiedergegeben: „Zweifellos müssen wir manche Lebensäußerungen 
der Bienen als einfachste Reflexerscheinungen bezeichnen, aber da- 
neben dokumentieren sich, wie wir gesehen haben, so zahlreiche 
Instinkte, die nicht nur maschinell, automatisch verlaufen, sondern 
mit mehr oder minder höheren psychischen Fähigkeiten verbunden 
sind, dass jene bekanntlich schon von Descartes befürwortete 
Maschinentheorie bei einiger Kenntnis der Biologie hinfällig er- 
scheint.“ 

Nicht unerwähnt möge zum Schluss noch bleiben, dass dem 
Werke ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie 60 Abbildungen, 
darunter zahlreiche Originale, beigegeben sind. 

Nachtsheim, Freiburg i. Br. 


Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung 
und ihre Ziele. 
Herausgegeben von Paul Hinneberg. III. Teil. Mathematik, Naturwissen- 
schaften, Medizin. 4. Abteilung. Organische Naturwissenschaften. Unter Leitung 
von R. Wettstein. I. Band. Allgemeine Biologie. Redaktion: 7 C. Chun und 
W. Johannsen. Unter Mitwirkung von A. Günthart Leipzig, Berlin 1915. 
B. G. Teubner. 


Aus dem Inhaltsverzeichnis: Em. Rädl: Zur Geschichte 
der Biologie von Linn& bis Darwin. Alfred Fischel: Die Rich- 
tungen der biologischen Forschungen (zoologische Forschungs- 
methoden). ©. Rosenberg: Die Untersuchungsmethoden des 
Botanikers. H. Spemann: Geschichte und Kritik des Begriffs der 
Homologie. Otto zur Strassen: Die Zweckmäßigkeit. Wolf- 
gang Ostwald: Allgemeine Kennzeichen der organisierten Sub- 
stanz. Wilhelm Roux: Das Wesen des Lebens. Waldemar 
Schleip: Lebenslauf, Alter und Tod des Individuums. B. Lid- 
forss: Protoplasma. Zellulärer Bau, Elementarstruktur, Mikro- 
organismen, Urzeugung. G. Senn: Bewegungen der Chromato- 
phoren. Max Hartmann: Mikrobiologie. Allgemeine Biologie der 
Protisten. Ernst Laqueur: Entwickelungsmechanik tierischer 
Organismen. H. Przibram: Regeneration und Transplantation im 
Tierreich. Erwin Baur: Regeneration und Transplantation im 
Pflanzenreich. Emil Godlewski, jun.: Fortpflanzung im Tierreich. 
P. Claussen: Fortpflanzung im Pflanzenreich. W. Johannsen: 
Periodizität im Leben der Pflanzen. Otto Porsch: Gliederung 
der ÖOrganismenwelt in Pflanze und Tier. Wechselbeziehungen 
zwischen Pflanze und Tier. P. Boysen-Jensen: Hydrobiologıie. 
W. Johannsen: Experimentelle Grundlagen der Deszendenzlehre; 
Variabilität, Vererbung, Kreuzung, Mutation. 

Unter den Bänden der „Kultur der Gegenwart“, biologischen 
Inhalts, dürfte der vorliegende eine besondere Stelle einnehmen. Seine 
Aufgabe ist es nicht, in erster Linie eine gesichtete und ausgewählte 
Übersicht über das Tatsachenmaterial abgerundeter Wissensgebiete 


336 Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele. 


zu geben. Zunächst ist ja schon der Begriff „allgemeine Biologie“ 
mehr oder weniger willkürlich. Man kann zu solch einem Allge- 
meinteile Abschnitte über allgemein biologisches Denken, über Me- 
thodik, dann aber selbst einzelne Experimentaldisziplinen zählen. 
Die letzteren zumal werden je nach der Ansicht dieser hierher, jener 
aber ın die speziellen Bände gehören. (So finden wir z. B. den 
zoologischen Teil der Entwickelungsmechanik hier, den botanischen 
Teil jedoch mit den übrigen Abschnitten der Pflanzenphysiologie 
vereinigt in Bd. 3.) „Eine einheitliche Darstellung. .. ist ausge- 
schlossen; der Band bildet vielmehr eine recht bunte Mosaikdar- 
stellung der allgemeinen Biologie!).“ Referent kann aus diesem Um- 
stande dem Buche gewiss keinen Vorwurf machen. Im Gegenteil: 
Der „Kultur der Gegenwart“ würde bei weniger geschickter Leitung 
kaum eine größere Gefahr haben drohen können, als die: eine 
Sammlung mehr oder weniger populärer Lehrbücher zu werden. 
Nichts konnte sie mehr davor bewahren als der Ersatz systematischer 
Darstellung durch eine Reihe sehr persönlicher Aufsätze: Anregung 
statt Ermüdung beim Leser, auch bei dem in diesen Dingen unge- 
schulten Leser, wie er für dıe „Kultur der Gegenwart“ in erster Linie 
ın Frage kommt. 

Hierzu kommt ferner, dass die Form des „Mosaiks“ die Mög- 
lichkeit gab, verschiedenartigen Autoren die Gelegenheit zu geben, 
über dasjenige zu berichten, was ihre Gedanken in erster Linie be- 
wegt: Nicht eine Darstellung ihnen mehr oder weniger geläufiger, 
umfassender Gebiete, vielmehr ihr eigenstes durften und mussten 
sie geben: „Die Repräsentation recht verschiedener Standpunkte 
durch die Autoren hat... den Inhalt des vorliegenden Bandes sehr 
reich und anregend gemacht. Besonders interessant wird wohl der 
Leser die höchst verschiedene Wertschätzung des Selektionsgedankens 
sowie der Lamarck’schen Auffassung finden. Die gelegentliche 
Uneinigkeit der hier zusammenarbeitenden Autoren ist ja selbst 
ein Ausdruck des jetzigen Zustandes der biologischen Forschung 
und muss schon deshalb zu Worte kommen. Der einzelne Autor 
muss ın dem Ringen der Ideen für sich selbst sprechen“). Dieser 
Band ist somit ein Buch, das man nicht zum Nachschlagen benutzt, 
aus dem man nicht, der Not gehorchend, studiert, sondern das man 
liest! Auch dem Fachmanne wird es Freude, ja oft Genuss ver- 
schaffen. 

Eine Inhaltsangabe oder gar eine kritische Besprechung muss 
der Referent sich versagen. Nicht nur des Raumes in dieser Zeit- 
schrift wegen: Man kann das Vorgetragene lesen, man kann in 
mancher Hinsicht anderer Meinung sein, allein man wird auch dann 
in den Aufsätzen hinreichend Gesundes und Geistvolles finden: 
Solche Darbietungen nımmt man hin, wie sie gegeben wurden. 
EN H. Jordan (Utrecht). 


1) Johannsen im Vorwort. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt, 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 


Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. RK. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem 
Berg 14, einsenden zu wollen. 











Bd. XXXV. 20. September 1915. %8u.9. 











——! Te 
[nhalt: Jollos, Stanislaus von Prowazek +. — Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei 
Moina rectirostris. — Pringsheim, Die Kultur von Paramaecium Bursaria. — Wasmann, 
Nils Holmgren’s ‚Termitenstudien‘“‘. — Löhner, Uber künstliche Fütterung und Ver- 
dauungsversuche mit Blutegeln. — Roux, Die Selbstregulation ein eharakteristisches und 
nicht notwendig vitalistisches Vermögen aller Lebewesen. — Brehm’s Tierleben. — Brehm’s 
Tierbilder. — Palladin, Pflanzenanatomie. — Zehnder, Der ewige Kreislauf des Weltalls. — 


Meyer, Einführung in die Mikroskopie. 








Stanislaus v. Prowazek Y}. 
Von V. Jollos (Berlin). 


Am 17. Februar starb in Kottbus am Fleckfieber, das er sich 
bei Untersuchungen im Kriegsgefangenenlager zugezogen hatte, der 
Leiter der Abteilung für Protozoenforschung am Institut für Schiffs- 
und Tropenkrankheiten in Hamburg, Professor Dr. Stanıslaus 
v. Prowazek. — Selbst in unserer Menschenleben in nie geahnter 
Weise entwertenden Zeit können wir an dem Tode des hervor- 
ragenden Forschers nicht stumm vorübergehen, sondern wollen auch 
an dieser Stelle seiner und seines Werkes gedenken; spiegelt sich 
doch in ihm ein gutes Stück des Entwicklungsganges eines bio- 
logischen Wissenszweiges, der modernen Protistenkunde. 

Der Erforschung der Einzelligen galt Prowazek’s wissenschaft- 
liche Arbeit von Anfang an: „Protozoenstudien“ waren der Gegen- 
stand seiner Doktordissertation, mit der er nach vierjährigem Stu- 
dıum der Naturwissenschaften an den Universitäten Prag und Wien, 
24 Jahre alt, 1899 in Wien mit Auszeichnung promovierte, und 
Protozoenstudien und mit ihnen zusammenhängende Fragen be- 
handeln auch weitaus die meisten seiner zahlreichen späteren Unter- 

XIRY, Be 


338 Jollos, Stanislaus v. Prowazek r. 


suchungen. Eine selten vielseitige und gründliche Ausbildung 
ermöglichte es ihm hierbei, Problemen der verschiedensten Art 
nachzugehen: Hatte er sich bereits während seines Universitäts- 
studiums neben der Zoologie — und neben seinem Lieblingsgebiete, 
der Philosophie — gründliche Kenntnisse der Botanik und Physik 
erworben, so bot sich ihm bald darauf, als Ehrlich ihn im Jahre 
1901 als Assistenten nach Frankfurt rief, die günstigste Gelegen- 
heit die Ergebnisse und Probleme der Immunitätsforschung an der 
Quelle zu studieren. Im nächsten Jahre sehen wir ıhn dann als 
Assistenten am Institute Richard Hertwig’s in München, der 
gastlichen Arbeitsstätte so vieler Protozoenforscher. Und nachdem 
er hier seine Kenntnisse des Baues und der Lebenserscheinungen 
der Einzelligen erweitern konnte, führt ıhn abermals nach einem 
Jahre der Ruf Schaudinn’s an das Reichsgesundheitsamt und be- 
stimmt damit seine weitere Laufbahn. Als Mitarbeiter Schau- 
dinn’s wandte sich Prowazek zunächst ın Rovigno, später in 
Berlin dem Studium der parasitischen und pathogenen Protozoen 
zu. Er beteiligte sich an den bahnbrechenden Arbeiten des Meisters 
der modernen Protistenkunde und führte auch selbst wertvolle 
Untersuchungen über den Entwicklungsgang parasitischer Flagel- 
laten durch. Als Schaudinn dann einem Rufe an das Institut 
für Schiffs- und Tropenkrankheiten nach Hamburg folgte, übernahm 
Prowazek an seiner Stelle die Leitung des Protozoenlaboratoriums 
am Reichsgesundheitsamt. Bald nach dem frühen Tode Schau- 
dinn’s ging er mit der Neisser’schen Syphilisexpedition nach 
Java. Nach seiner Rückkehr wurde er im Jahre 1907 Nachfolger 
Schaudınn’s in Hamburg. Von Hamburg aus unternahm er in 
der Folge mehrere große Reisen zu Forschungs- und Lehrzwecken: 
nach Brasilien, den Südseeinseln, nach Serbien und Konstantinopel; 
von Hamburg ging er endlich auch nach dem Ausbruch von Fleck- 
fieberepidemien ın Lagern russischer Kriegsgefangener nach Kottbus, 
um die Ätiologie dieser Seuche zu studieren, mit der er sich be- 
reits in Serbien und der Türkei eingehend beschäftigt hatte und 
der er nun selbst zum Opfer fiel. 

Vielgestaltig wie sein Lebensgang erscheinen auch die wissen- 
schaftlichen Arbeiten und Interessen Prowazek’s: Neben Proto- 
zoenuntersuchungen vorwiegend morphologischer Art wandte er 
sich stets besonders gern physiologischen Fragen zu und suchte 
auch die Vorstellungen und Ergebnisse moderner physikalisch- 
chemischer Forschung zur Aufklärung von Vorgängen bei den Ein- 
zelligen nach Möglichkeit zu verwerten. — In der ersten Zeit, aus 
der auch verschiedene entomologische, zytologische und entwick- 
lungsmechanische Arbeiten stammen, beschäftigte ihn vor allem 
das Studium des Baues und der Vermehrung frei lebender Proto- 
zoen. In seinen „Flagellatenstudien“ suchte er schon 1903 eine 


Jollos, Stanislaus v. Prowazek 7. 339 


Einteilung dieser Gruppe auf Grund der Geißelinsertionen und der 
Kernstrukturen zu geben. Eine Untersuchung über Gregarinen 
stellte fast gleichzeitig mit Cu&enot und unabhängig von diesem 
wichtige Grundzüge des Entwicklungsganges dieser Parasiten klar. 
Während seiner Münchener Tätigkeit beteiligte er sich an den von 
R. Hertwig ausgehenden Untersuchungen über den Zusammen- 
hang wichtigster Lebensäußerungen und morphologisch nachweis- 
barer Verhältnisse bei Protozoen. 

In den darauf folgenden Jahren beschäftigte er sich unter 
dem Einflusse Schaudinn's vor allem mit der Entwicklung 
parasitischer Formen und veröffentlichte größere Arbeiten über 
den lebenslauf parasitischer Flagellaten aus dem Darme der 
Eidechse und der Stubenfliege sowie über die Entwicklung des 
Rattentrypanosoma, bei dem er als erster für Trypanosomen 
Kopulationsvorgänge beschrieb, — Untersuchungen, deren Ergeb- 
nisse in der Folge zwar zum Teil lebhaft umstritten wurden 
und werden, die aber unter allen Umständen eine wertvolle Be- 
reicherung unserer Kenntnisse von den parasitischen Protozoen 
bilden und neben den Arbeiten Schaudinn’s für unsere Vorstel- 
lungen von Bau und Entwicklung der Flagellaten grundlegende 
Bedeutung hatten. Weitere Arbeiten behandelten die durch Schau- 
dinn’s Entdeckung des Syphiliserregers besonders wichtig ge- 
wordene Gruppe der Spirochaeten und zeigten aus dem Bau und 
dem Verhalten gegenüber verschiedenen äußeren Einflüssen sıch 
ergebende Unterschiede dieser Mikroorganismen und der Bakterien. 

Während seiner Tätigkeit am Reichsgesundheitsamt wandte 
sich Prowazek endlich auch der Erforschung einer Reihe von In- 
fektionskrankheiten mit unbekannten Erregern zu. Zuerst bei 
Variola resp. Vaccine gelang es ıhm, in den Epithelzellen der ge- 
impften Kaninchencornea neben den schon früher beschriebenen 
größeren „Guarnierisschen Körperchen“ kleinste Einschlüsse be- 
sonderer Art nachzuweisen und zu verfolgen. Diese kleinsten Ge- 
bilde sprach er als Erreger der Infektion an und glaubte seine 
eigenen Befunde und die anderer Untersucher über verschiedene 
teils extra-, teils intraepitheliale Gebilde zu einer Art Entwicklungs- 
kreis zusammenfügen zu können: Danach würden kleinste Mikro- 
organismen („Initialkörperchen“) die Infektion bewirken, in Epithel- 
zellen eindringen und zunächst zu den kleinen „Elementarkörperchen* 
heranwachsen. Diese vermehren sich durch fortgesetzte Teilung 
und veranlassen die befallene Epithelzelle zur Ausscheidung be- 
stimmter Substanzen, die die eingedrungenen Parasiten einzeln 
oder in größerer Zahl vereint mit einer Hülle umgeben, so dass 
die zuvor erwähnten größeren Einschlüsse (Guarnieri-Körperchen) 
entstehen. Diese stellen also nach Prowazek nicht den Erreger 


selbst vor, sondern ein spezifisches Reaktionsprodukt der infizierten 
99% 


340 Jollos, Stanislaus v. Prowazek 7. 

Zelle, in dem sich erst die Erreger befinden und vermehren können, 
und das im weiteren Gange der Entwicklung wieder zerfällt und 
eben die in seinem Inneren eingeschlossenen und durch zahlreiche 
Teilungen vermehrten kleinsten Stadien des Erregers („Initial- 
körperchen‘“) austreten und neue Epithelzellen befallen lässt. — 
Diese zuerst bei Variola-Vaccine gewonnene Vorstellung glaubte 
Prowazek im weiteren auch bei einer Reihe anderer menschlicher 
und tierischer Infektionskrankheiten (Lyssa, Trachom, Molluscum 
contagiosum u. a.) auf Grund eigener und fremder Beobachtungen 
bestätigt zu sehen. (Von seinen eigenen Arbeiten auf diesem Ge- 
biete sei vor allem noch die zusammen mit Halberstädter ver- 
öffentlichte Feststellung entsprechender Einschlüsse beim Trachom 
hervorgehoben.) Er fasste daher die Erreger all dieser Infektionen 
als eine besondere Mikroorganismengruppe auf, der er wegen der 
erwähnten von der befallenen Zelle um die Parasiten ausgeschie- 
denen Hülle den Namen „Chlamydozoa“ gab (von yAauös — Mantel). 

Ein abschließendes Urteil über diese Auffassung zu fällen, ist 
heute noch nicht möglich, da erst die Zukunft zeigen muss, ob 
und inwieweit es sich bei den Chlamydozoen Prowazek’s wirklich 
um Mikroorganismen und nicht nur um spezifische — und als 
solche für die Krankheitsdiagnose unter allen Umständen sehr 
wichtige — Reaktionsprodukte der Zelle handelt. Jedenfalls hat 
Prowazek selbst seine Anschauungen, abgesehen von morpho- 
logischen Beobachtungen, auch durch scharfsinnige Filtrier- und 
Übertragungsversuche speziell bei Variola-Vaceine zu stützen ge- 
wusst. Dass er ım Zusammenhange mit diesen Untersuchungen 
auch Fragen der Immunität bei Chlamydozoeninfektionen bear- 
beitete, sei nur nebenbei erwähnt. 

Von Prowazek’s pathogene Formen behandelnden Veröffent- 
lichungen aus den letzten Jahren müssen wir endlich noch eine 
zusammenfassende Darstellung der Infusorienenteritis (Balantidiosis) 
sowie die Herausgabe des großen „Handbuches der pathogenen 
Protozoen“ hervorheben, für das er selbst verschiedene Kapitel 
bearbeitete, dessen Abschluss er aber nicht mehr erleben sollte. 

Neben diesen auf breitester Grundlage durchgeführten medi- 
zinisch-zoologischen Untersuchungen und Zusammenfassungen, neben 
seiner weiteren Tätigkeit als Mitherausgeber des Archivs für Pro- 
tistenkunde seit dem Tode Schaudinn’s, vernachlässigte Pro- 
wazek aber auch in den späteren Jahren keineswegs das Studium 
frei lebender Protozoen und die Behandlung allgemein biologischer 
Fragen. In zahlreichen Mitteilungen veröffentlichte er interessante 
Beobachtungen über Bau und Teilung, über Regeneration, Enzy- 
stierung und manche anderen Lebenserscheinungen verschiedener 
Einzelligen und über ihr Verhalten unter experimentell gesetzten 
Bedingungen. Viele weitere Untersuchungen und Feststellungen 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung: bei Moina reetirostris. 341 


brachte ferner seine 1910 erschienene gedankenreiche „Einführung 
in die Physiologie der Einzelligen“, in der er gegenüber noch weit 
verbreiteten Anschauungen den Standpunkt vertritt, dass die Proto- 
zoen nicht als die einfachsten Lebewesen, sondern vielmehr als die 
kompliziertesten Zellen zu werten seien. Dem auf diesem Gebiete 
Bewanderten bietet das Buch wie auch die kleineren Veröffent- 
lichungen eine Fülle von Anregungen und wertvollem Material, 
allerdings nicht ohne gewisse Mühe. Denn die Darstellung ıst 
häufig wenig ausgearbeitet und äußerst aphoristisch gehalten, so 
dass wegen der Form dieser Arbeiten ihr Inhalt nicht die ge- 
bührende Beachtung finden konnte. 

In dieser flüchtigen Niederschrift der Ergebnisse auch der mühe- 
vollsten und langwierigsten Untersuchungen offenbart sich uns ein 
charakteristischer Zug von Prowazek’s wissenschaftlicher Arbeits- 
weise: Er gehörte nicht zu jenen Forschern, die eine Untersuchung erst 
aus der Hand geben, wenn sie sie in allen Einzelheiten ausgebaut und 
auch für den Leser systematisch dargestellt haben ; ihm kam es vielmehr 
nur darauf an, ein Problem für sich selbst klargelegt zu haben und 
seine eigene Erkenntnis zu befriedigen. Und war dies Ziel erreicht, 
so brachte er in seinen Veröffentlichungen häufig viel mehr Re- 
flexionen über die gewonnenen Ergebnisse und ihren Erkenntnis- 
wert, als dass er den Gang und die Einzelheiten seiner Unter- 
suchung genauer auseinandersetzte. Nicht das einzelne Ergebnis 
war es eben, was ihn bei seinen Arbeiten interessierte, sondern die 
Schlüsse, die sich daraus für allgemeinere biologische oder erkenntnis- 
theoretische Fragen ergaben. 

So betrauern wir denn in Prowazek nicht nur einen der her- 
vorragendsten Vertreter eines biologischen Spezialfaches, sondern 
darüber hinaus einen Forscher, der über der Arbeit auf seinem 
engeren Gebiete die großen I lem: der Biologie und Erkenntnis- 
forschung nicht aus Sn Auge verlor. — Und die ihn persönlich 
kennen lernen durften, werden dem still-bescheidenen, feinfühlenden 
und vielseitig gebildeten Manne ein freundliches Andenken bewahren. 


Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 
Von Marta Grunewald (München). 


I. Einleitung. 


Die Fortpflanzungsverhältnisse der Cladoceren sind in den letzten 
Jahren, besonders mit Hinblick auf das Problem der Geschlechts- 
bestimmung mehrfach zum Gegenstand experimenteller Unter- 
suchungen gemacht worden. Durch die Arbeiten von Woltereck 
(1911), von Scharffenberg (1911; 1914) und Papanicolau (1911a 
und b) ist nachgewiesen, a der Generationswechsel der Ulado- 


3429 Grunewald, Über Veränderung der Fibildung bei Moina reetirostris. 


ceren von äußeren Bedingungen abhängig ist, indem Wärme und 
reichliche Nahrung die Parthenogenese, Kälte und Hunger den Ein- 
tritt der Gamogenese begünstigen, was sich besonders in den mitt- 
leren, den labilen Generationen bemerkbar macht. 

Dieses Verhalten legt die Vermutung nahe, dass ın den Keim- 
zellen im Verlaufe des Zyklus allmähliche Veränderungen vor sich 
gehen, die als Übergangsformen zwischen der Bildungsart der par- 
thenogenetischen und der befruchtungsbedürftigen Eier zu be- 
trachten sind. 

Ohne dass von vornherein über die Art etwaiger derartiger 
Keimzellveränderungen etwas hätte vorausgesehen werden können, 
wurden von diesem Gesichtspunkte aus die vorliegenden Unter- 
suchungen, die im Münchener zoologischen Institut ausgeführt wurden, 
unternommen. Meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Geheimrat 
Prof. R. von Hertwig, unter dessen Leitung mir zu arbeiten ver- 
gönnt war, möchte ich an dieser Stelle meinen ehrerbietigsten Dank 
sagen. Ebenso bin ich Herrn Prof. R. Goldschmidt zu vielem 
Danke verpflichtet. 


II. Material und Methode. 


Meine Untersuchungen beziehen sich alle auf Moina rectirostris 
var. Lilljeborgö, die ich aus einem Tümpel in Irschenhausen bezog, 
aus dem auch das von Papanicolau zu seinen Experimenten be- 
nutzte Material stammte. Da im Sommer 1913 der Tümpel zuge- 
schüttet und überackert worden war, arbeitete ich außerdem mit. 
Material, das ich mehrmals durch die Freundlichkeit des Herrn 
Dr. Honiıgmann aus Halle erhalten konnte, dem ich auch an dieser 
Stelle für seine Mühe meinen Dank sagen möchte. Die Aufzucht 
der Dauereier geschah am erfolgreichsten im Thermostaten bei 
24°C, in dem ich regelmäßig bereits nach 4 Tagen ausgeschlüpfte 
Tiere fand, auch nachdem die Dauereier fast anderthalb Jahre aus- 
getrocknet gelegen hatten. 

Negative Erfolge ın der Aufzucht der Dauereier lassen sich 
meinen Erfahrungen nach meist auf zu geringe Anzahl der ange- 
setzten Ephippien zurückführen, da immer nur ein gewisser Prozent- 
satz auszukriechen scheint; je zahlreicher das angesetzte Materıal, 
desto größer ist also die Wahrscheinlichkeit für gute Resultate 
beim Ausschlüpfen. 

Nachdem sich die im Sommer 1913 durchgeführte Untersuchung 
am konservierten, geschnittenen Material der im Sommer 1912 ge- 
züchteten Tiere als ergebnislos erwiesen hatte, nahm ich im Winter 
1913/14 die Untersuchung in der Weise wieder auf, dass ich die 
Eibildung am lebenden Tiere verfolgte. Jedes einzelne Versuchs- 
tier wurde vom Tage seiner Geburt an regelmäßig beobachtet und 
die Beschaffenheit des Ovars genau untersucht, so dass die ein- 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 343 


zelnen Stadien der Eibildung unter den verschiedenen Versuchs- 
bedingungen kontinuierlich zur Beobachtung kamen, und auch die 
Möglichkeit gegeben war, die Natur und das Geschlecht der aus 
der betreffenden Eibildung hervorgehenden Tiere zu erkennen. Die 
Durchsichtigkeit der Tiere infolge der sehr schwachen Struktur- 
zeichnung der Schale ist Biere von großem Vorteil. Es ist da- 
durch möglich, mit starken Vergrößerungen (Ölimmersion 2 mm 
von Winckel, Kompensationsokulare 3, 5, 6) die Vorgänge im Ovar 
genau zu verfolgen und mittels des Zeichenapparates (den Zeich- 
nungen wurde stets die Kombination Immersion 2 mm, Kompen- 
sationsokular 3 zugrunde gelegt) festzuhalten, so dass auf diese 
Weise ein genaues Bild der Eibildung zustande kommt. Freilich 
hat diese Untersuchungsmethode auch ihre Nachteile. Vor allem 
gelingt es nicht immer, das Tier vor den Schädigungen, denen es 
durch den Druck des Deckglases ausgesetzt ist, zu bewahren, und 
man ist gezwungen, eine sehr große Zahl von Tieren zu unter- 
suchen, weil die Beobachtungsreihen häufig durch frühzeitiges Ab- 
sterben der Versuchstiere missglücken. Dazu kommt, dass Moina 
rect. nicht gerade zu den widerstandsfähigsten Uladoceren zu ge- 
hören scheint. Im Aquarium, in dem sie mit Daphnia pulex und 
Daphnia magna gemischt gehalten wurde, überdauerten die beiden 
letztgenannten Arten die erste weit länger, als es durch die Diffe- 
renz der Zykluslänge verständlich gewesen wäre. Offenbar ist 
Moina gegen Schädigungen weit empfindlicher als die beiden anderen 
Arten. 

Zur Kultur verwandte ich kleine, vogelnapfartige Glasschälchen 
mit dem gleichen Vorteil wie größere !/, Liter enthaltende Becher- 
gläser. Auch gegen die Anwendung en Leitungswasser zeigten 
die Tiere keine größere Empfindlichkeit als gegen weiches Aquarium- 
wasser. Als Nahrung verwandte ich eine Reinkultur von kleinen 
einzelligen Grünalgen (Chlorella), die sich sehr bequem aus einer 
kleinen Stammkultur züchten lässt, indem man eine an gelösten 
organischen Substanzen reiche Nährlösung damit beschickt. Als 
geeignete Nährlösung erwies sich ein Aufguss von klein geschnittenen 
Mehlwürmern. Man lässt das Glas zugedeckt möglichst in heller 
Sonne stehen. Im Lauf von 8-14 Tagen entwickelt sich eine 
reiche, dunkelgrüne Algenflora, so dass die anfangs ziemlich reich- 
lich auftretenden Fäulnisbakterien durch den von den Algen pro- 
duzierten Sauerstoff vernichtet werden. Dass keine Fäulnis mehr 
vorhanden ist, kann man leicht am Geruche feststellen. Wenn die 
Kultur völlig geruchlos geworden ist, ist sie gebrauchsfähig und 
stellt eine sehr bequeme gute Nahrung dar, die stets in beliebigen 
Mengen in kurzer Zeit hergestellt werden kann. Ich verdanke die 
Angabe der Methode einer mündlichen Mitteilung des Herrn Prof. 
Renner vom hiesigen botanischen Institut und bin ihm dadurch 


344 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


zu vielem Danke verpflichtet, dem ich auch an dieser Stelle Aus- 
druck geben möchte. 


Il. Normaler Verlauf der Eibildung. 

Erste Voraussetzung einer Untersuchung vielleicht vorhandener 
Änderungen der Eibildung ist natürlich die genaue Kenntnis der 
normalen Vorgänge, wie sie durch die umfassenden Arbeiten Weis- 
mann’s bekannt sind. 

Danach entsteht das parthenogenetische „Sommerei“ aus einer 
Gruppe von 4 Zellen, der Keimgruppe. Je 3 Zellen der Keimgruppe 
werden nach Beendigung des Eigenwachstums von der Eizelle resor- 
biert und diese wächst auf Kosten der aufgenommenen Nährzellen 
stark an, füllt sich mit Dottertröpfehen und macht die Reifeteilung 
durch. 

Nach den Angaben Weismann’s und Kühn’s ist bis zum 
Augenblick der Resorption der Nährzellen kein Unterschied zwischen 
Ei und Nährzellen wahrnehmbar: „An den Zellen dieser jüngeren 
Gruppen von Keimzellen ist noch nichts von einer Differenzierung 
in Ei und Nährzellen zu sehen; alle haben noch gleiche Struktur 
und Größe“ ... „Dann wächst die Eizelle stärker als die anderen 
und speichert außerordentliche Mengen von Reservestoffen auf unter 
fortschreitender Rückbildung der Nährzellen“ (Kühn, 1911). 

Weismann stellt nur fest, dass es stets die dritte Zelle der 
Keimgruppe (vom Keimlager aus gerechnet) ist, die sich zur Eizelle 
entwickelt. Da aber beı Moina rect. die Keimzellen „keineswegs 
bloß in einer Zeile liegen, sondern sich übereinander schieben und 
außerdem die Keimzellen eine größere Selbständigkeit der Form 
bewahren als z. B. bei Daphnia, so ıst es oft, ja meistens, sehr 
schwer, die vier zusammengehörigen Zellen als Keimgruppen zu 
erkennen“ (Weismann, Abhandlung 2), so dass P. F. Müller (1868) 
glaubte, „dass Moina in bezug auf die Sommereier von dem Eibil- 
dungsmodus der übrigen Uladoceren abweiche: „ex una modo cellula 
veri simile est eam exoriri“ (Weismann, Abhandlung 2). „Auch 
bei den Kernen sieht man sich vergeblich nach einem Kennzeichen 
für die Eizellen um. Eine jede der großen, kugligen Kernblasen 
enthält schon in der jungen Keimzelle mehrere Nukleoli, zuerst nur 
2—-4, später aber, in dem Maße, als die Zelle heranwächst, immer 
zahlreichere, bis zu etwa 20°“ (Weismann, Abhandlung 2). „DO 
verhält es sich bei den Kernen der Eizelle wie bei de der Nähr- 
zelle. Erst die Abscheidung von Dotter lässt die Eizelle mit Sicher- 
heit erkennen“ (ebenda). 

Die erwähnten Nukleoli sind in der Tat ganz gleichmäßig in 
den Keimzellen jugendlicher Ovarıen und in dem als Keimlager 
bezeichneten unteren Abschnitte des Ovars vorhanden. Sie er- 
scheinen im Leben als rundliche, stärker lichtbrechende Körperchen, 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 345 
die sich auf allen untersuchten Stadien bei Färbung mit Säure- 
fuchsin-Methylgrün rein oxychromatisch verhalten und daher als 
echte Nukleolen angesehen werden dürfen. Sie liegen ın den noch 
ganz gleichartigen jugendlichen Keimzellen, den Oogonien, zu je 
6—8 etwa ın einem Kern (Fig. 1, 7). 

Erst mit dem Beginn der Wachstumsperiode erfolgt ein Zu- 
sammenschluss zu den von Weismann (s. 0.) beschriebenen Keim- 
gruppen, die allerdings in ihrer Zusammengehörigkeit schwer zu 
erkennen sein würden, wenn sich nicht neben dem bei Moina rect. 
wenig brauchbaren Merkmal der Lagerung der Keimzellen zueinander 
ein zweites Kennzeichen gefunden hätte, durch das nun auf diesem 
Stadium wenigstens Ei und Nährzelle gut voneinander unterschieden 
werden können. Man findet nämlich an Stelle der für die jungen 
Keimzellen beschriebenen, zahlreichen Nukleolen in jeweils drei Zellen 


Fig. 1. 





1: Junge Oogonien. 
2: Erste Diff. Periode. 
3: Keimzellen in der zweiten Wachstumsperiode. 


einer Keimgruppe einen einzigen, größeren, runden Kernbinnen- 
körper, während die vierte Keimzelle, die Eizelle, weiterhin einen 
aus zahlreichen Einzelbläschen bestehenden Kernbinnenkörper, ähn- 
lich dem der Oogonien, aufweist (Fig. I, 2). Die so aus deutlich 
unterscheidbaren Ei- und Nährzellen bestehende Keimgruppe wächst 
heran, bis nach Erreichung einer gewissen Größe der kompakte 
Nukleolus der Nährzelle zuerst in grobe, dann immer feinere Brocken 
zerfällt, bis schließlich in allen vier Keimzellen der Binnenkörper 
aus einem Haufen dicht gedrängter, kleiner Einzelkügelchen besteht 
(Fig. 1,3). 

Von diesem Augenblicke an bis zu dem Zeitpunkt, wo die 
Dotterabscheidung in der Eizelle auf Kosten der Nährzellen be- 
ginnt, kann man in der Tat, wie das Weismann und Kühn be- 
tont haben, beide Zellarten äußerlich nicht mehr voneinander unter- 
scheiden. Sie machen gemeinsam noch ein beträchtliches Wachstum 
durch, dann beginnen die Nukleolew der Nährzellen sich zu vakuolı- 
sieren, zu zerfallen, der Kern nimmt unregelmäßige Formen an, 
wird kleiner, in der Eizelle bilden sich die zunächst farblosen Dotter- 
tröpfchen, während die Nährzellen schwinden, bis schließlich die 


346 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


fertige Eizelle, deren Kern unter dem Haufen farbigen Dotters 
fast verschwindet, die Reifungsteilung durchmacht und in den Brut- 
raum übertritt. 
Wir unterscheiden demnach ım Verlaufe der Eibildung vier 
Perioden: 
1. das Oogonienstadium der Keimzelle, 
2. erste Wachstumsperiode: Ausbildung von Keimgruppen, in 
denen die Eizelle gegen die Nährzellen durch die Beschaffen- 
heit des Nukleolus differenziert ist: Periode der ersten Diffe- 
renzierung, 
. zweite Wachstumsperiode: Ei- und Nährzellen sind durch die 
Beschaffenheit des Nukleolus nicht mehr unterschieden, 
4. die Eizelle differenziert sich gegenüber den allmählich schwin- 
denden Nährzellen durch Ausbildung des Dotters und macht 
die Reifeteilung durch: Periode der zweiten Differenzierung. 


3%) 


IV. Änderungen der Eibildung im Verlaufe des Zyklus. 

Die Untersuchungen von Papanicolau, Woltereck, 
v. Scharffenberg hatten ergeben, dass die Tendenz zur Bildung 
von befruchtungsbedürftigen Eiern mit der Zahl der Generationen 
und Würfe zunımmt. Es musste daher zunächst untersucht werden, 
ob ım Verlaufe des Zyklus Abweichungen von dem eben als Norm 
dargestellten Eibildungsmodus vorkommen (der daraufhin beob- 
achtete Zyklus ist ın der Tabelle I zusammengestellt!). 


Tabelle I. 
E22.X, 


HR 266.0 - 


H’ 31.|X. 69 \ HS RT 

| | 
H} 5.[XT. 59 19 (H}); 9./XL 

| | 

2 RUa) 29 AZ ne } : 
. 17.IXL(b) 129 (H}), 19./XL.(b) 169 
H’ 18./XI.(a) 69 (H;)} 23.[XI. 59 19 


4\6 r 
NT (H})! 28./XI. 39. 

1) Die Bezeichnungen sind so zu verstehen, dass mit Buchstaben oder laufender 
Nummer die ganze, von einem Muttertier ausgehende Versuchsreihe charakterisiert 
wird. Der obere Index bezeichnet die Generationszahl, der untere die Zahl des 
Wurfes, dem das Tier angehört. Als erste Generation wurde die Tochtergeneration 
des aus dem Ephippium geschlüpften Tieres bezeichnet. Dieses selbst erhielt die 
oberen und unteren Indices „0“. „a bedeutet, wie bei Papanicolau, „befruch- 


tungsbedürftiges Weibchen‘. 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 347 


Hierbei ergab sich, dass die eben für das der ersten Gene- 
ration und dem ersten Wurf angehörige Tier (H!) gegebene Dar- 
stellung nicht allgemein für Angehörige anderer Generationen oder 
Würfe gilt. 

Bei dem eben aus dem Winterei geschlüpften Tiere (H}) wird 
im Stadium der ersten Differenzierung, wie wir es in der oben ge- 
gebenen Zusammenfassung genannt haben, ein Unterschied zwischen 
Ei und Nährzellen bei weitem nicht so deutlich, wie bei dem 
Tochtertier (H!). Die Nährzellnukleolen sind hier nicht alle ein- 
heitlich, sondern zu 2-—-3 oder auch noch mehr gröberen Stücken 
aufgelockert oder zeigen, wenn sie einheitlich geblieben sind, unregel- 
mäßige gelappte Formen. Jedenfalls weichen sie von der einfachen 
Kugelform ab und scheinen irgendwelche Oberflächenvergrößerung 


OEz 


II, 1 II, 2 


1: Keimgruppe eines normalen ex-Ephippio-2. 
2: Keimgruppe eines spät ausgeschlüpften ex-Ephippio-?. 


Fig. I. 





anzustreben (Fig. II, 7). Das bleibt auch so, bis die zweite Wachs- 
tumsperiode erreicht wird, in der dann das Bild mit dem für H! 
Gegebenen übereinstimmend wird. 

Auch in späteren Generationen und Würfen ist häufig der 
Unterschied zwischen Ei- und Nährzellen undeutlich oder gar nicht 
mehr zu erkennen. Doch während beı 
dem aus dem Ephippium schlüpfen- Tabelle II. 
den Tiere die Unterscheidung dadurch 


Kompakte Eizellnukleolen 








schwierig wurde, dass die Nährzell- wurden beobachtet 
nukleolen denen der Eizelle ähnlich in nach dem 
blieben, ist in den späteren Generationen "—seneration Wurf 
das Umgekehrte der Fall: Der Eizell- —————— 1 
nukleolus bleibt wie der der Nährzellen M' | AaR 
in der ersten Wachstumsperiode kom- m: 2 
pakt (vgl. Fig. III). In der Tabelle II ıst Mm: | 9 
eine Zusammenstellung derjenigen Fälle Mm; | 9 
gegeben, in denen ein solches Verhalten N. 21 
der Nukleolen im Verlaufe des Zyklus ER (1) 
beobachtet wurde. Es ist daraus ohne Mm; ! 
weiteres ersichtlich, dass das in früheren Mi) | ı 


Generationen nur bei Angehörigen spä- 
terer Würfe, bei späten Generationen bereits im ersten Wurfe der 
Fall ist. 


48 Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 


Das gleiche veranschaulicht die folgende Übersicht über das 
Auftreten kompakter Nukleolen, wie ich sie aus meinen Protokollen 
zusammenstellte (Tabelle III). 

Aus der Betrachtung dieser, wenn auch wenigen Vergleichs- 
formen, geht hervor, dass für die Gestalt des Nukleolus das Alter 
des Tieres sowohl als das des Zyklus von Bedeutung ist, dass also 
im Eibildungsmodus des Einzeltieres mit zunehmendem Individual- 
alter und mit zunehmendem Alter des Zyklus sich Differenzen 
ergeben, die in der Gestalt des Nukleolus ihren Ausdruck finden. 


Dapelle III. 














BT Generation | | n a en ? en 

1134 M! 2 Ovulat. normal | 3 
193 M! AR Sn, Ä | 5 
155 M: Ba te; ? | 3 
188 — 1 männlicher Wurf 2 
190 = 1 R a 2 

ll _ 1 Ovulat. normal | 22. und.3 
RR M; | 1 
r ( 2): 1 
)) (M}): | | ) 2 
” | (M > ) 4 | 2 
XXXII (M!): | 1 











V, Einfluss der Ernährung und Temperatur. 

Die Veränderungen der Eibildung bei Ernährungs- oder Tempe- 
raturänderungen wurden in der Weise untersucht, dass von zwei 
Geschwistertieren das eine unter normalen Verhältnissen, das andere 
unter abgeänderten Bedingungen aufgezogen, und der Zustand der 
OÖvarien täglıch verglichen wurde. 

a) Wirkung des Hungers: 

Von zwei Geschwistertieren der ersten Generation und des 
ersten Wurfes wurde das eine in gewohnter Weise mit grüner 
Algennahrung, das andere in reinem Leitungswasser, also ohne jede 
Spur von geformter Nahrung aufgezogen. Während das erste Tier 
einen völlig normalen Eibildungsverlauf zeigte und am 4. Tage 
nach der Geburt die Eier in den Brutraum übertraten, entwickelte 
sich das Hungertier erstens sehr langsam (es wuchs im Laufe von 
6 Tagen von 0,55 auf 0,79 mm, während das gutgenährte Schwester- 
tier in 4 Tagen von 0,55 auf 0,86 mm anwuchs) und zweitens 
waren vom 3. Tage an die Nukleolen aller Keimzellen, der Ei- so- 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung. bei Moina reetirostris. 349 


wohl als der Nährzellen kompakt geworden, ähnlich wie das oben 
schon für Tiere späterer Generationen geschildert worden ist. Sie 
behielten diese Form bis zum 6. Tage der Beobachtung, an dem 
etwas Nahrung zugesetzt wurde, um das Tier vor dem Eingehen 
zu bewahren. Hierauf wuchsen die Keimzellen bis zum 7. Beob- 
achtungstage recht beträchtlich, die Nukleolen gelangten in der für 
die normale Entwicklung typischen Weise zur Auilösung, ver- 
mochten aber offenbar diese nicht mehr durchzuführen, da am 
nächsten Tage sämtliche Keimgruppen im Ovar zerfallen waren, 

Ebenso verlief die Reaktion auf Nahrungsentziehung in einem 
zweiten Falle, in dem 13 Geschwistertiere in reinem Leitungswasser 
gehalten wurden. Zwölf von ihnen gingen schon am 2. Tage wohl 
infolge des Nahrungsmangels ein; nur eins, das von Anfang an 
größer und kräftiger als die anderen gewesen war, entwickelte sich 
weiter. Dabei zeigten sich während der ersten 4 Hungertage die 
Eizellnukleolen noch bis zu gewissem Grade aufgelockert. Erst am 
5. Tage trat die typische Hungerreaktion ein: der Nukleolus wurde 
ganz kompakt. Um die Entwicklung der Eier bis zum fertigen 
Tiere verfolgen zu können, wurde wieder etwas Nahrung zugesetzt, 
worauf die Keimgruppen kräftig wuchsen und die Nukleolen den 
für die zweite Wachstumsperiode charakteristischen Typus annahmen. 
Offenbar war aber auch hier das Tier zu sehr geschwächt, um die 
Fähigkeit zur Ausbildung eines Eisatzes wieder zu erlangen; die 
Keimgruppen gingen auch hier auf dem Stadium der Zellverschmel- 
zung zugrunde. 

b) Wirkung der Temperatur: 

Ebenso wie bei Nahrungsreduktion wird der Eizellnukleolus 


bei Herabsetzung der Temperatur (12° C), während der ersten 
Wachstumsperiode 


einfach und kompakt; Bier 

er lockert sich aber DEN 

dann während der '@ 
® 


zweiten Wachstums- 
periode auf und es ge- 
langen, wenn auch 
sehr langsam, fertige 
Eier zur Ausbildung. 
Wird den in der Kälte I 
aufgezogenen Tieren 1: 1. Wachstumsperiode Hunger bei 12° C. 
auch die Nahrung ent- SE y 20°C. 
zogen, so wird der 

kompakte Nukleolus nicht nur seiner Oberfläche, sondern auch 
seiner Masse nach erheblich reduziert. Das tritt besonders hervor, 
wenn man das in der Fig. Ill, 7 abgebildete Stadium mit dem auf 
Fig. III, 2 dargestellten vergleicht. 





„ .. „ 


>50 Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 


Ich konnte während der zahlreichen analog verlaufenden Be- 
obachtungen an solchen Kälte-Hunger-Tieren niemals beobachten, 
dass derartige Keimzellen, auch wenn später Nahrung zugesetzt 
wurde, sich weiter entwickelten. Sıe sind, so weit ich entscheiden 
konnte, stets entwicklungsunfähig. Die ihrer Masse nach nicht ver- 
kleinerten Nukleolen dagegen, wie wir sie bereits unter verschie- 
denen Verhältnissen auftreten sahen, bedingen nıcht ohne weiteres 
ein Zugrundegehen der Keimgruppen. Sie sind, wenn man mit 
einem geringen Nahrungszusatz nachhilft, entwicklungsfähig. Das 
konnte ich vor allem auch an einer recht beträchtlichen Anzahl 
von Beobachtungen feststellen, die sich ihrem Wesen nach direkt 
an die Experimente mit hungernden Tieren angliedern: 


c) Einfluss der Prädisposition des Tieres. 


Bei Untersuchung größeren Materials ließ sich feststellen, dass 
es einige Fälle gibt, bei denen auch ohne die im Experiment ge- 
stellten Bedingungen und ohne Beziehung zu Generations- und 
Wurfzahl die für Hunger charakteristischen Erscheinungen sich 
zeigten. Die betreffenden Tiere waren ın der Regel schon von 
vornherein auch in ıhrem somatischen Verhalten daran kenntlich, 
dass sie kleiner waren als die unter gleichen Kulturbedingungen 
gehaltenen Schwestertiere, dass der Fettkörper nur sehr spärlich 
oder gar nicht entwickelt war, und dass der Darm, wenn er über- 
haupt gefüllt war, in wenig lebhafter Tätigkeit zu sein schien. Es 
handelte sich also um Tiere, die von vornherein alle die Erschei- 
nungen zeigten, die bei den oben geschilderten Hungertieren erst 
experimentell erzeugt werden mussten. Sie kommen, soviel ich 
beobachten konnte, in allen Generationen und Würfen, ohne Aus- 
nahme vor. Bei der Untersuchung gemeinschaftlich aufgezogener 
Geschwistertiere wird man sehr häufig, fast möchte ich sagen in 
der Regel, einzelne Individuen treffen, die ın der geschilderten 
Weise hinter den andern in der Entwicklung zurückstehen, die ohne 
Beziehung zum Milieu das Verhalten von Hungertieren zeigen. So 
befand sich von 3 ım gleichen Glase befindlichen Geschwistertieren 
das eine noch in der ersten Wachstumsperiode und wies ın sämt- 
lichen Keimzellen den einfachen kompakten Nukleolus auf, indessen 
von den beiden anderen das eine bereits einen fertigen Wurf im 
Brutraum trug, das andere wohl entwickelte, kurz vor der Reife 
stehende Keimgruppen zeigte. 

In einem andern Falle waren 5 Geschwistertiere ım gleichen 
Glase der Kälte ausgesetzt. Es ıst aus Fig. IV unmittelbar zu er- 
sehen, wie verschieden diese 5 Tiere auf die Bewirkung von außen 
reagierten, und es geht aus den zu der Abbildung gemachten An- 
gaben ohne weiteres hervor, dass der aus der Figur erkennbare 
Auflösungsgrad der Eizellnukleolen zu der Größe des Einzeltieres 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Morna rectirostris. 351 


in Beziehung steht, dass ferner der Ausbildungsgrad des Fettkörpers 
— gut — mittel — oder mangelhaft — ebenfalls in direktem Ver- 
hältnis zu den beiden ersten Faktoren steht. 

Gerade dieser letzte Umstand beweist, dass wir es hier mit 
einem, von Natur mangelhaft ausgestatteten Tiere zu tun haben: 
Beruhte die Kleinheit der Tiere auf nichts anderem als etwa einer 
individuellen Größendifferenz, wie sie überall im ganzen Organısmen- 
reich vorkommen, so müssten wir erwarten, dass der Ausbildungs- 
grad des Fettkörpers von dem der Schwestertiere gar nicht unter- 
schieden, im Gegenteil eher stärker als schwächer entwickelt wäre, 
da ja ein kräftiges Wachstum sicherlich dazu beiträgt, auch den 


Fig. IV. 





IV, 4 Ryr5 

1: Ausgangsmaterial 0,61 mm Länge. 
Nach eintägiger Kältewirkung bei 12° C: 

2 Eee „ . Fettkörper gut entwickelt. 
BE Oin3e Ba en mittelgut entwickelt. 
4: WO, RR h H 25 5 
5: 0,52, SEE s fast völlig verschwunden. 
6: 0,55 


„ „ . „ 2} „ „ 


Abbau des Fettkörpers zu beschleunigen, so dass rascher gewachsene 
Tiere auch einen stärkeren Verbrauch der Reservenahrug erkennen 
lassen würden. Die mangelhafte Ausbildung des Fettkörpers der 
im Wachstum zurückgebliebenen Tiere lässt also erst den Schluss 
zu, dass es die von Natur schlechtere Lebenslage des Tieres ist, 
auf die wir erstens seine Kleinheit und zweitens das Verhalten der 
Nukleolen zurückführen müssen. Auch der Zustand des Darmes 
lässt meistens einen direkten Schluss auf den allgemeinen Kräfte- 
zustand des Tieres zu. Alle erstgenannten Momente sind meist 
mit einer quantitativ oder qualitativ mangelhaften Ernährung ver- 
knüpft, die aber nicht, wie die oben angeführten Beispiele gezeigt 
haben, in dem Zustand und der Menge der gebotenen Nahrung 
ihre Ursache haben, sondern offenbar in der herabgesetzten Vitalität 
des Tieres. Besonders auffallend wurde das an Beobachtungen 
von mangelhaft ausgestatteten Tieren, die ich anfangs hauptsäch- 
lich in 12° und 15° C, dann auch gelegentlich bei höheren Tem- 


2 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


peraturen machen konnte. Die grüne Algennahrung hatte offenbar 
den größten Teil des Darmtraktes unverdaut passiert und lag nun 
in der Biegung des Enddarms gestaut, wo sie auch offenbar nicht 
mehr verdaut werden konnte, wie an der völlig unveränderten 
Konsistenz der kleinen Algen ersichtlich war. Nach Biedermann 
(Winterstein’s Handbuch der Physiologie, Bd. II, Teil 7) findet 
ja auch der eigentliche Verdauungsprozess ausschließlich im Mittel- 
darme der Üladoceren statt. 

Dass die Keimzellen aller derartiger Tiere dieselben Erschei- 
nungen zeigten, die auch durch direkte Nahrungsentziehung hervor- 
gerufen werden, ist nach allem, was eben gesagt wurde, selbstver- 
ständlich. 

Andererseits kann es auch wieder die günstigere Gesamtver- 
fassung des Tieres sein, die es in seinen Reaktionen von den Ge- 
schwistertieren unterscheidet. Das zeigt das Tier, von dem schon 
oben gelegentlich der Hungerwirkungen die Rede: war, und das als 
einziges von 13 Schwestertieren die extremen Hungerbedingungen 
zu ertragen vermochte. Dieses Tier war, was Größe, Zustand des 
Fettkörpers u. s. w. betrifft, von vornherein allen Schwestern sıcht- 
lich überlegen und aus diesem Vorsprung, dessen Ursachen natür- 
lich unkontrollierbar sind, erklärt es sich wohl, dass es sich in 
seiner Wiıderstandsfähigkeit gegen das ungünstige Milieu so auf- 
fallend von seinen Schwestern unterschied. 

Wenn es durch derartige Beobachtungen anfangs scheinen 
musste, als ob die Unterscheidung von Hunger-Kältenukleolen 
einerseits und normalen Nukleolen andererseits eine ganz willkür- 
liche sei, da ja auch in „Normalkulturen“ derartige Bildungen auf- 
traten, so erwies sich im Gegenteil mit der Erkenntnis, dass es 
sich hier um Formen handelt, die von Natur schwach sind, diese 
Unterscheidung als durchaus gesetzmäßig und begründet. 

Von Interesse ist vielleicht die Beobachtung, dass derartige 
Formen sich bereits unter den aus dem Ephippium stammenden 
Tieren finden. Leichte Unterschiede ım Ausbildungsgrad des Fett- 
körpers, gepaart mit Größendifferenzen, weisen auch hier schon auf 
Individualdifferenzen hin, die in dem völligen Mangel des sonst bei 
M'-Tieren besonders stark entwickelten Fettkörpers ihren äußersten 
Grad erreichen. Überflüssig zu sagen, dass bei solchen Tieren sämt- 
liche Nukleolen das typische Aussehen des Hungernukleolus bekommen 
(vgl. Fig. II, 2). „Verdauungsstörungen“ können bei solchen Tieren, die 
eben erst aus dem Ephippium kommen, unfraglich nicht für die 
Schwächeerscheinungen verantwortlich gemacht werden. Dagegen 
zeigt es sich, dass, soweit ich beobachten konnte, alle diese Tiere 
erst erheblich später in der Kultur auftraten, als die normal sich 
verhaltenden Tiere. Im Thermostaten von 24° G finden sich ge- 
wöhnlich die ersten ausgeschlüpften Tiere vereinzelt bereits nach 


Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 353 


4 Tagen; am 6. oder 7. Tage steigt dann die Zahl außerordentlich, 
das Maximum kann wohl auch noch bis zum 10. Tage anhalten, 
dann sinkt die Frequenz aber ebenso rapide wie sie gestiegen war, 
und wieder treten nur ganz vereinzelte Individuen in dem Glase 
auf. 5 Wochen nach dem Ansetzen der Epluppien fand ich noch 
eben ausgeschlüpfte Tiere ın dem stets sorgfältig beobachteten 
Glase vor. Und eben diese Spätlinge, etwa von der 2. Woche 
nach dem Ansetzen an, waren es, die sich durchweg als mangel- 
haft ausgestattet erwiesen. 

Es ist nicht ganz unwichtig, das Vorkommen solcher Indi- 
vidualdifferenzen zu betonen. Denn sicherlich lassen sich manche 
Widersprüche in den experimentellen Resultaten, viele zunächst 
unverständliche Reaktionen auf derartige primäre Unterschiede bei 
Geschwistertieren zurückführen. Es ıst klar, dass es auch für den 
Verlauf des Zyklus von Bedeutung sein muss, welchem Typus das 
ursprüngliche Ausgangstier angehört und dass hier eine Nicht- 
beachtung der vorliegenden Verhältnisse experimentelle Resultate 
ebenso verwirren kann, wie die Versuche mit Geschwistertieren, 
die auf ihren Gesamtzustand nicht vorher untersucht wurden. Zu- 
mindest muss man daraus die Forderung ableiten, bei allen Experi- 
menten das Versuchsmaterial unter allen Umständen genau zu prüfen, 
wenn man zu gültigen Resultaten aus wirklich vergleichbaren Ver- 
suchsreihen kommen will. Ein Blick in die Tabellen der bisherigen 
experimentellen Untersuchungen genügt, um zu zeigen, dass wir 
hier beträchtliche Schwankungen beobachten können, wie sie dem 
biologischen Experiment im Gegensatz zum physikalisch-chemischen 
eigentümlich sind. Genau genommen sind eben die Versuchsbedin- 
gungen im biologischen Experiment nie ganz gleich, jedes Ver- 
suchstier bringt seinen eigenen Bedingungskomplex mit und nur 
durch eine sehr große Zahl von Experimenten oder aber möglichst 
sorgfältige Prüfung des Ausgangsmaterials ist es möglich, die 
Fehlergrenzen einzuschränken. 


d) Intravitale Färbung mit Neutralrot. 


In Ergänzung der vorstehenden Mitteilungen seien noch kurz 
die Beobachtungen wiedergegeben, die ich an intravital gefärbtem 
Material machen konnte (Fig. V). Bei intravitaler Färbung mit 
Neutralrot (es wurde nach den Fischel’schen Angaben eine sehr 
schwache weingelbe Lösung verwendet), die ich in der Absicht aus- 
führte, etwas über die Natur des von Weismann beschriebenen 
„blasigen Epithelgewebes“ im Ovar zu erfahren, fiel auf, dass auf 
einem bestimmten, recht frühen Wachstumsstadium des Ovars in 
allen Keimzellen ein scharf umschriebener Plasmabezirk, anfangs 
nur schwach, dann aber immer stärker den Farbstoff speichert. 
Diese Bildung hält an bis zu dem Augenblick, in dem das Eigen- 

RIRY 23 


354 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


wachstum der Keimzellen aufhört. Von dem Zeitpunkte an, wo 
das Wachstum der Eizellen nur noch auf Kosten der Nährzellen 
geschieht, also am Ende der zweiten Wachstumsperiode, ließ sich 
keine intravitale Färbung mehr im Ovar erzielen. 


Fig. V'). 





y,7 V,‚8 
1—5 Eientwicklung bei Neutralrotzusatz. 

1; 24./I. Noch ungefärbt. 
2 u. 3; 25./I., 26./]I. Während des Wachstums starke Färbbarkeit. 
27.]I. Junge Oocyten der 2. Eibildung (Eizellnukleolus kompakt). 
28./I. Wiederum mit beginnendem Wachstum starke Färbbarkeit (bei 

5a eine der Keimzelle anliegende Drüsenzelle). 

6—8 Ebenfalls Entwicklung unter Einwirkung von Neutralrot. 
6 u. 7; 20./T., 21./I. In der wachsenden Keimzelle wird Neutralrot gespeichert. 

8; 22.[I. In der geschädigten, nicht weiter wachsenden Keimzelle ver- 

schwindet die Färbung. 


Fig. V, 1 bis 8 stellen diese Verhältnisse für zwei Einzelfälle, 
zwei Geschwistertiere, dar, von denen das eine (/—5) bis zur Ablage 
des ersten Wurfes und Ausbildung des zweiten Eisatzes beobachtet 
werden konnte, während das andere (6— 8) gar nicht zur Ausbildung 
eines Wurfes gelangte und nach dreitägiger Beobachtung einging. 
Es handelte sich also im zweiten Falle um eine Schwächeform, was 
auch in der relativ geringen Wachstumsgröße zum Ausdruck kommt. 
Während das eine Tier innerhalb 3 Tagen von 0,66 auf 0,77 mm 
heranwuchs, wuchs das schwächere Schwestertier nur von 0,65 auf 
0,67 mm. Dementsprechend war bei dem letzteren Tier der Fett- 
körper schlecht entwickelt, der Darm mangelhaft gefüllt und, wie 


“ Die intravital gefärbten Plasmabezirke sind in der Abbildung schwarz wieder- 
gegeben. 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 355 
aus der Fig. V, 6 hervorgeht, von Anfang an der Eizellnukleolus 
kompakt. Bei dem kräftigen Tiere wurde der Eizellnukleolus eben- 
falls, jedoch erst bei der zweiten Eibildung, kompakt. Hieraus 
lässt sich wohl schließen, dass das Neutralrot ın ähnlicher Weise 
schädigend wirkt, wie die vorher besprochenen Faktoren. 

Gleichzeitig zeigt dieses Experiment, wie eng das Auftreten 
des kompakten Nukleolus mit Wachstumshemmungen zusammen- 
hängt. Die Neutralrotfärbung hält, wie wir oben gesehen haben, und 
wie es in Fig. V, /—5a dargestellt ıst, während der ganzen Wachs- 
tumsperiode des Eies an, bis zu dem Augenblick, wo das selb- 
ständige Wachstum des Eies aufhört. Im Gegensatz hierzu zeigen 
die in Fig. V, 6—8 abgebildeten Keimzellen des schwächeren Tieres 
die Neutralrotfärbung überhaupt nur sehr schwach, und wir sehen 
sie auf einem Stadium verschwinden, wo das normale Keimzellen- 
wachstum noch lange nicht beendet sein sollte. Das stimmt nun 
genau mit der Tatsache überein, dass das Wachstum dieses Tieres, 
wie oben erwähnt, während der Beobachtung ganz gering war, und 
dass auch die Keimzellen in der gleichen Zeit, ın der das Schwester- 
tier seinen ersten Wurf ausbildete, kaum sichtbar. wuchsen, wie 
die Abbildung V, 6— 8 zeigt. Wir können daraus also schließen, dass 
die Fähigkeit, intra vitam Farbstoffe zu speichern, eine Eigentüm- 
lichkeit des wachsenden Eies ist, wobei es offen bleiben muss, 
ob die gefärbten Plasmabezirke Stoffwechselendprodukte oder im 
Gegenteil eine Art Reservestoffspeicher oder was sonst sie dar- 
stellen. Bleibt die Neutralrotfärbung in der Periode aus, in der 
normalerweise das Eı wächst, so ıst als ein Zeichen dafür anzu- 
sehen, dass die Zelle ihre Stoffwechseltätigkeit eingestellt oder 
wenigstens stark vermindert hat. Die geringe Färbbarkeit mit 
Neutralrot ist daher in dem in Fig. V, 6—8 dargestellten Falle ein 
weiterer Beweis dafür, dass Wachstumshemmungen und das Auf- 
treten des kompakten Nukleolus eng miteinander verknüpft sind. 

Es würde zu falschen Vorstellungen führen, wollte man die 
oben geschilderten Vorgänge als unabänderliche, stets das gleiche 
Bild ergebende Geschehnisse ansehen. Ich habe oben schon be- 
tont, dass das biologische Experiment eine sehr große Mannigfaltig- 
keit von Versuchsbedingungen bietet, denen eine große Mannig- 
faltigkeit von Reaktionen entspricht. So ist es klar, dass die 
Anwendung gleicher Faktoren keineswegs immer zu den gleichen 
Resultaten führt. Bei einer Schwächeform wird Verschlechterung 
des Milieus die Gestalt des Nukleolus anders beeinflussen, als bei 
einem von Natur gut veranlagten Tier. Bei dem einen Tier geht 
die Veränderung sehr rasch, bei dem anderen sehr langsam von 
statten, oder führt wohl auch gar nicht zu der Endform des kom- 
pakten Nukleolus. Da der von außen wirkende Faktor stets der 
gleiche ist, so müssen derartige vermittelnde Formen als Resultat 


23* 


356 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 


des Zusammenwirkens von konstantem Außenfaktor und variablem 
Innenfaktor gewertet werden. Sie spiegeln getreu den jeweiligen 
physiologischen Gesamtzustand des Tieres wieder und lassen sich 
natürlich in beliebiger Anzahl zwischen die beiden Endpunkte der 
Reihe der Eizellnukleolenformen einordnen. Auch an die oben er- 
wähnte Tatsache, dass die Nährzellnukleolen der ex-Ephippio- 
Weibchen, deren Ausstattung vom Dauerei her besonders gut ist, 
eine relativ starke Oberflächenvergrößerung erfahren, möge in diesem 
Zusammenhange noch einmal erinnert werden. 

Demnach haben wir, wenn wir ein vollständiges Bild der bis- 
her mitgeteilten Beobachtungen gewinnen wollen, folgende Tat- 
sachen im Auge zu behalten: 

Während einer bestimmten Wachstumsperiode unterscheidet 
sich der Eizellnukleolus durch beträchtliche Oberflächenvergrößerung 
von den Nährzellnukleolen. 

Dieser Unterschied kann verwischt werden, nach der einen 
Seite hin durch Oberflächenvergrößerung der Nährzellnukleolen, 
nach der anderen Seite hin durch Oberflächenverkleinerung des Ei- 
zellnukleolus. 

‘Diese Verkleinerung kann ein Maximum annehmen, das zur 
Entwicklungsunfähigkeit führt. Zwischen diesem Typus und dem 
normalen Typus bestehen alle Übergangsformen. 

Als Korrelat dieser Erscheinungen und wahrscheinlich in ur- 
sächlichem Zusammenhange mit ihnen erkannten wir die Intensität 
des Stoffwechsels: 

1. Die Oberflächenvergrößerung der Nährzellnukleolen fand sich 
nur bei besonders gut ausgestatteten Tieren, vor allem bei 
denen, die dem Ephippium entschlüpft waren. 

2. Die Oberflächenverkleinerung des Eizellnukleolus ließ sich unter 
den verschiedensten Verhältnissen konstatieren, die einer Herab- 
setzung der Stoffwechselintensität entsprechen. Das waren: 
a) Alter des Tieres, 

b) Alter des Zyklus, 

c) Hunger, 

d) Kälte, 

e) mangelhafte, vielleicht pathologische Prädisposition des 
Tieres, wie sie sich etwa in abnorm langer Entwicklungs- 
dauer im Ephippium äußert, 

f) Schädigungen auf chemischem Wege, wie sie vielleicht in 
der Einwirkung von Neutralrot gegeben sind. 

Erinnern wir uns nun der Ausgangsfragestellung, „welche mor- 
phologischen Veränderungen im Verlauf der Eibildung lassen sich 
mit der Tendenzänderung des Zyklus, mit dem allmählichen Über- 
gang von ein- zu zweigeschlechtlicher Fortpflanzung in Verbindung 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 357 


bringen?“, so fällt zunächst auf, dass die vier, die Veränderungen 
des Nukleolus bedingenden Punkte a—d genau dieselben sind, die 
sich im Experiment als geschlechtsbestimmend, besser als be- 
stimmend für das Auftreten der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung 
erwiesen haben. Es würde also sehr nahe liegen, das Auftreten 
kompakter Nukleolen als Charakteristikum für den Übergang der 
Tiere zur Bisexualität zu betrachten. Freilich können wir nicht 
erwarten, aus allen Keimgruppen mit kompakten Einukleolus Sexual- 
tiere hervorgehen zu sehen. So wenig wie im Experiment das Aul- 
treten von Sexualtieren obligatorisch an verschlechterte KExistenz- 
bedingungen geknüpft ist, ebensowenig werden die kompakten 
Nukleolen, die wir als Begleiterscheinung verschlechterter Exıstenz- 
bedingungen kennen gelernt haben, als Merkmale sexuparer Weib- 
chen anzusehen sein. Wir können bisher nur konstatieren, dass 
die Phänomene am Nukleolus mit den Erscheinungen parallel gehen, 
die für die Sexualtendenzänderung als Ursache verantwortlich ge- 
macht worden sınd. 

Im folgenden Kapitel wird eine Reihe von Erscheinungen zu 
besprechen sein, die vielleicht geeignet sind, den Parallelismus 
der Sexualtendenzänderung und der Nukleolenform noch deutlicher 
zu erweisen. 


VI. Bildung des Dauereis. 


Die Bildung des befruchtungsbedürftigen Dauereis stellt den 
Endpunkt einer Reihe dar, als deren Ausgangspunkt der normale 
Eibildungsmodus ım Sinne, der anfangs gegebenen Darstellung zu 
betrachten ist. Wir müssen uns daher, um Ihr gangsformen chi 
einreihen zu können, mit den Eigentümlichkeiten des Dauerei- 
bildungsprozesses beschäftigen. Auch hier sind wir über die funda- 
mentalen Tatsachen durch Weismann unterrichtet, der feststellte, 
dass die Bildung eines Dauereis durch die Resorption einer großen 
Anzahl von Keimgruppen (den sogen. sekundären Nährzellen, im 
Gegensatz zu den drei primären, dr auch in der Sommerei bildung 
zu jeder Eizelle gehören) erfolgt. Bekannt ist ferner, dass die 
Dauereikeimgruppe bei einer großen Zahl von Uladoceren stets nur 
an einer bestimmten Stelle des Ovars sich bildet. Sie folgt un- 
mittelbar auf das Keimlager und ist an ihrer die übrigen Keim- 
gruppen übertreffenden Größe und an der Abscheidung des typischen 
Dauerdotters erkennbar. 

Auch bei Moina rect. findet man die Dauereikeimgruppe stets 
an dieser Stelle, und es ließ sich feststellen, dass sie sich schon in 
ihrer ersten Anlage an drei Merkmalen von den übrigen Keim- 
gruppen unterscheiden lässt (Fig. VD. 

Erstens ist sie von dem Zeitpunkt ab, auf dem überhaupt 
Keimgruppen unterschieden werden können, obwohl sie ihrer Lage 


358 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


nach als jüngste Keimgruppe betrachtet werden muss, wie schon 
erwähnt, sichtlich größer als die Schwesterkeimgruppen (vgl. VIa u. b). 

Zweitens zeigten sämtliche Nukleolen den kompakten Typus 
im Gegensatz zu den sekundären Nährzellkeimgruppen, die wie ge- 
wöhnlich während der ersten Wachstumsperiode mit drei kompakten 
und einem aufgelösten Nukleolus ausgestattet sind. Abweichungen 
des Dauereinukleolus von der völlig kompakten Form waren stets 
sehr unbedeutend und äußerten sich meist nur im Auftreten der 
gelappten oder sonstwie unregelmäßigen Form des Nukleolus; 
höchstens aus zwei Stücken bestehende Nukleolen wurden beobachtet. 

Drittens: Regelmäßig war die Eizelle und ebenso Eizellkern 
und Eizellnukleolus erheblich kleiner als die Nährzellen und ihre 
Bestandteile). 


Fig. VI. 


KOLOCICH 
® O0 


Sa 





VI, 2b 


1: Junge Dauereikeimgruppe. «a Dauereikeimgruppe, b Nährzellen. 
2: Ältere Dauereikeimgruppe. a und b wie oben. 


Bis zu einem gewissen Zeitpunkt bestehen die Größenverhält- 
nisse zwischen Dauereikeimgruppe und sekundären Nährzellkeim- 
gruppen einerseits, zwischen Eizellen und primären Nährzellen 
andererseits, in der beschriebenen Weise weiter, bis schließlich 
primäre und sekundäre Nährzellen resorbiert werden, der Eizell- 
kern die Kerne der Nährzellen stark überwächst, und in der Eiı- 
zelle der Dauerdotter abgelagert wird. 

Die Nukleolen aller vier Keimzellen bestehen um diese Zeit, 
ebenso wie in der entsprechenden Periode der Sommereibildung 
(zweite Wachstumsperiode), aus vielen kleinen gehäuften Einzel- 
kügelchen (Fig. VI, 2). 

Von den drei oben angeführten konstanten Merkmalen der 
frühen Dauereianlage ist uns das eine, die kompakte Beschaffen- 


9) De Charakteristikum der Dauereikeimgruppe lässt sich bereits auf einer 
von Spengel angefertigten Zeichnung der Dauereibildung bei Evadne erkennen, 
die in der Weismann’schen Abhandlung VII, Tafel X, Fig. 23, veröffentlicht ist. 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 359 


heit aller Nukleolen, eine aus dem ersten Teile der Untersuchungen 
wohlbekannte Erscheinung. Wir hatten schon dort auf die auf- 
fällige Korrelation der Nukleolenform und der Sexualtendenzände- 
rung bei verschlechterten Existenzbedingungen hingewiesen. Das 
konstante Auftreten des kompakten Nukleolus in der Dauereikeim- 
gruppe legt den Gedanken an eine derartige Beziehung wiederum 
recht nahe. Gerade bei Moina rect. ıst auch die Möglichkeit einer 
Kontrolle eines derartigen Zusammenhanges gegeben. 

Bekanntlich bildet Moina rect. ım Gegensatz zu den meisten 
anderen Uladocerengattungen nur in einem Ovar ein Dauerei aus, 
das in das einkammerige Ephippium übertritt. Es gibt vereinzelte 
Fälle, in denen in beiden Ovarien gleichzeitig Dauereikeimgruppen 
auftreten, von denen aber entweder die eine rückgebildet, oder aber, 
wenn sie etwa hinter der anderen im Wachstum zurückblieb, bald 
nach dem ersten Dauerei abgelegt werden kann. Im allgemeinen 
aber wird man, wenn in dem einen Ovar ein Dauerei angelegt 
wird, das Ovar der anderen Seite immer in Sommereibildung treffen. 
Ist nun der Umschlag ın der Sexualtendenz tatsächlich mit der 
Veränderung der Nukleolen verknüpft, so wird man erwarten 
müssen, dass die Nukleolen der Eier die in dem nicht Wintereier 
bildenden Ovar sich ausbilden, in den kritischen Stadien einheit- 
lich und kompakt bleiben. Meine diesbezüglichen Beobachtungen 
ergaben nun in der Tat in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle 
(80%) das erwartete Resultat, so dass die oben erschlossene Be- 
ziehung zwischen Bisexualität und Nukleolenform von dieser Seite 
her als gestützt betrachtet werden kann. 

Wenn in einzelnen Fällen statt dessen auch Keimzellen mit 
typischen, d. h. multinukleonären Eizellen beobachtet wurden, so 
wird das zwar die Gültigkeit des Satzes, sofern sie auf diese Be- 
stätigung gestützt ist, einschränken, braucht sie aber nicht aufzu- 
heben, wenn man bedenkt, welche große Menge von nicht immer 
kontrollierbaren Faktoren mit der Änderung des Nukleolencharakters 
verknüpft sind. Jedenfalls ist auch hier das gleichzeitige Auftreten 
von Gamogenese und kompakter Eizellnukleolenform auffallend und 
erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass beide Erscheinungen von einem 
und demselben Faktor verursacht werden, dass das Auftreten kom- 
pakter Nukleolen in der Tat der morphologische Ausdruck der 
physiologischen Veränderungen ist, die schließlich zum Auftreten 
von dauereibildenden Weibchen führen. 

Die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Zusammenhanges wird 
noch erhöht, wenn wir nun auch die beiden anderen Punkte unserer 
Charakteristik der Dauereikeimgruppen mit in den Kreis der Be- 
trachtungen ziehen. Wenn zwischen der Bildungsweise des be- 
fruchtungsbedürftigen Eies und dem so sehr viel einfacheren Bil- 
dungsmodus der parthenogenetischen Eier eine kontinuierliche Reihe 


360 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


von Übergängen existiert, wie das die Beschaffenheit der Nukleolen 
wahrscheinlich macht, dann müssen wir erwarten, dass auch für 
die beiden anderen Merkmale der Dauereikeimgruppe — das Klein- 
bleiben der Eizelle und den Größenunterschied zwischen der Dauerei- 
und den anderen Keimgruppen — Übergangsformen zu der Bildung 
des parthenogenetischen Eies bestehen. Und ın der Tat finden 
sich auch ım Verlaufe der Soemmereibildung Keimgruppen, bei denen 
Eizelle und Eikern kleiner sind als die Nährzellen und ihre Kerne, 
Keimgruppen, die ihrem Baue nach genau wie Dauereikeimgruppen 
aussehen, sich aber dennoch parthenogenetisch entwickeln. Eine 
solche dauereiähnliche Keimgruppe stellt Fig. VII dar. 


Fig. VII. 


® \@ 


SIT 7 VAT, 2 


1 Dauereiähnliche Kgr. 2 Zugehörige normale Kogr. 





Die Größendifferenz zwischen der Eizelle und den Nährzellen war 
bis zum vierten Tage deutlich, dann begann die Abscheidung des 
Iilafarbenen Eidotters. Leider konnte das weitere Schicksal der 
Eier nicht verfolgt werden, da das Muttertier starb, ehe das Ge- 
schlecht der Embryonen im Brutraum erkannt werden konnte. Doch 
geben uns andere Beobachtungen über diesen Punkt Aufschluss: 
Das Beobachtungstier 248 zeigte zwischen mehreren normalen eine 
Keimgruppe, deren Eikern und Zelle kleiner geblieben war als die 
der dazu gehörenden Nährzellen. Nach Ablagerung der Eier ın 
den Brutraum heß sich nun deutlich erkennen, dass der Eısatz aus 
fünf größeren und einem sehr kleinen Ei bestand, das mit sehr 
großer Wahrscheinlichkeit als Produkt der dauereiartigen Keim- 
gruppe betrachtet werden kann. Da auch dieses Tier vor Beendi- 
gung der Embryonalentwicklung starb, konnte auch bier noch keine 
Sicherheit über die Bedeutung der dauereiähnlichen Keimgruppe 
für das Geschlecht der Nachkommen gewonnen werden. Immerhin 
war deutlich sichtbar, dass während der ganzen Entwicklungsdauer 
einer der Embryonen wesentlich kleiner blieb als die Schwestertiere. 

Gewissheit über das Schicksal der abweichend gebauten Keinı- 
gruppe gaben folgende Beobachtungen: In einem Ovar lagen zwei 
normale Keimgruppen, im andern fand sich neben einer Normal- 
keimgruppe eine dauereiähnliche Keimgruppe. Der Wurf des be- 
treffenden Tieres bestand aus vier Weibchen, von denen. drei nor- 
male junge Keimgruppen ausbildeten, eins dagegen eine typische 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 561 


Dauereikeimgruppe zeigte. Es ist also im diesem wie in allen 
anderen entsprechenden Fällen, aus der dauereiähnlichen Keim- 
gruppe der Mutter ein befruchtungsbedürftiges Tochtertier hervor- 
gegangen. 

Eine Ausnahme von diesem, wie ich glaube, typischem Schick- 
sale der dauereiähnlichen Keimgruppe schien anfangs die Embryonal- 
entwicklung des Beobachtungstieres 193 a (Fig. VIII) zu machen. 
Aus zwei dauereiähnlichen Keimgruppen (Fig. VIIL, 7) waren zwei 
Weibchen hervorgegangen, die ich, da sie die Dauereikeimgruppen 
zeigten, für befruchtungsbedürftige Weibchen hielt. Am nächsten 
Beobachtungstage war jedoch die Dauereikeimgruppe nicht mehr 
zu erkennen, und die Bedeutung der dauereiähnlichen Keimgruppe 
war damit wieder in Frage gestellt. 





Fig. VIII. 
VII, 2 
‚SIerle, go 
VII, 1 VII, 2a 


1: Dauereiähnliche Keimgruppe. 2: Dauereiähnliche Keimgruppe des aus dieser 
entstandenen Tochtertieres. Sie gelangt nicht zur typischen Weiterentwicklung, weil 
sie kleiner ist als die vor ihr liegenden sekundären Nährzellen (2 .«). 


Man muss den letzten Punkt der Charakteristik der Dauerei- 
keimgruppe berücksichtigen, wenn man diesen Widerspruch lösen 
und den Zusammenhang der besprochenen Tatsachen herstellen will. 

Die erste Bedingung für die Ausbildung des Dauereis war, wie 
wir oben gesehen haben, die, dass die Dauereikeimgruppe größer 
ist als die sekundären Nährgruppen, wie das auch in Fig. VI zum 
Ausdruck kommt. Vergleichen wir dagegen die in Fig. VII abge- 
bildete dauereiähnliche und die vor ihr liegende normale Kein- 
gruppe, so sehen wir zwischen beiden keinen derartigen großen 
Unterschied. Die dauereiähnliche Keimgruppe ist entweder ebenso 
groß wie die vor ihr liegenden Keimgruppen (Fig. VIl), oder sie 
ist — und das ist in dem letzten Beispiele Fig. VIII, 2 der Fall — 
kleiner als diese. Wenn wir sehen, dass in dem ersten Fall Weib- 
chen ınit befruchtungsbedürftigen Eiern entstehen, im anderen Falle 
die dauereiähnliche Keimgruppe rückgebildet wird (wie das tatsäch- 
lich jedesmal der Fall war, wenn die dauereiähnliche Keimgruppe 
kleiner war als die vor ihr liegende Keimgruppe), so muss es als 
wahrscheinlich angesehen werden, dass die betrachteten Tatsachen 
ın folgender Weise sich verknüpfen lassen: 

1. Unter den oben aufgezählten Bedingungen, die zur Ver- 
schlechterung des Milieus und damit zur Herabsetzung der 


369 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 


Stoffwechselintensität beitragen, wird der Eizellnukleolus kom- 
pakt, während er unter günstigen Verhältnissen aus mehreren 
Einzelstücken zusammengesetzt ist. 


2. Bleibt außerdem der Eizellnukleolus sowie der Eizellkern und 
die Eizelle selbst kleiner als die Nährzellen und ihre ent- 
sprechenden Teile, so erhalten wir die dauereiähnliche Keim- 
gruppe, zu deren Entwicklung drei Möglichkeiten sich bieten: 


a) sie bleibt kleiner als die übrigen Keimgruppen, dann ist 
sie durch ihre spätere Entwicklung nicht mehr besonders 
gekennzeichnet (Fig. VIII, 2), 

b) sie ist ebenso groß, dann entsteht aus ıhr ein kleines, nicht 
befruchtungsbedürftiges Ei, das sich in der Regel zu einem 
befruchtungsbedürftigen Weibchen entwickelt, 

c) sie ist größer als die Nährzellkeimgruppen; dann bildet sich 
die regelrechte Dauerkeimgruppe aus. 

Freilich wird nur noch eine größere Zahl von diesem Gesichts- 
punkte aus gemachter Beobachtungen darüber entscheiden können, in- 
wieweit diesen Überlegungen allgemeine Gültigkeit zukommt, ob die 
einzelnen hier erwähnten Fälle als typische Vertreter der oben mit- 
geteilten Entwicklungsvorgänge anzusehen sind, welche Zwischen- 
formen sich finden lassen, oder ob nicht überhaupt noch schärfer 
charakterisierbare Grenztypen zu finden sind. Vor allem aber wird 
es nötig sein, die Entwicklung der männlich determinierten Eier 
von Anfang an zu verfolgen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass 
ähnliche Erscheinungen dabei eine Rolle spielen, wie bei der Aus- 
bildung eines Dauerweibcehens. Meine Bemühungen, den Vorgang 
von diesem Gesichtspunkte aus zu verfolgen, hatten bisher leider 
ein durchaus negatives Ergebnis. Ich kann nur darauf hinweisen, 
dass ich bei der Beobachtung solcher Weibchen, die bereits einen 
männlichen Wurf hinter sich hatten (auf den aber in meinen sämt- 
lichen Beobachtungsreihen zufällig ein parthenogenetisch-weiblicher 
folgte), in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle bei der im Ovar 
befindlichen zweiten Ovulation kompakte Nukleolen vorfand. Zweitens 
ist bei solchen Weibchen die ihrer Genealogie nach. mit einiger 
Wahrschemlichkeit als Männchen gebärende zu betrachten waren, 
sehr häufig ein kleiner, länglicher und offenbar sehr flacher Eizell- 
kern beobachtet worden, so dass es den Anschein hat, als sei viel- 
leicht eine derartige Form mit der Ausbildung eines männlich 
determinierten Eies verknüpft. Die Entscheidung hierüber muss 
weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben. 

Es liegt sehr nahe, die oben beschriebene Form der dauerei- 
ähnlichen Keimgruppen mit der „Abortiv-Dauereikeimgruppe“ ın 
Beziehung zu setzen, die bereits Lubbock beobachtete, und die 
dann Weismann als „schwerwiegenden Beweis“ für die Richtig- 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung' bei Moina reetirostris. 363 


keit seiner Theorie von der Entstehung der zyklischen Fortpflan- 
zung der Cladoceren heranzog, ein Beweis, der durch die statistischen 
Beobachtungen von Scharffenberg’s illusorisch gemacht wurde. 
Es scheint allerdings, als ob die Abortiv- Dauereikeimgruppe (abge- 
kürzt Akgr.) dieselben Eigentümlichkeiten besäße wie die dauerei- 
ähnliche Keimgruppe. Bei Daphnia pulex „charakterisiert sie sich 
einmal durch ihre Lage weit hinten am Ventralrand des Eierstocks, 
dann durch bedeutendere Größe als die vor ihr gelegenen Keim- 
gruppen und schließlich durch die gegenseitige Lagerung ihrer 
Zellen, von welchen die dreieckige Eizelle stets ventral liegt, mit 
der Hypotenuse ventralwärts, während auf den beiden Katheten 
die drei Nährzellen aufliegen“ (Weismann, Abhandlung VII, Nach- 
trag). Sie unterscheidet sich von der bleibenden Dauereikeimgruppe 
nur durch ihr Schicksal, da sie, nachdem sie „bis zur Ablagerung 
des feinkörnigen Dotters heranwuchs“, verschwindet, indem sie sich 
„auflöst“, 

Einen solchen „Auflösungsprozess“ konnte ich bei Moina rect., 
wie oben ausgeführt, nur dann konstatieren, wenn die Dauereikeim- 
gruppe kleiner blieb als die übrigen Keimgruppen. Da nun bei 
Daphnia pulex als Charakteristikum der Dauereikeimgruppe, wie 
der, ihr äußerlich ganz gleichen Akgr. im wesentlichen der Größen- 
unterschied gegenüber den vor ihr gelegenen Keimgruppen gilt, so 
ergibt sich daraus ohne weiteres, dass jedenfalls eine Identifizierung 
beider Erscheinungen nieht vorgenommen werden kann. 

Dagegen spricht auch, dass auch bei Moina außerdem noch 
typische, abortierende Dauereier vorkommen, Dauereier, die bereits 
braunen Dotter abgeschieden haben und dann zugrunde gehen. 
Derartige Erscheinungen stimmen freilich genau mit denen bei 
Daphnia pulex und D. magna überein. Ich kann über ihr Vor- 
kommen und ihre Bedeutung bei Moina rect. nichts näheres aus- 
sagen, da ich sie nur ganz gelegentlich beobachtete und nur kon- 
statieren konnte, dass sie für das Geschlecht der Nachkommenschaft 
bedeutungslos sind. Dies scheint auch nach von Scharffenberg 
bei Daphnia magna so zu sein: Wie aus seinen Protokollen her- 
vorgeht, besaß zwar immer wieder die Nachkommenschaft der- 
jenigen Weibchen, die die Akgr. zeigten, die Abortiv-Dauereikeim- 
gruppe; aber Dauereier scheinen aus ihr nicht hervorgegangen 
zu sein. 

Immerhin scheint vielleicht diese Tatsache auf einen physio- 
logischen Zusammenhang der dauereiähnlichen Keimgruppe und der 
Akgr. zu deuten. Wie wir sahen, kann auch bei Moina aus einer 
dauereiähnlichen Keimgruppe anstatt des befruchtungsbedürftigen 
Weibchens ein Weibehen mit einer dauereiähnlichen Keimgruppe 
entstehen (vgl. Fig. VIII). In dieser Weise können, funktionell 
wenigstens, die dauereiähnlichen Keimgruppen und die Akgr. den- 


364 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


noch in Verbindung gebracht werden. Bei Moina ist es eben mög- 
lich, dadurch, dass noch zwei andere Merkmale die Dauereikeim- 
gruppe kennzeichnen, sie auch dann zu erkennen, wenn der 
Größenunterschied zwischen ihr und den übrigen Keimgruppen 
nicht ausgebildet ist. 

Die Abortiv-Dauereikeimgruppe kann demnach vielleicht als 
ein weiteres Bindeglied der Entwicklung, die vom parthenogene- 
tischen Sommerei über die mit kompakten Einukleolus sich voll- 
ziehende Eibildung und die dauereiähnliche Keimgruppe zur Aus- 
bildung des endgültigen Dauereis führt, betrachtet werden. 


VII. Weitere Veränderungen. 
a) Quantitativer Art. 
1. Messungen an Keimzellen (Prüfung auf K/P). 


Issaköwitsch und Popoff haben bereits darauf hingewiesen, 
dass der Generationszyklus der Cladoceren mit dem Lebenszyklus 
einer in reiner Linie gezüchteten Protozoenkolonie große Ähnlich- 
keit hat. Sie vermuten daher, dass auch bei Oladoceren im Ver- 
laufe des Zyklus und bei Abänderungen der äußeren Bedingungen 
Änderungen der Kernplasmaspannung auftreten, die wie beim 
Protozoenzyklus zur Bildung geschlechtlicher Generationen führen. 
von Scharffenberg fand bei gleichaltrigen, hungernden Tieren 
am ausgebildeten Ei die gleiche Größe für Kern und Zellkörper wie 
bei gutgenährten. Er weist daraufhin die von Issaköwitsch und 
Popoff geäußerte Ansicht zurück. 

Wenn auch die unregelmäßige Form der Keimzellen und vor 
allem der wachsende Dotterreichtum des reifenden Eies jede Mes- 
sung sehr fragwürdig machen, so versuchte ich doch, die Frage 
auch an meinem Material zu prüfen. 

(Gemessen wurde jeweils der Flächeninhalt des größten optischen 
Querschnittes, und zwar benutzte ich hierzu ein Planimeter, mit 
dem sich derart unregelmäßig begrenzte Flächen sehr einfach und 
relativ exakt ausmessen lassen). Volumberechnungen anzustellen, 
war bei der unregelmäßigen Form des Materials völlig unmöglıch. 

Wie ungenau daher auch alle diese Messungen sein müssen, 
so seien im folgenden doch einige davon erwähnt, die eine gewisse 
Regelmäßigkeit der Änderung der Kernplasmarelation erkennen 
lassen. 

Die Größe des Kernes im Verhältnis zur Zellgröße schwankt 
außerordentlich. Wird die Zellgröße gleich 100 gesetzt, so finden 
sich für die zugehörigen Kerngrößen Werte zwischen 10 und 95 


3) Herrn Dr. ing. Fuchs, der mir die Benutzung eines Planimeters aus dem 
Besitze des Deutschen Museums gütigst gestattete, möchte ich auch an dieser Stelle 
meinen besten Dank sagen. 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Morna reetirostris. 565 


auf den verschiedensten Stadien der Eibildung. Bei der Schwierig- 
keit einer exakten Zellgrößenmessung lassen sich auch aus einer 
größeren Anzahl von Messungen gesetzmäßige Größenverhältnisse 
kaum ableiten. Nur zwei Fälle seien angeführt, um zu zeigen, dass 
K/P-Veränderungen wohl im Zusammenhang mit der Abänderung 
des Milieus auftreten mögen. 

An den oben erwähnten bei verschiedener Temperatur autge- 
zogenen Geschwistertieren wurden Keimzellen von gleicher abso- 
luter Kerngröße gemessen. Bei den in 24° gezogenen Tieren fand 
sich eine K/P von 47,37%, und 36,34%, bei den in 12° gezogenen 
betrug die K/P 31,3 %, resp. 23,33 %,. Das würde darauf hindeuten, 
dass in der Wärme, also unter den die Parthenogenese begünstigen- 
den Verhältnisse die K/P zugunsten des Kernes sich ändert. 

Vielleicht könnten auch, als weiterer Beitrag zur Stütze der 
Vermutung, dass mit fortschreitender Tendenz zur Gamogenese die 
Relation K/P zugunsten des Plasmas verschoben wird, die Zahlen 
betrachtet werden, die sich bei der Messung von Dauereikeim- 
gruppen ergaben. 

Aus der Tabelle IV, die die für K/P gefundenen Werte bei 
einigen Dauereikeimgruppen (Nr. 1—7) und dauereiähnlichen Keim- 
gruppen (Nr. 8—11) nebeneinander stellt, ist leicht zu ersehen, 
dass in der Mehrzahl der Fälle die Relation bei den Nährzellen 
höhere Werte ergibt als bei den Eizellen. Die K/P für die drei 
Nährzellen (es wurden in einzelnen Fällen nur 1 oder 2 Nährzellen 
ausgemessen) sind in den drei ersten Rubriken, die für die Eizelle 
in der letzten Rubrik dargestellt. Die Werte sind wieder der leich- 
teren Vergleichbarkeit halber für P = 100 berechnet. 























Tabelle IV. 

5 N ähr ze llen 
I | II | III Eizelle 
|| 7 | z 
1b 37,8 9, 35,16 9, Eee 16,3 9, 
2. nz | 50 " | 71,4 % 22 Yh 
3: — 7652 % |762 % | 304 % 
4. Buszor Ko sr 17209), 
As on 52 1431.19, 
6. ee N | re 
de 40,68%, | — En EEE 
8. 38.300) 392 0 a 2 OR 
9, Be 0 A619 2927, 
10. A | 408 Aa, 188 
11. De = 24,65 9, 

| 








366 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


Von allgemeiner Gültigkeit kann auf das übereinstimmende 
Verhalten dieser relativ wenigen Fälle hin natürlich nicht die Rede 
sein. Aus anderen Messungen scheint gerade das Gegenteil her- 
vorzugehen, wie das ja bei der Unzulänglichkeit der quantitativen 
Bestimmung eines so unregelmäßig geformten Materials natürlich 
ist. Dennoch darf vielleicht in den wenigen übereinstimmenden 
Daten ein Hinweis auf Verhältnisse gesehen werden, die besonderes 
Interesse dadurch gewinnen würden, dass sie sich zu den für die 
Protozoenzelle von Richard Hertwig und seiner Schule aufge- 
stellten Gesetzmäßigkeiten genau reziprok verhalten würden. 


2. Messungen an Darmzellen. 


Angesichts der oben bereits betonten Tatsache, dass wir es in 
den Keimzellen mit sehr schwer exakt messbaren, für Zellgrößen- 
bestimmungen sehr undankbaren Elementen zu tun haben, hat 
Papanıcolau schon darauf hingewiesen, dass Veränderungen des 
physiologischen Zustandes in der variablen Größe der leichter mess- 
baren Darmzellen zum Ausdruck kommen. Er kam zu dem Resultat, 
dass in der Tat Temperatur, Ernährung, Wurf- und Generations- 
zahl eine deutlich erkennbare Wirkung auf die Größe der Darm- 
zellen ausüben, und zwar in dem Sinne, dass „die Wärme die 
Größe der Zellen und Kerne verkleinert, also zugunsten der Par- 
thenogenese wirkt, Kälte und Hunger die Zellen und Kerne ver- 
größern, also zugunsten der gamogenetischen Fortpflanzung wirken“ 
(Papanicolau 19105). 

Wir haben es also bei diesen Größenbestimmungen nicht eigent- 
lich mit Verschiebung des Verhältnisses vom Kern zum Plasma zu 
tun, sondern mit der Abänderung der Elemente im ganzen. Dieser 
Unterschied muss besonders deshalb hervorgehoben werden, weil 
sich daraus ergibt, dass auf derartige Größenveränderungen die 
theoretischen Erwägungen, die für Veränderung der Kernplasma- 
relation Geltung haben, nicht ohne weiteres übertragen werden 
dürfen. Wir können jedenfalls einen kausalen Zusammenhang 
zwischen den von Papanicolau gefundenen Größendifferenzen und 
den Veränderungen der Sexualtendenz nicht konstruieren. Doch 
lässt sich ein gewisser Parallelismus auch hier wieder recht wohl 
auffinden, wenn auch dıe außerordentlich variablen Verhältnisse nur 
annäherungsweise brauchbare Daten liefern. 

Vor allem ist es die Form der Darmepithelzellen selbst, die 
Messungen unter Umständen schwierig und unzureichend macht. 
Häufig sind die gewöhnlich flachen, polyedrischen Zellen wohl im 
Zusammenhang mit gewissen, nicht näher analysierten Funktions- 
zuständen des Darmes drüsig erweitert. Die Ausmaße der Zellen 
eines Einzeltieres sind untereinander keineswegs die gleichen und 
zeigen vor allem in den einzelnen Regionen des Darmrohres recht 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 367 


bedeutende Differenzen. Die Zellflächen des Anfangs- und End- 
darms sind im allgemeinen größer als die des Mitteldarmes. Man 
muss daher die Messungen stets an einer eng umschriebenen Region, 
etwa dem mittleren Teil des Mitteldarmes, und möglichst in gleichen 
funktionellen Zuständen, vornehmen, um die Fehlerquellen von 
dieser Seite her möglichst einzuschränken. Das Resultat der aus- 
geführten Messungen ist in den nachstehenden Tabellen V, VI und 


VII dargestellt. 
Tabelle V. 






19 

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—J 


Tabelle VII. 


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BunNernrE Dez | 
ı ORTE 
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Be: Be 










39 7207100750719: 7831 87, 13 23 


Zänge 


ANGE] 310.39..39, 6312 6 


368 Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


' 
Tabelle V gibt die Flächenmaße, Tabelle VI die Höhenmaße, 
Tabelle VII die berechneten Volumina an. Die Messungen wurden 
täglıch an drei Vergleichskulturen ausgeführt. Zwei Kulturen, von 
denen die eine der 1., die andere der 5. Generation angehörten, 
wurden bei 20° gehalten (gestrichelte Kurve a und schwarze Kurve 5). 
Eine 3., ebenfalls der 5. Generation angehörige, wurde bei 25° ge- 
halten (Strich-Punkt Kurve ec). Die Messungen wurden vom Tage 
der Geburt an bis zur Ausbildung des 1. Wurfes täglich vorge- 
nommen. Auf der Abszısse wurde die Körperlänge der Tiere, auf 
der Ordinate dıe zugehörige Zellgröße eingetragen, so dass die ein- 
zelnen Punkte der Kurve den ganzen Wachstumsverlauf der Darm- 
epithelzellen bis zur Ablage des 1. Wurfes wiedergeben. 

Trotz des recht unregelmäßigen Verlaufes der Kurven, der wohl 
auf die oben schon erwähnten Fehlerquellen zurückzuführen ist, 
lässt sich doch aus dem Vergleich der drei Kurven unmittelbar er- 
kennen, dass die Kurve VIla, also die Darmzellgröße der ex-Ephippio- 
Tiere auch in ihrem Maximum erheblich gegen die maxımale Darm- 
zellgröße der Tiere der 5. Generation zurücksteht, dass also die 
Generationszahl die Größe der Darmepithelzellen beeinflusst. Zweitens 
sehen wir, dass eine wenn auch unbedeutende Zellgrößendifferenz 
zwischen den bei 20° und 25° gehaltenen Tieren in dem Sinne 
besteht, dass das Wärmemaximum hinter dem des in mittlerer 
Temperatur gehaltenen Tieres zurückbleibt (Kurve c verglichen mit 
Kurve db). Drittens zeigt der Verlauf der Kurven in allen drei Ta- 
bellen, dass Zellhöhe (Tabelle VI) und Gesamtvolumen (Tabelle VII) 
annähernd gleiche Veränderungen unter den verschiedenen Be- 
dingungen erfahren, dass aber die Werte für die Zelloberfläche 
(Tabelle V) viel geringere Differenzen aufweisen. 

Eine Vergleichung der Oberflächeninhalte allein würde also ın 
diesem Falle das Resultat gegeben haben, dass bei frühen und 
späten Generationen die Zellgrößen nicht derart voneinander ab- 
weichen, dass von charakteristischen Differenzen gesprochen werden 
kann. Erst die Volumvergleichung lässt die wahren Verhältnisse 
erkennen. 

Der Verlauf der Kurven zeigt schließlich, dass einzelne Mes- 
sungen gleichaltriger oder gleichlanger Tiere verschiedener Pro- 
venienz die widersprechendsten Resultate ergeben können; die Wir- 
kung der Temperatur resp. der Generationszahl erscheint keineswegs 
an allen Punkten der Kurve gleich. Erst die Aufstellung einer 
derartigen, einer fortlaufenden Beobachtung entsprechenden Reihe, 
konnte zu einem annähernd richtigen Bilde der Wirkungsweise 
beider Faktoren führen. 

Dennoch möchte ich noch eine Reihe von Einzelmessungen 
zur Ergänzung der ın den Kurven gegebenen Verhältnisse .heran- 
ziehen, Messungen, die in der Tabelle VIII wiedergegeben sind. 


69 


eränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 


.. 


Grunewald, Über V: 
































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SEIENSET SIE 








370 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirestris. 


In der 1. Vertikalreihe stehen die Volumina der Darmzellen in auf- 
steigender Größenfolge, ın der 2. der Oberflächeninhalt, in der 3. 
die Höhe des Prismas. Aus der Tabelle lässt sich deutlich die 
Wirksamkeit der Temperatur erkennen. Die höchsten verzeichneten 
Ziffern finden sich bei drei in 6° © gehaltenen Tieren verschie- 
dener Generationen. Die niederen Ziffern sehen wir vorwiegend 
auf die in 25° C gehaltenen resp. ganz jungen Tieren beschränkt. 
Wie Kälte wirkt auch Hunger, soweit seine Wirkung nicht durch 
erhöhte Temperatur aufgewogen wird (Tabelle VIII, 17). Das zeigt 
besonders die Gegenüberstellung der zwei Geschwistertiere Nr. 1 
und Nr. 14, von denen das eine bei 25° O, das andere bei 15° © 
hungernd gehalten wurde. 

