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Biologisches Centralblatt.
1915.
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jologisches Gentralblatt,
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Prof. der Botanik Prof. der Zoologie
in München.
EBünfunddreissigster Band.
IgI5.
Mit 38 Abbildungen, 3 Tafeln und 7 Tabellen.
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Leipzig 1915.
Verlag von Georg Thieme,
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K. B. Hof- und Univ.-Bnehäruckerei von Junge & Sohn in Erlangen,
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TE RENATE
Inhaltsübersicht
des
fünfunddreissigsten Bandes.
O0 = Original; R = Referat.
Seite
Abderhaldeu, Emil. Abwehrfermente R. \ od 131
— Lehrbuch der Physiologischen Chemie in en R. 3 582
Abgabe von Nährgelatine durch die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene
in Berlin-Dahlem DER 64
Bateson, W. Mendel’s Vererhangstheokien) Tema ; 583
Baur, E. Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. R EN DAR
Bönner, W., 8. J. Die Überwinterung von Formica picea und andere bio-
hoßische Beobachtungen. O. Ga 65
Bokorny, Th. Bindung von Sana alicch da Zelleneiveiß, Ö. 25
Brehm’s Tierleben. R 395
— Tierbilder. RB. 397
— Tierleben. R . NEE SB LE re RAR EN ra rar
Brun, Rudolf. Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund
experimenteller Forschung bei den Ameisen. O0 . . .. ........190. 225
Buddenbrock, W. v. Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. O 481
Buttel- Rechen! H. v. Leben und Wesen der Bieuen. R ausol
Dahl, F. Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen Sammeln und zum Kenk
servieren von Tieren. R. . RE 5 IE N DAA
Driesch, Hans. Gibt es harmonisch- äguipotetile Systemen Eine Er-
widerung. O. . 545
Duncker, Georg. Die alle ir Beh kombinalionen
bei Mehrlinggeburten des Menschen und des Schweins. O. 06
Emery, ©. Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen
Mitteln ersetzen? O MR, Ra ER EN MT 252
Fischer, E. Berichtigungen zu ©. Piiöchnews analytischer Methode bei
den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. O 145
Fruwirth, ©. Die Pflanzen der Feldwirtschaft. R. DER ERTRRH ENG):
Goebel, K. Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluft-
wurzeln? R 209
?
IT
VI Inhaltsübersicht.
Goldschmidt, Richard. Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur
Vererbung und Bestimmung des Geschlechts. O R
Grandori, Remo. Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla ilogera delle
Vvite., Bi... 205, Vene ee SU Ne 0.
Grunewald, Marta. Über Veränderung der Eibildung bei Moina reeti-
rostris. OÖ. u SL IE Se en. 206
Heikertinger, Franz. Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutz-
mitteln gegen Tierfraß und ihre Lösung . O
Hinneberg, Paul. Die Kultur der Gegenwart, As ale) nl 1
Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie. R
— Die Kultur der Gegenwart. Zellen- und Gewebelchr, Morphalasıs id
Entwicklungsgeschichte R . ur: s TEE
Jollos, V. Stanislaus v. Prowazek +. O. 8
Kohlbrugge, J. H. F. War Darwin ein tnelles Genie? 0)
Kranichfeld, Hermann. Zum Farbensinn der Bienen. O
Lakon, Georg. Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Enhe
bei den Ba Ö : 5 :
Lehmann, Ernst. Art, Reine Linie, Tsogene Binheib, 0)
Lindau, G. Kryptogamenflora für Anfänger. R.
Löhner, Leopold. Über künstliche Fütterung und Verdunungszersuche
mit Blutegeln. O a u
Mayer, P. (Jena). Einführung in die Mikrosdhrel Rn
Mertens, Robert. Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Tactia
a -Gruppe. O e BEN
Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Pre ai Meteorölsgiet R
Nachtsheim, Hans. Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? O
Natzmer, @. v. Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insekten-
BIABLEn- ER Fe Rn TE LE ee ee AR RC ET ge
Nöller, Wilhelm. Die Übertragungsweise der ee R
Palladin, W. J. Pflanzenanatomie. R Ser:
Polimanti, Osv. Sul Reotropismo nelle Larve dei Ba (Bufo: © Baia 0
— Physiologische Untersuchungen über das pulsierende Gefäß von Bombyx
mori L. © ; es :
Prat, S. Einige neuere - > die Wirkans des on auf di
lebenden Organismen. R Ara urn
Pringsheim, Ernst G. Die Kultur von Panama, Burkdiın 10)
Prochnow,Oskar. Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 0
Reichard, Adolf ©. Die deutschen Versuche mit gezeichneten Schollen. R
Reisinger, Ludwig. Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der
Fische O. ee ne et en.) nee REN FENgE:
Röder, Ferdinand. Über den Zusammenhang der Energien in der be-
lebten Natur. O 2 u Se rl A Ser ee:
Roux, Wilhelm. Die Selbstregulation ein charakteristisches und nicht not-
wendig vitalistisches Vermögen aller Lebewesen. R
Schaxel, Julius. Die Leistungen der Zelle bei der Entwicklung der Meta-
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ZOEN. ı le, ray. en ee RR I EN. .
Scheuring, Ludwig. Beobachtungen über den En Pe
Jungfische, OA Dee fe ARTE En =
Schleiermacher, A. Über das Blitzen von Blüten. O 2. 3 20.“
Inhaltsübersicht.
Schneider, K. ©. Die rechnenden Pferde. ©.
Schroeder, H. Über die Einwirkung von Silbernitrat a: die Keimfshie-
keit von Getreidekörnern. 0)
Sedgwick, W.T. und Wilson, E. B. htalan: in its lien:
Biologie R BR a tee niet roh Re a AR
Seitz, Ad Die Großschmetterlinge der Erde. R
Sms Ji Indisch Natuuronderzoek R.
a een Erich. Über Vererbung und Variabilität B Bee 0
Tschermak, A. v. Über Verfärbung von Hühnereiern durch Pre
und über Keftidaner dieser Farbänderung. 0 ee
Vries, Hugo de. Über künstliche ae der Wesnmalne in
Samen durch Druck. ©.
Warming’s Laune der ökblomschen FPflanzengeokraphiß‘ R Me:
Wasmann,E., S.J. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. ö
— Das Geeischarklehen der Ameisen. Das Zusammenleben von Ameisen
verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Bei-
träge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen. R .
— Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. ER
— Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. ©. : 5 De
Werner, F. Einige Bemerkungen zu den Salamandra- renen von
Sederov und Kammerer. O . u
Zehnder, Ludwig. Der ewige Kreislauf de Weltalls. R
In schwerer Zeit.
Die Unterbrechung des Verkehrs mit dem Ausland sowie
der Umstand, dass viele unserer einheimischen Mitarbeiter
im Felde stehen, hat auch unser Blatt schwer betroffen. Die
wertvollen Beiträge, welche wir von Angehörigen anderer
Staaten erhielten und vieler einheimischer Mitarbeiter fallen
fort. Trotzdem halten wir es für unsere Pflicht, das Er-
scheinen des Blattes fortdauern zu lassen, solange es möglich
ist, als Zeugnis dafür, dass die schweren Lasten, welche der
Krieg uns auferlegt, die Fortführung der Kulturarbei' nicht
verhindern, da alle, denen dıe unmittelbare Teilnahme an den
Kämpfen versagt ist, doch ın der Friedenstätigkeit nicht er-
lahmen. Unsere geehrten Leser aber müssen wir bitten,
etwaige Störungen zu verzeihen. Hoffen wir, dass es über
kurz oder lang möglich sein wird, sich wieder mit voller Kraft
der Friedenstätigkeit zu widmen.
Die Herausgeber des Biologischen Centralblatts.
Wir Unterzeichneten erfüllen die traurige Pflicht, der
voranstehenden Mitteilung noch die weitere hinzuzufügen,
dass zwei Tage nach ihrer Niederschrift der hochverdiente
Begründer dieser Zeitschrift, Geheime Rat Prof. Dr. J. Rosen-
thal, am 2. Januar in Erlangen, dem Ort seiner lang-
jährigen akademischen Tätigkeit, sanft entschlafen ist. Eine
eingehende Darstellung seines Lebens und Wirkens muss
einer späteren Nummer des Biologischen Centralblattes
vorbehalten bleiben. Wir möchten aber jetzt schon zum
Ausdruck bringen, welche großen Verdienste sich der Ver-
storbene durch sein unermüdliches Interesse um das Ge-
deihen dieser Zeitschrift erworben hat und wie sehr wir
den Verlust unseres langjährigen Mitarbeiters beklagen.
Bis auf Weiteres hat der Sohn des Verstorbenen, Herr
Prof. Dr. W. Rosenthal (z. Zt. in Nürnberg, Reserve-Lazarett|)
die Vertretung seines Vaters übernommen.
Prof. K. Goebel. Prof. R. Hertwig.
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Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr.'R..Gocbel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wolien.
Bd. XXXY. 20. Januar 1915. 1.
Inhalt: Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. — Schroeder, Über die Einwirkung von
Silbernitrat auf die Keimfahigkeit von Getreidekörnern. — Bokorny, Bindung von Am-
moniak durch das Zelleneiweiß. — v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben
der Insektenstaaten. — Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana).
— Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. — Tschermak, Über Verfärbung von
Hühnereiern dureh Bastardierung und über Nachdauer dieser Faıb ınderung. — Fruliwirth,
Die Pflanzen der Feldwirtschaft. — Grandori, Risultati dei nuovi Studi Italiani sulla
Filossera della Vite. — Nährgelatine.
Über das Blitzen von Blüten.
Von A. Schleiermacher (Karlsruhe i./B.).
Vor kurzem hat Herr Professor Dr. F. Thomas (Öhrdruf ı./Th.)
eine Monographie über „Das Elisabeth Linne-Phänomen (sog. Blitzen
der Blüten) und seine Deutungen“ veröffentlicht!), worin meine
frühere Mitteilung über diese Erscheinung?) einer Kritik unterzogen
wird, der ich unmöglich zustimmen kann. Da ıch vergebens versucht
habe, Herrn Thomas über den Irrtum, ın dem er sich meiner
Meinung nach befindet, brieflich aufzuklären, sehe ich mich veran-
lasst, an dieser Stelle auf den Gegenstand, der ja in der botanischen
Literatur seit langer Zeit behandelt wird, einzugehen.
Linne’s Tochter Elisabeth beschrieb zuerst?) (1762) die Erschei-
nung, die sie in der Dämmerung an Blüten der indianischen Kresse
bemerkt hatte, aber so undeutlich, dass daraus nicht mit Sicherheit
entnommen werden kann, was eigentlich beobachtet wurde. Sie
sagt, dass die Blumen „blitzten“. Herr Thomas möchte das schwe-
1) G. Fischer, Jena 1914.
2) Bd. 20 d. Verh. d. Naturw. Vereins Karlsruhe 1908.
3) Die Literatur findet sich am vollständigsten in der Schrift von F. Thomas.
1*
4 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten.
dische „blicka“ lieber mit „blicken“ übersetzen, führt aber selbst
die triftigsten Zeugnisse an, wonach im 18. Jahrhundert die Be-
deutung des Wortes blicka ne von „Blitzen, Wetterleuchten“ war,
und so ist es auch von deutschen Übersetzern*) damals und später
verstanden worden. Herr Thomas vertritt nämlich die Meinung,
dass das El. Linne-Phänomen nichts anderes sei als das sogen.
Purkinje-Phänomen, mit dem blitzartigen Auftreten und Ver-
schwinden eines momentanen Nachbildes nichts zu tun habe und
darum nicht dureh Blitzen oder Wetterleuchten bezeichnet werden
könne.
Das Purkinje- Phänomen’) besteht darin, dass in der Dämmerung
(d. h. im gemischten Tages- und Dämmerungssehen) rote und orange-
farbene Gegenstände verhältnismäßig (zum reinen Tagessehen) dunkler
aussehen als blaue und grüne. Dazu kommt, dass das Phänomen
in der Fovea centralis (wo sich nur Zapfen befinden) fehlt. Be-
trachtet man also einige orangerote Papierstücke oder Blumen auf
grünem oder blauem Hintergrund, so erscheint das gerade fixierte
(dessen Bild also auf die Fovea fällt) heller und lebhafter rotgelb
gefärbt gegenüber den seitwärts der Blickrichtung liegenden, die
ım Vergleich zu dem relativ heller gesehenen Hintergrund dunkel-
braunrot erscheinen. Beim Wandern des Blickes von einem zum
andern roten Fleck erhellt sich der jetzt fixierte im Gegensatz zu
dem dunkler werdenden, der vorher fixiert wurde. So lange die
Blickrichtung unverändert bleibt, ändert sich auch nichts, der fixierte
Fleck bleibt hell, dıe übrigen dunkel. Dieses Phänomen, zu dessen
Beobachtung Herr Thomas seiner Abhandlung eine sehr geeignete
Tafel beigegeben hat, wird in der Tat niemand als Blitzen oder
Wetterleuchten bezeichnen wollen.
Ganz anders verhält es sich mit dem, was ich beobachtet, be-
schrieben und abgebildet habe®): ein weißliches, momentanes
Aufhellen seitwärts an einzelnen der Mohnblüten, das sich jedes-
mal zeigte, wenn man den Blick in 20—40 cm Höhe über den
etwa 2m entfernten Blüten rasch horizontal wandern ließ. Beim
dauernden Fixieren der einzelnen Blüte war durchaus nichts zu
bemerken. Ich konnte die gleiche Erscheinung etwas später an
einem orangeroten Papierfleck auf blauem Hintergrund in der
Dämmerung beobachten und mich von der Richtigkeit meiner ersten
Beobachtung überzeugen, freilich, da es unterdessen Winter ge-
worden war, unter ungünstigeren Beleuchtungsverhältnissen. In
den diesjährigen Sommermonaten habe ich die Versuche mit ge-
färbten Papieren immer mit dem gleichen Erfolg wiederholt und
ebenso viele andere Personen, junge und alte, geübte und ungeübte,
4) Kästner, Fürnrohr.
.) Vergl. v. Helmholtz, Handb. d. phys. Optik, 3. Aufl., Bd. 2, 8. 302.
)alsae:
1*
Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 5
Normal-, Weit- und Kurzsichtige wiederholen lassen. Jeder Zweifel
an der Richtigkeit der Beobachtung muss danach als ausgeschlossen
gelten. Einzelne Beobachter erklärten, dass sie die blitzartigen,
weißlichen Nachbilder seitwärts der roten Farbflecke gerade an
der Thomas’schen Farbtafel besonders lebhaft bemerkten.
Die beschriebene Erscheinung wird, worauf Herr Augenarzt
Dr. Spuler nach meinem Vortrag ım Naturwissenschaftlichen Verein
in Karlsruhe zuerst aufmerksam machte, nach der neueren Duph-
zıtätstheorie (v. Kries) als sekundäres Bild oder Ghost bezeichnet’)
und als primäre Erregung der farbenblinden Stäbchen, die etwa
!/, Sekunde später als die Erregung der Zapfen einsetzt, gedeutet.
Weil die Stäbchen ın der Fovea fehlen, kann dieses farblose (weiß-
liche) Nachbild nur peripherisch bemerkt werden, ganz in Überein-
stimmung mit dem, was ich bei den Blüten beobachtet hatte.
Es ıst hiermit wohl festgestellt, dass Herr Thomas und ich
zwei ganz verschiedene Phänomene beobachtet und beschrieben
haben. In der Tat sagt Herr Thomas „Der Kernpunkt meiner
Kritik bleibt: dass Schl.’s Deutung als Bedingung ein ausschließ-
lich peripheres Sehen im Momente des Aufleuchtens voraussetzt
und dass unter strikter Erfüllung dieser Bedingung weder
von mir noch von einem meiner Helfer die Erscheinung
gesehen wurde®). Wie es aber zugeht, dass Herr Thomas, der
doch die Vorschrift über meine Versuchsbedingungen in Händen
hatte und sich jahrelang mit solchen Beobachtungen beschäftigte,
selbst oder irgendeiner seiner Helfer („17 Personen, darunter zwei
Physiker und ein Arzt, die alle drei in exakten, subtilen Beobach-
tungen geübt und bewährt sind“)’) das sekundäre Bild niemals
beobachten konnten, ist mir geradezu rätselhaft. Ich habe Per-
sonen, die gar nicht wussten, welche Erscheinung zu erwarten war,
und die nur hinsichtlich der Augenbewegung unterrichtet waren,
beschreiben lassen, was sie bei dem Versuch sahen, und sie haben
das sekundäre Bild genau so beschrieben, wie ich es selbst sehe.
Ich könnte mir also nur denken, dass Herr Thomas das sekundäre
Bild nicht bemerkt, weil er das Auge nicht rasch genug bewegt
oder in schon zu weit fortgeschrittener Dämmerung beobachtet, wo
zwar sein Phänomen noch vollkommen deutlich ıst, das sekundäre
Bild aber schon zu schwach. Herr Dr. W. Trendelenburg,
Prof. der Physiologie in Innsbruck, schreibt mir: „Es ist kein
Zweifel, dass die Beobachtungen (über das sekundäre Bild) zutreffen.
Wenn sie in der freien Natur oder passend nachgemachten Be-
dingungen oft widerstritten werden, so dürfte das daran liegen,
dass diese Bedingungen im Einzelfall doch zu verschieden sind, ge-
7) Vergl. Helmholtz, Bd. 2, S. 369.
8) Thomas, S. 38.
9) Thomas, S. 33.
6 Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten.
wiss ist auch die Beobachtungsgabe, Übung und Sorgfalt sehr ver-
schieden.*
Bei dieser Sachlage möchte ich darauf verzichten, auf das ein-
zelne in der Kritik meiner Mitteilung einzugehen. Weil Herr
Thomas meint, ich hätte das gesehen oder sehen müssen, was er
beschreibt, nämlich das Purkinje-Phänomen, so ist von vornherein
klar, dass alles, was er heranzieht, um nachzuweisen, dass und wie
ich mich getäuscht haben könnte, schief und unzutreffend sein
muss. Ich bleibe auch der Meinung, dass die Übersetzer das schwe-
dische Blieka richtig mit Blitzen wiedergegeben haben, weil dies
das nur momentan erscheinende weißlich aufleuchtende sekundäre
Bild ganz richtig bezeichnet. Unter günstigen Umständen ist das
sekundäre Bild tatsächlich viel heller als der grüne oder blaue
Untergrund, den Glanz eines wirklichen Blitzes oder einer Bogen-
lampe darf man sich freilich nicht davon erwarten.
Für Leser, die Interesse an diesen Erscheinungen haben, möchte
ich noch einige Bemerkungen anschließen über die Bedingungen,
unter denen das sekundäre Bild am deutlichsten erscheint. Man
lege auf einen ultramarınblauen, nicht glänzenden Bogen Papier
(je größer, je besser) ein quadratisch oder beliebig geformtes Papier-
stück orangeroter Farbe von etwa 7 cm Seitenlänge (z. B. Filtrier-
papier, das in einer wäßrigen Lösung von Flavein mit Zusatz von
etwas Brillianterocein satt gefärbt ist) und beobachte in 1-2 m
Abstand, indem man den Blick (Fixierungsrichtung) am oberen
Rand des Bogens, d. h. etwa 20—40 cm oberhalb des roten Fleckes
rasch entlang bewegt. Wesentlich ıst der Dämmerungsgrad und
die Farbe der Dämmerung: klarer Himmel, etwa !/,—!/, Stunde
nach Sonnenuntergang, häufig auch noch später, jedoch bei einer
Helligkeit, bei der das Lesen noch ohne große Anstrengung mög-
lich ıst. Das sekundäre Bild erscheint dann im Sinn der Augen-
bewegung gegen den roten Fleck verschoben. Das weißliche Auf-
blitzen ist häufig schon bei den unwillkürlichen Augerbewegungen
in der Nachbarschaft des roten Fleckes oder auch am Rand des
blauen Papierbogens und auch bei nicht ganz klarem oder sogar
bedecktem Himmel zu bemerken. Rötliche Abenddämmerung ist
im Gegensatz zu dem, was Herr Thomas für sein Purkinje-Phä-
nomen bemerkt, ungünstig. Gerade eine „blaue“ Beleuchtung bei
möglichst reinem Himmel scheint mir für den Glanz der Erschei-
nung wesentlich zu sein. Dass diese günstigste Beleuchtung ın
unserer Breite verhältnismäßig selten vorkommt, halte ich für die
Ursache, weshalb das Blitzen von Blüten vor dem grünen Hinter-
grund von Blättern bisher so selten beobachtet wurde. Denn es liegt
sonst aus Deutschland nur eine Beobachtung aus dem Jahr 1799
von Goethe vor, die ebenfalls an perennierendem Mohn gemacht
wurde. Seine Beschreibung stimmt in allem wesentlichen mit der
Schleiermacher, Über das Blitzen von Blüten. 7
von mir gegebenen überein, ohne dass ich, wie Herr Thomas
will, von Goethe beeinflusst gewesen wäre, denn ich hatte die
Stelle der Farbenlehre erst nachträglich aufgefunden. Nur ist dort
die Farbe des sekundären Bildes nicht als weißlich, sondern als
die „geforderte“ (d. h. komplementär zu orange) oder in dem von
Herrn Thomas abgedruckten Brief an Schiller als „sehr hell-
grün“ bezeichnet. Dass das sekundäre Bild tatsächlich unter Um-
ständen schwach gefärbt erscheint, habe ich selbst an der Farbtafel
des Herrn Thomas bemerkt, indem es auf dem mehr graublauen
Grund einen bläulichen Ton annimmt. Es tritt also zu der farb-
losen Stäbchenerregung ein schwaches komplementär gefärbtes
Nachbild der Zapfen. Man bemerkt das Blitzen ja auch am deut-
lichsten auf einer Zone der Netzhaut, wo die Farben noch sehr
deutlich unterscheidbar sind, wo sich also noch reichlich Zapfen
vorfinden. Bei einer reinen Stäbchenempfindung sollten schwarze
Papierflecke ebensogut blitzen wie die stäbchendunklen roten, falls
sie nicht etwa mehr blaues Licht reflektieren als diese. Ich finde
jedoch die Erscheinung für schwarze Flecke schwächer als für die
mohnroten. Es ıst weiter auffallend, dass ein grüner Hintergrund
die Erscheinung soviel schwächer hervortreten lässt als ein blauer,
obwohl auch nach den neuesten Bestimmungen!) das Maximum
der Empfindlichkeit für die Stäbchen im Grün bei 515 uu liegt.
Seit der Beobachtung im Juni 1905 habe ich vor dem grünen
Hintergrund von Blättern an Mohnblüten das Blitzen niemals
wiedergesehen und an mohnfarbenen Papierstücken auch nur an-
deutungsweise auffinden können und ich kann diesen Misserfolg
nur dem Mangel einer günstigen Beleuchtung zuschreiben. In
höheren Breiten mit ihren „weißen Nächten“ scheint eine gün-
stige Beleuchtung und Adaption öfters einzutreten, z. B. konnte
Fries!!) das Blitzen während 1!/, Wochen beobachten. Leider hat
auch er nicht genau beschrieben, was beobachtet wurde, da er sich
aber auf die Goethe’sche Beschreibung bezieht und ein mit ıhm
Beobachtender voll Erstaunen ausrief: es blıtzt aus den Blumen,
muss man annehmen, dass es ebenfalls das sekundäre Bild war.
Sollte es einem der Leser, besonders solchen, die ın höheren
Breiten wohnen, gelingen, die Erscheinung vor dem grünen Hinter-
grund von Blättern wieder aufzufinden, so wäre es von Interesse,
alles festzustellen, was über die Farbe des Dämmerungslichtes An-
halt geben kann, also Grad der Abendröte, Reinheit des Himmels,
Reflex von Wolken, Aussehen farbiger Papiere im Vergleich mit
der Empfindung bei Tage.
10) OÖ. Lummer, Physikal. Zeitschr. Bd. XIV, S. 97. — 1913.
11) Flora, 1859, Nr. 11 und 12.
8 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete.
Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die
Keimfähigkeit von Getreidekörnern.
Von H. Schroeder.
Vor etwas über Jahresfrist hat V. Birckner!) in dieser Zeit-
schrift meine Angaben, dass Gerste nach 24stündiger Behandlung
mit 5% iger Silbernitratlösung normal keimen könne, in Zweifel
gezogen bezw. als unersichtlich bezeichnet. Ebenso hat derselbe
— indem er meine Arbeitsweise oberflächlich nennt — die ent-
sprechenden Ergebnisse meiner Versuche mit Weizen, wenn auch
nicht gerade direkt bestritten, so doch durch Benutzung von Worten
wie „angeblich“, „gibt an“ zum mindesten als fragwürdig hin-
gestellt.
Ich möchte dieser anmaßenden Kritik gegenüber mit neuen
Tatsachen aufwarten.
T.
Zuvor sei des mir gemachten Vorwurfes gedacht, dass es un-
zulässig sei, aus Versuchen mit 11 Individuen Keimungsprozente
zu berechnen?). Dessen war ich mir natürlich jederzeit bewusst
und habe eben darum bei allen Versuchen mit geringer
Individuenzahl die absoluten Werte zugefügt. Die Prozent-
zahlen sollten lediglich bequeme Vergleichsdaten liefern. Vielleicht
wäre es, um dies schärfer hervorzuheben, zweckmäßiger gewesen,
auf eine andere Zahl zu beziehen als gerade auf 100. Übrigens
stützte ich mich, um die Widerstandsfähigkeit gegen die Silber-
lösung zu erweisen, nicht nur auf diesen einen von Birckner be-
mängelten Versuch, sondern es lag noch eine ganze Anzahl weiterer
vor, die auch zum Teil in meiner Arbeit mitgeteilt sind?).
Die Beschränkung in der Individuenzahl war für mich in
manchen Fällen schlechtweg eine Notwendigkeit. Nämlich dann,
wenn es darauf ankam, den Erfolg des Sterilisationsverfahrens für
jedes einzelne Korn separatim zu prüfen. Das verlangte zur Ver-
meidung einer nachträglichen Infektion beim Auswaschen, Nach-
quellen und Versetzen in die Nährbouillon, zumal bei den für der-
artige Arbeiten damals recht unzulänglichen Einrichtungen des
Bonner botanischen Institutes, umständliche Manipulationen, die
sich nur in kleinem Umfange durchführen ließen. Außerdem richten
sich aber die Anforderungen an die Individuenzahl nach der Höhe
der Ausschläge. Wenn z. B. von 24 Körnern nach 18 Stunden
1) Band 33 (1913), S. 181, speziell S. 188, 189. Die angegriffene Arbeit:
Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 492, im folgenden
einfach zitiert als: Schroeder.
2) Der ganze Versuch umfasste übrigens immerhin 27 Individuen. Schroeder:
S. 502.
3) Schroeder: S. 494, 503.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 9
Behandlung mit 0,2 oder 0,7%, HgCl, nicht ein einziges keimt, nach
24 Stunden 5%, AgNO, hingegen von der gleichen Anzahl volle
20 Stück), so genügen diese Zahlen, um die Tatsache einer Ver-
schiedenheit in der Wirkung beider Salze und die relative Harm-
losigkeit des Silbernitrates zu erweisen.
Il.
Was zunächst die Frage nach der Möglichkeit einer nor-
malen Entwickelung der Keimpflanzen nach 24stündiger
Weiche in 5% Silbernitrat anbelangt, so habe ich im vorigen
Sommer meine Versuche mit rotem Schlanstedter Sommer-
weizen, mit Hannagerste und mit nackter oder Edelgerste°)
wiederholt. Der Gang der Behandlung war folgender:
18 oder 24 Std. 5%, AgNO, (eine Serie hell, eine dunkel).
3t1/, Std. 5%, NaCl (einmal erneuert).
4 Std. 0,5% NaCl.
Wasser so lange, dass eine Gesamtweichdauer von 52 Stunden
resultierte.
Die Nachbehandlung wurde gleichfalls in verschiedenen Serien
— hell neben dunkel — durchgeführt, derart, dass die am längsten
dunkel gehaltenen selbst die ersten Keimungsstadien bei Licht-
abschluss durchliefen, während andere nach beendigter Weiche,
andere nach Abschluss der NaCl-Wirkung ins Helle verbracht
wurden. Da diese ungleiche Behandlung Verschiedenheiten nicht
bewirkte, gehe ich nicht weiter darauf ein.
Es entwickelte sich danach von jeder Probe ein größerer oder
geringerer Prozentsatz — davon gleich — völlig normal. Ganz be-
sonders deutlich lässt sich dies beim Weizen erkennen, da bei
diesem die drei ersten schon im Ruhezustand ziemlich weit ausge-
bildeten Würzelchen namentlich bei Bauchlage des Kornes regel-
mäßig übers Kreuz gestellt vorbrechen und ihnen danach seitlich
zwei weitere folgen‘°),. Schädigungen, wie solche in später zu be-
sprechenden Versuchen an Samen mit entblößtem Embryo regel-
mäßig auftreten, dokumentieren sich sofort durch Verringerung der
Wurzelzahl, die bis zum gänzlichen Fehlen sich steigern kann,
Kurzbleiben von einem oder mehreren der Würzelchen oder ge-
ringer Länge der Coleoptile. Die von mir als normal keimend be-
zeichneten Körner zeigten von alledem nichts, auch brach in der
Folge die Plumula in typischer Weise durch. War dies geschehen,
so wurden, wie schon früher’), Stichproben von je 10 Keimlingen
4) Schroeder: S. 494.
5) Sämtlich von Haage u. Schmidt, Erfurt.
6) Vergl. Körnicke in Körnicke-Werner: Handbuch des Getreidebaues,
Bd. Inse2s:
7) Schroeder: S. 504 (damals Sägemehl; diesmal Gartenerde + Sand).
10 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete.
in Töpfe verpflanzt und diesmal sogar bis zur Blühreife beob-
achtet. Alle 50 derart gezogene Pflanzen entwickelten sich gut
weiter und kamen ohne jeden Ausfall zur Blüte. Beistehend Repro-
duktionen einiger der Töpfe mit blühenden Versuchspflanzen nach
Photographien, für deren Herstellung ich Herrn Dr. Harder ver-
pflichtet bin. Das wird genügen, um die Möglichkeit einer normalen,
d. h. ohne Regeneration verlorener Teile verlaufenden, Entwicke-
lung nach 24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat zu erweisen.
Ill.
In den Keimprozenten hatte ich in diesen Versuchen zum
Teil einen erheblichen Ausfall. Denn es keimten vom Sommer-
weizen, und zwar in allen Serien etwa gleichmäßig®) nur 37—56 %,,
von der Hannagerste 65— 82% und von der nackten Gerste etwa
25—40%,. Da nun ohne Sılbernitrat caeteris parıbus die Keimfähig-
keit für Weizen 99—100%, für Hannagerste nach 48 Std. Weiche
38—50%, nach 72 Std. Weiche 84%, und für nackte Gerste 79—89,
betrug, so war nur für dıe Hannagerste eine dem normalen Wert
entsprechende Keimungszahl erreicht, während Weizen und nackte
Gerste rund 50%, Ausfall ergaben.
Um zuverlässig unversehrten und gut ausgereiften Weizen zu
erhalten, setzte ich meine Versuche bis zur Ernte 1913 aus und
besorgte mir dann im August Weizenähren direkt vom Felde°), die
ich als solche aufbewahrte und aus denen ich mir die Einzelkörner
zu den Versuchen jeweils herauslöste. Mit diesen musste ich
bis Anfang Dezember warten, da vordem nur vereinzelte Körner
keimten. Dann erst war die Nachreife beendet und es keimten
von den Kontrollen durchgängig 99—100%. Genau der
gleiche Prozentsatz entwickelte sich aber auch nach
24stündiger Weiche in 5%, Silbernitrat und entsprechen-
der Nachbehandlung, wie folgender Versuch lehrt:
Serie A. 24 Std. 5%, AgNO, geheiztes Zimmer,
B. 24 „ 5% AgNO, ungeheiztes Zimmer,
GIER wie Al
D.4187 Es liwie B;
Mit der Nachbehandlung war ich ın diesen Versuchen über-
trieben!®) vorsichtig und ließ 6 Std. in 2%, 18 Std. in 0,2%, 24 Std.
in ganz verdünntem Na0l, und zwar all dies im kühlen Raum.
Zum Schluss weichte ich noch 24 Std. in Wasser im warmen Zimmer
nach. Es keimten:
8) Siehe vorstehend: 8. 9.
9) In Laubenheim bei Mainz.
10) „Übertrieben“‘, weil das gleiche Resultat, 100% Keimlinge, auch bei ein-
facherer Nachbehandlung erzielt werden konnte. Es genügte nach dem Silber zwei-
maliges kurzes Abspülen mit Wasser, gefolgt von:
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 11
Nach 2 Tagen Nach 3 Tagen Nach 7 Tagen
Serie A. 92 98 100%,
B. 97 98 100%,
©. 93 97 99%,
D. 56 98 Yan;
oder da jeweils 100 Stück benutzt wurden, von 400 nicht weniger
wie 398, d. h. 99,5%. Von den beiden nicht gekeimten war über-
dies das eine am Embryo deutlich verletzt.
Die Entwickelung wurde — wie immer — bis zum Durchbruch
der Plumula verfolgt und ergab keinerlei Abweichung von den un-
behandelten Körnern.
Ich konnte aber die Einwirkungsdauer des Silbernitrates auf
volle 72 Stunden ausdehnen, ohne die Keimfähigkeit zu vernichten.
50 Körner, die im Warmen 72 Std. mit 5% Sılbernitrat be-
handelt waren, keimten sämtlich, und von 50, dıe im Kühlen dem
gleichen Verfahren unterworfen wurden, 48. Allerdings entwickelten
sich in diesen Versuchen nicht mehr alle Keimlinge normal, denn
bei 3—4 von jeder Serie verkrümmte die Coleoptile in eigentüm-
licher Weise !!), bei den übrigen zeigte sich bis zum Durchbruch der
Plumula keine Abweichung vom Typus.
Nehme ich meine Versuche zusammen, so ergeben sie bei 685
Weizenkörnern, die 24 Std. mit 5%, Silbernitrat behandelt wurden,
681 oder 99,4%, normaler Keimpflanzen.
In Übereinstimmung damit keimten je 100 Körner, nach 24 Std.
Quellung in !/,, oder !/,.o Normalsilbernitrat, sämtlich ohne jede
Spur einer Schädigung.
Aber auch eine höhere Silbernitratkonzentration, nämlich 10°,
wurde 17 Std. lang ohne Schädigung ertragen. Denn aus 100 derart
behandelten Körnern erwachsen ebensoviele normale Keimpflanzen '?).
IV.
Dass es sich bei dieser Resistenz um eine Schutzwirkung, aus-
geübt von einer selektiv-permeablen Hülle, handle, hatte ich seiner-
zeit u. a. daraus erschlossen, dass Körner mit entblößtem Em-
bryo schon bei einer kürzeren (14 Std.) Sılbernitratbehandlung
3 Std. 2% NaCl, dann Wasserweiche oder
24 Std. 0,2% NaCl, danach Wasserweiche oder
48 Std. ca. 0,02% NaÜl, gefolgt von sofortigem Auslegen ins Keimbett.
Jede dieser drei Serien umfasste 50 Körner, die sich ausnahmslos normal ent-
wickelten und das bis zum Durchbruch der Plumula durch die in üblicher Länge
ausgebildete Coleoptile.
11) Siehe im folgenden: S. 12 und 20.
12) Behandlung: 17 Std. 10% AgNO,; 6 Std. ca. 31),% NaCl;
18 Std. 0,2% NaCl; 8 Std. Wasser.
Von 100 Körnern nach 48 Std. Keimbett gekeimt 100.
42 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
ausnahmslos zugrunde gingen‘). Hier das ausführlich mitgeteilte
Resultat der Wiederholungsversuche, bei denen ich mir die Arbeit
insofern erleichterte, als ich nicht mehr den Embryo in seiner
ganzen Ausdehnung freilegte, sondern mich damit begnügte, durch
vorsichtiges Anritzen mit einer Nadel die Kontinuität der Hüllen
über demselben zu unterbrechen. Das Ergebnis war eine volle Be-
stätigung meiner früheren Versuche. Denn von je 25 derart ver-
letzter Samen keimte nach 24 Std. in 5%, AgNO, nicht einer.
Ebensowenig trat bei den auf diese Weise angeritzten Körnern
Keimung ein, wenn die Konzentration der Silberlösung auf !/,,, Nor-
mal, also etwa !/,, des obigen Wertes herabgesetzt wurde.
Die ın gleicher Weise wie oben (S. 10) durchgeführte Nach-
behandlung war auch bei entblößtem Embryo ohne schädigende
Wirkung. So entwickelten sich von 25 angeritzten Körnern nach
6 Std. 2%, 18 Std. 0,2%, 24 Std. 0,02%, NaCl und 24 Std. Wasser
24 normal und eines verkrüppelte. In einem entsprechenden Ver-
such, in dem auch noch das 2%, NaCl wegblieb, sonst in gleicher
Weise verfahren wurde, keimten alle normal. Oder mit anderen
Worten, die Nachbehandlung ergab quantitativ und qualitativ das-
selbe wie die Kontrollen, womit zugleich die Harmlosigkeit der
Schalenverletzung an sich dargetan ıst, was außerdem noch in
einem besonderen Versuche erwiesen wurde.
Wurde bei den, wie angegeben, verwundeten Körnern die Dauer
der Silberwirkung herabgesetzt, so ergab sich bei den wenigen von
mir in dieser Richtung angestellten Versuchen das vorauszusehende
Resultat, dass die Schädigung mit Abnahme der Wirkungszeit wie
der Konzentration zurückging.
Körner mit über dem Embryo verletzter Schale:
5% AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimt nicht einer.
!/\oo Normal-AgNO,, 4 Std.: Von 20 Samen keimen 9.
Aber von diesen entwickeln 4 nur 2 Würzelchen, worunter eines
außerdem ohne Blattkeim, und 3 nur je 1 Würzelchen, wobei aber-
mals 1 ohne Blattkeim. Die beiden anderen bildeten zunächst
überhaupt keine Wurzeln aus, sondern schoben nur den Blattkeim
vor. Durchgängig war ferner die Coleoptile sitzen geblieben, so
dass der Blattkeim meist nur aus der verkrümmten Plumula be-
stand. Kurz von allen 9 oben als keimend bezeichneten Körnern
war nicht eines normal. Von den übrigen spitzten, d. h. blieben
auf den allerersten Stadien der Keimung stehen 3, während 5 über-
haupt kein Anzeichen von Entwickelung verrieten. Selbst nach
2stündiger Einwirkung von !/,.o Normalsilbernitrat, auf den unge-
schützten Embryo war eine Schädigung durchweg erkennbar, wenn
13) Schroeder: S. 494. Bezüglich der anderen Gründe siehe im folgenden:
S. 23 und 24.
{4 Schroeder, Über die Einwirkung von S$ilbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
auch weniger ausgesprochen als ın den eben besprochenen Ver-
suchen mit 4 Std. Behandlung.
Aber nicht jede Schalenverletzung oder jede Verletzung über-
haupt bewirkt bei ca. 24 Std. Berührung mit 5%, AgNO, Verlust
der Keimfähigkeit. Diesen Effekt haben lediglich Wunden un-
mittelbar am Embryo oder doch nur in solcher Entfernung von
demselben, dass das durch Ausfällung und Adsorption wohl gegen
das Wasser zurückbleibende Sıilbernitrat in der gewählten Einwir-
kungszeit bis zu ıhm zu diffundieren vermag. Denn als ich bei je
25 Körnern die äußerste Spitze bis zum makroskopisch erkennbaren
Bloßlegen des Stärkeendosperms glatt abschnitt und sie dann für
24 Std. ın 5%, oder in !/,., Normal-AgNO, einbrachte, danach wie oben
mit NaCl und Wasser bearbeitete, keimten von der !/,., Normal-
serie alle 25, von der 5%,-Serie 21, während 3 der letzteren auf-
fallend ın der Entwickelung zurückblieben und eines überhaupt nicht
keimte. Schnitte lehrten, dass die am Lichte sich schwärzende
Chlorsilberzone, wenn typische Keimung eintrat, nicht bis zum Seu-
tellum reichte, zuweilen allerdings erst unmittelbar davor endete.
Bei den nur gespitzten oder nach eingetretener Keimung bald ab-
sterbenden Körnern war die Silberlösung bis in die Spitze des
Scutellums vorgedrungen!*). Prinzipiell ebenso verhielten sich
Körner, die vor der Ag-Weiche durch einen Nadelstich am Rücken
verletzt waren. In anderen Versuchen resultierte etwas mehr Aus-
fall, das ıst verständlich und es ıst wertlos, hier nach bestimmten
Keimungsprozenten zu streben. Die Größe der Wunde, der variable
Abstand Embryo, Wunde, dıe Temperatur mit ıhrer Beeinflussung
der Diffusionsgeschwindigkeit, geben genügende Gründe für schwan-
kende Resultate.
Als Fazit aus diesen Versuchen mit dem selbstgeernteten
Weizen ergibt sich demnach, dass: Die Keimfähigkeit beim
unversehrten Material — wie es ohne Auslese beim Isolieren
von der Spindel vorlag — durch 24stündige Behandlung mit
5% Sıilbernitratlösung in keiner Weise .alteriert wurde,
sondern es resultierte danach der gleiche Prozentsatz
normal entwickelter Keimpflanzen wie bei den Kon-
trollen. Gegenversuche an Körnern mit entblößtem Embryo lehren,
dass diese Widerstandsfähigkeit als Membranfunktion an-
zusprechen sei.
Oder mit anderen Worten genau das, was ich in der ange-
griffenen Arbeit auf Grund meiner damaligen Befunde behauptet
hatte.
14) Als gespitzt bezeichne ich Körner, bei denen der Keimling eben die Schale
durchbrochen hat.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 15
M.
Ich habe mich bisher auf Weizen beschränkt, weıl mir dieser
das Hauptobjekt meiner früheren Arbeiten!’) besonders nahe lag
und weil gerade dieser, wie oben ausgeführt, jede Schädigung be-
sonders deutlich erkennen ließ.
Die gleichen Resultate erzielte ich mit Roggen (Ernte 1913
aus hiesiger, Kieler Gegend). Auch dieser stand mir, dank der
freundlichen Vermittlung von Herrn Dr. Blohm, ungedroschen zur
Verfügung und wurde durch mich von der Spindel gelöst.
Versuch 1. Je 50 Körner. (Vorversuch.)
Behandlung: A. 22 Std. 5%, AgNO,; 7, Std. 2% NaCl; 16 Std.
0,2%, NaCl.
26 Std. Wasser.
Gesamtweiche: 71!/, St.
B. Kontrolle 50 Std. ın Wasser.
Gekeimt nach Tagen: 4 | Be | 12 | 20 | Ungekeimt
a eo tn en Aal ae 1
Bee“ Le 312
Versuch 2. Je 100 Körner.
Behandlung: r. 21Std. 5%, AgNO,; 5%, Std. 2%, NaCl; 17:), Std.
0,2% NaCl.
24 Std. Wasser.
Gesamtweiche: 71 Std.
B. Kontrolle 65 Std. ın Wasser.
Gekeimt nach Tagen: 2 | el) Ungekeimt
I
Au mil 96 , 96 (ferner 1 nur gespitzt) | 3
B.| 44 | 72 | 96 (ferner 2 gespitzt) 2
Die Plumula hatte die Coleoptile durchbrochen:
Nach Tagen: ZUR ROSE | )
Bei A in | 70 Da nen
Bei B in | 57 I 77 ESG AB
\
Diese 91 Keimpflanzen hatten sich trotz der Silberbehandlung
in typischer Weise entwickelt!®). Zu ihnen kommen noch 5, denen
15) Vergl. außer der mehrfach zitierten Arbeit auch: Flora 102 (1911), 8. 186.
16) Vielleicht waren die, übrigens sonst gut ausgebildeten, Wurzelhaare bei
den mit. Silber behandelten Pflanzen nicht ganz so zahlreich als bei den Kontrollen.
Doch bin ich dem nicht weiter nachgegangen, so dass auch andere Ursachen als die
Silberbehandlung wirksam gewesen sein können.
16 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
der Durchbruch durch die Schale Schwierigkeiten bereitete. Von
4 derselben wurden diese überwunden, während 1 mit seiner aus
der Coleoptile hervorgestreckten Plumula innerhalb des breiigen
Endosperms in mannigfacher Weise hin- und hergewachsen war.
Bei den 4 schließlich — natürlich ohne mein Zutun — befreiten
brach ebenso die Plumula aus der mehr oder weniger verkrümmten
Coleoptile durch und 2 derselben waren in der Lage, zu typischen
Keimlingen auszuwachsen. Die beiden anderen hingegen blieben
verkrüppelt, besonders behielt die Spitze des ersten Laubblattes
eine Einkrümmung neben einer anormalen Verdickung. Bezüglich
der möglichen Gründe für diese bei den Kontrollen nicht oder sehr
viel seltener beobachteten Anomalie verweise ich auf das Folgende !”).
Zunächst dürfen wir sie außer acht lassen, denn selbst, wenn man
die fraglichen 5 und ebenso die bloß gespitzten Körner weglässt,
resultieren im Silbernitratversuch 91 normale Keimlinge gegen 96
in der Kontrolle oder 95%, des normalen Wertes. Andernfalls er-
hält man die Keimziffer der unbehandelten Proben.
Die Resektionsversuche verliefen beim Roggen genau
wie beim Weizen, wie folgende Zusammenstellung zeigt:
Behandlung: Je 20 Körner.
A. Schale über Embryo durchgerissen.
B. Spitze des Kornes weggeschnitten.
'. Im oberen Drittel durch einen Nadelstich in der
Flanke verletzt.
D. Unverletzte Kontrolle.
AD: 18 Sid. 5%, AgNO,, 51], Std. 2% Na@C]; 172], Std.
0,2% Na0l; 24 Std. Wasser, Gesamtweiche 65 Std.
E. Schale über Embryo durchrissen; nicht mit AgNO,
behandelt, sonst wie oben; also 5!/, Std. 2%,
NaCl u. s. w.; Gesamtweiche 47 Std.
Nach 8 Tagen: A. | B, | Sl | E.
Gekeimt 0 1622) | 18 '5)
Nicht gekeimt | 20 Lv 2,2 ne
Also wie beim Weizen tötet die Silberbehandlung (5%; 18 Std.)
die Körner mit entblößtem Embryo ausnahmslos, nicht aber die ın
gewisser Entfernung vom Keimling verletzten. Ebensowenig alteriert
die Nachbehandlung allein beim Fehlen des Sıilberbades die Keim-
fähigkeit von Roggen mit unbedecktem Embryo. Doch zeigten von
Ir
|
17), 8220:
18) Bei ©. und D. die beiden fehlenden Körner nur gespitzt. In letzterer
Serie entwickelte sich das eine davon in der Folge normal weiter, das andere blieb
stehen. Bei Ö. zeigte das eine, der Untersuchung geopfert, die geschwärzte AgOl-
Zone, bis in die Spitze des Scutellums reichend.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 17
den 20 ın letzterem Falle (E.) gekeimten nicht weniger als 6 Un-
regelmäßigkeiten, wie Verkrümmung der Coleoptile, basal seitliches
Herausschieben der Plumula aus dieser bezw. Einrollung und An-
schwellung der Spitze des ersten Laubblattes; kurz Erscheinungen,
die an die (S. 16) beschriebenen Anomalien erinnern.
Im übrigen verweise ich auf das vorn S. 12 beim Weizen Aus-
geführte und füge nur zu, dass nach 10 Tagen der Durchbruch der
Plumula mit folgender Frequenz registriert wurde: A. 0; B. 18;
05160. 1.022): BE. 2020)" Individuen.
AL
Der Besprechung des Verhaltens der Gerste sei eine kurze methodische
Bemerkung vorangestellt. Die Keimung vollzog sich in den Versuchen mit Weizen
und Roggen durchweg in geschlossenen sterilisierten Petrischalen auf 3—4 Lagen
Filtrierpapier bei loser Bedeckung mit einer Einzellage. Weizen, Roggen und die
infolge der Behandlung mit einer Ohlorsilbereinlagerung in Spelzen und Schale ver-
sehenen Gerstenkörner keimten dabei normal, d. h. zu 90-100 % oder doch im
gleichen Prozentsatz wie beiderseits umhüllt von 4 Lagen Filtrierpapier zwischen
Glasplatten. Nicht versilberte Gerste zeigte jedoch bei letzterer Behandlung zumeist
eine höhere Keimfähigkeit. Es dürfte dies wohl auf ein größeres Feuchtigkeits-
bedürfnis der Gerste zurückzuführen sein, das aber bei Silbereinlagerung, vielleicht
infolge erschwerter Durchlässigkeit für Wasser, nicht zutage tritt. Wenigstens scheint
dies die einfachste Erklärung, weiter verfolgt habe ich die Frage nicht.
Als Konsequenz aus dieser Erfahrung ergab sich, dass die Keimung der Gerste
zwischen Glasplatten zu erfolgen hatte; natürlich dann für Kontrollen und mit
Silbernitrat behandelte Körner in gleicher Weise. Doch habe ich im folgenden auch
die älteren Versuche in Petrischalen mit aufgeführt, jedoch jedesmal unter ausdrück-
lichem Hinweis auf die Methodik.
Die Weiterentwickelung bis zum Durchbruch der Plumula wurde nach Schei-
dung der gekeimten und der ungekeimten Körner einfach in der offenen Petrischale
weiter verfolgt. Wurde der Boden recht feucht gehalten, es stand bei diesen vor-
gerückten Stadien in der Regel Wasser darin, so erübrigte jeder Transpirationsschutz.
Die Methoden sind primitiv, da sie aber zweifelsfreie Resultate ergaben, hatte
ich keine Veranlassung, von denselben abzugehen.
v1.
Auch unter den Gersteproben fand ich unschwer solche, die
nach der Silberbehandlung die gleichen Keimprozente ergaben wie
die Kontrollen: Dies Verhalten zeigte z. B. die eingangs erwähnte
Hannagerste?!) (Erntejahr unbekannt). Ebenso Handelsware (Ernte
1912), wie folgende Tabelle zeigt (s. oben S. 17):
Das gleiche Material ergab in Petrischalen für die AgNO,-Serie
nach 12 Tagen 84 normale Keimlinge, 5 mit verkrümmter Coleop-
tile und 11 ungekeimte Körner. Bei 75 der Keimlinge war zu
diesem Termin die Plumula durchgebrochen. Von den Kontrollen
(65 Std. Wasserweiche) keimten bei dieser Anordnung nur 55 von 100.
19) Darunter 1 abnorm Verkrümmtes.
20) Darunter die 6 vorstehend erwähnten verkrümmten Individuen.
21) 8.9.
XXXV. 2
18 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete
Versuch A. 100 Körner, Keimung zwischen Glasplatten.
Serie I: 24 Std.5%, AgNO,; 7 Std.2%, NaCl; 15 Std. 0,2%, NaCl,
26 Std. Wasser. Gesamtweiche 72 Std.
Serie Il: Wasser (mehrmals erneuert) 72 Std.
Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2
Serie IT| 84(13)*) | 86(11) 87 (10) 88 (9)
Bere Il | - 79 (21), 1 Salelz). Wr Seren 8614)
Die eingeklammerten Werte: Anzahl der ungekeimten Körner.
*) Die 3 fehlenden waren gekeimt, hatten Schwierigkeiten beim Durchbrechen
der Schale.
Bei einer selbst von der Spindel befreiten Probe??) konnte ich
nach Silbernitratbehandlung in Petrischalenkultur von 100 Körnern
nach 4 Tagen 74 und nach 9 Tagen 83 durchaus normale Keim-
linge erzielen. Nach 13 Tagen war bei diesen allen die Plumula
durchgetreten. Verkrüppelte Individuen beobachtete ich hier über-
haupt nicht.
Wenn auch die Kontrolle in der Petrischale nur 25 Keimlinge
bei 75 ungekeimten Körnern ergab, stelle ich den Versuch doch
hierher, weil zwischen Glasplatten von unbehandelten Körnern
88— 92%, keimten.
Bei anderen Proben fand ıch aber tatsächlich eine Erhöhung
der Keimprobe durch die Silberbehandlung??). So bei einer Hanna-
gerste des Handels (Ernte 1913).
Versuch B. 100 Körner. Keimung zwischen Glasplatten.
Serien und deren Behandlung wie bei Versuch A.
Gekeimt nach Tagen: 4 | 5 | 6 | 2
Serie 1 Er en)
Serie II 46 | 46 | 48 | 48.(52)
3ei Serie II (unbehandelte Kontrolle) vom 5. Tage ab starke Entwickelung
von Schimmelpilzen, die mich am 7. Tage veranlasste, den Versuch abzubrechen.
In der Petrischale war in diesem Falle die Keimung sehr
schlecht, doch ergab sich auch so ein Plus für die Silberbehand-
lung. Das eine Mal keimten 62 der Silberserie gegen 12 der Kon-
trolle, das andere Mal 48 gegen 24; alles von je 100 Körnern.
Ebenso verhielt sich eine andere Gerstenprobe, die ich wieder
selbst entspindelte.
22) Auch die Gerstenähren verdanke ich Herrn Dr. Blohm.
23) Ebenso gibt Appel eine Erhöhung der Keimziffer nach Silberbehandlung
an (Jahresber. der Vereinigung für angewandte Botanik. Jahrg. IX (1912), S. XIV).
24) Die Klammerwerte Anzahl der ungekeimten Körner.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat. auf die Keimfähigkeit ete. 19
Versuch C. Frequenz, Behandlung, Serien wie bei Versuch A u. B.
(Gekeimt nach Tagen: 4 5 | 6 S
| — ————
Serie I 79 | s0 | 80@0) 80 (20)%)
Serie II 27 a \ 30 (70)
| !
Auch in der Petrischale keimten von der Kontrolle nur 30, von
der Silberserie 80 von jeweils 100. Von diesen hatten 7 Schwierig-
keiten beim Durchbruch der Coleoptile. Doch konnten sie sämt-
lich in der Folge dies ausgleichen und zu gesunden Pflänzchen er-
wachsen.
Diese fördernde Wirkung kann natürlich nur bei relativ schlechtem
Keimgut in Erscheinung treten. Die Gründe dafür werden sekundär
sein. Vor allem ıst an die in obigen Versuchen deutlich erkenn-
bare desinfizierende Wirkung des Silbernitrates zu denkep. Auch
reagierte meine Lösung gegen Lackmus schwach sauer, was viel-
leicht günstig bezw. als Reiz gewirkt haben mag°®).
Resektionsversuche habe ich mit Gerste nicht vorgenommen.
vn.
Aus den vorstehend ausführlich beschriebenen Ver-
suchen geht ın völlig einwandfreier Weise hervor, dass
für Weizen, Gerste und Roggen nach 24stündiger Be-
handlung mit 5% Silbernitrat qualitativ und quantitativ
normale Keimung möglich ist. Doch zeigten nicht alle unter-
suchten Proben dieses Verhalten. Wohl keimte stets ein gewisser
Prozentsatz ın normaler Weise, aber der Ausfall war zuweilen recht
erheblich. So betrug bei dem eingangs erwähnten Sommerweizen
die Keimfähigkeit der silberbehandelten Körner nur 37—56%, des
normalen Wertes und bei der nackten Gerste ca. 30—50% des-
selben. Oder mit anderen Worten, die Hälfte bis zwei Drittel der
keimfähigen Körner sind durch das Salz getötet worden, es muss
dasselbe also bis zum Embryo vorgedrungen sein. Dies wird mög-
lich sein bei einer durch Außenfaktoren bewirkten Verletzung der
selektiv permeablen Hülle, welche nicht ın allzu großer Entfernung
vom Embryo gelegen ist.
Nun scheint aber aus leicht ersichtlichen Gründen gerade diese
Region der Schale am meisten gefährdet und ein alter Versuch
von Werner”) lehrt schon, dass bei Maschinendrusch — und bei
den beiden bei mir in Frage kommenden Handelsproben dürfte
25) Von diesen 20 waren 17 gespitzt, dann aber in der Entwickelung stehen
geblieben.
26) Vergl. Lehmann und Ottenwälder: Zeitschr. f. Botanik, Bd.5 (1913)
und die dort zitierte Literatur.
27) Angeführt nach Körnicke-Werner: Handb. d. Getreidebaues, Bd. II
(1885), S. 48, 49. Der Versuch selbst wurde schon 1867 publiziert.
230 Schroeder, Über die Einwirkuug von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
dieser wohl vorgelegen haben — Schalenbeschädigungen in obigem
Umfange vorkommen kann. Werner fand für Weizen, dass die
übliche Dreschmethoden die Keimkraft nicht beeinträchtigen, er er-
zielte durchweg rund 97%. Wurde das Saatgut mit Kupfervitriol
gebeizt, so fielen bei Handdrusch nur 2—4%,, bei Maschinendrusch
hingegen je nach der Art der Behandlung 25-62% aus. D. h,,
dieser Anteil hatte Schalenverletzungen, die einen Zutritt des Giftes
zum Embryo gestatteten. Wenn also die heutigen Verfahren nicht
schonender sind, was ich nicht weiß, so kann man allein damit
Ausfälle von der oben angegebenen Größenordnung befriedigend
erklären. Es werden aber noch andere Umstände einen Ausfall
bei der Silberbehandlung bewirken können. So z. B. Auskeimen
auf dem Felde, das nicht unbedingt bezw. sofort den Verlust des
Keimvermögens zur Folge zu haben braucht ?®), wohl aber die Kon-
tinuität. der Hüllen gerade über dem Embryo zerstören wird. Oder
ungenügende Reife begleitet von unvollkommener Ausbildung der
selektiv permeablen Schicht u. s. w.2?).
Man wird daher diese — beı meinen Versuchen — Ausnahmen
weder gegen dıe wohlbegründete Annahme®®) einer semipermeablen
Hülle der oben genannten Getreidearten verwerten können noch
auch gegen das Nicht- oder doch sehr langsame®!) Permeieren des
Silbernitrates, das nach Versuchen von Shull??) die sonst mit ähn-
lichen Qualitäten ausgerüstete Samenschale von Xanthium glabratum
leicht durchwandert.
Entsprechendes gilt für die mehrfach erwähnten Körner, bei
welchen der Durchbruch der Coleoptile durch die Schale nur
schwierig oder in sehr seltenen Fällen überhaupt nicht sich vollzog
und eine mehr oder weniger verkrümmte Coleoptile resultierte;
beim Roggen zum Teil auch die Spitze des ersten Laubblattes in
Mitleidenschaft gezogen war®?). Denn es handelt sich auch hierbei
um Ausnahmen, die zuweilen ganz fehlten und wo sie vorkamen,
stets ın bescheidenen Grenzen blieben (3—7%,), so dass auch nach
ihrem Abzug — und sie sind vorstehend den keimenden Körnern
entweder nicht zugezählt oder der Zahl nach ausdrücklich aufge-
führt — annähernd normale Keimprozente resultieren. Trotzdem
liegt offensichtlich eine Folge der Behandlung vor, denn wenn auch
unter den zahlreichen Kortrollen mir hin und wieder ein derartiger
28) Vergl. Rabe: Flora, Bd. 95 (1905), S. 253 bezw. 255 und die dort ange-
[o) ’ ’
ebene Literatur.
5
29) S. auch im folgenden (S. 21) die Erörterung der Möglichkeit eines lang-
samen Permeierens des Silbernitrates.
30) Vergl. auch die in meinen Arbeiten zitierten Abhandlungen von A. Brown.
8 8
31) S. folgende Seite.
32) Bot. Gazette, Bd. 54 (1913), S. 169.
33) Uber ähnliche Missbildungen berichtet auch Birkner, l.c., S. 188.
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit ete. 21
Krüppel begegnete, so waren sie doch dort sehr viel seltener. Die
Beobachtung, dass ähnliche Anomalien und in höherer Proportion
bei meinen Resektionsversuchen vorkamen und zwar dann, wenn
die Verletzung wohl vom Embryo entfernt lag, aber doch so, dass
das Gift bis ins Scutellum vordrang, legte die Vermutung nahe,
dass auch bei den abnormen Körnern derartige lokalısierte Wunden
vorhanden gewesen seien. Da ich aber das dann im Endosperm
zu erwartende Silber dort nicht finden konnte, halte ich diese Deu-
tung für ausgeschlossen. Wahrscheinlicher scheinen mir die folgen-
den Alternativen, zwischen denen ich eine Entscheidung nicht treffen
kann. Entweder handelt es sich um eine durch die Behandlung
verursachte Änderung der mechanischen Eigenschaften der Korn-
hüllen, schon das eingelagerte Chlorsilber könnte vielleicht derart
wirken, womit auch die Beeinflussung des ersten Laubblattes durch
die nicht getötete Coleoptile hindurch befriedigend erklärt wäre.
Oder aber das Gift kommt wirklich — aber dann nur für kurze
Zeit und ın geringer Konzentration, sonst müsste der Effekt ein
stärkerer sein — in Berührung mit der Coleoptile. Das wäre mög-
lich, wenn der quellende Dil: sich streckende Keimling am Ende
der Einwirkungszeit oder doch ehe das ausfällende Kochsalz weit
genug vorgedrungen, die Hülle an einer Stelle sprengt. Aber dann
dürfte doch wohl zuerst eine Schädigung der Wurzel zu erwarten
sein). Daher halte ich es nicht für ausgeschlossen, dass eine
Spur des Silbersalzes innerhalb der 24 Stunden bei einzelnen Körnern
gewisser Proben eben die selektiv permeable Hülle passiert. Das wider-
spricht der Annahme einer derartigen Hülle nicht, denn, wie ich früher
wiederholt betonte®’) und wohl auch allgemein angenommen wird,
dürfen wir in permeierenden und nichtpermeierenden Stoffen keine
prinzipiell verschiedenen Körperklassen erblicken, sondern nur den
Ausdruck einer durch Zwischenglieder verknüpften extremen gra-
duellen Verschiedenheit. Und da es mir seinerzeit gelang, durch
Änderung der Zusammensetzung des Außenmediums (Alkoholzusatz)°*)
ein rasches Eindringen des Sılbernitrates zu bewirken, halte ich
ein langsames aus rein wässeriger Lösung für sehr wohl möglich.
Hier müssen weitere Versuche einsetzen. Doch sei auch darauf
34) Eine solche beobachtete Nestler (Sitzungsber. d. Wien. Akademie Math.-
Nat. Klasse: Bd. 113, Abteil. I (1904), S.542, Anm.) bei Zolium temulentum nach
24stünd. Behandlung mit 10 % Kupfersulfat.
35) Centralblatt für Bakteriologie ete., II. Abteil., Bd. 28 (1910), S. 494, Anm.
Flora, Bd. 102 (1911), S. 186.
36) Die Möglichkeit, dass durch den Alkohol eine Lösung gewisser Membran-
stoffe bewirkt und damit die Änderung der Durchlässigkeit veranlasst werde, scheint
mir ausgeschlossen ; wenigstens konnte ich in in Alkohol (50 %) vorbehandelten Körnern,
nach Trocknen, bei darauffolpendem Einweichen in En AgNO, kein Silber im
Korninneren auffinden.
99 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
hingewiesen, dass beı verletzten Körnern NaCl-Behandlung allein
einen starken Prozentsatz ähnlicher Krüppel ergab ’’”).
Wenn also auch im einzelnen noch gewisse Fragen der Auf-
klärung harren, so stört dies nicht die allgemeinen Resultate, weder
in theoretischer noch in praktischer Hinsicht. In letzterer — metho-
disches Hilfsmittel bei physiologischen Versuchen — und diese
steht eigentlich hier allein in Frage, hatte ich schon früher Sorg-
falt bei der Auswahl des Keimsaatgutes empfohlen ®®). Man wird also
zunächst nach widerstandsfähigen Proben zu suchen haben. Doch
dürfte deren Beschaffung keine unüberwindliche Schwierigkeiten
bieten, denn meine diesmal benutzten Gersteproben zeigten mit
alleiniger Ausnahme der nackten Gerste diese Resistenz, ebenso
der einzige geprüfte (selbstentspindelte) Roggen und von zwei
Weizenmustern das eine selbstgeerntete °°).
Den Widerspruch zwischen meinen Befunden und denen Birk-
ner’s mit von diesem persönlich entspindelter, also wohl unver-
letzter Gerste, kann ich nicht aufklären. Denn er erhielt z. B. nach
12 Stunden nur noch die folgenden Keimprozente: N/10AgNO, : 3%»
N/50:25% und N/100: 159, Die Annahme, dass etwa wie in
den Rechen Arcichovskijs*) mit Erbsen die schwächere
(N/10—N/100) Giftkonzentrationen Birkner’s ın höherem Maße
schädigend gewirkt haben könnten als meine stärkeren (5%), wird
dadurch ausgeschlossen, dass ıch sowohl bei Weizen wie Mi Gerste
gegen N/10 und N/100 AgNO, die gleiche Widerstandsfähigkeit
fand wie gegen 5%, Lösung. Auch in Birkner’s Versuchen ergibt
sich Zunahme der Intensität der Wirkung mit steigender Konzen-
tration. Im übrigen scheint Birkner bei höheren Temperaturen
gearbeitet zu haben wie ich, wenigstens glaube ich diese aus der
Kürze seiner Weichdauer (36 Stunden) und aus der Tatsache er-
schließen zu können, dass er die Keimfähigkeit bereits nach 36 Stunden
registriert. Vielleicht verhält sich auch sein — amerikanisches —
Material anders als das Meine. Aber abgesehen von den damit
eröffneten Möglichkeiten kann ich mich des Verdachtes nicht ganz
erwehren, dass Birkner bei der Entfernung bezw. dem Unschäd-
lichmachen des ın der Fruchtschale vorhandenen Silbernitrates nicht
sorgfältig genug vorgegangen sei. Denn er spült nach dem Silber-
37) Die Missbildungen (Schleifen), die Nestler (l. c., S. 541) für Lolium
temulentum nach HgÜl, beschreibt, dürfte anderer Natur sein.