Dass auch der bei zunehmender Sexualtendenz vorhandene 
physiologische Gesamtzustand in dieser Weise zum Ausdruck kommt, 
zeigt die recht beträchtliche Darmzellgröße des befruchtungsbedürf- 
tigen Weibchens (Tabelle VIII, 15). 

Im allgemeinen kann also der Befund Papanicolau’s als be- 
stätigt angesehen werden, wenn auch die individuellen Größen- 
schwankungen nicht gestatten, ın diesen Erscheinungen mehr zu 
sehen als eine Reihe von Veränderungen, die mit denen der Sexual- 
tendenz parallel verlaufen, und als quantitativ messbares Merkmal 
für den physiologischen Gesamtzustand des Tieres recht wohl 
brauchbar sein können. 


b) Qualitative Veränderungen im Plasma. 


Die Frage nach qualitativen Veränderungen im Plasma selbst 
innerhalb des Zyklus oder unter veränderten Existenzbedingungen 
lag von vornherein sehr nahe. Hatten sich doch gerade bei Moina 
rect. qualitative Veränderungen wenigstens des Deutoplasmas, der 
Dottersubstanz, schon durch Papanıcolau nachweisen lassen, 
Änderungen, die durch die verschiedene Färbung der Dottertröpfehen 
gegeben sınd, und die auch nach meinen Beobachtungen als Kor- 
relat des physiologischen Gesamtzustandes anzusehen sind. Der 
Dotter ıst bei optimal gehaltenen Tieren hellrosa gefärbt, Iila bis 
hellblau bei Tieren, welche auch im übrigen einen weniger kräftigen 
Eindruck machen. Ganz farblos erscheint der Dotter, wenn wir es 
mit wirklich hungernden Tieren zu tun haben. 

Die Bedeutung des Dotters für das Geschlecht der aus den 
betreffenden Eiern entstehenden Tiere konnte ich jedoch in der 
Weise, wie dies Papanicolau gelungen ist, nicht feststellen. In 
den meisten Fällen, in denen ıch auf diesen Punkt mein Augen- 
merk richtete, entstanden stets nur parthenogenetische Weibchen, 
mochten die Eier lila oder blau oder ganz farblos sein. Das be- 
weist natürlich nichts gegen die von Papanıcolau konstatierte 
häufige Übereinstimmung des Übergangs zur Bisexualität mit den 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 374 


Farbänderungen des Dotters. Es zeigt nur, dass es sich hier, genau 
wie bei den allmählichen Veränderungen der Nukleolenform, um 
einen morphologisch sichtbaren Ausdruck physiologischer Ände- 
rungen handelt, die wohl für den Kräftezustand der Tochtergene- 
ration von Bedeutung sind, aber nicht ausschlaggebend für das 
Geschlecht des Tieres zu sein brauchen. 

Abgesehen von diesen deutoplasmatischen Differenzen ließ sich 
aber eine kontinuierlich seriierbare, sichtbare Veränderung des 
Plasmas, wie sie etwa der des Nukleolus entsprechen würde, am 
lebenden Objekte nicht auffinden. 

Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhange eine Erschei- 
nung betrachten, über deren Bedeutung ich bisher nicht ins Klare 
kommen konnte, die aber wohl mit den Faktoren ın Zusammenhang 
steht, die wir oben bereits für dıe Gestaltung des Nukleolus ver- 
antwortlich gemacht haben. 

Häufig ist gerade ın solchen. Keimzellen, die durch Kälte, 
Hunger, Alter, oder andere ungünstige Momente geschädigt sind, 
ein helles, vakuolenartiges Gebilde, wie es z.B. in Figur III mit 
eingezeichnet ist, zu sehen. Es ıst seiner Größe und Lage nach 
recht varıabel. Mit Vorliebe findet es sich in solchen Keimzellen, 
die kompakte Nukleolen enthalten. 

In 24 von 50 beobachteten Fällen wurde das Auftreten des 
Bläschens gleichzeitig mit dem Vorhandensein des kompakten Nu- 
kleolus konstatiert. 

Von diesen waren 5 in der Kälte aufgezogen, 2 ohne Nahrungs- 
zusatz, 9 waren von Natur mangelhaft ausgestattete Tiere, in drei 
Fällen handelte es sich um Tiere, die einem späteren Wurf ange- 
hörten, ın einem um ein einer hohen Generationszahl angehöriges Tier, 
zweimal um degenerierende Keimgruppen, zweimal um dauereiähn- 
liche Keimgruppen. Die übrigen 26 Tiere zeigten entweder Degene- 
rationserscheinungen ım Ovar (10 Fälle) oder ließen an der Neigung 
zur Bildung kompakter Nukleolen u. s. w. ihren geschwächten Ge- 
samtzustand erkennen. 

Im ganzen geht aus diesen Daten deutlich hervor, dass diese 
Bläschen im Zusammenhang mit degenerativen Prozessen auftreten, 
wie denn auch ein gehäuftes Auftreten der Bläschen in den Keim- 
zellen nicht mehr rückgebildet werden kann und zum völligen Zer- 
fall der betreffenden Keimzelle führt. 


VIN. Zusammenfassung und Schluss. 


Im folgenden seien die im Verlaufe der Untersuchung ge- 
wonnenen Resultate kurz zusammengestellt: 
1. Im Verlaufe des Eiwachstums existiert eine frühe Periode der 
morphologisch sichtbaren Differenzierung der Keimgruppen in 
Ei- und Nährzellen. Sie kommt in der Gestalt des Nukleolus 
24* 


© 


(a) 


SV) 


Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 


zum Ausdruck. Die drei Nährzellen sind durch den Besitz 

eines einheitlichen kompakten Nukleolus charakterisiert. Der 

Eizellnukleolus setzt sich dagegen aus mehreren Einzelstücken 

zusammen. 

Diese Differenzierung verschwindet bei Herabsetzung der Stofl- 

wechselintensität des Tieres. Der Eizellnukleolus nimmt all- 

mählich die Gestallt der Nährzellnukleolen an. Die Herab- 
setzung der Stoffwechselintensität wurde hervorgerufen durch 

Hunger, Kälte, chemische Einwirkungen (Neutralrot), Alter 

des Zyklus, Alter des Individuums, besonders spätes Aus- 

schlüpfen aus dem Dauerei, angeborene mangelhafte Kon- 
stitution. 

Eine weitere Veränderung kann unter den genannten Um- 

ständen eintreten, indem erstens der Eizellnukleolus kompakt 

wird und zweitens Eizelle und Kern von vornherein kleiner 
bleiben als die Nährzellen. 

Die so charakterisierte Keimgruppe ist typisch für das An- 

fangsstadium des Dauereies Die Entscheidung, ob sich die 

Keimgruppe zum Dauerei entwickelt, ıst von ihrer Größe ım 

Verhältnis zu derjenigen der vor ıhr hegenden Keinigruppen 

abhängig. Ist sie größer als diese, so entsteht ein befruch- 

tungsbedürftiges Dauerei; ıst sie ebenso groß, so entsteht ein 
befruchtungsbedürftiges Weibchen, ıst sie kleiner, so geht die 

Eianlage in der Regel zugrunde. 

Es besteht somit eine durch alle Übergänge verbundene Reihe 

von Eibildungsformen, deren Anfangsglied das parthenogene- 

tische Ei mit wohl ausgebildeter Differenzierungsperiode, deren 

Endglied das befruchtungsbedürftige Dauerei ist. 

Die oben genannten, für die Gestalt des Nukleolus ausschlag- 

gebenden Faktoren sind die gleichen, die für die Änderung 

der Sexualtendenz im Zyklus verantwortlich gemacht werden. 

Die Gestaltsänderungen des Nukleolus können daher sehr wohl 

als morphologischer Ausdruck der für die Sexualtendenz wesent- 

lichen physiologischen Veränderungen angesehen werden. 

Parallel mit diesen gehen weitere Veränderungen der Keim- 

zellen. 

a) Die Massenbeziehungen zwischen Kern und Plasma, wenn 
sie auch exakter Messung schwer zugänglich sind, scheinen 
proportional der Stoffwechselintensitätsabnahme eine Ver- 
schiebung zugunsten des Plasmas erfahren zu können. 

b) Unter den unter 2. genannten Umständen tritt zuweilen ein 
Bläschen im Plasma auf, das vielleicht als Übergangsform 
zu Degenerationserscheinungen zu deuten ist. 

Eine weitere Parallele lässt sich vielleicht aus den für die 

Darmzellgröße gefundenen Tatsachen konstruieren. 


Grunewald, Über Veränderung der Eibildung. bei Moina rectirostris. 375 


Die mitgeteilten Befunde scheinen mir in mehrfacher Hinsicht 
von Interesse zu sein. Erstens zeigen sie, dass jener innere Faktor, 
dessen Umstimmbarkeit durch äußere Faktoren für die Art der Eı- 
bildung verantwortlich gemacht wird, in morphologischen Verände- 
rungen der Geschlechtszellen sich äußert. 

Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Wirksamkeit dieses 
inneren Faktors, die bisher nur aus dem Resultat des Experiments 
erschlossen werden konnte, am Ovar selbst genauer zu analysieren 
und damit vielleicht den physiologischen Grundlagen für die Ver- 
änderung der Eıbildung näher zu kommen. 

Freilich müssten wir, um in diesem Sinne die Veränderungen 
am Nukleolus verwerten zu können, von dessen physiologischer 
Bedeutung besser unterrichtet sein, als wir es jetzt sind. Die 
innigen Beziehungen der Nukleolen-Veränderungen zu den Schwan- 
kungen der Stoffwechselintensität im ganzen, zu den Wachstums- 
verhältnissen der Keimzelle insbesondere, wie sie sich aus den vor- 
stehenden Befunden ergeben hat, weist entschieden darauf hin, dass 
der Nukleolus als ein äußerst aktıver, für den Stoffwechsel der 
Zelle höchst bedeutsamer Zellbestandteil angesehen werden muss. 
Die Oberflächenvergrößerung des Nukleolus beı Steigerung des 
Stoffwechsels ist sehr wohl verständlich, wenn man annimmt, dass 
er aktiv am Aufbau der Zellsubstanzen beteiligt ist. Das Prinzip 
der Oberflächenvergrößerung bei gesteigerter Leistung ıst ja in der 
gesamten Organismenwelt verbreitet. Es lässt sich so auch er- 
klären, dass der Binnenkörper des Eikernes während der ersten 
Wachstumsperiode aus mehreren Nukleolen besteht, im Gegensatz 
zu dem kompakten Nukleolus der Nährzellen, da es recht denkbar 
ist, dass die Eizelle von vornherein einen intensiveren Stoffwechsel 
hat als die Nährzellen. Vom Standpunkte der Häcker’schen Kern- 
sekrettheorie aus wären jedenfalls diese Verhältnisse weniger ein- 
fach zu erklären. 

Da bisher experimentelle Untersuchungen über diesen Punkt 
meines Wissens noch gar nicht vorliegen, ist vielleicht mit diesen 
Untersuchungen ein Weg eröffnet, dem hier liegenden großen 
Fragenkomplex etwas näher zu kommen. Die zeitraubenden fort- 
laufenden Beobachtungen am lebenden Objekte gestatteten es mir 
bisher nicht, in dieser Weise besonders auch färberisch die Unter- 
suchung zu erweitern, vor allem die Beziehungen zwischen Chro- 
matin und Nukleolarsubstanz vergleichend zu verfolgen. 

Es ist anzunehmen, dass die Chromatinanalyse für die ver- 
schiedenen Entwicklungsformen Unterschiede ergeben wird, die es 
ermöglichen, die hier gemachten Angaben exakter zu formulieren 
und die vielleicht geeignet sein werden, uns einen Einblick ın 
dieses noch so wenig geklärte Gebiet der Zellphysiologie zu ver- 
schaffen. 


374 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 


Ri 


{or} 


| 


16. 


Literatur. 


. Claus, ©. Zur Kenntnis der Organisation und des feineren Baues der Daph- 


niden und verwandter Cladoceren. Z. f. w. Z. Bd. XXVII, 1876. 


. Fischel, A. Untersuchungen über vitale Färbung an Süßwassertieren, ins- 


besondere bei Cladoceren. Leipzig 1908, Klinkhardt. 


. Grobben. Die Entwicklungsgeschichte der Moina rectirostris. Wien 1879, 


Alfred Hölder’s Verlag. 


. Hertwig, R. Über den derzeitigen Stand des Sexualitätsproblems. 1912. 


Biol. Centralbl. Bd. XXXII. 


. Issak6witsch. Geschlechtsbestimmende Ursachen bei den Daphniden. 1906. 


Arch. f. mikr. Anat. Bd. 69. 


. Jörgensen, Max. Zellenstudien I. Morpholog. Beiträge zum Problem des 


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. Kuttner, Olga. Untersuchung über Fortpflanzungsverhältnisse und Ver- 


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. Leussen, Contribution & l’Etude du Developpement et de la Maturation des 


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den Daphniden. 1910a. Biol. Centralbl. Bd. XXX. 
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. Samassa. Keimblätterbildg. b. d. Cladoceren. I. Moina rect. 1893. Arch. 


f. mikr. Anat. Bd. 41. 


. Schleip. Geschlechtsbestimmende Ursachen im Tierreich. 1913. Spengel, 


Ergebnisse etc. Bd. III, 3. 


. v. Scharffenberg, U. Studien und Ergebnisse über die Eibildung u. d. 


Generationszyklus von Daphnia magna. 1911. Internat. Rev. d. ges. 
Hydrob. u. Hydrogr. Bd. III. 

— Weitere Untersuchungen an Öladoceren über die experimentelle Beein- 
flussung des Geschlechts und der Dauereibildung. 1914. Int. Rev. f. 
ges. Hydrob. u. Hydrogr. Bd. VI, 2. 


. Winterstein, Handbuch der Physiologie Bd. II, Teil III 
. Weismann, A. Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden. Abhdlg. 1—7; 


1876-70. 7 tw. 2. Bd.-27, 29, 33). 


. Woltereck, R. Nahrung der Daphnien. 1908. Int. Rev. f. d. ges. Hydrob. 


u. Hydrogr. Bd. ], 6. 

— Weitere experimentelle Untersuchungen über Artveränderung, speziell über 
das Wesen quantitativer Artunterschiede bei Daphniden. 1909. Verhdlg. 
d. deutsch. zool. Gesellsch. auf d. 19. Jahresversammleg. 

— Veränderungen d. Sexualität b. Daphniden. 1911. Int. Rev. d. ges. 
Hydrob. u. Hydrogr. Bd. IV,1 u. 2. 


Pringsheim, Die Kultur von Paramaecium Bursaria. 375 


Die Kultur von Paramaecium Bursaria. 
Von Ernst G. Pringsheim. 


Unter den Fällen eines Zusammenlebens von chlorophyll- 
führenden mit chlorophylifreien Organismen gibt es alle Übergänge 
von ganz lockerer bis zu innigster Gemeinschaft. Die engsten 
physiologischen Wechselbeziehungen darf man wohl zwischen ge- 
wissen Tieren und den in ihnen lebenden Zoochlorellen und Zoo- 
xanthellen erwarten. Ist es doch hier sogar so weit gekommen, 
dass die Algen sich im Protoplasma der artfremden Zellen aufhalten 
und vermehren, ein Umstand, auf den auffallenderweise noch nie- 
mand deutlich genug hingewiesen zu haben scheint. Überhaupt ist 
die Literatur auf diesem Gebiete, wie auch die über Flechten- 
symbiose in den letzten 25 Jahren äußerst spärlich. Was weiter 
auffällt ist, dass Botaniker sich mit den Zoochlorellen und Zooxan- 
thellen fast gar nicht beschäftigt haben!). Nur Haberlandt?) hat 
die Algen von der Turbellarie Convoluta Roscoffensis genauer unter- 
sucht und auch Kulturversuche unternommen. 

Und doch liegen zahlreiche Fragen vor, die eine eingehendere 
Beschäftigung mit dem Gegenstande lohnend erscheinen lassen. 
Hier soll aber nicht darauf eingegangen werden, wie die Algen es 
anfangen, der Verdauung zu entgehen, der doch alle freilebenden 
Verwandten in denselben tierischen Zellen verfallen. Auch die 
Stellung der Zoochlorellen und Zooxanthellen im System sowie die 
Verhältnisse bei der Fortpflanzung sollen hier nicht untersucht 
werden. Das biologische Hauptproblem bleibt doch immer, welchen 
Nutzen die beiden Symbionten, besonders die Tiere, von dem Zu- 
sammenleben haben. Über die ökologische Bedeutung der Sym- 
biose sind wir eigentlich noch in keinem einzigen Falle genügend 
unterrichtet, nicht einmal bei den am meisten untersuchten Flechten, 
da wir nicht wissen, ob sie ganz von den Assimilaten der Goni- 
dien leben oder auch organische Stoffe von außen aufnehmen, wofür 
ja die Erfahrungen an Reinkulturen der Flechtenalgen zu sprechen 
scheinen. Auch die Bedeutung der Knöllchenbakterien für die 
Leguminosen ist bekanntlich nicht ganz aufgeklärt, da sie ın Rein- 
kultur bisher nicht sicher zur Stickstoffbindung gebracht werden 
konnten. 

Die Meinung der meisten Forscher geht nun wohl dahin, dass die 
zoochlorellenführenden Tiere nieht nur von dem durch die Algen 
gebildeten Sauerstoff, sondern auch von den Assimilationsprodukten 
organischer Natur Nutzen ziehen. Um diese Auffassung zu er- 


1) In den Sachverzeichnissen von Pfeffer’s und Jost’s Pflanzenphysiologie 
findet sich das Wort „Zoochlorella“ nicht. 

2) G. Haberlandt, Über den Bau und die Organisation der Chlorophyll- 
zellen von Convoluta Roscoffensis; als Anhang zu L. v. Graff’s Organisation der 
Turbellaria acoela, Leipzig 1891. 


376 Pringsheim, Die Kultur von Paramaecium Bursaria, 


härten, sind von verschiedenen Forschern, so von Brandt?) 
mit Stentor polymorphus, Spongilla, Hydra, Actinien u. a., von 
v. Graff*) mit Hydra viridis, von Gruber’) mit Amoeba viri- 
dis Züchtungsversuche angestellt worden, ın denen feste Nah- 
rung durch Filtrieren des Kulturwassers ausgeschaltet werden 
sollte. Abgesehen davon, dass kleinste Lebewesen durch Papier- 
filter gehen, ist mit Ausnahme des Gruber’schen Versuches 
immer nur ein meist nicht einmal lange dauerndes Weiterleben, 
niemals aber eine Vermehrung der betreffenden Tiere beobachtet 
worden. Nun ist es aber bekannt, dass z. B. Hydren ein monate- 
langes Hungern vertragen. Beweisend für genügende Ernährung 
der algenbergenden Tiere durch die Symbionten wäre daher nur 
ein dauerndes Gedeihen mit ungehinderter Fortpflanzung. Auch 
Haberlandt*), der seine Convoluten in eine Algennährlösung 
brachte, beobachtete nur eine Vermehrung der Zoochlorellen ım 
Wirte, nicht aber ein wirkliches Gedeihen der Würmer. 

Um zunächst einmal bei einem Zoochlorellen führenden Tier 
die Ansprüche kennen zu lernen, die es an die Ernährung stellt, 
nahm ich mit Paramaecium Bursaria, das mir geeignet erschien, 
Kulturversuche vor. Dass die angedeutete Frage bisher nicht als 
gelöst zu betrachten ist, geht am klarsten aus der neuesten und 
sehr eingehenden Übersicht über das Zoochlorellenproblem hervor, 
die von Biedermann’) herrührt: „Maupas konstatierte bei Para- 
maecium Bursaria reichliche Aufnahme von Bakterien, Flagellaten 
und Zoosporen und fand die Tiere gelegentlich sogar ganz mit 
grünen Euglenen erfüllt. Auch fand er, dass die Vermehrung von 
Paramaecium Bursaria ım Dunkeln genau so reichlich erfolgte wie 
ım Licht. Dies beweist aber, wie Bütschli bemerkt, unwiderleg- 
lich, dass die Zoochlorellen bei der Ernährung dieses Infusors eine 
nur ganz geringfügige, wenn überhaupt eine Rolle spielen. ‚Da 
aber gerade diese Art eine der typischsten und regelmäßigsten 
Zoochlorellaten ıst, so dürfte der Schluss nicht zu gewagt erscheinen, 
dass auch die übrigen sich entsprechend verhalten.‘ Bütschlı 
hält es daher für sehr zweifelhaft, ja unwahrscheinlich, ‚dass die 
Ciliaten von dem Überschuss der Assimilationsprodukte (speziell 


3) K. Brandt, Über die morphologische und physiologische Bedeutung des 
Chlorophylls bei Tieren. 1. Teil. Archiv für Anatomie und Physiologie. Physiolog. 
Abt. 1882. 2. Teil. Mitteil. aus der zool. Station zu Neapel, Bd. IV, 1883. 

4) L v. Graff, Zur Kenntnis der physiolog. Funktion des Chlorophylis im 
Tierreich. Biolog. Centralbl. 1584, S. 745 (Ref. aus Zoolog. Anz. von G. Klebs). 

5) A. Gruber, Über Amoeba viridis, Festschrift für Weismann, Suppl.- 
Zool. Jahrb., 1904, S. 67. 

6)RArTA.0) 

7) W. Biedermann, Physiologie des Stoffwechsels, 1. Hälfte in Winter- 
stein’s Handb. d. vergl. Physiologie, Bd. II, Jena 1911, S. 415. 


Pringsheim, Die Kultur von Paramasecium Bursaria., 3 


{9} 
der Kohlehydrate) ihrer Zoochlorellen ernährt werden, wie Brandt 
und Entz annehmen’ *“. 

Paramaecium Bursaria trat im Winter 1914/15 ın einer Chara- 
kultur ım Laboratorium auf, die vor Jahren aus Stecklingen in mit 
Wasser überdeckter Erde erzogen worden war und nur einige 
Algenfäden, aber keine Fäulnisorganismen u. dergl. enthielt. Die 
deutlich am Licht angesammelten Infusorien wurden mit einer 
Pipette in eine verdünnte, ganz hellgelbliche Erdabkochung über- 
tragen, wo sie sich am Nordfenster einige Wochen hielten und 
dem Augenschein nach auch vermehrten, doch traten die ver- 
schiedenartigsten Algen und anderen Mikroorganismen daneben auf. 
Aus dieser Rohkultur wurden Tropfen unter das Mikroskop ge- 
bracht und die Paramaecien mit einer ausgekochten Kapillarpipette 
einzeln in sterile Wassertropfen übertragen. Durch mehrmalige 
Wiederholung dieses Verfahrens wurden die Infusorien abgewaschen 
und schließlich in Erlenmeyerkölbehen mit verschiedenen sterilen 
Nährlösungen übertragen. In einigen von diesen trat nach ein paar 
Wochen eine deutliche Vermehrung auf; aber auch die lange Zeit 
rein aussehenden Kulturen wurden schließlich durch ziemlich üppig 
wuchernde Algen (Plewrococcus spec.) verunreinigt, so dass ich ver- 
mutete, diese möchten vielleicht von den Zoochlorellen abgestorbener 
Paramaecien herstammen. Jedenfalls waren diese Versuche nicht 
beweisend, denn wenn überhaupt freie Algen auftreten, so können 
die Paramaecien auch von ıhnen gelebt haben. 

Ist diese Vermutung richtig, so ist der ganz zwingende Beweis 
für die Ernährung des Paramaecium Bursaria durch seine ptlanz- 
lichen Insassen überhaupt nicht zu erbringen, da eine durch dauernde 
Überwachung gewährleistete Ausschließung der Aufnahme geformter 
Nahrung wohl kaum zu erzielen ist. Für einen durchaus bindenden 
Nachweis muss die algenartige, also autotrophe Ernährung des 
Zoochlorellaten in rein anorganischer Nährlösung unter Ausschluss 
anderer autotropher Organismen gefordert werden. Eine absolute, 
also auch bakterienfreie Reinkultur ist dagegen nicht nötig, da die 
heterotrophen Bakterien ja nicht die Menge organischer Substanz 
in der Flüssigkeit erhöhen, also auch nicht die Grundlage für eine 
Vermehrung der Infusorien in einer mineralischen Nährlösung bilden 
können. 

Diese Forderung konnte nun durch wiederholte Übertragung 
und Reinigung der Paramaecien auf die geschilderte Weise schließlich 
doch erfüllt werden. Die Ausschaltung fremder Algen gelang sogar 
verhältnismäßig leicht, da die Infusorien infolge ihrer lebhaften 
Beweglichkeit alle fremden Keime abstreifen und beim Herauspipet- 
tieren die algenhaltige Bodenschicht nicht berührt zu werden braucht. 
Ich erzielte üppige Kulturen von mindestens mehreren hundert Exem- 
plaren aus zwei hineinpipettierten in einer Nährlösung, die 0,02 9%, 


378 Pringsheim, Die Kultur von Paramaeeium Bursaria. 


Ca(NO,),, 0,002%, MgSO,+7H,0, 0,002 %, K,HPO,, 0,02 %, NaCl und 
eine Spur FeSO, in doppelt destilliertem Wasser enthielt. Dass dabei 
derReinheit der Gefäße und Salze besondere Sorgfalt zuteil wurde, 
braucht kaum besonders betont zu werden. Die Vermehrung war 
auch zu lebhaft, als dass sie Spuren von Verunreinigung aus der 
Lösung, vom Glase oder aus der Luft zugeschrieben werden könnte. 
Bei geringer Einsaat dauert es allerdings ein paar Wochen, bis ein 
leicht sichtbares Ergrünen der ganzen Kultur auftritt, doch kann 
man nach einiger Übung auch mit bloßem Auge, besser mit einer 
Lupe, die einzelnen Exemplare zählen, so lange noch wenige vor- 
handen sind. Eine Verunreinigung durch fremde Algen tritt nun 
nach mehrmonatiger Beobachtungszeit nicht mehr ein. Es kann 
demnach bestimmt behauptet werden, dass Paramaecium Bursaria 
von seinen Zoochlorellen ganz und gar ernährt werden 
kann und der Aufnahme geformter oder gelöster organischer Stoffe 
von außen zu seinem Gedeihen nicht bedarf. 

Die vorübergehend auftauchende Vermutung, dass die in den 
Kulturen auftretenden Algen von frei gewordenen Zoochlorellen 
stammten, ist schon dadurch widerlegt, dass die schließlich erzielten 
Reinkulturen 5 Monate lang algenfrei blieben, obgleich doch sicher- 
lich immer einzelne Paramaecıen abgestorben sein werden. Das spricht 
aber auch gegen die Möglichkeit einer Isolierung der Zoochlorellen, da 
günstigere Bedingungen kaum erzielt werden könnten. Ein Bedarf 
an organischen Stoffen kann ja nicht vorliegen. Dementsprechend 
missglückten alle Versuche, dıe Algen für sich zur Vermehrung zu 
bringen. Das gelang weder mit den zerdrückten Paramaecien ın 
der oben genannten Nährlösung, noch auf Kieselgallerte und Nähr- 
salzagar, erprobten Algennährböden, auf denen die Infusorien nach 
dem Verschwinden des Flüssigkeitstropfens, mit dem sie aufgebracht 
wurden, zerflossen. Bei diesem Verfahren konnte man mikroskopisch 
verfolgen, wie die anfangs grünen Algenzellen schon nach wenigen 
Tagen abblassten und starben. Auch vor diesen Veränderungen 
von Kieselgallerte in Lösungen übergeimpfte Zoochlorellen gingen 
nicht an. Da dies mir die mildeste Methode der Isolierung zu sein 
scheint, halte ich die Zoochlorellen von Paramaeeium für nicht ge- 
trennt kultivierbar. Auch von Paramaecien, die in verflüssigten 
und auf 40° abgekühlten Agar der verschiedensten Zusammen- 
setzung, mit und ohne Glukose und organischen Stickstoff, über- 
tragen wurden, sah ich nie Älgenkulturen ausgehen. Dasselbe fand 
Haberlandt bei den Algen von Convoluta, die den Wirt nicht 
überleben, sondern stets mit ıhm zugrunde gehen. Die früheren, mit 
viel roheren Methoden erzielten scheinbaren Erfolge von Entz°) u.a. 
dürften also auf Irrtum durch Verunreinigung beruhen. 


8) G. Entz, Das Konsortialverhältnis von Algen und Tieren. Biol. Centralbl, 
Bd. II, 1882, S. 451. 


Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. 379 


Um einer vorzeitigen Verallgemeinerung der an Paramaecium Bur- 
saria gemachten Erfahrungen vorzubeugen, will ich gleich berichten, 
dass mir bei Hydra viridis eine rein autotrophe Ernährung bisher 
nicht geglückt ist. Die freilich noch spärlichen Versuche wurden 
in der oben geschilderten Weise angestellt. Es gelang auch, die 
fremden Algen fernzuhalten und die Hydren über ein Vierteljahr 
zu erhalten. Schließlich aber schrumpften sie unter Verkürzung der 
Tentakeln zu grünen Kügelchen ein, verhielten sich also nicht viel 
anders als algenfreie Hydren unter entsprechenden Verhältnissen. 
Dass die geprüften Nährlösungen an sich nicht schädlich waren, 
ergibt sich daraus, dass die Hydren sich darin mehr als dreimal 
so lange hielten als in dem filtrierten Kulturwasser von Brandt. 
Das allmähliche Einschmelzen des Körpers und besonders der Fang- 
arme hat auch Brandt’) beobachtet, daraus aber den Schluss ge- 
zogen, dass „die grünen Hydren nicht allein gar keine Nahrung 
mehr aufzunehmen brauchen, sondern dass sie sogar auch das Ver- 
mögen, andere Tiere festzuhalten und in die Leibeshöhle hineinzu- 
ziehen, gänzlich aufgeben.“ Später allerdings!) gibt er zu, dass 
die Verringerung der Körpermasse bei Hydren u. a., wenn sie aus- 
schließlich auf die Ernährung seitens ihrer Algen angewiesen sind, 
darauf hinweist, dass diese Tiere nicht dauernd auf jede Fleisch- 
nahrung verziehten können. In diesem Sinne sprechen auch Ver- 
suche von v. Graft. 

So dürfte also G. Entz recht behalten, wenn er sagt, dass 
manche Infusorien, z. B. Paramaecium Bursaria, mit der Ernährung 
durch die Algen ganz zufrieden sind, während Aydra viridis das 
nicht genügt. Sie ist auch trotz dem Nahrungsvorrate, welchen 
sie in ihrem Innern beherbergt und züchtet, doch recht gefräßig 
und steht den farblosen Arten darın durchaus nicht nach 


Nils Holmgren’s ‚„Termitenstudien“. 


IV. Versuch einer systematischen Monographie der 
Termiten der orientalischen Region. 


276 S. 4°, mit S photogr. Tafeln und 14 Abbildungen im Texte. Separ. aus: 
K. Sv. Vetensk. Handl. L, Nr. 2, Upsala und Stockholm 1913. 


Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg, Holland). 


Der I. Teil der umfassenden „Termitenstudien“ N. Holm- 
gren’s (1909), der sich mit der äußeren Morphologie und der Ana- 
tomie der Termiten beschäftigte, ist im Biol. Centralbl. 1910 Nr. 9 
(S. 303—310) besprochen worden; ebenso der Il. und III. Teil 








9YK. Brandt, 224,0; 1882, 8. 144. 

10) K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. Kosmos, 8. Jahrg., Bd. XIV, 
1884, S. 183. 

11) .G. Entz, 393204 3. 463, 


3s0 Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. 


(1911), der sein neues Termitensystem begründete, im Biol. Cen- 
tralbl. 1912 Nr. 9 (S. 586—590). Der vorliegende IV. Teil will 
eine mehr spezielle Systematik der Termiten der orientalischen 
Region geben. Die Einleitung dazu (S. 3—30) ist allgemeinerer Natur 
und sucht die heutige geographische Verbreitung der Ter- 
miten stammesgeschichtlich zu erklären. Bei dem unzweifel- 
haften Werte, den derartige spezielle Untersuchungen einzelner 
Familien für die Deszendenztheorie besitzen gegenüber den ehe- 
maligen nur zu oft recht allgemein und spekulativ gehaltenen 
stammesgeschichtlichen Versuchen, dürfte es von Interesse sein, ın 
unserer Besprechung hauptsächlich diese Einleitung zu berück- 
sichtigen. 

Vorbemerkung des Referenten. — Der vortrefflichste 
Kenner der fossilen Insekten, Anton Handlirsch-Wien, hat sich 
wiederholt entschieden dahin ausgesprochen, dass den Termiten kein 
mesozoisches, sondern erst ein känozoisches Alter in unserer Erd- 
geschichte zukomme. Tatsächlich stammen die ältesten der bıs 
heute bekannten fossilen Termiten aus dem oberen Eocän. Kurt 
v. Rosen!), der sich speziell dem Studium der fossilen Isopteren 
gewidmet hat, gab 1912 eine Übersicht über die bisherigen Funde, 
Darunter sind merkwürdigerweise vier Arten der in ihrer Flügel- 
bildung zweifellos altertümlichsten, heute noch in Australien leben- 
den Gattung Mastotermes Frogg.: M. bouwrnemouthensis aus dem 
oberen Eocän von Hampshire, M. anglicus und BDatheri aus dem 
mittleren Olıgocän der Insel Wight, und endlich M7. eroaticus aus 
dem unteren Miocän von Radoboj in Kroatien. Die morphologisch 
primitivste Termitenfamilie erweist sich somit auch als die geologisch 
älteste, beginnt aber, soweit bislang bekannt, erst im Laufe des 
Eocän. Auffallend ıst das Fehlen von Mastotermes unter den Ter- 
miten des baltischen Bernstein. Diese umfassen nach v. Rosen 
nur Pro- und Mesotermitiden, dagegen keine Metatermitiden, die 
doch heute °/, aller lebenden Arten von Isopteren zählen. v. Rosen 
glaubt diese Erscheinung nicht aus dem phylogenetisch jüngeren 
Alter der Metatermitiden erklären zu sollen, sondern aus den klıma- 
tischen Verhältnissen der Bernsteinfauna, welche höchstens sub- 
tropisch, nicht aber tropisch gewesen seien; daher seien keine Meta- 
termitiden, die heute nur in den Tropen leben, im Bernstein vor- 
handen, sondern bloß Pro- und Mesotermitiden, die auch heute 
noch großenteils in gemäßigteren Klimaten vorkommen. Ich zweifle 
jedoch, ob diese Begründung für das Fehlen der Metatermitiden 
im Bernstein ausreichend ist. Denn unter den Ameisen des bal- 


1) Die fossilen Termiten. Eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Funde 
(Trans. II. Internat. Congr. Entomol., Oxford 1912, p. 318—335). Diese Arbeit war 
Holmgren noch nicht bekannt. 


Wasmann, Nils Holmgren’s ‚„Termitenstudien“. 351 


tischen Bernsteins begegnen uns neben paläarktischen Gattungen 
(z. B. Formica und Lasius) auch solche, die heute auf die Tropen 
beschränkt sind (z. B. Oecophylla, Sima und Pheidologethon) und 
überdies kosmopolitische Gattungen (z. B. Camponotus, Plagiolepis, 
Prenolepis). Ferner sind im baltischen Bernstein bereits mehrere 
Arten der heute ausschließlich tropischen Paussidengattung Arthrop- 
ferus vertreten, u.s. w. Die klimatischen Verhältnisse an der da- 
maligen Ostseeküste geben somit keine Erklärung dafür, weshalb 
gerade unter den dortigen Termiten sämtliche, heute so artenreiche 
Metatermitiden fehlen. Es scheint mir, dass wir vielmehr annehmen 
müssen, die Metatermitiden seien als phylogenetisch jüngste Isopteren- 
familie damals noch wenig oder nicht entwickelt gewesen, während 
die Pro- und Mesotermitiden bereits zahlreich vorhanden waren. 

Während diese Erwägungen für die Ansicht von Handlirsch 
sprechen, der den Termiten nur ein känozoisches Alter zuschreibt, 
tritt der beste Kenner der rezenten Termiten, Nils Holmgren, 
entschieden dafür ein, dass die Termiten bereits im Mesozoikum 
sich entwickelt haben müssen, und zwar aus Gründen der ver- 
gleichenden Morphologie und der Tiergeographie. Zwischen den 
Protoblattoidea, die schon im Perm verschwinden, und den Masto- 
termitidae des Eocäns, deren Flügelgeäder von jenem der ersteren 
abzuleiten ist, müssen doch während der langen mesozoischen 
Zwischenperioden irgendwelche reelle Bindeglieder in rerum natura 
existiert haben, wenn sie auch bisher noch nicht gefunden oder noch 
nicht als solche erkannt sind. Ein zweites Hauptargument für das 
mesozoische Alter der Isopteren leitet Holmgren aus der heutigen 
geographischen Verbreitung der Termiten ab, und dieses 
Argument ist der eigentliche Gegenstand der obenerwähnten Eın- 
leitung zum IV. Teile seiner „Termitenstudien“. 

Die Mastotermitiden, die älteste Termitenfamilie, die nur 
eine einzige noch lebende Art in Australien besitzt, waren in der 
ersten Hälfte der Tertiärzeit ın Nordeuropa durch mehrere Arten 
vertreten?). Obwohl die Gattung Mastotermes ihrem Flügelgeäder 
nach zweifellos den primitivsten Isopterentypus darstellt, ist sie 
doch in ihrer Kastendifferenzierung „schon sehr weit fortgeschritten‘, 
wie Holmgren mit Recht betont. Gleich vielen anderen ım 
III. Teil seiner „Termitenstudien“ erwähnten Tatsachen der Ter- 
mitenbiologie steht diese Erscheinung in schroffem Gegensatz zum 
„biogenetischen Grundgesetz“, ungeachtet der schönen Reflexionen, 
welche G. v. Natzmer?) kürzlich wieder über die glänzende Be- 
stätigung jenes Gesetzes durch die Insektenstaaten angestellt hat. 


2) Siehe oben. Holmgren erwähnt erst eine (Mastotermes eroatieus). Die 
drei englischen Arten waren ihm noch unbekannt. 

3) Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten (Biol. Cen- 
tralbl. 1915 Nr. 1, S. 30—36). 


382 Wasmann, Nils Holmgren’s ‚„Termitenstudien“. 


Unter den Protermitiden hält H. die Termopsinae ebenfalls 
für eine „uralte Termitengruppe“, die am Ende der Sekundärzeit 
weit verbreitet war, und von welcher die heutigen dreı Gattungen 
nur noch vereinzelte Reste sind. Im Oligocän, wo sie unter den 
Bernsteintermiten durch die noch lebenden Gattungen Archotermopsis 
und Hodotermopsis und die ausgestorbene Gattung Xestotermopsis 
vertreten sind, kamen sie noch weiter nördlich vor als ıhre heutigen 
Arten, die auf der Westküste von Nordamerika leben. Unsere 
rezenten Porotermes-Arten sind wahrscheinlich die letzten Über- 
bleibsel eben jener alten Termopsinenfauna, die über die ganze 
holarktische Region sich erstreckte; die Parotermes, die in den 
Florissantschichten von Colorado gefunden wurden, können sogar 
„mit ziemlich großer Sicherheit als Porotermes-Formen angesehen 
werden“; und die rezenten Poroterines-Arten, welche „ın den süd- 
lichen Kontinenten fast die Südgrenze der gegenwärtigen Termiten- 
verbreitung markieren“, indem sie in Chile, ım Kapland und in 
Südostaustralien überleben, sind als die letzten Reste der nach 
Süden gewanderten nördlichen Termopsinenfauna zu betrachten. 
Die Stolotermes, von denen zwei rezente Arten auf Neuseeland und 
in Tasmanien vorkommen, möchte Holmgren ebenfalls als „einen 
solchen stark verdrängten Zweig einer nördlichen, spätsekundären 
Fauna“ ansehen. Ähnliches gilt für die Oalotermitinae der heutigen 
Fauna, welche „gleich wie die Hodotermitinae und Termopsinae Ver- 
treter einer uralten, wahrscheinlich der Sekundärzeit angehörenden 
weitverbreiteten Termitenfauna sind.“ Dass die COglotermitinae, die 
sehr zahlreiche rezente Formen zählen, sich von Norden nach Süden 
verbreiteten, wird auch dadurch nahegelegt, dass die Onlotermes 
sens. str. in der baltischen Bernsteinfauna vorkommen; bezüglich 
ihrer Tibialbewaffnung verhalten sie sich ursprünglicher als alle 
jetzt lebenden bekannten Arten derselben Gattung. Man kann es 
daher H. nicht verdenken, wenn er den Caloterminen eine „Jura- 
oder Kreideverbreitung“ über Europa, Asien und Nordamerika“ zu- 
schreibt und auf diesem Verbreitungswege auch die ın Südamerika 
endemischen Gattungen Kueryptotermes, Rugitermes u. s. w. sich 
differenzieren lässt. Überhaupt bieten die Tatsachen der fossilen 
und der heutigen geographischen Verbreitung der Protermitiden 
eine starke Stütze für die Ansicht Holmgren’s, dass wenigstens 
die primitivsten Termitenfamilien der Gegenwart bereits am Ende 
des Mesozoikums ıhre Entwicklung im wesentlichen vollendet hatten. 
Wer diese Ausführungen Holmgren’s aufmerksam liest, wird auch 
den auffallenden Parallelismus, der zwischen der fossilen und heutigen 
Verbreitung der ältesten Termiten einerseits und der ältesten Säuge- 
tiere (der Monotremen und Marsupialier) andererseits besteht, nicht 
übersehen können. 

Für die Familie der Mesotermitiden lässt sich nicht ein so 


Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. 383 


einheitliches Verbreitungszentrum feststellen, da sie jüngeren Ur- 
sprungs ist als diejenige der Protermitiden. Für die Rhinotermi- 
finae nimmt H. an, dass sie ihr ursprüngliches Zentrum in Ostasien 
hatten und möglicherweise erst von dort aus nach Afrika, Australien 
und Südamerika sich ausbreiteten, wo sie heute ebenfalls vertreten 
sind. Die Coptotermitinae lässt er einen ähnlichen, aber etwas 
späteren Weg verfolgen. Da sie auch auf Madagaskar vorkommen, 
müssen sie dorthin bereits vor der Trennung dieser Insel vom afri- 
kanischen Festlande, also vor dem oberen Eocän, gewandert sein. 
Ganz eigenartig und einstweilen nicht aufklärbar ist die Verbrei- 
tung der Gattung Arrhinotermes, da ihre Arten fast ausschließlich 
insular sind in den vier verschiedenen Regionen, wo sie heute 
leben, nämlich im asiatischen, australischen, amerikanischen und 
madegassischen Gebiete. Die Leucotermitinae, die schon im Oligocän 
des baltischen Bernsteins als einzige Vertreter der Mesotermitiden 
sich finden und heute als die schädlichsten Haustermiten über alle 
Weltteile verbreitet sind, bilden die Nordgrenze der rezenten Ter- 
mitenverbreitung, die nur wenig südlicher verläuft als im Oligocän. 
Ihr ursprüngliches Zentrum war vielleicht ım paläarktischen Ge- 
biete, von dem sie sich vor dem Ende des Oligocän auch über 
Nordamerika ausgebreitet hatten: andererseits aber meint H., ein 
ostasiatisches Zentrum würde der gegenwärtigen Verteilung der Arten 
besser entsprechen als ein europäisches, bezw. ein arktisches; denn 
in Südeuropa und Nordamerika leben heute nur sehr wenige Arten 
von Leueotermes gegenüber zahlreichen ındischen, australischen und 
südamerikanischen. Referent möchte noch beifügen, dass die beiden 
uördliehsten ZLeucotermes-Arten der rezenten Fauna, L. lucifugus ım 
Europa und Z. flavipes in Nordamerika, vielleicht überhaupt erst 
in historischer Zeit dorthin verschleppt wurden durch den mensch- 
lichen Handelsverkehr. Wir kennen Beispiele von ostindischen 
Ameisen (Prenolepis longicornis), die samt ihren Gästen aus den 
Gattungen Coluocera und Myrmecophila auf dem portugiesischen 
Schiffswege von ÖOstindien nach Brasilien, Trinidad, den Azoren 
u. Ss. w. gelangten*). Die systematische Verwandtschaft zwischen 
dem ostindischen Leucotermes indicola Wasm., dem nordameri- 
kanischen Z/. flavipes Koll. und dem europäischen L. lueifugus 
Rossi ist eine so äußerst nahe, dass einer erst in ganz rezenter 
Zeit erfolgten Differenzierung derselben infolge neuer klimatischer 
Verhältnisse nichts im Wege steht. Die Annahme einer ostasiatischen 
Heimat für Zeucotermes würde sich auf diese Weise mit der extrem 
nördlichen Verbreitung einiger Formen ohne prähistorische Wande- 


4) Siehe Wasmann, Zur Lebensweise einiger in- und ausländischen Ameisen- 
gäste (Ztschr. f. wissensch. Insektenbiologie I, 1905, Heft 8—10); Ameisenplagen 
im Gefolge der Kultur (Stimmen aus Maria-Laach, LXXX VII, 1913—14, Heft 10). 


384 Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. 


rungen leicht vereinbaren lassen. Für Leueotermes flavipes, der in 
Nordamerika eine weite Verbreitung besitzt, dürfte es allerdings 
wahrscheinlicher sein, dass er entweder ein Relikt der dortigen 
Tertiärfauna ist oder ein Einwanderer, der ım Pliocän über den 
Isthmus von Südamerika herkam, zumal auf demselben Wege auch 
Eutermes-Arten, die zweifellos neotropischen Ursprungs sind, in 
die Südstaaten der Union gelangten. Dagegen besitzt es für den 
sporadisch im Mittelmeergebiete lebenden ZLeucotermes lucifugus?) 
größere Wahırscheinlichkeit, dass er kein Relikt der voreiszeitlichen 
Tertiärfauna Europas ist, sondern erst nachträglich durch den portu- 
giesischen Schiffsverkehr aus Ostindien eingeschleppt wurde. Hier- 
für spricht insbesondere seine große Häufigkeit auf Madeira (Har- 
tung, Wollaston, Heer!), welche der Häufigkeit der aus Ost- 
indien ebendort eingeführten Prenolepis longecornis Ltr. mit ihrem 
Gaste Coluocera oculata Bel. (= maderae W ollast.) völlig analog ist. 

Seine Untersuchungen über die beiden genannten Termiten- 
familien glaubt Holmgren (S. 15) mit dem Satze beschließen zu 
dürfen: „Die gegenwärtige geographische Verbreitung der 
Pro- und Mesotermitiden scheint deutlich auf eine nörd- 
liche, die ganze holarktische Region umfassende Fauna 
hinzudeuten, welche (vom oberen Jura) bis zum Eocän 
als Zentrum der Pro- und Mesotermitidenverbreitung ge- 
dient haben kann.“ Diese Schlussfolgerung hieß sich allerdings 
für die Protermitiden besser begründen als für die Mesotermi- 
tiden, wo sie keine ebenso große Wahrscheinlichkeit beanspruchen 
kann, da die Verbreitung der letzteren als der jüngeren Familie 
sich viel mannigfaltiger kompliziert. 

In noch höherem Grade gilt dies für die spezialisierteste und 
Jüngste unter den vier Termitenfamilien, für die Metatermitiden, 
die ım Tertiär überhaupt noch keine Vertreter aufweist‘). Dagegen 
sind unter den afrıkanischen Kopaltermiten, die v. Rosen unter- 
suchte (1912, S. 332ff.) Metatermitiden, und zwar auch im Soldaten- 
und Arbeiterstande, vorhanden. 

Die Ausführungen Holmgren’s (S. 16-29) zeigen, auf welche 
Schwierigkeiten die phyletische Ableitung bei den Metatermitiden 
im einzelnen stößt wegen der geographischen Verbreitung der be- 
treffenden Gattungen. Die Termes-Reihe ıst eine der am meisten 
lokal begrenzten Gruppen. Die Gattung Maerotermes kommt in 
Westafrika und im indisch-ceylonischen Gebiet vor, fehlt dagegen 
merkwürdigerweise in Ostafrika. Die Gattung Syntermes ıst aus- 
schließlich südamerikanisch, wo sie entstanden sein muss. Das „Ur- 

5) Siehe die Fundortsangaben bei Hagen, Monographie der Termiten (Linnaea 
Entomologica XII, 1858), S. 178—179. 

6) Die älteren Bestimmungen fossiler Termiten sind durch v. Rosen sämtlich 
revidiert worden. 


Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 3 
’ fo} > o - 


zentrum“ der ungeheuer artenreichen Gattung Eutermes, deren Sol- 
dateh Nasuti mit rudımentären Oberkiefern sind, verlegt H. nach 
Südamerika und lässt Vertreter derselben von dort im oberen 
Oligocän oder ım unteren Miocän nach Australien wandern und von 
da erst ım Pliocän nach der orientalischen Region; in entgegen- 
gesetzter Richtung kamen Zntermes-Arten gleichfalls aus Süd- 
amerika im Miocän nach Afrika, von dort nach Madagaskar und 
schließlich nach Vorderindien. Hier verfügen wir erst über recht 
schwanke Hypothesen, wie diese Beispiele zeigen. 

Am Schluss seiner Einleitung zum IV. Band der „Termiten- 
studien* (S. 50—31) gibt Holmgren eine Zusammenfassung 
über die orientalische Termitenfauna und ihre teils nörd- 
lichen, teils südlichen, teils östlichen, teils westlichen, teils ende- 
mischen Komponenten. Dann beginut die systematische Mono- 
graphie der Termiten der orientalischen Region, mit zahlreichen 
Neubeschreibungen. In der Gattung Odontotermes scheint dem 
Referenten die Spaltung der Arten vielleicht etwas zu weit ge- 
trieben. 

Der IV. Band dieser „Termitenstudien“ Holmgren’s wird 
für jeden Zoologen, der sich für Klärung des schwierigen Deszen- 
denzproblems interessiert, manches Lehrreiche bieten. Überdies ist 
unsere Kenntnis der geographischen Verbreitung der Termiten und 
die spezielle Termitensystematik der orientalischen Region durch 
diese Arbeit wesentlich gefördert worden. 





Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche 
mit Blutegeln. 


Von Privatdozent Dr. med. et phil. Leopold Löhner. 
(Aus dem physiologischen Institut der Universität Graz.) 


Die folgenden Zeilen berichten von Fütterungsversuchen mit 
Blutegeln, durch die günstige Bedingungen für verdauungs- und 
geschmacksphysiologische Untersuchungen geschaffen werden sollten. 
Wegen der außerordentlich langsamen Verdauungsvorgänge und 
der aufgenommenen großen Nahrungsmengen schienen die Egel 
für diesen Zweck sehr geeignete Objekte zu sein. Es kam nur 
darauf an, eime Methode für künstliche Fütterung auszuarbeiten, 
um auch die spontane Aufnahme einer Reihe von Substanzen, die 
sonst als Nahrung nicht in Betracht kommen, zu erreichen. 

Kieferegel, wie unsere Hirudo medieinalis L., sind bekanntlich 
nicht imstande, Blut direkt aufzunehmen, wenn man sie in einem 
Gefäße mit dieser ihrer natürlichen Nahrung zusammenbringt. Sie 
müssen Gelegenheit haben, nach vorausgegangenem Festsaugen 
ihren Saug- und Pumpmechanismus in Gang zu setzen. Dieses 

XXXV. 25 


386 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 


Moment muss natürlich berücksichtigt werden, wenn man die Auf- 
nahme irgendwelcher Substanz erzielen will. 

Die Methode der künstlichen Fütterung, die ich schildern will, 
eigentlich ein Kolumbusei an Selbstverständlichkeit, hat doch auf 
einige Umstände Rücksicht zu nehmen, bei deren Nichtbeachtung, 
wie ich mich anfangs nur zu oft überzeugen konnte, das Gelingen 
in Frage gestellt wird. Die Methode besteht, kurz gesagt, darın, 
ein die betreffende Flüssigkeit enthaltendes Proberöhrchen mit 
einem Stückchen Tierfell zu verbinden und den Egel daran sich 
ansaugen zu lassen. Damit das Tier nicht nach kürzester Zeit wieder 
loslässt, ist es nötig, das über die Öffnung zu stehen kommende 
Fellstück in einer entsprechenden Ausdehnung von den Haaren zu 
befreien und sodann durch flache Scherenschnitte auf eine mög- 
lichst dünne, aber noch als Verschluss wirkende, flüssıgkeitsundurch- 
lässige Lamelle zuzuschneiden. Damit der Egel sich rasch und 
gerne festsaugt, ist es ferner notwendig, das Röhrchen vorher ım 
Wasserbade auf etwa 40° © zu erwärmen. Sobald das Tier mit 
Hilfe seiner Kiefer die charakteristisch geformte, dreiblattähnliche 
Öffnung in die Lamelle gesägt hat und Flüssigkeit aufsaugt, beginnt 
sich im Röhrchen ein immer stärker werdender negativer Druck 
zu entwickeln, der die Saugarbeit erschwert und vorzeitig zu Ende 
bringt. Es empfiehlt sich daher, mit einer Nadel ın der Membran 
vorsichtig ein kleines Loch zu stechen; man kann dann das Auf- 
steigen von Luftblasen ın der Flüssigkeit ım Rhythmus der Saug- 
arbeit verfolgen. 

Auf diese Weise wird von den Egeln defibriniertes Blut, aber 
auch Serum, sehr gerne angenommen. Schon schwerer wird das 
Ansaugen erreicht, wenn lediglich reine physiologische Kochsalz- 
lösung oder eine andere indifferente Flüssigkeit vorliegt. Die Tiere 
suchen dann aufgeregt umher, es scheint aber doch der richtige 
chemische Anreiz zu fehlen, der demnach nicht oder nicht aus- 
schließlich ın der blutleeren tierischen Membran liegen kann, sondern 
von der Flüssigkeit ausgeht und sich durch die Membran hindurch 
geltend macht. Dass aber das Tierhäutchen trotzdem eine Rolle 
spielt, geht daraus hervor, dass andere Materialien, wie z. B. dünnes 
Pergamentpapier u. dergl. sich für vorliegenden Zweck ungeeignet 
erwiesen. 

Um die Aufnahme einer derartigen Flüssigkeit zu erreichen, 
ging ich nun so vor, dass ich den Egel sich an einem Serumröhrchen 
festsaugen ließ, das Fellstück dann abzog und über ein anderes, 
die betreffende Flüssigkeit enthaltendes stülpte; bei raschem und 
vorsichtigem Arbeiten gelingt diese Übertragung meist, ohne dass 
das Tier loslässt. 

Man kann aus dem abgehobenen Fellstücke, das man mit 
Nadeln in einem geeigneten Rähmchen befestigt, auch rasch ein 


Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 387 


kleines Trichterchen formen, an dessen tiefstem Punkte der Egel 
saugt. Mit Hilfe ausgezogener Glasrohre können nun verschiedene 
mlassiekeiten tropfenweise zugesetzt und auch schnell gewechselt 
werden. Diese Anordnung erlaubt die Beobachtung des Kiefer- 
spieles und der ganzen en: und ermöglicht ch das reak- 
tive Verhalten auf den Dez bestimmter nass katean oder verschie- 
dener Flüssigkeitskonzentrationen am genauesten zu verfolgen. 

In gleicher Weise wie Proberöhrchen habe ich schließlich auch 
mit verschließbarem Zu- und Abflusse versehene Durchströmungs- 
gefäße verwendet, die gleichfalls dem schnellen Flüssigkeitswechsel 
dienten und zwischendurch noch eine gründliche Ausspülung mit 
physiologischer Kochsalzlösung möglich machten. 

In allen diesen Fällen soll man es dem saugenden Egel mög- 
lichst bequem machen und darauf Rücksicht nehmen, dass er nicht 
frei herabhängt. Die Unterlage, — ich verwendete zusammengeballte, 
feuchte Tücher —, darf aber jedenfalls nicht zu fest andrücken und 
ihn in seinem Bewegungsvermögen behindern. 

Nachdem die technische Seite der Aufgabe ın dieser Weise 
gelöst war, konnte an die Durchführung verschiedener Versuchs- 
reihen gegangen werden. 

Zuerst war die Frage zu beantworten, welche Substanzen, bezw. 
welche Konzentrationen von Lösungen von den Egeln angenommen 
werden, welche nicht. Aus dem Verhalten serumsaugender Egel 
bei Flüssigkeitswechsel konnten Schlüsse auf das Geschmacks- 
empfinden, auf den chemischen Sinn dieser Tiere, gemacht werden. 
Das sofortige Loslassen eines eben noch saugenden Tieres stellt 
ein einfaches Kennzeichen dafür dar, dass eine bestimmte Substanz 
als von der vorhergehenden chemisch verschieden, und zwar ım 
abstoßenden Sinne wirkend, perzipiert wird. Aber auch schon die 
Beobachtung des Kieferspieles beim Saugakte und die Feststellung 
von Rhythmusänderungen oder -störungen auf Zusatz gewisser Stoffe 
gibt in jenen Fällen einen feinen Indikator für das chemische Per- 
zeptionsvermögen ab, in denen ein plötzliches Abstoßen nicht statthat. 

Hervorgehoben seı hier namentlich die Feststellung, dass körper- 
warme physiologische Kochsalzlösung als „zweite Flüssigkeit“ immer 
anstandslos weitergesaugt wird, ohne dass irgendein Reflex zu be- 
merken wäre. Die Qualität „Salzig* von Serum und Kochsalz- 
lösung, für uns Menschen das wichtigste gemeinsame Geschmacks- 
kennzeichen dieser beiden Flüssigkeiten, scheint demnach auch von 
diesen niederen Tieren als ähnlich perzipiert zu werden. 

Wie danach vorauszusetzen war, bereitet die Erzielung der 
Aufnahme nicht zu dichter Suspensionen von an und für sich un- 
löslichen Substanzen in physiologischer Kochsalzlösung keinerlei 
Schwierigkeiten. Von dieser für verdauungsphysiologische Studien 
wertvollen Möglichkeit wurde des öfteren Gebrauch gemacht und 


95* 


388 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 


so z. B. die Verfütierung von Suspensionen gewaschener Erythro- 
zyten oder Leukozyten, von verschiedenen Stärkekörnchen, von 
Holzkohleteilchen u. s. w. durchgeführt. Auch die Aufnahme von 
Farbstoffen und Indikatoren wurde auf gleiche Weise erreicht, so 
die von Karmin, Lackmus, Kongorot und Natriumalizarinsulfonat. 

Das Angenommenwerden beschränkt sich aber durchaus nicht 
nur auf salzig schmeckende Lösungen; wenn auch weniger gerne 
und in kleineren Mengen, werden doch auch noch andere Flüssig- 
keiten, wie Brunnenwasser, Rohrzuckerlösungen von etwa 5%, ab- 
wärts und Milch weiter gesaugt. Zusätze geringer Mengen von 
Substanzen, deren Annahme sonst verweigert wird, zu physio- 
logischer Salzlösung oder Serum wird vertragen. Es konnte für 
eine Reihe von Substanzen mit ziemlicher Genauigkeit die Konzen- 
tration ermittelt werden, bei der das Loslassen mit Sicherheit ein- 
tritt. Auf diese geschmacksphysiologischen Versuche, die anderen 
Ortes!) geschildert werden sollen, möchte ich hier nicht weiter ein- 
gehen. 

Durch Messungen der verbrauchten Flüssigkeitsvolumina und 
Wägungen der Tiere vor und nach der Aufnahme konnten auch 
genaue quantitative Bestimmungen über die Verbrauchsmengen 
verschiedener Stoffe gemacht werden. Es zeigte sich, dass Serum 
und Kochsalzlösung unter den gegebenen Bedingungen ın ebenso 
großen, ja wegen der verringerten Arbeitsleistung vielleicht in noch 
größeren Mengen als Blut unter natürlichen Verhältnissen gesaugt 
werden. Die Menge, die von einem erwachsenen, ausgehungerten 
Individuum vertilgt werden kann, übersteigt mitunter 10 cm? und 
beträgt demnach ein Vielfaches des Eigengewichtes. Teilweise 
Füllung des Darmsystems, von einer vorhergehenden Nahrungsauf- 
nahme herrührend, beeinflusst natürlich in gewissem Grade die 
Leistungsfähigkeit; andererseits ist die Gier der Tiere so groß, dass 
sie durch eine bestimmte Zeit — ich ermittelte im Durchschnitte 
15—30 Minuten — vom Saugen nicht ablassen können. Die maxi- 
male Aufnahme, nach der die Tiere zu einer prall gefüllten, un- 
förmlichen und kaum bewegungsfähigen Walze werden, erreichte 
ich daher in der Weise, dass ıch Fütterungen in einem Abstande 
von etwa 2 Tagen einander folgen ließ. War die aufgenommene 
Flüssigkeit Kochsalzlösung, so werden die Tiere im durchfallenden 
Lichte durchscheinend und lassen besonders das Bauchmark deut- 
lich erkennen. 

Pütter?) erwähnt die Beobachtung. dass Blut bei längerem 
Verweilen im Egeldarme als einzige merkliche Veränderung eine 
Eindiekung zu sirupöser Konsistenz aufweist. „Das Blut war also 

1) Voraussichtlich: Archiv für die gesamte Physiologie. 

2) Pütter, Der Stoffwechsel des Blutegels. Zeitschr. f. allg. Physiol. Bd. 6, 
1907, S. 217, und Bd. 7, 1908, S. 16. 


Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 389 


im Darm des Egels sehr viel wasserärmer geworden, wasserärmer 
als die Gewebe des Tieres selbst, was einen aktiven Wassertransport 
durch die Zellen der Darmwand bedeutet.“ Ich kann diese An- 
gaben vollkommen bestätigen und möchte noch bemerken, dass sich 
gleichzeitig mit der fortschreitenden Eindickung des Darminhaltes 
eine Volums- und Gewichtsabnahme des Gesamttieres ermitteln lässt. 
Diese Eindiekung ist auch für verfüttertes Serum festzustellen; 
interessant ist die Beobachtung, dass sich in diesem Falle der Pro- 
zess bedeutend rascher vollzieht und dass die Gewichtsabnahme 
nach etwa 2 Wochen bereits so weit gediehen ist als bei Bluts- 
verfütterung nach ebenso vielen Monaten. Ganz besonders schnell 
verläuft aber die Gewichtsabnahme, wenn nur physiologische Koch- 
salzlösung eingepumpt wurde. Schon nach wenigen Tagen ıst das 
Volumen dieser Tiere nur mehr wenig größer als vor der Fütte- 
rung, alles Erscheinungen, die offenbar mit der verschiedenen Diffu- 
sionsgeschwindigkeit kristalloider und kolloidaler Lösungen durch 
die Darmwand zusammenhängen. Die Flüssigkeitsabgabe von seiten 
des Tieres nach außen muss dann in allen diesen Fällen durch 
Exkretionsvorgänge, sei esnun durch emunktorielle Exkretion oder 
durch allgemeine Oberflächen-Exkretion, stattfinden, keinesfalls aber 
durch Brech- oder Defäkationsakte. Flüssigkeitsabgaben auf letzteren 
Wegen kommen auch des öfteren vor; sie sind aber stets durch 
Verunreinigungen des Aufenthaltswassers leicht zu erkennen und 
von jenen anderen zu unterscheiden. 

Um Darminhalt für Untersuchungszwecke zu gewinnen, ohne 
das Tier opfern zu müssen, bediente ich mich eines alten Volks- 
mittels, das bezweckt, den Egel zum Loslassen und Regurgitieren 
des eben gesaugten Blutes zu bringen. Das Mittel besteht ın Be- 
streuen mit Kochsalz. Ich zog später konzentrierte Kochsalzlösung 
vor und fand das Bepinseln des Kopfendes am wirksamsten, das 
eventuell noch durch kopfwärts gerichtete Massage unterstützt 
werden kann. 

Über die außerordentliche Langsamkeit der Verdauungsvorgänge 
bei den Hirudineen liegen bereits zahlreiche Angaben vor?); ich möchte 
hierzu bemerken, dass sich auch nach Verfütterung gewaschener 
Erythrozyten in Kochsalzlösung die Verhältnisse nicht wesentlich 
anders gestalten und dass man auch in diesem Falle noch nach 
Monaten mehr oder minder unveränderte Blutkörperchen antrifit. 
Fütterungsversuche mit Leukozytensuspensionen, hergestellt nach 
dem Hamburger-Hekma’schen Verfahren®), brachten das Er- 


der Nahrung. Winterstein, Handb.d. vergl. Physiol. Bd. II/1, 1911, S. 540—551. 

4) H. J. Hamburger, Physikalisch-chemische Untersuchungen über Phago- 
zyten. Ihre Bedeutung von allgemein biologischem und pathologischem (Gesichts- 
punkt. Wiesbaden 1912 (J. F. Bergmann), S. 2—13. 


390 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 


gebnis, dass sich die sogen. Mastzellen des Pferdeblutes am wenigsten 
widerstandsfähig gegen dıe Verdauung erwiesen und früher als die 
anderen Leukozyten Auflösungserscheinungen erkennen ließen. 

Um festzustellen, ob ım Verdauungstrakte dieser, an eine so 
einseitige Ernährung angepassten Tiere auch diastatische Enzyme 
gebildet werden, verfütterte ich Stärkesuspensionen in physiologischer 
Kochsalzlösung und prüfte den Darminhalt nach !/,, 1, 1!/, und 
2 Monaten. Das Ergebnis war, dass zu allen Zeiten völlig unver- 
änderte Stärkekörnchen (Weizen- und Kartoffelstärke) ın großer 
Menge aufzufinden waren. Aus diesen negativen Befunden durfte 
natürlich noch nicht auf das Fehlen eines diastatischen Enzyms ge- 
schlossen werden und das um so weniger, als schon die ungewöhn- 
liche Langsamkeit der Verdauung überhaupt zur Vorsicht mahnt. 
Durchmustert man nach Ablauf des ersten Monats mehrere Ge- 
sichtsfelder mit Sorgfalt, so trıfft man aber immer auf Bruchstücke 
von Körnern, vereinzelt auch auf ganze Körner, die unverkennbare 
Korrosionserscheinungen aufweisen. Der Gedanke war daher nahe- 
liegend, dass die festere, stärkezellulosereiche Außenschichte der 
intakten Körnchen erst nach sehr langer Zeit aufgelöst wırd, dass 
dagegen mechanisch verletzte Körnchen alsbald angegriffen werden. 
Es wurden daher bei späteren Versuchen dıe Stärkekörnchen vor 
der Verfütterung in der Achatreibschale möglichst zertrümmert; 
die Bilder, die dann, besonders bei Verwendung von Weizenstärke, 
erhalten wurden, sprachen für die Richtigkeit obiger Ansicht. Dass 
dabei Bakterientätigkeit mitwirken könnte, kann nicht in Abrede 
gestellt werden. ist aber nicht sehr wahrscheinlich, da die Darm- 
sekrete der Egel stark bakterizide Substanzen enthalten und be- 
kanntlich auch die Blutfäulnis verhindern. 

Wie bereits erwähnt, wird merkwürdigerweise auch Milch gerne 
und in nicht unbeträchtlichen Mengen aufgenommen. Im Vergleiche 
zu Kontrollproben mit Milchgerinnung durch Selbstsäuerung erfährt 
der Gerinnungsvorgang im Egeldarme eine gewisse Verzögerung, 
keineswegs aber eine Aufhebung. Sobald der Ansäuerungs- und 
Gerinnungsprozess seinen Höhepunkt erreicht hat, scheint es dem 
Egel schlecht zu bekommen. Der Darminhalt wird, von gleichzeitig 
gefütterten Tieren nahezu gleichzeitig, spontan in ein- oder mehr- 
maligem Akte, regurgitiert. Die erbrochenen Massen bestehen aus 
käsigen Gerinnseln, die stark sauer riechen. Der Zeitpunkt, in dem 
der Brechakt, und offenbar damit zusammenhängend die voraus- 
gehende Gerinnung, einsetzt, hängt von der Außentemperatur ab. 
Bei durchschnittlich 15° © konnte ich diese Vorgänge nach etwa 
72 Stunden, bei 25° C schon nach 36 Stunden feststellen. 

Die Tatsache, dass Serum und Serumverdünnungen so gerne 
angenommen werden, forderte zur Anstellung gewisser serologischer 
Versuche, über die ich zum Schlusse noch berichten möchte, ge- 


Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 391 


radezu auf. Ohne weiteres gelingt es, das ım Darmsysteme eines 
Egels vorgefundene Blut mit Hilfe der biologischen Eiweißdifferen- 
zıerungsmethode (Präzipitinmethode) seiner Herkunft nach zu be- 
stimmen. Derartige Versuche sınd aber, wıe ich sehe, bereits von 
Uhlenhut?) angestellt worden. 

Eine andere Frage, die ich mir vorlegte, war die, ob Immun- 
körper im Egeldarme eine rasche Zerstörung erleiden oder nicht. 
Mehrere Tiere wurden zu diesem Zwecke mit einem Antipferde- 
Kaninchenimmunserum gefüttert, das mit der Äntigenverdünnung 
!/ 0000 noch merkbare Präzipitation ergab. Nach 14 Tagen wurden 
die Egel in der geschilderten Weise zum Regurgitieren des Darm- 
inhaltes gebracht. Die von manchen Tieren gewonnenen zäh- 
flüssigen, syrupösen Massen sınd klar, hellgelb und frei von allen 
Beimischungen, die von anderen Individuen stammenden Portionen 
allerdings auch durch altes Blut und Fäzes mehr oder minder ver- 
unreinigt, gefärbt und trübe. Für die Versuche wurde nur mög- 
lichst reines Material ausgewählt, das, um es pipetieren zu können, 
mit etwas 0,355 %,ıger Kochsalzlösung vermischt und angerührt wurde. 
Die untenstehende Tabelle bringt die Ergebnisse dieser Versuchs- 
reihe nebst den Kontrollproben. Wie daraus entnommen werden 








Prä- 
zipitation 
nach 
10 Minut. 


Antigen Antikörper 


























1 cm? !/,, Pferdenormalserum ‚0,lem? Antipferde-Kaninchenimmun- E 

serum nach Egeldarmpassage stark a 

1 cm? !/,oo > 0,1 cm? ir stark 8 

em on ® 0,1 cm? 3 stark = 

1 cm? 3000 ® 0,1 cm? R deutlich | 
x x 3 | 

| I 

1 cm? !/;, Pferdenormalserum | 0,1 cm? Antipferde-Kaninchenimmun- | 8 

| serumohne Egeldarmpassage | stark 2 

sn h ‚0,1 em? re stark | 

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Tem), 5000 nn 0,1 cm? 5 Z— = 

2 





5) Zitiert nach M. Seber, Moderne Blutforschung und Abstammungslehre. 
Frankfurt a. M. 1909 (Neuer Frankfurter Verlag), S. 22. 


392 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 


kann, hat das Antiserum durch den 14tägigen Aufenthalt im Darme 
seine präzipitierende Kraft keineswegs eingebüßt; ja die Präzipitation 
in den höheren Antigenverdünnungen scheint hier beinahe stärker 
zu sein als die durch die entsprechende Kontrolle (I) veranlasste. 
Die Erklärung für diese Erscheinung wird man in der beträcht- 
lichen Eindickung des Serums im Egeldarme zu suchen haben. Wie 
die Kontrollreihe II mit verfüttertem Kaninchennormalserum zeigt, 
bleibt in diesem Falle jede Art Niederschlagsbildung aus, ein Be- 
weis, dass die Ausfällung ım Hauptversuche tatsächlich durch eine 
typische Präzipitinreaktion zustande kommt. 

Nach diesen Feststellungen waren die Vorbedingungen gegeben, 
die Präzipitinreaktion auch ım Darminnern des lebenden Tieres 
eintreten zu lassen. Diesen Versuch, den ich lediglich als Kuriosum 
erwähnen möchte, stellte ich in der Weise an, dass ich mehrere 
Egel !/,. und ?/,ooo Verdünnungen von Pferdenormalserum (Ver- 
dünnungen hergestellt mit 0,55 %,ıger NaUl-Lösung) trinken hieß und 
sie am nächsten Tage zur Aufnahme von ein wenig Antipferde- 
Kaninchenimmunserum brachte. Zwingt man die Tiere bald darauf 
zum Regurgitieren, so erhält man eine leicht getrübte Flüssigkeit, 
aus der sich mit der Zeit ein weißer Bodensatz niederschlägt. 
Kontrolltiere, denen bei der zweiten Fütterung Kaninchen- oder 
Pferdenormalserum verabreicht wurde, lassen dagegen diese cha- 
rakteristischen Serumtrübungen vermissen. Die Präzipitatbildung 
im Darme scheint für die Tiere ihrem Verhalten nach völlig indiffe- 
rent zu sein. 


Zusammenfassung. 


1. Unter Beobachtung einer näher geschilderten Methodik ge- 
lıngt die künstliche Fütterung von Kieferegeln (Hirudo medieinalis 1ı.) 
unschwer. 

2. Auf diese Weise wurde neben Blut die Verfütterung von 
Seren, physiologischer Kochsalzlösung, verschiedenen Suspensionen 
und Zusätzen zu Kochsalzlösung, Wasser, Zuckerlösung von weniger 
als 5%, Milch u. s. w. durchgeführt und die Aufnahme dieser Sub- 
stanzen erreicht. 

3. Die Nahrung erfährt im Egeldarme eine Wasserverarmung 
und wird eingedickt. Dieser Prozess verläuft nach Aufnahme von 
Serum bedeutend schneller als nach der von Blut, nach der Ver- 
fütterung von Kochsalzlösung wieder um vieles rascher als nach 
der von Serum. 

4. Mechanisch verletzte Stärkekörnchen (Weizen- und Kartoffel- 
stärke) zeigen nach längerem Darmaufenthalte Korrosionserschei- 
nungen. Ein schwach und langsam wirkendes diastatisches Enzym 
dürfte demnach wahrscheinlich in den Verdauungssekreten der Egel 
enthalten sein. 


Roux, Die Selbstregulation ete. 393 


5. Die Gerinnung aufgenommener Milch wird nicht verhindert, 
aber etwas verzögert. Sobald die Gerinnung eingetreten ist — der 
Zeitpunkt hängt von der Außentemperatur ab —, wird der Darm- 
inhalt spontan regurgitiert. 

6, Mit Serum eingebrachte Immunkörper (Präzipitine) erfahren 
ım Egeldarme keine rasche Zerstörung. So konnte mit Antipferde- 
Kaninchenimmunserum, das sich durch 14 Tage im Darmtrakte 
befand, die Präzipitinreaktion anstandslos angestellt werden. Bei 
entsprechendem Vorgehen kann diese Reaktion auch im Darminnern 
des lebenden Tieres zustande kommen. 


Roux, Wilhelm. Die Selbstregulation ein 
charakteristisches und nicht notwendig vitalistisches 


Vermögen aller Lebewesen. 


Nova acta. Abh. d. K, Leop.-Carol. Deutschen Akad. d. Naturforscher. Bd. C. 
Nr.22.2 9178. -Hallerass: 1914: 


Die Erforscher des Entwickelungs- und Lebensgeschehens trennen 
sich heute in zwei scharf geschiedene Lager: die Mechanisten im 
Sinne Kant’s und Roux’ und die Vitalisten. Während ersteren 
das Lebewesen eine unendliche Fülle lockender, durch geistige Ana- 
Iyse und ıhr angepasste Experimente bis zu noch nicht bestimm- 
barer Grenze „der Erforschung zugänglicher Probleme“ bietet, ist 
für den Vitalisten im Grunde nur staunende Bewunderung möglich. 

Der hauptsächlichste Grund für diese Verschiedenheiten der 
beiden Forschungsrichtungen liegt darin, dass ihre Vertreter ver- 
schiedene Ursachen für das Entwickelungsgeschehen annehmen 
wollen, darüber zu einer Übereinstimmung bisher nicht gelangen 
konnten und wie wir sehen werden, auch nicht gelangen können. 
Die beiden einander gegenüberstehenden Richtungen schließen sich 
also gegenseitig aus und es frägt sich nur, welche von beiden die 
richtige ist. Diese Entscheidung zugunsten der mechanistischen 
Richtung zu fällen und damit die Nichtberechtigung des Vitalismus 
aufs exakteste nachzuweisen, hat Roux in der vorliegenden Schrift 
unternommen. 

Der Kernpunkt der Frage ist dabei: wie der heute noch mecha- 
nistisch unerklärte Teil des Lebensgeschehens aufgefasst werden 
muss. Der Vitalismus sieht sich hierfür zur Annahme eines zweck- 
tätıg „gestaltenden“ Agens, einer Entelechie (Driesch), eines Archeus 
(gestaltenden Urprinzips von Paracelsus) u. dergl. gedrängt. Für 
die mechanistische Erforschung des Entwickelungsgeschehens, also 
für die von ihm begründete und benannte „Entwickelungsmechanik* 
hat dagegen Roux die Aufgabe gestellt, rein kausale, also „be- 
ständig* gestaltende Wirkungsweisen aufzusuchen, welche das Ent- 
wickelungsgeschehen hervorbringen. 

Roux weist nun besonders darauf hin, dass eine vitalistische 
Autonomie (d.h. das eigenen Gesetzen Unterworfensein) des Lebens- 
geschehens im Sinne von Drieseh nicht dadurch erwiesen ist, wenn 


394 Roux, Die Selbstregulation ete. 


solches Geschehen sich heute noch nieht mechanistisch erklären 
lässt. Die vitalistisch-entelechetische Erklärung erklärt doch eigent- 
lich kein einziges Geschehen und ist außerdem nicht die einzig 
mögliche Deutung. 

So handelt es sich nach Roux in dem Unvermögen der Ma- 
schinen, sich selber ausbessern und fehlende Teile ergänzen zu 
können und dass isolierte Teile einer Maschine nicht eine ganze 
neue Maschine produzieren können, wie dies Lebewesen (bei der 
Selbstvermehrung, Reparation, Regeneration etc.) tun, um das den 
gewöhnlichen Maschinen fehlende, den Lebewesen dagegen als eine 
elementare und charakteristische Eigenschaft zukommende Regu- 
lationsvermögen, welches aber keine „Beweise“ vitalistisch auto- 
nomen Geschehens im Sinne Driesch’s darstellt. Das eigentliche 
Problem der Vermehrung der Lebewesen beruht nach Roux wesent- 
lich nur auf der von ihm „sogen. Assımilation“ des Keimplasmas. 
Dass letztere Substanz aber dasjenige leistet, wozu sie geeignet und 
wodurch sie gezüchtet worden ist, ıst doch nichts Metaphysisches, 
dazu bedarf sie keiner Entelechie. 

Seine Stellungnahme begründet Roux in seiner Arbeit, indem 
er von der von ihm ausgebauten „funktionellen Definition“ des 
Lebens nach den neun Lebensbedingungen (Selbstveränderung, 
Selbstausscheidung, Selbstaufnahme, Selbstassimilation, Selbstwachs- 
tum, Selbstbewegung, Selbstver mehrung, Vererbung. Selbstentwicke- 
lung) ausgeht und dann das von ıhm vor mehr als 30 Jahren er- 
kannte, früher fehlende Charakteristikum der Lebewesen die „Selbst- 
regulation“ in der Ausübung aller Leistungen genauer entwickelt, 
begründet und als eigenartigstes allgemeines Merkmal des Lebe- 
wesens genauer bezeichnet. 

Die Selbstregulationen haben den Anschein, als würden sie 
durch ein zwecktätiges Agens geleitet. Roux dagegen legt dar, 
dass die phylogenetische Entstehung dieser Regulationen gleich der- 
jenigen der neun Elementarfunktionen der Lebewesen und gemein- 
sam mit ihnen auch durch Züchtung aus zufälligen Variationen vor- 
stellbar ist. Die anscheinenden Zweckmäßigkeiten können daher 
als bloße „Dauerfähigkeiten“ beurteilt werden. Die ersten, ein- 
fachsten Lebewesen können somit ım Laufe von längeren Zeit- 
räumen durch „sukzessive Züchtung der Elementarfunktionen“ unter 
Aufspeicherung dauerfähiger Variationen entstanden sein, ohne dass 
hierfür ein metaphysisches, gestaltendes Agens, eine „Gestaltungs- 
seele“ behufs Determination des Geschehens nötig ıst. 

Da alle diesbezüglichen gegenteiligen Beweise Driesch’s nur 
apagogischer Art sind, also darauf beruhen, dass anderes nicht mög- 
lich, nicht denkbar sei, so haben sıe keine Beweiskraft mehr, nach- 
dem durch Roux dargetan ist, dass eine andere Erklärungsweise 
„möglich“, denkbar ist. Damit sind dem Vitalısmus seine besten, 
seine „prinzipiellen“ Stützen entzogen. 

Aber auch in anderer Hinsicht enthält der fesselnd geschriebene 
Aufsatz Roux’ viel Lesenswertes. Vor allem sind die Ausführungen 
über die Selbstregulation durch Roux, welcher letztere zuerst 
als allgemeines Charakteristikum der Lebewesen erkannt hat und 


Brehm’s Tierleben. 395 


die Ableitung ihrer Notwendigkeit aus der großen Dauer der Lebe- 
wesen im Wechsel der Umstände überaus klar und übersichtlich 
gefasst, ebenso die allgemeinen Darlegungen über die organischen 
Regulationen und die Wiedergabe der von Roux zuerst ge- 
gebenen prinzipiellen Lösung des Regenerationsproblems. Sie werden 
von allen denjenigen, welche für Entwickelungsmechanik und kausal- 
morphologisches Denken Interesse besitzen, gerne gelesen werden. 

Auch die kleineren Abschnitte, wie die scharf umschriebene 
kurze Definition des Lebewesens werden weiteste Kreise inter- 
essieren, Abschnitte wie der über falsche Buchführung der Vita- 
listen sind Meisterstücke exakter wissenschaftlicher Beweisführung. 
Den ganzen Gedankenreichtum, der in dem Werke enthalten ist, 
kann diese kurze Besprechung einiger Hauptresultate nicht voll wieder- 
geben, dazu muss man das Buch selbst lesen. Und das getan zu 
haben, wird jeden Leser dauernd bereichern. 

Diese Schrift des Begründers der Entwickelungsmechanik ist 
die strikteste Widerlegung des Vitalismus; sicher geeignet, die nicht 
wenigen derzeitigen Forscher, welche jetzt diesem Irrlicht zu folgen 
sich versucht fühlen, zur exakten Forschung zurückzuführen und 
andere von ıhm abzuhalten. Albert Oppel, Halle a. S. 


Brehm’s Tierleben. 
Vierte, vollständig neubearbeitete Auflage. 3. Bd. Die Fische. Von Alfred 
Brehm. Unter Mitwirkung von Viktor Franz neubearbeitet von Otto Steche. 
Mit 59 Abbildungen nach Photographien auf 10 Doppeltafeln, 172 Abbildungen 
im Text, 19 farbigen und 34 schwarzen Tafeln von ©. Bessiger, A. Fiedler, 
P. Flanderky, W. Kuhnert und G. Mützel, sowie 1 Kartenbeilage. Leipzig 
und Wien, 1914. Bibliographisches Institut. 


Der Verfasser des neuen Fischbandes hat es zweifellos nicht 
leicht gehabt. Die Einteilung des Werkes ıst so, dass von den 
13 Bänden je 4 auf die Säuger und Vögel, 2 auf Reptilien und 
Amphibien, dagegen nur 3 Bände auf das ganze übrige Tierreich 
kommen. Selbst wenn man annımmt, dass die Mehrzahl der Leser 
den 12000 Arten von Fischen kein so großes Interesse entgegen- 
bringt als den höheren Wirbeltieren, so ıst es doch betrüblich, zu 
sehen, dass Fische und Nagetiere ungefähr gleichviel Text zuge- 
billigt erhalten haben. Noch trauriger wird es sein, wenn man 
sehen wird, dass eine Drittelmillion Insekten nebst Tausendfüßlern, 
Spinnen- und Krebstieren auch nur einen Band bekommen haben 
— wie wird da das ungeheure und so interessante biologische Ma- 
terial zusammengedrängt werden müssen, wie wenig wird man da 
der Farben- und Formenpracht der Insekten, die im ganzen Tier- 
reich kaum ihresgleichen haben, gerecht werden können! 

Also, es ist dem Verfasser wirklich nicht leicht gemacht worden, 
seine Aufgabe zu lösen; um so mehr als er außer den Fischen (von 
denen die Oyclostomen mit Recht als besonderer Stamm abgetrennt 
und allen übrigen Wirbeltieren, den Gnathostomen gegenübergestellt 
werden) noch die Tunicaten und Leptocardier in seinem Band unter- 
bringen musste. Den Raum für die Mitteilung der mächtig angewach- 


396 Brehm’s Tierleben. 


senen neueren Forschungsergebnisse auf dem Gebiete der Fischkunde 
— und wie sehr unsere Kenntnisse sich hier vermehrt haben, kann man 
leicht ermessen, wenn man nur an einige Hauptpunkte denkt: die 
Entwicklungsgeschichte der Lurchfische und von Polypterus, die Ent- 
wicklung und die Wanderungen der Aale, und überhaupt die Lebens- 
geschichte der wichtigsten Nutzfische: Dorsch, Häring u. s. w.; die 
Altersbestimmung der Fische, die Tiefseebewohner und ihre Leucht- 
organe, die Lebensweise der zahlreichen, in den letzten Jahrzehnten 
eingeführten und im Aquarium gezüchteten ausländischen Süßwasser- 
fische, namentlich der Maulbrüter, Kärpflinge, Schmetterlingsfische 
u. Ss. w. — dieser Raum konnte nur gewonnen werden durch 
‚Streichen der in der früheren Auflage noch reichlichen Spielraum 
genießenden Schilderungen alter Schriftsteller und durch kurze Zu- 
sammenfassung des Tatsachenmaterials. Dadurch ist es auch 
kommen, dass vom alten „Brehm“ viel weniger bleiben konnte 
als in den früheren Bänden. Es konnte natürlich auch auf genaue 
Einzelbeschreibungen, die etwa zur Bestimmung aller behandelten 
Arten ausreichen sollten, unmöglich eingegangen werden; die Er- 
kennung der wichtigsten Formen wurde durch Vermehrung der 
Abbildungen, von denen die zahlreichen, oft ausgezeichneten photo- 
graphischen Aufnahmen besonders bemer kenswert sind, ermöglicht. 
Ebenso konnte aus Gründen der Raumersparnis aus Formengruppen 
gleicher Lebensweise immer nur eine oder wenige Arten in dieser 
Beziehung geschildert werden. 

Der Verfasser hat aber nicht nur alles, was in der rein wissen- 
schaftlichen Literatur über den Gegenstand zusammengetragen ist, 
sorgfältig benützt, sondern auch den deutschen Aquarienzeitschriften, 
die so viele interessante Beobachtungen über Lebensweise und Fort- 
pflanzung von heimischen und fremdländischen Fischen in Gefangen- 
schaft enthalten, soviel nur der Raum gestattete, entnommen, so 
dass man wohl sagen kann, dass sowohl der Zoologe von Beruf 
eine ausreichende und wissenschaftlich einwandfreie Belehrung aus 
dem Bande schöpfen kann, als andererseits derjenige, der ohne 
weitergehende wissenschaftliche Absichten, als Beobachter, Pfleger 
und Züchter sich mit Fischen befasst, ın klarer Fassung alles 
Wissenswerte erfährt. 

Was die nieht photographischen Abbildungen anbelangt, so 
sind sie von sehr ungleicher Güte; am besten ım allgemeinen die- 
jenigen, welche von "Thumm herrühren und Aquarienfische dar- 
stellen, am schwächsten wohl manche von Flanderky, die oft 
etwas Ruppiges an sich haben, wie es wohl alte größere Fisch- 
präparate aufweisen, die schon vor längerer Zeit aus dem Spiritus 
herausgenommen w urden, wie z. B. die Nilhechte und der so selten 
gut abgebildete Schlammfisch (Amia calva), Heterotis u. a. — Die 
ale Abbildung von Hausen und Stör (Tafel bei S. 140), auf der 
der Stör wie das Junge vom Hausen aussieht, obwohl beide Arten 
Heel leicht unte Srscheidban sind, hätte wohl durch eine bessere er- 
setzt werden können. Die so überaus farbenprächtigen Korallen- 
fische aus den Gruppen der Chaetodontiden ete. sind auf der Farben- 
tafel (bei S, 423) überaus stiefmütterlich behandelt und diese Tafel 


Brehm’s Tierbilder. 397 


vermag auch nicht im entferntesten den überwältigenden Eindruck 
der wundervollen Färbung dieser Fische wiederzugeben; für ein 
einigermaßen entsprechendes Bild hätte der Referent gerne auf die 
farbigen Abbildungen von Dorsch und Häring verzichtet, ebenso 
auf die der Goldmakrele, die, so gut sie gemeint ist, doch zu viel 
von einem kolorierten Bilderbogen an sich hat, und die der Bach- 
forelle, die noch sehr an die alte Schubert’sche Naturgeschichte 
erinnert. 

Für die Verbreitungskarten gilt dasselbe, was an anderer Stelle 
im Referat über die Reptilienbände (Verh. zool. bot. Ges. Wien, 
Jahrg. 64, 1914, p. 85) gesagt wurde, doch ıst die erste Karte, 
welche nur die Verbreitung der charakteristischen Familien erkennen 
lässt, besser geraten; warum freilich für das paläarktische und neark- 
tische Gebiet die Siluriden, die doch so überaus spärlich vertreten 
sind, ferner ım paläarktischen die Barben, die nur mehr schwache 
Ausläufer der indisch-äthiopischen Barbenfauna vorstellen, beson- 
ders verzeichnet sind, will dem Referenten ebensowenig einleuchten, 
wie das Fehlen der Cichliden und Ophiocephaliden ın der äthio- 
pischen Region. 

Textlich wird wohl, wenn man die notgedrungene Beschrän- 
kung auf 590 Seiten berücksichtigt, kaum etwas einzuwenden sein, 
höchstens ein klein wenig mehr Hinweise ın bezug auf die Ver- 
breitung; Polypterus senegalus ıst nicht nur ın Westafrika, sondern 
auch ım Weißen Nil überaus häufig, Anabas auch in Afrika ver- 
treten, bei den Notopteriden ıst gar keine Heimat angegeben; die 
Pappenheim’sche Ansicht über die Bedeutung der Säge bei Pristis 
wäre vielleicht zu erwähnen gewesen. Die Gewichtsangaben für 
bestimmte Längen verschiedener Fische sind etwas gering ausge- 
fallen. — Die systematische Anordnung ıst nach Goodrich; sie 
ist vielleicht etwas übersichtlicher als die von Boulanger. 


F. Werner. 
Brehm’s Tierbilder. 
III. Teil. Säugetiere. 60 farbige Tafeln in Mappe. Leipzig und Wien 1915, 
Bibliograph. Institut, 4°. 

Von der Auswahl der neuen farbigen Tafeln zu Brehm’s Tier- 
leben ist nun die 2. Abteilung als Sonderausgabe erschienen, nach 
den vor einem Jahre erschienenen Vögeln. Ihre Bedeutung liegt 
vor allem ın der vortrefflichen künstlerischen Darstellung seltener, 
z. T. von der baldigen Ausrottung bedrohter fremdländischer Tier- 
arten; die Auswahl ıst wohl auch vom Zufall, welche Arten den 
Künstlern zugänglich waren und bei welchen die Darstellung am besten 
gelungen erschien, abhängig gewesen. Die Sammlung in dieser 
Form ist aber ein sehr preiswertes Anschauungsbuch und als Unter- 
richtsmittel in Lehranstalten jeder Stufe bequem zu verwerten. 
Jeder Tafel ist eine kurze Charakteristik der betreffenden Art (z. T. 
auch der Familie) von der Art eines Konversationslexikonsartikels 
beigefügt; wo der Raum reichte, auch ein Ausschnitt einer Schilde- 
rung des Freilebens der Art. 1195 


398 Palladin, Pflanzenanatomie. 


W. J. Palladin, Pflanzenanatomie. 


Nach der 5. russischen Auflage übersetzt und bearbeitet von S. Tschulok. 195 8. 
Oktav mit 174 Abb. im Text. Leipzig und Berlin 1914, B. G. Teubner. 


Das kleine Lehrbuch enthält die Haupttatsachen über den 
inneren Bau der Pflanzen in klarer Form und gut gewählten Bei- 
spielen. Einteilung und Darstellung benutzen vielfach sogen. phy- 
siologische, in Wahrheit mehr ökologische Gesichtspunkte, ohne 
dass diese ım Vordergrunde stünden. Vielmehr ist der Inhalt in 
der Hauptsache beschreibend. Auch die Entwickelungsgeschichte 
tritt zurück, ıst aber nicht zu sehr vernachlässigt. Von den Tat- 
sachen über die Beeinflussung des anatomischen Baues durch äußere 
Einflüsse finden wir nur die beliebtesten Beispiele in einem be- 
sonderen Abschnitte. 

Der Inhalt ist geteilt in die „Anatomie der Zelle“ (ein unglück- 
lich gewählter Ausdruck), die „Anatomie der Gewebe“ und die 
„Anatomie der Organe“. 

Nach einer Einleitung über die Geschichte der Pflanzenanatomie 
und Begriff und Bedeutung der Zelle werden die Eigenschaften 
des Protoplasmas, Zellkern, Plastiden, Zellhaut, geformte Einschlüsse, 
Zellsaft, Farben der Pflanzenorgane und Vermehrung der Zellen 
besprochen. Der Teil über die Gewebe ıst eingeteilt: Gewebe ım 
allgemeinen, Hautsystem, mechanisches System, Leitungssystem, 
Harzgänge, Drüsen und luftführende Räume. Diese Disposition ist 
etwas ungleich. Unter Anatomie der Organe wird der Bau des 
Stengels bei den typischen Dikotylen und den (rsymnospermen, 
dann bei den anormalen, ferner der des Stengels der Munokotylen, 
Pteridophyten und Bryophyten besprochen. Sonst ist von Krypto- 
gamen wenig die Rede. Schließlich folgen Wurzel, Blatt und ein 
kurzes Kapitel über den Einfluss der äußeren Bedingungen auf den 
anatomischen Bau der Pflanzen. 

Mängel sind nicht allzu viele zu finden. Einige mögen hier ange- 
führt werden: S. 36 steht, dass Spirogyra nur ein Chlorophyliband 
besitzt. S.38, dass die Chlorophylikörper bei Lemna trisulca an die 
Innenwände gehen um der Kälte der Nacht zu entgehen. S. 53 
wird behauptet, dass die Stärkekörner ım Samen direkt ım Zyto- 
plasma entstehen. S. 54, dass sich um so mehr Stärke in den 
Blättern findet, je günstiger die Lebensbedingungen sind. S. 80 
wird das Vorhandensein einer Scheitelzelle bei den Blütenpflanzen 
als immer noch fraglich bezeichnet. S. 89 wird von Haaren ge- 
sprochen, die sich wie Schlingpflanzen um eine Stütze winden. 
S. 91 und 92 werden über die Wasserzellen von Rochea und die 
Bedeutung des ätherischen Oles lange widerlegte Angaben aus 
Kerner’s Pflanzenleben wiederholt. Solche Ausstellungen ließen 
sich noch mehr machen. 

Trotzdem ist das Buch sicher recht brauchbar. Ob es nötig 
war, es aus dem Russischen zu übersetzen, ıst eine andere Frage. 
An derartigen Bearbeitungen leidet die deutsche Literatur keinen 
Mangel. Was uns not tut, ist ein großes Nachschlagewerk, in dem 
man aus der sehr zerstreuten Literatur alle Tatsachen über die 


Zehnder, Der ewige Kreislauf des Weltalls. 399 


Entwiekelung, Beeinflussung, Bedeutung und Besonderheit des 
inneren Baues der Pflanzen zusammengetragen fände. Sicher würde 
ein solches nicht nur eine große Erleichterung der Arbeit, sondern 
auch manche Tatsachen ergeben, die nıcht ins allgemeine Bewusst- 
sein der Botaniker eingedrungen sind. 

E. G. Pringsheim, Halle a. S. 


Ludwig Zehnder. Der ewige Kreislauf des Weltalls. 
8. VIII u. 408 S. 214 Abb. Braunschweig 1914. Friedr. Vieweg u. Sohn. 


Das Buch ist aus Vorlesungen entstanden, die augenscheinlich 
vor einem Kreis von Hörern verschiedenen Faches gehalten wurden 
und besteht aus 3, nach Inhalt und Bedeutung sehr verschiedenen 
Teilen. Die ersten beiden, zusammen 229 S., unter den Über- 
schriften: „Sichere Ergebnisse“ und „Unsichere Hypothesen“ sind 
im wesentlichen eine leichtverständliche Darstellung der Astro- 
nomie und Astrophysik und der bisherigen Versuche, ein Weltbild 
und eine Kosmogonie zu konstruieren. Der 3. Teil: „Meine Nebular- 
hypothese“* bietet dann des Verfassers eigene Hypothesen und Vor- 
stellungen, von denen die Kapitel „Entstehung der Lebewesen“ und 
„Die Bewohnbarkeit der Weltkörper“ auch für die Biologen von 
besonderem Interesse sind. 

Die zweifellos originellen Vorstellungen Z.’s über den Aufbau 
der lebenden Substanz, über das Wesen einer Urzeugung und der 
Assımilation sind von ihm schon 1899 veröffentlicht und damals 
durch Keibel im 19. Bd. dieser Zeitschrift besprochen worden. 
Ihr Wert als anregende Arbeitshypothesen für den Biologen wird 
unzweifelhaft dadurch bestimmt, welche Wahrscheinlichkeit des Vfs. 
Vorstellungen vom Wesen und Bau der Materie überhaupt im Rahmen 
des gegenwärtigen Standes der theoretischen Physik haben. Und 
da kann sein Buch nicht als zuverlässiger Führer des Biologen in 
dieses Gebiet empfohlen werden. Gerade die beiden letzten Jahre 
haben durch neue Entdeckungen sichere Ergebnisse über die An- 
ordnung der Moleküle in Kristallen, über den Bau der einfachsten 
Atome u.a. gebracht, die man im Buche vergeblich suchen wird 
(weil sie neueren Datums sind) und welche manche Hypothesen 
des Verfassers zu überholten Spekulationen stempeln; dank den 
neuen Kenntnissen ist man mit Erfolg bestrebt, die charakteristischen 
Eigenschaften der chemisch einfachsten Körper mit den bekannten 
Gesetzen der Elektrodynamik und Mechanik in Verbindung zu 
bringen und der quantitativen Nachprüfung zugänglich zu machen. 
Im Gegensatz zu diesen — allerdings modernsten — Bestrebungen 
begnügt sich das Zehnder’sche Buch, den Atomen Eigenschaften 
(z B. Elastizität) zuzuschreiben, ohne auf deren Zustandekommen 
einzugehen oder irgendwelche qnantitativen Prüfungen anzuknüpfen. 
Eine Naturerkenntnis, welche zu einem klaren und einheitlichen 
Weltbild führen soll, muss vor allem auf die Grundlagen die Haupt- 
sorgfalt legen und die Grundkräfte und -gesetze klar formulieren 
können. 


400 Mayer, Einführung in die Mikroskopie. 


Die Ausführungen üher Wachstum, Zellteilung und Vermehrung 
der lebenden Substanz haben zwar auf den ersten Blick etwas 
Bestechendes für den Biologen; bei genauerer Betrachtung aber 
sieht man, dass das an Zellen tatsächlich Beobachtete (Zweiteilung, 
Knospung) nur auf etwas andere Weise von den vom Verfasser 
angenommenen „Fistellen“, die, eine Art lebender Kristalle, die 
Elementarteilchen der lebenden Substanz sein sollen, ausgesagt 
wird. Ein Beweis für dıe Existenz solcher Fistellen jedoch, eine 
neue Erklärung des Aufbaues lebender Zellen wird nicht gegeben. 

E.&R. 


P. Mayer (Jena). Einführung in die Mikroskopie. 
205 S., 28 Textfiguren. Berlin 1914, J. Springer, 8°. 


Das kleine Buch soll ein Hilfsmittel für den Selbstunterricht 
sein, für solche Personen, die ohne jede mündliche Anleitung sich 
einen Einblick :in die Welt des Kleinen verschaffen wollen, etwa 
auch Schüler höherer Lehranstalten, oder die die einst erworbenen 
Kenntnisse wieder auffrischen und nutzbar machen wollen, wie Ärzte 
und Apotheker in kleinen Orten. 