38) Schroeder: 8. ap:
39) oz auch die S. 18 zitierte Angabe Appel’s. Ferner Jauerka (Diss,
Halle 1912, S. 15). Letzterer fand für zwei Weizenproben nach Silberbehandlung
(5 % Lösung), folgende Keimfähigkeit: Blaue Dame 87,5 und Strube’s Schlesischer
72% des normalen Wertes. Der Rückgang wird von ihm auf den Einfluss ver-
letzter Körner zurückgeführt.
40) Biochem. Zeitschr., Bd. 50 (1913), S
DD
SS)
wo
Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc. 25
bad lediglich ab, quillt dann in destilliertem Wasser — also bei
völligem Ausschluss von Chlorid — und nun erst unmittelbar vor
der Übertragung ins Keimbett folgt NaCl-Behandlung. Diese be-
steht aber ebenfalls nur im Abspülen und ein gründliches Nach-
waschen mit Wasser beseitigt auch rasch wieder das somit nur
kurze Zeit, d. h. oberflächlich vorhandene Chlorid.
Dass eine Störung der Bakterienentwickelung die Ursache des
Rückganges der Keimprozente sei, glaube ich nicht. Denn in
meinen früheren Versuchen keimten die Körner in klarer — also
steriler — Bouillon*). Vielleicht ist diese immer wiederkehrende
Behauptung der Notwendigkeit einer Bakterienmitwirkung bei der
Gerstenkeimung darauf zurückzuführen, dass Säurebildung durch
jene die fehlende Nachreife ersetzt.
IX.
Unlängst hat sich Th. Bokorny *) mit meiner Arbeit beschäftigt
und will, wenn ich ıhn recht verstehe, den Unterschied in der Wir-
kung des Sublimates und des Silbernitrates damit erklären, dass
dieses in höherem Maße der Ausfällung unterliege als jenes. Dass
Silbernitrat stark ausgefällt und adsorbiert wird, ıst sicher und bei
den Versuchen mit an der Spitze angeschnittenen Körnern werden
diese Faktoren die Ursache sein, warum es volle 24 Stunden und
mehr dauert, bis das Gift zum Embryo gelangt, aber am unver-
sehrten Korn halte ich doch die selektiv permeable Membran für
ausschlaggebend, und zwar aus folgenden Gründen, die zum Teil
meinen älteren Arbeiten entnommen sind *).
1. Isotone Lösungen von Silbernitrat und Chlornatrium depri-
mieren die Wasseraufnahme des unversehrten Weizenkornes an-
nähernd um den gleichen Betrag*). Für NaCl wurde dabei eine
41) Schroeder: S. 503.
42) Biochem. Zeitschr., Bd. 62 (1914), S. 58
43) Den beiden oben zitierten Abhandlungen.
44) Dass die Depression der Wasseraufnahme durch Silbernitrat nicht durch
veränderte Durchlässigkeit der mit Silbersalz imprägnierten Schale bedingt ist, in
der Weise etwa, wie ich das früher für Osmiumsäure gefunden habe, beweist auch
noch folgender Versuch:
Vorbehandlung: Serie A. Weizen 24 Std.in5 % AgNO, geweicht, danach zuerst in
Luft, dann im Trockenschrank bei ca. 50° C getrocknet.
Serie B. Weizen 24 Std. in Wasser geweicht, darauf getrocknet
wie A.
Wasseraufnahme in % des Anfangsgewichtes beim Einweichen der so vorbe-
handelten Körner in reinem Wasser.
Nach Stunden: 7 22
i
Serie IR | 20 | 34,5
Serie B. 23 | 35,5
D.h., die Körner der Serie A, deren mit Silber durchsetzte Schale dunkelbraun
gefällt war, nehmen das Wasser ebenso rasch auf als die nur mit Wasser vorbehandelten.
94 Schroeder, Über die Einwirkung von Silbernitrat auf die Keimfähigkeit etc.
Titerzunahme der Lösung festgestellt, die unter Berücksichtigung
der durch die Tiefenlage der semipermeablen Membran bedingten
Korrektur rund der durch direkte Wägung ermittelten Wasserauf-
nahme entsprach. Bei angeschnittenen Körnern ist eine Hemmung
der Wasseraufnahme nicht festzustellen *).
2. Während sich im Inneren des verletzten Kornes das Sılber
unschwer feststellen lässt, misslang sein Nachweis bei unversehrter
Kornhülle.
3. Die Resistenz ıst streng an die Kontinuität der Schale über
dem Embryo geknüpft.
Im Gegensatz dazu bewirkt Sublimat keine Depression der
Wasseraufnahme, ist ım intakten wie im angeschnittenen Korn
leicht aufzufinden und äußert seine Giftwirkung auch bei Abwesen-
heit von Verletzungen.
Von diesen Tatsachen spricht in erster Linie die Titerzunahme
für die Bedeutung einer semipermeablen Membran. Ich habe darum
neuerdings auch Silbernitrat ın dieser Beziehung untersucht und
auch für dieses eine Titerzunahme gefunden, aber mit Sicherheit **)
nur dann, wenn relativ viel Weizen (100 Körner) mit kleinen Mengen
(10 ccm) halle (10%) Salzlösung behandelt wurde. So
enthielt einmal die Lösung in 5 cem vor der Weiche 0,496 g AgNO,
und nachher 0,522 g; an han Körner inssuer bewirkten
eine Titerabnahme auf 0,468 g ın 5 cem. Ein anderer Versuch er-
gab vorher 0,480 g in 5cem und nachher 0,521 g. Die aus letzteren
Daten errechnete Wasseraufnahme beträgt 0,5 g gegen 1,35 des
tatsächlichen Befundes. Diese Differenz ıst größer als die früher bei
NaÜl-Versuchen gefundene, d.h. geht über den Betrag dessen, was
an Salzlösung die Fruchtschale imbibiert, hinaus. Das dürfte auf
Silberfällung bezw. Adsorption zurückzuführen sein, eine Annahme,
mit der die oben erwähnte Titerabnahme bei Verwendung ange-
schnittener Körner übereinstimmt.
Durch die Titerzunahme der Silberlösung unter dem Einfluss
quellender unbeschädigter Weizenkörner ıst aber einwandfrei be-
wiesen, dass der Lösung Lösungsmittel in stärkerem Maße entzogen
wurde als gelöste Substanz. Diese Tatsache dürfte in Verbindung
mit den oben vorgebrachten Gründen ziemlich deutlich zugunsten
der Annahme einer selektiv permeablen Hülle sprechen.
Kiel, 1. August 1914.
45) Vergl. für Silbernitrat speziell den auf Kurve I S. 189 (Flora, Bd. 102)
wiedergegebenen Versuch.
46) Sie war aber auch bei schwächeren Konzentrationen N/10 (10 ccm auf
100 Körner) erkennbar.
Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 35
Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweils.
Von Dr. Th. Bokorny.
Verfasser hat schon vor einiger Zeit darauf hingewiesen (Chem.
Ztg. 1912, p. 1050), dass die Schädlichkeit des Tabakrauches bei
Pflanzen, die nach H. Moliseh (Bakt. Centralbl. Bd. 31, Nr. 11/15
und Naturw. Umschau, 1912, S. 51) erstaunlich groß ist, wahr-
schemlich durch den Ammoniakgehalt des Rauches hervorgerufen
wird.
Das Kohlenoxyd, welches von H. Molisch verantwortlich ge-
macht wird, ist nicht schuld; denn dasselbe wirkt auf Pflanzen gar
nicht giftig.
Für höhere Tiere (Vögel, Säugetiere) ıst das Kohlenoxyd töd-
lich durch Kohlenoxydhämoglobinbildung.
Auch das Nikotin kann es nicht sein, was den Tabakrauch so
schädlich für Pflanzen macht, denn es wirkt schon bei 0,1%, Ver-
dünnung nicht mehr recht nachteilig.
Ammoniak aber wirkt noch bei 0,1, sogar 0,05 und 0,025%,
schädlich und wachstumshemmend auf Pflanzen, z. B. Keimlinge
ein. Ja sogar 0,01%, hat noch eine Verzögerung des Wachstums
zur Folge; es tritt zwar eine Keimung ein (an Kresse, Gerste,
Wicke, Hanf, Erbse, Bohne), aber langsamer als beim Kontroll-
versuch.
Der Grund, warum das Ammoniak so schädlich wirkt, liegt ın
der leichten Verbindungsfähigkeit des Ammoniaks mit
dem Zelleneiweiß.
In vielen Fällen lässt sich mikroskopisch eine Körnchenbildung
innerhalb des Protoplasmas erkennen, wenn sehr verdünntes Am-
moniak eingewirkt hat (Ammoniakgranulationen, die den mit Coffein
und einigen anderen basischen Stoffen erhältlichen Granulationen
zu vergleichen sind).
Das Ammoniak hat sich dann mit dem Zelleneiweiß verbunden,
was bald zum Tode der Zellen führt.
Nur wenn man das Ammoniak sogleich wieder auswäscht, kann
man eine Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes, d.h. ein
Verschwinden der Körnchen erreichen und damit ein Weiterleben
ermöglichen.
Wie jede chemische Bindung findet auch diese ihr Ende bei
einer gewissen höheren Verdünnung.
Man muss aber beim Ammoniak sehr hoch gehen.
Denn ich fand, dass man an Spirogyren mit Ammoniak sogar
bei Verdünnung 1:20000 noch Körnchenausscheidung erhalten könne.
Ohne jede Einwirkung dürften also nur noch höhere Verdün-
nungen sein; das werden auch die Konzentrationen sein, bei welchen
das Ammoniak ernährend auf die Pflanzen einwirkt. Die ernährende
Wirkung des freien Ammoniaks muss dann naturgemäß schwach sein.
6 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß.
Ammoniaksalze reagieren teilweise auch mit dem Zelleneiweiß,
z. B. das kohlensaure Ammoniak, aber viel schwächer; ıhre Schäd-
lichkeit wird also viel geringer sein.
-Kohlensaures Ammoniak (und kohlensaures Natron) können
„Aggregationserscheinungen“, das sind jene Granulationen, hervor-
bringen. Die Verdünnungsgrenze, bei welcher die Wirkung hier
eintritt, liegt aber wesentlich tiefer als beim freien Ammoniak.
Das freie Ammoniak scheint eine besonders große Verbindungs-
fähigkeit zu haben. Sogar die starken fixen Basen Kalı und Natron
können sich damit nicht vergleichen.
Wir müssen übrigens unterscheiden zwischen Bindung
des sehr verdünnten Ammoniaks und Bindung des relativ
wenig verdünnten Ammoniaks.
Letztere tritt analog der gewöhnlichen Basenbindung durch das
Zelleneiweiß ein, indem NH, mit Wasser zu NH,-OH wird und
nun als Base sich mit den Säuregruppen des Eiweißes ver-
bindet, gerade wie Kalı und Natron.
Erstere ist eine Bindung als Aldehydammoniıak, indem die
Aldehydgruppen des aktiven Albumins mit dem Ammoniak reagieren,
was ım anderen Falle nicht möglich ıst, da sofort Umlagerung statt-
findet (siehe-O. Loew, Uhem. Kraftqu., p. 23).
Konzentrierte Ammoniaklösungen bewirken ebenso wie auch
andere Schädlichkeiten sofort ein Absterben des Protoplasmas und
damit eine Umlagerung des aktiven Albumins nach dem Schema:
CH—NH, CH—NH
|
C—-6C=0O = >—C—OH
I IHN
Gruppe im aktiven Gruppe im passiven
Eiweiß. Eiweiß.
Darum können konzentriertere, z. B. 1%\,ıge Lösungen von Am-
moniak nicht zu einem Versuch über den Unterschied zwischen
lebendem und totem Protoplasma dienen.
Dazu muss man hochverdünnte Lösungen anwenden. wie sie
bei den oben erwähnten Versuchen zur Anwendung kamen; nur
mit solchen erhält man die Granulationen und sonstigen Aggre-
gationserscheinungen (siehe Verf. in Pringsh. Jahrb. 1878) an Spiro-
gyren und anderen Objekten des Pflanzenreiches. Nur solche er-
geben vermutlich Aldehydammoniakbildung mit den Aldehydgruppen
des aktiven Eiweißes.
Dieses Mal arbeitete ich mit Hefe und suchte durch quantı-
tatıve Bestimmung der Ammoniakbindung einen chemischen Unter-
schied zwischen lebendem und totem Protoplasmaprotein festzustellen.
Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 27
Ich ließ !/,oö n-Ammoniak (= 0,017%, NH,) auf lebende und
tote Hefe einwirken.
20 g Presshefe wurden in 1000 ce !/,.. n-Ammoniak lebendig
gebracht und 24 Stunden lang darin unter öfterem Umrühren be-
lassen (im bedeckten Glase).
Ferner wurden 20 g Presshefe nach vorausgegangener Ab-
tötung durch 3 Minuten langes Verweilen in 100 ce der kochend
heißen !/;no M-Ammoniaklösung ebenfalls in 1000 ce kalter !/,oo
n-Ammoniaklösung versetzt und 24 Stunden darin belassen (be-
deckt).
Die lebende Hefe nahm aus der Lösung (die bei der Titration
insgesamt, nicht partiell, verwendet wurde) 0,075 g Ammoniak
weg, die getötete (scheinbar) 0,0187 g, also ungefähr ein Viertel
der ersteren Menge.
Damit dem Einwand begegnet werde, dass hier vielleicht durch
das kurze Erwärmen Substanz von ammoniakbindender Kraft aus-
trete und weggegossen werde, oder dass Ammoniak während des
Erwärmens gebunden und damit die ammoniakbindenden Atom-
gruppen des Hefeplasmas abgesättigt werden, wurden die 100 ce
t/ 00 a-Lösung, die zum Erhitzen und Abtöten der 20 g Presshefe
Verwendung finden sollten, aus der 11 betragenden Gesamtmenge
der ?/,.. n-Versuchslösung selbst genommen und dann die übrigen
900 ce nach dem Erkalten hinzugefügt.
Die Differenz von der soeben angegebenen Größe stellte sich
trotzdem heraus.
Ob die 0,018 Ammoniak wirklich durch die getötete Hefe ge-
bunden wurden, ist übrigens doch sehr fraglich, da ja durch das
Kochen ein Verlust von Ammoniak entsteht. 100 cc !/,,, n-Ammoniak
enthalten 0,017 g NH,. Das entspricht nahezu der aus der Lösung
nach Ausweis der Titration verschwundenen Ammoniakmenge.
Somit nimmt die getötete Presshefe (20 g) soviel wie kein
Ammoniak aus 11 '/,.o n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden
weg, während lebende Presshefe (20g) 0,075 g Ammoniak
aus 1 1 !/,,, n-Ammoniaklösung binnen 24 Stunden bindet.
Man kann also auf diese Weise den Nachweis führen, dass
lebendes Plasma auch chemisch verschieden ist von dem
toten.
Das aktive (lebende) Protein enthält nach ©. Loew Aldehyd-
gruppen, welche beim Absterben durch chemische Umlagerung ver-
schwinden. So ist das Resultat mit !/,,, n-Ammoniak verständlich.
Ammoniak reagiert leicht mit Aldehydgruppen. Darum bindet
das lebende Protoplasma Ammoniak.
Das getötete Protoplasmaprotein enthält keine Aldehydgruppen
mehr in seinen Proteinmolekülen, darum keine Ammoniakbindung.
28 Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß.
Dieser Beweis für den chemischen Unterschied zwischen leben-
dem und totem Zelleneiweiß ist kaum umzustoßen.
Denn durch Austritt von reaktionsfähiger Substanz beim Ab-
töten der Zellen ist hier keine Täuschung möglich. Die Substanz
ist (bei der zweiten oben angegebenen Versuchsanstellung) nach wie
vor dem Abtöten da; es kann sich also nur um einen Verlust des
Ammoniakbindungsvermögens durch Umlagerung handeln.
Das auf Aldehydgruppen zurückführbare Ammoniakbindungs-
vermögen durch Hefe ist nicht groß, es beträgt nur etwa !/,, des
Ammoniakbindungsvermögens der Hefe aus konzentrierten, ca. 1 %,igen
Lösungen; in letzterem Falle erfolgt sofort Umlagerung und reagieren
somit nicht die Aldehydgruppen, sondern die auch im toten Plasma-
protein noch vorhandenen Säuregruppen, welche bei !/,,, n-Am-
moniaklösung gar nicht in Aktion treten (wegen der zu großen Ver-
dünnung).
Ein vergleichender Versuch mit n-Ammoniak (= 1,7%, NH,)
ergab nämlich, dass 20 g Presshefe von 30%, Trockensubstanz,
lebend ın 100 ce n-Ammoniaklösung verbracht, binnen 24 Stunden
ca. 1 g Ammoniak aus der Lösung wegnehmen, d. h. chemisch
binden.
Das Ammoniakbindungsvermögen der Hefe ist somit erstaun-
lich groß, entsprechend dem hohen Eiweißgehalt derselben.
Das gebundene Ammoniak beträgt ca. 5%, des Lebendgewichtes
der Hefe oder 15%, der Trockensubstanz. Der Eiweißgehalt der
Hefe beträgt 50—60%, der Trockensubstanz.
Weiterhin wurde noch eine !/,, n-Ammoniaklösung (0,17%, 1g)
auf Hefe einwirken gelassen.
20 g Presshefe wurden mit 100 ce einer !/,, n-Ammoniaklösung
zerrieben bis zum Verschwinden der Brocken und Knöllchen.
Dann wurde der Versuch 48 Stunden stehen gelassen.
Es trat Fäulnisgeruch auf.
Die Titration ergab, dass 0,13 g Ammoniak verschwunden waren.
Nach dem Resultat des obigen Versuches (mit 1,7%,ıgem Am-
moniak) hätte aber viel mehr verschwinden müssen, ja das ganze
Ammoniak (0,17 g) hätte gebunden werden können, ohne die Binde-
kraft der Hefe zu erschöpfen.
Das Defizit wird begreiflich durch den Fäulnisgeruch; denn die
Fäulnisbakterien hatten Ammoniak aus dem Hefeneiweiß entwickelt
und damit eine Vermehrung des Ammoniakgehaltes in der Flüssig-
keit bewirkt.
Die „Ammoniakhefe“, wie sie durch Behandeln von Hefe mit
ca. 1%,ıge Ammoniaklösungen erhalten wird, riecht nıcht nach Am-
moniak (nach dem Auswaschen der anhängenden überschüssigen
Lösung), reagiert nicht alkalisch, das Ammoniak ist gebunden.
Bokorny, Bindung von Ammoniak durch das Zelleneiweiß. 29
Durch Kochen mit fixen Alkalıen kann man das gebundene
Ammoniak aus der Hefe frei machen.
Die Bindung des Ammoniaks ım sehr verdünnten Zustande
(0,017 %), sowie auch die aus konzentrierteren Lösungen (1,7%),
wie sie hier an Hefe nachgewiesen wurde, entbehrt nıcht des che-
mischen wie physiologischen Interesses.
Sie ist meines Wissens noch von niemandem beobachtet worden.
Zweifellos könnte dieselbe auch an anderen Organismen quan-
tıtatıv erwiesen werden, z. B. an Bakterien, die ja auch ın an-
nähernden Reinkulturen erhältlich sind, an tierischen und pflanz-
lichen Mikroorganismen, wenn sie ın Kulturen vorliegen. In allen
diesen Fällen könnte sowohl die erste als die zweite Art von Bin-
dung erprobt werden.
Beı höheren Pflanzen und Tieren müsste man wohl zu einer
Zerteilung der Organismen schreiten. Dabei würden die Zellen ab-
sterben und könnte die erste Art von Ammoniakbindung nicht mehr
erwiesen werden.
Hingegen müsste die zweite Art der Bindung überall nach
Maßgabe des Eiweißgehaltes stattfinden.
Die Hefezelle bindet übrigens eine Menge von anderen Stoffen
auch noch, z. B. verschiedene Basen und Säuren, entsprechend dem
mannigfaltigen chemischen Charakter des Eiweißmoleküles.
Dasselbe enthält (lebend und tot) eine große Anzahl von Amido-
gruppen und wirkt hierdurch als Base, bindet Säuren; durch den
(Gehalt an Säuregruppen bindet es, wie schon erwähnt, Basen.
Säuren werden demnach von der Hefe durch Salzbildung ge-
bunden.
Indem die (konzentriertere) Säure, sei es auch eine schwache,
gebunden wird, stirbt das Protoplasma, wenn es lebend war, ab,
sobald eine gewisse (letale) Quantität derselben gebunden ist; oder
meist schon eher durch die lebensfeindlichen Atomstöße, die von
derselben ausgehen.
Ebenso ist es bei Einwirkung von Basen.
Ferner bei den meisten anderen schädlich wirkenden Stoffen.
Im allgemeinen kann man sagen, dass ein Stoff um so giftiger
wirkt, je leichter er sich mit dem Protoplasmaeiweiß verbindet.
Das Ammoniak gehört zu den Stoffen, die noch bei großer
Verdünnung schädlich wirken.
Es stimmt das überein mit der Beobachtung, dass dasselbe
noch bei großer Verdünnung von den Hefezellen gebunden wird
(als Aldehydammoniak).
Durch meine fortgesetzten Beobachtungen über die Schädlich-
keit des Ammoniaks für Mikroorganismen, speziell auch Hefe, bin
ich nur bestärkt worden in der Ansicht, dass der den Pflanzen so
30 v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten.
schädliche Tabakrauch vorwiegend durch seinen Ammoniakgehalt
schädlich wirkt.
Übrigens wäre es nicht ohne Interesse, die Einwirkung des
freien Ammoniaks noch bei recht vielen Pflanzen auszuprobieren.
Da auch Ammoniaksalze bis zu einem gewissen Grade mit dem
Protoplasma reagieren können, so vermute ich, dass die manchmal
beobachtete weniger günstige Einwirkung von Ammoniaksalz (als
Stickstoffdünger) auf Pflanzen hierauf zurückzuführen sei.
Das biogenetische Grundgesetz im Leben
der Insektenstaaten.
Von G. v. Natzmer.
Im folgenden will ich den Versuch machen, das biogenetische
Grundgesetz ın übertragender Bedeutung auf die Insektenstaaten
anzuwenden und so in der Entwickelung eines einzigen derartigen
Staatengebildes die ganze Phylogenie wieder zu erkennen. Zwar
sind schon einzelne Erscheinungen des sozialen Lebens, wie z. B.
die Entwickelung der Termitennester (Holmgren), zum Gegen-
stand ähnlicher Betrachtungen gemacht worden, doch fehlte es bis-
her an einer zusammenfassenden, von der Basis des biogenetischen
Grundgesetzes ausgehenden Phylogenie der Insektenstaaten. Die
Phylogenien, welche einzig und allein an Hand der auf verschie-
denen Entwickelungsstufen stehenden Staatengebilde aufgestellt
worden sınd, bleiben ın ıhren Einzelheiten stets nur mehr oder
minder Hypothese und können im besten Fall nur einen gewissen
Wahrscheinlichkeitswert für sich in Anspruch nehmen. Ich habe
es deshalb unternommen, für die Entwickelung der Insektenstaaten
auch den wissenschaftlichen Beweis — soweit das innerhalb einer
kurzen Abhandlung möglich ist — zu erbringen, indem ich, die
induktive Methode anwendend, von der Ontogenie des einzelnen
Staatengebildes auf die Phylogenie verallgemeinernd schloss.
Wie eine vergleichende Betrachtung lehrt, muss sich das ge-
sellschaftliche Leben bei den Insekten aus dem solitären, das sich
bei den primitivsten Bienen und Wespen vorfindet, entwickelt haben.
Die Weibchen dieser Arten legen, jedes für sich, einige meist roh
gearbeitete Zellen an, die sie mit Nahrung versehen, bestiften und
sodann verschließen, worauf sie bald zugrunde gehen. Diese Bienen
(Prosopis, Andrena, Antophora, Xylocopa, Osmia, Colletes u. a.) und
Wespen (Crabronidae, Eumenes u. a.) leben völlig einsam und unter-
halten keinerlei Beziehungen zu ihren Artgenossen. Das Weibchen
sorgt selbst für Nestbau, Brutpflege und Fortpflanzung, während all
diese Funktionen bei den sozial lebenden Arten nur noch von ganz
bestimmten Individuen ausgeübt werden, was in dem von E. Goeldi
v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im. Leben der Insektenstaaten. 31
aufgestellten Gesetz der Kompensation zwischen Gonepitropie (Über-
tragung der Geschlechtsfunktionen) und Ergepitropie (Übertragung
der Brutpflege und Nahrungsfürsorge) zum Ausdruck gelangt!). Von
dieser Entwickelungsstufe hat, wie schon gesagt, nach
Ansicht aller Forscher das soziale Leben bei den Insekten
seinen Ausgangspunkt genommen. Deshalb ıst die Tat-
sache bemerkenswert, dass die Lebensweise der Hummel-
und der sozialen Wespenweibchen im Frühjahr bei der
Gründung der Kolonie in allem völlig derjenigen der
eben genannten solitären Arten gleicht. Erst wenn dann
die Arbeiterinnen erscheinen, bildet sich allmählich jene Arbeits-
teilung heraus, die wir in den höher entwickelten Staatengebilden
beobachten können. Dieselbe ist aber anfänglich, so lange die Kolo-
nien noch volksschwach sind, durchaus nicht streng durchgeführt,
was für eine phylogenetische Betrachtung ebenfalls bemerkenswert
ist. Dies gilt vor allem für die Hummeln, die ın den einfachsten
und in jeder Hinsicht primitivsten Verbänden leben. Bei ihnen
sind die Arbeiterinnen nur kleine Weibchen, die sich sonst, im
Gegensatz zu den anderen staatenbildenden Insekten, ın nichts
von den eigentlichen Weibchen unterscheiden. Sıe folgen nur, da
sie selbst unbegattet geblieben sind, ıhren Brutpflegeinstinkten, wenn
sie die Nachkommenschaft ihrer Stammutter mit Nahrung versorgen.
Verwerten wir all diese Tatsachen im Sinne des bio-
genetischen Grundgesetzes, so ergibtsich damit eine über-
raschende Bestätigung derjenigen Theorie, welche das
Entstehen des sozialen Lebens bei den Insekten daraus
herleitet, dass ein ursprünglich solitäres Weibchen
unter besonders günstigen Bedingungen das Erscheinen
seiner Nachkommenschaft noch erlebte. Dieses Stadium ist
nicht hypothetisch, sondern findet sich tatsächlich in der Natur bei
manchen Halictus- Arten vor.
Besonders interessant ıst die Tatsache, dass bei manchen Arten
dieser Bienengattung die zweite Generation nur aus Weibchen he-
steht, denn hiermit nehmen die Dinge eine den Hummelstaat im
wesentlichen ganz ähnliche Gestaltung an. Es ist, um mit
H.v. Buttel-Reepen zu sprechen, wohl möglich, „dass diese Weib-
chen, die keiner Befruchtung bedurften, beim Anblick der noch
offenen Zellen sofort ihren Fütterinstinkten gehorchten und Nahrung
herbeitrugen und so der Mutter zur Hand gingen“ ?).
Während bisher nur die Wahrscheinlichkeit für diese
Annahme sprach, wird es durch die Betrachtung eines
1) E. Goeldi. Der Ameisenstaat. Leipzig 1911.
2) H. v. Buttel-Reepen. Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienen-
staates. Leipzig 1903.
39 v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten.
der vorher erwähnten Staatengebilde vom Standpunkt
des biogenetischen Grundgesetzes bestätigt, dass der
Ursprung des sozialen Lebens bei den Insekten ein ganz
ähnlicher gewesen sein muss!
Auf ein phylogenetisch früheres Stadium scheint bei den Hummeln
auch die erste Anlage des Nestes durch das Weibchen hinzuweisen.
Dieses errichtet nämlich anfangs ein Häufchen aus Blütenpollen
und Honig, in welches das erste Ei abgelegt wird. Dies ist der
Entwickelungsgrad, den wir bei den primitivsten solitären Bienen
antreffen, und der erst von dem Hummelweibchen noch einmal
kurz durchmessen werden muss, ehe es mit dem Bau von Zellen
beginnt.
Auch die Weibchen der Ameisen, deren Staatenleben meist viel
höher entwickelt ıst, leben anfangs als solitäre Insekten. Nachdem
sie nach dem Hochzeitsflug zu Boden gesunken sind und ihre Flügel
verloren haben, legen sie ın Erde oder Holz eine einfache, allseitig
abgeschlossene Kammer an, die sicherlich insofern auf eine phylo-
genetisch weit zurückliegende Zeit hindeutet, als das Urameisennest
jedenfalls in einer ähnlichen, roh gearbeiteten Höhlung bestanden
haben wird. Auch bei jungen Kolonien, die noch wenige Einwohner
besitzen, ıst die Nestanlage die denkbar einfachste. Die Bauten
weisen noch in allem den Typus derjenigen der primitivsten Arten auf
und lassen noch nichts von jener kunstvollen Architektonik ahnen,
welche sie später auszeichnet. Überhaupt kann man in der Ent-
wickelung eines einzelnen Ameisen- sowie auch Termitenstaates ın
dieser Hinsicht noch deutlich die verschiedensten Stufen der Phylo-
genie erkennen. Doch ich kann auf dieses Thema hier nicht weiter
eingehen, da es allein Stoff genug zu einer besonderen Abhandlung
bietet.
Es lässt sich indessen auch hinsichtlich der Insekten-
staaten der Satz aufstellen, dass die Wiederholung ver-
gangener Entwickelungsphasen einerseits desto genauer
ist, je mehr sich dieselben dem gegenwärtigen Zustand
nähern, während es andererseits desto abgekürzter ist,
je weiter sie im phylogenetischen Stammbaum zurück-
liegen.
Dies findet sich durch alle biologischen Tatsachen bestätigt.
So spiegelt die Ontogenie der hoch organisierten Staaten die Phylo-
genie oft nur noch undeutlich und in mancher Beziehung modifiziert
wieder. Dies zeigt sich auch darin, dass das Ameisenweibchen den
einmal aufgesuchten Schlupfwinkel nie wieder verlässt, sondern von
den in seinem Körper aufgespeicherten Fettmassen zehrt, sowie den
größten Teil seiner eigenen Eier als Nahrung für sich selbst als
auch für die Brut verwendet. Diese Lebensweise hat sich sicher-
lich erst später herausgebildet und es dürfte früher jedenfalls üb-
v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im: Leben der Insektenstaaten. 55
lich gewesen sein, dass auch das Weibchen während seines solitären
Daseins auf Nahrungssuche ausging. Hochinteressant würden Be-
obachtungen sein, wie sich die primitivsten Ameisen, so z. B. die
Ponerinen oder ZLeptothorax in dieser Hinsicht verhalten, worüber
meines Wissens noch keine Berichte vorliegen. Ähnliche Instinkts-
änderungen, die sich im Lauf der phylogenetischen Entwickelung
vollzogen haben, habe ich bei Ameisenweibehen beobachtet. Die
Weibchen vieler in höher entwickelten Staaten lebender Arten
kümmern sich nämlieh nach meinen Wahrnehmungen schon nicht
mehr ım geringsten um Wohl und Wehe der Brut, wenn erst
ganz wenige Arbeiterinnen erschienen sind, während sich bei-
spielsweise die Weibchen von Leptothorax auch dann, wenn Ihre
Kolonien verhältnismäßig hoch entwickelt sind, wie gewöhn-
liche Arbeiterinnen an allen Beschäftigungen beteiligen. Diese all-
mähliche Differenzierung der Instinkte und die mit ihr parallel
laufende Arbeitsteilung hängt aufs allerengste mit denjenigen Organı-
sationsveränderungen der Einzelindividuen zusammen, die durch
das staatliche Leben direkt bedingt worden sind und die demgemäß
in den unentwickeltsten Staaten am wenigsten ausgebildet sind.
Dies habe ich bereits an anderer Stelle zum Gegenstand einer be-
sonderen Abhandlung gemacht, auf die ıch deshalb verweise).
Ebenso ist selbstverständlich die Art der Koloniegründung bei
den dulotischen und parasitischen Ameisen nicht die ursprüngliche,
sondern sie ist erst später, verursacht durch besondere Umstände, ent-
standen. Dies gilt vor allem auch für den Bienenstaat, der bekannt-
lich nicht durch ein Weibchen allein gegründet wird, sondern der
durch Spaltung eines Volkes in zwei Teile mit je einer Königin
an der Spitze entsteht. Es bedarf kaum der Erwähnung, dass dieser
Modus nicht den ersten Anfängen des Staatenlebens bei den Vor-
fahren von Apis mellifica entsprechen kann. Fast scheint es also,
als ob das biogenetische Grundgesetz hier in willkürlicher Weise
in der Ontogenie des einzelnen Staates außer Kraft getreten wäre.
Doch diese auffällige Abweichung liegt, wie ich gleich zeigen werde,
in anderen Lebensgewohnheiten der Vorfahren von Apis mellifica,
die mit der phylogenetischen Entwickelung an sich nicht ım ge-
rıngsten Zusammenhang stehen, ursächlich begründet. Das Schwärmen
dürfte sich nämlich, wie auch H. v. Buttel-Reepen annimmt,
aus dem Wanderinstinkt entwickelt haben, der sich beı zahlreichen
Bienen der wärmeren Erdteile vorfindet. Bei diesen Arten zieht, sobald
der alte Wohnsitz den Bienen aus irgendeinem Grunde nicht mehr be-
hagt, das ganze Volk ab, um sich wo anders anzusiedeln. In den
Nestern dieser Bienen, die biologisch als die Vorläufer von Apis
3) G. v. Natzmer. Die Entwickelung der sozialen Instinkte bei den staaten-
bildenden Insekten. In: Die Naturwissenschaften. Jahrg. II, Nr. 53 (1914).
XXXV. 3
34 v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten.
mellifica zu betrachten sınd, leben nun fast stets mehrere Weibchen
friedlich nebeneinander. Aus dem Wanderinstinkt dürfte nun
die Gewohnheit entstanden sein, dass bei zu großer Bevölkerungs-
zahl, wenn Nahrung und Raum knapp wurden, nicht das ganze
Volk, sondern nur ein Teil desselben mit einem der Weibchen ab-
z0g. Dieser Koloniegründungsmodus war sicherlich im Kampf ums
Dasein gegenüber der Gründung durch ein einzelnes Weibchen von
ungeheurem Vorteil und wird deshalb, einmal entstanden, allmählich
vorherrschend geworden sein. Da sich nun in der Natur nur das
Nützliche erhält und totes Kapıtal zugunsten anderer Zwecke aufge-
zehrt wird, so mussten die Weibchen im Lauf der Zeit all jene Fähig-
keiten verlieren, die ihnen ehemals zur Gründung einer Kolonie
nötig waren. Da sie hiermit aber auch unfähig wurden, sich selbst und
ihre Brut am Leben zu erhalten, so musste die einstige bloße Gewohn-
heit, die Gründung einer neuen Kolonie durch Spaltung vor sich
gehen zu lassen, zur Notwendigkeit werden. Die Sachlage ıst also
die, dass die Staaten von Apis mellifica heutigen Tages in
Wahrheit überhaupt nicht mehr im eigentlichen Sinne des
Wortes neu gegründet werden, sondern dass sie ıhr Da-
sein bereits auf einer hohen Entwickelungsstufe begin-
nen. Aus diesem Grunde ist es auch nıcht möglich, dass
diese Staaten eine eigentliche ontogenetische Entwicke-
lung durchmachen. Betrachten wir die Insektenstaaten als ein-
heitliche Organısmen höherer Ordnung, so drängt sich bei der ver-
schiedenen Art der Koloniegründung unwillkürlich der Vergleich mit
der geschlechtlichen und der ungeschlechtlichen Vermehrung der
Schwämme und der Korallpolypen auf. Während bei der ersteren
die Flimmerlarven ein phylogenetisch vergangenes Stadium ver-
körpern, befinden sich die Individuen bei der letzteren, die durch
Knospung vor sich geht, bereits von Anfang an in einem relatıv
fertigen Zustand. Die Verhältnisse liegen also ganz ähnlich wie
bei der Gründung eines Insektenstaates durch ein einzelnes Weib-
chen einerseits und bei der Spaltung einer Kolonie andererseits.
Nicht unerwähnt will ıch lassen, dass das Schwärmen bei Apes
mellifica durchaus nicht gänzlich vereinzelt dasteht und nicht völlig
unvermittelt auftritt, sondern dass sich im Gegenteil eine allmäh-
liche Entwickelung dieser Lebensgewohnheit erkennen lässt, die
biologisch von den Meliponinen und Trigonen über manche indische
Apis-Arten bis zu unserer Honigbiene fortschreitet‘). Bemerkens-
wert ist die Tatsache, dass sich das Schwärmen völlig selbständig
auch bei manchen brasilianischen Wespen und Hummeln entwickelt
4) Interessant wären Untersuchungen darüber, inwieweit sich parallel mit der
Entwickelung des Schwärmens jene Fähigkeiten zurückbilden, die es dem Weibchen
ermöglichen, selbständig Kolonien zu gründen.
y7
v. Natzmer, Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten. 35
hat. Die Teilung einer Kolonie in mehrere Zweignester, die bei
manchen Ameisenarten, besonders bei Formica rufa, vorkommt, ist
auch ein ganz ähnlicher Vorgang. Das Weibchen der eben ge-
nannten Ameise scheint übrigens nach E. Wasmann auf dem besten
Wege zu sein, die Fähigkeit, selbständig Kolonien zu gründen,
ebenfalls einzubüßen.
Ist innerhalb des Staates von Apis mellifica die phylogene-
tische Entwickelung nicht mehr deutlich erkennbar, so bietet
die ÖOntogenie des Termitenstaates für die Phylogenie desselben
wertvolle Aufschlüsse. Nach übereinstimmenden Berichten ver-
schiedener Forscher beginnt bei den Termiten nicht das Weibchen
allein mit der Nestgründung, während das Männchen wie bei den
anderen staatenbildenden Insekten nach der Begattung zugrunde
geht, sondern beide Geschlechter gehen hierbei gemeinschaftlich
ans Werk. So legen nach G. Jakobsen bei Hodotermes turkestanicus
Männchen und Weibchen zusammen den ersten Schlupfwinkel an,
während nach Beobachtungen von C. Tollin an anderen Arten das
Männchen sogar allein mit dem Nestbau beginnt. Fest steht auch
die Tatsache, dass dem Termitenmännchen anfangs ein Hauptanteil
an der Brutpflege zufällt! Nun hat aber auch bei den Termiten
die männlich Kaste einen weiteren Ausbau erfahren, der mit dem
sozialen Leben im engsten Zusammenhange steht. So setzen sich
die Arbeiter und Soldaten sowohl aus Angehörigen des männlichen
als auch des weiblichen Formenkreises zusammen. In dieser Hin-
sicht unterscheidet sich denn auch der Termitenstaat grundlegend
von allen anderen Staatengebilden im Insektenreich, denen er sonst
in seiner Organisation so überraschend ähnlich ist’). Dies veran-
lasste mich bereits früher, in einer anderen Arbeit den Satz aufzu-
stellen, dass schon in den ersten Urstadien des gesellschaftlichen
Lebens bei den Termiten die Männchen im Gegensatz zu den anderen
‚staatenbildenden Insekten an der Brutpflege u. s. w. Anteil ge-
nommen haben müssen. Da nun die Entwickelung jedes
Staates die ganze Phylogenie noch einmal kurz durch-
läuft, so erfährt diese bisher allein durch theoretische
Erwägungen gestützte Annahme durch die oben mitge-
teilten Einzelheiten aus der Koloniegründung bei den
Termiten eine schlagende Bestätigung.
So trägt auch beim Studium der Lebenserscheinungen der In-
sektenstaaten die Heranziehung des biogenetischen Grundgesetzes
zur Lösung manches entwickelungsgeschichtlichen Problems bei oder
bringt sie wenigstens derselben näher.
5) In einer Arbeit, die demnächst in der „Zeitschrift für wissenschaftliche In-
sektenbiologie“ erscheinen wird, habe ich es unternommen, Konvergenzen in der
Lebensweise, die zwischen Termiten und Ameisen bestehen, auf natürliche Weise zu
erklären.
36 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana).
Wenn auch mittels der hier angewandten Betrach-
tungsweise nichts über die Ursachen der Entwickelung
selbst ausgesagt werden kann, so ıst sie doch deshalb für
die Forschung von bedeutendem Wert, weil sie gestattet,
auch die kompliziertesten Erscheinungen des sozialen
Lebens bei den Insekten auf eine phyletisch einfache
Wurzel zurückzuführen‘).
Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (Bufo e Rana).
Per Osv. Polimanti.
(Dall’ Istituto di Fisiologia dell’ Universitä di Perugia.)
Da molti annı, percorrendo nella primavera la campagna romana,
osservando stagnı e canalı dı scolo, dı maggiore 0 minore portata
dı acqua, la mıa attenzione fu richiamata da un fenomeno carat-
teristico che presentavano larve dı Bufo e Rana. Neglı stagnı,
ossıa ad acqua completamente ferma, queste larve erano situate
nelle piü svariate direzioni e cambiavano dı posto con molta fre-
quenza. Mentre invece nei canali, dove l’acqua scorre sempre in
una determinata direzione, queste larve giacciono immobili, quası
costantemente sul fondo del canale colla superficie ventrale, sempre
tenendo l’estremo cefalico verso la direzione della corrente. Un
fatto caratteristico, che ho notato anche, sı & che si ritrovano quası
costantemente nel filo d’acqua, dove la corrente @ minore (ai latı
del canale e non nel centro) e specialmente poı dove & minore la
profonditä di questa. Osservate queste larve nelle diverse ore della
giornata, sı riscontra che varı sono ı movimenti che compiono e
sempre di breve durata e sempre vengono eseguiti contro corrente.
Talvolta, quando questa & molto forte, vengono travolte le giovanı
larve, perö vanno quası subito a posarsi in una zona morta della
corrente acquea, dove sı mettono sempre in direzione cefalica contro
la corrente. Nei canalı, dove la corrente € molto forte, e quindı
le larve non possono adagiarsı sul fondo, non sı trovano mai 0
almeno molto raramente. Forse quelle rare larve che vi sı ritro-
vano risalgono qui dai canali, dove la corrente & molto minore.
Un fatto costante da me osservato & difatti questo, che cıioe &
maggiore il numero delle larve dı Bufo e Rana nei canalı, ove la
6) Die eigentlichen Ursachen der Entwickelung der Insektenstaaten, die sich
völlig unabhängig voneinander überall im Prinzip ganz gleicher Weise vollzogen
hat, habe ich in einer ausführlichen Abhandlung zu erfassen versucht. Siehe:
G. v. Natzmer, Die Insektenstaaten. Grundriss zu einer natürlichen Erklärung
ihrer Entwickelung und ihres Wesens. In: Entomolog. Zeitschr. Frankfurt a. M.,
Jahrg. XXVII, Nr. 34 u. s. w. (1913). Diese Arbeit kann jedoch nur als ein aller-
erster Grundriss gelten. Gegenwärtig bin ich mit einer umfassenden Zusammen-
stellung und gründlichen Ausarbeitung meiner Anschauungen beschäftigt.
J
Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e kana). 3
corrente dell’ acqua & minore, rispetto a quelli, dove questa & molto
piü forte. Volendo darsi una spiegazione di questo fenomeno, si
pensa subito che & una manifestazione di „Reotropismo*
Össervazioni analoghe ed una spiegazıone simile avevano avan-
zato appunto per le larve dı Batracı, ın queste determinate con-
dizion, Camerano!) e Dewitz?), perö sıa l!’ uno che l’altro autore
non erano penetrati nell’intimo del fenomeno per poterne dare una
spiegazione plausibille. Camerano aveva inoltre notato che larve
dı Rana muta, nei corsı d’acqua delle Alpı ıtaliane, hanno un’ appen-
dice caudale molto piü lunga dı quelle di pianura, appunto perche
le prime debbono sopportare, per risalıre la corrente, una maggiore
resistenza, data dalla maggiore velocitä dell’acqua e quindi deb-
bono essere dotate dı un organo caudale locomotore molto piü
valido.
Come bene sappiamo, il fenomeno del reotropismo € molto
comune in natura, sia nel regno vegetale che ın quello anımale?°).
Perö, questa Sram dı reotropismo, che sı osserva in queste larve
di Batraci, & tutta speciale ed ha le sue caratteristiche particoları.
Abbıamo visto innanzı tutto, come queste larve dı Bufo e dı Rana
rımangono coll’ estremo cefalico nella direzione opposta alla cor-
rente, ma si ritrovano solamente nei corsi d’acqua non molto rapıdi
e poi rimangono quasi costantemente poggiate sul fondo colla
superficie ventrale, dove rımangono immobili quası tutta la giornata.
Dunque & questa una forma di reotropismo, differente ad esempio
da quella che sı osserva nei pescı*), che risalgono delle correnti
anche molto forti, sempre stando in quası continuo movimento.
Anche mettendo queste larve in un bicchiere pieno di acqua e
poı agitando in un determinato senso, si dispongono con |’ estremo
cefalico contro corrente, solo quando questa non & molto forte,
altrimenti sı lasciano trasportare passivamente. Dunque, perch& sı
abbıano fenomeni di reotropismo in larve dı Bufo e di Rana,
occorre che la corrente acquea, dove queste sı trovano, sia di
modica veloecitä.
Il rimanere poı dı queste larve, quası costantemente adagıate
sul fondo, cı porta a ritenere che, affinche questa forma di reotro-
pismo abbia luogo, occorre ıl contatto con una superficie solida.
1) L. Camerano. Bollettino del Museo di Zoologia e Anatomia Comparata
Torino 1893, vol. VIII. Atti della R. Academia di Torino classe ricerche fisiche
1890—91, vol. XXVI.
2) J. Dewitz. Über den Rheotropismus bei Tieren. Arch. f. Anat. u. Physiol.
(physiologische Abteilung). Suppl.-Band 1889, p. 231—244.
3) J. Loeb. Die Tropismen in Handb. d. vergl. Physiologie von H. Winter-
stein. Jena, Fischer, 1912. Bd. IV, p. 451-519.
4) Lyon, E. P. On Rheotropism. I. Amer. Journ. Physiol., vol. 12, 1904,
p- 149. — Ders. Rheotropism in fishes. Biol. Bull., vol. 8, 1905, p. 253. —
Ders. On Rheotropism. II. Amer. Journ. Physiol., vol. 24, 1907, p. 244.
38 Polimanti, Sul Reotropismo nelle Larve dei Batraci (bufo e Rana).
Un riscontro dı questo reotropismo & stato visto da Parker?) ın
Amphioxus, da Lyon in pesci accecatı e da Jennings‘) in Para-
maecium. $ı tratta in fondo dı una forma dı „Reotropismo
negativo.“
Rimane ora dı rendersi conto del „siguificato biologico dı tale
forma di reotropismo“ ın queste larve dı batracı. Uno sguardo
alle osservazioni di fisiologia comparata, compiute sopra questo
argomento, cı convince subito che in questo modo !’ alımentazione
delle larve viene ad essere dı molto facılıtata. I detriti vege-
talı ed animalı, larve di insetti, ecc., trasportatı dalla corrente
acquea, penetrano nell’ orificio boccale dı queste larve. Ognuno
quindi vede in questa speciale posizione reotropica un fattore della
pıü alta importanza, anzı ıl principale per la ricerca del nutrı-
mento. Q@uesta mia idea trova una conferma in osservazioni com-
piute ın altrı ordini dı anımalı, sıa viventi, come anche fossilı.
Lo Bianco’) ha osservato, ed anch’ io ho potuto constatare, che
moltissimi polipı idroidi del golfo dı Napoli, ad esempio Coryden-
drium, Eudendrium, Gemmaria, Tubularia, ecce. stanno coı loro
sıfonı rivolti sempre contro le onde marine, apportatricı appunto
del nutrimento. Il caratteristico poi si & che perdono gli ıidranti e
cadono ın stato dı vita latente nella stagione ınvernale, quando le
onde marine sono molto violente e quindı non potrebbero ricavare
anche nutrimento alcuno da queste, perche glı organısmi microscopici
che a cıö dovrebbero servire, data la violenza della corrente marina,
non potrebbero soffermarsi sulle bocche dı questi individui, le
quali dı conseguenza debbono rimanere costantemente chiuse.
Non meno interessantı sono le osservazionı che sono state fatte
a questo proposito sopra glı anımalı fossilı.
Weissermehl®°) ha vısto che ı corallı fossılı sono rivolti tuttı
coı loro tentacoli verso quel punto, da dove viene ıl nutrimento;
da qui anche lo speciale incurvamento che spesso presentano. Nel
caso la corrente marina fosse venuta da piü partı, allora ıl tronco
del corallo rimaneva piü 0 meno verticale. Questa ipotesi era stata
gia avanzata da Jäkel”) per i crinoidi fossil, come anche, molto
prima di questi autori, Semper!®) riteneva che lo sviluppo e
5) Parker, G. H. The sensory reactions of Amphioxus. Proc. American
Academy of arts and sciences, vol. 43, 1903, p. 415—455.
6) Jennings, H. S. Contributions to the study of the behavior of lower
organism. Carnegie Institution of Washington. Publ. Nr. 16, 1904, 256 pp.,
81 figs. — Ders. Behavior of the lower organisms. New York 1906.
7) S. Lo Bianco. Notizie biologiche riguardanti specialmente il periodo di
maturitä sessuale degli animali del golfo di Napoli Mitteilung a. d. Zoolog. Station
zu Neapel, 19. Bd., 1909, p. 513—763. P
8) W. Weissermehl. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1897, Bd. 49,
S. 865.
9) Jäkel. Zeitschr. d. deutsch. geolog. Gesellsch., 1891, Bd. 43, S. 595.
10) Semper. Die natürlichen Existenzbedingungen der Tiere. 1880, Bd. II, S. 65.
Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 3,5)
l’aumento dei banchi di corallo fosse sotto la diretta influenza del-
l’azione delle onde marine; da qui la formazione delle roccie e@
delle isole, una teoria questa, contraria a quella emessa da Darwin,
Una tale ipotesi, eio6 che il reotropismo negativo di larve dı Rana
e di Bufo sia in diretta dipendenza dell’ alimentazione di queste,
trova anche una completa conforma nel suecessivo sviluppo di
queste. Appena difatti cominciano a comparire gli arti posteriorı,
ma specialmente poi, quando i quattro arti sono completamente
sviluppati, ossia quando i movimenti di traslazione vengono ad
essere molto piü facilitati, di quando esiste solamente una coda, ıl
reotropismo va man mano scomparendo. Dunque, rendendosi
sempre piü completi e perfetti i movimenti di locomozione, anche
la ricerca del nutrimento risulta molto prü facilitata ed ıl fenomeno
del Reotropismo diviene biologicamente inutile.
Zum Farbensinn der Bienen.
Beobachtungen in der freien Natur.
Von Hermann Kranichfeld, Konsistorialpräsident a.D.
Das Problem des Farbensinns der Bienen kann noch nicht als
gelöst angesehen werden. Während die Versuche von Lubbock,
Forel, H. Müller, von Buttel-Reepen, von Dobkiewiez,
Frisch u. a. für die Farbentüchtigkeit der Bienen zu sprechen
scheinen, haben Plateau, Bethe und Heß gleichfalls auf Grund
von Experimenten das Gegenteil behauptet, und es ist noch nicht
gelungen, die Widersprüche auszugleichen. In einem Punkte ist
man sıch allerdings näher gekommen. Die neuesten Untersuchungen,
welche von Heß und Frisch ausgeführt wurden, haben überein-
stimmend festgestellt, dass die Bienen das Rot nicht sehen können
und-infolgedessen Rot mit Schwarz, Purpurrot mit Blau und Vio-
lett, Orange mit Gelb verwechseln. Während sich aber nach Heß
die Bienen auch gegenüber den anderen Farben wie total farben-
blinde Menschen verhalten und nur Helligkeits werte unterscheiden
können, sollen sie nach Frisch noch Gelb und Blau wahrnehmen
und Farbenwerte in dem gleichen Umfang wie Rotblinde er-
kennen.
Bei biologischen Experimenten lässt sich die betreffende Teil-
erscheinung niemals vollständig isolieren und es bekommt daher
der Forscher auch die einzelnen Faktoren nicht so sicher wie beim
physikalischen und chemischen Experiment in die Hand. Daraus
erklärt sich in unserem Falle zum Teil die Unsicherheit der Re-
sultate. Da diese Unzulänglichkeit der experimentellen biologischen
Untersuchung konstitutionell ist und sich nicht beseitigen lässt,
empfiehlt es sich, letztere durch die Beobachtung im Freien zu er-
gänzen. Bei ihr verzichtet man von vornherein auf Isolierung der Teil-
40 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen.
erscheinung. Indem man aber die Verhältnisse in der Komplikation,
wie sie die Wirklichkeit bietet, beobachtet!), kann man die Bedeu-
tung, welche das einzelne Isolationselement für das ganze zusammen-
gesetzte Erscheinungsgebiet besitzt, erkennen und daraus hück-
schlüsse auf die Beschaffenheit des Isolationselementes selbst ab-
leiten.
Die Beobachtung der Bienen im Freien ist allerdings mit ge-
wissen Schwierigkeiten verbunden. Bei meinen Schweizerreisen
hatte ich bemerkt, dass die Bienen mit besonderer Vorliebe die in
den Voralpen häufige, hinsichtlich der Farbe unscheinbare Kohl-
distel (Oirsöum oleraceum) aufsuchen. Ich hatte mir vorgenommen,
diese auffallende Erscheinung zu verfolgen, fand aber in den nächsten
Jahren keine Gelegenheit dazu, da an den Orten, welche ich be-
suchte, entweder der Reichtum der Flora bezw. der Bienenstände
zu gering oder die Beobachtung durch äußere Umstände zu sehr
erschwert war. Außerordentlich günstig lagen dagegen die Ver-
hältnisse im Kanton Appenzell, wo ich mich im Sommer 1912 auf-
hielt. Auf den Wiesen und Almen zwischen Weißbad und Steinegg
fand ich nicht nur eine große Mannigfaltigkeit blühender Pflanzen,
die fast immer von Bienen besucht waren, man konnte hier auch,
da alle Wiesen von Fußwegen gekreuzt werden, leicht Beobach-
tungen anstellen. Besonders günstig war der Umstand, dass aul
den 2-3 m breiten Rainen zwischen den Grundstücken und an
den Wegen das Gras vielfach noch längere Zeit stehen blieb, nach-
dem die Wiesen bereits gemäht waren. Die Bienen waren in diesem
Falle mit ihrem Flug auf die Raine beschränkt und konnten oft
während der ganzen Dauer desselben bequem verfolgt werden.
Ich habe meine Beobachtungen in der Zeit zwischen dem 22.
und 31. Juli während der Morgenstunden 10—12 Uhr gemacht und
dabei mein Augenmerk vor allem auf zwei Punkte gerichtet: Ob
1. bei der Wahl der zuerst beflogenen Blüten sich eine Vorliebe
für eine bestimmte Farbe geltend macht und 2. ob bei der sogen.
Konstanz, d.h. der während eines Ausfluges beobachteten Beständig-
keit hinsichtlich der einmal gewählten Blüte die Farbe derselben
als Erkennungszeichen dient.
Das Resultat war in betreff des ersten Punktes eindeutig ein
negatives. Wenn sich auch bei den Bienen bei der experimen-
tellen Untersuchung eine Vorliebe für eine bestimmte Farbe oder
für sanftere Farben (blau, violett) überhaupt herausstellen sollte
(H. Müller), so trat sie doch jedenfalls bei der Wahl der Blüten
nicht hervor.
1) Die Beobachtung im botanischen Garten (Plateau) entspricht dem nicht,
da hier nicht die bunte, wechselnde Mannigfaltigkeit wie im Freien herrscht.
Kranichfeld, Zum Farbensinn. der Bienen.
Hn
Beobachtungen.
Am 22. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
1. Rain mit Blüten von Cirsium oleraceum (gelblichweiß), La-
thyrus pratensis (gelb), Trifokum pratense (rot), Trifohum repens
(weiß), Crepis (gelb), Heracleum sphondylium (weiß), Campanula
rotundifolia (blau), Tragopogon pratensis (gelb), Chrysanthemum Leu-
canthemum (weiß), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb).
9 Bienen auf Cirsium oleraceum; auf einem Köpfchen gleich-
zeitig 3. Die Bienen bleiben, soweit man das Feld übersehen kann,
während der Beobachtungszeit dem Oöirsium oleraceum treu, doch
lässt sich 1 Biene auf einen Moment auf Lathyrus pratensis nieder;
1 Biene fliegt suchend von Blüte zu Blüte (Lathyrus pratensis, Tri-
folium repens, Chrysanthemum Leucanthemum u. s.w.). Am Schlusse
der Beobachtungszeit sind noch 8 Bienen auf dem Rain.
2. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.
3 Bienen auf Cörsium oleraceum, die während der Beobachtungs-
zeit dem Cirs. olerae. treu bleiben; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt.
Am 24. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
3. Rain mit Blütenstand ähnlich wie 1.; doch ohne (irsium
oleraceum, dagegen mit Centaurea phrygea (rot).
Von Bienen nicht besucht ?).
4. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Crrsium
oleraceum.
Von Bienen nicht besucht?).
5. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; mit einzelnen Stauden
von Ülrsium oleraceum.
Von Bienen nicht besucht?).
6. Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; doch ohne Cirstum
oleraceum, dagegen mit zahlreichen Exemplaren von (entaurea
phrygia (vot).
4 Bienen auf Centaurea phrygia, die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt’). Eine Biene auf Cent. phrygia 17 Minuten lang ver-
folgt. Sıe zeigte vollkommene Konstanz. Auch am Schlusse der
Beobachtungszeit nur Cent. phrygia von Bienen besucht.
7. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 1., außerdem Cent.
phrygia (rot) und Cirsium palustre (vot).
2 Bienen auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt®). Die Bienen auf ( oleraceum konstant.
2) 2 Hummeln auf Centaurea phrygia und Trifolium pratense.
3) 1 Hummel auf Rhinanthus major.
4) 1 Hummel auf Rhinanthus major, 1 Hummel auf Cirsium oleraceum.
5) 1 Hummel auf Centaurea phrygia.
6) 1 Hummel auf Cirsium oleraceum.
49 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen.
8. Rain mit ähnlichem Blütenstand wıe 1., doch ohne Cirsium
oleraceum”).
1 Biene auf Trifolium repens (weiß); nur kurze Zeit verfolgt;
konstant.
9, Rain mit ähnlichem Blütenstand wie 1.; außerdem (irsium
palustre (rot) und Knautia (blau).
1 Biene auf Cirsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz. |
10. Gemähte Wiese mit zahlreichen weißen Blütendolden und
Trifolium repens (weiß).
1 Biene auf Trifolium repens. Konnte nicht verfolgt werden.
11. Rain mit Centaurea phrygia (rot), Chrysanthemum Leucan-
themum (weiß), Ranunculus (gelb), Crepis (gelb), wenig Trifoliwm
pratense (rot), Plantago media (weiß-rötlich).
2 Bienen auf Centaurea phrygia; 1 Biene auf Plantago media.
1 Biene fliegt bisweilen, scheinbar von der Farbe getäuscht, von
Centaurea phrygia auf Trifolium pratense zu, ohne sich auf dasselbe
niederzulassen.
25. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
12. Rain mit Blüten von (irsium oleraceum (gelblichweiß),
Campanula rotundifolia (blau), Rhinanthus major (gelb), Hypericum
perforatum (gelb), Spiraea ulmaria (weiß), Lotus corniculatus (gelb),
Lathyrus pratensis (gelb), Prunella major (blau), Cirsium palustre
(rot), Vicia eracca (violett), Heracleum sphondylium (weiß).
2 Bienen auf Cirsium oleraceum, die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt. Vollkommene Konstanz.
13. Wiese mit Cirsium oleraceum (gelblichweiß). Trefokum
pratense (rot), Cirsium palustre (rot), Gymmadenia conopsea (purpur-
rot), Dinanthus superbus (vosarot), Oentaurea phrygia (rot).
4 Bienen auf Cörsium oleraceum; die anderen Blüten von Bienen
nicht besetzt°®). Vollkommene Konstanz, soweit Beobachtung mög-
lich war. Natürlich konnten bei der größeren Anzahl von Bienen
nur einzelne verfolgt werden.
14. Wiese mit ähnlichem Blütenstand wie 13.
Zahlreiche Bienen auf Cirsium oleraceum; einige auf Centaurea
phrygia. Soweit Beobachtung möglich war, konstant.
15. Wiese am Appenzeller Wasserreservoir. Cirsium oleraceum
(gelblichweiß), COentaurea phrygia (vot), Knautia (blau), Trifolium
incarnalum (purpur), Lathyrus pratensis (gelb), Vicia eracca (violett),
Gymnadenia conopsea (purpurrot), Orchis maeculata (violett-weiß).
7) und ohne (entaurea phrygia.
5) 2 Hummeln auf Cirsium oleraceum, 1 Hummel auf Centaurea phrygia.
Letztere fliegt in !/, Stunde etwa 300 Blüten an, lässt sich dabei nur dreimal auf
Oirsium palustre nieder. An Üirsium oleraceum fliegt sie stets vorbei.
ww
Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 4
Die Stauden von Cirsium oleraceum stehen in 3 etwa 5 m von-
einander entfernten Gruppen.
Die Köpfchen von (irsium oleraceum sind von zahlreichen
Bienen besetzt. Auf Centaurea phrygia nur 1 Biene’). Soweit Be-
obachtung möglıch war, konstant.
Am 26. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
16. Rain an einer Fichtenhecke. Nach der Hecke zu stehen:
Cirsium oleraceum (gelblichweiß), Heracleum sphondylium (weiß),
Galium mollugo (weiß), Spiraea ulmaria (weiß) (alle Stauden unge-
fähr gleichhoch); auf dem Rain selbst: Trrfohum pratense (rot),
Trifolium repens (weiß), Prunella grandiflora (blau), Lotus corni-
culatus (gelb), Vieia eracca (violett), Rhinanthus major (gelb), Orepis
(gelb), Hypericum perforatum (gelb), Centaurea phrygia (rot).
5 Bienen auf Cirsium oleraceum, 3—4 Bienen auf Heracleum
sphondylium, 1 Biene auf Centaurea phrygia. Eine Biene auf Heracı.
sph. '/, Stunde lang verfolgt. Sie wechselt den Blütenstand etwa
30mal, fliegt stets an (irsium oleraceum, Centaurea phrygia Vor-
bei und bleibt dem Heracl. sph. treu. 1 Biene fliegt von Centaurea
zu Prunella, Trifohum pratense, Trifolium repens etc.
Am 31. Juli 1912. Heller Sonnenschein.
17. Wiese mit Centaurea phrygia (rot), Hypericum perforatum
(gelb), Tragopogon pratensis (gelb), Rhinanthus major (gelb); Lathyrus
pratensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb), Kuphrasia officinalis
(weiß), Scabiosa columbaria (blau). Kein Cirsium oleraceum.
2 Bienen auf Centaurea phrygia, 1 Biene auf Hypericum per-
foratum'®). Letztere besucht in 3 Minuten etwa 40 Blüten, fliegt
dabei nur einmal Tragopogon pratensis an.
18. Sumpfwiese mit (irscum oleraceum (weiß-gelblich), Cörscum
palustre (vot), Centaurea phrygia (rot), Lotus corniculatus (gelb),
Trifolium pratense (vot), Gymmadenia conopsea (purpur), Kuphrasia
offieinalis (weiß), Lathyrus pratensis (gelb), Parnassia palustris (weiß).
Zahlreiche Bienen auf (irsium oleraceum, 1 Biene auf Cirsium
palustre bezw. Centaurea phrygra.
Mit Anfang August setzte Regenwetter ein, das meinen Beob-
achtungen ein Ende machte'!).
Resultate.
Von den 18 beobachteten Feldern wurden 15 von Bienen be-
sucht. 10 von diesen 15 Feldern enthielten Stauden von (irstum
9) 1 Hummel auf Trifolium incarnatum; 10 Minuten lang beobachtet. Sie
wechselt in dieser Zeit 39mal den Blütenstand, fliegt dreimal G@ymnadenia conopsea
an, ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen, einmal Trifolium pratense.
10) 1 Hummel auf Centaurea phrygia, 1 Hummel auf Scabiosa.