Dementsprechend werden fast keine Vorkenntnisse vorausgesetzt 
und alle Arbeiten ausführlich und bis auf den kleinsten Handgriff 
beschrieben, daneben aber auch immer klare Erläuterungen der 
Theorie, z. B. der mikroskopischen Abbildung, des Aufhellens, 
Fixierens, Färbens u.ä. gegeben. Vielleicht ıst für den allerersten 
Anfang das Buch doch etwas zu eingehend und daher abschreckend; 
das wird aber wettgemacht durch die vortreffliche Anleitung, sich 
an den allereinfachsten und ohne jede Mühe zu beschaffenden Ob- 
jekten einzuüben und die Grundsätze für jedes Verfahren sich ein- 
zuprägen. Sehr ausführlich sind die Hilfsmittel der Untersuchung 
behandelt, und zwar werden preiswerte, aber gute Instrumente, wie 
das Winkel’sche Kursmikroskop und das Jung’sche Studenten- 
mikrotom empfohlen und der Anleitung zugrunde gelegt. Für die 
zahlreichen kleineren Hilfsmittel dagegen werden immer die billigsten, 
selbst anzufertigenden Modelle in erster Linie empfohlen und ihre 
Anfertigung ebenso genau wie ihre Handhabung beschrieben. 

Das Buch enthält so viel von den reichen Erfahrungen des 
Verfassers, dass es nicht nur dem führerlosen Anfänger, für den es 
geschrieben ist, auf das wärmste empfohlen werden kann, sondern 
dass auch fast jeder geübte Fachmann, der doch meist nur die 
Methoden seines Spezialgebietes ganz beherrscht, manches in ıhm 
finden wird, das ıhm die Arbeit erleichtert, besonders wenn er 
einmal mit ıhm weniger gewohnten Objekten zu tun bekommt. Es 
wird also, neben den ausführlicheren Handbüchern der Mikroskopie 
und den fachwissenschaftlichen technischen Hilfsbüchern in jedem 
biologischen Laboratorium ein willkommener Berater sein. 

WC: 





Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


DraK Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 











Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werıer Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem 
Berg 14, einsenden zu wollen. 


Bd. XXXYV. 

















O0. Oktober 1915. X 10. 
Inhalt: Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe bei den Pflanzen. — 
Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische. — Röder, 


Uber den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 








Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum 


und Ruhe bei den Pflanzen. 
Von Georg Lakon. 


I. Einleitung: Allgemeines über den Einfluss der Außenwelt auf 
die Entwicklung der Pflanze. 


Die bestimmte Entwicklung, welche eine Pflanzenart in der 
Natur durchzumachen pflegt, tritt uns ähnlich wie ihre morpho- 
logischen Charaktere als ein spezifischer Charakter der Art ent- 
gegen. Anderseits wissen wir aber, dass sowohl die morphologischen 
wie auch die Entwicklungscharaktere der Arten durch die Außen- 
welt beeinflusst werden. Fassen wir zunächst nur die morpho- 
logischen Charaktere der Arten ins Auge, so können wir: gewiss 
behaupten, dass sie den Ausdruck der erblich fixierten Artstruktur 
darstellen. Zugleich erhebt sich aber die Frage, ob die Artstruktur 
nur diese bestimmte Form zulässt. Die erwähnte, allgemeine Er- 
fahrung von der Beeinflussung der Form durch die Außenwelt führt 
uns zu der Erkenntnis, dass dies nicht der Fall ist. Die spezifische 
Struktur der Pflanze lässt vielmehr die Ausbildung mannigfacher 
Formen zu; die in der Natur herrschenden äußeren Bedingungen 
lassen nur eine dieser Formen zur Ausbildung gelangen, und diese 

XXXV. 26 


402 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


ist es, die wir als die „normale“ bezeichnen. Die Grenzen, inner- 
halb welcher all diese unter den mannigfachsten Veränderungen 
der Außenbedingungen entstehenden Formen sich bewegen, sind 
von der spezifischen Struktur der Art vorgeschrieben. Diese Grenzen 
kennen wir für die einzelnen Arten nicht, da es unmöglich ist, die 
Anzahl der herzustellenden Kombinationen von äußeren Bedingungen 
zu erschöpfen. In gleicher Weise wie die morphologische Aus- 
gestaltung ist auch die Entwicklung der Pflanze einerseits von der 
spezifischen Struktur, anderseits von der Außenwelt abhängig. Von 
den zahllosen Entwicklungsmöglichkeiten, welche die spezifische 
Struktur zulässt, kommen jeweils diejenigen zur Entfaltung, welche 
den herrschenden äußeren Bedingungen entsprechen. 

Was wir als die „normale“ Entwicklung einer Pflanzenart be- 
zeichnen, ist nichts anderes als diejenige Entwicklungsform, welche 
für die betreffende Art eben bei dieser bestimmten Kombination 
der Außenbedingungen möglich ist. Die Erkenntnis von der Be- 
deutung der Außenwelt für die Entwicklung der Pflanze hat sich 
erst mit der Förderung der experimentellen Morphologie Bahn ge- 
brochen und ist mit den Namen von Goebel und Klebs unzer- 
trennlich verknüpft. Klebs richtete sein Augenmerk von vorn- 
herein hauptsächlich auf die Unterschiede zwischen vegetativem 
Wachstum und der Bildung von Fortpflanzungsorganen. Er wid- 
mete sich zunächst ausschließlich dem Studium der Bedingungen 
der Fortpflanzung bei niederen Pflanzen, nämlich bei Algen und 
Pilzen und konnte zeigen, dass die mannigfachen Phasen in der 
Entwicklung dieser Organismen von bestimmten Kombinationen der 
äußeren Bedingungen beherrscht werden !). 

Die Zeit, deren ein niederer pflanzlicher Organısmus bedarf, 
um seinen vollen Entwicklungszyklus von der Keimung bis zur 
Bildung von Fortpfianzungsorganen und bis zu seinem schließlichen 
Tod zu durchlaufen, ıst bekanntlich vielfach eine äußerst kurze. 
Wenn wir einerseits die optimalen Bedingungen des vegetativen 
Wachstums, anderseits die die Bildung von Fortpflanzungsorganen 
beherrschenden Faktoren kennen und praktisch verwirklichen können, 
so sind wir in der Lage, willkürlich sowohl das vegetative Wachs- 
tum unbegrenzt zu gestalten, wie auch die Bildung von Fortpflan- 
zungsorganen zu jeder Zeit eintreten zu lassen. Indem ich auf die 
bekannten Arbeiten von Klebs?) verweise, beschränke ich mich 
hier darauf, von den nunmehr zahlreichen bekannten Fällen einige 
typische Beispiele herauszugreifen. Zunächst haben wir bei den 
Algen zahlreiche Beispiele der Veränderlichkeit der Dauer des rein 


1) Vgl. die von der Hand Klebs’ herrührende zusammenfassende Darstellung 
der Bedingungen der Fortpflanzung bei den Pflanzen in: Handwörterb. d. Naturw. IV. 
S. 276— 29. 


h 
2) Eine Zusammenfassung mit näheren Literaturangaben bei Klebs, 1900a. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 403 


vegetativen Wachstums. Die Fälle von ununterbrochenem vege- 
tatirem Wachstum bei geeigneter Kultur der Algen Chlamydomonas, 
Vaucheria u. s.w. (Klebs, 1896, 1900a) sind allgemein bekannt 
und bedürfen keiner näheren Erörterung. Weiter ıst an das unbe- 
grenzte vegetative Wachstum der Kulturhefe zu erinnern; der 
Eintritt in das Fortpflanzungsstadium, die Bildung von Sporen kann 
nur bei Herstellung von besonderen Bedingungen veranlasst werden. 
Auch bei Schleimpilzen sind vielfach die Bedingungen des vege- 
tativren Wachstums und der Fortpflanzung erkannt worden; Klebs 
(1900 a, S. 75) erwähnt Didymium-Arten, welche bei geeigneter 
Behandlung ununterbrochen im vegetativen Stadium verbleiben. 
Ähnliche Verhältnisse sind vielfach auch bei echten Pilzen fest- 
gestellt worden. So hielt Klebs (1899) Saprolegnia mixta jahre- 
lang in Kultur rein vegetativ, indem er für das stete Vorhanden- 
sein frischer, guter Nahrung sorgte. Durch bestimmte Verände- 
rungen des Kulturmediums gelang es ıhm zu jeder Zeit alle mög- 
lichen Entwicklungsformen des Pilzes, wie Sporangien (Zoosporen), 
Oogonien, Antheridien, Gemmen, entweder einzeln und in verschie- 
dener Reihenfolge, oder gewisse Formen gleichzeitig zu erzielen. 
Der Pilz reagiert auf jede bestimmte Kulturweise „mit einer Leichtig- 
keit und Bestimmtheit, dass die Resultate der Versuche fast mit 
der Sicherheit einer chemischen Reaktion eintreten“ (Klebs, 1899, 
S. 141). Die Pflanze zeigt in keiner Weise eine in innerer Veran- 
lagung wurzelnde Tendenz zu einem vorgeschriebenen Entwicklungs- 
gang. Von höheren Pilzen sei Coprinus plicatikis erwähnt, den ich 
(Lakon, 1907) bei stark herabgedrückter Transpiration (feucht und 
dunkel) während der ganzen Versuchsdauer (1!/, Jahre) in ununter- 
brochenem vegetativem Wachstum hielt; die Fruchtkörperbildung 
konnte aber zu jeder Zeit durch Erhöhung der Transpiration (durch 
Belichtung oder Luftbewegung) erzielt werden. Ähnliche Erfah- 
rungen mit Moosen und Farnen liegen ebenfalls vor, können aber 
hier übergangen werden’). 

Während bei den niederen Pflanzen, wie Algen und Pilzen, 
der vollständige Entwicklungszyklus in sehr kurzer Zeit, meist ın 
wenigen Wochen oder Tagen durchlaufen werden kann, haben wir 
bei den höheren, den phanerogamen Pflanzen, eine längere Ent- 
wicklungsdauer, welche sich meist über mehrere Jahre erstreckt. 
Von den Phanerogamen sind in bezug auf die Entwicklungsdauer 
diejenigen Arten mit den niederen Kryptogamen vergleichbar, welche 
ihre volle Entwicklung in verhältnismäßig kurzer Zeit, innerhalb einer 
einzigen Vegetationsperiode durchlaufen, und die man als ein- 
jährige Pflanzen zu bezeichnen pflegt. Diese Pflanzen weisen nach 


3) Siehe Klebs, 1914a, S. 288. Vgl. ferner die beachtenswerten Angaben 
von Goebel (1915, S. 556-557) über die Periodizität in der Entwicklung der Leber- 
Moose. 





26* 


404 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


der Keimung nur zwei Hauptperioden auf, nämlich die des vege- 
tativen Wachstums und die der Fortpflanzung, womit das Leben 
des Individuums seinen Abschluss findet. Die Entwicklung dieser 
Arten nimmt aber nicht ein ganzes Jahr in Anspruch, sondern nur 
die Zeit vom Frühjahr bis zum Herbst und zwar entweder ganz 
oder nur teilweise. In letzterem Falle kann die Entwicklungsdauer 
nur wenige Wochen betragen, so dass es möglich ist, dass inner- 
halb einer einzigen Vegetationsperiode mehrere Generationen zur 
Entwicklung kommen. Viele unserer Unkräuter gehören zu der 
letztgenannten Kategorie, so z. B. die allbekannte Vogelmiere, Stel- 
laria media*). Im Gegensatz zu diesen kurzlebigen Arten stehen 
diejenigen, welche zwar ebenso wie diese nur eine einzige Fort- 
pflanzungsperiode aufweisen, um damit ihr Leben zu beschließen, 
welche aber für ihre vegetative Entwicklung einen größeren Zeit- 
raum beanspruchen als den einer Vegetationsperiode vom Frühjahr 
bis zum Herbst. Zu dieser Kategorie gehören dıe sogen. zwel- 
jährigen Pflanzen. Der Abschluss des Lebens des Individuums ist 
bei diesen sogen. hapaxanthischen Arten — wie schon hervor- 
gehoben — durch das Blühen und Fruchten gekennzeichnet. Durch 
Herstellung von für jede einzelne Art geeigneten äußeren Bedin- 
gungen können wir vielfach die Lebensdauer dieser Pflanzen ver- 
längern (bezw. verkürzen), indem wir das vegetative Wachstum 
fördern (bezw. hemmen) und den Eintritt des Blühens verhindern 
(bezw. beschleunigen). In der schon zitierten Arbeit von Hilde- 
brand (1881) werden zahlreiche Beispiele dieser Veränderlichkeit 
angeführt. Abgesehen von den zahlreichen Kulturarten, welche 
durch die längere Kultur in ein- und zweijährige Varietäten ge- 
spalten wurden, haben wir ın vielen Fällen eine direkte Umwand- 
lung der Lebensdauer des Individuums. Das bekannteste Beispiel 
einer solchen Verlängerung der Lebensdauer haben wir in der Resede 
(Reseda odorata), welche ın der Natur als einjährige Pflanze auftritt, 
aber durch Verhinderung der tödlichen Erschöpfung durch massen- 
hafte Samenerzeugung sogar zu einer mehrjährigen, holzigen Pflanze 
erzogen werden kann. In gleicher Weise ist eine Verkürzung der 
Lebensdauer langlebiger Arten möglich, wıe das bekannte Beispiel 
von Ricinus communis lehrt, welche Pflanze ın ihrer Heimat in den 
Tropen ein mehrjähriger Baum, bei uns dagegen eine einjährige 
Pflanze ist. Die Verkürzung der Lebensdauer ist hier eine direkte 
Folge der Einwirkung der Außenwelt: die Pflanze kann nur bei 
einem milden Winter ausdauern; ich konnte sie in Griechenland 
als einen ca. 2 m hohen Gartenbaum antreffen. Anderseits können 
wir durch Verlängerung der Vegetationsperiode im ersten Jahre 
eine zweijährige Pflanze in eine einjährige umwandeln, worüber in 


4) Weitere Beispiele bei Hildebrand, 1881, S. 57. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von: Wachstum und Ruhe ete. 405 


der Arbeit von Hildebrand (1881) nähere Angaben enthalten sind. 
Für uns sind indessen vor allen Dingen diejenigen Fälle der Be- 
einflussung der Lebensdauer von Bedeutung, welche auf einer Ver- 
änderung der Dauer des vegetativen Wachstums beruhen. Selbst 
in der Natur kommt eine derartige, wenn auch nur beschränkte 
Veränderung vor und zwar infolge einer extremen Verschiebung 
in dem Verhältnis zwischen den einerseits das Blühen, anderseits 
das vegetative Wachstum fördernden Faktoren innerhalb einer 
Vegetationsperiode. 

Der Nachweis des Einflusses der äußeren Bedingungen auf die 
‚ einzelnen Entwicklungsphasen bleibt indessen auch hier, wie beı 
den niederen Pflanzen, dem Experiment bei künstlicher Herstellung 
bestimmter Kombinationen von äußeren Bedingungen vorbehalten. 
Wenn auch unsere bisherigen diesbezüglichen experimentellen Er- 
fahrungen mit Phanerogamen nicht so groß sind wie mit den 
Kryptogamen, und anderseits bei denselben die Verhältnisse kom- 
plizierter sich gestalten als bei den letzteren, so können wir doch 
auch hierin die prinzipielle Gültigkeit der bei den Kryptogamen 
gewonnenen allgemeinen Gesetze erblicken. Auch eine höhere 
Pflanze verharrt bei optimalen Wachstumsbedingungen im vegeta- 
tiven Stadium, so dass die Blütenbildung verdrängt und die Lebens- 
dauer verlängert wird. Allein das Ausdauern des Individuums 
hängt ab nicht nur von der Fähigkeit seiner Vegetationspunkte, 
unbegrenzt zu wachsen, sondern auch von der Fähigkeit der spezi- 
fischen Struktur, den nunmehr zum Ausdauern bestimmten Organen 
die entsprechende Ausgestaltung zu verleihen. Wo diese letztere 
Bedingung nicht erfüllt ıst, muss der Verfall des Individuums über 
kurz oder lang eintreten. So berichtet Klebs (1912, S. 278— 279), 
dass ein Individuum der sonst nur einjährigen Tabakpflanze (Nico- 
tiana tabaccum), welches ım Jahre 1909 aus einem Samen gewonnen 
wurde, noch ım Jahre 1912 ununterbrochen wuchs: doch es sei 
nicht zu erwarten, dass die Pflanze noch mehrere Jahre am Leben 
erhalten bleiben wird, „weil sie ihrer spezifischen Struktur nach 
nur ein geringes Dickenwachstum des Stammes besitzt und weil 
die im Innern absterbenden Zellen leicht zum Anlass der Fäulnis 
und des Absterbens werden können“. Bei Versuchen dieser Art 
kommt aber stets die Fähigkeit zum unbegrenzten vegetativen 
Wachstum unzweifelhaft zum Ausdruck und nur darauf kommt es 
eigentlich an. Den Beweis für die Fähigkeit zum unbegrenzten 
Wachstum hat zuerst Klebs (1900 b) bei Moehringia trinervia er- 
bracht. Der Vegetationspunkt dieser typisch einjährigen Pflanze 
hat das Vermögen, unbegrenzt vegetativ zu wachsen, denn man 
kann durch die Kultur von Stecklingen bei optimalen Wachstums- 
bedingungen die Vegetationspunkte immer wieder in fortdauerndem 
vegetatirem Wachstum erhalten. Eine solche Pflanze gleicht einem 


406 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Pilz, der durch erneuertes Überimpfen auf frischen Kulturboden bei 
Herstellung geeigneter Wachstumsbedingungen in beständigem 
Wachstum gehalten wird. Im übrigen sei auf das bekannte Buch 
von Klebs (1903) verwiesen, wo weitere Beispiele angeführt werden 
und die Frage der künstlichen Entwicklungsänderung auf breiter 
Basis behandelt wird. Uns kommt es hier nur darauf an, zu zeigen, 
dass die in der Natur zu beobachtende für jede Art bestimmte 
Dauer des vegetativen Wachstums keinesfalls den direkten Ausfluss 
einer in der Pflanzenzelle erblich wurzelnden, von der Außen- 
welt unabhängigen oder unabänderlichen Eigenschaft darstellt. 

Bei den langlebigen Pflanzen erstreckt sich die Lebensdauer 
des Individuums über mehrere Vegetationsperioden. Nachdem wir 
soeben gesehen haben, wie groß der Einfluss der Außenwelt auf die 
Entwicklung der kurzlebigen Gewächse ist, erscheint es undenkbar, 
dass die Entwicklung der Mehrjährigen, welche den großen, jähr- 
lich wiederkehrenden Schwankungen der äußeren Bedingungen 
unterworfen sind, unabhängig von der Außenwelt sich vollziehen 
sollte. In den Erdteilen mit ausgesprochen wechselndem Klıma 
sind zu den verschiedenen Jahreszeiten die Lebensbedingungen ver- 
schieden gestaltet und es kehren jährlich Perioden wieder, welche 
den Pflanzen das Wachsen völlig unmöglich machen. Die Winter- 
ruhe der Pflanzen der temperierten Zone erscheint uns daher als 
Folge der widrigen Wachstumsbedingungen verständlich. Dass bei 
ungünstigen Wachstumsbedingungen ein Stillstand des Wachstums, 
eine Ruhe eintreten muss, ist ohne weiteres klar’). Von diesem 
Standpunkt aus wurde auch tatsächlich früher die jährliche Perio- 
dizität betrachtet, welche mit dem im Klıma vorhandenen jährlichen 
Wechsel zusammenfällt. In Übereinstimmung damit steht das 
üppige Wachstum der Pflanzen zu allen Jahreszeiten in mehr oder 
weniger gleichmäßigem Tropenklima. 

Dieser Glauben an den Zusammenhang zwischen der Periodizität 
des Wachstums und der Periodizität der äußeren Lebensbedingungen 
wurde jedoch später in Frage gestellt. Denn es wurde berichtet, 
dass es auch in den Tropen bei gleichmäßigem Klima Pflanzenarten 
gibt, welche eine ausgesprochene Periodizität aufweisen. Die nähere 
Feststellung der periodischen Erscheinungen in den Tropen ver- 
danken wir Schimper (1898). Dieser Forscher stellte fest, dass 
auch in den Tropen „die Lebensvorgänge in der Pflanze eine rhyth- 
mische Abwechslung von Perioden der Ruhe und Bewegung aul- 
weisen“ (l. c. S. 260). Da er einen Zusammenhang zwischen dieser 


5) Unter Wachstum verstehen wir hier die eigentliche, mit einer sichtbaren 
Vergrößerung verknüpfte Streekung der Organe. Die eigentliche Ruhe wird da- 
gegen durch den völligen Stillstand der Entwicklung, also auch des unsichtbaren 
Wachstums, gekennzeichnet; einige Prozesse im Innern der Zellen, in erster Linie 
die Atmung, finden aber stets, selbst während des tiefsten Ruhezustandes statt. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 407 


Periodizität der Pflanzen und der des Tropenklimas nicht feststellen 
konnte, so gelangte er zu dem allgemeinen Schluss, dass die Perio- 
dizität eine von den äußeren Bedingungen unabhängige, auf innere 
Ursachen allein zurückzuführende Erscheinung sei. Diese Annahme 
formuliert er in dem Satze (l. c. S. 262): „Aufgegeben wird solche 
Rhythmik jedoch niemals, denn sie ıst im Wesen des Organismus 
und nicht in den äußeren Bedingungen begründet. Ihr Zusammen- 
hang mit der letzteren ist eine sekundäre Erscheinung, eine An- 
passung.“ 

Das Grundproblem der jährlichen Periodizität, welches uns ın 
der vorliegenden Arbeit in erster Linie zu beschäftigen hat, besteht 
eben in der Frage, ob diese Annahme Schimper’s Gültigkeit hat 
oder nicht. Wir können die Frage folgendermaßen formulieren: 
Ist die jährliche Periodizität der Ausdruck eines in der spezifischen 
Struktur der Pfianze begründeten, in der Abwechslung von Tätig- 
keit und Ruhe bestehenden, unumgänglichen Bedürfnisses — oder 
ist sie das Resultat der Einwirkung einer bestimmt gearteten Außen- 
welt auf die Pflanze, welche die Fähigkeit besitzt, sowohl dauernd 
zu wachsen, wie auch zeitweilig zu ruhen? Es ıst indessen sowohl 
für die Fragestellung, wie auch für die Untersuchung selbst er- 
forderlich, die Grundbegriffe näher zu präzisieren, eine Aufgabe, 
die folgendes Kapıtel zum Gegenstande hat. 


II. Bemerkungen über Abgrenzung und Definition der Begriffe, 


In der Abgrenzung und Definition der für die Fragen der 
Periodizität wichtigen Begriffe folge ich Klebs®). In dem Ver- 
hältnis der Pflanze zur Außenwelt unterscheiden wir somit: 1. Die 
spezifische Struktur. 2. Die inneren Bedingungen. 3. Die 
äußeren Bedingungen. 

Der Begriff der spezifischen Struktur ist „nur ein spezieller 
Fall des allgemeinen der ‚Substanz‘, durch den unser Denken das 
Beharrliche im Fluss der Erscheinungen ausdrückt“ (Klebs, 1903, 
S. 5). Das Protoplasma der Spezies ist als ein Substrat von kom- 
plizierter chemischer und physikalischer Zusammensetzung zu denken, 
an das bestimmte spezifische Fähigkeiten (oder Potenzen) 
gebunden sind. Als spezifische Struktur wird demnach das für jede 
Spezies eigentümliche, mit bestimmten Fähigkeiten ausgerüstete 
Substrat verstanden. Die spezifische Struktur kommt gerade durch 
die Entwicklung der spezifischen Fähigkeiten zum Ausdruck, wäh- 
rend die Struktur des Substrates (Substanz) selbst uns verborgen 
bleibt. Die spezifische Struktur wird durch Unveränderlichkeit ge- 
kennzeichnet, welche in der Weise zum Ausdruck kommt, dass 


6) Vgl. Klebs, 1903, S. 5—7 und 1913, S. 40, 8—11. 


408 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


unter bestimmten äußeren Bedingungen auch bestimmte Fähigkeiten 
zur Entfaltung kommen’). 

Die Fähigkeiten oder Potenzen, welche die spezifische Struktur 
zulässt, kommen erst durch den Einfluss der äußeren Bedingungen 
zur Entwicklung. Die Art der Reaktion der spezifischen Struktur 
auf die Einwirkung der Außenwelt hängt aber von den inneren 
Zuständen des Organısmus ab, welche infolge des Einflusses der 
bis dahin wirksamen äußeren Bedingungen hergestellt worden waren. 
Diese inneren Zustände sind die inneren Bedingungen. „Das 
wesentliche Kennzeichen der inneren Bedingungen ıst ihre von der 
Außenwelt abhängige Veränderlichkeit innerhalb des durch die 
spezifische Struktur gegebenen Rahmens“ (Klebs, 1913, S. 8). Der 
Begriff der inneren Bedingungen ist für das Verständnis der Lebens- 
erscheinungen von größter Bedeutung. Durch die Anerkennung 
desselben wird uns z. B. verständlich, warum ein und derselbe 
Organismus nicht immer in derselben Form auf die Einwirkung 
ein und desselben äußeren Faktors reagiert. Die Einwirkung der 
äußeren Bedingungen auf die spezifische Struktur ist also eine 
mittelbare, indem jene zunächst auf die jeweiligen inneren Bedin- 
gungen einzuwirken haben; letztere üben dann ıhren Einfluss auf 
die spezifische Struktur aus. Jedem Organısmus ist neben der 
spezifischen Struktur stets eine bestimmte Kombination der inneren 
Bedingungen mitgegeben und zwar „zunächst durch seine Ent- 
stehung von einer vorhergegangenen Generation“ (Klebs, 1903, 8. 7). 

Gerade dieser letztere Umstand, dass nämlich die inneren Be- 
dingungen von der Mutter- auf die Tochterpflanze übertragen 
werden, macht die scharfe Trennung derselben von der spezifischen 
Struktur sehr wichtig. Denn wir haben bei den inneren Bedin- 
gungen mit Nachwirkungen zu tun, welche leicht mit unveränder- 
lichen erblichen Eigenschaften der spezifischen Struktur verwechselt 
werden können. Es ist allerdings zuzugeben, dass bei unseren 
heutigen Kenntnissen die scharfe Trennung in manchen Fällen nicht 
ohne weiteres durchführbar ist; es erwächst der Forschung die Auf- 
gabe, für jeden Fall die notwendigen Unterlagen zu liefern. 

Für die Beurteilung der periodischen Erscheinungen ist die 
Klebs’sche Begriffstrennung geradezu unentbehrlich, was schon 
daraus hervorgeht, dass vielfach diametral sich widersprechende 
Anschauungen über das Wesen der Periodizität lediglich auf Ver- 
wechslungen der Begriffe zurückzuführen sind. Auch die sonst un- 
bestimmten Begriffe der „Nachwirkungen“, „Nachschwingungen“, 
„innere Disposition“, „innere Hemmungen“ oder „Stimmungen“, die 

7) Diese Unveränderlichkeit ist, wie Klebs (1913, S. 8) hervorhebt, keine abso- 
lute; die Entstehung neuer Arten durch Mutation ist gerade mit Veränderungen 
der spezifischen Struktur verknüpft. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von’ Wachstum und Ruhe ete. 409 


man vielfach zur Erklärung der verschiedenen Reaktion ein und 
desselben Organısmus auf die gleichen äußeren Bedingungen heran- 
zieht, werden durch die Annahme der inneren Bedingungen erklärt 
und präzisiert. 

Wir haben bisher stillschweigend den Begriff „äußere Be- 
dingungen“ oder „Außenwelt“ als etwas selbstverständliches 
angenommen. Allein derselbe ist — wie Klebs (1913, S. 10—11) 
hervorhebt — nur eın relativer Begriff, dessen Abgrenzung von der 
Abgrenzung des Systems abhängt, welches als die zu betrachtende 
Einheit angenommen wird. Ein Teil dessen, was für ein begrenztes 
System Außenwelt ıst, kann für das erweiterte System zur Innen- 
welt gehören. Wir müssen daher für jeden Fall zuerst die Einheit 
definieren, um dann die Trennung der Innenwelt von der Außen- 
welt vornehmen zu können. Wenn wir die Erscheinungen des 
Wachstums und der Ruhe der Pflanzen betrachten, so richten wir 
unser Augenmerk vornehmlich auf diejenigen Teile, welche am 
Wachstum am meisten und unmittelbar beteiligt sind, nämlich auf 
die Vegetationspunkte. Jeder Vegetationspunkt kann somit als ein- 
heitliches System angesehen werden; die anderen Vegetationspunkte 
und die übrigen Baumteile gehören dann zur Außenwelt. Denn, 
wenn z. B. der Nahrungsstrom zu einem bestimmten Vegetations- 
punkt infolge der Konkurrenz durch ein oder mehrere andere Vege- 
tationspunkte bezw. andere Körperteile derselben Pflanze herabge- 
drückt wird, so kann dies als eine Wirkung der Außenwelt angesehen 
werden, ähnlich als wenn die Herabsetzung des Nahrungsstromes 
infolge der Konkurrenz durch andere Pflanzen hervorgerufen worden 
wäre. Diese Wechselwirkungen der einzelnen Teile einer Pflanze 
zueinander werden allgemein als „Korrelationen“ bezeichnet und 
spielen bei periodischen Vorgängen eine wichtige Rolle. Wenn wir 
die ganze Pflanze als Einheit betrachten, so gehören die Korre- 
lationen zu den inneren Bedingungen der Pflanze; sie sind aber 
allenfals nur das Resultat der Einwirkung der Außenwelt auf die 
einzelnen Pflanzenorgane. 

Erst nach dieser Definition der Begriffe gewinnt die oben formu- 
lierte Frage der jährlichen Periodizität die nötige Klarheit. Die- 
jenigen Forscher, welche die Periodizität als ein unumgängliches, 
d. h. notwendiges Bedürfnis ansehen, machen keine genaue Tren- 
nung der Begriffe, sie kennen die inneren Bedingungen der Klebs'- 
schen Nomenklatur nicht; sie sprechen im allgemeinen von „inneren 
Gründen“ oder „inneren Ursachen“. Diese „inneren Gründe“ sollen 
aber von der Pflanze selbst ausgehen und etwas Unveränderliches 
darstellen; sie sollen also der spezifischen Struktur entsprechen, 
während sie in Wirklichkeit mit inneren Bedingungen vermengt 
sind. Die Natur der „inneren Gründe“ ist unbestimmt. Die An- 
nahme von „inneren Gründen“ bedeutet daher nicht einmal den 


410 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete., 


Versuch zu einer Erklärung; sie stellt vielmehr einen Verzicht auf 
die weitere Forschung dar. Sie ist schlechthin das verhüllte Be- 
kenntnis der Unwissenheit. 

Im folgenden werden wır von den Einzelerscheinungen aus- 
gehend das Gesamtproblem der jährlichen Periodizität behandeln, 
um uns zunächst ein Urteil ın der in dem erwähnten Sinne ge- 
stellten Frage zu bilden; zugleich werden wir aber auch den Ver- 
such machen, den Zusammenhang zwischen dem periodischen Ver- 
halten der Pflanze und der Außenwelt dem Verständnis näher zu 
bringen. 


III. Das Verhalten der Pflanzen der temperierten Zone. 


Die Zeit der Winterruhe verbringen die mehrjährigen Pflanzen 
der temperierten Zone in einem Zustande, welcher ihnen eine völlige 
Sicherstellung gegen die Unbillen des Winters gewährleistet. Bei 
den krautartigen Gewächsen übernehmen die Aufgabe der Über- 
winterung unterirdische Organe (wie Rhizome, Zwiebeln, Knollen); 
bei den Holzgewächsen, Bäumen und Sträuchern dagegen über- 
wintern außer den unterirdischen Teilen auch der verholzte Stamm 
mit seinem Zweigsystem und den Knospen, während das Laub in 
den meisten Fällen abgeworfen wird. Die Vegetationsperiode kenn- 
zeichnet sich im allgemeinen durch Erscheinungen des Wachstums, 
welche mit dem Laubausbruch im Frühjahr ihren sichtlichen An- 
fang nehmen und im Herbst mit dem Laubfall den endgültigen 
Abschluss finden. 

Bei der Untersuchung der Ruheperiode der Pflanzen kommen 
wir zu der Erkenntnis, dass die Faktoren, welche zur Ruhe führen, 
nicht dann plötzlich einzuwirken anfangen, als die Erscheinungen 
der Ruhe schon eintreten, sondern dass sie lange vorher allmäh- 
lich wirksam gewesen sind. Es ist daher klar, dass es schwieriger 
ist, schon ruhende Pflanzen zum Wachstum zu veranlassen als 
wachsende in beständigem Wachstum zu halten, da ın letzterem 
Falle eine Überwindung von eingetretenen inneren Hemmungen 
richt nötig ist. Für die Erhaltung einer höheren Pflanze in be- 
ständigem Wachstum ist aber die Herstellung konstanter optimaler 
Wachstumsbedingungen notwendig, was besonders in Anbetracht 
des wechselnden und nicht regulierbaren Lichtfaktors im höchsten 
Grade schwer zu erreichen ist. Bei der Autotrophie der höheren 
Pflanzen ıst aber eine gleichmäßige Kohlensäureassimilation und 
demnach eine entsprechend konstante Belichtung unumgänglich). 

Wenn es auch aus den angeführten Gründen gegenwärtig nicht 
gelingt, bei höheren grünen Pflanzen ein gleichmäßig beständiges 


8) Inwieweit phanerogame Parasiten zur Beantwortung der einschlägigen Fragen 
herangezogen werden können, bleibt einstweilen dahingestellt. Eine allgemein gültige 
Entscheidung kann indessen nur das Studium der grünen Pflanzen liefern. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 41 


Wachstum, etwa wie bei den Pilzen, zu erzielen, so haben wir doch 
die Möglichkeit, ein beständiges, wenngleich in seiner Intensität 
wechselndes, von keiner absoluten Ruhe unterbrochenes Wachstum 
zustande zu bringen. Klebs ıst es nun tatsächlich bei verschie- 
denen Pflanzen gelungen, beständiges Wachstum zu erhalten und 
die Ruheperiode vollständig auszuschalten. Er kultivierte (Klebs, 
1903, S. 35— 38, 129ff.) Glechoma hederacea, Fragaria lucida, Rumex 
acetosa, Heuchera sanguwinea u. a. unter günstigen Temperatur-, Licht- 
und Bodenverhältnissen bei geeignetem Schnitt und erhielt dadurch 
jahrelang ausschließlich vegetativ wachsende, keinerlei Ruhebedürf- 
nisse zeigende Pflanzen. Eine andere Pflanze, Parietaria offieinalis, 
zeigte sogar ununterbrochenes, jahrelanges Wachsen und Blühen, 
ohne jegliche Ruheperiode. Bei späteren Versuchen hat Klebs 
(1911,5.7 und Tab. VI—IX) eine größere Anzahl meist perennierender 
Gewächse aus den botanischen Gärten zu Halle und Heidelberg 
untersucht. Die meisten der untersuchten Pflanzen, etwa 75%, 
konnten schon im Herbst bis Ende Dezember durch das bloße Auf- 
stellen in das geheizte Gewächshaus meist schon innerhalb weniger 
Tage zum Wachstum veranlasst werden. Die übrigen Pflanzen 
trieben erst später aus und schienen somit eine festere Ruheperiode 
zu besitzen. Nach unseren heutigen Kenntnissen müssen wir an- 
nehmen, dass diese Pflanzen weit höhere Ansprüche an die Lebens- 
bedingungen stellen als die anderen und dass bei diesen eine ge- 
nauere Regulierung nicht nur der Temperatur, sondern auch der 
anderen Faktoren notwendig ist. Da die optimale Kombination 
der Wachstumsbedingungen dieser Arten eine sehr verschiedene 
und die durch die Einwirkung der widrigen äußeren Faktoren ein- 
getretene Hemmung eine sehr tiefgreifende sein kann, so können 
die Mittel und Wege zur Beseitigung der Ruheperiode — wie 
Klebs mit Recht hervorhebt — nur nach genauem Studium jeder 
einzelnen Art gefunden werden. 

Klebs (1911, S. 9ff.) versuchte diese Frage dadurch zu lösen, 
indem er einige seiner Heidelberger Pflanzen nach Java brachte. 
Die größere Anzahl dieser Pflanzen (27 von 40) wurden durch das 
gleichmäßige tropische Klima von Buitenzorg, noch besser durch 
das von Tjibodas zu einem sofortigen Austreiben und fortdauerndem 
Wachstum angeregt, selbst zu einer Zeit, in der sie in Europa eine 
Ruheperiode durchzumachen pflegen. Besonders bemerkenswert und 
für unsere spezielle Frage bedeutungsvoll ist die Tatsache, dass unter 
diesen, durch das tropische Klima zum Wachstum angeregten Pflanzen, 
Arten waren, welche durch die Gewächshauskultur in Halle bezw. in 
Heidelberg keinesfalls aus ihrer Ruhe erweckt werden konnten. Für 
andere Arten stellte indessen auch das javanische Klima nicht die für 
das Austreiben notwendige Kombination der äußeren Bedingungen 
dar. Andererseits zeigte es sich, dass die Pflanzen unserer Klimate auf 





419 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Java keinesfalls die ihrer spezifischen Struktur entsprechende opti- 
male Kombination der äußeren Bedingungen fanden. Aus diesem 
Grunde hat Klebs (1911, S. 14ff.) entsprechende Versuche mit 
Pflanzen angestellt, welche aus dem periodischen, warmen Klima 
Japans stammen. Zu den Versuchen wurden sogar typische Über- 
winterungsorgane, wie Rhizome, Knollen und Zwiebeln verwendet, 
also Organe, welche in ihrer Heimat während des Winters in Ruhe 
verharren. Es konnte festgestellt werden, dass die meisten dieser 
Pflanzen durch den Einfluss des warmen tropischen Klimas mitten 
im Winter aus ihrer Ruhe geweckt und zu üppigem Wachstum ge- 
bracht wurden; sie zeigten ferner, dass ihnen das tropische Klima 
viel mehr zusagte als den europäischen Pflanzen. Aber auch unter den 
japanischen Pflanzen waren einige, welche durch das tropische Klima 
nicht zum Wachstum angeregt wurden. Es ist indessen höchst- 
wahrscheinlich, dass diese Arten auch hier keine optimalen Wachs- 
tumsbedingungen fanden. Im übrigen dürfen wir aber nicht ver- 
gessen, dass besonders bei typischen Überwinterungsorganen durch 
die Einwirkung der widrigen Wachstumsbedingungen, welche gerade 
zu ıhrer Bildung geführt haben, Hemmungen, d. h. bestimmte Kon- 
stellationen von inneren Bedingungen herbeigeführt sein können, 
welche nicht ohne weiteres zu beseitigen sind. Es handelt sich 
also hier nicht nur um Herstellung optimaler Wachstumsbedin- 
gungen, sondern um Einwirkung äußerer Eingriffe zur Beseitigung 
schon vorhandener Hemmungen. So treiben die Winterknospen 
von Hydrocharis Morsus ranae ım Anfang des Winters nur dann 
aus, wenn sie durchschnitten werden (Klebs, 1911, S. 7, 67). 
Noch größere Aussicht auf Erfolg als das plötzliche Übertragen 
aus dem periodischen in das tropische Klima hat die jahrelange 
Kultur solcher Pflanzen in den Tropen, wodurch das Zustande- 
kommen von besonderen, zu Ruhezuständen führenden inneren Be- 
dingungen unmöglich gemacht wird. Wenn auch speziell in diesem 
Sinne ausgeführte Versuche einstweilen fehlen, so haben wir doch 
einige mehr zufällige Beobachtungen, welche den Gedanken im 
Prinzip völlig bestätigen. Ich möchte zunächst an das bekannte 
Beispiel der Kartoffelknolle erinnern. Wir wissen, dass die Kartoffel- 
knolle sofort nach der Reife nicht zu keimen vermag, sondern dass 
sie erst nach einer längeren Ruheperiode sozusagen keimreif wird. 
Nach den Angaben Volken’s (1896) besitzen die Kartoffeln des 
Kilimandscharo keine derartige Ruheperiode, sondern sie sind im- 
stande sofort nach der Reife auszukeimen. Dass aber dies keine 
spezifische Sorteneigentümlichkeit der am Kilimandscharo kultı- 
vierten Kartoffelsorten ist, zeigen die Versuche von B. Schmid(1901), 
bei welchen es gelang, durch gesteigerte Durchlüftung und höhere 
Temperatur die Knollen einheimischer Kartoffelsorten schon im 
Herbst zum Austreiben zu bringen. Sıe lieferten normale Pflanzen, 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 413 


welche neue Knollen bildeten, die ohne Ruheperiode sofort aus- 
keimten. Über ähnliche Versuche berichtet auch Klebs (1903, 
S.137). Er fand, dass das sofortige Austreiben der Kartoffelknollen 
mit ungenügender Ausreife zusammenhängt und kommt zu dem 
Schluss, dass die inneren Hemmungen, welche ein sofortiges Aus- 
keimen auch beı günstigen Wachstumsbedingungen verhindern, erst 
während des letzten Ausreifens entstehen. 

Von besonderem Interesse ıst das Verhalten einiger meist aus 
Japan stammender Zwiebel- und Knollengewächse, welche nach den 
Angaben von Klebs (1911, 8. 1! ggarten von Tjıbodas 
das ganze Jahr hindurch treiben. Auch die Hyazınthe bildet dort 
Zwiebeln, die sofort auskeimen. Nur zwei Zwiebelgewächse zeigen 
in Tjıbodas periodische Erscheinungen, nämlich Zikum auratum 
und Galtonia candicans. Das ıst bedeutungsvoll, denn es zeigt, dass 
selbst bei typischen Überwinterungsorganen wie Knollen und Zwie- 
beln unter der Einwirkung des gleichmäßig günstigen tropischen 
Klimas die Periode der Ruhe ausgeschaltet wird. Die beiden Aus- 
nahmen zeigen allein, dass bei diesen das tropische Klima keines- 
falls optimale Wachstumsbedingungen bietet. 

Im Prinzip ähnlich wie die krautartigen Pflanzen verhalten sich 
die Holzgewächse der temperierten Zone. Bei diesen sind aber 
die Verhältnisse besonders auffällig, als hier der ganze oberirdische 
Pflanzenkörper überwintert. Besonders charakteristisch ist der perio- 
dische Wechsel bei den dikotylen Laubhölzern, welcher durch den 
Laubausbruch ım Frühjahr und den Laubfall im Herbst, das Kahl- 
stehen im Winter gekennzeichnet wird. Von den zahlreichen ein- 
heimischen Laubbäumen und Sträuchern sind nur vier Sträucher 
(d. ı. nicht einmal 2%, aller Bäume und Sträucher) immergrün (vgl. 
Klebs,; 1911,.S.:3). 

Während eine Anzahl der ausgesprochen periodisch wachsenden 
Holzgewächse schon durch die einfache Treibhauskultur aus der 
Ruhe erweckt werden kann, zeigen andere Arten eine festere Ruhe, 
welche durch diese einfache Behandlung nicht zu beseitigen ist. 
Es gilt auch hier, ähnlich wie bei den krautartigen Pflanzen, nicht 
nur die für das Wachstum der einzelnen Arten optimale 'Kombi- 
nation der äußeren Bedingungen zu erkennen und künstlich herzu- 
stellen, sondern auch Mittel und Wege zu finden, die in jeder 
Buhenden Pflanze innewohnenden Een zu beseitigen. Die 
ersten bemerkenswerten Versuche auf Alias Gebiete aan von 
Askenasy (1877) in den Jahren 1874-76 ausgeführt. Dieser 
Forscher untersuchte nur die Wirkung der einfachen Treibhaus- 
kultur auf die Jahresperiode der Knospen, kam aber schon auf 
Grund dieser ersten Versuche zur richtigen Beurteilung der Natur 
der Periodizität. Seit dieser Zeit sind große Fortschritte auf diesem 
Gebiete gemacht worden. Die ersten Versuche, die den ruhenden 





414 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Holzpflanzen innewohnenden Hemmungen durch Anwendung von 
äußeren energischen Eingriffen zu beseitigen, sind die Johannsen’s 
(1900, 1906), durch welche die frühtreibende Wirkung der Äther- 
und Chloroformdämpfe festgestellt wurde. Außerdem war aber 
schon bekannt, dass auch andere Mittel, wie Frost und Trocken- 
heit, in ähnlicher Weise wirken. Alle diese Methoden benutzte 
Howard (1906), als er die Festigkeit der Ruhe zahlreicher euro- 
päischer, asiatischer und nordamerikanischer Holzarten an abge- 
schnittenen Zweigen prüfte. Von den untersuchten 234 Arten 
konnten 125 schon durch die bloße Überführung ins warme Ge- 
wächshaus (in der Zeit vom 20. Oktober bis 4. November) zum 
sofortigen Austreiben veranlasst werden. 98 Arten trieben zwar 
durch die bloße Warmhauskultur nicht aus, konnten aber durch die 
Anwendung der verschiedenen bis dahin bekannten Frühtreibever- 
fahren, wie Trockenheit, Frost, Äther, einzeln oder in mannigfachen 
Kombinationen dazu gezwungen werden. Die übrigen 11 Arten 
zeigten dagegen eine sehr feste Ruheperiode, indem sie allen Mitteln 
unbeugsamen Widerstand leisteten. Unter diesen Arten sind einige 
besonders bemerkenswert, da sie auch bei späteren Versuchen unter 
Anwendung neuerer Frühtreibeverfahren das gleiche Verhalten 
zeigten, nämlich Fagus silvatica, Fraxinus excelsior, Quercus-Arten. 

In neuerer Zeit sind mehrere neue Verfahren bekannt ge- 
worden°), wie das Warmbadverfahren von Molisch (1908, 1909), 
die Verletzungsmethode von Weber (1911), die Injektionsverfahren 
von Jesenko (1911, 1912), die Radiumbestrahlung von Molisch 
(1912), das Nährsalzverfahren von Lakon (1912). Durch dieselben 
sind wir in gesteigertem Maße ın der Lage, die Entwicklung der 
Pflanze zu beherrschen. Zu meinen Versuchen über die Wirkung 
einer gesteigerten Nährsalzzufuhr auf die ruhenden Holzgewächse 
hatte ich gerade Arten mit fester Ruheperiode herangezogen. Bei 
all den untersuchten Arten konnte die günstige Wirkung des Ver- 
fahrens festgestellt werden. Selbst bei der am meisten wider- 
spenstigen Rotbuche konnte die Ruhe ins Wanken gebracht werden, 
wenn es auch nicht gelang, die Blattentfaltung zu erzielen, was nach 
unseren heutigen Kenntnissen darauf zurückzuführen ist, dass die 
Beleuchtung bei den Versuchen ungenügend war. Die neueren Ver- 
suche von Klebs (1914, S. 91—95) haben die Resultate meiner 
Untersuchungen in vollem Umfange bestätigt. 

Die Buche blieb aber trotzdem das einzige typische Beispiel 
einer durch äußere Eingriffe nicht wesentlich beeinflussbaren Ruhe- 
periode. Für die Annahme einer auf inneren Gründen beruhenden 
Periodizität bildet eine Pflanze wie die Buche ımmerhin eine ge- 
wisse Stütze. Denn der Einwand, dass bei einer solchen Pflanze, 


9) Näheres bei Burgerstein (1911), Lakon (1915). 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 445 


bei welcher alle Treibmittel versagen, eine innere Ruhe bestehen 
kann, konnte nicht als unberechtigt erwiesen werden, so unwahr- 
scheinlich er auch war. Aber auch diese einzige beachtenswerte 
Stütze der Annahme einer inneren Rhythmik konnte durch die 
neueren Versuche von Klebs (1914b) beseitigt werden. Es gelang 
ihm, die Entwicklung der Buche derart zu beherrschen, dass diese 
Pflanze heute als das beste Beispiel für die Abhängigkeit der Ruhe- 
periode von den äußeren Bedingungen gelten kann. Die Entwick- 
lung der Buche zeigt nämlich eine große Abhängigkeit von den 
Beleuchtungsverhältnissen. Die Versuche ergaben, dass durch kon- 
tinuierliche Beleuchtung die Ruheknospen der Buche zu jeder Zeit 
ım Herbst und ım Winter zum Austreiben veranlasst werden können. 
Bei fortdauernder Kultur in einem besonders zu diesem Zweck ein- 
gerichteten kontinuierlich elektrisch beleuchteten Raum konnte 
Klebs ununterbrochenes Wachstum beobachten, die Bildung von 
Ruheknospen blieb vollständig aus. Aus den wichtigen Feststellungen 
Klebs’ — auf die wir später eingehender zurückkommen werden — 
geht unzweifelhaft hervor, dass die Vegetationspunkte der Buche 
die Fähigkeit besitzen, beständig fortzuwachsen. Diese Fähigkeit 
ist an gewisse äußere Bedingungen, in erster Linie an eine be- 
stimmte Lichtmenge gebunden. Die Ruheperiode der Buche 
in der Natur ist somit auf die ungünstigen Beleuchtungs- 
verhältnisse zurückzuführen, welche die Verwirklichung 
dieser Fähigkeit selbst nach Herstellung günstiger Tem- 
peratur nicht gestatten. 

Das Verhalten der Buche ist auch in anderer Hinsicht besonders 
lehrreich. Es zeigt, dass für jede Pflanzenart besondere äußere Be- 
dingungen für die Entwicklung maßgebend sein können und dass 
es unstatthaft ist, über die Ursachen der Entwicklung irgendwas 
auszusagen, geschweige denn dieselben auf innere Bedürfnisse zu- 
rückzuführen, bevor das Verhalten jeder Art auf die Einwirkung 
aller erdenklichen Kombinationen der äußeren Bedingungen genau 
studiert worden ist. Es ist allerdings keine leichte Aufgabe, eine 
bestimmte Kombination von günstigen een her- 
zustellen und längere Zeit hindurch konstant zu el Vor allen 
Dingen lässt a wie schon hervorgehoben, der Lichtfaktor nicht 
nach Wünschen regulieren. Daher hat man von jeher auf das Ver- 
halten der tropischen Bäume das Augenmerk gerichtet. Das Ver- 
halten der tropischen Bäume wird im Bee Kapitel erörtert 
werden; hier seien nur einige een angeführt, welche das 
Verhalten von Bäumen aus der temperierten Zone nach ihrer Über- 
führung in das tropische Klima betreffen. 

Ein kleines Exemplar der Blutbuche, welches im Herbst nach 
Tjibodas gebracht wurde, trieb schon im Januar aus (Klebs, 1911, 
S. 17). Noch größer is aber der Einfluss des tropischen Klimas 


416 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


beı Exemplaren, die unter dem Einfluss desselben aufgewachsen 
waren. Klebs (l.c) berichtet, dass die Rotbuchen, welche vor 
einem halben Jahrhundert auf dem Pangerango in einer Höhe von 
ca. 3000 m angepflanzt wurden, Anfang November zum Teil frisch 
beblättert waren. Klebs verfolgte ın der Zeit von Oktober bis 
November in Buitenzorg und Tjıbodas das Verhalten einer größeren 
Anzahl von Holzgewächsen der temperierten Zone (Mittelmeerländer, 
Japan, Nordamerika) und stellte fest, dass die überwiegende An- 
zahl dieser Pflanzen „unter dem Einfluss des tropischen Klimas zu 
einer Zeit treiben, wo sie ın ıhrer Heimat ruhen“. Das Klima von 
Tjıbodas wirkte merklich günstiger als das von Buiteuzorg. Be- 
merkenswert ist, dass, während viele der untersuchten Arten in 
ihrem ganzen Umfang beblättert waren, andere die schon von 
Schimper (1898, 5. 266) beobachtete Erscheinung zeigten, indem 
sie nämlich gleichzeitig lebhaft wachsende und völlig ruhende Zweige 
aufwiesen. Dieses verschiedenartige Verhalten von Zweigen ein 
und desselben Individuums trat um so deutlicher zutage, je weniger 
günstige Wachstumsbedingungen das Klima für die betreffende Art 
bot. Die Bedeutung dieser Erscheinung werden wir später näher 
erörtern. 

Überblicken wir das besprochene Verhalten der 
Pflanzen der temperierten Zone, so kommen wir zu dem 
Schluss, dass dasselbe in deutlicher Abhängigkeit von 
der Außenwelt steht. Der allmähliche Übergang in das Ruhe- 
stadium fällt mit den gegen Ende der Vegetationsperiode immer 
mehr ungünstig sich gestaltenden Lebensbedingungen zusammen. 
Die größte Bedeutung fällt unzweifelhaft der Temperatur zu, da, 
wie wir gesehen haben, ein großer Teil unserer Gewächse schon 
durch bloße Temperaturregulierung in beständigem Wachstum ge- 
halten werden kann. Sehr wichtig ist ferner die Luftfeuchtigkeit, 
welcher Faktor schon allein periodische Erscheinungen hervorrufen 
kann, wie z. B. in den Klimaten, wo bei nahezu konstanter Tempe- 
ratur ein periodischer Wechsel der Luftfeuchtigkeit eintritt, wie 
z. B. auf Ueylon. Diese beiden Faktoren, Temperatur und Luft- 
feuchtigkeit, sind die augenfälligsten und wohl die einzigen, welche 
gewöhnlich bei der Herstellung günstiger Wachstumsbedingungen 
berücksichtigt werden. Wir haben aber gesehen, dass auch andere 
für das pflanzliche Leben wichtige Faktoren in der Entscheidung 
über Wachstum und Ruhe von Bedeutung sein können. Das gilt 
besonders vom Licht und dem Nährsalzgehalt des Bodens, Faktoren, 
welche trotz ihrer für das Pflanzenleben entscheidenden Bedeutung 
bisher bei der Betrachtung periodischer Erscheinungen völlig unbe- 
rücksichtigt geblieben waren. 

Bei Berücksichtigung sämtlicher äußerer Faktoren besteht die 
Aussicht, jede Pflanze in beständigem Wachstum zu erhalten. Die 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 417 


Schwierigkeit solcher Kulturen besteht indessen nicht nur in der 
Herstellung und der beständigen Haltung bestimmter äußerer Bedin- 
gungen, sondern in der Erkenntnis selbst, dieser für jede Art opti- 
malen Kombinationen der äußeren Bedingungen. Wenn wir z.B. 
heute dank der Untersuchungen von Klebs wissen, dass für die 
Buche der Hauptfaktor das Licht ist, so bedeutet dies durchaus 
nicht, dass die anderen äußeren Bedingungen gänzlich vernachlässigt 
werden dürfen. Es ıst im Gegenteil klar, dass nur dann ein unbe- 
grenztes Wachstum zu erwarten ist, wenn dabei auch die anderen 
Faktoren in dem für die Art angemessenen Grade wirksam sind. 
Ausschlaggebend ist also die „Harmonie“ der äußeren Bedingungen 
(vgl. Lakon, 1913, S. 29; Klebs, 1911, S. 7). Ebenso wird das 
Licht auch in solchen Fällen mitspielen, wo ihm eine entschei- 
dende Bedeutung keinesfalls zufällt. 

Auch für die Holzgewächse gilt der Satz, dass die optimale 
Kombination der äußeren Bedingungen unverändert 
bleiben muss, soll der Eintritt einer Ruheperiode ver- 
hindert werden. Ist die Ruhe eingetreten, so genügt das 
nachträgliche Einsetzen von optimalen Wachstums- 
bedingungen nicht mehr, die vorhandenen inneren Hem- 
mungen aufzuheben. 

Nachdem wir ım vorstehenden das Verhältnis der Pflanze zur 
Außenwelt näher studiert haben, gewinnt es an Interesse, die Ent- 
wicklung unserer Holzpflanzen während der Vegetationsperiode selbst 
zu verfolgen. Es stellt sich heraus, dass dieselbe eine sehr mannig- 
fache ist. Während nämlich bei einigen das Aufhören des Wachs- 
tums mit dem Eintritt der widrigen äußeren Bedingungen des 
Winters zusammenfällt, haben wir bei anderen Arten einen Wachs- 
tumsstillstand schon innerhalb der Vegetationsperiode. Bei der 
letzteren Kategorie findet nach der Entfaltung der in den Knospen 
angelegten Blätter eine sofortige Bildung von Ruheknospen statt; 
hierher gehören die Eichen, die Buche, die Rosskastanie u. a. 
Bei der ersteren Kategorie dagegen geht das Wachstum bis zum 
Eintritt des Winters ungestört weiter, wobei auch neuangelegte 
Seitenknospen zur Streckung übergehen; hierher gehört eine größere 
Anzahl unserer Holzgewächse. Um diese Verhältnisse näher auf- 
zuklären hat Klebs umfangreiche Beobachtungen in Heidelberg 
gemacht, die er in seinem neuen, für unsere Fragen bedeutsamen 
Werk niedergelegt hat (Klebs, 1914 b, S. 97—-109). 

Klebs unterscheidet vier Kategorien mit folgendem Verhalten: 
1. Die Mehrzahl der Triebe wächst bis in den Herbst hinein un- 
unterbrochen fort. 2. Nur ein Teil der Triebe, insbesondere Stamm- 
und Stockloden zeigen bis gegen Oktober ununterbrochenes Wachs- 
tum. 3. Die Mehrzahl der Triebe zeigt nur noch im Juli und August 
Wachstumserscheimungen, während mit dem September allgemeine 

XXXV. 27 


418 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


Ruhe eintritt. 4. Die Mehrzahl der Knospen wird schon im Mai 
bis Juni geschlossen; einige der hierher gehörenden Pflanzen öffnen 
einen Teil ihrer Knospen schon innerhalb derselben Vegetations- 
periode und bilden somit einen zweiten Trieb (Johannistrieb). 

In dem Beobachtungsmaterial Klebs’ waren 163 Pflanzen- 
gattungen vertreten und zwar einige durch mehrere Arten. Von 
diesen Gattungen waren 53 in der ersten, 43 in der zweiten, 50 in 
der dritten und 40 in der vierten Kategorie vertreten. Mehrere 
der untersuchten Gattungen gehören zugleich mehreren Kategorien 
an. In den beiden ersten Kategorien zusammengenommen sind 
91 Gattungen vertreten; das bedeutet, dass mehr als die Hälfte 
der überhaupt untersuchten Gattungen Vertreter aufweisen, welche 
während der ganzen Vegetationsperiode Wachstumserscheinungen 
zeigen. Diese Verhältnisse gelten nur für das eine Beobachtungs- 
jahr und nur für bestimmte, ım Klıma von Heidelberg wachsende 
Exemplare. Es ist indessen anzunehmen, dass die Beobachtung 
mehrerer Exemplare ein und derselben Art an verschiedenen Stand- 
orten größere Verschiebungen und somit eine größere Mannigfaltig- 
keit zutage fördern wird. So hebt Klebs die beachtenswerte Tat- 
sache hervor, dass mehrere, gemäß ihres Verhaltens in Heidelberg 
zu den beiden letzten Kategorien eingereihten Arten, nach den Be- 
obachtungen von Späth (1912) zu den ersten Gruppen gehören. 
Der Unterschied beruht auf einer besseren Bodenernährung, da 
Späth jüngere, gut gepflegte Exemplare untersuchte. Klebs unter- 
scheidet folgende vier Kategorien von Faktoren, welche eine Ver- 
längerung der Wachstumszeit veranlassen können: 1. Jugendliches 
Alter. 2. Äußere klimatische Einflüsse und Bodenverhältnisse, wie 
Temperatur, Feuchtigkeit, Nährsalzgehalt des Bodens. 3. Stecklings- 
kultur. 4. Entblätterung. 

Die Bedeutung des Alters des Individuums für sein perio- 
disches Verhalten ist allgemein bekannt; wir werden später Ge- 
legenheit haben, einige damit zusammenhängende Erscheinungen 
kennen zu lernen. Klebs führt einige auffallende Beispiele an. 
Ältere Bäume von Ailanthus glandulosa gingen schon im Juli in 
das Ruhestadium über, während jüngere Exemplare bis Ende Sep- 
tember, ja kleine Topfpflanzen selbst in der Zeit von Oktober bis 
Dezember wuchsen. Das gleiche wurde für Robinia pseudacacia 
festgestellt, welche Pflanze bei älteren Bäumen bis Ende August, 
bei jüngeren Topfexemplaren im Gewächshaus bis zum Januar 
Wachstumserscheinungen zeigte. Die Bedeutung der äußeren 
klimatischen und Bodenverhältnisse kommt schon bei einigen 
Versuchen von Späth (1912) zur Geltung, bei welchen Holzarten, 
die schon frühzeitig während der Vegetationsperiode zur Ruhe über- 
gingen, durch Gewächshauskultur bei erhöhter Temperatur und 
Feuchtigkeit sowie guter Düngung zum erneuten Wachstum veran- 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 419 


lasst wurden. Im gleichen Sinne wirkt auch die schon lange be- 
kannte Methode der Entblätterung, wodurch einerseits die Kohlen- 
säureassimilation, andererseits die Beanspruchung des Wassers und 
der Nährsalze durch die vorhandenen Blätter herabgesetzt wird. 
Bei der Stecklingskultur ist die Beeinflussung eine leichtere, 
da hier bestimmte Knospen von der hemmenden Wirkung anderer 
Organe freigemacht werden. Die zahlreichen, oben erwähnten Früh- 
treibemittel sind vielfach an abgeschnittenen Zweigen mit Erfolg 
angewendet worden. Klebs stellte Zweige verschiedener Heidel- 
berger Holzarten in Wasser in den Lichtraum und erhielt dadurch 
bei zahlreichen, meist zu der vierten Kategorie gehörigen, sonst 
frühzeitig ruhenden Arten, ein sofortiges Austreiben der schon in 
den Ruhezustand übergegangenen Knospen. Die Methode der Ent- 
blätterung wurde von Späth (1912, S. 46—47) in großem Maßstabe 
angewendet. Holzarten, welche frühzeitig während der Vegetations- 
periode ruhten, wurden durch wiederholte Entblätterungen von Juni 
bis September in ständigem Wachstum gehalten. Hierher gehört 
auch die Erscheinung der ungewöhnlichen zweiten Belaubung und 
Blütenbildung vieler unserer Holzgewächse ım Herbst infolge früh- 
zeitigen Hitzelaubfalls, worüber schon zahlreiche Berichte vorliegen. 
Als typisches Beispiel hierzu kann dıe Rosskastanie dienen. Klebs 
beobachtete diese Erscheinung nach dem heißen Sommer 1911 bei 
20 Holzarten. Rosskastanie und Flieder (Syringa vulgaris) 
blühten zugleich mit der Neubelaubung zum zweiten Male. 

Aus dem Gesagten geht hervor, dass wir in der Lage sind, 
das „normale“ Verhalten unserer Holzgewächse zuändern 
und dass letztere bei Herstellung geeigneter Bedingungen 
die in ihrer spezifischen Struktur begründete Fähigkeit, 
ohne Ruhe beständig zu wachsen, zur Entfaltung bringen. 
Die Festigkeit der Ruhe ist bei den verschiedenen Arten verschie- 
den ausgeprägt, wie auch die infolge der widrigen äußeren Be- 
dingungen eintretenden inneren Hemmungen verschieden tiefgreifend 
sein können, doch ist sie keinesfalls unbeugsam. Wir gewinnen 
den Eindruck, dass die Ruheperiode eine Zwangslage, 
aber kein Bedürfnis ist. In diesem Sinne lassen sich auch 
einige spezielle, mit der jährlichen Periodizität engverknüpfte Er- 
scheinungen erklären, die wir in einem späteren Kapitel behandeln 
werden. Vorerst wollen wir im folgenden Abschnitt das Verhalten 
der tropischen Pflanzen besprechen. 


IV. Das Verhalten der Tropenpflanzen. 


Während von unseren einheimischen Holzarten — wie wir im 
vorigen Kapitel gesehen haben — nicht einmal 2%, immergrün sind, 
verschiebt sich das Verhältnis zwischen Immergrünen und Laub- 
abwerfenden immer mehr zugunsten der ersteren je mehr wir uns 

97% 


wi 


490 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


den Tropen nähern. Nach einer auf Grund der Arbeiten von 
Wright (1905) und Koorders (1898) entworfenen Zusammen- 
stellung Klebs’ (1911, S. 4) haben wir z. B. auf Ceylon und Java 
folgende Verhältnisse: In dem Klima Ceylons, wo die Wachstums- 
bedingungen das ganze Jahr hindurch zwar viel günstiger sind als 
bei uns, wo aber eine deutliche Periodizität von Feuchtigkeit und 
Trockenheit herrscht, sind von 650 einheimischen Baumarten 560, 
d. h. 86 %,, immergrün. Auf Java, wo auch die Feuchtigkeitsverhält- 
nisse im EI erheinen keinen größeren Schwankungen unterworfen 
sind, ıst das a: ein noch günstigeres; hier sind von 1200 
einheimischen Arten die 1135, d.h. 95%, immergrün. Bemerkens- 
wert ist dabei, dass die wenigen Laubabwerfenden meist auf die 
niederen Regionen von Ost- und Mitteljava beschränkt sind, wo 
eine sommerliche Trockenperiode herrscht. In dem gleichmäßigeren 
Klima Westjavas fehlen dagegen auch diese wenigen laubabwerfen- 
den Arten fast gänzlich. Gerade diese fortwährende üppige Be- 
laubung der tropischen Pflanzenwelt ist es, was in pflanzengeogra- 
phischer Hinsicht die Tropen am besten kennzeichnet. 

Dieses Bild allgemeiner und kontinuierlicher Bewegung, welches 
die meisten Reisenden von der Vegetation in immerfeuchten Tropen- 
regionen mitgenommen haben, soll aber nach Schimper (1898, 
S. 262) nur ein Trugbild sein! Auf Grund seiner reichen Beobach- 
tungen in den Tropen kommt dieser Forscher zur folgenden Cha- 
rakterisierung des Verhaltens der tropischen Baumwelt: Der tropische 
Wald ist zum größten Teil aus periodisch laubabwerfenden Bäumen 
zusammengesetzt. Es gibt dabei Holzgewächse, die ohne jede Be- 
ziehung zur Jahreszeit, in größeren oder kürzeren Intervallen (1—6mal 
jährlich) ihr Laub abwerfen, derart, dass Bäume derselben Arten, 
unter denselben äußeren Bedingungen, sich zu ungleicher Zeit be- 
lauben und entlauben. In einigen Fällen entlauben und belauben 
sich sogar die einzelnen Zweige ein und desselben Baumes zu un- 
gleichen Zeiten. Aber auch die immergrünen Holzgewächse der 
immerwährend feuchten Gebiete sınd, nach Schimper, nicht in 
fortwährendem Wachstum begriffen, sondern, ebenso wie die laub- 
abwerfenden, dem periodischen Wechsel von Ruhe und Bewegung 
unterworfen. Dabei ist eine gleichzeitige Verjüngung der ganzen 
Krone seltener; häufiger findet ein ungleiche Übers der 
Endknospen einzelner Zweige oder Zweigsysteme aus dem ruhenden 
in den aktiven Zustand statt. 

Bezeichnend für die Anschauungsweise Schimper’s ist der 
Umstand, dass nach ihm auch bei den immergrünen Bäumen der 
letztgenannten Kategorie, d.h. auch bei solchen, welche an einzelnen 
Zweigen das ganze Jahr hindurch in fortwährendem Wachstum be- 
griffen sind, eine Abwechslung von Ruhe und Bewegung vorhanden 
ist. Jeder „individualisierte“ Zweig habe seine eigene Periodizität. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 421 


Das trifft nach Schimper auch für die im immerfeuchten Berg- 
garten zu Tjibodas stehenden Holzpflanzen der temperierten Zone 
zu, welche vielfach an ein und demselben Exemplare gleichzeitig 
winterliche, frühjährliche, sommerliche und herbstliche Sprosse tragen. 

Auf Grund der angeführten Beobachtungen kommt Schimper 
zu dem allgemeinen Schluss, dass in dem nahezu gleichmäßigen 
Klima für die Abwechslung von Ruhe und Bewegung vorwiegend 
oder allein innere Ursachen maßgebend sind. „Aufgegeben wird 
solche Rhythmik jedoch niemals, denn sie ist im Wesen des Orga- 
nismus und nicht in den äußeren Bedingungen begründet. Ihr Zu- 
sammenhang mit den letzteren ist eine sekundäre Erscheinung, eine 
Anpassung.“ 

Die Auffassung Schimper’s wurde seither von den meisten 
Forschern der Tropenvegetation zu eigen gemacht. Nur Klebs 
hat dieselbe nıcht nur auf Grund von Beobachtungen ın den Tropen, 
sondern auch von Versuchen bekämpft. Es würde mich zu weit 
führen, wollte ich hier alle die von den verschiedenen Forschern 
gemachten Beobachtungen besprechen'!®). Ich will mich vielmehr 
auf die neuesten Arbeiten von Klebs, Volkens und Sımon be- 
schränken. 

Volkens (1912) verfolgte das Verhalten verschiedener mar- 
kierter Exemplare auf Java. Seine reichen Beobachtungen lassen 
sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: Die Zeitdauer, welche 
der Prozess des Blattfalls bei den verschiedenen Arten beansprucht, 
ist äußerst verschieden; sie kann wenige Tage bis mehrere Wochen 
betragen. Ein Exemplar von Söindora sumatrana war z. B. 9 Monate 
ım Werfen begriffen. Bei derartigen Fällen geht Laubfall und 
Lauberneuerung Hand in Hand. Bei einigen Arten vollzieht sich 
das Werfen astweise; es beginnt gewöhnlich an der Spitze der 
Krone und setzt sich allmählich zu ihrer Basıs hin fort, ein Ver- 
halten, was nicht immer mit den Beleuchtungsverhältnissen der 
einzelnen Zweige in Zusammenhang steht. Zwischen dieser Kate- 
gorie und der der Immergrünen im engeren Sinne stehen einer- 
seits diejenigen Arten, welche mit dem Fall der alten zugleich das 
Entstehen der neuen Blätter verbinden, andererseits diejenigen, bei 
welchen das Werfen erst eintritt, nachdem das ganze Laub sich 
bereits zur vollen Größe entwickelt hat. Beiden Kategorien ge- 
meinsam ist, dass dauernd nur ein Blattschub funktioniert, während 
bei den Immergrünen im engeren Sinne zum mindesten zwei Schübe 
gleichzeitig am Baume anzutreffen sind. Von den letzteren werden 
zwei Kategorien unterschieden, solche, welche eine ziemlich strenge 
Periodizität zeigen und solche, welche das ganze Jahr im schwachen 


10) Vgl. hierzu die Arbeiten von Klebs (1911), Volkens (1912) und Lakon 
(1913), ferner die Behandlung in Pfeffer (1904). 


429 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Werfen begriffen sind. Das typische Verhalten der periodisch 
werfenden Arten besteht darın, dass vor, mit oder nach dem Treiben 
eines neuen Blattschubes der vorletzte Schub zum Abstoß gelangt, 
so dass am Baume stets zwei Schübe funktionieren. Außer diesem 
typischen Blattwechsel sind einige Arten dieser Kategorie auch 
einer „Generalreinigung“ unterworfen, die darin besteht, dass selten, 
vermutlich ın mehrjährigen Perioden, auch der letzte Schub ab- 
geworfen wird. Bei den typisch unperiodischen Immergrünen ist 
das unausgesetzte Treiben mit unausgesetztem Werfen verknüpft. 
Verschiedene Übergangsformen verbinden die verschiedenen Kate- 
gorien miteinander. 

Sehr charakteristisch für die tropischen Pflanzen ist die Kürze 
der zwischen Werfen und Treiben eingeschalteten Ruheperiode. 
Die ganz überwiegende Anzahl der Arten bleibt nur auf wenige, 
höchstens 8 Tage kahl. Ein Kahlstehen über 2 Monate konnte nur 
bei Albixzia Lebbek und Odina gemmifera beobachtet werden. Auch 
die partielle Ruhe der einzelnen Äste ist gewöhnlich eine sehr 
kurze. Besonders bemerkenswert ist, dass von allen Arten, die nur 
wenige Tage kahl stehen, Exemplare beobachtet werden können, 
bei welchen Werfen und Treiben ineinander fließt. 

Volkens gelangt auf Grund dieser Beobachtungen in völliger 
Übereinstimmung mit Schimper zu dem Schluss, dass auch die 
tropischen Basıalen periodische Erscheinungen zeigen, welche auf 
„inneren Ursachen“ beruhen. Von den äußeren Faktoren des 
Buitenzorger Klimas kann nur die Temperatur als beständig gleich- 
mäßıg angesehen werden, während die Menge der Niederschläge, 
der Feuchtigkeitsgrad der Luft und die Größe der Insolation 
Schwankungen unterworfen sind. Ein Zusammenhang dieser Fak- 
toren mit den periodischen Erscheinungen konnte indessen nicht 
festgestellt werden. 

Die Beobachtungen Volkens’ konnten neuerdings durch S. V. 
Sımon (1914) bestätigt und erweitert werden, und zwar zum größten 
Teil auf Grund desselben Beobachtungsmaterials des Buitenzorger 
Gartens. Diese Beobachtungen brachten indessen keine neuen Ge- 
sichtspunkte zutage!!). Bemerkenswert ist das Resultat, dass „die 
Größe der Niederschläge und der Beleuchtung in den besprochenen 
Tropengebieten a des ganzen Jahres nicht so gleichmäßig 
ist, wie manche Autoren anzunehmen geneigt sind“. Simon hält 
zwar diese Schwankungen „kaum so belangreich, dass sie einen 
direkten Einfluss auf das Wachstum ausüben werden“, gibt aber 
zu, dass dieselben beı vielen Baumarten den Blattfall beeinflussen 
oder sogar hervorrufen, so dass man an die Möglichkeit denken 
muss, „dass auf diese Weise eine indirekte Beeinflussung auch des 


11) Vgl. hierzu: Lakon (1915). 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von W.achstum und Ruhe ete. 423 


Wachstums stattfinden könnte“. Eine derartige Beeinflussung sei 
tatsächlich anzunehmen, sie gehe aber nur dahin, den Zeitpunkt 
des Laubfalls und der Lauberneuerung zu bestimmen; die primäre 
Ursache des periodischen Wechsels zwischen Wachstum und Ruhe 
sei dagegen in der spezifischen Struktur zu suchen! Der Grund, 
welcher Simon zu diesem merkwürdigen Schluss zwingt, bildet der 
Umstand, dass die Mehrzahl der Bäume „begrenzte Knospen“ be- 
sitzen, so dass ein kontinuierliches Wachstum unmöglich ist. Diese 
Annahme ist indessen durchaus irrig, wie schon aus dem bisher 
Gesagten unzweifelhaft hervorgeht, denn wır haben gesehen, dass 
selbst der Vegetationspunkt der Buche die Fähigkeit hat, beständig 
zu wachsen. Diese Frage kann eben nur das Experiment und nicht 
die einfache Beobachtung in den Tropen entscheiden. 

Wir sind heute im Besitze eines höchst umfangreichen und 
sehr wertvollen Materials über die periodischen Erscheinungen der 
Pflanzenwelt der Tropen und trotzdem sind wir durch diese Beob- 
achtungen in der Erkenntnis von der Natur der Periodizität selbst 
keinen Schritt weiter gekommen als wir durch das Werk Schim- 
per’s schon waren. Hierin muss ich der Ansicht Dingler’s völlig 
beipflichten, wenn er sagt (1911, S. 133): „Gerade der Periodizität 
wird man überhaupt nur auf experimentellem Wege beikommen, 
wenn ich auch die Wichtigkeit von Beobachtungen unter natürlichen 
Lebensbedingungen nicht unterschätzen möchte — aber mehr für 
die biologische Deutung als für das physiologische Wesen eines Vor- 
ganges.“ In dieser Hinsicht sind nur die Arbeiten von Klebs von 
ausschlaggebender Bedeutung, der seine Beobachtungen ın den 
Tropen durch ausgedehnte Versuche ergänzte. 

Durch genaue Wachstumsmessungen konnte Klebs (1911, 
S. 26ff.) zunächst feststellen, dass in Buitenzorg, abgesehen von den 
vielen Farnbäumen und den monokotylen Arten, auch zahlreiche 
Dikotylenbäume ein ununterbrochenes Wachstum aufweisen. Bei 
anderen Arten dagegen wurde eine Zeit der Ruhe konstatiert. 
Klebs versuchte nun die ruhenden Zweige solcher Arten durch 
das bekannte Mittel der Entblätterung zu neuem Wachstum zu ver- 
anlassen, was ihm tatsächlich bei mehreren Arten gelang. Sehr 
interessant war das Verhalten von jungen Topfpflanzen; sie wurden 
unter sehr günstigen Licht-, Temperatur- und Feuchtigkeitsverhält- 
nissen gehalten, während der stark erschöpfte Boden eine ungünstige 
Beschaffenheit besaß. Viele Arten zeigten dabei eine Ruheperiode, 
die aber durch Entblätterung oder Verbesserung der Be- 
schaffenheit des Bodens durch Begießen mit Nährsalz- 
lösung verkürzt oder völlig beseitigt werden konnte. Durch diese 
Versuche wurde zugleich auf die große Bedeutung eines weiteren 
bis dahin gänzlich vernachlässigten Faktors hingewiesen, nämlich 
des Nährsalzgehaltes des Bodens. Heute, nachdem ich (Lakon, 


494 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


1912) die Beeinflussung der Ruheperiode durch die Nährsalze näher 
begründet habe, ist die Berücksichtigung dieses Faktors bei der 
Behandlung von Fragen der Periodizität unerlässlich. 

Die Berücksichtigung des Bodenfaktors hat bei den 
weiteren Versuchen, die Klebs (1912, 1915) mit tropischen 
Pflanzen in Heidelberg anstellte, zu erneuten Erfolgen geführt. 
Die Versuche in Heidelberg gestatteten Klebs das Verhalten von 
tropischen Pflanzen mehrere Jahre hindurch zu verfolgen. Aus 
diesen Versuchen geht zunächst hervor, dass es eine ganze Anzahl 
Tropenpflanzen gibt und zwar Vertreter der verschiedensten Familien 
und Gewächsformen (Kräuter, Stauden, Sträucher und Bäume), die 
das ganze Jahr hindurch ununterbrochenes Wachstum aufweisen. 
Bei einigen anderen Arten erfolgt die Blattbildung gleichmäßig, 
kann aber durch Ruhepausen unterbrochen werden. Pflanzen, die 
ın Form älterer Bäume in den Tropen eine deutliche Perio- 
diziıtät aufweisen, konnten als junge Individuen in Heidelberg 
in beständigem Wachstum gehalten werden. Die Vertreter 
dieser Kategorie unterscheiden sich von denjenigen der ersteren 
dadurch, dass bei ihnen die Grenzen der miteinander kombiniert 
wirkenden Faktoren anders gezogen sind als bei jenen. Schließlich 
gibt es Arten, bei welchen die Blattbildung in Schüben erfolgt; 
nach jedem Schub kann Ruhe eintreten. Auch bei solchen Pflanzen 
konnte die Ruhe beseitigt werden und zwar entweder durch ge- 
eignete Düngung oder durch Düngung unter gleichzeitiger Ent- 
fernung der neugebildeten Blätter. Die Ruheperiode der tro- 
pischen Pflanzen in Heidelberg fällt mit der Zeit der 
geringen Lichtintensität im Winter zusammen. 

Die große Mannigfaltigkeit in der Reaktion der einzelnen Arten 
auf die Kulturbedingungen mahnt zur größten Vorsicht in der Be- 
urteilung des Verhältnisses der Pflanze zur Außenwelt. Ähnlich 
wie bei den niederen Pflanzen ist auch hier nur das spezielle Stu- 
dium der einzelnen Arten berufen, die für dieselben optimale Kon- 
stellation der Wachstumsbedingungen aufzudecken. Die wichtigste 
Aufgabe der Erforschung der Periodizität besteht in der 
Tat darın, die äußeren Faktoren, welche beı den ein- 
zelnen Arten die Ruheperiode provozieren, festzustellen. 
Diesen Weg hat Klebs beschritten, indem er die Kultur seiner 
tropischen Pflanzen unter bestimmten, mannigfach veränderten Be- 
dingungen, jahrelang konsequent durchführt. In seiner neuesten 
Arbeit (1915) hat Klebs an fünf Beispielen einige der bisher er- 
zielten Erfolge illustriert. Diese Versuche sind von größter Be- 
deutung und verdienen hier eine nähere Besprechung. 

Die erste Versuchspflanze, Terminalia catappa (Klebs, 1915, 
S. 738-752), ıst in ihrem ursprünglichen Standort an der javanischen 
Küste (nach Koorders und Valeton) höchstens für eine Woche 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 425 


blattlos. Nach den Angaben von Volkens (1912) und Wright 
(1905), die Klebs anführt, soll die Pflanze sowohl auf Java wie 
auf Ceylon, abgesehen von der kurzen Zeit des jährlich zweimal 
erfolgenden Treibens, längere Perioden der Ruhe aufweisen. Klebs 
hat früher berichtet (1912, S. 261; 1911, S. 35), dass bei einem 
größeren Baum des Buitenzorger Gartens, welcher Anfang Dezember 
völlig ruhte, die Entblätterung wirkungslos blieb. Junge, etwa 
zweijährige Topfexemplare, welche seit ihrer Keimung nicht umge- 
pflanzt waren, zeigten dagegen in demselben Winter ein wesentlich 
anderes Verhalten. Nach der Bildung neuer Blätter machten näm- 
lich diese Pflanzen Anstalten, in Ruhe überzugehen, wurden aber 
durch Entblätterung daran verhindert. Die weitere Beobachtung 
der Pflanzen in Heidelberg bestätigte das Ergebnis, dass der Vege- 
tationspunkt auch dieser Art die Fähigkeit hat, beständig zu wachsen. 
Auf einem gut gedüngten und von Zeit zu Zeit mit neuer 
Erde versehenen Hügel wächst die Pflanze beständig, 
selbst in der kritischen Zeit der geringsten Lichtmenge 
im Winter fort. Bei Topfkultur in begrenzter Erdmenge 
zeigt dıe Pflanze dagegen einen ausgesprochenen Wechsel 
von Wachstum und längerer Ruhe, letztere vorwiegend zur 
Zeit der geringsten Lichtmenge. Besonders instruktiv sind die 
Fälle, bei welchen ein und dasselbe Exemplar im Laufe der Jahre 
abwechselnd auf freiem Erdhügel mit stets frischer Erde und in 
Topf mit beschränkter Erdmenge kultiviert wurde. Im ersteren 
Falle wuchs die Pflanze ohne Unterbrechung fort; ım Topf ging 
sie dagegen nach einiger Zeit in Ruhe über, aus welcher sie durch 
die einfache Überführung in nahrhafte Erde wiederum erweckt und 
zum beständigen Wachstum veranlasst wurde. Bemerkenswert ist, 
dass die Topfpflanzen außer der einmaligen längeren, auch kurze 
Ruhepausen (von 9— 11 Tagen) des Hauptsprosses zeigten und zwar 
nur zu einer Zeit, wo die Seitensprosse deutlich wuchsen. Bei 
diesen kurzen Ruhepausen des Hauptsprosses handelt es sich um 
Folgen des Konkurrenzkampfes um die im beschränkten Maße zur 
Verfügung stehenden Nährsalze. Aus dem Gesagten geht hervor, 
dass Terminalia catappa bei günstiger Kombination der Außen- 
bedingungen ununterbrochen wächst. Dabei fallen zwei 
Faktoren besonders ins Gewicht, das Licht und die Nährsalze. Das 
Wachstum geht ungestört fort so lange diese beiden Faktoren in 
richtigem Verhältnis wirksam sind, dagegen tritt Ruhe ein sobald 
auch nur der eine dieser Faktoren vermindert wird. 

Die zweite Versuchspflanze, Theobroma cacao (Klebs, 1915, 
S. 752— 761), treibt auf Ceylon fünfmal, auf Java zweimal im Jahre 
vollständig, wie aus den Angaben von Smith (1909) und Volkens 
(1912), die Klebs anführt, hervorgeht. Junge Topfpflanzen zeigten 
bei den Versuchen von Klebs in Buitenzorg abwechselnd Ruhe- 


426 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


pausen, die aber durch Entblätterung oder Nährsalzzugabe beseitigt 
werden konnten. Bei den späteren Versuchen in Heidelberg unter 
fortwährend günstigen Bedingungen zeigten die Pflanzen ein ganz 
anderes Verhalten. Sie wuchsen ohne Unterbrechung fort, doch 
gelangten die Blätter zur Zeit der geringsten Lichtmenge nicht zur 
normalen Ausbildung. Besonders bemerkenswert und für die ganze 
Frage bedeutungsvoll ıst der Umstand, dass die Pflanze, welche 
ein typisches Beispiel der schubweise erfolgenden Blatt- 
bildung darstellt, bei dem ununterbrochenen Wachstum 
ın Heidelberg ihre Blätter sukzessive anlegte. Die bei vielen 
Tropenpflanzen charakteristische Blattbildung in Schüben 
ist daher keine unter allen Umständen notwendige Erschei- 
nung, welche etwa im Sinne einer erblichen inneren Periodizität 
gedeutet werden kann, wie schon vielfach geschehen. 

Die dritte Versuchspflanze, Albixzia stipulata (Klebs, 1915, 
S. 761— 765), steht (nach Koorders und Valeton) in Mitteljava 
während der trockenen Sommerzeit monatelang kahl. Die von 
Sımon (1914, S. 107) ın Buitenzorg untersuchten größeren Bäume 
zeigten eine 2—3monatliche Ruhe ın der Zeit von Januar bıs Juni, 
während die Pflanze auf Ceylon (nach Wright, 1905) nur 9—21 Tage 
blattlos steht. Demgegenüber stehen die Angaben von Klebs 
(1911, S.43 und 1912, S. 264), nach welchen ein junger Baum des 
Buitenzorger Gartens sowie Topfexemplare daselbst während der 
ganzen Beobachtungszeit, von Oktober bis Mitte Februar ununter- 
brochen fortwuchsen. Bei den Heidelberger Versuchen zeigte diese 
Pflanze folgendes Verhalten: Ein Topfexemplar ging zur Zeit der 
geringsten Lichtmenge — Ende Dezember — unter Blattfall in den 
Ruhezustand über. Durch Entblätterung am 15. Januar fing die 
Pflanze sofort zu wachsen an und von nun an wuchs sie mit zu- 
nehmender Lichtmenge ununterbrochen fort. Bei einem weiteren 
Exemplare konnte die Ruheperiode im Dezember dadurch ausge- 
schaltet werden, dass die Pflanze im November in einen großen 
Topf mit guter, gedüngter Erde versetzt wurde. Hier wuchs die 
Pflanze ohne jegliche Ruhe fort und zeigte keinen deutlichen Laub- 
fall. Albixzia stipulata zeigt große Abhängigkeit vom Lichtfaktor. 
Durch Verdunklung wird das Wachstum sofort sistiert, wenn die 
Pflanze unzureichend ernährt ist; bei guter Ernährung fallen zwar 
die älteren Blätter ab, das Wachstum der jüngsten geht aber auch 
ım Dunkeln weiter. Aus diesen Versuchen geht hervor, dass 
Albixzia die Fähigkeit zum fortdauernden Wachstum be- 
sıtzt. Je nach dem Ernährungszustand reagiert sie in verschie- 
denem Grade auf die äußeren Bedingungen, welche allein über 
Wachstum oder Ruhe entscheiden. 

Die vierte Versuchspflanze, Sterculia macrophylia (Klebs, 1915, 
S. 765— 770) wird auf Java (nach Koorders und Valeton; Vol- 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 427 


ww 


kens, 1912, S. 13) zur Blütezeit im Frühjahr kahl. Nach Simon 
(1914, S. 121) dagegen soll eine Varietät dieser Art bei einem 
Exemplar des Buitenzorger Gartens erst am 27. Juni völlig kahl 
geworden sein. Bei den früheren Versuchen in Buitenzorg konnte 
Klebs (1911, S. 45) junge Topfpflanzen im Laufe des Winters durch 
Entblätterung und Begießen mit Nährsalzlösung zu dreimaligem 
Treiben veranlassen. Bei späteren Versuchen in Heidelberg (1912, 
S. 269 und 1915, S. 767) wuchs die Pflanze auf gut gedüngtem 
freiem Erdhügel im Gewächshaus von Mai bis Oktober ununter- 
brochen fort unter beständiger Blattbildung; die Blattbildung 
erfolgte also auch hier ähnlich wie beim Kakaobaum nicht 
ın den charakteristischen Schüben, sondern sukzessive! 
Nach der Überführung in einen Topf im Oktober ruhte die Pflanze 
bis Februar. Von dieser Zeit an wechselte Wachstum und Ruhe, 
und zwar wurden die Ruheperioden im Laufe der Jahre 
immer länger — die letzte Ruheperiode betrug 10 Monate, 
eine unverkennbare Wirkung der Topfkultur bei begrenzter Erd- 
menge. 

Die letzte Versuchspflanze endlich, Pithecolobium Saman (Klebs, 
1915, S. 771— 783), scheint nach den vorliegenden Beobachtungen 
auf Java nur einmal im für kurze Zeit zu treiben. Einige 
von Volkens (1912, S. 64) kontrollierten Exemplare des nn 
zorger Gartens blieben in der Zeit von Januar bis Juli unverändert; 
sie fingen erst im Juli an die Blätter abzuwerfen. Auf Ceylon 
wirft der Baum (nach Wright, 1905) schon im Januar — Februar, 
um sich dann im Februar März neu zu belauben. Bei den Heidel- 
berger Versuchen zeigte diese Art im wesentlichen das gleiche Ver- 
halten wie Terminalia catappa. Frei ausgepflanzt oder im Topf bei 
reichlicher Nährsalzzufuhr wuchs die Pflanze das ganze Jahr hin- 
durch ununterbrochen fort. Bei mangelhafter Nährsalzversorgung, 
in einem Topf mit begrenzter Erdmenge, zeigte sie im Winter eine 
längere Ruheperiode. Durch künstliche Steigerung oder 
Herabsetzung der Nährsalzzufuhr konnte die Pflanze zu 
ununterbrochenem Wachstum oder zu zeitweiliger Ruhe 
willkürlich gebracht werden. Pithecolobium Saman zeigt ferner 
eine Eigentümlichkeit, welche die Bedeutung der Bodenernährung 
noch deutlicher macht. Die. Pflanze ist nämlich eine Mimosacee, 
welche an ihren Wurzeln stickstoffbindende Bakterien besitzt. Sind 
die Versuchsexemplare knöllchenfrei, so reagieren sie schnell und 
deutlich auf die jeweilige Beenpeschaffenheik: gut ernährte und 
reichlich mit Knöllchen versehene Exemplare onen dagegen auch 
nach der Überführung in Sand ein langandauerndes Wachstum auf- 
weisen. Die Pflanze zeigt überhaupt lee Abhängigkeit von den 
Außenbedingungen; auch durch geignete Regulierung der Tempe- 
ratur konnte sie zum Wachsen oder Ruhen veranlasst werden. 


428 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc, 


Aus diesen wichtigen Versuchen Klebs’, die hier nur kurz be- 
sprochen worden sind, geht folgendes deutlich hervor: Die Vege- 
tationspunkte der untersuchten tropischen Baumarten 
haben das Vermögen unbegrenzt zu wachsen. Die bei 
diesen Pflanzen in der Natur auftretende Ruheperiode 
ist die Folge des Einflusses der äußeren Bedingungen. 
Bei beständig angemessener Wärme, Luft- und Bodenfeuchtigkeit 
treten als die Faktoren, welche über Wachstum und Ruhe zu ent- 
scheiden haben, das Licht und der Nährsalzgehalt des Bodens her- 
vor. Bei Verminderung der Lichtmenge kann der gesteigerte Salz- 
faktor das Wachstum noch aufrecht erhalten, was darauf hinweist, 
dass die Empfindlichkeit der Pflanze der Lichtmenge gegenüber 
durch den Salzfaktor reguliert werden kann. „Bei der Entstehung 
der Ruheperiode können verminderte Lichtmenge und begrenzte 
Nährsalzmenge zusammenwirken“ (Klebs, 1915, S. 288). 

Aus dem Gesagten geht hervor, dass auch bei den tropischen 
Bäumen die Entscheidung über Wachstum oder Ruhe 
allein den äußeren Bedingungen zufällt; ein inneres Ruhe- 
bedürfnis kommt auch bei diesen Pflanzen keinesfalls zum Vorschein. 
Wie kommt es aber, dass diese Pflanzen in dem gleichmäßigen 
Tropenklima vielfach periodische Erscheinungen zeigen? Diese Frage 
können wir gegenwärtig nicht beantworten, da spezielle Unter- 
suchungen fehlen. Für die Beurteilung dieser Frage kommen in 
erster Linie folgende Momente in Betracht. Zunächst wissen wir 
noch lange nicht sicher, ob die Lebensbedingungen in den Tropen 
tatsächlich gleichmäßig sind. Erstens haben wir gesehen, dass so- 
wohl nach Volkens wie auch nach den neuesten Untersuchungen 
von Simon Feuchtigkeit und Beleuchtung in den als gleichmäßig 
geltenden Tropengebieten Schwankungen unterworfen sind. Zweitens 
wissen wir aber von der Beschaffenheit des wichtigen Bodenfaktors 
in den Tropen noch gar nichts! Selbst die eigene Tätigkeit eines 
großen Baumes kann den Bodenfaktor beeinflussen; dann kommt 
die Konkurrenz der benachbarten Individuen hinzu. Selbst die Kon- 
kurrenz der verschiedenen Zweige ein und desselben Individuums 
kann zu einer ungleichmäßigen Verteilung der Nährsalze führen. 
Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass in den Tropen eine Perio- 
dızıtät im Nährsalzgehalt des Bodens herrscht (Klebs, 1911, S. 52). 
Die völlige Gleichmäßigkeit der tropischen Lebensbedingungen ist 
demnach nicht nur unerwiesen, sondern sogar in höchstem Grade 
unwahrscheinlich. Wenn die verschiedenen Tropenforscher die 
Schwankungen der äußeren Bedingungen in den Tropen mit den 
periodischen Erscheinungen der Baumwelt nicht in Einklang zu 


bringen vermochten, so ist dies — abgesehen von der völligen 
Außerachtlassung des Bodenfaktors — darauf zurückzuführen, dass 


sie die inneren Bedingungen und die korrelative Verkettung der 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 499 


Wirkungen unberücksichtigt ließen. Diese Frage werden wir übrigens 
im Schlusskapitel dieser Arbeit ausführlich erörtern, wie auch die 
Frage, ob auch beı konstanten äußeren Bedingungen Veränderungen 
der inneren Bedingungen entstehen können, welche schließlich 
periodische Erscheinungen herbeizuführen vermögen. 


V. Die Periodizität der Johannistriebbildune. 


Wir haben schon in einem früheren Kapitel gesehen, dass 
einige unserer Holzgewächse, welche schon im Mai oder Juni ihre 
Knospen zu schließen pflegen, noch innerhalb derselben Vegetations- 
periode einen Teil dieser Ruheknospen öffnen und somit einen 
zweiten Trieb bilden. Dieser zweite Trieb kommt regelmäßig bei 
den Eichen und der Buche vor und ist für diese Arten charakte- 
ristisch; er wird als Johannistrieb bezeichnet. Späth, der un- 
längst eine umfassende Arbeit über den Johannistrieb veröffentlicht 
hat (1912), unterscheidet mehrere Kategorien derartiger zweiter 
Triebe und sieht nur im zweiten Trieb der Eichen und der Buche 
den echten Johannistrieb. Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu 
erörtern, ob der Abgrenzung Späth’s die ihr von diesem Forscher 
beigemessene physiologische Bedeutung tatsächlich zukommt. Uns 
interessiert hier nur die Frage, ob die Behauptung Späth’s zutrifft, 
dass die periodische Bildung der „echten Johannistriebe“ der Eichen 
und der Buche von äußeren Bedingungen unabhängig und somit 
auf „innere Ursachen“ zurückzuführen ist. 

Späth hat in seinem Werk zahlreiche und wertvolle Beobach- 
tungen und Versuche über die Johannistriebbildung niedergelegt, 
doch sind seine Schlussfolgerungen über die Ursachen dieser zweiten 
Triebbildung — wie ich an anderer Stelle (Lakon, 1913, S. 41—44) 
sogleich nach Erscheinen seines Werkes gezeigt habe — irrig. Unter 
Hinweis auf meine früheren ausführlicheren Erörterungen will ich 
mich hier nur darauf beschränken, die wichtigsten von Späth fest- 
gestellten Tatsachen zu erwähnen. 

So wissen wir zunächst, dass nicht alle Terminalknospen der 
Eichen oder der Buche zu einem Johannistrieb austreiben, sondern 
nur ein von Fall zu Fall verschiedener Teil davon und zwar (nach 
Späth, S. 10—11) im Durchschnitt bei der Eiche ungefähr ein 
Fünftel, bei der Buche weit weniger. Mit fortschreitendem Alter 
nimmt die Tendenz zur Johannistriebbildung allmählich ab. Späth 
(S. 10, Anm. 1) sagt: „Bei ganz jungen 1—3jährigen Eichen bilden 
häufig sämtliche Frühjahrstriebe ausnahmslos Johannistriebe.“ 
Der Einfluss der Ernährung macht sich überall geltend. Bei guter 
Ernährung wird nicht nur die Johannistriebbildung begünstigt, 
sondern es entstehen auch wiederholte Johannistriebe (drittes und 
viertes Treiben). „Fast regelmäßig bilden sich dritte Triebe, wenn 


430 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


der erste und zweite Trieb durch starkes Zurückschneiden der Mutter- 
pflanze ım Frühjahr stark entwickelt war.“ „Nach einem solchen 
starken Zurückschneiden braucht die Ruheperiode der Terminal- 
knospe des Johannistriebes 1—2 Wochen nicht zu überschreiten 
und kann schon Ende Juli aufhören.“ „Bei normal wachsenden, 
nicht zurückgeschnittenen Bäumen erfolgt der dritte Trieb erst nach 
einer Ruheperiode, die fast ebenso lang wie die erste — also etwa 
1!/, Monate — währt“ (Späth, 1. c., S. 19). Späth erwähnt an 
derselben Stelle, dass eine stark zurückgeschnittene 5jährige Quereus 
pedunculata argenteo-marginata von ıhren 70 Terminalknospen 47 zu 
Johannistrieben öffnete und dass von diesen wiederum 20 schon 
am 22. Juli zur Bildung eines dritten Triebes (zweiten Johannis- 
triebes) übergingen. Aber selbst die zwischen dem ersten und dem 
Johannistrieb eingeschaltete, für diesen letzteren charakteristische 
Ruheperiode wird nach den Beobachtungen von Späth (. e., 
S. 55—57) beı kräftigen, stark zurückgeschnittenen Eichen oder 
Stockausschlägen aufgehoben. 





Außer diesen Beobachtungen hat Späth aueh spezielle Ver- 
suche zur Klärung des Verhältnisses des Johannistriebes zur Außen- 
welt angestellt. Diese Versuche haben zunächst gezeigt, dass durch 
verschiedene Mittel, wie Erniedrigung der Temperatur, starke 
Bodentrockenheit, schlechte Bodenernährung, Verletzung 
der Wurzeln oder mangelhafte Pfropfung die Bildung von 
Johannistrieben unterdrückt werden kann. In gleicher Weise wirkt 
die Beschattung. Anderseits konnte in vielen Fällen eine will- 
kürliche Förderung der Johannistriebbildung erzielt werden, welche 
ın der Hauptsache ın einer Abkürzung der zwischen dem ersten 
und dem Johannistrieb eingeschalteten Ruheperiode bestand. So 
wurde z. B. durch Erhöhung der Temperatur, gute Ernäh- 
rung und Schnitt die Ruheperiode der Eiche durchschnittlich 
auf 23, im günstigsten Falle sogar auf 16 Tage (anstatt 1!/, Monate) 
reduziert. Die Mehrzahl dieser Pflanzen bildete zudem einen zweiten 
Johannistrieb. Noch größer war die Wirkung der Dunkelkultur; 
hier gelang es, „die sonst zwischen ersten und Johannistrieb ein- 
geschaltete Ruheperiode völlig zu überspringen, so dass man hier 
wirklich von einem kontinuierlichen Längenwachstum sprechen kann“ 
(Spark, l.c., 8.60). 