11) Nach der Regenperiode wurde Cirsium oleraceum im allgemeinen nicht
mehr von Bienen und Hummeln beflogen.
44 Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen.
oleraceum. In diesen 10 Feldern saßen die Bienen entweder aus-
schließlich (in 5 Fällen) oder doch in ihrer Mehrzahl auf den Köpfen
von Cirsium oleraceum. In 1 Fall wurde außer Cirsium oleraceum
noch Lathyrus pratensis, ın 2 Fällen Centaurea phrygia, ın 1 Fall
Oentaurea phrygia und Heracleum sphondylium, ın 1 Fall Oirsium
palustre beflogen.
In den Feldern, auf welchen es keine Stauden von (irsium
oleraceum gab, waren in
1 Felde Blüten von Centaurea phrygia;
LE & „ Oentaurea phrygia und Plantago media;
1 ARE 5 „ Oentaurea phrygia und Hypericum perforatum;
2 Feldern „ „ Trifolium repens besetzt.
Alle anderen Blüten wurden von Bienen nicht besucht.
Die besuchten Blüten waren zum bei weitem größten Teile
von unscheinbarer Farbe:
Cirsium oleraceum, Trifolium repens, Heracleum sphondylıum,
Plantago media:
weiß in verschiedenen Abstufungen,
Ventaurea phrygia und Cirsium palustre:
rot,
Hypericum perforatum, Lathyrus pratensıs:
gelb.
Auch bei der relativ noch am meisten besuchten Oentaurea
phrygia war es offenbar nicht die Farbe, was anlockte. Bei der
Wahl der Blüten scheint daher die Farbe nicht bestimmend zu sein.
Ein anderes Resultat ergibt sich hinsichtlich der Frage, ob den
Bienen bei der Konstanz die Farbe als Erkennungszeichen dient.
Was zunächst die Konstanz selbst betrifft, so haben meine Be-
obachtungen nur bestätigt, dass sie bei den Bienen einen relativ
hohen Grad erreicht und stärker als bei den Hummeln ausgebildet
ist. Dass beide fast durchweg dem einmal beflogenen Cirsium
oleraceum treu bleiben, kann man allerdings kaum als Beweis für
dieselbe ansehen, da die Blütenköpfe dieser Pflanze ihnen eine be-
sondere Lieblingskost zu bieten scheinen. Die Biene bleibt aber auch
dann bei der einmal erwählten Blüte, wenn diese nicht zu den bevor-
zugten gehört. So konnte ich auf dem Rain Nr. 16 eine Biene
auf Heracleum sphondylium ‘|, Stunde lang verfolgen. Sie wechselte
während dieser Zeit 30mal den Blütenstand und flog dabei oft dicht
an den mit anderen Bienen besetzten Stauden von Cirsium olera-
ceum, sowie an Centaurea phrygia u.s. w. vorbei, ohne sich ım ge-
ringsten beirren zu lassen. Die Konstanz der Hummeln ist wohl
schwächer als die der Bienen, aber doch immer noch recht groß
(gegen Plateau). Während !/, Stunde sah ich ım Feld Nr. 13
eine Hummel etwa 300mal die Centaurea phrygia befliegen. Sie
setzte sich in dieser Zeit zweimal auf Cörsium palustre, aber nie-
Kranichfeld, Zum Farbensinn der Bienen. 45
mals auf das von Hummeln sonst ebenfalls bevorzugte (irstum
oleraceum.
Welche Erkennungszeichen die Bienen und Hummeln beim
Aufsuchen der gleichen Blüten leiten, würde man schwer feststellen
können, wenn die Konstanz eine absolute wäre. Das ıst sıe aber
nicht; auch nicht bei den Bienen. Wir haben bei ihnen sogar zwei
verschiedene Fälle der Inkonstanz zu unterscheiden. Im ersten
seltenen Fall scheint die Konstanz überhaupt zu fehlen. So flog
in Feld Nr. 1 eine Biene suchend von Blüte zu Blüte (Zathyrus
pratensis, Trifolium repens, Urysanthemum Leucanthemum ete.); ın
Feld Nr. 16 fiog eine Biene von Centaurea phrygia zu Prunella
grandiflora, Trifolium pratensis, Trifolium repens etc. Da alle Blüten
ın großer Anzahl vertreten waren und die anderen Bienen auf der
Oentaurea phrygia sich konstant zeigten, ıst hier die Annahme Pla-
teau’s, dass die Bienen ın solchem Falle die Tracht mit der gleichen
Blüte nicht vervollständigen könnten, nicht zulässig. Ich möchte
vielmehr die Vermutung aussprechen, dass es sich um junge Bienen
handelte, bei denen die Konstanz noch mangelhaft ausgebildet war.
Für unsere Betrachtung ist nur der zweite Fall von Inkonstanz von
Bedeutung, bei welchem die Bienen und Hummeln die Blütenart
wechseln, weil ihre Kennzeichen sıe täuschen. Ich führe bei den
wenigen hier ın Betracht kommenden Beobachtungen auch die
Hummeln mit an, da dıe Anzahl der Fälle sonst zu klein wäre, um
Schlüsse aus ihnen ziehen zu können. In Feld Nr. 11 (1) blieben
die Bienen der Centaurea phrygia (rot) treu, flogen jedoch bisweilen
auf Trifolium pratense zu (rot), ohne sich auf ıhm niederzulassen.
In Feld Nr. 13 (2) flog, wie schon erwähnt, eine Hummel, die einige
hundertmal der Centaurea phrygia (rot) treu geblieben war, zweimal
auf Cirsium palustre; ın Feld Nr. 15(3) besuchte eine Hummel in
10 Minuten 39mal Trifolium incarnatum (purpur), einmal Trifohium
pratense (rot), dreimal näherte sie sich der Gymnadenia conopsea
(purpurrot), ohne sich jedoch auf der Blüte niederzulassen; in Feld
Nr. 17 (4) wechselte eine Biene in 3 Minuten 39mal den Blüten-
stand (Hypericum perforatum (gelb)), und flog dabei einmal Trago-
pogon pratensis (gelb) an; eine Hummel, welche ich 10 Minuten
beobachtete, besuchte dort (5) in den Flügen 1—30 die Centaurea
phrygia (rot), in den Flügen 31—41 nacheinander Lathyrus pra-
tensis (gelb), Lotus corniculatus (gelb) und Trifolium pratense (vot);
ın den Flügen 4253 wieder Centaurea phrygia (rot), in den Flügen
54—59 abwechselnd Centaurea phrygia (rot) und Trifolium pratense
(rot). Im Feld Nr. 14 (6) endlich flog eine Biene von (irsium olera-
ceum auf Centaurea-Centaurea-Centaurea und kehrte dann wieder
auf Cirsium oleraceum zurück.
Es sind im ganzen nur sechs Beobachtungen, bei denen aber
eine größere Anzahl von Fällen der Inkonstanz konstatiert werden
46 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
konnte. Die Beobachtungen 1—4 dürften ein Beweis dafür sein,
dass sich Bienen und Hummeln durch die Farbe täuschen lassen.
Die Bienen und Hummeln flogen von roten bezw. gelben Blüten
einer Art auf rote bezw. gelbe einer anderen Art. Besonders inter-
essant ist die Beobachtung (3) auf Feld Nr. 15. Die Hummel flog
hier verschiedene Male dicht an die Gymnadenia conopsea heran.
Da diese einen so intensiven Geruch hat, dass man auch einen ein-
zelnen Stengel nicht im Zimmer behalten kann, muss man annehmen,
dass die Hummeln sich entweder vom Geruch nicht leiten lassen
oder dass ihr Geruchsinn nur auf Nektar eingestellt ist und andere
(Gerüche nicht perzipiert. Bei den Beobachtungen 5—6 kommt die
Farbe für die Inkonstanz gar nicht oder erst in zweiter Linie in
Betracht. Das Resultat der zweiten Beobachtungsreihe ist daher
nicht ganz eindeutig, doch dürfte sich auf diesem Wege bei einer
größeren Anzahl von Einzelbeobachtungen der Wahrscheinlichkeits-
beweis für die Farbentüchtigkeit der Bienen und Hummeln ver-
stärken lassen. Die Beobachtungen stimmen mit den von Herrn
Geheimrat K. v. Frisch in Freiburg vorgeführten Experimenten
überein, wenn man annımmt, dass die Konstanz der Bienen mehrere
Tage anhält und die Farbe auch dort als Erkennungszeichen
diente.
Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung
und über Nachdauer dieser Farbänderung.
(Farbxenien und Färbungstelegonie.)
Von A. v. Tschermak (Prag).
Durc’'h systematische Bastardierungen zwischen Kanarienweibchen
und Männchen verwandter Wildvogelarten (Fringilliden: Hänfling,
Girlitz, Zeisig, Stiglitz, Gimpel) konnte ich vor einigen Jahren
(1910) den ersten zuverlässigen Beweis dafür erbringen, dass auch
ım Tierreiche sogen. Xenien vorkommen. Man versteht darunter
Abänderungen, welche mütterliche Organe oder die Hüllen der Frucht
(durch Bastardierung) in einer korrespondierenden, patroklinen d. h.
durch den: Vatertypus bezeichneten Richtung erfahren. In den er-
wähnten Versuchen betraf die patrokline Abänderung die Zeichnung
der Eischale. Während nämlich ein Kanarienweibchen bei Befruch-
tung durch ein art- und rassegleiches Männchen Eier legt mit un-
scharfer hellbirauner Fleckung, welche an unbefruchteten Eiern nur
angedeutet ist, oder nahezu fehlt, liefert dasselbe Individuum bei
Befruchtung ‘durch ein Männchen der genannten fremden Arten
Eier, die bestimmte schwarzbraune Abzeichen aufweisen. Diese
Punkte, Doppselpunkte, Punktreihen, Kurzstriche, Kommata, Geißeln
oder Fäden ?ihneln in hohem Maße der typischen Zeichnung der
Reinzuchteier der betreffenden Wildvogelart, so dass daraufhin für
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 47
ein geübtes Auge geradezu die Bestimmung der an der Bastar-
dierung beteiligten Vaterart möglich ist. Meine damalıge Fest-
stellung nahm bereits ausdrücklich Bezug auf die älteren Angaben
von W. von Nathusius (1867) und von Kutter (1877—1878),
dass eine „gewöhnliche“ bei Reinzucht weißschalige Eier legende
Haushenne (wahrscheinlich war die vielverbreitete Rasse Italiener
Rebhuhn gemeint) nach Befruchtung mit einem Hahn der Cochin-
chinarasse, welche bei Reinzucht braune Eier produziert, nunmehr
gelbliche Eier legen soll. Diese etwas schwankende Abänderung
soll schon wenige Tage nach Beginn der Bastardpaarung einsetzen
und im Laufe des Verkehrs der Tiere zunehmen, ohne allerdings
die typische Cochinchinafärbung zu erreichen. Diese älteren An-
gaben sind in umgekehrtem Sinne — nämlich Aufhellung der braunen
Reinzuchteifarbe von Plymouth Rock durch Bastardierung mit
einem Hahn der typisch weißeiigen Rasse „Italiener oder Livor-
neser Rebhuhnfarben“ — inzwischen von P. Holdefleiß (1911) er-
härtet und erweitert worden. Hingegen ist in letzterer Zeit A. Wal-
ther (1914) bei der Paarung von Thüringer Pausbäckchenhenne
(bei Reinzucht weiße bis gelbliche, ja hellbraune Eifarbe) und Nackt-
halshahn (rötlichbraune Eifarbe), Krüperhenne (weiß bis gelblich)
x. Japanesenhahn (weiß bis gelblich, ja hellbraun), Millefleurhenne
(braun bis hellbraun) X Pausbäckchenhahn (weiß bis gelblich, ja
hellbraun) zu einem wesentlich negativen, höchstens ım Fall III
angedeutet positiven Resultat bezüglich des Verhaltens der Eifarbe
(durchaus negativ bezüglich der Größe bezw. des Gewichtes, der Form
und des Glanzes) gelangt. Für dieses Ergebnis möchte ich einerseits die
erhebliche, zum Teil von weiß bis hellbraun gehende Variabilität
der Eipigmentproduktion bei den gerade gewählten Rassen und Indi-
viduen verantwortlich machen, andererseits wohl auch einen be-
sonderen Charakter der benützten Rassen, welcher sie gerade für
solche Versuche ungeeignet macht (vgl. meine eigenen Erfahrungen
unten!).
Die Feststellung von ganz spezifischen Zeichnungsxenien führte
mich dazu, beim Erklärungsversuche die Alternative aufzustellen:
entweder spezifische Mitbestimmung der Pigmentierung der Ei-
schale seitens des bastardierten Eidotters (intraovale Xenienreaktion)
oder charakteristische, geradezu korrespondierende Umstimmung
des mütterlichen Eischalenbildungsapparates durch irgendwelche
Bestandteile des fremdartigen Samens (extraovale Xenienreaktion).
— Die erstere Möglichkeit bezeichnete ich als zwar einfacher und
leichter vorstellbar, die andere jedoch als keineswegs ausgeschlossen.
Diese hier nur ganz kurz erwähnte Alternative, welche ich be-
reits früher (1910— 1912) ausführlich behandelt habe, sei durch zweı
schematische Figuren veranschaulicht. Denselben sei noch ein Dia-
gramm über die älteste, heute jedoch überwundene Vorstellung hin-
48 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
zugefügt, dass gewisse Spermabestandteile direkt — ohne Umweg
über die befruchtete Eizelle — eine chemische Veränderung der
Eihüllen bezw. der Eischale zu bewirken vermögen (Seidlitz 1869).
Die drei Bilder bedürfen wohl keiner näheren Erklärung.
1. EB Ill.
KEI-
l
) U
)
|
|
l
f
A A
Direkter Einfluss des Intraovale Xenienreaktion Extraovale Xenienreaktion
Samens (Seidlitz 1869). (W. v. Nathusius 1879, (A. v. Tschermak 1910).
P. Holdefleiß 1911).
Schema der drei Möglichkeiten der Xenienreaktion:
(Abkürzungen: #L —+ U=Eileiter und Uterus, Ov = Ovarium.)
Eine Entscheidung in der oben erwähnten Alternative können
einerseits Versuche von Imprägnation mit unfruchtbar, doch sonst
nicht unwirksam gemachtem Samen bringen, andererseits Experi-
mente über eventuelle Nachwirkung einer Farbenabänderung nach
Aufgeben der Bastardzucht und Wiederherstellung der Reinzucht.
Für eine solche, bisher allerdings nicht sichergestellte Nach-
wirkung von Bastardierung an den Fruchthüllen oder gar an der
Frucht selbst besteht bereits der Terminus „Telegonie“. Im spe-
zıellen Falle hier handelt es sich um die Frage bloßer Hüllen-
telegonie bezw. Eifarbentelegonie. Der eventuelle Nachweis
eines solchen Vorganges würde für die oben an zweiter Stelle er-
wähnte Vorstellung, also für einen extraovalen Ursprung der Fär-
bungs- und Zeichnungsxenien des Vogeleies sprechen und damit
zur Vorstellung führen, dass bei der Imprägnation irgendwelche Be-
standteile des Samens zur Einwirkung auf den mütterlichen Eiı-
schalenbildungsapparat gelangen und dessen Tätigkeitszustand mit-
bestimmen, eventuell in spezifischer Weise verändern. In der
Frage der Färbungstelegonie von Vogeleiern liegt bisher nur die
ungefähre, nicht näher präzisierte und detaillierte Angabe von
.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 49
Kutter (1878) vor, dass nach Bastardierung einer weißeiigen
Henne mit einem Cochinchinahahn die gelbliche Verfärbung der
Eier auch nach Wiederherstellung von Reinzucht abnehmend nach-
dauere; noch nach Monaten soll hie und da ein gefärbtes Ei ge-
legt werden.
Von den bezeichneten Gesichtspunkten aus habe ich seit 1912
umfangreiche Versuche über Verfärbung von Hühnereiern durch
Bastardierung und über Nachdauer dieser Farbenänderung durch-
geführt!). Zur prinzipiellen Sicherstellung von Xenien ist zwar das
Auftreten von charakteristischen Zeichnungen, wie sie an den
bastardierten Kanarieneiern beobachtet wurden, weit beweiskräftiger
als das Auftreten oder Verschwinden von diffuser Färbung, welche
beispielsweise Seidlitz (1869), allerdings mit Unrecht, auf eine
einfache chemische Reaktion des fremdartigen Samens mit dem
Sekret der Uterindrüsen bezog; für die Frage der Nachwirkung ist
jedoch das Verhalten der diffusen Eifarbe an dem weit bequemeren
Hühnermaterial ohne Einwand brauchbar. Zudem wurden Studien
über die Vererbungsweise einzelner Merkmale an den gewonnenen
Rassenbastarden ausgeführt und gleichzeitig mancher Fingerzeig für
die züchterische Praxis gewonnen. Über diese Ergebnisse wird
jedoch bei anderer ee berichtet werden.
In meinen Versuchen kamen folgende Rassen zur Verwendung,
welche gleich in jener Reihenfolge nebeneinander gestellt seien,
nach welcher während bestimmter Fristen Bastardzucht in beiderlei
Verbindungsweise durchgeführt wurde.
Tabellarısche Übersicht der verwendeten Rassen:
weißeilg brauneiig
Italiener Weiß Langshan
Italiener Rebhuhnfarben Plymouth Rock
Minorka weiß („alte“ Spezialform) Cochinchina
Die verwendeten Tiere waren von renommierten, für die
betreffenden Rassen als Spezialisten geltenden Züchtern bezogen
und von diesen als durchaus rasserein bezeichnet. Es wurden
nur solche Hennen verwendet, welche mit den rassegleichen Hähnen
Reinzuchteier produzierten, die an Farbe, aber auch an Größe und
Form nicht besonders stark variierten. Es kam also keine Henne
in Verwendung, die etwa bald reinweiße, bald gelbe oder braune Eier
legte. Dieses Verhalten wurde überdies vor Aufnahme der hybriden Ver-
1) Die Durchführung der Versuche wurde mir finanziell ermöglicht durch eine
»weimalige Subventivn seitens des k. k. österreichischen Ackerbauministeriums, dem
ich auch hier meinen besten Dank ausspreche. Ferner bin ich dem I. Österreichischen
(eflügelzuchtverein für die Überlassung von Volieren für die Dauer der in Wien
durchgeführten Versuche sehr verpflichtet. Seit 1. Nov. 1913 wurden die Versuche
im physiologischen Institut der Deutschen Universität in Prag fortgesetzt.
xXXXV. A
50 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
bindung in eigener Versuchseinrichtung noch durch eine etwa 2 Mo-
nate währende Reinzucht (Rı) kontrolliert; die dabei gewonnenen
Reinzuchteier wurden als Standardmaterial konserviert. Nach einer
siebenwöchentlichen Isolationszet —- erfahrungsgemäß reichen
20 Tage aus, um eine Nachwirkung des ersten Hahnes auszuschließen?)
(D. Barfurth) — wurde die erste Bastardzucht (Br) begonnen und
durch 10 Monate fortgesetzt, worauf wieder Reinzucht (Rır) herge-
stellt wurde. Auf diese wurde teilweise neuerliche Bastardierung
(Brr) und neuerliche Reinzucht (Rım) folgen gelassen. Von jeder
Rasse kamen nur je ein Hahn und je eine Henne in Verwendung,
was zwar vom züchterischen Standpunkte aus nicht vorteilhaft ist,
zur erstmaligen absoluten Sicherung und für die Übersichtlichkeit
der Versuchsergebnisse jedoch zweckmäßiger genannt werden muss.
Durchwegs beziehen sich also die gewonnenen Ergebnisse auf je
eine und dieselbe Henne, welche abwechselnd in Reinzucht und in
Bastardzucht gehalten wurde; so weit als möglich wurde auch ein
und derselbe Hahn bei Reinzucht bezw. bei Bastardzucht verwendet.
In einer zweiten Versuchsreihe (ab Winter 1914) wird unter Ein-
engung der Rassenzahl — auf Grund der Erfahrungen, die durch
die erste Versuchsreihe (1912—1914) gewonnen wurden — zur Ver-
wendung einer Mehrzahl von Hennen gleicher Rasse übergegangen
werden.
Über die Ergebnisse meiner Versuche orientiert die tabellarische
Übersicht, in welcher auch manche interessant erscheinende Einzel-
beobachtungen kurz vermerkt sind. Für jeden speziellen Versuch
ist am Schlusse des Kolumnenabschnittes das Resume gezogen (in
Kursivschrift).
Aus den drei in beiderlei Verbindungsweise durchgeführten
Versuchsserien ergibt sich in kurzer Zusammenfassung folgendes:
I. Bezüglich Verfärbung durch Bastardierung (Xenio-
dochie).
In so gut wie allen Fällen ließ sich eine Verfärbung
der Hühnereier durch Bastardierung nach der durch die
Vaterrasse bezeichneten Richtung hin erkennen. Aller-
dings war diese Xeniodochie in zwei Fällen (Prot. Nr. 1 Br — in
Bir‘ fehlend — und Prot. Nr. 4 Br) nur angedeutet, in einer Neben-
beobachtung (Prot. Nr. 2 Anm.) nur eben merklich und in einer
anderen solchen (Prot. Nr. 5 Anm.) nur gelegentlich vorhanden.
In den anderen Fällen war jedoch eine solche Verfärbung deutlich
(Prot. Nr. 2 Bı und Bır‘, Prot. Nr. 5 Br), ja sehr deutlich (Prot. Nr. 3 Bı,
minder Bır; Prot. Nr. 6 Br und Bir). Besonders eindringlich tritt
2) Es ist daher im allgemeinen die Vorsicht geboten, die Eier der ersten
>» Wochen einer Zucht für die entscheidende Beurteilung betreffs Xeniochie und
Telegonie auszuschließen.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 51
jener Einfluss hervor bei den Rassenkombinationen: Italiener Reb-
huhnfarben 9 X Plymouth Rock 5 sowie Cochinchina 9 X Minorka
weiß („alte“ Spezialform) $ — wenigstens bei den gerade von mir
benützten Individuen. Die Farbenänderung durch Bastardierung
erfolgte in meinen Beobachtungsfällen ebenso oft in der Rich-
tung von Verstärkung der Pigmentierung von weiß zu braun
(Prot. Nr. 1 nur angedeutet, Prot. Nr. 3 sehr deutlich, Prot. Nr. 5
deutlich) als in der umgekehrten Richtung von Abschwä-
chung der Pıgmentierung von braun zu weiß (Prot. Nr. 2 deut-
lich und zwar unter Farbentonänderung ins Rötliche, Prot. Nr. 4
nur angedeutet, Prot. Nr. 6 sehr deutlich). Der Grad der Ab-
änderung ist augenscheinlich wesentlich abhängig von jeder der
beiden Rassen bezw. von der gewählten Rassenkombination, ferner
von der Verbindungsweise — die reziproken Versuche ergaben
keineswegs eine Abänderung von gleichem Grade (Prot. Nr. 1 nur
angedeutet — Nr. 2 deutlich; Prot. Nr. 3 sehr deutlich — Nr. 4
nur angedeutet; Prot. Nr. 5 deutlich — Nr. 6 sehr deutlich). Auch
die Individualität mag von Einfluss sein, doch vermögen meine zu-
nächst absichtlich auf je eine Henne beschränkten Versuche darüber
nichts auszusagen.
Dass die Breite der Variation der Eischalenpigmentierung bei
einer und derselben Henne (unter sonst gleichen Bedingungen) die
Möglichkeit einer Entscheidung bezüglich Vorhandenseins oder
Fehlens von Xeniodochie beeinflussen, ja aufheben kann, braucht
kaum nochmals betont zu werden. Speziell zu berücksichtigen ist
das Vorkommen von allmählıcher, sozusagen spontan fortschreitender
Farbenänderung der Eier im Laufe des Lebens einer Henne (eventuell
auch des Hahnes) trotz möglichstem Konstanthalten der äußeren
Bedingungen. Hierüber scheinen noch exakte Studien zu fehlen,
während bezüglich der Größe, bezw. des Gewichtes und der Form
solche an der Rasse Plymouth Rock bereits vorliegen (Maynie
R. Curtis unter Leitung von R. Pearl). Einen speziellen Fall
solcher Art konnte ich beobachten bei Reinzucht von Bastarden
erster Generation aus Minorka weiß, „alte“ Spezialform 9 X Cochin-
china g: die Eifarbe blasste binnen 1!/, Monaten in der Beobach-
tungszeit von 5. II. bis 25. IV. 1914 von dem ursprünglichen hell-
gelbbraun, allmählich fortschreitend, ab bis zu einem weiterhin
recht stabil bleibenden schwach bräunlichem Weiß. Ein hyper-
kritischer Beurteiler könnte vielleicht versucht sein, die angegebenen
Fälle von Xeniodochie auf Täuschung durch eine solche spontan
erfolgende „Altersveränderung“ der Pigmentierung zurückführen zu
wollen. Demgegenüber sei bemerkt, dass einerseits von einer solchen
allmählichen Veränderung in all den unter Prot. Nr. 1—6 ver-
zeichneten Hauptbeobachtungen während der Reinzuchten nichts zu
bemerken war. Vielmehr trat nach der während der Bastardzucht
4*
52
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
Tabellarische
der Versuche (1912—1914) über Farbxenien
Mutterrasse zur
| Vaterrasse
B Reinzucht (R) Eier bei erst- : ch Ale)
= | zur Bastard- | . : Eier bei erstmaliger
5 und zur Bastard- zucht (B) maliger Rein- Bietardzete (Bn)
2 zucht (B) a zucht (Rı)
A| verwendet
| verwendet | |
— nn [ | — —- ——s = =
1 | Italiener Weiß | Langshan Rı bis 15. IX. 1912. | Bı4. XI. 19121. IX.1913.
(Dauernd eine | Rein weiße Farbe, Rein weiß bis Spur gelb-
' u. dieselbe Henne rundliche — plumpe lich, ungeänderte Form.
, verwendet.) Form. Angedeutete Xeniodochie.
2 | Langshan Italiener |Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XT. 1912—31. VII.
Weiß Farbe ziemlich va- 1913.
(Dauernd eine
u. dieselbe Henne
verwendet.)
riant, von mittelgelb-
braun bis stark gelb-
braun, etwa die halbe
ıZahl der Eier mit
dunkler oder dunkel
| brauner Fleckung,
bezw. Puderune.
Deutlich stärkeres Vari-
ieren der Färbung unter
fortschreitendem Sinken des
Mittelwertes, nicht unter
einfach fortschreitendem
Abblassen. — Variation von
recht sattem, etwas rötlichen
Gelbbraun bis zu Gelbweiß.
Maximum — Extrem von
‚Bı erheblich satter und
\ mehr rötlich als Max. Ex-
‚trem von Rı. Minimum —
Extrem (relativ selten!) von
Bıı weitaus blasser als Min.
Extrem von Rı. Fleckung-
Puderung ab 25. IV. 1913
‘für die weitere Dauer von
| Br verschwunden.
Deutliche Steigerung der
Variabilität durch Bastar-
dierung, deutliche Xenio-
ı dochie bezw. Abschwächung
der Pigmentierung unter
Anderung des Farbentons
aus Gelblich- in Rötlich-
braun, Verschwinden der
, Zeichnung in der zweiten
Hälfte von Bı.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Übersicht
und Färbungstelegonie an Hühnereiern.
53
Eier bei zweiter Rein-
zucht (Rıt)
Eier bei zweiter Bastard-
| zucht (Bir)
I
|
Eier bei dritter Rein-
zucht (Rıt)
und bei dritter Bastard-
zucht (Bııı)
Rır 1. IX. 1913—25. IV.
1914.
(Hahn 20. III. 1904 er-
setzt.) i
Rein weiß, typische Form.
Keine Telegonie.
Bır‘ 25. IV.—5. VII. 1914.
' (Bastardzucht mit Zwerg-
'cochinchinahahn, der bei
vorausgeschickter Reinzucht
liche Eier erzeugt hatte.)
Rein weiß, ungeänderte
wohl unbefruchtet, wenig-
stens nicht anbrütbar.
Keine Xeniodochie.
gelblichweiße, kleine, läng-
Form und Größe — Eier |
| Rın 5. VIL—14. VII. 1914.
Rein weiß, typische Form.
| Bını 14. VIL.—13. X. 1914.
Rein weiß, typische Form.
| Keine Xeniodochie.
Rs III — 25T DV:
1914.
(Hahn 7. II. 1914 er-
setzt.)
Ziemlich variant von star-
kem Rötlichbraun bis Weiß-
braun, Mittel minder satt
und mehr rötlich als in Rı.
Max. Extrem von Rıı min-
der satt als Max. Extrem
von Rı oder gar Bı; Min.
Extrem von Rır erheblich
weißlicher als Min. Extrem
von Rı, jedoch etwas weniger
weißlich als Min. Extrem
von Br. Puderung nur auf
dem ersten Reinzuchtei
vom 3. II. 1914 in der
Spitzpolhälfte vorhanden,
sonst dauernd verschwunden
wie bereits in der zweiten
Hälfte von Bı.
Deutliche Minderung der
Variabilität durch Wieder-
herstellung der Reinzucht,
deutliche Telegonie bezw.
Nachdauer der Abschwä-
chung der Pigmentierung,
Nachdauer der Tonände-
rung in Rötlichbraun und
Nachdauer des Verschwun-
denbleibens der Zeichnung
(mit einem Ausnahmefall).
Bır‘ 25. IV.—9. VII. 1914.
(Bastardzucht*) mit / F,
[Minorka weiß 2 X Cochin-
china Z'|, der bei voraus-
geschickter Reinzucht mit
Schwester 2 F, [Minorka
weiß 2 X Cochinchina g'|
zuerst hellgelbbraune, später
fortschreitend hellere, bis
schwach bräunlichweiße
Eier produziert hatte.)
Geringe Variabilität von
rötlichem Weißbraun bis
Weiß, Mittel noch weniger
satt als in Rıı. Max. Ex-
trem von Bır‘ sehr erheb-
lich minder satt als Max.
trem von Bı1‘ etwas weniger
weiß als Min. Extrem von
Rıı oder als Min. Extrem
von Bı. — Puderung dau-
ernd ausnahmslos ver-
schwunden. — Verglichen
mit Reinzucht von @F, X
d F, (Geschwister — 5.11.
paarten Bastardes, zeigt das
Mittel von Bır‘ stärkere Pig-
mentierung als das Mittel
dieser Reinzucht, zeigen
beide Extreme von Bir’ stär-
kere Pigmentierung als beide
Extreme dieser Reinzucht.
Siehtliche Xeniodochie
bezw. weitere Abschwä-
chung der Pigmentierung
und Verschwundenbleiben
der Zeichnung infolge
neuerlicher Bastardierung.
rötlich oder gelblichbraunem |
Extrem von Rıı; Min. Ex- |
bis 25. IV.i914) des ange- |
Rın 9.—14. VII. 1914.
Keine Eiproduktion.
Bu [4 S VI EXT T9TA
(mit Ital. Weiß).
Eiproduktion 10.—26. IX.
Zieml. gleichmäßig, durch-
schnittlich zwischen dem
Mittel von Rıı und von Brı‘
stehend.
Geringere Xeniodochie
als in Bır'.
*) Anm. Bastardzucht
einer reinen Form mit einem
Hybriden ist durch das Sym-
bol Bı‘ bezeichnet. — Die
umgekehrte Bastardierung
F, [Minorka weiß 2 X
Cochinchina Langs-
han g' 25.IV.—9. V1I.1914
ergab ganz geringe, vari-
ierende Verstärkung der
Pigmentierung (etwas stär-
ker bräunlichweiß) gegen-
über dem letzten Stadium
der vorausgegangenen Rein-
zucht (5. II.—25. IV. 1914),
doch weit unter dem ersten
Stadium dieser Reinzucht.
Eben merkliche Xenio-
dochie.
54 Tschermak, Über ‚Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Tabellarische
der Versuche (1912—1914) über Farbxenien
Mutterrasse zur |
|
N
u : Vaterrasse . .
1 Reinzucht (R) zur Bastard- Eier bei lg Eier bei erstmaliger
s und zur Bastard- | HB maliger Rein- ee (Bı
3, zucht (B) HN zucht (Rı) BEI SZUCFUNNEN
Ai verwendet | Yerwen er
3 | Italiener Reb- Plymouth |Rı bis 15.IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX.
huhnfarben Rock Wenig variierende, | 1913.%)
(Dauernd eine ganz schwach gelb-- Unter geringem Oszil-
u. dieselbe Henne \lichweiße Färbung, lieren anfangs (bis April
und je ein und ‚längliche und grazile 1913) recht starke Verfär-
derselbe, Hahn ‘Form (dauernd un- bung in helles Braungelb,
verwendet.) ‚ verändert bleibend). allmähliche Abnahme, später
|(?. V. 1913) schon weit
| ı weniger gelb, nur gelbweiß
| — doch durchwegs noch
'gelblicher als Max. Extrem
von Rı.
' Steigerung der Varia-
‚bilitat durch Bastardie-
| rung, sehr deutliche Xenio-
| ‚ dochie bezw. Verstärkung
der Pigmentierung infolge
ı Bastardierung.
|
4\ Plymouth Rock |ItalienerReb-| Rı bis 15. IX. 1912.| Br 4. XI. 1912—1. IX.
(Dauernd eine |
huhnfarben
' u.dieselbe Henne
und je ein und
derselbe Hahn
verwendet.)
|
Ziemlich vari-
‚lerende Eifarbe von
weißbraun bis mittel-
‚braun, mit braunen
Flecken.
| (Heller als die Eier
in sonstigen Rein-
zuchten von Ply-
ı mouth Rock.)
1913.
Deutlich stärker und zwar
unregelmäßig variierend von
satter gelb- oder rötlich-
braun bis graugelb oder
ıbraunweiß. Min. Extrem
| von Bı ist ein wenig heller
als Min. Extrem von Rı
(1 Ei am Stumpfpol stark
| rötlichbraun, am Spitzpol
| mittelbraun). — Fleckung
‚dauernd verschwunden.
Deutliche Steigerung der
Variabilität durch Bastar-
dierung, Xeniodochie nur
| angedeutet.
Tsehermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
Übersicht
und Färbungstelegonie an Hühnereiern.
St
or
Eier bei zweiter Bastard-
zucht (Bıı)
Eier bei zweiter Rein- |
zucht (Rıı) |
Eier bei dritter Rein-
zucht (Rın)
und bei dritter Bastard-
zucht (Bıır)
Rır g7 IX. 191: 3—25. zZ | Brı 25. IV.—7. VI. 1914.
1914. Etwas satter gelblich als |
Ziemlich variante gelb- in Rır gegen Schluss, nicht
weiße Färbung, anfangs |so satt wie in Rır zu An-ı
sogar etwas satter als am | fang.
Ende von Br, satteste Stufen Minder deutliche Xenio-
ganz auffallend an satteste dochie bezw. geringe neuer-
Stufen von Br heran- |%ene Verstürkung der Pig-
reichend; allmählich (spe- mentierung.
ziell ab 11. IV. 1914) ab-|
nehmend — doch nie so| |
schwach gelblichweiß wie
in Rı, noch immer etwas
gelblicher.
Sehr deutliche Telegonie,
bezw. Nachdauer verstärk-
ter Pigmentierung und er- |
höhter Variabilität. |
am, 7
VI.—14. VII. 1914.
(kelativ früh aufgenom-
men, da Plymouth Rock-
Hahn 7 7. VI. 1914.)
Zum Teil weißlicher als
in Bır, vereinzelt an Max.
Extrem von Bir heran-
reichend, nicht so stark pig-
mentiert wie in Rıı zu An-
fang. Doch von Rı noch
immer merklich verschieden,
ı besonders auffällig in den
| satteren Stufen, z. B. noch
kamel25SVIIE: 1914 deutlich
‚ gelbweißes Ei produziert.
Minder deutliche Tele-
gonie bezw. Nachdauer
wenig verstärkter Pigmen-
ı bierung.
RE IIIRBZ5. Ve 1914: — |
(Plymouth Rock-Henne?r.)
Ziemlich variant, doch
Spielraum deutlich enger
als in Br, von mittlerem
Rötlichbraun bis Weiß-Röt-
lichbraun. Mittel von Rıı |
erheblich satter als Mittel |
von Rı, kein Ei so satt wie |
Max. Extrem von Bı; Min.
Extrem von Rıretwasblasser
als Min. Extrem von Rı
und als Min. Extrem von
Br. Fleckung dauernd ver-.
schwunden.
Deutliche Minderung der | |
Variabilität durch neuer- |
liche Reinzucht; betreffs
Telegonie keine Aussage
möglich.
| licher,
‚licher als in Rım.
| ursachten Tode
Bırm‘ ab 14. VII. 1914.
Bastardzucht mit F,
[Plymouth Rock 2 X. Ital.
‚ Rebh.
Stärker variierend als in
Rını, Max. Extrem gelb-
licher, Min. Extrem weiß-
Mittel etwas gelb-
Angedeutete Keniodochie,
*) Anm. Eine Bastard-
henne $F, (Ital. Rebh. 2
> Plymouth Rock fg‘), ver-
leint gehalten mit f F,
(Plymouth Rock 2 X Ttal.
Rebh. 5) vom 5. 1I.—11.
| III. 1914, enthielt nach
ihrem durch Legenot ver-
(1125ER:
1914) ein Ei mit weißgelb-
‚licher Schale.
96
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Tabellarische
der Versuche (1912—1914) über Farbxenien
„| Mutterrasse zur | Yuter |
2| Reinzucht (R) ee ı Eier bei erst- RR Min.
3 .ı | zur Bastard- 0 Er Eier bei erstmaliger
= und zur Bastard- ht (B) maliger Rein- Basta BITE
= zucht (B) Zr L C t zucht (Rı) Be lSurt lan HUN)
A verwendet We
5 Minorka weiß |Cochinchina | Rı bis 15. IX.1912.*) | 4. XI. 1912—24. V. 1913.
(Dauernd eine, Ziemlich variant, | : (Henne + 24. V. 1913.)
‚u. dieselbe Henne reinweiß bis gelblich- | Stark variant, von gelb-
verwendet.) | , weiß. lichweiß bis hellgelbbraun,
| | Mittelwert erheblich höher
| als Mittelwert von Rı.
Steigerung der Varia-
bilität durch Bastardie-
rung; deutliche Xenio-
dochie bezw. Verstärkung
der Pigmentierung.
6 Cochinchina ı Minorka Rı bis 15. IX. 1912.| Bı 4. XI 1912 —1. RX.
u. dieselbe Henne
und ein und der-
selbe Hahn zur
Bastardierung
verwendet.)
(Dauernd eine |
Wenig variierend,
ı mäßig bis mittel röt-
‚ lieh-gelbbraun.
| bihität
1913.
Stark variierend von satt
rötlich-gelbbraun (z. T. er-
\heblich satter als in Rı)
durch braungelb bis zu
bräunlich-weiß und zwar in
irregulärem Schwanken (1Ei
maximal rotgelbbraun mit
weißen Spritzern an der
Stumpfpolhälfte; 1 Ei am
| Stumpfpole mittelbraun, am
| Spitzpole
bräunlich-weiß).
Steigerung der Varia-
durch Bastardie-
rung, sehr deutliche Xenio-
| dochie bezw. Abschwächung
der Pigmentierung.
Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Übersicht
und Färbungstelegonie an Hühnereiern.
=
57
Eier bei zweiter Rein-
zucht (Rıı)
Eier bei zweiter Bastard-
|
|
| zucht (Bir)
Eier bei dritter Rein-
zucht (Rııı)
Rır 1. IX. 1913—5. II.
1914.
(Unbefruchtete Eier wäh-
rend Isolierung, da Cochin-
china-Hahn + 24. V. 1913.)
Gleichmäßig, satt rötlich-
gelbbraun wie Max. Ex-
treme unter Bı, erheblich |
satter als Rr. Vor dieser
Legeperiode sehr lange
Pause:
1. IX. 1913—20. I. 1914.
Aufhören des Variierens
bei Aufgeben der Bastard-
zucht, keine Telegonie (aller-
dings große Pause!)
Bır ab 5. II. 1914.
Neuerlich starkes Vari-
‚ieren, ähnlich wie in Br
von satt rötlich-gelbbraun
‚ bis weißlich-gelb bezw. grau-
gelb.» Min. Extrem in Bıı
nicht so licht wie in Br.
'rotgelbbraun mit weißen
Punkten auf der ganzen
mit braunen Punkten in
der Spitzpolhälfte; 1 Ei
mittelgelbbraun am Spitz-
pol, bräunlichweiß am
Stumpfpol.)
Steigerung der Varia-
‚bilität durch Bastardie-
rung, doch mit etwas ge-
ringerem Spielraum als in
Br. Sehr deutliche Xenio-
ı dochie bezw. Abschwächung
der Pigmentierung.
— (1 Ei gleichmäßig satt |
Oberfläche; 1 Ei weißgelb |
*) Anm. Über die von
Nachkommen aus dieser Ba-
stardierung(Q und Z'F, [Mi-
norka 2 X Cochinchina |)
erzeugten Eier siehe unter
Prot. Nr. 2. — Eine Henne
einer anderen Spezialform
der Rasse Minorka weiß
(als Minorka „neu“ bezeich-
net) legte bei Reinzucht
rein weiße Eier, bei Bastar-
dierung zuerst mit einem
atypischen, dann mit einem
typischen Hybriden %' F,
[Cochinchina 2 X Minorka
weiß „alt“ gJ'] im allge-
meinen rein weiße, nur ver-
einzelt gelbliche Eier, was
einer gelegentlichen Xenio-
dochie entspricht.
58 Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
Bı oder Bır erfolgten Abänderung die Tendenz zu einer gegensätz-
lichen Veränderung während der folgenden Reinzucht Rır oder Rın
hervor. Andererseits wäre es sehr sonderbar, wenn eine spontane
Altersveränderung bei den weißeiigen Rassen in einer Zunahme der
Pigmentierung, bei den brauneugen Rassen gerade umgekehrt in
einer Abnahme der Pigmentierung gelegen wäre. Endlich schließt
der zweifellose Einfluss, den die Bastardierung gleichzeitig auf den
Spielraum der Eifarbenvariation besitzt, eine solche Annahme
völlig aus.
An der Möglichkeit bei Auswahl geeigneter Rassen und
Individuen und beı geeigneter Rassenkombination und
Verbindungsweise zweifellose Eischalenxenien zu pro-
duzieren, ist demnach für Rassenkreuzungen in der
Formengruppe „Haushuhn“ ebensowenig zu zweifeln als
für die früher mitgeteilten Artbastardierungen ın der
Familie der Fringilliden. Im Gegensatze zur Veränderung: der
Hühnereifarbe durch Bastardierung wurde eine solche der Größe
und der Form nicht beobachtet (in Bestätigung des Befundes von
A. Walther). Ich gelange somit zu einer Erhärtung meiner
früheren Angaben und zu einer Bestätigung der Beobachtungen von
W. v. Nathusius, Kutter und P. Holdefleiß. Die ersteren
beiden Autoren konstatierten, wie oben erwähnt, eine Zunahme
der Pigmentierung bei der Bastardierung weißeiig (Ital. Rebhuhn?)
9 X brauneiig (Cochinchina) 5, der letztgenannte Beobachter eine
Abnahme der Pigmentierung bei der umgekehrten Verbindung braun-
eiig (Plymouth Rock) 9 X. weißeiig (Ital. Rebhuhnfarben) J..
Als interessantes Datum muss die Erscheinung hervorgehoben
werden, dass Bastardierung wenigstens in bestimmten Fällen,
die Variabilität der Eifarbe in deutlichem Ausmaße er-
höht. Es wurde dies speziell in den Fällen Prot. Nr. 2, 3, 4, 5, 6
konstatiert und durch die Feststellung einer Minderung der Varia-
bilität nach Aufgeben der Bastardzucht (Br), also bei nachfolgender
Reinzucht erhärtet.
Diese Folge der Bastardierung weist m. E. darauf hin, dass
durch die Imprägnation mit fremdrassigem Sperma die Pigment-
sekretionsstätten in einen geänderten Reaktions- bezw. Tätigkeits-
zustand versetzt werden, welcher bald zu einer sogar verstärkten
Ausprägung des Rassencharakters an Eipigmentierung, bald zu einer
Minderung derselben in der Richtung der bastardierenden Vater-
rasse führt. Man kann geradezu von einer Gleichgewichtserschütte-
rung sprechen, von einem Versetzen in Oszillation unter Verschie-
bung der Mittellage nach der väterlichen Seite hin, von. einer Art
Wettstreit zwischen Rassencharakter und Fremdcharakter, wobei
bald der eine, bald der andere siegt und der Rassencharakter ge-
legentlich sogar stärker zum Ausdrucke kommt als zuvor bei Rein-
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 50
zucht. Ausdruck eines Wettstreites der beiden gegensätzlichen
Faktoren ist auch die mitunter beobachtete ungleichmäßige Fär-
bung der beiden Eipole bezw. Eihälften (vgl. Prot. Nr. 4Bı sowie
Nr. 6Bı und Br).
Bezüglich des Verhaltens der Xeniodochie bei wieder-
holtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht sei be-
merkt, dass der verfärbende Einfluss der Bastardierung immer
schwächer auszufallen scheint. So war derselbe beı Fall 2 ın
Bir‘, noch mehr ın Bım weit geringer als in Bı; auch bei Fall 3
war die Wirkung ın Bır, noch mehr in Bim‘ geringer als in Bı.
Es scheint der pigmentbildende Anteil des Sexualapparates wieder-
holt gegensätzlich beeinflusster Hennen überhaupt minder reaktions-
fähig zu werden, gewissermaßen an Plastizität seiner Funktion zu
verlieren und mehr oder weniger ın einer Mittellage zu erstarren
(vgl. das über Telegonie bei wiederholtem Zuchtwechsel zu Be-
merkende).
Mit der vorstehenden Darstellung ıst allerdings die oben nur
als Möglichkeit erwähnte Vorstellung einer extraovalen Xenien-
reaktion als gesichert vorweggenommen. Die Berechtigung wird
sich jedoch aus den nachstehenden Ausführungen über Telegonie
ergeben.
II. Bezüglich Nachdauer der durch Bastardierung
erfolgten Verfärbung (Telegonie).
In bestimmten Fällen ließ sich eine gewisse Nachdauer
der durch Bastardierung bewirkten Veränderung der
Schalenfarbe während der nachfolgenden Reinzucht er-
kennen. Eine sölche Telegonie wurde zwar bei Fall 1 und 6 (bei
Fall 5 fehlt Rır) vermisst, auch war bei Fall 4 infolge relativ großer
Variabilität keine Aussage möglich — doch war bei Fall 3 ın Rıı
die Nachwirkung sehr deutlich (in Rıı minder deutlich), ebenso bei
Fall 2 ın Rır unverkennbar. In Fall 3 bestand der telegone Effekt
in einer nachdauernden Verstärkung, in Fall 2 in einer nach-
dauernden Minderung der Pigmentierung und Farbentonänderung
ins Rötliche. In Fall 3 erfolgte ein allmähliches Abklingen, ohne
dass nach siebenmonatlicher Reinzucht (Rır) die ursprüngliche Eı-
farbe (von Rı) erreicht worden wäre. Auch ın Fall 2 war die
Veränderung nach der gleichen Zeit noch merklich. Beide einmal
(dann neuerdings) bastardierten Hennen blieben in ihrer Pigment-
produktion alteriert, sozusagen aus der durch Rı bezeichneten
typischen Lage abgelenkt. Vom züchterischen Standpunkte sind
die benützten Hennen, d. h. die Italiener Rebhuhn-Henne als
durch Bastardierung mit einem Plymouth Rock-Hahn, ebenso
die Langshan-Henne als durch Bastardierung mit einem Italiener
Weiß-Hahn nachhaltig „verdorben“ zu bezeichnen, da die
60 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete.
erstere Henne atypischerweise statt weißer oder ganz schwach
gelblichweißer Eier solche mit deutlich gelblicher, mitunter sehr
deutlich gelblicher Schale legt — die Langshan-Henne statt satt-
brauner nur weißbraune Eier produziert.
Andererseits vermochte neuerliche Bastardierung auch aus der
telegonen Ablenkungslage heraus — neben neuerlicher Steigerung
der Variabilität — eine neuerliche Ablenkung nach der Richtung
der bastardierenden Vaterrasse hin zu bewirken: eine solche neuer-
liche Xeniodochie von telegoner Lage aus wurde in Fall 2 (Bır
und Bım) und in Fall 3 (Bır und Bu‘) festgestellt. Im ersteren
Falle erfolgte sie ım Sinne weiterer Abschwächung, im anderen
Falle im Sinne weiterer Verstärkung der Pigmentierung.
Bei wiederholtem Wechsel von Bastardzucht und Reinzucht
scheint die Telegonie — ebenso wie dies oben von der Xenio-
dochie bei wiederholtem Wechsel von Reinzucht und Bastardzucht
bemerkt wurde — abzunehmen (so bei Fall 3 in Rım gegenüber Rın),
ohne dass — wenigstens in der bisherigen Beobachtungsdauer —
die Ausgangslage (Rr) wieder erreicht wurde. Auch die Steigerung
der Variabilität durch Bastardierung scheint, trotz sichtlicher Ab-
nahme infolge neuerlicher Reinzucht (Rır bezw. Rır), in gewissem
Grade nachzudauern (vgl. Fall 3).
Die nächste Versuchsreihe soll die bisher gemachten Fest-
stellungen an einer größeren Anzahl von Hennen der Italiener Reb-
huhn- und der Langshan-Rasse nachprüfen?).
Schon durch die abgeschlossene erste Beobachtungsreihe glaube
ich den ersten stichhaltigen Beweis (von der nur gelegent-
lichen Angabe Kutter’s |1878] abgesehen) erbracht zu haben für
das Vorkommen von Eischalentelegonie, bezw. Nachdauer
der bastardiven, xeniodochischen Verfärbung an Hühnereiern. Ein
genauer Systematiker mag ja diese Art von Xeniodochie nur als
eine Pseudoform bezeichnen, weil sie nur die Eihüllen, nicht weiter
abliegende mütterliche Teile betreffe. Allerdings sind Fälle von
korrespondierender Abänderung solcher Art, also „echte“ Xenien
— ebenso Fälle von „echter“ Telegonie, welche oogene Teile bezw. den
Embryo selbst betreffen würde, — überhaupt nicht mit irgendwelcher
Zuverlässigkeit beobachtet und zwar weder bei Pflanzen noch bei
Tieren. Auf die diesbezüglichen Literaturangaben sei hier nicht
weiter eingegangen. Nur sei nachdrücklich betont, dass mit der
Feststellung einer Färbungstelegonie der Hühnereischale ın gewissen
Fällen meinerseits keineswegs die Möglichkeit oder Wahrscheinlich-
3) Ich beabsichtige dann deren Ergebnisse in Zusammenhang mit jenen der
ersten Versuchsserie ausführlicher darzustellen unter gleichzeitiger Anführung kolori-
metrischer Angaben über die Färbungsgrade. Das bisher gewonnene Material wurde
als ziemlich umfangreiche Sammlung konserviert, soweit es nicht zur Nachzucht
Verwendung fand.
Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc. 61
keit einer „echten“ Embryotelegonie behauptet wird. Vielmehr
sind die festgestellten Erscheinungen des ersteren Gebietes prinzipiell
ganz anders zu beurteilen als die angeblichen Phänomene des letz-
teren Gebietes. Der Nachweis des Vorkommens einer chromatischen
Eihüllentelegonie gestattet überhaupt keinerlei Schluss zugunsten
der Annahme einer Embryotelegonie.
Der Nachweis des Vorkommens von chromatischer Eischalen-
telegonie entscheidet, wenigstens mit höchster Wahrscheinlichkeit,
die eingangs erörterte Alternative: intraovale oder extraovale Natur
der Xenienreaktion im letzteren Sinne. Mit der Möglichkeit einer
extraovalen Xenienreaktion hatte ich schon beim erstmaligen
Nachweise von chromatischen Eischalenxenien an Fringillidenarten
gerechnet. ‚Jedoch musste diese Eventualität damals noch als gleich-
wertig mit der entgegenstehenden Möglichkeit einer intraovalen
Xenienreaktion behandelt werden. Ich gelange demnach auf Grund
des Nachweises, dass bastardıve Verfärbung der Hühnereischale bei
neuerlicher Reinzucht nachdauern kann, dass ferner Bastardierung
die individuelle Variabilität der Pigmentproduktion steigert, dazu,
eine charakteristische Beeinflussung des weiblichen Genitaltraktes
durch gewisse Bestandteile des rasse- oder artfremden Spermas
(eventuell auch des art- und rassegleichen, bloß individual- oder
körperfremden) anzunehmen. Diese Beeinflussung hat die Tendenz,
den noch nicht genau bekannten Ort und Modus der Pigment-
produktion nach der durch die bastardierende Vaterart bezeichneten
Richtung hin abzuändern. Diese Einflussnahme zielt also ab auf
eine korrespondierende, patrokline Umstimmung des die
Eischalenproduktion, speziell die Eischalenpigmentierung besorgenden
Anteiles des weiblichen Genitalapparates. Nach dieser Auf-
fassung erfolgt — im Prinzip unabhängig von der Befruchtung der
Eizelle — irgendeine Imprägnation auch der bleibenden Anteile
des mütterlichen Fortpflanzungsapparates *). Es kommt dabei, wenig-
stens in gewissen Fällen, zu einem deutlichen Wettstreit der ur-
sprünglichen, mütterlichen bezw. rasse- oder artgemäßen Disposition
oder Tätigkeit des Pigmentierungsapparates und dem intoxikativen,
rasse- oder artfremden Faktor. Dieser Wettstreit äußert sich spe-
ziell in einem Wechsel zwischen Verstärkung der rassegemäßen
Pigmentproduktion und rassefremder Minderung derselben — ein
Wechsel, welcher an einem und demselben Ei merklich sein kann.
Dieser Wettstreit hat einen ähnlichen Charakter wie jener, welcher
bei gewissen Intoxikationen oder Infektionen zu beobachten ist
4) In solchen Fällen könnte man geradezu von einer „Genitaltrakt-Befruch-
tung“ sprechen und diese in eine gewisse Analogie zum sogen. vegetativen Befruch-
tungseffekt am pflanzlichen Fruchtknoten setzen — ein Effekt, der gleichfalls im
Prinzip unabhängig ist von der Befruchtung der Eizelle selbst (vgl. E. v. Tsehermak,).
62 Tschermak, Über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung etc.
zwischen einer erzwungenen abnormen Tätigkeit und der eventuell
reaktiv verstärkten normalen Tätigkeit desselben Organs.
Über den Ort, die Art und die Vermittlungsstoffe dieser Ein-
flussnahme ist heute noch keine spezielle Aussage möglich. Ist
doch beim Vogel auch mit der Möglichkeit zu rechnen, dass das
Ovarıum das Pigment bezw. eine Vorstufe des Pigments für die
Eischale liefert oder wenigstens irgendwie an der Pigmentbildung
mitwirkt (Wiekmann 1893). Ob dabei ein direktes Eindringen
von Spermatiden ın mütterliches Gewebe, speziell in die Schleim-
haut des Eileiters, beim Vogel speziell in das Ovarialgewebe oder
in die Kalkdrüse des sogen. Uterus in Betracht“ kommt, bleibe
dahingestellt. Eine solehe Immigration oder Infektion’ der Mucosa-
drüsengänge, der Mucosazellen und des submucösen' Bindegewebes
ist bekanntlich von Kohlbrugge (1912) sowohl für das Haus-
huhn als auch für Maus und Kaninchen angegeben, von anderer
Seite jedoch bestritten worden. Sicher ist mit der Möglichkeit
eines Eindringens des fremdrassigen oder fremdartigen Sperma-
eiweiß ın gelöster Form und zwar mit einem Eindringen in die
Uteruswand, speziell in die Elemente der Kalkdrüse, aber auch ın
das Ovarialgewebe, weiterhin in die Blutbahn zu rechnen. So konnten
Waldstein und Ekler (1913) das Auftreten spezifischer Abwehr-
fermente im Sinne von Abderhalden gegen rasse- oder art-
gleiches, nur individual- oder körperfremdes Spermaeiweiß ım Blute
weiblicher Tiere nachweisen, welche vorher belegt worden waren.
Die Vorstellung, dass gewisse Stoffe des Spermas eine intoxikative
Umstimmung an den die Eischalenpigmentierung besorgenden An-
teilen des weiblichen Genitalapparates bewirken, kann sich also be-
reits auf eine Anzahl von Beobachtungen stützen, welche von ganz
verschiedenen Gesichtspunkten aus unternommen wurden. Über den
Träger der sozusagen toxischen Stoffe, sowie über deren Natur,
dürften Versuche Aufklärung bringen, in denen Xenienwirkung an-
gestrebt werden soll durch Einbringung von Spermatiden gleicher
Art neben fremdartigem bezw. fremdrassigem Sperma, dessen Sperma-
tıden entfernt oder sei es mechanisch, sei es aktinisch, durch ultra-
violette oder durch Radıumstrahlungen, zerstört worden sind (von
mir bereits 1912 geplant), oder neben Stoffen, die man aus dem
fremdartigen bezw. fremdrassigen Sperma isoliert hat.
(sewiss wird diese Vorstellung sowie die damit eröffnete weitere
Perspektive, dass die Resorption gewisse Spermabestandteile, spe-
zıell bei Rassen- oder Artverschiedenheit, aber vielleicht auch beı
Rassen- oder Artgleichheit, also bloßer sexualer Typenverschieden-
heit, eine Intoxikation des weiblichen Organismus und eine spezi-
fische, ja korrespondierende Beeinflussung gewisser Funktionen des-
selben hervorzurufen vermag, manchem etwas zu kompliziert und
zu kühn erscheinen. Doch führen die mitgeteilten Beobachtungen
Tschermak, Uber Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung ete. 63
fe) g )
über Verfärbung von Hühnereiern durch Bastardierung und über
Nachdauer dieser Verfärbung ungezwungen zu jener Annahme, die
sich bereits als Arbeitshypothese bewährt hat. Weitere Beobach-
tungen werden über deren Zuverlässigkeit zu entscheiden haben.
Zitierte Literatur,
Curtis, Maynie R., A Biometrical Study of Egg-Production in the Domestic Fowl.
IV. Factors influeneing the size, shape and physical constitution of eggs.
Arch. f. Entw.-Mech. Bd. 39, S. 217—327, 1914.
Holdefleiß, F., Versuche über Xenienbildung und Vererbungsgesetze bei der
Kreuzung von Hühnern. Ber. a. d. physiol. Labor. und der Versuchsanstalt
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— Über Veränderung der Form, Farbe und Zeichnung von Kanarieneiern durch
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Glanz und Farbe der Hühnereier. Landw. Jahrb. Bd. 46, S. S9—104, 1914,
’
64 Fruhwirth, Die Pflanzen der Feldwirtschaft.
C. Fruwirth. Die Pflanzen der Feldwirtschaft.
Gr. 8. VIII und 160 Seiten, mit 4 farbigen und 3 schwarzen Tafeln, 85 Abbild.
im Text. Stuttgart 1913. Franck’sche Buchhandlung.
Das im Rahmen eines populären Werkes (Die Pflanzen und
der Mensch) als 2. Band erschienene Werk behandelt die für den
Menschen wichtigsten Pflanzen der Feldwirtschaft. Nach einer
kurzen geschichtlichen Übersicht über Ursprung und Wanderung
der landwirtschaftlichen Kulturpflanzen werden in einem zweiten
Abschnitt die Getreide, die Hülsenfrüchte, die Hackfrüchte, die
Handels- und die Futterpflanzen eingehend besprochen. In einem
dritten Abschnitt wird erörtert, wie neue Formenkreise bei Kultur-
pflanzen entstehen. Im vierten Abschnitt bespricht Verf. den Wert
dieser Pflanzen für die Privat- und Weltwirtschaft. Ein Anhang
endlich erörtert die Technik der landwirtschaftlichen Pflanzenkultur.
RP.
Remo Grandori. Risultati dei nuovi Studi Italiani
sulla Filossera della Vite.
Kl. Ss. XV und 256 Seiten. Mit 17 Tafeln und 1 Fig. im Text. Mailand 1914,
Ulrico Hoepli.
In Frankreich, wo die Verheerungen durch die von Amerika
auf unbekanntem Wege eingeschleppten Phyloxera sich zuerst in
erschreckendem Maße gezeigt hatten, waren schon zahlreiche Beob-
achtungen über die Lebensgewohnheiten des Insektes angestellt
worden, ohne jedoch alle Unsicherheit zu beseitigen. In Italien
sind auf Anregung des Ministeriums der Landwirtschaft eingehende
Studien über die Biologie der Phyloxera angestellt worden, durch
Grassi und seine Schüler, deren Ergebnisse im Jahre 1912 ver-
öffentlicht worden sind. Im vorliegenden Bändchen gibt der Verf.,
einer der Mitarbeiter Grassi’s, eine gedrängte Übersicht jener
Studien in der Hoffnung, dass sie allen, welche an denselben ein
Interesse haben, von Nutzen sein werde. P.
anstalt für Wasserhygiene in bDerlin-Dahlem, Post: Berlin-
Lichterfelde 3, Ehrenbergstrafse 38, 40, 42.
Die Königliche Landesanstalt für Wasserhygiene hat mit der
Abgabe von Nährgelatine, die für die Zwecke der bakteriologischen Wasser-
untersuchung bestimmt ist, begonnen. Der Preis für je ein Reagensgläschen mit
10 cem Nährgelatine (ausschließlich Verpackung) ist, den Selbstkosten der An-
stalt entsprechend, auf 18 Pfg. festgesetzt.
Eine Abgabe unter 10 Stück kann nur in Ausnahmefällen stattfinden; für
größere Aufträge muß sich die Landesanstalt eine Lieferzeit von etwa 8 Tagen
vorbehalten.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr.'R: Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
ss von Georg Thieme in Leipzig.
en Nase für 12 Hefte Bakazı >0 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
Ba. xXXXY. 20. Februar N: R.
Inhalt: Ann Die Überwintering von Form mica picea Bar andere ash Beobachtungen. —_
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen aus der Lacerta muralis- Gruppe. —
IE ochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. — Kohlbrugge, War
Darwin ein originelles Genie? — Abderhalden, Abwehrfermente,
Die Überwinterung von Formica picea und andere
biologische Beobachtungen.
Von W. Bönner S. J. (Charlottenlund, Dänemark).
(Mit einer Tafel.)
Die Woche nach Neujahr 1914 brachte zum ersten Male starken
Frost ohne vorausgehenden Schneefall. Es war mir somit Gelegen-
heit gegeben, die geplanten!) Untersuchungen betreffs der Über-
winterung von Formica picea ın Angriff zu nehmen. Wenn diese
Ameise überhaupt das Moor im Winter verließ, musste sie jetzt
ausgewandert sein, überwinterte sie aber im Moor, so bot die ge-
frorene Sphagnumdecke die einzige Möglichkeit, in dieser Jahres-
zeit zu ihr vorzudringen.
Am 10. Januar begann ich meine Untersuchungen. Es herrschte
7°C Kälte. Nachts sank die Temperatur bis — 10°C. Auf den
Straßen lag noch hier und da festgetretener Schnee vom Dezember;
das Moor aber war schneefrei und die picea-Nester also leicht zu finden.
Bevor ich die einzelnen Nester untersuchte, stellte ich fest,
dass die Sphagnumdecke 12—15 cm tief gefroren war. Der Wasser-
spiegel lag 17—20 cm tief. Die Demmereiln innerhalb des gefrorenen
Sphagnums war Null. Die unmittelbar darunter esancı: unge-
l) Siehe Formica fusca pieea, eine Moorameise. Biol. Centralbl., Heft 1, 1914.
XXXV. 5
66 Bönner, Die Überwinterung von Formica pricea etc.
frorene Schicht sowie das Wasser zeigten + 2°C. Damit stimmen
die Messungen J. Steenstrup’s?) überein, der mehrmals die Tem-
peraturen unterhalb gefrorener Moorschichten gemessen hat und
sie niemals unter + 2° © fand.
Ich suchte die Ameisen zuerst ın der erwähnten ungefrorenen
Moorschicht zwischen dem Wasserspiegel und der gefrorenen
Sphagnumdecke. Die Untersuchung war leicht; ich brauchte die
Nester nur ringsum loszuschneiden und abzuheben; aber ich suchte
vergebens. Ich begann nun eines der größeren Nester freizulegen
und seiner ganzen Ausdehnung nach in schmale Scheiben auseinander
zu schneiden, die ich dann einzeln nach Ameisen und anderen In-
sekten untersuchte. In einem der mittleren Gänge des ge-
frorenen Nestes traf ich auf Ameisen (s. Fig. 1). Ungefähr
100 Arbeiterinnen saßen dicht gedrängt um 2 Königinnen. Alle
Wände des Ganges wie des ganzen Nestes waren weiß
von auskristallisierten Eisnadeln und so hart, dass sie
wie Glas zersplitterten. An den Ameisen waren die Exkre-
mente und andere Eispartikel festgefroren. Die Bewohner des
Nestes blieben trotz der Erhellung und obgleich ich die Nestteile
eine Stunde weit transportierte, um sie zu Hause zu photographieren,
an der gleichen Stelle sitzen. Sie waren aber keineswegs steif ge-
froren oder auch nur erstarrt, sondern geschmeidig wie gewöhnlich.
Nicht selten bewegten sie Beine oder Fühler. Im warmen Zimmer
erholten sie sich nach einigen Stunden völlig und kletterten mit
gewohnter Lebhaftigkeit im Beobachtungsnest umher. Im Moor
untersuchte ich noch eine Anzahl Nester; in allen, die eine voll-
ständige Durchsuchung gestatteten, fand ich die Ameisen in einem
der Gänge eingefroren. Meist saßen sie etwas unterhalb oder in
der Mitte des Nestes. Sie waren also bei der allmählich ein-
dringenden Kälte nicht einmal in die tiefer liegenden Moorschichten,
von denen die unterste sogar noch ungefroren war und +2° C
zeigte, hinabgestiegen. Bei einigen besonders großen und alten
Nestern war das Baumaterial so zusammengefroren, dass es mir
mit dem Werkzeug, das ich bei mir führte, unmöglich war, die
Masse zu zertrümmern. Nur in solchen Nestern fand ich die
Ameisen nicht.
Die Widerstandsfähigkeit von Formica picea gegenüber der
Kälte erfährt eine interessante Erläuterung durch eine Beobachtung,
die mein Freund J. Wolfisberg(Kopenhagen) machte. Er hatte ein
Beobachtungsnest der Moorameise nach der von mir angegebenen Art
und Weise eingerichtet und im Dachgarten seiner Wohnung frei aufge-
stellt. Unverhofft eintretende Kälte ließ das ganze Nest zu einem
Eisklumpen zusammenfrieren, der durch seine Ausdehnung das Glas
2) Amtl. Bericht d. 24. Versammlung deutsch. Naturf. und Ärzte in Kiel
1846, p. 135.
Bönner, Die Überwinterung von Formica pieca ete. 67
zertrümmerte. Er hielt das Nest für vernichtet und hieß es an Ort
und Stelle liegen, ohne sich weiter darum zu kümmern. Wie staunte
er, als er nach einigen Wochen den aufgetauten Sphagnumklumpen
in die Hand nahm und die Ameisen noch munter und unbeschädigt
vorfand. Leider wissen wir nicht, wie die Ameisen sich in diesem
Fall während des Frostes verhalten haben, aber es scheint mir nicht
ausgeschlossen, dass Formica picea, wie es von anderen Tieren be-
kannt ist, ein völliges Hartfrieren und Wiederauftauen überleben
kann. Der Temperaturwechsel muss nur langsam vor sich gehen,
wie es Ja unter den natürlichen Umständen auch der Fall ıst. Das
Wasser findet dann Zeit, aus den Geweben auszukristallisieren
bezw. wieder ın sie einzudringen, ohne sie zu zerstören. Selbst-
verständlich dürfen die Ameisen ebensowenig wie die Tiere, bei
denen man ein schadloses Hartfrieren nachgewiesen hat, völlig vom
Wasser umgeben sein, da sonst der Druck, der durch dıe Gefrier-
ausdehnung des Eises entsteht, den Organısmus zermalmt. Künst-
liche Einfrierungsversuche, die ıch anstellte, blieben alle erfolglos;
teils, weil es recht schwierig ist, eine genügend langsame Tempe-
raturerniedrigung künstlich herzustellen, teils weil es nicht ausge-
schlossen ıst, dass die Ameisen durch die benutzten Kältemischungen
(Kohlensäure oder Äther) Schaden gelitten hatten.
Im Anschluss daran möchte ich auf einige in botanischen Ar-
beiten niedergelegte Beobachtungen über die Überwinterung von
Ameisen hinweisen, auf die mich Prof. Eug. Warming aufmerk-
sam machte. In den Salzmarschen der Nord- und Ostseeküsten
findet man eine auffällig große Anzahl Ameisenhaufen, die wegen
ihrer eigentümlichen Vegetation seit langem das Interesse der
Botaniker auf sich gezogen haben. Über den Einfluss, den die
Ameisen hier auf die Zusammensetzung der Flora ausüben, möchte
ich im Zusammenhang an anderer Stelle berichten. An dieser Stelle
solluns nur das Überwinterungs- oder genauer das Überschwemmungs-
problenı dieser Ameisen beschäftigen, mit um so mehr Grund, als
das UÜberschwemmungsproblem auch für Formica picea von Be-
deutung ist, wie wir später sehen werden.
Die Entstehung der Salzmarschen als eine Ablagerung des
Meeresschlammes zur Zeit der Flut bedingt ihre geringe Höhe über
dem Meeresspiegel. Die Folge davon ist, dass die Salzmarschen
im Herbst und Frühling teilweise oder ganz für kürzere oder längere
Zeit unter Wasser stehen. Oft ragen dann die 30—40 em hohen
Haufen von Lasius flaruıs und Myrmica ruginodis mit ihrem obersten
Teil über die Wasserfläche heraus, und hier oben hausen dann die
Ameisen; oft aber steht auch der ganze Haufen unter Wasser, und
dann leben die Ameisen in der Tiefe des Baues. Die Überschwem-
mung der Ameisen ist auf Fanö von Warming°), auf Langeoog
3) Dansk Planteväkst, Bd. 1, p- 254. Dort findet man auch die übrige Literatur.
ı)
65 Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc.
von Buchenau, auf Amager von E. H. Ostenfeld und mir be-
obachtet worden. Die Ameisen werden von den Fluten nicht ge-
tötet. Diese Tatsache ıst in jedem Falle merkwürdig. Die Be-
wohner von Langeoog erzählten Buchenau®), die gelben Ameisen
(Lasius flarus) konstruierten ım Herbst eine etwa eigroße und sehr
harte Hülle, in der sie den Winter überdauerten. Diese Hülle seı
wasserdicht und bewahre die Tiere vor Berührung mit dem See-
wasser. Buchenau bat ım November 1874 einen Bewohner von
Langeoog um Zusendung einiger solcher Gebilde. Er erhielt nur
das Stück eines Ameisennestes, aber absolut nichts, was einer Hülle,
einem Gespinst oder dergl. entsprochen hätte. Die erdige Sand-
masse, die man ihm zusandte, war von zahlreichen Gängen durch-
setzt, in denen einige Ameisen umherliefen. In der Mitte befanden
sich Höhlungen, ın welchen die Ameisen massenhaft beisammen
waren; auch diese Tiere waren munter. Einige Höhlungen waren
mit Puppen sehr verschiedener Entwickelungsstadien angefüllt.
Soviel Buchenau’s Mitteilungen. Genaueres kann ich leider auch
nicht angeben; ich wollte nur auf diese zerstreuten Beobachtungen
hinweisen und kehre zu Formica picea zurück.
Die gefrorenen Sphagnumnester ließen einen klaren Einblick
in ihre Bauart gewinnen. Die weiße Sphagnumkuppel, die ich
früher als Sonnendach bezeichnete, ıst äußerst leicht gebaut und
hat kaum die Dicke eines Löschpapiers. Sie ist trocken, luftgefüllt
und deshalb weiß; ıhr Zweck ist offenbar, vor direktem Sonnen-
licht zu schützen und doch eine völlige Durchwärmung der obersten
Nestkammer zu ermöglichen. Gegen direkte Bestrahlung ist pice«
sehr empfindlich: und zwar sınd es die Wärmestrahlen, die sie ge-
nieren, wie aus folgendem Versuch hervorgeht. Ein kleines Be-
obachtungsnest, das 2 Königinnen und ein Dutzend Arbeiterinnen
enthielt, wurde ca. 20cm unter den Kohlenspitzen einer elektrischen
Bogenlampe von 500 Kerzen Lichtstärke aufgestellt, deren Strahlen
noch durch eine Sammellinse konzentriert wurden. Bei Schluss des
Lichtkreises musste das Lichtbündel unmittelbar auf die Ameisen-
gruppe fallen ohne dass sie durch die geringste Erschütterung ge-
stört worden wäre. Ich konnte somit die ausschließliche Wirkung
der Belichtung studieren. Obgleich das Licht nach dem Ein-
schalten mit blendender Fülle die Ameisen überflutete, so dass
eine Beobachtung ohne Schutzbrille kaum möglich war, zeigten
diese auch nicht mit dem geringsten Fühlerzucken eine Wahrneh-
mung desLichtes; es war als ob sie blind wären. Nach 20—30 Se-
kunden wurden die Fühlerbewegungen lebhafter zum Zeichen einer
behaglichen Stimmung; nach 40 Sekunden wurden die Bewegungen
unruhiger und hastiger und nach 50-60 Sekunden seit Einschalten
des Strömes verließen alle ın eiliger Flucht, dıe Königinnen voran,
4) Abh. Naturw. Vereins Bremen IV, p. 215, Nachtrag p. 276.
Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieeq etc. 69
den Lichtkreis. In den unbeleuchteten Nestteilen angelangt, waren
sie bald wieder ruhig; einzelne, die sich beim Umherlaufen dem
Lichtkreis näherten, fuhren plötzlich gleichsam von Schmerz durch-
zuckt zurück, wenn sie mit einem Körperteil in den Lichtkreis ge-
raten waren. Eine Anzahl, die nicht aus dem Lichtkreis entfliehen
konnten, lagen bald mit zitternden Gliedmaßen verendend am Boden.
Die Temperatur innerhalb des Lichtkreises war gegen Ende des
Versuches auf 37° © gestiegen; die Flucht der Ameisen fand bei
26—28°C statt. Bei einem weiteren Versuch, der den natürlichen
Bedingungen besser entsprach, ließ ich das Licht aus ca. 15 cm Ent-
fernung direkt auf die Sphagnumdecke eines Beobachtungsnestes
fallen. Obgleich die Wärmewirkung das im Torf enthaltene Wasser
zum Verdampfen brachte, wurden die Ameisen, die wenige Zenti-
menter tiefer hausten, kaum gestört. Eine Anzahl Exemplare, die
oben auf dem Sphagnum herumliefen, verhielten sich gegenüber
der direkten Wärme ebenso, wie die Ameisen des ersten Versuches:
sobald sie in den Lichtkreis gerieten, stürzten sie auf demselben
Wege, auf dem sie hineingekommen waren, wieder hinaus. Im
natürlichen Nest schützt das Sonnendach vor den direkten Wärme-
strahlen; die Temperatur wird aber selbst in der obersten Kammer
nicht unerträglich werden, da ja schon der Boden und die Wände
dieser obersten Etage mit Wasser getränkt sind, das durch seine
Verdunstung die Temperatur herabsetzt und durch die bekannte
Kapillarwirkung des Sphagnumtorfes immer wieder ersetzt wird.
Das Endresultat ıst also jene den Ameisen überaus angenehme
feucht-warme Treibhausluft. So weit über die Nestkuppel.
Die übrigen Wandungen des Nestes (s. Fig. 2 und 3) sind
2—5 mm dick und bilden ein System von ziemlich deutlich etagen-
förmig angeordneten Gängen. Nur in den unteren Partien findet
man zuweilen größere Kammern. Als Stütze des Baues dienen
vor allem die ungemein festen Oxycoccusstengel. Schon bei den
Untersuchungen des Moores im vorigen Sommer war mir die
Festigkeit besonders älterer Bauten aufgefallen. Sie sind bedeutend
stärker als die umgebende Sphagnumdecke. Die kleinen Moos-
partikel sind so eng zusammengepackt, dass das aus ihnen be-
stehende Baumaterial härter und solider wird als der gepresste
Torf, den man als Belag von Insektenkasten verwendet. Die Nester
scheinen mir vielmehr ın das lebende Sphagnum hineingebaut als
aus ıhm herausgegraben zu sein, in dem Sinne, dass die Ameisen
Nestmaterial zum Bau zusammentragen und nicht aus ihm heraus-
tragen. Auf das Hineintragen grüner Sphagnumspitzen werde ich
später noch zu sprechen kommen. Nach Adlerz ®) sind die Nester
5) Arkiv för Zoologi v. 8, p. 1, 1914. Formica fusca-picea Nyl., en torf-
mossarnas myra. Diese Abhandlung ist auch an den übrigen Stellen gemeint, wenn
nichts Besonderes angegeben ist.
70 Bönner, Die Uberwinterung von Formiea picea ete.
ausgegraben und das ausgegrabene Material zum Bau der Nest-
kuppel verwandt worden. Jedoch übersteigt die Sphagnummasse,
die innerhalb eines Nestes auf einem bestimmten Raum angehäuft
ist, sicherlich die Sphagnummasse, die das Sphagnum selbstätig auf
einem gleichgroßen Raum anhäuft. Dieser Unterschied ist wohl nur
durch die Annahme erklärbar, dass die Ameisen Material zum Bau
oder zu anderen Zwecken herbeitragen. Vielleicht ist es noch am
besten, wenn man sagt, es handle sich weder um ein einfaches Aus-
graben noch ein einfaches Aufbauen, sondern um ein Umbauen
der lockeren Sphagnummasse zu einem festen Nest, wobei kaum
ein Sphagnumblättchen auf seinem ursprünglichen Platz bleibt und
auch neue Moosfragmente herbeigeschafft werden.
Über die Entwickelungsstadien der Nester kann ich folgendes
mitteilen. Mehrmals fand ich Nester an Stellen, wo jede Spur
von einem Kuppelbau fehlte. Diese Nester waren sehr volkarm
und hatten weder Larven noch Puppen. Ich vermute deshalb in
diesen Nestern junge Niederlassungen; ganz unter den gleichen
Umständen fand ich im Moor eine aus einem Dutzend Arbeiterinnen
und einer toten Königin bestehende Myrmica laevinodis-Kolonie.
Wenn die Nester Brut hatten, fand ich sie stets mit einer Kuppel
überwölbt‘®). Durch diesen Bau gehen die Sphagnumpflanzen, so-
weit sie nicht schon von den Ameisen abgebissen sind, zugrunde;
Oxycoceus palustris, Eriophorum vaginatum, Empetrum nigrum
und Calluna vulgaris, die für das Lyngbymoor charakteristisch sind,
wachsen ungestört weiter und geben dem Bau einen Teil seiner
Festigkeit. Indem diese Pflanzen die Kuppel allmählich überwuchern,
entziehen sie sie den Blicken. Die alten, großen Nester werden
deshalb gerade durch das Vorherrschen der genannten Phanero-
gamen verraten.
Formica picea scheint ıhre Wohnung sehr leicht zu verlegen.
Alle Nester, die ich, wenn auch nur ganz oberflächlich, störte, fand
ich stets beim nächsten Besuche verlassen. Dazu stimmt die An-
gabe Sahlberg’s, er habe die gemischte Kolonie sangwuinea-picea
nicht wiederfinden können; sie war wohl ausgewandert. Diese Eigen-
tümlichkeit hängt bei picea vielleicht mit den anspruchslosen
Forderungen zusammen, die sie an einen Wohnort stellt. An jeder
Stelle der Sphagnumdecke findet sie sie vollauf befriedigt, und
mit wenig Arbeit ist das Heim notdürftig hergestellt. Vielleicht
gelten ähnliche Gesichtspunkte auch für andere Ameisen z. B. baut
Tapinoma erraticum, die, wie der Name sagt, sehr häufig wechselt,
ganz kunstlose und oberflächliche Nester in Erdhäufchen oder unter
Steinen, während Lasius fuliginosus, der wohl am schwersten aus
seinem Bau zu vertreiben ist, das kunstvollste Nest unter unseren
einheimischen Ameisen verfertigt. Auch folgende Beobachtung
6) Vgl. die unten angeführten Beobachtungen von Kuhlgatz.
Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc. 1
beweist noch, wie leicht picea auswandert. Eine ganze Anzahl von
Nestern, die ich zu Hause untersucht hatte, wurden mit allem In-
halt an einer feuchten Stelle zwischen Moos und Irisstengeln aus-
geschüttet. Ich setzte noch einige Königinnen zu dem Haufen und
sah dann, wie die Ameisen in den nächsten Tagen ein Nest
einrichteten. Wochenlang konnte ich sie auf den lIrisblättern
herumlaufen sehen. Seitdem ich aber das Nest geöffnet habe, um
zu erfahren, wie sie sich den neuen Verhältnissen angepasst
hatten, sind alle spurlos verschwunden. Es handelte sich um
mehrere tausend Ameisen. In diesem Falle lag aber die nächste
Sumpfgegend wohl einen Kilometer entfernt.
Ich fand die Nester mehrmals gegen den Wasserspiegel hin
durch eine 1—2 em dicke Schicht aus Sphagnumfragmenten ab-
gegrenzt; besonders war das bei alten Nestern der Fall. Nach
Adlerz’ Beobachtungen setzten sich die Gänge des Nestes unter
dem Wasserspiegel fort, ja die Ameisen suchten sogar auf der
Flucht vor dem Verfolger unter dem Wasser ıhr Versteck, wo sie
sich noch festbissen, um nıcht ın die Höhe getrieben zu werden.
Nach einigen Minuten kamen sie dann wieder zum Vorschein und
versteckten sich ın Nestteilen über dem Wasserspiegel. Adlerz
vermutet, es liege hier eine ziemlich weit fortgeschrittene An-
passung an das feuchte Element vor. In dieser Ansicht wurde er
bestärkt durch einige einfache Versuche. Von fünf picea nämlıch,
die er 24 Stunden unter Wasser setzte, bestanden zwei die Wasser-
probe, indem eine völlig gesund, die andere nur mit einem kleinen
Rest von Leben davonkam. Ich wiederholte das Experiment mit
picea. Nach 24 Stunden entnahm ich die Ameisen dem Wasser;
nach weiteren 24 Stunden waren alle wieder zum normalen Leben
zurückgekehrt, so dass ich sie wieder zu ihren Kameraden ins Be-
obachtungsnest setzen konnte. Um zu entscheiden, ob es sich
wirklich um eine Anpassung ans Wasserleben handelt, die Formica
picea eigentümlich ist, machte ich einen Gegenversuch mit Lasius
flavus, die ich aus ihrem Winterquartier ausgrub. Ich ließ ihnen
im warmen Zimmer Zeit, sich etwas zu erholen und unterwarf dann
ebenfalls fünf Exemplare dem Versuch. Nach 10 Stunden Aufent-
halt unter Wasser entnahm ich zwei dem Gefäß; 3 Stunden später
waren sie wieder völlig munter. Die drei übrigen blieben 20 Stunden
unter Wasser, wo ein Sieb den Auftrieb verhinderte. Abends be-
befreite ich sie aus ihrem feuchten Gefängnis; am folgenden Morgen
liefen auch sie umher ohne ein Zeichen irgendwelcher Beschädigung.
Einen Tag später fand ich zwar alle fünf tot, wahrscheimlich aber
nur, weil ich vergessen hatte, sie aus einem kleinen, fest ver-
schlossenen, trockenen Glasröhrchen herauszunehmen. Wegen
Mangel an Versuchsmaterial kann ich augenblicklich nicht ent-
scheiden, inwieweit diese Beobachtungen von anderen Ameisen
m Bönner, Die Uberwinterung von Formica picea etc.
gelten”); sicher aber kann man diese Tatsache kaum als einen
Grund für eine besondere Anpassung von Formica picea ans
Wasserleben anführen. Höchst interessant wäre es, wenn sıch die
freiwillige Flucht unter das Wasser bei Formica picea bestätigte.
Jedoch glaube ich, dass bis jetzt noch eine einfachere Erklärung
möglich ist. Das Benehmen der Ameisen, die im Beobachtungs-
nest unter das Wasser gerieten, machte mich stutzig. Da diese
Nester einige CGentimeter hoch mit Wasser gefüllt sind, ist es sehr
leicht, Ameisen, die sich ın den untersten Gängen des Nestes be-
finden, unter das Wasser zu bringen: man braucht das Glas nur
schief zu halten. Bei diesen Versuchen beobachtete ich, wie die
betreffenden Ameisen in sichtbarer Unruhe und ohne jede
Orientierung in Nestteilen, die ihnen völlig bekannt
waren, umherirrten. Den Körper dicht an die Unterlage ge-
presst, um nicht durch den Auftrieb des Wassers losgerissen zu
werden, krochen sie, mit den Fühlern unruhig umhertastend, lang-
sam durch die Gänge, um oft, wenn sie dieht unter dem Wasser-
spiegel angelangt waren, wieder ins tiefere Wasser zurückzukehren.
Nach 2—3 Minuten verloren sie das Bewusstsem. Der Mangel an
Orientierung lässt sich durch das Versagen der topochemischen
Wahrnehmungsorgane der Ameisen erklären, die unter Wasser
ihren Zweck wohl nicht mehr erfüllen können. Liefen die Ameisen
nach Adlerz’ Beobachtungen dennoch ins Wasser, so möchte ich
dafür die „kopflose Angst“ verantwortlich machen. Nach einer
brieflichen Mitteilung glaubt Adlerz, dass er die Nester zufällig
bei sehr hohem Wasserstand getroffen habe, und dass deshalb das
Wasser in die unteren Nestgänge eingedrungen sei. Es ist nicht
einmal notwendig, dıes anzunehmen, um zu erklären, weshalb ein-
zelne Gänge unter den Wasserspiegel führten. Wenn man ım Moor
vor einem Neste steht, um es zu untersuchen, so ist durch die Körper-
schwere die ganze Sphagnumdecke im Umkreis von einem Meter
5—10 em, wenn das Moor sehr schwankend ist noch mehr, herab-
gedrückt. Infolgedessen werden die untersten Nestpartien leicht
unter Wasser gesetzt. Wie dem aber auch sein mag, ich glaube,
wir müssen annehmen, dass die Ameisennester im normalen Zu-
stand völlig über dem Wasser liegen. Eine Ameise, die auf einem
der untersten Gänge entflieht — und hierhin entfliehen die meisten
— kann recht wohl, wenn der Gang zufällig unter Wasser steht,
in dieses hingeraten und sich in dem Sphagnum festbeissen. Nach
”) P. Wasmann teilt mir mit, dass Arbeiterinnen von Formica-Arten, die
im Zuckerwasser des Fütterungsapparates seiner Beobachtungsnester ertrunken waren
und viele Stunden oder selbst einen Tag darin gelegen hatten, wieder zum Leben
kamen, wenn sie in reines Wasser gelegt, damit die Stigmen nicht zukleben, und
dann langsam getrocknet wurden. Königinnen von Monomorium Pharaonis kamen
sogar nach 3 Tagen wieder zum Leben, nachdem sie unterdessen im Wasser gelegen
hatten.
Bönner, Die UÜberwinterunge von Formiea picea etc. 3
s (x
einiger Zeit wird sie Bemühungen machen aus dem Wasser heraus-
zukommen, und wenn ihr das gelingt, möchte ich es eher einen
Zufall nennen. Welche von beiden Erklärungen die richtige ıst
möchte ich aber noch nicht entscheiden.
Die bei Formica picea zuerst gefundenen und beschriebenen
Moornester sind für diese Ameise nicht charakteristisch, da sie
weder stets noch ausschließlich bei ihr gefunden werden. [Dies
bestätigt auch eine, während der stark verzögerten Drucklegung
dieser Arbeit erschienene Notiz von Forel. Er fand Formica picea
in den Torfmooren von Boche bei Yvorne. Die Ameisen bauten
hier ähnlich wie die r«fa-Arten. Auf dem Korrekturbogen bei-
gefügt.]
Am 25. Februar fand ich eine große Anzahl der Birken, die
das Lynbymoor bewachsen, abgehauen. Durch die zahlreichen
30—50 em hohen Strünke, die zurückgeblieben waren, wurde ıch
auf die morschen Birkenstrünke aufmerksam, die von früheren Ab-
holzungen herstammten. Ich begann sie zu untersuchen, und
gleich der erste, den ich mit leichter Mühe abbrach, war ge-
füllt mit Formica picea. In eigroßen, ovalen Räumen saßen Hun-
derte von Arbeiterinnen mit einigen Königinnen. Die Ameisen
waren noch in der Winterruhe und verhielten sich ziemlich ruhig.
Die Kammern waren anscheinend von Käferlarven ausgehöhlt und
von den Ameisen erweitert; einige engere Gänge waren nämlich
noch mit Holzmehl angefüllt, wie man es als Arbeit von Käfer-
larven findet. Die von Ameisen bewohnten Kammern konnte man
leicht erkennen; ihre Wände waren von einer schwarzen Farbe
durchdrungen, die mehrere Millimeter tief ins Holz eingedrungen
war, während die Kammern, die nicht von Ameisen benutzt wurden,
die natürlich weißen Wände zeigten. Dieser Aufenthaltsort war
von außen um so schwieriger zu erkennen, als alle Ausgänge des
Nestes unten im Stamm innerhalb der Sphagnumschicht lagen,
was wohl auf eine Beziehung der Ameisen zum Moore hindeutet.
Unter der Rinde des gleichen Birkenstämmchens lebte eine Kolonie
Leptothorax acervorum, die kleine Larven enthielt. Es war eine
sehr kleine Form mit spärlicher Behaarung, ganz ähnlich Nylan-
ders Lept. muscorum, die ja für die alten Birkenstämme in Hoch-
mooren charakteristisch ist. Von drei weiteren Stämmen, die ich
untersuchte, war wieder einer von picea bewohnt.
Die Mn ornehter sind um so weniger für pecea eigentümlich,
als sie auch bei anderen Ameisen ln lar worden sind; sie
scheinen ein allgemeinerer mes pus der Ameisen an das
Moorleben zu sein und bilden einen neuen Beweis für die große
Anpassungsfähigkeit der psychischen Begabungen der Ameisen.
Aus Sahlberg’s Schilderung des sangwinea-picea-Nestes konnte
man das nicht schließen, da der Nesttypus sich häufig nach der
‚)
Ta Bönner, Die UÜberwinterung von Formica picea ete.
Sklavenart richtet. Anders liegt es bei Kuhlgatz’ °) Beobachtungen,
dessen Beschreibung ich wörtlich anführen will: „Auf einem anderen
(srasbult entdecke ich zwischen aufragenden Halmen einen
eigentümlichen Kuppelbau. Die nähere Betrachtung seines
Details mit Hilfe der Lupe zeigt, dass der Bau aus winzigen
Rudimenten von Sphagnummoos besteht. Ich nehme eine
Skizze und trage dann die Kuppel vorsichtig ab. Sofort sehe ich
auch hier wieder die Knotenameise (Myrmica scabrinodis) hausen.
Die Kuppel dient den Tieren zur Pflege ihrer Brut. Eier, Larven
und Puppen bedürfen zu ihrer Entwicklung viel Wärme und
Sonnenschein. Aber die hohen Halme des Bultes beschatten zu
sehr. So bauen die Ameisen sich ein Türmchen zur Sommerkur
für ihre Nachkommenschaft. Bei bedecktem Himmel und Regen-
wetter tragen sie sie wieder hinunter. — In manchen Grasbulten,
die ich sonst noch öffnete, fand ich andere Ameisenarten, in den
Bulten überhaupt ein reiches Tierleben. Die Bulte sind als Trocken-
inseln in der feuchten Sphagnummatte für viele Kleintiere Wohn-
und Entwickelungsstätte. Man kann sıe als Zentren auffassen, aus
denen immer wieder neues Leben ın das Moor ausgeht.“ Augen-
scheinlich haben wir es hier mit dem gleichen Nesttypus zu tun,
wie er von picea beschrieben ist.
Auch die Mitteilungen Kuhlgatz’ über „andere Ameisen“ ım
Moore verdienen Interesse. Die Zahl der Ameisen nämlich, die
ın ziemlich feuchter Umgebung oder gar ım Moor gefunden wurden,
ist gar nicht gering. Adlerz teilt sie nach der größeren oder ge-
ringeren Gesetzmäßigkeit, mit der sie ın Sumpfgegenden auftreten,
in mehrere Gruppen ein.
Gruppe 1 bilden jene, die nur ausnahmsweise auf feuchtem
Boden getroffen werden; wahrscheinlich wurden die Weibchen nach
dem Paarungsflug dorthin verschlagen, es gelang ıhnen aber, sich
allein oder mit fremder Hilfe in den neuen Verhältnissen zurecht
zu finden. Hierhin gehören nach Adlerz: Formica sangwinea,
Form. fusca, Camponotus herculeaneus, Lasius niger, Leptothorax
acervorum und Harpagoxenus sublaevis. Für sangwinea sind diese
Angaben durch Sahlberg und vielleicht auch durch Bondroit
bestätigt. Nach mündlicher Mitteilung fand Mag. Henriksen
Formica fusca und Lasius mixtus in einem Sphagnummoore. Im
gleichen Moor fand er ın quartären Schichten Tetramorium caespi-
fım und Myrmica scabrinodis, welch letztere Adlerz aber der fol-
genden Gruppe zuteilt. Ich selbst fand, wie oben schon gesagt,
ebenfalls Leptothorax acervorum und außerdem ZLasius niger ım Moor.
(sruppe 2 umfasst nach A dlerz Formica exsecta, Myrmica scabri-
nodis, ruginodis und laevinodis, man findet sie nach ıhm zwar auf
S) 32. Bericht des Westpreußischen Botanisch-Zoologischen Vereins. Danzig
1910, p. 80.
Bönner, Die UÜberwinterung von Formica pieea etc. 75
trockenem Boden, jedoch meistens und am zahlreichsten in Sümpfen
und feuchten Örtlichkeiten. Für ruginodis, laevinodis und exsecta
ist das bekannt, für scabrinodis jedoch überraschend, da ihr bisher
immer eine Vorliebe für trockene, ja dürre und sandige Stellen zu-
geschrieben wurde. Doch fanden Kuhlgatz und Henrichsen
sie ebenfalls ın Mooren.
Gruppe3 bildet Formica sueeica Adl., die ausschließlich in der
Nähe von Sümpfen oder wenigstens von Wasser vorkommt, jedoch
keine besondere Anpassung erkennen läßt.
Gruppe 4 stellt Formica picea, die sich „anscheinend vollständig
für das Leben ım Hochmoor angepasst hat, in dem ich sie bisher
nur angetroffen habe“ (Adlerz).
Diese letzte Bemerkung von Adlerz gibt mir Gelegenheit, etwas
auf die Verbreitung von Form. picea einzugehen. Die Vermutung,
dass bei manchen in der Literatur angeführten Fundorten für
gagates eine Verwechslung mit pzcea vorliegt, hat in den meisten
Fällen eine Bestätigung gefunden. Für England war eine Revision
der Angaben Saunder’s bereits von Donisthorpe°) im vorigen
Jahre durchgeführt. Von ıhm und anderen wurde picea unter
gleichen Umständen im New Forest gefunden. Adlerz !%) publi-
zierte gleichzeitig mit mir und unter demselben Titel eine Arbeit
über pzcea, die große Übereinstimmung mit der meinigen zeigt.
Er fand die Ameisen in Sphagnummooren des mittleren Schweden
bei Borgsjö, Liden und Alnö. Nach einer brieflichen Mitteilung
beziehen sich seine früheren Augaben über yagates bei Kongsvold
in Norwegen auf Formica picea. Dagegen sind die Ameisen,
die er auf Öland fand und als gagates bezeichnete, keine
picea, sondern müssen als eine gagates-ähnliche fusca-Form ange-
sehen werden wie die fasco-gagates-Varietät, dıe Forel aufstellte.
Adlerz fand diese Ameisen auch nicht ın Mooren, sondern auf
trockenem Boden. Im nördlichen Osteobottnien — nebenbei be-
merkt wohl dem nördlichsten Fundort für Ameisen, fast unter dem
Polarkreis! — wo Nylander picea schon gefunden hatte, hat sie
neuerdings Räsänen!!) wiedergefunden, aber als gagates bestimmt.
Die Vermutung, die Emery 1909 aussprach, nämlich dass pice«a
wohl bis nach Ostasien und China verbreitet sei, hat eine interes-
sante Bestätigung gefunden, indem Forel!?) unter dem Material,
das ihm von der Insel Formosa zugesandt wurde, eine Varietät von
Formica picea fand, der er den Namen v. formosae gab. Dieser
Fundort ist auch insofern auffällig, als dıe Fauna der Insel haupt-
9) The Entomologist’s Record v. 25 p. 67—68, Myrmecophilous notes for 1912,
10) 1. ec. oben S. 69 Anm. 5.
11) Meddelanden af:Soc. pro Fauna et Flora fennica v. 38 p. 52 (finnisch mit
schwedischem Resume).
12) Arch. für Naturgeschichte v. 79, 1913, Heft 6, p. 201.
76 Bönner, Die Überwinterung von Formica picea etc.
sächlich malaischen Charakter trägt, picea v. formosae also (mit
einigen anderen Arten) als ein paläarktischer Überläufer zu be-
trachten ist. Leider fehlen noch biologische Angaben, so dass wir
nicht wissen, ob diese Varietät auch an Moore gebunden ist.
Zum Schlusse möchte ich noch die Aufmerksamkeit auf einige
Punkte lenken, über die ich keine Klarheit gewinnen konnte. Ad-
lerz fand in dem Sphagnummaterial der picea-Nester Pilzhyphen,
die nach seiner Ansicht zur Festigkeit des Baues beitragen oder
auch den Ameisen zur Nahrung dienen können und deshalb viel-
leicht von ihnen kultiviert werden, wie es von anderen Ameisen
bekannt ist. Ähnliche oder sogar die gleichen Pilzbildungen waren
mir auch aufgefallen. Ich hielt sie für die bei den Ericaceen, Empe-
traceen und vielen Humusbewohnern häufigen Mykorrhizabildungen,
und Genaueres habe ich auch bis jetzt noch nıcht feststellen können.
In Nestern, die ich ım Moor untersuchte, fand ich mehrmals
grüne Stengelspitzen von Sphagnum, die eben abgerissen zu sein
schienen, an Stellen, wohin sie unmöglich von selbst kommen
konnten. Ganz das gleiche beobachtete ich in künstlichen Nestern
Ich kann das nur durch die Annahme erklären, dass die Ameisen
diese Moosfragmente losgerissen und ins Nest geschleppt hatten;
jedoch habe ich nie eine Ameise solch einen frischen Sphagnum-
teil tragen gesehen. Vielleicht steht diese Beobachtung in Be-
ziehung zu den Pilzhyphen.
Ähnlich ging es mir mit einem eigentümlichen Dimorphismus der
Arbeiterinnen von Formica picea. Bei Untersuchungen der Nester
in der freien Natur fielen mir die zwei Typen zuerst als hellere
und dunklere Exemplare auf, die ungefähr ın gleicher Anzahl
vorhanden waren. Da es Januar war, konnten es schwerlich un-
ausgefärbte Exemplare sein. Im Beobachtungsnest sah ich dann,
dass die hellen, fast grauen Individuen meist 1—2 mm größer
waren als die tiefschwarzen; der Hinterleib war unverhält-
nısmäßig größer. Zu diesen morphologischen Unterschieden
lernte ich biologische kennen. Die großen Individuen sitzen mei-
stens im Innern des Nestes in Klumpen zusammen, die kleinen
Individuen sind oben auf dem Neste oder ordnen das Nest. Bei
Störung des Nestes fliehen die großen Exemplare nach unten, die
kleinen stürzen zur Verteidigung heraus. Dies fiel mir besonders auf,
als ich einmal das Nest unvorsichtig öffnete und mir die Ameisen
wütend entgegen kamen. Ehe ich geschlossen hatte, waren 26
herausgelaufen, ich fing sie ein; es waren alles kleine schwarze
Exemplare, was unmöglich Zufall sein konnte. Der letzte Umstand
erklärt auch, warum einem beim Öffnen eines Nestes in freier
Natur zuerst nur die kleinen schwarzen auffallen, so dass man sie
auf den ersten Blick mit großen Lasius niger verwechseln kann,
wie ich früher schrieb. Wahrscheinlich haben wir es hier mit einer
Biologisches Centralblatt 1915. Taf. 1.
Eisal®
Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchgeschnitten (?/,). Rechts etwas unter der
Mitte die Ameisen.
Fig.2. Fig: 3.
Stück aus dem Innern eines Nestes von Das gleiche Stück wie Fig. 2, aber von
F. picea. Von oben gesehen. (Etwas vergrößert.) der Seite gesehen. (Etwas vergrößert.)
27
er
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. er
gynäkoiden Arbeiterform zu tun, wie sie Wasmann!*) schon
bei Formica sangwinea, Formica rufibarbis und Polyergus rufescens
beobachtet hat. Auch dort bildeten sie die obere Grenze der Ar-
beitergröße, waren heller und fielen durch die Größe des Hinter-
leibes auf. Merkwürdig scheint mir nur ihre große Anzahl; sie
bilden — wenigstens in dem Beobachtungsnest, mit dem ich augen-
blicklich arbeite —, gut die Hälfte der Arbeiterinnen. Auch konnte
ich bisher nicht entscheiden, ob die vorhandenen zahlreichen Eier
von den Königinnen allein oder auch von ihnen stammen. Das
alles wird sich aber leicht durch Experimente klarstellen lassen.
Adlerz bemerkte auch, dass die Arbeiterinnen, die ın den tieferen
Teilen des Baues waren, einen auffallend stark angeschwollenen
Hinterleib hatten, der die helleren Ligamente der Hinterleibsringe
deutlich durchscheinen ließ. Er benutzt diese Tatsache zur Stütze
seiner Hypothese, dass die Ameisen von den erwähnten Pilzhyphen,
die sich vor allem ın den unteren Teilen des Nestes finden, leben.
Erklärung der Abbildungen.
Fig. 1. Gefrorenes Nest von F. picea senkrecht durchschnitten (?/,). Rechts
etwas unter der Mitte die Ameisen.
Fig. 2. Stück aus dem Inneren eines Nestes von F. picea. Von oben ge-
sehen (etwas vergrößert).
Fig. 3. Das gleiche Stück wie in Fig. 2, aber von der Seite gesehen (etwas
vergrößert). a
Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen
aus der Lacerta muralis-Gruppe.
Von Robert Mertens, Leipzig.
Die im Jahre 1572 von Theodor Eimer entdeckte und als
Lacerta muralis coerulea beschriebene Eidechse erregte sofort wegen
ihres Farbenkleides größtes Interesse im Kreise der Zoologen.
Während man zu der Zeit nur braune oder grüne Mauereidechsen
kannte, war diese auf dem steilen (äußersten) Faraglionifelsen bei
Capri beheimatete Eidechse von auffallend schwarzblauer Färbung.
Nach und nach lernte man noch drei weitere schwarze (resp. schwarz-
blaue) Formen der Mauereidechse kennen; alle sind sie Insel-
bewohner. Außer der eben erwähnten ZLacerta coerulea Eimer
(= faraglionensis Bedriaga) sind es noch die Lacerta lilfordi var.
typica Günther von den Balearen, die Lacerta melissellensis Braun
von einigen dalmatinischen Felseninseln (z. B. Melissello) und die
Laeerta fülfolensis Bedriaga vom Filfolafelsen bei Malta.
Es ıst klar, dass diese schwarzen Formen sofort Anlass zu
vielen Untersuchungen gaben, um Grund und Ursache dieses merk-
13) Biol. Centralbl. v. 15, 1895, p. 606; ferner: Ameisenarbeiterinnen als
Ersatzköniginnen (Mitt. Schweizer Ent. Ges. XI, 1905, Heft 2), und Zur Kenntnis
der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg III. Teil 1909.
7s Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc.
würdigen Melanismus zu erforschen. Allein keine einzige Hypothese
konnte genügen. Inzucht, durch Isolation bedingt, konnte den
Melanısmus nicht fördern, denn sonst wären auch die noch viel
weiter im Meere gelegenen Gallifelsen von solchen schwarzblauen
Tieren bevölkert; dortige Tiere sind nach Eimer und meinen per-
sönlichen Erfahrungen grün, nur die Bauchseite zeigt einige Ver-
dunkelung (statt weißgrau); auch die Bauchrandschilder sind größer
und intensiver blau gefärbt. Das Klıma konnte auch nicht die Ur-
sache des Melanismus sein, denn auf dem nur 150 m entfernten
Capri, wo klimatische Verhältnisse doch die gleichen sein müssen,
kommen nur grüne oder grünlichbraune muralis- oder richtiger serpa-
Echsen vor. Dass den Eidechsen auf dem Faraglioni irgendwelche
Nahrung zu Gebote steht, die den Melanısmus zur Folge hat, ist
kaum anzunehmen, denn Eimer, der Arthropoden, die ja in erster
Linie die Nahrung unserer Echsen darstellen, vom Faraglionifelsen
bekam, erkannte darunter nichts Auffallendes. Andererseits kann
auch einseitige Nahrung das Dunkelwerden nicht bedingen, denn
sonst würden wir ın unseren Terrarien, wo viele Eidechsen meist
auf einseitige Beköstigung mit Mehlwürmern angewiesen sind, schon
längst solches wahrgenommen haben, Dass auch ferner, wie es
Eimer annimmt, die Faraglionieidechsen durch ihre schwarze Fär-
bung, Schatten und Risse auf hellem Gestein imitieren, d. h., es
also sich hier um weiter nichts als eine Schutzfärbung handelt,
braucht wohl nicht erwähnt zu werden, denn was für Feinde sollten
die Eidechsen auf steilem, auch dem Menschen fast unzugänglichen
Felsen haben? Eımer erwähnt die Möven, doch nie habe ich
solche Echsen fangen sehen, da sie doch in erster Linie Fischfresser
sind. Wenn aber auch wirklich die Eidechsen in den Möven einen
schlimmen Feind hätten, so wären auch Echsen auf anderen Fara-
glionifelsen ebenfalls schwarzblau.
Das Problem wurde noch schwieriger, als man Lacerten vom
Monacone und den Gallifelsen mit berücksichtigte. Hier sınd
Eidechsen zu finden mit mehr oder weniger Andeutung an das
Dunkelwerden der Färbung. Was konnte nun diese Schwarzfärbung
bedingen? Auf ganz Capri treffen wir nur grüne und braune La-
certen an, auf dem nur wenige Meter entfernten Felsen plötzlich
dunkelschwarzblaue; auf anderen Felsen bei Capri finden wir, was
um so merkwürdiger ist, wiederum gewöhnliche oder nur etwas
dunkler gefärbte Formen. Nicht als ob es sich auf dem einen Fara-
glionifelsen etwa um eine neue Art handelte — im Gegenteil, weder
im Habitus, noch in Beschuppung oder Beschilderung finden wir
eine Differenzierung von den gewöhnlichen Eidechsen.
Das heisst nun aber, die Lösung dieses interessanten Problems
muss auf einem anderen Wege versucht werden. Wenn wir uns
nämlich die Schwarzfärbung der Faraglioniechse nicht sekundär,
Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc. 19
wie man es jetzt allgemein tut, sondern primär vorstellen, so müssen
wir auch die relativ dunkleren Galli- und Monaconeechsen nicht als
Formen auffassen, die ım Begriff sind, dunkler zu werden, sondern
die einstmal dunkel waren und jetzt heller werden. Mit anderen
Worten, dieses läuft darauf hinaus, dass vor Jahrtausenden ın
Europa Eidechsen lebten, welche alle ähnlich wie die jetzige schwarz-
blaue coerulea gefärbt waren. Was nun diese ursprüngliche Fär-
bung bedingte, ıst ja schließlich Nebensache, doch bin ich der An-
nahme, dass es das Bedürfnis sich zu sonnen war, das den überaus
wärmeliebenden Lacerten die Schwarzfärbung verlieh, um die
Sonnenstrahlen besser absorbieren zu können. Diese Einrichtung
ist auch jetzt noch bei allen Lacerten durch die Schwarzfärbung
der Mesenterien erhalten. Nun musste diese auffallende Schwarz-
färbung der Oberseite den Eidechsen wohl für die Aufnahme der
dem regeren Stoffwechsel notwendigen Wärme von großem Nutzen
sein, konnte sie jedoch nicht ın genügendem Maße vor ihren Feinden
schützen. Es bildete sich also nach und nach eine grünliche Fär-
bung mit dunklerer netz- oder streifenartigen Zeichnung, die ja den
Grasboden, Gestrüpp, Steine etc., auf dem die Eidechsen leben, im
höchsten Maße nachahmt. Dieses ist nun die Färbung der jetzigen
italienischen Lacerten. Noch zu der Zeit, wo alle Eidechsen dunkel
gefärbt waren, musste der Faraglionifelsen, der früher zweifellos
mit Caprı ın Verbindung stand, sich losgelöst haben und den
schwarzen Lacerten, die dort absolut keine Feinde haben können
und darum auch keine Änderung in der Färbung erfuhren, blieb
nun ihr Urkleid erhalten. Bemerken möchte ich auch, dass dieser
Felsen durch seine Steilheit fast ganz unzugänglich ist. Dass auch
Eidechsen dort beim Anblick des Menschen sich gänzlich furchtlos
verhalten, berichtet auch Eimer. Ich kann dasselbe aus eigener
Erfahrung nach vielen in meinem Besitze befindlichen Tieren be-
stätigen. Alle anderen Felsen, wie z. B. der Monacone und die
Galliinseln werden von Fischern, die letzteren sogar regelmäßig
von Wachteljägern besucht. In alter Zeit waren da auch Bauwerke
errichtet, was jetzt die dort befindlichen Ruinen beweisen. Die
Eidechsen, die auf diese Weise mit dem wenig tierfreundlichen
Menschen bekannt geworden sind, sind jetzt im Begriffe, ihre Fär-
bung zu ändern, also Schutzfärbung anzunehmen; d.h. heller zu
werden. Auf den Galliinseln soll auch die Zornnatter (Zamenis
gemonensis), bekannt als eine arge Eidechsenfeindin, vorkommen.
Der blaue Axillarfleck sowie die blauen Seitenschilder wäre alles,
was den jetzigen Lacerten von ihrem eimstmaligen Kleide erhalten
blieb. Interessant ist noch die Frage, warum wohl die Faraglioni-
echsen durchschnittlich größer werden als die Echsen vom Fest-
lande. Mag der regere Stoffwechsel wegen der günstigeren Auf-
nahme von Wärme, die die Dunkelfärbung zur Folge hat und die
s0 Mertens, Zur Frage des Melanismus bei Eidechsen etc.
Annahme, dass sie auf dem steilen Felsen ın ihrem Daseın voll-
ständig ungestört höheres Alter erreichen mögen, diese Tatsache
bedingen.
Diese Ausführungen, die natürlich nur rein hypothetisch zu
nehmen sind, werden sich wohl ohne weiteres nicht nur auf die
Faraglioniechsen, sondern auch auf andere melanotische Inselformen
beziehen lassen. Auch auf andere ZLacerta-Arten kann man diese
Hypothese anwenden. So z. B. auf die Echsen der Lacerta ocellata-
Gruppe, an die sich die Eidechsen der Kanarischen Insel anschließen.
Es handelt sich hier um relativ große Tiere (Zacerta ocellata, pater,
tangintana, galloti, simonyi), die untereinander ım Habitus ziemlich
ähnlich sind. Hier finden wir auch die auf dem Festlande be-
heimateten Lacerta ocellata, pater, tangintana durchaus grün; die
die Kanaren bewohnenden galloti und sömonyi sind durchweg alle
dunkel (schwärzlich) gefärbt. Doch auch diese letzteren sind stark
im Aufhellen begriffen. Auch noch einer Eidechse unserer heimischen
Fauna sei hier gedacht. Es ist dies die rätselhafte ZLacerta nigra,
eine schwarze Varietät unserer Lacerta rivipara. Ich habe dieses,
sowohl auf der Ober- als auch auf der Unterseite kohlschwarz ge-
färbte Tier bei Oberhof (Thüringen) auf ziemlich trockenem Terrain
fangen können. Man war der Meinung, dass Feuchtigkeit diese
eigentümliche Schwarzfärbung verursacht. Nach unseren Aus-
führungen können sıe nichts anderes als Relikte einer ursprüng-
lichen Eidechsenfärbung darstellen.
Wenn wir uns zum Schlusse noch den histologischen Verhält-
nissen der Haut der Faraglionieidechsen zuwenden, so sei vor allem
bemerkt, dass die schwarzblaue Farbe der Eidechsen nicht etwa
durch ein blaues Pigment bedingt wird, sondern eine Lage von
schwarzen Bindegewebszellen, über der sich noch eine Schicht farb-
loser Epidermis befindet, die blaue Färbung in unseren Augen her-
vorruft. Bei den grünen Eidechsen befindet sich dagegen zwischen
der schwarzen und der farblosen Schicht noch eine Schicht von
gelbem Pigment, die nun den Eindruck von grün bedingt!). Nun
sehen wir auch hier, dass die histologischen Verhältnisse der Haut
bei der Faraglioniechse viel einfacher, ursprünglicher sind Jals bei
den grünen Echsen. So müssen wir denn bei den letzteren auch
die Schicht der gelben Pigmentzellen als eine sekundäre Einlage-
rung betrachten; erst diese bedingt die sogen. Schutzfärbung bei
unseren jetzigen Echsen. Den Faraglioniechsen fehlt diese Lage
der gelben Pigmentzellen noch, ihr schwarzblaues Kleid braucht
diese Schutzeinrichtung nicht.
Zusätze: 1. Die ın letzter Zeit vorgenommenen Untersuchungen
von W. J. Schmidt haben gezeigt, dass bei den grün gefärbten
1) Vel. Th. Eimer, Zoolog. Studien auf Capri 11.
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 51
Eidechsen die grüne Farbe durch das Strukturblau der Guano-
phoren und das darüber gelagerte Lipochromgelb erzeugt wird.
Unter diesen beiden Schichten befinden sich noch die sogen. Melano-
phoren, die aber am Zustandekommen des Grüns nicht beteiligt
sind. Sie erzeugen die schwarze Zeichnung der Oberseite, indem
an diesen Stellen die Guanophoren und das Lipochromgelb durch
die Melanophoren gänzlich verdrängt werden. Bei den blauschwarzen
Faraglioniechsen scheint in erster Linie der Lipochromfarbstoff zu
fehlen, so dass an der Färbung nur die Guanophoren und die
Melanophoren beteiligt sind.
2. Es liegt mir natürlich fern, meine Hypothese über den Mela-
nismus als Urfarbe der Lacertiden auch auf andere Tiere beziehen
zu wollen. So sind wir z. B. ziemlich sicher, dass der Melanısmus
bei gewissen Säugetieren (Nagetieren) als durchaus sekundär auf-
zufassen ist. Der Verfasser.
Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
Von Oskar Prochnow in Berlin-Lichterfelde.
(Mit 4 Figuren.)
1:
Die Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen.
Alle Eigenbewegungen der Tiere und Maschinen sind Be-
wegungen durch Rückstoß und können in zwei Gruppen eingeteilt
werden:
1. in Bewegungen durch Rückstoß mit Beanspruchung des um-
gebenden Mediums oder in Bewegungen durch Abstoßen von
dem umgebenden Medium,
2. in Bewegungen des ganzen Körpers infolge von beschleunigten
oder gehemmten Bewegungen einzelner Teile des Körpers oder
in Bewegungen durch Selbstrückstoß.
Zu der ersten Gruppe von Bewegungen gehören das „Schlagen“
eines Gewehrs beim Abfeuern, ..die Bewegung der Turbinen, das
aktive Schwimmen der Lebewesen im Wasser sowie der Flug der
Vögel, alle Bewegungen der auf Rädern laufenden Maschinen und
schließlich unser Gehen, Laufen und Springen, —- zu der zweiten
Gruppe von Bewegungen gehören viele Regulierbewegungen bei
lebhaften Bewegungen, unsere Hilfsbewegungen der Arme beim
Springen, alle Rückdrehbewegungen des Ganzen, wenn ein Teil
beschleunigt oder gehemmt wird in einer Drehung. Hierzu gehört
auch die Drehbewegung beim Sprung der Ellateriden, unserer Schnell-
käfer, wie ich im folgenden beweisen werde.
De Gruppen von Eigenbewegungen mögen durch Beispiele näher beschrieben
werden:
1. Wie ist es möglich, dass wir gehen? — Allgemeiner: Welches sind
die physikalischen Gründe, dass sich ein Körper durch eine in seinem Innern er-
xXXXV. 6
82 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
zeugte Kraft relativ zu einem andern fortbewegt? Wenn wir sagen, wir kontrahieren
die Muskeln auf der Streckseite eines Beines, so dass es gehoben wird, verlegen dadurch
den Schwerpunkt des ganzen Körpers etwas nach vorn, lassen den Körper auf dieses
Bein fallen, dann das andere durch die Gleichgewichtslage hindurch nach vorn pen-
deln u. s. w., so haben wir dadurch die aufgeworfene Frage nicht physikalisch be-
antwortet.
Auf die Bedingungen eines Ereignisses werden wir am ehesten aufmerksam,
wenn wir feststellen, wann es nicht eintritt. Ich frage daher: Unter welchen Be-
dingungen können wir nicht oder doch nur sehr schwer gehen. Im Sande — wird
man sagen. Der Grund dafür ist der, dass wir uns dort nicht so leicht von der
Erde abstoßen können. Denn zu jeder Bewegung eines Körpers durch eigene Kraft
relativ zu einer Unterlage ist eine träge Masse nötig, die durch ihren Trägheits-
widerstand dem sich bewegenden Körper einen Stützpunkt bietet, von dem er sich
abstoßen kann. Es ist — kinetisch betrachtet — beim Gehen des Menschen nicht
anders als beim Abfeuern einer Kanone: wie die Pulverladung auf Geschoss und
Geschütz einwirkt und die leichtere Kugel weit nach vorn, das schwerere Geschütz
ein wenig nach hinten wirft, so wirkt die „Muskelentladung‘“ auf den Körper des
Lebewesens wie auf die Erde ein, indem sie beide auseinander treibt, das Lebewesen
um Schrittlänge nach vorn und die „unendlich“ viel schwerere Erde — ich rechnete
einmal aus, dass die Erde 10° — 100000 Trillionen mal so viel wiegt wie ein er-
wachsener Mensch — um einen unmessbar kleinen Betrag zurück.
Eine andere Bedingung des Gehens ist die Reibung zwischen unserer Stütz-
fläche und dem Boden; denn ohne Reibung können wir den Trägheitswiderstand
der Erde nicht hervorrufen, so dass wir uns nicht von ihr — oder eigentlich sie von
uns — abstoßen können.
Es ist also beim Gehen wie beim Schwimmen, Fliegen u. s. w. derselbe
Vorgang:
Das Tier, das sich fortbewegen will, drückt mit Teilen seines Körpers gegen
die Unterlage, die Luft, das Wasser, den Erdboden. Dadurch wird der Trägheits-
widerstand des Mediums hervorgerufen, das sich nicht ohne Rückwirkung auf das
Tier aus der Ruhelage herausbringen lässt. Darauf aber gerade ist es abgesehen ;
denn der Rückstoß des Mediums ist es, der die Richtung hat, nach der „sich‘ das
Tier bewegen will; er ist es, der das Tier während der ganzen Dauer des Stoßes
entgegen seinen Bewegungen dorthin treibt, wohin es will.
Alle Eigenbewegungen relativ zu einer Unterlage erfolgen also nach dem Prinzip
von Aktion und Reaktion; das Tier führt eine Aktion aus und nutzt die dadurch
hervorgerufene Reaktion.
2. Welchen Nutzen haben unsere Armbewegungen beim Springen?
— Beim Schlussprung in die Höhe schleudern wir die Arme im Augenblick des
Absprungs ruckartig nach vorn und besonders nach oben und hemmen die Arm-
bewegung möglichst plötzlich während des Sprunges selbst. Während des Ab-
sprunges wird dadurch der Druck auf die Unterlage, z. B. das Sprungbrett, ver-
stärkt, also auch der nutzbare Gegendruck der Unterlage auf den Körper. Während
des Sprunges selbst wirkt die Hemmung der Armbewegung in demselben Sinne
fördernd auf den Springer. Von der Tatsache dieses Antriebes überzeugt man sich
leicht, wenn man, auf einem Stuhle sitzend, folgende Armbewegung ausführt: die
Arme ungefähr gleichmäßig .beschleunigt hebt und sie dann möglichst kräftig an-
hält; man wird an der Druckverminderung auf das Gesäß merken, dass dieses
Bremsen der Bewegung des einen Körperteils den ganzen Körper nach oben treibt.
Diese Wirkung erklärt sich auch durch den Rückstoß. Beschleunigen wir die Arm-
bewegung, so wird auf den Körper eine entgegengesetzte Beschleunigung ausgeübt.
So macht sich bei jeder Bewegung eines für diese Betrachtung vom umgebenden
Medium unabhängigen Körpers eine entsprechende Gegenbewegung geltend. Es ist
wie in dem obigen Beispiel vom Gehen auf der Erde: an die Stelle des die Erde
durch seine Fußtritte von sich wegdrehenden Menschen ist der Arm getreten, an
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 83
die Stelle der Erde und des Menschen auf ihr der Mensch allein. Wenn der Mensch
sich durch seine einzelnen stoßartigen Fußtritte von der Erde abstößt, so dreht er
sie in entgegengesetzter Richtung zu der, in der er sich bewegt; hemmt er dagegen
plötzlich seinen Lauf, etwa dadurch, dass er den Fuß in den Boden einstemmt, so
übt er damit ein dem ersten entgegengesetztes Drehmoment auf die Erde aus, dessen
Wirkung also mit der Bewegung des Läüfers vor dem Hemmen des Laufs gleiche
Richtung hat. Wie also jede Beschleunigung eines Körperteils dem ganzen Körper
eine dieser Beschleunigung entgegengesetzt gerichtete Beschleunigung erteilt, so er-
teilt jede Hemmung einer Eigenbewegung eines Körperteils dem ganzen Körper eine
Beschleunigung in Richtung der Eigenbewegung des bewegten Körperteils. Ich be-
zeichnete derartige Bewegungen oben als Bewegungen durch Selbstrückstoß.
Um solche Bewegungen handelt es sich auch, wenn man in den dafür ge-
eigneten Spreewaldkähnen hin und her läuft oder sich in den Knien hin und her
wiegt oder in einem Rollsitzboot auf der Rollbahn hin und her fährt. Wenn man
dabei die Beschleunigungen passend einrichtet, so kann man dem Kahn oder Boot
— strömungsloses Wasser und Windstille vorausgesetzt — leicht eine dauernd fort-
schreitende Bewegung nach der Seite des wirksameren Rückstoßes aufzwingen. Soll
z. B. das Boot nach vorn fahren, so ziehe man den Körper, wenn er am Ende der
Rollbahn nach der Spitze des Bootee zu angekommen ist, mit großer Kraft zu dem
Stemmbrett heran und bremse diese Bewegung gegen das Ende langsam ab, dann
gehe man langsam zurück und bremse diese nach der Spitze des Bootes gerichtete
Körperbewegung zum Schluss stark ab.
Auf einen Unterschied der Abstoßbewegungen von den Selbstrückstoßbewegungen
soll noch hingewiesen werden: Während bei den Abstoßbewegungen auch konstante
Geschwindigkeiten des sich bewegenden Körpers wirksam sind zur Erzielung von
Rückstoßbewegungen, da ja dadurch in der Regel die Teilchen des umgebenden
Mediums beschleunigt werden und infolgedessen eine Reaktion ausüben, kommen
Selbstrückstoßbewegungen nur durch Geschwindigkeitsänderungen, also durch Be-
schleunigungen oder Hemmungen zustande.
Ich musste auf diese beiden Arten von Rückstoßbewegungen eingehen, weil
die Schnellbewegung der Elateriden aus beiden zusammengesetzt ist.
1.
Kritik der bisher aufgestellten Erklärungen der Schnell-
bewegung, insbesondere der zuletzt veröffentlichten Er-
klärung Otto Thilo’s (Biolog. Centralblatt, Bd. XXXIV, Nr. 2
S. 150—156).
Soviel ich sehe, behaupten alle Autoren, dass Elateriden, die
— was wegen der starken Wölbung der BauchSeite und flachen
Wölbung der Rückenseite und der dadurch bedingten Schwerpunkts-
lage in der Nähe der Rückenseite nicht selten geschieht — auf den
Rücken gefallen sind, mit ihren kurzen Beinen den Boden nicht
berühren, jedenfalls aber sich mit ihrer Hilfe nicht wieder auf-
richten könnten, wenn sie in der Schnellbewegung nicht ein Mittel
dazu hätten.
Ich habe mehrmals gesehen, dass sie es doch vermögen, aller-
dings scheint es ihnen mehr Mühe zu machen als das Empor-
schnellen. Meist versuchen die Käfer dieses Mittel erst, wenn
sie sich mehrmals emporgeschnellt und trotzdem — eben der
Schwerpunktslage wegen — die normale Lage nicht erreicht haben;
6*
)
S4 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
sie helfen dann auch wie andere Käfer durch Spreizen der
Elytren nach.
Das Instrument des Käfers für die von einem knipsenden Schall
begleitete Schnellbewegung besteht im wesentlichen aus einem Dorn
am Hinterrande des Prosternum und einer passenden Grube am
Vorderrande des Mesosternum.
H. Landois (1874) erklärt sich das Schnellen folgendermaßen:
„Wenn das Tier auf dem Rücken liegt, biegt es die Vorder-
brust rückwärts und bringt so den Dorn derselben aus der Höhle,
in der er in der Ruhe belegen ist. Nun krümmt sich der Körper
plötzlich nach der Bauchseite und dadurch schießt der Dorn wieder
in die Grube und das Insekt stößt dabei mit dem Rücken des
Thorax kräftig auf den Boden und wird durch diesen Stoß empor-
geschnellt. Dieses Emporschnellen des Käfers ist mit einem knipsen-
den Ton verbunden ... Der Dorn der Vorderbrust ist ziemlich
lang und auf der Oberfläche, wie auch an der Spitze ziemlich stark
behaart, weswegen der knipsende Ton nicht dadurch hervorgebracht
werden kann, dass etwa die Spitze des Dorns auf den Grund der
Höhle stieße. Bei größeren Elateren, etwa KHlater oculatus aus
Illinois, sieht man auf der Unterseite des Dornes in einiger Ent-
fernung von der Spitze desselben schon mit freien Augen einen
erhabenen glatten Wulst. Dieser wird beim Emporschnellen des
Käfers über den erhabenen Vorderrand der Grube gezwängt. Hat
der Wulst den Rand passiert, so knipst es...“ („Tierstimmen*, S. 105).
R. Hesse (1910) schreibt (in „Tierbau und Tierleben‘“ I, S. 212):
». .. Der Käfer stemmt zum Schnellen den Dorn gegen den
Vorderrand der Grube und lässt ihn unter starker Anspannung der
Streckmuskulatur plötzlich abgleiten, wobei durch das Hineinfahren
des Dorns in die Grube der knipsende Ton entsteht. Dabei ergibt
sich ein heftiges Zusammenknicken des gebeugten Gelenkes, so dass
der vorher konkave Teil der Rückenseite jetzt konvex vorspringt
und gegen die Unterlage stößt; durch deren Rückstoß wird der
Käfer ın die Höhe geschleudert. Da dieser Stoß aber nicht im
Schwerpunkt angreift, sondern vor demselben, so wird das Tier in
der Luft um die durch den Schwerpunkt gehende Querachse ge-
dreht und kommt mit der Bauchseite nach unten herab.“
Otto Thilo (1914) bemängelt (im Biol. Centralblatt S. 150ff.)
an diesen Beschreibungen und Deutungen mit Recht die Ungenauig-
keit der Beobachtung und gibt eine andere Erklärung. Er weist
zunächst darauf hin, dass die Krümmung des Rückens stets gering
ist und insbesondere gering wird, wenn der Käfer seine Vorberei-
tung zur Schnellbewegung — das Anstemmen des Dornendes gegen
den Grubenrand — ausführt. Thilo meint daher, dass der Aus-
gleich dieser Krümmung nicht ausreichen könne, um den Käfer so
hoch zu schleudern, und sagt in den „Ergebnissen“:
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. s5
„Der Sprungkäfer schleudert sich dadurch in die Höhe, dass
er mit seinem Brustdorn gegen den zweiten Brustring schlägt. Der
Dorn ist hierbei keine Sperrvorrichtung, sondern dient nur zur
Führung und Sicherung der Bewegung.“
Diese Ansicht begründet Thilo nicht durch Versuche, sondern
durch teilweise wenig geschickte Vergleiche mit anderen springenden
Geräten, einer mit einem Schlagbügel versehenen Mäusefalle, die
sich durch das Aufschlagen des Bügels auf das eine Ende in der
Richtung der Bewegung des Bügels überschlägt, und durch Hin-
weis auf das Klippholz oder Prellholz, das die Kinder über einen
Stein legen und durch einen Schlag auf das eine Ende zum Über-
schlagen über dieses Ende veranlassen.