Trotz dieser Ergebnisse kommt Späth zu dem Schluss, dass 
die Johannistriebbildung von äußeren Faktoren unabhängig ist. Die 
erzielten Erfolge werden als „anormale“ Zustände und somit als 
belanglos bezeichnet! Man muss sich tatsächlich fragen, wozu 
Späth eigentlich Versuche angestellt hat. Die Auffassung Späth’s 
hat neuerdings auch Klebs (1914, S. 75—76) zurückgewiesen; er 
wendet sich besonders gegen den Grundsatz, von welchem Späth 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 431 


ausgeht, dass nämlich ein Entwicklungsprozess, der regelmäßig in 
der Natur auftritt, „normal“ und somit von äußeren Bedingungen 
unabhängig ist. 

Nachdem wir heute wissen, dass sowohl die Eichen wie die 
Buche das Vermögen zu ununterbrochenem Wachstum besitzen und 
dass die Entscheidung über Wachstum und Ruhe den äußeren Be- 
dingungen zufällt, erscheint uns die Johannistriebbildung keines- 
falls unverständlich. Es liegt die Aufgabe offen, die maßgebende 
Konstellation der äußeren Bedingungen und die Verkettung der 
Vorgänge festzustellen, welche um Johanni die zweite Triebbildung 


veranlassen. Für die Buche kann es — wie Klebs (1914, S. 77) 
hervorhebt — kein Zufall sein, dass die Johannistriebbildung zur 
Zeit der höchsten Lichtmenge erfolgt. Für die Eichen — bei 


welchen das Licht keine unmittelbar entscheidende Rolle spielt —, 
werden wohl andere Faktoren maßgebend sein. Klebs (1914, 
S. 96) spricht die Vermutung aus, dass „bei Beginn des Hoch- 
sommers die Blätter nicht mehr so intensiv assimilieren und daher 
den Nährsalzstrom nicht mehr so stark an sich ziehen, so dass dieser 
wenigstens einem Teil der Terminalknospen eine genügende Menge 
zuführt, um sie zu neuem Wachstum anzutreiben.“ Wir werden 
später sehen, dass für das Wachstum ein gewisses Konzentrations- 
verhältnis zwischen Nährsalzen und Assimilaten, und zwar ein 
relatives Überwiegen der ersteren über die letzteren maßgebend ist. 
Wir müssen demnach annehnıen, dass die Johannistriebbildung nur 
dann eintritt, wenn auf irgendeine Weise das besagte Verhältnis 
hergestellt worden ist. Dafür sprechen die eben angeführten Be- 
obachtungen über die Johannistriebbildung, wie z. B. der Umstand, 
dass ganz junge oder beschnittene Individuen mehr zur Johannis- 
triebbildung neigen als ältere, mit einer umfangreichen Krone ver- 
sehene Eichen. In den Versuchen von Späth konnte das Über- 
wiegen der Nährsalze über die Kohlensäureassimilate sowohl durch 
Erhöhung der Nährsalzzufuhr (gute Düngung), wie auch durch Er- 
niedrigung der Assimilation (im Dunkeln) herbeigeführt werden. In 
diesem Sinne fielen auch einige orientierende Versuche aus, die ich 
in diesem Sommer mit einjährigen Eichen ausführte. Diese Ver- 
suche können zwar nicht als abgeschlossen betrachtet werden, sie 
bieten aber jetzt schon gewisses Interesse. Ich kultivierte diese 
Eichen derart, dass sie bis zur völligen Blattentfaltung im Licht 
belassen wurden, um dann ins Dunkle überführt zu werden. Es 
fand dann vielfach kein vollständiger Schluss der Knospen statt, 
sondern die Terminalknospe bildete einen „Johannistrieb“. Die 
Pflanzen wurden dann zur völligen Entfaltung der neuen Blätter 
wieder ans Licht geführt, u. s.f. Die Überanhäufung der Produkte 
der Assimilation wurde auf diese Weise vermieden, während die 
Pflanzen durch die zeitweilige Belichtung zur normalen Entwicklung 


432 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


gelangten. Die Versuche werden unter Anwendung verbesserter 
Versuchsbedingungen wiederholt. 


Aus dem Gesagten geht jedenfalls deutlich hervor, 
dass die Periodizität der Johannistriebbildung nicht den 
geringsten Anlass zu der Annahme innerer Gründe bietet. 


VI. Über einige Abweichungen im Laubausbruch und 
Laubfall der Holzgewächse. 


In einem früheren Kapitel haben wir gesehen, dass das Ver- 
halten der Holzgewächse in den Tropen ein viel mannigfaltigeres 
ist als bei uns in der temperierten Zone und zwar dermaßen, dass 
bei jenen ein einheitliches Bild des normalen Verhaltens kaum ent- 
worfen werden kann. Wir haben nämlich gesehen, dass in den 
Tropen nicht nur die verschiedenen Individuen ein und derselben Art, 
sondern selbst die einzelnen Zweige ein und desselben Individuums 
zur gleichen Zeit in verschiedenen Phasen der Entwicklung ange- 
troffen werden können. In unseren Klimaten dagegen sind die Er- 
scheinungen der Periodizität im allgemeinen sehr gleichmäßig. Hier 
ıst die Wirkung des ausgesprochen periodischen Klimas derart vor- 
herrschend, dass kleine lokale Schwankungen der äußeren Faktoren 
und individuelle Ausgestaltungen der inneren Bedingungen kaum 
zum Ausdruck kommen können. Es kommen indessen auch bei 
uns einige Abweichungen im periodischen Verhalten der Holz- 
gewächse vor, welche sich mit analogen Erscheinungen in den Tropen 
vergleichen lassen und welche für die Frage der Periodizität von 
Bedeutung sind. Im folgenden will ich einige derartige Abweichungen 
behandeln. 


Die Zeit des Laubausbruchs und Laubfalls ist bekamntlich je 
nach dem Standort und dem Jahrgang Schwankungen unterworfen. 
Diese Schwankungen, welche offenkundig mit der Außenwelt zu- 
sammenhängen, sollen selbstverständlich hier nicht näher berück- 
sichtigt werden. Ebensowenig bedürfen näherer Erörterung die- 
jenigen Fälle, welche zwar die Bäume ein und desselben Waldbestandes 
oder die Zweige ein und desselben Baumes betreffen, aber bekannter- 
maßen auf äußeren Einflüssen beruhen, wie z. B. die Unterschiede 
zwischen den am Waldrand und den mitten im Waldbestand stehen- 
den Bäumen, zwischen den Bewohnern des Nord- und des Süd- 
randes, zwischen den untersten stark beschatteten und den obersten 
stark besonnten Zweigen u. dgl. m. 

Vergleichen wir die einzelnen gleichaltrigen und unter dem Ein- 
fluss der gleichen äußeren Bedingungen aufgewachsenen Bäume 
eines Waldbestandes im Frühjahr zur Zeit der Neubelaubung oder 
im Herbst zur Zeit des Blattfalls miteinander, so sehen wir, dass 
sie im allgemeinen ziemlich auffällige Verschiedenheiten aufweisen; 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 433 


einige Individuen ruhen z. B. zu einer Zeit, wo andere schon in 
vollem Treiben sind. Die extremen Fälle früher und später Be- 
laubung können nicht selten mehrere Wochen voneinander abweichen. 
Ähnliche, wenn auch meist nicht dermaßen ausgeprägte Verschieden- 
heiten zeigen auch die Zweige ein und desselben Baumes. Hier 
suchen wir vergebens nach einem äußeren Zusammenhang dieser 
Verhältnisse mit der Außenwelt. Aus diesem Grunde werden sie 
allgemein auf „individuelle Veranlagung“ zurückgeführt und man 
spricht von einer Individualisierung der einzelnen Zweige. Sehen 
wir zunächst zu, ob diese Annahme tatsächlich unumgänglich ist 
und ob die uns gleichmäßig erscheinenden äußeren Bedingungen 
überall in gleichem Maße zur Geltung kommen. Erstens fällt uns 
auf, dass die verschiedenen Individuen eines Waldbestandes keines- 
falls in gleichem Maße kräftig gewachsen sind. Die Ursachen dieser 
Ungleichmäßigkeit im Wuchs können verschiedenartig sein. Zu- 
nächst können wir — unter vorläufiger Außerachtlassung der erb- 
lichen Variationen und Mutationen — an Verschiedenheiten in der 
Ausbildung des Samens selbst und zwar des Embryos und des 
Nährgewebes denken, dann aber fällt die Art der Bewurzelung der 
Pflanze entscheidend ins Gewicht. Nicht nur die oberflächliche oder 
tiefe Lage des Samens bei der Aussaat oder der Grad der Be- 
schädigung der Wurzeln bei der Verschulung, wie sie bei der Forst- 
kultur geübt wird, ist für die Ausbildung des Wurzelsystems von 
Bedeutung, sondern selbst die engere lokale Bodenbeschaffenheit. 
Fällt diese engere lokale Bodenbeschaffenheit für den erwachsenen 
Baum selbst weniger ins Gewicht, so ist sie für die Entwicklung 
des Wurzelsystems des heranwachsenden Individuums von größter 
Bedeutung. Ein Baum aber, der in seiner Jugend in der Lage 
war, ein kräftiges Wurzelsystem zu entwickeln, muss — wie ich 
schon früher angedeutet habe (Lakon, 1904a, S. 166— 167) — zeit- 
lebens einer bevorzugten Wasser- und Nährsalzversorgung sicher 
sein. Derartige Individuen sind von Anfang an im Kampfe um die 
Bodenernährung von allen ihren Genossen am meisten begünstigt. 
So können wir — selbst wenn wir von den in der Natur vor- 
kommenden Erkrankungen, Wiıldbiss u. dgl. absehen — verstehen, 
wie die einzelnen nebeneinander stehenden Individuen ungleich 
kräftig entwickelt sein können. Die besser entwickelten Individuen 
sind aber auch bei der Ausnützung der anderen Lebensbedingungen 
im Vorteil, indem sie Raum und Licht mehr für sich in Anspruch 
nehmen und die anderen Mitbewerber benachteiligen und unter- 
drücken. Aber selbst wo dies letztere nicht eintritt, können schon 
durch den Unterschied in der Nährsalzversorgung allein Abweichungen 
im periodischen Verhalten zustande kommen. 

‚Eine Ungleichmäßigkeit in der Nährsalzversorgung kann auch 
bei den Zweigen ein und desselben Baumes entstehen. Mit der 

XXXV. 25 


434 NLakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Vergrößerung des oberirdischen Baumkörpers werden immer größere 
Ansprüche an die Wasser- und Nährsalzversorgung gestellt, es ent- 
steht zwischen den einzelnen Zweigen ein Konkurrenzkampf, bei 
dem diejenigen Vorteile erringen können, welche eine bevorzugte 
Lage nächst den Wurzeln, am Stamm oder an den kräftigsten Ästen 
innehaben. Die Abweichungen im periodischen Verhalten können 
also auch hier mit Verschiedenheiten in der Nährsalzversorgung 
Hand in Hand gehen. Es ist Aufgabe der Zukunft, diese Verhält- 
nisse aufzuklären. Die Wirkung der ungleichmäßigen Nährsalzver- 
sorgung kommt bei Stockloden deutlich zum Ausdruck; letztere sind 
nicht nur mit größeren und kräftigeren Blättern ausgestattet, sondern 
zeigen auch deutliche Abweichungen im periodischen Verhalten, wie 
wir weiter unten noch sehen werden. 


Größere Unterschiede als unter gleichaltrigen Individuen treten 
unter Bäumen verschiedenen Alters auf. Wie ın den Tropen, so 
ist auch bei uns die Periodizität an älteren, größeren Bäumen am 
schärfsten ausgeprägt, was eine Folge der mit fortschreitendem 
Alter immer schwieriger sich gestaltenden Nährsalzversorgung dar- 
stellt. Einige auffallende Beispiele werden wir weiter unten noch 
kennen lernen. 

Abgesehen von den typischen, ın ihrer Wasserversorgung be- 
sonders stark begünstigten Stockloden, zeigen meist die Zweige der 
Krone ein und desselben Baumes nur kleine Unterschiede im perio- 
dischen Verhalten, welche zudem durch allmähliche Übergänge 
lückenlos miteinander verbunden sind, so dass uns der Baum ım 
allgemeinen einen harmonischen Anblick bietet. Um so größeres 
Interesse beansprucht daher ein extremer Fall, den ich in den 
letzten 2 Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte und den ich hier 
kurz mitteilen möchte. 

Einer der zahlreichen Rosskastanıenbäume (Aesculus hippo- 
castanum L.) des Stuttgarter Schlossplatzes weist einen ungefähr 
2 m langen, im Durchmesser ca. 25 mm dicken Zweig auf, der ım 
Frühjahr seine Knospen etwa 10—14 Tage früher öffnet als alle 
übrigen Zweige desselben Baumes. Die Rosskastanien des Stutt- 
garter Schlossplatzes sind ältere Bäume und zeigen unter sich 
größere Verschiedenheiten im Laubausbruch. Es sind dabei sämt- 
liche allmähliche Übergänge vom frühesten bis zum spätesten Laub- 
ausbruch vertreten. Der fragliche Baum nımmt eine mittlere Stelle 
ein. Auch bei den anderen Bäumen stimmen die einzelnen Zweige 
keinesfalls vollständig miteinander überein, doch sind bei ihnen 
stets sämtliche allmähliche Übergänge vorhanden, die sich in die 
Harmonie des Ganzen fügen. Ganz anders dagegen bei dem 
einen fraglichen Baum! Der eine Zweig hebt sich hier mangels 
solcher vermittelnder Übergänge dermaßen vom übrigen Baum ab, 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von- Wachstum und Ruhe ete. 435 


dass er als Merkwürdigkeit auch dem Laien auffällt'!?). Die Er- 
scheinung wäre indessen für das Problem der Periodizität minder 
wichtig, wenn sie nicht alljährlich wiederkehrte. Ich konnte näm- 
lich die volle Übereinstimmung der Jahrgänge 1914 und 1915 fest- 
stellen. Der Vorsprung war ın beiden Jahren in gleichem Maße 
deutlich und betrug ca. 10—14 Tage; er betraf nicht nur den Blatt- 
ausbruch, sondern auch die Blütezeit. Hier liegt eine ausge- 
sprochene, sonst wohl selten vorkommende Abweichung vor, für 
deren Erklärung wir auf Vermutungen angewiesen sind. Wir kennen 
die Geschichte des Individuums nicht näher und ebensowenig kennen 
wir die näheren Umstände der Entwicklung des abweichenden 
Zweiges. Äußerlich können wir nichts mehr erkennen, was als 
sicherer Anhaltspunkt für die Beurteilung seines Verhaltens dienen 
könnte. Auffallend für den fraglichen Zweig ist es nur, dass er vom 
ganzen Baum der einzige blütentragende Zweig ist, der ım 
Schatten der Krone steht. Auch ist der Ast, aus dem er entspringt, 
an seinem oberen Teil schadhaft. Es ıst wohl möglich, dass hier 
ein ursächlicher Zusammenhang existiert, den wir nicht mehr nach- 
weisen können. Nur das Experiment kann darüber entscheiden, 
ob Eingriffe, welche vornehmlich das Verhältnis der Nährsalzver- 
sorgung einzelner Zweige zu ihrer Produktion organischer Substanz 
beeinflussen, Abweichungen im periodischen Verhalten zur Folge 
haben können. Es wäre eine sehr dankbare Aufgabe, solche ab- 
weichende Zweige künstlich zu erzielen. 

Wenngleich die Entstehung derartiger Abweichungen durch 
den Einfluss äußerer Faktoren zweifellos denkbar ist, so ist es 
anderseits theoretisch möglich, dass in solchen Fällen Knospen- 
mutationen vorliegen. Es ist meine Absicht nicht, hier das 
Problem der Knospenmutation zu behandeln; ich möchte nur die 
Frage erörtern, welche Bedeutung derartigen Mutationen für das 
Problem der Periodizität beizumessen ıst. Liegt in unserem Falle 
eine Mutation vor, so müssen wir den abweichenden Charakter des 
Zweiges als eine Folge der abweichenden spezifischen Struktur auf- 
fassen. In Übereinstimmung mit unserer Anschauung über das 
Wesen der Periodizität, verstehe ich diese Abweichung der spezi- 
fischen Struktur als eine Veränderung oder Verschiebung im Ver- 
hältnis der spezifischen Struktur zur Außenwelt. Wie die verschie- 
denen Arten ein verschiedenes Verhältnis zur Außenwelt besitzen, 
so dass sie auf dieselben äußeren Bedingungen verschieden reagieren, 
so muss auch bei einer etwaigen Knospenmutation ein ver- 
ändertes Verhältnis zur Außenwelt entstehen, so dass sich 
die Daten in der jährlichen Entwicklung des Mutanten keinesfalls 


12) Im Frühjahr 1914 machte das „Stuttgarter Neue Tagblatt‘ seine Leser auf 
diese Merkwürdigkeit aufmerksam. 


28* 


436 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


mit jenen der normalen Zweige decken. Von diesem Standpunkt 
aus betrachtet sind also sämtliche derartige Abweichungen von dem 
für die Art charakteristischen Verlauf auch für den Fall, dass sie 
sich als Mutationen erweisen würden, verständlich, und stehen mit 
der von uns vertretenen Auffassung von der Abhängig. 
keit der Periodizität von der Außenwelt in vollem Ein- 
klang. Der experimentelle Beweis, dass die besprochenen Ab- 
weichungen Mutationen sind, wäre dann erbracht, wenn man beı 
den Nachkommen dieser Zweige die Vererbung der neuen Eigen- 
schaft feststellen könnte. Bei unserem Kastanıenbaum ist man bei 
der Unmöglichkeit der Stecklingskultur auf die Samen angewiesen. 
Falls der fragliche Kastanıenzweig reife Samen hervorbringen wird, 
hoffe ich auch in dieser Richtung meine Beobachtungen fortsetzen zu 
können !?2). Ich möchte schließlich darauf hinweisen, dass unser Fall von 
der physiologischen Abweichung des Kastanienzweiges dem von Klebs 
(1903, S. 157—158) erwähnten Falle der morphologischen Abweichung 
an einer Weißbuche (Carpinus betulus L.) des botanischen Gartens 
in Halle (ein Zweig mit geschlitzten Blättern) an die Seite zu 
stellen ist. 

Abweichungen von normalem periodischem Verhalten kommen 
ferner bei Erkrankungen vor. Alle diejenigen Erkrankungen, 
welche einen vorzeitigen Blattverlust zur unmittelbaren Folge 
haben, verursachen ein Austreiben zur ungewohnten Jahreszeit, am 
Ende der Vegetationsperiode. Wır haben schon früher auf die 
Folgen des Hitzelaubfalls bei der Rosskastanie und anderen 
Bäumen hingewiesen. Die gleiche Wirkung hat bekanntlich auch 
starker Raupenfraß. Das veränderte Verhalten der Ruheknospen 
ist in diesen Fällen eine Folge des Blattverlustes, denn wir wissen, 
dass auch die künstliche Entblätterung dieselbe Wirkung hat. Die 
unmittelbare Folge der Entblätterung ist — wie wir ım Schluss- 
kapitel dieser Arbeit noch sehen werden — im wesentlichen in der 
Ablenkung des Wasserstromes zu suchen. Diese Abwei- 
chungen sprechen somit deutlich für die Abhängigkeit 
der Periodizität von der Außenwelt. 

Interessante Fälle von Abweichungen einzelner Zweige von 
normalem periodischem Verhalten bilden die Hexenbesen. Die- 
selben zeigen allgemein einen frühzeitigen Laubfall, welcher als eine 
unmittelbare Folge der Entwicklung des parasitischen Pilzes ohne 
weiteres verständlich ist. Besonders auffallend macht sich der 
frühe Blattfall bei den Weißtannenhexenbesen bemerkbar, 
welche im Winter kahl sind und sich somit vom übrigen benadelten 


12a) Anmerkung bei der Korrektur: Der fragliche Zweig hat leider keine ein- 
zige Frucht angesetzt. — Im Herbst ging er frühzeitig in den Winterzustand über; 
das Vergilben und Abfallen der Blätter hatte in Vergleich zu den übrigen Zweigen 
des Baumes einen Vorsprung von ca. 14 Tagen. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 437 


Baum deutlich abheben '?). Bemerkenswert ist ferner die Tatsache, 
dass die Hexenbesen gar nicht oder nur äußerst dürftig blühen. 
So entwickeln die Hexenbesen der Kirsche im Frühjahr nur 
Blätter und zwar zu einer Zeit, wo die normalen Zweige blühen '®). 
Die Blätter der Erlenhexenbesen entfalten sich dagegen später als 
die der normalen Zweige’). Nach Schellenberg (1915, S. 121) 
treiben die Knospen der Hexenbesen der Weißtanne, der Kirsche 
und der Birke im Frühjahr etwas vor den Knospen der normalen 
Zweige aus. Nach diesem Autor soll die Winterruhe der Hexen- 
besen dieser drei Baumarten überhaupt wenig tiefgreifend 
sein; ein Vergleich zwischen geschnittenen, ins Wasser gestellten 
Hexenbesen und normalen Zweigen im Warmhaus ergab, dass die 
Hexenbesen viel früher austreiben als gesunde Zweige. 
Scehellenberg berührt zwar kurz die Verhältnisse der ın den 
Hexenbesenknospen abgelagerten Reservestofle, die Atmungstätig- 
keit und Transpiration, gelangt aber zu keinen entscheidenden Re- 
sultaten. Er zieht den hypothetischen Schluss (l. e., S. 126), dass, 
„wenn wir annehmen, dass bei unseren Bäumen die Winterruhe eine 
vererbte Eigenschaft wenigstens bis zu einem gewissen Grade ist, 
so muss aus den Experimenten geschlossen werden, dass der Krank- 
heitszustand des Hexenbesens diese erbliche Eigenschaft der auto- 
genen Ruhe aufhebt“. Mit dieser Hypothese ist indessen nichts 
gewonnen, ebenso wie mit dem von Schellenberg beliebten Ver- 
fahren, alle Änderungen im periodischen Verhalten als Krankheits- 
erscheinungen zu bezeichnen !%). Wir gewinnen dadurch nicht einmal 
die Richtlinien zur Anstellung weiterer Untersuchungen. 


13) Vgl. v. Tübeuf, Pflanzenkrankheiten. 1895, S. 105. 

14) Vgl. v. Tübeuf, l.e, S. 106. — W. Smith, Untersuchung der Mor- 
phologie und Anatomie der durch Exoasceen verursachten Spross- und Blattdefor- 
mationen (Forstl. naturw. Zeitschr., III. Jahrg., 1894), S. 436. 

15) Vgl. v. Tübeuf, 1.c., S. 178 und Smith, |. c., S. 440. 

16) Schellenberg geht von der Annahme aus, dass alle Entwicklungen, die 
man nach Anwendung von Frühtreibemitteln erhält. als Krankheitszustände aufzu- 
fassen sind, und schließt daraus, dass sonstwie erkrankte Organe in bezug auf 
ihre Periodizität ein anderes Verhalten zeigen müssen als gesunde Zweige. Es ist 
gewiss richtig, dass durch Erkrankungen die periodischen Erscheinungen Verände- 
rungen oder Verschiebungen erfahren können; denn durch Erkrankungen werden 
vielfach die inneren Bedingungen beeinflusst, welche nach der von uns befolgten 
Anschauung Klebs’ sozusagen zwischen äußeren Bedingungen und der spezifischen 
Struktur vermitteln. Die Annahme aber, dass jede Einwirkung, welche die Perio- 
dizität beeinflusst, Krankheitszustände hervorruft, ist entschieden irrig. Mit welchem 
Recht kann man z. B. behaupten, dass eine Pflanze, welche infolge guter Ernährung 
ihre Periodizität aufgegeben hat und rüstig fortwächst, krank ist? Wollte man 
überhaupt in dem abweichenden Verhalten Krankheitszustände sehen, so müsste 
man eher das übliche Verhalten der Pflanze, was infolge ungenügender, zu der 
Produktion von organischer Substanz in Missverhältnis stehender Nährsalzversorgung 
eintritt, als das krankhafte bezeichnen. Richtiger ist es aber, wenn man sich von 
jeglichen Krankheitsgespenstern fernhält und beide Zustände als gesund bezeichnet. 


438 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Ich will meinerseits einmal versuchen, die ganze Frage des 
periodischen Verhaltens der Hexenbesen zu präzisieren. DieKnospen 
der Hexenbesen unterscheiden sich von den normalen 
nicht durch Verschiedenheiten in der spezifischen Struktur, sondern 
durch Verschiedenheiten ın den inneren Bedingungen, 
welche durch das Hinzukommen des neuen äußeren Faktors, 
nämlich des schmarotzenden Pilzes veranlasst worden sind. Hier 
hat also der Versuch einzusetzen, um diese Veränderungen der 
inneren Bedingungen festzustellen. Hierbei haben wir auf diejenigen 
Verhältnisse das Hauptaugenmerk zu richten, welche auf Grund 
unserer bisherigen Erfahrungen für das Zustandekommen einer 
festen Ruhe von Bedeutung sind. Die Festigkeit der Ruhe nımmt 
— wie wir später noch sehen werden (S. 466) — um so mehr zu, je 
größer die infolge der Anhäufung von Reservestoffen zustande- 
kommende Inaktivierung der Fermente ist (Klebs, 1911, S. 47; 
Lakon, 1913, S. 46). Ist bei den Hexenbesen die Winterruhe tat- 
sächlich weniger tiefgreifend als bei den normalen Zweigen, so 
muss bei denselben die Inaktivierung der Fermente eine 
entsprechend schwächere sein. Hierzu sind folgende Möglich- 
keiten vorhanden: 1. Eine Überanhäufung von Reservestoffen findet 
bei den Hexenbesenknospen nicht statt. Dies ıst insofern denkbar, 
als die Hexenbesen eine nur beschränkte eigene Assimilation auf- 
weisen und auf die Zufuhr aus den anderen Zweigen angewiesen 
sind. Dafür spricht der Umstand, dass die Hexenbesen überhaupt 
nicht blühbar werden, was nach unseren heutigen Kenntnissen 
darauf hindeutet, dass bei ihnen ein relatives Überwiegen der Kohle- 
hydrate über die Nährsalze nicht eintritt. Die Angaben Schellen- 
berg’s sprechen allerdings gegen diese Annahme. Er behauptet, 
dass bei den Hexenbesen eine „auffallend starke Füllung des 
Knospengrundes und zum Teil der Knospenblätter mit Reserve- 
stoffen aller Art“ vorhanden sei (l. e., S. 124). 2. Die in den 
Knospen vorhandenen Reservestoffe werden zu einem beträchtlichen 
Teil im Laufe des Winters durch die Tätigkeit des Pilzes verbraucht. 
Dafür spricht die Angabe Schellenberg’s (l. e.), nach welcher die 
Hexenbesen während des Winters eine gesteigerte Atmung auf- 
weisen, welche „auch einen gesteigerten Verbrauch der Kohle- 
hydrate zur Folge haben muss“. 3. Die Nährsalzversorgung der 
Hexenbesen ist eine bessere als die der normalen Zweige, wodurch 
ein Überwiegen der Kohlehydrate ausbleibt. Schellenberg gibt 
an (l.c.), dass bei den Hexenbesenknospen eine gesteigerte Tran- 
spiration festzustellen ist. Trifft dies allgemein zu, so ist die Mög- 
lichkeit einer besseren Nährsalzversorgung gegeben. 4. Der Pilz 
Die Pflanze kann ebensowohl ruhen wie wachsen und beide Zustände 
sind physiologisch; welcher Zustand jeweils verwirklicht wird, darüber ent- 
scheidet die Außenwelt. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von’ Wachstum und Ruhe ete. 439 


geht, sobald für ıhn günstige Wachstumstemperatur eingetreten 
ist, in lebhaftes Wachstum über, wobei Fermente ausgeschieden 
werden, welche die Auflösung der Reservestoffe veranlassen. 

Mit den oben angegebenen sind gewiss nicht einmal alle Mög- 
lichkeiten erschöpft; die weitere spezielle Untersuchung der Frage 
wird auf die weiteren Möglichkeiten hinweisen. Die Entscheidung, 
welche von diesen zutrifft, muss der Versuch hefern. Mir kam es 
hier nur daraufan, nachzuweisen, dass auch diese Periodizitäts- 
frage in der konsequenten Erkenntnis von der Abhängig- 
keit der periodischen Erscheinungen von der Außenwelt 
in für den Versuch greifbare Nähe gerückt werden kann. 
Was ist im Gegenteil gewonnen, wenn wir den Schluss ziehen, 
dass die erbliche Eigenschaft durch den Krankheitszustand aufge- 
hoben wird? 

Schließlich sind diejenigen Abweichungen im herbstlichen Laub- 
fall einiger unserer Holzgewächse zu erwähnen, welche mit dem 
Ausbleiben eines physiologischen Abstoßens, mit dem Hängen- 
bleiben der abgestorbenen Blätter im Herbst und Winter 
zum Ausdruck gelangen. Diese Erscheinungen habe ich an anderer 
Stelle zum Gegenstand einer speziellen Behandlung gemacht (Lakon, 
1914; vgl. ferner Lakon, 1915, S. 93—96); sie verdienen hier eine 
nähere Berücksichtigung. 

Das Hängenbleiben des vertrockneten Laubes im Winter ist am 
meisten bei der Rotbuche (Fagas silvatica L.) und bei den ein- 
heimischen Eichenarten (@uereus pedunculata Ehrh. und @. sessili- 
flora Sm.) anzutreffen. Wie ich an der oben zitierten Stelle (1914a) 
dargelegt habe, tritt die Erscheinung im vollen Umfange nur bei 
jungen oder stark beschnittenen Individuen (z. B. Hecken) auf, 
während bei älteren Bäumen nur die unteren, direkt aus dem 
Stamme oder aus dieken Ästen entspringenden Zweige oder Stock- 
ausschläge davon betroffen werden. Das gleiche gilt ferner für die 
Weißbuche (Carpinus betulus L.); Weißbuchen-Hecken sind in dieser 
Hinsicht neben sehr jungen Bäumchen sehr charakteristisch (vgl. 
Lakon, 1915, S. 94—95). An anderen Baumarten kommt die Er- 
scheinung nur ausnahmsweise an Stockausschlägen vor. Besonders 
instruktiv konnte ich sie bei einer Lindenart (Tika mandschurica 
Rupr. et Maxim.; vgl. Lakon, 1914a, S. 162) beobachten. In dem 
Hängenbleiben des Laubes infolge des Ausbleibens des physio- 
logischen Abstoßens ist zweifellos die Tendenz zu überwintern zu 
erblicken. Die Blätter bleiben hängen, weil sie die für den Prozess 
der Ablösung notwendige Reife und die damit verbundene Bildung 
der Trennungsschicht im Herbst noch nicht erlangt haben. Sie 
werden daher im Herbst in einem früheren Entwicklungsstadium 
von plötzlich einsetzenden, widrigen Witterungsverhältnissen (z. B. 
Frost) überrascht und getötet. Es entsteht nun die Frage, aus 


440 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


welchen Ursachen die erwähnten Bäume eine Tendenz zu über- 
wintern entfalten. In einer kurz vor meiner oben erwähnten Ver- 
öffentlichung erschienenen Arbeit sucht W. Magnus (1913) die 
Erscheinung als eine innere, erbliche Eigenschaft, als einen „phy- 
siologischen Atavısmus“ zu erklären. Um die Unterschiede, welche 
in bezug auf das Hängenbleiben der Blätter die verschiedenen Indı- 
viduen derselben Baumart, ja die Zweige ein und desselben Baumes 
aufweisen, zu erklären, nımnmt Magnus an, dass der immergrüne 
Charakter bezw. die neuerworbene Periodizität bei den einzelnen 
Individuen oder auch Zweigen in verschiedenem Grade ausgeprägt 
sei: „Die Periodizität seı vom Stamm abgerückt und auf die Zweige 
übergegangen.“ Diese Annahme eines physiologischen Atavısmus 
scheint mir, wie ıch schon früher dargelegt habe (Lakon, 1914, 
S. 167. und 1915, S. 9395), ahnaelnnre unhaltbar. Denn .wie 
könnte man sich denken, dass eine erbliche Eigenschaft, die ihren 
Sitz doch in den Zellen des Vegetationspunktes haben muss, mit 
dem Alter, durch den Schnitt oder durch die Lage am Baum ver- 
änderlich ıst? Das Individuum soll die neue Eigenschaft der Perio- 
dızität mit fortschreitendem Alter allmählich erwerben, anderseits 
aber durch starkes Zurückschneiden derselben verlustig gehen! Ge- 
rade diese Tatsachen deuten darauf hin, dass die Erscheinung — wie 
die Periodizität überhaupt — von der Außenwelt abhängig ist. 
Eine derartige Tendenz zur Verlängerung des Lebens der Blätter 
junger Individuen oder einzelner Zweige ist schon für die tropischen 
Bäume bekannt. Sıe führt zu einer wirklichen Verlängerung der 
Lebensdauer, da hier die äußeren Witterungsverhältnisse, die das 
Absterben herbeiführen können, fehlen. V olkens (1912, 3: 108,109, 
125) erwähnt, dass an der Stammbas is oder an dieken Ästen 
wachsende Spros se (Wasserreiser) ein kräftigeres Wachstum 
zeigen und längere Zeit am Leben erhalten bleiben, so dass sie 
sich von den übrigen kahlen Ästen deutlich abheben. Ähnlich ver- 
halten sich jugendliche Individuen von Teetona grandis, welche 
in Ost-Java im Sommer, also ın einer Zeit, wo ältere Bäume kahl 
stehen, beblättert sind. Derartige Abw eichungen wurden auch von 
Klebs in den Tropen festgestellt. Er teilt mit (Klebs, 1911, 
S. 50 und 1912, S. 282), dass die aus abgehauenen Baum- 
stümpfen entspringenden kräftigen Sprosse von Teetona auch 
zur Trockenzeit frisch beblättert sind. Er weist ferner auf die 
schon früher von Wright (1905) gemachte Angabe hin, dass näm- 
lich bei zahlreichen Holzarten der periodische Laubfall in Geylon 
erst bei älteren Individuen eintritt. Wir haben also auch bei 
den tropıschen Bäumen genau die gleichen Erschein ungen; 
die Ursachen müssen EBeRralls derselben Natur sein. Es 
ist die bessere Wasser- und Nährsalzversorgung, welche 
bei den jungen Individuen, basalen Sprossen oder zu- 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 441 


rückgeschnittenen Bäumen die Tendenz zur Verlängerung 
der Lebensdauer veranlassen; die Blätter bleiben dadurch 
längere Zeit hindurch jugendlich frisch. Nachdem wir in den 
früheren Kapiteln gesehen haben, wie groß der Einfluss der Boden- 
ernährung auf die Periodizität ist, erscheint uns dieser Zusammen- 
hang leicht verständlich. Die bessere Ernährung kommt in den 
erwähnten Fällen auch durch die Üppigkeit und die größeren Dimen- 
sionen der Blätter zum Ausdruck. Dafür sprechen auch die Ver- 
suche von Dingler (1905, S. 475), bei welchen es ıhm gelang, das 
Leben der unteren Blätter von Langtrieben der Pyra- 
midenpappel durch Wegnahme der oberen Blätter und 
der austreibenden Knospen über die normale Dauer hin- 
aus zu verlängern. Die Annahme Dingler’s (l. c., S. 475) aber 
— die übrigens schon von Nördlinger!”) vertreten wird —, dass 
das frühe Austreiben junger, oberflächlich wurzelnder Bäume auf 
die Bodenerwärmung zurückzuführen sei, ıst zum mindesten für die 
meisten Fälle (tropische Bäume, zurückgeschnittene Individuen u. a. m.) 
entschieden unhaltbar'°). 

Wir gelangen somit zu dem Schluss, dass die Erscheinung 
des Hängenbleibens des Laubes ım Winter keinesfalls 
eine ın der spezifischen Struktur der betreffenden Pflan- 
zen liegende, erbliche Notwendigkeit ist, sondern dass sie 
von den äußeren Bedingungen abhängt. In der spezi- 
fischen Struktur der Arten liegt nur die Entscheidung, 
unter welchen äußeren Bedingungen die Fähigkeit der 
Blätter, über die übliche Zeit hinaus jugendlich frisch 
zu bleiben, verwirklicht wird. Die äußeren Bedingungen 
müssen auch hier zunächst die inneren Bedingungen beeinflussen. 


17) Deutsche Forstbotanik. I. Bd. Stuttgart 1874, S. 38. 

18) Die Versuche von Dingler (1905) mit geschneidelten Bäumen, aus welchen 
dieser Autor den Schluss zieht, dass für den Laubfall das physiologische Alter der 
Bäume maßgebend ist. sind nicht geeignet, die Frage nach den tieferen Ursachen 
näher zu klären; denn es fehlen die Parallelversuche mit Trieben, welche zwar an 
geschneidelten Bäumen, jedoch zur gleichen Zeit mit denjenigen normaler Bäume 
entstanden sind. Es ist zu erwarten, dass die Blätter auch dieser Zweige normalen 
Alters eine Verlängerung ihrer Lebensdauer aufweisen würden, wie es ja auch, wie 
schon erwähnt, die zu Hecken verstümmelten Exemplare tun. Dingler hat auch 
tatsächlich am Schlusse einer späteren Mitteilung (1906, S. 21—22) darauf hinge- 
wiesen, dass an geschneidelten Hainbuchen die Blätter überhaupt langlebiger werden. 
Er sagt: „Sehr interessant ist die Einwirkung des Schneiden und Köpfens der 
Bäume auf das Verhalten des Laubes im Jahre nach dem Öperationsjahr. Es lässt 
sich nämlich sehr deutlich die Wirkung des relativ vergrößerten Wurzelsystems und 
der verminderten Augenzahl auf die Größe und bis zu einem gewissen Grade auch 
auf die Langlebigkeit der Blätter noch im zweiten Jahre beobachten, wie ich schon 
1901 für Populus fastigiata gefunden hatte. Auch Carpinus Betulus verhält sich 
ähnlich, ebenso die meisten anderen Arten, mit denen experimentiert wurde.“ Das 
physiologische Alter der Blätter ist eben nicht unter allen Umständen zeitlich genau 
bestimmt; es hängt vielmehr von den jeweiligen Lebensbedingungen ab. 


449 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


Für die Eichen, die Rot- und Weißbuche, und ın kleinerem Maß- 
stabe auch für einige andere Baumarten, werden die entscheidenden 
äußeren Bedingungen teilweise in der Natur verwirklicht, so dass 
bei diesen Arten die Fähigkeit der Lebensverlängerung zur Ent- 
faltung kommt. Es ist eine Aufgabe der Zukunft, die für das 
Altern der Blätter maßgebenden äußeren Bedingungen bei den ver- 
schiedenen Arten genau festzustellen. Dass es sich hier um ver- 
wickelte Wechselwirkungen handelt, zeigt auch die Angabe von 
Klebs (1914, S. 77), dass bei seinen Versuchen bei kontinuierlicher 
Beleuchtung und relativ geringer Feuchtigkeit die Blätter der Buche 
viel schneller alterten als unter natürlichen Bedingungen, so dass 
mit der unperiodischen Entstehung neuer Blätter auch ein unperio- 
discher Blattfall der älteren Hand ın Hand ging. Der Blattfall 
wurde aber während der Entstehung der neuen Blätter auch da- 
durch gefördert, dass die neu entstehenden Blätter den älteren das 
Wasser fortnahmen. Es kommt also schließlich auch hier der Ein- 
fluss der Wasser- und Nährsalzversorgung zur Geltung '?). 

Überblicken wir die in diesem Kapitel behandelten Abwei- 
chungen ım periodischen Verhalten einiger Baumarten, so kommen 
wir zu dem Schluss, dass auch diese Erscheinungen mit 
unserer Auffassung von der Periodizität ım vollen Ein- 
klang stehen, einer Auffassung, welche auf den ın den früheren 
Kapiteln besprochenen Tatsachen beruht und in einem Schluss- 
kapitel noch näher dargelegt wird. 


VII. Über periodische Erscheinungen überhaupt und ihre 
prinzipielle Bedeutung für die Existenz einer inneren 
Periodizität. 

Nachdem wir im vorstehenden gesehen haben, dass die inten- 
sive Beschäftigung mit einer bestimmten Pflanzenart in den meisten 
Fällen schließlich doch dazu führt, die Entwicklung derselben mehr 
oder weniger zu beherrschen, kommen wir immer mehr zu der 
Überzeugung, dass für die Annahme von „inneren“ Ursachen kein 
Grund vorliegt. Da indessen eine erschöpfende Untersuchung sämt- 
licher Einzelfälle der jährlichen Periodizität keinesfalls möglich ıst, 
so müssen wir uns die prinzipielle Frage vorlegen, ob die Annahme 
von inneren Ursachen bei anderen periodischen Erscheinungen un- 
umgänglich ist. Denn ist dies der Fall, so können wir ihre Gültig- 
keit für einzelne Fälle der jährlichen Periodizität theoretisch nicht 
ohne weiteres ausschließen. 

Eine periodische Erscheinung, welche vor allem unser Interesse 
beansprucht, ist die tägliche Periodizität des Wachstums. 

19) Klebs geht zwar an der zitierten Stelle nicht weiter auf die uns in diesem 


Abschnitt beschäftigende Frage ein, weist aber ebenfalls den Gedanken eines phy- 
siologischen Atavismus zurück . 


Lakon, Uber den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 443 


Während diese Periodizität offenkundig mit dem täglichen Wechsel 
in der Beleuchtung, der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit zu- 
sammenhängt, sind doch auch hier Fälle bekannt, welche einen der- 
artigen direkten Zusammenhang mit äußeren Bedingungen vermissen 
lassen ?°). Aber auch von diesen Fällen sind einige und zwar die- 
jenigen, welche allgemein auf Nachwirkungen zurückgeführt werden, 
als Folgen der Einwirkung der Außenwelt verständlich?!). Der einzige 
beachtenswerte Fall, der den Anschein einer von der Außenwelt 
unabhängigen Periodizität hat, ist der von Baranetzky (vgl. 
Pfeffer, 1. ce, S. 256) an ım Dunkeln ausgetriebenen Rüben 
(Brassica rapa) beobachtete. Doch ist auch dieser Fall keinesfalls 
geeignet, die Annahme einer inneren Periodizität zu rechtfertigen. 
Schon der Umstand, dass bei diesen Versuchen Baranetzky's 
nicht alle Triebe der Rübe die Periodizität zeigten, erweckt starke 
Bedenken; falls hier die Periodizität eine innere, erbliche, ın der 
spezifischen Struktur begründete und von der Außenwelt unab- 
hängige Erscheinung wäre, so musste sie stets zum Ausdruck kommen. 
Die Versuche Baranetzky’s bedürfen überhaupt der Nachprüfung, 
denn es fragt sich, ob bei denselben und zwar sowohl vor wie 
während des Austreibens eine völlige Konstanz der Außenbedingungen, 
insbesondere der Luftfeuchtigkeit tatsächlich eingehalten wurde. 
Aber selbst für den Fall, dass die Befunde Baranetzky’s einwand- 
frei sind, müssen wir uns die Frage vorlegen, ob bei dieser Perio- 
dızität die Außenwelt unbeteiligt ist. Es ist tatsächlich nicht un- 
möglich, dass auch dort, wo eim rhythmischer Wechsel der äußeren 
Bedingungen fehlt, die äußeren Faktoren bei der Herstellung 
der für den Vorgang nötigen inneren Bedingungen zeit- 
lich vorher oder während des Vorganges selbst durch 
ihre Intensität wirksam sınd. Wir werden später Fälle von 
Periodizität kennen lernen, welche diese Vermutung begründen. 
Der Umstand, dass bei den Versuchen Baranetzky’s nicht alle 
Rübentriebe die Pertodizität zeigten, macht unsere Vermutung ge- 
radezu höchst wahrscheinlich. Die Aufgabe, die Richtigkeit dieser 
Hypothese zu beweisen, muss zukünftigen Versuchen überlassen 
werden, welche die Kurven des täglichen Wachstums zwar bei kon- 
stanten, aber ın verschiedenen Intensitäten kombinierten äußeren 
Faktoren festzustellen haben. 

Wenn wir unsere Kenntnisse über andere periodische Erschei- 
nungen überblicken, so sehen wir, dass der ım vorstehenden er- 
örterte, zuerst von Klebs (1913) näher begründete Gesichtspunkt 
von der Wirkung konstant gehaltener äußerer Faktoren bestimmter 


20) Bezüglich ausführlicherer Daten sei auf die Behandlung in Pfeffer, 1904, 
S. 252ff. verwiesen. 

21) Wir werden später näher erörtern, wie man sich derartige Nachwirkungen 
vorzustellen hat. 


444 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


Intensität bisher in keinem Falle berücksichtigt worden ist. Man 
hat sich dagegen stets darauf beschränkt, lediglich auf die Rhythmik 
bezw. Konstanz der äußeren Bedingungen das Augenmerk zu richten. 
Das vorhandene Tatsachenmaterial kommt daher nur für die Ent- 
scheidung der Frage ın Betracht, ob die Rhythmik der Pflanze mit 
einer solchen in den äußeren Bedingungen Hand in Hand geht. 
Diese Forschung ist gewiss sehr wichtig, doch für die An- 
nahme einer inneren Rhythmik, welche sozusagen ein Be- 
dürfnis der Pflanze darstellen soll, selbst ım günstigsten Falle nicht 
entscheidend. Aus diesen Gründen will ich auf weitere rhyth- 
mische Vorgänge nicht näher eingehen, zumal unsere Kenntnisse 
auch bezüglich des bisher verfolgten Zieles nicht als vollständig 
bezeichnet werden können. Sie sind jedenfalls nicht derart, dass 
man aus denselben weitere Schlüsse für die jährliche Periodizität 
ziehen könnte. Ich möchte indessen nicht unterlassen, auf einige 
periodische Erscheinungen kurz hinzuweisen, welchen vornehmlich 
eine prinzipielle Bedeutung zukommt und welche in der erwähnten 
Richtung der näheren Untersuchung harren. Als solche ıst zunächst 
die kürzlich von Karsten (1915) ın einer sehr interessanten Arbeit 
behandelte Tagesperiode des embryonalen Wachstums zu 
erwähnen. Karsten verfolgte an zu verschiedenen Tageszeiten 
fixierten Vegetationspunkten höherer Pflanzen die Schwankungen 
der Zahl der Kernteilungen, um daraus Schlüsse über die Schwan- 
kungen der Intensität des embryonalen Wachstums selbst zu ziehen. 
Er fand, dass, während bei den Wurzelvegetationspunkten die Gleich- 
mäßigkeit der äußeren Bedingungen ein den ganzen Tag hindurch 
gleichmäßiges embryonales Wachstum zur Folge hat, bei den Spross- 
vegetationspunkten eine deutliche Tagesperiodizität vorhanden ist. 
Diese Periodizität ist durch den Einfluss äußerer Faktoren veränder- 
lich, sie wird durch den Wechsel von Tag und Nacht aufrecht er- 
halten. Allein auch die Vegetationspunkte von Keimlingen, welche 
bei Lichtabschluss aufgewachsen waren, wiesen eine ausgesprochene 
Periodizität auf. Karsten kommt daher zu dem Schluss, dass hier 
eine Vererbung der täglichen Periode des embryonalen Wachstums 
vorliegt. Nach unserer Auffassung bildet auch dieser Fall keinen 
zwingenden Grund zu der Annahme einer inneren, not- 
wendigen Periodizität. Es liegt auch hier die Frage offen vor, 
ob diese Periodizität durch den Intensitätsgrad bestimmter äußerer 
Faktoren bedingt wird; es ist noch zu untersuchen, ob nicht bei einer 
bestimmten Konstellation der äußeren Bedingungen das embryonale 
Wachstum den ganzen Tag gleichmäßig verläuft. 

Sehr beachtenswert sind ferner die Schlafbewegungen der 
Blätter und Blüten”). Auf Grund seiner neuen ausgedehnten 

22) Zur Orientierung über den heutigen Stand unserer Kenntnisse sei auf die 
neue Darstellung von Kniep (1913) verwiesen. 


Lakon, Über den rhythnischen Wechsel von ‚Wachstum und Ruhe ete. 445 


Untersuchungen kommt Pfeffer (1907) zu dem Schluss, dass die 
Schlafbewegungen der Blätter von der Außenwelt abhängig sind. 
Allein bei späteren Versuchen konnte Pfeffer (1911) feststellen, 
dass das sonst übliche Ausklingen der tagesperiodischen Schwin- 
gungen der Primärblätter von Phaseolus im Dauerlicht durch lokale 
Verdunklung des Blattgelenkes verhindert werden kann. Pfeffer 
lässt daher seine früheren Bedenken gegen die Annahme einer 
Autonomie von tagesperiodischen Schlafbewegungen fallen. Ander- 
seits konnte Stoppel (1912) feststellen, dass bei völligem Licht- 
abschluss in konstanter Temperatur erzogene Primärblätter von 
Phaseohıs normale tagesperiodische Schwingungen ausführen. Wenn 
wir die Richtigkeit dieser Versuche außer Zweifel stellen (mir scheint 
die Konstanz der äußeren Bedingungen bei den Versuchen von 
Stoppel nicht völlig sicher, ich vermisse z. B. jegliche Angabe 
über eine Berücksichtigung der Luftfeuchtigkeit), gelangen wir zu 
dem Schluss, dass die Bewegungen auch ohne gleichsinnige Ver- 
änderungen der Außenwelt möglich sind. Selbst wenn man diese 
Bewegungen mit dem Namen „autonom“ bezeichnen will, so bleibt 
auch dann die Frage offen, ob sie selbsttätig, ohne Mitwirkung der 
Außenwelt zustande kommen. Zur Beantwortung dieser Frage 
musste nach unserer Auffassung das Verhalten der Blätter bei den 
verschiedenen Konstellationen konstant gehaltener äußerer Faktoren 
geprüft werden. Aber gerade der oben erwähnte Versuch Pfeffer's 
mit der partiellen Verdunklung ist ein Beweis für die Richtigkeit 
unserer Auffassung; die tagesrhythmische Bewegung wird 
bei Dauerlicht nur dann aufrecht erhalten, wenn be- 
stimmte Konstellationen von Außenbedingungen wirksam 
sind, d.i. hier die dauernde Verdunklung des Blattgelenkes 
bei Dauerbeleuchtung der übrigen Pflanze Von einer 
von der Außenwelt unabhängigen, aus rein inneren 
Gründen herrührenden Rhythmik kann also auch in 
solchen Fällen keine Rede sein. Wie beı den Schlafbewe- 
gungen der Laubblätter, so haben wir auch beim Öffnen und 
Schließen der Blüten mit Bewegungen zu tun, welche nach den 
vorliegenden Untersuchungen (vgl.: Stoppel, 1910; Stoppel und 
Kniep, 1911) auch ohne Schwankungen der äußeren Faktoren zu- 
stande kommen können. Das Verhältnis dieser Bewegungen zur 
konstanten Außenwelt muss eben auch hier durch weitere Unter- 
suchungen klargelegt werden. 

Wir haben nun die Auffassung von der Hervorrufung rhyth- 
mischer Vorgänge durch die Einwirkung konstant gehaltener äußerer 
Faktoren noch an einem einfacheren Beispiel näher zu begründen. 
Zu diesem Zweck wollen wir die Hexenringbildung von Pilzen 
einer kurzen Betrachtung unterwerfen, und zwar unter Verwertung 
der Ergebnisse von Versuchen und theoretischen Erörterungen von 


446 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Ruhe und Wachstum ete. 


Klebs (1913) und Munk (1912, 1914). Wenn wir auf eine nähr- 
stoffhaltige Gelatineplatte einen Schimmelpilz überimpfen, so breitet 
sich derselbe gleichmäßig strahlenförmig aus; er wächst zunächst 
vegetativ, um dann zur reichlichen Fruktifikation überzugehen. Da 
sämtliche Hyphen dies gleichzeitig tun, so entsteht ein aus Sporen 
bestehender Ring. Bei der weiteren kreisförmigen Ausbreitung des 
Pilzes wechseln nunmehr rein vegetatives (oder nur schwach mit 
Sporenbildung untermischtes) Wachstum und reichliche Sporen- 
bildung regelmäßig ab; es entstehen die sogen. Hexenringe. Die 
Hexenringbildung ıst nicht das Resultat einer unbedingten inneren 
Notwendigkeit des Pılzwachstums, sie hängt vielmehr mit dem Ein- 
fluss äußerer Bedingungen zusammen. Dank den Untersuchungen 
von Munk (1912a) sind wır über dieselben näher unterrichtet. Die 
ringförmige Sporenbildung ist zunächst eine direkte Folge des rhyth- 
mischen Wechsels bestimmter äußerer Bedingungen, wie Licht und 
Dunkelheit, höhere und niedere Temperatur, starke und schwache 
Luftbewegung, welche sämtlich dazu führen, die Transpiration ab- 
wechselnd zu steigern und herabzusetzen. Auf gutem, nährstoff- 
reichem Substrat und bei gleichmäßiger Regulierung der erwähnten 
äußeren Faktoren, d.h. bei Ausschließung jeglicher Transpirations- 
schwankung bildet der Pilz keine Hexenringe. Dieselben treten 
aber auch bei gleichmäßiger Regulierung der erwähnten äußeren 
Faktoren auf, wenn dem Pilz nur begrenzte Nährstoffmengen zur 
Verfügung stehen, oder wenn das nährstoffreiche Substrat Alkalien 
oder Glyzerin enthält. In diesen Fällen ıst ein sichtbarer Wechsel 
der äußeren Bedingungen nicht vorhanden und trotzdem handelt 
es sich auch hier um Einflüsse der Außenwelt, nämlich des Sub- 
strates. Bei begrenzter Nahrungsmenge findet jedesmal infolge der 
Sporenbildung eine Verarmung der Hyphen und des Substrates an 
organischen Nährstoffen statt, was vegetatives Wachstum zur Folge 
hat. Beim Vorhandensein bestimmter fremder Stoffe, wie Alkalien 
und Glyzerin, haben wir es ın ähnlicher Weise mit einer wechselnden 
relativen Anhäufung und Verarmung des Substrates an Stoffen zu 
tun, welche den Entwicklungsgang des Pilzes beeinflussen. Eine 
größere Bedeutung kommt ferner den Ausscheidungsprodukten des 
Pilzes zu, sowie ihren Wechselwirkungen mit den im Substrat ent- 
haltenen Stoffen. Dies tritt deutlich bei der von Munk (1912b) 
näher untersuchten Koremienbildung zutage. Das koremienbildende 
Penieillium variabile schreitet nur dann zur Koremienbildung, wenn 
die für den Prozess maßgebenden Stoffwechselnebenprodukte (wahr- 
scheinlich Alkohole) einen gewissen Grad der Anhäufung erlangt 
haben. Die vom Pilz gebildete Säure wirkt dagegen ungünstig auf 
die Koremienbildung ein. Die Natur der Stoffwechselprodukte des 
Pilzes hängt von der Zusammensetzung des Substrates ab. Ander- 
seits wird sowohl die für die Koremienbildung günstige Wirkung 


l.akon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 447 


der Alkohole, wie auch die ungünstige der Säure, durch fremde, im 
Substrat enthaltene Stoffe beeinflusst. Säurezusatz hebt die Wir- 
kung der Alkohole auf, während Zusatz von Alkalien eine Neutrali- 
sierung der Säure herbeiführt und somit ermöglicht, dass die günstige 
Wirkung der Alkohole voll zur Geltung gelangt. Munk (1914, 
S. 637) machte einen sehr instruktiven Versuch: Er ıimpfte eine 
gewöhnliche Nähragarplatte, der etwas Lackmus beigemengt war, 
mit Penieillium variabile und bestrich sie nach etwa 3 Tagen am 
Glasrande der Petrischale entlang mit einer Stange Ätzkalı. Es 
entstanden Koremienringe, und zwar stets an der Grenze zwischen 
roter und blauer Lackmusreaktion, also ın der neutralen Zone. 
Wurde die Kultur ungleich stark mit der Kalıstange bestrichen, so 
entstanden auf der ätzkalireicheren Seite wenigere und dichtere 
Ringe als auf der kaliarmen Seite; beide Ringsysteme waren durch 
Anastomosen miteinander verbunden. Ähnliche Resultate wurden 
erzielt, wenn Äthylalkohol statt Alkali auf die peripherischen Regionen 
der Kulturplatte gebracht wurde. In diesen Fällen sehen wir 
also durch das Eingreifen eines neuen Äußeren Faktors, 
nämlich des neuen Stoffes Alkali bezw. Alkohol, eine 
Ringbildung entstehen und zwar dort, wo eine solche 
sonst nıcht zustande kommen würde. Die Hexenringbildung 
kann also auch dort, wo Licht, Temperatur, Verdunstung konstant 
bleiben, erfolgen, wenn das Substrat infolge seiner Zusammen- 
setzung die Bedingungen hierzu bietet. Wır können auch in 
diesen Fällen nicht von einem inneren, von der Außenwelt unab- 
hängigen Vorgang, einer Selbstdifferenzierung sprechen, da das 
Substrat, was hier die Entscheidung bringt, ohne Zweifel zu der 
Außenwelt des Pilzes gehört. Die abweichende Ansicht 
Küster’s, dass nämlich in solchen Fällen die Zonenbildung auf 
Selbstdifferenzierung beruht, hängt damit zusammen, dass dieser 
Forscher keine strenge Trennung der Begriffe einhält; er betrachtet 
den Pilz nebst Substrat als Einheit. Er sagt (1913a, S. 81), dass 
in solchen Fällen die Zonenbildungen „ohne äußeren Rhythmus 
lediglich durch die im System (Pilz und Substrat) begründeten 
‚inneren‘ Bedingungen hervorgerufen werden können“. Die Auf- 
fassung, dass der Pilz nebst Substrat als Einheit anzusehen sind, 
führt auch zu einer abweichenden Vorstellung von den inneren Be- 
dingungen. Die inneren Bedingungen, wovon im obigen Satz 
Küster’s die Rede ist, decken sich keinesfalls mit den inneren 
Bedingungen der von uns befolgten Klebs’schen Nomenklatur. 
Die Ringbildung in Pilzkulturen hat Ähnlichkeiten mit Struk- 
turen in leblosen kolloidalen Medien, mit den sogen. Liesegang’- 
schen Zonen, worauf zuerst Munk (1912a) hingewiesen hat. Die 
Analogie der Liesegang’schen Zonen mit pflanzlichen Strukturen 
überhaupt hat Küster (1913) zum Gegenstand einer eingehenden 


448 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


Behandlung gemacht. Es ist wichtig, diese rhythmischen Strukturen 
lebloser Substanzen vom Standpunkt der Periodizität aus zu be- 
trachten. Der typische Versuch zur Erhaltung Liesegang’scher 
Zonen ist folgender??): In einer durch Erwärmung flüssig gemachten 
Gelatinelösung wird verdünntes (etwa 0,1%) Kaliumbichromat auf- 
gelöst; auf die erkaltete, erstarrte Gelatineplatte trägt man nun 
einen Tropfen einer konzentrierten (etwa 30%) Lösung von Silber- 
nitrat auf. Wo das Silbernitrat mit dem Kaliumbichromat in Be- 
rührung kommt, wird das unlösliche, rotbraune Silberchromat aus- 
gefällt. Dies ist zunächst an der Stelle der Fall, auf welche der 
Silbernitrattropfen aufgetragen wurde. Das Silbernitrat verbreitet 
sich nunmehr allmählich durch Diffusion zentrifugal auf der Gelatine- 
platte und erreicht somit immer weitere Kaliumbichromatmengen; 
die Ausfällung von Silberchromat findet aber nicht gleichmäßig 
über das ganze Diffusionsfeld statt, sondern es wechseln helle silber- 
chromatarme mit dunklen silberchromatreichen Ringen ab. Die 
zonenweise Anhäufung des Silberchromats steht zwar mit der ent- 
sprechenden Anhäufung des Kaliumbichromats m Zusammenhang, 
doch sind wir über das Zustandekommen dieses letzteren Vorganges 
auf Vermutungen angewiesen, die aber hier übergangen werden 
können *). Uns interessiert hier nur die Tatsache, dass beim Liese- 
gang’schen Phänomen ein Rhythmus eingehalten wird, der mit 
keinerlei rhythmischen Abwechslungen der Außenwelt in Zusammen- 
hang steht. Es hat überhaupt den Anschein, als ob sich der ganze 
Vorgang unabhängig von der Außenwelt vollzöge. Küster, dem 
wir wichtige Untersuchungen verdanken, sagt in der Tat (Küster, 
1913a, S. 14 und 1913 b, S. 2), dass der Vorgang allein durch die 
im System selbst (Gelatine + Kaliumbichromat —- Silbernitrat) liegen- 
den Faktoren bedingt ist (Selbstdifferenzierung) und somit als innerer 
Rhythmus bezeichnet werden kann. In diesem Zusammenhang be- 
rührt Küster auch die rhythmischen Strukturen der Pflanzen und 
schließlich auch die jährliche Periodizität selbst; er meint, dass 
auch in diesen Fällen der Rhythmus infolge einer Selbstdifferen- 
zierung zustande kommen kann. Wir haben indessen schon bei 
der Besprechung der Hexenringbildung gesehen, dass diese Auf- 
fassung Küster’s unhaltbar ist. Sie wurde denn auch von Klebs 
(1913, S. 4—18) bekämpft. Den eingehenden Erörterungen Klebs 


23) Ich möchte hier beiläufig erwähnen, dass man schöne Liesegan g’sche 
Zonen auch auf natürlichen Substraten erhält, wenn man nämlich einen Apfel mittels 
eines Eisenchlorid enthaltenden Kapillarröhrchens ansticht. Es findet Eisenreaktion 
auf die im Apfel enthaltenen Gerbstoffe statt und es entstehen regelmäßige schwarze 
Zonen. Diese Zonenbildung hat den Vorteil der leichten Herstellung ohne um- 
ständliche Vorbereitungen, aber auch einen Nachteil, der ihren Wert für Demon- 
strationen herabsetzt; sie tritt nämlich nur sehr langsam, meist erst nach mehreren 
Stunden ein und erreicht erst nach mehreren Tagen ihre endgültige Vollendung. 
24) Näheres bei Küster (1913a) und Klebs (1913). 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 449 


verdanken wir nun in der Tat die Klärung der beim Liesegang’- 
schen Phänomen obwaltenden Verhältnisse. Nehmen wir all die 
hier beteiligten Stoffe in Übereinstimmung mit Küster als ein ein- 
heitliches System an, so haben wir die Substanzen selbst, d. h. hier 
die Molekularstrukturen von Kaliumbichromat, Silbernitrat und 
Gelatine als die Vertreter der spezifischen Struktur aufzufassen. 
Mit der spezifischen Struktur sind die Fähigkeiten, d. h. die che- 
mischen und physikalischen Eigenschaften der drei Körper ver- 
bunden. Der Einfluss der Außenbedingungen kommt zunächst in 
der Weise zum Ausdruck, dass bestimmte innere Bedingungen, 
z. B. bestimmte Konzentrationen und Zustände der beteiligten Körper 
hergestellt werden. Die Art der Reaktion des Kalıumbichromats 
mit dem Silbernitrat hängt aber von diesen inneren Bedingungen 
ab. Durch den Einfluss der Außenwelt können die inneren Be- 
dingungen, wie Konzentration der Lösungen, Festigkeit der Gelatine, 
örtliche Verteilung der beteiligten Körper, derart ausgestaltet werden, 
dass Abweichungen ın Form, Größe, Abstand u. s. w. der Zone 
zustande kommen. Größere Eingriffe der Außenwelt können größere 
Veränderungen der inneren Bedingungen veranlassen, welche ihrer- 
seits dazu führen, dass statt der Zonenbildung die Verwirklichung 
einer anderen Fähigkeit, z. B. die einer homogenen Ausfällung von 
Silbernitrat ohne jegliche strukturelle Differenzierung, erfolgt. Beim 
Liesegang’schen Phänomen ist demnach die Außenwelt in 
der Weise beteiligt, dass sie zeitlich vorher die für den 
Prozess notwendige Konstellation von inneren Bedin- 
gungen geschaffen hat. 

Wir haben bei den verhältnismäßig einfachen Fällen der Hexen- 
rıngbildung und der Liesegang’schen Zonenbildung gesehen, wie 
dıe Konstanz der äußeren Bedingungen eine innere, von der Außen- 
welt unabhängige Periodizität vortäuschen kann. Daraus ergibt 
sich, wie vorsichtig man bei der Beurteilung von periodischen Er- 
scheinungen sein muss. Es ist klar, dass bei komplizierten Fällen, 
wie sie bei den Organismen auftreten, die Analyse der Vorgänge 
eine viel schwierigere ist; hier hat die Forschung noch vieles auf- 
zuklären. Wenn unsere Kenntnisse noch nicht in allen Fällen aus- 
reichen, all die Vorgänge restlos aufzuklären, so bedeutet dies 
keinesfalls, dass wir zu der Annahme von inneren Gründen greifen 
müssen, was mit dem völligen Verzicht auf jegliche weitere For- 
schung auf diesem Gebiete gleichbedeutend wäre. Die vornehmste 
Aufgabe jeder theoretischen Anschauung von der Perio- 
diızität liegt aber gerade darin, zu neuen, für die weitere 
Forschung bedeutungsvollen Fragestellungen zu führen. 
Bei der Behandlung der periodischen Erscheinungen ist eine strenge 
Trennung der Begriffe erforderlich, denn wir haben gesehen, wie 
der Gebrauch eines Audruckes wie „Selbstdifferenzierung“ zu falschen 

XXXV. 29 


450 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


Vorstellungen führen kann. Eine Kritik der gebräuchlichen Aus- 
drücke und die nähere Definition einer konsequenten Nomenklatur 
werden wir ım folgenden Kapitel zum Gegenstand ausführlicher 
Erörterungen machen. 


VIII. Allgemeines über das Zustandekommen periodiseher 
Erscheinungen. Nomenklatur. 


Bei der Erforschung von periodischen Vorgängen hat man sıch 
bisher lediglich auf die Feststellung beschränkt, ob die Periodizität 
mit einem periodischen Wechsel der äußeren Bedingungen zu- 
sammenhängt oder ob der Vorgang auch bei völliger Konstanz der 
Außenwelt möglich ist. Im ersteren Falle spricht man mit Pfeffer 
(1904, S. 161 u. a. O.) von aitionomen oder aitiogenen, ım 
zweiten von autonomen oder autogenen Vorgängen; letztere 
beruhen auf „Selbstregulation“ oder „Selbstdifferen- 
zierung“. Pfeffer sagt (1904, S. 160—161): „Aufbau und Tätig- 
keit sind natürlich bei einem Organısmus, ebenso wie bei einem 
Mechanismus, von der Außenwelt abhängig und in beiden Fällen 
muss die Tätigkeit in etwas oder auch weitgehend modifiziert 
werden, wenn durch die Veränderung einer oder einiger Außen- 
bedingungen einer oder einige der inneren Faktoren in irgendeiner 
Weise (direkt oder indirekt) eine Verschiebung erfahren. Bei Kon- 
stanz der neuen Außenbedingungen ist aber die modifizierte und 
wie immer selbstregulatorisch gelenkte Tätigkeit wiederum das not- 
wendige Resultat aus den nun bestehenden inneren Konstellationen. 
Somit werden der Verlauf und der Ausfall der Tätigkeit immer 
durch die Eigenschaften des Organismus und Mechanismus bestimmt, 
oder wie man in bezug auf die Lebewesen und die Organe dieser 
auch sagen kann, durch die erblich überkommenen, die inhärenten 
Eigenschaften, oder was dasselbe sagt, durch die spezifische Organi- 
sation, durch den spezifischen Aufbau und die hiermit wechselseitig 
verknüpfte funktionelle Tätigkeit. Sofern also die Außenbedingungen 
konstant bleiben, ıst der bestimmte Verlauf der Ontogenese (und 
jeder anderen Tätigkeit) durch das selbstregulatorische innere Walten 
und Verstellen bedingt, und zur Kennzeichnung, dass dem so ist, 
dass also eine Veränderung in den Außenbedingungen nicht modi- 
fizierend eingreift, kann man unbedenklich, wie es üblich ist, von 
autonomem Schaffen und Walten und ın bezug auf die Leistungen, 
von Eigengestaltung, Automorphose, Selbstdifferenzierung, unab- 
hängige Differenzierung, Autoplasie, ferner von Autotropismus, 
Autonastie u. s. w. reden, obgleich es eine von der Außenwelt (von 
äußeren Faktoren) unabhängige Tätigkeit niemals gibt.“ Soweit 
durch die genannten Ausdrücke eben nur die Konstanz der äußeren 
Bedingungen, unter welchen der Vorgang stattfindet, hervorgehoben 
werden soll, ist gegen ihre Anwendung nichts einzuwenden. Allein 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 451 


es fragt sich, ob der Begriff autonom nur in diesem Sinne ange- 
wendet wird. Bei der Anwendung dieses Begriffes tritt in der Tat 
im allgemeinen die Bedeutung und Mitwirkung der Außenwelt voll- 
ständig in den Hintergrund; der Ausdruck besitzt heute zweifellos 
einen starken vitalistischen Beigeschmack. Mit dem Begriff autonom 
ist jedenfalls der Begriff der erblichen, inneren Notwendigkeit 
verbunden?’). Notwendig wäre eine Phase der Entwicklung nur 
dann, wenn sie bei jeder Konstellation der äußeren Bedingungen, 
die dem Organismus überhaupt das Leben ermöglicht, zustande 
käme. Unsere Auffassung geht dagegen in Übereinstimmung mit 
Klebs dahin, dass eine Entwicklungsphase nicht bloß sofern mit 
der Außenwelt in Beziehung steht, als sie nur im Zusammenhang 
mit der für das Leben des Organısmus notwendigen Außenwelt 
denkbar ist, sondern indem sie eine von den vielen von 
der spezifischen Struktur zulässigen Phasen ist, die ge- 
rade infolge der Einwirkung einer bestimmten Konstel- 
lation der Außenbedingungen zur Entfaltung kommt. 
Wäre der Wechsel in der Entwicklung eine notwendige Folge des 
normalen Entwicklungsganges, so müsste er gerade bei optimalen 
Lebensbedingungen auftreten; ferner müssten die optimalen Lebens- 
bedingungen der einen Phase auch für die anderen Entwicklungs- 
phasen optimalen Wert besitzen. Es trifft indessen beides 
nicht zu. So geht z. B. die von Klebs (1896. Vgl. ferner: Klebs, 
1904; 1913, S. 19—20) näher studierte Vaucheria repens bei Kultur 
unter einer konstanten, aber für das Wachstum keinesfalls opti- 
malen Konstellation der Außenbedingungen auf einmal, spontan aus 
dem vegetativren Wachstum zur Zoosporenbildung über, während 
sie bei wirklich optimalen Ernährungsbedingungen un- 
unterbrochenes lebhaftes Wachstum zeigt. Ferner ist allge- 
mein bekannt, dass die Optima der verschiedenen Entwick- 
lungsphasen keinesfalls zusammenfallen; wir wissen im 
Gegenteil, dass darin ein ausgesprochener Gegensatz besteht. Die 
für das vegetative Wachstum optimalen Außenbedingungen sind 
beispielsweise für das Eintreten des Fortpflanzungsstadiums nicht 
nur nicht optimal, sondern geradezu ungünstig. 

Dem Wechsel in der Entwicklung geht ein Wechsel 
ın den inneren Bedingungen voraus. Der Wechsel der 
letzteren wird durch die Außenwelt veranlasst; dabei ist 
es im Prinzip gleichgültig, ob die Außenwelt diese Ände- 
rung durch einen Wechsel ihrer Bedingungen, oder durch 





25) Dass die Annahme von der „Notwendigkeit“ der „autonomen“ Vorgänge 
tatsächlich allgemein verbreitet ist, geht schon aus dem Umstande hervor, dass man 
die Beweiskraft der in den Versuchen von Klebs erzielten Entwicklungsänderungen 
mit der Begründung anzweifelt, sie seien „anormal“, „unnatürlich“ oder gar 
„krankhaft“! 


29* 


452 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete, 


den konstanten Intensitätsgrad einiger derselben herbei- 
führt. Wie das zu verstehen ist, geht aus folgenden Erörterungen 
deutlich hervor: Die verschiedenen Außenbedingungen haben für 
die einzelnen Lebensprozesse der Pflanze eine verschiedene 
Bedeutung. -Wır können in dieser Hinsicht die äußeren Be- 
dingungen in bezug auf einen bestimmten Prozess in wesentliche 
und unwesentliche unterscheiden. Für einen bestimmten Prozess 
(z. B. die Assimilation) kann ein Außenfaktor (z. B. das Licht) der 
wesentlichste sein, der für einen anderen Prozess (z. B. die Atmung) 
gerade der unwesentlichste ist. Die verschiedenen Konstel- 
lationen der Außenfaktoren, welche einem Organismus ein 
allgemeines „Gedeihen“ gestatten, unterscheiden sich da- 
durch voneinander, dass sie die einzelnen Faktoren in ver- 
schiedenem Intensitätsgrad enthalten. Daraus ergibt siclhı, 
dass die verschiedenen Konstellationen der Außenfaktoren auch in 
verschiedenem Grade die einzelnen Prozesse beeinflussen, so dass 
jeder Konstellation der Außenwelt auch eine bestimmte 
Verschiebung in den inneren Bedingungen entspricht. 
Den Umfang und die Bedeutung dieser Verschiebungen kann man 
nur dann richtig einschätzen, wenn. man im Auge behält, dass die 
verschiedenen Lebensprozesse ın bezug auf das Endresultat in zwei 
Kategorien, nämlich in aufbauende und abbauende zerfallen. 
Das Verhältnis der inneren Bedingungen zueinander 
bleibt nur dann dauernd unverändert, wenn die Intensi- 
täten der verschiedenen Prozesse in einem bestimmten 
Verhältnis zueinander stehen; letzteres ıst nur dann der Fall, 
wenn auch die verschiedenen äußeren Bedingungen in 
einem entsprechenden, genau bestimmten Verhältnis 
miteinander kombiniert sind. Eine derartige Konstellation 
der Außenwelt besitzt in bezug auf die entsprechende Entwicklungs- 
phase den optimalen Wert. Der Wert der einzelnen äußeren Be- 
dingungen bezieht sich also nur auf die einzelnen Prozesse, nicht 
auf die Entwicklungsphasen: nur die Gesamtheit der Außen- 
bedingungen, d. h. ihre bestimmte Konstellation ist für 
die Entwicklung des Organısmus maßgebend. 

Wir kommen zu folgendem Schluss: Jede Entwicklungs- 
phase wird durch ein bestimmtes Verhältnis der inneren 
Bedingungen gekennzeichnet, und dieses Verhältnis muss 
unverändert bleiben, falls das Fortbestehen dieser Phase 
gewährleistet werden soll. Die Konstellation der Außenwelt, 
welche dieses Verhältnis der inneren Bedingungen aufrecht erhält, 
ist für die Phase die optimale. Die für die verschiedenen 
Entwicklungsphasen eines Organismus optimalen Konstel- 
lationen der Außenwelt sind voneinander verschieden. 
Bei konstanter Einwirkung einer optimalen Konstellation 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 453 


der Außenwelt kann ein Wechsel in der Entwicklung 
nicht eintreten. Wenn ein Vorgang periodisch verläuft, 
so kann dies als Beweis dafür angesehen werden, dass 
hier entweder die Außenwelt Schwankungen unterworfen 
ist, oder die konstante Konstellation der äußeren Be- 
dingungen keinen optimalen Wert besitzt. 


Die Außenwelt lenkt also in jedem Falle die Ent- 
wicklung des Organismus innerhalb der von der spezi- 
fischen Struktur gesteckten Grenze. Worin liegt dann aber 
der tiefere physiologische Unterschied zwischen autonomer und 
aitionomer Periodizität? Denn, dass ein Baum in den Tropen 
— angenommen bei völlig konstanten äußeren Bedingungen — 
periodisch wächst, ist nach unserer Auffassung nur ein Beweis 
dafür, dass diese Konstellation der Außenwelt keine optimale ist. 
Bei Herstellung der optimalen Konstellation muss auch diese Art 
kontinuierlich wachsen können. Anderseits muss es möglich sein, 
auch Arten, die keine „autonome“ Periodizität aufweisen, durch 
eine bestimmte, selbst konstante, aber ungünstige Konstellation der 
Außenbedingungen zum periodischen Wachstum zu veranlassen. 
Das wesentliche unserer Auffassung besteht darin, dass der Über- 
tritt eines Organismus von einer Phase in eine andere 
nicht als eine innere „Notwendigkeit“ angesehen wird; 
die Wendung in der Entwicklung entspricht vielmehr 
der Fähigkeit des Organismus, in dieser Weise auf die 
bestimmt geartete Außenwelt zu reagieren. Das, was ın 
der Natur vorkommt, ist ein spezieller Fall, dem in rein 
physiologischer Hinsicht keine Sonderstellung zukommt. 
Wenn eine Pflanzenart in einem speziellen Falle periodisch, eine 
andere unperiodisch wächst, so ist diesem Unterschiede im Prinzip 
keine weittragende physiologische Bedeutung beizumessen, da 
beide Arten in anderen Fällen sowohl periodisch wie unperiodisch 
wachsen können. 


Bei der Beurteilung eines Vorganges vom Standpunkt der bis- 
herigen Nomenklatur wird der Fehler begangen, dass dem Vor- 
gange je nach dem äußeren Schein ein anderer Maßstab 
angelegt wird. Bei der Betrachtung eines „autonomen“ Vor- 
ganges wird man durch den äußeren Schein dazu verleitet, das 
Hauptgewicht auf die spezifische Struktur zu legen, während 
bei „aitionomen“ Vorgängen in entsprechender Weise die Auf- 
merksamkeit auf die Außenwelt gelenkt wird. Physio- 
logische Begriffe dürfen aber nicht die Schale, sondern 
sollen den Kern treffen. In Wirklichkeit ist in beiden Fällen 
sowohl die spezifische Struktur wie auch die Außenwelt ın gleichem 
Maße beteiligt. 


454 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Wir gelangen somit in Übereinstimmung mit Klebs (vgl. 1904, 
S. 291) zu dem Schluss, dass die Begriffe „autonom, autogen, 
aitionom, aitiogen“, sowie die mit diesen zusammenhängenden 
„Selbstdifferenzierung, Selbstregulation“ u. dgl. zu verwerfen 
sind. Munk (1914) kommt auf Grund seiner beachtenswerten Er- 
örterungen zu demselben Schluss und schlägt vor, für die Unter- 
scheidung der periodischen Vorgänge, die mit einem Rhythmus der 
Außenwelt in Zusammenhang stehen, von solchen, die bei konstanter 
Außenwelt verlaufen, die Begriffe primärer und sekundärer 
Rhythmus einzuführen. Diese Begriffe sind in der Tat einwandfrei, 
da sie das, worauf es hier ankommt, bezeichnen und keinen An- 
haltspunkt zu Missverständnissen bieten. 

Aus der obigen Darstellung geht deutlich hervor, dass beı 
den periodischen Erscheinungen den inneren Bedin- 
gungen eine bedeutungsvolle Rolle zufällt. Dieselben sınd 
nach der Definition Klebs’ (vgl. Kap. Il) anders ausgestaltet als 
das, was man bisher darunter oder unter Innenwelt der Pflanze 
verstand. Die inneren Bedingungen sind stets getrennt 
von dem Begriff der erblichen spezifischen Struktur zu 
verstehen; ihr Hauptmerkmal: ist die Veränderlichkeit. 
Da wir von den inneren Bedingungen gegenwärtig nur äußerst 
mangelhafte Kenntnisse besitzen, so ist auch der genaue Nachweis 
ihrer Veränderungen während der Entwicklung des Organismus un- 
möglich. Darin liegt die Schwierigkeit für das Verständnis be- 
sonders derjenigen Fälle, welche den äußeren Schein einer „Auto- 
nomie* bieten. 

Um uns ein Bild von den inneren Veränderungen, welche bei 
der Entwicklung der Organismen stattfinden, zu verschaffen, müssen 
wir uns gegenwärtig darauf beschränken, Hypothesen aufzustellen, 
die geeignet sind, brauchbare Richtlinien für die weitere Erforschung 
der inneren Bedingungen zu liefern. Wir sind hier bei der Be- 
trachtung von Lebensprozessen stets vom Kausalprinzip ausgegangen 
und haben nur chemische und physikalische Gesetze als maßgebend 
anerkannt. Wir können uns auch tatsächlich nur unter Berück- 
sichtigung der Gesetze dieser Wissenszweige, insbesondere unter 
Anlehnung an die Forschungsergebnisse der physikalischen Chemie, 
eine brauchbare Vorstellung von den Veränderungen der inneren 
Bedingungen des sich entwickelnden Organismus machen. 

In der bisherigen Darstellung haben wir in Übereinstimmung 
mit Klebs den Standpunkt eingenommen, dass es sich bei der Be- 
einflussung der Entwicklung der Organismen durch die Außenwelt 
um Änderungen in dem Verhältnis der äußeren Bedin- 
gungen zueinander, d. h. um quantitative Veränderungen 
der Außenwelt handelt. In der Tat sprechen alle bisherigen 
Erfahrungen, insbesondere die ausgedehnten, planmäßig durch- 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 455 


geführten Untersuchungen Klebs’ zugunsten dieser Auffassung. In 
Anbetracht dieser Tatsache hat Klebs die Hypothese aufgestellt, 
dass auch die Veränderungen der inneren Bedingungen 
zunächst in Verschiebungen in ihrem quantitativen Ver- 
hältnis, und zwar vielfach in Änderungen der Konzen- 
trationsverhältnisse bestehen. Von dieser Hypothese haben 
wir schon vorhin stillschweigend Gebrauch gemacht. 

Die Hypothese von Klebs, dass für die Entwicklungsvorgänge 
in erster Linie Änderungen der Konzentrationsverhältnisse inner- 
halb der Zellen maßgebend sind, ist geeignet, uns ein annäherndes 
Bild von der Natur der inneren Vorgänge zu verschaffen. Schon 
früher hat Klebs (1904, S. 489) darauf hingewiesen, dass es bei 
der heutigen Sachlage berechtigt erscheint, „sich den neueren For- 
schungen der physikalischen Chemie über das bewegliche oder 
dynamische Gleichgewicht anzuschließen, dessen Bedeutung für die 
Lebensvorgänge von E. Du Bois Reymond, Ostwald, van’t 
Hoff hervorgehoben worden ist“. Seine früheren eingehenden Er- 
örterungen fasst Klebs’ in einer neueren Arbeit (1913, S. 41) 
folgendermaßen zusammen: „Wenn wir die lebende Zelle mit van't 
Hoff als ein dynamisches Gleichgewichtssystem auffassen, so müssen 
nach dem Massenwirkungsgesetz von Guldberg und Waage die 
chemischen Umsetzungen zwischen zwei oder zahlreicheren Kör- 
pern, wie sie in den Zellen sich vorfinden, von den beteiligten 
Massen, d. h. ihren Konzentrationen, abhängig sein. Von größter 
Bedeutung ist die Tatsache, dass durch Konzentrationsverhältnisse 
die Richtung der chemischen Prozesse bestimmt werden kann, da 
das gleiche Ferment sowohl Spaltungen als auch, bei einer gewissen 
Konzentration des Spaltungsproduktes, Synthesen hervorrufen kann. 
So liegt der Gedanke nahe, dass ın dem lebenden System der 
Zelle, wo beständig Änderungen der Konzentrationen erfolgen, 
Änderungen der Konzentrationsverhältnisse der ver- 
schiedenartigen Substanzen für die Entwicklungsvorgänge vielfach 
entscheidend sind.“ Zur Kennzeichnung des Wertes seiner Hypo- 
these fügt Klebs (1904, S. 500) hinzu: „Ich hebe sie* (d. h. die 
Konzentrationsverhältnisse) „hervor, nicht um damit zu sagen, sie 
seien die allein wesentlichen, sondern um an ihnen anschaulich zu 
machen, wie ein solches Verhältnis durch Steigerung oder Ein- 
schränkung der Nahrungsaufnahme, des Lichtes, des Sauerstoffs, 
der Temperatur geändert werden kann, wie anderseits durch Ände- 
rungen dieses Verhältnisses Intensität und Richtung der chemischen 
Prozesse verändert werden, die dann Änderungen der Imbibition, 
des osmotischen Druckes, der Oberflächenspannung u. s. f. bewirken. * 
Die Hypothese Klebs’ verdient beim Studium von periodischen 
Vorgängen die größte Beachtung. Gerade für das Verständnis des 
Wechsels von Wachstum und Ruhe ist die Berücksichtigung 


456 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


der Umkehrbarkeit der durch Fermente beschleunigten 
Prozesse bedeutungsvoll. 

In diesem Abschnitt habe ich versucht, die allgemeine Grund-. 
lage meines die ganze Arbeit beherrschenden Standpunktes darzu- 
legen. Meine Darstellung macht keinen Anspruch darauf, die Vor- 
gänge restlos aufzuklären; sie verfolgt vielmehr den Zweck, diejenigen 
Punkte hervorzuheben, welche für die Beurteilung von periodischen 
Erscheinungen von fundamentaler Bedeutung sind. Meine An- 
schauung beruht in Übereinstimmung mit Klebs auf der Erkenntnis, 
dass es die Außenwelt ist, welche in jedem Falle darüber 
entscheidet, welche von den vielen in der spezifischen 
Struktur des pflanzlichen Organısmus schlummernden 
Fähigkeiten zur Entfaltungkommt. Klebs sagt (1904, S. 298): 
„In der spezifischen Struktur der Pflanzen, in der alle sichtbaren 
Eigenschaften der Potenz nach vorhanden sind, liegt nichts, was 
einen bestimmten Entwicklungsgang notwendig verursacht. In letzter 
Hinsicht entscheidet die Außenwelt darüber, welche von den ver- 
schiedenen möglichen Entwicklungsformen verwirklicht wird.“ 

Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass die von 
verschiedenen Seiten immer wieder erfolgende Bekämpfung der 
eben dargelegten, von Klebs von jeher vertretenen Ansicht von 
der Bedeutung der Außenwelt, in den meisten Fällen auf Missver- 
ständnis beruht. Man begegnet nämlich vielfach dem direkten oder 
indirekten Vorwurf, als wenn Klebs alle Vorgänge allein durch die 
äußeren Bedingungen und unter völliger Außerachtlassung des 
Organismus selbst erklären wollte?°). Für denjenigen, der die 
inhalts- und gedankenreichen Arbeiten Klebs’ genau liest, muss es 
rätselhaft erscheinen, wie man einem solehen Missverständnis zum 
Opfer fallen kann. Denn Klebs hat stets hervorgehoben, dass die 
Entwicklung und Formung des Organismus unter der Mitwirkung 
der Außenwelt sich vollzieht. Die Fähigkeiten sind in der spezi- 
fischen Struktur festgelegt, allein sie können nicht von selbst, sozu- 
sagen durch den „Willen“ des Organismus selbst zur Entfaltung 
gelangen; diese Entscheidung und nur diese fällt der Außenwelt 
zu. Die Anschauung Klebs’ wird in den meisten Fällen dadurch 





26) Hierher gehören auch die vielfach unternommenen Versuche, einen Mittel- 
weg zwischen den Anschauungen Klebs’ und Schimper’s anzubahnen. In einer 
Arbeit über die Wasserökonomie der in der Trockenzeit kahl stehenden tropischen 
Bäume sagt Kamerling (1913, S. 332): „Am wahrscheinlichsten scheint es mir 
allerdings, dass, was die periodischen Erscheinungen in der tropischen Flora betrifft, 
die Wahrheit in der Mitte liegt zwischen der von Schimper verteidigten Auf- 
fassung einer von äußeren Einflüssen unabhängigen Periodizität und der von Klebs 
vertretenen Anschauung, dass die periodischen Erscheinungen in den Tropen aus- 
schließlich dureh die Periodizität des Klimas bestimmt sein sollen.“ Auch die Er- 
örterungen Simon’s (1914) am Ende seiner Arbeit (S. 154) bedeuten einen ähnlichen 
Versuch. Vgl. hierzu die Ausführungen von Munk, 1914, S. 632. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 457 


missverstanden, dass man entweder die inneren Bedingungen mit 
der spezifischen Struktur verwechselt oder vollständig übersieht, 
dass nach der Auffassung Klebs’ die äußeren Bedingungen nicht 
direkt die spezifische Struktur, sondern zunächst die inneren Be- 
dingungen beeinflussen. 


IX. Zustandekommen und Natur der jährlichen Periodizität. 
Theoretische Betrachtungen und Schlussfolgerungen. 

Die in den früheren Kapiteln erörterten Erfahrungen und Ver- 
suche führen uns zu dem Schluss, dass die in einem rhyth- 
mischen Wechsel von Wachstum und Ruhe bestehende 
jährliche Periodizität keine notwendige, in der spezi- 
fischen Struktur der Pflanze begründete und von dieser 
unter allen Umständen vorgeschriebene Erscheinung ist. 
Das zeitweise Aussetzen des Wachstums, die Ruhe, ıst vielmehr 
eine Folge der Einwirkung einer bestimmt gearteten 
Außenwelt: Die Pflanze hat die Fähigkeit sowohl zu 
wachsen, wie auch zu ruhen; welches von beiden jeweils 
eintritt, darüber entscheidet nicht die Pflanze selbst, sondern 
die Außenwelt. Wir haben in der Tat gesehen, dass es schon 
in zahlreichen Fällen in der Hand des Versuchsanstellers liegt, 
Wachstum oder Ruhe herbeizuführen. Wir wollen jetzt an der 
Hand eines typischen Beispieles die Verhältnisse näher betrachten. 
Als solches Beispiel kann die in der Natur typisch periodisch 
wachsende Buche dienen, welche in bezug auf ıhr Verhältnis zur 
Außenwelt dank den Untersuchungen von Klebs (1914) am besten 
bekannt ist. 

Durch die Versuche von Klebs wurde festgestellt, dass das 
Austreiben der Buche in erster Linie vom Lichtfaktor, und zwar 
von der Lichtmenge (Intensität X Dauer) abhängt. Durch kon- 
tinuierliche elektrische Beleuchtung konnten die Ruheknospen der 
Buche zu jeder Zeit zum Austreiben veranlasst werden. Bei ge- 
eigneter Kultur im elektrischen Lichtraum folgt dem Austreiben 
nicht die sonst in der Natur auftretende Bildung von Ruheknospen, 
welche durch geringes, mit der Knospenschuppenbildung verknüpftes 
Wachstum gekennzeichnet ist; die Vegetationspunkte gehen 
vielmehr ohne Unterbrechung zur Bildung neuer Laub- 
blätter über. Daraus ergibt sich die Haltlosigkeit der 
von verschiedenen Seiten verteidigten Annahme, dass 
die für viele Pflanzenarten charakteristische .stoßweise 
Blattentfaltung eine Arteigentümlichkeit sei, welche 
schlechthin das Vorhandensein einer notwendigen 
inneren Periodizität beweise””). Das, was die spezifische 

27) So sagt z.B. Simon (1914, S. 182): „Die Annahme, dass der geschilderte 
Vegetationsrhythmus auf irgendwelche äußere Faktoren zurückzuführen ist, würde 


458 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Struktur der verschiedenen Arten kennzeichnet, ist das 
verschiedene Verhältnis zur Außenwelt. Die Buche findet 
eben in der Natur diejenige Kombination der Außen- 
faktoren vor, welche eine stoßweise Entwicklung not- 
wendig herbeiführt. Besonders lehrreich ist der Umstand, dass 
bei den Versuchen Klebs’ die einzelnen Triebe der Buche 
kein gleichmäßiges Verhalten zeigten, sondern sämtliche 
Übergänge vom Granscı nn bis zum typisch 
periodischen Wachstum aufwiesen. Diese Verschiedenheiten 
kommen durch die besondere Lage der einzelnen Zweige am Baum 
zustande; je nach der Lage ıst auch der Ernährungszustand, der 
Lichtgenuss sowie der Zufluss von aufgespeicherten Nährstoffen, 
von Wasser und Nährsalzen ein verschiedener. Klebs unterscheidet 
drei Haupttypen: 1. Langanhaltendes ununterbrochenes Wachstum. 
2. Periodisches Wachstum ohne ausgesprochene Ruheperiode, wobei 
keine typischen Ruheknospen, sondern neue Laubblattanlagen ge- 
bildet werden, welche bei unmittelbar folgender Streckung zu einem 
zweiten Schub (zweite Treibperiode) sich entwickeln. 3. Periodisches 
Wachstum mit typischer Ruheknospenbildung; die Ruheperiode ist 
aber auch hier von kurzer Dauer. Durch die Kultur im Lichtraum 
gelang es somit Klebs, an ein und demselben Individuum 
genau dieselben Haupttypen der Entwicklung zu erzielen, 
die in der Natur bei einheimischen und tropischen Baum- 
arten überhaupt vorkommen. Die einzelnen Formen des 
Treibens und der Knospenbildung sind also keine Art- 
charaktere in dem Sinne, dass sie für die betreffenden Arten die 
einzig möglichen sind; der Artcharakter besteht nur darin, dass 
unter bestimmten äußeren Bedingungen bei der einen Art diese, 
bei den anderen jene Form des be bezw. der Knospenbildung 
verwirklicht wird. 

Für die Beurteilung der bei der Buche obwaltenden Verhält- 
nisse ist ein tieferer Einblick in die Natur der Lichtwirkung bei 
dieser Baumart erforderlich. Klebs gelang es zwar nicht, dieselbe 


Aeiehzähe die Voraussetzung in sich schließen, dass die Pflanzen die Fähigkeit 
besitzen, unter normalen Bedingungen dauernd zu wachsen. Eine Betrachtung der 
Örganisationsverhältnisse der Sprosse der meisten tropischen Baumarten zeigt aber, 
dass dies offenbar nicht der Fall ist. Denn die Mehrzahl der Bäume besitzt sogen. 
begrenzte Knospen und nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Arten hat unbe- 
grenzte Knospen. Diese Tatsache bringt es mit sich, dass die ersteren Arten von 
vornherein nicht kontinuierlich, sondern, wie dies Volkens’ so eingehend dargelegt 
hat, schubweise treiben.“ Wir sehen also auch hier, dass zur Beurteilung von 
periodischen Erscheinungen die bloße Betrachtung der Organisationsverhältnisse nicht 
genügt, denn es fehlt eben der Beweis, dass diese Organisationsverhältnisse unter 
allen Umständen von der spezifischen Struktur unzertrennlich sind. Nur der Ver- 
such kann sicheren Aufschluss geben. Wir haben übrigens schon früher (S. 426, 427) 
gesehen, dass die typische stoßweise Blattbildung aufweisenden T’heobroma und 
Sterculia bei geeigneter Kultur zur sukzessiven Blattbildung übergehen. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 459 


mit Sicherheit festzustellen, aus seinen Versuchen geht aber hervor, 
dass es sich hierbei nicht um photokatalytische Vorgänge 
handeln kann. Die Beobachtungen und Versuche von Klebs 
sprechen eher dafür, dass die Wirkung des Lichtes in der Kohlen- 
säureassimilation liegt; dabei ist aber nicht an die Kohle- 
hydrate, sondern an die allerersten Produkte der Assımi- 
lation, namentlich die Aldehyde zu denken, welche für die 
Synthese höherer Stickstoffverbindungen von Bedeutung sind. Diese 
Hypothese findet eine Stütze ın dem Ergebnis der chemischen 
Analyse, welche für die Knospen der Buche eine auffallend geringe 
Menge von löslichen organischen Stickstoffverbindungen ergab. Ander- 
seits konnte durch die Gasanalyse festgestellt werden, dass unter 
den Bedingungen des elektrischen Lichtraums die Ausscheidung von 
Kohlensäure durch die Atmung stärker ist als die Bildung von ihr 
durch die Assimilation. Die für das Wachstum der Buche günstige 
Wirkung des elektrischen Liehtraumes ist demnach ın zwei Rich- 
tungen zu suchen. Erstens ermöglicht die ständige Belichtung die 
Bildung gewisser Substanzen (wahrscheinlich Eiweißstoffe), welche 
für das Wachstum unentbehrlich sind: die Bildung dieser Stoffe 
ist bei der Buche vom Licht abhängig. Zweitens lässt die Inten- 
sıität des Lichtes im elektrischen Raum eine nur geringe assimila- 
torische Tätigkeit zu, so dass eine Anhäufung von organischer 
Substanz über das für das Wachstum günstige Maß nicht 
eintritt. Aus den bisherigen Erfahrungen geht unzweifelhaft her- 
vor, dass für das Wachstum eın bestimmtes Konzen- 
trationsverhältnis zwischen organischer Substanz und 
Nährsalzen maßgebend ist; letztere müssen die Oberhand über 
die Assimilate behalten. Die Kohlenstoffassimilate werden bei einem 
Baum außer durch die assımilatorische Tätigkeit im Jacht, auch 
seitens der aufgespeicherten Vorräte geliefert. Die Umstände, welche 
einen Buchentrieb zur Ruhe zwingen, können daher (vgl. Klebs, 
1914, S. 68—69) folgende sein: 1. Eine zu geringe, für die Bildung 
der oben besprochenen wachstumsfördernden Substanzen unge- 
nügende Lichtmenge, trotz des Vorhandenseins des für das Wachs- 
tum günstigen Konzentrationsverhältnisses zwischen organischer 
Substanz und Nährsalzen. Dieser Fall tritt ein, wenn eine treibende 
Buche im Winter aus dem elektrischen Raum in das Gewächshaus 
bei Tageslicht überführt wird. 2. Eine absolut ungenügende Nähr- 
salzzufuhr bei genügender Lichtmenge und reichlicher Assimilation. 
Dieser Fall tritt ein, wenn z. B. eine Buche längere Zeit hindurch 
in einem kleinen Topf kultiviert wird. 3. Eine zwar an sich reich- 
liche, aber im Verhältnis zu der sehr intensiven Kohlen- 
säureassimilation doch noch zu geringe Nährsalzzufuhr. 
Dieser Fall tritt in der Natur stets ein, wenn die Buche ım Mai 
nach dem ersten 'Treiben trotz günstiger Bodenverhältnisse sofort 


460 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


zur Bildung von Ruheknospen übergeht. Klebs erblickt hierin 
mit Recht eine Folge der zu intensiven Assimilation. Die 
durch die Wurzeln aufgenommenen Nährsalze werden von den neu- 
entstandenen Blättern und von dem in Tätigkeit getretenen Kam- 
bıum dermaßen in Anspruch genommen, dass sie im Verhältnis zu 
der reichlichen Assimilation in ungenügenden Mengen zu den Vege- 
tationspunkten zuströmen; das für das Wachstum notwendige 
Konzentrationsverhältnis zwischen Assımilaten und 
Nährsalzen wird nicht hergestellt, das Wachstum wird 
unmöglich gemacht. Wenn die Auffassung richtig ist, so müsste 
jede Herabsetzung der Assimilation neues Wachstum zur Folge 
haben. Eine Verdunklung ist bei der Buche nicht anwendbar, da 
dann der erste Hemmungsfall eintritt. Die Herabsetzung der Assi- 
milation kann aber dadurch erreicht werden, dass die Pflanzen 
einer verminderten Lichtintensität ausgesetzt werden. Das ist 
nun tatsächlich ım elektrischen Lichtraum der Fall, wo, 
wie wir oben gesehen haben, die Assimilation geringer ist als die 
Atmung, so dass ein wachstumshemmender Überschuss von 
Assımilaten nicht eintritt. -Anderseits altern die Blätter bei 
der beständigen Inanspruchnahme im elektrischen Lichtraum schneller 
und fallen frühzeitig ab, so dass dadurch auch größere Mengen von 
Nährsalzen verfügbar werden. Auf diese Weise wird das für das 
Wachstum günstige Verhältnis zwischen Nährsalzen und Assimi- 
laten hergestellt. Noch leichter und gründlicher wird dieses 
Verhältnis durch Entblätterung herbeigeführt, wobei die Assımi- 
lation völlig ausscheidet und die älteren Blätter als 
Nährsalzverbraucher ganz ın Wegfall kommen. Wir haben 
ja ın der Tat schon gesehen, dass die Entblätterung im Sommer 
stets erneutes Treiben veranlasst (vgl.S.419). 4. Mangel an Assımilaten 
bei ungenügender Assıimilation trotz großer Liehtmenge. Dieser Fall 
tritt z. B. schließlich im elektrischen Lichtraum ein, wenn nach 
langanhaltender Kultur die Reservestoffvorräte er- 
schöpft werden, da hier der Verbrauch von organischer Substanz 
durch die Atmung größer ist als die Erzeugung durch die Assi- 
milatıon. 