Nun sind jedoch die Ursachen des Überschlagens dieser beiden
Geräte durchaus nicht dieselben. Das Prellholz der Kinder
springt nach dem Gesetz vom zweiarmigen Hebel (Wurfhebel), die
Mäusefalle und das Klippholz Thilo’s, das ja ım Prinzip nichts
anderes ıst als eine Mäusefalle — die Maus müsste nur die
Zündschnur durchfressen und dann schnell nach dem anderen
Ende laufen — springt nach dem oben erläuterten Gesetz vom
Selbstrückstoß. Das scheint Thilo übersehen zu haben; sonst
würde er wohl nicht in der Wirkung des Schlages auf das eine
Ende die Erklärung des Sprunges der Mäusefalle und der Elateriden
gesehen haben. Ganz haltlos wird aber dieser Erklärungsversuch,
wenn man bedenkt, dass, wenn der „Schlag“ auf das eine Ende
des doch krummen Rückens der Elateriden die Schnellbewegung
auslösen sollte, der Käfer sich in der Richtung über das getroffene
Ende hinweg überschlagen müsste, also über den Kopf und nicht,
wie Thilo und Hesse angeben, über den Hinterleib.
So war ich denn, als ich Thilo’s Arbeit gelesen hatte (mit
deren Ergebnissen er in der „Umschau“ einen größeren Leserkreis
bekannt machte), davon überzeugt, dass diese fast jedem Kind be-
kannte Erscheinung bisher noch keineswegs physikalisch einwand-
frei erklärt ist und wurde in dieser Ansicht noch dadurch bestärkt,
dass sogar die Richtung des Überschlags in den verschiedenen, auf
biologische Verhältnisse überhaupt eingehenden Lehrbüchern nicht
übereinstimmend angegeben wird: Hesse (a. a. ©.) gibt wie Thilo
an, dass sich der Käfer über den Hinterleib überschlägt, Schmeil
(Lehrbuch der Zoologie, 1912, S. 376), dass die Drehung um das
Kopfende erfolgt.
IM.
Die Gestalt des Sprungorgans.
Das Sprungorgan variiert in der Familie der Elateriden nicht
unbeträchtlich. Übereinstimmend ist jedoch bei allen Arten der
Dorn am Hinterrande des Prosternum und die dazu passende Grube
am Vorderrande des Mesosternum. Der Dorn (Fig. 1 und 3) er-
S6 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
scheint, von der Bauchseite aus gesehen, schwach konvex gekrümmt.
Er trägt an der Unterseite, etwa um !/, bis !/, der Länge von der
Spitze entfernt, einen Wulst. Dahinter ist die Unterseite kopf-
wärts mehr oder minder deutlich gekielt. Die ganze Unterseite
Fig. 1.
Fig. 1. Schattenriss eines zum Absprung bereiten Schnellkäfers
(Athous rufus Degeer). Der Wulst des Dorns ist gegen den Rand der
Grube gepresst; das Pronotum berührt die Untterstützungsfläche nicht.
Vergr. 4:1.
Fig. 2. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von
unten gesehen.
D Dorn, @ Grube, ® Vorsprung am Hinterrande des Prosternum,
9 Bremsgrube zur Aufnahme des Vorsprungs v, A hinterer seitlicher Vor-
sprung des Hinterrandes des Prosternum, f Gelenkfurche zur Aufnahme
des Vorsprunges h. Vergr. 5:1.
Fig. 3. Vorderer Teil eines Schnellkäfers (Athous rufus Degeer), von
der Seite gesehen. Vergr. 7:1.
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet, S7
des Dorns ist unbehaart und sehr glatt, die Spitze und die Ober-
seite kurz behaart.
Die Grube passt nicht bei allen Arten gleichgut für den Dorn.
Ihre Öffnung ist ungefähr oval; hinten ist die Grube am tiefsten.
Der Vorderrand springt etwas vor und zeigt in der Mitte einen
Ausschnitt. In diesen passt der Kiel der Unterseite des Dorns
hinein. Vom Vorderrande der Grube führt eine glatte, ein wenig
gekrümmte Gleitbahn in die Tiefe der Grube. Darauf gleitet der
Dorn bei der Schnellbewegung abwärts. Neben und unterhalb der
Gleitbahn ist die Grube weniger glatt und z. T. schwach behaart.
Das Gelenk für die Drehung des Prothorax wird von den
Skeletteilen des Pro- und Mesonotum gebildet. Da der dorsale
Einschnitt zwischen Pro- und Mesothorax ziemlich tief ist, so liegt
der Drehpunkt nur wenig dorsal von der transversalen Median-
ebene. Zu diesem Drehgelenk gehören auch die äußeren seitlichen,
bei allen Arten mehr oder minder deutlich entwickelten Fortsätze
des Prothorax, für die teilweise (z. B. Fig. 2 bei f) Gelenkfurchen
am Vorderrande des Mesothorax entwickelt sind.
Eine Skeletteigentümlichkeit ist bisher übersehen worden, die
für die Wirkung des Sprungorgans von großer Bedeutung ist.
Der Hinterrand des Prosternum springt jederseits vom Dorn
(Fig. 2, D) etwa in der Mitte zwischen der Medianlinie und dem
äußeren Rande jederseits in Gestalt einer Spitze (r) oder eines
Bogens nach hinten zu vor. Diesem Vorsprunge entspricht am
Vorderrande des Mesosternums eine Grube (g), in die die Spitze oder
der Bogen hineinpasst. Ich habe sie in Fig.3 als Bremsgrube be-
zeichnet. Ist der Dorn in die Grube (G@) hineingedrückt, so greifen
auch diese Vorsprünge in ihre Gruben ein.
IV.
Versuche über das Springen der Schnellkäfer.
1. In welcher Weise hängt der Sprung von der Ela-
stizität der Unterlage ab?
Ein und derselbe Elater sanguineus L., 16 mm lang, diente für
alle Versuche als Versuchstier. Es wurde zunächst die Sprunghöhe
gemessen.
a) Auf Glas: Sprunghöhe:
1. Versuch 7 cm
% ” 8 E2]
3. 3 _ ER
b) Auf einer Aluminium-
schachtel von 1 mm
Wandstärke und 9 cm
Durchmesser: F
1. Versuch £ B7Z
3 11
+ 93 Te
Ss Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
c) Aufeiner Pappschachtel
von 1'/,mm Wandstärke,
Größe 14 X 19cm:
1. Versuch IR,
2. 1 12.5,
Bel, Iuzer
d) Auf einem zusammen-
gefalteten Taschentuche:
1. Versuch Ele Am folgenden Tage richtete sich der
2. % LICH: | Käfer auf dieser Unterlage in zwei
3 r I, von drei Fällen mit den Beinen auf.
e) Auf trockenem, feinem
Sande: Sprunghöhe:
1. Versuch 1!/,cm
2. „ 1 „
Su, Se,
f} Auf Watte:
5; Versuch R 2 Der Käfer richtet sich mit Hilfe seiner
i 2 2 Beine auf.
u , 0
g) Anf derselben Papp-
schachtel wie oben (ec):
1. Versuch 10: ,,
2. „ 12 „
Bu lem,
Alle Versuche wurden kurz hintereinander angestellt, der letzte
Versuch zu dem Zwecke, um festzustellen, ob der Käfer schon er-
müdet war. Eine Kontrollversuchsreihe am folgenden Tage zeigt
bei anderer Anordnung der Versuche die gleichen oder nur ganz
wenig davon abweichende Sprungleistungen.
Wie zu erwarten war, zeigte sich eine direkte Abhängigkeit
von dem Widerstand der Unterlage: der Sprung ıst höher, wenn
die Unterlage aus nicht nachgebenden Teilen besteht, insbesondere,
wenn die Unterlage federt.
Die Sprungleistungen sind allerdings auf der Pappschachtel
nur wenig höher als z. B. auf Glas. Am zweiten Versuchstage
tritt dies noch deutlicher hervor.
Da ergab sich auf Pappe, Aluminium Glas
die Reihe der Sprunghöhen 10,12,10; 10,11,11; 10,10, 11 (cm).
Den Haupteinfluss scheint daher die Elastizität des Chitins zu
haben.
2. Stößt sich der Käfer mit Prothorax und Elytren
von der Unterlage ab?
Wenn ein Schnellkäfer in der Rückenlage ist, berührt er mit
dem Pronotum die Unterlage im allgemeinen nicht (Fig. 1). Ob
dies beim Sprunge geschieht, untersuchte ich „durch folgende zwei
Versuchsanordnungen.
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. Ss)
Ich legte den Käfer mit einer Pinzette rücklings auf eine mit
Ruß geschwärzte Glasplatte und ließ ihn springen. Dann haftet
der Ruß von allen den Stellen an seinem Körper, die er vor oder
beim Sprunge berührt. Auf diese Weise konnte ich nun feststellen,
dass eine starke Berührung des Pronotum mit der Unterlage nicht
nötig ist (vgl. Fig. 4, b).
Fig. 4.
Berührungsstellen ab-
springender Elateriden mit
einer berußten Glasplatte.
(Nat. Gr. Phot.) a
Hinten Berührungsstelle der
Elytren, davor von Prothorax
und Fühlern, seitlich von den
Beinen.
a und b von Elater sangui-
neus L., e und d von Athous
niger Redt. Bei a und d Be-
rührung mit den Beinen, bei d
vor dem Sprunge heftige ab-
stoßende Beinbewegung. Bei c,
besonders aber bei db nur ganz
schwache Berührung des Protho-
rax, möglicherweise nur von der
Krümmung rückwärts und nicht
vom Sprunge herrührend.
b
Den Beweis, dass eine solche Berührung überhaupt nicht statt-
zufinden braucht, erbrachte folgender Versuch:
Ich legte den Käfer mit einer Pinzette so auf den Rand einer
Glasplatte oder eines Mikroskopierspatels oder eines etwa 1 cm
breiten Blechstreifens, dass nur die Elytren aufliegen, das Pronotum
aber über den Rand ganz hinausragt. Der Käfer trachtet zwar,
sich durch Drehen oder vorzeitiges Abspringen zu befreien, doch
gelingt der Versuch nach einiger Übung, so dass sich der Käfer
kurze Zeit vor dem Sprunge in der gewünschten Lage befindet. Es
zeigte sich, dass der Käfer auch aus dieser Lage abspringen kann —
also ohne dass er das Sprunggelenk zum Abstoßen gebraucht.
3. Nach welcher Richtung überschlägt sich der Käfer?
Die Beantwortung dieser Frage ist für die Erklärung der Sprung-
bewegung von großer Wichtigkeit.
Die direkte Beobachtung ist sehr schwer, da die Gesamtdauer
des Emporschnellens und Niederfallens !/, bis !/, Sekunde beträgt.
Trotz angespanntester Aufmerksamkeit ist es nicht in allen Fällen
möglich, mit Bestimmtheit zu sagen, ob das Überschlagen über den
Kopf oder über den Hinterleib erfolgt. In allen Fällen, wo der
90 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
Verfasser und die hinzugezogenen Beobachter mit Bestimmtheit
sagen konnten, nach welcher Richtung die Drehbewegung erfolgte,
lautete das Urteil: über den Hinterleib. Erstaunlich ist, dass der
Käfer auch in diesen Fällen sehr häufig nach der Richtung zu
niederfällt, wo vorher sein Kopf lag.
Auch bei den Versuchen, wo der Käfer allein mit den Elytren
auf einem Blechstreifen auflag, lautete das Urteil in allen Fällen,
wo Bestimmtes gesagt werden konnte, dahin, dass die Drehung
über die Hinterleibsspitze erfolgte. Trotzdem fiel der Käfer nach der
Richtung von seiner Ausgangslage aus nieder, wohin der Kopf zeigte.
Ohne Mühe kann man die Richtung der Drehbewegung fest-
stellen, wenn man den Käfer auf feinem, trockenem Sande seine
Sprünge ausführen lässt. Der Käfer kann sich dann nur ganz wenig
erheben und die ganze Bewegung ist in den meisten Fällen nichts
anderes als eine Drehung des Käfers um die Hinterleibsspitze aus
der Rückenlage in die Bauchlage.
Diese Versuche reichen zur Auflösung der Sprungbewegungen hin.
V.
Erklärung des Springens der Schnellkäfer.
Wenn sich der Käfer emporschnellen will, bewegt er den Pro-
thorax so lange auf und ab, bis der glatte Wulst auf der Unter-
seite des Dorns gegen den Rand der Grube stößt. — Man kann
dieses Anpassen in der Regel beobachten. Führt man am toten
Käfer dieses Anpassen aus und zwängt dann den Dorn in die Grube,
so hört man, wie schon Landois beobachtete, einen knipsenden
Ton in dem Augenblick, wo der Wulst über den Rand der Grube
gleitet. Es fällt in diesem Augenblick offenbar der gekielte proxi-
male Teil des Dorns auf den gekerbten Rand der Grube. Dann
gleitet der Dorn schnell in die Grube hinein. Die Bewegung wird
durch das Anschlagen der Vorsprünge des Prosternum-Hinterrandes
an die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrande und wohl auch
durch das Auftreffen des Dornendes auf den Grund der Grube ab-
gebremst. Dass der Grund der Grube schwächer chitinisiert ist als
die Gleitbahn, lässt darauf schließen, dass das Abbremsen der Be-
wegung an dieser Stelle von untergeordneter Bedeutung ist. Zu
Thilo’s Darstellung ist hier zu bemerken, dass der Dorn nicht fest
in der Grube sitzt wie ein Säbel in seiner Scheide, sondern bei
manchen Arten ziemlich großen Spielraum hat. Weiter scheint mir
irrtümlich, dass die Haare zur Verminderung der Reibung dienen
sollen. Sie vermehren zweifellos die Reibung und finden sich daher
nur dort, wo Reibung nicht vorhanden oder bedeutungslos ist, z. B.
auf der Oberseite des Dorns, der nicht fest in die Scheide passt.
Die Versuche lassen zunächst darauf schließen, dass drei Be-
wegungsursachen vorliegen:
Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet. 91
1. Der Selbstrückstoß durch Abbremsen der Prothoraxbewegung,
der eine Drehung um die Hinterleibsspitze herbeiführt (Versuch
auf Sand, vgl. IV),
2. die Stoßwirkung des Abhremsens der Prothoraxbewegung,
wodurch der Käfer wie ein Wurfhebel um den Unterstützungspunkt,
also über den Kopf gedreht wird (Auffallen kopfwärts),
3. die elastische Gegenkraft des Chitins und der Unterlage
(Versuche über die Sprunghöhe).
Zu erörtern bleibt noch, welchen Zweck der Wulst auf der
Dornunterseite hat.
Eine Bewegung löst das Hinweggleiten des Wulstes über den
Grubenrand wohl nicht aus. Es könnte nur, während der Wulst
auf den Grubenrand hinaufgleitet, wenn also seine Bewegung be-
schleunigt ist, eine Selbstrückstoßbewegung eintreten, die der unter
1. genannten entgegenwirkt; wenn der Wulst jedoch hinabgleitet
von dem Grubenrande, müsste eine Stoßwirkung auftreten, die in
demselben Sinne wirkt wie die Kraft, die unter 2. genannt ist.
Diese Kraft scheint in der Tat nicht unbedeutend zu sein, denn
der knipsende Ton, der offenbar von dem Aufprallen des Dorns
auf die Gleitbahn herrührt, ist stets deutlich hörbar. Man könnte
zwar meinen, dass das Abbremsen der Prothoraxbewegung von dem
Geräusch begleitet ist; doch überzeugen Versuche am toten Tiere
davon, dass es bereits „knipst“, wenn der Wulst über den Gruben-
rand hinweggedrückt ist, ehe noch der Vorsprung die Bremsgrube
berührt hat.
Die Hauptbedeutung des Dornwulstes suche ich jedoch anderswo.
Ich sehe sie darin, dass es dem Käfer so möglich wird, zunächst
einen festen Halt zu finden und, wenn der Widerstand dann durch
starke Muskelanspannung beseitigt ist, sehr schnell eine große Be-
wegungsgeschwindigkeit zu erzielen, so dass beim Abbremsen dieser
Geschwindigkeit eine große Selbstrückstoßkraft auftritt.
Diese ist nämlich das stets Wirksame, auch wenn die Unter-
lage für einen hohen Sprung keine Möglichkeit bietet. Die Wurf-
hebelwirkung ist zweifellos unbedeutender. Denn der Käfer indi-
vidualisiert den Sprung nicht; er müsste also, wenn die Wurfhebel-
wirkung stark wirksam wäre, auch auf nachgiebiger Unterlage mehr
oder minder senkrecht in die Höhe springen oder auf der Stelle
liegen bleiben — indem sich die beiden entgegengesetzten Dreh-
kräfte dann das Gleichgewicht hielten.
Ist die Wurfhebelwirkung auf dieser nachgiebigen Unterlage
nicht wirksam, so kann sie doch bei fester Unterlage in Erschei-
nung treten. Denn die Drehwirkung wird sicher dadurch gehemmt,
dass die Unterstützungsstelle dem Druck nachgibt. Dadurch erklärt
sich teilweise das mehr oder minder senkrechte Emporschnellen
sowie das häufige Auffallen kopfwärts.
92 Prochnow, Das Springen der Schnellkäfer, physikalisch betrachtet.
Schließlich findet, wie auch die Photographie der Berührungs-
stellen beweist, in manchen Fällen ein Abrollen der Elytren auf
der Unterlage statt, so dass dabei auch ein Abstoßen der hinteren
Teile der federnden Chitindecken eintritt, das offenbar das Ergebnis
hat, dass der Körper einen Antrieb zum Sprung nach der Seite
des Kopfes hin bekommt.
Sehr wünschenswert wären gute kinematographische Aufnahmen
der Schnellbewegung.
Ergebnisse.
1. Das Sprungorgan besteht erstens aus einer Vorrichtung zur
Ermöglichung einer schnellen Drehbewegung des Prothorax und
zweitens aus einer Vorrichtung zum Abbremsen der Bewegung.
Zur Erzielung der schnellen Drehbewegung dient der Dorn des
Prosternum, dessen an der Unterseite befindlicher Wulst gegen
den Rand der Grube vorn am Mesosternum gepresst und dann nach
Einsetzen des vollen Muskeldrucks darüber hinweggezwängt wird.
Das Abbremsen dieser Bewegung geschieht wohl teilweise durch
das Auftreffen des Dorns auf den Grubengrund, vorwiegend aber
durch das Anstoßen der seitlichen inneren Vorsprünge des Prosternum-
Hinterrandes gegen die Bremsgruben am Mesosternum-Vorderrand.
2. Die Schnellkäfer können auch auf wenig festen Unterlagen
ihre Sprünge ausführen, z. B. auf feinem, trockenem Sande. Dann
besteht die Schnellbewegung in einer Drehung um das Hinterleibs-
ende. Auf fester Unterlage spielt die Elastizität des Chitins eine
größere Rolle als die der Unterlage.
Die Drehung beim Sprunge scheint stets um das Hinterleibs-
ende zu erfolgen, auch dann, wenn der Käfer, was sehr häufig ge-
schieht, kopfwärts von der Absprungsstelle landet.
3. Die Schnellkäfer brauchen beim Absprunge die Unterlage
nur mit den Elytren zu berühren. Die Elytren rollen sich dabei
bisweilen bis zur ganzen Länge auf der Unterlage ab.
4. Alle bisher aufgestellten Erklärungen der Schnellbewegung
sınd falsch:
Der Käfer stößt sich nicht mit dem Pronotum und den Elytren
ab (z. B. Hesse, Tierbau und Tierleben I, S. 212); er springt
ebenso gut, wenn nur die Elytren aufliegen.
Er schleudert sich auch nicht durch die Schlagwirkung auf den
Vorderrand des Mesosternums in die Höhe (Thilo, Biol. Oentralbl.,
1914, S. 150ff.), denn dann müsste die Drehung wegen der Wurf-
hebelwirkung über den Kopf erfolgen. Die Schlagwirkung ist nur
eine Teilursache.
5. Beim Schnellen wirken folgende Bewegungsursachen:
a) Der Selbstrückstoß infolge der Hemmung der Drehbewegung
des Prothorax, der die Drehung über das Ende des Abdomens
bedingt,
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 93
b) der Schlag des Dorns auf die Gleitbahn nach dem Hinüber-
gleiten des Wulstes über den Grubenrand und der Brems-
schlag der mittleren seitlichen Chitinvorsprünge hinten am
Prosternum gegen die Bremsgruben vorn am Mesosternum
als Ursachen einer Wurfhebeldrehung des Käfers um die
Unterstützungsstelle der Elytren als Drehstelle, wodurch
die Drehbewegung um das Ende des Abdomens abgeschwächt
und der Druck auf die Unterlage verstärkt wird,
c) die Federkraft des Chitins infolge des Drucks auf die Unter-
lage und der Abrollung der Elytren auf der Unterstützungs-
fläche.
Der Selbstrückstoß und die Wurfhebelwirkung wirken einander
entgegen und pressen, wenn beide wirksam sind, den Käfer gegen
die Unterlage. Auf nachgiebiger Unterlage gibt die Unterstützungs-
stelle dem Druck nach und die Wurfhebelwirkung kommt nicht
zur Geltung. Dann bleibt nur die Drehung des Selbstrückstoßes
übrig, die den Käfer über die Spitze des Abdomens dreht. Das
Auffallen in der Richtung des Kopfes von der Absprungstelle aus
scheint dadurch bedingt zu sein, dass die sich auf der Unter-
stützungsfläche abrollenden Elytren auf den Käfer abstoßend ein-
wirken. Dass die Drehung anscheinend stets über die Spitze des
Abdomens erfolgt, lässt auf die vorherrschende Wirkung des Selbst-
rückstoßes infolge der Hemmung der Drehbewegung des Prothorax
schließen.
War Darwin ein originelles Genie?
Von J. H. F. Kohlbrugge, Utrecht.
Wie dachte Darwin selbst über seine Originalität?
Am schärfsten sprach er sich darüber wohl in den folgenden
Worten aus: “I was forestalled!) in only one important point,
which my vanity has always made me regret.” Alles andere, was
er in seinen Werken in bezug auf die Deszendenztheorie gebracht
hatte, war also von ihm entdeckt, von ihm geschaffen worden!
Ähnlich klingen die folgenden Worte, die auf das Ganze zielen:
“It has?) some times been said, that the success of the origin proved
‘that the subject was in the air’, or ‘that men’s minds were prepared
for it’. I do not think this is strietly true, for I occasionly
sounded not a few naturalists and never happened to come across
a single one, who seemed to doubt about the permanence of
species”.
1) Bei Erwähnung von Forbes’ Erklärung der Arktischen und Hochgebirgs-
Fauna und Flora durch die Eisperioden. Life and letters. Vol. I, p. 71, New
York 1887.
2) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol, 1, p. 71, New
York 1887.
94 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
Ungefähr dasselbe äußerte er in der ersten Auflage seiner
Origin of species (p. 481). “Why, it may be asked, have all the
most eminent living naturalists and geologists rejected this view
of the mutability of species”. Auf S.6 lesen wir “The view which
most naturalists entertain that each species has been independently
created.”
Wir sehen also, dass Darwın glaubte, dass er nahezu alle
wichtigen Beweise (alle bis auf einen) oder Erklärungen zu seiner
Deszendenzlehre selbst und selbständig gefunden habe. Dass er
allein stehe in seiner Auffassung der Variabilität der Organismen,
dass die übrige Welt noch versunken sei in der Schöpfungslehre
und dass er demnach durch seine selbstgefundenen Auffassungen
und Erklärungen gegen diese Welt in die Schranken trat und sie
überwand.
Darwin hielt sich selbst also für ein durchaus schöpferisches
Genie!
Diese Selbsteinschätzung wurde z. B. durch Mantegazza be-
stätigt?).
Darwin & un creatore: „anch’ egli dopo vent’annı di osser-
vazıone e dı meditazione disse nel mondo delle forme vive: Sıa
la luce, e anch’egli morendo nelle supreme ore della sua serena
agonia, poteva, guardandosi indietro, compiacersi di s& stesso et dell’
opera sua. E. Darwin vide che la luce era buona.“
Diesen Worten nach dürfte man Darwin also mit den Worten
des alten Kirchenliedes: „Veni creator spiritus“ begrüßen.
Ich habe nicht weiter nach derartigen Äußerungen in der
Darwinistischen Literatur gesucht, aber nach Radl?), der sie gut
kennt, tragen die Darwinisten die Sache stets so vor, als ob der
Darwinismus eine absolute, von der Zeit unabhängige, durch seinen
genialen Kopf entdeckte Wahrheit sei; als ob alle Forscher vor
Darwin an direkte Erschaffung jeder Spezies glaubten. Erst
Darwin habe die historische, kausale Methode und das exakte
Denken in die Naturwissenschaften eingeführt, welche denn auch
durch ihn, da er sie aus den theologischen und teleologischen Fesseln
befreite, zur Wissenschaft wurde. Da wir nun keinen Grund haben,
dieses alles gläubig anzunehmen, so wollen wir zunächst einmal
untersuchen, ob wirklich die Variabilität der Organismen zu Dar-
win’s Zeit eine unbekannte oder von allen verurteilte Lehre war.
Es könnte doch sein, dass Darwin seine Zeitgenossen und die
Literatur nicht kannte, um so mehr, da er ja von sich selbst be-
zeugte: “During my whole life I have been singularly incapable of
3) Archivio per l’ antropologia e etnologia. Firenze 1905, p. 311.
4) E. Radl. Geschichte der biologischen Theorien. T. IT, Leipzig 1905,
S. 113, 273, 554.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 95
mastering any language?°).” Sein Urteil beruhte also vielleicht nur
auf seinen Erfahrungen, die er durch Gespräche mit einigen seiner
Landsleute machte. Von diesen schrieb H. Hauff: „Nur in Eng-
land klebt noch ein Teil der Naturforscher hartnäckig an dem Buch-
staben der Schrift, was wohl daher rührt, dass so viele Lehrer der
Naturgeschichte Geistliche der bischöflichen Kirche sind,“ was
Judd bestätigt!‘)
Zuvor muss ich noch einem zuweilen gemachten Einwand be-
gegnen, dass zumal der induktiv arbeitende Forscher, der zahllose
neue Tatsachen ans Licht bringt, die Literatur vernachlässigen
dürfe, wenn ihn diese bei seinen originellen Untersuchungen auf-
halte. Ich gebe gerne zu, dass diese Auffassung eine gewisse Be-
rechtigung für sich hat, so lange wenigstens, wie solch ein Forscher
sich auch kein Urteil erlaubt über die Literatur, über die Auf-
fassung seiner Zeitgenossen oder über die Geschichte seiner Wissen-
schaft. Oben sahen wir aber, dass Darwin sich wohl erlaubte,
seine Zeitgenossen und den Zeitgeist zu beurteilen. Dann muss
man aber auch von ıhm fordern, dass er beide kannte. Kannte er
sie nicht und erlaubte er sich trotzdem ein Urteil, so fehlte es ıhm
an wissenschaftlichem Ernst!
Zwar hat Darwin sein berühmtes Buch anfangs ohne jede
historische Einleitung erscheinen lassen, wodurch er ganz besonders
den Eindruck erweckte, dass seine Tat, seine Theorie’), eine origi-
nelle, neugeschaffene sei. Später jedoch zunächst in der ersten
deutschen Auflage und dann ın der amerikanischen Auflage brachte
er eine historische Einleitung und zwar auf Antrieb Bronn’s°).
Obgleich diese Einleitung äußerst oberflächlich und kurz gehalten
ist, so ist es doch immerhin eine historische Einleitung. Einerseits
gibt uns diese nun das Recht, von ihm zu fordern, dass er die
Geschichte, über die er schrieb, kannte, anderseits vernichtete er
durch diese Einleitung die selbstbehauptete Originalität.
Wir wollen uns nun zunächst unter Darwin’s Zeitgenossen
von 1830— 1859 umsehen, ob unter ıhnen namhafte Forscher sich
5) Fr. Darwin. The life and letters of Ch. Darwin. Vol. I, p. 29, New
York 1887.
6) H.Hauff. Vermischte Schriften. Bd.I. Skizzen aus dem Leben und der
Natur. Stuttgart und Tübingen 1840, S.202. J.W.Judd. The coming of evolution,
1910, p. 25 schrieb “Uniformitarianism and Plutonisme were looked upon, with
aversion and horror as subversive of religion and morality.” Coneybeare, Sedg-
wick, Buckland, Whewell, Henslow waren Geistliche. Judd, ]. c. schrieb
weiter in bezug auf England (p. 1). “At the beginning of the century the few who
ventured to entertain evolutionary ideas where regarded by their scientific contem-
poraries, as wild visionairies, or harmless ‘cranks’, by the world at large as ignorant
‘quacks’ or ‘designing atheists” (vgl. auch Judd S. 61).
7) Er selbst schrieb oft “my theory”. So auf S. 206, 280, 302, 463, 465 der
ersten Auflage. Darüber handelt auch Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246.
8) Fr. Darwin. Ch. Darwin, 1892, p. 246.
I6
finden lassen, die die Variabilität der Organısmen lehrten.
finden dann die folgenden Autoritäten.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
ich selbst gelesen habe.
I#
2.
3.
4.
. Omalius d’Halloy
Qu
Wilbrand 1830.
Matthew 1831.
E. Geoffroy St. Hilaire
1831.
Aug. de St. Hilaire 1831.
1831,
1846.
. Nodier 1832.
. Leuckart 1832.
. de la Beche 1833.
. von Baer 1834, 1859.
Grant 1834.
. Poiteau 1834.
. Heer 1834, 1855, 1858.
. Schubert 1835, 1839, 1852.
. Ehrenberg 1835, 1838.
. Rossmässler 1835,
1847,
1856.
. Rafinesque 1836.
. Schopenhauer 1836, 1850,
. Reichenbach 1837.
. Herbert 1837.
. Oken 1837.
Dutreichet 1837.
. von Berg 1837, 1843.
. Bucher de Pertes 1838.
. Burdach 1838, 1840.
. Spring 1838, 1853.
liıttre 1838
.v. Martius 1839.
. Wimmer 1839.
. Meunier 1839.
. Carpenter 1839, 1841.
. Wetter 1839.
00121839.
. Kehlau 1840,
. Hauff 1840.
. Illgen 1840.
. Perty 1841, 1846.
. Moritzi 1842.
. Landbeck 1842.
. Balsac 1842, 1848.
40.
41.
. Hooker 1844, 1853, 1859.
. Lindley 1844.
. Chambers 1844, 1853 etc.
. Pietet 1844,°1853.
. Vogt 1845, 1847.
. Wimmer 1846.
. Fraas 1847.
. Gerard 1847.
. Cotta 1848.
. Cockburn 1849.
. Martin 1849.
. Schleiden 1850, 1852.
. Braun 1851, 1859.
. Reichenbach 1851.
. Freke 1851.
. Kützing 1851, 1856.
>Bronns18hr
. Donders 1851.
. Naudın 1852, 1858.
. Quenstedt 1852.
. Unger 1852.
. Eschricht 1852.
. Spencer 1852.
. Schaaffhausen 1853.
. Brehm 1853.
. Baumgärtner 1853. 1855.
. Carus 1853.
. Keyserling 1853.
. Mac Gregor 1853.
. Nägelıi 1853, 1859.
. Lecocq 1854.
. Schultz - Schultzenstein
Wır
Ich gebe nur solche, die
Haldeman 1843.
Regel 1843.
1854.
. Baden Powell 1855.
. de ÖCandole 1855.
. Büchner 1855.
. Laugel 1856.
. Müller 1856.
. Burmeister 1856.
. Serres 1857.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 07
81. Jaeger 1857. 85. Maury 1859.
82. Virchow 1858. 86. Hudson Tuttle 1859.
83. Wallace 1858. 87. Hooker 1859.
84. Huxley 1859.
Diese 87 Namen von Zeitgenossen, die sich durch weiteres
Nachforschen wohl werden vermehren lassen, zeigen in unwider-
leglicher Weise, dass Darwın die Literatur nicht kannte und dem-
nach den Zeitgeist nicht beurteilen konnte. Dann war es allerdings
leicht, sich selbst zu suggerieren, dass er ein origineller Schöpfer
sel. Dieses Namenverzeichnis beweist weiter, dass Darwın sich
die nutzlose Aufgabe zuerteilte um offene Türen einzurennen, als
er schrieb: „Mag ich mich auch geirrt haben ... indem ich die
Tragweite der natürlichen Zuchtwahl überschätzte .... trotzdem
glaube ich wenigstens dadurch etwas Gutes gestiftet zu haben, dass
ich das Dogma von einzelnen Schöpfungen umgestoßen habe“).
Oder wir müssen annehmen, dass Darwın für die ganz speziellen
damaligen englischen Verhältnisse schrieb, die aber, wie die oben
gebrachten englischen und amerikanischen Namen beweisen, auch
nicht ganz seiner Beschreibung des Zeitgeistes entsprachen, was er
in seiner Einsamkeit auf Down wohl nicht erfahren hatte. Oder
Darwin wollte sich vielleicht mit seinem Buche an die Theologen
und das große Publikum wenden, die allerdings der Meinung waren,
dass jede Spezies einzeln geschaffen worden sei? Gegen letztere
Auffassung ıst aber einzuwenden, dass Darwin in den oben ge-
gebenen Zitaten selbst immer von den „naturalist“ spricht, also
von seinen Fachgenossen. Dann kannte er wohl nur einige der
damaligen, heute längst vergessenen englischen Dozenten, während
er die Literatur einfach nicht kannte. Um dies noch stärker hervor-
treten zu lassen und weil Darwin in seiner später gegebenen histo-
rischen Einleitung weit über die selbstdurchlebte Periode hinausgeht,
so empfiehlt es sich, dass wır uns auch nach den Vertretern der Varia-
bilität umsehen, die vor 1830 gelehrt haben. Dabei wollen wir die
älteren Autoren, solche z. B., die Variabilität annahmen, weil sonst
in der Arche Noah kein Raum für alle Tiere gewesen sei, außer
acht lassen und ebenso die mittelalterlichen, oft recht phantastischen
Anschauungen über Variabilität. Wir fangen darum erst mit dem
18. Jahrhundert an.
88. de Maillet 1715, 1748. 93. Buffon 1756, 1761.
89. Marchant 1719. 94. Duhamel du Monceau
90. Needham 1747, 1749. 1758:
91. Baumann (Maupertuis) 95. Wolff 1759.
1751. 96. Robinet 1761.
92. Diderot 1754, 1769. 97. Bonnet 1764, 1769.
9) Der englische Text folet unten auf S. 108.
XXXV. 7
98
98. Duchesne 1766. 129.
99. Maupertuis 1768. 130.
100. Holbach (Mirabaud) 131.
1710: 1323
101. Kawersnief 1775. 133.
105 Pallas 1777,.41780.31811.. 243%
103. Zimmermann 1778. 135.
104. Leske 1779. 136.
105. Soulavie 1780. lauf
106. Fabricius 1781, 1804. 138.
107. Ealecone&r 1782. 139.
108. Douglas 1785. 140.
109. Forster 1786. 141.
110: E. Darwin 1789, 1796. 142:
ON ar
112. Hunter 1794. 143.
113.0 0-b anası 1.796,17797: 144.
114. Deleuze 1800. 145.
115. de Lazepede 1800. 146.
116. Rodig 1801. 147.
117. de Lamarck 1801, 1809. 148.
118. Schelver 1802, 1812. 149.
119. Playfair 1802. 150.
120. Treviranus 1802.
1217 Bertrand 3803.
122. Gautierı 1806. 151
1232 V.0181.1808,.1817, 1823. 152.
124. Hagen 1808. 93}
125. Philites 1809. 154.
126. Bonellı 1809. 155.
127. Meiners 1811. 156.
128. Spix esilale 197
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
Fries 1814.
Feburier 1815.
Lawrence 1816.
Doornik 1816.
Lenhossek 1816.
Schweigger 1818, 1820.
Wells 1818.
Tauscher 1818.
Ballenstedt 1818.
Poiret 1819, 1820.
v. Schlottheim 1820.
Agardh 1820.
Link 1821.
Pander, d’Alton 1821 bıs
11825;
Meckel 1821.
Körte 1821, 1824.
Nöggerath 1822.
Herbert 1822, 1837.
Gaede 1823.
Hayn 1823.
Stahl 1824:
Bory St. Vincent (Dietion.
de l’histoire naturelle) 1824
bis 1830.
Defrance 1824.
v. Buch 1825.
Grant 1826.
Prichard 1826, 1834.
Lyell 1827, 1836.
Ritgen 1828.
Kaup 1829.
Zu diesen wären dann noch diejenigen zu fügen, welche nicht
eine Variabilität durch äußere oder innere Einflüsse, sondern eine
Entstehung neuer Spezies durch Kreuzung lehrten. Von diesen
will ich hier nur die folgenden nennen.
158. Linne 1743—1762. 163. Henschel 1820.
159. Gmelin 1749—1760. 164. Knight 1821, 1823.
160. Koelreuter 1761, 1764. 165. Sageret 1830.
161. Adanson 1763. 166... Eu vıSs91837.
162. Ackermann 1812.
Hier wären besonders noch manche Botaniker hinzuzufügen !°).
10) Ältere Arbeiten finden sich z. B. noch bei J. Dryander: Catalogus
bibliothecae historico-naturalis Josephi Banks. Londini 1797. T. III. Abteilung
Transmutatio specierum.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 99
Eine weitere kleine Reihe von Forschern, die Variabilität für eine
bestimmte Gruppe lehrten, werde ich weiter unten bringen.
Wir wissen nun, mit welchem Leichtsinn Darwin urteilte und
ebenso Haeckel!!) als er schrieb: „Um die Bedeutung dieses
doppelten Verdienstes richtig zu würdigen, muss man bedenken,
dass fast die gesamte Biologie vor Darwin den entgegengesetzten
Anschauungen huldigte und dass fast bei allen Zoologen und Bota-
nikern die absolute Selbständigkeit der organischen Spezies als
selbstverständliche Voraussetzung aller Form-Betrachtung galt. Das
falsche Dogma von der Beständigkeit und unabhängigen Erschaffung
der einzelnen Arten hatte eine so hohe Autorität und eine so allge-
meine Geltung gewonnen, und wurde außerdem durch den trügen-
den Augenschein bei oberflächlicher Betrachtung so sehr begünstigt,
dass wahrlich kein geringer Grad von Mut, Kraft und Verstand
dazu gehörte, sich reformatorisch dagegen zu erheben und das
künstlich darauf errichtete Lehrgebäude zu zertrümmern.“ Wir
wissen nun, wie wir über diesen Mut und das Zertrümmern zu
denken haben!?). Auf diese trockenen Namenverzeichnisse, be-
sonders auch weil ich diese einstweilen ohne den näheren Literatur-
nachweis bringe”), mögen nun noch einige Zitate folgen, welche
dasselbe beweisen wie die Namen.
Wir haben oben bereits Hauff als Zeugen angeführt, dass
man um 1840 auf dem Kontinent ziemlich allgemein an die Ver-
änderlichkeit der Spezies glaubte. Gleiches lehrt uns die 1842 zu
Erlangen erschienene Streitschrift!*) von G. F. Müller, welche diese
Konstanz heftig verteidigt und nicht erschienen sein würde, wenn
die Variabilität nicht viele Anhänger gehabt hätte. Deutlich sind
auch die Worte von K. E. von Baer. „Es wäre!) geradezu un-
möglich, alle Aussprüche von Naturforschern aufzuzählen, welche
sich gegen die Konstanz der einzelnen Arten erklärt haben.“ Auch
11) Schöpfungsgeschichte, 9. Aufl., S. 107.
12) Man vergleiche damit die Worte von Dewar (D. Dewar u. F. Finn.
The making of Species. London 1909, p. 6, 7): “We hear much of the “magnitude
of the prejudices” which Darwin had to overcome, and of the mighty battle which
Darwin and his lieutenant Huxley had to fight before the theory of the origin
of species by natural selection obtained acceptancee. We venture to say that
statements such as these are misleading. We think we may safely assert that
scarcely ever has a theory which fundamentaly changed the prevailing scientific
beliefs met with less opposition.”
13) Ein Artikel wie dieser würde durch einen ausführlichen Literaturnachweis
allzu große Dimensionen annehmen. Ich gedenke ihn später zu bringen, wenn die
Verhältnisse die Herausgabe eines Buches „Die Geschichte der Evolution“ ge-
statten.
14) G. Fr. Müller. Die Entstehung des Menschengeschlechts. Erlangen 1842.
15) K. E. v. Baer. Studien aus dem Gebiet der Naturwissenschaften. 1876,
P. 273.
7*
100 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ?
Ehrenberg’s Schrift von 1852'%) wäre hier zu nennen, in der
man auch (S. 1) diese Worte findet: „Die neueste Bewegung in
den organischen Naturwissenschaften stellt alle Formbeständigkeit
in Frage.“ Diese Bewegung hatte außer der Evolutionstheorie noch
verschiedene Wurzeln. Wir nennen hier:
Erstens aus den am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahr-
hunderts sehr beliebten Untersuchungen über die Generatio spon-
tanea und das Leben der niedrigsten Organismen. Diese hatten zu
der Überzeugung geführt, dass wenigstens die niedrigen Organismen
direkt ineinander übergehen können. Im 18. Jahrhundert ging diese
Auffassung von Needham aus, der deshalb durch Voltaire scharf
angegriffen wurde. Im 19. Jahrhundert war Agardh der Haupt-
repräsentant dieser Richtung, an den sich die meisten anderen
anschlossen. Die mir bekannt gewordenen Forscher, welche die
niederen Formen ineinander übergehen ließen, bringt das nach-
folgende Verzeichnis.
167. Needham 1747, 1749. 183. Eichwald 1821.
168. Richard 1780. 184. Ramdohrius '
169. Engramelle | nn 185. Vaucher Eichw ld
170. Muller ek, 186. Gruithuizen | la
| Richard
171. Le Bossu 187. Wiegmann 1822.
172. Ingerhous 1784. 188. Fries 1821, 1822, 1829.
173. Lichtenstein 1797. 189. Meyer 1825.
174. Treviranus 1802. 190. Turpin 1826.
175. Girod Chantran 1802. 191. Edwards 1826.
176. Sprengel 1804, 1812. 192. Meyen 1827.
177. Trentepohl 1807, 1823, 193. Borry St. Vincent: 1827.
1826. 194. Unger 1827, 1830, 1843.
198.4 Nitzschw181%. 195. Leuckart 1827.
179. Agardh 1814, 1820, 1823, 196. Hundeshagen 1829.
1826, 1828, 1829. 197. Himley 1838.
180. Schweigger 1820. 198. Carpenter 1839, 1841.
181. Nees v. Esenbeck 1820. 199. Kützing 1841.
182. Hornschuh 1821.
Da auch diese Autoren die Konstanz der Art wenigstens für
die niederen Organismen bekämpfen, so wäre unsere Zeugenreihe
auf fast 200 angewachsen, während Darwin in seiner historischen
Einleitung nur 2317) zu nennen wusste. Dabei habe ich erst einen
kleinen Teil der Literatur durchgesucht. Ich bezweifle, ob man
16) ©. G. Ehrenberg. Über die Formbeständigkeit und den Entwicklungs-
kreis der organischen Formen. Aus den Monatsberichten der Akademie, Berlin 1852.
17) Man findet 25 Namen, von denen ich glaube, dass Owen und Isid.
Geoffroy St. Hilaire besser fortgelassen werden. Diese, wie viele andere zweifel-
hafte Zeugen, wird man auch in meinen Verzeichnissen nicht finden. G. Seidlitz
brachte später auch nur 47 Namen (Darwin’sche Theorie, 2. Aufl., Leipzig 1875).
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie ? 101
solch eine stattliche Reihe gleich bedeutender Forscher wird zu-
sammenstellen können, welche die Konstanz der Art verteidigten,
wenn ich auch einige tüchtige Geologen zu nennen wüsste, welche
den Standpunkt Cuvier’s übertrieben auffassten.
Zweitens wurde obengenannte Bewegung sehr gestützt durch
Schwann’s Zellenlehre Ehrenberg (l. c. S. 30—31) bemerkt
dazu: „Jetzt wird häufig die Ansicht laut und öffentlich gebildet,
dass eine Zelle mit ihrem Zellkerne einem Ei gleiche und alle Eier
samt den ganzen Infusorien nur solche Zellen wären. Nichts ge-
rıngeres als die ım Erdinnern geologisch wahrnehmbare Aufeinander-
folge verschiedener Formenreihen, deren Erkenntnis noch so mangel-
haft und deren Darstellung oft so wenig physiologisch richtig ist,
glaubt man sogar damit zu erklären.“ „Freilich (l. ce. S. 10) löst
sich jetzt jede Pflanzenvorstellung in der Literatur der Botanik fast
allein in Zellen auf, die so wenig das Bild einer Pflanze geben
können als Mauersteine das eines Hauses, oder es zergeht die Vor-
stellung in ein Nebelbild proteischer Fortbildung und Verwandlung,
welche alle Formbegrenzung nach allen Seiten hin aufhebt, alle
Genera und Spezies vernichtet'?).
Drittens wirkte hier der 1842 von Steenstrup entdeckte
Generationswechsel kräftig mit, der den Übergang des einen Tieres
in ein anderes direkt zu zeigen schien.
Viertens zeigte auch hier die Naturphilosophische Lehre von
der Metamorphose ihren Einfluss (Ehrenberg, l. c. S 141), da sie
überall nach Urformen suchte. Sie ließ alle Seitengebilde der
Pflanze mit Goethe aus dem Blatt entstehen und alle Unterteile
des tierischen Körpers aus Wirbeln. Sie verflüssigte also auch die
Formen.
Fünftens stimmte für dıe Variationsfähigkeit der Organismen
die geologische Formenreihe. Dazu bemerkte Ehrenberg'’): „Zu
läugnen ist es nicht, dass die bisherige häufig ausgesprochene Vor-
stellung, als wären alle neuere Organismen samt dem Menschen
die Nachkommen und vervollkommnetenr Verwandlungsstufen von
Trilobiten und Farnkräutern etwas Widerstrebendes hat.“
Dieses alles hatte zur natürlichen Folge, dass man bei der
einfachen Variabilität nicht stehen blieb, welche nur für verwandte
Formen gemeinsame Abstammung annahm, sondern vollständige
Stammbäume für Tiere und Pflanzen entwarf, kurz zu einer Deszen-
denztheorie überging. Auch diese Bestrebungen, die den seinen so
nahe kamen, waren Darwin meist unbekannt geblieben, wie nicht
18) Darüber handeln besonders: M. J. Schleiden, Die Pflanze und ihr
Leben, Leipzig 1850; O. Schmidt, Goethes Verhältnis zu den organischen Natur-
wissenschaften. Berlin 1853, 8. 8.
19) ©. G. Ehrenberg. Über noch zahlreiche jetzt lebende Tierarten der
Kreidebildung. Berlin 1840, S. 83.
102 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
nur seine historische Einleitung, sondern auch die folgenden Worte
zeigen, die er schrieb: “With respect to books on this subject I
do not know of any systematical ones, except Lamarcks.” Ob
man nun der Deszendenztheorie ein Buch, oder ein Kapitel, oder
nur einige Seiten widmete, ist nebensächlich, wenn man nur eine
deutliche Vorstellung des Deszendenzgedankens gab. Das taten
aber die nachfolgenden Autoren ?°), die alle eine Abstammung aller
Wesen aus einigen oder wenigen Formen annahmen.
de Maillet 1748.
Needham 1749.
Baumann (Maupertuis) 1751.
Maupertuis 1768.
Delisle de Sales 1777.
E. Darwın 1789—1796.
Fabricius 1781—1804.
Rodig 1801.
Treviıranus 1802.
Bertrand 1803.
Gautierı 1806.
Hagen 1808.
Voigt 1808—1817.
de Lamarck 1809.
Bonelli 1809—1830.
Fodera
Marmocchi
Doornik 1816.
Tauscher 1818.
Bander d’Alton 18201825.
Meckel 1821.
Link 1821.
Nöggerath 1822.
Reichenbach 1828-1837.
Kaup 1829, 1835.
Nodıer 1832.
Littre 1838.
Illgen 1840.
Perty 1841, 1846.
| nach Gamerano
Moritzi 1842.
Chambers 1844, 1853.
Rossmässler 1844, 1847, 1856.
Gerard 1844, 1845, 1847.
Cotta 1848.
Braun 1851, 1359.
Donders 1851.
Freke 1851.
Spencer 1852.
Unger 1852.
Schleiden 1852.
Quenstedt 1852.
Naudin 1852, 1858.
Schaaffhausen 1853.
Baumgärtner 1853, 1855.
Naegelı 1853, 1859.
Schultz-Schultzenstein 1854.
Baden Powell 1855.
Büchner 1855.
Heer, 1855, 1858.
Laugel 1856.
Kützing 1856.
Jaeger 1857.
Huxley 1859.
Wallace 1859.
Hudson Tuttle 1959.
Weinland 1860—1861.
Carpenter 1862.
Das wären also fast 60 Namen von Deszendenztheoretikern!
Würde ich nun hier auch noch die Namen derjenigen herzählen,
die, wenn sie auch keine fleischliche Deszendenz annahmen, doch
eine gleichzeitige Schöpfung aller Formen verwarfen und für die
20) Es sind natürlich zum Teil dieselben, die oben bereits für die Variabilität
der Art genannt wurden,
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 103
Organismen eine ideell gedachte, sich über weite Zeiträume aus-
dehnende Evolution verteidigten, dann könnte ıch fast alle Namen
der bedeutenderen Zoologen, Botaniker und Geologen hier zusammen-
stellen, die seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gelebt haben.
Fast alle waren Evolutionisten, verwarfen das Sechstage-Werk und
nahmen ein sehr hohes Alter für die Erde und ihre Organismen an.
Vielleicht werden auch unter den Lesern dieser Zeilen noch einige
sein, die, trotzdem schon so oft darauf hingewiesen wurde, meinen,
dass Deszendenztheorie und Evolution dasselbe sei. Das ist aber
durchaus nicht der Fall. Es wurde diese irrige Auffassung aber eifrig
propagiert, denn ındem man Evolution und Deszendenz identifi-
zierte, konnte man sagen: „Es gebe nichts zwischen Deszendenz-
lehre und dem aus der Bibel hergeleiteten Schöpfungsbegriff.“
Dazwischen liegen aber viele vitalistische Evolutionstheorien. In
bezug auf die Verallgemeinerung dieses damals schon alten Evo-
lutionsgedankens ist aber noch besonders hervorzuheben, dass für
diesen Spencer?!) und Lyell?) mehr taten als Darwin.
Deszendenz ist einfach die materiell gedachte Evolution. Dass
die Evolution allgemein anerkannt und auf allen Universitäten ge-
lehrt wurde, bezeugen auch M. Müller und H. Lotze?). Was
Theologen und Laien dazu dachten, geht uns Naturforscher (Natura-
lists) wohl weiter nichts an. Wir haben mit der langen Reihe
Namen sattsam nachgewiesen, dass die Deszendenztheorie nicht
mehr aus den Gedanken der Forscher wich, seit sie durch de Maillet
einmal eingeführt und durch de Lamarck weiter ausgearbeitet
worden war. Das habe ıch übrigens schon in zwei Arbeiten aus-
führlich gezeigt ?*).
Burmeister schrieb denn auch 1856?) von der „Umwand-
21) A. Thomson. Progress of science in the century. London 1906, p. 426.
Biological problems of to day. Edinburgh review. Jan. 1909, p. 194. E. Clodd.
Pioneers of Evolution p. 174—183, London 1897. W. A. Locy. Biology and its
makers, p. 346, New York 1908. R. Mackintosh. From Comte to Kidd, p. 64,
London 1899. Ch. Hodge. What is Darwinisme, p. 11, London, Edinburgh 1874.
O. Zöckler. Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Naturwissen-
schaft, II, S. 806. Gütersloh 1877. R. H. Lock. Recent progress in the study
of variation 3e ed. London 1911. p. 23.
22) Judd, l. c. p. 73, 74, 81, 103, 150. Judd’s Urteil ist darum besonders
wertvoll, da er alle englischen Forscher dieser Periode persönlich gekannt hat.
Übrigens bestätigt Darwin Judd’s Auffassung in der ersten Auflage der Origin of
species S. 282.
23) M. Müller. Natürliche Religion. Leipzig 1891, p. 251. H. Lotze.
Mikrokosmus. Leipzig 1858, p. 58.
24) J. B. de Lamarck und der Einfluss seiner Deszendenztheorie von 1809
bis 1859. Zeitschr. f. Morphologie u. Anthropologie, Bd. XVIII, Stuttgart 1914.
B. de Maillet, J. de Lamarck und Ch. Darwin. Biolog. Centralblatt, S. 505,
Bd. XXXI, Leipzig 1912.
25) H, Burmeister. Zoonomische Briefe. Pd. I, 1856, Anm. S. 20.
104 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
lungstheorie der Spezies beim Übergange aus einer Schöpfung in
die andere, welche von vielen namhaften Forschern vertreten wird.“
Bei A. Gaudry lesen wir: „Lorsque M. Darwin dans son livre
sur l’origine des especes a pretendu qu’il y avait des transformations
ıl a repondu aux aspirations d’un grand nombre d’observateurs“ ?°),
Grant Allen?”), der seinen Landsmann Darwın durchaus zu
schätzen wusste, bezeugte “On every side (p. 17) evolutionism, in
its crude form was already in the air. Long before Ch. Darwin
himself published his conclusive ‘origin of species’ every thinking
mind in the world of science elder and younger was deeply engaged
upon the self-same problem °®)’” Darum konnten Darwin’s Ge-
danken so schnell Eingang finden (l. c. S. 19). Weiter setzt Allen
auseinander (l. c. S. 192), dass, wenn Darwın’s Buch nicht er-
schienen wäre, wir doch alles das wissen würden, was wir heute
wissen, dass wir auch alle von Darwin verteidigten Ideen ohne
ıhn kennen gelernt haben würden, aber sie würden dann beschränkt
geblieben sein auf: “a small philosophical and influential band of
evolutionary workers.” Durch Darwin’s Auftreten verbreiteten
sie sich über die ganze Welt! Wir sind der Auffassung, dass letz-
teres wohl nicht durch Darwın selbst geschah, sondern durch ein zu-
fälliges Zusammentreffen mit anderen Strömungen (unten S. 109). Auf
S.23 schrieb Grant Allen “that the theory of ‘natural selection’ was
the only cardınal one in the evolutionary system on which Eras-
mus Darwin did not actually forestall his more famous and
greater namesake”?®). Das klingt ganz anders als Darwin’s eigener
Satz, den wir am Anfang dieser Arbeit brachten, ın dem auch das
Wort “forestall” benutzt wurde.
Asa Gray, Darwin’s Freund, wies ausdrücklich darauf hın,
dass viele wie Darwin, Hooker, de Oandolle, Agassız und
er selbst, jeder selbständig ın der gleichen evolutionistischen Rich-
tung nach einer Erklärung suchten ®%). Dazu rechnete er auch
Dana°!). Lyell sprach die gleiche Überzeugung aus nach seinem
Besuche bei OÖ. Heer??).
26) A. Gaudry. Animaux fossiles de l’attique. Paris 1862.
27) Grant Allen. Charles Darwin, English worthies edited by Andrew
Lang. .London 1885.
28) Hierzu auch E. Krause (Ü. Sterne). Charles Darwin und sein Ver-
hältnis zu Deutschland. Darwinistische Schriften. 2. Folge, Bd. 6, Leipzig 1885,
p: 9120292.
29) 1. c. p.23. Hiermit stimmt E Th. Clodd, Pioneers of evolution. London
1897, p. 104, überein, der Allen’s Buch “excellent little monograph” nennt.
30) Letters of Asa Gray, 1893. To Dana 13. Dec.. 1856, p. 424.
31) Letters of Asa Gray, 1893, 7. Nov. 1857.
32) Ch. Lyell. Life letters and journals, Vol. II, p. 246, London 1881.
Oswald Heer. Lebensbild eines Naturforschers von K. Schröter. Zürich 1885,
p- 349.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? I05
A. Newton°?) schrieb: “There was among naturalists during
the second quarter of the nineteenth century a feeling of dissatis-
faction with respect to current ideas concerning the origin of species,
accompanied in many cases with one of expectation that a solution
might soon be found.” Gleiches besagen Dewars?*) Worte: “As
we have seen the theory was enunciated at the psychological
moment, at the time when zoological science was ripe for ıt. Most
of the leading zoologist were evolutionist at heart and were only
too ready to accept any theory which afforded a plausible explana-
tion of what they believed to have occurred. Hence the rapturous
welcome accorded to the theory of natural selection by the more
progressive biologists.” Hier ıst Dewar nicht ganz genau. Freudig
begrüßt wurde die große Materialsammlung Darwin's, wodurch
die Lehre der Variabilität besser begründet und so die Deszendenz-
theorie gestützt wurde. Die Erklärung aber, welche er zu der Des-
zendenztheorie gab, also “natural selection” wurde als formbestim-
mender Faktor nicht allein von allen bedeutenden Forschern des
Kontinents verworfen®?), sondern auch von den meisten seiner
englischen Freunde mit Ausnahme Hooker’s°®®). Darauf will ich
jetzt nicht näher eingehen. Jauchzend begrüßt wurde aber gerade
die rein materiell gedachte “natural selection” von einer anderen
Gruppe, die wir weiter unten erwähnen werden.
In seinem Buche Darwiniana?”) schrieb Asa Gray (p. 238):
“A notable proportion of the more active minded naturalists had
already come to doubt the received doctrine of the entire fixity of
species and still more than that of their independent and super-
33) Macmillians magazine Febr. 1888, p. 241 nach Judd, |. c.
34) D. Dewar, F. Finn. The making of species. London 1909, p. 3.
35) Ich nenne einstweilen K. E. von Baer, Bronn, Köllicker, Nägeli,
Virchow. Vergl. Krause l. c.
36) Über die Differenzen zwischen Darwin und seinen Freunden Wallace,
Lyell und Asa Gray vergleiche: E. Krause. Ch. Darwin und sein Verhältnis
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 128, 133, 146. Asa Gray. Letters 1893,
18. Febr. 1862, 20. April 1863, 7. Juli 1863. Asa Gray. Natural science and
religion. New York 1880, p. 48, 72. J. Marcou. Life letters and works of
Agassiz, New York 1896, p. 117. Ch. Lyell. Principles of geology, 10 ed.
1868, II, p. 613. Life letters journal. London 1881, II, p. 363, 365, 366,
442. E. Th. Clodd. Pioneers of evolution, 1897, p. 133, 149. R. Wallace.
Contributions to the theory of natural selection, London 1870. Für Huxley
vergleiche: Life and letters of Huxley, 1900, I, S. 173 und Radl, l.c., II, S. 156.
Weiter: Une vietime du Darwinisme. Revue des deux mondes. 15. Dee. 1900.
E. B. Poulton. Essays on evolution. Oxford 1908, p. 201-202. Clodd. 1. ce,
p- 22, 90, 92. Für Herschel vergleiche W. May. Wissenschaftliche Rundschau,
Heft 18, 1911—1912. G.J. Romanes kehrte ganz in den Schooß der Kirche zu-
rück. Life and letters of Romanes, London 1896, am Schluss.
37) Darwiniana. Essays and reviews pertaining to Darwinism,. New York
1876.
06 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
} gs 8
natural origination.” Schleiden behauptete: „Die®*) hier gegebene
historische Übersicht wird wohl jedem klar machen, dass die Dar-
win’schen Lehren nur dem mit der Wissenschaft gänzlich unbe-
kannten als etwas Neues und Unerhörtes erscheinen konnten.“ Bei
A. de Candolle lesen wir: „I y a?) des notions tres importantes
qui se repandent spontanement et qui s’imposent pour ainsı dire
a une certaine epoque sans qu’on puisse les attribuer a tel ou tel
individu. C’est le cas de la transformation des etres organıses dans
la serie des temps, quı etait deja admire implieitement, de quelque
maniere, par la plupart des naturalistes, comme un fait incomprehen-
sıble, lorsque l’idee neuve de la selection offrant un moyen d’expli-
cation vient donner ä la theorie un appui tres important.“ Schon
im Jahre 1855 hatte De Candolle die Frage, ob neue Formen
aus den früheren entstehen oder geschaffen wurden, als die große
Frage der Naturgeschichte des 19. Jahrhunderts bezeichnet *°).
G. Jäger nannte sie „diese Jahrhunderte alte Streitfrage“ *'). Sehr
bezeichnend schrieb auch D. Wetterhahn. „Auch hieraus®?) ıst
ersichtlich, dass Darwin’s Buch keineswegs wie ein Blitz aus
heiterem Himmel in die im Immunitätsglauben ruhende wissen-
schaftliche Welt gekommen ist.“ Der beste Beweis hierfür ist wohl
der buchhändlerische Erfolg, der nicht nur Darwın's Werk, sondern
auch den älteren echt evolutionistischen Werken von Ch. Lyell
(Principles of geology) und von R. Chambers (Vestiges of Creation)
zufiel.
Der erste Band von Lyell erschien 1829 und wurde in 1500
Exemplaren aufgelegt, nach 3 Monaten waren bereits 650 Exem-
plare verkauft. Mit dem zweiten Bande erschien denn auch 1832
eine neue Auflage des ersten Bandes, und mit dem dritten Bande
eine zweite Auflage des zweiten Bandes. 1834 wurde das ganze
dreibändige Werk von neuem verlegt. In 10 Jahren erschienen
so sechs Auflagen und ım ganzen zwölf Auflagen). Die Vestiges
of Creation erlebten von 1844—1853 zehn Auflagen. Es war denn
auch wohl kein Zufall, dass Darwın ın dem Erscheinungsjahr der
Vestiges (1544) seinen ersten kurzen Entwurf vom Jahre 1842
38) Der Darwinismus und die mit ihm zusammenhängenden Lehren. Unsere
Zeit, 1869, p. 264.
39) Histoire des sciences et des savants. Gendve 1882, 2e ed., p. 481. Ähn-
lich in seinem Artikel „Darwin“. Arch. des sciences de la bibliotheque universelle,
T. VII, Mai 1882.
40) A. de Candolle. Geographie botanique raisonnee 1855. Einleitung.
41) Schriften zur Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse in Wien.
Bd. I, 1862, 8. 81-110.
42) D. Wetterhahn, Beiträge zur Geschichte der Entwicklungslehre in
Kosmos, Bd. 16, 1885, S. 410.
43) J. W. Judd. The coming of evolution. Cambridge 1910.
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 107
(35 Seiten) zu einem neuen Entwurf von 230 Seiten ausdehnte **).
Wir wissen ja, dass Darwin die Vestiges eifrig studiert hat®?).
Über den großen Einfluss, den dieses Buch auf Darwin ausübte,
handelte besonders Judd*). Allerdings verurteilten die englischen
Autoritäten das Buch Chambers ebenso wie Sedgwick, Whewell,
Buckland, Henslow, de la Beche das Buch Lyell’s verurteilt
hatten’). Es wirkt geradezu komisch, die abfällıgen Kritiken auf
erstgenanntes Buch zu lesen von Leuten, die sich später auf Dar-
win’s Seite stellten und gegen diesen dieselben Argumente hätten
benutzen können, die sie gegen Chambers angeführt hatten ®*).
Zum Schluss noch das Zeugnis eines Mannes, der die Literatur
wie wenige kennt:
Radl schreibt (l. c. S. 113): „Nicht bei allen lautet die Ant-
wort auf die Frage nach der Entwickelung ganz gleich, aber ihre
positiven Antworten sind da nebensächlich, das wichtigste ıst, dass
fast alle großen Biologen aus den 30er und 40er Jahren des 19. Jahr-
hunderts mit Interesse entwickelungsgeschichtliche Fragen ver-
folgten.“
Alle diese Autoren bezeugen also dasselbe, was ich mit meinem
Namenverzeichnis bewiesen habe. Nun lese man oben nochmals
Darwin’s selbstgefälliges Eigenlob und die Worte Mantegazza’s
oder auch die folgende Stilprobe aus Haeckel: „Ein einziges
kolossales Dogma*?) beherrscht die gesamte Wissenschaft nach Art
des drückendsten Absolutismus. Denn nur als ein kolossales Dogma,
welches ebenso durch hohes Alter geheiligt und durch blinden
Autoritätsglauben mächtig, wie ın seinen Prämissen haltlos und ın
seinen Konsequenzen sinnlos ist, müssen wir hier offen die gegen-
wärtige immer noch herrschende Ansicht bezeichnen, dass die
Spezies oder Art konstant und eine für sich selbständig erschaffene
Form der Organisation ist.“ „Nur durch Annahme ‚einer völligen
Verstumpfung der Organe des Anschauens‘ begreift man, wie dieses
in sich hohle und widerspruchsvolle Dogma 130 Jahre hindurch
fast unangefochten bestehen und wie dasselbe nicht allein dıe Masse
der gedankenlosen Naturbeobachter, sondern auch die besten und
denkendsten Köpfe der Wissenschaft beherrschen konnte.“ „Einem
44) Judd. 1.c. p. 121—122. Ch. Krause Darwin und sein Verhältnis
zu Deutschland. Leipzig 1885, S. 69—70.
45) Fr. Darwin. Life and letters of Ch. Darwin I, S. 302, Anm. New
York 1887.
46) 1. c. S.73, 74, 81, 103, 150.
47) Judd. 1 c. p. 70, 72.
48) Siehe Th. Huxley, Scientific memoirs. Supplementary volume p. 21.
Für Herschel vergleiche A. R. Wallace, The wonderful century p. 377—378.
London 1898, 1903.
49) Generelle Morphologie. Berlin 1866, Bd. I, S. 90.
108 Kohlbrugge. War Darwin ein originelles (Genie?
Götzen gleich steht allmächtig und allbeherrschend dieses paradoxe
Dogma da.“
So schrieb man Geschichte! Das hat man dem Volke
und einer Generation von jungen Gelehrten eingelöffelt! Warum?
Nun, weil der Darwinismus, wie C. Vogt?) bezeugte, „zu einer
Religion geworden war, auf die der Darwinist ebenso schwörte wie
ehemals die Gläubigen auf die Bibel und den Koran.“ Darum
musste natürlich auch alles richtig sein, was Darwin in selbstge-
fällıger Weise über sıch selbst und sein Werk geäußert hatte. Darum
musste Darwın zum unantastbaren Heiligen kanonisiert werden. —
Auch das Tatsachenmatersal, auf welches Darwın sich bei seinen
Spekulationen stützte und die wichtigsten sich daran anschließenden
Verallgemeinerungen waren schon vor Darwin gesammelt und be-
kannt, wenn er auch eine ganze Reihe höchst wichtiger Beobach-
tungen hinzufügte. Darauf will ich jetzt nicht eingehen, ich hoffe
später darauf zurückzukommen. Ich will hier einstweilen nur darauf
hinweisen, dass man das Material zu einem Buche wie die “Origin
of species” bereits bei Meckel°!), Bronn°?) und Carpenter”)
vorfinden konnte. Originell in Darwin’s Zusammenstellung war
nur°*) der Gedanke, dass der schon vielfach erörterte Kampf ums
Dasein nicht nur das ungeeignete ausmerze, sondern auch neue
Formen aus der unbegrenzt gedachten Variabilität hervorrufen
könne. In dieser “Natural selection” genannten Idee sah Darwin
aber selbst nicht das Hauptziel seiner Tätigkeit, denn er schrieb°°):
“Hence ıf I have erred ın giving to natural selection great power,
which I am far from admitting, or in having exaggerated its power,
which ıs in itself probable, I have at least, as I hope, done good
service in aidıng to overthrow the dogma of separate creations°®).
50) Des Darwinisten Zweifel. Frankfurter Zeitung, 1875. Radl. l.c., II, S. 170.
1) J. F. Meckel. System der vergleichenden Anatomie. 1821, Bd. I.
2)H. G. Bronn. Morphologische Studien über die Gestaltungsgesetze.
Leipzig 1858. Untersuchungen über die Entwickelungsgesetze der organischen Welt.
Stuttgart 1854. Nach R. Burckhardt (Geschichte der Zoologie, S. 114. Leipzig
1908) gehören sie zu den wichtigsten Vorarbeiten, auf denen Haeckel fußte.
53) W. B. Carpenter. Principles of general and comparative physiology,
1839, 1841, 1854.
54) Das versichert auch E. Häckel. Generelle Morphologie 1866, II, p. 165
und Natürliche Schöpfungsgeschichte, 9. Auflage, S. 107, 108. Weiter A.R. Wal-
lace. Darwinismus. Darstellung der Theorie der natürlichen Zuchtwahl. 1889, im
Vorwort. F. Rolle. Charles Darwin’s Lehre von der Entstehung der Arten.
Frankfurt 1867. C. Naegeli. Entstehung und Begriff der naturwissenschaftlichen
Art. München 1865, S. 16, Anmerk. Grant Allen in Fortnightly Review 1897,
vol. 61, p.254. W.A.Locy. Biology and its makers. New York 1908, p. 346—348.
M. Hoernes. Natur und Urgeschichte des Menschen. Wien 1909, S. 46.
55) The descent of man. London 1871, Vol. I, p. 153.
56) Vergl. Asa Gray an Darwin. July 21, 1863. ‘But as you say now,
you don’t so much insist on natural selection if you can only have derivation of
species.” Dasselbe Fr. Darwin: Charles Darwin. 1892, p. 246.
)
5
>
Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie? 109
Wir haben oben gesehen, dass dieses Dogma der Systematiker
unter den Naturforschern schon längst seinen Einfluss verloren
hatte. Um dieses zu bekämpfen, brauchte kein Darwin mehr zu
kommen. Niemand nahm es ihm übel, dass er nochmals dieses
längst verblichene Dogma angriff und dies weit kräftiger als seine
Vorgänger tat, wodurch die Variabilität der Art über allen Zweifel
erhoben wurde. Was man an ihm verurteilte, war, dass er viel zu
viel mit seiner ja an und für sich nicht abzuleugnenden “natural
selection” und so alles mechanisch erklären wollte. Übrigens ist
es ja richtig, dass er obengenanntes Dogma, das auch heute beı
Theologen und Laien noch wohl bekannt ist, bei vielen von diesen
umgestoßen hat, gleichzeitig mit dem Glauben an die gesetzgebende
Kraft des Buchstabens der Bibel für Erscheinungen der Natur.
Nicht aber durch eigene Kraft gelang ıhm letzteres, sondern durch
den deutschen philosophischen Materialismus. Dieser war von dem
agnostischen Positivismus von Comte’’) und von Feuerbach’s
Kritik der Religion ausgegangen und von Strauss, Büchner,
C. Vogt, Moleschott u. a.°*) . propagiert worden, denen sich
Huxley mit seinem Agnostizismus anschloss. Es ging diese Strö-
mung zum Teil aus dem Abscheu gegen den Idealismus der Natur-
philosophie hervor.
Diese Materialisten °’) fanden in den Lehren Darw in’s geeignetes
Material für ihre Naturbetrachtungen, zumal es nach ihrer Auffassung
diesem Engländer gelungen war, an die Stelle der übernatürlichen
Kraft eines Schöpfers oder der Zweckmäßigkeit das mechanisch
wirkende Selektionsprinzip oder dieblinde Notwendigkeit zu stellen °°).
Darwin’s Arbeit wurde dann aber besonders durch Haeckel aus-
genutzt zum Ausbau seiner monistischen Religion, zu deren Dogma®')
sie gehört‘). Zwar interessiert dieses Dogma, wie überhaupt jedes
57) R. Mackintosh. From Comte to Benjamin Kidd. London 1899.
58) Vergleiche: E. Daequ&. Der Deszendenzgedanke und seine Geschichte.
S. 111, München 1904. Manche von den damaligen Materialisten wollten übrigens
anfangs auch nichts von Darwin wissen. Vergl. Wetterhahn in Kosmos, 1855,
S.405—408 und E. Löwenthal. Herr Schleiden und der darwinistische Arten-
Entstehungs-Humbug. Berlin 1864.
59) L. Weiß. Der Streit über die Berechtigungen der Realschulen beleuchtet
durch die Untersuchung der Frage: Was ist Naturwissenschaft? Ruhrort 1869.
60) J. Moleschott in seinen Vorträgen (©. R. Darwin, Denkrede, Vor-
träge, Gießen 1883, S. 19) zeigte den Anschluss der Materialisten an Darwin.
61) Von einem Dogma spricht auch E. Dacque. Der Deszendenzgedanke
und seine Geschichte. München 1904, S. 118. ©. v. Nägeli. Mechanisch-physio-
logische Theorie der Abstammungslehre. München 1884. Einleitung, S. 6. „Die
Lehre wurde dogmatisiert, systematisiert, schematisiert.“ B. Erdmann. Über den
modernen Monismus. Deutsche Rundschau März 1914. 8.325 „Neues Evangelium“,
S. 327 „religiöse Grundstimmung“, S. 328 „religiös Gesinnten“.
62) Dass Darwin sich stets mehr an diese Partei anschließen musste, zeigte
Krause. Charles Darwin und sein Verhältnis zu Deutschland. Leipzig 1885,
410 Kohlbrugge, War Darwin ein originelles Genie?
Dogma, den Naturforscher als solchen nicht direkt, aber es hat die
Naturwissenschaft sehr unter dieser Strömung gelitten, da sie, wie
schon Sachs hervorhob‘°), dadurch zu einer rein deduktiven Wissen-
schaft wurde, also ganz wie ım Mittelalter, wenn auch in anderer
Weise.
Vielleicht wird die neue Zeit eine Losringung aus diesem
von England ausgegangenen Einfluss und eine Rückkehr zur induk-
tiven Methode bringen. Dann wird man auch Darwın’s Beiträge
zur Naturforschung, aber entkleidet von dem ihnen besonders von
seinen Freunden umgehängten halb philosophischen, halb religiösen
Mantel, richtiger einschätzen und verwerten können. Es war in
den vergangenen Jahrzehnten ja fast unmöglich geworden, Dar-
win’s Arbeiten an sich und rein sachlich zu betrachten und es
wurde schon öfter darauf hingewiesen, dass Darwin zu dem Stoß-
seufzer berechtigt gewesen wäre: „Gott beschütze mich vor meinen
Freunden, mit meinen Feinden will ich schon selbst fertig werden“ ®*).
Das Schicksal teilt er mit Goethe. Beide trifft aber auch dieselbe
Schuld. Denn ebensowenig wie Goethe sich kräftig gegen die
Auswüchse seiner Naturphilosophie widersetzte, tat dies Darwin
ın bezug auf seine deutschen oben aufgezählten Freunde und
seinen Trabanten Huxley, deren naturphilosophische Werke er
zitierte und rühmte.
Der französische Naturphilosoph Serres behauptete schon vor
Darwin: „L’universest expliqu& et nous le voyons, c’est
un petit nombre de principes generaux et feconds qui
nous en ont donn& la clef!*
So etwas könnte Haeckel auch geschrieben haben! Man nahm
eben alles vorweg, woran noch Jahrtausende arbeiten müssen. Das
hatte zur Folge, dass man die Tatsachen der Theorie zur Liebe
fälschte. Was der aus deutscher Schule hervorgegangene Uuvier,
ein Joh. Müller, Nägeli, v. Baer, Bronn u. a. geleistet haben,
wird stehen bleiben, und auf diese sollte die deutsche Wissenschaft
zurückgreifen. Von dem aber, was nach 1860 geschah, wird sehr
viel von neuem untersucht werden müssen, weıl man mit Sıeben-
meilenstiefeln gehen wollte und die Theorie mehr liebte als die
Tatsachen. Ich glaube, dass wir die Nachwirkungen dieser bösen
Periode am besten überwinden durch ein „ıgnoramus“ und nun
tüchtig weiter arbeiten, nicht um in amerikanischer Weise in Er-
staunen zu setzen, sondern um wirklich gutes Material zu liefern.
S. 166. Die darwinistischen Schriften Krause’s wie der Kosmos propagierten
diese Richtung.
63) J. Sachs. Geschichte der Botanik. München 1866, p. 184—185.
64) Difficulties of the theory of natural selection. The mouth 1869, S. 142.
Westminster review, Januar 1869.
Abderhalden, Abwehrfermente. 111
Dabei braucht man aber die großen Ziele und die vorhandenen
Theorien gar nicht aus den Augen zu verlieren. An ein hoffnungs-
loses „ıgnorabım us“ sollte niemand denken! Der ernste Forscher
soll heute in bezug auf Theorien hemmen und kritisieren und zu
weit gehende Schlüsse einschränken. Besonders in dieser Zeit der
Reklame! Ab und zu ist es ja auch wieder gut, wenn einer einmal
eine gewagte Hypothese ausspricht, wir können ja nicht ohne Ar-
beitshypothesen auskommen, aber man soll sie nicht dogmatisieren
und vor allem nicht wieder ın die Fehler der Schule verfallen, ın
der wir groß geworden sind, die das „L’univers est explique“ als
Wahlspruch hatte.
Emil Abderhalden: Abwehrfermente.
Das Auftreten blutfremder Substrate und Fermente im tierischen Organismus unter
experimentellen, physiologischen und pathologischen Bedingungen. 4. Aufi. Berlin
1914, Springer. 404 + XV S., 55 Textfiguren und 4 Tafeln.
Die erste Auflage dieses Buches ıst vor 2 Jahren erschienen
und unter ihrem damaligen Titel „Schutzfermente* an diesem Ort
von A. Fodor, einem Mitarbeiter des Verf., besprochen worden.
Die Grundgedanken A.'s, die ıhn zu seinen Untersuchungen führten
und die er durch diese bestätigt fand, sind dort klar wiedergegeben
worden (Biol. Centralbl., 33. Bd., S. 105).
Nach genau 2 Jahren ist die 4. Auflage erschienen, der Um-
fang des Buches ist mehr als verdoppelt, das Verzeichnis der nach
der 1. Auflage erschienenen Arbeiten, die das neu eröffnete Feld
beackern, umfasst allein 335 Nummern und ist nach des Verfassers
Angabe nicht einmal ganz vollständig. Es ist das wohl ein buch-
händlerischer und anregender Erfolg, wie er im Gebiet der reinen
Wissenschaft (die medizinischen Heilmittel beiseite gelassen) noch
nicht da war. Dieser äußere Erfolg beruht gewiss zu sehr großem
Teil darauf, dass die neuen Theorien und Methoden, wenn auch
keine therapeutische, so doch diagnostische Anwendbarkeit ın der
praktischen Medizin in Aussicht stellten.
Fragen wir nun, welche Fortschritte durch diese enısige Tätig-
keit erreicht sind, so finden wir die Theorien des Verfassers un-
verändert; auch die Namensänderung, die damit begründet wird,
dass die Bezeichnung als „Abwehrfermente“ nicht die Behauptung
enthalte, dass die neu, gegen blutfremde Stoffe gerichteten Fer-
mente jedesmal einen wirklichen Schutz darstellten, ist nicht wesent-
lich. Eine Fortbildung seiner Anschauungen nach den vielfachen,
großenteils klinischen Untersuchungen ist aber die Vorstellung, dass
ganz spezifische Fermente gegen, sonst noch gar nicht definierte,
Eiweißstoffe der einzelnen Organe und Zellformen auftreten; nach
den Tierexperimenten, auf die sich die 1. Auflage hauptsächlich
stützte, schienen die „Schutzfermente* gerade nicht so spezifisch
zu sein wie die Antikörper, die uns die Immunitätsforschung bis
dahın kennen gelehrt hatte, und bei denen sich wohl die Art-
419% Abderhalden, Abwehrfermente.
spezifität, aber nur ausnahmsweise Organspezifität nachweisen ließ.
Eine befriedigende Aufklärung für dies verschiedene Ergebnis der
ersten und der neueren Untersuchungen finden wir nicht und so
scheint uns, trotz der ungeheuren darauf verwendeten Mühe, das
ganze Forschungsgebiet noch ganz im Bereich der Hypothesen zu
liegen. A. betont selbst die Widersprüche zwischen den Ergeb-
nissen verschiedener Untersucher und die sehr zahlreichen Fehler-
quellen der Methoden und dass, infolge ungenügender Beherrschung
derselben oder ungenügender Veröffentlichung, „der allergrößte Teil
dieser Forschungen nicht vollwertig“ sei. Er glaubt aber diejenigen
als zuverlässig ansehen zu dürfen, die in Übereinstimmung mit den
Untersuchungen in seinem eigenen Institut, die Zuverlässigkeit der
Methode ergeben, insbesondere zur Diagnose der Schwangerschaft
durch den Nachweis von Ferment im zirkulierenden Blut, das Pla-
zentareiweiß abbaut. Andere von ıhm unabhängige Forscher, und
zwar auch solche, die einen wohlbegründeten-Ruf als gewissen-
hafte physiologische Chemiker besitzen, waren aber nicht imstande,
auf diesem als Prüfstein dienenden Gebiet, überhaupt nur verwert-
bare Ergebnisse zu erzielen. Dem Referenten erscheint daher die
Zuverlässigkeit der A.’schen Methoden und damit die Grundlage
seiner Lehre noch nicht sicher erwiesen. Auch die Ausführung,
dass er zu den gleichen Ergebnissen mit zwei, voneinander unab-
hängigen Methoden (der Dialysier-Ninhydrinprobe und der „optischen
Methode“) gelangt sei, erbringt diesen Beweis nicht. Denn einmal
gibt er selbst zu, dass diese beiden Verfahren gar nicht auf durch-
aus gleiche Fermente sich beziehen. (einmal wird die Überführung
durch Kochen koagulierten Eiweißes in dialysable Abbaustoffe nach-
gewiesen, das andere Mal eine Änderung des Drehungsvermögens
an wässerigen Lösungen alkohollöslicher Peptone, also schon stark
hydrolytisch abgebauter Eiweißstoffe), andererseits sind beide Ver-
fahren gleich heikel und sehr vielen Fehlerquellen ausgesetzt, drittens
ist die „optische Methode“ nur erst selten und fast gar nicht außer-
halb des Instituts des Verfassers angewendet worden. Erscheinen
so die Grundlagen der Lehre durchaus nicht ganz gesichert, so
fällt um so mehr auf, welche neue weittragende Folgerungen, frei-
lich immer in hypothetischer Form, der Verfasser auf ihr aufbaut.
Die zweite Hälfte des Buches ist ausschließlich der Beschrei-
bung des Untersuchungsverfahrens und seiner Fehlerquellen ge-
widmet. Hier sind auch, neben den zweı genannten, noch einige
Verfahren beschrieben, die in besonderen Fällen oder zur weiteren
Kritik der älteren gebraucht werden sollen, die aber, nach des Ver-
fassers eigener Meinung, noch nicht zur völligen Zuverlässigkeit
durchgebildet worden sind. Jedenfalls wırd jeder, der sich mit
diesem ebenso interessanten wie schwierigen Forschungsgebiet be-
fassen will, diese neueste Auflage des Buches zum Führer wählen
müssen. W.
Verlag von Be Thie me in Tas Anlonden 15. — DEE der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
DEI K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
r
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
Bd. XXXY. 20. März 1915. x 8.
Inhalt: Wasmann, Uber Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. — Nachtsheim, Entstehen
auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? — Polimanti, Physiologische Untersuchungen
über das pulsierende Gefäß von Bombyx mori L. — Fischer, Berichtigungen zu O. Proch-
now’s analytischer Methode bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen. —
Schneider, Die rechnenden Pferde — Sedgwick und Wilson, Einführung in die allge-
meine Biologie.
Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung'').
(Zugleich 208. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekophilen.)
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg, Holland).
Schon 1910 (Biol. Centralbl. XXX, Nr. 13, S. 457) habe ich
darauf aufmerksam gemacht, dass unter den fünf verschiedenen
Erklärungsversuchen für die bisher bekannten anormal gemischten
Kolonien aus Rassen der rufa-Gruppe (rufa-truncicola, pratensis-
truneiecola, rufa-pratensis) auch die Kreuzungshypothese berück-
sichtigt werden muss, um zu einem allseitigen Verständnis der sehr
mannigfaltigen tatsächlichen Befunde zu gelangen. Beispiele für
die übrigen Erklärungen durch primäre oder sekundäre Allome-
trose in ihren verschiedenen Formen der Allianz- und Adoptions-
kolonien etc. wurden dort bereits angeführt. Bei Besprechung der
Kreuzungshypothese wurde bemerkt, dass wegen der früheren Er-
1) Eine vollständigere Behandlung dieses Themas wird gegeben werden im
II. Bande des im Druck befindlichen Buches „Das Gesellschaftsleben der Ameisen.
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Ter-
miten. Gesammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen“. 2, Aufl.,
Münster i. W. 1915.
XXXV. 8
114 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
scheinungszeit der geflügelten Geschlechter von rufa und pratensis
gegenüber jenen von trumncicola die Kreuzungsmöglichkeit zwischen
den beiden ersteren Rassen eine weit größere ist als zwischen ihnen
und Zruncicola, und dass hieraus auch die größere Häufigkeit der
rufo-pratensis-Kolonien im Vergleich zu den rufo-truncicola- und
den truncicolo-pratensis-Kolonien ganz zwanglos sich erklären lasse.
Ich fügte ferner damals schon bei: „Da nach den Mendel’schen
Gesetzen der Rassenhybriden in der zweiten Hybridengeneration
eine Spaltung der elterlichen?) Merkmale eintritt, könnten die
aus Kreuzung von rufa und truncicola oder truncicola und pratensis
stammenden Kolonien sogar Arbeiterinnen beider Formen scharf
getrennt enthalten, ohne dass wir deshalb genötigt wären, auf
die Anwesenheit von Königinnen beider Rassen, also auf Allome-
trose, ın jener Kolonie zu schließen.“
1. Ein solches Beispiel bietet die in jener Arbeit von 1910
(S. 459) provisorisch in Klammern erwähnte pratensis-truneicola-
Kolonie bei Luxemburg, über welche die Beobachtungen und die
genauen Untersuchungen der Nestbewohner noch nicht abgeschlossen
waren. Ich glaubte sie damals für eine stark geschwächte pratensis-
Kolonie halten zu sollen, in welcher nachträglich auch eine Königin
der Bastardform truncicolo-pratensis Aufnahme gefunden hatte.
Diese Erklärung musste ich jedoch seither bei näherer Prüfung der
tatsächlichen Verhältnisse, die hier für die Mendel’sche Hypothese
ohne Zuhilfenahme einer Allometrose sprechen, wesentlich ändern,
wie sich aus dem folgenden Berichte ergibt.
Die gemischte Kolonie wurde am 12. April 1910 auf dem Süd-
abhang von Schötter-Marial bei Luxemburg-Stadt von mir und
meinem Kollegen H. Klene S. J. entdeckt und als truncicola-
Kolonie Nr. 19°) in mein stenographisches Tagebuch eingetragen.
Leider war sie Ende Juni (während meiner Abwesenheit in Lipp-
springe) vollständig ausgewandert und wurde nicht wiedergefunden.
Die Kämpfe mit einer benachbarten starken Polyergus-Kolonie
(Nr. 7%), mit rufibarbis und glebaria als Sklaven) hatten sie wahr-
scheinlich vertrieben.
Jene pratensis-truncicola-Kolonie hatte ihr Nest unter einem
großen Stein und war verhältnismäßig schwach; ein Haufenbau
über dem Steine war nicht vorhanden, woraus zu schließen ist,
dass die Kolonie noch relativ jung war. Die Gesamtzahl der Ar-
2) Richtiger muss es heißen der „großelterlichen Merkmale,“ da es ja um die
F?-Generation sich handelt, und die elterlichen Unterschiede in der F’!-Generation
manchmal gar nicht zur phänotypischen Erscheinung kommen.
3) Im III. Teil der ‚Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ (Arch.
trimestr. Inst. Grand-Ducal IV., fasc. 3 u. 4, 1909) schließt die Statistik der trun-
ceicola-Kolonien bei Luxemburg-Stadt mit Nr. 16 (S. 32).
4) Ebenfalls im III. Teil der „Ameisen v. L.“ noch nicht enthalten,
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 415
beiterinnen, die ich während meiner Besuche in diesem Neste
sah, betrug höchstens 250. Unter diesen waren etwa '/, reine
truncicola (von 5-8 mm), */, reine pratensis (von 4,5—8 mm); Über-
gänge zwischen beiden Rassen waren bloß spärlich und in schwachem
Grade vorhanden, indem nur einige wenige trumeicola (von 5—6 mm)
auf Kopf und Rücken einen Anflug von grauschwarzer pratensis-
Färbung zeigten’). Entflügelte Weibchen fand ich bei mehreren
aufeinander folgenden Untersuchungen des Nestes im ganzen 12.
Es waren sämtlich pratensis-Königinnen von verschiedener
Größe (8,5 —10 mm), aber mit weniger mattem Rücken und Hinter-
leıb als die Normalform, durch stärkeren Glanz (besonders des
Hinterleibes) und schwächere Pubescenz einen deutlichen r«fa-Ein-
schlag verratend aber nicht so stark glänzend wie rufa! —,
während die Färbung ganz den dunklen pratensis-Charakter hatte,
sowohl am Rumpf wie an den Extremitäten; nur ein Individuum
mit ein wenig helleren, teilweise braunroten Beinen war darunter ®).
Meine anfängliche Annahme, dass auch eine echte, hellgefärbte
truncicola-Königin im Neste sich befinde, musste ich bei wieder-
holter sorgfältiger Untersuchung des Nestes als irrtümlich aufgeben.
Auch eine als solche phänotypisch erkennbare Bastardkönigin trun-
cicolo-pratensis war nicht zu finden.
Wie ist die sonderbare Mischung dieser Kolonie und der schein-
bare Widerspruch zwischen dem phänotypischen Charakter der
Weibchen und der Arbeiterinnen in derselben zu erklären? Meines
Erachtens haben wir hier einen interessanten Fall Mendel’scher
Kreuzung vor uns, der folgendermaßen zu deuten ist:
Die zahlreichen entflügellen Weibchen im Neste gehörten
wahrscheinlich der ersten Tochtergeneration (F!), einer Kreu-
zung zwischen einem trumneicola-g und einem pratensis-9 an und
folgten daher dem „Uniformitätsgesetz“, indem sie sämtlich phäno-
typisch untereinander gleich waren. Zugleich zeigten sie „totale
Dominanz“ der dunklen pratensis-Färbung über die „völlig rezessive*
helle truncicola-Färbung (Dominanz von Schwarz über Rot), ver-
bunden mit einem scheinbar neuen, in Wirklichkeit aber atavistischen
Einschlag”) von rufa-Skulptur. Ein Teil der im April 1910 vor-
5) Individuen mit angedunkeltem Rücken findet man übrigens unter den mitt-
leren und kleineren Arbeiterinnen auch in reinen, ungemischten Kolonien von trun-
cicola.
6) 6 Königinnen und mehrere Dutzend Arbeiterinnen aus dieser Kolonie be-
finden sich in meiner Sammlung. Der Färbungsgegensatz zwischen den hellroten
Arbeiterinnen von truncicola und den fast schwarzen von pratensis ist sehr auf-
fallend.
7) Solche atavistische Rückschläge sind in der ersten Filialgeneration von
Rassenkreuzungen im Pflanzen- wie im Tierreich bekanntlich oft beobachtet, z. B.
das Wiederauftreten der Wildfärbung bei Kreuzung von andersfarbigen Mäuserassen.
Siehe die Werke von Bateson, Baur, Goldschmidt, Haecker u.s.w. Diese
8*
116 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
gefundenen pratensis-Arbeiterinnen — vielleicht die Hälfte derselben
oder ?/,. der gesamten Arbeiterzahl — gehörte wahrscheinlich eben-
falls der F!-Generation an; auch bei ihnen dominierte daher die
dunkle pratensis-Färbung total über die helle truncicola-Färbung,
d.h. es waren keine truneicola unter ihnen. Ein eventueller Skulptur-
einschlag von rufa konnte bei den Arbeiterinnen®) ohnehin nicht
so deutlich sichtbar werden wie bei den Weibchen.
Aus der Paarung von in jenem Neste erzogenen Männchen
der F'-Generation mit Weibchen der nämlichen Generation?) ging
dann 1909 durch Inzucht die zweite Tochtergeneration (F?)
hervor, in welcher nach dem „Spaltungsgesetz“ die Komponenten
des großelterlichen Eigenschaftspaares in den verschiedenen Gruppen
der Enkel getrennt zutage treten. Nach dem Spaltungsgesetz
bei Monohybriden haben wir hier wegen der Dominanz von pra-
tensis über truncicola das phänotypische Verhältnis von 3:1 zu er-
warten, d.h. auf eine truncicola-Arbeiterın kamen drei pratensis-
Arbeiterinnen!®). Für die Richtigkeit dieser Erklärung spricht auch
der Umstand, dass unter den truneicola-Arbeiterinnen trotz ihrer
geringen Zahl sich relativ mehr große Individuen befanden als
unter den pratensis, wo die mittleren und kleinen weit überwogen;
die größten Arbeiterinnen sind aber als der jüngeren Generation
angehörig zu betrachten, da bei Formica die Größe der Arbeiterinnen
von der ersten Generation an zunimmt!!). Die Gesamtzahl der
Arbeiterinnen beider Generationen F! und F? musste daher aus */,
pratensis und !/, truncicola sich zusammensetzen, wie es die Be-
funde von 1910 zeigten. Leider konnte wegen des Verschwindens
der Kolonie dıe Entwickelung der Ende April zahlreich vorhandenen
Eierklumpen nicht verfolgt werden. Unter den frisch entwickelten
„Hybridatavismen“ sind nach Abel die einzigen bisher experimentell bestätigten
Entwickelungsrückschläge. Vgl. die Diskussion über das Thema .‚Atavismus“ in
den Verh. d. Zool. Bot. Gesellsch. Wien vom 26. Febr. und 12. März 1913 (Verh.
1914, Heft 1 u. 2).
8) Einige der betreffenden kleinen bis mittelgroßen (5—6,5 mm langen) pra-
tensis jener Kolonie zeigen allerdings eine schwächere, rufa-ähnlichere Behaarung
als die übrigen, namentlich als die größeren Exemplare aus demselben Neste (in
meiner Sammlung).
9) Wahrscheinlich waren nicht alle die zahlreichen entflügelten Weibchen von
1910 befruchtet, sondern nur eines oder zwei. Sonst hätte die Zahl der Arbeiterinnen
eine größere sein müssen; auch war der Hinterleib der meisten Arbeiterinnen nur
schmal, besonders der kleineren. — Die Fortpflanzung durch Inzucht (Paarung in
oder nahe bei dem Neste) kommt bei rufa und pratensts nicht selten vor.
10) Beide Rassen sind relativ (im Vergleich zu rufa) stark behaart. Bei
truncicola sind die abstehenden Haare gelb, bei pratensis grau.
11) Es kommt hierbei nicht so sehr auf das Alter der Königin an wie auf
jenes der Kolonie. Eine junge Königin erzeugt in einer bereits einigermaßen er-
starkten Kolonie schon in der ersten Generation größere Arbeiterinnen, weil die Er-
nährungsbedingungen der Larven günstigere sind.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 417
Ameisen hätten sich die Prozentverhältnisse von pratensis und
truncicola genau feststellen lassen.
2. Es ist dies wohl der erste Versuch, die Mendel’schen
Gesetze auch auf die Rassenkreuzung bei Ameisen anzuwenden.
Trotz der großen Schwierigkeiten, die hier der Beobachtung ent-
gegenstehen, dürften doch weitere Forschungen die Richtigkeit der
Mendel’schen Theorie auch auf diesem Gebiete bestätigen. Manche
der bisher für Allianzkolonien gehaltenen, aus Arbeiterinnen ver-
schiedener Rassen derselben Art gemischten Kolonien von Formica,
Dorymyrmex, Pogonomyrmex, Messor u. s. w. werden sich bei näherer
Prüfung günstiger erweisen für eine Erklärung durch die Kreuzungs-
hypothese. Auf einige in der Literatur verzeichnete Fälle möchte
ich hier noch kurz aufmerksam machen.
Forel!?) erwähnt eine volkreiche gemischte Kolonie von fruncicola
mit pratensis, die er am 30. April 1875 beı München fand. Die
Arbeiterinnen umfassten außer einer großen Zahl reiner truncicola
und reiner pratensis auch eine beträchtliche Menge (un bon nombre)
von Übergängen zwischen beiden. Nähere Prozentverhältnisse sind
leider nicht angegeben. Geflügelte Geschlechter waren um jene
Jahreszeit nıcht vorhanden, und das Nest wurde nicht näher auf
die Königinnen untersucht. Ich vermute, dass es sich hier um eine
Kolonie handelte, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreu-
zung zwischen pratensis-Z und trunecicola-9 angehörte und durch
Inzucht befruchtet war. Es wird dies durch die verschiedene
Mischung jener Kolonie im Vergleich zu der von mir oben er-
wähnten vom April 1910 nahe gelegt. Je nachdem in der P-Gene-
ration das Männchen fZruneicola und das Weibchen pratensis ist
oder umgekehrt, lässt sich wohl auch hier wie z. B. bei den Kreu-
zungen zwischen Goldhahn und Silberhenne (nach den Versuchen
von Hagedoorn®’)) ein verschiedenes Spaltungsresultat erwarten.
Für die Annahme einer Allometrose spricht die Mischung jener
Forel’schen Kolonie nicht, da es zu unwahrscheinlich ist, dass eine
reine truncicola-Königin mit einer reinen pratensis-Königin und mit
einer Königin der „Var. truncicolo-pratensis“ sich hier zusammen-
gefunden haben sollte. Es sei übrigens bemerkt, dass letztere
„Varietät“ wohl überhaupt nur als eine Hybridform aufgefasst
werden kann ebenso wie die „Var. rufo-truncicola* und die „Var.
cronicoloides For.“ der F. truncicola. Wahrscheinlich gilt dasselbe
auch für die sehr häufige „Var. rufo-pratensis“ von F. pratensis und
auch für manche der als eigene „Varietäten“ oder sogar „hassen“
aufgestellten zwischen F. fusca und rufibarbis stehenden Formen.
12) Etudes myrm&col. en 1875, p. 27 (59) (Bull. Soc. Vaud. Sc. Nat. XIV).
13) Zitiert bei Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre,
8. 150.
118 Wasmann. Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
Ein anderes Beispiel einer sehr wahrscheinlich Mendel’schen
Kreuzung bietet eine aus rufa und truneicola gemischte Kolonie,
die ich am 25. April 1889 bei dem Dorfe Panheel (bei Roermond,
Holl. Limburg) fand'#). Die ziemlich volkreiche Kolonie, deren
Haufenbau um einen alten Strunk angelegt war, bestand aus unge-
fähr !/, (25%) truneicola-Arbeiterinnen und ?°/, (759) rufa, mit ganz
allmählichen Übergängen zwischen beiden; letztere bildeten beiläufig
25% der Gesamtbevölkerung. Die größten Individuen waren aus-
schließlich reine tramnezcola; unter den mittleren waren einige ebenfalls
reine Zrumeicola, ferner zahlreiche Übergänge von der truncicola-
Färbung zur rufa-Färbung und endlich reine rufa; die kleinen Ar-
beiterinnen hatten ausschließlich nur r«fa-Färbung (Kopf oben ganz
braun, Vorder- und Mittelrücken teilweise). Aber auch letztere
zeigten (ebenso wie die übrigen rufa dieser Kolonie) in den zahl-
reichen, aber nur sehr kurzen, gelben Börstchen des Hinterleibs
einen Kleinen Einschlag von tr manner Behaarung (nach den Exem-
plaren in meiner Sammlung). Geflügelte Geschlechter waren in
dieser Jahreszeit nicht vorhanden'’). Eine Königin wurde wegen
des festen Strunkes nicht gefunden. Dass hier, wie ich bereits
1591 aussprach, ein Kreuzungsprodukt zwischen truncicola und
rufa vorlag, dürfte ziemlich sicher sein. Die Königin dieser Kolonie
gehörte wahrscheinlich der F!-Generation an, und die Spaltung er-
folgte in der von ıhr abstammenden F?-Generation im Verhältnis
von: 1 truneicola: 1 rufo-truneicola: 2 rufa, also nach dem Spal-
tungsgesetz der Monohybriden. Theoretisch müsste das Verhältnis
eigentlich lauten: 1 truncieola: 2 rufo-truncieola: 1 rufa. Aber bei
partieller Dominanz von rufa über truneicola wird unter den rufo-
truncicola der rufa-Charakter überwiegen, wodurch das obige phäno-
typische Verhältnis herauskommen würde.
Merkwürdig ist, dass diese Kolonie im September des näm-
lichen Jahres nur noch 5% Arbeiterinnen der reinen trumeicola-
Färbung aufwies gegen 25%, im Frühjahr. Die im September durch
Aussieben des Nesthaufens gefundenen Gäste waren die nämlichen
wie bei F! rufa: Dinarda Märkeli Ksw., Thiasophila angulata Er.,
Notothecta flavipes Grav., N. anceps Er., Oxypoda haemorrhoa
Sahlbg., Stenus aterrimus Er. und Formicoxenus nitidulus N.yl.
14) Die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der Ameisen,
1. Aufl, 1891, S. 173 (Die 2. Aufl. ist im I. Bande von ‚Das Gesellschaftsleben
der Ameisen‘ als Teil I mit derselben Paginierung enthalten, Münster i. W. 1915.)
15) In reinen rufa-Kolonien sind sie Ende April öfters schon zur Paarung
fertig. Am 29. April 1890 sah ich bei Exaten bereits mehrere geflügelte Männchen
und Weibchen und ziemlich viele entflügelte Weibchen von rufa auf Wegen umher-
laufen. 1893 fand bereits am 17. und 18. April ein Paarungsflug von rufa statt.
Die geflügelten Weibchen wurden jedoch nur auf Wegen laufend, nicht fliegend,
angetroffen.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 119
Eine ähnliche Zusammensetzung wie der Herbstbefund obiger
Kolonie zeigte auch eine rufo-truncicola-Kolonie, die ich bei Deren-
bach im Luxemburger Ösling am 23. Mai 1906 fand!‘). Das Nest
war in die Schieferplatten einer Mauer gebaut und über demselben
erhob sich ein Haufen von rufa-Bauart. Unter den ca. 5000 Ar-
beiterinnen waren etwa 5%, von reiner truncicola-Färbung, und
zwar ausschließlich große Individuen; unter den übrigen großen
Arbeiterinnen hatte ein Teil Übergänge zur rufa-Färbung; die
mittleren und kleinen waren ausschließlich rufa, aber auch hier
(wie ım vorigen Falle von 1889) zeigte sich durch die gelben
Börstehen namentlich der letzten Hinterleibssegmente ein leichter
Einschlag von truncicola-Behaarung. Die Königin konnte wegen
der festen Steinplatten der Mauer nicht gefunden werden. Ge-
flügelte Geschlechter waren im Haufen nicht zu sehen. An der
nämlichen Stelle hatte sich im August 1904 eine reine truncicola-
Kolonie befunden, die jetzt durch die rufo-truncicola-Kolonie ersetzt
war. Ich neigte deshalb 1910 (Biol. Centralbl. XXX, S. 458) zur
Annahme, dass in jener truncicola-Kolonie nachträglich eine Königin
von rufa oder von einer Bastardform rufo-truncicola aufgenommen
worden sei. Gegenwärtig scheint mir jedoch, dass die Mischung
jener Kolonie sich ohne Allometrose einfacher erklären lässt, durch
die Kreuzungshypothese allein. Wenn die ursprüngliche Königin
der Kolonie ein Bastardweibchen der F!-Generation aus einer Kreu-
zung zwischen rufa und truncicola war, dann trat wegen des Uni-
formitätsgesetzes (bei Dominanz von truncieola über rufa) ın der
von ihr direkt abstammenden Generation noch keine Spaltung ein,
sondern dieselbe hatte das Aussehen reiner truncicola (1904). Erst
beim Auftreten der F?-Generation (durch Paarung eines Weibchens
der F!-Generation mit einem Männchen derselben Kolonie) erfolgte
die Spaltung in truncicola, rufa und Übergangsformen. Allerdings
müssten wir dann wegen des starken Überwiegens der rufa 1906
für die F?-Generation einen „Dominanzwechsel“ annehmen.
Forel!’) erwähnt eine aus der schwarzen und der gelben
Varietät von Dorymyrmex pyramicus Rog. gemischte Kolonie aus
Faisons in Nord-Karolina, welche mehrere, einige Meter voneinander
entfernte Nester bewohnte, in denen die Arbeiterinnen sämtlich
aus schwarzen pyramicus und gelben pyramicus flavus bestanden,
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Färbungen. In einem
der Nester, das er aufgrub, fanden sich sowohl Männchen und
16) Siehe „Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg“ III, S. 20. Meine
Begleiter P. H. Schmitz und V. Ferrant unterstützten mich bei der Unter-
suchung des Nestes.
17) Exeursion myrmecologique dans L’Amerique du Nord (Ann. Soc. Ent. Belg.
1899), p. 422, und: Ebauche sur les moeurs des Fourmis de l’Amer. du Nord
(Rivista d. Sc, biol. II, n. 3, 1900), p. 5 Sep.
120 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
Weibchen von pyramicus als auch Männchen von pyramicus flavus.
Forel nahm daher hier eine Allianzkolonie an, entstanden
durch eine Verbindung von befruchteten Weibchen beider Varie-
täten. Es kann aber auch ebensogut eine Bastardkolonie ge-
wesen sein, deren Königin der F!-Generation aus einer Kreuzung
beider Varietäten angehörte und durch Inzucht befruchtet war; in der
von ihr abstammenden F?-Generation trat dann die Spaltung der
Färbungscharaktere in die schwarze und gelbe Varietät wieder ein.
Wheeler!‘) fand bei Aguas Calientes in Mexiko im Dezember
1900 einen großen Nestkegel der „Ackerbauameise“ Pogonomyrmex
barbatus Sm., dessen Bewohnerschaft aus der typischen barbatus-
Form mit schwarzem Kopf und Thorax und aus der ganz roten
Var. molifaciens Buck]. zu ungefähr gleichen Teilen gemischt war,
und zwar ohne Übergänge zwischen beiden Formen. Ein tieferes
Aufgraben des Nestes war wegen des harten Bodens nicht mög-
lich. Aber Wheeler glaubte, diese gemischte Kolonie in ähnlicher
Weise wie die obenerwähnte von pyramicus niger und flavus für
eine Allianzkolonie halten zu müssen, die aus der Verbindung
zweier oder mehrerer Königinnen der beiden Varietäten entstand.
Auch ich teilte früher diese Ansicht!°). Heute scheint mir jedoch,
dass der Befund Wheeler’s ebensogut oder noch besser erklärlich
ist, wenn wir annehmen, dass es um die F?-Generation einer
Bastardkolonie sich handelte, deren Königin der F'!-Gene-
ration aus einer Kreuzung zwischen beiden Varietäten angehört
hatte. Die Mischung der Kolonie zu „ungefähr gleichen Teilen“
aus Arbeiterinnen beider Färbungen stimmt allerdings nicht mit
dem einfachen Mendel’schen Spaltungsgesetz bei Monohybriden.
Es fehlt jedoch eine nähere Kontrolle der wirklichen Mischungs-
verhältnisse, und zudem gibt es auch Mendelfälle komplizierterer
Art (mit Faktorenabstoßung ete.), wo das phänotypische Zahlen-
resultat 1:1 ist?°).
Moggridge?!) berichtet, dass er beim Öffnen eines großen
Messor-Nestes bei Cannes in Südfrankreich die Kolonie zu ungefähr
gleichen Teilen zusammengesetzt fand aus Ameisen, “which in colour
and appearance might be said to represent the three forms structor,
barbara and the redheaded variety of the latter. There were also
a few ants with pale yellowish brown heads (Mentone and Cannes)”.
Diese Angabe klingt zwar stark mendelistisch, dürfte aber in ihrer
Deutung große Vorsicht erfordern. Die Arbeiterinnen mit blass
18) The compound and mixed nests of American Ants 1901, Part. II, p. 723
(American Naturalist XXXV, Nr. 417).
19) Neues über die zusammengesetzten Nester und gemischten Kolonien der
Ameisen. 1901-1902, S.22—23, Sep. (Allgem. Zeitschr. f. Entomol. Bd. VI-VIH).
20) Siehe z. B. Baur, a.a. ©. S. 150.
21) Harvesting ants and trap-door spiders. London 1873, p. 64.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. om
gelbbraunem Kopf, von denen ausdrücklich bemerkt wird, dass sie
nicht bloß in diesem Neste, sondern auch anderswo sich fanden
(Mentone und Cannes), scheiden offenbar aus als unausgefärbte
Individuen. Wenn die übrigen Arbeiterinnen jener Kolonie wirk-
lich aus den drei Formen: Messor structor, barbarus und der Varietät
des letzteren mit hell blutrotem Kopfe zusammengesetzt war, so
haben wir vielleicht die F?-Generation einer Mendel’schen Kreuzung
zwischen barbarus und structor vor uns; Näheres lässt sich darüber
nicht sagen.
[Ich fand im März und April 1912 bei Gardone und an anderen
Punkten der Umgebung des Gardasees zahlreiche Kolonien von
Messor barbarus structor??) Var. tyrrhenica Em., aber nur sehr
wenige von Messor barbarus barbarus Var. nigra Andre. Eine
der letzteren Kolonien (31./3.) zeigte eine leichte Beimengung von
Strukturelementen des structor. Die Bildung des Epinotums und
der Fühlerbasis sowie die tiefschwarze, glänzende Färbung entsprach
barbarus niger, aber bei den mittleren und großen Arbeiterinnen
war der Kopf trotz des Glanzes viel deutlicher und dichter gestreift
als bei der reinen barbarus-niger-Form derselben Gegend. Wenn
bei jener Kolonie auch vielleicht ein Kreuzungsprodukt zwischen bar-
barus und structor vorlag, so lässt es sich doch nicht in Zusammen-
hang mit den Mendel’schen Gesetzen bringen.]
3. Diese der Ameisenliteratur entnommenen Andeutungen über
Kolonien mit Mendel’scher Mischung werden hoffentlich dazu beı-
tragen, dass die Myrmekologen ihre Aufmerksamkeit nicht bloß auf
die aus verschiedenen Arten, sondern auch auf die aus verschie-
denen Rassen oder Varietäten zusammengesetzten Kolonien
richten und bei Erklärung der letzteren die Kreuzungshypothese
und das Verhältnis der Befunde zu den Mendel’schen Gesetzen
mehr berücksichtigen als bisher. Am günstigsten für diesen Zweck
sind jene Kolonien, die aus Rassen von extrem kontrastierender
Färbung wie Formica truneicola und pratensis gebildet sind, zumal
hier auch die Übergangsformen zwischen beiden Rassen von den rein-
rassigen Individuen sich leichter unterscheiden lassen. Die tatsäch-
lichen Mischungsverhältnisse der Arbeiterschaft des Nestes
müssen auf ihre prozentuale Zusammensetzung möglichst genau ge-
prüft werden, namentlich unter den frisch entwickelten Indi-
viduen. Dasselbe gilt auch für die geflügelten Geschlechter,
wenn solche vorhanden sind. Ferner muss sorgfältig untersucht
werden, welche Königinnen (bezw. welche alte, entflügelte Weib-
chen) vorhanden sind. Aus dem Vergleichen dieser drei Kompo-
22) In Emery’s Fassung als Rasse von barbarus ausgedrückt. Vgl. dessen:
Beiträge zur Monographie der Formieiden des paläarkt. Faunengebietes III. S. 437 ff.
(Deutsch. Ent. Zeitschr. 1908).
122 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
nenten untereinander können sich dann die Anhaltspunkte zur Be-
urteilung eines Mendel-Falls ergeben. Unter den Arbeiterinnen
können sich neben jenen der F?-Generation, wo die Spaltung der
großelterlichen Allelomorphen zutage tritt, auch noch solche der
uniformen F'-Generation finden. Unter den Königinnen können,
wenn mehrere Jahre nacheinander Inzucht im Neste stattgefunden
hat, solche der P-Generation (von welcher die Kreuzung ausging)
neben solchen der F!-Generation und der F?-Generation ete. neben-
einander vorfinden. Wenn man also in einem solchen Neste bei-
spielsweise eine reine pratensis-Königin, eine reine truncicola-Königin
und eine (F!-)Königin von pratensis-Färbung mit einem (atavistischen)
Einschlag von r«fa-Skulptur entdeckt, so darf man daraus noch
nicht ohne weiteres auf Allometrose schließen, da es sich ja um
Weibchen ein und derselben hybriden Generationsreihe
handeln kann. Dadurch wird selbstverständlich auch die Aufklärung
der Spaltungsverhältnisse in der tatsächlich vorliegenden Arbeiter-
schaft einer solchen Kolonie bedeutend erschwert. Weil die Spal-
tung der Charaktere erst in der F?-Generation beginnt, kann die
Beobachtung Mendel’scher Fälle ın freier Natur überhaupt nur
beı Kolonien einsetzen, deren Arbeiterschaft dieses Stadium erreicht
hat. Hierdurch wird abermals die Deutung der Genesis der be-
treffenden Kreuzungsresultate erheblich schwieriger, weil man die
Vorgeschichte der Kolonie nicht kennt.
Nur selten werden die Anhaltspunkte zur Entscheidung der
Frage, ob eine Mendel’sche Spaltung vorliegt oder nicht, so
günstig sein wiein der eingangs von mir beschriebenen Kolonie praten-
sis-Iruncicola von Luxemburg 1910. Da hier unter den zahlreichen tat-
sächlich vorgefundenen entflügelten Weibchen im Neste weder eine
truncieola-Königin, noch eine reine pratensis-Königin, noch eine
Zwischenform zwischen beiden, sondern lauter Weibchen von pratensis-
Färbung mit einem Einschlag von rufa-Skulptur waren, während
die Arbeiterschaft in einem Verhältnis von 4:1 aus scharf geschie-
denen pratensis und truncicola bestand, war es hier ausgeschlossen,
die Mischung der Kolonie durch Allometrose zu erklären, sei es
nun auf dem Wege der Allianz zwischen den ursprünglichen Königinnen
(primäre Allometrose) oder auf dem Wege der nachträglichen Adop-
tion einer trumcieola-Königin in dem pratensis-Neste (sekundäre Allo-
metrose). Es blieb also nur die Mendel’sche Erklärung übrig,
weil durch die phänotypische Verschiedenheit der entflügelten Weib-
chen von den Arbeiterinnen ein deutlicher Gegensatz zwischen einer
hybriden F'-Generation und F?-Generation im Mendel’schen Sinne
ausgedrückt war. Dabei bleiben allerdings die oben gegebenen
Details der Genesis dieses Falles noch hypothetisch?°), da weder
23) Die Königin der P-Generation war nach meiner Voraussetzung ein reines
pratensis-Weibchen, das von einem truncicola-Männchen befruchtet worden war.
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 123
die Vorgeschichte jener Kolonie vor April 1910 noch die weitere
Entwickelung derselben im Sommer aus den vorhandenen Eier-
klumpen beobachtet werden konnte.
Manche Vererbungsforscher werden es befremdlich finden, dass
ich nicht den Vorschlag mache, auf dem viel sichereren experi-
mentellen Wege die Mendel’schen Gesetze der Kreuzung zwischen
Ameisenrassen zu untersuchen. Prof. R. Goldschmidt-München
sprach mir auf der Versammlung deutscher Naturforscher in
Münster i. W. im September 1912 seine Wünsche in dieser Rich-
tung aus. Ich machte ihn auf die Schwierigkeiten aufmerksam,
die der praktischen Verwirklichung dieses Vorschlages entgegen-
stehen. Für Myrmekologen, die mit der Lebensweise und nament-
lich der Fortpflanzungsweise der Ameisen und ihrem diesbezüglichen
Verhalten in künstlichen Beobachtungsnestern vertraut sind, brauche
ich dies kaum zu bemerken. Einen eine ganze Reihe von Punkten
umfassenden Plan zu einer experimentellen Kreuzung zwischen
pratensis und truncicola habe ich zwar längst skizziert. Da sich
hierbei jedoch die praktische Wahrscheinlichkeit des Gelingens der-
selben als quasi Null herausstellte, sehe ich von einer Veröffent-
lichung desselben lieber ab.
4. Anhang. Über das relative Alter unserer rufa-
Rassen, mit Berücksichtigung ıhrer Gäste.
Um die Verschiedenheit der Resultate besser verständlich zu
machen, die bei Kreuzungen zwischen pratensis und truncicola einer-
seits und zwischen rıfa und truneicola andererseits sich ergeben,
sei darauf aufmerksam gemacht, dass rufa die älteste und weitver-
breitetste unserer drei europäischen rufa-Rassen ıst?*), und dass
wir pratensis und truneicola als nach verschiedenen Richtungen von
ihr biologisch divergierende jüngere Zweige aufzufassen haben, wie
das umstehende Schema andeutet.
Rufa ıst dem Leben im arktischen Wald durch ihren hohen
Haufenbau am besten angepasst; pratensis hat sich deın Leben am
offenen Waldrand und auf Wiesen durch ihren tieferen und
flacheren, der Austrocknung besser widerstehenden Haufenbau an-
gepasst; truncicola endlich, die als jüngste der drei Rassen anzu-
sehen ist, hat sich noch mehr vom Waldleben emanzipiert; ihr Nest
Wegen der großen Zahl der pratensis-Arbeiterinnen schrieb ich einen Teil derselben
der F'-Generation zu, welcher auch die tatsächlich vorgefundenen entflügelten
Weibchen angehörten. Die P-Königin fand ich dagegen nicht. Entweder war sie
schon gestorben oder sie ist mir unter den 12 pratensis-farbigen Weibchen ent-
gangen. Nur 6 derselben wurden zur Untersuchung mitgenommen, 6 im Neste
gelassen. Unter diesen kann auch ein Weibchen mit matterem Hinterleib ge-
wesen sein, das ich wegen der Geringfügigkeit des Skulpturunterschiedes übersah.
24) Siehe hierüber auch „‚Über den Ursprung des sozialen Parasitismus‘“ u. s, w.
(Biolog. Centralbl. 1909, Nr. 19—22, 2. Kapitel).
124 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
ist häufig unter Steinen und gleicht auch durch den kleineren, aus
feinerem Material bestehenden Haufen mehr demjenigen von san-
guinea als von rufa und pratensis. In ihrer Koloniegründung ist
sie vom fakultativen zum obligatorischen temporären sozialen Para-
sitismus übergegangen, indem ihre Weibchen regelmäßig durch
fremde Hilfsameisen (fusca) sich adoptieren lassen, während rufa
und pratensis meist Arbeiterinnen der eigenen Art und Rasse, bezw.
der eigenen Kolonie (Zweigkoloniebildung) hierzu benutzen.
rufa.
bi A x
N \
ee N
pratensis. \
N
truncicola.
Aus dem im obigen Schema angedeuteten Verhältnis, in welchem
truncicola zu rufa und pratensis steht, erklärt sich wahrscheinlich
der atavistische Einschlag von rufa-Skulptur ın der F!-Generation
bei einer Kreuzung zwischen truncicola und pratensis sowie die
Dominanz der pratensis-Färbung über die truncieola-Färbung in der
F!- und F?-Generation einer solchen Kolonie (s. o. S. 115ff.).
Von besonderem Interesse für die stammesgeschichtlichen Be-
ziehungen von F. truncicola zu rufa und pratensis sind ihre Gäste.
Diese liefern ein wertvolles biologisches Dokument für ihren phylo-
genetischen Zusammenhang mit jenen Rassen und für ihr relatives
Alter. Dieses Thema erfordert eigentlich auf Grund meines reichen
Sammlungsmaterials namentlich bezüglich der bisher am besten er-
forschten myrmekophilen Koleopteren eine eigene umfangreiche
Arbeit und kann hier nur kurz skizziert werden.
Rufa hat weitaus die meisten Gastarten, pratensis etwas weniger,
Iruncicola am allerwenigsten, und zwar haben die beiden letz-
teren nur solche gesetzmäßige Gäste, die entweder auch
bei rufa vorkommen oder von rufa-Gästen direkt abzu-
leiten sind”). So fehlen z. B. unter den gesetzmäßigen pratensis-
Gästen zwei der größeren myrmekophilen Staphyliniden, Dinarda
25) Die durch ihre dunklere Färbung von Thiasophila angulata Er. ab-
weichende Thias. pexca Motsch. kommt nicht bloß bei pratensis vor, sondern
auch bei rufa neben der ersteren (Valkenburg).
Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung. 195
Märkeli und Q@uedius brevis, obwohl sie ın den rufa-Nestern der-
selben Gegend häufig sind. Truncicola scheint ihre Gäste überhaupt
nur aus rufa- oder pratensis-Nestern der betreffenden Gegend zu
erhalten, die zu ihr übergehen, und sie hat je nach dem Alter ihrer
Niederlassung daselbst teils nur auffallend wenige Gäste (z. B. bei
Luxemburg), teils eine größere Anzahl (z. B. bei Lippspringe i. W.).
Bei rufa und pratensis dagegen ist die „Gastgarnitur“ ihrer Nester
in den verschiedensten Gegenden ihres Verbreitungsbezirkes eine
viel konstantere und gleichmäßigere.
Eine ausgesprochene Differenzierung zwischen den Gästen
von rufa, pratensis und truneicola findet sich nur bei den größten
ihrer Symphilen, nämlich bei den Staphyliniden der Gattung Ate-
meles?°). At. pubicollis Bris. hat als Larvenwirt F. rufa und ist
über das ganze Verbreitungsgebiet der Wirtsameise, wenngleich
sporadischer als die übrigen vufa-Gäste, verbreitet. Die Entstehung
dieser Anpassung ist daher als eine relativ alte anzusehen im Ver-
gleich zu den folgenden. At. pratensoides Wasm., der den pubi-
collis bei F. pratensis vertritt, ist zwar morphologisch als „eigene
Art“ von pubicollis abgegrenzt, kommt aber nur äußerst selten vor
trotz der großen Häufigkeit des Wirtes; er ist bisher überhaupt
nur in einem pratensis-Neste bei Luxemburg 1903 gefunden worden.
Er ist wahrscheinlich durch eine relativ rezente, lokal begrenzte
Anpassung von pubicollis an F. pratensis hervorgegangen. At. pubi-
collis subsp. truncicoloides Wasm., der den pubicollis bei truncicola
vertritt, ist nur als Rasse von ihm abgegrenzt und im Vergleich
zum Verbreitungsgebiet der Wirtsameise äußerst selten (Lipp-
springe 1. W. und Niederranna in Niederösterreich). Seine An-
passung an truncicola ıst auf einen relativ rezenten, lokal be-
grenzten Übergang von pubicollis zur Lebensweise bei truncicola
zurückzuführen ?”).
Unter den myrmekophilen Acarinen hat Ztruneicola von pra-
tensis an manchen Orten den Loelaps (Hypoaspis) laevis Mich. er-
halten, der bei pratensis allgemein häufig ist, bei rufa dagegen fehlt
und daselbst durch den panmyrmekophilen Zoelaps (Hypoaspis)
myrmecophilus Berl. ersetzt ist.
Besonders auffallend ist, dass sämtliche gesetzmäßigen trunci-
cola-Gäste aus rufa-(oder pratensis-)Nestern der betreffenden Gegend
stammen, kein einziger dagegen aus sanguinea-Nestern, wenngleich
letztere ebendort zahlreich sind. Dies ist um so auffallender, weil
26) Vgl. Die Anpassungscharaktere der Atemeles (Extr. d. I. Congr. Intern,
d’Entomologie Bruxelles, 1910, p. 265—272).
27) Vgl. auch: Beispiele rezenter Artenbildung bei Ameisengästen und Ter-
mitengästen (Festschr. Rosenthal, 1906, S.43—58 und Biolog. Centralbl. XXVI,
Nr. 17—18).
126 Wasmann, Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung.
der Nestbau von truncicola weit mehr jenem von sanguinea gleicht
als jenem von rufa oder pratensis! Da die myrmekophilen In-
sekten auf ihrer Wanderung von einem Neste zum andern durch
den Geruchssinn geleitet werden, ist jene Erscheinung wohl nur
daraus zu erklären, dass die umherstreifenden rufa-Gäste vom
truncicola-Geruch angezogen werden wegen der zwischen beiden
Wirtsrassen bestehenden nahen Verwandtschaft, während für die
sanguinea-Gäste der truncicola-Geruch indifferent bleibt.
Unter den sanguwinea-Gästen ıst nur Lomechusa strumosa an
einigen Orten von ihrer normalen Wirtsameise auch gelegentlich
zu F.rufa bezw. zu F\ pratensis übergegangen. Für ihr Vorkommen
bei F. truncicola liegen überhaupt keine zuverlässigen Funde vor,
obwohl der Nestbau dieser Ameise demjenigen ihres normalen
Wirtes am ähnlichsten ist. Die an F! sanguinea angepasste Dinarda
dentata Grav., die als die älteste unserer zweifarbigen Dinarda-
Rassen zu betrachten ist, wird bei rufa durch D. Märkeli ver-
treten®®); D. dentata ist nur in einzelnen Überläufern sehr selten
bei rufa gefunden worden trotz ihrer großen Häufigkeit bei san-
guinea. Hetaerius ferrugineus ist ein gemeinschaftlicher Gast sämt-
licher einheimischer Formica-Arten, mit besonderer Vorliebe für
F. fusca, und kommt bei sangwinea weit häufiger vor als bei rufa
und pratensis; bei truncicola habe ich ıhn überhaupt noch nie ge-
funden. Übrigens scheidet er wegen seiner Neigung zur Panmyrme-
kophilie ohnehin aus unserer obigen Betrachtung aus.
Diese Andeutungen dürften zur Genüge zeigen, dass uns die
Myrmekophilenkunde auch über die phylogenetischen Beziehungen
zwischen manchen Ameisenarten und Rassen wertvolle Aufschlüsse
zu geben vermag.
Zum Schluss noch eine berichtigende Bemerkung. Es ist mir
niemals eingefallen, unsere heutige Formica sanguinea von unserer
heutigen F. truneicola oder von irgendeiner heutigen Art oder
Rasse der rufa-Gruppe abzuleiten. Solche Anachronismen möge
man mir deshalb auch nicht zuschreiben. Was ich in meiner Ar-
beit von 1909 (Über den Ursprung des sozialen Parasitismus etc.)
zu zeigen suchte und wohl auch gezeigt habe, ist, dass wir in der
biologischen Phylogenese von F. sanguinea ein rufa-ähnliches
(bezw. ein truncicola-ähnliches) Stadium anzunehmen haben.
28) Die bei F. truneicola von mir gefundenen Dinarda sind kaum als eigene
Varietät von Märkeli zu trennen, indem die Oberseite des Hinterleibes (entsprechend
der stärkeren Behaarung von truneicola im Vergleich zu rufa) ein wenig dichter
und länger behaart ist als bei Märkeli und meist auch die ersten Hinterleibsringe
etwas heller (rötlich) gefärbt sind. Aber die Unterschiede sind sehr gering und
nicht einmal konstant, so dass sie schwerlich eine systematische Abtrennung der
bei truncicola lebenden Form von der bei rufa lebenden rechtfertigen.
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 197
Nachsehrift.
In vorliegender Arbeit wurde angenommen, daß die hier er-
wähnten gemischten Kolonien von truncicola mit pratensis und von
truncicola mit rufa dem Spaltungsgesetz der Mendel’schen Mono-
hybriden folgen. Es wurde dabei hauptsächlich auf die leicht
sichtbaren Färbungscharaktere Bezug genommen, auf die Skulptur-
und Behaarungsverhältnisse nur nebenbei, zumal die Details der
letzteren nur unter der Lupe wahrnehmbar sınd und daher keine
Prozentverhältnisse für dieselben bei der Beobachtung der Kolonien
in freier Natur sich aufstellen lassen. Eine mikroskopische Nachprüfung
der Skulptur und Behaarung der Arbeiterinnen ın den beiden Kolonien
truncicola-rufa (Derenbach 1906) und truncicola-pratensis (Luxem-
burg 1910) machte es mir jedoch sehr wahrscheinlich, dass die Be-
haarung und Skulptur unabhängig von der Färbung mendeln, ja
vielleicht sogar wieder unabhängig voneinander. Die Mischungs-
verhältnisse dieser Kolonien wären infolgedessen nach den Spal-
tungsgesetzen der Di- bezw. der Trihybriden zu beurteilen. Siehe
meine spätere Arbeit: Luxemburger Ameisenkolonien mit
Mendel’scher Mischung (Monatsberichte der Gesellsch. Luxem-
burger Naturfreunde 1915).
Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen?
Eine Kritik der Anschauungen OÖ. Dickel’s über die Ge-
schlechtsbestimmung bei den Hymenopteren, insbeson-
dere bei der Honigbiene.
Von Hans Nachtsheim, Freiburg i. Br.
Wieder einmal wird der Versuch gemacht, die Dzierzon’sche
Theorie zu stürzen. In den beiden letzten Nummern des vorigen
Jahrganges dieser Zeitschrift veröffentlicht Otto Dickel einen
längeren Aufsatz, betitelt „Zur Geschlechtsbestimmungsfrage bei
den Hymenopteren, insbesondere bei der Honigbiene“. Er meint,
dass seine Darlegungen „der Auffassung einer syngamen Geschlechts-
bestimmung bei der Biene, bei der sie ja als am gesichertsten gilt,
den Boden vollständig entziehen.“ Wenn ich auch nicht glaube,
dass ein wirklicher Kenner der Biologie der Hymenopteren und
speziell der Honigbiene sich infolge der Dickel’schen Ausführungen
veranlasst sehen wird, seine Ansichten über die Dzierzon’sche
Lehre einer Revision zu unterziehen, so wird, da Dickel kein
schlechter Anwalt seiner Sache ist, vielleicht doch manch einer,
der mit den Verhältnissen weniger vertraut ist, sagen: „Die Fort-
pflanzungsverhältnisse bei der Honigbiene — wie bei den Hyme-
nopteren überhaupt — scheinen doch trotz der zahlreichen Unter-
suchungen und trotz der jahrzehntelangen Diskussionen noch
428 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
keineswegs geklärt zu sein.“ Schon aus diesem Grunde dürfen die
Dickel’schen Behauptungen nicht unbeantwortet bleiben. Gibt es
wirklich, wie Dickel behauptet, Tatsachen, die beweisen, „dass
das Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern keine seltene
Ausnahme, sondern zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen
physiologischen Zuständen die Regel bildet?“ Wir wollen nicht
dem Grundsatze huldigen: die Tatsachen stimmen nicht zu der
Theorie — um so schlimmer für die Tatsachen! „Wir müssen
uns an das halten, was wissenschaftlich sicher festgestellt ist, mag
es der Theorie auch noch so unbequem sein“, schreibt Dickel.