Diese Resultate der Klebs’schen Untersuchungen verschaffen 
uns völliges Verständnis für das Verhalten der Buche. Eın unbe- 
srenztes kontinuierliches Wachstum wird also beı der 
Buche möglich sein, sobald es gelingt, die Intensität des 
Lichtes im elektrischen Raum so weit zu erhöhen, dass 
die Bildung von organischer Substanz durch die Assımi- 
lation den Verbrauch durch die Atmung um so vieles 
übertrifft, als es gerade für das Wachstum bei mangeln- 
den Reservestoffvorräten erforderlich ıst. Anderseits muss 
an den schon erwähnten Umstand erinnert werden, dass nämlich 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 461 
in einem konstant gehaltenen Raum keinesfalls sämtliche Vege- 
tationspunkte eines Baumes in gleicher Weise im Genuss der äußeren 
Faktoren sich befinden. Die Belichtung der mitten in der Krone 
befindlichen Vegetationspunkte ist schwächer als die der Peripherie; 
die Lage am Baum ist außerdem auch für die Nährsalzversorgung 
nicht gleichgültig. Daraus entstehen Verschiedenheiten, welche mit 
der Vergrößerung des Umfanges des Baumes immer mehr verstärkt 
werden, Die verschiedenen Triebe müssen schließlich — ähnlich 
wie bei den Tropenbäumen — ein abweichendes Verhalten zeigen, 
was auch tatsächlich bei den Versuchen von Klebs vielfach der 
Fall war. Das periodische Verhalten der Buche in der 
Natur, wo nicht nur die Temperatur, sondern vor allem 
auch die Lichtmenge größere Veränderungen aufweist, 
erscheint uns Jetzt durchaus verständlich°°). 

Aber noch ein weiterer Punkt in dem periodischen Verhalten 
der Buche bedarf der Aufklärung. Bisher haben wir nur die Frage 
behandelt, welche Momente für die Unterdrückung des Wachstums, 
für den Eintritt der Ruhe maßgebend sind. Jetzt wollen wir unsere 
Aufmerksamkeit der Frage zuwenden, warum die einmal ausge- 
bildeten Ruheknospen auch nach Herstellung günstiger äußerer Be- 
dingungen nur schwer und langsam aus dem Ruhezustand zu bringen 
sind. Wir haben ‚zwar schon gelegentlich von Hemmungen ge- 
sprochen, welche die Ruheorgane kennzeichnen, doch sind wir nicht 
näher auf die Natur und das Zustandekommen dieser inneren Hem- 
mungen eingegangen. Dieser Frage kommt die größte Bedeutung 
zu, da gerade diese Beharrlichkeit der Ruhe einen der wichtigsten 
Charaktere der typisch periodischen Organe darstellt. 

Ein Baum, der ın den Ruhezustand übergeht, kann zunächst 
noch leicht zum erneuten Wachstum veranlasst werden; wir wissen 
auch tatsächlich, dass die Bäume ın diesem Stadium, im Sommer 
bis Herbst, schon durch einfache Entblätterung zum neuen Treiben 
zu bringen sind. Sind aber die Ruheknospen einmal vollständig 
ausgebildet, so ist auch der Ruhezustand derart befestigt, dass nur 
schwierig und unter Anwendung gewaltsamer Mittel Wachstum 
hervorgerufen werden kann. Später werden die inneren Hemmungen 
allmählich beseitigt und die Treibfähigkeit der Knospen nimmt zu. 
Diese drei Phasen hat Johannsen als Vorruhe (abnehmende 
Treibfähigkeit), Mittelruhe (fehlende Treibfähigkeit) und Nach- 
ruhe (zunehmende Treibfähigkeit) bezeichnet?®). Das Vorhanden- 


28) Eine nähere Darstellung des natürlichen Verhaltens der Buche bei Klebs, 
1914, S. 75 (wiedergegeben bei Lakon, 1915, S. 90). 

29) Vgl. Johannsen: „Ruheperioden“ (im Handwörterb. d. Naturw. VIII, 
S. 514—519), S. 518. — Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass die 
Darstellung Johannsen’s an der zitierten Stelle kein klares, einheitliches Bild von 
den die Ruhezustände betreffenden Fragen liefert. Einige der darin ausgesprochenen 


462 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


sein der Mittelrube ım Sinne Johannsen’s, d. h. als fehlende 
Treibfähigkeit, hat Klebs in Zweifel gezogen (1914, S. 39); ich 
stimme darin Klebs völlig bei. Es handelt sich wohl um grad- 
weise Unterschiede in den vorhandenen Hemmungen, die allmäh- 
lich bis zu einem Maximalwert zunehmen, um dann allmählich ab- 
zunehmen. Schon die Versuche mit meinem Nährsalzverfahren 
(Lakon, 1912) haben doch ergeben, dass von einer fehlenden Treib- 
fähigkeit während der Mittelruhe keine Rede sein kann. Klebs 
(1914) hat gezeigt, dass selbst die die schwersten Hemmungen 
zeigende Buche das ganze Jahr hindurch treibfähig ist. Nur die 
Dauer der Belichtung, welche für das Austreiben der Buche not- 
wendig ist, ist zu den verschiedenen Jahreszeiten, je nach den vor- 
handenen Hemmungen, verschieden. Klebs (1914, S. 38) konnte 
folgende Verhältnisse feststellen: 
Die für das Austreiben der Buchenknospen notwendige Be- 

leuchtungsdauer betrug 

Anfang September 10 Tage, 

Ende September 23 


Pr] ’ 
inde Oktober 33 ap 
Im November 38—36 „ 
Ende Dezember 26 ak 
Mitte Februar 14 
Ende Februar 10 Fa 
Anfang März te) Ark 


Wir sehen also, dass die verschiedenen Ruhephasen nur durch 
den Umfang der vorhandenen Hemmungen gekennzeichnet sind. 
Wenn wir uns nunmehr fragen, welcher Natur diese Hemmungen 
sind, so können wir zunächst feststellen, dass sie unter den Be- 
griff der „inneren Bedingungen“ fallen. Anstatt „innere 
Hemmungen können wir also noch besser „für das Wachstum 
ungünstige innere Bedingungen“ sagen. Die Natur derselben 
kennen wir nicht näher; wir sind vielmehr auf hypothetische Vor- 
stellungen angewiesen, die indessen heute auf einer reellen Grund- 
lage beruhen und für die weitere Forschung eine nicht zu unter- 
schätzende Bedeutung besitzen. Wir haben schon früher gesehen, 
dass die Untersuchungen von Klebs die Annahme wahrscheinlich 
machen, dass die für die Entwicklung bedeutsamen Veränderungen 
der inneren Bedingungen ın Veränderungen der Konzentrations- 
verhältnisse innerhalb der Zellen bestehen. Anderseits haben wir 
schon angenommen, dass für den Eintritt der Ruhe bei der Buche 
Ansichten scheinen mir sehr angreifbar. Das gilt insbesondere von dem „die Ur- 
sachen der Ruhe‘ behandelnden Abschnitt. Das wenige, was über die Samenruhe 
gesagt wird, ist nicht glücklich gewählt. Bezüglich der Keimung der Samen von 
Fraxinus excelsior, die in dem Artikel berührt wird, scheint Johannsen meine 


Untersuchungen (Lakon, Zur Anatomie und Keimungsphysiologie der Eschensamen. 
Naturw. Zeitschr. f. Forst- u. Landw. IX, 1911, S. 285--298) nicht zu kennen. 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 463 


das Konzentrationsverhältnis zwischen Kohlenstoffassimilaten und 
Nährsalzen maßgebend ist. Klebs hat nun die Hypothese aufge- 
stellt, dass diese Überanhäufung von organischer Sub- 
stanz in den Knospen, eine Inaktivierung der Fermente 
zur Folge haben kann, so dass die nachträgliche Überführung 
dieser Reservestoffe in gebrauchsfähigen Zustand bei Herstellung 
günstiger äußerer Bedingungen nur langsam möglich ist. Klebs 
hat seine Hypothese folgendermaßen formuliert (1911, S. 47): „Eine 
relativ feste Ruheperiode tritt ein, wenn durch Verminderung eines 
oder mehrerer wesentlicher Faktoren, Temperatur, Feuchtigkeit, 
Nährsalzgehalt, die Wachstumstätigkeit allmählich eingeschränkt 
wird und bei anfangs noch fortdauernder Assimilationstätigkeit die 
Speicherung organischen Materials die Fermente imaktıv macht.“ 
Da die Anhäufung organischer Substanz ın den Ruheknospen tat- 
sächlich stattfindet, anderseits die Inaktivierung von Fermenten in- 
folge der Anhäufung der Produkte ıhrer Tätigkeit eine allgemeine 
Erscheinung ist, so ist die Hypothese wohl begründet, wenn auch 
der Nachweis fehlt, dass die beiden Vorgänge hier ın dem besagten 
Zusammenhang stehen. Die beste Stütze dieser Hypothese besteht 
aber in der Tatsache, dass dieselbe alle mit der Periodizität in Zu- 
sammenhang stehenden Erscheinungen zu erklären vermag. 

Wenn wir von der besonderen Wirkung des Lichtes bei der 
Bildung wachstumsfördernder Substanzen bei der Buche absehen’°"), 
so haben wir im allgemeinen bei den Pflanzen eine gleichsinnige 
Beeinflussung der Entwicklung durch die ın der Natur in verschie- 
dener Intensität anzutreffenden äußeren Faktoren, nämlich die 
Temperatur, das Licht, den Wassergehalt der Luft und 


Ulfe: 


des Bodens, und den Nährsalzgehalt des letzteren. Diese 
Faktoren beeinflussen jeder für sich ın verschiedenem Grade das 
Wachstum und die wichtigen Lebensprozesse, wie die Atmung, die 
Assımilation, die Transpiration. Die Bedeutung des Lichtes als 
Hauptbedingung der Assımilation ist zwar bisher stets gewürdigt 
worden, doch hat man nicht daran gedacht, dass auch eine zu 
lebhafte Assımılation unter Umständen zu Ruhezustän- 
den führen kann. Aus dem bisher besprochenen geht aber her- 
vor, dass es sich hierbei nıcht um die absolute Menge der 
Kohlensäureassimilate, sondern um das Verhältnis der- 
selben zu den verfügbaren Nährsalzen handelt. Daraus 
geht hervor, welch große Bedeutung für die Entscheidung über 
Wachstum und Ruhe den Nährsalzen zukommt. Diese Bedeutung 
der Nährsalze wurde zuerst von Goebel (1893, S. 359—361) bei 





30) Die Versuche von Klebs (1914b, S. 91—95) mit Quercus pedunculata, 
Fraxinus excelsior, Carpinus betulus ergaben, dass bei den beiden erstgenannten 
Arten das Licht keine besondere Wirkung ausübt. Nur bei der Hainbuche konnten 


Anzeichen einer solchen Wirkung beobachtet werden. 


464 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 


Wasserpflanzen erkannt und experimentell nachgewiesen. Goebel, 
der ın seinen bekannten Werken die Abhängigkeit der Entwick- 
lung der Pflanze von der Außenwelt stets betont hat, weist an der 
zitierten Stelle nach, dass die Bildung der Winterknospen bei 
Myriophyllum vertieillatum vom Nährsalzgehalt des Kulturwassers 
abhängt. Die Pflanze geht bei Kultur in einem Gefäß ohne Erde 
stets zur Bildung von Winterknospen über und zwar auch zu einer 
Jahreszeit, in welcher sie bei Kultur mit Erde keinerlei Anstalten 
zur Winterknospenbildung macht. Goebel fasst die Resultate 
seiner Versuche treffend in einem Satze zusammen, der zugleich 
den richtigen Gesichtspunkt für die Beurteilung periodischer Er- 
scheinungen abgibt; er sagt (l. c., S. 360): „Man kann also durch 
Hungern Myriophyllum zu jeder Jahreszeit zur Winterknospen- 
bildung bringen, es ist dies die Form, ın welcher die Pflanze 
auf ungünstige äußere Faktoren reagiert.“ Dass aber für 
die Bildung von Überwinterungsorganen die assimilatorische Tätig- 
keit notwendig ist, d.h. dass das „Hungern“ nur die anorganische 
Nahrung betrifft, geht aus folgender Angabe Goebel’s (l. c., S. 361) 
hervor: „Andererseits haben Pflanzen, die an stark beschatteten 
Standorten wachsen, eine zu geschwächte Assımilationstätigkeit, um 
die — normal mit Stärke vollgepfropften — Winterknospen bilden 
zu können. Sıe gehen dann durch die Kälte zugrunde, entweder 
alle oder die überwiegende Mehrzahl derselben. Es sind also zweierlei 
Vorgänge bei der Überwinterung unserer Wasserpflanzen zu unter- 
scheiden, einfache Hemmung der Entwicklung und Ausbildung be- 
sonderer Überwinterungsprozesse.“ Beachtenswert ist, dass die 
durch Nährsalzmangel künstlich erzeugten Winterknospen ebenso 
wie die in der Natur gebildeten eine Ruheperiode aufweisen, die 
auch nach Herstellung günstiger Wachstumsbedingungen nicht zu 
beseitigen ist (Goebel, ]l.c., S. 360), was mit unseren Erfahrungen 
über die Ausgestaltung der inneren Bedingungen bei ausgebildeten 
Überwinterungsorganen in vollem Einklang steht. Für die Bäume 
hat zuerst Berthold (1904, S. 242) die Vermutung ausgesprochen, 
dass „der Mangel an Salzen ın erster Linie entscheidend ıst für 
das Aufhören des Wachstums an der Spitze“. Aber erst Klebs 
(1911) war es vorbehalten, die Wirkung der Nährsalze bei tropischen 
Pflanzen näher darzulegen. Durch meine Versuche (Lakon, 1912) 
wurde dann das Ergebnis der Klebs’schen Untersuchungen be- 
stätigt und seine Gültigkeit für die einheimischen Pflanzen bewiesen. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass allgemein bei den Pflanzen 
das Verhältnis der Assimilate zu den Nährsalzen in bezug 
auf Wachstum oder Ruhe entscheidend sein kann. Das 
für das Wachstum günstige Konzentrationsverhältnis muss für jede 
Pflanzenart ein bestimmtes sein. Eine Verschiebung in diesem 
Konzentrationsverhältnis, welche das Aufhören des Wachstums zur 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 465 


Folge hat, kann auf zweifache Weise herbeigeführt werden, näm- 
lich entweder durch die einseitige Erhöhung der Assimilate oder 
durch die einseitige Erniedrigung der Nährsalze. Wir können daher 
sehr gut verstehen, dass sowohl Erhöhung der assımila- 
torıschen Tätigkeit durch intensive Belichtung, wie Er- 
schöpfung des Nährsalzgehaltes des Bodens dieses Miss- 
verhältnis und somit den Ruhezustand herbeiführen kann. 
Anderseits ist es klar, dass die Verminderung der Lichtintensität 
nicht unter ein Minimum sinken darf, falls Wachstum herbeigeführt 
werden soll, denn auch dort, wo keine besondere Wirkung des 
Lichts vorliegt, ıst auf die Dauer und nach Erschöpfung der Reserve- 
stoffe für die Bildung der für das Wachstum notwendigen orga- 
nischen Baumaterialien eine gewisse assimilatorische Tätigkeit Vor- 
bedingung (vgl. das über Albixxia gesagte, S. 426). Sehr bemerkens- 
wert ist ın diesem Zusammenhang die schon erwähnte (S. 428) Tat- 
sache, dass das Verhältnis einer Pflanze zu der gleichen 
Lichtmenge je nach der Nährsalzzufuhr sichändern kann. 

Wenn wir uns jetzt fragen, welche Umstände die Nährsalz- 
zufuhr beeinflussen, so können wir feststellen, dass hierbei -— ab- 
gesehen von den Veränderungen des Bodens, seiner Erschöpfung 
durch die Tätigkeit der betreffenden Pflanze selbst oder ihrer Kon- 
kurrenten — auch andere Prozesse von Einfluss sein können, wie 
z. B. die Transpiration, welche ihrerseits von der Temperatur, vom 
Licht, von der Luftfeuchtigkeit und von der Luftbewegung abhängt. 
Der Nährsalzgenuss eines bestimmten Vegetationspunktes hängt 
aber anderseits ab von dem Verbrauch der Nährsalze an anderen 
Stellen des Pflanzenkörpers, nämlich an den übrigen Vegetations- 
punkten oder am Kambium; d.h. er wird durch die Konkurrenz 
mit anderen Verbrauchszentren reguliert. 

Die Anhäufung von Assimilaten hängt ebenso nicht nur von 
der Intensität der Assimilation ab (unveränderter CO,-Gehalt der 
Luft vorausgesetzt), sondern auch von der Höhe des Verbrauchs, 
besonders von der Intensität der Atmung, die gleichfalls ihrerseits 
von den Außenbedingungen beeinflusst wird, wie z. B. durch die 
Temperatur, den Wassergehalt u. s. w. Die genaue Verkettung 
aller dieser Einzelprozesse kann man kaum in jedem Einzelfall ver- 
folgen, allein das Resultat, d. h. das Konzentrationsverhältnis der 
Assımilate zu den Nährsalzen können wir auf Grund von Versuchen 
doch ungefähr einschätzen. Denn, wenn die verschiedenen Ver- 
suchspflanzen Klebs’ je nach der willkürlich regulierten Nährsalz- 
menge zum Wachstum oder zur Ruhe gebracht werden, so muss 
eben die Nährsalzmenge den Ausschlag gegeben haben°'). So sahen 








31) Die Bedeutung der Nährsalze für die Periodizität ist durch die neueren 
Versuche von Klebs vollständig sichergestellt. Eine Zurückweisung der Einwände 
von Jost bei Lakon, 1913, S. 47, Anm., und Klebs, 1915, S. 789ff. 

XXXV. 30 


466 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


wir (S. 427), dass Sterculia macrophylla in einem Topf mit be- 
grenzter Erdmenge im Laufe der Jahre immer längere Ruheperioden 
aufwies. Püthecolobium Saman (S. 427) konnte durch künstliche 
Regulierung der Nährsalze jederzeit willkürlich zum Wachstum oder 
zur Ruhe überführt werden. Der Lichtfaktor und demnach auch 
die Intensität der Assimilation blieb dabei unverändert. 

Die Festigkeit der Ruhe der typischen Ruheorgane haben wir 
vorhin nach der Hypothese von Klebs mit einer infolge der An- 
häufung der Assimilate eintretenden Inaktivierung der Fermente in 
Zusammenhang gebracht. Es ist klar, dass diese Festigkeit 
desto größer ist, je länger die Bedingungen, welche die 
Anhäufung verursachen, eingewirkt haben. Nachdem die 
Anhäufung der Assimilate durch das Aufhören der Assimilation 
— und zwar entweder infolge ungenügenden Lichtgenusses, oder 
durch das Eingreifen anderer, den Prozess beeinträchtigender Fak- 
toren (z. B. zu niedrige Temperatur), oder durch das Absterben 
bezw. Abfallen der Blätter bezw. den Verlust ihrer assimilatorischen 
Fähigkeit — beendigt wırd, verfügen die Ruheorgane nur über 
Stoffe in nicht oder nur schwer diffusionsfähiger Form, so dass die 
einfache Herstellung günstiger Wachstumsbedingungen keinesfalls 
sofortiges Austreiben herbeiführen kann. Auf diese Weise ver- 
stehen wir, warum bei schon ausgebildeten Ruheknospen oder 
sonstigen Ruheorganen die Ruhe schwer zu beseitigen ist. Während 
der Ruheperiode, wo die Atmungsprozesse und sonstige innere Um- 
wandlungen weiter gehen, findet eine allmähliche Aktivierung der 
Fermente statt, welche die Überführung der Reservestoffe in die 
gebrauchsfähige Form ermöglichen. Deswegen ıst bei der „Nach- 
ruhe“ ähnlich wie bei der „Vorruhe“ das Austreiben leichter als 
während der „Mittelruhe“. Während der „Mittelruhe“ ist für das 
Austreiben eine künstliche Erhöhung der fermentativen Tätigkeit 
notwendig. Darin können wir in Übereinstimmung mit Klebs 
(1911, S. 47) die Wirkung der verschiedenen Frühtreibever- 
fahren erblicken. Sie wirken katalytisch, d.h. sie beschleu- 
nigen den Prozess, der sonst nur langsam vor sich geht. 

Diese Verhältnisse haben nicht nur für die Ruheknospen, sondern 
auch für die übrigen pflanzlichen Ruheorgane Gültigkeit. Wir haben 
in der Tat gesehen (S. 415), dass nach Klebs die Ruheperiode der 
Kartoffel erst mit fortschreitender Reife eintritt, also erst wenn 
eine Überanhäufung von Assimilaten stattgefunden hat. Unreife 
Kartoffeln sind in der Lage, sofort auszukeimen. Ein besonders lehr- 
reiches Beispiel liefern die von Klebs (1913, S. 33) untersuchten 
Knollen von Orepis bulbosa. Diese Pflanze, welche auf den trockenen 
Kalkhügeln Südfrankreichs lebt, verbringt die heiße Sommerzeit im 
Ruhezustand, in Form von Knollen. Bei der Kultur im Garten auf 
feuchtem, nährsalzreichem Boden wächst die Pflanze den ganzen 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 46X 


Sommer hindurch üppig fort unter Bildung unterirdischer Rhizome. 
In Buitenzorg wuchs die Pflanze ebenso während der Wintermonate 
ungestört weiter. Aber auch in unserem Winter gelang es Klebs 
bei geeigneter Kultur im Gewächshaus unter öfterer Erneuerung 
der Erde die Pflanze zu fortdauerndem Wachstum in Form von 
Rhizomen ohne jegliche Knollenbildung zu veranlassen. Die Knollen- 
bildung tritt aber zu jeder Zeit ein, sobald man die Pflanze in einen 
nährsalzarmen Sandboden versetzt oder ın einem kleinen Topf mit 
begrenzter Erdmenge kultiviert. Auch Trockenheit des Bodens hat 
die gleiche Wirkung durch Verminderung der Nährsalzaufnahme. 
Die Bildung der Ruheorgane, der Knollen, trittalso auch 
hier ein, sobald durch Einschränkung der Nährsalzzufuhr 
bei fortschreitender Assımilation eine Anhäufung von 
Assımilaten (im vorliegenden Falle von Inulin) stattfindet. Mit 
der Zunahme der Konzentration des Inulins in den in der Bildung 
begriffenen Knollen, nimmt auch die Festigkeit der Ruhe der letz- 
teren zu, so dass dıe Konstellation der äußeren Bedingungen, welche 
die unreifen Knollen zum Auskeimen veranlasst, bei den vollständig 
ausgebildeten, reifen Knollen als unwirksam sich erweist. — Aber 
auch bei Samen haben wir es vielfach mit analogen Erscheinungen 
zu tun. Während bei den meisten Samenarten ein sofortiges Aus- 
keimen möglich ist, zeigen einige Arten eine deutliche Ruheperiode, 
welche durch die Erscheinung des Keimverzuges zutage tritt. Durch 
die „Nachreife* tritt vielfach eine allmähliche Aufhebung des Keim- 
verzuges ein. Aber auch während der Zeit, in welcher der Same 
die Erscheinung des Keimverzuges zeigt, ist die Keimung durch 
Anwendung bestimmter äußerer Bedingungen in vielen Fällen er- 
zwungen worden. Viele der Mittel, die sich in diesem Sinne als 
wirksam erwiesen haben, wie gesteigerte Temperatur oder Frost, 
Austrocknen, Licht, Nährsalzlösungen, erhöhte Sauerstoffpressung, 
Säuren, Enzyme, üben auch auf die Ruheknospen eine triebfördernde 
Wirkung aus. Es handelt sich hierbei um katalytische 
Wirkungen, welche die Abvorgänge fördern?) 

Überblicken wir all die besprochenen Tatsachen und daran an- 
geknüpften theoretischen Erwägungen, so gelangen wir zu dem 
Schluss, dass die von uns befolgte Anschauung Klebs’ ein einheit- 
liches Bild von den bei der jährlichen Periodizität obwaltenden 
Verhältnissen zu liefern vermag. 

Sämtliche Einzelerscheinungen der Periodizität, die wir in den 
früheren Kapiteln eingehend behandelt haben, erscheinen uns im 
großen und ganzen durchaus verständlich, wenngleich viele Punkte 
der weiteren Aufklärung bedürfen. Die „inneren Gründe“, diese 
geheimnisvollen Kräfte, welche doch nur ein kümmerliches Über- 

32) Näheres darüber mit ausführlichen Literaturangaben bei Lakon (1914b). 

30* 


468 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 


bleibsel vitalistischer Betrachtungsweise darstellen, verschwinden. 
Neue Bahnen werden der Forschung gewiesen. Wir brauchen uns 
jedenfalls heute nicht wie frühere Forscher darüber zu wundern, 
dass auch bei tropischen Pflanzen periodische Erscheinungen auf- 
treten, dass dort vielfach die einzelnen Zweige ein und desselben 
Baumes Verschiedenheiten aufweisen oder dass jüngere Individuen 
anders sich verhalten als ältere. Die Nährsalzversorgung der ver- 
schiedenen Vegetationspunkte eines älteren, mit einer umfangreichen 
Krone versehenen Baumes, gestaltet sich viel schwieriger und un- 
gleichmäßiger als die eines jungen, kleinen Individuums. 

Nachdem wir oben gesehen haben, dass für das kontinuierliche 
Wachstum ein bestimmtes, optimales Verhältnis der Außenfaktoren 
notwendig ist, erscheint uns das periodische Verhalten tropischer 
Pflanzen keinesfalls unverständlich. Da selbst kleine quantitative 
Änderungen in der Zusammensetzung der Außenwelt das Wachs- 
tum beeinflussen können, so müssen wir auch geringeren Schwan- 
kungen eine gewisse Bedeutung beimessen. Abgesehen vom Boden- 
faktor, der bisher gar nicht berücksichtigt worden ist, sind auch 
die anderen Lebensbedingungen in den Tropen gewissen Schwan- 
kungen unterworfen. Simon hat, wie wır schon früher gesehen 
haben (S. 422), hervorgehoben, dass in Buitenzorg weder die Größe 
der Niederschläge, noch die Beleuchtung über das ganze Jahr gleich- 
mäßig verteilt sind. Diese Schwankungen können schon deswegen 
besonders wirksam sein, weil sie vereint wirken; die intensivste 
Insolation fällt mit der Trockenperiode zusammen. Das muss so- 
wohl das Wachstum selbst wie auch die Anhäufung von Assımilaten 
beeinflussen. Klebs (1915, 5. 785) hat schon die Frage aufgeworfen, 
„ob nicht in den Tropen, z. B. ın Buitenzorg, zu gewissen Zeiten 
auch die C-Assimilation mancher Baumarten zu intensiv 
werden kann, so dass diese wie unsere Buchen deshalb 
eine Zeitlang ruhen müssen“. Diese Frage lässt sich heute 
nicht beantworten. Da aber, wie aus den schon besprochenen Ver- 
suchen von Klebs hervorgeht, die tropischen Pflanzen die Fähig- 
keit zu ununterbrochenem Wachstum besitzen, so.müssen wir den 
Schluss ziehen, dass die betreffenden Pflanzen keinesfalls 
im Genuss einer optimalen Kombination der Außenbedin- 
gungen sich befinden. Hierbei ist es im Prinzip gleichgültig, 
ob dieses Verhältnis das ganze Jahr hindurch besteht oder Schwan- 
kungen unterworfen ist. Denn wie wir früher hervorgehoben haben, 
schließt die Konstanz der Außenwelt keineswegs das 
Zustandekommen einer Periodizität aus, wenn eben diese 
Kombination keine optimale ist. Wir können geradezu sagen, dass 
die Außenwelt ın bezug auf das Wachstum einer be- 
stimmten Pflanzenart nur dann optimal ist, wenn sie 
keinerlei Hemmungen und demnach auch keine Ruhe 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 469 


herbeiführt. Ich möchte den Satz aufstellen, dass die ersten 
Anfänge der Speicherung von organischer Substanz das 
erste Zeichen der Wachstumshemmungen und demnach 
auch der Disharmonie zwischen der Pflanze und ihrer 
Außenwelt darstellen. Bei optimalen Wachstumsbedingungen 
müssen die von der Pflanze aufgenommenen Nährstoffe restlos 
verkonsumiert werden. Die Disharmonie zwischen der Pflanze 
und der Außenwelt bezieht sich aber nicht auf das Gesamtleben 
der Pflanze, sondern nur auf das vegetative Wachstum, 
welches mit den Prozessen der Nahrungsaufnahme nicht gleichen 
Schritt halten kann. Konstellationen der Außenwelt, welche da- 
gegen sämtliche Prozesse unmöglich machen oder das Wachstum 
an sich fördern, aber die Nahrungsaufnahme sistieren, haben schließ- 
lich im Gegensatz dazu den Tod zur Folge. 

Wenn wir bei einer bestimmten Art den Ursachen der Periodizität 
nachgehen wollen, so müssen wir diese Art einer genauen Prüfung unter- 
werfen, um ihr Verhältnis zur Außenwelt festzustellen, wie es Klebs 
in seinen vorbildlichen Untersuchungen mit der Buche getan hat. Die 
an einzelnen Arten gewonnenen Resultate können wir allgemein dazu 
verwenden, um uns dem Verständnis des natürlichen Verhaltens 
der Pflanzen überhaupt näher zu bringen. Das Problem der Perio- 
dizität ist aber zu sehr mit den gegenwärtig nur unvollkommen 
ergründeten innersten Vorgängen des Pflanzenlebens verknüpft, als 
dass es mit einem Schlage im vollen Umfange gelöst werden kann. 
Wir sind aber heute im Besitz der unerschütterlichen 
Basis des Zukunftsgebäudes; sie besteht in der Erkennt- 
nis, dass die Periodizität, wie die Entwicklung der 
Pflanze überhaupt nur unter der Mitwirkung der Außen- 
welt zustande kommen kann. 


Literatur. 
Askenasy, E. 1877: Über die jährliche Periode der Knospen. Bot. Zte. 
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R 


Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete, 471 


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472 Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische. 


Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes 
der Fische. 


Von diplom. Tierarzt Ludwig Reisinger, 
Assistent an der Tierärztlichen Hochschule in Wien. 


Obwohl zahlreiche Versuche zur Erforschung der Funktionen 
des Kleinhirns, als dem statischen Zentralorgan der Säugetiere, 
unternommen wurden, so fand sich außer Steiner kein Forscher, 
der das Thema bei den Fischen einer experimentellen Untersuchung 
wert gefunden hätte. Und doch liegt es nahe, dass gerade diese 
Wirbeltiere in ihrem labilen Bewegungsmedium einer besonderen 
nervösen Regulierung ihres Gleichgewichtes bedürfen. Um zu ent- 
scheiden, welche Teile des Zentralnervensystems der Fische an der 
Gleichgewichtserhaltung beteiligt sind, ist die Exstirpation be- 
stimmter Hirnpartien notwendig, wie sie bereits Steiner ausführte, 
welcher jedoch fand, dass die Resektion des Kleinhirns im Gegen- 
satz zu den Säugetieren bei Fischen symptomlos verläuft, eine Be- 
hauptung, der man nicht ohne weiteres beistimmen kann, wie aus 
den folgenden Versuchen zu ersehen sein wird. 

Ich benützte zu meinen Untersuchungen ungefähr 10--15 em 
lange Barsche, welche Fische sich ihrer Widerstandskraft wegen 
besonders für erheblichere Eingriffe eignen. Einem Exemplar wurde 
mittels einer krummen Schere die Schädeldecke abgetragen und 
das Kleinhirn freigelegt, welches als unpaares, kugeliges Gebilde, 
hinter dem paaren Mittelhirn liegend, sofort zu erkennen ist. Das 
Kleinhirn wurde sodann mit der Pinzette abgetragen, wobei die 
Blutung nur gering war. In den Behälter verbracht, ließen sich 
neben erhöhter Reflexerregbarkeit sofort Ausfallserscheinungen fest- 
stellen. Auffallend sind die nach abwärts verdrehten Augen, sowie 
die große Unruhe des Fisches. Verhält er sich ruhig, so schwimmt 
er vorerst auf der Seite, sucht dann die normale Lage einzunehmen, 
schwankt jedoch bei der Fortbewegung bald nach Iinks oder rechts, 
welche Gleichgewichtsstörung bei schnellem Schwimmen deutlicher 
hervortritt. Manchmal dreht sich der Fisch sogar um seine Längs- 
achse, wie es ein später operiertes Exemplar beim Schwimmen 
kontinuierlich tat. Später nahm der Fisch in der Ruhe eine seit- 
lich geneigte Stellung ein. Die beobachteten Störungen sind nicht 
auf die Wunde zurückzuführen, da der Fisch versuchsweise nach 
Eröffnung des Schädels ın den Behälter gesetzt wurde, woselbst er 
ın normaler Weise schwamm. Erst nach Entfernung des Kleinhirns 
traten die beschriebenen Störungen in Erscheinung. Besonders 
charakteristisch für den kleinhirnlosen Fisch ist die bereits erwähnte 
Unruhe; während der normale Kontrolifisch auf einer Stelle ver- 
harrt und nur von Zeit zu Zeit dieselbe wechselt, ist das Versuchs- 
tier nahezu immer in Bewegung. Dieses Verhalten steht ım auf- 


Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische. 473 


fallenden Gegensatz zu dem der kleinhirnlosen Säuger, welche 
— nach den Ausführungen Munk’s!) — längere Zeit nach der 
Operation jegliche Bewegung zu vermeiden trachten. Das gegen- 
sätzliche Verhalten der Fische dürfte seinen Grund in deren labilen 
Bewegungsmedium haben. Während die Säuger, festen Boden unter 
sich habend, in Ruhe verharren können, ıst der kleinhirnlose Fisch 
gezwungen, Bewegungen zu machen, um in annähernd normaler Stel- 
lung verharren zu können. 

Um zu kontrollieren, ob auch Verletzung oder Exstirpation 
anderer Hirnpartien die gleichen Symptome verursacht, wurde bei 
einem zweiten Exemplar das Vorderhirn entfernt. Trotz dieses 
Eingriffes schwamm der Fisch ohne irgendwelche Gleichgewichts- 
störung zu zeigen. Hierauf wurde das Mittelhirn abgetragen, was 
zur Folge hatte, dass der im Wasser befindliche Fisch auf der 
rechten Seite liegen blieb, den Körper ebenfalls nach rechts ver- 
krümmt. Die Augen wurden, im Gegensatz zu den Beobachtungen 
an kleinhirnlosen Fischen, nicht verdreht. Nachdem sich das Tier 
von dem Eingriff erholt hatte, schwamm es anfangs auf der rechten 
Seite, später dauernd mit nach abwärts gekehrtem Rücken, wobei 
wieder die Unruhe besonders auffällig war. Der bei den normalen 
Fischen prompt reagierende Farbenwechsel war anfangs sistiert, da 
die dunklen Querbinden auch dann nicht verschwanden, wenn der 
Fischbehälter auf hellen Grund gestellt wurde. Der Fisch lebte 
noch 2 Tage nach der Exstirpation des Vorder- und Mittelhirns. 

Einem dritten Exemplar wurde nur die linke Hälfte des Mittel- 
hirns entfernt. In den Behälter verbracht, schwamm der Fisch 
anfangs auf der Seite oder dem Rücken, wie das Exemplar, dem 
das ganze Mittelhirn entfernt wurde. Nach einiger Zeit stellte sich 
der Versuchsfisch, dem nur die linke Hälfte des Mesencephalons 
fehlte, senkrecht mit dem Kopf nach aufwärts, welche Stellung er 
während der Ruhe immer beibehielt. Beim Schwimmen nahm er 
eine schräge Haltung ein, ohne bei der Fortbewegung auf die Seite 
zu fallen. Am nächsten Tag lag der Fisch meistens auf der Seite, 
beim Schwimmen nahm er jedoch die schräge Stellung wieder eın. 
Nach Entfernung der zweiten Hälfte des Mittelhirns schwamm 
dieses Exemplar, so wie das vorhin angeführte, mit dem Rücken 
nach abwärts, stand jedoch im Gegensatz zu jenem bald nach dem 
zweiten Eingriff um. Sehr ausgeprägte Ausfallserscheinungen zeigte 
das vierte Exemplar, dem wieder das Kleinhirn entfernt wurde. 
Während der Ruhe lag der Fisch auf der Seite, bot also in diesem 
Zustand keinen wesentlichen Unterschied im Vergleich mit den vor 
ihm beobachteten Tieren. Bei der Fortbewegung suchte er die nor- 


1) Munk, Über die Funktionen des Kleinhirns. Sitzungsber. d. Kgl. Preuß. 
Akad. d. Wissenschaften, 1906. 


474 Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische. 


male Lage einzunehmen, wobei er kontinuierlich rotierende Be- 
wegungen nach links um die Längsachse des Körpers ausführte. 
Diese Art der Bewegung war so konstant, dass sie auch am zweiten 
Tag nach der Operation noch vorhanden war. Um die Folgen der 
gleichzeitigen Exstirpation des Kleinhirns und des Mittelhirns zu 
studieren, wurde dem kleinhirnlosen Fisch noch das ganze Mesen- 
cephalon entfernt. Nach diesem Eingriff schwamm der Fisch — so 
wie die anderen des Mittelhirns beraubten Exemplare — nur mehr 
auf der Seite. 

Im folgenden sollen die übereinstimmenden Ausfallserschei- 
nungen nach Exstirpation verschiedener Teile des Fischhirns zu- 
sammengefasst werden, um dermaßen genau den zentralen Mecha- 
nismus des statischen Sinnes der Fische festzustellen. Es wurde 
beobachtet, dass die Entfernung des Vorderhirns überhaupt keine 
Ausfallserscheinungen zeitigt. Die Exstirpation einer Hemisphäre, 
insbesondere aber des ganzen Mittelhirns, hat die schwersten Gleich- 
_ gewichtsstörungen zur Folge; die Fische schwimmen dauernd auf 
der Seite oder mit nach aufwärts gekehrtem Bauch. Im Hinblick 
auf diese schweren Ausfallserscheinungen sind die Folgen der Klein- 
hirnexstirpation geringer zu bewerten. Die Fische zeigen dauernde 
Unsicherheit der Bewegung, Schwanken und Rollen während der- 
selben, ohne jedoch jeglichen Gefühls für die normale Stellung zu 
entbehren, wie aus den Versuchen, ın diese während der Bewegung 
zurückzukehren, hervorgeht. 

Auf Grund dieser Ausführungen ist somit ersichtlich, dass die 
schwersten Störungen des Gleichgewichtes nach Entfernung des 
Mittelhirns zu beobachten sind, während nach Kleinhirnexstirpation 
nur im Bereiche der Energie und Koordination der Einzelbewe- 
gungen Ausfallserscheinungen zu verzeichnen sind. Diese Auf- 
fassung stimmt auch mit den Beobachtungen an kleinhirnlosen 
Säugetieren überein, welchen zufolge Munk das Kleinhirn als ein 
Hilfs- und Verstärkungssystem des Cerebrospinalsystems auffasst. 
Die feinere Art der Gleichgewichtserhaltung beim Sitzen, Gehen, 
Stehen und dergleichen hängt nach ihm vom Funktionieren des 
Kleinhirns ab. Dasselbe gilt für das Kleinhirn der Fische, welchem 
die feine Regulierung der Bewegungen obliegt, während das Zentrum 
der groben Gleichgewichtseinstellung im Mesencephalon zu suchen 
ist. Diese Annahme der Kleinhirnfunktion bei Fischen steht auch 
im Einklang mit den, allgemeine Geltung beanspruchenden Aus- 
führungen Edinger’s?), nach welchem das Kleinhirn das Organ des 
Statotonus ist, das ıst derjenigen zusammengeordneten und unter 
dem Einflusse der Schwerkraft ständig wechselnden Muskelspannung, 


2) Edinger, Über das Kleinhirn und den Statotonus. Zentralblatt für Phy- 
siologie, 1912. 


Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 475 


die erforderlich ist, um neben und innerhalb der Bewegung Gang, 
Haltung u. s. w. zu sichern. Das Kleinhirn der Fische muss also 
ebenso wie das der Säuger als das Organ des Statotonus betrachtet 
werden, im Gegensatz zu Franz°), der ın ihm den Sitz des Ge- 
dächtnisses der Fische vermutet. 


Über den Zusammenhang der Energien in der 
belebten Natur. 
Von Ferdinand Röder (Wien). 


Die letzte zusammenfassende Rede über das Leben wurde von 
Professor Schäfer zur Eröffnung der „British Association for the 
Advancement of Science“ gehalten. Sie beginnt mit dem Be- 
kenntnis, dass wir bis heute keine Definition des Lebens besitzen. 
Er selbst habe um so weniger Neigung mit dieser Aufgabe zu 
ringen, als neue Fortschritte unseres Wissens auf die Möglichkeit 
einer minder scharfen Trennung zwischen belebter und unbelebter 
Materie hingewiesen haben, so dass sich die Schwierigkeiten, 
eine erschöpfende Definition zu finden, entsprechend vergrößert 
haben. 

Ich kann dem Verzicht des englischen Physiologen um so 
weniger zustimmen, als ich gerade in dem genannten Umstande 
eine Erleichterung erblicken muss. Denn je größer das Gebiet der 
Ähnlichkeiten wird, um so mehr engt sich das Gebiet der Ver- 
schiedenheit ein und damit die Zahl der Instanzen, die das Leben- 
dige von dem Leblosen unterscheiden. Je kleiner aber die Zahl 
dieser Instanzen ist, desto erschöpfender wird die Definition sein 
können. 

Wenn es also der neueren Forschung gelungen ist, einzelne 
Lebenserscheinungen nachzuahmen, wenn die Bewegung der Amöbe 
der Form nach dadurch wiedergegeben werden kann, dass man 
einen Tropfen Olivenöl, das eine Spur freier Fettsäure enthält, auf 
eine !/,—2 ige Lösung von Na,00, bringt, wenn die Niederschlags- 
membran aus Ferrocyankupfer hinsichtlich Permeabilität und Er- 
zeugung eines starken osmotischen Drucks gleiche Eigenschaften 
aufweist wie die Hautschicht des Protoplasmas, wenn Wachstum 
und Teilung künstlicher Kolloide in geeignetem Medium merk- 
würdige Ähnlichkeit mit den Erscheinungen von Wachstum und 
Teilung lebender Organismen zeigt, wenn sogar die Karyokinese 
mit einer Lösung von Kochsalz, die Kohlenpartikel suspendiert ent- 
hält, nachgeahmt werden kann, indem sich diese in ihrer Abhängig- 


3) Franz, Das Kleinhirn der Knochenfische. Zoologische Jahrbücher, Abt. 
f, Anat. u. Ontog., 1912. 


476 Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 


keit vom Elektrolyten wie die Ohromatinpartikel in einem sich 
teilenden Zellkern verhalten, so bedeutet dies doch nur, dass die- 
selben Beziehungen zwischen chemischer Energie und einer anderen 
Energieart, die in der belebten Natur bestehen, bei geeigneter 
Wahl der chemischen Substanzen auch in der unbelebten Natur 
in gleicher Weise zum Ausdruck gelangen können. Der Unter- 
schied ist dann eben der, dass die lebendige Substanz alle die ge- 
nannten und noch andere Energiebeziehungen in sich vereinigt, 
während die angeführten Substanzen ebenso wie die leblosen Ma- 
schinen immer nur eine der bezüglichen Energieumwandlungen 
zum Ausdruck bringen. Man könnte diese Eigenschaft der leben- 
digen Substanz nach einem der Chemie entlehnten Bilde als die 
Mehrwertigkeit der chemischen Energie der belebten Materie be- 
zeichnen. Würde man uns etwa eine Materie zeigen, die außer 
amöboider Bewegung eine semipermeable Membran, Wachstum und 
Kernteilungsfigur aufwiese, so würde es uns sicher wesentlich 
schwerer fallen sie als unbelebt anzusehen. 

Einen zweiten Unterschied entnehmen wir der Entwicklungs- 
mechanık. Sıe zeigt uns den Einfluss der Schwere, der Bewegungs- 
energie und der Oberflächenenergie auf lebende chemische Systeme. 
Hatten wir vorher die Abhängigkeit der Raumenergien von der 
chemischen Energie, so haben wir jetzt die Abhängigkeit der che- 
mischen Energie von Energien des Raumes vor uns. Die Bedeu- 
tung dieser Tatsache scheint nicht in vollem Umfange gewürdigt 
zu werden. Physik und Ohemie weisen keine analogen Erschei- 
nungen auf. Dies wird uns um so weniger befremden und um so 
mehr verständlich, als wir gerade das Vorhandensein von Analoga 
für gewisse Lebenserscheinungen an das Vorhandensein geeigneter 
chemischer Substanzen gebunden fanden. Das Fehlen von Analoga 
für gewisse andere Lebenserscheinungen muss daher auf das Fehlen 
derartiger Substanzen bezogen werden, die geeignet wären, die ent- 
sprechenden Energieumwandlungen zum Ausdruck zu bringen, sei 
es, dass diese Substanzen bis heute nicht aufgefunden wurden, oder 
dass solche in der unbelebten Natur überhaupt nicht exı- 
stieren. Denn so wenig befriedigend die Ansicht der einen ist, die 
die Lücke, welche die physikalisch-chemische Erklärung übrig lässt, 
durch ein unfruchtbares X oder U auszufüllen suchen, so wenig 
berechtigt ist die Neigung der andern, die Mannigfaltigkeit der 
Lebenserscheinungen in den Rahmen des Bildes zu pressen, das 
das geläufige Tatsachenmaterial der anorganischen Wissenschaften 
vorgezeichnet hat. Der Rahmen, der Belebtes wie Unbelebtes um- 
fassen soll, muss durch Gesetze größter Allgemeinheit, d. s. die 
Beziehungen der Energien zueinander, dargestellt werden, nicht 
aber durch die besondere Form, in welcher diese in einem Teil 
des Weltganzen erscheinen. Mit der Beziehung ist das Maß ihres 


Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 477 


Ausdruckes noch nicht gegeben. Und wie ein gerechter Richter 
an Verschiedenes nicht den gleichen Maßstab anlegt, so hat auch 
die Natur Ungleiches nicht mit gleichem Maße bemessen. Das Bei- 
spiel der Schwere wird dies erläutern. 

Bereits im Anfang des vorigen Jahrhunderts ist die Frage nach 
dem Einfluss der Schwere auf chemische Systeme aufgeworfen worden. 
Gay Lussae stellte dann Versuche darüber an, ob eine Salzlösung 
unter dem Einfluss der Schwerkraft ın einer vertikalen 2 m langen Säule 
am unteren Ende eine andere Konzentration annehme als am oberen 
Ende. Er erhielt ein negatives Resultat. Gouy und Chaperon haben 
dieses Ergebnis später aufgeklärt, indem sie thermodynamisch den Ein- 
fluss der Gravitation auf die Konzentration aus der Änderung der 
Dichte mit der Konzentration berechneten und denselben so en 
fanden, dass seine experimentelle Feststellung nicht ausführbar ist. 
In der unbelebten Natur kommt also diese Beziehung nicht zum 
Ausdruck. Anders in der belebten Natur. Hier sehen wir, dass 
bereits minimalste Potentialdifferenzen der Schwere ıhre Wirkung 
äußern können So vermögen sie in dem undifferenzierten, sich 
furchenden Froschei die chemische Differenzierung, die Lage der 
Spindel zu bestimmen. Durch Kompensation der Schwere durch 
Bewegungsenergie wird diese Einwirkung aufgehoben und dadurch 
die Teilungsebene verlagert (vgl. die Arbeiten von Pflüger und 
Roux). Wir finden also, dass ın der belebten Natur schon die 
geringsten Potentialunterschiede dieser Energie des Raumes im- 
stande sind, sinnfällige Änderungen der chemischen Energie zu er- 
- zeugen, während in der unbelebten Natur diese Beziehung nicht 
entwickelt ist. 

Verallgemeinernd könnten wir sagen, dass die räumlich zu- 
sammenhängenden, zur Materie vereinigten Energien, die ım An- 
organischen zum größten Teil unabhängig voneinander erscheinen, 
ein Phänomen, das unter dem Namen der Superposition der 
Energien bekannt ist, in der belebten Materie in innige, gleich- 
mäßige Beziehung zueinander treten. Den Ausdruck dieses all- 
seitigen, nn Zusammenhanges könnten wir demnach als 
Leben bezeichnen. Diese Definition kann uns einesteils als Führer 
dienen, um den einzelnen in Betracht kommenden Beziehungen 
nachzugehen, anderesteils wird sie bei Nachweis einer solchen Be- 
zıehung selbst eine wesentliche Stütze erhalten. 

Aus der Physiologie der Pflanzen wissen wir, dass bei ıhnen 
Wachstum nur erfolgt, wenn die Zellen einen gewissen Turgor be- 
sitzen, d. h. unter einem nicht zu niedrigen hydrostatischen Druck 
stehen. Veränderungen des Zellenturgors durch Veränderungen der 
Wasserbewegung infolge geänderter Transpiration rufen nicht nur 
Veränderungen der Pflanzenform und des inneren Baues, sondern 
auch der chemischen Zusammensetzung hervor (vgl. Schlösing, 


478 Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 


Comptes rendus 1869, S. 355). Wird bei wachsenden Pflanzen, 
deren Zellen also unter einem bestimmten hydrostatischen Druck 
stehen, z. B. bei Bohrenwurzeln, der Druck durch Eingipsen ge- 
steigert, so findet eine beschleunigte Ausbildung der inneren Ge- 
webe statt. 


Bei den niederen Tieren ist die Bedeutung des Druckes für 
das Wachstum durch Versuche von Loeb und Child festgestellt 
worden (vgl. J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebens- 
erscheinungen. Leipzig 1906). Schneidet man nämlich bei Aktinien 
(Cerianthus membranaceus) die Mundscheibe der Tiere ab, so be- 
ginnen neue Tentakel an der Schnittstelle zu wachsen. Macht man 
nun, nachdem die neuen Tentakel angefangen haben zu sprossen, 
einen seitlichen Einschnitt ın den Körper des Tieres, so hört das 
Wachstum der über der Schnittstelle gelegenen Tentakel auf, wäh- 
rend die übrigen Tentakel fortfahren zu wachsen. Die Mechanik 
dieser Erscheinung ist durch Child klargestellt worden. Jeder 
Tentakel ist ein Hohlzylinder, der mit der Körperhöhle kommuni- 
ziert, aus der die Flüssigkeit in den Tentakel gepresst wird. Macht 
man also durch die Wand von Cerianthus einen partiellen Quer- 
schnitt nahe der Mundscheibe, so kollabieren diejenigen Tentakel, 
welche über der Durchschnittsstelle stehen, da keine Flüssigkeit 
mehr in die Tentakel gepresst werden kann. Ebenso können durch 
Regeneration bereits gebildete Tentakel durch Aufhören des Drucks 
infolge Einschnittes ın den Fuß und Verhinderung der Wundränder 
am Zusammenheilen zum Degenerieren gebracht werden. 


Die Unabhängigkeit des Wachstums vom Nährmaterial beweist 
die Regeneration der Tentakel an Stücken, dıe aus der Wand eines 
Cerianthus geschnitten waren, ferner bei herausgeschnittenen Stücken 
von Tubularia, wo sogar die Bildung des Stammstückes wegen 
Baumaterialmangel unterbleibt. Bemerkenswert ist hierbei, dass ın 
Stämmen ohne Zirkulation keine Regeneration stattfindet. — Ände- 
rung des Druckes der Umgebung führt bei Wasserorganismen, vielen 
Algen und Pilzen, zu chemischen Vorgängen, die eine dem Außen- 
druck entsprechende Erhöhung oder Erniedrigung des Eigendrucks 
bewirken. 

Die präzise Ausdrucksweise der Energetik befähigt uns, die 
Ergebnisse aller dieser Versuche unter ein Gesetz zusammenzu- 
fassen. Da den Lebensvorgängen chemische Prozesse zugrunde- 
liegen, der Druck aber in der Sprache der Energetik nichts anderes 
ist als der Intensitätsfaktor der Volumenergie, so beweist das Tat- 
sächliche dieser Versuche die Abhängigkeit der chemischen Energie 
der Zellen von ihrer Volumenergie. 

Der zuerst beobachtete Zusammenhang zwischen Pflanzenwachs- 
tum und Turgor konnte in dieser Fassung nur durch eine mittel- 


Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 479 


bare Abhängigkeit erklärt werden. „Man stellt sich vor, dass der 
innere Druck die Membran der Pflanzenzelle dehnt und damit Hohl- 
räume schaffe, in welche neues Material deponiert werden könne!).* 
Hierzu ist zu bemerken, dass einerseits die Herstellung von Hohl- 
räumen durch einen allseitig wirkenden Druck nicht ohne weiteres 
verständlich ist, andererseits das Vorhandensein einer reichlichen 
Menge von Baumaterial wohl eine notwendige Vorbedingung, aber 
nicht zureichenden Grund für den Aufbau bildet. Weiters aber 
besteht, wie die übrigen Beispiele zeigen, Proportionalität nur 
zwischen Druck und Zelltätigkeit, nicht aber zwischen der Größe 
des Nährmaterials und dieser. Ein richtiges Abhängigkeitsverhältnis 
kann daher nur zwischen den beiden ersten Größen gedacht werden. 
Dieser unmittelbare Zusammenhang ist ohne weiteres verständlich, 
wenn man beachtet, dass von der Volumenergie des Systems die 
Konzentration der innerhalb des Systems wirksamen Stoffe abhängt, 
die den Verlauf der chemischen Vorgänge bestimmt. Wir haben 
es also nur mit einem allgemein anerkannten Energieprinzip zu 
tun, das bloß durch die Eigenart der lebenden Substanz zu beson- 
derer Bedeutung gelangt. Zu der chemischen Eigenart, die das 
Beispiel der Schwere illustriert hat, kommt eben bei dieser Be- 
ziehung noch der eigentümliche physikalische Charakter. Es mag 
daran erinnert werden, dass schon Robert Mayer das lebendige 
Gewebe (zum Zweck der Erklärung der Irritabilität) mit den expan- 
sibeln Materien, den Dämpfen verglichen hat. Die moderne An- 
schauung von der Schaumstruktur des Protoplasmas, die auf eine 
Emulsion von Gasen in wässeriger Flüssigkeit hinweist, bringt viel- 
leicht die Tatsache der nicht auf Osmose beruhenden Volumsände- 
rungen der Zellen dem Verständnis näher. Wie dem immer sei, 
sicher ist, dass zwischen der Volumenergie der Umgebung der 
Zellen, ihrer eigenen Volumenergie und der Intensität der ın ıhnen 
ablaufenden chemischen Prozesse ein Abhängigkeitsverhältnis besteht. 

Dass dem Druck an sich eine Bedeutung zukommen muss, 
lehrt auch die teleologische Betrachtungsweise, deren Anwendung 
schon oft dankenswerte Aufschlüsse erteilt hat. Im Warmblüter- 
organısmus wäre der enorme Energieaufwand des Herzens eine 
zwecklose Verschwendung, wenn es sich nur um den Transport 
des Nährmaterials handelte, da die zur Erteilung einer Geschwindig- 
keit nötige Arbeit um ein bedeutendes geringer sein könnte als sie 
tatsächlich ist. Das Bestreben des Organismus, den mittleren Blut- 
druck annähernd auf gleicher Höhe zu erhalten und die darüber 
hinausgehende, von Bayliss nachgewiesene Konstanz des Kapillar- 
drucks weisen auf die Wichtigkeit des normalen Drucks für den 
normalen Ablauf der Lebensvorgänge hin. Man kann einem Hunde 


1) Loeb: Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen S. 291. 


480 Röder, Uber den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 


die doppelte Blutmenge einspritzen, ohne dass sich der Blutdruck 
bedeutend erhöht. Andererseits lehren Experiment und Beobach- 
tung, dass der arterielle Blutdruck nach Blutverlusten, sofern sie 
einen gewissen Grad nicht übersteigen, annähernd wieder die alte 
Höhe erreicht. Bei großen Blutverlusten ist, wie die Praxis ge- 
zeigt hat, die Wiederherstellung normaler Druckverhältnisse durch 
Kochsalzinfusion und nicht der Ersatz des Nährmaterials, den die 
Theorie verlangte, das wesentliche Moment zur Erhaltung des Lebens. 

Es würde den Rahmen unserer Aufgabe überschreiten, Beweise 
aus dem ungeheuren Gebiet der Physiologie und Pathologie zu 
sammeln. Nur kurz sei an das Auftreten lokaler Blutdrucksteige- 
rung in [funktionierenden Organen’), an die histomechanischen Prin- 
zıpien Thoma’s?), die Bau und Wachstum der Gefäße vom Druck 
abhängig machen, an die Umbildung von in Arterien transplantierten 
Venenstücken, an die Ansicht Skoda’s über die Ursache der Herz- 
hypertrophie erinnert: „Man hat die Hypertrophie bei Klappen- 
fehlern als ein Heilbestreben der Natur angesehen, doch würde sich 
hierdurch die Natur wenig auszeichnen — alles ist mechanische 
Notwendigkeit.“ 

Der Einfluss der Drucksenkung lässt sich am rein mechanischen 
Trauma beobachten, bei dem ausschließlich als Folge der Zirku- 
lationsstörung Änderung der Durchlässigkeit der Kapillaren ein- 
tritt®). Es sei auf die Erscheinung hingewiesen, dass die verschie- 
densten chemischen und physikalischen Agentien ähnliche patho- 
logische Wirkungen (Degenerationen) erzeugen, wofern sie nur den 
Blutdruck in gleicher Weise herabsetzen, auf die Divergenz der 
Anschauungen, die über die Bedeutung von Druck und Zelltätig- 
keit in der Physiologie und Pathologie der Harnabsonderung herrschen 
und welche durch die zwischen Druck und Zelltätigkeit aufgestellte 
Beziehung eine Einigung erfahren würden. 

Es möge vorläufig die Feststellung genügen, dass eine Prüfung 
der vorliegenden Tatsachen nirgends einen Widerspruch mit dem 
angenommenen Zusammenhang ergeben hat. Seine Anerkennung 
als allgemeines Prinzip würde dem therapeutischen Handeln neue 
Richtlinien ‘geben. Im Verein mit den andern in der belebten 
Materie entwickelten Beziehungen bestätigt er die früher aufgestellte 
Definition des Lebens, deren Inhalt die Möglichkeit einer voll- 
ständigen Beherrschung der Lebensvorgänge gewährleistet. 


2) Röder: Blutdrucksteigerung bei lokaler Gefäßerweiterung Zentralbl. f. 
Physiologie, Bd. XIX, Nr. 24. 

3) Thoma: Patholog. Anatomie S. 321 ff. 

4) Thoma, ebenda S. 32 ff. 





Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Biologisches Gentralblatt. 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie. 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem 
Berg 14, einsenden zu wollen. 


BaıX 


XV. 20. November 1915. x 11. 

















verteilung der Geschlechtskombinationen bei Mehrlinggeburten des Menschen und des 
Schweins. — J.M. Sirks, Indisch Natuuronderzoek. — Reichard, Die deutschen Versuche 
mit gezeichneten Schollen. — Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart. Zellen- und Gewebe- 
lehre, Morphologie und Entwicklungsgeschiehte. — Baur, Einführung in die experimentelle 
Vererbungslehre. — Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik und Meteorologie. — Dahl, 
Kurze Anleitung zum wissenscehaftlichen Sammeln und zum Konservieren von Tieren, 








Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 
Ein Versuch ıhrer Widerlegung. 
Von Dr. W. v. Buddenbrock, Heidelberg. 
Einleitung. 

Es gibt zwei Klassen von Naturforschern. Die einen inter- 
essieren sich für die Tatsachen; die Theorien, die sıe aufstellen, 
dienen ihnen nur dazu, die gefundenen Tatsachen zu erklären, unter 
einem gemeinsamen Gesichtspunkte zusammenzufassen und hier- 
durch einen tieferen Einblick ın das Wesen des gesamten Gebietes 
zu gewinnen. Auch wenn ihre Arbeit noch so sehr auf theoretischem 
(Gebiete liegt, bleibt ihnen doch stets die Tatsache das Maßgebendere. 
Findet sich eine solche, die der Theorie widerspricht, so muss die 
letztere weichen. 

Den anderen gilt die unbedeutende Einzeltatsache gleich nichts. 
Ihr hochfliegender Geist dürstet nach weithin sichtbaren Ergeb- 
nissen ihres Tuns. Die glänzende Theorie ist ihnen Alles, die 
Tatsache nur deren Dienerin. Passt sie nicht, so wird sie gewalt- 
sam in das Prokrustesbett der Theorie hineingepresst oder aber nur 

XXXV. 3l 


482 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


so oberflächlich studiert, dass man das Nichtkonvenierende, das 
meist tiefer sitzt, erst gar nicht gewahr wird. 

Das Musterbeispiel einer derartigen Theorie, die sich zum 
Tyrannen über die Tatsachen aufwirft, ist die sogen. Tropismen- 
theorie, deren hauptsächlichster Verfechter J. Loeb ist. Ihrer 
Kritik, und wenn möglich ihrer Widerlegung, sind die folgenden 
Zeilen gewidmet. 

Eine Kritik dieser Theorie ist bereits von verschiedenen Autoren 
unternommen worden (Jennings, Radl u. a.)!). Sie begnügten 
sich indessen stets mit dem Nachweise, dass gewisse Einzelfälle 
mit der Theorie nicht harmonierten. Die wichtigsten allgemeinen 
Argumente wurden nicht erhoben. Außerdem beweist Loeb durch 
seine letzte Publikation im Handbuch der vergleichenden Physio- 
logie von Winterstein, dass die gemachten Einwände ıhn nicht 
im geringsten zu erschüttern vermochten, denn er behauptet nach 
wie vor das Gleiche. Hierdurch erscheint ein nochmaliges Ein- 
gehen auf dieses Thema gerechtfertigt. 

Das Wort Tropismus kennzeichnet nur eine einfache Be- 
obachtungstatsache. Zahlreiche niedere Tiere besitzen die Eigen- 
tümlichkeit, auf Energiequellen, in deren Nähe sie geraten, also 
etwa einen Punkt, der Licht, Wärme, chemische Energie ete. aus- ' 
strahlt, entweder geradlinig hin oder von ıhm weg zu kriechen 
oder aber einen Weg zu wählen, der die betreffenden Energie- 
strahlen senkrecht schneidet. Diese Orientierungsbewegungen, die 
auch bei niederen Pflanzen vorkommen, hat man Tropismen ge- 
nannt und spricht je nach der Art der wirksamen Energie von 
Photo-, Chemo-, Thermotropismus etc. Man kann solche Tiere mit 
der gleichen Sicherheit in einem bestimmten Sinne ablenken, wie 
der Physiker eine Magnetnadel, und dieses physikalisch anmutende 
Gebaren hat die Väter der Tropismentheorie dazu gebracht, das 
ganze Phänomen als etwas höchst Einfaches zu betrachten, dessen 
Erklärung möglich sei, ohne dass man die komplizierte Struktur 
des betreffenden Organismus irgendwie berücksichtigt. 

In welcher Weise sie dies versuchen, möge am Beispiele des 
positiven Heliotropismus der geflügelten Blattlaus mit Loeb’s 
eigenen Worten gezeigt werden. Er schreibt: 

„Zwei Faktoren bestimmen die Progressivbewegung der Tiere 
unter diesen Bedingungen. Der eine ist die symmetrische 
Struktur des Tieres und der zweite ist die photochemische 
Wirkung des Lichtes.. 

Die symmetrische Struktur des Tieres drückt sich grob-anatomisch 
darın aus, dass, wie bekannt, die rechte und linke Körperhälfte 


1) Die Literatur des ganzen Gebietes findet man in Loeb’s Aufsatz: Die Tro- 
pismen. Winterstein’s Handbuch der vergl. Physiologie. Bd. 4. 1913. 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 483 


symmetrisch zueinander sind. Meines Erachtens besteht eine solche 
Symmetrie nicht nur in anatomischer Hinsicht, sondern auch in 
chemischer Hinsicht; womit ich meine, dass symmetrische 
Körperstellen chemisch identisch sind und den gleichen 
Stoffwechsel haben, während nichtsymmetrische Körperstellen 
chemisch verschieden sind und ım allgemeinen einen quan- 
titativ oder qualitativ ungleichen Stoffwechsel haben... Wenn 
nun mehr Licht auf eine Retina fällt als auf die andere, so werden 
auch die chemischen Reaktionen, beispielsweise die organischen 
Oxydationen in einer Retina mehr beschleunigt als in der anderen, 
und dementsprechend werden in dem einen optischen Nerven 
stärkere chemische Änderungen auftreten als in dem anderen. 

Diese Ungleichheit der chemischen Prozesse pflanzt sich von 
den sensiblen in die motorischen Nerven und schließlich in die mit 
denselben verbundenen Muskeln fort. Wir schließen daraus, dass 
bei gleicher Beleuchtung der beiden Retinae die symmetrischen 
Muskelgruppen beider Körperhälften ın gleicher Weise chemisch 
beeinflusst werden und somit in den gleichen Kontraktionszustand 
geraten; während, wenn die Reaktionsgeschwindigkeit ungleich 
ist, die symmetrischen Muskeln auf einer Seite des Körpers in 
stärkere Tätigkeit geraten als auf der anderen Seite. Das Resultat 
einer solchen ungleichen Tätigkeit der symmetrischen Muskeln 
beider Körperhälften ist eine Änderung der Bewegungsrichtung des 
Tieres. 

Diese Änderung der Bewegungsrichtung kann entweder so er- 
folgen, dass der Kopf zur Lichtquelle hingedreht wird, und dass 
damit das ganze Tier in der Richtung zur Lichtquelle sich bewegt; 
oder dass der Kopf in entgegengesetztem Sinne gedreht wird, und 
das Tier sich ın entgegengesetzter Richtung bewegt... Sobald dies 
geschehen ist, werden die beiden Retinae gleich stark beleuchtet und 
die (symmetrischen d. Verf.) Muskeln in den beiden Körperhälften ar- 
beiten nunmehr gleich stark. Es ist infolgedessen kein Grund mehr 
vorhanden, dass das Tier in dem einen oder anderen Sinne aus dieser 
Richtung abweichen sollte. Es wird deshalb automatisch zur Licht- 
quelle geführt. Der Wille des Tieres, der ıhm ın diesem Falle die 
Richtung seiner Bewegung vorschreibt, ist das Licht, wie es beim 
Fallen des Steines oder der Bewegung der Planeten die Schwer- 
kraft ıst“ (1909, p. 9—14). 

Jennings hat diese Theorie in ganz treffender Weise die 
„Theorie der lokalen Wirkungen“ genannt, weil sie den Tro- 
pismus nicht als eine Bewegung des Tieres als eines Ganzen an- 
sieht, sondern als eine solche der beiden Körperhälften, die dabei 
gegeneinander arbeiten. Dies wollen wir als ein wichtiges Cha- 
rakteristikum der Tropismentheorie festhalten. Hieraus folgt direkt, 
dass nach der Theorie die Drehung des Tieres stets um eine Achse 

al: 


484 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


erfolgen muss, die zwischen den beiden Körperhälften, also in 
der Symmetrieebene liegt, welche diese beiden scheidet. 

Ein zweites vielleicht noch wichtigeres ist die völlige Igno- 
rıerung der speziellen Struktur, die es für Loeb und seine 
Anhänger einfach nicht gibt. Wir brauchen nichts zu wissen, als 


dass der Organismus symmetrisch ist — die Theorie ist gleich an- 
wendbar für Einzellige bezw. Larven einfachster Organisation als 
auch für die kompliziertesten Metazoen — und dass er überhaupt 


auf die betreffende Energie reagiert; alles übrige ergibt sich von 
selbst. Wer die Schriften Loeb’s liest, könnte aus verschiedenen 
Redewendungen, die sich hin und wieder eingestreut finden, leicht 
den Schluss ziehen, als kämpfe er gegen diejenige Auffassung, 
welche in den Handlungen auch der niederen Tiere willkürliche 
Willensakte sieht und deren Zwangsmäßigkeit leugnet. Dies 
ist natürlich nicht der Fall, hätte auch keinerlei Sınn. Die Zwangs- 
mäßigkeit ist eine nicht zu leugnende Beobachtungstatsache, die 
darın zum Ausdruck kommt, dass unter bestimmten Bedingungen 
alle Individuen einer Art das gleiche tun; sie wird von niemanden 
bestritten, wenn man auch nicht der Ansıcht zu sein braucht, dass 
die Handlungen der niederen Tiere sich mit diesen Zwangsbewe- 
gungen erschöpfen. 

Loeb hat sich vielmehr die Aufgabe gestellt, den Mecha- 
nısmus dieses Zwanges bei den Tropismen zu erklären 
und zwar durch mechanisch wirkende Faktoren. Er zieht 
gegen diejenigen zu Felde, die den Zwang auf andere Weise er- 
klären wollen; vor allem also gegen die Auffassung der Tropismen 
— und der Reflexe überhaupt — als ursprünglich indivi- 
duelle Handlungen, die sich als zweckmäßig erwiesen 
und im Laufe der Zeiten durch Gewöhnung und Ver- 
erbung mechanisch und zwangsmäßig geworden sind. 

Zum Verständnis des ganzen folgenden Aufsatzes ıst es durch- 
aus notwendig, dies festzuhalten. 


Disposition der im folgenden versuchten Kritik. 


Bei der Widerlegung der Tropismentheorie, die wir mit den 
nachstehenden Zeilen beginnen wollen, soll ın der folgenden Weise 
vorgegangen werden: 

Zuerst wird gezeigt werden, dass die Theorie unmöglich zur 
Erklärung sämtlicher Tropismen herangezogen werden kann, indem 
erstens in manchen Fällen die Voraussetzung der Theorie (die 
Energiestrahlung) fehlt und trotzdem richtige Tropismen zustande 
kommen; und indem zweitens ın anderen Fällen, wo die Vor- 
aussetzungen an sich vorhanden sind, die Tropismen trotzdem in 
einer der Theorie offensichtlich widersprechenden Weise ablaufen. 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. AS5 


Im zweiten Teile werden wir dann zu zeigen haben, dass die 
Theorie auch in den ihr scheinbar günstigsten Fällen nicht in der 
Lage ist, eine einwandfreie Erklärung der Tropismen zu liefern, 
und schließlich werden wir einen Einwand kennen lernen, der von 
der biologischen Seite her gegen die Theorie erhoben werden muss. 
Die ım folgenden angeführten Beispiele beziehen sich sämtlich auf 
den Heliotropismus und den Geotropismus, zu welchen bedeutend 
die meisten und exaktesten Erscheinungen des gesamten Gebietes 
gehören. Ob der Chemo- und Thermotropismus überhaupt in diese 
Kategorie gehört, ıst mir zweifelhaft; der Galvanotropismus endlich 
ist ein reines Laboratoriumsprodukt, das für den Biologen, insofern 
er das Tier studieren wıll und nicht lediglich die chemischen Eigen- 
schaften des Protoplasmas, keinerlei Interesse besitzt. 


Fälle echter Tropismen, bei denen die Voraussetzungen 
der Theorie fehlen. 

Tropismen ohne Energiestrahlen. Ich wiederhole noch- 
mals, dass man unter Tropismus eine zwangsmäßig verlaufende, 
in bezug auf eine Energiequelle bestimmt gerichtete Bewegung ver- 
steht. Eine solche Erscheinung reinsten Stils ist der Geotropis- 
mus gewisser wirbelloser Wassertiere. Derselbe ist entweder positiv, 
zwingt also die Tiere, senkrecht nach unten zu kriechen, oder er 
bewirkt eine horizontale, die Schwerkraftslinien schneidende Be- 
wegung (Diatropismus), deren Erfolg für den Organismus die sogen. 
Erhaltung des Gleichgewichtes ıst. Nun wissen wir, dass in der 
Mehrzahl dieser Fälle, auf die wır uns hier beschränken wollen, 
der Geotropismus gebunden ist an bestimmte Sinnesorgane, die 
sogen. Statocysten, deren Bau ich hier als einigermaßen bekannt 
voraussetzen muss. Ihre Funktion beruht nachgewiesenermaßen 
darauf, dass der schwere Statolith einen mechanischen Reiz auf 
das Sinnesepithel der Statocyste ausübt, und die ganze Wirkung 
des Apparates, das Tier in eine bestimmte Lage zur Schwerkraft 
zu bringen, kommt dadurch zustande, dass dieser mechanische 
Reiz infolge der Beweglichkeit des Statolithen, der stets den tiefsten 
Punkt der Blasenwand berührt, immer aus einer durch die Schwer- 
kraft bestimmten Richtung kommt. Bewiesen wurde die Statolithen- 
drucktheorie durch die berühmten Kreidl’schen Versuche mit den 
eisernen Statolithen bei Krebsen, an denen er mit Hilfe eines 
Magneten zeigen konnte, dass die Bewegungen des Tieres je nach der 
Richtung, aus welcher der Druck des Statolithen kommt, eine ver- 
schiedene ist. 

Ferner haben Prentiss?) und ich?) gezeigt, dass der Verlust 

2) Prentiss, The Otoeyst of decapod Crustacea. Bull. Mus. Comp. Zool. 
Harvard Coll. Vol. 36. 1901. 

3) v. Buddenbrock, W. Über die Orientierung der Krebse im Raum. 
Zool. Jahrb. Abt. f. allg. Zool. u. Phys. Bd. 34. 1914. 





4S6 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


des Statolithen allein die gleiche Wirkung hat wie Verlust des 
ganzen Organs!). 

Eine Energiewirkung auf das lebendige Gewebe, wie 
sie die Tropismentheorie vorsieht, gibt es also hier einfach nicht, 
dıe Energie wirkt auf den leblosen Statolithen, und die ganze Er- 
scheinung gehört in die Kategorie der mechanischen Reize, scheidet 
folglich für die Loeb’sche Betrachtungsweise aus. 

Als ein weiteres Beispiel tropistischer Bewegungen, die ohne 
die Voraussetzungen von statten gehen, von denen sie nach Loeb 
abhängen sollen, sind von anderer Seite gewöhnlich die wohl aus- 
geprägten Vermeidereaktionen betrachtet worden, welche die Infu- 
sorien auf schädliche Reize hin zeigen. Wenn man eine Anzahl 
derartiger Tiere, z. B. Paramaecien oder Stylonychıen unter 
ein Deckglas bringt, so kann man an ıhnen, wie ın vielen Lehr- 
büchern zu lesen steht, die Erscheinungen des Chemo- und Thermo- 
tropismus sehr schön studieren, bei grünen Arten tritt dann noch 
häufig der Heliotropismus hinzu. 

Da nun diese Tiere völlig asymmetrisch gebaut sind, so wäre 
hier die Tropismentheorie, welche zwei spiegelbildliche Körper- 
hälften oder einen radıären Bau voraussetzt, nicht anwendbar, so 
dass hier ein weiteres Beispiel von Tropismen gegeben wäre, die 
ohne die der Theorie notwendigen Voraussetzungen von statten 
gingen. Die Methode, nach der die Infusorien schädlichen Reizen 
ausweichen, ist aber nicht das geradlinige Wegschwimmen von der 
Energiequelle, sondern sie führen sogen. Probierbewegungen 
aus. Es handelt sich also hier gar nicht um richtige Tropismen, 
wie ich in Übereinstimmung mit Loeb gegen Jennings betonen 
möchte, so dass diese Fälle, wie überhaupt alle Probierbewegungen, 
nicht gut zur Kritisierung der Loeb’schen Theorie verwendet 
werden können. 

Eine weitere Reihe der Theorie widersprechender Erschei- 
nungen werden wir ım folgenden kennen lernen bei Betrachtung 
solcher Fälle, wo zwar die Voraussetzungen der Symmetrie 
und der Energiestrahlung vorhanden sind, gleichwohl 
aber der Ablauf der Bewegung in einer der Tropismen- 
theorie widersprechenden Weise erfolgt. Ich beschränke 
mich auf drei Beispiele. Das deutlichste dieser Art liefert, worauf 
schon H. S. Jennings aufmerksam machte, 


4) Bei gewissen Fischen sollnach E. P. Lyon die Sache anders liegen, indem dort 

die vorsichtige, eine Verletzung des Sinnesepithels ausschließende Herausnahme des 
Statolithen keine Ausfallserscheinungen zur Folge haben soll. Die Richtigkeit dieser 
Beobachtung erscheint mir äußerst zweifelhaft, da wahrscheinlich Blutgerinsel, deren 
Eintritt in die Blase sich kaum vermeiden lassen dürfte, die Rolle des Statolithen 
übernehmen. Für unsere Betrachtung ist aber das Benehmen der Fische einiger- 
maßen gleichgültig, da es uns hier nur darauf ankommt, zu zeigen, dass gewisse 
Geotropismen, nicht alle, in die Kategorie der mechanischen Reize gehören. 


g' 


RS 
I 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


der Seitwärtsgang der Krabben. 

Das Tatsächliche ist hier mit wenigen Worten erschöpft. Wenn 
ich eine solche Krabbe in irgendeiner Weise, z. B. durch eine starke 
Lichtquelle reize, und zwar von der einen Seite aus, so tritt be- 
kanntermaßen nicht die von der Tropismentheorie verlangte 
Drehung des Tieres bis zur Einstellung der Symmetrieebene in die 
Strahlenrichtung ein, sondern die Krabbe läuft ohne weiteres nach 
der entgegengesetzten Seite fort. Das ist nun durch die Theorie 
Loeb’s in keiner Weise zu erklären, zeigt vielmehr auf das deut- 
lichste, dass das Licht hier nicht auf die beiden Körperhälften ge- 
trennt, sondern auf den Organismus als Ganzes einwirkt und eine 
harmonische Tätigkeit aller Bewegungsorgane zur Folge hat. Loeb 
macht freilich einige Einwendungen gegen diese Kritik. Er schreibt: 
„Ich bin aber geneigt, einen anderen Schluss zu ziehen, nämlich, 
dass bei den Krabben erstens eine durchaus andere Verbindung 
zwischen Netzhaut und Lokomotionsmuskeln vorliegt als das bei 
den anderen Krebsen und sonstigen Tieren der Fall ıst; und dass 
zweitens auch in bezug auf die Funktion der beiden Netzhäute eine 
besondere Eigentümlichkeit besteht, indem dieselben sich nicht wie 
symmetrische Oberflächenelemente verhalten. Es ist hier meines 
Erachtens eine neue Entdeckung zu machen“ (1909, p. 48 u. 49). 

Was es zu bedeuten hat, dass Loeb hier plötzlich die sonst 
so vernachlässigte spezielle Struktur zu Hilfe nımmt, werden wir 
an einer anderen Stelle sehen, dass er aber mit seiner Entgegnung 
irgendeine Entkräftung der gegen die Theorie erhobenen Ein- 
wände erreicht, wird schwerlich jemand behaupten wollen. Loeb 
ist hier ganz offenbar ein Denkfehler untergelaufen. Sein Einwand 
soll wohl, in eine etwas klarere Sprache übersetzt, soviel bedeuten, 
dass bei der Krabbe im vermeintlichen Gegensatz zu anderen Krebsen 
das Auge nicht nur mit den Beinen einer Seite verbunden ist, was eine 
Drehung des Tieres bewirkt, sondern mit den Beinen beider Seiten, 
woraus eben eine andere Art der Bewegung resultiert. Der Sinn 
der Tropismentheorie ist doch nun aber wahrhaftig nicht der, zu 
zeigen, dass durch das Licht irgendeine beliebige Bewegung er- 
zwungen wird, sondern es soll sich eine bestimmte Bewegung 
daraus ergeben, die nämlich das Tier vom Licht wegführt, und das 
ist, wie doch Loeb selbst überall betont, nach Maßgabe seiner Theorie 
nur möglich, wenn bei der geradlinigen Bewegung auf das Licht zu 
bezw. von ihm weg eine Bewegung der symmetrischen Mus- 
keln der beiden symmetrischen Körperseiten eintritt. ‚Beim 
Seitwärtsgang der Krabben wird aber die geradlinige Fortbewegung 
erreicht durch einasymmetrisches Kooperieren beider Seiten, 
indem z. B. beim Gang nach rechts die Beine der linken Seite den 
Körper schieben, also die Strecker in Tätigkeit sind, die der rechten 
ihn dagegen nach sich ziehen, wobei die Beuger die Arbeit leisten. 


488 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


Das ist nach der Theorie unerklärlich und kann nur als eine zweck- 
mäßig ausgearbeitete Gesamthandlung des Tieres verstanden werden. 
Der Widerspruch mit der Theorie ist also hier so grob wie nur mög- 
lich. Auch die Annahme, an die man etwa denken könnte, dass die Wıir- 
kung der Energie auf die symmetrische Form hier durch irgendeinen 
hypothetischen zweiten Faktor verdeckt sei, ıst unhaltbar. Denn 
da das Licht, wenn der Vorgang nach dem Schema Loeb’s ginge, 
eine Drehung der Krabbe verursachen müsste, so müsste dieser 
zweite Faktor, der diese Drehung wieder aufhebt, für sich allein 
eine Drehung nach der entgegengesetzten Seite zur Folge haben. 
Dies würde nichts anderes bedeuten, als dass der Krebs ohne die 
Lichtreizung dauernd im Kreise liefe, eine offenbare Ungereimtheit. 

Zu den hier besprochenen Fällen, in denen trotz des Vor- 
handenseins sämtlicher Vorbedingungen der Tropismus in einer der 
Theorie widersprechenden Weise vor sich geht, gehört zweitens 
eine eigentümliche Erscheinung, die bei Seesternen und bei einem 
Krebse zu beobachten sind und die ich als 


wechselbaren Heliotropismus 
bezeichnen möchte. 

Wenn man einen Seestern in ein gleichförmig beleuchtetes Feld 
bringt und nun in seiner Nähe einen Fleck abweichender Hellig- 
keit, also einen tiefen Schatten oder ein helleres Licht hervorruft, 
so kriecht das Tier in beiden Fällen auf diesen Fleck los?). 

Unter den Krebsen zeigt, wie ich selbst zu beobachten Ge- 
legenheit hatte, Hemimysis lamornae eine analoge Erscheinung. 
Dieses Tier schwimmt im Aquarıum dauernd hın und her, soweit 
es der Raum desselben gestattet, aber stets in einer ganz be- 
stimmten Richtung, nämlich auf das vom Fenster kommende Licht 
zu bezw. beim Zurückschwimmen von ıhm weg. Der Krebs wechselt 
also nach einer jeden Wendung, die er an der Glaswand des 
Aquariums ausführt, den Sinn seines Heliotropismus. 

Dass ein und dasselbe Tier sowohl positiven als auch negativen 
Heliotropismus zeigt, ist an sich nichts Wunderbares und wider- 
spricht in keiner Weise der Theorie, kommt auch sonst gar nicht 
selten vor. Die Umkehrung der einen Bewegungsart in die andere 
ist aber alsdann stets an die Applizierung irgendeines neuen Reizes 
gebunden), durch den der physiologische Zustand des Tieres derart 
geändert wird, dass der gleiche optische Reiz nunmehr die umge- 

5) Plessner, H. Untersuchungen über die Physiologie der Seesterne. Zool. 
Jahrb. Abt. f. allg. Zool. 33, 1913. 

6) Es braucht dies durchaus kein äußerer Reiz zu sein. Es ist auch denkbar, 
dass im Laufe der individuellen Entwicklung durch die dabei verlaufenden inneren 
Prozesse der physiologische Zustand sich ändert. Das Benehmen vieler Larven, 
die nach einer gewissen Lebenszeit ohne äußere Veranlassung ihren Heliotropismus 
ändern, ist hierfür ein Beispiel. 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 489 


kehrte Reaktion bewirkt. Ein schönes und klares Beispiel hierfür 
liefern gewisse andere Mysideen (siehe Anm. 9), die nach Be- 
leuchtung positiv, nach Verdunklung negativ heliotropisch werden. 
Dagegen tritt der Wechsel bei Hemimysis ohne jede Änderung des 
physiologischen Reizzustandes ein, und beim Seestern sehen wir 
gar, dass ein und dasselbe Tier ganz nach Belieben des Experi- 
mentators zu einer positiven oder negativen Reaktion gebracht 
werden kann. 

Hier setzt die Kritik ein: Nach der Loeb’schen Theorie haben 
wir in einem Tier ein bestimmtes System chemo-physikalischer 
Kräfte zu erblieken. Wenn auf ein solches System eine Energie 
von bestimmter, konstanter Größe einwirkt, so muss die Reaktion 
notwendigerweise eine eindeutige sein, d. h., die Bewegung muss 
gleiche Reizstärke, und gleichen physiologischen Zustand des Tieres 
vorausgesetzt, stets und immer ım selben Sinne erfolgen. Der Fall 
Hemimysis ıst also mit Hilfe der Tropismentheorie nicht zu erklären. 

Umgekehrt: Wenn ein bestimmtes Kräftesystem durch eine 
Energiemenge zu genau der gleichen Bewegung gezwungen wird 
wie durch eine andere Energiemenge, so müssen logischerweise 
diese beiden Energien gleich groß sein. 

Dieser Satz wird vom Seestern umgeworfen, der ım gleichen 
physiologischen Zustand von Licht sowohl als vom Schatten ange- 
zogen wird; woraus zu folgern ist, dass entweder der Seestern kein 
derartiges Kräftesystem ist, wie Loeb es annımmt, oder dass die 
Energie in einer ganz anderen Weise auf das Auge einwirkt. Wie 
die Erscheinung zu deuten ist, geht uns indessen hier nichts an, 
wir begnügen uns mit der Feststellung, dass die Fälle des wechsel- 
baren Heliotropismus mit der Tropismentheorie nicht erklärbar sind. 


Unerklärbarkeit der Drehungen um die horizontale 
Querachse. 


Wir gehen jetzt einen Schritt weiter und wenden uns, indem 
wir die Besprechung von Einzelfällen verlassen, einer großen ein- 
heitlichen Kategorie von Bewegungen zu, die sämtliche Metazoen 
bei ihren heliotropischen und geotropischen Bewegungen auf- 
weisen, nämlich die Drehungen um die horizontale Querachse. Hier 
werden wir ein drittes Beispiel von Tropismen kennen lernen, die, 
obgleich alle Voraussetzungen der Theorie vorhanden sind, dennoch 
in einer derselben gänzlich widersprechenden Weise ablaufen. 

Ich beginne mit den diaheliotropischen Bewegungen vieler 
Krebse. Zahlreiche Arten dieser Tierklasse, marine sowohl als Süß- 
wasserbewohner, schwimmen stets so, dass sie den Rücken dauernd 
dem Lichte zuwenden (Lichtrückenreflex). Sie bewegen sich also senk- 
recht zu den Lichtstrahlen, ein unzweifelhafter, echter Diatropismus. 
Trifft man die Einrichtung, dass solch ein Tier abwechselnd von oben 


490 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


und unten beleuchtet werden kann, so ergibt sich, z. B. bei plötz- 
lich eintretender Unterbeleuchtung, eine Umdrehbewegung des vor- 
erst in Bauchlage schwimmenden Tieres bis zur hückenlage, so dass 
also wiederum die Rückenfläche dem Lichte zugekehrt ist. Das braucht 
nun noch gar nicht der Tropismentheorie zu widersprechen, indem sich 
langgestreckte Krebse hierbei stets um die in der Symmetrieebene 
liegende Längsachse drehen, so dass also, der Einfachheit halber eine 
etwas schräge Anfangslage angenommen’), das typische Bild des 
theoretischen Schemas sich ergibt: Ungleiche Belichtung zweier sym- 
metrischer Körperhälften, hieraus resultierend Drehung des Orga- 
nismus bis in die zur Energiequelle symmetrische Endlage. Kurze, 
gedrungen gebaute Krebse verhalten sich aber nun ganz anders. 
Entsprechend ihrem Körperbait ziehen sie es vor, einen Purzelbaum 
zu schlagen, um auf diese Weise in dıe Rückenlage zu kommen. 
Der Amphipode Hyperia tut dies stets, die Larve von Sqwlla sehr 
oft; das sind nur zwei Beispiele für eine sehr häufige Erscheinung. 
Bei einem solchen Purzelbaum fallen nun aber sämtliche Voraus- 
setzungen der Tropismentheorie vollkommen fort, indem eine Drehung 
des Körpers um eine in der Symmetrieebene verlaufende Achse 
gar nicht stattfindet. Vielmehr erfolgt die Drehung um eine senk- 
recht zur Symmetrieebene verlaufende, horizontale Querachse, 
durch die man keine einzige Ebene legen kann, welche den Orga- 
nismus in zwei gleiche Körperhälften zerlegt, wie es doch die 
Theorie erfordert. Es fehlt also die leiseste Möglichkeit, die Be- 
wegung mit der Theorie in Einklang zu bringen, und doch ist sie 
ein ganz echter Tropismus. 

Genau die gleiche Überlegung lässt sich bei den diageotro- 
pischen Bewegungen anstellen, die bei vielen Krebsen an Stelle 
des Lichtrückenreflexes die Erhaltung des Gleichgewichts, alias der 
Bauchlage beim Schwimmen gewährleisten. Der Krebs Palaemon 
sei als Beispiel gewählt. Sobald das Tier irgendwie aus seiner 
normalen, horizontalen Bauchlage herausgebracht wird, führen es 
zwangsmäßig verlaufende Bewegungen wieder zu ıhr zurück. Auch 
hier ıst nur diejenige Art der Orientierungsbewegung mit der Tro- 
pismentheorie vereinbar, bei der eine Drehung um die Längsachse 
stattfindet. Stelle ich aber den Krebs einigermaßen senkrecht, so 
vollführt er bei seiner Rückkehr zur horizontalen Normallage eine 
Drehung um die horizontale Querachse, die, wie wir oben sahen, 
jeder Erklärung durch die Loeb’sche Theorie spottet‘°). 


7) Die verkehrt symmetrische Lage, in diesem Falle also Symmetrieebene in 
Richtung der Lichtstrahlen, aber Rücken dem Lichte abgewendet, bietet der Er- 
klärung durch die Theorie große Schwierigkeiten (siehe p. 491). 

8) Palaemon reagiert auch ohne Statocysten so mit Hilfe des von mir nach- 
gewiesenen allgemeinen Lagereflexes, der an sich, da wir nichts Näheres über ihn 
wissen, sehr wohl der Erklärung durch die Tropismentheorie zugänglich sein konnte. 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 491 


Vorübergehen kann man an diesen diatropischen Bewegungen 
nicht. Sie stellen typische Orientierungsbewegungen in bezug auf 
eine Energiequelle dar, sind also durchaus richtige Tropismen. 
Loeb wird sich also zu dem Eingeständnis bequemen müssen, dass 
es neben dem Seitengang der Krabben noch eine zweite ganze 
Kategorie solcher Erscheinungen gibt, die nicht in seine Theorie 
passen. 

Es ist nun aber nicht einmal notwendig, bei den immer- 
hin vereinzelten diatropischen Erscheinungen stehen zu bleiben. 
Nehmen wir einen ganz beliebigen positiv (oder negativ) helio- 
tropischen Organismus, der sich frei im Raume bewegt, also etwa 
schwimmt. So wird er sich, wenn die Lichtquelle wirklich seitlich 
von ihm steht, allerdings nach dem Schema der Theorie um eine 
Vertikalachse drehen, die in der Symmetrieebene verläuft, befindet 
sich also das Licht irgendwo über oder unter ıhm, so dreht sich 
das Tier, wie jedes derartige Experiment mit Leichtigkeit zeigt, 
wiederum um die uns bekannte, der theoretischen Deutung wider- 
strebende Querachse. : 

Wir sehen also hier wieder, was schon die Beobachtung von 
Squilla und Palaemon lehrte, dass bei einem und demselben Tier 
sowohl solche Tropismen vorkommen, die durch die Theorie erklär- 
bar zu sein scheinen, als auch andere, die schon auf den ersten 
Blick hin gänzlich unerklärbar sind. Nun wird sicherlich nie- 
mand geneigt sein, diese beiden Bewegungsarten, die Drehungen 
um die Vertikal- und die Horıizontalachse auseinander zu 
reißen und zu behaupten, dass zwar die erstere durch die allge- 
meinen Gesetze der Tropismentheorie bedingt sei, die zweite aber 
einer ganz anders gearteten Erklärung, nämlich durch die spezifische 
Struktur des Tieres bedürfe. Nein! Beide Bewegungen, die häufig 
vikariierend für einander eintreten und in der verschiedensten Weise 
kombiniert sein können, sind zweifelsohne wesensgleich, und da 
nun nachweisbar die eine davon gar nichts mit der Tropismentheorie 
zu tun hat, so werden wir hieraus den Schluss ziehen, dass die 
andere, die Drehung um die Vertikalachse, auch nur scheinbar 
mit dieser Theorie zusammenhängt, in Wahrheit aber ebenfalls 
durch die zweckmäßige, vorgebildete Struktur des Organismus be- 
dingt ist. 


Unerklärbarkeit der Reaktion, die von der verkehrt 
symmetrischen Stellung aus erfolgt. 

Wir haben hier zum ersten Male ein auf sämtliche Tropismen- 
arten anwendbares Argument kennen gelernt. Soweit die Drehungen 
um die Horizontalachse in Frage kommen, ist es absolut zwingend, 
und die Theorie Loeb’s widerlegt. Anders steht es mit den Drehungen 
um die Vertikalachse. Für den Fall, dass im diesem Purkte der 


492 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


gegen die Tropismentheorie erhobene Beweis, der nur auf einem 
Analogieschluss beruht, nicht für genügend erachtet werden sollte, 
wollen wir uns im folgenden speziell diesen Bewegungen zuwenden, 
die Loeb allem Anschein nach allein im Auge gehabt hat. Es 
wird der Nachweis geführt werden, dass auch hier seine Annahme, 
zunächst für einen bestimmten Fall, die verkehrt symmetrische 
Stellung, zu Konsequenzen führt, welche der Tatsache wider- 
sprechen. 

Ich nehme also irgendeinen bilateral-symmetrischen negativ- 
heliotropischen Organismus und stelle ihn, so genau wie nur mög- 
lich, so ein, dass das Vorderende dem Licht zugewendet ist. 

Erfahrungstatsache: Das Tier dreht sich sehr schnell um 180° 
und schwimmt, fliegt oder kriecht vom Lichte weg. Nun bitte ich 
zu überlegen, dass das Prinzip der Tropismentheorie auf der un- 
gleichen Wirkung der betreffenden Energie auf die beiden sym- 
metrischen Körperhälften beruht. Im angenommenen Falle ist eine 
solche Ungleichheit überhaupt nicht vorhanden, beide Seiten des 
Tieres werden in genau dem gleichen Maße vom Licht getroffen. 
Folglich müsste, wenn wirklich die Verhältnisse so lägen, wie die 
Tropismentheorie es annımmt, in diesem Falle eine Reaktion ent- 
weder völlig ausbleiben oder erst ganz allmählich eintreten, nach- 
dem das Tier durch zufällige kleine Bewegungen aus der Symmetrie- 
lage herausgekommen ist. 

Mit anderen Worten: Nach der Tropismentheorie müsste die 
lichtabgewandte Stellung für positiv heliotropische Tiere, und die 
zugewandte für negatıv reagierende ein sogen. toter Punkt sein. 
Ein unanfechtbarer, durch keine Dialektik zu beseitigender Ge- 
dankengang, mutatis mutandis auf jede Art von Tropismus an- 
wendbar. 

Dass, wie jede Erfahrung lehrt, auch von der verkehrt sym- 
metrischen Stellung aus stets eine schnelle und präzise Reaktion 
erfolgt, ist nur so erklärbar, dass der Organismus als Ganzes die 
falsche Lage empfindet und darauf reagiert, nie und nimmer aber 
durch die einander entgegengesetzte Wirkung der beiden Körper- 
hälften, da dieselben sich total aufheben müssten. 

Es ist dies der allgemein gültigste Einwand, der sich über- 
haupt gegen die Tropismentheorie erheben lässt, er gilt, soweit ich 
das Gebiet überschaue, für sämtliche Tropismen, die es gibt. Die 
Reaktion, die stets von der verkehrt symmetrischen Lage aus zu 
beobachten ist, lässt sich aber auch durch keinen Reflexmechanismus 
erklären, wenigstens müsste man ganz komplizierte unbeweisbare 
Hilfsannahmen machen, sie weist mit Sicherheit darauf hin, dass 
es auch bei den niederen Tieren willkürliche Handlungen gibt, die 
auf gewisse Unlustgefühle hin, oder wie man das sonst nennen will, 
eintreten. 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 493 


Die Unerklärbarkeit der harmonischen Koordination 
der Bewegung beider Körperhälften. 

Dieser Einwand, dass die Reaktion des Tieres nicht auf der 
voneinander unabhängigen Wirkung der beiden Körperhälften be- 
ruht, sondern eine harmonische Handlung des gesamten Organismus 
darstellt, trifft nun aber nicht nur bei der verkehrt symmetrischen 
Stellung zu, sondern überhaupt bei fast einer jeden tropistischen 
Drehung um die Vertikalachse. 

Ginge eine solche Bewegung nach dem Schema der Tropismen- 
theorie vor sich, so könnten wir sie mit folgendem Vorgange ver- 
gleichen: In einem Ruderboot sitzen zwei Ruderer, von denen der 
eine das linke, der andere das rechte Ruder bedient. Wenn nun 
der eine sein Handwerk besser als der andere versteht oder stärker 
ist als er, so ist hiervon die unfreiwillige Folge, dass das Boot nicht 
geradeaus fährt, sondern sich zu drehen beginnt. Beide Seiten 
wirken unkoordiniert, die Drehung wird bewirkt durch die Diffe- 
renz der beiderseits angreifenden Kräfte. 

Dieser Fall entspricht genau der Tropismentheorie und ist bis 
in die Einzelheiten genau realisiert beim Galvanotropismus. 

Nun gibt es beim Ruderboot aber noch eine andere Möglich- 
keit der Drehung. Nehmen wir an, die beiden Ruderer beab- 
sichtigen irgendeine Wendung zu machen; so gehen sie dabei so 
vor, dass der eine von ihnen gleich stark oder noch stärker weiter- 
rudert als vorher, der andere aber wird entweder den Schlag zur 
Unterstützung seines Partners in entgegengesetzter Richtung führen 
als beim Vorwärtsrudern, oder er wird wenigstens eine jede Ruder- 
bewegung unterlassen, um dem anderen nicht hinderlich zu sein. 

Es resultiert also auch hier eine Drehung, deren Effekt nun 
aber durch das koordinierte zweckmäßige Zusammenarbeiten 
beider Seiten bedingt ist und zwar im ersten Falle durch die Summe 
beider Kräfte, die im gleichen Sinne arbeiten, im zweiten durch die 
Kraft der einen Seite allein. Ein Gegeneinanderarbeiten beider 
Seiten findet niemals statt, das ıst das Kriterium. 

Dieser Fall liegt nun bei allen ın der freien Natur vorkommenden 
Tropismen vor und ist mit der Loeb’schen Theorie offenbar nicht 
zu vereinigen. Ich möchte hiervon einige Beispiele bringen. 

Das erste bezieht sich auf die diaheliotropischen Bewegungen, 
den schon besprochenen Lichtrückenreflex mariner Krebse. Hier 
konnte ich vor zwei Jahren nachweisen, dass bei einseitiger Be- 
leuchtung stets eine Seitwärtssteuerung der Ruderfüße beider 
Seiten im gleichen Sinne erfolgt, ein deutlich koordiniertes 
zweckmäßiges Verhalten, das nach der Tropismentheorie unmöglich 
vorauszusehen oder zu erklären ist. Ein solches sich gegenseitiges 
Unterstützen der Gliedmaßen bezw. der Muskulatur beider Seiten 
ist bei fast allen Wendungsbewegungen im Tierreiche zu beob- 


494 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


achten, nur hat man diesen theoretisch wichtigen Dingen bisher nur 
ein sehr geringes Interesse entgegengebracht. 