Sehr richtig, schade nur, dass Dickel nicht recht weiß, was es
eigentlich heisst, etwas „wissenschaftlich sicher“ feststellen.
Dickel hat — dieses Resultat der folgenden Ausführungen sei
hier schon ım voraus mitgeteilt — auch nicht den geringsten wissen-
schaftlichen Beweis für die Richtigkeit seiner „Sekrettheorie“ er-
bracht, die Dzierzon’sche Lehre besteht auch weiter ebenso zu
Recht wie zuvor. „Dickel begeht immer wieder den gleichen
Denkfehler: die bloße Möglichkeit einer Deutung der Beobach-
tungen anderer Autoren im Sinne seiner Lehre einem unmittelbaren
Beweise selbst gleichzusetzen.“ Dieses von Bresslau (1908 b)!)
stammende Urteil über Ferdinand Dickel hat, wie wir sehen
werden, für Dickel jun. die gleiche Gültigkeit.
Die Dickel’sche „Sekrettheorie“.
Ehe wir dazu übergehen, die „Beweise“ Dickel’s einer kri-
tischen Betrachtung zu unterziehen, sei seine „Sekrettheorie“* kurz
skizziert. Die „verachtete epigame Geschlechtsbestimmungsweise“
will Diekel durch seine Darlegungen wieder „ın den Vordergrund
des Interesses rücken helfen“?). Es ist nach Dickel zwar richtig,
1) S. das Literaturverzeichnis am Schluss.
2) Dickel scheint sowohl die Theorie der syngamen wie auch die der pro-
gamen Geschlechtsbestimmung allgemein abtun zu wollen. „Die Lehre von der
progamen Geschlechtsbestimmungsweise“, schreibt er, „hat durch die Untersuchungen
Shearer’s (1911) einen starken Stoß erlitten... Bewahrheiten sich Shearer’s
Angaben, dann ist das jetzt schon sehr rissige Fundament jener Auffassung voll-
kommen zerstört.“ Hätten sich die Angaben Shearer’s über die Eibildung und
Befruchtung bei Dinophilus bestätigen lassen, so wäre das ein eigenartiger Fall
syngamer, nicht aber epigamer Geschlechtsbestimmung gewesen. Shearer hat
aber, wie ich bereits kurz dargelegt habe (1914 a), seine Befunde größtenteils falsch
gedeutet; in meiner im Laufe des Jahres erscheinenden Arbeit über die Geschlechts-
bestimmung bei Dinophilus — da ich bei Kriegsausbruch meine Experimente vor-
zeitig abbrechen musste, verzögert sich leider der Abschluss der Arbeit sehr —
werde ich den ausführlichen Beweis dafür erbringen. Bei Dinophilus ist das Ge-
schlecht bereits im unbefruchteten Ei unabänderlich festgelegt. Sicherlich aber
haben wir hier ebenso einen erst sekundär erworbenen Modus der Geschlechts-
bestimmung vor uns wie bei Bonellia, bei der nach den Untersuchungen Baltzer’s
(1914) die Larve geschlechtlich noch indifferent ist.
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 129
„dass aus unbefruchteten Eiern nur Männchen entstehen, richtig
ist auch, dass die zu gewissen Jahreszeiten in Drohnenzellen abge-
setzten Eier der normalen, begatteten Königin unbefruchtet sind.
Falsch aber ist die Behauptung, dass sich Drohnen ausschließlich
aus unbefruchteten Eiern entwickeln. Vielmehr ist es Regel, dass
zu gewissen Jahreszeiten und unter gewissen physiologischen Stock-
zuständen auch die Drohnen ihre Entstehung aus befruchteten Eiern
nehmen.“ Nicht die Befruchtung bestimmt das Geschlecht, sondern
die Geschlechtsbestimmung ist Sache der Arbeiterinnen. Jedes be-
fruchtete Ei ist sexuell noch indifferent, ja selbst die Arbeiter-
larven sind nach Dickel noch „intermediäre Formen“, aus denen
die Arbeiterinnen jede der drei Formen des Bienenstaates erziehen
können. Es ist die Qualität der Nahrung, die „den ausschlag-
gebenden Faktor bildet, deren Verschiedenheit durch Zufuhr ver-
schiedenartiger Sekrete bedingt ist“. Vergleichen wir die Sekret-
theorie OÖ. Dickel’s mit den phantasievollen Vorstellungen F. Dickel’s
über die Fortpflanzungsverhältnisse im Bienenstaat, so kommen wir
zwar zu dem Resultat, dass an der Theorie O. Dickel’s wenig
Neues ıst — es soll der „gute Kern“ der Theorie F. Dickel’s
sein — aber seine heutigen Anschauungen bedeuten doch immerhin
insofern einen Fortschritt, als er das Entstehen von Drohnen aus
unbefruchteten Eiern ın der ungestörten normalen Bienenkolonie
wenigstens für „gewisse Jahreszeiten“ zugibt.
Die „Möglichkeit“ der Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern.
In seinen einleitenden Bemerkungen schreibt Dickel, dass
„schon früher aus den Reihen überzeugter Anhänger dieser Lehre
Stimmen laut geworden sind, die die Möglichkeit einer gelegent-
lichen Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern zugeben“.
Diese Stimmen mehrten sich. Es haben in der Tat selbst die
eifrigsten Verfechter der Dzierzon’schen Lehre (s. z. B. v. Buttel-
Reepen, 1911) immer darauf hingewiesen, dass wohl gelegent-
lich auch einmal ein befruchtetes Ei eine Drohne liefern kann.
Auch die Autoren, welche das Geschlechtsbestimmungsproblem bei
den Hymenopteren auf Grund zytologischer Untersuchungen erörtert
haben (z. B. Schleip, 1912; Armbruster, 1913) heben allgemein
hervor, dass eine gelegentliche Entstehung von Hymenopteren-
männchen aus befruchteten Eiern sich theoretisch sehr wohl erklären
lässt, ebenso wie eine gelegentliche Entstehung von Weibchen aus
unbefruchteten Eiern bei den sozialen Hymenopteren. Ich habe
ausgeführt (1913), dass es ein Charakteristikum der Hymenopteren-
männchen ist, dass sie nur ein Uhromosomensortiment besitzen,
während die Weibchen der Hymenopteren zwei aufweisen, also die
diploide Chromosomenzahl. Nun ist es aber sehr wohl denkbar
— schon Schleip (1912) hat hierauf hingewiesen —, dass aus
XXXV. 9
130 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
irgendwelchen Gründen einmal die vom Spermakern stammenden
Chromosomen ihre normale Funktion nicht auszuüben vermögen.
Der sich entwickelnde Embryo besäße dann zwar beide Chromo-
somensortimente, aber nur ein „aktives“ Sortiment, das befruchtete
Ei würde ein Männchen liefern. Doch es wäre nicht einmal nötig
anzunehmen, dass alle Chromosomen des einen Sortimentes funk-
tionsunfähig sind, es müsste ein Defekt des Chromosoms bezw. der
Chromosomen, die Träger der Erbfaktoren für das Geschlecht sind,
. genügen, um die Entstehung eines Weibchens aus dem befruchteten
Ei unmöglich zu machen. Die Entstehung eines Weibchens aus
einem unbefruchteten Bienenei ließe sich mit der Annahme erklären,
dass ın dem betreffenden Eı die Reduktionsteilung unterblieben
ist. Das Weibchen entstände ähnlich, wie die aus unbefruchteten
Eiern sich entwickelnden Weibchen der Blatt- und Gallwespen.
Ich brauche wohl kaum noch besonders zu betonen, dass also nach
unserer Auffassung die Entstehung einer Drohne aus einem befruch-
teten bezw. einer Arbeiterin oder Königin aus einem unbefruchteten
Bienenei ein pathologischer Vorgang ist. Der eine wie der andere
Fall dürfte außerordentlich selten sein. Eine Beobachtung, die für
eine Entstehung einer weiblichen Biene aus einem unbefruchteten
Ei spräche, ist auch bisher noch nicht gemacht worden°®). Für die
gelegentliche Entstehung von Drohnen aus befruchteten Eiern lassen
sich ‚einige Beobachtungen anführen, aber beweisend sind diese Be-
obachtungen durchaus nicht, denn sie lassen — wir werden im
folgenden hierauf noch zurückkommen — auch sehr verschiedene
andere Deutungen zu.
Drohnen in Arbeiterinnenzellen.
Der erste „Beweis“ Dickel’s, dass Drohnen „recht häufig“
auch aus befruchteten Eiern entstehen, ist die unter verschiedenen
Verhältnissen zu beobachtende Tatsache, dass auch aus Arbeiterinnen-
zellen Drohnen hervorgehen können. Ich will zunächst schildern,
welche Erklärung der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre dieser
Tatsache gibt und dann damit die Dickel’sche Ansicht vergleichen.
Schon des öfteren ist beobachtet worden, dass junge, eben be-
gattete Königinnen anfangs die Arbeiterinnenzellen mit Drohnen-
eiern besetzen, um allmählich zu einer völlig normalen Eiablage
überzugehen. Ein vorübergehender Defekt an der Muskulatur des
Samenblasenganges kann die Ursache sein, dass die Spermapumpe
zunächst nicht funktioniert. Es ist auch möglich, dass sich hier
der Instinkt, die in Arbeiterinnenzellen abzusetzenden Eier zu be-
3) Es ist für die Art der Beweisführung Dickel’s charakteristisch, dass ihm
das Fehlen einer solchen Beobachtung genügt, um kategorisch zu erklären: „Es ist
ganz unmöglich (von mir gesperrt. N.), dass sich ein unbefruchtetes Bienenei
zu einer Arbeitsbiene oder Königin entwickelt.“
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 131
fruchten, gewissermaßen verspätet einstellt. So ziemlich in jedem
Bienenstocke aber kann man ab und zu einzelne Arbeiterinnenzellen
finden, die mit Drohnenlarven besetzt sind, oder auch umgekehrt
Drohnenzellen, die Arbeiterinnen enthalten. In diesen Fällen liegt
wohl kein Defekt an der Spermapumpe vor, sondern wir haben
hier eine der mannigfachen „Instinktsirrungen“ vor uns, wie wir
sie ım Bienenstaate nicht selten beobachten können. Instinkts-
irrungen dieser Art können bei verschiedenen Königinnen sehr ver-
schieden häufig vorkommen. Während die einen sich nur selten
„irren“, belegen andere ständig einzelne oder gar zahlreiche Zellen mit
der falschen Eisorte. v. Buttel-Reepen (1904a) erwähnt mehrere
solche Fälle. Ein Bienenzüchter berichtet nach v. Buttel-Reepen
sogar, dass eine junge Königin „ihrer Mutter in dieser Unart nach-
artete*. Natürlich kann es gelegentlich auch vorkommen, dass bei
der Ablage eines Eies in eine Arbeiterinnenzelle die Spermapumpe
in Funktion tritt, dass aber die Spermatozoen die Mikropyle des
Eies nicht erreichen oder gar nicht bis ın den Eileiter gelangen,
so dass das Eı „gegen den Willen“ der Königin unbefruchtet ab-
gelegt wird. Zumal bei älteren Königinnen, deren Samenvorrat zur
Neige geht, wird dieser Fall eintreten, und zwar allmählich immer
häufiger, die Drohnen überwiegen schließlich die Arbeiterinnen,
und zuletzt ist die Königin nur noch zur Erzeugung von Drohnen
fähig. v. Buttel-Reepen, der in seiner soeben erschienenen Bio-
logie (1915) einige der obigen Erscheinungen bespricht, bemerkt
dazu: „Vorstehende Tatsachen sind insbesondere sehr beachtens-
wert für solche, die ohne eingehende Kenntnis der Biologie der
Honigbiene über Geschlechtsbestimmungsfragen, Parthenogenesis
u.s. w. arbeiten wollen, da durch die Nichtbeachtung solcher Vor-
kommnisse zahlreiche Irrtümer entstehen können.“
Dickel kennt freilich diese Tatsachen sehr genau, ja er benutzt
gerade diese Tatsachen zum Teil als „Beweis“ für seine Theorie.
Was zunächst einmal die Beobachtung anbetrifft, dass frisch be-
gattete Königinnen bisweilen anfangs nur Drohnen erzeugen, ob-
wohl sie ıhre Eier in Arbeiterinnenzellen absetzen, so bezeichnet
Dickel die Erklärung, dass hier der Geschlechtsapparat einen vor-
übergehenden Defekt aufweist, als „weder anatomisch noch biologisch
haltbar“. Die Eier dieser Königinnen sind nach Dickel befruchtet,
aber in diesem Falle sind es nicht die Arbeiterinnen, die aus den
befruchteten Eiern Drohnen entstehen lassen, sondern die Ursache
liegt in den Eiern selbst. Dickel behauptet, dass „mit einer ge-
wissen Regelmäßigkeit der geschilderte abnorme Fall eintritt, wenn
die Königin durch ungünstige Witterungsverhältnisse am Begattungs-
flug längere Zeit verhindert worden war“. Die ersten Eier, welche
die betreffende Königin ablegt, sollen infolgedessen überreif ge-
worden sein, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen
9%
152 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln“. Die
Wege, die Dickel zur Entstehung von Drohnen führen lässt, sind
also recht mannigfach! Alle unbefruchteten Eier ergeben Drohnen,
ebenso alle befruchteten überreifen Eier, und aus jedem anderen
Bienenei vermögen die Arbeiterinnen vermittels ihrer Sekrete eine
Drohne zu erziehen. Wir werden weiter unten die Haltlosigkeit
der Dickel’schen Theorie der „Überreife“ in einem besonderen
Abschnitte dartun, hier sei nur hervorgehoben, dass die Angabe
Dickel’s, der geschilderte abnorme Fall trete unter den obigen
Verhältnissen „mit einer gewissen Regelmäßigkeit“ auf,
nichts weiter als eine kühne Behauptung ist, für die er auch nicht
die Spur eines Beweises zu erbringen vermöchte.
Dass die gelegentliche Entstehung einer Drohne in einer Ar-
beiterinnenzelle auf eine Instinktsirrung der Königin zurückzu-
führen ist, diese Erklärung glaubt Dickel ebenfalls ohne weiteres
ablehnen zu können. Es sei eine „recht sonderbare Interpretation“,
wenn Petrunkewitsch (1901) und ich (1913) sagten, die Bienen-
königin „irre“ sich bisweilen. Da ich nicht direkt von einer In-
stinktsirrung gesprochen, sondern mich damit begnügt habe, das
Wort „irren“ ın Anführungszeichen zu setzen, hat Dickel den Sınn
meiner Worte offenbar gar nicht verstanden. Er ist natürlich davon
überzeugt, dass diese Drohnen in Arbeiterinnenzellen aus befruch-
teten Eiern sich entwickelt haben und „beweist“ seine Ansicht
durch Mitteilung einer Reihe von Beobachtungen, die verschiedene
Bienenzüchter gemacht haben. Auch die übrigen „Beweise“ Dickel’s
für seine Theorie gründen sich fast ausschließlich auf Beobachtungen
von Imkern. Man kann speziell ın dem vorliegenden Falle gegen
ein solches Verfahren nicht scharf genug protestieren! Niemand
wird dıe großen Verdienste verkennen, die sich Männer wie Dzier-
zon, v. Berlepsch um die Erweiterung unserer Kenntnisse des
Bienenlebens erworben haben. Aber wie bereits zu Dzierzon’s
Zeiten von kritiklosen Dilettanten -—- meist Gegnern Dzierzon’s —
„die unrichtigsten, abenteuerlichsten und abgeschmacktesten Be-
hauptungen über die Verteilung der Geschlechtsfunktionen, über
Begattung, Befruchtung, Eierlegen der Bienen u. s. w. in vollem
Ernste als ausgemachte Wahrheiten hingestellt wurden“ (v. Sıe-
bold, 1856), so sind auch heute manche Imker einem wahren
„Spekulationswahnsinn“ verfallen, um einen Ausdruck Zander’s
(1911) zu gebrauchen. Das Verfahren Dicke!’s ist um so mehr
zu beanstanden, als die von ihm angeführten Beobachtungen die
gleichen sind, die sein Vater ın seinen zahllosen Artikeln als „Be-
weise“ für seine Theorie gebracht hat. Seit dem Jahre 1900 ist aber
immer und immer wieder darauf aufmerksam gemacht worden, dass
diese „Beweise“ keine Beweise sind, dass in den Experimenten die
oft sehr zahlreichen Fehlerquellen gar nicht oder nicht genügend
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ? 133
berücksichtigt worden sind. Und jetzt, nachdem der Kampf 15 Jahre
gedauert hat, wagt es O. Dickel, anstatt auch nur ein einziges
eigenes Experiment mit genauem Protokoll vorzulegen, zu be-
haupten, dass „Fehlerquellen in diesen Versuchen unmöglich nach-
gewiesen werden können“! Es dürfte ein fruchtloses Bemühen
sein, Dickel sen. und jun. davon zu überzeugen, dass die von
ihnen angeführten Experimente und Beobachtungen keinen wissen-
schaftlichen Wert haben, um aber die Art und Weise ©. Dickel’s,
etwas zu „beweisen“, noch weiter zu charakterisieren, möge auf
einige von diesen Experimenten noch näher eingegangen werden.
Der Lehrer der Bienenzucht Meyer, Gadernheim, berichtet
Dickel, „besaß ein starkes Volk mit prächtiger Königin. Aus
rationellen Gründen unterdrückte er, gegen seine sonstige Gewohn-
heit, jede Drohnenzellenanlage. Bis Mitte April gelang ıhm das,
Alle Waben zeigten lückenlosen Arbeiterbau mit entsprechender
Brut. ‚Bei genauer Besichtigung zeigten sich in verschiedenen
Ecken doch wieder Drohnenzellen, die schleunigst entfernt wurden.‘
Schon nach einiger Zeit trat mitten in der Arbeiterbrut vereinzelte
Drohnenbrut auf, die in den folgenden Tagen in so beunruhigen-
dem Maße zunahm, dass er beschloss, die Königin zu töten. Mit-
leid mit dem prächtigen Tier ließ ihn aber von seinem Vorhaben
absehen. Er hing vielmehr dem Volke zwei Drohnenwaben ein ‚in
der Erwägung, dass einem richtigen Volk im Sommer auch Drohnen-
brut gehört.‘ Als er nach einiger Zeit das Volk wieder revidierte,
waren beide Drohnenwaben mit regelrechter Drohnenbrut besetzt,
während alle Arbeiterwaben wieder das ursprüngliche Bild, nämlich
tadellos geschlossene Arbeiterbrut zeigten.“
Wer mit der Biologie der Bienen vertraut ist, wird das Ver-
halten der Königin nicht merkwürdig finden. Es ist ein schon des
öfteren wiederholtes Experiment, ein Volk im Herbste auf lauter
Drohnenbau zu setzen. Die Königin legt dann nach einigem Zögern
in die Drohnenzellen befruchtete Eier ab, es entstehen in den
Drohnenzellen Arbeiterinnen. Der Trieb, Drohnen zu erzeugen, ist
um diese Jahreszeit normalerweise nicht mehr vorhanden, es „ver-
sagen“, um mit R. Hertwig (1904) zu sprechen, „in einer solchen
Zwangslage die normalen Reflexe oder Instinkte“. Der Versuch
des Bienenzüchters Meyer stellt das entgegengesetzte Experiment
dar. In einem starken Volke wird mit beginnendem Frühling, wenn
die Tracht- und Witterungsverhältnisse günstig sind, der Trieb,
Drohnen zu erzeugen, immer mächtiger. Nicht nur bauen die Ar-
beiterinnen, wo es nur eben möglich ist, Drohnenzellen, falls keine
Drohnenwaben vorhanden sind, sondern die Königin sucht auch im
ganzen Stocke nach solchen, um ihren Trieb, „Drohneneier“ abzu-
legen, zu befriedigen (s. Nachtsheim, 1914b). Entfernt man die
Drohnenzellen immer wieder, so bringt man auch hier die Königin
134 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen’?
in eine Zwangslage, sie setzt „Drohneneier“ in die Arbeiterinnen-
zellen ab.
Und Dickel’s Erklärung? Da die Bienen „in Arbeiterzellen
zur Entwickelung kamen, also (von mir gesperrt. N.) sicher be-
fruchtet waren“, ıst das Entstehen von Drohnen der Fähigkeit der
Arbeitsbienen, „aus Arbeiterlarven Drohnen zu erziehen“, zu ver-
danken. Noch einige ähnliche Fälle, wo „ausdrücklich (von mir
gesperrt. N.) betont wird, dass die entstandenen Drohnen nur be-
fruchteten Eiern entstammen konnten“, führt Dickel an und schließt
dann diesen Abschnitt mit folgender Behauptung: „Haben wir so-
mit eine Reihe von Tatsachen kennen gelernt, die beweisen, dass
Drohnen nicht unbedingt aus unbefruchteten Eiern entstehen müssen,
vielmehr recht häufig auch aus befruchteten Eiern hervorgehen, so
dürfen wir wohl ohne Gefahr eines Fehlschlusses die eingangs er-
wähnte biologische Erscheinung dahin deuten, dass sich die Königin
bei ıhrer Eiablage nicht ‚geirrt‘ hat, dass vielmehr auch in diesen
Fällen, die bald seltener, bald recht häufig vorkommen, aus be-
fruchteten Eiern Drohnen hervorgegangen sind... Nicht bei der
Königin, sondern bei den Arbeitsbienen ist der ‚Irrtum‘ zu suchen.“
„Mit solchen Bemerkungen wie diese letzten gibt man aber nıchts
Wissenschaftliches, wie Dr. Dickel jetzt auch wohl empfinden
wird. Die Wissenschaft fordert einwandfreie Tatsachen und
es wäre besser, nur auf solchem Boden zu arbeiten. Hoffentlich
geschieht solches in Zukunft!“ Diesen Vorwurf, den v. Buttel-
Reepen OÖ. Dickel bereits vor 11 Jahren (1904b) machen musste,
hat dieser leider ganz unbeachtet gelassen, sonst wäre mir diese
Kritik erspart geblieben.
Können die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen erziehen ?
Eine zweite Gruppe von Beobachtungen soll beweisen, dass
die Arbeiterinnen aus Arbeiterinnenlarven Drohnen zu erziehen ver-
mögen. Abgesehen von einem stammen auch diese Experimente
alle von Imkern, das eine aber rührt von Bresslau (1908b) her,
der eine Zeitlang für Diekel sen. eingetreten ist, schließlich aber
auch seine Ansichten bekämpft hat. Lassen wir Bresslau zunächst
selbst sprechen: „Am 18. März 1905 wurde aus einem kleinen normalen
Volke D, das nur auf einer von 6 Arbeiterwaben ein etwa hand-
tellergroßes Brutnest besaß, die Königin und etwa die Hälfte der
Bienen entnommen und in einen Versuchskasten E auf dem Neben-
stande umlogiert. Nach 10 Tagen wurden in dem jetzt weisellosen
Volk D, dem die Brutwabe belassen worden war, inmitten der
z. T. nach Arbeiterart gedeckelten, z. T. noch ungedeckelten Brut
neben 5 Weiselzellen 6 hochgedeckelte, also Drohnenlarven ent-
haltende Zellen beobachtet. Später kamen noch mehrere hinzu,
am 9. April habe ich notiert: ın Stock D zahlreiche junge Drohnen.
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 135
Da bis dahin seit dem Beginne des Experiments nur 28 Tage, also
der Zeitraum, der ungefähr der normalen Entwickelungsdauer von
Drohnen entspricht, verflossen waren, so können diese Drohnen nur
aus der am 18. März in den Arbeiterzellen des anscheinend nor-
malen Völkchens vorhanden gewesenen Brut, nicht aber, wie man
sonst vielleicht annehmen könnte, aus den Eiern drohnenbrütig ge-
wordener Arbeiterinnen hervorgegangen sein. Die Königin, von der
diese Eier abgelegt worden waren, hatte inzwischen im Kasten E
regelrechte Arbeiterbrut abgesetzt und erwies sich auch späterhin
als durchaus normal.“ Dieses Resultat scheint in der Tat zunächst
sehr zugunsten Dickel’s zu sprechen. Aber hören wir, was Bress-
lau weiter sagt: „Trotz wiederholter mehrjähriger Bemühungen ist
es mir aber nicht gelungen, den Versuch noch einmal mit ähn-
lichem Ergebnis zu wiederholen. Ich bin daher nicht in der Lage,
nach dem nur einmaligen positiven Ausfall dieses Versuches
Dickel’s Deutung dieser Experimente ohne weiteres akzeptieren
zu können. Denn bei der Singularität des Ergebnisses sind auch
noch eine Anzahl anderer Erklärungsmöglichkeiten denkbar und
jedenfalls nicht auszuschließen.“ Bresslau äußert sich nicht näher
über diese Erklärungsmöglichkeiten, dass solche gegeben sind, er-
scheint auch mir sicher. Eine Erklärung wäre z. B. diese: Die
Königin verhielt sich nicht ganz normal bei der Eiablage, sie legte
außer befruchteten Eiern auch unbefruchtete in Arbeiterinnenzellen.
In dem weisellosen Volke (D) wurden die aus diesen Eiern ent-
stehenden Drohnenlarven gepflegt, in dem Völkchen mit Königin (E)
hingegen war der Trieb, Drohnen aufzuziehen, jedenfalls nicht vor-
handen, die jungen Drohnenlarven wurden von den Arbeiterinnen
immer wieder entfernt und konnten so von Bresslau nicht beob-
achtet werden. Dass Drohnen und Drohnenlarven zu gewissen
Zeiten im Bienenstock nicht geduldet werden, ist ja eine allbe-
kannte Tatsache. Eine Beobachtung, die ich vor einigen Jahren
gemacht habe (1914b), scheint mir dafür zu sprechen, dass die Ar-
beiterinnen die verschiedenen Eier nicht zu unterscheiden ver-
mögen, wohl aber selbst die kleinsten Drohnenlarven von den
Arbeiterinnenlarven; erst diese wurden entfernt. Es gibt, wie ge-
sagt, noch einige andere Möglichkeiten, das Resultat des Bress-
lau’schen Experiments zu erklären. Es möge dieser Hinweis ge-
nügen. Soviel geht jedenfalls schon aus dem Gesagten hervor, dass
bei Experimenten mit Bienen sehr zahlreiche Faktoren zu berück-
sichtigen sind, und dass nur Experimente mit ganz genauem Protokoll
Wert für uns haben. Nur in solchen Fällen lässt sich entscheiden,
ob wirklich die Fehlerquellen nach Möglichkeit ausgeschieden, ob
also die aus dem Experiment gezogenen Schlüsse berechtigt sind.
Dickel führt einige Beispiele dafür an, dass in weisellos ge-
wordenen Völkern bisweilen in nachträglich zu Drohnenzellen um-
136 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen?
gebauten Arbeiterinnenzellen Drohnen entstehen, verschweigt aber
ganz die sicher auch ihm bekannte Tatsache, dass häufig in weisellos
gewordenen Völkern, die nur bestiftete Arbeiterinnenzellen besitzen,
die Arbeiterinnen vergeblich den Versuch machen, aus den „Ar-
beiterinneneiern“ Drohnen zu erziehen. Im ersten Falle waren
einige unbefruchtete Eier in die Arbeiterinnenzellen abgesetzt
worden, im zweiten Falle nicht, und deshalb bemühten sich die
Arbeiterinnen hier vergeblich, Arbeiterbrut ın Drohnenbrut zu ver-
wandeln. So sagt der Anhänger der Dzierzon’schen Lehre.
Dickel sagt, die Eier waren in Arbeiterzellen abgesetzt worden,
also sicher befruchet, das Geschlecht haben die Arbeiter durch ihre
Sekrete bestimmt. Weshalb ist es aber dann den Arbeitern nur
gerade in den von Dickel zitierten Fällen möglich gewesen, aus
Arbeitereiern oder -larven Drohnen zu erziehen, weshalb fehlt ihnen
sonst diese Möglichkeit? Auf diese Frage vermag uns Dickel
keine Antwort zu geben. v. Buttel-Reepen (1901), der einige
in einem weisellosen Volke in nachträglich zu Drohnenzellen umge-
bauten Arbeiterinnenzellen zur Entwickelung gekommene Bienen
untersuchte, stellte fest, dass es typische Arbeiterinnen waren. Das
wahrscheinlich veränderte Futter — bezw. das andere Sekret, wie
Dickel will — hatte keinen Einfluss auf das Geschlecht ausgeübt.
Schon mehrmals sind Königinnen beobachtet worden, die un-
fähig waren, Drohneneier abzulegen. Aus allen ın die Drohnen-
zellen abgesetzten Eiern gingen Arbeiterinnen hervor, obwohl der
Trieb, Drohnen zu erzeugen und aufzuziehen, bei Königin und Ar-
beiterinnen vorhanden war. Grobben (1895) z. B. beschreibt einen
solchen Fall. Er spricht die Vermutung aus, dass eine „Nerven-
schwäche“ die Ursache der Erscheinung war. Die Königin hatte
die Spermapumpe „nicht in ihrer Gewalt und konnte bei der Ei-
ablage einen Zufluss von Sperma nicht hemmen.“ Auch diese Fälle,
die er ebenfalls mit seiner „Sekrettheorie“ nicht zu erklären ver-
mag, erwähnt Dickel nicht.
Doch ist die Frage, ob die Arbeiterinnenlarven „intermediäre
Formen“ sind und eine Beeinflussung der Larven für das Geschlecht
von Bedeutung ist, überhaupt noch diskutabel? Ich glaube mit
Zander (1914, 1915) und v. Buttel-Reepen (1915) diese Frage
verneinen zu müssen. Schon Petrunkewitsch (1903) hat darauf
hingewiesen, dass sich das Geschlecht eines Bienenembryos vor dem
Ausschlüpfen bereits deutlich als männlich oder weiblich zu er-
kennen gibt. Bei dem weiblichen Embryo (aus der Arbeiterinnen-
zelle) ıst die Zahl der Geschlechtszellen wesentlich geringer als bei
dem gleich alten männlichen (aus der Drohnenzelle). Da diese
Arbeit Petrunkewitsch’s sich in manchen Punkten als unzuver-
lässig erwiesen hat, ist es um so erfreulicher, dass in jüngster Zeit
Zander (1914, 1915) die nachembryonale Entwicklung der Ge-
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 137
schlechtsorgane bei Königin, Drohne und Arbeiterin eingehend
studiert hat und zu ähnlichen Resultaten wie Petrunkewitsch
gekommen ist. „Die von frühester Jugend an scharf geprägten
Geschlechtsmerkmale der Königin und Drohne“, sagt Zander in
seiner demnächst erscheinenden Arbeit (1915)*), „gestatten ein
sicheres Urteil über den sexuellen Charakter der Arbeiterin. Wie
schon Koshevnikov betonte und Herr Meier (der Mitarbeiter
Zander’s. N.) jetzt über jeden Zweifel erhoben hat, besitzt die
Arbeitsbiene am Beginne ihres Larvenlebens bereits dıe vollkommene
Organisation einer Königin. Bei keinem Teile ihres primitiven Ge-
schlechtsapparates kann darüber auch nur der leiseste Zweifel be-
stehen. Die Ausbildung der Imaginalscheiben, der Verlauf der
Genitalstränge und der Bau der Genitaldrüsen sind von frühester
Jugend an typisch weiblich“. Auch bei den solitären Bienen ist
das Geschlecht bereits sehr frühzeitig zu erkennen (s. Armbruster,
1913). Die vorläufige Mitteilung Zander’s (1914) dürfte Dickel
bei der Niederschrift seines Artikels noch nicht bekannt gewesen
sein, die Feststellungen Petrunkewitsch’s und vor allem Arm-
bruster’s kannte er jedenfalls. Trotzdem erwähnt er sie mit
keinem Worte und behauptet, durch seine Darlegungen den Be-
weis erbracht zu haben, „dass die Arbeiterlarven ıntermediäre Formen
darstellen“!
Die Übertragungsexperimente.
„Eine sehr entscheidende Rolle bei der Beurteilung unserer
Frage“, so beginnt Dickel seinen nächsten „Beweis“, „spielen
die Übertragungsversuche. Hier ist allerdings große Vorsicht ge-
boten, denn nirgends fließen die Fehlerquellen so reichlich wie bei
diesen Versuchen. Ich werde mich daher auf zwei, jeder Kritik
standhaltende Beispiele beschränken. Nach einigen allgemeinen
Bemerkungen folgen die beiden Experimente, ebenfalls von Imkern
ausgeführt. 1904 schrieb ©. Dickel noch von den gleichen Ex-
perimenten, die er persönlich zusammen mit seinem Vater
gemacht hatte: „Wenngleich es mir natürlich nicht möglich ist, mit
aller Bestimmtheit zu behaupten, dass jede Fehlerquelle vermieden,
jeder Irrtum völlig ausgeschlossen ist — das wird man überhaupt
nur bei einem Bruchteile aller physiologischen Experimente tun
können — so kann ich doch die Versicherung abgeben, dass Dickel
stets mit größter Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit vorgegangen ist.“
Heute heisst es von den beiden aus dem Jahre 1898 stammenden
Experimenten der Gesinnungsgenossen seines Vaters: „Fehlerquellen
können in diesen Versuchen unmöglich nachgewiesen werden.“ Um
so viel unkritischer ist OÖ. Dickel inzwischen geworden!
4) Herr Prof. Zander hatte die Freundlichkeit, mir diese Stelle aus seinem
Manuskript zur Verfügung zu stellen.
138 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
Betrachten wir kurz die von Dickel zitierten Experimente
und sehen wir, ob hier wirklich „Fehlerquellen unmöglich nach-
gewiesen werden können“! In beiden Experimenten wurden ım
Juli (am 13. bezw. 21. Juli) in Drohnenzellen abgesetzte Eier in
Weisel- bezw. Arbeiterinnenzellen übertragen und die Waben mit
diesen Eiern weisellosen Völkern beigegeben. In beiden Fällen
zogen die Arbeiterinnen aus den angeblichen „Drohneneiern*
Königinnen. Ich bin ganz mit Dickel einverstanden, wenn er
sagt, dass zur Erklärung dieser Experimente „die Angaben über
die Zeit der Eiablage uns eine Handhabe bieten“. „In beiden
Fällen“, sagt er weiter, „wurden die Bier im Monate Juli ın
Drohnenzellen abgesetzt, zu einer Zeit also, zu der normaler-
weise Drohnen nicht mehr entstehen (von mir gesperrt. N.),
oder um mit dem Imker zu sprechen, der Drohnentrieb erloschen
ist. Da um diese Zeit, wie der Versuch Heck’s beweist, die Eier
in der Regel befruchtet sind, auch wenn sie in Drohnen-
zellen abgelegt werden (von mir gesperrt. N.), so wird es sehr
wahrscheinlich gemacht, dass die begattete Königin während der
Schwarmzeit in Drohnenzellen ausschließlich unbefruchtete Eier, mit
dem Abflauen des Triebes nach Erzeugung von Geschlechtstieren
mehr und mehr befruchtete, unter Umständen ausschließlich be-
fruchtete Eier absetzt.“ Diesen Folgerungen Dickel’s stimme ich,
wie gesagt, vollkommen zu. Aber was berechtigt Dickel anzu-
nehmen, dass die von Heck aus Drohnenzellen in Weiselzellen
übertragenen Eier in ihren ursprünglichen Zellen Drohnen ergeben
hätten? Dickel sagt selbst, dass in dem betreffenden Volke der
„Drohnentrieb“ erloschen war. In einem Volke aber, ın dem der
Drohnentrieb erloschen ist, bestiftet die Königin normalerweise die
Drohnenzellen überhaupt nicht. Sie bestiftet sie nur dann, wenn
ihr andere Zellen nicht zur Verfügung stehen, oder wenn man eine
Drohnenwabe mitten in das Brutnest hängt, da leere Waben dort
nicht geduldet werden. Diese Eier sind allerdings in der Regel
befruchtet, aber es entstehen dann aus diesen befruchteten Eiern
— vergl. das oben besprochene Experiment — auch keine Drohnen
sondern Arbeiterinnen. Ich habe bereits an anderer Stelle (1914b)
darauf hingewiesen, dass es sehr wohl möglich ist, selbst im August
noch wirkliche „Drohneneier“, d. h. unbefruchtete Eier, in Drohnen-
zellen zu erhalten, nämlich dann, wenn man das Erlöschen des
Drohnentriebes durch geeignete Mittel verhindert bezw. hinaus-
schiebt. Ich habe in den Monaten April, Mai, Juni, Juli und August
des Jahres 1911 viele Hunderte von Eiern aus Drohnenzellen fixiert.
Ich habe kein befruchtetes Eı darunter gefunden.
Die Kreuzungsexperimente.
Was die Kreuzungsexperimente mit verschiedenen Bienenrassen
anbetrifft, die von Dickel ebenfalls als „Beweis“ für seine Theorie
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 139
angeführt werden, so verweise ich auf meine früheren Ausführungen
(1913). Hier möchte ich nur die Angaben Dickel’s über Cuenot’s
Schlussfolgerungen aus seinen Experimenten richtigstellen und zu-
gleich zeigen, in welch unverantwortlicher Weise Dickel die An-
sichten anderer Autoren entstellt. Cu¬ (1909) untersuchte die
Nachkommen einer schwarzen Bienenkönigin, die von einer gelben
Drohne begattet worden war. Die weiblichen Nachkommen hatten
alle Hybridencharakter, die ungefähr 300 untersuchten Drohnen
aber waren fast alle schwarz wie die Mutter. Nur zwei wiesen
ein breites gelbes Band auf dem ersten Hinterleibsring auf. Wie
ist das Auftreten dieser beiden Drohnen zu erklären? Cuenot
selbst äußert verschiedene Vermutungen. „Ces deux mäles a bandes
peuvent &tre des hybrides, des varıants ou des &migrants de ruches
lointaines; hypothese la plus vraısemblable serait celle des vari-
ants.“ Ich habe dem hinzugefügt, dass die Angaben Cuenot’s auch
nicht ausschließen, dass die beiden Drohnen von einer eierlegenden
Arbeiterin, also einem Hybriden, stammten. Wie sich unsere An-
gaben im Munde Dickel’s umgestalten, zeigt folgender Satz:
„Cuenot konnte sich ıhr Auftreten nicht erklären, wogegen Nachts-
heim die Behauptung aufstellt: „dass die beiden Drohnen von einer
eierlegenden Arbeiterin, also von einem Hybriden abstammten.*
Während es an dieser Stelle (S. 742) heisst, Cu&@not habe sich
das Auftreten der beiden Drohnen nicht erklären können, schreibt
Dickel auf S. 720, Cuenot sei „auf Grund von Vererbungserschei-
nungen bei Kreuzungen der französischen und italienischen Rasse“
zu der Anschauung „gezwungen“, dass gelegentlich auch aus be-
fruchteten Eiern Drohnen entstehen. Cuenot schließt seine Ab-
handlung mit den Worten: „Somme toute, le resultat que j’ai
obtenu, bien que passıble de critiques, parle contre l’opinion de
Dickel et de Kuckuck, et confirme la theorie de Dzierzon.“
Die von mir ausgesprochene Vermutung kritisiert Diekel mit
folgenden Worten: „Also nur um diesen Fall ins Dzierzon’sche
Schema zu zwängen, greift er zu einer Erklärung, die mit dem
scheinbar (von mir gesperrt. N.) nie durchbrochenen Gesetze
unvereinbar ist, dass in Gegenwart einer normalen Königin Arbeits-
bienen niemals zur Eiablage schreiten.“ Im Gegensatze hierzu liest
man auf S. 774, dass bei der deutschen Rasse „der Streit um die
sogen. Drohnenmütterchen nie zu Ende gekommen ist“; die dies-
bezüglichen Angaben der Autoren seien „sicherlich nicht völlig aus
der Luft gegriffen“. Meine Vermutung — um mehr handelt es
sich ja nicht — ist also doch wohl auch nach Dickel nicht ganz
und gar unberechtigt.
Gibt es „überreife“ Bieneneier ’?
Ich habe bereits Dickel’s Theorie der „Überreife“ erwähnt.
Königinnen, die einige Zeit am Begattungsausfluge verhindert wurden,
140 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
sollen zunächst nur Drohnen erzeugen, da ihre Eier „überreif“ ge-
worden sind, und „Eier im Zustande der Ovarialüberreife zeigen
bei den Bienen die Tendenz, sich zu Männchen zu entwickeln, die
bei langer Einwirkung der sie bedingenden Faktoren sich bis zur
ausschließlichen Produktion von Drohnen steigern kann.“ Beob-
achtungen Huber’s (1814) bilden für Dickel den Anlass zu dieser
Behauptung. Eine Königin, die längere Zeit am Begattungsausfluge
gehindert worden war, schließlich aber doch noch den Hochzeitsflug
ausführte, erzeugte ausschließlich Drohnen, obwohl sie nach Huber
„mit den unzweideutigen Zeichen der Befruchtung“ zurückgekehrt
war. Dickel genügt diese Angabe Huber’s als Beweis dafür, dass
die von dieser Königin abgesetzten Eier befruchtet waren, und für
ihn „bleibt nur die Annahme, dass in der Verzögerung des Be-
gattungsfluges, mit anderen Worten in der Überreife der Ovarialeier
die Ursache zu suchen ist“ (S. 744). Vergleichen wir hiermit, was
Dickel auf S. 790f. sagt: „Auch Autoren, die durchaus auf dem
Boden der Dzierzon’schen Lehre stehen, haben darauf hingewiesen,
dass Jdie Eier erst unter dem Einflusse der Begattung voll ausreifen.
Es besteht die, allerdings wenig beachtete Tatsache, dass unbe-
gattete Königinnen viel weniger fruchtbar sind wie begattete, dass
sie nach Absetzen einer verhältnismäßig geringen Zahl von Eiern
ihre Tätigkeit beschließen ... Unter dem Einfluss der stattgehabten
Kopula geht mit dem Legetier eine so starke Veränderung vor sich,
dass es nach 24-—36 Stunden kaum wieder zu erkennen ist.“ Diese
Angaben Dickel’s sind vollkommen richtig. Ich habe junge, noch
nicht begattete Königinnen untersucht. Ihre Eierstöcke sind winzig
im Vergleich zu denen einer jungen Königin auch nur kurze Zeit
nach der Begattung. Während hier die Ovarien den größten Teil
des ganzen Hinterleibes ausfüllen und die Eiröhren reife Eier in
großer Zahl enthalten, lehren Schnitte durch das Ovar einer unbe-
gatteten Königin, dass bei dieser selbst die ältesten Eier noch nicht
in die Wachstumsperiode eingetreten sind. Wohl sind die Nähr-
kammern und die Eikammern im unteren Teile der Eiröhren be-
reits deutlich abgegrenzt, aber die Eizellen übertreffen dıe Nähr-
zellen erst wenig an Größe, und auf diesem Stadium, das schon
von der Puppe erreicht wird, bleiben die Ovarien zunächst stehen.
Erst die Begattung ist für die Eier der Anreiz zur Weiterentwicke-
lung. Unterbleibt die Begattung, so erfolgt erst nach längerer Zeit
die Weiterentwickelung der Eier, aber auch dann reift nur, wie
ja auch Dickel hervorhebt, eine verhältnismäßig geringe Zahl von
Eiern’). Wenn Dickel also die Feststellung R. Hertwig’s, dass bei
5) Nicht nur bei der Honigbiene hat die Begattung einen solch außerordent-
lichen Einfluss auf die Entwickelung des weiblichen Keimstockes. Unbegattete
Schmetterlingsweibchen verhalten sich ganz ähnlich wie die unbegattete Bienen-
Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen? 141
Fröschen Überreife der Eier männchenbestimmend wirkt, verallge-
meinern will, so vergisst er ganz, dass bei der Honigbiene die Vor-
bedingungen für ein Überreifwerden der Bier gar nicht gegeben sind.
Und selbst wenn man zugeben wollte, es könnte das längere Verweilen
der jungen Eizellen auf dem genannten Stadium bei der Honigbiene
den gleichen Effekt haben wie das längere Verweilen der Eier ım
Uterus bei den Fröschen, so wäre gar nicht einzusehen, weshalb
in dem von Huber mitgeteilten Falle sich die späteren Eier, die
bei der begatteten Königin ständig aus Ovogonien erzeugt werden,
genau so verhielten wie die ersten.
Die Zwitterbienen.
Auch die Zwitterbienen sollen überreifen Eiern entstammen,
Eiern, „die eine je nach dem Grade der Überreife stärkere oder
schwächere Tendenz zur Bildung des männlichen Geschlechts be-
saßen.“ Ich glaube, auf eine weitere Diskussion der Dickel’schen
Theorie der Überreife verzichten zu können.
Wir haben hiermit alle „Beweise“ Dickel’s für das „recht
häufige“ Entstehen von Drohnen aus befruchteten Eiern einer
Kritik unterzogen. Das nächste Kapitel des Dickel’schen Auf-
satzes betitelt sich: „Was ist die Ursache der geschlechtlichen
Differenzierung der indifferenten Formen?“ Wir können uns nach
den bisherigen Ausführungen ein Eingehen auf dieses Kapitel ver-
sagen. Neben einer Reihe von Unrichtigkeiten enthält es — das
sei hier nicht unerwähnt gelassen — einen interessanten Versuch
OÖ. Dickel’s. Er zeigt, „dass der Futterbrei, der ın Königin-,
Drohnen- und Arbeiterzellen abgesetzt wird, spezifisch verschieden
voneinander ist.“ Diese Feststellung ist nicht neu, aber der Weg,
auf dem Dickel zu seinem Resultat kommt, ist noch nicht be-
gangen worden.
Dickel behandelt dann weiter die Frage: „Gilt die Dzier-
zon’sche Theorie für andere Hymenopteren?“ Er beantwortet
natürlich die Frage im negativen Sinne. Ich kann mir ein Eingehen
auf dieses Kapitel um so eher ersparen, als Kollege Armbruster
demnächst Dickel eine Antwort auf seine Behauptungen geben
und zugleich neue Beweise für die Richtigkeit der Dzierzon’schen
Lehre erbringen wird.
Auf Grund des Gesagten komme ich zu folgenden Resultaten:
Die Ausführungen Otto Dickel’s sind nicht geeignet,
die Richtigkeit der Dzierzon’schen Lehre auch nur irgend-
königin (s. z. B. die Experimente Klatt’s, 1913). Auch bei Dinophilus ist das
Verhalten des begatteten Weibchens sehr verschieden von dem des unbegattet ge-
bliebenen (s. Nachtsheim, 1914a).
149 Nachtsheim, Entstehen auch aus befruchteten Bieneneiern Drohnen ?
wie in Zweifel zu ziehen. Es wird auch von den An-
hängern der Dzierzon’schen Lehre die Möglichkeit einer
gelegentlichen Entstehung von Drohnen aus befruch-
teten Eiern zugegeben, aber es liegt bisher kein wissen-
schaftlicher Beweis für eine solche Entstehung einer
Drohne vor, geschweige denn dafür, dass zu gewissen
Jahreszeiten Drohnen recht häufig aus befruchteten Eiern
sich entwickeln. Dickel’s Behauptung, dass die Arbeiter-
larven intermediäre Formen darstellen, ist nicht ein-
mal mehr diskutabel. Auch die übrigen Behauptungen
sind nicht mehr als zum Teil sehr kühne Spekulationen,
denen jegliche exakte Grundlage fehlt.
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Physiologische Untersuchungen über das pulsierende
Gefäfs von Bombyx mori L.
Von Osvaldo Polimanti.
(Aus dem Physiologischen Institut der Universität Perugia.)
I. Der Einfluss der Temperatur auf den Rhythmus des
pulsierenden Gefäßes.
Untersuchungen über den Einfluss der Temperatur auf die Zahl
der Pulsationen des pulsierenden Gefäßes der Insekten stammen
vonNewport!), der bei Anthophora retusa beobachtete, dass, wenn
das Tier 1—2 Stunden lang den Sonnenstrahlen ausgesetzt wurde,
die Zahl dieser Pulsationen von 100 auf 140 stieg. Yersin?) sah,
dass die Pulsationen des dorsalen Gefäßes einiger Insekten (Motten,
Grillen) einen fast das Doppelte betragenden Unterschied zeigten,
wenn die Außentemperatur warm war, im Vergleich mit der bei
kalter Temperatur beobachteten Zahl.
Dogiel°) studierte zuerst systematisch den Einfluss der Tem-
peratur (0—38° C.) auf das Herz der Larve von Corethra plumi-
1) Newport. Artikel „Insecta“ in Cyclopaedia of anatomy and physiology
by Tood. Vol. VIII, p. 981, London 1839.
2) Yersin, A. Zitiert von M. Girard. Traite &l&mentaire d’entomologie.
T. I, p. 21, Paris 1873.
3) Dogiel. Anatomie und Physiologie des Herzens von Corethra plumicornis.
Memoires Acad&mie de St. Pötersbourg VII, 1877 (p. 16, Extrait).
144 Polimanti, Physiologische Untersuchungen etc.
cornis und beobachtete, dass eine Erniedrigung der Temperatur
seinen Pulsationsrhythmus verlangsamt, während eine Erhöhung
derselben ihn beschleunigt. Aus diesen Versuchen schließt er, dass
das Herz dieser Larve sich der Temperatur gegenüber wie das Herz
der Vertebraten verhält.
In einer Reihe von Untersuchungen, die ich*) über das Herz
eines Schaltieres (Maja verrucosa M. Edw.) ausgeführt habe, stu-
dierte ich auch den Einfluss der Temperatur auf den Pulsations-
rhythmus des Tieres und wollte sehen, ob das Gesetz von Arrhe-
nius und van’t Hoff anwendbar wäre, nach welchem die
chemischen Reaktionen infolge jeder Temperaturzunahme von 10°
um das Doppelte oder Dreifache zunehmen: al — 0410:
In dieser Arbeit berechnete ich eben auf Grund dieses Gesetzes
die Resultate, die Plateau?) erhalten hatte, als er die Pulsschwan-
kungen des dorsalen Gefäßes eines Käfers (Oryctes nasicornis) stu-
dierte, und ich fand genau: Q10 = 1,46. Dieses selbe Gesetz
wandte ich auf den Atmungsrhythmus bei Fischen®) und auf den
Rhythmus des embryonalen Herzens von Fischen’) an und fand,
dass es auch hier innerhalb gewisser Grenzen gilt. In diesen meinen
Abhandlungen findet sich die vollständige Literatur über die An-
wendung dieses Gesetzes von Arrhenius und van’t Hoff auf die
Lebenserscheinungen, weshalb ich an dieser Stelle nicht wiederhole,
was die verschiedenen Biologen über diese Frage veröffentlicht haben.
Ich hielt es für interessant, systematische Untersuchungen an-
zustellen über den Einfluss, den die Temperatur auf den Rhythmus
des pulsierenden Gefäßes der Larve eines Insektes (Bombyx mori L.)
ausübt, eines Gefäßes, mit dessen anatomischem Bau sich in jüngster
Zeit E. Verson°) mit großem Erfolg beschäftigt hat; gleichzeitig
wollte ich untersuchen, inwieweit auch in diesem Falle das oben
erwähnte Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff anwendbar sei.
Wie wir schon gesehen haben, liegen von derartigen Untersuchungen
nur die von Plateau über Oryctes nasicornis vor, deren Resultate
4) OÖ. Polimanti. Beiträge zur Physiologie von Maja verrucosa M. Edw.
— I. Herz. Archiv f. Anatomie und Physiologie (physiologische Abteilung), 1913,
p. 117—204, Fig. 71 im Text.
5) F. Plateau. Recherches physiologiques sur le cur des crustaces deca-
podes. Archives de Biologie, 1880, T. I, p. 595—695, Pl. 2 (XXVI—XXVI).
6) OÖ. Polimanti. Einfluss niedriger Temperaturen auf Pigmentierung und
Atmung von Apogon rex mullorum C. Bp. Centralblatt f. Physiologie, Bd. XXV,
1912, p. 1209—1213.
7) O. Polimanti. Influence des agents physiques, concentration, temperature
sur l’activitG du ceur embryonnaire des poissons. Journal de physiologie et de
pathologie gen£rale, 1911, p. 797—808.
8) E. Verson. Sul vaso pulsante della sericaria. Atti del R. Istituto Veneto
di Scienze, Lettere ed Arti T. LVII, parte II, anno 1907—1908. Estratto p. 33, 2 tav.
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 145
eben von mir nach der Formel dieses Gesetzes berechnet wurden.
Diese meine Versuche machte ich an Larven von Bombyx mori,
die sich im letzten Lebensalter befanden (Länge 7—7,5 em). Die
Larven wurden derart ın Maulbeerblätter enthaltende Gefäße ge-
bracht, dass sie immer Nahrung fanden; diese Gefäße waren doppel-
wandig, so dass ich mittels eines Stromes von warmem Wasser
sehr leicht bewirken konnte, dass die Temperatur des inneren Ge-
fäßes varıierte. Die Larven wurden Temperaturen von 15 —20—
25--30—35—40°C. ausgesetzt; es wurden 20 Reihen von Versuchen
ausgeführt und in jeder Reihe wurden 25 Larven beobachtet, die
nacheinander Temperaturen von 15—40°Ü. ausgesetzt wurden. Die
Temperatur wurde immer um je 5° ©. erhöht und die Larven ver-
blieben mindestens 30 Minuten lang in einer jeden von diesen ge-
steigerten Temperaturen, nämlich so lange, bis die Zahl der bei allen
Larven beobachteten Pulsschläge gleichmäßig geworden war.
Die erhaltenen Resultate bringe ich ın Gestalt einer Tabelle:
Zahl der Pul- Wert von
sationen des pul- ne Kt+10 Bemerkungen
sierenden Gefäßes gw=— IX,
15 34 Indem Maße, wie die Tem-
Temperatur
(in Celsiusgraden)
20 40 1.588 peratur von 15 auf 35° C.
25 54 I steigt, fressen die Larven
£ 1,625 E * t
30 65 1388 mit größerer Gier.
35 75 1,200 Bei 40° C. fressen die
40 90 Larven nicht mehr und sind
Mittelwert 1,450 sehr unruhig.
Mithin ist dieser Wert von Q10 = 1,45, für das dorsale Gefäß
der Larve von Bombyx mori bei Temperaturen zwischen 15 und
40°C. fast gleich dem von Plateau gefundenen und von mir für
das dorsale Gefäß eines anderen Insektes, des Käfers Oryetes nasicornis,
für Temperaturen zwischen 24 und 34° C. berechneten (Q 10 = 1,46).
Wir können also schließen, dass innerhalb gewisser Grenzen
das Gesetz von Arrhenius und van’t Hoff auch für den Puls-
rhythmus des dorsalen Gefäßes der Insekten, sowohl im Larven-
zustand als bei dem erwachsenen Tiere, ın Geltung steht. Zu be-
merken ist auch der Umstand, dass, wenn die Temperatur (von
25—40°C.) gesteigert wird, der Wert von Q10 stufenweise allmäh-
lıch abnimmt, während er zwischen 15 und 30°C. allmählich leicht
zunimmt.
Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode
bei den Temperaturexperimenten mit Schmetterlingen.
Von Dr. med. E. Fischer in Zürich.
In Nummer 5 (20. Mai 1914) dieser Zeitschrift ist von OÖ. Proch-
now eine kurze Abhandlung: „Die analytische Methode bei
der Gewinnung der Temperatur-Aberrationen der
XXXV. 10
446 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc.
Schmetterlinge“ gebracht worden. Obgleich darin mit beson-
derer Hervorhebung eine, wenn auch späte, Bestätigung meiner
bereits vor nahezu 20 Jahren aufgestellten und durch die experi-
mentellen Erfolge seit 1898 als richtig erwiesenen Theorie gebracht
wird, so musste ich doch beim Durchlesen eine Anzahl Rand-
bemerkungen und Fragezeichen anbringen, deren Bedeutung ich
hier als Ergänzungen und Berichtigungen des Prochnow’schen
Aufsatzes darlegen möchte.
Der Verfasser führt zunächst p. 302/03 an, dass alle Experi-
mentatoren dieses Gebietes sich bisher der von den ersten auf
diesem Felde tätigen Forschern veröffentlichten Methoden bedient
hätten; dieses Verfahren sei, soweit es insbesondere die Bestim-
mung des kritischen Stadiums betreffe, nicht ausreichend genau und
damit stehe das in der Regel nicht günstige Ergebnis der Versuche
in Beziehung, indem sich meist neben einigen aberrativ veränderten
Stücken eine Menge von Übergangsformen und gar nicht veränderten
Faltern ergaben.
In diesen Umständen sieht der Verfasser die Notwendigkeit
einer verbesserten, analytischen Methode begründet, wie eine solche
in seinem Sinne zur Bestimmung des kritischen oder sensiblen
Stadiums der Schmetterlingspuppen bisher noch nicht angewendet
worden ist.
Im Anschlusse hieran möchte ich auf eine mir BObW ende er-
scheinende Unterscheidung aufmerksam machen.
Seit der Wiederaufnahme der Dorfmeister- Weismann’schen
Temperaturexperimente war man naturgemäß bestrebt, diese Me-
thode nach Erfordernis und Möglichkeit zu verbessern. Da aber
nur mit mäßig von der normalen Temperatur abweichenden Kälte-
und Wärmegraden experimentiert wurde, indem bei den sogen.
Kälteexperimenten ca. + 1 bis 4 8° C., bei den Wärmeexperi-
menten +35 bis + 38° C. in Anwendung kamen, schien jene un-
gefähre Bestimmung des kritischen Stadiums, nach welchen die
Puppen ziemlich frisch, d. h. im Alter von mehreren Stunden zur
Exposition gelangten, annähernd auszureichen. Da von den ge-
nannten Temperaturen eine Schädigung nicht gerade zu befürchten
war, wurden die Puppen zumeist auch ziemlich frisch und somit
noch früh genug, d. h. vor Ablauf des kritischen Stadiums ver-
wendet.
Anders verhielt es sich dagegen, als 1895 von mir jene neu-
artigen Experimente eingeführt wurden, bei denen Temperaturen
unter dem Nullpunkte (—4 bis —20° C.) mit intermittierenden
Expositionen zur Einwirkung gebracht wurden, wobei alsdann ganz
extrem veränderte Formen, sogen. Aberrationen auftraten, die,
entsprechend der von mir 1894 aufgestellten Hemmungstheorie in
gleicher Weise auch durch sehr hohe Wärmegrade (+ 40 bis + 45° C.)
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s ‚ analytischer Methode ete. 147
erzeugt werden konnten. Bei diesen Frost- und Hitzeexperi-
menten, auf die sich ©. Prochnow in seinen Ausführungen be-
zieht, ergaben die Puppen im allgemeinen zunächst nicht besonders
hohe Prozente an Aberrationen, z. T. starben die Puppen auch ab.
Vielleicht lag der Grund davon schon im experimentellen Ver-
fahren selber, z. B. in der Art der Expositionen, da hier, im Gegen-
satze zu den Kälte- und Wärmeexperimenten, nicht mit 3—4 Wochen
lange dauernder und konstanter Einwirkung verfahren wurde, sondern
nur einige Tage hindurch täglich etwa einmal je eine bis einige
Stunden die Puppen unter dem Nullpunkte gehalten wurden. Immer-
hin erhielt ich damals 8—-25%, trotz Verwendung einer geringen
Puppenzahl.
In der Verfolgung dieser Versuche beobachtete ich auch weiter-
hin ein starkes Schwanken der Prozente und es galt daher, die
Ursache dieses Schwankens ausfindig zu machen. Der Natur dieser
Experimente entsprechend musste zunächst tastend nach dem rich-
tigen Maße der verschiedenen, dabei einwirkenden Umstände wie
Temperaturgrad, Dauer und Zahl der Expositionen und der Zwischen-
pausen gesucht werden. Es hatte sich mir hieraus bald ergeben,
dass das Schwanken der Prozente in einer Verschiedenheit im
Alter der verwendeten Puppen gelegen sein müsse und dass somit
hier eine viel genauere und engere Umgrenzung des sensiblen Sta-
diums nötig sei, um einerseits die Puppen nicht durch zu frühe Ver-
wendung zu schädigen, andererseits nicht durch zu späte Exposition
das kritische Stadium zu verpassen. Eine Anzahl Kontrollversuche
ergab bald die Richtigkeit dieser Annahme und zeigte, dass bei
exaktem Experimentieren 60— 80%, und sogar 100 %, Aber-
rationen bei verschiedenen Puppenserien und verschie-
denen Arten erreicht werden konnten. Inzwischen war
Standfuß, der von 1896 an solche Frost- und Hitzeexperimente
ausführte, zu einem ganz anderen, gegenteiligen Resultate ge-
langt, indem er trotz Verwendung einer sehr großen Puppenzahl
stets nur etwa 2%, aberrativer Falter erreichte. Dieses Ergebnis
verleitete ihn zu dem Fehlschlusse, dass die Entstehung der Aber-
rationen auf einer rein individuellen Veranlagung (individuellen
Variabilität) beruhe, die eben nur etwa 2%, der Puppen eigentüm-
lich sei und durch die extremen Temperaturgrade alsdann ausgelöst
werden könne. Aus diesem Grunde verblieb Standfuß auch
weiterhin beim Massenexperiment, in der Meinung, dass nur mit
der Zahl der Puppen die absolute Zahl der Aberrationen zunehmen
könne; es ist dieser Irrtum ganz besonders auch in seinem 1897
vorgenommenen Vererbungsversuche mit urticae- Aberrationen so-
wohl in der verwendeten Puppenzahl als in dem prozentualen Er-
gebnis zum Ausdruck gekommen. — In den Standfuß’schen Ver-
suchen war offenbar gerade die Verwendung großer Puppenmengen,
10*
148 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc.
die der Experimentator für einen besonderen Vorteil und Vorzug
hielt, die Ursache der geringen Prozente, weil dabei eine aus-
reichend genaue Bestimmung des sensiblen Stadiums nicht möglich
war. Auch hatte offenbar die Befürchtung, dass die Puppen die
tiefen Kälte- und hohen Hitzegrade im frischen Zustande nicht er-
tragen würden, dazu geführt, sie erst in etwas vorgerücktem Alter
zu verwenden; damit war aber das sensible Stadium, das bei
Sommertemperatur ohnehin rasch vorübergeht, bereits abgelaufen
und die Puppen konnten trotz extremer Temperatureinwirkung
keine Aberrationen mehr ergeben.
Gemäß meinen Beobachtungen hatte ich große Puppenserien
sogar im Anfang nie angewandt und war nach den oben mitge-
teilten Feststellungen sehr bald zu ganz kleinen Serien übergegangen,
weil nur so ein richtiges, exaktes Verfahren, insbesondere eine ge-
naue Bestimmung der kritischen Phase und eine gleichmäßige Be-
einflussung sämtlicher Puppen durch die Temperatur möglich war.
Über die Untersuchungen, die ich über diese Frage 1898 anstellte
und über ıhre sehr günstigen Ergebnisse habe ich ım XIII. Jahr-
gange der Societas entomologica Nr. 22 und 23 (1899) berichtet
(„Experimentelle kritische Untersuchungen über das prozentuale
Auftreten der durch tiefe Kälte erzeugten Vanessen-Aberrationen‘“)
und ließ 1901 ın Nr. 7 und 8 der gleichen Zeitschrift eine zweite
Publikation folgen, die sich außer mit der Frage nach den höchst-
möglichen Prozenten auch mit dem Mindestmaße der Expositions-
dauer und der Hitzegrade befasste. Als sicher feststehend hatte
sich damals das Resultat ergeben:
1. dass es tatsächlich möglich ist, sämtliche Puppen zur An-
nahme des aberrativen Kleides zu zwingen, also 100%, zu er-
reichen;
2. dass es eine nur einigen wenigen Individuen zukommende
aberrative Schwankungsfähigkeit nicht gibt, sondern dass diese
Anlage jeder Puppe eigen ist.
3. dass somit geringe Prozente nicht auf individueller Disposition
der Puppen, sondern in einem experimentellen Fehler
beruhen müssen und
4. dass sämtliche Puppen bei genau gleicher experimenteller
Behandlung auch durchweg in gleicher Weise sich verändern,
also Aberrationen ergeben, die sich in der gleichen Ent-
wickelungsrichtung bewegen.
Ein Vergleich dieser vor 15 Jahren sicher gestellten Tatsachen
mit den neulich von ©. Prochnow bekannt gegebenen lässt eine
bemerkenswerte Übereinstimmung erkennen.
Was nun die zur Bestimmung des kritischen Stadiums
von mir seinerzeit gewählte Methode betrifft, so hatte ich sie nach
zwei, sich gegenseitig ergänzenden Richtungen hin vorgenommen,
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 149
nach einem bestimmten Grade der Abnahme des Haut-
glanzes und, nach dem Härtegrad der Chitinhaut der Puppe.
Ich hatte auf diesem Wege feststellen können, dass die Puppe dann
eine genügende Widerstandsfähigkeit gegen die extreme Temperatur
und zugleich eine noch ausreichende Sensibilität für dieselbe be-
sitzt, wenn der feuchte Hautglanz auf den Flügelscheiden eben ver-
schwunden, auf der dazwischen gelegenen Rüsselscheide aber noch
vorhanden ist.