Der zweite Fall, dass nämlich nur die eine Körperseite sich 
bewegt und die andere vollkommen still steht, ist ganz wesentlich 
seltener. Das bestbekannte Beispiel ıst das von Bauer’) studierte 
Verhalten der Mysideen Lichtreizen gegenüber. Diese eigentüm- 
lichen Tiere sind nach vorausgegangener Belichtung positiv, nach 
Verdunklung negativ-heliotropisch, es wirkt also im ersten Falle 
Verdunklung, im zweiten Belichtung als Reiz, dem die Tiere zu 
entfliehen suchen. Dies geschieht nun in der Weise, dass die reiz- 
abgewandten Beine in ihrer Bewegung gehemmt werden, woraus, 
da die zugewandten wie vorher weiterrudern, notwendigerweise eine 
Drehung vom Reizorte weg erfolgt. Soweit die Tatsachen. 

Suchen wir sie zu deuten, so ıst zunächst klar, dass der Be- 
fund für Loeb nicht ungünstig ıst, da ja de facto nur die dem 
gereizten Auge zugeordneten Beine reagieren, man kann also die 
Bewegung als eine nichtkoordinierte betrachten. Anderseits muss 
zugegeben werden, dass die Bewegung ın Analogie des oben ange- 
führten Beispiels vom Ruderboot genau so gut als eine zweckmäßig 
koordinierte beider Seiten betrachtet werden kann, inden eine 
jede Behinderung der einen durch die andere vermieden wird. 
Wir befinden uns also hier hinsichtlich der uns interessierenden 
Streitfrage gewissermaßen auf neutralem Boden, wir können nicht 
beweisen, dass der Phototropismus der Mysideen gegen die Theorie 
spricht, aber ebensowenig kann Loeb dartun, dass er für dieselbe 
günstig wäre. 


Einwand der Unauffindbarkeit der Drehachse. 

Die zuletzt durchgesprochenen drei Argumente gegen die Tro- 
pismentheorie sind merkwürdigerweise von den meisten Kritikern 
bisher übersehen worden. Das gleiche gilt von einem vierten ebenso 
gewichtigen, das wir uns nunmehr näher betrachten wollen. 

Gesetzt also, wir hätten irgendeinen bilateral-symmetrischen, 
sagen wir lichtempfindlichen Organismus, um bei einem Beispiele 
Loeb’s selbst zu bleiben, eine geflügelte Blattlaus. Dieselbe werde 
lediglich von der linken Seite beleuchtet (d. h. die Lichtquelle sei 
weder über noch unter ıhr, sondern mit ihr in genau der gleichen 
Höhe), so führt sie sofort eine Drehung aus und fliegt geradlinig 
der Lichtquelle zu. Hier haben wir einen wunderschönen, stil- 
gerechten Heliotropismus im Sinne Loeb’s. Einseitige Belichtung, 
Folge: ungleiche Bewegung beider Seiten bis zu einer zur Licht- 
quelle symmetrischen Lage, schließlich geradliniger Flug zum 
Lichte hin. 


9) Bauer, V. Uber die reflektorische Regulierung der Schwimmbewegungen 
bei den Mysideen etc. Zeitschr. f. allg. Physiol. Bd. 8. 1908, 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 495 


Wieviel ist nun davon durch die Tropismentheorie erklärbar? 
Offenbar, von eimigen erst später zu beleuchtenden Bedenken immer 
noch abgesehen, höchstens das eine, dass nämlich die beiden Körper- 
seiten sich verschieden bewegen. Daraus muss allerdings logischer- 
weise eine Drehung des Gesamtorganismus um irgendeine in der 
Symmetrieebene verlaufende Achse xy resultieren, die so lange 
anhält, bis die Symmetrieebene mit der Ebene xyL (L= Licht- 
punkt) zusammenfällt. Das ist aber auch alles, was sich aus der 
Tropismentheorie ergibt! Um welche von den unzähligen in dieser 
Ebene verlaufenden Achsen eine Drehung erfolgt, verrät sie uns 
nicht. Und doch ist, um zu der Energiequelle hin zu gelangen, 
die Drehung um eine ganz bestimmte Achse nötig, diejenige näm- 
lich, die senkrecht auf der Verbindungslinie des Organismus mit 
der Energiequelle steht, und eine jede Theorie, die sich ernsthaft 
mit dem vorliegenden Problem beschäftigt, muss erklären können, 
wie die Drehung gerade um diese eine Achse, anders gesagt, die 
Bewegung ganz bestimmter unter den zahlreichen Flügelmuskeln 
zustande kommt. Hätten wir nichts anderes zur Verfügung als die 
Loeb’sche Theorie, so wäre die Annahme eines Wunders nötig, 
um zu verstehen, wie die Blattlaus nun eigentlich zur Lichtquelle 
findet. Wenn Punkt A das Tier, Punkt L die Lichtquelle bedeutet, 
und wenn ich die Annahme mache, dass die Drehung, welche die 
Theorie verlangt, beendet ıst und also die Linie AL in die Sym- 
metrieebene des Tieres zu liegen kommt, so kann dasselbe je nach- 
dem, um welche Achse es sich gedreht hat, die verschiedensten 
Lagen einnehmen. Es kann sich folglich je nach der Richtung 
seiner Längsachse entlang einer jeden von A aus ın der Papier- 
ebene verlaufenden Linie bewegen, von denen nur eine einzige, 
AL, zum Lichte führt, ohne die Bedingungen der Tropismentheorie 
zu verletzen. Deutlicher kann man die völlige Unfähigkeit der- 
selben, dasjenige zu erklären, was zu erklären ihre einzige Aufgabe 
ist, nicht gut demonstrieren. Dass tatsächlich eine direkte Bewegung 
zum Lichte hin erfolgt, ıst durch derartige physikalisch-chemische 
Annahmen, wie Loeb sie macht, überhaupt nicht zu erklären, es 
beweist vielmehr, dass ım Innern des Organısmus ein zweck- 
mäßig funktionierender Mechanismus steckt, der eben auf 
den Lichtreiz hin die Bewegungsorgane so ın Tätigkeit setzt, dass 
eine Gesamtbewegung nach dem Licht hin erfolgen muss. 

Verantwortlich für das Zustandekommen des Tropismus ist 
folglich die morphologisch-physiologische Struktur des Tieres, die 
in jedem einzelnen Falle gesondert zu untersuchen ist. 

Die Unvereinbarkeit der Tropismentheorie mit dem 
Vorhandensein eines Reflexbogens. 

Dieser letzte Satz leitet von selbst zu dem nächsten Kapitel 

über, welches den schwierigsten Teil der gesamten Kritik enthält. 


496 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


Es erhebt sich nämlich dringend die Frage, in welchem Verhältnis 
die Tropismentheorie zur speziellen Struktur der Tiere steht, oder 
anders gesagt: Wenn ich nachweisen kann, dass der Reiz vom 
Auge aus eine bestimmte vorgeschriebene Bahn, einen sogen. Reflex- 
bogen durchläuft, was hat dann angesichts dieser Tatsache die Tro- 
pismentheorie überhaupt noch für einen Sinn? 

Der unbefangene Beobachter wird doch dann sicherlich dazu 
neigen, eben diesen Refiexbogen, der gewissermaßen einem Uhr- 
werk gleicht, wo ein Rad ins andere greift, bis die Zeiger sich be- 
wegen, für die Ursache des Tropismus zu halten, woraus sich die 
Überflüssigkeit einer weiter her geholten Erklärung dieses Phä- 
nomens ergibt. 

Wenn wir dagegen Loeb’s Schriften durchblättern, werden 
wir zu unserem größten Erstaunen gewahr, dass die Auffassung 
dieses Forschers eine gänzlich andere ıst. Am klarsten kommt das 
zum Ausdruck im Falle der Taschenkrabben, den wır ja, soweit Tat- 
sächliches ın Betracht kommt, bereits kennen lernten. Schon Jen- 
nings hatte ihm vorgehalten, dass das Verhalten dieser Tiere, der 
Seitwärtsgang, unvereinbar mit der Theorie sei, hierauf antwortet 
er nun, wie schon p. 487 zitiert wurde, folgendermaßen: „Ich bin 
aber geneigt, einen anderen Schluss zu ziehen, nämlich, dass bei 
den Krabben erstens eine durchaus andere Verbindung zwischen 
Netzhaut und Lokomotionsmuskeln vorliegt, als das bei den anderen 
Krebsen und sonstigen Tieren der Fall ıst; und dass zweitens auch 
in bezug auf die Funktion der beiden Netzhäute eine besondere 
Eigentümlichkeit besteht, indem dieselben sich nicht wie sym- 
metrische Oberflächenelemente verhalten.“ 

Er leugnet also die Existenz des Reflexbogens nicht nur nicht, 
sondern er benutzt ihn geradezu zur Erklärung des Phänomens und 
trotzdem hält er die Tropismentheorie in vollstem Maße aufrecht! 
Die Lösung dieses Rätsels ist seinen bisherigen Kritikern meines 
Wissens nicht gelungen; sie ist nur möglich, wenn man den histo- 
rıschen Werdegang der Tropismentheorie berücksichtigt: 

Diejenige Erscheinung, welche die Eigentümlichkeit der tro- 
pistischen Bewegungen am deutlichsten und aufdringlichsten zeigt, 
ist unstreitig der Galvanotropismus, die theoretische Beur- 
teilung der übrigen Tropismen wurde durch einen Analogieschluss 
gewonnen, der an diese erstere Erscheinung anknüpfte Nun sind 
aber die Verhältnisse beim Galvanotropismus ganz besonderer Natur. 
Er kommt im Freien nicht vor und ist ein reines Laboratoriums- 
produkt. Soweit er in Betracht kommt, ist also das Tier keine 
Maschine, die für bestimmte Aufgaben, nämlich die Erhaltung des 
eigenen Lebens und die Fortpflanzung der Art zweckmäßig gebaut 
ist, sondern lediglich ein symmetrisches Gebilde, das eine 
beiderseits gleiche chemo-physikalische Struktur besitzt: 


- 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 497 


Begriffe wie Anpassung und Zweckmäßigkeit brauchen wir hier 
nicht, und wenn es einem Ühemiker der Zukunft gelänge, aus 
anorganischer Materie ein Tier, dem Faust’schen Homunculus ver- 
gleichbar, zu erzeugen, so müsste auch dieses Wesen, dem Zweck- 
mäßigkeit, Zuchtwahl, Anpassung etc. gänzlich fremd wären, mit 
Notwendigkeit die Erscheinungen des Galvanotropismus zeigen. 
Man kann in diesem Falle den Organismus etwa mit einem Kristall 
vergleichen, der zwar auch eine Struktur besitzt, aus welcher bei 
Einwirkung gewisser Energien bestimmte Folgeerscheinungen sich 
ergeben, demgegenüber aber den Begriff der Zweckmäßigkeit anzu- 
wenden durchaus unmöglich wäre. 

Der Fundamentalfehler, den Loeb und seine Anhänger machen, 
ist nun der, dass sie das beim Galvanotropismus Gefundene ohne 
weiteres auf die in der freien Natur vorkommenden "Tropismen 
übertragen. Hier ist aber der Begriff der Zweckmäßigkeit kein 
lehrer Wahn. Wenn freilich Loeb den bereits oben erwähnten 
Grundsatz leugnet, dass das Tier eine für die Selbsterhal- 
tung und die Fortpflanzung der Art zweckmäßig gebaute 
Maschine ist, dann könnte man nicht mit ihm diskutieren, ıch 
nehme aber im Interesse seiner selbst und seiner Beurteilung als 
Naturforscher an, dass er so weit nicht geht. Gesteht er sich aber 
hierzu bereit, wogegen wir ihm zusichern, dass wir genau wie er 
die Handlungen der niederen Tiere als etwas Zwangsmäßiges auf- 
fassen und von einem freien Willen meistenteils nichts wissen 
wollen, so muss er uns auf einige Fragen Rede und Antwort 
stehen: 

Zum Beispiel: Der heliotropischen Balanus-Larve dient das 
Auge schwerlich dazu, dass sie sich der Schönheit der sie um- 
gebenden Natur erfreue; wir behaupten dies, weil wir, genau wie 
auch Loeb, ihr höhere Intelligenz und freien Willen absprechen. 
Wir werden folglich zu der Auffassung gedrängt, dass der Zweck 
des Auges — denn irgendeinen Zweck hat es doch sicherlich — ın 
der Vermittlung der heliotropischen Reflexe besteht, wenigstens 
kennen wir sonst nichts, worauf die Wirksamkeit des Auges be- 
zogen werden könnte. Hieraus folgt unmittelbar, dass auch der 
gesamte Reflexbogen, mit dem zusammen erst das Auge einen 
funktionsfähigen Apparat bildet, etwas Zweckmäßiges ist, und sind 
wir erst so weit, so ist schließlich die Auffassung nicht zu um- 
gehen, dass die Grundbedingung des Tropismus eben dieser zweck- 
mäßig gearbeitete und funktionierende Mechanismus des Reflex- 
bogens ist, und dass die Energie dabei keine andere Rolle spielt, 
als dass sie diesen Apparat in Bewegung setzt. 

Wenn Loeb auf diese Deduktion einwendet, dass alsdann 
sämtliche Tropismen einen biologischen Nutzen haben müssten, so 
habe ich darauf folgendes zu erwidern: 

XXXV. 


co 
Tv 


498 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


Das Gegenteil hiervon ist keineswegs erwiesen; wenn in zahl- 
reichen Fällen der Tropismus sinnlos für das Tier oder gar schäd- 
lich zu sein scheint, so liegt das höchstwahrscheinlich daran, dass 
wir entweder den Nutzen, den er dem Tiere bietet, nicht ver- 
stehen, denn von den normalen Lebensbedürfnissen der niederen 
Tiere wissen wir erst blutwenig!°), oder aber, dass der betreffende 
Forscher das Tier bei seinen Versuchen unnatürlichen Bedingungen 
ausgesetzt hat, ein Fall, der nur allzu häufig ist. 

Ich möchte den Gedankengang der vorhergehenden Zeilen, da 
er vielleicht etwas schwierig ist, nochmals in verkürzter Form 
wiederholen. 

Bleibt man bei den Tatsachen, so kann man nur feststellen, 
dass das Licht mit Hilfe des Auges und des daran anschließenden 
Reflexbogens eine bestimmte Bewegung auslöst, wobei das Licht 
die eine, der Reflexbogen die andere Bedingung für das Zustande- 
kommen derselben ist. Hieraus kann man gar keinen Schluss 
ziehen, weder für noch gegen die Tropismentheorie. Diese be- 
kommt erst dann einen Sinn, wenn man den Tatsachen eine be- 
stimmte Deutung des Begriffs „Tier“ unterlegt, indem man das- 
selbe einfach als ein Gebilde von bestimmter chemophysikalischer 
Struktur definiert, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Zweck- 
mäßıgkeit seines Baues. Auf diese Struktur wirkt dann die blind 
waltende Naturkraft genau so ein wie etwa das Eisen auf die 
Magnetnadel, und so erhalten wir den Tropismus. Die hier zu- 
grunde liegende Definition des Tieres ist aber falsch und folglich 
sind dies auch die aus ihm gewonnenen Schlussfolgerungen. 

Das Tier ist vielmehr ein für die Aufgabe der Selbsterhaltung 
und der Fortpflanzung zweckmäßig gebauter Mechanismus, dies ist 
eine unbestreitbare Wahrheit. Aus ihr folgt, dass auch das ein- 
zelne Organ, z. B. das Auge, einen bestimmten Zweck besitzt, was 
sich übrigens auch schon aus dem zweckmäßigen Bau des Auges selbst 
ergibt, und wenn nun dies Auge nichts anderes bewirkt als eine helio- 
tropische Bewegung, so muss letzten Endes auch der dieselbe ver- 
mittelnde Reflexbogen als ein zweckmäßig gebildeter Mechanismus 
betrachtet werden. Hieraus aber folgt, dass die Ursache des Tro- 
pismus eben dieser Mechanismus und dass die Tropismentheorie 
völlig überflüssig ist. Mit diesem Einwand ist die Tropismentheorie 
‚widerlegt, soweit niedere Tiere in Frage kommen, deren Augen- 
funktion sich mit den heliotropischen Bewegungen erschöpft. 

Eine Einschränkung müssen wir aber machen bei hochent- 
wickelten Sinnesorganen, hier liegt nämlich die Sache etwas kom- 


10) Ein genaueres Eingehen auf diesen sehr interessanten Punkt würde hier 
viel zu weit führen. Ich möchte indessen auf die sehr lesenswerte Arbeit von 
V. Franz: „Die phototaktischen Erscheinungen im Tierreiche und ihre Rolle im 
Freileben der Tiere“ hinweisen (Zool. Jahrb. Abt. f. allgem. Zool. 33, 1914). 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 49 


=) 


plizierter.. Wenn z. B. ein Auge sowohl zum Bildersehen eingerichtet 
ist als auch heliotropische Bewegungen vermittelt, so könnte man 
in der Tat annehmen, dass hier nur das Bildersehen der Zweck 
des Auges ist, der Heliotropismus aber eine von der Natur un- 
gewollte Nebenwirkung der Sruktur. 

In diesem Falle könnte man also tatsächlich beinahe der Loeb’- 
schen Auffassung beistimmen — wenn nicht die uns bereits be- 
kannten Einwände existierten, die von den Einzelheiten der Be- 
wegungen ausgehend die Theorie widerlegen. Die Existenz eines 
Reflexbogens macht also mindestens in sehr vielen Fällen die Tro- 
pismentheorie überflüssig und beraubt sie eines jeden Inhalts. Der 
Tropismus hat dann eben seine Ursache in dem Reflexbogen 
selbst. Ihn kann man so ohne weiteres weder „erklären“ noch 
wegleugnen, er ıst eine einfache Beobachtungstatsache, die für eine 
Theorie keinen Platz mehr lässt. 

In allen Fällen ferner, wo nicht gerade ein solcher Reflexbogen 
scharf nachweisbar ist, aber ein Nervensystem existiert, das zwischen 
Muskeln und Hautsinneszellen vermittelt, ıst es beinahe bis zur 
Gewissheit wahrscheinlich, dass es unsere operative Ungeschick- 
lichkeit ıst, die uns am Auffinden des Reflexbogens verhindert, und 
dass ein solcher nicht etwa fehlt. Auch hier können wir also der 
Tropismentheorie nur eine äußerst geringe Lebensberechtigung zu- 
sprechen. Ich möchte einen derartigen Fall näher zur Sprache 
bringen, weil er in sehr lehrreicher Weise dartut, zu welchen ge- 
wagten, völlig unbewiesenen Hilfsannahmen die Anhänger der 
Tropismentheorie sich versteigen. Davenport (1897) schreibt 
über den negativen Heliotropismus des Regenwurms: „Die Sonnen- 
strahlen mögen horizontal und quer xu seiner Achse auffallen. 
Dann treffen ihn (den Regenwurm d. Verf.) die einwirkenden Strahlen 
seitlich, oder mit anderen Worten, er wird von einer Seite her be- 
leuchtet und von der anderen nicht. Da nun das Protoplasma beider 
Seiten auf eine gleiche Lichtstärke abgestimmt ist, so ist die 
weniger stark belichtete der optimalen Lichtstärke näher. Ihr Proto- 
plasma befindet sich in einem phototonischen Zustand, während 
die stark belichtete ihren phototonischen Zustand verloren hat. 
Daher sind nur die verdunkelten Muskeln imstande, sich normal 
zu kontrahieren und die hell erleuchteten sind erschlafft. Unter 
diesen Umständen krümmt sich das Tier nach der dunkleren Seite...“ 
Als Überschrift über das Ganze könnte man „Dichtung und Wahr- 
heit“ setzen. Wahrheit ist daran nur der in Kursivschrift gesetzte 
Vorder- und Schlussatz. Was dazwischen liegt, kann nur als Be- 
weis einer reich begabten Phantasie bewundert werden, ein wissen- 
schaftlicher Wert kommt ihm nicht zu. Gar nichts wissen wir 
davon, auf welche Lichtstärke das „Protoplasma“ des Wurmes ab- 
gestimmt ist. Sein phototonischer Zustand ist uns gänzlich ver- 


29% 


500 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


borgen und demzufolge auch die Wirkung des Lichts auf ver- 
dunkelte und belichtete Muskeln. 

Stelle ich dem Einiges gegenüber, was wir wirklich wissen, dass 
nämlich in und dicht unter der Epidermis des Regenwurms Zellen sich 
befinden, deren ganzer Bau mit Sicherheit auf ihre [Lichtempfindlich- 
keit schließen lässt, dass von ihnen Nerven zum Bauchmark ziehen 
und andere von da zum Hautmuskelschlauch, dass ferner der ganze 
Tropismus aufhört, wenn ich das Bauchmark zerstöre, so dass sich 
die Existenz eines Reflexbogens: Lichtempfindliche Hautsinneszellen, 
sensorische Nerven, Bauchmark, motorische Nerven und Muskel- 
schlauch mindestens ahnen lässt, so kann ich es dem Leser getrost 
überlassen, welche von beiden Möglichkeiten, die des Reflexbogens 
oder die der Davenport’schen Annahmen die größere Wahrschein- 
lichkeit für sich hat. Immerhin bestände in diesem Falle eine ge- 
wisse Möglichkeit der Erklärung im Loeb’schen Sinne, vorausge- 
setzt, dass die früher gemachten Einwände ihre Gültigkeit verlören; 
und wenn wir uns schließlich denjenigen Fällen zuwenden, wo ein 
Reflexbogen überhaupt mit unseren derzeitigen Mitteln nicht nach- 
weisbar ist, so werden wir, von diesem Standpunkte aus betrachtet, 
sogar in der Tropismentheorie die alleinige Beherrscherin der Lage 
kennen lernen. 

Ich möchte hier zwei derartige Tropismen anführen. Der 
erste betrifft die Reaktionen auf Schwerkraftsreize bei solchen 
Tieren, die nachweisbar keine Statezysten besitzen bezw. den Geo- 
tropismus auch nach Entfernung dieser Organe noch aufweisen, 
der zweite die Wachstumserscheinungen gewisser Hydropolypen, 
die eine Einstellung des Tieres in die Richtung der Lichtstrahlen 
zur Folge haben. In beiden Fällen sind wir, wollen wir auf dem 
Boden der Tatsachen bleiben, gänzlich außerstande, die Er- 
scheinung zu analysieren. Nichts ist bezeichnender für das ganze 
Wesen der Tropismentheorie, als dass sie gerade in diesen dunkelsten 
Winkeln unseres Wissens am üppigsten gedeiht. Es ist eben sehr 
viel leichter eine Theorie aufzustellen über Dinge, die man so gut 
wie gar nicht kennt als über solche, die gut studiert sind, wo dann 
die Theorie dauernd Gefahr läuft, an der rauhen Oberfläche der 
Tatsachen hier und dort hängen zu bleiben. Es wäre ıhr hier 
nicht beizukommen, wenn nicht, nochmals gesagt, die anderen Ein- 
wände auch in diesen Fällen zu Recht beständen. 


Die Unerklärbarkeit der Zweckmäßigkeit der Tropismen. 

Nachdem wir ım Vorhergehenden die Einwände, die von der 
morphologischen Seite aus gegen die Tropismentheorie erhoben 
werden können, einigermaßen erschöpft haben, wollen wir unsere 
kritische Studie damit beschließen, dass wir das vorliegende Problem 
nun auch von der biologischen Seite her beleuchten. 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 501 


Die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Tropismen sei der 
(Gegenstand unseres Interesses. 

Bewegungsprobleme, wie die Tropismen eines darstellen, werden 
ja gemeinhin auf folgende Weise zu lösen versucht. Man betrachtet 
die Struktur des Tieres als das Gegebene und beschränkt sich 
darauf, die Bewegung als bedingt durch gewisse Elemente dieser 
Struktur und durch bestimmte äußere Reize nachzuweisen. Die 
Zweckmäßigkeit der Bewegung für den Gesamtorganismus ergibt 
sich bei einer solchen Betrachtungsweise ebenfalls als eine Folge 
der Struktur. Sie ist also, wo sie nachweisbar ist, eine reine Be- 
obachtungstatsache, über deren Herkunft wir uns nicht weiter den 
Kopf zerbrechen. 

Loeb dagegen geht einen anderen Weg. Für ihn ist, wie wir 
eingangs sahen, die Struktur des Organismus etwas durchaus Neben- 
sächliches, über das er vollkommen hinweg sieht, um sich sofort 
den höheren Sphären der physikalischen Chemie zuzuwenden, dem 
Allerweltsheilmittel moderner Forschung. Die Bausteine der Tro- 
pismentheorie sind lediglich die Symmetrie des Tierkörpers und 
-die blindwaltende unorganisierte Naturkraft, z. B. das Licht. Wenn 
aus dem Zusammenwirken dieser Faktoren eine nachweisbar zweck- 
mäßige Handlung resultiert, so ist das etwas im höchsten Grade 
Erstaunliches, das dringend einer Erklärung bedarf. Diese also ist 
Loeb uns schuldig. Der einzige Weg, den er hierbei überhaupt 
nur gehen kann, ist die Selektionstheorie, zu der er beiläufig 
bemerkt, eine höchst sonderbare und widerspruchsvolle Stellung 
einnimmt. 

Einerseits spricht er ıhr jeden Wert ab und schreibt: „Wer 
seine Zeit nicht mit müßigen Wortspielereien vergeuden will, wird 
daher gut tun, die Instinkte in derselben Weise zu analysieren, 
wie das für die Vorgänge in der unbelebten Natur üblich ıst, wo 
Begriffe wie Anpassung und natürliche Zuchtwahl sich als nutzlos 
erweisen; und wo es nur darauf ankommt, den Mechanismus des 
Geschehens klarzulegen“ (1913 p. 452). Dagegen finde ich eine 
andere Stelle, in der er ganz offen zugibt, „dass Spezies, welche Tro- 
pismen besäßen, durch welche die Fortpflanzung und Erhaltung der 
Art unmöglich würde, eben aussterben müssten“, was doch wohl 
im Prinzip auf ein Zugeben der Wirksamkeit des Selektionsge- 
dankens hinauskommt. 

Wie sich aber auch Loeb zu Darwin stellen möge, sicher 
ist, ob er es nun zugibt oder nicht, dass er seiner Bundesgenossen- 
schaft bedarf, wenn er darauf ausgeht, die Zweckmäßigkeit der 
Tropismen zu erklären. 

Hierbei ist es einerlei, ob es neben den nützlichen Tropismen 
auch indifferente oder gar schädliche gibt, was letzteres wir übrigens 


502 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


mit großem Recht bestreiten können, s. S. 497, wenn nur das Ent- 
stehen der nützlichen klargestellt werden kann. 

Wir wollen zunächst einige Beispiele solcher für den Gesamt- 
organısmus zweckmäßiger Tropismen kennen lernen: 

Es gibt zahlreiche Tiere, bei denen der Tropismus eine Flucht- 
bewegung darstellt, die sie vor feindlichen Angriffen rettet. So 
werden gewisse im freien Wasser lebenden Muschelkrebse auf 
mechanische Erschütterungen hin positiv geotropisch und negativ 
heliotropisch, d. h. sie suchen die tiefste und dunkelste Stelle ihres 
Gewässers auf. Anderseits gibt es Bewohner dunkler Lokalitäten, 
die auf Belästigungen solcher Art mit positivem Heliotropismus 
reagieren, wodurch sie etwa einem im Schlamme wühlenden Tiere 
entgehen können. 

In anderen Fällen ist der Tropısmus dem Nahrungserwerbe 
förderlich. Loeb selbst gibt als Beispiel hiervon das Benehmen 
der jungen Goldafterraupen an, die aus dem Winternest kriechend 
nur mit Hilfe des positiven Heliotropismus die jungen Blätter im 
Gipfel der Sträucher finden können. 

Schließlich sei ein Fall erwähnt, wo derartige Bewegungen im, 
Dienste des Atembedürfnisses stehen. Es wird nämlich der 
Wasserskorpion (Nepa) nach Verlust seiner Atemluft negativ geo- 
tropisch und positiv heliotropisch ''). Vermöge dessen findet er mit 
Sicherheit an die Wasseroberfläche, wo er von neuem Luft schöpfen 
kann. 

Zur gleichen Kategorie gehört wahrscheinlich auch der von 
Loeb beschriebene, auf Zusatz gewisser Säuren, besonders Kohlen- 
säure hin eintretende positive Heliotropismus der Daphnien. Er 
dient den Tierchen vermutlich zum Aufsuchen reinerer Wasser- 
schichten. 

Schließlich gibt es zahlreiche Fälle, ın denen der positive 
Heliotropismus eine zweckmäßige Schwärmbewegung junger Larven 
erzwingt, mit deren Hilfe sie sich ım Wasser verbreiten. 

Diese Beispiele ließen sich sehr erheblich vermehren, sie werden 
auch sicherlich ın Zukunft ım selben Maße zunehmen, als sich 
unsere Kenntnis der Lebensweise der niederen Tiere vertieft. 

Wie kann nun Loeb, wenn er auf dem Boden der Tropismen- 
theorie stehen bleibt, die sinnfällige Zweckmäßigkeit dieser Tropismen 
erklären? 

Man muss sich den genauen Vorgang einer solchen Bewegung 
vergegenwärtigen, will man verstehen, worauf es hier ankommt. 
Bleiben wir bei der Goldafterraupe. Hier ist der Hunger die 
conditio sine qua non für das Eintreten des Tropismus, der seiner- 


11) Baunacke, W. 1912. Statische Sinnesorgane bei den Nepiden. Morphol. 
Jahrb. Abt. Anat. Bd. 34. 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 503 


seits die Raupe zu den ernährenden Blättern hinführt. Wir haben 
also hier einen physiologisch schädlichen Zustand, der mit Not- 
wendigkeit eine solche Bewegung zur Folge hat, welche eben diese 
Schädlichkeit beseitigt. Der Hunger ist also gewissermaßen sein 
eigener Arzt! 

Es sind nicht viele Worte notwendig, um darzutun, dass wir 
hier nicht einem einfachen, sondern einem im Gegenteil erstaunlich 
komplizierten Vorgange gegenüberstehen. Wollen wir seine Ent- 
stehung mit Hilfe der Selektionstheorie begreifen (und einen anderen 
Weg besitzt Loeb, nochmals gesagt, überhaupt nicht), so schließt 
das die Annahme in sich, dass eine Ausmerzung nicht passender 
Individuen in doppelter Richtung vor sich ging: Einmal mussten 
alle diejenigen Raupen zugrunde gehen, die zufällig nicht gerade 
auf das Licht zu, sondern in irgendwie diaheliotropischem Sinne 
sich bewegten, und unter diesen auserwählten waren wiederum alle 
dem Tode geweiht, die den Tropismus unter anderen Umständen 
als denen des Hungers gleich nach dem Ausschlüpfen zeigten. 
Würde der Trieb z. B. bestehen bleiben, nachdem die Wipfel kahl 
gefressen sind, so wäre der Tod die sichere Folge hiervon. 

Überdies muss man bedenken, dass bei beiden Arten der Aus- 
lese, die hier zu unterscheiden sind, die Übrigbleibenden der ganzen 
Sachlage nach nur eine verschwindende Minorität der Vernichteten 
sein könnten. Bei einer derartig energischen Dezimierung wäre 
es, wie mir scheint, das Wunderbarste, dass es überhaupt noch 
Goldafterraupen gibt. 

Selektionstheoretische Betrachtungen führen niemals zu einem 
völlig sicheren Ergebnis, sondern immer nur zu gewissen Wahr- 
scheinlichkeiten. Ich glaube gezeigt zu haben, dass in unserem 
Falle die Möglichkeit einer selektionistischen Deutung nur sehr 
gering ist. Sie wird natürlich noch ganz bedeutend geringer, wenn 
wir kombinierte Tropiısmen, wie sie die Muschelkrebse und der 
Wasserskorpion besitzen, ins Auge fassen. Mit dem Problem der 
Zweckmäßigkeit der Tropismen hat sich Loeb selbst nicht näher 
befasst. Es ıst aber nicht ohne pikanten Reiz festzustellen, dass 
er, der die Beschäftigung mit den Fragen der Zuchtwahl als „eine 
Vergeudung der Zeit mit müßigen Wortspielereien“ ansieht, bei 
einer streng logischen Durcharbeitung seiner eigenen Theorie not- 
wendigerweise zu geradezu ultradarwinistischen Schlüssen gedrängt 
wird. 

Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse. 

Wir sind mit unserer kritischen Betrachtung zu Ende. Lassen 
wir die einzelnen Punkte derselben noch einmal an unserem Auge 
vorüberziehen, so ergibt sich, methodisch geordnet, das Folgende. 
Zunächst ist leicht festzustellen, dass die Tropismentheorie nicht 
für sämtliche Tropismen Geltung hat, denn 


504 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 


I. fehlen in manchen Fällen die Voraussetzungen der Theorie 
und trotzdem kommen echte Tropismen, d. h. zwangsmäßige, in 
Bezug auf eine Energiequelle gerichtete Bewegungen zustande. 
Beispiele: Es fehlt die Energiewirkung beim Geotropismus, 
sofern er an das Vorkommen von Statoceysten gebunden ist. Die 
Bewegung ist die Folge eines mechanischen durch den Statolithen 
verursachten Reizes. 

II. sind in vielen Fällen zwar die notwendigen Voraussetzungen 
für die Theorie vorhanden, gleichwohl vollziehen sich die Tropismen 
in einer der Theorie widersprechenden Art. Beispiele: a) Seit- 
wärtslaufen der Krabben, b) wechselbarer Heliotropismus gewisser 
Seetiere, c) Drehung um die horizontale, nicht in der Symmetrie- 
ebene liegende Querachse, bei sämtlichen tropistischen Bewegungen 
zu beobachten. 

Es bleiben jetzt als möglicherweise durch die Theorie erklärbar 
nur noch diejenigen Fälle übrig, m denen symmetrische Tiere 
Drehungen um die Vertikalachse vollführen. Auch hier er- 
weist sich aber die Theorie als unzulänglich, denn: 


III. vermag sie nicht die Reaktion zu deuten, die von der ver- 
kehrt symmetrischen Stellung aus erfolgt; 

IV. kann sie das überall zu beobachtende koordinierte Zu- 
sammenwirken beider Körperseiten nicht erklären; 

V. vermag sie überhaupt nicht darzutun, warum die Drehung 
gerade immer um die Achse erfolgt, die auf der Verbindungslinie 
Tier— Energiequelle senkrecht steht; anders gesagt, sie kann über- 
haupt nicht erklären, wie das Tier zur Energiequelle hinfindet; 

VI. ergibt sich leicht, dass in vielen Fällen bei Anwesenheit 
eines Reflexbogens die Theorie völlig überflüssig ist und eines 
Sinnes entbehrt, da die Bewegung durch den Reflexbogen allein 
schon hinreichend erklärt ist; 

VII. kann sie die bei vielen Tropismen unleugbar vorhandene 
Zweckmäßigkeit in keiner zufriedenstellenden Weise deuten. 


Dem gegenüber können wir als positives Ergebnis unserer 
Untersuchung den Satz aufstellen, dass überall, wo es Tropismen 
gibt, ein für die Aufgabe, das Tier zur Energiequelle hinzuführen, 
zweckmäßig gebauter Bewegungsmechanismus nachweisbar ist, und 
dass der Organismus bei der Bewegung stets als ein einheitliches 
Ganzes handelt. 

Wir werden folglich nach wie vor bei unserer alten Auf- 
fassung bleiben können, dass die Tropismen gleich allen übrigen 
Reflexen ursprünglich individuelle Handlungen darstellen, die ım 
Laufe der Zeiten mechanisch und zwangsmäßig geworden sind. 
Auch diese Auffassung wird freilich nicht jedermann befriedigen, 
denn sie schließt ebenfalls die Annahme gewisser unbewiesener 


v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 505 


Voraussetzungen in sich ein; sie widerspricht aber wenigstens nicht 
den Tatsachen. 

Wichtig erscheint mir vor allem der Gesichtspunkt, dass man 
die Tropismen nicht aus dem organischen Verbande der anderen 
Reflexe herausreißken soll. Betrachten wir die Reaktionen der 
Tiere auf das Licht, so finden wir vom einfachsten Beschattungs- 
reflex bis zum Bildersehen eine kontinuierliche Kette stets kom- 
plizierter werdender Reflexe, deren Gemeinsames darin besteht, 
dass auf den Lichtreiz hin bestimmte Muskeln in Aktion treten. 
Physiologisch sind also diese Bewegungen einander alle gleich; es ist 
folglich unzulässg einige wenige von ihnen einer Erklärungsweise 
unterziehen zu wollen, die bei allen anderen von vornherein versagt. 

Die hier zusammengestellten Einwände werden hoffentlich aus- 
reichen, um die Tropismentheorie endgültig aus der zoologischen 
Literatur verschwinden zu lassen. 

Insofern nur ist sie lehrreich, als sie uns zeigt, dass die An- 
wendbarkeit der anorganischen Naturwissenschaften auf die Probleme 
der Biologie nur eine sehr beschränkte ist. Ich möchte hier auf 
keinen Fall missverstanden werden. Gewiss gibt es zahllose Pro- 
bleme und darunter viele von überragender Bedeutung, die nur 
mit Hilfe von Chemie und Physik lösbar sind. Es handelt sich 
dabei aber stets nur um das Studium einzelner Organe, etwa des 
Muskels, der ersichtlich eine chemische Kraftmaschine ist oder des 
Verdauungstractus, der eine chemische Fabrik darstellt. Hier und 
in tausend analogen Fällen, zu denen natürlich auch die Sinnes- 
physiologie gehört, findet der physikalische Chemiker ein Feld 
reichster Betätigung. — Sobald man aber das Zusammenwirken 
mehrerer Organe, sei es zu einem Organsystem oder einem ganzen 
Organismus, betrachtet, so stößt man überall, beim morphologischen 
Bau sowohl als auch bei allen physiologischen Vorgängen oder 
den sogenannten „psychischen“ Handlungen der Tiere auf An- 
passungen, auf Zweckmäßigkeiten. Dies kann nur leugnen, wer 
die einzelnen Tatsachen nicht in genügender Weise kennt. Zweck- 
mäßigkeiten aber kann man bekanntermaßen nicht mit physikalischer 
Chemie erklären. Das Übersehen dieses Punktes ist der haupt- 
sächlichste Fehler Loeb’s und seiner Anhänger. 

Denn wir fanden überall bei den Tropismen, dass der ihnen 
zugrunde liegende Bewegungsmechanismus zweckmäßig konstruiert 
ist für seine Aufgabe, das Tier der Energiequelle zu oder von ihr 
wegzuführen. 

Das Bestreben Loeb’s, die Handlungen der niederen Tiere 
auf chemo-physikalische Prozesse zurückzuführen, dürfte daher für 
alle Zukunft vergeblich sein. Die von ihm vertretene Forschungs- 
richtung ist aber nicht nur an sich wenig fruchtbar, sondern sie 
führt geradezu zu einer gewissen Verflachung der ganzen Biologie, 


506 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 


keineswegs zu einer tieferen Auffassung derselben, indem sie dazu 
verleitet, das ganze jeweils zu erforschende Problem für erledigt 
zu halten, sobald nur die chemo-physikalische Seite desselben auf- 
geklärt ist. 

. Der Nachweis z. B., dass die Spermatozoen der Farne durch 
Apfelsäure angelockt werden, erscheint Alsogesinnten als eine völlig 
erschöpfende Feststellung. Der „Mechanismus“ des Vorganges ist 
aufgeklärt, und man wendet sich befriedigt anderen Dingen zu. 
Was ist damit eigentlich gewonnen? Das Problem besteht doch 
wohl darin, dass das Archegonium gerade denjenigen Stoff aus- 
scheidet, auf welchen das Spermatozoon reagiert. Das ist eine 
raffinierte Anpassung, und solche finden wir überall bei genauerem 
Zusehen; wer aber nur auf chemo-physikalische Ergebnisse Aus- 
schau hält, läuft an diesem Hauptproblem einfach vorbei, ohne 
es auch nur zu sehen. Die Biologie ist in erster Linie eine 
historische Wissenschaft, sie handelt von gewordenen Dingen, 
deren Erforschung notwendigerweise nach anderen Gesichtspunkten 
vor sich gehen muss als die Erforschung irgendeiner anorganischen 
Materie. Physik und Chemie lehren uns höchstens das Hand- 
werkzeug kennen, dessen die Natur im Bereiche des Lebendigen 
sich bedient, um irgendeinen Zweck zu erreichen, an die tieferen 
Probleme reichen sıe nirgends heran. 

Nur wenn der Physico-Chemiker sich dessen stets bewusst 
bleibt, vermag er innerhalb der Biologie eine gedeihliche Tätigkeit 
zu entfalten. 

Weimar im Oktober 1915. 


Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen 
bei Mehrlinggeburten des Menschen und des Schweins. 


Eıne biostatistische Untersuchung 
von Georg Duncker. 


Inhaltsübersicht. 
I. Methodisches. 
1. Problemstellung. 
2. Die Behandlung des Problems bei Zwillinggeburten. 
3. Erweiterung derselben auf Drillinggeburten. 
4. Die allgemeine Behandlung des Problems. 
5. Messung der Übereinstimmung zwischen Beobachtung und Berechnung. 


II. Resultate. 

6. Das Untersuchungsmaterial und seine wesentlichen Eigenschaften. 

7. Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen menschlicher Mehrling- 
geburten. 

8. Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen bei Mehrlinggeburten des 
Schweins, 

9. Diskussion der Resultate. 

10. Zusammenfassung der Ergebnisse. 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 507 


E 


1. Unter den menschlichen Geburten überhaupt machen Mehr- 
linggeburten nur einen sehr geringen Bruchteil (1,2—1,5%,) aus. 
Bekannt sind bisher Zwilling- bis Fünflinggeburten, von denen 
jedoch nur Zwilling- und Drillinggeburten noch regelmäßig zur Be- 
obachtung gelangen; Vier- und Fünflinggeburten zusammen be- 
zifferten sich in Preußen während der Jahre 1826—1879 auf etwa 
2:10° (Hensen, p. 250). 

Das Verhältnis der Geschlechter bei der Gesamtheit der Ge- 
borenen wird durchschnittlich auf rund 106 d : 100 2 angegeben. 
Das Interesse an der Geschlechtsverteilung bei Mehrlinggeburten 
aber erstreckt sich nicht nur auf das bloße’ Zahlenverhältnis der 
Geschlechter, sondern auch auf die relative Häufigkeit der einzelnen 
Geschlechtskombinationen bei ıhnen. 

Liegen » Fälle v-facher Mehrlinggeburten vor, so sind folgende 
Geschlechtskombinationen darunter denkbar: 


vd, 02 Mei vd 
OO 18,019 
v—2 dd, 29 2 d, v—2 9 

etc. etc. 


Bezeichnet man die Frequenz einer einzelnen dieser Geschlechts- 
kombinationen unter den n Fällen mit f, so ist 
en a 2 = f2, et ie, I N. (1) 
Dann ist offenbar die Gesamtzahl der $ bezw. der 9 ın den 
n Fällen v-facher Mehrlinggeburten 


E()=m= of te Ns teNMot + Motten], 
Se 
und die Gesamtzahl aller Geborenen 
m + w= en. (3) 
Für rechnerische Zwecke am bequemsten drückt man das 
Zahlenverhältnis der Geschlechter innerhalb einer Anzahl gleich- 
klassiger Mehrlinggeburten durch die relative Differenz der Anzahlen 
ihrer männlichen und weiblichen Geborenen aus, d. h. durch die 
„Geschlechtsdifferenz“ 
m—w  m-—w | 
mw Dre (4) 
wo d so lange positiv, als m > ww. Dann ist der wahrschein- 
liche Fehler von d 
E(d) — 0,67149] a (5) 


2vn ’ 


und ferner 


vn 
— Zt +d), De (1—d). (6) 


508 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


Männliche und weibliche Einlinggeburten verhalten sich also 
stets wie (14+d): (1 —.d). 

Im Durchschnitt aller Geburten ist ziemlich genau d = 0,03, 
so dass m : w = 515 : 485. Dies Zahlenverhältnis trifft, infolge ihres 
enormen Überwiegens, vor allem für Einlinggeburten zu (Preußen: 
d = 3,084 0,01%, Hamburg: d = 2,89 + 0,14%). Bei Mehrling- 
geburten dagegen finden sich oft deutliche Abweichungen von dem- 
selben (s. Tab. I). 

Die Frequenzverteilung der einzelnen Geschlechtskombinationen 
innerhalb einer gegebenen Anzahl -facher Mehrlinggeburten ist 
natürlich wesentlich von dem Zahlenverhältnis der Geschlechter bei 
ihnen, resp. von der Geschlechtsdifferenz d, abhängig. Wären 
keinerlei besondere Ursachen vorhanden, welche das Auftreten ein- 
zelner dieser Kombinationen begünstigen oder behindern, so müssten 
ihre Frequenzen denjenigen entsprechen, welche sich der Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung gemäß bei der zufälligen Kombination von m 
schwarzen und zw weißen, gleich zusamınen vn, Kugeln zu » Gruppen 
von je v Kugeln für diese Gruppen ergeben würden. Diese betragen 





w / 
n ol I = (m, + m,_ we + m,_2W0 + + mw, mw, _1+ w,), (7) 
® 


so dass allgemein, wenn a+ß=r und sowohl a wie £ nicht kleiner 
als O und nicht größer als » gedacht werden, 


m aß 
fß=Nn—- 


(en), 
Re m! w! v! (vn —v)! 
al (ma)! P! (w—Bß)! (en)! 
NZ A IE) vl 
Rep a! Bl vn(von —1)-- ae, 

Sind nun, wie bei unserem Material, »», w und » groß (drei- 
und mehrstellige Zahlen) im Vergleich zu » (2—5) und daher erst 
recht ım Vergleich zu a und £, so wird der Quotient der Produkte 


Be et 1) 122 1) Eee 
vn(en—1)-- en FE 
bei wachsendem Verhältnis » :v immer mehr identisch mit dem 
(uotienten der Potenzen 





maß 
(vn)? 
Ferner ist, daa+-ßP=ıv, 
vu! 
ET 7 


und daher merklich 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 509 


m ea mawß 
BEE 
(en) DT 
so dass man die wahrscheinlichen Frequenzen der Geschlechts- 


kombinationen mit befriedigender Annäherung durch die Glieder 
des Binoms 


(m + 0)’ — ne rt em ot nm - +rsm?w’?—+ rm 10°] (8) 


darstellen kann. 
In dieser Näherungsform!) sind nun noch weitere Verein- 
fachungen der Rechnung Be Es ist nämlich, da 


mt =|y a +4)+" a4], 


auch 


m+ 0) = z[U+d) + a} (9) 





337 





(v En: 
— wi +adP+v(1 + Ay1(1 — d)+v,(14+d)(1— a)? + See] 


[tat +++ Ay) +- 


so dass die zu erwartende Frequenz einer einzelnen Geschlechts- 
kombination aß unter » v-fachen Mehrlinggeburten, 


so lange a > = >ß, durch 
fap = vg I+a)"? 1 —2)P, 


2 
war In ß, durch 


v 


fap = vv,» (1— d2)2, 


sobald a< 5 <-ß, durch 
feß = v, A — A)’ T° (1 — d?)" 


ausgedrückt werden kann. 


1) Auffälligerweise scheint diese Näherungsform als solche nirgends hervor- 
gehoben. Hensen (p. 251) wendet sie nach v. Fricks ohne weitere Erklärung 
an, und Cobb (p. 501) drückt sich dahin aus, dass die Erwartung der Geschlechts- 
verteilung bei Zwillingpaaren der „Mendelian ratio“ 1:2:1 entspreche. — Die 
Frequenzen beider Rechnungsformen für die Geschlechtskombinationen unter 100 
Zwillinggeburten sind, falls d — 0,03 

Fo Fi Joa fu: n—fı,) 
Kombinatorisch 26,397 50,206 23,397 1,008 
Binomial 26,522 49,955 23,523 0,998. 


510 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


Somit wären die einzelnen möglichen Geschlechtskombinationen 
unter » Zwillinggeburten mit den wahrscheinlichen Frequenzen 


7 B 7 N 
n=Fl49, u=zU-9), n=z7Uu-a} 


und unter » Drillinggeburten mit den wahrscheinlichen Frequenzen 
n 3n 2 3n 
24a = +), = UA), 


(2 : 

m ao, 
zu erwarten, falls keine Beeinflussung der Frequenzen einzelner 
Geschlechtskombinationen durch besondere Bedingungen stattfände. 
Der Vergleich der beobachteten mit den wahrscheinlichen Fre- 
quenzen zeigt nun, dass zwischen beiden sehr ausgeprägte Ver- 
schiedenheiten bestehen, derart, dass eingeschlechtliche Geburten 
wesentlich häufiger, zweigeschlechtliche wesentlich seltener vor- 
kommen als der Wahrscheinlichkeitsrechnung gemäß zu erwarten 
wären. Z. B. findet man für Preußen in den Jahren 1826-1879 

nach Hensen (p. 250) bei 


1000 Zwillinggeburten dd ‘9 99 d 
Beobachtung 326, 2a 303 


Wahrscheinlichkeit?2) 261,7 499,6 238,7 j 90230 


1000 Drillinggeburten dJdS dd dag 909 d 

Beobachtung 245 285 245 225 )\,.9g 

\Wahrscheinliehkeit?, 137,9 387,1 362,1 "Mo, 92777 

Es müssen also Bedingungen existieren, die entweder das Auf- 
treten eingeschlechtlicher Mehrlinggeburten begünstigen oder das- 
jenige zweigeschlechtlicher behindern. 


2. Nun sind von Tieren (Vögeln, Reptilien, Knochenfischen) 
zahlreiche Beobachtungen bekannt, dass sich gelegentlich aus einem 


Ei — vielleicht infolge von Überbefruchtung durch mehrere Sper- 
matozoen oder von Teilung des Keimbläschens — zwei Individuen 


entwickeln können, die ın diesem Falle gleichen Geschlechts sind. 
Ferner führt Hensen (p. 202) Beobachtungen Ahlfeld’s an, dass 
auf je 8,15 menschliche Zwillinggeburten je eine mit gemeinsamem 
Ohorion für beide Früchte kommt, die dann (l. e. p. 209) ebenfalls 
gleichgeschlechtlich sind. Für Zwillinggeburten ist daher die 
Annahme wahrscheinlich, dass die Verschiedenheit der beobachteten 
und der berechneten Frequenzen der einzelnen Geschlechtskombi- 

2) v. Fricks’ bei Hensen (p. 251) wiedergegebene wahrscheinliche Fre- 
quenzen sind ungenau. Ausgehend von dem Geschlechtsverhältnis 514,42 £' : 485,58 2 
(d = 0,02884) bei der Gesamtheit der Geborenen berechnet er sowohl die Zwilling- 
wie die Drillinggeburten mit d = 0,02800, ohne dies zu begründen. 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 511 


nationen auf einem durch besondere Bedingungen hervorgerufenen 
Überschuss ihrer eingeschlechtlichen Kombinationen beruht. Da- 
gegen ist kein kumsnainein.dlen Grund für die Annahme einer Ver- 
minderung der zweigeschlechtlichen Kombination bekannt°). 

Demnach lassen sich die beobachteten » Fälle von Zwilling- 
geburten als aus »’ Fällen „bedingungsfreier*, ein- und zweigeschlecht- 
licher und aus n—n’ Fällen „bedingter“*) und dann stets einge- 
schlechtlicher zusammengesetzt vorstellen. Da die zweigeschlecht- 
liche Kombination nach dieser Auffassung als bedingungsfrei gilt 
und deshalb ihre empirische Frequenz (f,,) enden bleiben 
muss, so ist notwendig 


mW _ 
Te -(+P 1-9 f, 
oder I 


und selbstverständlich » > n’, so lange außer bedingungsfreien auch 
bedingte eingeschlechtliche Zwillinggeburten vorkommen. 


Dann ergeben sich dıe Frequenzen der verschiedenen Geschlechts- 
kombinationen bedingungsfreier Zwillinggeburten (f’«£) aus 


n’ Aı en ul Hr 
zU4a+u-g= ii; a: 








mithin 
i er] > zu j—d 








Hiernach erhält man aus den preußischen tanken unter 
1000 Zwillinggeburten (d — 0,0230) 





0 2,0 1,1 0,2 P> 
Bedingungsfreie (f’) 194,2 371 177,2 142,4 
Bedingte (f—f’) 131,8 = 125,8 257,6 
Beobachtet (f) 326 71 3058 1000 =n 
((-f):f 0,4043 — 0,4152 0,2576. 


Die Gesamtheit beobachteter Zwillinggeburten erscheint also in 
zwei Gruppen aufgelöst, deren eine, die bedingungsfreie, ein- und 
zweigeschlechtliche Geburtenkombinationen umfassend, 74,24%, und 
deren andere, die bedingte, nur eingeschlechtliche Kombinationen 


3) Über die Berechtigung der Annahme selektiver Verminderung zweigeschlecht- 
licher Zwillinggeburten siehe die Anmerkung am Schluss dieses Abschnittes. 

4) Ich wähle diese Bezeichnungen, weil in den Adjektiven „bedingungsfrei“ 
und „bedingt“ nichts von einem physiologischen Erklärungsversuch enthalten ist, 
der m. E. bei einer ausschließlich statistischen Behandlung des Gegenstandes unbe- 
rechtigt wäre. 


512 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


enthaltend, 25,76%, der Gesamtheit beträgt. Letztere ist jedoch 
mehr als doppelt so groß wie der Prozentsatz der Zwillinggeburten 
mit gemeinschaftlichem Chorion (12,39%); das Auftreten eines 
solchen kann daher nicht die einzige Bedingung der Eingeschlecht- 
lichkeit ihrer Geburtenkombinationen sein. 

Nun ist nach (2) und (6) 


1 E rag) =<P: 
® 2 





2 


ferner 


f m 1-4. 
20 Dre dr 





daher beträgt die Anzahl bedingter männlicher Zwillinggeburten 


u elle), 
fo fo = b) FR, 


= (149) 


und dementsprechend die Anzahl bedingter weiblicher 


el) Tas 
Daun nor. 1a 


Das Zahlenverhältnis zwischen den eingeschlechtlichen männ- 
lichen und weiblichen bedingten Zwillinggeburten ist somit ein anderes 
als dasjenige zwischen den entsprechenden bedingungsfreien; erstere 
verhalten sich wie (14+-d):(1—d), letztere dagegen wie (1+d)?:(1—d)?, 
oder mit anderen Worten: die bedingten Zwillinggeburten 
verhalten sich hinsichtlich ihrer Geschlechtsverteilung 
abweichend von den bedingungsfreien, nicht wie Zwilling-, sondern 
wie Einlinggeburten. 

Die relative Häufigkeit bedingter männlicher unter sämtlichen 
männlichen Zwillinggeburten beträgt 





fa fa _ nt —a)—2f, 
[20 nl —d’)— f,(1—d) 
2(n—n’) 





Fr Da) 
die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen weiblichen Zwilling- 
geburten 
foa—f'o2 DR n( N =) 2 fıı 
fo. a 0) 7, (1-2) 
2 (n—n‘) 


Zn —n’(1-4d) ' 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 599 


Die Frequenzen der einzelnen Geschlechtskombinationen der 
bedingungsfreien Vierlinggeburten verhalten sich ihrer Wahrschein- 
lichkeit entsprechend, so dass 


Fi: fo = 0,9643, 
die der bedingten wie 
(fie — 0) : fon — Fo) = 0,8134 
= d 


oder ähnlich wie ——- ee 0,3667. Es besteht also eine wesent- 


lich stärkere des Verhaltens bedingter Vierling- an 
dasjenige von Einlinggeburten, als wir solche bei Drillingen fanden, 
und damit eine bedeutende Abweichung von demjenigen bedingungs- 
freier eingeschlechtlicher Vierlinggeburten. 

Die zur Herstellung der hypothetischen Frequenzreihe der Ge- 
schlechtskombinationen an /,, — f' Yesp. an fa, — f ,, vorzunehmende 
Korrektur ıst daher sehr klein (8,57 statt 8,28 resp. 9,89 statt 10,15) 
und die Differenzen zwischen den hypothetischen und den empirischen 
Frequenzen überschreiten ın allen Fällen kaum den wahrschein- 
lichen Fehler der letzteren, während die wahrscheinlichen Frequenzen 
stets erheblich von beiden abweichen. Die entsprechenden relativen 
Deckungsfehler der graphischen Darstellungen betragen 3,47 +1,41 
zesp., 18,52. 172,91.%: 

Die für Zwillinggeburten nachweisbare Zusammensetzung der 
Frequenzen aus rund 74%, bedingungsfreier, dem Wahrscheinlich- 
keitsgesetz folgender, ein- und zweigeschlechtlicher und aus rund 
26 %, bedingter, sich wie Einlinggeburten verhaltender, eingeschlecht- 
licher Kombinationen gilt offenbar auch für die höheren Klassen 
menschlicher Mehrlinggeburten und zwar, was besonders beachtens- 
wert, unter annähernder Innehaltung desselben Zahlenverhältnisses. 

8. Vergleicht man die Befunde an den Mehrlinggeburten des 
Menschen mit denjenigen an solchen des Schweins, so findet man 
bei ıhnen wesentliche Verschiedenheiten. 

Unter den Zwillinggeburten des Schweins sind eingeschlecht- 
liche seltener als nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu er- 
warten; sie betragen 46,5%, der Gesamtheit oder nur 0,93 ihrer 
wahrscheinlichen Menge. Die auf die menschlichen Befunde ange- 
wandten Erwägungen sind daher für dies Material hinfällig. Be- 
dingte eingeschlechtliche Zwillingpaare treten überhaupt nicht auf; 
von den eingeschlechtlichen verhalten sich die männlichen zu den 


Apr Akte: N: . (1+d 
weiblichen wie 0,9720, also ziemlich genau wie k Ei) - rs 


und deutlich verschieden von ae _ — 0,9869. Der relative Fehl- 
betrag eingeschlechtlicher Zwillinggeburten beim Schwein (7 %,) ist 
XXXV. 34 


530 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 


numerisch viel geringer als der relative Überschuss solcher beim 
Menschen (rund 26%). Daher stimmt hier auch die wahrschein- 
liche mit der empirischen Verteilung der Geschlechtskombinationen 
ziemlich gut überein (A = 2,35 0,48 9%). 

Unter den Drillinggeburten des Schweins machen die einge- 
schlechtlichen 26,5 %, der Gesamtheit aus oder sie sind 1,06mal so 
häufig wie nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erwarten. 
Ferner sind der Analyse nach 6,4 (5) resp. 8,2 (9)%, der eingeschlecht- 
lichen und 1,9%, der Gesamtheit bedingte. Das Verhältnis be- 
dingter zu bedingungsfreien eingeschlechtlichen Drillinggeburten ist 
daher kaum von Null verschieden: 


Tot Ts. — = 0.08 
Min = Fos ' 


Die Frequenzen bedingter männlicher und weiblicher Geburten 
(5,65 + 6,15) sind kleiner resp. kaum größer als die wahrschein- 
lichen Fehler der eingeschlechtlichen männlichen und weiblichen 
Geburten überhaupt; man kann ihnen daher keine Sicherheit bei- 
messen. Die für die hypothetische Verteilung erforderliche Kor- 
rektur derselben ist geringfügig und die hypothetische Verteilung 
stimmt mit der empirischen fast völlig überein; aber auch die wahr- 
scheinliche weicht von der letzteren nur unbedeutend ab. Die 
relativen Deckungsfehler in beiden Vergleichen betragen 0,12+0,09 
und 1,08 + 0,28 9. 

Von den Vierlinggeburten des Schweins sind 12,8%, also 
ebensoviele, wie der Wahrscheinlichkeitsrechnung entsprechen, ein- 
geschlechtlich. Der Zahl zweigeschlechtlicher Kombinationen nach 
wären nur 0,3%, der Gesamtheit bedingte eingeschlechtliche. So 
wird die hypothetische Verteilung fast vollkommen identisch mit 
der wahrscheinlichen, und beide stimmen gut mit der empirischen 
überein (A = 1,37 +0,37 resp. 1,43+0,38%,); der Deckungsfehler der 
hypothetischen und der wahrscheinlichen Frequenzverteilung beträgt 
sogar nur 0,20 %. 

Von den Fünflinggeburten des Schweins sind 6,9 statt der 
wahrscheinlichen 6,3 %, eingeschlechtlich; an bedingten würden sich 
0,7%, der Gesamtheit ergeben. So stimmen wiederum die hypo- 
thetische und die wahrscheinliche Verteilung der Geschlechtskombi- 
nationen sowohl untereinander wie mit der empirischen gut über- 
ein; die entsprechenden Deckungsfehler sind: empirisch-hypothetisch 
3,47 +0,94 %,, empirisch-wahrscheinlich 3,32 +0,92 %,, hypothetisch- 
wahrscheinlich. 0,56 9%. 

Unter den Mehrlinggeburten des Schweins lassen sich also, 
mit zweifelhafter Ausnahme der Drillinge, bedingte eingeschlecht- 
liche Geburtenkombinationen nicht nachweisen. Daher entspricht 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 531 


bei ihnen die hypothetische Verteilung sehr genau der wahrschein- 
lichen. 

9. Beim Menschen bilden Mehrlinggeburten 1,2—1,3 °/,, beim 
Schwein 98,5, resp. auf die einzelnen Uterushörner berechnet, 89,4], 
der sämtlichen Geburten. Mit diesem Gegensatz in der Häufigkeit 
der Mehrlinggeburten verbindet sich ein solcher der Verteilung ihrer 
einzelnen Geschlechtskombinationen. Während diese beim Schwein 
ihrer Wahrscheinlichkeit entspricht, die Geschlechtskombinationen 
hier also nicht merklich beeinflußt von begünstigenden oder behin- 
dernden Bedingungen auftreten, läßt dıe Verteilung der Geschlechts- 
kombinationen menschlicher Mehrlinggeburten eine ganz andere Ge- 
setzmäßigkeit erkennen, welche bei Zwillingen strikt, bei Drillingen 
und Vierlingen mit überzeugender Annäherung inne gehalten wird. 
Diese Gesetzmäßigkeit besteht darin, dass neben bedingungsfreien, 
ein- und zweigeschlechtlichen Geburten, deren Frequenzverteilung 
der Wahrscheinlichkeit ihrer möglichen Geschlechtskombinationen 
entspricht, ein stets beträchtlicher, wenig variabler Prozentsatz 
(24—30, ım Mittel etwa 26°/,) als bedingt bezeichneter, einge- 
schlechtlicher Geburten auftritt, die sich ihrer Geschlechtsverteilung 
nach zueinander wıe Einlinggeburten verhalten. 

Den Befunden entspricht die Vorstellung, dass die unbefruchteten 
Eier getrenntgeschlechtlich und für das Geschlecht der daraus her- 
vorgehenden Individuen allein bestimmend sind, die Spermatozoen 
dagegen keinen Einfluß auf das letztere ausüben. Dann ist die Ge- 
schlechtsdifferenz der Geborenen gleich derjenigen der bei den fort- 
pflanzungsfähigen Weibchen der Art produzierten männlichen und 
weiblichen Eier. Die Geschlechtskombinationen von Mehrlingge- 
burten müssen daher so lange wahrscheinlichkeitsgemäß auftreten, 
wie sie einer ihnen entsprechenden Anzahl von Eiern entstammen, 
und ın diesem Fall verhalten sich die eingeschlechtlichen Kombi- 
nationen wie (1 +d)’:(1—d)’. Wenn dagegen aus irgendwelchen 
Ursachen mehrere Individuen aus einem einzigen Ei hervorgehen, 
so müssen diese nicht nur gleichgeschlechtlich sein, sondern die 
Gesamtheit derartiger eingeschlechtlicher männlicher und weib- 
licher Geburtenkombinationen muß auch das konstante Verhältnis 
(1-+-d):(1—d) ergeben, welcher Klasse von Mehrlinggeburten sie 
immer angehören. Dann entsprechen die im Verlauf dieser Arbeit 
als bedingt bezeichneten Mehrlinggeburten solchen, die einem ein- 
zigen Ei entstammen. 

Dieser Vorstellung stehen jedoch mehrere Schwierigkeiten ent- 
gegen. Zunächst bleibt unklar, weswegen eineiige Mehrlinggeburten 
beim Menschen regelmäßig, beim Schwein dagegen nicht auftreten. 
Man könnte hierin eine Folge der ungleichen Ovulation beider Arten 
erblicken. Z. B. wäre, gleichmäßige Veranlagung derselben zu ein- 
eiiger Mehrlingentwicklung vorausgesetzt, denkbar, dass der bloße 

34* 


532 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 


Umstand, dass einem einzelnen Ei beim Menschen, dagegen gleich- 
zeitig mehreren beim Schwein, die Existenzbedingungen des Uterus 
zuteil werden, eine hypertrophische Entwicklung des ersteren be- 
günstigt, der letzteren behindert, und zwar dies um so mehr, je 
mehr von ihnen sich gleichzeitig im Uterus’) resp. im Uterushorn 
befinden. Eine andere Denkbarkeit wäre, dass Überbefruchtung 
eines Einzeleies durch mehrere Spermatozoen in einem ungeteilten 
Uterus leichter als in einem weitgehend geteilten stattfinden kann, 
da auf die gleiche Anzahl von Eiern in ersterem eine relativ größere 
(Quantität Sperma und diese vielleicht mit größerer Geschwindigkeit 
gelangt als in letzterem. 

Ferner bleibt unverständlich, weswegen der Prozentsatz be- 
dingter unter den menschlichen Mehrlinggeburten annähernd konstant 
ist. Zur Aufklärung dieses Umstandes könnte vielleicht eine Sta- 
tıstik über die Verteilung der Mehrlinggeburten, nach ihren Ge- 
schlechtskombinationen geordnet, auf die Gebärenden beitragen, 
vor allem auch ım der Hinsicht, ob sich bei den letzteren Mehr- 
linggeburten individuell oder familienweise wiederholen und ob sich 
dabei eine Scheidung bedingter eingeschlechtlicher von bedingungs- 
freien ein- und zweigeschlechtlichen derselben ım Sinne des von 
uns gefundenen Zahlenverhältnisses herausstellt, so dass einige Mütter 
resp. Stämme von solchen nur bedingte, andere nur bedingungsfreie 
Mehrlinggeburten (in erster Linie natürlich Zwillingpaare) zur Welt 
bringen. 

Endlich widerspricht, allerdings wohl nur scheinbar, der oben 
dargelegten Vorstellung der Umstand, dass die Geschlechtsverteilung 
der Einlinge von der der Mehrlinge abweicht. Nachstehend gebe 
ich eine Zusammenfassung derselben aus den Tabellen I und I. 


Tabelle III. 





Einlinge d ®) d d:9 
Preußen 1826—1879 19532156 18365915 0,03077 
Hamburg 1904—1908 59455 56110 0,02894 
Summe 19591611 18422025 0,03077 5154:4846 
Zwillinge 
Preußen 1826—1879 467188 446182 0,02300 
Deutschland 1902 26496 25464 0,01986 
Hamburg 1904 1908 1523 1509 0,00462 
Ver. Staaten 1899— 1912 3429 3239 0,02849 
Summe 498636 416 394 -0,02281  5114:4886 


9) Bei dieser Annahme würde auch begreiflich, weswegen unter den zweige- 
schlechtlichen Kombinationen der Drilling- und Vierlinggeburten des Menschen keine 
eineiigen, gleichgeschlechtlichen Zwillingpaare auftreten, so dass jene stets als be- 
dingungsfrei anzusehen sind. 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 533 





Höherklassige Mehrlinge 4 ö d ee 
Drillinge (Pr., Hbg.) 8110 7592 0,03299 
Vierlinge (Pr.) 143 165 —0,07143 
Fünflinge (Pr.) 12 3 0,60000 
Summe 8265 7760 0,03151 5158:4842 


Hiernach verhalten sich die Geschlechtsdifferenzen der Einlinge, 
Zwillinge und höherklassigen Mehrlinge wie 1,000:0,741:1,024; eine 
nachweisbare Verschiedenheit besteht somit zwar zwischen Einlingen 
und Zwillingen, nicht aber zwischen Einlingen und höherklassigen 
Mehrlingen. Die Klasse der Mehrlinggeburten steht daher zur Höhe 
ihrer Geschlechtsdifferenz wohl kaum ın Beziehung. 

Im Hinblick auf das Verhalten der Zwilling- und der Vierling- 
geburten beim Menschen habe ich sodann die Geschlechtsdifferenzen 
der gerad- und der ungeradzahligen Geburten des Schweins ermittelt 
und Resultate erhalten, die beim ersten Anblick überraschend wirken, 
sich aber bei Untersuchung ihrer wahrscheinlichen Fehler als gänzlich 
nichtssagend erweisen: 





Geradzahlig Ungeradzahlig 
&E 2 d 2 
rechts 271 767 742 696 
links 707 699 804 784 
Summe 1478 1466 1546 1480 
d 0,00408+0,00879 0,02181 + 0,00867 


Diff. (d) = 0,01773 +0,01235, 
d. h. ıhre Differenz ıst kaum 1,44 mal so groß als der wahrschein- 
liche Fehler derselben. 

10. Zusammenfassung. — Mehrlinggeburten machen beim 
Menschen nur 1,2—1,3 °/, der Gesamtheit aller Geburten aus. In 
Deutschland kommen auf 1000 Geburten durchschnittlich etwa 1012 
Kinder, darunter 522 männliche. Die Geschlechtsdifferenz d, d.h. 
die relative Differenz der Anzahlen männlicher und weiblicher Ge- 
borenen, beträgt beim Menschen ungefähr 0,03, scheint aber bei 
Einlingen etwas höher als bei Zwillingen zu sein. Männliche und 
weibliche Einlinggeburten verhalten sich stets wie (1+d):(1 —d). 

Der Vergleich der empirischen Frequenzen der einzelnen Ge- 
schlechtskombinationen menschlicher Mehrlinggeburten mit ıhren 
wahrscheinlichen Frequenzen ergibt einen bedeutenden Überschuss 
der eingeschlechtlichen gegenüber den zweigeschlechtlichen Kombi- 
nationen. Bei Zwillinggeburten sprechen gewisse physiologische 
Tatsachen dafür, dass diese Abweichungen auf einer durch besondere 
Bedingungen hervorgerufenen Vermehrung der eingeschlechtlichen, 
nicht aber auf einer Verminderung der zweigeschlechtlichen Geburten 


534 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


beruht. Daher läßt sich das gesamte Material an solchen in zwei 
Gruppen, eine „bedingungsfreie* und eine „bedingte“, zerlegen, 
deren erste »’ Fälle ein- wie zweigeschlechtlicher Kombinationen in 
dem Verhältnis 

fahr» = +aP:2ı1 — ):1—a)? 
umfaßt, während die zweite aus (a—n!) ausschließlich eingeschlecht- 
licher Kombinationen ım Verhältnis 


(in Da N) : Nas 05) = (1 ar d) : (1 u d) 
besteht. Die männlichen und die weiblichen Geburten der bedingten 
Gruppe verhalten sich also nicht wie Zwilling-, sondern wie Ein- 
linggeburten zu einander und zur Gesamtheit aller in der Zwilling- 
klasse Geborenen. 
Die Größe dieser Gruppen ist durch die Anzahl der zweige- 
schlechtlichen Zwillinggeburten (/,,) bestimmt, da 


a (rap (1 al—fu 


oder 
Ben: 

1—d?' 

Die Gesamtheit menschlicher Zwillinggeburten folgt also nicht 
der einfachen Wahrscheinlichkeitsverteilung 


n | 
la+a)+u-a)], 

sondern der anderen: 

i 1-+d ‚L—_d\., w Ne} 1—d ‚1-+d 

=, (nn) ng, mn ne) 


In vier voneinander unabhängigen Beobachtungsreihen mensch- 
licher Zwillinggeburten weichen die relativen Beträge nur wenig 
untereinander und von den aus der Summe aller Beobachtungen 
erhaltenen, 

nn = OA 0 0,5961, 75 705 0,5591 
ab, so dass man den letzteren allgemeinere Gültigkeit beimessen 
darf. Hiernach sind rund 74°/, aller Zwillinggeburten bedingungs- 
freie, ein- und zweigeschlechtliche, die übrigen 26°/, bedingt und 
eingeschlechtlich. 

Überträgt man die auf Zwillinggeburten angewendete Betrach- 
tungsweise auf die höheren Klassen menschlicher Mehrlinggeburten 
(Drillinge, Vierlinge), so ergibt sich die Zahl bedingungsfreier, ein- 
und zweigeschlechtlicher Kombinationen derselben aus der Beziehung 

n 


— |? +ay— (1 als, 


[22 





so daß 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 535 
as 
man 


_s[a+)+a—a)} 
Der Tune 


OH Fa ao 


’ 


n 








wo s— (v2 u,u) — 1 9 — oh 
u 


Für die Berechnung der Frequenzen zweigeschlechtlicher Kombi- 
nationen erhält man dann den Ausdruck 


T S Te 7 
HR, 


wobei ebenfalls 2 ur Sn ==; 


und für Miesenied der bedingungsfreien eingeschlechtlichen 
&: a 2(2r-' 1 de 


Ss 


©: f 0% — a)" ——— d)" . 


Die Gesamtheit der männlichen resp. weiblichen eingeschlecht- 
lichen Geburten beträgt 


s+2[(v EN al 





a 
SE Zw Zu —1) I | 
%: m=o5l a 2 


so daß die direkt gefundenen Frequenzen bedingter eingeschlecht- 
licher Geburten 








Be (14+d)” 1 
ee „u+ d)— a a A — lea Vf, 
BR A s ba —d” 1 ” 
2: foo I ;l d) 2—1_n re 2 


sind. 


Ist »>2, so sind die empirischen Frequenzen zweigeschlecht- 
licher Geburten trotz Summengleichheit nicht notwendig identisch 
mit den berechneten, bleiben ihnen jedoch in den vorliegenden 
Beobachtungsreihen so ähnlich, dass man in den vier letzten 
Gleichungen f,_,. durch f,_,. und f,,._ durch f"„,„— ersetzen 
kann, Dann wird 


536 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 


= on (5°) D 


en 














und 
an fa= , (+9, n- fon, Ua) 


Demnach verhalten sich die so korrigierten Frequenzen bedingter 
männlicher und weiblicher Geburten, wie bei den Zwilling- so auch 
bei den höheren Mehrlinggeburten zueinander wie die Gesamtheit 
aller männlichen und weiblichen Geborenen ihrer Klasse oder wie 
männliche und weibliche Einlinggeburten. Die bedingungsfreien 
eingeschlechtlichen männlichen und weiblichen Geburten dagegen 
stehen zueinander im Verhältnis (1+ d)’: (1 — d)”. 

Die sich so ergebende Verteilung der Geschlechtskombinationen 
von n Fällen »-facher Mehrlinggeburten 


fa= er (n — n’ [1 — N)» 
Fe—u, u m „(A —+-d) v—2 u (1 — d2) 


: 1—d : 1 —: ayP 
I 5 (n—n Be )) 


haben wir als hypothetische im Gegensatz zur wahrschein- 
lichen bezeichnet. Letztere entspricht den Gliedern des Binoms 


[U +) +U—a)]. 


Beide werden identisch, wenn »’ = n. 





Die Formeln besagen: 

Unter den Mehrlinggeburten des Menschen sind eingeschlecht- 
liche wesentlich häufiger als der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach 
zu erwarten wären; die zweigeschlechtlichen Kombinationen da- 
gegen treten wahrscheinlichkeitsgemäß auf. Daher sind bei den 
eingeschlechtlichen zwei Gruppen zu unterscheiden, nämlich die- 
jenigen, welche der Anzahl der zweigeschlechtlichen nach wahr- 
scheinlichkeitsmäßig zu erwarten sind (bedingungsfreie), und ferner 
diejenigen, welche a Überschuss über die letzteren hinaus bilden 
und 24—30%, der Gesamtheit menschlicher Mehrlinggeburten aus- 
machen (bedingte). Die männlichen und die weiblichen Geburten 
der ersten Gruppe stehen zueinander im Häufigkeitsverhältnis 
(14 d)’ :(1 — d)’, die der zweiten dagegen (bei Zwillinggeburten 
notwendig, bei den höheren Klassen der Mehrlinggeburten mit 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 537 


überzeugender Annäherung) im konstanten Verhältnis(1+-d):(1 —d), 
d.h. in demjenigen männlicher zu weiblichen Einlinggeburten. 

Es ist daher möglich, die von der wahrscheinlichen abweichende 
Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen menschlicher Mehr- 
linggeburten durch ein besonderes, als hypothetisches bezeichnetes 
Verteilungsgesetz darzustellen, welches mit dem wahrscheinlichen 
identisch wird, wenn, wie beim Schwein, kein Überschuss einge- 
schlechtlicher Mehrlinggeburten zur Beobachtung gelangt. 

Für die menschlichen Drilling- und Vierlinggeburten ergibt die 
hypothetische Verteilung eine weit bessere Übereinstimmung mit 
der empirischen, als die wahrscheinliche. Der relative Deckungs- 
fehler zwischen den graphischen Darstellungen der empirischen und 
der hypothetischen Frequenzreihe einer-, der wahrscheinlichen an- 
dererseits beträgt 


Aid, emp.-hypoth. emp.-wahrsch. 
Drillinge 0,75 + 0,08 16,44 + 0,35 
Vierlinge AT ze AT 18.32.52. 2:97. 


Die relativen Anzahlen (1 — —) bedingter unter sämtlichen Dril- 


ling- und Vierlinggeburten sind sowohl einander als denen der 
Zwillinggeburten auffällig ähnlich. Dem entspricht aber, daß ein- 
geschlechtliche Mehrlinggeburten im Verhältnis zu ihrer Wahrschein- 





9v—1 3 
lichkeit & De / =) um so häufiger werden, je höher ihre Ge- 


burtenklasse ist. Ebenso wächst mit dem Steigen der letzteren das 
Zahlenverhältnis zwischen ihren bedingten und ihren bedingungsfreien 
fro + for 221m — m) 

- — — l= |) mit an- 
el. 0% Wh ) 

deren Worten: unter den eingeschlechtlichen menschlichen Mehr- 
linggeburten sind bedingte bei Zwillingen seltener, bei Drillingen 
und Vierlingen in steigendem Maß häufiger als bedingungsfreie. Die 
Zahlenbelege für diese Ausführungen sind nachstehend kurz zu- 
sammengefaßt !?). 








eingeschlechtlichen Geburten( 





10) Beiläufig sei auf ein Zahlenkuriosum hingewiesen. Die den letzten drei 
Werten der letzten Kolumne obiger Zusammenstellung unmittelbar benachbarten, 
0,68, 1,66 und 2,44, haben die Eigenschaft, dass 0.68 - 2,44 = 1,66. Bei Gültigkeit 
derselben wäre 





ann Sn—n! An —m 
ar: VA 7 
n h 
oder el 
n 4 
4n 
oder wa 
4—+-h 


n, da A laut Definition nicht kleiner als Eins werden kann, 


ar 


d. h. »’ nie größer als 


538 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 











7a 21 t fr) 2° (n — m) 
Kr) nh n h 
Zwillinge 
Preußen 0,2576+0,0004 1.26 0,69 
Deutschland _0,2464-+0,0019 1,25 0,65 
Hamburg 0,3021+0,0080 1,30 0,87 
Ver. Staaten 0,28338+0,0053 1,28 0,79 
Mittel d. Quot. 0,2725 1,27 0,75 
Summed.Beob. 0,2573 1,26 0,69 
Drillinge 0,2926+0,0042 1,87 1,65 
Vierlinge 0,2397+0,0328 2,62 2,45 
Nittellaugnot. 102653 
Summed. Beob. 0,2577 


Von den menschlichen wesentlich verschiedene Resultate ergibt 
die Untersuchung der auf das einzelne Uterushorn bezogenen Ge- 
burten des Schweins. Unter diesen sind Einlinge selten (10,6 °/,), 
Zwillinge bis Vierlinge am häufigsten (zusammen 77,4 °/,); die be- 
obachtete Höchstzahl von Embryonen in einem Uterushorn beträgt 
acht. Es besteht deutliche, positive Korrelation der Embryozahlen 
im rechts- und linksseitigen Uterushorn und eine starke Tendenz 
derselben zu bilateraler Symmetrie. Wegen des zu geringen Mate- 
rıials in den einzelnen Geburtenklassen ist die Geschlechtsdifferenz 
nur für die Gesamtheit der Embryonen mit 0,01307 + 0,00617, also 
einem bedeutend kleineren Wert als beim Menschen, bestimmbar. 

Unter den Zwillinggeburten des Schweins finden sich einge- 
schlechtliche seltener als der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach 
zu erwarten; die männlichen und weiblichen derselben treten jedoch 


—) 


mit starker Annäherungan das Wahrscheinlichkeitsverhältnis ( : 





auf und müssen daher als bedingungsfrei gelten. 

Für die höheren Mehrlinggeburten des Schweins (Drillinge bis 
Fünflinge) wird die hypothetische Verteilung ihrer Geschlechts- 
kombinationen fast genau identisch mit der wahrscheinlichen. Bei 
den Drillingen stimmt die erstere ein wenig besser, bei den Vier- 
und Fünflingen beide gleich gut mit der empirischen überein 
(s. unten). Die durch Analyse für bedingte Geburten in diesen 


: in. : ! 
Klassen gefundenen Zahlen as ) sınd außerordentlich klein, am 
N [ 


größten noch bei den Drillingen, unter denen daher möglicherweise 
solche tatsächlich vorkommen; bei den Vier- und Fünflingen sind 
sie nicht mehr nachweisbar, wie aus der letzten Kolumne folgender 
Zusammenstellung hervorgeht: 


Goebel, Indisch Natuuronderzoek door Dr. J. M. Sirks. 539 


Au emp.-hypoth. emp.-wahrsch. 1 - 
Driline 0,12+0,09 1,08+028 0,0192 +0,0037 
Vierlinge al 1,43 + 0,38 0,0028 + 0,0017 
Fünfline 3474094. 3,32+0,92 0,0067 +0,0042 


Der wesentliche Gegensatz der Befunde bezüglich der Mehr- 
linggeburten bei Mensch und Schwein besteht also darin, dass solche 
bei jener Art die Ausnahme, bei dieser die Regel bilden und dass 
in ersterem Fall 24—30% von ihnen bedingte eingeschlechtliche 
sind, während in letzterem wahrscheinlich überhaupt keine bedingten 
vorkommen. Daher besteht bei menschlichen ein erheblicher Über- 
schuss eingeschlechtlicher Mehrlinggeburten über die Wahrschein- 
lichkeitserwartung hinaus, welcher ihre Anzahl beim Schwein be- 
friedigend entspricht. So können die Frequenzen der einzelnen 
Geschlechtskombinationen der höheren menschlichen Mehrling- 
geburten nur durch das vorstehend entwickelte hypothetische, die 
von ebensolchen Mehrlinggeburten des Schweins dagegen sowohl 
durch dieses wie durch das bekannte wahrscheinliche Verteilungs- 
gesetz dargestellt werden. 

Zum Schluss sei noch einmal auf die Notwendigkeit einer 
Statistik über die Familienverteilung menschlicher Zwilling- und 
Drillinggeburten zur Aufklärung des hohen, annähernd konstanten 
Prozentsatzes bedingter derselben hingewiesen. Verfasser bittet um 
Nachweis derartiger Statistiken oder um Beiträge dazu. 


Literatur. 

1881. Hensen, V., Physiologie der Zeugung. Hermann’s Handbuch der Phy- 
siologie Bd. VI, 2. Teil, Leipzig 1881, 8°. 

1912. Statistik des Hamburgischen Staates. Heft 26: Der natürliche Bevölkerungs- 
wechsel im Hamburgischen Staat in den Jahren 1904—1908. Hamburg 
1912, 4°. 

1912. Handwörterbuch der Naturwissenschaften Bd. VI, Jena 1912, Lex. 8°. 

1913. Parker, G. H. and Bullard, C., On the size of litiers and the number 
of nipples in swine. Proc. Amer. Ac. Arts Sci. Vol. 49, Nr. 7 (Contrib. 
Zool. Lab. Mus. Comp. Zool. Harvard Coll. Nr. 239), p. 399—426. 

1915. Cobb, Marg. V., The origin of human twins from a single ovum. Science 
N.S. Vol. 41, Nr. 1057, p. 501-502. 


Indisch Natuuronderzoek door Dr. J. M. Sirks. 


(Koloniaal Instituut te Amsterdam Mededeeling No. VI, Afdeeling Handelsmuseum 
No. 2. Amsterdam 1915. Preis fl. 4.25.) 


Bekamntlich ist die Tropennatur kaum in einem anderen Teil 
der Erde in so reicher Gestaltung ausgebildet als in Niederländisch 
Indien. Dem entspricht, dass dieses Gebiet auch mit zu den am 
meisten durchforschten gehört. 


540 Reichard, Die deutschen Versuche mit gezeichneten Schollen. 


Das vorliegende Buch (entstanden aus einer Preisschrift) gibt 
eine kurze Geschichte der naturwissenschaftlichen Erforschung von 
„Insulinde“. Es wird auch in Deutschland sehr willkommen sein, 
nicht nur weil deutschen Forschern ein sehr ehrenvoller Anteil an 
der naturwissenschaftlichen Erschließung Niederländisch Indiens 
zukommt und weil die Resultate dieser Forschungen vielfach allge- 
mein wichtige und bedeutsame Ergebnisse gezeitigt haben, sondern 
auch deshalb, weil die Männer, welchen wir unsere Kenntnis Insu- 
lindes verdanken, auch als Menschen meist sehr ausgeprägte und 
interessante Charaktere waren. 

Das Sirks’sche Buch bringt sie uns namentlich auch durch 
ganz ausgezeichnete Abbildungen näher. Wen sollte es nicht inter- 
essieren, Rheede tot Drakesteen, den ehrwürdigen G. E. Rumpf, 
Burmann, Valentin, Reinwardt, Teysmann, Hasskarl, 
Junghuhn, Blume (mit allen seinen Orden!) u. a. in künstlerisch 
ausgeführten Bildern kennen zu lernen und die Geschichte ihrer 
Taten zu hören? — Möge es ın Niederländisch Indien nie an Männern 
fehlen, deren wissenschaftliche Ernte eine ebenso ausgiebige ist als 
die, von der Sırks’ schönes Buch erzählt. K. Goebel. 


Adolf C. Reichard. Die deutschen Versuche mit 
gezeichneten Schollen. 


IV. Ber. und Ergebnisse der bisherigen internationalen Schollenmarkierungen in der 

Nordsee. Wissenschaftl. Meeresunters., herausg. v. d. Kommission zur wiss. Unters. 

d. deutschen Meere in Kiel u. d. Biolog. Anstalt auf Helgoland, N. F., 11. Bd., 
H. 1, Kiel und Leipzig (Lipsius und Tischer) 1915. Quart, 64 S., 17 Tafeln. 


Mitten ın den Kriegsstürmen, die auch die wirtschaftlichen 
und wissenschaftlichen internationalen Beziehungen für lange zu 
zerstören drohen, gibt die deutsche wissenschaftliche Kommission 
für die internationale Meeresforschung diese Ergebnisse jahrelanger 
mühevoller gemeinsamer Arbeiten der an die Nordsee grenzenden 
Staaten ın würdiger Form heraus. Die wesentlichen Ergebnisse 
sind wohl die folgenden: 

Es sind drei Arten von Wanderungen der Schollen zu unter- 
scheiden: das allmähliche Vorrücken der jungen Schollen mit dem 
Alter in tieferes Wasser, sommerliche Wanderungen in tiefere Ge- 
biete mit Rückwanderung ım Herbst und Winter an die Küsten 
und drittens die Wanderung der geschlechtsreifen Tiere zu den 
Laichgründen, von denen diese selten zurückzukehren scheinen. 

Diese Laichwanderungen scheinen nur in zwei Richtungen zu 
erfolgen. Alle Schollen ım südlichen Teil der Nordsee bis über 
Helgoland hinaus laichen nach dem Verfasser ausschließlich im 
Kanal. Der Verfasser glaubt auch aus diesem Grund, dass diese 
Fische aus einem Laichgebiet nur einer Rasse angehören können. 
Die Schollen der jütländischen Küste, die sich nur in einem kleinen 
(Gebiet der friesischen Inseln, bei Amrum, mit jenen mischen, 


Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart. 54 


haben einen ganz anderen Laichgrund, der aber noch nicht be- 
kannt ist. 

Eine Erklärung, warum die Fische wieder ihren Geburtsort 
zum Laichen aufsuchen und wodurch sie befähigt sind, ihn wieder- 
zufinden, vermag der Verfasser nicht zu geben. Er erläutert, dass 
dies Verhalten, der Meeresströmungen wegen, die Vorbedingung dafür 
ist, dass die Tiere in ihrem gegenwärtigen Verbreitungsgebiet er- 
halten bleiben, aber er hebt ausdrücklich hervor, dass mit dieser 
scheinbaren Zweckmäßigkeit keinerlei Erklärung dieses Verhaltens 
gegeben wird. Denn neben dem Kanal würden andere Gebiete die 
gleichen hydrographischen Bedingungen bieten, und doch wählt 
keine Scholle sie zum Laichen. 


Die Untersuchungen über das Wachstum der markierten Tiere 
haben noch keine brauchbaren Ergebnisse gebracht. R. 


Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung 
und ihre Ziele. 


Herausgegeben von Paul Hinneberg. III. Teil, IV. Abteilung, Bd. 2. Zellen- 

und (Gewebelehre, Morphologie und Entwicklungsgeschichte. Unter Redaktion von 

E. Strasburger und OÖ. Hertwig. II. Zoologischer Teil. Unter Redaktion von 

OÖ. Hertwig bearbeitet von R. Hertwig, H. Poll, OÖ. Hertwig, K. Heider, 

F. Keibel, E. Gaupp. Leipzig, Berlin 1913. B. G. Teubner, 8°, VI, 538 S., 
413 Fig. 


Der stattliche Band enthält folgende Aufsätze: Die einzelligen 
Organismen von R. Hertwig. Zellen und Gewebe des Tierkörpers 
von M. Poll. Allgemeine und experimentelle Morphologie und Ent- 
wicklungslehre der Tiere von OÖ. Hertwig. Entwicklungsgeschichte 
und Morphologie der Wirbellosen von K. Heider. Die Entwick- 
lungsgeschichte der Wirbeltiere von F. Keibel. Morphologie der 
Wirbeltiere von E. Gaupp. Diejenigen Teile, bei denen es auf 
Schilderung des tatsächlichen Verhaltens ankomnt, sind fast durch- 
weg mit großer Meisterschaft geschrieben. Reiches, gut ausgesuchtes 
Material ist in aller Kürze so dargestellt, dass auch der Fachmann 
Nutzen davon haben kann. Daneben finden wir Abschnitte, deren 
Aufgabe es ist, den Leser in modernste Probleme einzuführen. Ich 
nenne an erster Stelle OÖ. Hertwig’s „allgemeine und experimen- 
telle Morphologie und Entwicklungslehre der Tiere“. Insbesondere 
möchte ich auf die Besprechung der künstlichen oder experimen- 
tellen Parthenogenese aufmerksam machen. Es ist sicher nicht 
ohne Bedeutung, wenn weitere Kreise vor einer übertriebenen Wert- 
schätzung dieser Versuche gewarnt werden: „Es ist unrichtig zu 
glauben, man habe durch chemische Flüssigkeiten die Befruchtung 
des Eies ersetzt oder auch nur einzelne Seiten dieses Vorganges 
nachgeahmt, oder man sei jetzt auf dem besten Wege, die Befruch- 
tung als einen chemischen Prozess zu erklären. Denn alle diese 


542 Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. 


Experimente haben eigentlich mit dem Befruchtungsvorgang über- 
haupt gar nichts zu tun. Die in ihnen angewandten Mittel sind 
nur Reize, durch welche eine Fähigkeit, die doch in der Organı- 
sation des Eies von Haus aus gegeben ist, die Fähigkeit sich zu 
teilen, sich zu entwickeln und einen fertigen Organismus zu liefern, 
veranlasst wird ın Aktion zu treten“ (S. 131). „Die Entwicklungs- 
erregung ist überhaupt bei der Befruchtung nur ein untergeordneter 
Vorgang. Die Hauptsache bei ihr ist dıe Vereinigung von zwei 
lebenden Zellen und die auf diesem Wege ermöglichte Kombination 
der Eigenschaften der zwei bei der Zeugung beteiligten Individuen“ 
(S. 132). Ferner sei hier erwähnt die Besprechung der präfor- 
mistischen und epigenetischen Anschauungen über die Eientwick- 
lung, und ©. Hertwig’s Versuch, beide miteinander zu verbinden 
durch seine „Theorie der Biogenesis“. Bei dieser Aufzählung be- 
sonders interessanter theoretischer Betrachtungen darf auch Franz 
Keibel’s Abschnitt nicht übergangen werden. Dem Ref. ist es 
nicht möglich, alles Wichtige hier auch nur zu nennen. Immerhin 
ist Keibel’s Besprechung der Gastraeatheorie, des „biogenetischen 
Grundgesetzes“, hier zu erwähnen. Es sind das Theorien und 
Lehrsätze, die durch Häckel’s Einfluss sich einer großen Popu- 
larıtät erfreuen. Ihre Kritik von seiten eines so verdienten For- 
schers wie Keibel an der Hand des neuesten Materials und in 
einem Buche, das sich an alle Gebildeten wendet, ist dankbar zu 
begrüßen. Jordan (Utrecht). 


E. Baur. Einführung in die experimentelle 


Vererbungslehre. 
2. Aufl., Oktav, 393 S. mit 131 Textfig. u. 10 farb. Tafeln. Berlin 1914, Borntraeger. 


Es ıst kein'Wunder, dass das Baur’sche Buch schon nach 
3 Jahren in neuer Auflage erscheint. Stellt es doch in seiner 
Knappheit und Klarheit einen Führer durch dieses heute so wichtige 
Gebiet dar, um den andere Disziplinen neidisch sein könnten. Die 
Hauptkennzeichen der Baur’schen Darstellungsweise sind damit schon 
genannt. Was bei einem Handbuch ein Fehler wäre, die unerbittliche 
und dafür von Einseitigkeit nicht freie Durchführung einer Grundüber- 
zeugung, das ist hier ein Vorzug. Dieser Grundgedanke besteht in 
der Überzeugung von der überall betonten alleinigen Gültigkeit des 
Experimentes, der schon den Titel bestimmt hat, und von der über- 
ragenden Bedeutung der Mendel’schen Regeln. Deren Darstellung 
steht denn auch im Mittelpunkte des Ganzen. Die Erscheinungen, 
die an Art- und Gattungsbastarden beobachtet, als sogen. Ver- 
erbungen erworbener Eigenschaften gedeutet oder Mutationen ge- 
nannt worden sind, werden dieser streng einheitlichen Auffassung 
eingeordnet, soweit das möglich ist, im übrigen sehr knapp und 
kritisch besprochen. Auch die presence-absence-Vorstellung wird 
als Theorie ganz abgewiesen. 


Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik und Meteorologie. 543 


Sehr viel ausführlicher als in der ersten Auflage werden die 
Mikroorganismen behandelt, wobei die Identifizierung der erblichen 
Veränderungen an Bakterien und ähnlicher Erscheinungen mit Mu- 
tationen höherer Pflanzen mit Recht abgelehnt wird. Trotzdem 
wird den betreffenden Erfahrungen eine große Bedeutung zuge- 
sprochen. 


Die Erörterungen und die mitgeteilten Erfahrungen über die 
Wirkung der Inzucht scheinen mir besonders wertvoll. Es wäre 
erfreulich, wenn sie zu eingehenderer Bearbeitung dieser schwierigen, 
aber stark vernachlässigten Frage führen würden. 

So ließen sich noch eine ganze Anzahl von Teilfragen auf- 
zählen, deren Darstellung besonders geglückt erscheint. Jedenfalls 
wird kein Botaniker oder Züchter das Buch ohne großen Nutzen 
durchlesen. E. 6. Pringsheim. 


Müller-Pouillet's Lehrbuch der Physik und 
Meteorologie. 


10. umgearb. u. verm. Aufl., herausg. v. Leop. Pfaundler. IV. Bd., 5. Buch, 
3. (Schluss-)Abt.: S. 977—1492 mit 312 Abb. u. 3 Tafeln. Gr. 8%. Braunschweig 
1914. Friedr. Vieweg u. Sohn. 


Die neue Auflage dieses klassischen Lehrbuches, deren einzelne 
Teile hier regelmäßig angekündigt worden sind, liegt nun nach 
mehr als zweijähriger Pause abgeschlossen vor. In diesem Schluss- 
band behandeln W. Kaufmann und A. Coehn die Stromleitung 
in Gasen, die Elektronentheorie der Metalle und die Radioaktivität, 
A. Nippoldt den Erdmagnetismus und die Erdelektrizität. Wer 
nur eine Ahnung hat von der rastlosen und fruchtbaren Arbeit, die 
in diesen Gebieten ım letzten Jahrfünft geleistet worden ist, wird 
die Schwierigkeiten würdigen können, die sich der Darstellung und 
dem Abschluss dieser Kapitel für ein Lehrbuch, unter Beiseitelassen 
des Unfertigen und doch mit klarer Wiedergabe alles gesicherten 
neuesten Guts, entgegentürmten. Gleichwohl hat auch dieser 
Schlussband alle die Vorzüge, die von den früher erschienenen Ab- 
schnitten gerühmt werden konnten. 


So können wir mit vollster Zustimmung das bescheidene 
Schlusswort des Herausgebers vom November 1914 zur Charakteristik 
des Werkes hier wiedergeben: 


„So wie der gestirnte Himmel niemals ein Bild gleichzeitiger 
Vorgänge zeigen kann, weil das Licht verschieden lange Zeit braucht, 
um zu uns zu gelangen, so kann auch ein ausführliches Lehrbuch 
der Physik nie ein genaues Bild aller unserer momentanen Kennt- 
nisse geben, da es eben auch Zeit braucht, bis diese zur Darstellung 
gelangen können. Immer wird ein Teil des zuerst geschriebenen 
schon überholt sein, bis der zuletzt behandelte Teil zur Darstellung 
gelangt. Eine gleichzeitige Bearbeitung aller Teile der Physik 
durch eine genügende Anzahl von Darstellern ıst aber schon des- 


2 


544 Dahl, Kurze Anleitung etc. 


halb ausgeschlossen, weil sich die Darstellung eines Teiles auf die 
der andern stützen muss. Trotz dieser bei einer so rasch fort- 
schreitenden Wissenschaft unvermeidlichen Schwierigkeiten sind 
wir überzeugt, dass unser Lehrbuch dank der Bemühungen unserer 
Mitarbeiter und der Verlagsanstalt seine Aufgabe in befriedigender 
Weise gelöst hat.“ R. 


F. Dahl, Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen 
Sammeln und zum Konservieren von Tieren. 


3. verbesserte und vermehrte Auflage. 5°. IX und 147 S. 274 Abbild. 
Jena 1914. Gustav Fischer. 


Die Dahl’sche Sammelanleitung erscheint hiermit in neuer 
Auflage. Der Gedanke, den der Autor vertritt, ist bekannt: der 
Gedanke des mechanischen Massenfanges: Man sammle an mög- 
lichst verschiedenartigen Punkten eines Geländes, man wende Ge- 
räte und Methoden an, die einen Massenfang gewährleisten, man 
nehme alle erbeuteten Tiere mit, soweit ihre Größe dies nıcht aus- 
schließt; so kann man in verhältnismäßig kurzer Zeit die Fauna 
eines Gebietes ın möglichst großer Vollständigkeit zusammen- 
bringen. 

Gegen die zweite Auflage sind keine wesentlichen Änderungen, 
wohl aber einige Erweiterungen eingetreten. Im ersten Kapitel ist 
die tabellarische Übersicht der Orte, an denen gesammelt werden 
soll, ın geringem Grade verändert. Das zweite Kapitel (Die Geräte 
zum Erbeuten der Tiere) hat einen kurzen Zusatzabschnitt erhalten, 
behandelnd die ersten, wichtigsten Fänge ın einer Gegend. Dem 
vierten Kapitel (Kurze Übersicht des Tierreiches für Sammler) ist 
ein Bestimmungsschlüssel vorausgeschickt, um eine allgemeine Orien- 
tierung über die systematische Stellung des gefangenen Tieres dem 
Anfänger zu ermöglichen. Die Übersicht, die eine nach biologischen 
Gesichtspunkten getroffene Einteilung jedes einzelnen Tierkreises 
enthält, ist ın manchen Punkten ausführlicher geworden. Vor allem 
ist der Kreis der Gliedertiere nicht mehr einheitlich behandelt, 
sondern die einzelnen Klassen sind getrennt und jede für sich ın 
der angedeuteten Weise eingeteilt worden, 


Durch kleineren Druck an manchen Stellen ist es erreicht 
worden, dass trotz der Vermehrung des Inhaltes der Umfang des 
Buches nicht zugenommen und so seine Handlichkeit nicht ge- 
litten hat. 


Ein störender Fehler ist aus der zweiten Auflage übernommen 
worden: In Fig. 146 ist mit der Unterschrift Anopheles die Larve 
und Puppe von Oulex abgebildet. C. Zimmer (München). 


Voraer von EEE Thieme in Barae ohne 15. — Dre der En Übayen. 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen. 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 513 


In diesen Verhältniszahlen sind die Zähler für beide Geschlechter 
identisch, die Nenner dagegen für das männliche Geschlecht so 
lange größer, wie d >0, so dass ihre Werte in diesem Fall für 
das weibliche Geschlecht notwendig stets größer ausfallen als für 
das männliche. 

Endlich beträgt die relative Häufigkeit bedingter unter sämt- 
lichen Zwillinggeburten 


sea 0 5] Ze 





n ee 
n 
= || — —, 
[2 
Anmerkung. — Wollte man annehmen, die von der Wahrscheinlichkeits- 


rechnung abweichende Verteilung der Zwillinggeburten beruhe auf selektiver Ver- 
minderung ihrer zweigeschlechtlichen Kombination bei bedingungsfreier Entstehung 
der beiden eingeschlechtlichen, abgesehen von einer allen Kombinationen gemein- 
samen, nicht selektiven Todesrate, so müsste notwendig 


I 


sein. Nun aber ist, je nachdem d 


< 
a rierlerd 
en en: 


folglich kommt eine derartige selektive Verminderung der zweigeschlechtlichen 
Zwillinggeburten nicht in Betracht. 


0, 











5 } 
Wollte man aber trotz des von ( an ) abweichenden Verhältnisses Ja an 
BT il 02 


selektiver Verminderung von f,, festhalten, so wäre man zu der weiteren Annahme 
gezwungen, dass außer dieser auch eine solche der eingeschlechtlichen Kombination 
des häufigeren Geschlechts stattfände, welche jedoch weniger intensiv sein müsste 
als die der zweigeschlechtlichen Kombination. Auch für diese Annahme fehlt es 
an jedem Anhalt. 


3. Wenn man dieselben Erwägungen von den Zwilling- auf 
Mehrlinggeburten höherer Klassen (Drillinge, Vierlinge ete.) aus- 
dehnt, so darf man sich dem prinzipiellen Einwand nicht verschließen, 
dass hier auch unter den zweigeschlechtlichen Geburtenkombinationen 
„bedingte“ Individuenpaare denkbar sind, da je f,, und fi» fu fra 
und f,, ete. Paare gleichgeschlechtlicher Individuen enthalten. 

Bei Drillinggeburten ist, sofern man nach Analogie der Be- 
rechnung für Zwillinggeburten die zweigeschlechtlichen Kombina- 
tionen derselben als bedingungsfrei voraussetzt, 


5-04 A] hat hi 
oder Di Alfa, +) 


3(1—d2) 





XXXV. 


co 
ca 


514 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


Dann ergeben sich die Frequenzen der verschiedenen Geschlechts- 
kombinationen bedingungsfreier Drillinggeburten (f’aß) aus 





A BI 
++ ee erst ++] 


mithin 








un (nd fr . arte (be 
Et el’ I = 


6 1 
Ben, R N Bez (1 U d), a u (1—.d). 


Hiernach erhält man aus den preußischen Beobachtungen unter 
1000 Drillinggeburten (d = ;),) 





449 3,0 21 1,2. ,,0.003 > 
Bedingungsfreie (f’) 97,6 273,8 256,2 79,9 EN 
Bedingte(f--f) 147,4 Er27 Zee An 292,5 
Beobachtet (f) 245 285 245 225 1000 = n 
F-f):f 0,6016 [0,0393 —0,0457] 0,6449 0,2928. 


Die Analyse der beobachteten Drillinggeburten ergibt also eine 
wesentliche Gruppenzerlegung ihrer eingeschlechtlichen und eine 
kaum merkliche, obendrein numerisch sich aufhebende ihrer zwei- 
geschlechtlichen Kombinationen. Letztere dürfte daher zu vernach- 
lässigen, und die Ausdehnung der für Zwillinggeburten zutreffenden 
Erwägungen auch auf die Drillinggeburten berechtigt sein. Der 
Prozentsatz bedingter eingeschlechtlicher unter sämtlichen Drilling- 
geburten (29,25%) ist in Preußen sogar noch etwas höher als der 
entsprechende der Zwillinggeburten (25,76 %). 


Nun ist nach (2) und (6) 


—_ 3n(l Ta) —Ap, —2fın 
fso Sg 6 ’ 


fıtfe A+d)% 
6 1—d 





” » ’ — 
ferner f.= 


es beträgt daher die Anzahl bedingter männlicher Drillinggeburten 


fo-fo=zUtN— fat hı2 Se faı 


6 ae 3 


Ir An—n (+ 2] — Ri 


und dementsprechend die Anzahl bedingter weiblicher 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 515 





en Bra 3ER fa 
la —-fa=5 dd) 6 ze. 3 


Bed | Rt 5 fa 
=): An —n B+-a@)]—-7- 





Hiernach ergibt sich aus unserem Beispiel zwischen eingeschlecht- 
lichen bedingten männlichen und weiblichen Drillinggeburten das 
Zahlenverhältnis 1,016. 


Setzt man jedoch, wie der gefundenen Annäherung nach zu- 
lässig erscheint, in den letzten Gleichungen 


re a) den 


so erhält man als „korrigierte“ Anzahlen bedingter männlicher 
und weiblicher Drillinggeburten 


ee = (1+d)= 151,1 statt 147,4 unseres Beispiels 


fafa= (1— d)= 141,4 statt 145,1 unseres Beispiels. 


Die Korrektur der bedingten Frequenzen beruht hier auf der be- 
sonderen, durch den tatsächlichen Befund gestützten Annahme, dass 
die Einzelfrequenzen der als bedingungsfrei vorausgesetzten zwei- 
geschlechtlichen Geburtenkombinationen sich zueinander wahrschein- 
lichkeitsgemäß verhalten. Ihre Summe bleibt durch die Korrektur 
unbeeinflusst. 


Das korrigierte Zahlenverhältnis bedingter eingeschlechtlicher 
männlicher und weiblicher Drillinggeburten ist demnach, ebenso 
wie das entsprechender Zwillinggeburten, gleich dem von Einling- 
1+-d 
1—d 
demjenigen der bedingungsfreien eingeschlechtlichen Drillinggeburten 


el — 1221) ab. 


Summiert man die berechneten Beträge der Frequenzen der 
bedingungsfreien und die korrigierten der bedingten eingeschlecht- 
lichen Geburtenkombinationen, so erhält man deren hypothetische 
(sesamtfrequenzen, nämlich 


geburten, nämlich 





— 1,069, und weicht sehr erheblich von 


n=zut+)—AFe ara 


22 


m, an 





I) 


516 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


so dass sich die Verteilung unseres Materials 
ER: 3,0 21 1,2 0,3 
empirisch 24 285 245 225 
hypothetisch 248,7 2738 2562 221,3 
gestaltet. 
Die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen männlichen 
Drillinggeburten beträgt analytisch 
fo so _ I3n(l nd) (faı +) nr d) 
f30 3n(l —d?2)— 2(1—d) (2fa +2) 
wi) a Ar u BP) fa 
61-4) Pr —n’(1—-d)]—8f, 








und hypothetisch 
fol _ 4(n—n) 
fo An— n (3 —2 d—d?)’ 
die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen weiblichen Drilling- 
geburten analytisch 


fs los _ 3n(l le +) 
fos 3n(1 —d2)— 2(14a) (+2) 
3a) An a ST) Eh 
irre: 














und hypothetisch 


fos ey A(n— n) °) 
Berne aaa, 

Die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen ausschließ- 
lich weiblichen Drillinggeburten bleibt also des kleineren Divisors 
wegen wiederum, wie bei den Zwillingen, etwas größer als der ent- 
sprechende Wert der männlichen, so lange d > 0. 

Endlich beträgt die relative Häufigkeit bedingter unter sämt- 
lichen Drillinggeburten 


az Si f os —=]1 fa fe) 
3n(1—d?) 


72 


n 











4. Allgemein ergibt sich zur Berechnung der Anzahl (»’) be- 
dingungsfreier Geschlechtskombinationen unter n Fällen »-facher 


5) Dem entsprechen bei unserem Material die numerischen Unterschiede 
analytisch hypothetisch 
dJ 0,6016 0,6076 
? 0,6449 0,639. 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 517 


Mehrlinggeburten unter der Voraussetzung, dass bedingte derselben 
stets Erngenchlechuich sind, die Beziehung 


" P—(i+ay(1-ay]=s, (10) 
wos=f 11+f-23,2+ Pf, at fip ı=R - fo — ndeh. gleich 


der Summe aller zweigeschlechtlichen Geburten. Ferner sei 
2h=1+a” +1 — d’ =2(1+r,d—+vd’+---). 
Dann ist 
Du 


Se Eee 
2(2°-!—.h) 





WW = 


Ss 


Te tee Het] 


a+m)+a-a) 
va 


Ferner ist die Gesamtheit aller eingeschlechtlichen Geburten em- 


pirisch 
fo + fv = n — S 
und hiervon nach (2) und (6) männlich, resp. weiblich 
s12 ER — 1) en } 
—— 5 (1 E= d) Zerlr = J 


® 


ne | ce) 











fo. = 5a a) 


wo0 <u< vr und u ganzzahlig. 
Die Summe aller bedingungsfreien eingeschlechtlichen Geburten 
beträgt 


/D} 


fo tfv=mW — Ss 








2, ol 
— —1 we ’ 
wovon männlich: = a 
| (12) 
weiblich: fo Sa 


die Frequenzen der bedingten eingeschlechtlichen Geburten daher 
unkorrigiert 


518 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 





ET) s 2(2-!—kh)+e(l4d” 1 Seen 
fo —f = „ia +d) — 9 Gr, "oa zu | a 


h)+ell—d) el Z[® —u—1) ee. 


wr1—h ®v u 


5. 2 (27 
fo» -fn=z(-d)—;, 








Zur Berechnung der Frequenzen der bedingungsfreien zweigeschlecht- 
lichen Geburtenkombinationen dient der Ausdruck 


’ v—2 a1 
I v—uy, = E n) u (1-+d) —q ) 7 (14) 
so dass 
= Ku, = (f, —, N 
Unter der erst für »>2 erforderlichen weiteren Voraussetzung, 
dass f, an Bo und N N. ergeben sich für männ- 


liche und weibliche Be ulccheliche Geburten überhaupt die 
hypothetischen Werte 





= u+9-z(1 12 en u Bl = 


= I Er (” — WW ES (5) Sy 


RL Ss da1—r)—v,d’ — v,d’—--- 
n—5(1 ee De 120 ) 


3 eeb-)) | 


und damit für die bedingten eingeschlechtlichen Geburten die 
korrigierten Frequenzen 


en ı (1-+d) | 











(16) 
ha (img, | 


so dass bei dieser Hypothese die Geschlechtsdifferenz der letzteren ®) 
stets gleich d oder, wie bei Einlinggeburten, identisch mit der- 
Jemen der Gesamtheit aller in der betreffenden Klasse Geborenen 
6) Die Geschlechtsdifferenz bedingungsfreier eingeschlechtlicher Mehrling- 
geburten ist 
et -+.a 


ee u mm: 


I 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 519 


ist, Die Summe der bedingten Frequenzen wird durch die Kor- 


rektur der letzteren nicht verändert. 
Das Verhältnis der bedingten zu den bedingungsfreien einge- 


schlechtlichen Geburten ist 


fro + for 3 Du (RR) 
Bee En airie (17) 


Sind sämtliche Fälle einer Klasse von ngsebnrten be- 
dingungsfrei, so ist »” —n und die Verteilung ihrer Geschlechts- 


kombinationen folgt dem Ausdruck 
2 [a+a)+ (d-a)r. 


Endlich beträgt die wahrscheinliche Summe aller einge- 





i A nh : 5 
schlechtlichen v-fachen Mehrlinggeburten: =: die relative Fre- 


quenz bedingter eingeschlechtlicher unter sämtlichen v-fachen Mehr- 


linggeburten 
h 


n s 
A =) (18) 

Die Anwendbarkeit der Methode beruht auf der Richtigkeit 
der Voraussetzung, dass nur die Häufigkeit eingeschlechtlicher Kom- 
binationen von Mehrlinggeburten durch besondere, wenn auch im 
einzelnen ungenügend bekannte Bedingungen begünstigt wird, die- 
jenige zweigeschlechtlicher dagegen unbeeinflusst bleibt. 

5. Zur Beurteilung der Übereinstimmung der empirischen mit 
den berechneten (hypothetischen oder wahrscheinlichen) Frequenzen 


der Geschlechtskombinationen einer _— 
gegebenen Klasse von Mehrling- BPUNRAEREZ 
(Bu SuununE 


geburten denke man sich beide 
graphisch über denselben Abszissen 
dargestellt. Dann ergeben sie in- 20777 
haltgleiche Polygone, die sich mehr / 
oder weniger genau decken, und 
der relative Betrag des Flächen- 79 
teils, mit dem sie zur Deckung ge- 








NEUER 
Ran: 
HaL= DR OREUNE 










langen, bildet das natürliche Maß 
a: len BESERRE 
ne Dbereinslummung (vgl. die „sole 
ext gur ). . empirisch 

Bequemer als dieser Betrag + hypothetisch 


jedoch ist sein Komplementwert, 

der relative Deckungsfehler der Frequenzpolygone, zu ermitteln. 
Dieser erscheint in der graphischen Darstellung aus Trapezen, Drei- 
ecken oder aus beiden zusammengesetzt, deren Flächensumme in 
folgender Weise berechnet wird. 


520 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


Man bildet die Differenzen der homologen empirischen und 
berechneten Frequenzen, indem man letztere von ersteren sub- 
trahiertt. Dann erhält man eine Reihe positiver und negativer 
Werte der Summe Null. Nun bildet man die absolute Summe 
dieser Differenzen, indem man sie sämtlich als positive Werte 
addiert, berechnet hierauf die Quotienten zwischen dem absoluten 
Produkt und der absoluten Summe je zweier benachbarter Diffe- 
renzen ungleichen Vorzeichens und subtrahiert die Summe dieser 
Quotienten von der absoluten Summe der Differenzen. Die so ent- 
stehende Zahl, durch 2», den doppelten Flächeninhalt jedes der 
Polygone, dividiert, ergibt den relativen Deckungsfehler A mit dem 
wahrscheinlichen Fehler 


E (4) = 0,67449 ya 





7. B. Drillinggeburten 3,0 2,1 1,2 0,3 
empirisch 245 285 245 225 
hypothetisch 248,7 273,8 256,2 22103 
Differenzen —37 + 112 — 112 + 37, 


so dass Z(V (,— A) = 29,8, 9, = 41,44:14,9, q, = 125,44: 22,4, 
gs 4164427414.9,727(0) == 11,16, mithin 
29,8 — 11,16 

2000 
d. h. die verglichenen Frequenzpolygone decken sich zu 99,07+0,20%, 
ihres Inhalts. 

Für den Vergleich der empirischen mit den wahrscheinlichen 
Frequenzen (cf. Abschnitt 1) dagegen fände man 

die Differenzen: 107,1 — 102,1 — 117,14 112,1 

438,4 — 109,54 

2000 


d.h.dieverglichenen Frequenzpolygone decken sich nur zu 83,56 +0,79, 
ihres Inhalts. 


Pie — 





- —= 0,00932 + 0,00205, 


und A== 





— — 0,16443 + 0,00791, 


I. 


6. Die vorstehenden Betrachtungen wurden durch die Ähnlich- 
keit der Befunde veranlasst, die ein Vergleich der Frequenzver- 
teilung der Geschlechtskombinationen bei vier verschiedenen Be- 
obachtungsreihen menschlicher Zwillinggeburten ergab. 

In seiner „Physiologie der Zeugung*“ führt Hensen (p. 250) 
nach v. Fricks eine Geburtenstatistik für Preußen während der 
54jährigen Periode 1826—1879 an. Er gibt zum Teil die absoluten, 
zum Teil relative Zahlen, aus denen sich die absoluten ermitteln 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 591 


lassen. Diese Statistik umfasst unter 38360057 Geburten über- 
haupt Mehrlinggeburten bis zu Fünflingen’). In Band VI des „Hand- 
wörterbuchs der Naturwissenschaften“ findet man s. v. „Missbil- 
dungen“ (p. 988) eine Statistik der Zwillinggeburten in Deutschland 
für 1902. Ferner enthält Heft 26 der „Statistik des Hamburgischen 
Staates“ (p. 39 und 56) Daten über 117094 Geburten der Jahre 
1904—1908 im Hamburgischen Staatsgebiet, unter denen die höchst- 
zahligen Mehrlinggeburten Drillinge sind. Endlich teilte Gobb 
kürzlich in „Science“ (p. 501—502) die Frequenzen der Geschlechts- 
kombinationen von 3334 Zwillinggeburten aus den Staaten Üon- 
necticut, Maine und Vermont während der Jahre 1899—1912 mit. 

Um einen Vergleich mit Tieren zu erhalten, welche normaler- 
weise Mehrlinggeburten zur Welt bringen, benutzte ich Parker’s 
und Bullard’s Arbeit „On the size of lIitters and the number of 
nipples in swine“, die ich der Güte der Verfasser verdanke. In 
dieser (p. 414—-426) findet sich eine Tabelle, auf welcher für jedes 
der beiden Uterushörner von 1000 trächtigen Weibchen einzeln u. a. 
die Anzahl, das Geschlecht und die gegenseitige Lage der darın 
enthaltenen Embryonen angegeben ist, und aus dieser habe ich die 
mich interessierenden Daten ausgezogen. Das gesamte Material um- 
fasst also 2000 Uterushörner, wobei auf die einzelnen Klassen der 
(bis achtfachen) Mehrlinggeburten natürlich nur wenige Fälle kommen 
können; doch ist es mir nicht gelungen, anderweitig eine größere 
Beobachtungsreihe aufzufinden. 

Die nachstehende Tabelle I gibt eine Übersicht über das ge- 
samte mir zur Verfügung stehende Material. 


Tabelle I. 
v /. Geburten %dtE(d) for o® n 
Preußen 1826—1879. 





: 987.950 7 307722 010820 976.237 ı 975,881 137898071 

2 1.9055 223/002 .0,507 23,351 23,708 456685 

3 0,136 33,264 3,81 0,404 0,402 5221 

4 0,002 — 71,43 # 27,11 0,007 0,009 77 

5 0,000) 600,00 + 98,52 0,0012) 0,000?) 3 

Total 1000,000 30,59-+ 0,08 1000,000 1000,000 38360057 
!) 0,00008 2) 0,00060 ») 0,00016 


7) Des weiteren zitiert Hensen (l.c p. 209) nach Oesterlen eine Statistik 
über 33556 Zwillinggeburten ohne Angabe ihrer Herkunft, die schwerlich mit der 
preußischen identisch ist, da sie einen wesentlich größeren Wert für 4 (0,03330+0,00184) 
als diese ergibt. Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen bei ihnen 
ist in relativen Zahlen ausgedrückt, aus denen sich die absoluten nicht mit Sicher- 
heit, d. h. ganzzahlig, ermitteln lassen. Vielleicht liegen dabei Druckfehler vor; 
jedenfalls ist statt 20,23% für fj, 30,23 % zu lesen. 


922 


)) 


0) 
1 
3 
4 
5 
6 
7 


8 








Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 
°/oo Geburten °/,.d+E(d) od "oo 2 2 
Deutschland 1902. 
5 19,86 + 0,58 2 % 25 980 
Hamburg 1904—1908. 
986.942 728,94=:' 1,407 2 974,736 973,456 115565 
12,947 4,62+ 8,66 24,969 26,180 1516 
0,111 — 76,92 + 76,14 0,295 0,364 13 
Total 1000,000 28,294 1,38 1000,000 1000,000 117094 
Vereinigte Staaten 1899—1912. 
% 28,49 + 5,84 ? ? 3334 
Schwein (Parker und Bullard 1913). 

26,0 — — — 52 
103,0 58,25 + 33,17 36,045 32,926 206 
227,0 —6,61+15,83 149,140 155,126 454 
307,5 29,81-511,107°. 314.153 2303802 615 
219,5 13,672211,38  7294,31277 7293953 439 

87.0002 16.095 16,17. 1141,534% 150.034 174 

20,0 --25,00+ 30,78 38,691 41,752 40 

1,D 123,81 + 46,19 19,511 15,614 15 
2,5 0,00 + 75,41 6,614 6,789 5 
Total 1000,0 13,07+ 6,17 1000,000 1000,001 2000 


I mi 
| 
VIE OHM 0m Ho 


oe 
6 

9 32 
11 30 
29 
30 9 
1 

29 100 
Ra ;y- 
dB 


Kombinationsschema 
der rechts- und der linksseitigen Embryozahlen in den Uterushörnern 
von 1000 trächtigen Schweinen. 
(Nach Parker und Bullard 1913.) 


5) 


306 


471 
447 


4 


2331 


466 
458 


7 





51, MON). As zZ d ee) 

Er 

3 106 57 9 

Bo 225 224 226 

er 309 479 448 

20 "7: LU Sog raus 3e 

190.79 °,13 104 250 270 

3 2.9. jenem 

liwea Blue, dan 

1 2.10 6 

70 22 10 3 1000 Ts 
178 68. 41 10 1513 3024 

172 64 29 14 1463 2946 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 595 


Differenzreihe des Kombinationsschemas. 
r-ı:;: 5 —1 —3 — —1 0) i z Det 
I: ıl 7 >70 923735025195: 109 24 9 


In Deutschland (Preußen, Hamburg) kommen auf die Gesamt- 
zahl der menschlichen Geburten in runden Zahlen: Zwillinggeburten 
1:84, Drillinggeburten 1: 7350, Vierlinggeburten 1 :500000. In 
je 1000 Geburten werden durchschnittlich 1012 Kinder, davon 522 
männliche, geboren. 

Von der Gesamtzahl geborener Knaben fällt in Deutschland 
ein etwas höherer Prozentsatz auf Einlinggeburten als von der- 
jenigen der Mädchen; letztere ist daher etwas stärker an den 
Zwilling- und, dem Anschein nach, an den Mehrlinggeburten über- 
haupt beteiligt. Dementsprechend übertrifft die Geschlechtsdifferenz 
der Einlinggeburten Preußens und Hamburgs diejenige der Gesamt- 
heit der Geborenen. _ 

Bei den verschiedenen Klassen menschlicher Mehrlinggeburten 
schwankt die Geschlechtsdifferenz in weiten Grenzen (von -—-77 bis 
zu 600°/,0); ist jedoch in der Mehrzahl der Fälle mit so großen 
wahrscheinlichen Fehlern behaftet, dass auf ıhre numerischen Werte 
kein Gewicht gelegt werden darf. In zwei Beobachtungsreihen 
(Preußen, Hamburg) bleibt die der Zwillinge deutlich hinter der 
der Einlinge zurück, und für die Zwillinggeburten Deutschlands in 
1902 ist die gefundene Geschlechtsdifferenz ebenfalls weit niedriger 
als der Durchschnitt. 

Beim Schwein wurden in den einzelnen Uterushörnern trächtiger 
Weibchen 0—8, meist 3 Embryonen angetroffen, in 75,4%, aller 
2000 Fälle 2—4. Infolge der weitgehenden Trennung der Uterus- 
hörner bei dieser Tierart sind hier von gemeinschaftlichen Be- 
dingungen abhängige Mehrlinggeburten nur aus je einem einzelnen 
Horn zu erwarten; aus diesem Grunde wurden nur Embryonen- 
gruppen aus solchen berücksichtigt. Die Verteilung der rechts- und 
linksseitigen Embryozahlen ist aus dem Kombinationsschema der 
Tabelle I ersichtlich; so war links in 23, rechts in 29 Fällen das 
eine Uterushorn leer, während das andere 1—4 Embryonen ent- 
hielt. Ein Vergleich der rechts- und linksseitigen Befunde ergibt 


Embryonen davon 
A & d ) d 
rechts: 2,976 1,35404 1,513 1,463 0,01680 + 0,00874 
links: 2,994 1,41339 1,511 1,483 0,00935 + 0,00872 
Korrelation: o—=0,44598+0,01709, Asymmetrie: a—= —0,01358, 
d. h. bei großer durchschnittlicher Ähnlichkeit der Anzahlen und 
der Geschlechtsverteilung rechts- und linksseitiger Embryonen be- 
steht eine merkliche positive Korrelation der ersteren, Die (linearen) 


524 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


Regressionen der Anzahlen von Embryonen einer Körperseite auf 
die von solchen der anderen sind (r = rechts, ! = links) 

r = 1,6178 -- 0,45365 I 

I = 1,6892 + 0,43844 r. 
Die Geschlechtsdifferenz innerhalb der einzelnen Geburtenklassen 
schwankt in weiten Grenzen (von 24 bis zu 124°/,,), ist jedoch 
stets mit einem so großen wahrscheinlichen Fehler behaftet, dass 
keine bestimmten Beziehungen zu ihnen erkennbar sınd. Im Mittel 
beträgt sie 13,07 + 6,17°/,,, ist also wesentlich geringer als beim 
Menschen. 

Tabelle II enthält den Vergleich der berechneten (hypothetischen 
und wahrscheinlichen) mit den beobachteten Frequenzen der Ge- 
schlechtskombinationen bei den einzelnen Klassen von Mehrling- 
geburten des Menschen und des Schweins. Letzteren sind, mit Aus- 
nahme derjenigen der menschlichen Zwillmeseburgn ihre wahr- 
scheinlichen Fehler beigefügt. 


Tabelle II. 
A. Mensch. 
1. Zwillinge. 
Preußen 1826—1879. Deutschland 1902. 
d,2 emp. En ne wahrsch. emp. Br bed wahrsch. 


20 148879 887034 60176 119483 8355 5091,34 3263,7 6755,5 
11 169430 169430 228222 9786 9786 12984,9 
02 138376 80906-+ 57470 108980 7839 4702,4-4-3136,6 6239,6 





2 456685 339039117646 456685 25980 19579,7 + 6400,3 25980,0 


Hamburg 1904—1908. Verein. Staaten 1899—1912. 
analyt. analyt. 

2 u bed.-fr. + bed. bed.-fr.—+ bed. 

20 497 266,95-+230,05 382,51 1118 631,49-1-486,51 881,67 

117355297 529 757,98 1193212193 1665,65 

02 490 262,07-+227,93 375,51 1023 563,45-4459,55 786,68 


wahrsch. emp. wahrsch. 





3 1516 1058,02-4457,98 1516,00 3334 2387,94-1 946,06 3334,00 
Relative Werte. 





Be Wil n' A+E(4A) 
1 RS - 20 1 s = 02 1 E a; 
Th Tin, n T (wahrsch.) 
Preußen 1826—79 0,4042 0,4153 0,2576 + 0,0004 0,0858 + 0,0003 
Deutschland 1902 0,3906 0,4001 0,2464 0,0019 0,0821 + 0,0011 


Hamburg 1904—08 0,4629 0,4652 0,5021 + 0,0080 0,1007 + 0,0052 
Ver. Staaten 1899 —1912 0,4352 0,4492 0,2838 + 0,0053 0,0945 + 0,0034 














Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 525 
2. Drillinge (Preußen 1826—1879). 
analyt. bed. 
; l h. wahrsch. 
d,g@ emp. tE De ae) ıypoth. wahrsch 
30 1279-+20,96 509,304 769,70 789,20 1298,50 719,94 
21 1488422,00 1429,52 58,489 09 1429,52 2020,76 
12 1279+20,96 1337,48 — 58,48 1337,48 1890,66 
03 1175+20,35 417,124 757,88 738,38 1155,50 589,64 
SE 3693,42 41527,58 1527,58 5221,00 5221,00 
3. Vierlinge (Preußen 1826—1879). 
analyt. bed. 

f hy .. wa A 
go. emp.-eB en) ıypoth. wahrsch 
40 11+2,07 2,724 8,28 857 11,29 3,58 
31 154234 1255-4 2,45 12,55 16,51 
22 184250  21,73— 3,73 0,00 21,73 28.58 
ee. oe 16,72 21,99 
04 15+2,34 4,82 410,18 gan 1a 6,34 
Ban DE on san 00 ao 
Relative Werte. 

ER I el) 
Too = Ne (hypoth.) (wahrsch.) 
Drillinge 0,6018 0,6450 0,2926 + 0,0042 0,0075 + 0,0008 0,1644 + 0,0025 
Vierlinge 0,7527 0,6787 0,2397 +0,0328 0,0347 + 0,0141 0,1832 + 0,0297 
B. Schwein. 
1. Zwillinge. 
analyt. 
d,2 emp. +E De wahrsch. 
20 104 + 6,04 119,90 — 15,90 112 
11 243+717 243 227 
02 107 + 6,10 123,12 — 16,12 115 
> 454 486,02 — 32,02 454 
2. Drillinge. 
analyt. bed. 
d,? emp.+ Eadlı bei a hypoth. wahrsch 
30 8845,86 82,35-- 5,65 6,08 88,43 83,96 
21 234+8,12 232,744 1,26 232.14 2. ans 
12 218+8,00 219,26 — 1,26 | 70721906. 20a, 
03 616 18172. 1174,57 70,20 
22615 603,20 411,80 11,80 615,00 615,00 


526 ° Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 


3. Vierlinge. 


analyt. bed. 
euer B bed.-fr.—+bed. (korr.) 
Keen 28,891. 211 U 0,61. 2osoo 


hypoth. wahrsch. 








as 618 112,441.056 112,44 112,75 
er 164,11 —711'\ 0,00. 164.11, 1464,56 
13 113+6,18 106,45-46,55 106,45 106,75 
0A 2%+328  25,90—0,90  v,60 26,50 25,97 
Eur 139  437,794+121 1,21 439,00 439,00 


4. Fünflinge. 

analyt. bed. 
bed.-fr.+ bed. (korr.) 
50 Ve 4,98-42,02 0,58 5,56 5,01 
Be 51290 9572 A72 25,72 25,89 
32 544412 53,11-+0,89 53,11 58,47 


d,? emp. +E hypoth. wahrsch. 








23 604423  54,85+5,15 ( Day 54,85 55,22 
9723,22 7 28,52 132 28,32 28,53 
05 5+1,49 5,85—0,85 0,59 6,44 5,88 
Bu 7A 172,83 1,070 21170 0172009 2172.00 


Relative Werte. 


eo RE 
vo fov a 
Zwillinge — 0,1529  —0,1507  —-0,0708+0,0081 
Drillinge 0,0642 0,0820 0,0192 + 0,0037 
Vierlinge 0,0681  --0,0360 0,0028 -+ 0,0017 
Fünflinge 0,2886 —0,1700 0,0067 + 0,0042 
A SE IE(A) 

(hypoth.) (wahrsch.) 
Zwillinge — 0,0235 + 0,0048 
Drillinge 0,0012 + 0,0009 0,0108 + 0,0028 
Vierlinge 0,0137 +0,0037 0,0143 + 0,0038 
Fünflinge 0,0347 + 0,0094 0,0332 + 0,0092 


7. Eingeschlechtliche Zwillinggeburten beim Menschen 
machen 62,3 (Deutschland 1902) bis 65,1% (Hamburg) der sämt- 
lichen Zwillinggeburten aus, d. h. sie treten 1,26 (Preußen), 1,25 
(Deutschland 1902), 1,30 (Hamburg) resp. 1,28 (Ver. Staaten) mal 
so häufig auf, wie der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach zu er- 


Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 597 


warten wäre. Ferner sınd 24,6 bis 30,2%, aller Zwillinggeburten 
und 39,1-—-46,5 %, der eingeschlechtlichen bedingte. Das Verhältnis 
bedingter zu bedingungsfreien eingeschlechtlichen Zwillinggeburten 


(Br -ı) beträgt daher für Preußen 0,69, für Deutschland 
Vaozicl 02 


1902 0,65, für Hamburg 0,87, für die Ver. Staaten 0,79, für die 
Gesamtheit der Beobachtungen 0,69. In allen diesen Zahlenwerten 
besteht eine auffällige Übereinstimmung der vier Beobachtungs- 
reihen. 

Während die Geschlechtskombinationen der bedingungsfreien 
Zwillinggeburten Frequenzen aufweisen, die ihren Wahrscheinlich- 
keiten entsprechen, so dass 

ee ler a2 Zar)” 
A en 
und fnifa (1a): 
verhalten sich diejenigen der bedingten stets wie m: ww der Gesamt- 
heit, nämlich 
„ 2 1-+d 
(fr — ao) : (fa — Foo) = kan? 
also nicht wie Zwilling-, sondern wie Einlinggeburten. 


Mithin besteht ein charakteristischer und gesetzmäßiger Unter- 
schied in der Frequenzverteilung bedingungsfreier und bedingter 
Geschlechtskombinationen bei menschlichen Zwillinggeburten, in 
welchem die scheinbar irreguläre Verteilung der Gesamtheit der- 
selben ihre vollständige Erklärung findet. 

Eingeschlechtliche Drillinggeburten beim Menschen machen 
47,0%, der sämtlichen aus oder sie sind 1,87mal so häufig wie nach 
der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erwarten. Ferner sind 60,2 (J‘) 
resp. 64,5%, (9) der eingeschlechtlichen und 29,3%, aller Drilling- 
geburten bedingte; solche sind also in Preußen noch etwas häufiger 
als bedingte Zwillinggeburten. Das Verhältnis bedingter zu be- 
dingungsfreien eingeschlechtlichen Drillinggeburten ist daher 


ot la _ 11,65, 
ar 03 
also viel größer als das entsprechende der Zwillinggeburten. 
Die Frequenzen bedingungsfreier Drillinggeburten verhalten 
sich ihrer Wahrscheinlichkeit gemäß, so dass 
i e 1+d\? ’ 
aere Dos == we) = 2210. 
Die der bedingten hingegen erreichen, wie schon im dritten Ab- 


schnitt dieser Arbeit hervorgehoben, das hypothetisch zu erwartende 
Verhältnis 


528 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 


(1--d): (1 —d) = 1,0683 
infolge geringer, wahrscheinlich zufälliger ®) Unregelmäßigkeiten der 
Frequenzverteilung der zweigeschlechtlichen Kombinationen nicht, 
sondern ergeben das wesentlich kleinere 


(f30 — 30) : (fo Fan fo) Zn 1,0156, 


welches nicht die dritte, sondern rund erst die dreizehnte Wurzel aus 


nenn 
a) dar stellt. 


Statt der analytisch gefundenen müssten die korrigierten Werte 
30 — fs = 189,20, fos — F os = 138,38 


vorliegen, um das Verhältnis 1,0688 zu ergeben; ihnen entspricht 
die Erhöhung von f,, = 1279 + 20,96 auf 1298,5 und die Herab- 
setzung von fj, = 1175 + 20,35 auf 1155, also Abänderungen der 
beobachteten Größen, die noch innerhalb der wahrscheinlichen 
Fehler der letzteren bleiben. Unter der Voraussetzung, dass neben 
den bedingungsfreien Geburtenkombinationen in ihrem Wahr- 
scheinlichkeitsverhältnis die bedingten im korrigierten Verhältnis 
(1-+d):(1—d) auftreten, erhält man die hypothetische Verteilung 
der Gesamtheit, die eine weit bessere Übereinstimmung mit der 
empirischen, als die wahrscheinliche, ergibt: der relative Deckungs- 
fehler der graphischen Darstellungen beträgt in ersterem Vergleich 
nur 0,75+0,08%, in letzterem 16,44+ 0,35 %. 


An menschlichen Vierlinggeburten enthält das preußische 
Material nach Hensen nur 77 Fälle; die entsprechenden Zahlen- 
werte sind daher notwendig mit großen wahrscheinlichen Fehlern 
behaftet. 


Eingeschlechtliche Vierlinggeburten machen 33,8%, der sämt- 
lichen aus, oder sie sind 2,62mal so häufig wie nach der Wahr- 
scheinlichkeitsrechnung zu erwarten. Ferner sınd 75,3 (S) resp. 
67,9(9)%, der eingeschlechtlichen und 24,0%, aller Vierlinggeburten 
bedingte. Das Verhältnis bedingter zu bedingungsfreien einge- 
schlechtlichen Vierlinggeburten beträgt 


ist also noch wesentlich größer als bei Drillinggeburten. 


8) Die graphische Darstellung der empirischen Frequenzen (cf. die Textfigur 
auf p. 519) ergibt ein Polygon, dessen f,,-Winkel gegen die Fläche desselben ein 
wenig einspringt, obgleich sowohl f,, wie /,, ausspringende Winkel aufweisen. Ein 
derartiger Befund, der sich zahlenmäßig in einer kleinen positiven zwischen zwei 
größeren negativen zweiten Differenzen der Frequenzen äußert, ist erfahrungsgemäß 
ein Zeichen zufälliger Irregularität. 


Biolosisches Centralblatt 


Begründet von J. Rosenthal. 


In Vertretung geleitet durch 
Prof. Dr. Werner Rosenthal 


Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen. 


Herausgegeben von 


DEIK. Goebel und Dr. R. Hertwig 


Professor der Botanik Professor der Zoologie 
in München. 


Verlag von Georg Thieme in Leipzig. 








Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich. 
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten. 


Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an 

Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie, 

vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München, 

alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem 
Berg 14, einsenden zu wollen. 








Bd. XXXYV. 20. Dezember 1915, 2% 12. 











m 

Inhalt: Driesch, Gibt es harmonisch-äÄquipotentielle Systeme? Eine Erwiderung, — Lehmann, 
Art, Reine Linie, Isogene Einheit. — Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. — 
Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur Vererbung und Bestimmung 
des Geschlechts. — Prät, Einige neuere Versuche über die Wirkung des Lichtes auf die 
lebenden Organismen. — Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der 
Metazoen. — Brehm’s Tierleben. — Seitz, Die Großschmetterlinge der Erde. — Abder- 
halden, Lehrbuch der Physiologischen Chemie in Vorlesungen. — Bateson, Mendel’s Ver- 
erbungstheorien. — Register. 





Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme? 
Eine Erwiderung 
von Hans Driesch (Heidelberg). 

Im Laufe der letzten Jahre habe ich auf Angriffe gegen mein 
biologisches Theoriensystem nur in seltenen Fällen geantwortet, 
und zwar eigentlich nur dann, wenn es sich um besondere Meinungs- 
verschiedenheiten im Rahmen der allgemeinen vitalistischen Theorie 
handelte, wie z. B. in der Frage nach der besonderen Art und 
Weise der vital-mechanischen Wechselbeziehung!). Ich war näm- 
lich der Überzeugung, dass alles gegen den Grundgedanken der 
vitalistischen Theorie Vorgebrachte diesen Grundgedanken gar nicht 
traf, sondern vielmehr aus einem begrifflichen Missverstehen oder 
unvollständigen Erfassen der empirisch und logisch gleich fest ver- 
ankerten Theorie entsprungen war. Und ich hatte das Zutrauen, 
dass ein gewissenhafter Leser meiner Darlegungen und der Angriffe 
auf sie alle Dunkelheiten schon zu beheben wissen werde?). 


1) The Problem of Individuality, 1914, S. 40. 
2) Gegen die Angriffe, welche A. Greil und K. Marcus vor einiger Zeit 
gegen die Entwicklungsmechanik überhaupt richteten, habe ich, im Jahre 1913, 
xXXXV. 3) 


546 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme? 


Wenn ich heute mit Rücksicht auf eine bestimmte, neu er- 
schienene biotheoretische Arbeit, nämlich J. Schaxel’s Buch über 
Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Meta- 
zoen (Jena 1915), von dem in den letzten Jahren von mir befolgten 
Verhalten abweiche, so geschieht das darum, weil Schaxel die 
empirische Basis meines Lehrgebäudes stark erschüttern zu 
können glaubt. Die experimentellen Tatsachen, auf denen dieses 
Gebäude ruht, seien, so meint er, teils als Tatsachen unrichtig oder 
unvollständig dargestellt, teils schief analysiert. Mit der Basis aber 
falle naturgemäß der Bau. Um so mehr aber glaube ich berechtigt 
zu sein, den Versuch einer Zurückweisung der Angriffe Schaxel’s 
zu unternehmen, weil er andererseits die immanente Logik 
meines Theoriengebäudes nicht bestreitet: „Driesch’s auf die 
Differenzierung harmonisch -äquipotentieller Systeme gegründeter 
Beweis für die Autonomie der Lebensvorgänge ... ıst meines Er- 
achtens in sich richtig,“ so heißt es auf Seite 132. Aber — es 
gibt nun eben nach Schaxel harmonisch-äquipotentielle Systeme 
nicht! 

Diesem ganz fundamentalen Angriff gegenüber werden wir nun 
freilich zeigen können, dass Schaxel selbst in ganz demselben 
Umfange wie ich das Dasein harmonisch-äquipotentieller Systeme 
nachgewiesen hat, und zwar auch da, wo er berechtigte Korrek- 
turen an meinen Darlegungen in Einzelheiten vornahm, wie z.B. 
bei den (Olavellina-Untersuchungen; auch diese Korrekturen 
ändern am Wesentlichen nichts. 

Ich gehe nun zunächst die verschiedenen kritischen Ausstel- 
lungen, welche Schaxel zu meinen Experimentaluntersuchungen 
als solchen zu machen hat, der Reihe nach gruppenweise durch, 
um alsdann noch gewisse Fragen der Deutung kurz zu erörtern. 


1. Veränderung des Furchungstypus durch Temperaturerhöhung 
und Seewasserverdünnung. 


Im Winter 1891/92°) habe ich durch Temperaturerhöhung den 
Typus der Furchung der Eier von Sphaerechinus granularis und 
Echinus mierotubereulatus dahin verändert, dass im 16zelligen Sta- 
dıum die Mikromeren teilweise oder ganz in Wegfall kamen, der 
Keim also aus 16 annähernd gleichen Zellen, meist in nicht ganz 


eine kritische Erwiderung geschrieben. Doch habe ich die Veröffentlichung der- 
selben unterlassen, da mir die Erörterung des Greil’schen Buches durch Roux 
(Arch. Entw.-Mech. 35, 1912, S. 314) hier genug zu sagen schien. Auch ist es 
doch wohl etwas viel verlangt, sich literarisch auf Angriffe ein,ulassen, deren Autor, 
in diesem Falle Marcus, sich zu dem Satze versteigt: „Die Zahl derjenigen Ar- 
beiten, die Tatsachenmaterial zu diesen (sc. den entwicklungsphysiologischen) Pro- 
blemen beitragen, ist sehr gering.“ Das Archiv für Entwicklungsmechanik 
allein ist nach 21 Jahren bei seinem 42. Bande angelangt! 
3) Zeitschr. f. wiss. Zool. 55, 1892, S. 10ff. 


Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 547 


normalen Lagen, bestand. In der großen Mehrzahl der Fälle erzielte 
ich trotzdem normale Larven, und wenn ich nicht normale Larven 
erzielte, so handelte es sich ausgesprochenermaßen um durch die 
Wärmewirkung „pathologisch“ gemachte kurzlebige Objekte. 

Der Bericht über das Zustandekommen der abnormen Furchungs- 
stadien sei „dürftig“, sagt Schaxel (S. 136); dem gegenüber kann 
ich nur darauf hinweisen, dass ich in vielen Dutzenden von Fällen 
einzelne, nach einem besonderen Verfahren isolierte Eier in 
jedem Stadium der Veränderung beobachtet und gezeichnet habe. 
Was da noch weiter beobachtet werden soll, weiß ich nicht; An- 
gaben über irgendwelche Körnchen im Protoplasma oder Ähnliches 
scheinen mir recht gleichgültig zu sein*) angesichts des Umstandes, 
dass es sich eben doch um ganz bestimmte Dinge handelt, nämlich 
darum: Ist der Furchungstypus überhaupt wesentlich veränderbar? 
Und wird trotzdem etwa die Larve normal? Beides war auf 
Grund sehr zahlreicher Versuche zu bejahen: „Meine positiven Ver- 
suche ın dieser Hinsicht zählen nach vielen Dutzenden“, heißt es 
auf S. 15 meiner Arbeit. 

Schaxel selbst hat die Wärmeversuche an Strongylocentrotus 
wiederholt; er hat aber „nur selten“ (S. 136) Keime aus gleich großen 
Blastomeren erzielt und nie normale Larven aus solchen gezogen. 
Die ausführliche Arbeit ıst noch nicht publiziert; dass Schaxel’s 
aus 16 gleich großen Blastomeren bestehende Keime die Ergebnisse 
doppeltbefruchteter Eier gewesen seien, ist doch wohl nicht anzu- 
nehmen. Aber der Misserfolg wäre auch sonst verständlich; diese 
Wärmeversuche sind nämlich äußerst heikler Art: ?/, bis !/,° ©. 
zu wenig, und die Mikromeren sind noch da; !/, bis t/,°C. zu viel, 
und die Larven sind „pathologisch“ und sterben früh; und dazu ist 
noch die „richtige* Temperatur für die Eier des einen Weibchens 
nicht die „richtige“ für die des anderen. — 

Ehe ich weitergehe, eine allgemeine Bemerkung: Immer wieder 
kommt Schaxel darauf, dass alle seine Vorgänger nicht genug 
Einzelheiten im Verlauf des experimentell abgeänderten Geschehens 
beobachtet hätten. Alle wesentlichen Einzelheiten, kann ich da 
nur wiederholen, habe ich und haben auch Wilson, Morgan, 
Zeleny u. s. w. stets beobachtet. Ich sehe nicht, dass Schaxel 
hier irgendetwas „Wesentliches“ hinzugefügt hätte, es sei denn bei 
Ulavellina.. Wenn es aber auf S.188 gar heißt: „Die sich auf den 
äußeren Anschein eines Gemenges (sic!) von Objekten beschränkende 


4) Anders ist es natürlich bei den mit ausgesprochener Beziehung auf die 
Morphogenesis angestellten zytologischen Untersuchungen von Wilson, Conklin 
u.s. w. Auch die Angaben Boveri’s über den Pigmentring der Eier von Strongylo- 
centrotus sind selbstredend von Bedeutung. Aber dieser Ring konnte doch wohl 
nur beschrieben werden, wo er vorhanden war; und er ist bei Hehinus und Sphaer- 
echinus nicht vorhanden. 


3* 


548 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme? 


und die Verfolgung von Einzelheiten vernachlässigende Forschung 
hat von ihr Unaufgelöstes für das unlösbare Rätsel des Lebens aus- 
gegeben,“ so weiß ich wahrlich nicht, was ich zu dieser Rede vom 
„Gemenge von Objekten“ sagen soll. Schaxel musste doch wahr- 
lich wissen, dass ich jeweils jedes einzelne Objekt, ja jede einzelne 
Furchungszelle, wenn es sich um eine solche handelte, isoliert ın 
ihrem Entwicklungslaufe beobachtet habe, was durchaus nicht ein 
besonders angenehmes, wennschon ein durchaus notwendiges Ge- 
schäft war. Und ganz genau ist stets von mir das umständliche 
Geschäft der Isolation geschildert worden. — 

Bei einem gewissen Grade der Verdünnung des Seewassers 
treten an den Keimen der Echiniden Mikromeren schon „vorzeitig“, 
d. h. im achtzelligen Stadium auf, ohne dass diese Abnormität die 
Entstehung normaler Larven verhindert’). Diese Versuche sind 
sehr leicht ausführbar. „Nur einmal“ wurde, meint Schaxel 
(S. 136), von der Bildung normaler Plutei von mir berichtet. Das 
stimmt. Aber dieses „eine“ Mal heißt es eben: „Eier, welche sich 
auf die beschriebene Weise gefurcht hatten, bildeten... durchaus 
normale Plutei.“ Warum sollte ıch das mehr als einmal sagen, 
wo es sich um eine sehr einfache, jeden Tag mit Leichtigkeit wieder- 
holbare Angelegenheit handelt? 


2. Veränderung des Furchungstypus durch Druckwirkung und 
nachträgliche Verlagerung von Zellen. 

Kommen die vorstehend genannten Versuche für mein eigent- 
liches Theoriengebäude nicht wesentlich in Betracht, so ıst die Be- 
deutung der Druck- und Verlagerungsversuche für meine theore- 
tischen Folgerungen allerdings erheblich. Die Druckversuche®) 
freilich dienten vorwiegend Negativem, nämlich der Widerlegung 
der Weismann’schen Lehre von der differenzierenden Bedeutung 
der Kernteilung: trotz durchaus abnorm zueinander hegender Kerne 
ein normales Ergebnis. 

Die Verlagerungsversuche (ohne Entnahme von Zellen) hatte 
ich anfangs’) in ıhrer Bedeutung überschätzt. Später sah ich®°), 
dass hier häufig eine rein physikalische Regulation schon während 
der weiteren Furchung einsetzte, welche das ursprüngliche Ver- 
lagerungsergebnis ohne weiteres rückgängig machte. Für gewisse 
Fälle freilich blieb die Bedeutung des Versuches bestehen: Ver- 
lagert gebliebene Mikromeren allerdings konnten sich nicht dem 
„Ganzen“ einfügen; ihre Verlagerung führt zu partiellen Verdoppe- 
lungen der ÖOrganbildung. Aber die Masse der Makromeren 


5) Mitteil. Zool. Station Neapel 11, 1893, S. 226ff. 

6) Zeitschr. wiss. Zool. 55, 1892, S. 17ff.; Anat. Anz. 8, S. 348. 
7) Arch. Entw.-Mech. 4, 1896, S. 112ff. 

8) Ebenda 14, 1902, S. 517 ff. 


Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 549 


konnte vollkommen zu zwei durchaus voneinander getrennten 
Haufen verlagert sein, ohne dass dadurch eine normale End- 
bildung verhindert ward. 

Eben diese letzte Versuchsgruppe stellt Schaxel nun durch- 
aus unzutreffend dar, obwohl gerade ihr einige Experimentalunter- 
suchungen von ganz besonderer Sorgfalt von mir gewidmet worden 
sind. Hier löst in Schaxel’s Darstellung immer eine Unrichtigkeit 
die andere ab (S. 139f.): 

„Stillschweigend“ soll ich die Notwendigkeit „der sogenannten 
Mikromeren“ für die Entwicklung zugeben. 

Ich hatte aber in einer besonderen Untersuchung’) gezeigt, 
dass sie nicht notwendig sind. Nur dass, wenn sie alle vorhanden 
sind, aber in zwei voneinander gesonderten Haufen daliegen, auch 
zwei Därme entstehen, habe ich später gesagt. 

Und weiter: Das Ergebnis des wichtigen Versuches, in dem 
die Zellen des Mikromerenpols beieinander geblieben, die Makro- 
meren aber völlig, und zwar, wie mit ganz besonderer Sorg- 
falt festgestellt ward, irregulabel voneinander getrennt waren, 
und doch ein normaler Pluteus resultierte, referiert Schaxel ın 
folgender Form: 

Driesch sagt nun: „Es sind also in den letztgeschilderten 
Versuchen die Elemente mit einziger Ausnahme des beieinander ge- 
bliebenen Mikromerenpols (und der Makromerengruppe! Schx.) 
wirklich in ganz durchgreifender Weise definitiv verlagert worden, 
ohne dass die Bildung eines normalen Produktes irgendwie gestört 
worden wäre.“ 

Durch den Zusatz „und der Makromerengruppe!“ glaubte 
Schaxel meine zusammenfassende Darstellung zu berichtigen und 
dadurchinihrer Bedeutungaufzuheben. Er sieht aber nicht, 
dass der Zusatz falsch ist: der mit besonderer Sorgfalt festgestellte 
Sachverhalt!) war ja gerade, dass die Makromerenverlagerung 
„definitiv“ blieb! Diese Versuchsart hat also Schaxel geradezu 
gänzlich unrichtig aufgefasst. In diesen Fällen gab es eben keine 
nachträglichen physikalisch-regulatorischen Verlagerungen im weiteren 
Furchungsverlauf. 


3. Versuche mit isolierten Blastomeren und Blastomerenkomplexen. 

Wir kommen zum Wichtigsten und — seltsam — gerade 
hier hat nun Schaxel nicht, wie vorher, (ungerechtfertigte) An- 
griffe gegen den von mir!!) aufgedeckten eigentlichen Tatbestand 


9) Mitt. Station Neapel 11, 1893, S. 234. 

10) Arch. Entw.-Mech. 14, S. 520-522. 

11) Zeitschr. f. wiss. Zool. 53, 1891, S. 160; ebenda 55, 1892, S. 3; Mitt. 
Stat. Neapel 11, 1893, S. 232; Arch. Entw.-Mech. 2, 1895, 8. 169; 4, 1896, 
S. 104; 10,'1900, S. 361; 14, 1902, 8. 500; 17, 1903, S. 41; 20, 1905, 8. 1; 21, 
1906, S. 756; 26, 1908, S. 130 und 8. 146. 


550 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme? 


beizubringen, hier kommt er im Grunde schon nur mit Deutungen, 
mit sehr seltsamen Deutungen freilich, die den unbefangenen Leser 
wohl zu der Äußerung veranlassen werden: Was will er denn 
eigentlich? Er redet ja doch immer selbst, nur ohre Verwendung 
des Wortes, von „harmonisch-äquipotentiellen Systemen“! 

Sachlich ist hier eigentlich nur ein Punkt zu berichtigen — 
wenn ich von dem immer wiederkehrenden, gänzlich ungerecht- 
fertigten Vorwurf, dass ich die „bewirkenden Geschehensweisen“ 
nicht genügend berücksichtigt hätte, ein für allemalabsehe. Schaxel 
hat nämlich eine, wie ich glaube, wichtige Arbeit von mir !?) über- 
sehen. Ich habe an dem, was ich „unharmonisch zusammengesetzte 
Keime“ nenne, nicht, wie er meint, „nur festgestellt, wie viel 
Mesenchym jeweils gebildet wird“ (S. 150); das war ın einer früheren 
Arbeit!?) geschehen. Ich habe mir vielmehr auch die Aufzucht von 
Pluteis aus unharmonisch zusammengesetzten Keimen ganz be- 
sonders angelegen sein lassen, und zwar mit dem Ergebnis, dass 
bei jedem beliebigen Zahlenverhältnis zwischen Mikro-, Meso- 
und Makromeren die Bildung normaler Plutei möglich ıst. Auch 
hier werden selbstverständlich die einzelnen Keime ısoliert auf- 
gezogen und auf jedem Stadium beobachtet. 

Nun aber das Seltsame: 

Schaxel greift keine einzige meiner Angaben über 
die Ganzentwicklung isolierter Blastomeren und Blasto- 
merengruppen an, findet, woer nachuntersucht hat, ganz 
dasselbe wie ich, behauptet aber, dass das „harmonisch- 
äquipotentielle System“ nicht existiere! 

Nun war das Wort „harmonisch-äquipotentielles System“ 
meinerseits ein kurzer terminologischer Ausdruck für einen ge- 
fundenen Sachverhalt'*); gar keine „Theorie“ liegt in dem Sach- 
verhalt; Theorie entsteht erst durch seine denk-analytische Ver- 
arbeitung. 

12) Arch. Entw.-Mech. 26, 1908, S. 146. 

13) Arch. Entw.-Mech. 19, 1905, S. 658. 

14) Schaxel verwendet (S. 12Sff.) das Wort „äquifinale Regulationen“ in 
einem weiteren Sinne als ich (Arch. Entw.-Mech. 14, 1902, S. 278 und Philos. d. 
Org. I [1909], S. 160. Wenn von demselben willkürlich gesetzten atypischen 
Ausgangspunkt aus dasselbe Ergebnis auf verschiedenen Wegen, selbstredend 
bei verschiedenen Individuen, erreicht wird, hatte ich von äquifinalen Regulationen 
geredet. Schaxel meinte in meinem Sinne von einer äquifinalen Regulation reden 
zu können, wenn aus atypischem Ausgange überhaupt ein typisches Resultat sich 
ergibt. In solchem Falle sage ich einfach „Regulation“, insonderheit „Formregu- 
lation“; doch Schaxel’s Gebrauch des zusammengesetzten Ausdrucks ist hier nicht 
missleitend. Falsch ist es aber, wenn er, angeblich in meinem Sinne, sagt (S. 131): 
„Wo äquifinale Regulationen vorkommen, da differenzieren sich harmonisch-äqui- 
potentielle Systeme.“ Das Problem der Aquifinalität in meinem Sinne hat nämlich 
an und für sich mit dem der harmonischen Aquipotentialität nichts zu tun. 


Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 551 


Sollte Schaxel nicht, wenn er das Dasein harmonisch-äquı- 
potentieller Systeme bestreitet, den durch dieses Wort bezeich- 
neten Sachverhalt aber selbst als zu Recht bestehend nachgewiesen 
hat, sollte er nicht uneingestandene „Theorien“ von vornherein 
an die empirischen Ergebnisse heran- und in sie hineingetragen 
haben? 

Eine Äußerung auf S. 156 gibt uns, so scheint mir, den Schlüssel 
zu diesem seltsamen Verhältnis: „Es müssen (sic!) sich“, heißt es 
da, „also die isolierten Blastomeren unter sich gleich und wie 
das Ei verhalten, d. h. die von dem Ei ihren Ausgang nehmenden 
Bildungen einleiten.“ Und ganz ähnlich wird dann zwei Seiten 
weiter auch die harmonische Ganzentwicklung isolierter Blastomeren- 
gruppen der späteren Furchungsstadien für ganz ohne weiteres 
verständlich erklärt, und ebenfalls, auf S. 161, die Entwicklung 
von Blastulafragmenten zu verkleinertem Ganzen. 

Schaxel gibt hier also, um das noch einmal besonders 
hervorzuheben, alles Tatsächliche, so wie es von mir auf- 
gefunden wurde, zu. 

Aber er sieht nicht das ungeheuer Merkwürdige des Sach- 
verhaltes! 

„Die hier bei der Holoplastie wirksamen Faktoren sind ledig- 
lich die der typischen Entwicklung“, heißt es S. 164. Das freilich 
habe ich nun auch gesagt und in meinem Begriff der primären 
Regulation®’), d.h. der den in Frage kommenden Faktoren- 
komplex als solehen durchsetzenden Regulabilität, zum Ausdruck 
gebracht. Ich aber sage dann weiter: eben dieses seltsame Phä- 
nomen primärer Regulation kann nicht maschinell gedacht werden. 
Schaxel aber sagt, es handle sich nicht um „das Werk zielstrebiger 
Regulationen“ (S. 164); typische Ausgangspunkte, die zu Typischem 
führen, seien vielmehr trotz der Experimentaloperation typisch 
geblieben. — 

Hier eine zurechtweisende Zwischenbemerkung: Ich soll, nach 
Schaxel (S. 165) „endgültige Atypien“ gar nicht „erwähnt“ haben; 
ich hätte sie wohl, meint er, wo sie mir untergelaufen seien, für 
„misslungene Versuche“ angesehen. Diese Bemerkung nimmt sich 
seltsam aus angesichts der großen tabellarischen Übersichten, die 
ich bei so vielen Gelegenheiten über typische und atypische End- 
resultate in ihrem gegenseitigen Zahlenverhältnis veröffentlicht 
habe 1%), — 

Kehren wir zur Hauptlinie unserer Gedanken zurück, so dürfen 
wir also sagen, dass Schaxel im Tatsächlichen durchaus mit uns 





15) Arch. Entw.-Mech. 3, 1896, S. 377; Philos. d. Org. I, S. 111. 

16) Z. B. Entw.-Mech. 10, 1900, S. 370ff.; 17, 1903, S. 44. Ferner die ge- 
samten Arbeiten: Arch. Entw.-Mech. 4, 1896, S, 247; 21, 1906, S. 756; 26, 1908, 
S. 130. 


552 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme? 


übereinstimmt, dass er aber das eigentlich Wesentliche und unge- 
heuer Merkwürdige des von ihm als tatsächlich zugegebenen Sach- 
verhaltes deshalb nicht sieht, weil er ihm gar zu selbstverständlich 
scheint. Er selbst findet „harmonisch-äquipotentielle Systeme“, 
d.h. er findet denjenigen Sachverhalt, den ich mit diesem Worte 
terminologisch festgelegt habe. Aber er sagt: „Die Versuche über 
die Entwicklung isolierter Keimteile bei Echinodermen geben durch 
ihre Resultate keinen Anlass, die Furchung!”) als eine Differen- 
zierung harmonisch-äquipotentieller Systeme zu betrachten“ (S. 167). 

Wie ıst das möglich? Dadurch ist es möglich, dass Schaxel 
ihm selbst unbewusste theoretische Deutungen von vorn- 
herein in die Beurteilung der Sachverhalte hineinbringt. 
Das soll im Schlussabschnitt erörtert werden '°). 


4. Versuch an Qlavellina. 


Auch die Ergebnisse meiner Arbeiten am Kıemenkorb der 
Olavellina') gibt Schaxel in ıhren wesentlichen Ergebnissen zu, 
nur dass er freilich den für das theoretische Resultat bedeutungs- 
vollsten Versuch, die Aufzucht kleiner Ganzbildungen aus be- 
liebigen Bruchstücken des Kiemenkorbes, nicht ausführte. 

Eine wesentliche und gute Ergänzung zu meinen Befunden 
liefert er nach der histologischen Seite: Er zeigt mit hoher Wahr- 
scheinlichkeit, dass rückgebildete Zellen total zerstört werden und 
dass alle Wiederauffrischung von indifferenten Reservezellen aus- 
geht. Die Differenzierungsvorgänge sind also nicht in dem Sinne 
„reversibel“, wie J. Loeb?°) und ich uns das gedacht hatten. 

Aber — ist darum nun der seine wunderbaren Restitutionen 
leistende Kiemenkorb der Ulavellina kein harmonisch-äqui- 
potentielles System, oder vielmehr, ein System dreier solcher 
Systeme? Ich meine die Gesamtheit der Reservezellen stelle 
denn doch, in jedem der drei Keimblätter für sich, mit außerordent- 
licher Deutlichkeit jeweils ein solches System dar, und zwar nach 
Schaxel’s eigenen Befunden. Er beruhigt sich dabei (S. 279), 
dass die indifferenten Zellen „eine völlig typische Knospenanlage 
aus drei in sich indifferenten Zellschichten bilden, die ın durchaus 
typischer Entwicklung eine neue (lavellina bilden.“ 


17) Der Ausdruck ist hier ungenau; statt „die Furchung‘“ müsste es heißen: 
„die Entwicklung des abgefurchten Keimes“. 

18) Was Einheitsbildungen aus zwei Eiern anlangt, so ist der Sachverhalt 
durch meine Untersuchung von 1909 (Arch. Entw.-Mech. 30,1, 1910, S. 8), sowie 
durch die Arbeiten von Bierens de Haan (Arch. Entw.-Mech. 36 u. 37, 1913) 
und Goldfarb (Biol. Bull. 24, 1913) wohl endgültig geklärt. Auch hier gibt 
Schaxel den Sachverhalt zu (S. 184), hält ihn aber für selbstverständlich. 

19) Arch. Entw.-Mech. 14, 1902, S. 247. 

20) Amer. Journ. Physiol. 4, 1901, S. 458. 


Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 5553 


Ist denn das so selbstverständlich? Und sind da keine har- 
monisch-äquipotentiellen Systeme am Werk? 

Schaxel hat die Ergebnisse seiner Olavellina-Untersuchungen 
schon auf der Zoologenversammlung?!) in Freiburg ı. B. (1914) vor- 
getragen??). Sowohl Herbst wieSpemann haben sofort das Ver- 
fehlte seiner Schlussfolgerungen erkannt. Man vergleiche S. 145 
des Berichtes: 

„Herr Prof. Herbst bestreitet, dass die vom Vortragenden 
mitgeteilten Tatsachen die Existenz harmonisch-äquipotentieller 
Systeme bei Tunicaten und Echinodermen irgendwie in Frage stellen. 

Herr Prof. Spemann: Herr Schaxel verwechselt nach meiner 
Ansicht den Begriff resp. das Problem des harmonısch-äquipoten- 
tiellen Systems mit den Schlussfolgerungen, die Driesch daran 
knüpft. Man kann die letzteren ablehnen und doch in dem ersteren 
ein Grundproblem der Entwicklungsphysiologie erblicken.* 


5. Fragen der Deutung. 


Also: „Es gibt“, nach Schaxel, „keine ‚Harmonie des Ganzen‘, 
sondern nur ‚eine Resultante der Einzelereignisse‘ (S. 189) ın der 
Öntogenese.*“ „Die dem angeblichen Nachweis der Lebensautonomie 
zugrunde gelegten Erscheinungen kommen in der Natur überhaupt 
nicht vor“ (sic! S. 195). Am besten werden daher meine zur Be- 
wältigung eines Pseudoproblems eingeführten Terminiı „aus der 
Wissenschaft ausgemerzt“ (ebenda). Und nochmals (S. 200): „Frei- 
lich konnten wir zeigen, dass die von Driesch angenommene (!) 
Differenzierung harmonisch-äquipotentieller Systeme nıcht vorkommt.“ 

Wie ıst es verständlich, dass solche Sätze ım besten Glauben 
hingeschrieben wurden von einem Experimentator, dem selbst har- 
monisch-äquipotentieile Systeme auf Schritt und Tritt begegnet sind? 

Hier muss ein grundsätzliches Missverstehen obwalten. 

Und ich meine, so ist es auch: Schaxel verwechselt bloße 
klasseninduktive Begriffsbildung”) mit theoretischen Hypo- 


21) Verh. Deutsch. Zool. Ges. 24. Versammlung, 1914, S. 122. 

22) Er meint (S. 143 des Berichtes), ich werde jetzt wohl nicht mehr von 
einem, sondern von drei harmonischen Systemen bezüglich der Clavellina reden, 
wodurch mein „bevorzugtes Paradigma“ zwar „an Großartigkeit‘“ verliere. Hierzu 
vergleiche man, abgesehen von allen möglichen anderen Stellen, Arch. Entw.-Mech. 
14, 1902, S. 233f., wo es heißt, dass wir 'bei den Ascidienversuchen „wohl drei 
oder doch mindestens zwei“ harmonisch-äquipotentielle Systeme‘ je von gesonderter, 
beschränkter prospektiver Potenz‘‘ vor uns haben. In der Philos. d. Organ. I 
(S. 157) aber ist sogar das besondere neue Problem scharf hervorgehoben 
worden, welches sich aus dem Zusammenarbeiten mehrerer harmonischer Systeme 
bei Tubularia, Clavellina u. s. w. ergibt (Problem der Reziprozität der Har- 
monie). Etwas Neues sagt mir Schaxel also auch hier nicht. 

23) Vgl. meinen Aufsatz Zur Lehre von der Induktion in Sitz.-Ber. 
Heidelberg. Akad. Wiss, Phil.-Klasse 1915, 


554 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme? 


thesen; und er tut das, weil seine eigene Begriffsbildung, ihm un- 
bewusst, von vornherein durch ganz bestimmte theoretische Postu- 
late gelenkt wird. 

Wir sehen aber auf S. 77°*) des Buches von Schaxel den 
Urgrund alles künftigen Irrtums deutlich vor uns: „Das Ei von 
Asterias stellt die Determination des 2-Stadiums, das 2-Stadium die 
Determination des 4-Stadiums u. s. f., die zu der Teilung in radialer 
Sonderungsrichtung sich anschickenden Analzelle ?®) der klein- 
zelligen Blastula mit ihresgleichen zusammen die Determination 
der Gastrulation dar.* Schon Rhumbler, den Schaxel auch 
zitiert, hat bekanntlich einmal den gleichen Gedanken geäußert: 
„Man sollte von dem befruchteten Eı nicht sagen, dass es das 
spätere Individuum hervorbringe, sondern sollte die Befähigung des 
Eies nicht weiter abstecken als die persönliche Existenz der Eizelle 
dauert, also bis zur ersten Teilung des Eies**®).“ 

Wenn die Sätze von Schaxel und Rhumbler inhalt- 
lich richtig wären, wären alle ontogenetischen Theorien 
von Leibniz und Bonnet bis zu Weismann, Roux und mir 
selbst überflüssige, weil auf falscher Fragestellung 
ruhende Versuche. 

Jene Sätze sind aber nicht richtig: 

Wenn ich aus einer Flinte das eine Mal eine Holzkugel ab- 
schieße und das andere Mal eine explosive Patrone, so geschieht 
beide Male etwas vollkommen Verschiedenes als Endergebnis. Und 
nach dem Vorbereitetsein dieser Endergebnisse zu fragen, hat 
einen ganz klaren Sinn, obwohl die ersten Ergebnisse ım Verlauf 
des Geschehens beide Male dieselben, nämlich „Flug eines schweren 
Körpers“ sind. 

Ganz ebenso im Falle der Ontogenesis. Wer hier nach dem 
Vorbereitetsein der nicht durchaus unmittelbaren Ergebnisse nicht 
fragt, der übersieht eine naturlogisch bedingte Frage, welche er 
hätte stellen müssen. 

Wird aber die unbedingt notwendige Frage gestellt, so kann 
sie nur in Form der Doppelfrage „maschinelle oder vitalistische 
Vorbereitung?“ gestellt werden. Und sie muss, weil es nun ein- 
mal harmonisch-äquipotentielle Systeme als Sachbefund nach dem 
übereinstimmenden Urteil aller Forscher, die sich mit dem Gegen- 





34) Ähnlich $. 201, 207. 

25) So im Text; es soll wohl entweder ‚anschickende“ oder „Analzellen“ 
heißen. 

26) Arch. Protistenkunde 1, 1902, S. 250. Wie unzutreffend Rhumbler’s 
Auffassung ist. habe ich bereits gleich nach ihrer Veröffentlichung dargetan (Ergebn. 
d. Anat. u. Entw. 11, 1902, S. 828f.); und ich habe auch gesagt, dass Rhumbler 
durch die Bemerkung, vom Froschei würden nun freilich Frosch blastomeren 
hervorgebracht, im Grunde doch das Wesentliche an seinem Gedanken (wie wir 
meinen: mit Recht) selbst zurücknimmt. 


Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 555 


stand befasst haben, Schaxel wider seinen Willen ınbe- 
grifffen, gibt, im Sinne vitalistischer Vorbereitung ent- 
schieden werden. Jedenfalls hat noch niemand, auch Julius Schultz?”) 
nicht, die Denkbarkeit einer Maschine, welche harmonisch-äqui- 
potentielle Differenzierung leisten könnte, auch nur in den aller- 
unbestimmtesten Zügen zu zeigen vermocht. 

Schaxel hält hier alles, sozusagen, für selbstverständlich: 
„In der Selbstbestimmung eines jeden Aktes der sukzessiven Deter- 
mination der Furchung greift die Gesamtheit mitbestimmend ein. 
Diese beständige Wirkung aller Teile aufeinander lässt es ver- 
stehen (!), dass die Resultante der Teilgeschehen als „harmonisches“ 
Gesamtgeschehen erscheint, obwohl keine im Sinne des Ganzen die 
Teile ordnenden, oder einem vorbestimmten Endziele zustrebenden 
Kräfte am Werke sind“ (S. 107). 

Sagen kann man das; aber kann man es nachweisen? Kann 
man, insonderheit, irgendwie auf maschineller Basıs begreiflich 
machen, dass Zellensysteme auch in beliebigen, und zwar nach 
Größe und nach Herkunft aus dem Originalsystem beliebigen, 
Bruchstücken, das harmonische Ganze leisten? Es handelt sich ja 
doch eben um ein Zusammenarbeiten vieler Einzelner auf 
Grund von „Vermögen“, die für jedes Einzelne gleich sind. 

Und den Begriff des Vermögens brauchen wir hier eben aus 
ganz zwingenden naturlogischen Gründen, trotz Rhumbler und 
Schaxel. Seine, des Vermögenbegriffs, Zergliederung ist es, die 
hier dann weiter, und zwar, wie wir nach wie vor für erwiesen 
halten, zwingend zum Vitalısmus führt. 


Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 
10% 
Von Ernst Lehmann. 


In dieser Zeitschrift bringt Lotsy (1914, S. 614—618) einige 
Einwendungen gegen meine Darlegungen unter gleichem Titel (1914, 
S. 285—294) vor, auf welche ich hier nochmals eingehen muss, 
damit keine Unklarheiten bestehen bleiben. Die wesentlichen Ein- 
wände sind die folgenden: 

1. Ich hatte S. 286 gesagt: „Reine Linien können ja noch hoch- 
gradig heterozygotisch sein. S. 287. Die Reine Linie ist keine 
Einheit des Systems... jedenfalls sicher nicht in der Bedeutung, 
welche dem Begriffe heute ganz allgemein beigelegt wird. Aber 
auch in der Praxis sollten wir uns heute häufig noch viel klarer 
über die ‚Reinheit unserer reinen Linien‘ sein.“ 





27) Die Maschinentheorie des Lebens, Göttingen 1909. 


556 Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 


Dagegen sagt Lotsy: „Nun definiert aber Johannsen: ‚Eine 
‚reine Linie‘ ist der Inbegriff aller Individuen, welche von einem 
einzelnen absolut selbstbefruchtenden homozygotischen Indi- 
viduum abstammen.‘ Es ist also eine contradietio in terminis, 
wenn Lehmann S. 286 sagt: ‚reine Linien können hochgradig 
heterozygotisch sein.‘ Heterozygotisch kann aber keine reine Linie 
sein; sobald man in einer vermeintlichen reinen Linie Heterozygo- 
tismus nachweist, zeigt sich, dass man sich getäuscht hatte, als man 
die betreffende Kultur für eine reine Linie hielt.“ 

Dabei hat Lotsy recht. Ich habe, wie hie und da vorher 
auch Lotsy, und wie außer uns sehr viele andere Autoren nicht 
scharf genug zwischen der Theorie der reinen Linie und der prak- 
tischen Anwendung geschieden. Reine Linien, wie sie heute 
als solche angewendet werden, sind sicher in sehr vielen 
Fällen heterozygotisch. ReineLinien, wiesie von Johann- 
sen definiert werden, sind sicher nicht mehr hetero- 
zygotisch. 

2. Lotsy (S. 616): „Der Ausdruck isogene Einheit ist nicht un- 
zweideutig, denn auch zwei oder mehr heterozygote Individuen 
können aus denselben Genen bestehen und wären dann, trotzdem 
sie heterozygot sind, isogen.“ — Dagegen möchte ich bemerken, dass 
zwei oder ara heterozygote Individuen wohl en nam der 
isogen sein können, doch sind sie keine Einheit im Sinne der 
Genetik, da sie ja bei Selbstbefruchtung verschiedenes ergeben. 
Oder mit anderen Worten: Jede isogene Gesamtheit entspricht 
einem Biotypus; eine heterozyg Sneche Gesamtheit aber ist kein 
einheitlicher Biotypus im Sinne der Genetik, eine homozygotische 
Gesamtheit ist dies. Mir erschiene isogenhomozygotische Einheit 
ein Pleonasmus, doch hätte ich gegen die Anwendung dieses Aus- 
drucks, wenn er wirklich weiter zur Klärung beitrüge, nichts. 
Meiner Ansicht nach genügt unter obiger Oharakterisierung aber: 
Isogene Einheit. 

3. Ich hatte S.285 gesagt: „Nach Lotsy’s Auffassung sei jede 
reine Linie als Art zu betrachten,“ demgegenüber betont Lotsy 
jetzt auf S. 614, „soweit ich weiß, habe ich in meinen diesbezüglichen 
Publikationen nie von einer ‚reinen Linie‘ als Art ge- 
sprochen“. Es ist zwecklos hierüber zu diskutieren, da Lotsy in 
seiner jetzigen Entgegnung sagt: „Also ist zwar iede reine Linie 
eine Art, aber sınd keineswegs ale Arten reine Linien.“. Jetzt also 
ist kein Zweifel mehr, nach Lotsy ist jede reine Linie eine Art. 
Nun ist aber eins sicher ausgeschlossen: Nämlich dass wir Art das 
eine Mal für reine Linie und das andere Mal für isogene Einheit, 
also die Gesamtheit des Isogenhomozygotischen anwenden. Das 
will Lotsy indessen, wenn er einmal sagt: Jede reine Linie ist eine 
Art und dann: Der Ausdruck Art gilt, meiner Ansicht nach, für 


Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 97 
die Gesamtheit aller homozygotischen Individuen gleicher gene- 
tischer Konstitution. 

Reine Linie und isogene Einheit sind aber etwas so grund- 
verschiedenes, dass niemals auf Beides die gleiche Bezeichnung, sei 
es nun Art oder etwas anderes, angewandt werden könnte, Eine 
reine Linie im theoretischen Sinne geht beı ihrer Ent- 
stehung stets auf ein einzelnes Individuum homozygo- 
tischer Natur zurück. Eine isogene Einheit kann auf eın 
einzelnes homozygotisches Individuum zurückgehen, 
braucht es aber durchaus nicht. Ich habe S. 289/90 aus- 
einandergesetzt, dass die isogene Einheit sich von verschiedenen 
Arten herleiten kann. Ich muss zur weiteren Klärung jetzt noch 
auf einen anderen Weg zur Bildung isogener Einheiten, der nicht 
in einer reinen Linie statthat, eingehen. Bleiben wir bei unserem 
auf S. 290 dargelegten Beispiel einer auf dem Wege der Kreuzung 
zustande gekommenen Homozygote 


BB SS EEHH VV ff. 


Stellen wir uns nun vor, es wären bei einer Kreuzung 6 solche 
Homozygoten entstanden. Wir nennen sie: 
BC DER. 


Nehmen wir nun weiter die Voraussetzung hinzu, auf diese 
6 Homozygoten wirkten gleichmäßig innere oder äußere Bedingungen 
ein, die sie veranlassten, in gleicher Weise zu mutieren und ca. 10 
so mutierte Nachkommen hervorzubringen, so erhielten wir 


EEE LEG 


Yy Y Y Y Y Y 
A en Die Bin RT. 


Alle die 6-10 Neubildungen wären gleich, sie gehörten wieder 
derselben neuen isogenen Einheit an, aber durchaus nicht derselben 
reinen Linie. Denn A‘, B‘, C‘ ete. gehen wohl ihrerseits auf je 
1 homozygotisches Individuum zurück, alle zusammen aber auf 
6 einzelne homozygotische Individuen, die ihrerseits wieder durch 
Bastardierung zweier verschiedener heterozygotischer Individuen 
entstanden wären. A‘, B’etc. wären dann wohl die Ausgangspunkte 
von einzelnen reinen Linien, diese reinen Linien aber wären ihrerseits 
Teile einer isogenen Einheit, welch letztere niemals auf eine reine 
Linie zurückzuführen wäre. Wir können das ungefähr folgender- 
maßen graphisch darstellen (s. S. 558): 

Ganz dasselbe kommt übrigens auch durch Kombination zu- 
stande, wenn z. B. aus Oenothera Lamarckiana ın Amerika, England, 
Amsterdam und Schweden getrennt isogene homozygotische Kom- 
binanten hervorgehen, nehmen wir an, isogene rubrinervis-Homo- 


558 Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 


zygoten. Die Nachkommen jeder solchen Kombinante bilden nun 
die Amsterdamer, Schwedische, Englische etc. reine Linie von rubrz- 
nervis, denn sie gehen ja auf je ein homozygotisches rubrinervis- 
Individuum zurück; da die einzelnen reinen Linien untereinander 
aber isogen sind, so bilden sie eine isogene Einheit. 


A| Art 2 


P, |EermGS6ÖFT 
P, er 


Eine der (2%)” möglichen Kombi- 


Bananen der Er BBSSEEHAM 





6 homozygotische Enkel 
Individuen der F, (identisch mit 
Genenumbildung BlUELE LEE 
(Mutation) Linie) 
WS = ee, 
2 ' ' \ 7 i ı + zn } [4 Zi ınhel 
F,I1ıA,! ‚B - ıC7 i Dy! E73: 7: (nieht iden- 
! 1 N ı ı 1 YIN ! Nr ; tisch mit einer 
YES { } { \, ! rer reinen Linie) 
—_— = Se Sn = —_ 
Reine Linien @ 5 e d e ’& 


Wir würden, wie hieraus klar hervorgeht, den Teil — die reine 
Linie (a—f) — und das Ganze — die isogene Einheit (£) (oder 
A'+-B’-+Ü etc.) mit demselben Namen benennen; das aber ist 
ausgeschlossen, wie jede einfache Überlegung sagt. Wir können 
ee keinesfalls den Ausdruck Art auf reine Linie und 
ıisogene Einheit übertragen, wenn anders er eindeutig 
bleiben soll. 

4. Auf S.292 hatte ich gesagt: „Wir werden also unsere Auf- 
fassung von dem Artbegriff in der Weise modifizieren müssen, dass 
derselbe strukturell und nicht mehr genetisch zu begrenzen ist.“ 
Weiter hatte ich auf S. 291 hervorgehoben: „So lange wir aber für 
den Artbegriff das verwandtschaftliche oder genetische Moment 
fordern... ., ist es durchaus unmöglich, den Ausdruck Art auf die 
isogene Einheit zu übertragen. Brächten wir das genetische Moment 
in die Begrenzung dieser Arten hinein, so würde ein und dieselbe 
isogene Rinheit trotz genotypischer Übereinstimmung und Homo- 
zygotie oftmals auf mehrere Arten verteilt werden müssen. Das 
aber ıst unmöglich.“ 


Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 559 


Lotsy ist anderer Ansicht. Er sagt: „Sobald ich experimentell 
nachgewiesen habe, dass die Art A aus der Kreuzung der Arten 
B und © hervorgegangen ist, habe ich doch die Genese der Art A 
festgestellt. Wird nun später festgestellt, dass die Art A auch aus 
der Kreuzung der Arten D und E hervorgehen kann, so wird ge- 
zeigt, dass sie biphyletisch entstehen kann; das ıst aber doch auch 
noch ‚genetisch‘.“ Wie stimmt dies zu der auf S. 239 von mir 
zitierten Stelle aus Lotsy’s Briefe: „Dass die zu einer solchen Art 
zusammengefassten Sippen wirklich nahe verwandt sind, ist eine 
bloße Annahme, die bisweilen zutreffen wird, bisweilen auch gar 
nicht. Ich könnte eine solche Art zusammenstellen aus Individuen, 
welche zum Teil der Kreuzung Antirrhinum majus X glutinosum, 
zum Teil der Kreuzung 4A. majus X sempervirens entstammen. Wo 
bleibt denn die Berechtigung solcher Arten? Tut man denn nicht 
besser, statt des Ausdrucks Art, der doch Verwandtschaft angeben 
soll, lieber den neutralen Ausdruck Artgruppe zu verwenden, welcher 
nichts aussagt über die Verwandtschaft der zusammengefassten 
Sippen, sondern nur deren Ähnlichkeit betont?“ Hier also betont 
doch Lotsy ausdrücklich, dass biphyletische Entstehung nichts 
über Verwandtschaft aussagt. 

Der ganze Zwiespalt liegt in der doppelten Bedeutung des 
Wortes genetisch. Die Genese — die Entstehung der Sippe -— 
lernen wir auch bei biphyletischer Entstehung kennen, über den 
Grad der Verwandtschaft können wir gar nichts aussagen. Denn dass 
zwei isogene Individuen näher verwandt sind, wenn sie von einem 
homozyg een als wenn sie von mehrer en heterozygotischen 
Individuen er, das wird niemand bezweifeln können. Da- 
nach aber schließen sich strukturelle und verwandt- 
schaftliche Fassung des Artbegriffs aus. 

Sollen wir nun trotzdem, wie Lotsy will, den Artbegriff 
auch ın exakten Vererbungs- und Entwicklungsfragen beibehalten ? 
Wenn wir diese Frage erörtern wollen, müssen wir uns erst klar 
werden: Sollen wir Art für reine Linie oder isogene Einheit akzep- 
tieren? Die Antwort würde wieder darauf zurückkommen: Wollen 
wir das strukturelle oder das verwandtschaftliche Element in den 
Vordergrund stellen. Im letzten Falle hätten wir uns für Art = reine 
Linie zu entscheiden. Dann gäbe es jedoch viele verschiedene, 
aber isogen-homozygotische, also genotypisch gleiche Arten. Es 
gäbe zudem nur Arten bei Selbstbefruchtern. Im ersten und wohl 
einzig möglichen Falle würden wir sagen: Art — isogene Einheit. 
Ich möchte aber vor einer solchen Übertragung schlechthin durch- 
aus warnen. Wir haben jetzt völlig klar herausgearbeitete Begriffe, 
1. die reine Linie, 2. die isogene Einheit. Ist es wünschenswert, 
dieselben durch die Übertragung des alten, in ganz anderem Sinne 
geläufigen Ausdruckes Art wieder zu verwässern? Und dass hei 


560 Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 


einer solchen Übertragung Missverständnisse vorkommen können, 
das wurde ja hier wohl genugsam dargelegt. Wenn Lotsy aber 
„den Ausdruck Art in seinem Sinne lieber beibehalten möchte, 
weil, wenn man für das ‚Isogenhomozygotische‘ eine neue Be- 
zeichnung einführt, man den Eindruck erweckt, als hätten Linn &’sche 
Arten irgendein Recht auf die Bezeichnung ‚Art‘,* so möchte ich 
hervorheben, dass es noch einen dritten Weg gibt, den Lotsy 
schon zur Hälfte beschritten hat. Man nenne die Linne@’schen 
Arten auch nicht mehr Arten, sondern, wie Lotsy es schon in 
Kreuzung oder Mutation ete. (Zeitschr. f. ind. ete. 14, 1915, S. 204) 
getan hat: Linneon. Dann sind wir in jeder Hinsicht klar. 

Ehe wir aber den Ausdruck Art, der uns gerade im Sinne 
von Lotsys Linneon durchaus geläufig geworden ist, derart zum 
alten Eisen werfen, würde meiner Ansicht nach eine durchaus 
lohnende Aufgabe sein, die hier auszuführen für mich nicht in 
Frage kommen kann: Klarheit zu schaffen in sprachlicher und philo- 
sophisch-deduktiver Hinsicht über das „Wort“ Art. Es wird sich 
dabei aber wohl zeigen, dass dieses viel gebrauchte Wort kaum 
jemals so scharf zu fassen ıst, dass wir es zu unseren exakten Be- 
zeichnungen brauchen können. Man werfe einen Blick in Grimm’s 
Wörterbuch und man wird sich von der Mannigfaltigkeit der Be- 
deutungen des Wortes Art überzeugen. Unsere Begriffe ın der 
Vererbungslehre aber müssen klar und eindeutig sein. Die Worte 
stehen ım Dienste der Begriffe und sınd nicht ıhrer selbst wegen 
da — sprachlich ist alles Konvention —, bedienen wir uns also 
der Ausdrücke, die unseren heutigen auf der Genenlehre beruhen- 
den Kenntniszustand am sichersten und eindeutigsten zur Geltung 
bringen und überlassen wır alle Worte ihrem alten Sinn. Ich 
glaube mich hierin durchaus einig mit Johannsen, wenn derselbe 
in dem Schlusswort zu seinen Elementen sagt: „Atavismus, Degene- 
ration, Erbkraft.... Spezies... und andere Ausdrücke der Erb- 
lichkeitslehre Darwin’scher Zeit sind jetzt in analytische Zersetzung 
getreten; ... sie stehen in ähnlichem Verhältnis zu den sich jetzt 
in der Erblichkeitslehre entwickelnden neuen einfacheren und prä- 
ziseren, dafür aber auch engeren Konzeptionen — Abspaltungen.... 
Genotypus, Reine Linien, Klonen, Biotypen u.s. w. — wie etwa 
die populären stofflichen Begriffe des täglichen Lebens ‚Wurst‘, 
‚Salat‘, ‚Tinte‘ u. dgl.“ Ich bin der Anschauung, dass sich Art = 
Spezies den älteren, ıisogene Einheit aber den heutigen Begriffen 
anschließt. 


Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. 561 


Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. 
(219. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekopbilen.) 
Von E. Wasmann 8. J. (Valkenburg, Holland). 

In zwei Arbeiten!) habe ich vor einiger Zeit zu zeigen ver- 
sucht, dass manche der aus verschiedenen Rassen derselben Art 
gemischten Kolonien besonders innerhalb der Formica rufa-Gruppe, 
wahrscheinlich auf Mendel’scher Kreuzung beruhen und als Bastard- 
kolonien zu deuten sind. Zugleich machte ich auf ähnliche Fälle 
gemischter Kolonien aufmerksam, die in der Ameisenliteratur ver- 
zeichnet sind und vielleicht eine analoge Erklärung zulassen. Der 
Hauptzweck jener Arbeiten war, das Interesse der Forscher auf 
das bisher fast gar nicht beachtete und schwer zugängliche Gebiet 
des Mendelismus bei den Ameisen zu lenken. 

Anknüpfend an meine Beobachtungen über zwei aus rufa und 
truncicola gemischte Bastardkolonien, in denen eine Verschiebung 
der Arbeiterfärbung vom franeicola-Typus zum rufa-Typus hin sich 
zeigte (Nr. 208, S. 118 und 209, S. 95), sei auf eine merkwürdige 
Analogie mit gewissen Kreuzungsergebnissen bei der Honigbiene 
hingewiesen. Wenn eine italienische Königin von einer deutschen 
Drohne befruchtet wird, erscheinen im ersten Jahre unter den 92 
zahlreiche Mischlinge beider Färbungen, im zweiten fast nur italie- 
nische, im dritten ausschließlich italienische 9%, so dass hier eine 
Verschiebung der Erbqualitäten in mütterlicher Richtung stattzu- 
finden scheint). Allerdings obwaltet hier insofern ein wichtiger Unter- 
schied, als bei der Honigbiene die aufeinanderfolgenden Arbeiter- 
bruten von einer einzigen, einmal befruchteten Königin stammen, 
während es bei den Ameisen um verschiedene Arbeitergenerationen 
(F,, F, etc.) sich handeln kann, da Inzucht im Neste nicht ausge- 
schlossen ist. 

Ich gehe nun zu einigen brieflichen Mitteilungen von Fach- 
kollegen über. Christian Ernst schrieb mir, er halte die Kreu- 
zungshypothese für den richtigen Weg, um in das OUhaos der Varie- 
täten (rufo-pratensis etc.) innerhalb der rufa-Gruppe Licht zu bringen. 
Er fand ferner einmal in der Umgebung von Metz eine scheinbar 
reine trunciecola-Kolonie, die im nächsten Jahre eine ganz ver- 
änderte Mischung zeigte, analog zu meinen Beobachtungen von 1889 
und 1906. Nähere Mitteilungen behielt er sich für später vor. 


1) Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung (Nr. 208) (Biolog. 
Centralblatt XXX V, 1915, Nr. 3, S. 113—127); Luxemburger Ameisenkolonien mit 
Mendel’scher Mischung (Nr. 209) (Festschr. d. Vereins Luxemburger Naturfreunde 
1915, 8. 87—101). 

2) Vgl. H. v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen, 1915, S. 42, 
sowie mein Referat über dasselbe in „Die Naturwissenschaften“ 1915, Nr. 38, 
S.486. Zur Erklärung dieser Erscheinung siehe auch Th. Boveri, Über die Ent- 
stehung der Eugster’schen Zwitterbienen (Arch. f. Entwicklungsmechanik XLI, 
1915, 2 Heft), S. 279, Anm. 1. 

XXXV. 36 


562 Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. 


C©. Emery teilte mir mit, dass die Annahme Mendel’scher 
Mischungen für Formica-Arten wohl zutreffen möge, nicht aber für 
Messor. Denn in Italien fliegt nach seinen Beobachtungen Messor 
structor nie, die geflügelten Geschlechter erscheinen im Frühling 
und kopulieren im Neste. Dagegen erscheinen bei Messor barbarus 
var. nigra die Geflügelten erst im Spätsommer und fliegen zur 
Paarung aus. Somit scheine keine Kreuzungsmöglichkeit zwischen 
beiden Rassen vorhanden zu sein. Ich hatte übrigens selber (Nr. 208 
S. 121) Zweifel darüber geäußert, ob die betreffenden Variationen 
bei Messor auf Hybridismus beruhen. 

Auf einen wichtigen Punkt, den ich in meinen beiden Arbeiten 
nicht berührt habe, machte mich Hans Nachtsheim (Freiburg ı. B.) 
aufmerksam, nämlich auf die Berücksichtigung der Dzierzon’schen 
Theorie. Wenn bei den Ameisen ebenso wie bei den Bienen die 
Männchen aus unbefruchteten Eiern sich entwickeln, so müssen 
die Ameisen in etwas anderer Weise mendeln als in nor- 
malen Fällen. Er erläutert dies sodann an dem Beispiele der in 
meiner Arbeit Nr. 208 unter 1 (S. 114ff.) beschriebenen truncicola- 
pratensis-Kolonie von 1910. Ich glaube, seine klaren Ausführungen 
hierüber wörtlich zitieren zu sollen: 

„Nach Ihrer Ansicht handelt es sich hier um die Nachkommen 
aus einer Kreuzung zwischen einem truncicola-g‘ und einem pra- 
tensis-9. Es ist dann, wenn die pratensis-Färbung vollkommen 
dominant ist über die Zruncicola-Färbung, ın der F,-Generation 
das vollkommene Verschwinden der truncicola-Charaktere zu er- 
warten. Aber die phänotypisch untereinander gleichen Weibchen 
und Männchen der F'!-Generation müssen genotypisch sehr ver- 
schieden sein. Die Männchen sınd ja aus unbefruchteten Eiern 
entstanden, besitzen also keinen Vater und können infolgedessen 
nicht wie die Weibchen latente truncicola-Charaktere besitzen, sie 
sind reine pratensis-Sd. Wenn, wie Sie weiter annehmen, ein 
Männchen der F,-Generation sich mit einem Weibchen der näm- 
lichen Generation gepaart hat, so muss in der F,-Generation die 
eingeschlechtliche Entstehung der Männchen zum Ausdruck kommen. 
Das folgende Schema möge die Vererbung in der Tochter- und 
Enkelgeneration illustrieren. pr. habe ich unterstrichen, weil die 
pratensis-Charaktere dominant sind: 


P-Generation: pr. 9 X tr.d 


F,-Generation: 99: pr.tr. 


SI: Pr. 
F,-Generation: 09:1, pr.pr. ’/, pr.tr. gg Apr. olız 


u 





Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus der Ameisen. 563 


In der F,-Generation haben wir also, was die Weibehen anbe- 
trifft, ein genotypisches Verhältnis von 1:1, d. h. dasselbe Ver- 
hältnis, das wir, wenn zweigeschlechtliche Fortpflanzung in beiden 
Geschlechtern erfolgt, bei Rückkreuzung der F,-Generation mit 
einem der Eltern zu erwarten haben. Die Männchen der F,-Gene- 
ration sind in unserem Falle zur Hälfte reine pr.-fd'‘, zur anderen 
Hälfte reine tr.-5g‘, vorausgesetzt natürlich, dass es sich um Mono- 
hybridismus handelt. Wenn mehrere selbständig mendelnde Merk- 
malpaare vorhanden sind, werden die Männchen nicht in allen 
Generationen so schön ‚rein‘ bleiben wie bei Monohybriden.“ 

Ich stimme diesen Ausführungen Nachtsheim’s zu. Es ıst 
ın der Tat unerlässlich, bei Anwendung der Mendel’schen Gesetze 
auf die Ameisen die wenigstens sehr wahrscheinliche Annahme in 
Rechnung zu ziehen, dass die Männchen regelmäßig aus unbe- 
fruchteten Eiern hervorgehen. Dann gestaltet sich die Analyse 
der erwähnten truncicola-pratensis-Kolonie für die F,- und die F,- 
Generation so, wie es Nachtsheim hier auseinandergesetzt hat, 
falls als Elterngeneration pr.-Q X tr.-d angenommen wird, und diese 
Erklärung stimmt auch mit den tatsächlichen Befunden in jener 
Kolonie überein. Allerdings ıst hier noch zwischen den eigentlichen 
Weibchen und den Arbeiterinnen zu unterscheiden. Erstere folgten 
in der F,-Generation nur in der Färbung den pratensis-99, in der 
Skulptur besaßen sie einen deutlichen, wahrscheinlich atavistischen 
Einschlag von rufa (Nr. 208, S. 115). Bei den Arbeiterinnen da- 
gegen ließ sich ein derartiger Einschlag nıcht so deutlich erkennen, 
da dieselben wahrscheinlich zwei Generationen (F, und F,) ange- 
hörten und bei den F,-3% der r«fa-Einschlag nur in der Behaarung 
sich zeigen konnte. Da jedoch ein Teil der pratensis-farbigen $3 
spärlicher behaart war, wie sich bei der Nachuntersuchung heraus- 
stellte (Nr. 209, S. 97—99 [11—13 Separ.]), könnten diese %% der 
F,-Generation zugerechnet werden. In bezug auf die Prozentver- 
hältnisse der Färbung der Arbeiterinnen in der Kolonie stimmt 
das Nachtsheim’sche Schema gut zu dem Befunde, dass auf 499 
von pratensis-Färbung nur 1 von truncicola kam, indem sämtliche 
%2 der F,-Generation nur die pratensis-Färbung zeigen konnten, 
während in der F,-Generation die pratensis- und die trunecicola- 
Färbung zu gleichen Teilen vertreten sein mussten. Männchen 
wurden in jener Kolonie — und ebenso auch in den beiden später 
erwähnten Zruneicola-rufa-Kolonien — überhaupt nicht gefunden. Hier- 
aus erklärt sich, weshalb ich an die Frage, ob die Jg aus unbe- 
fruchteten Eiern stammten, bei meiner Analyse nicht dachte. Es 
sei ferner bemerkt, dass die Männchen der drei Rassen rufa L., 
pratensis Retzius und truncicola Nyl. viel schwerer zu unter- 
scheiden sind als die Weibehen und die Arbeiterinnen; namentlich 
die gg von rufa und pratensis sind sich äußerst ähnlich, jene von 


36* 


564 Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus der Ameisen. 


truneicola unterscheiden sich durch glänzendes Stirnfeld und stärkere 
Behaarung nur bei Untersuchung mit der Lupe. 

Schließlich sei nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass, 
wie ich in der Nachschrift zu Nr. 208 (S. 127) und in Nr. 209 her- 
vorhob, ın der obenerwähnten truncicola-pratensis-Kolonie wahr- 
scheinlich nicht einfacher Monohybridismus vorlag, sondern ein 
kompliziertes Verhältnis von mehreren, selbständig mendelnden 
Merkmalspaaren. 

Die Frage, ob bei den Ameisen die Männchen regelmäßig 
aus unbefruchteten Eiern hervorgehen, lässt sich übrigens nicht so 
entscheidend beantworten wie bei den Bienen. Bei letzteren gibt 
die Ablage der betreffenden Eier ın Drohnenzellen einen Anhalts- 
punkt dafür, dass sie Sg liefern sollten; auf dieser Grundlage 
konnte dann ebenso wie bei den parthenogenetisch erzeugten Eiern 
die zytologische Untersuchung durch eine Reihe von Forschern ein- 
setzen®). Bei den Ameisen fehlen uns derartige Anhaltspunkte, 
um in normalen Kolonien a priori die Eier, welche dd liefern, 
von jenen, die 98 oder 99 liefern, zu unterscheiden. Bei unseren 
Formieca-Arten sind übrigens nach meinen Beobachtungen*), die 
durch Arbeiterinnen parthenogenetisch erzeugten Eier, aus denen 
nur dd sich entwickeln, durch bedeutendere Größe und mehr 
zylindrische Gestalt von jenen Eiern verschieden, aus denen 9% er- 
zogen werden. Zytologische Untersuchungen über parthenogene- 
tische Eier von F. sangwinea liegen bereits vor von W. Schleip?), 
der in ihnen die haploide Chromosomenzahl fand (24 statt 48). 

Durch zahlreiche Beobachtungen in Versuchsnestern ist von mir 
und anderen Ameisenforschern bereits längst nachgewiesen, dass ıns- 
besondere bei Formica-Arten die Parthenogenesis eine sehr häufige 
Erscheinung ist und stets nur Männchen liefert (nicht wie bei 
Lasius gelegentlich auch Arbeiterinnen). Dass auch in freier Natur 
in solchen Formica-Kolonien, welche ihre Königin verloren haben, 
noch mehrere Jahre lang durch die Arbeiterinnen auf partheno- 
genetischem Wege massenhaft Männchen erzeugt werden, habe ich 
an einer pratensis-Kolonie bei Luxemburg 1903—1905 beobachtet). 
Wir dürfen daraus wohl mit großer Wahrscheinlichkeit schließen, 
dass auch in den normalen Kolonien, welche eine oder mehrere 
Königinnen besitzen, die Männchen regelmäßig aus unbefruchteten 
Biern hervorgehen, obwohl der direkte Beweis hierfür noch aussteht. 


3) Die Literatur siehe bei Nachtsheim, Cytolog. Studien über die Geschlechts- 
bestimmung bei der Honigbiene (Arch. f. Zellforsch. XI, 2. Heft, 1913, S. 169— 241). 
4) Neue Beiträge zur Biologie von Lomechusa und Atemeles (Nr. 205) (Zeitschr. 
f. wissensch. Zool. OXIV, 2. Heft, 1915, S. 233—402), II. Teil, B, 3. Kap. 
5) Die ee im Ei von Formica sanguinea (Zool. Jahrb. 
Anat. XXVI, 1908, S. 651 - 682 
6) Zur ee von Fchleles pratensoides (Nr. 149) (Zeitsch. f. wissensch. 
Insektenbiol. 1906, Heft 1--2), namentlich S. 10—11; Neue Beiträge (Nr. 205), 
S. 333—334. 


Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung etc. 565 


Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur 
Vererbung und Bestimmung des Geschlechts. 
Von Richard Goldschmidt. 


In zwei früheren Arbeiten!) hatte ich den merkwürdigen 
Gynandromorphismus beschrieben, der bei Kreuzung des europäischen 
und japanischen Schwammspinners (Lymantria dispar) auftritt und 
versucht, die Erscheinung im einzelnen zu analysieren und daraus 
Schlüsse auf das Geschlechtsproblem zu ziehen. Trotzdem die Haupt- 
punkte klar erschienen, waren noch manche Schwierigkeiten vor- 
handen, vor allem die, dass die gleiche Rassenkreuzung nicht immer 
dasselbe Resultat ergab, wenn Material verschiedenen Ursprungs 
verwendet wurde. Es konnte als feststehend betrachtet werden, 
dass das Hauptresultat, das Auftreten von Gynandromorphismus 
bei bestimmten Kreuzungen von Rassen, die in Reinzucht normale 
Sexualverhältnisse aufweisen, seine richtige Erklärung fand durch 
die Annahme einer quantitativ verschiedenartigen Beschaffenheit 
oder Potenz der männlichen Geschlechtsfaktoren. Verschiedene Dinge 
drängten nun die Vermutung auf, dass diese Potenz im Zusammen- 
hang mit der geographischen Verbreitung variiere und so war es 
eine meiner Aufgaben gelegentlich eines Studienaufenthalts in Japan, 
die dortigen Lokalformen?) ın den verschiedenartigsten Kreuzungen 
untereinander und mit verschiedenartigen europäischen Rassen zu 
analysieren. Diese Versuche sind zwar noch nicht abgeschlossen ; 
ihre Resultate sınd aber jetzt schon so interessant und rücken die 
definitive Lösung des ganzen Problems in so greifbare Nähe, dass 
sich eine kurze vorläufige Mitteilung über einen Teil des bisher 
Erreichten wohl lohnt. 

Zunächst ein Wort über die Terminologie. Ich bezeichnete 
bisher die sexuellen Abnormitäten, die bei Kreuzung jener Rassen 
erzielt wurden, als Gynandromorphe. Es erweist sich aber jetzt als 
nötig, diese Bezeichnung aufzugeben, da sie ziemlich allgemein in 
einem ganz anderen Sinn gebraucht wird, nämlich dem von Indı- 
viduen, die ein körperliches Mosaik aus den beiden Geschlechtern 
darstellen. ‘In einem solchen Gynandromorphen ist — siehe etwa 
Boveris’ kürzliche Analyse der Eugster’schen Zwitterbienen®?) — 
ein gegebener Körperteil oder Zellgruppe entweder männlich oder 


1) Goldschmidt, R. Erblichkeitsstudien an Schmetterlingen I. Ztschr. indukt. 
Abstammungsl. VII. 1912. — Goldschmidt und Poppelbaum, H. desg]. II. 
Ibid. 11, 1914. 

2) Die Existenz solcher Lokalformen konnte ich feststellen. Das Problem der 
geographischen Rassen dieses Falters bildet seit Jahren den (Gegenstand meiner 
Hauptstudien. Die Resultate sind aber noch nicht reif zur Veröffentlichung. 

3) Boveri, Th. Über die Entstehung der Eugster’schen Zwitterbienen, Roux’ 
Archiv 41, 1915. 


566 Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung ete. 


weiblich. Das ist aber bei meinen Schmetterlingen nicht der Fall; 
sie stellen vielmehr eine quantitativ bestimmte Zwischenstufe 
zwischen den beiden Geschlechtern dar. Wenn wir etwa ein Weib- 
chen als 0 und ein Männchen als 100 bezeichnen würden, so stellt 
ein bestimmtes meiner gezüchteten Tiere die Stufe 3 oder 21 oder 
75 ete. dar; also nicht ein Gemisch beider Geschlechter, sondern 
einen bestimmten Punkt zwischen den beiden Extremen weiblich — 
männlich. Ich glaubte früher, in einigen Charakteren ein Mosaik 
sehen zu sollen, so in den Flügeln, die auf bestimmten Stufen 
scharf umgrenzte Teile weiblicher oder männlicher Färbung er- 
kennen lassen. Ich weiß jetzt, dass dies nur eine Konsequenz aus 
der Physiologie der Flügelfärbung ist. (Eine Tatsache, die in der 
ausführlichen Arbeit der Ausgangspunkt wichtiger theoretischer Er- 
örterungen sein wird.) So erscheint es mir notwendig, für die hier 
behandelte Erscheinung eine andere Bezeichnung einzuführen. Ich 
werde in Zukunft die sexuellen Zwischenstufen als Intersexe be- 
zeichnen und von männlichen oder weiblichen Intersexen reden, je 
nachdem es sich um Männchen auf dem Weg zur Weiblichkeit oder 
Weibchen auf dem Weg zur Männlichkeit handelt*); die Erscheinung 
selbst hieße dann Intersexualität. 

Bevor ich über die neuen Versuche berichte, dürfte es gut sein, 
die verschiedenen mir bekannten Stufen der Intersexualität zu 
charakterisieren. Ich kenne nunmehr sämtliche Schritte, die von 
einem reinen Weibchen über die verschiedenartigen weiblichen Inter- 
sexe zu einem reinen Männchen führen; ferner die Stufen, die von 
einem Männchen über die männlichen Intersexe zum Weibchen 
führen, bis zu etwa ®/, des Wegs. Von beiden kann ich jetzt eine 
jede Stufe durch geeignete Bastardierung beliebig erzeugen. Weib- 
liche Intersexualität beginnt mit einer ersten Stufe von Tieren mit 
mittelstarkgefiederten Antennen (das Männchen hat bekanntlich ge- 
fiederte Antennen), sonst ganz weiblichem Aussehen, vermindertem 
Eierschatz, aber voller Befruchtungsfähigkeit. In der nächsten Stufe 
erscheinen Flecke der braunen männlichen Färbung in steigender 
Ausdehnung auf den weißen weiblichen Flügeln. Die Instinkte sind 
noch rein weiblich, die Männchen werden angelockt und kopulieren. 
Die Gelege enthalten aber nur Afterwolle, keine Eier, obwohl der 
Leib damit angefüllt ist. Auf der nächsten Stufe sind ganze Ab- 
schnitte der Flügel männlich gefärbt mit weiblichen Keilen da- 
zwischen, der Hinterleib wird schlanker, der Eierschatz geringer, 
die Instinkte sind nur noch schwach weiblich und die Männchen 
werden nur wenig angezogen. Kiablage findet nicht mehr statt. 


4) Die Verschiedenheit dieser beiden Typen erfordert natürlich eine Erklärung, 
auf die hier nicht weiter eingegangen sei. Der Tatsache kommt eine spezielle ent- 
wicklungsphysiologische Bedeutung zu. 


Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung etc. 567 


Dann breitet sich auf der nächsten Stufe das männliche Pigment 
über den ganzen Flügel, der Hinterleib wird fast männlich, enthält 
aber noch ein paar reife Eier, die Instinkte sind genau intermediär 
zwischen weiblichen und männlichen. Dann folgen schon sehr 
männchenähnliche Tiere, die aber noch an Instinkten und Abdomen 
die Weiblichkeit erkennen lassen und ihnen reihen sich die fast 
wie Männchen aussehenden „Weibcehenmännchen“ an, bei denen 
dann, wie ich früher beschrieb, alle Übergänge vom Ovar zum Hoden 
gefunden werden. Den Schluss bilden Männchen, die noch in 
kleinen Charakteren (Flügelschnitt) ihre weibliche Herkunft er- 
kennen lassen. 

Die Reihe der männlichen Intersexe beginnt mit Männchen, die 
ein paar weibliche Mosaikflecken auf den Flügeln zeigen. Diese 
vergrößern sich, werden zu großen Keilen und verdrängen allmählich 
die männliche Färbung bis auf ein wenig Pigment auf den Adern. 
Entsprechend ändert sich natürlich das Abdomen, das in meinem 
extremsten Fall etwa ?/, des weiblichen Umfangs erreicht (NB. ohne 
Eier zu enthalten!), ferner die Instinkte, die entsprechend weiblich 
werden, der Kopulationsapparat (der auch bei den weiblichen Inter- 
sexen jede Stufe von rein weiblich zu rein männlich aufweist) und 
die Geschlechtsdrüse, die, wie beim normalen Weibchen, paarig wird 
und vereinzelte Ureier enthält. 

Noch ein weiterer Punkt muss hier erwähnt werden, da die 
Unkenntnis darüber wahrscheinlich einige Irrtümer in meiner früheren 
Arbeit bedingte. Es ist mir jetzt bekannt — die Einzelheiten be- 
dürfen noch der weiteren Ausarbeitung — dass es japanische Rassen 
gibt, die auch im weiblichen Geschlecht einen Pigmentfaktor für 
Flügelfärbung besitzen, dessen Wirkung durch Kreuzung erhöht 
wird. So können Weibchen mit dunkeln Flügeln entstehen, die 
Intersexe vortäuschen, ohne es zu sein, ein Fehler, den ich wahr- 
scheinlich früher mehrfach beging. Kombiniert sich diese Erscheinung 
nun mit schwacher Intersexualität, so werden hochgradige Inter- 
sexe vorgetäuscht, die trotzdem fruchtbar sind. Die weitere Auf- 
klärung dieser Punkte, zu der wahrscheinlich eine Mutation wesent- 
lich beitragen wird, die in den Zuchten meines Assistenten Dr. Seiler 
erschien, wird in mehrfacher Hinsicht wichtig sein. 

Und nun zu den Zuchtresultaten, zunächst, soweit sie sich auf 
die weibliche Intersexualität beziehen. Es zeigte sich also, dass 
sowohl bei den europäischen wie bei den japanischen Formen Rassen 
existieren, denen eine ganz bestimnte, aber verschiedene Potenz der 
Geschlechtsfaktoren zukommt. Werden Formen gleicher oder ähn- 
licher Potenz bastardiert, so gibt es normale Nachkommenschaft. 
Werden Formen mit verschiedener Potenz der männlichen Faktoren 
gekreuzt, so entstehen, falls die Mutter der Rasse mit niederer 
Potenz angehört, weibliche Intersexe, deren Stufe von der be- 


968 Goldschmidt. Vorläufige Mitteilung ete. 


treffenden Potenzdifferenz abhängt. Die mir bekannten europäischen 
Rassen haben nun alle niedere Potenz dieser Faktoren; bei den 
japanischen Rassen gibt es aber die verschiedensten Stufen von 
niederer bis zu sehr hoher Potenz. Wenn ich also irgendein euro- 
päisches Weibchen mit einem japanischen Männchen niederpoten- 
zierter Rassen (das sind die Rassen K, Fu, M, H meiner Zuchten) 
kreuze, so entstehen nur normale Weibchen. Das gleiche trifft 
natürlich für die Kreuzung dieser Europäer oder Japaner inter se 
zu. Dagegen müssen nun alle Europäerweibchen und ebenso die 
der niederpotenzierten Japanerrassen gekreuzt mit Männchen der 
hochpotenzierten Japaner (nämlich G, O, H) weibliche Intersexe 
liefern, deren Stufe der Intersexualität von beiden zur Kreuzung 
benutzten Rassen abhängt. Im einzelnen sind die Resultate folgende: 

1. Alle denkbaren Kreuzungen zwischen den „schwachen“ Euro- 
päern S und F und den schwachen Japanern K, Fu, M, H sowie 
innerhalb dieser Gruppen liefern ın F, ausschließlich normale 
Weibchen. 

2. Werden Männchen der mittelstarken Japanerrasse G zur 
Kreuzung verwandt, so liefern sie mit Weibchen der sehr schwachen 
Europäerrasse F hochgradige Intersexe, fast an die „Männchen- 
weibchen“ heranreichend. Dieselben Männchen aber ergeben mit 
der etwas weniger schwachen Europäerform S mittelgradige weib- 
liche Intersexe; sodann gekreuzt mit der wieder etwas weniger 
schwachen Japanerrasse H schwache Intersexualität und endlich mit 
der noch etwas weniger schwachen Japanerform Ku nur die erste 
Stufe weiblicher Intersexe. Es braucht wohl nicht hinzugefügt zu 
werden, dass die Intersexualität sämtliche Weibchen betrifft. 

3. Eine etwas stärkere Japanerrasse als G würde bei den gleichen 
Kreuzungen mit den schwächsten Europäern nur „Männchenweibchen*, 
also höchste Intersexualität ergeben. Diese Kreuzung wurde schon 
früher veröffentlicht. 

4. Wenn zu den Kreuzungen die Männchen der höchstpoten- 
zıerten Japanerrassen A und O (zwischen denen auch ein kleirer, 
hier vernachlässigter Unterschied besteht) verwandt werden, so sind 
in F, sämtliche Weibchen vollständig ın Männchen verwandelt, wenn 
die Mutter einer der schwachen Europäerrassen F und S oder der 
schwächsten Japanerrasse H angehörte. (Über vereinzelte schein- 
bare Ausnahmen siehe unter 6c.) 

5. Dies ıst ein experimentum crucis für die Richtigkeit der ge- 
samten theoretischen Erklärung: Die Japanerrasse K erwies sich 
als von niederer Potenz der männlichen Faktoren, da sie mit Euro- 
päern keine Intersexe erzeugt. Sie erwies sich ferner als doch 
wesentlich höher potenziert als jene Europäer, da sie mit der mittel- 
starken Japanerrasse G gerade etwas Intersexualität ergab, während 
jene Europäer bis zu hochgradigen Intersexen bei Kreuzung mit den 


Goldsehmidt, Vorläufige Mitteilung ete. 569 


Männchen von G erzeugten. Nun liefern die gleichen Europäer mit 
den hochpotenzierten Japanern A und O nur Männchen. Dies er- 
gibt eine Gleichung, aus der folgt, dass diese Japaner K mit den 
japanischen Männchen A und OÖ mittelstarke bis starke Intersexe 
liefern müssen. Und das war ausnahmslos der Fall. 


6. Diesen Ergebnissen sind noch ein paar Einzelheiten zu- 


zufügen: 
a) Die Resultate sind durchaus typisch und kennen bisher keine 


Ausnahme. Sie sind ferner sichtlich unabhängig von äußeren 
Bedingungen, da sie in identischer Weise in meinen in Boston 
durchgeführten Zuchten wie in den von Dr. Seiler ın Berlin 
geführten Duplikatkulturen auftraten. 


b) Das Maß der Intersexualität in einer Zucht ist einer typischen 


Variation um ein Mittel unterworfen, die regelmäßig und kon- 
tinuierlich ist. Wenn wir also etwa die Distanz von Weib- 
lichkeit zu Männlichkeit in 100 Grade eiteilen, so ergäbe eine 
Zucht eine symmetrische Variation um das Mittel von 20 oder 
60 u.s. w. mit bestimmter Variationsbreite. (Wie weit kleine 
Verschiedenheiten in der Lage des Mittels in Schwesterzuchten 
von äußeren Bedingungen abhängt, ist noch nicht klar. Theo- 
retisch ist dieser Punkt sehr bedeutungsvoll.) An den beiden 
Endpunkten dieser Linie zwischen Weiblichkeit und Männlich- 
keit müssen die extremen Plus- und Minusindividuen ins Nor- 
male übergehen, also respektive normale Weibchen oder Männ- 
chen. Das trifft bei den betreffenden Grenzfällen auch zu. 
Bei der Umwandlung aller Weibchen in Männchen sind es 
dann solche Minusabweicher, die noch am Flügelschnitt die 
weibliche Herkunft erkennen lassen. Die statistische Behandlung 
dieser Tatsachen im Zusammenhang mit den F,-Ergebnissen 
und denen über männliche Intersexualität wird wohl einen 
Weg zur exakten Berechnung der Potenzverhältnisse eröffnen. 
In den Kreuzungen, die ausschließlich Männchen liefern, tritt 
gelegentlich ein einzelnes normales Weibchen auf, das stets 
als letztes Tier ausschlüpfte. Hier liegt wahrscheinlich eın 
Fall der von Bridges bei Drosophila entdeckten’) „non-dis- 
junetion“ vor: Bei der Reduktionsteilung der Samenzellen 
wandern beide Geschlechtschromosomen abnormerweise nach 
einem Pol. So entstehen Spermatozoen ohne X-Chromosomen. 
Ein solches muss mit jedem Ei ein normales Weibchen er- 
zeugen. Bei der zytologischen Untersuchung fand ich bisher 
nur eine einzige Spermatozyte II, mit 30 anstatt 31 Chromo- 
somen. Dies wird züchterisch wie zytologisch weiter aufge- 
klärt werden. 





5) Bridges, C. B. Non-disjuncetion of ihe sex chromosomes of Drosophila. 


Journ. 


Exp. Zool. Bd. 15, 1913. 


570 Goldschmidt, Vorläufige Mitteiluug ete. 


Bisher war ausschließlich von den weiblichen Intersexen die 
Rede, in bezug auf die nunmehr alle entscheidenden Punkte klar- 
liegen. Die neueren Ergebnisse über die männlichen Intersexe 
zeigen aber, dass meine früheren theoretischen Erörterungen ın 
einem wichtigen Punkt eine Änderung erfahren müssen. Ich hatte 
festgestellt, dass die männlichen Intersexe in F, aus der eine nor- 
male F,-Generation ergebenden reziproken Kreuzung auftreten und 
zwar hatte ich genau !/, dieser Formen erhalten. Dies erschien 
als ein sehr wichtiger Beweis für die mendelistische Formulierung, 
die ich durchgeführt hatte und die mit zwei Geschlechtsfaktoren- 
paaren arbeitete. Nun zeigt sich aber, dass die Sache doch ver- 
wickelter liegt: 

1. Das Auftreten der männlichen Intersexe in den betreffenden 
F,-Zuchten ist ein Einzelfall, der bedingt wird durch die Art der 
beiden ursprünglich gekreuzten Rassen. Die Zahl !/, ist ebenfalls 
nur für die betreffende Kreuzung typisch, in analogen Kreuzungen 
anderer Rassen könnte jede andere Zahl zwischen 0 und 50% 
typisch sein. 

2. Von entscheidender Wichtigkeit ist, dass die männlichen 
Intersexe in F, erscheinen können. Einzelne gerade erkennbare 
Individuen treten z. B. auf in F, aus den beiden „schwachen“ 
Rassen japanisches Weibchen K X europäisches Männchen S, ferner 
starkes Japanerweibehen O X schwaches Japanermännchen H. Außer- 
dem liegt aber eine Kreuzung vor, nämlich schwaches Japanerweib- 
chen K X schwaches Japanermännchen H, in der in F, sämtliche 
Weibchen normal und sämtliche Männchen stark intersexuell sind ®). 
Diese Tatsachen sind für das Verständnis der ganzen Frage höchst 
bedeutungsvoll. Es geht nämlich daraus, ebenso wie aus gewissen 
neueren F,-Ergebnissen, die frühere Irrtümer berichtigen (s. o. das 
über Flügelfarbe Gesagte) als sehr wahrscheinlich hervor, dass der 
weibliche Teil der Geschlechtsformeln FFMm — 9 FFMM = nicht 
mendelistisch, sondern mütterlich, also protoplasmatisch, vererbt 
wird. Auch er zeigt unabhängige Verschiedenheiten seiner Potenz 
und das Ergebnis ist die Resultante aus der kombinierten Wirkung 
beider Gruppen. Es hat keinen Zweck, dies hier näher auszuführen, 
da noch ausschlaggebende Zuchten ausstehen, deren Ergebnisse die 
definitive Lösung der ganzen Frage bringen dürften. 

New Haven, Conn., Oktober 1915. 


6) Eine entsprechende Kreuzung, bei der auch die Rasse H beteiligt war, 
aber ein anderes Muttertier, wurde mit dem gleichen Erfolg schon früher von 
Toyama’s Assistent Dr. Machida ausgeführt, dem somit die Priorität dieser Ent- 
deekung gebührt. Ihm verdanke ich auch das Material der Rasse H. Ich weiß 
nicht, ob er inzwischen über den Fall publiziert hat. 


Prät, Über die Wirkung des Lichtes auf die lebenden Organismen.  H71 


Einige neuere Versuche über die Wirkung des Lichtes 
auf die lebenden Organismen. 


I. Die Schädigung des Auges durch Einwirkung des ultravioletten Lichtes. Von 
San.-Rat Dr. med. Fritz Schanz und Dr. ing. Carl Stockhausen. Sonderabdr. 
a. d. Elektrotechn. Zeitschr., 1908, 33. II. Schutz der Augen gegen die schädigende 
Wirkung der kurzwelligen Lichtstrahlen. Von denselben. Berlin 1910. Weiter 
San.-Rat Dr. Fr. Sehanz in Dresden: III. Die Wirkungen des Lichtes auf die 
lebende Zelle. Münch. med. Wochenschr. 1915, S. 643—645. IV. Sonnenstich — 
Hitzschlag. Ibidem S. 979 und 980. V. Über die Beziehungen des Lebens zum 
Licht. Ibidem S. 1315 und 1316. VI. Über die Entstehung der Weitsichtigkeit 
und des Starrs. Ibidem S. 1840—1842. VII. Die Wirkung des Lichtes auf die 
lebende Substanz. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol., 161. VIII. Die Wirkung 
des Lichtes auf die lebenden Organismen. Biochem. Zeitschr. 71, 1915, S. 406. 
IX. Die Wirkung der kurzwelligen, nicht divekt sichtbaren Lichtstrahlen auf das 
Auge. Sonderabdr. aus Strahlentherapie VI, 1915, S. 87.') 


Schon früher wurde nachgewiesen, dass die Eiweißstoffe photo- 
sensibel sind und dass namentlich die unsichtbaren Strahlen die 
Eiweißstoffe in schwerer lösliche verwandeln und schließlich koagu- 
lieren (Dreyer und Hansen, Chalupecky). Diese Einwirkung 
ist auch an den Eiweißstoffen des lebenden Körpers ersichtlich. 
Es ist bekannt, dass die ultravioletten Strahlen kürzerer Wellen- 
länge sehr leicht heftige oberflächliche Entzündungen erzeugen, die 
ultravioletten Strahlen größerer Wellenlänge dagegen mehr in die 
Tiefe dringen. Die beständig der Lichteinwirkung ausgesetzte Haut 
wird im Laufe des Lebens derber als die Haut, die vor Lichtein- 
wirkung mehr geschützt ist. Der Verf. hat namentlich die Wirkung 
des kurzwelligen Lichtes auf das Auge studiert. Wie schon Birch- 
Hirschfeld gezeigt hat, erzeugen die kurzwelligen Strahlen beı 
sehr intensiver Einwirkung mikroskopische Veränderungen in der 
Netzhaut; er konnte auch Farbensinnstörungen durch Quarzlampe 
nachweisen. Widmark und Hess wiesen nach mehrstündigen 
intensiven Belichtungen mikroskopische Veränderungen im Kapsel- 
epithel der Linse nach. Der Verf. untersuchte nun zuerst die Durch- 
lässigkeit der Augenteile für verschiedene Strahlen und konnte fest- 
stellen (II. S. 10, IX. S 88), dass die Hornhaut etwa von 360 uw 
Wellenlänge anfängt stärker zu absorbieren, bei 310 au absorbiert 
sie vollständig. 3 mm dicke Linsenschichten zeigten den Anfang 
der Absorption im Blau, Ultraviolett wurde außerordentlich intensiv 
absorbiert (weniger als 375 au vollständig). Von den Strahlen von 
400—370 uu Wellenlänge gelangt ein erheblicher Teil bis zur Netz- 
haut und dieser verursacht ihre Fluorescenz, welche auch bei hellem 
Tageslicht in der Form eines Schleiers, der sich bei der Blendung 


1) Nach Absendung des Manuskriptes an die Redaktion erhielt ich durch die 
Liebenswürdigkeit des Herrn San.-Rat Dr. F. Schanz noch zwei neue Separate: 
X. Lichtfilter m. a. W. 1915, Nr. 48, S. 1640—1642. XI. Zur Eosinfärbung der 
Futtergerste. Medizinische Klinik. Wochenschr. f. prakt. Ärzte 1915, Nr. 51. 

Neuerdings hat „Etwas Neues aus der Photophysiologie“ Dr. J. Peklo in 
„Biologickl listy“‘ 1915, H. 5, 6 zusammengestellt. 


572 Prät, Über die Wirkung des Lichtes auf die lebenden Organismen. 


über das Auge legt, erscheint. (Auch die Wahrnehmung des 
„Lavendelgrau* hinter dem sichtbaren Spektrum.) Ein Teil der 
Strahlen wird an der Hinterfläche der Linse reflektiert — „bei jeder 
Reflexion verliert das Licht vor allem an kurzwelligen Strahlen“ — 
und auch die kleinsten Teilchen der Linse spalten das Licht nach dem 
Diffusionsgesetz ab, weil die Linse nicht „optisch leer“ ist; es werden 
also auch Linsenteile, die durch die Iris vor dem direkten Licht 
geschützt sind, der Lichteinwirkung ausgesetzt. 

Weiter wurde auch durch neue Versuche nachgewiesen, dass 
das Licht die Struktur der Eiweißkörper in dem Sinne verändert, 
dass aus leicht löslichen schwerer lösliche werden. Die Lösungen 
der Eiweißkörper wurden in gekühlten Quarzeprouvetten in einer 
Entfernung von 20 cm von einer Quarzlampe der Einwirkung durch 
2—4 Stunden ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass z B. 10 cm’ 
Eiereiweißlösung, welche vor der Belichtung 149,7 mg Albumine 
und 3,8 mg Globuline enthielt, nach einer 2stündigen Belichtung 
138,9 mg Albumine, 20,4 mg Globuline und 0,8 mg koagulierte Ei- 
weißkörper enthielt, dass also die Menge der schwerer löslichen 
Kiweißstoffe um 10,3%, zugenommen hatte. Beim Linseneiweiß 
stieg während einer 4stündigen Belichtung die Menge der schwerer 
löslichen Eiweißstoffe um 13,3%. Dieselben Erscheinungen sind 
auch bei Blutserum (20 x mit 0,5%, NaCl verdünnt) festgestellt. 
Daraus kann man den Altersstarr der Linse und den Zusammenhang 
des Sonnenstiches mit Blutveränderungen erklären. Die Augen 
kann man mit Euphosgläsern schützen, die, ohne die Lichtstärke 
wesentlich zu schwächen (Lichtverlust 3—5 %,), die vltravioletten 
Strahlen ganz abhalten. 

Sehr interessant sind die Versuche des Verf. über die Photo- 
katalysatoren (IV, V, VIII). Verdünntes Blutserum, welchem etwas 
Eosin zugesetzt war, gab nach der Belichtung viel dichteren Nieder- 
schlag mit (NH,),SO, als eine Probe ohne Eosin. Durch die Zu- 
sammensetzung des Lichtes (Sonnenlicht — Quarzlampe) wird der 
Prozess beeinflusst. Wir können also die Wirkung des Lichtes auf 
die Eiweißlösungen steigern. Auch in unseren Nahrungsmitteln 
finden sich wahrscheinlich Stoffe, die eine Steigerung der Licht- 
wirkung veranlassen können (Buchweizen, Mais, Reis; Beriberi, bisher 
als Avitaminose betrachtet, kann nach dem Verf. auch durch ge- 
steigerte Lichtwirkung durch Reis veranlasst werden). 

Weiter wird gezeigt, dass auch Traubenzucker (10 %,) ein Photo- 
katalysator ist; ein geringerer Zuckerzusatz erzeugt aber eine hem- 
mende Wirkung. Dagegen Aceton (unter Lichtwirkung ın Methan 
und Essigsäure zerfallend) ist auch bei geringem Zusatz, ähnlich 
wie Alkohol, ein mächtiger Photokatalysator. 

Später gibt der Verf. noch ganze Reihen von Photokatalysatoren 
an (V, VIII). Der verbreitetste ıst das Blattgrün; wird es in ver- 
schieden starker Konzentration angewandt, so ist die Umwandlung 
der Albumine in Globuline der ChlorophylImenge proportional. 
Ebenso wirkt Phylloporphyrin, einer der kräftigsten positiven Photo- 
katalysatoren; in Verdünnung von 1:80000 vermag es Kulturen 





Prät, Über die Wirkung des Lichtes auf die lebenden Organismen. 573 


von Paramaecium im Lichte eines trüben Wintertages abzutöten; 
im Dunkeln ist es wirkungslos. Auch Chlorophyllösung tötet die 
Paramaecien im Lichte, nicht aber im Dunkeln. Recht kräftige 
Sensibilisatoren sind auch Hämatoporphyrin, Milchsäure, Harnstoff. 
Die Versuche wurden so angestellt, dass zwei Serien der Eiweiß- 
lösungen mit Photokatalysator aufgestellt wurden, eine ım Lichte 
(Sonnenlicht), die andere im Dunkeln. Nach einer bestimmten Zeit 
(2 Tagen) wurden die Lösungen mit stark verdünnter Essigsäure 
(oder [NH,],SO,) gefällt. In den belichteten Röhrchen trat der Nieder- 
schlag auf, die ee Röhrchen blieben beim gleichen Essig- 
säurezusatz ganz hell. 

Die Photokatalysatoren sind in der Natur schr wichtig. Man 
kann endo- und exogene Katalysatoren unterscheiden. Die ersteren 
bilden sıch ım Organismus selbst, die anderen werden von außen 
den Organısmen zugeführt (vor allem Mineralsalze). Zu den ersteren 
gehören namentlich die Farbstoffe, die das Integument der Tiere 
färben. Mac Munn fand in dem Integumente von Schnecken, in den 
bräunlichroten Seesternen, ın den Streifen an der Rückenseite des 
Regenwurms Hämatoporphyrin. Die Regenwürmer sind photo- 
sensibel, sie flüchten bei den Belichtungsversuchen ins Rot, das 
grell gefärbte Integument der Seetiere hat die Fähigkeit, die in die 
Tiefe durchdringenden Strahlen zu absorbieren und für den Orga- 
nismus auszunützen, nicht also die Feinde abzuschrecken. Auch die 
Farben der Blumen sollen nicht die farbenblinden Insekten anzıehen, 
sondern man muss sie für Photokatalysatoren anschauen. „Aus 
dem Licht, das uns die Sonne zustrahlt, werden ganz spezielle 
Strahlen, die zur Farbe der Blüte die Komplementärfarbe darstellen, 
absorbiert, das muss bei der Umwandlung der Eiweißstoffe ganz 
spezifische Eiweißkörper geben.“ „Diese Kiweißkörper werden ın 
der Fruchtanlage zugespeichert und werden mit dem Samen in den 
neuen Organismus übergehen und werden dessen Art bestimmen“ 
KAVESS: 5). 

Weiter kommen die Exokatalysatoren in Betracht. Als solche 
Katalysatoren, die Lichtenergie übertragen, sind Fe, Mn, As, U, Hg 
einerseits, bestimmte organısche Chromophore (Anthracenderivate) 
anderseits zu nennen. 

Aber wir kennen nicht nur positive Photokatalysatoren. Das 
Pigment kann auch die Lichtwirkung auf die Eiweißkörper ver- 
mindern, es ist ein negativer Photokatalysator (dunkle Menschen- 
rassen, die starke Rückenfärbung der Tiere). „Organısche Stoffe, 
die die Pflanze selbst bildet, wirken auf deren Eiweißkörper eben- 
falls als Photokatalysatoren, ebenso wie die Mineralstoffe, die den 
Pflanzen aus dem Boden zugeführt werden, auf die organischen 
Stoffe der Pflanzen und auch auf deren Eiweißkörper als Photo- 
katalysatoren wirken. Aus dem Zusammenwirken solcher positiver 
und negativer Katalysatoren werden sich Eiweißkörper bilden, die 
sich voneinander unterscheiden“ (spezifische Eiweißkörper. V,S.4). 
„Bei den Tieren ist das ganze Integument für Lichtwirkung empfäng- 
lich.“ Bei höheren Tieren kommt es zur Entwicklung des Auges, 


574 Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Metazoen. 


Der Vorgang der Wirkung des Lichtes auf die Netzhaut ist uns 
nicht bekannt. „Wir nehmen an, dass sich in der Netzhaut Seh- 
stoffe, wie der Sehpurpur, finden, die durch das Licht zersetzt 
werden. Wir kennen Pigmente, die die Lichteinwirkung hemmen. 
Seit wir wissen, dass die Eiweißstoffe photosensibel sind, müssen 
wir auch annehmen, dass die Eiweißstoffe dieser Sinnesepithelzellen 
durch Licht direkte Veränderungen erleiden, und es liegt nahe, an- 
zunehmen, dass die Sehstoffe und das Pıgment der Netzhaut dabei 
als positive und negative Photokatalysatoren wirken. Dem Sehakt 
würde dann derselbe photokatalytische Prozess zugrunde liegen, 
den wir allenthalben in der belebten ‘Natur beobachten“ (V, S. 5). 
Endlich zeigt der Versuch mit Mineralwässern, dass es unter 
den Mineralsalzen Stoffe gıbt, welche die Liehtwirkung auf die Eı- 
weißkörper verlangsamen (bei den Proben des verdünnten Blut- 
serums mit den Mineralwässern kam die Trübung später und er- 
reichte auch nicht dieselbe Dichte wie ın Kontrollkölbehen). „Jede 
Brunnen- und Badekur sowie jede klimatische Behandlung bei ‚Licht 
besehen‘ ist eine Lichttherapie“ (VII, S. 412—414). S. Prät. 


Julius Schaxel (Jena). Die Leistungen der Zellen bei 


der Entwicklung der Metazoen. 
VII und 336 S., gr. 8°. Mit 49 Abbildungen im Texte. Jena 1915, G. Fischer. 


Der Verfasser, dem wir wertvolle Arbeiten verdanken, welche 
die zytologische Analyse der Entwicklung behandeln, erörtert in 
diesem Werke Tatsachen und Probleme der Entwicklungsmechanik 
und der Zytologie, welche zu Fragen der allgemeinen Biologie in 
Beziehung gebracht werden können, insbesondere jene, welche für 
die durch gewisse Ergebnisse entwicklungsmechanischer Unter- 
suchungen in den Vordergrund des Interesses gerückte Grundfrage 
der Biologie — vitalistische oder mechanistische Auffassung — von 
Bedeutung sind. Eine ausführliche Behandlung erfährt hierbei vor 
allem das Determinationsproblem der ontogenetischen Entwicklung. 

In den ersten Abschnitten des Werkes werden ın klarer und 
kritischer Weise die Methodik der Zytomorphologie, hierauf die 
Stellung dieser Wissenschaft in der Biologie und ferner ihre Prin- 
zipien behandelt. Die scharfe Umgrenzung der Leistungsfähigkeit 
der zytomorphologischen Forschung führt den Autor zu dem Schlusse, 
dass manches, was bisher aus derartigen Forschungen gefolgert 
wurde, in Wirklichkeit in der Zytomorphologie keine Stütze findet. 
Dies gelte von der behaupteten Ubiquität der Centrosomen, von 
der Kontinuität der Plastosomen, sowie auch von der Individualität 
der Chromosomen. 

Nach diesen allgemeinen Erörterungen wird der Vorgang der 
Eibildung näher untersucht. Er beginnt, nach Schaxel, ım Kerne 
(Nukleolenbildung, Chromatinanreicherung), greift dann auf den 
Zelleib über (chromatische Granulationen) und erfährt dort seine 
Fortsetzung (Chromasie). Man kann demnach drei Stadien unter- 


Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Metazoen. 575 


scheiden, das der Präemission im Kerne, das der Emission des 
Chromatins in den Zelleib und das der Postemission. Während des 
letzten Stadiums vollzieht sich die Rekonstruktion der chromo- 
somalen Lagerung, wodurch der Kern wieder teilungsfähig wird; 
im Zelleib kommt es gleichzeitig zur Ausbildung der an der späteren 
Entwicklung Anteil nehmenden Substanzen. Diese Vorgänge gehen 
in ganz bestimmten Teilen des Zelleibes vor sich und das, was 
durch sie erzeugt wird, verbleibt auch an dem Orte, an welchem 
es gebildet wurde. So entwickelt sich eine bestimmte Schichtung, 
eine Polarität der Eizelle. 

Diesen aus den ım Eı selbst vorhandenen Bedingungen sich 
entwickelnden Prozessen legt der Verfasser die größte Bedeutung 
bei und er fasst das Problem der Determination in einer von der 
ursprünglichen Fassung dieses Begriffes abweichenden Art auf: Außere 
Umstände vermögen, nach ihm, nicht ın entscheidender Weise deter- 
minierend einzuwirken und so kommt auch z. B. der Besamung 
keine determinierende Bedeutung zu, denn die Konstitution des 
reifen und zur ersten Teilung schreitenden Eies erfolgt „nach 
eigener, in ihm selbst gelegener Determination“. Auch die Hypo- 
these von der Beteiligung der Plastosomen der Samenzelle an der 
Bildung des Keimes ist danach unbegründet. Die Besamung wirkt nur 
als auslösender Realısationsfaktor, dem Plasma der Samenzelle 
kommt lediglich eine entwicklungserregende Wirkung zu. 

Von besonderer Bedeutung ist der nun folgende Abschnitt über 
die Determination der Furchung. Diese erfolgt, nach Schaxel, in 
sukzessiven Akten. Die Furchung ist für ihn ein reines Teilungs- 
geschehen. Es spielen dabei weder Spezifikationen der Zellen durch 
Bildung von Dauerstrukturen, noch Zellumformungen oder -verlage- 
rungen, die nicht Teilungsbewegungen sind, eine Rolle. Daher ıst 
die Determination der Furchung vollständig mit der Determination 
der Aufteilung des Eies ermittelt. Die Determination der ersten 
Teilung ist nun in der Konstitution des entwicklungsbereiten Eies, 
die Determination jeder weiteren Teilung in der Konstitution der 
zu teilenden Blastomere gegeben. Diese Konstitution aber ergibt 
sich primär aus der von dem Ei in ununterbrochener Kontinuität 
übernommenen Substanzlokalisation, die sekundär Besonderheiten 
durch die Nachbarschaftswirkungen der Blastomeren erhält (primärer 
und sekundärer Faktorenkomplex der Furchung). So erfolgt die 
Aufteilung des Eies in das typisch geordnete Zellenaggregat des 
gefurchten Keimes durch in sich sukzessiv determinierte Akte. Die 
Furchung ist die Resultante der Einzelereignisse. Für die Annahme 
weiterer, in ihrer Wirkung nicht durchschauter geheimnisvoller Vor- 
gänge ist danach nicht der mindeste Grund vorhanden. 

Zu diesem Schlusse gelangt der Autor nicht bloß aus der Ana- 
lyse der normal-ontogenetischen Vorgänge, sondern auch aus der 
Untersuchung der künstlich bewirkten Änderungen dieser Prozesse. 
Denn nirgends lasse sich ein besonderer ordnender Faktor ermitteln, 
stets ist die Harmonie des Zusammenwirkens der Teile als Resul- 
tante aller wirkenden, durch die Eikonstitution selbst gegebenen 


576 Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Metazoen. 


Faktoren nachzuweisen und soweit Regulation vorkomme, halte sie 
sich stets in den Grenzen der Determination. Jede Änderung der 
Keimkonstitution zieht unweigerlich auch eine Determinationsände- 
rung nach sich. An die Stelle der behaupteten Äquifinalität tritt 
„die Besonderheit jedes Geschehens gemäß der besonderen Kon- 
stitution des Ausgangsstadiums“. „Das Spezifische jeder Gestaltung 
ist nicht ihr Ziel, sondern ıhre einseitige Bestimmung.“ Statt als 
besonderes harmonisch- äquipotentielles System muss man die frühe 
Ontogenese als ein „in sich durch sukzessive Akte determiniertes 
Geschehen“ auffassen. Damit fällt die Theorie der äquifinalen 
Regulation samt ıhren vitalıstischen Folgerungen. Und was die 
Entelechie Driesch’s betrifft, so ıst sie kein Naturfaktor, „nicht 
weil andere physikalische und chemische Faktoren das leisten, was 
sie leisten soll, sondern, weil die ıhr zugeschriebenen Leistungen 
überhaupt nicht geleistet werden.“ 

Die nach der Furchung einsetzende Bildung der Organanlagen 
erfolgt durch Wachstums. und Bewegungsvorgänge, nicht auch 
durch Produktion von Plasmaderivaten. Das Massenwachstum kommt 
durch fortgesetzte Zellteilungen zustande und die bestimmenden 
Faktoren hierbei sind von derselben Art wie die die Aufteilung des 
Eies bewirkenden. Doch muss der Autor zugeben, dass die Deter- 
mination der Anzahl der Teilungen ıhrem Wesen nach noch nicht 
erkannt ist. Ebensowenig hat die Forschung die Ursache für die 
Lösung der Zellen aus dem Verbande, für ıhre gerichteten Be- 
wegungen und für ihre Zusammenfügung zu einem neuen Verbande 
ermittelt. 

Die histogenetische Differenzierung der Organanlagen beginnt 

mit einer ÖOhromatinanreicherung ım Kerne, um dann als Ohromatıin- 
emission auf den Zelleib überzugreifen. Dann erst beginnen die 
charakteristischen Umbildungen des Cytoplasmas. Alle diese Vor- 
gänge sind typisch bestimmt und sie erfolgen ferner ın strenger 
Einsinnigkeit. Die Determination der Qualität der jeweiligen Diffe- 
renzierung ist aber noch unaufgeklärt und wahrscheinlich nicht mit 
zytomorphologischen Mitteln, sondern nur durch die Chemie er- 
forschbar. Ungerechtfertigt ist es daher auch, gewisse durch be- 
sondere Präparationsverfahren isoliert zur Darstellung gebrachte Be- 
standteile des Zytoplasmas, wie die Plastosomen, als die eigentlichen 
Bildner der Dauerstrukturen aufzufassen. 

Dieser Darstellung folgen die Erörterungen über die zyto- 
morphologische Auffassung der Funktion, des Alterns, Absterbens 
und der Restitution der "Gewebe. Der natürliche Tod wird als 
Folge der begrenzten, einsinnigen Determination der Zellen hinge- 
stellt, die Annahme einer Entdifferenzierung und rückläufigen Ent- 
wicklung als irrig abgelehnt. 

In dem letzten, die Zellentheorie behandelnden Abschnitte wird 
zunächst ausgeführt, dass alles ontogenetische Geschehen nur Fak- 
toren enthält, die an Zellen gebunden sind, dass es also zellular deter- 
miniert ist. Die Zelle bloß als Mittel von ihr über geordneten Faktoren 
aufzufassen erscheint zum mindesten nicht notwendig. Ähnliches 


Brehm’s Tierleben. 577 


gilt von der Auffassung der Zelle als Bildnerin „letzter Einheiten“ 
(Energiden, Protomeren). — Zellular determiniert ist auch die Ver- 
erbung, die stets nur mittels Reservation totipotenter Zellen erfolgt. 
Die Erforschung des Vererbungsmechanismus fällt daher zusammen 
mit der Ontogenese. Die Möglichkeit der Variation (und Mutation) 
ist darın begründet, dass die geänderte Realisation eines der suk- 
zessiven Akte der ontogenetischen Determination diesen zu ändern 
und damit eine geänderte Determination für die Folgeakte zu be- 
wirken vermag. Die Vererbung an sich ist keine Funktion, ihr 
dienen daher auch nicht besondere Organe als „Vererbungsträger“. 
— Bei der Entwicklung der Metazoen handelt es sich im wesent- 
lichen stets nur um durch die Zellkonstitution bestimmte Zell- 
leistungen. Hierbei bestimmende und bestimmt werdende Elemente 
zu unterscheiden ist nicht notwendig. „Es handelt sich ın den 
einander folgenden Stadien vielmehr um ein Zusammenwirken der 
Faktoren, das sich aus der Konstellation aller Teile von Akt zu 
Akt ergibt.“ 

Die hier gelieferte Darstellung vermag naturgemäß den Inhalt 
des Werkes nicht ganz wiederzugeben, sie soll nur auf dessen wesent- 
liche Punkte hindeuten. Man mag über manches anderer An- 
schauung als Schaxel sein. Wichtig bleibt sein Werk jedenfalls 
schon durch die große Bedeutung der Probleme, zu welchen es 
Stellung nımmt. Wer immer sich mit diesen beschäftigt, wird auch 
das Werk Schaxel’s genauer studieren und sich zu den darin 
niedergelegten Anschauungen in irgendeine Beziehung setzen müssen. 

Alfred Fischel (Prag). 


Brehm’s Tierleben. 
Allgemeine Kunde des Tierreichs. Vierte, vollständig neubearbeitete Auflage, heraus- 
gegeben von Prof. Dr. Otto zur Strassen. Vielfüßler, Insekten und 
Spinnenkerfe. Neubearbeitet von Richard Heymons unter Mitarbeit von 
Helene Heymons. Mit 367 Abbildungen im Text, 20 farbigen und 15 schwarzen 
Tafeln von P. Flanderky, H. Morin, G. Mützel und E. Schmidt, 7 Doppel- 
tafeln und 4 einseitigen Tafeln nach Photographien und 1 Kartenbeilage. Leipzig 
und Wien 1915, Bibliographisches Institut. 


Den Verfassern ist das wirklich schwere, aber um so verdienst- 
vollere Werk gelungen, auf nicht mehr als 692 Seiten (dazu kommen 
noch 14 Seiten Sach- und Autorenregister) das gewaltige Gebiet 
der Myriapoden, Insekten und Arachnoideen in einer dem Plane 
des ganzen Werkes vollkommen entsprechenden Weise zu bear- 
beiten. Nur wenige von den vielen interessanten Entdeckungen 
der letzten Jahrzehnte über die Lebensweise und Brutfürsorge der 
in Betracht kommenden Tierformen haben in diesem Bande keine 
Aufnahme gefunden und eine geradezu überwältigende Fülle von 
Material musste gesichtet werden, um in dem jetzt vorliegenden 
Bande, von dem noch mehr Abbildungen als Text vom „alten 
Brehm“ erhalten geblieben sind, verarbeitet werden zu können. 
Heymons geht von der richtigen Erwägung aus, dass der „Brehm“ 
kein Bestimmungsbuch sein kann und soll und hat der Kennzeich- 


XXXV. 37 


vi 


578 Brehm’s Tierleben. 


nung der einzelnen Kategorien nicht mehr als nötig Raum gewährt, 
dafür der Schilderung der Lebensweise im weitesten Sinne des 
Wortes, also der Ethologie den größten Teil des Bandes zur Ver- 
fügung gestellt. In der Systematik hat er die kleineren und kleinsten 
Gruppen möglichst vollständig aufgenommen, dagegen natürlich bei 
den größeren und größten eine Auswahl ‘getroffen, an der nur wenig 
auszusetzen ist — diese Auswahl wird wohl bei dem gleichen Thema 
jeder Autor, nach Berücksichtigung der unbedingt aufzunehmenden 
Formen nach seinem persönlichen Geschmack treffen, zum Teil 
auch nach dem Material, das ihm für die Illustration zu Gebote 
steht. 

In bezug auf die Auffassung der Mimikry und ihrer Bedeutung 
nimmt der Verf. einen gemäßigten Standpunkt ein, was nur gebilligt 
werden kann. Die Auswüchse der neueren Mimikry-Hypothetiker 
können die wahrscheinlich nur für gewisse tropische Lepidopteren 
gültige Theorie selbst im wesentlichen nicht schädigen und wir 
müssen uns andererseits davor hüten, das Kınd mit dem Bade 
auszuschütten. Denselben vorsichtigen Standpunkt nımmt H. auch 
ın der Nomenklaturfrage ein. Doch sınd andererseits unter den 
deutschen Benennungen einige wie „Eierpaketler* für Oothecaria, 
die sich nur durch ihre hervorragende Hässlichkeit dem Gedächtnis 
einprägen werden. 

Dass die Termiten und Ameisen mit ıhren Gästen, ihren Bauten 
und ihren oft so verwickelten Staatenbildungen ihrer Bedeutung 
entsprechend ausführlich behandelt wurden, ist nach dem Vor- 
erwähnten selbstverständlich; aber auch die Biologie der land-, 
forst- und obstschädlichen Insekten (auch der deutsch-afrikanischen 
Kolonien), die verschiedenen, Krankheitserreger übertragenden Dip- 
teren und anderen Insekten, Zecken u. dgl. findet reichliche Berück- 
sichtigung, und nicht minder sind die paläontologischen Ergebnisse 
der letzten Zeit überall benützt. 

Es ıst schwer, ım beschränkten Raume eines Referates alles 
hervorzuheben, was in diesem Bande im Vergleich zur früheren 
Auflage neu und der Erwähnung besonders wert ist; man. kann 
sagen, dass nicht nur das naturfreundliche Laienpublikum, für das 
der „Brehm“ ja In erster Linie bestimmt ist, sondern auch der Fach- 
mann sicher gern und oft nach diesem Bande greifen wird, wo er 
eine große Menge zuverlässiger Angaben über Dinge findet, die auch 
ihn im hohen Grade interessieren und die auch er nicht immer 
gleich so beisammen hat. 

Nun zu den textlichen Einwänden. Sie sind kaum der Rede 
wert. So wäre die sehr zweifelhafte Eremiaphila tureica, die übrigens 
nicht aus Ägypten, sondern aus Mesopotamien stammt, die letzte, 
die ich als Beispiel für diese Gattung wählen würde, während die 
mächtige E. Typhon und die häufige X. Khamsin bekannte ägyptische, 
E, denticallis und genei verbreitete nordwestafrikanische bezw. 
syrische Arten sind. Bei den Phasmiden wäre der gegenwärtig 
überall in Menge gezüchtete Carausius morosus Brunn. erwähnens- 
wert gewesen. Pamphagus marmoratus ıst kein Wüstentier (im 


Brehm’s Tierleben. 579 


Leben meist schön grün) und der auf der Farbentafel bei S. 87 dar- 
gestellte Pamphagus ist nicht marmoratus. Auch die in vielen Warm- 
häusern botanischer Gärten etc. eingeschleppte und vollkommen 
akklimatisierte flügellose Laubheuschrecke Tachyeines asynamorus 
(allgemein unter dem Namen Diestrammena micolor bekannt), die 
merk würdige parthenogenetischsich fortpflanzende Riesenheuschrecke 
Saga serrata wären einer Aufnahme würdig gewesen. Die Palpares- 
Arten, zum mindesten der südeuropäische ?. ibelluloides fliegen bei 
Tage, gerade um die Mittagszeit; auch für zwei nordafrikanische Arten 
konnte ich das feststellen, wenn auch P. angustus Mc. Lachlan 
auch abends zum Lichte fliegt. Bei den Lausfliegen wäre das 
höchst merkwürdige Ascodipteron, dessen 2 ın der Flughaut tro- 
pischer Fledermäuse schmarotzt, nicht zu übergehen gewesen. Die 
Cieindela auf S. 375 ıst sicher nicht campestris, sondern wohl eher 
sylvicola. Bei Coenomyia wäre der überaus charakteristische Geruch 
nach Ziegerkäse bemerkenswert gewesen. Unter den in Kalifornien 
mit so großem Erfolge zur Säuberung der Melonengärten verwen- 
deten Coccinelliden wäre die in Kalifornien selbst heimische Hippo- 
damia convergens nicht zu vergessen, von den Strepsipteren wäre 
auch die Abbildung von 9 und Jugendzuständen interesssnt ge- 
wesen. 

Schlimmer sieht es mit den Abbildungen aus. Die photo- 
graphischen sind durchwegs lobenswert und instruktiv, namentlich 
die schönen Bilder von Borkenkäferfraßstücken, von Hymenopteren- 
nestern, die biologischen Aufnahmen (Totengräber, Trichterwickler, 
Ameisenlöwe, Siebzehnjährige Zikade, Libelle u. s. w.); ferner viele 
Textbilder, namentlich von dem ausgezeichneten Heubach, der merk- 
würdigerweise auf dem Titelblatt neben den übrigen Künstlern gar 
nicht genannt ist. Ganz schlecht ist dagegen Ephippiger (S. 88) 
ın bezug auf Halsschild und Flügeldecken, abgesehen davon, dass 
ich in meinem Leben dieses typische Gebüsch- oder höchstens Distel- 
bewohnende Tier niemals auf einem Grashalm sitzen sah; unver- 
ständlich für jeden, der die Verhältnisse nicht aus eigener An- 
schauung kennt, ist die Tafel bei S. 87 mit den blutspritzenden 
Eugaster, hölzern und augenscheinlich nach gespießten Objekten 
gezeichnet sind, viele fliegende Insekten Flanderky’s, wenig kennt- 
lich sind die meisten Arten auf der Fliegentafel bei S.336; bei den 
tropischen Tagschmetterlingen auf der Tafel neben S. 304 ist der 
Künstler an dem prächtigen Troides paradiseus gescheitert und die 
ganz unnötigerweise unter die Tagschmetterlinge geratene Bupurtide 
Sternocera orientalis ıst ın Form und Färbung unkenntlich. Die 
Darstellung des Metallglanzes ist bisher weder den beiden Künstlern, 
die sich im Reptilienband an den beiden metallglänzenden Riesen- 
schlangen Python reticulatus und Boa madagascariensis versuchten, 
noch Morin und Flanderky gelungen, und daher ist es gut ge- 
wesen, dass in den Farbentafeln sonst diesem Problem ausgewichen 
wurde. Dass die farbigen Käfertafeln und einige andere (Teufels- 
blume, Wanderheuschrecken, Wanzen) gut sind, tröstet uns nicht 
über die Tatsache hinweg, dass die wundervolle Farbenpracht der 


37* 


580 Seitz, Die Großschmetterlinge der Erde. 


tropischen Insektenwelt im Insektenband des „Brehm“ spärlicher 
vertreten ist als im Konversationslexikon. 

Wenn wir von der zu grellen farbigen Spinnentafel absehen, 
sind die Abbildungen bei den Spinnentieren ebenso gut wie bei 
den Myriopoden. Bei diesen fällt ein sehr hübsches Bild der Brut- 
pflege von Seolopendra eingulata, die wundervolle photographische 
Abbildung des Nestbaues von Polydesmus (in 8 Stadien), die Tötung 
einer indischen Calotes-Eidechse durch einen Riesenskolopender, 
wenig erfreulich dagegen ein schlecht geratener, durch einen eben- 
solehen Geophilus überfallener Regenwurm auf, bei den Spinnen- 
tieren ist u.a. das Bild der merkwürdigen Afterspinne Ischyropsalis 
helwegi von Interesse; hier ıst die Zahl der neuen Abbildungen 
überhaupt nicht erheblich. Zahlreiche gute Abbildungen sind anderen 
Werken, namentlich „Hesse und Doflein, Tierbau und Tierleben“ 
entlehnt. Auf die Verbreitungstafel näher einzugehen, möchte ich 
mir versagen, da ich dieser Art geographischer Darstellungen auf 
engem Raum von vornherein kein Verständnis entgegenbringe. 

Wenn ich von den vorstehend verzeichneten illustrierten 
Schwächen, die vielleicht nicht allgemein als solche empfunden 
werden, absehe, möchte ıch den vorliegenden Band als einen der 
besten bezeichnen, die bisher vom neuen „Brehm“ vorliegen, und 
es unterliegt keinem Zweifel, dass er an Interesse keinem anderen 
Bande nachsteht. F. Werner (Wien). 


Dr. Adalbert Seitz, Die Grolsschmetterlinge der Erde. 
Verlag des Seitz’schen Werkes (Alfred Kernen). Stuttgart 1915. 


Bereits im Jahre 1907 erschienen die ersten Lieferungen des 
Seitz’schen Schmetterlingswerkes. Alle, die damals in das Werk 
Einblick nahmen, waren erstaunt über die Großartigkeit seiner An- 
lage und über den Riesenplan der Bearbeitung, der hier zur Aus- 
führung kommen sollte, wollte der Herausgeber doch insgesamt auf 
etwa 1000 großen Bunttafeln nicht weniger denn 40000 Schmetter- 
linge der ganzen Erde zur Abbildung bringen, das sind also so 
ziemlich alle bisher bekannten Großschmetterlinge. Oft genug 
konnte man schon zu jener Zeit die Meinung hören, dass ein solches 
Werk überhaupt nicht zu Ende geführt werden könnte! 

Die Lieferungen aber folgten sich in ganz regelmäßigen Zeit- 
abschnitten, so dass jene Propheten schließlich verstummten. Gegen- 
wärtig ist trotz schwerster Kriegswirren das Werk so weit fort- 
geschritten, dass weit über die Hälfte dieser Riesenarbeit in geradezu 
ausgezeichneter Weise bereits fertig vorliegt. 

Das Werk selbst scheidet sich in zwei Abteilungen: Der I. Haupt- 
teil umfasst die „Großschmetterlinge des paläarktischen 
Faunengebiets“, also die „Europäer“. Er zerfällt in 4 Bände, 
besser Doppelbände, von denen je die eine Hälfte immer den Text, 
die andere die Tafeln enthält. Hiervon liegen bis heute bereits 
die ersten 3 Doppelbände fix und fertig vor: Der I. Band: „Tag- 
falter“, mit 89 Bunttafeln und 3470 Abbildungen, der II. Band: 


Seitz, Die Großschmetterlinge der Erde. 581 


„Spinner und Schwärmer“, mit 56 Farbentafeln und 2489 Faltern, 
der III. Band: „eulenartige Nachtfalter“, mit 75 kolorierten Tafeln 
und 4338 Abbildungen. Der IV. Band: „Spanner“, ist auch fast 
fertiggestellt, ist doch ın letzter Zeit hiervon schon die 127. von 
130 Lieferungen, wodurch die Paläarkten abgeschlossen sein werden, 
ausgegeben worden. Dieser IV. Band wird 25 Tafeln mit 1977 
Buntabbildungen enthalten. Dann aber wird für die Sammler und 
Forscher europäischer Schmetterlinge ein Werk geschaffen sein, wie es 
besser und schöner noch nicht existiert, ein Werk, auf das die ge- 
samte Entomologie, Sammler und Fachzoologen, mit Recht stolz 
sein können. 

Der II. Hauptteil zerfällt in drei Unterabteilungen, nach den 
Erdteilen in eine amerikanische, eine indoaustralische und 
eine afrıkanische Fauna sich scheidend. Jeder dieser Teile be- 
steht wieder aus 4 Doppelbänden, so dass das ganze Werk 16 Doppel- 
bände enthalten wird. Auch diese Teile sind in ganz vorzüglicher 
Weise gefördert worden, und wenn auch durch den Krieg der Ver- 
kehr mit dem Auslande und mit mehreren der bedeutendsten Mit- 
arbeiter ungemein gehindert ist, so hat dies doch das regelmäßige 
Erscheinen der einzelnen Lieferungen nicht aufhalten können. Zu- 
dem sind gegenwärtig durch den Herausgeber Vorkehrungen dahin 
getroffen, dass eine Bearbeitung der noch ausstehenden Bände 
auch ganz unabhängig vom Auslande zu ermöglichen sein wird, ein 
Ziel, das der deutschen Wissenschaft gewiss zu hoher Ehre ge- 
reicht. 

Von der Fauna americana wurden bis jetzt 78 Lieferungen 
ausgegeben, von der F. indoaustralica 125 und von der F. africana 
35, jede Lieferung mit 1—2 Bogen Text und 2 herrlichen Bunt- 
tafeln. Diese letzteren gerade sind es, die die Aufmerksamkeit 
nicht nur der Entomologen, sondern aller Naturfreunde, selbst der 
Künstler, auf sich gezogen haben, zeichnen sie sich doch einesteils 
durch vorzügliche Naturtreue, andernteils durch wunderbare Farben- 
pracht besonders aus, so dass sie der deutschen Vervielfältigungs- 
kunst zur ganz hervorragenden Zierde und Ehre gereichen. Wieder 
und wieder kann man diese Tafeln beschauen und studieren, und 
stets wird man neuen Genuss, neue Freude daran haben. 

In welcher Reichhaltigkeit die einzelnen Tafeln oft gehalten 
sind, zeigt beispielsweise die Tafel 13 des 4. Bandes der Paläarkten, 
die nicht weniger denn 135 Abbildungen von Cidarien und Eupi- 
thecien in tadelloser, unübertrefflicher Feinheit wiedergibt. 

Dass natürlich auch der Text, so knapp er auch gehalten ist, 
auf die einzelnen Momente in der Entwicklung der Falter, auf die 
Lebensgewohnheiten der Raupen und Schmetterlinge, auf Vorkommen 
und Futterpflanze, auf Fortpflanzung und Häufigkeit, kurz auf alle 
einschlägigen biologischen Verhältnisse Rücksicht nimmt, mag hier 
nur angedeutet sein. 

Auf alle Fälle aber verdient das Seitz’sche großzügige Schmetter- 
lingswerk reichste Verbreitung nicht bloß in allen Bibliotheken, 
sondern auch unter allen Fachgelehrten und Entomologen. Sein 


582 Abderhalden, Lehrbuch der Physiologischen Chemie in Vorlesungen. 


Preis ist bei der Vorzüglichkeit des Gebotenen sehr niedrig: eine 
Paläarkten-Lieferung wird mit Mk. 1.—, eine Exoten-Lieferung mit 
Mk. 1.50 berechnet. Das Werk erscheint gleichzeitig in deutscher, 
französischer und englischer Sprache. Dr. 0. Krancher, Leipzig. 


Emil Abderhalden. Lehrbuch der Physiologischen 


Chemie in Vorlesungen. 
3. Auflage. II. Teil. gr. 8°. 814 Seiten. 28 Figuren. Urban und Schwarzenberg. 
Berlin und Wien 1915. 

Mit Vollendung des II. Teiles kommt die Neuauflage des 
Abderhalden’schen Lehrbuches trotz des Krieges zum schnellen 
Abschluss. Er umfasst die anorganischen Nahrungsstoffe, die Be- 
deutung des Zustandes der Bestandteile der Zellen für ihre Funk- 
tionen, die Fermente und den Gesamtstoffwechsel. 

Vergleicht man die neue Auflage mit den vorangegangenen, so fällt 
zuerst der doppelte Umfang ins Auge. Aus einem Buche, das der 
Mehrzahl der Studierenden noch zugänglich war, ıst so ein Werk 
entstanden, welches den Nichtspezialisten durch Umfang und Kosten 
abschrecken kann. Anderseits hat das Werk für denjenigen, der 
sich einen Einblick in den jetzigen Stand der physiologisch-chemischen 
Forschung verschaffen will, mancherlei gewonnen. Es gehört zu 
den seltenen Büchern der rein wissenschaftlichen Literatur, die zu 
einer wirklichen Lektüre geeignet sind; es übt auf den Leser einen 
dauernd fesselnden Reız aus, und diese Eigenschaft verdankt es 
nicht nur der umfassenden Beherrschung des gewaltigen Stoff- 
materials, sondern vor allem auch dem immer wiederkehrenden 
Hinweis auf neue Probleme, auf das in den bisherigen Ergebnissen 
noch zweifelhafte oder hypothetische. Auch die Einbeziehung ver- 
schiedener Wissenszweige, welche in einem gewissen Abhängigkeits- 
verhältnis zur Physiologischen Chemie stehen, wie gewisse Gebiete 
der Botanık, der Erbschaftslehre, der Serologie, der Bakteriologie 
und der Pharmakologie sichert dem Werke das Interesse eines 
umfangreichen Leserkreises. Und weiterhin sind auch die Grund- 
lagen der physiologischen Erkenntnis erweitert worden, dadurch, 
dass die Berücksichtigung der physikalischen Chemie ausgedehnter 
gestaltet und die Kolloidehemie als neue Basis besonders für die 
Eigenarten der Zellfunktionen einbezogen worden ist. Nur in einer 
Beziehung scheint dem Referenten eine gewisse Differenz zwischen 
der Art der Stoffbehandlung und dem möglichen Leserpublikum zu 
bestehen; gewisse Wiederholungen und die Erklärung mancher 
Einzelheiten sind für den Anfänger berechnet, dem das Werk doch 
in den seltensten Fällen zugänglich sein wird, sie wirken aber etwas 
ermüdend auf den fortgeschrittenen Leser, für den das Buch aus 
den angeführten Gründen in Wahrheit bestimmt sein muss. In 
der jetzigen Form kann man Abderhalden’s Physiologische 
Chemie den Studierenden als Ergänzung und zur Repetition einer 
Vorlesung nicht mehr empfehlen. Das dürfte auch Abderhalden 
empfunden haben, wenn er auch im Vorwort die Forderung stellt, 


Bateson, Mendel’s Vererbungstheorien. 583 


dass der Student seinem Gedankenflug folgen soll. So fehlt uns 
momentan ein geeignetes „Lehrbuch“ der physiologischen Chemie 
von passendem Umfange. Das Lehrbuch von Hammarsten ist, 
trotz seiner vielen guten Qualitäten, zu trocken und zu wenig auf 
die interessanten Ergebnisse der neuesten chemischen Forschung 
eingestellt, während Oppenheimer’s Grundriss der Biochemie 
mehr als Repetitorium denn als Lehrbuch gemeint ist. Gewiss 
wird diese Lücke nach dem Kriege bald in geeigneter Form aus- 
gefüllt werden. H. Pringsheim (Berlin). 


W. Bateson. Mendel’s Vererbungstheorien. 
Aus dem Englischen übersetzt von Alma Winckler. Mit einem Begleitwort von 
R. von Wettstein. 8° 41 Abbildungen im Text u. 6 Tafeln. Druck und Verlag 
von B. G. Teubner. Leipzig und Berlin 1914. 


In der Literatur über die Vererbungslehre nimmt das Werk 
von W. Bateson: Mendel’s principles of heredity einen ersten 
Platz ein. Der Verfasser hat sich bemüht, eine zusammenfassende 
Darstellung und Kritik von Mendel’s Forschungen zu geben, er 
liefert zugleich eine Übersicht der neueren Forschungen auf dem 
Gebiete der Vererbungslehre. An dem Buche ist ganz besonders 
anerkennenswert, dass sowohl die zoologische als auch die bota- 
nische Seite der Probleme Berücksichtigung finden. Dieses für 
Züchter, Botaniker, Zoologen, Mediziner und Anthropologen so 
überaus wichtige Werk ist in deutscher Übersetzung erschienen, die 
an Klarheit und Prägung der Sprache nichts zu wünschen übrig 
lässt. Ich versuche eine Übersicht des reichen Inhalts zu geben, 
indem ich die verschiedenen Kapitelüberschriften mitteile: 1. Men- 
del’s Entdeckung, 2. Das untersuchte Material, 3. Numerische Folgen 
und neue Kombinationen, 4. Farbenvererbung, 5. Gametenkoppe- 
lung und Abstoßung, 6. Vererbung und Geschlecht, 7. Gefüllte 
Blüten, 8. Beispiele für Mendel’ sche Vererbung beim Rechen, 
9. Intermediärformen zwischen Varietäten und den „Reinen Linien“ 
Johannsen’s, 10. Verschiedene widersprechende und Ausnahme- 
Phänomene, 11. Biologische Anschauungen im Lichte Mendel’scher 
Entdeckungen, 12. Nutzanwendung der Mendel’schen Regeln, 
13. Mendel’s Leben und Werk, 14. Versuche über Pflanzenhybriden, 
15. Uber einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Fleracium- 
Bastarde. Eine weitere Analyse ist bei dem zur Verfügung stehen- 
den beschränkten Raume leider nicht zu geben. Doch schon diese 
Inhaltsübersicht und der Hinweis, dass dieses Werk von einem 
erstklassigen Fachmanne verfasst worden ist, bürgen ohne weitere 
Worte für den hohen Wert dieses Buches. Vorzügliche Schemata 
und zum Teil farbige Abbildungen sind dem Werke Dan 

. Schwarz. 


Verlag von Georg Thieme in _ Leipzig, Antonstraße "15. — Druck der kgl. bayer, 
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen, 











Alphabetisches Namenregister. 


A. 


Abderhalden 62. 111. 582. 


Ach 160. 
Adlerz 69. 
Ahlfeld 510. 
Arcichovsky 22. 
Armbruster 129. 
Arrhenius 144. 
Askenasy 413. 


B. 


Baer, von 105. 
Baerthlein 282 ff. 
Baranetzky 443. 
Barfurth 50. 

Bartlett 167. 
Bateson 583. 

Bauer 494. 

Baunacke 502. 

Baur 181. 286. 542. 
Beche, de la 107. 
Beijerinck 282 ff. 
Bemmelen 151. 
Berlepsch, v. 132, 333. 
Bernard, Noel 216. 
Berthelot 191. 
Berthold 464. 

Bethe 39. 191. 229 ff. 
Biedermann 376. 
Bireh-Hirschfeld 571. 
Birckner -V. $ff. 
Blume 213. 540. 
Bönner 65. 


Bois-Reymond, E. du 455. 


Bokorny 23. 25. 
Bondroit 74. 
Bonnet 232. 554. 
Bonnier 191. 
Boulanger 397. 
Boulenger 179. 
Boveri 332. 5659. 
Brandt 376. 
Braun 77. 
Brehm 395. 397. 
Bresslau 128. 
Bridge 186. 
Bridges 569. 
Bronn 105. 
Brun 190. 225 ff. 
Buchenau 68. 
Büchner 109. 


577. 


Buchwald 275. 
Buckl 120. 

Buckland 107. 
Buddenbrock, v. 481. 
Bullard 521. 

Burgeff 215. 
Burmann 540. 
Burmeister 103. 
Burri 284. 

Bütschli 376. 


Buttel-Reepen, v. 31. 39. 


129. 200. 331. 
©. 


Camerano, L. 37. 
Candolle, de 104. 
Cantor 154. 
Carpenter 108. 
Casteel 334. 
Challier, Le 295. 
Chalupecky 571. 
Chambers 106. 
Chaperon 477. 
Child 478. 

Cobb 509. 
Cockerell 168. 
Coehn 543. 
Collet 184. 
Cornetz 231ff. 
Couturat 154. 
Cuenot 139. 
Curtis 51. 

Cyon 191. 

Oyren 178. 


D. 
Dahl 544. 


Darwin 93 ff. 266. 281. 286. 


501. 560. 
Darwin, Fr. 210. 
Davenport 499. 
Deckelmeyer 253. 
Dedekind 154. 
Dewitz, J. 37. 
Dickel 127. 
Dingler 441. 
Dobkiewiez 39. 
Dogiel 143. 
Donisthorpe 75. 
Dorfmeister 146. 
Dreyer 571. 


Driesch 393. 545. 
Duchatel 191. 
Dujardin 229. 
Duncker 506. 
Dzierzon 129. 332. 


E. 


Edinger 474. 
Ehrenbaum 185. 
Ehrenberg 101. 
Ehrlich, P. 159. 338. 
Eimer 77. 

Eisenberg 282. 

Ekler 62. 

Emery 75. 208. 252. 
Engelhardt, v. 333. 
Entz 378. 

Ernst 200. 

Ernst, Christian 561. 
Eugster 332. 561. 565. 
Exner 227. 


F. 


Fabre 191. 242. 
Feuerbach 109. 
Fielde, Miss 242. 
Fischel 577. 
Flanderky 396. 579. 
Focke 275. 

Fodor 111. 

Forbes 93. 

Forel 39. 117. 226ff. 
Franz, V. 475. 498. 
Freud 160. 

Fricks, v. 509. 
Friedländer 293. 327. 
Firiesa7an73: i 
Frings 151. 

Frisch 39. 

Frisch, v. 334. 
Fruwirth 64. 


G. 
Gaisch 178. 
Gates 173. 
Gaudry 104. 
Gaupp 541. 
Gay-Lussac 477. 
Gildemeister 293. 
Gmelin 187. 
Goebel 209. 463. 540. 


Goeldi 30. 
Goethe 7. 


Alphabetisches Namenregister. 


I. 


Goldschmidt, R. 123. 342, Issaköwitsch 364. 


565. 
Goodrich 397. 
Gotschlich 329. 
Gouy 477. 
Graff, v. 376. 
Grandori 64. 
Grant, Allen 104. 
Gray, Asa 104, 
Griffini 186. 
Grobben 136. 
Gruber 376. 
Grunewald, Marta 341. 
Günther 77. 
Guldberg 455. 


Haberlandt 375. 
Hachet-Souplet 200. 
Haeckel 99, 286. 
Häcker 373. 
Hagedorn 117. 
Halberstaedter 340. 
Handlirsch 380. 
Hansen 571. 
Hartung 384. 
Hasskarl 540. 
Hauff 95. 99. 
Hauser 281. 
Heck 138. 
Heer, OÖ. 104. 384. 
Heider 541. 
Heikertinger 257 ff. 
Heim 293. 
Heincke 184, 
Henriksen 74. 
Hensen 507. 
Henslow 107. 
Herbst 553 
Hertwig, O. 286. 333. 
Hertwig, R. v. 133. 
342. 541. 
Hertz 159. 
Heß 39. 
Heß, v. 334. 571. 
Hesse 84. 
Heubach 579. 
Hilbert 154. 
Hildebrand 404. 
Hinneberg 541. 


Hoff, van ’t 144. 295. 455. 


Holdefleiß 47. 
Holmgren 30. 379 ff. 
Honigmann 342. 
Hooker 104. 
Howard 414. 

Huber 140. 

Huber, Fr. 333. 
Huxley 105. 160, 


541. 
338. 


J. 


Jäger, G. 106. 
Jäkel 38. 
Jakobsen, G. 35. 
Janczewski 209. 
Jennings 38. 482 ff. 
Jesenko 414. 
Johannsen 283ff. 414.556 ff. 
Jollos, V. 337. 
Jordan, H. 336. 
Judd 9. 
Junghuhn 540. 


K. 


Kamerling 456. 
Kammerer 177. 
Kant 393. 
Karsten 444. 
Kaufmann 543. 
Keibel 541. 
Kerner 260. 
Klebs 402ff. 
Koch, Rob. 281. 
Köllicker 105. 
Kohlbrugge 62. 93. 
Koorders 424. 
Koshevnikov 137. 
Krall 154. 
Krancher 582. 
Kranichfeld 39. 
Krause, E. 104. 
Kreidl 485. 
Kruse 293. 
Kuckuck 139. 
Kühn 344. 
Külpe 159. 
Küster 447. 
Kuhlgatz 74. 
Kutter 47. 


L. 


Lachlan, Me. 579. 
Lakon 401ff. 

Lamarck 102. 336. 
Landois 84. E 
Lantz 178. 

Lehmann, Ernst 555. 
Leibniz 554. 

Liebmann 258ff. 
Liesegang 447. 

Lindau 256. 

Linne, Elisabeth 3. 560. 
Lo Bianco 38. 

Loeb, J. 37, 196. 478. 481ff, 


985 


Löhner 385. 

Loher 213. 

Lotsy 555 ff. 

Lotze 103. 

Lubbock 39. 246. 362. 
Lummer, ©. 7. 

Lyell 103. 

Lyon 37. 486. 


M. 


Maeterlinck 331. 
Magnus, W. 440. 
Maillet, de 103. 
Malm 182. 
Mantegazza 9. 
Martius 287. 
Massini 281. 
Matenaers 63. 
Maupas 376. 
Mayer, P. 400. 
Mapynie 51. 
Mazzetti 295. 
MelIndoo 334. 
Meckel 108. 
Megusar 179. 

Meier 137. 

Mendel 113ff. 284. 542. 561. 
583. 

Mertens 77. 

Meyer (Gadernheim) 133. 
Minchin 255. 
Mittelweg 456. 
Möbius 184, 
Moggridge 120. 
Moleschott 109. 
Molisch 25. 414. 
Morgan 547. 

Morin 579. 

Müller 227. 

Müller, G. F. 99. 155. 
Müller, Joh. 110. 
Müller, M. 103. 
Müller, P. F. 344. 
Müller-Pouillet 549. 
Munk 446. 473. 








N. 


Nachtsheim 127. 335. 562. 
Nägeli 105. 285ff. 
Nathusius, v. 47. 
Natzmer, v. 30. 36. 381. 
Neisser 281. 338. 
Nestler 21. 

Newport 143. 

Newton, A. 105. 
Nippoldt 542. 

Nöller 254. 

Nylander 73. 


986 


®. 


Oesterlen 521. 
Oppel 395. 
Oppenheimer 583. 
Ostenfeld 68. 
Ostwald 455. 


1 o 

Palladin 398. 
Papanicolau 341. 
Pappenheim 397. 
Paracelsus 393. 
Parker 38. 160. 521. 
Pearl 51. 
Peckham 200. 
Petrunkewitsch 132. 
Pfaundler 543. 
Pfeffer 222. 443. 
Pflüger 477. 571. 
Pieron 191. 244. 
Plate 284. 
Plateau 39. 144. 
Plessner 488. 
Polimanti, ©. 36. 143. 
Poll 541. 
Popoff 364 
Poulton 105. 
Bratwazil® 
Prentiss 485. 
Pringsheim, E.G. 329 

375. 399. 543. 
Pringsheim, H. 585. 
Prochnow 81. 145. 
Prowazek 255. 337. 
Pütter 388. 
Purkinje 4. 


R. 


Rabe 20. 
Raeiborski 217. 
Radl 94. 482. 
Rasänen 75. 
Reichard 540. 
Reinwardt 540. 
Reisinger 472. 
Renner 171. 343. 
Reynaud 191. 200. 


Rheede tot Drakesteen 540. 


Rhumbler 554. 

Röder 475. 

Rosen, v. 380. 

Roux 329. 393. 477. 554. 
Royce 154. 

Rumpf 540. 

Russel 154. 


S, 
Sahlberg 70. 
Santschi 228 ff. 


331. 


Alphabetisches Namenregister. 


Sars 184 

Saunder 75. 
Schäfer 475. 
Schanz 571. 
Scharffenberg, v. 341. 369. 
Schaudinn 338. 
Schaxel 546. 574. 
Schellenberg 437. 
Scheuring 181. 
Schiller 7. 
Schimper 406. 420. 
Schleiermacher, A. 3ff. 
Schleiden 106. 
Schleip 129. 564. 
Schlösing 477. 
Schmid, B. 412. 
Schmidt, W. J. 80. 
Schneider 153. 
Schupenhauer 154. 
Schultz, Julius 555 
Schroeder 8. 153. 
Schwann 101. 
Schwartz 275. 
Schwarz 583 
Secerow 176. 
Sedgwick 107. 160. 
Seitz, Adalb. 580. 
Shull 20. 

Siebold, v. 333. 
Simon 421. 456. 
Sirks 539. 

Skoda 480. 

Smitt 184. 

Späth 418 ff. 
Spemann D99. 
Spencer 339. 
Spuler 5. 

Stahl 216 265. 
Standfuß 147. 
Steenstrup 66. 101. 
Steiner 472. 
Stockhausen 571. 
Stoppel 445. 
Strasburger 541. 
Strauß 109. 
Swellengrebel 255. 
Szymanski 196. 


I. 


Teysmann 540. 

Thilo 83: 

Thoma 480. 

Thomas, F. 3. 
Thomson, A. 103. 255. 
Thumm 396. 
Toenniessen 281 ft. 
Tollin 35. 
Trendelenburg, W. 5. 
Treub 218. 


Tschermak 46. 
Tübeuf, v. 437. 


U. 
Uhlenhut 391. 


V. 


Valetin 540. 

Valeton 424. 

Verson 144. 

Verworn 196. 

Viguier 191. 

Vogt, ©. 108. 

Volkens 412. 421. 

Voss 154. 

Vries. de 161. 281ff. 310. 


W. 


Waage 455. 

Waite 187. 

Waldstein 62. 

Walther, A. 47. 

Warming 67. 330. 

Wasmann, E. 35. 72. 77. 
113162 207023319253 
379. 561. 

Weber 414. 

Weismann 146. 285. 
3414. 353. 548. 554. 

Weissermehl 38. 

Werner 176. 397. 580. 

Wetterhahn 106. 

Wheeler 120. 207. 

Whewell 107. 

Wickmann 62. 

Widmark 571. 

Wiesner 213. 22]. 

Wilde 293. 

Wilson, E. B. 160. 547. 

Winterstein 352. 482. 

Wolfisberg, J. 66. 

Wollaston 384. 

Woltereck 341. 

Wright 420. 


333. 


YV.. 
Yersin 143. 


2. 


Zander 136. 
Zehnder 399. 
Zeleny 547. 
Zimmer 544. 


Alphabetisches Sachregister. 


A. 


Abwehrfermente 111. 
Abwehrmittel 269. 
Ackerbauameise 120. 
Aeranthus fasciola 210. 
Aerides 217. 
Arilanthus glandulosa 418. 
Albizzia Lebbek 422. 

5 stipulata 426. 
Allianzkolonie 120. 
Allometrose 122. 


Ameisen 65. 113. 190. 207. 225. 


Ameisenkolonien 113. 
Ameisensäure 267. 

Amia calva 396. 
Ammoniak 25. 
Ammoniakhefe 28. 
Ammoniak, kohlensaures 26. 
Ammoniaksalze 26. 
Amoeba viridis 376. 
Amphioxus 38. 
Analytische Methode 145. 
Andrena 30. 
Anlockungsmittel 258. 
Antirrhinum 559. 


% glutinosum 559. 


5 majus 559. 
Antophora 30. 
er retusa 143. 
Apis mellifera 331 
„  mellifica 34. 331. 
Arrhinotermes 383. 
Artbegriff 283. 555. 
Arthropterus 381. 
Assoziationsapparat 231. 
Asterias 554. 
Atemeles 125. 
» Pubicollis 125. 
Athous rufus 86. 
Aurelia aurita 182. 


B. 
Bakterien 281. 
Balanus-Larve 497. 
Barästhesie 193. 
Bastardierung 46. 
Bastardzucht 59. 
Batrachier 36. 
Befruchtung 127. 
Beleuchtung, bipolare 237. 
Bewegungssinn 193. 


Bienen 39. 127. 331. 
Bieneneier 127 ff. 
Biogenetisches Grundgesetz 30. 
Biologie, allgemeine 160. 335. 
Blastomerengruppen 550. 
Blitzen von Blüten 3. 
„Blitzen, Wetterleuchten‘“ 4. 
Blutegel, Füttern ders. 385. 
Boa madagascariensis 579. 
Bombyx mori 143. 
Brutfährte 239. 
Buche 414. 
Bufo 36. 

C. 


Calotermitinae 382. 
Campanula rotundifolia 41. 
Camponotus 381. 

Br herculeaneus 74. 
Caranz trachurus 182. 
Centaurea phrygia 41. 
Ceratophyllus columbae 255. 

: gallinae 255. 
Cerianthus membranaceus 478. 
Chemie, physiol. 582. 
Chemotropismus 485. 
Chenopodium glaucum 275. 
Chlorella 343. 


Chrysanthemum Leucanthemum 41. 


Cirsium oleraceum 40. 
er palustre 41. 

Clavellina 547. 552. 

Coleoptile 20. 

Colletes 30. 

Coluocera 383. 

5 oculata 384. 
Convoluta Roscoffensis 375. 
Coprinus plicatilis 403. 
Coptotermitinae 383. 
Coralliorhiza 216. 
Corethra plumicornis 143. 
Corpora pedunculata 229. 
Corydendrium 38. 
Corysanthes 225. 
Crabronidae 30. 

Crepis 42. 
» bulbosa 466. 
Uyanea capillata 182. 


D. 


Daphnia magna 363. 
pulex 343. 


988 


Darwiniana 105. 
Dendrobium nobile 211. 
Deszendenztheorie 102. 
Diaheliotropische Bewegungen 489. 
Lianthus superbus 42. 
Diatropismus 485. 
Didymium-Arten 403. 
Diestrammena micolor 579. 
Dinarda dentata 126. 

5 Märkeli 126. 
Dorsiventralität 209. 
Dorymyrmex 117. 
Drehungsexperimente 239. 
Drillinggeburten 513. 
Drohnen 127. 

Drosophila 569. 
Dunkelkultur 430. 


E. 


Eehinus micerotuberculatus 546. 

Edelgerste 9. 

Eibilduug (Moina) 341. 

Eiche 417. 

Eifarbentelegonie 48. 

Eigenbewegungen der 
schinen 81. 

Einheit, isogene 555. 

Eischalenxenien 48. 

Eiweiß, Ammoniakbindung 25. 

Ekphorie 198. 

Ektoplasma 293. 

Elater oculatus 84. 

Elisabeth Linne-Phänomen 3. 

Endoplasma 293. 

Energiewechsel in Organismen 475. 

Engrammkomplexe, topochemische 227. 

Engrammsukzessionen 194. 

kinästhetische 194. 

Entflügelte Weibchen 115. 

Entwicklung der Keimpflanzen nach 24- 
stündiger Weiche in Silbernitrat Off 

Entwicklung der Metazoen 574. 

Entwicklungsgeschichte 541. 

Ephippiger 579. 

Epidendrum nocturnum 210. 

Erblichkeitslehre 560. 

Eueryptotermes 382. 

Eudendrium 38. 

Eugaster 579. 

Eumenes 30. 

Ewuphorbia Myrsinites 268. 

Exodermis 211. 221. 


Tiere und Ma- 


F. 


Fagus silvatica 414. 439. 
Falterstadium 151. 
Farbensinn der Bienen 39. 
Färbungstelegonie 46. 
Farbxenien 46. 


Alphabetisches Sachregister. 


Faunengebiet, afrikanisches 581. 
% amerikanisches 581. 
rn indoaustralisches 581. 
Wi paläarktisches 580. 
Fazettenaugen 246. 
Feldwirtschaft 64. 
Ferngeruchsvermögen 227. 
Fernorientierung 195. 225. 
x lokomotorische 195. 
spontane 195. 
Fische, Gleichgewichtssinn 472. 
„  Laichorte 540. 
„ Parasitismus 181. 
Fistellen 400. 
Fixierversuch 247. 
Fluktuation 312. 
n Entstehungsmechanismus 
der 321. 
n Erblichkeit der 321. 
Formica 117. 381. 
® exsecta 74. 
5 picea 65. 
„ rufa 35. 242. 561. 
Br rufibarbis ln 
re sanguinea 74. 242. 
trunciecola 121. 
Formosae 75. 
Fragaria lucida 411. 
Frasxinus excelsior 414. 
Fütterung von Blutegeln 385. 
Furchungstypus 546. 
Fußspurentheorie 234. 


6. 


Gadus aeglefinus 184. 

„ merlangus 182. 

„  morrhua 189. 

‚;  pollachius 189. 

virens 189. 
Galium mollugo 43. 
Galtonia candicans 413. 
Galvanotropismus 493. 
Gemmaria 38. 
Genitalapparat, weiblicher 61. 
Geophilus 580. 
Geotropismus 485. 
Geruchssinn der Ameisen 226 
‚ Kontakt- 226. 
Geruchsspur 231. 
(Geschlecht bei Mehrlinggeburten 506. 
» ‚ Vererbung und Bestimmung 
565. 

Gesichtssinn der Ameisen 227. 
Getreidekörner, Keimfähigkeit 8. 
Gewebelehre 541. 
Glechoma hederacea 411. 
Gleichgewichtssinn 472. 
Gobius ruthensparri 183. 
Goodyera 225. 
Großschmetterlinge 580. 


Alphabetisches Sachregister. 589 


Guarnierische Körperchen 339. 
Gymnadenia conopsea 42. 


H. 


Haftorgane 215. 

Halicine 263. 

Hämatopinus spinulosus 255. 
Hapaxanthische Arten 404. 


Harmonisch-äquipotentielle Systeme 545. 


Harpagoxenus sublaevis 74. 
Hefe, getötete 27. 

„ lebende 27. 
Heliotropismus 485. 
Hemimysis lamornae 488. 
Heracleum sphondylium 41. 
Herzhypertrophie 480. 
Heterotis 396. 
Heterozygoten 556 ff. 
Heuchera sanguinea 411. 
Hexenbesen 436. 

Hexenringe 446. 
Hippodamia convergens 579. 
Hirudo medieinalis L. 385. 
Hodotermes turkestaniceus 55. 
Hodotermitinae 382. 
Holzgewächse 413. 
Homophonie 199. 
Homozygoten 557. 
Hüllentelegonie 48. 
Hühnereier 46. 
Hybridform 115. 
Hydra viridis 376. 
Hydrocharis Morsus ranae 412. 
Hymenopteren, soziale 230. 
Hyperia 49%. 

% galba 182. 
Hypokotyl 214. 


I. 


Idioplasma 286. 

Individuum, heterozygotisch 556. 
55 homozygotisch 556. 

Infraluminöse Strahlen 191. 

Initialkörperchen 339. 

Insektenstaat 30. 333. 

Instinktautomatismus 197. 

Intersexualität 566. 

Isogene Einheit 555. 


J. 
Johannistriebbildung 429. 


K. 


Kaliumbioxalat 268. 
Katalytische Wirkungen 467. 
Keimfähigkeit 8. 161. 
Kinästhesie 193. 


Kinästhesie, aktive 193. 
3 ‚ passive 193. 
Knautia 42. 
Knospen, begrenzte 423, 
Knospenmutation 435. 
Konservieren 544. 
Kontaktgeruchssinn 195. 
Körnerfresser 269. 
Korrelationen 409. 
Kotyledon 214. 
Kryptogamenflora 256. 
Kultur von Paramaecien 375. 


Ot 


L. 


Lacerta faraglionensıs 
„»  Jüfolensis 77. 
> galloti SO. 
> llfordi 77. 

melissellensis 77. 

55 muralis coerulea 77. 


rn 
‘A 


nigra 80. 
y ocellata SU. 
e pater SD. 
R simonyi SO. 
” tangintana S0. 


ee vivipara 8. 
Laelio-Cattleya 216. 

Lasius 331. 

„  flavus 67. 

„  Fuliginosus 70. 236. 246. 
Lathyrus pratensis 41. 
Legerella parva 255. 
Leguminosen 275. 

Lejeunea 215. 
Leptomanus Aenocephali 255. 
Leptothorax 33. 

» acervorum 73. 

» muscorum 73. 
Leucotermes flavipes 383. 

1 indicola 383. 

5 lueifugus 383. 
Leucotermitinae 383. 
Lichtkompasstheorie 246. 
Lichtwirkung 571. 

Lilium auratum 413. 

Linne&on 560. 

Loelaps laevis 125. 

Lolium temulentum 21. 

Lokalisation, zentrale des Gleichgewichts- 
sinnes 472. 

Lotus corniculatus 42. 43. 

Luftwurzeln 209. 

Lycopodium 218. 

Lymantria dispar 569. 


M. 


Maja verrucosa 144. 
Makromere 548. 
Malaxis 225. 


590 Alphabetisches Sachregister. 


Malpighiella refringens 255. 
Massenorientierung 231. 
Mastotermes Frogg. 380. 


“ anglicus 380. 
35 Batheri 380. 
5 bournemouthensis 380. 
5 eroaticus 380. 


Mastotermitidae 381. 
Materialismus 109. 
Medusa aurita 185. 
Mehrlinggeburten 506. 
Melanismus 77. 
‘ Mendelismus 561. 
Mendels’che Kreuzung 115. 
55 Mischung 113. 
5 Spaltung 122. 
Mensch, Mehrlinggeburten 506. 
Menyanthus trifoliata 209. 
Mesotermitiden 382. 
Messor 115. 
„  barbarus 121. 562. 
„ barbarus minor 232. 
+ barbarus niger 121. 562. 
Metazoenentwicklung 574. 
Microstylis 225. 
Mikromere 549. 
Mikroskopie 400. 
Milchsaft 268. 
Mimikry 578. 
Mneme 205. 
Moehringia trinerva 404. 
Moina rectirostris 341. 
Monohybriden 127. 
Monomorium Pharaonis 12. 
Morphologie 541. 
Muschelkrebse 502. 
Mutation 305. 
5 Erblichkeit der 307. 
"N Wesen der 308. 
Myrmica laevinodis “0. 
n ruginodis 617. 
R scabrinodis 74. 
Mysideen 494. 


N. 


Nährgelatine 64. 
Nährsalzzufuhr 465. 
Nosema pulicis 255. 


®. 


Oberschlundganglion 229. 
Odina gemmifera 422. 
Oecophylla 380. 
Ökologie 330. 
Oenothera 161. 

T biennis 167. 

Cockerelli 168. 
H grandiflora 172. 
* Lamarckiana 162. 557. 


Oenothera rubricalyx 173. 
e rubrinervis 557. 
% suaveolens 168. 
syrtiecola 167. 
Ontogenetische Entwicklung 34. 
Orchideenluftwurzeln 209. 
Organe, statische 228. 
Orientierung 190 ff. 225 ff. 
R dynamisch-proprizeptive 
193: 
neurostatische 193. 
plasmostatische 193. 
Orientierung, virtuelle 203. 
Orientierungsreflexe, exterozeptive 195. 
Orchis maculata 42. 
Osmia 30. 


2 


Palaemon 490. 

Palpares angustus 579. 
libelluloides 579. 

Pamphagus 579. 

Paramaecien 375. 486. 

Paramaecium Bursaria 375. 

Parasitismus von Jungfischen 181. 

Parthenogenesis 332. 

Penieillium variabile 446. 

Periodizität des Wachstums 406. 


en der äußeren Lebensbedin- 


gungen 406. 
Pferde, rechnende 153. 
Pflanzenanatomie 398. 
Pflanzengeographie 330. 
Pflanzenschutzmittel 257. 
Phänotypus 296. 
Phalaenopsis 210. 


er amabilis 211. 
® Lüddemanniana 211. 
rosea 219. 


Schilleriana 211. 
Pheidole absurda 254. 

5 pallidula 254. 

5 symbiotica 259. 
Pheidologethon 381. 
Phylloxera 64. 

Phylogenie 35. 

Physalia 187. 

Physik 543. 

Pikrinsäure 268. 
Pilzhutförmige Körper 229. 
Pithecolobium Saman 427. 
Plagiolepis 381. 

Plantago media 42. 
Plasma, lebendes und totes 27. 
Plastizität 197. 
Pleurococeus 377. 

Pluteus 550. 
Pneumoniebazillus 293. 
Pogonomyrmex 117. 
Polarisationslehre 233. 


Alphabetisches Sachregister. 


Polydesmus 580. 
Polyergus rufescens \\. 
Polypterus 396. 
Porotermes-Arten 382. 
Prenolepis longicornis 383. 
Probierbewegungen 486. 
Prosopıs 30. 
Protein 26 ft. 
Protermitiden 382. 
Protoblattoidea 381. 
Protokorm 217. 
Protoplasmaprotein 26. 27. 
Protozoenstudien 337. 
Prunella grandiflora 43. 
® major 42. 
Pulsierendes Gefäß 143. 
Puppenstadium 151. 
Purkinje-Phänomen 4. 
Pyramicus flavus 119. 
Python retieulatus 579. 


Q. 


Quercus-Arten 414. 
Quercus peduneulata argenteo-margt- 
nata 430. 
= sessiliflora 439. 


Rana 36. 

Ranunculus 42. 

Rassenkreuzungen 58. 
Rattentrypanosomen 254. 
Raumempfindung, olfaktorische 195. 
Raumorientierung 192. 249. 

„ propriozeptive 192. 
Reflexbogen 499. 
Regulation, primäre 551. 

Reine Linie 555. 

Reinzucht 59. 

Reiz, progressiv wirkender 295. 

„ retrogressiv wirkender 294. 
Reseda odorata 404. 
Resektionsversuche 16. 

Rheotropismus 37. 

Rhinantus major 41. 

Rhizostoma 185. 

Rhythmus im Wachstum der Pflanzen 401. 

A nesunlerecheidung, olfaktorische 
38. 

Richtungszeichen, kinästhetische 251. 

Ricinus communis 404. 

Rindengrau 229. 

Roggen 16. 19. 

Rosskastanie 417. 

Rückschläge (Atavismen) 152. 

Rufa-truneicola-Kolonie 113. 

Rugitermes 382. 

Ruhe der Pflanzen 401. 

kumex acetosa 411. 


591 
S. 


Saga serrata 579. 
Salamandra 177. 
r caucasica 178. 
Es maculosa 178. 
Samen, Wasseraufnahme 161. 
7 Keimfähigkeit 8. 
Sammeln von Tieren 544. 
Sanguinea-Gäste 126. 

x -Nester 125. 
Saprolegnia mixta 403. 
Sarcanthus Parishii 210. 

5, rostratus 210. 
Schlafbewegungen der Blätter und Blüten 

444, 
Schleimpilze 403. 
Schnellkäfer Si. 
Schollen 540. 
Schutzmittel, chemische 265. 
Schwein, Mehrlinggeburten 506. 
Scolopendra cingulata 580. 
Sekrettheorie 128. 
Selbstdifferenzierung 450. 
Selbstregulation 450. 
Selektionstheorie 501. 
Silbernitrat und Keimfähigkeit 8. 
Sima 381. 
Sindora sumatrana 421. 
Sinn, topochemischer 195. 
Sinne, exterozeptive 194. 
Sommergerste 9. 16. 
Spezies 560, vgl. Artbegriff. 
Spezifische Fähigkeiten 407. 
Sphaerechinus 546. 
Sphagnum-Moos 74. 
Spiraea ulmaria 42. 
Sprungkäfer 85. 
Sprungorgan 85. 
Squilla 491. 
Statocysten 485. 
Stellaria media 404. 
Sterculia macrophylla 426. 
Stolotermes 382. 
Sturmia 225. 
Stylonychien 486. 
Symbiose, soziale 207. 
Syntermes 384. 
Syringa vulgaris 419. 


m, 


Tachygines asynamorus 579. 
Taeniophyllum 210. 
» philippinense 215. 
> Zollingeri 213. 
Tannin 267. 
Taraxacum 274. 
Telegonie 59. 
Temperaturversuche mit Schmetterlingen 
145. 


592 Alphabetisches Sachregister. 


Terminalia catappa 424. 
Termitenstudien 379. 
Termopsinen-Fauna 382. 
Theobroma cacao 425. 
Theorie der lokalen Wirkungen 483. 
Thermotropismus 485. 
Tierbilder 397. 
Tierfraß 257. 
Tierleben 395. 577. 
Tılia mandschurica 439. 
Tragopogon pratensis 41. 
Trifolium incarnatum 42. 

5 pratense 41. 

a repens 41. 
Trihybriden 127. 
Troides paradiseus 579. 
Tropismentheorie 481. 
Truncicola-pratensis-Kolonie 562. 
Trypanosoma Lewisi 255. 
Tubularia 38. 478. 


U. 


Umbelliferen 274. 
Umstimmung, patrokline 61. 
Uniformitätsgesetze 115. 


V. 


Vanda 217. 
Variabilität 285. 
Vegetationspunkte 428. 
Velamen 209. 


Verdauungsversuche an Blutegeln 385. 


Vererbung 285. 
: ‚d. Geschlechts 565. 


Vererbungslehre, experimentelle 542. 
„ , Mendel’s 583. 

Versuch, mnemischer 236. 

Vicia cracca 41. 42. 

Vitalismus 393. 545. 


Ww. 


Wachstum der Pflanzen 401. 

Wasseraufnahme der Samen 161. 

Weichfresser 269. 

Weiselersatz 252. 

Weizen 9. 16. 

Widerstandsfähigkeit als Membranfunk- 
tion 14. 

Wurzelhaare 215. 


x. 


Xenienreaktion 47. 
2 extraovale 47. 
se intraovale 47. 
Xeniodochie 50. 
Xylocopa 30. 


2. 


Zamenis gemonensis 79. 
Zellen und Entwicklung 574. 
Zelleneiweiß 25. 

Zellenlehre 541. 
Zielbewegungen, spontane 195. 
Zitronensäure 267. 
Zwangslaufexperiment 249. 
Zwillinggeburten 510. 

















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