Da diese Abnahme des Glanzes natürlich mit einer zunehmen-
den Erhärtung der Chitinhaut einhergeht, so zog ich auch den
Härtegrad der Hinterleibsringe, also den Grad der Nachgiebigkeit
gegen einen leichten, mit stumpfer, schräg gestellter Nadel ausge-
übten Druck zur Beurteilung heran.
Die positiven Erfolge der nach dieser Bestimmung vorge-
nommenen Frostexperimente ergeben sodann, dass diese zwei Zu-
stände, d.h. ein bestimmter Grad der Härte und des Glanzverlustes
mit dem Höhepunkt des sensiblen Stadiums und der ausreichenden
Resistenz gegen Frostgrade zeitlich zusammenfallen. In jenen
beiden Zuständen der Chitinhaut war somit ein Indikator für das
sensible Stadium gefunden.
Es muss nun allerdings gesagt werden, dass die hier erwähnte
Art der Bestimmung ein großes Maß persönlicher Erfahrung und
Übung voraussetzt und dass bei gewissen Arten, wie z. B. denen
der Gattung Argynnis, die Beurteilung des feuchten Hautglanzes
schwieriger ist, weil diese überhaupt nie eine matte Oberfläche er-
halten, sondern mit dem Erhärten einen lackähnlichen Glanz an-
nehmen, während andererseits der Härtegrad der Ohitinhaut bei
verschiedenen Arten der Gattung Apatura, Limenitis u. a. ein ver-
schiedener ist.
Demgegenüber besitzt nun die Prochnow’sche Methode den
Vorteil, dass sie diese subjektive Erfahrung, die bei meiner Methode
eine nicht geringe Rolle spielen wird, durch ein rein physikalisches
Messverfahren ersetzt.
Aber dieser Vorzug wird z. T. dadurch wieder vermindert,
dass nicht nur für jeden Temperaturgrad innerhalb der Tagestempe-
ratur von etwa 4 17° bis + 25° C., sondern auch für jede Puppen-
art eine besondere, sehr umständliche Bestimmung der Entwicke-
lungsgeschwindigkeit nötig ist, wie sie Prochnow p. 306 in einer
Tabelle für vier Vanessen bereits aufgestellt hat und dass ferner,
nachdem diese Maße ermittelt sind, der Experimentator genötigt
ist, beständig auf den Zeitpunkt, in dem sich jede Raupe verpuppt,
auf die jeweilen herrschende Temperatur, in der sich die Puppe
vor Beginn des Experimentes befindet un auf den Termin, der
seit der erfolgten Verpuppung verstrichen ist, Obacht zu geben,
wenn er das Richtige treffen will, während die Bestimmung des
150 Fischer, Berichtigungen zu OÖ. Prochnow’s analytischer Methode ete.
kritischen Stadiums nach meiner Methode von diesen drei Faktoren
in weitem Maße unabhängig und darum insofern einfacher ist; auch
gestattet sie, sofern es Zeit und Umstände erfordern, und z.B. die
erste Exposition verschoben oder Puppen von verschiedenem Alter
miteinander exponiert werden sollen, durch Verbringen der Puppen
ın kühlere oder höhere Temperatur den Eintritt und Ablauf des
kritischen Stadiums zu verzögern bezw. zu beschleunigen, während
ein solcher Temperaturwechsel bei der analytischen Methode Proch-
now’s eine umständliche rechnerische Kontrolle erfordern würde.
Aus den beiden vorausgegangenen Abschnitten ergibt sich so-
mit, dass das von mir angewandte Verfahren mit seinem Endeffekt
von 80—100% Aberrationen wohl ebenso leistungsfähig ist wie das
vonO.Prochnow angegebene und dass die dabei befolgte Methode
zur möglichst sicheren Umgrenzung des sensiblen Stadiums auch
als eine wissenschaftliche bezeichnet werden darf.
Wenn übrigens von solch hohen Prozenten die Rede ist, so
bezieht sich eine solche Angabe zunächst immer auf die Arten der
Gattung Vanessa, die von allen bekannten wohl am leichtesten zur
Aberrationsbildung neigen und mit denen darum von jeher und
vorherrschend experimentiert zu werden pflegt, und auch die Proch-
now’schen Angaben beziehen sich, wie aus dem Text seiner Ab-
handlung zu entnehmen ist, nur auf die Vanessen. Entsprechend
verhalten sich nach meinen Beobachtungen auch die nächstver-
wandten Gattungen Polygonia und Pyrameis u.a. Aber hohe und
höchste Prozente bei allen diesen Gattungen würden meines Er-
achtens noch nicht zu der Annahme berechtigen, dass die analytische
Methode auch bei den Arten fernerstehender Gattungen gleich
gute Resultate ergeben müsse. Abgesehen davon, dass es Arten
geben kann, bei denen eine sensible Phase wahrscheinlich überhaupt
nicht vorkommt, bringen auch wirklich „reaktionsfähige“ Arten dem
Temperaturexperiment andere Eigenschaften entgegen als die Va-
nessen. Der Unterschied scheint durch ihr Vorleben ım Ei- und
Raupenstadium bedingt zu sein; denn da die Vanessen ım Ei- und
Raupenstadium gesellschaftlich, d. h. nesterweise leben, sich also
unter annähernd gleichen äußeren Einflüssen und zwar zumeist in
der warmen Jahreszeit entwickeln, bringen auch ihre Puppen durch-
weg gleiche Beanlagungen mit, wenn sie dem Experiment unter-
worfen werden und verändern sich, falls für wirklich (nicht bloß
scheinbar) gleiche Beeinflussung aller Puppen in jeder Hinsicht ge-
sorgt wird, auch ın gleicher Weise, d. h. es treten sehr hohe Pro-
zente ganz gleichsinnig und sogar gleich stark veränderter Aber-
ratıonen auf. So habe ich wiederholt Serien von 50—100 Puppen
von Vanessa urticae probeweise ım Frost exponiert und aus sämt-
lichen Puppen stark veränderte Aberrationen von einer fast er-
müdenden Gleichförmigkeit erhalten.
Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc. 151
Abweichend davon verhalten sich schon die Argynnis-Arten
und zwar offenbar zufolge einer anderen Lebensweise; sie über-
wintern nicht wie die Vanessen im Falterstadium, sondern als
ganz junge oder halb erwachsene Raupen, leben ganz zerstreut
und sind individuell verschiedenen klimatischen Einflüssen ausge-
setzt. Standfuß hat auf Grund negativer Resultate angenommen,
dass die Argynnis-Arten und überhaupt alle als Raupen über-
winternden Arten nur durch Hitze, aber niemals durch Frost-
grade Aberrationen ergeben. Diese Annahme ist indessen als
unrichtig erwiesen, denn auch die Argynnis-Arten ergeben z. B.
beim Frostexperiment ebenso gut und ebenso hochgradig veränderte
Aberrationen wie die Vanessen, ohne dass etwa stärkere Frostgrade
nötig wären, aber man muss entsprechend ihrer anderen Konsti-
tution die Frosteinwirkung etwas anders gestalten.
Einen ganz auffallenden Gegensatz zu allen diesen genannten
Arten bilden nun aber jene, die (wenigstens in einer Generation)
im Puppenstadium überwintern und sehr wahrscheinlich wird für
diese die Prochnow’sche Methode nicht ohne weiteres eine An-
wendung finden können, denn nach bisher gemachten Erfahrungen
tritt bei diesen das sensible Stadium nur bei den Puppen der
Sommergeneration im Anfange, bei den Puppen der Wintergene-
ration dagegen erst am Ende der Puppenentwickelung auf und
nach der nach erfolgtem Experiment festgestellten, sehr verschie-
denen Dauer bis zum Ausschlüpfen des Falters und anderweitigem
Verhalten muss man schließen, dass entweder die sensible Phase
je nach Individuum in verschiedenen Altersstadien eintritt, oder
aber, dass es im Leben dieser Puppen mehr als eine solche gibt.
Als eine weitere Vereinfachung seiner Methode führt O. Proch-
now an, dass er nur eine einzige Exposition benötige, um
selbst die vom Typus am meisten entfernten Aberrationen zu er-
zielen. Wenn man sich den Gang der Flügelentwickelung ver-
gegenwärtigt, so kann schon theoretisch abgeleitet werden, dass
eine einzige Exposition genügt und nicht nur bei Frost-, sondern
namentlich bei Hitzeexperimenten sind schon vor Jahren von
C. Frings, mir und anderen sehr kurze einmalige Expositionen
angewendet und dabei stark veränderte Aberrationen erreicht worden.
Ich ziehe es aber doch immer vor, 2—3 (selten 4) Expositionen
vorzunehmen, weil so eine gleichmäßigere und wohl auch kräftigere
Farbengebung möglich ist. Die Hinter- und Vorderflügel entwickeln
sıch nämlich, wie zuerst Bemmelen nachgewiesen und Standfuß
zur Erklärung der oft nicht gleichzeitigen Veränderung derselben
herangezogen hat, nicht zur gleichen Zeit; die Hinterflügel färben
sich früher als die Vorderflügel und Kontrollversuche mit extremen
Temperaturen haben ergeben, dass auch das kritische Stadium der
Hinterflügel früher eintritt; aber noch bevor es abgelaufen ist, be-
159 Fischer, Berichtigungen zu O. Prochnow’s analytischer Methode etc.
ginnt auch dasjenige der Vorderflügel; sie fallen also in einem
gewissen Zeitpunkte teilweise zusammen, und wird die Puppe in
diesem Zeitpunkte exponiert, so können Hinter- und Vorderflügel
gleichzeitig und ausreichend durch diese einmalige Einwirkung ver-
ändert werden. Aber es will mir scheinen, dass in diesem Falle
die beiden sensiblen Zustände einander nicht ganz gleichwertig seien
und wahrscheinlich liegt darın der Grund, weshalb bei den Proch-
now’schen Versuchen eine „nicht unbedeutende Variabilität von
störendem Einfluss“ war und nicht in allen Versuchen ein voll-
prozentiges Resultat erreicht wurde; denn wenn man die sensibeln
Stadien der Hinter- und Vorderflügel in ıhrem An- und Abschwellen
als zwei wellenförmige Kurven dargestellt denkt, so würde der ab-
steigende Schenkel der ersteren Kurve (also für die Hinterflügel)
etwa in halber Höhe von dem eben ansteigenden der zweiten (also
für die Vorderflügel) geschnitten werden. Absteigender und auf-
steigender Schenkel der beiden Kurven werden aber, auf die phy-
siologischen Prozesse der entsprechenden Flügelpaare bezogen, nicht
gleichwertig sein; die Hinterflügel werden also von der extremen
Temperatur in einer etwas anderen Verfassung getroffen als die
Vorderflügel. Anders verhält es sich aber, wenn zwei Expositionen
vorgenommen werden, von denen die erste im Höhepunkt des krı-
tischen Stadiums der Hinterflügel (im Gipfel der ersten Kurve), die
zweite in dem der Vorderflügel erfolgt, die beide einander eher
gleichwertig sınd als in dem vorhin angeführten Falle. Eine dritte
und eventuell vierte Exposition kann dann dazu dienen, den bereits
erreichten Effekt zu festigen oder zu verstärken. —
Als Ergebnis seiner Prüfungen hat Prochnow beobachtet,
dass jede Puppe der untersuchten Arten eine Aberration ergeben
kann und dass alle Aberrationen einer Art, die aus dem gleichen
Experiment hervorgehen, in der gleichen Richtung vom Typus
abweichen, und er schließt daraus:
1. dass jede Puppe die Anlage zur Aberration in sich trage;
2. dass daher die Aberrativität eine normale (nicht pathologische)
Eigenschaft jeder Puppe sei und
3. dass die Aberrationen als Rückschläge (Atavismen) aufge-
fasst werden müssen.
Jede dieser Beobachtungen ' und Schlussfolgerungen ist eine
volle und fast wörtliche Bestätigung jener Lehrsätze, die ich in
früheren Publikationen und auch im Spuler’schen Werke („Die
Schmetterlinge Europas“) aufgestellt habe. Nur die Art, wie
Prochnow seine Auffassung der Aberrationen als Rückschläge
begründet, kann ich nicht für richtig halten.
Dass die Aberrationen nicht bloß individuelle Farbenspiele
oder gar krankhafte Gebilde sind, ist experimentell und durch ge-
wisse Normalformen unserer Fauna erwiesen. Ob sie aber Formen
Schneider, Die rechnenden Pferde. 453
einer fernen Vergangenheit oder aber der Zukunft sind, ist nicht
leicht zu bestimmen; vieles spricht immerhin dafür, dass sie pro-
gressive oder Zukunftsformen sein können. Aber vielleicht sind
unsere Ansichten über Rückschlag und Zukunftsformen überhaupt
nicht ganz richtig und bedürfen einer Neugestaltung. Prochnow
macht wohl selber eine entsprechende Andeutung, wenn er p. 303
von einem „wenigstens partiell atavistischen Charakter“ spricht.
Aus dem Umstande aber, dass alle Puppen in der gleichen Rich-
tung aberrieren, folgt, wie mir scheint, durchaus noch nicht, dass
die Aberrationen Rückschläge sein müssten. Mit gleicher Be-
rechtigung könnte man sie auf jene Tatsache hin als reine Re-
aktionsprodukte im Sinne von Neubildungen auffassen, denn da
z. B. unter normalen Verhältnissen sämtliche Puppen einer Vanessen-
art Falter ergeben, die einander zum Verwechseln gleichen, so
müssen solche Puppen auch gleiche Eigenschaften (ohne individuelle
Neigung zu Abirrungen) in sich tragen; folglich werden solche
Puppen auf gleiche experimentelle Behandlung, z. B. mit Frost von
— 12° C., auch in gleicher Weise reagieren, also in gleicher Rich-
tung vom Normaltypus abweichen, so dass man diesen Vorgang
bildlich etwa durch den mathematischen Lehrsatz ausdrücken könnte:
Gleiches zu Gleichem addiert, gibt Gleiches. Daran wird nichts
Wesentliches geändert, wenn man die Wirkung der Frost- und
Hitzegrade als eine die Entwickelung hemmende auffasst.
Prochnow stellt zwar p. 307 ın Aussicht, dass der Nachweis
des Rückschlages durch früheren oder späteren Beginn der Tempe-
ratureinwirkung möglich sein könnte, weil auf diese Weise ein
älteres bezw. jüngeres phyletisches Zeichnungsstadium bei der onto-
genetischen Wiederholung festgehalten werden könnte. Es ist
jedoch wahrscheinlicher, dass hierbei nicht bloß die frühere oder
spätere Exposition, sondern die Stärke und Dauer der Frost-
oder Hitzegrade den Ausschlag geben und darum der von Proch-
now vermutete Entscheid auf diesem Wege nicht möglich ist.
Die rechnenden Pferde.
Erwiderung auf ©. Schröder’s Kritik.
Von K. C. Schneider, Wien.
Erst vor kurzem erhielt ich — ich wohne, da seit 2 Jahren
beurlaubt, nicht in Wien — Kenntnis von einem Artikel ©. Schrö-
der’s, Berlin, im Biolog. Gentralblatt (Nr. 9 des XXXIV. Bandes),
der dıe rechnenden Pferde behandelt und sich vor allem gegen
meine in Nr. 3 des XXXIII. Bandes entwickelte Auffassung über
die Leistungen der Elberfelder Pferde wendet. Anderweitige Ar-
beiten hielten mich ab, den Angriff sogleich zu beantworten; auch
kann ich ihm keinen besonderen Wert beilegen und antworte auch
154 Schneider, Die rechnenden Pferde.
jetzt nur, weil Schröder mir Ansichten unterschiebt, die ich nicht
geäußert habe. Der Angriff ıst typisch für die vulgäre Art und
Weise, wıe man Angaben von Gegnern behandelt. Schröder
kann meinen Artikel nur ganz flüchtig gelesen haben, jedenfalls
hat er ihn nicht verstanden; die Polemik wäre andernfalls ganz
überflüssig gewesen.
Meine Ansicht lautete dahin, dass die Rechenleistungen der
Krall’schen Pferde nicht dafür beweisend sind, dass sich die
Menschen aus den Tieren entwickelt haben. Denn die mathematische
Veranlagung ist eine apriorische und wird nicht durch Erfahrung
erworben; auch haben die Pferde nicht das geringste Bestreben,
sie durch Übung zu vervollkommnen. Nun wendet Schröder mir
zunächst ein, dass die Pferde ja nicht nur rechnen, sondern auch
reden sollen. Als wenn ich das nicht selbst gewusst und auf p. 178
erwähnt hätte! Aber dass Tiere reden können, das habe ich be-
reits früher anerkannt und in dieser Hinsicht konnten mich die
Pferde nichts Neues lehren. Die mathematische Veranlagung aber
bei Tieren hatte ıch bestritten, weil Mathematik mir, auf Grund
der Lektüre logistischer Schriften, echt logischer Natur zu sein
schien, was ich jetzt nicht mehr annehme. Ich bestreite nicht ım
geringsten, dass man die Mathematik weitgehend logisch vertiefen
kann — sind doch die Metageometrien derart entstanden —, aber
es kann meiner Meinung nach nicht dein geringsten Zweifel unter-
liegen, dass es auch einen Formen- und Zahlensinn gibt, die im-
stande sınd, schwierige Aufgaben einfach durch Anschauung zu
lösen. Nur so verstehen wir die Fälle abnormen mathematischen
Talents bei Kindern und Idioten und — eben auch bei den Pferden!
Denn dass die wirklich rechnen, das ist durch Schröder’s Be-
hauptungen nicht ım geringsten widerlegt.
Dies zur Einleitung. Wer mich widerlegen will, der muss vor
allem zeigen, dass die Mathematik empirischer, nicht apriorischer
Natur ist. Schröder macht es sich bequem. Er unterschiebt mir
als Gewährsmann Schopenhauer und da kommt er leicht zurecht.
Ich habe mich aber in dieser Hinsicht gar nicht auf Schopen-
hauer berufen, denn dieser verstand von Mathematik vielleicht
sogar noch weniger als ich. Ich berief mich (p. 172) auf Cou-
turat, Russel und Royce, also auf echte Mathematiker, und hätte
auch Hilbert, Voss, Dedekind, Cantor und viele andere
zitieren können, wenn ich das für nötig gehalten hätte. Es dürfte
schwer sein, diese Denker zu widerlegen, jedenfalls genügt mir
ihre Autorität gegenüber Schröder, dessen Einwände herzlich
schwach sind. So sagt er p. 598: „Schon die Tatsache, welche
bekannt genug ist, dass verhältnismäßig nur wenige Menschen in
das Verständnis dieser Wissenschaften (nämlich der höheren Ana-
lysıs und deren Anwendung auf die Geometrie) einzudringen ver-
Schneider, Die rechnenden Pferde. 155
mögen, hätte verhindern sollen, in der Mathematik ein apriorisches
Vermögen zu sehen.“ Ich folgere aus dieser Tatsache gerade das
Gegenteil von Schröder. Mathematik setzt eben ein angeborenes
Spezialtalent voraus, eines, von dem der Mathematiker Pasch ın
Gießen sagen konnte, es müsste der menschlichen Natur ım Grund
zuwider laufen (zitiert aus Pringsheim’s Artikel: Wert und. Un-
wert der Mathematik, in Zukunft Bd. 12, Nr. 34, p. 308). Im Reden
bringen wir es alle durch Übung weit, im Rechnen versagen offen-
kundig sehr viele rasch; wie kann man da folgern, es wäre Mathe-
matik aus dem Empirischen abzuleiten? — Übrigens kenne ich
Mach’s und anderer Autoren Gründe für eine empiristische Theorie
der Mathematik, finde durch sie aber die Argumente der oben
zitierten Denker nicht entwertet.
Schopenhauer habe ich nicht ın Hinsicht auf die Apriorität
der Mathematik zitiert, sondern in Hinsicht auf eine besondere an-
schauliche Evidenz ın dieser. Er redet von einer ratio essendi in
der Geometrie und Arıthmetik, die er mit Nachdruck von der ratio
cognoscendi im Logischen unterscheidet und aus der räumlichen
und zeitlichen Form des Bewusstseins — mit Kant — ableitet.
Die ratio essendi wird in der Geometrie selbst von Couturat an-
erkannt und in der Arıthmetik vertritt sie z. B. Voss, der da
sagt: Es handelt sich ın der Mathematik um die extensiven
Größen im Sinne von Kant, und der die Ariıthmetik direkt als
„Wissenschaft von der Zahl“ von der Logik unterscheidet (siehe:
Über das Wesen der Mathematik, 2. Aufl., 1913). Bei Natorp
(Die logischen Grundlagen der Naturwissenschaften) und bei Poin-
car& (Wissenschaft und Methode) findet sich entsprechendes.
Überall wird anerkannt, dass die Logik zwar für die Entwickelung
der Mathematik höchste Bedeutung hat, dass dieser aber auch
eigene Bestandteile zukommen, die sie von der Logik zu unter-
scheiden gestatten. Eben diese Besonderheiten sind es, an die wir
anknüpfen müssen, um das Pferdethema zu bewältigen. Das ist
aber ein Punkt, der mit der Aprioritätsfrage gar nichts zu tun hat.
Schröder muss meinen Artikel sehr flüchtig gelesen haben, dass
er mir betreffs Schopenhauer so Inn annes nachsagen konnte.
Über die Komplexität der Mathematik ea. ich hier ein
kurzes Wort einflechten. Wir haben an ihr vier Komponenten zu
unterscheiden. Die erste und sozusagen natürliche Komponente
ist die Anschaulichkeit der Mathematik. Insofern es sich in ihr
um extensive Größen, also um Formen (in der Geometrie) und um
Zahlen (in der Arithmetik) handelt, herrscht Anschaulichkeit in ihr,
über deren Grenzen sich nicht ohne weiteres bestimmtes aussagen
lässt. Wenn Schopenhauer meint, dass unsere unmittelbare An-
schauung der Zahlen nicht weiter als etwa bis Zehn reicht, so
scheint mir das ebenso unzulänglich, wie wenn Georg Müller,
156 Schneider, Die rechnenden Pferde.
Göttingen, in der Umschau (1912) meint, dass die hervorragenden
rechnerischen Leistungen eines Mathematikers aus dem bloßen
sinnlichen visuellen Gedächtnis nicht zu erklären sind. Anschauung
der Zahlen ist etwas ganz anderes als visuelles Gedächtnis und in
ihrem Gegebensein vermutlich größten Differenzen unterworfen.
Man untersuche die abnormen Fälle — aber nicht bei methodisch
vorgehenden Mathematikern — genauer und wird jedenfalls ganz
unerwartete Aufschlüsse über einen „Zahlensinn“ erhalten. — Die
zweite Komponente an der Mathematik ist die Logik. Diese hat
es ım Grunde gar nicht mit Zahlen und Formen zu tun, sondern
mit den Operationen des Bewusstseins dabei, für die sie grund-
legende Gesetze als Normen, die auf jeden Fall zu befolgen sind,
aufstellt. Sie ıst neben dem anschaulichen Teil der gesetzgeberische
in der Mathematik. -— Die dritte Komponente bedeutet die wissen-
schaftliche Erforschung des Gegenstandes, die einerseits als Me-
thodenlehre zu charakterisieren ist, anderseits die Gründe, aus denen
heraus Mathematik entstanden ist, untersucht. — Die vierte Kom-
ponente endlich wäre die Anwendung der Zahlen auf die Erfahrung,
worüber weiteres nicht ausgesagt zu werden braucht.
Selbstverständlich macht es zurzeit große Schwierigkeiten, die
einzelnen Komponenten scharf zu unterscheiden, was aber an ihrer
Existenz zu zweifeln nicht gestattet. Es ist ein wahres Glück, dass
wir die Elberfelder Pferde haben, die zur genaueren Untersuchung
des Gebietes drängen. Krall hat in dieser Hinsicht große indirekte
Verdienste, die sich allmählich mehr und mehr werden bemerkbar
machen.
Nun weiter zum Thema. Schröder benutzt die Erfahrungen
an Kindern, um Krall zu widerlegen. Das ist eine ganz unzuläng-
liche Beweisführung. Jede neue Erfahrung kann unser Wissen in
irgendeiner Hinsicht sprengen; weil Menschen fast durchweg nur
langsam ım Rechnen vordringen, kann doch bei Pferden ein be-
sonderer Zahlensinn gegeben sein, der sie spielend vorwärts führt.
Und Kinder sollen „denkend“ rechnen lernen! Das heisst gerade:
wenn sie einen angeborenen Zahlensinn haben, so dürfen sie ıhn
doch nicht anwenden, weil sie beim Rechnen zugleich Denken lernen
sollen. Man hindert sie an dem, was eigentlich das Natürlichste
ist, und schließt dann auf geringe Veranlagung! Ich habe gar nichts
gegen die heutige Lehrmethode einzuwenden, denn Denken ist mir
auch wichtiger als Rechnen. Ferner habe ıch gar nichts dagegen
gesagt, dass das Rechnen, so wie es in den Schulen betrieben wird,
ein vorzügliches Mittel der menschlichen Geistesbildung sei, wie
Schröder auf p. 601 anzudeuten sucht. Ich habe weiterhin nicht
im geringsten behauptet, dass das Rechnen die Mathematik er-
schöpfen soll, wie es auf p. 598 heisst. So schlecht ich ın Mathe-
matik unterrichtet bin, so weiß ich doch auch etwas von höherer
re
Schneider, Die rechnenden Pferde. 157
Analysis und habe den höchsten Respekt vor ihr. Aber wer be-
weist, dass Differentiationen und Integrationen nur mit Hilfe der
Logik möglich sind? Und sind etwa die Menschen so rasch zur
höheren Analysis gekommen? Von der Funktionenlehre, vom
Koordinatenbegriff, vom Infinitesimal und Integral hatten die Alten
noch keine Ahnung und waren doch zweifellos tüchtige Mathe-
matiker. Ich weiß eigentlich nicht, was mir Schröder mit seinen
diesbezüglichen Ausführungen am Zeuge flicken will. Was ihm
gerade einfällt und für seinen Begriff passt, daraus macht er eine
Waffe gegen mich, magihre Anwendung an sich auch ganz sinnlos sein.
Vor allem freut ihn, was ich über das eventuelle Zählen der
Bienen bei ıhren Arbeiten, über das Rechnen des Hundes beim
Sprunge sage, und er benutzt es, mich durch einen Witz abzu-
führen. Ich fühle mich dadurch nicht geschlagen, denn meiner
Überzeugung nach spielen sich in der Psyche eines Insekts und
eines Säugers mehr Prozesse ab als wir jetzt ahnen. Ohne dass
sie deshalb dächten! Schröder meint (p. 603): Die Aufnahme von
Einheiten im Rhythmus und das Zählen sind grundverschiedene
Dinge. Woher weiß er das? Ich möchte doch wissen, wie er einen
Rhythmus beim Mangel einer formativen (numerativen) Komponente
des Bewusstseins überhaupt feststellen könnte. Das Messen und
Zählen spielt beim kleinen Kind schon eine Rolle, wenn es erfasst,
dass die Umgebung ıhm nicht direkt am Auge klebt, sondern
distanziert ist; wenn es überhaupt eine Vielheit unterscheidet.
Logisch bleibt das ganz unbewusst und darum behaupten dann die
Schulmeister, dass Kindern das Rechnen so schwer falle, wenn sie
es denkend meistern sollen; aber ın der Anschaulichkeit kann vieles
bereits bewältigt sein, bevor der Verstand sich ihm zuwendet, es
entwertet und neue Grundlagen schafft. Warum stellte denn ein
Helmholtz die Lehre von den unbewussten Schlüssen zur Er-
klärung der Raumanschauung auf? Weil er zugeben musste, dass
unbewusst — ich wiederhole nochmals: denkend unbewusst! —
Hervorragendes geleistet wird bei Abschätzung einer Entfernung.
Darum ist die mathematische Befähigung eines Hundes nicht ohne
weiteres abzulehnen, von den Bienen ganz zu geschweigen. Es ist
billig, Witze darüber zu reißen; besser wäre ein wenig Vertiefung
in die Probleme.
Wie wenig überhaupt die Logik bei der Behandlung des Pferde-
problems strapaziert wird, das zeigt folgende Bemerkung Schrö-
der’s. Er betont, dass neuerdings viel Stimmen über den offen-
kundigen Rückgang der Pferde in Hinsicht auf ihre sogen. Leistungen
berichten, und findet darin einen Gegenbeweis gegen deren Können.
„Während der Unterricht ... den Menschen zu fortschreitender
Vertiefung und höherer Leistung auf geistigem Gebiete, immer mehr
innerem Zwange folgend, treibt, ist das Verhalten der Pferde nie
158 Schneider, Die rechnenden Pferde.
über die Mohrrübendressur hinausgegangen“ (p. 609—610). Aber
wie kann denn der Rückgang der Pferde etwas beweisen, wenn
man ihnen eigene Fähigkeiten bestreitet und behauptet, dass ihre
Leistungen nur das Können Krall’s spiegeln? Dann würde höch-
stens folgern, dass der Lehrer an Fähigkeit zurückgegangen ist, was
eben an den Tieren zum Ausdruck käme. Nicht sie versagen,
sondern der, der sich mit ıhnen abgibt. Mir ist gerade dieser
Rückgang Beweis, dass die Tiere selbständig gearbeitet haben.
Dass weder unbewusste noch bewusste Hilfen sie nötigten, noch
das Gedächtnis, das Schröder auch sehr betont, für ıhr Können
in Betracht kommt. Warum sollten denn Krall und andere Ex-
perimentatoren nicht mehr so gut rechnen wie früher? Warum
sollte das Gedächtnis beı jungen Tieren so rasch nachlassen? Der
eigentliche Grund liegt auf der Hand: das Können der Pferde war
ihnen, wenn auch möglich, doch nicht naturgemäß, und deshalb
wurde es allmählich wieder von den natürlichen Trieben übertönt,
nachdem es eine Zeitlang künstlich aufrecht erhalten worden war.
Mir ist der ganze Angriff Schröder’s gegen mich eigentlich
unbegreiflich. Er kann mir nicht den geringsten Widerspruch
nachweisen und steht ım wesentlichen ganz auf meinem Grund und
Boden, nämlich auf der Anschauung, dass die Befunde an den
Pferden für die Entwickelungslehre nichts beweisen. P. 608 sagt
er: Einem solchen Ansteigen (d. h. einer progressiven Evolution)
würden die Leistungen der Pferde, wenn sie auf ihrem eigenen
Denkvermögen beruhten, ganz bestimmt widersprechen.“ Da möchte
ich schier fragen: Wozu der Lärm? Um so mehr als ich im Grunde
ja nur darlege, wie man sich die Leistungen der Pferde zu er-
klären vermag, vorausgesetzt, dass sie wirklich gegeben sind! Wohl
wahr, ich nehme an, dass sıe wirklich gegeben sınd, da ich sie mir
eben zu erklären vermag. Aber selbst festgestellt habe ich doch
gar nichts und dass Krall nicht sich hätte ırren können, kann ich
auch nicht behaupten. Selbst wenn er sich geirrt hat, kann das
meine Theorie nicht berühren. Die Möglichkeit, dass höhere Tiere
rechnen können, würde ıch auch dann noch vertreten, denn an den
Grundlagen meiner Theorie kann ich nicht zweifeln, weil sie logisch
entwickelt sind. Ich habe es schon in meinem Artikel betont und
betone es nochmals, dass ohne grundlegende Hypothesen Wissen-
schaft überhaupt nicht möglich ist und halte eine Hypothese für
viel wichtiger als eine Tatsache; denn Tatsachen kann man immer
finden, Hypothesen liegen aber nicht auf der Straße herum. Und
hat etwa Schröder nicht eine grundlegende Hypothese, von der
er bei seinen Erörterungen ausgeht? Auch nach ihm, wie nach
mir, sollen die Pferde nıcht denken können — wenigstens spricht
das deutlich aus jeder Zeile seines Artikels, wenn er auch am
Schlusse sagt: seine Weltanschauung würde an „denkenden“ Tieren
Schneider, Die rechnenden Pferde. 159
keinen Schiffbruch leiden. So ist es denn nur die Beurteilung der
Mathematik, die uns eigentlich trennt. Aber auch da sind die Diffe-
renzen überbrückbar, ja sie sind vielleicht gar nicht vorhanden,
sondern beruhen nur auf Missverständnissen. Wenn Schröder
sich ein wenig mehr Mühe gibt, mich nicht misszuverstehen, so
werden wir uns ganz gut zusammenfinden.
Zum Schlusse möchte ich einen Wunsch aussprechen. Man
möge sich doch nicht solche Blößen geben als es die Art und Weise,
wie man über Krall’s Vorgehen redet, bedeutet. Ist es nicht
geradezu empörend, wie dieser doch auf jeden Fall verdienstvolle
Mann, dessen Glaubwürdigkeit alle, die ıhn kennen, betonen, von
seinen Gegnern behandelt wird? Sind seine Methoden nicht ein-
wandfrei, so prüfe man die eigenen, ob sie besser sind. Wie
Schröder vorgeht, das habe ıch oben charakterisiert; ich finde
nicht, dass seine logische Behandlung der Themen einwandfrei sei.
Er wirft unter anderem Krall vor, dass er mit seinen Untersuchungen
eine vorhandene Anschauung beweisen wollte und findet darin den
gänzlichen Mangel an wissenschaftlich prüfendem Zweifel beı ihm
(p. 595—596). Ja, ıst das nicht geradezu ein Nonsens, den er da
ausspricht? Sind nicht die wahrhaft großen bewundernswerten
Entdeckungen, z. B. eines Hertz, Paul Ehrlich, Arrhenius u.a.
allein durch vorweggegebene Hypothesen, die in Experimenten veri-
fiziert wurden, möglich geworden? Wie ich schon sagte: Hypo-
thesen sind wichtiger als Tatsachen, denn sie führen unbedingt zu
Tatsachen, während der umgekehrte Weg nur ein zufälliger ist.
Wieviel Kritik bei solchen Verifikationen aufgewendet wird, das
kann der Fernstehende oft nur sehr schwer ermessen.
Wie stand es bei Abfassung des berüchtigten Protestes gegen
Krall, den so viel Zoologen unterschrieben? Gingen die etwa
nicht von einer vorgefassten Meinung aus? Ich anerkenne zwar,
dass jeder Standpunkt ein Recht auf Selbstverteidigung hat, denn
in gewisser Hinsicht ist er sicher unangreifbar; aber es wirkt depri-
mierend, wenn nun ein Gegner gleichsam vogelfrei erklärt und über
ihn ein Gift ausgespritzt wird, das nur den also Vorgehenden
schändet. Der Protest war wahrhaftig kein Ruhmesblatt in der
Geschichte der modernen Zoologie.
Außerst kritiklos mutet es mich auch an, wenn man Krall immer
wieder den Vorwurf macht, dass er wissenschaftliche Kommissionen
zur Untersuchung seiner Pferde ablehne. Die heutigen physio-
logischen Untersuchungsmethoden des Seelischen können dessen
Feinheiten absolut nicht gerecht werden; es bedarf eines Kontakts
von Seele zu Seele, wenn so schwerwiegende Probleme geprüft
werden sollen. Gerade neuerdings arbeitet die Psychologie des
Denkens neue Methoden aus, über die Külpe zusammenfassend in
einem Artikel der internat. Monatsschr. f. Wissenschaft, Kunst und
160 Sedgwick und Wilson, Einführung in die allgemeine Biologie.
Technik: Über die moderne Psychologie des Denkens (1912), be-
richtet. Da lesen wir, wie wenig die alten Methoden sich bewährt
und wie viel überraschend Neues die moderne Behandlung bereits
zutage gefördert hat. Man hat das Denken als etwas Selbständiges
sozusagen überhaupt erst entdeckt. D. h. meiner Ansicht nach
handelt es sich nıcht um das Denken, sondern um eine besondere
gnostische Anschauungsweise, auf die ich in meinen tierpsycho-
logischen Praktikum ausführlich eingegangen bin. Jedenfalls um
ein psychisches Geschehen handelt es sich, das bis jetzt noch nicht
genauer gewürdigt wurde, gerade aber auch in Hinsicht auf höhere
Tiere ın Betracht kommen dürfte. Von ıhm ausgehend sollte man
sich der mathematischen Veranlagung zuwenden, da wäre vielleicht
eine neue Einbruchspforte zu gewinnen. Auch an Freud’s psycho-
analytische Methode und an Ach’s Methoden der Bestimmung
indeterminierter Handlungen möchte ich erinnern. All diese neuen
Methoden zeigen, wie heutzutage in der Psychologie alles in Fluss
ist, und da will man es Krall verübeln, dass er gegen die An-
wendung unzulänglicher alter Methoden, noch dazu durch Kom-
missionen, bei seinen Pferden sich ablehnend verhält. Recht hat
er, tausendmal recht! Und er hat den Trost, dass auch besonnene
Naturforscher ihm zustimmen. Jedenfalls wird er die Zukunft auf
seiner Seite haben.
Spitz a. Donau, 15. Dez. 1914.
W.T. Sedgwick und E. B. Wilson. Einführung in die
allgemeine Biologie.
Autorisierte Übersetzung von R. Thesing. 8. X und 302 S. Leipzig und Berlin
1913. B. G. Teubner.
Die Bücher über allgemeine Biologie sind in den letzten Jahren
sehr zahlreich geworden. Ein jedes derselben zeigt gewisse Be-
sonderheiten, durch die es sich vor ähnlichen auszeichnet. Aber
immer häufiger finden wir einen Gang der Darstellung, der meines
Wissens auf Huxley und Parker zurückzuführen ıst: Nach einer
grundlegenden Einleitung wird der eigentliche Lehrgang an einem
bestimmten Lebewesen eingehend erläutert, von welchem spe-
ziellen Teil aus das Gesamtbild Leben und Charakter erhält. Im
vorliegenden Werkchen ist es der Regenwurm für die Tiere, das
Farnkraut für die Pflanzen, welche als Paradigmata dienen. Ihnen
folgen dann Kapitel über die einzelligen Organısmen, Amoeben,
Infusorien, Protococeus, Hefen, die Organismen eines Heuaufgusses.
Zum Schluss werden Anleitungen für Arbeiten ım Laboratorium
und für Demonstrationen gegeben.
Die Übersetzung ist gewandt und liest sich gut. Sie wird
durch eine große Zahl guter Abbildungen bestens unterstützt. P.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Oentralblatt
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem &esamtgebiete der Botanik
an Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Luisenstr. 27, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
Bd. XXXV. 20. April 1915. N 4.
Inhalt: De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme in Samen durch Druck.
— Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten von Sederov und
Kammerer. — Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. —
Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller For-
schungen bei den Ameisen. — Wasmann, Das Gesellschaftsleben der Ameisen. Das Zu-
sammenleben von Ameisen verschiedener Arten und von Ameisen und Termiten. Ge-
sammelte Beiträge zur sozialen Symbiose bei den Ameisen.
Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme
in Samen durch Druck.
Von Hugo de Vries.
Wie die Samen der meisten anderen Pflanzen, keimen auch
diejenigen der verschiedenen Arten der Gattung Oenothera beim
Befeuchten mit Wasser nur teilweise sofort. Manche Körner bleiben
in der feuchten Erde Wochen oder Monate, nicht wenige sogar
jahrelang in Ruhe, bevor sie austreiben. Diese verspäteten Körner
werden als makrobiotische bezeichnet; man kann sie auch einfach
Trotzer nennen. Der Gehalt der einzelnen Ernten an ihnen schwankt
je nach Umständen; oft hat man Proben, welche innerhalb weniger
Tage nahezu vollständig keimen, oft aber auch erhält man auf
Tausende von Samen nur ganz einzelne Keimpflanzen.
Bei den mutierenden Arten liegt die Möglichkeit offenbar vor,
dass diese trotzenden Samen mehr Aussicht auf neue Typen bieten
als die schnell keimenden. Deshalb schien es mir wichtig, eine
Methode auszuarbeiten, welche es ermöglichen würde, sämtliche
oder doch nahezu sämtliche keimfähige Körner innerhalb der ge-
wöhnlichen Zeitfrist auch wirklich zum Keimen zu bringen. Nur
xXXXV. 11
162 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
in dieser Weise erhält man eine Aussicht, das Mutationsvermögen
einer gegebenen Art erschöpfend kennen zu lernen und neue Arten
in dieser Beziehung vollständig beurteilen zu können. Neben O. La-
marckiana und O. biennis zeigen bis jetzt etwa ein halbes Dutzend
von Arten aus derselben Gruppe Mutationserscheinungen, und die
Annahme scheint durchaus berechtigt, dass eine weit größere Zahl
sich in derselben Weise verhalten wird.
Die trotzenden Samen bleiben nach der Aussaat im Innern
trocken; das Wasser des Bodens dringt nicht in sie hinein: Sobald
solches aber der Fall ıst, fängt die Keimung an, vorausgesetzt, dass
der Keim noch lebensfähig ıst. Dieses dauert bei den von mir auf-
bewahrten Samen in der Regel mehrere Jahre; nach 5 Jahren darf
man noch auf eine ausreichende Keimung rechnen, dann aber nımmt
der Prozentsatz ziemlich schnell ab. Von der Ernte von 1907
keimen jetzt noch manche Proben ın ausreichender Weise, manche
andere aber sind bereits völlig abgestorben. Samen von 1905
keimen noch in einzelnen Fällen; ältere Samen lohnt es sich über-
haupt nicht mehr auszusäen. Beal erwähnt einen Versuch, in
welchem er Samen von einer amerikanischen Form von O. biennis
in angefeuchtetem Sande in einer Flasche in einer Tiefe von etwa
einem Meter im Boden eingegraben hat. Nach einem Aufenthalt
von 25 Jahren fand er noch keimfähige Samen').
Pammel und Miss King haben neuerlich das Verhalten dieser
trotzenden Samen bei Pflanzen aus verschiedenen Familien studiert,
und die wichtigsten Ergebnisse aus der früheren Literatur zusammen-
gestellt?). Seit 1901 untersuchen sie die Keimfähigkeit von Un-
kräutern aus dem Staate Iowa unter den verschiedensten Bedin-
gungen. Stratifizieren oder Aufbewahren in feuchtem Sande zeigte
sich im allgemeinen als günstig; namentlich wenn die Samen im
Winter dem Froste ausgesetzt wurden; manche Arten keimen ohne
eine solche Vorbereitung, d. h. bei trockenem Aufbewahren, nicht
oder fast gar nicht, aber nachher sehr kräftig. Die Zunahme der
Keimkraft, bezw. dıe erforderliche Dauer des Stratifizierens war bei
verschiedenen Arten sehr großen Schwankungen unterworfen, je
nach der Härte der äußeren Samenhaut.
In den Samen der Oenotheren bildet die äußere Samenhaut
aber nicht die Hartschicht. Das äußere Integument der Samen-
knospen besteht aus mehreren Zellenschichten, nimmt aber um die
Mikropyle herum an Dicke zu. Diese Zellen erhärten nicht, sondern
bilden ein lockeres, pseudoparenchymatisches Gewebe, welches beim
Reifen austrocknet und zusammenschrumpft. Bei Benetzung be-
1) Proc. Soc. Prom. Agric. Sci. T. 26, S. 89, 1905.
2) L. H. Pammel and Charlotte M. King, Delayed Germination,
Proceedings Iowa Academy of Science Vol. XV, Contributions Botanical Department
Iowa State College of Agriculture and Mechanie Arts, Nr. 45, S. 20.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 163
feuchtet es sich sofort und in allen Körnern, ohne damit aber not-
wendigerweise ein Aufquellen des Keimes zu veranlassen. Denn
die Hartschicht wird hier von dem inneren Integumente gebildet,
welches nur aus zweı Zellschichten besteht, mit Ausnahme der
nächsten Umgebung der Mikropyle, welche etwas dicker wird. Beim
Reifen der Samen färbt sich dieses Integument etwas dunkler gelb
bis braun, namentlich in seiner innersten Schicht und bereits in
unreifen Samen bietet diese dem Eindringen von Fixierungsfiüssig-
keiten bedeutenden Widerstand’).
Die Dauer der Zeit, während welcher aufbewahrte Samen noch
am Leben bleiben können, ıst bekanntlich für verschiedene Arten
eine sehr verschiedene*). Namentlich unter den Leguminosen, dann
aber unter den Malvaceen und den Labiaten kommen langlebige
Arten vor. Ferner unter den Cruciferen und den Gräsern, u. S. w.
Ganz besonders scheint die Erscheinung unter den Unkräutern der
Kulturfelder verbreitet zu sein. Vielleicht hängt dieses damit zu-
sammen, dass das Trotzen die betreffenden Arten befähigt, die Jahre
zu überleben, in denen sie nicht zur Entwickelung oder doch nicht
zum Hervorbringen reifer Samen gelangen können. Am besten ist
die ganze Erscheinung wohl für die sogen. kleineren Kleearten (gelb-
blühende Arten von Trifolium, Arten von Medicago, Melilotus u. s.w.)
bekannt. Diese keimen oft im ersten Jahre nach der Aussaat gar
nicht und sind aus diesem Grunde vielfach als Kulturpflanzen un-
brauchbar. In der Praxis werden sie, namentlich in Schweden,
vor der Aussaat in größeren Maschinen angefeilt, und diese Behand-
lung bringt ihre Keimfähigkeit oft auf nahezu 100%, d. h. lässt
nahezu alle Körner sofort nach der Aussaat keimen.
Dass die Keime trotzender Samen in feuchter Erde trocken
bleiben, ergibt sich auch aus der bekannten Tatsache, dass manche
unter ihnen in diesem Zustande die Hitze des kochenden Wassers
ertragen können. In meinen Kulturen wird die Erde für die Saat-
schüsseln bei etwa 95° C. sterilisiert. Dadurch werden auch die
Unkrautsamen in der Regel getötet, aber Samen von Kleearten
überleben dieses Sterilisieren nicht gerade selten und keimen dann
zwischen den Oenotheren.
Außer durch Anfeilen kann die Hartschicht trotzender Samen
durch geeignete Behandlung mit verschiedenen chemischen Verbin-
dungen für Wasser permeabel gemacht werden, und namentlich
Schwefelsäure wird dazu vielfach benutzt. Ich habe entsprechende
Versuche mit den Samen der Oenotheren gemacht, aber die lockere
3) J. M. Geerts, Beiträge zur Kenntnis der Cytologie und der partiellen
Sterilität von Oenothera Lamurckiana, Amsterdam 1909, S. 31—33.
4) Vergl. namentlich A. J. Ewart, Proc. Roy. Soc. of Victoria T. 21, Prt. I,
S.1, 1898. Ewart beobachtete die Keimung von Samen von Malvaceen, Legumi-
nosen und anderen, welche 55—77 Jahre lang aufbewahrt worden waren.
LE
164 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
äußere Samenhaut erschwert das nachträgliche Auswaschen der
Säure, und bietet dieser somit die Zeit, um in den Keim einzu-
dringen und diesen zu töten.
Außer dieser und anderer gebräuchlicher Methoden habe ich
verschiedene Mittel versucht, um die Keimkraft der Samen von
Oenothera zu erhöhen, wie bedeutende Wechslungen in der Tempe-
ratur des umgebenden Wassers, Einwirkung von Temperaturen in
der Nähe der Lebensgrenze (40—50° C©. und höher), u. s. w., aber
ohne damit merkliche Erfolge zu erzielen.
Dann habe ich mich entschlossen, das Wasser unmittelbar ın
die Samen hineinzupressen, in der Hoffnung, damit den Keim zu
erreichen und diesen zum Aufquellen zu bringen. Ich ging dabeı
von der geläufigen Ansicht aus, dass die quellenden Samen das
Wasser durch feine Risse ın ihrer Hartschicht, für gewöhnlich also
in ihrer äußeren Samenhaut aufnehmen. Diese Risse befinden sich
teils in der Gegend der Mikropyle, teils zerstreut über den ganzen
Umfang des Kornes. In den Samen der Oenotheren sind sie ım
inneren Integumente anzunehmen, wie aus der oben gegebenen
Beschreibung hervorgeht. Diese Risse sollen durch die kutikulari-
sierten äußeren Schichten der Hartschicht bis in die angrenzen-
den weicheren Zellhäute oder Zellhautschichten führen. Sind sie
mit Wasser gefüllt, so ermöglichen sie dessen Eintritt in den Keim,
und durch das Aufquellen des Keimes werden dann bald einige
unter ihnen derart erweitert, dass die Aufnahme von Wasser all-
mählıch erleichtert und beschleunigt wird.
In den trockenen Samen, muss man aber annehmen, sind diese
äußerst feinen Rısschen mit Luft erfüllt. Wird nun die Hart-
schicht befeuchtet, so kann das Wasser in diese Risse nur dadurch
eindringen, dass es die Luft in ihnen auflöst. Man nımmt nun an,
dass dieses nur in den weitesten Risschen ausreichend schnell statt-
finden kann, um die Keimung innerhalb einiger Tage anfangen zu
lassen, dass aber ın den trotzenden Samen auch die größten Risse
so eng sind, dass das Wasser nur ganz allmählich vordringen kann,
und Wochen, Monate oder Jahre braucht, um die tieferen nicht
kutikularisierten Wände der Risse zu erreichen. Sobald diese aber
erreicht sind, kann auch dann das Aufquellen des Keimes anfangen.
Ich habe die Gültigkeit dieser Erklärung nicht durch eine mikro-
skopische Untersuchung geprüft, sondern einfach aus ihr das Prinzip
meiner Methode abgeleitet. Und da ich meinen Zweck erreicht
habe, glaube ich, dass dieser Erfolg wenigstens als ein Beweis für
die Brauchbarkeit der Vorstellung betrachtet werden darf.
Presst man Wasser künstlich ın die Risse der Hartschicht
hinein, so wird man die Luft in ihnen komprimieren und damit ein
Eindringen bis an die zarteren Teile der Risswände befördern.
Außerdem aber beschleunigt man das Auflösen der Luft in dem
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 465
Wasser und hierdurch muss, nach kürzerer oder längerer Frist,
eine völlige Ausfüllung der Risse mit Flüssigkeit erreicht werden.
Ob dieses letztere erforderlich ist, dürfte schwer zu entscheiden
sein, ist aber für die Praxis der Anwendung meiner Methode offen-
bar gleichgültig.
Es handelt sich im wesentlichen darum, wie stark der Druck
sein muss und wie lange er einwirken muss. Und da die ruhenden
Samen im Boden nach sehr verschiedenen Zeiten zu trotzen auf-
hören, darf man annehmen, dass die weitesten Risse — denn nur
auf diese kommt esan — ın den einzelnen Samen von sehr verschie-
dener Weite sind. Daraus ergibt sich dann die Erwartung, dass
auch unter künstlichem Druck die Samen nicht gleichzeitig, sondern
nach und nach im Innern befeuchtet werden und dass auch bei
langer Versuchsdauer und sehr hohem Drucke wohl noch einige der
härtesten Exemplare unberührt bleiben können. Nach meinen bis-
herigen Erfahrungen ist es leicht, 95%, und mehr der keimfähigen
Samen rasch zum Austreiben zu bringen und bisweilen erhält man
auch eine erschöpfende Auslösung der Keimkraft. Zumeist bleiben
aber wohl 1—2%, und bisweilen mehr Samen unbefeuchtet. In den
gewöhnlichen Versuchen wird man ohne merklichen Schaden auf deren
Mitwirkung verzichten können.
Jetzt komme ich zu der Beschreibung meines Apparates. Dieser
besteht aus einem gewöhnlichen Autoklaven und einer Luftpumpe,
wie solche für das Füllen von Automobilreifen benutzt werden.
Der Autoklav ist ein Dampfsterilisator, der bis zu 10 Atm. Druck
ertragen kann, für gewöhnlich aber nur bis zu 8 Atm. benutzt
wird. Das Füllen erfordert nur etwa 5 Minuten. Der lichte
Durchmesser des Behälters ist 20 cm, und es können in ihm über
100 Röhrchen mit Samenproben Platz finden.
Bevor die Samen in den Apparat gelangen, müssen sie soweit
wie möglich mit Wasser gesättigt werden und muss wenigstens die
lockere äußere Samenschale der Oenothera-Samen ganz aufgeweicht
sein, damit das Wasser überall die Hartschicht berühre. Dazu
werden die Samen in Glasröhrchen mit Wasser geschüttelt und
während einer Nacht bei 30° C. oder während etwa 24 Stunden
bei der Zimmertemperatur aufbewahrt. Im Autoklaven habe ich
sie bis jetzt zumeist 2—3 Tage lang unter einem Druck von
6—8 Atm. gelassen; sie keimen während dieser Zeit bei niedriger
Temperatur nicht oder lassen höchstens an ganz einzelnen Körnern
die weiße Wurzelspitze sichtbar werden. Die Keimkraft der ganzen
Probe erleidet durch die Behandlung gar keinen Nachteil.
Sollen die Samen in Keimschüsseln ausgesät werden, um später
für die Kultur im Garten zu dienen, so müssen sie locker auf die
Erde gestreut werden. Dazu ist es erforderlich, sie vorher ober-
flächlich abzutrocknen, was durch sanftes Pressen zwischen zwei
{66 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
Tüchern leicht erreicht wird. In dieser Weise habe ich die ganze
Aussaat für alle meine diesjährigen Kulturen behandelt.
Beabsichtigt man nur, die Anzahl der keimenden Körner in
einer gegebenen Probe zu bestimmen, so empfiehlt es sich, die
Samen nicht auf Erde auszustreuen. Auch das Auslegen auf feuchtes
Fließpapier ist zumeist ungenügend, um sämtliche Körner keimen
zu lassen. Am besten ist es, sie in einer kapillaren Wasserschicht
an einer Glaswand hangen zu lassen. Man kann dazu umgekehrte
Uhrgläser oder Schälchen benutzen; am bequemsten ist es aber, sie
ın einer geschlossenen Glasröhre mit sehr wenig Wasser an der
einen Längsseite der Wand zu verteilen und dann die Röhre hori-
zontal hinzulegen und so zu drehen, dass dıe Körner an der oberen
Seite haften. Hier fließt das überflüssige Wasser ab und die Samen
finden gerade so viel Luft und so viel Feuchtigkeit als zu ihrem
Wachstum erforderlich ist. Behufs des Auszählens der Keime
werden sie dann mittels einer spiralig gedrehten Nadel aus der
Röhre herausgeschoben und auf einer nassen Glasplatte ausgebreitet.
Das Ankeimen geschieht in denselben Röhrchen wie das Ein-
pressen des Wassers im Autoklaven, nur werden die Röhren nach
dem Abgießen und nötigenfalls nach dem Erneuern des Wassers
mit einem Korke geschlossen. Ich benutze Röhrchen von 10 cm
Länge und 1,5 cm Weite. Gewöhnlich sind nach 2 Tagen schon
zahlreiche Würzelchen sichtbar geworden, wenn die Röhrchen im
Keimschrank bei etwa 30° C. aufbewahrt werden. Nach 2—4 Tagen
nimmt die Keimung rasch ab, und bewahrt man die Proben während
längerer Zeit auf, indem man von Zeit zu Zeit die Luft in den
Röhrchen erneuert, so dauert es bisweilen mehrere Wochen, bis
die letzten Samen zu keimen anfangen.
Den Einfluss des Hineinpressens von Wasser kann man in ver-
schiedener Weise prüfen. Entweder indem man von einer Probe
die eine Hälfte der Operation unterwirft, die andere aber nicht,
oder so, dass man in der ganzen Probe zuerst die raschkeimenden
Samen wachsen lässt. Sobald man dann sieht, dass dieser Prozess
aufhört oder doch sich ganz erheblich verzögert, presst man das
Wasser in die noch ruhenden Samen im Autoklaven ein und bringt
darauf die Röhrchen in den Keimschrank zurück. Fast stets erfolgt
dann eine rasche Keimung, welche dann nur damit erlischt, dass
die lebensfähigen Keime alle oder bis auf einige wenige Prozente,
ihre Würzelchen sichtbar werden lassen. Nach Ablauf von weiteren
2—4 Tagen öffnet man die noch übrig gebliebenen Körner mit
einer harten Stahlnadel mit umgebogener Spitze, um die Zahl der
etwa noch ruhenden Keime und jene der im Samen gestorbenen
Exemplare zu ermitteln.
Ich führe jetzt eine Reihe von Beispielen an, um die Einzel-
heiten des Prozesses näher beschreiben zu können, und beschränke
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 467
mich dabei aus leicht ersichtlichen Gründen auf die bereits mehr-
fach erwähnten Samen der Oenotheren. Für jede einzelne Probe
dienten fast stets 200 aus einer einzelnen Frucht herausgenommene
und abgezählte Samen. Es entspricht diese Zahl nahezu dem ge-
wöhnlichen Gehalte einer Frucht an Samen.
Oenothera biennis und andere Arten. Die Samen von Oeno-
thera biennis L., der ın den holländischen Dünen und sonst in
Europa weitverbreiteten Art, keimen in der Regel rasch und leicht,
indem bei 30° C. unter guten Bedingungen in den ersten 5 Tagen
etwa 80—90 %, und mehr Würzelchen hervorgetrieben werden. In
solchen Fällen lohnt es sich kaum, Wasser in sie hinein zu pumpen.
Hat man aber die Samen auf spät verpflanzten, ungenügend ge-
düngten oder aus sonstigen Gründen schwach gebliebenen Exem-
plaren gesammelt, so ist die Keimkraft oft eine viel geringere. Ich
wähle als Beispiel ein Exemplar von O. biennis sulfurea, welches
im Sommer 1914 in meinem Garten wuchs und seine Blüten in
Pergaminbeuteln geöffnet hatte, somit rein mit sich selbst befruchtet
worden war’).
200 Samen wurden im Keimapparat ausgelegt; es keimten bei
30°C. in 2 Tagen nur 4, darauf in den beiden nächstfolgenden
Tagen noch 78 Körner. Zusammen also ın 4 Tagen 41%. Eine
Kontrollprobe wurde zuerst während 2 Tagen m Wasser einem
Drucke von 6 Atm. bei niedriger Temperatur ausgesetzt und kam
erst dann in den Keimapparat bei 30°C. Hier keimten innerhalb
3 Tage 80% der Samen, d.h. fast alle lebensfähigen Körner.
Durch die Anwendung künstlichen Druckes war somit die Pro-
duktion von Keimpflanzen in diesem Falle etwa verdoppelt worden.
In derselben Weise untersuchte ich Oenothera syrticola Bart-
lett‘), d. h. die schmalblättrige Art unserer Dünen, welche bis
dahin O. muricata L. genannt wurde und deren doppeltreziproke
Bastarde mit O. biennis früher von mir beschrieben worden sind”).
Von einem selbstbefruchteten Exemplare meiner Rasse entnahm ich
einer Frucht 200 Samen. Es keimten innerhalb von 5 Tagen 30%.
. Eine zweite Probe setzte ich zuerst während zweier Tage einem Drucke
von 6 Atm. aus und brachte sie dann unter denselben Bedingungen
wie die erste zur Keimung. Es brauchte jetzt 3 Tage um 80 9,
5) Über das Entstehen dieser Varietät durch Mutation aus der leuchtend gelb-
blühenden Art, vergl. Th. J.Stomps, Parallele Mutationen bei Oenothera biennis L.
Ber. d. d. botan. Gesellsch. 1914, Bd. 32, S. 179—188, und meinen Aufsatz: The
Coefficient of Mutation in Oenothera biennis L., in Botanical Gazette, Bd. XVIII,
Chicago 1915.
6) H. H. Bartlett, Twelve elementary species of Onagra, in Cybele Colum-
biana, Vol. I, Nr. I, S. 37, 1914.
7) Uber doppeltreziproke Bastarde von Oenothera biennis L. und O. muri-
cata L. Biol. Centralbl. Bd. 31, S. 97—104, 1911, und „Gruppenweise Artbildung‘“,
Berlin 1913, S. 39—41,
168 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
der Würzelchen hervorbrechen zu sehen. Die Keimkraft war somit
durch die Anwendung des Druckes etwas mehr als verdoppelt und
nahezu erschöpft worden.
Noch bedeutender werden die Differenzen, wenn man Arten
mit schwacher Keimkraft wählt. Eine solche Form erhielt ich von
Herrn T. D. A. COockerell ın Boulder in Colorado; ich habe sie
unter dem Namen O. Cockerelli in meiner „Gruppenweisen Art-
bildung“ beschrieben und abgebildet®). Selbstbefruchtete Samen
aus den Kulturen meines Gartens keimen gewöhnlich nur spärlich,
oder erwarten einen sonnigen Tag, bevor sie zu wachsen anfangen.
Aus einer Frucht erhielt ich im Keimapparat bei 30°C. aus 200 Samen
innerhalb von 5 Tagen nur 3 Keime. Darauf wurde eine Kontrollprobe
während zweier Tage in Wasser einem Drucke von 6 Atm. ausgesetzt
und darauf bei 30°C. ausgelegt. Es keimten nun in 3 Tagen 72%,.
Fast alle sonstigen Trotzer waren somit durch die angegebene Be-
handlung zum Keimen gebracht worden.
Einen vierten Versuch habe ich mit O0. suaveolens Desf. ge-
macht. Auf diese Art komme ich weiter unten zurück. Ich benutzte
eine schmalblättrige Varietät aus Coimbra in Portugal. Es keimten,
unter 200 reinen Samen, ohne Druck ın 5 Tagen nur 5,5 nach
Anwendung von Druck unter denselben ausm wie in den
vorigen Versuchen, innerhalb dreier Tage 14.
Ich fasse jetzt die mitgeteilten Zahlen übersichtlich zusammen.
Einwirkung eines Druckes von 6 Atm. während zweier Tage, auf
die Keimkraft.
IPORELE _ Kontroll-
Keimlinge
| versuche
Oenothera nach 3 Tagen
| in % ohne Druck
IRRE 29 (5 Tage)
a un m ll Bene nissen ST = —
O. biennis sulfurea . . | 80 41
O. syrticola (0. muricata L) | s0 18
ON CockerEND N | 72 2
OÖ. sumeodieens . .» 2. | 14 5
|
Die Beschleunigung der Keimung durch vorheriges Hinein-
pressen von Wasser in die Samen ist in allen diesen Versuchen
eine auffallende. Zahlreiche weitere Versuche, namentlich mit ge-
kreuzten Samen oder mit den Samen von Bastarden, haben diesen
Satz seitdem bestätigt.
Oenothera sp. aus Minnesota. In der Umgegend des Ortes
North Town Junction bei Minneapolis in Minnesota habe ich
im September 1904 an verschiedenen Stellen eine bis jetzt unbe-
schriebene, aber von ihren Verwandten deutlich getrennte Art ge-
8) Gruppenweise Artbildung. S. 53—54 und 114—115.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 169
sammelt°). Ausihren Samen habe ich eine Rasse abgeleitet und deren
im Jahre 1914 in meinem Garten gereifte Samen geprüft. Ich ent-
nahm von vier Pflanzen je eine selbstbefruchtete Frucht, zählte aus
jeder 200 Samen aus und legte diese zum Keimen bei 30°C. aus.
Die Keimlinge wurden nach 2 und nach 4 Tagen gezählt und ent-
fernt. Die übrigen Samen wurden darauf bei Zimmertemperatur wäh-
rend dreier Tage einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und wiederum
zum Keimen ausgelegt. Nach 2 Tagen wurden die neuen Keim-
linge abgezählt und die ungekeimten Körner mit einer Nadel ge-
öffnet, um zu erfahren, wie viele unter ihnen etwa leer waren.
Auf demselben Beete hatte ich einige Blüten auf zwei Indi-
viduen kastriert und mit dem Pollen meiner O. Lamarckiana belegt.
Ihre Samen wurden in derselben Weise untersucht. Ich erhielt die
folgenden Zahlen.
Samen einer Oenothera aus Minnesota.
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft (in 9%).
I] =
Vor Anwen- Sn an | Keim-
dung des er ns | Summe haltige
Druckes D n Samen
ruckes
m
Nach Tagen: | 2 4 2
Pflanze A (Selbstbefr.) 60315 3 80,5 92
tler BE 5 85 e125 42 | 68 87
ie - On zen 29,5 46,5 84,5
a, ” 1 2 40 43 92
” E (gekreuzt mit 0. Lam.) 0 0) 209 I 38
» F ( ER ” „ 2) ) (0) I: 37,5 38.5 | 95
In den Samen dieser sechs Pflanzen war die Keimkraft eine
sehr verschiedene. Nur eine (A) keimte leicht und schnell, auf sie
hatte die Anwendung des Druckes, wie zu erwarten, keinen wesent-
lichen Einfluss. In den beiden folgenden (Bund) war die Keim-
kraft gering: 17—26°%, und die nachträgliche Behandlung hat die
Anzahl der Keime auf 46,5— 68%, gebracht, also mehr als verdoppelt.
Die selbstbefruchteten Samen von D und die gekreuzten Samen
keimten innerhalb der gewöhnlichen Keimesfrist nicht oder nahezu
nicht, aber nach Anwendung des Druckes zu etwa 25—40%,. Hier
würde das Sfudium der Nachkommen gänzlich misslungen oder
doch in sehr unangenehmer Weise beschränkt worden sein, wenn
die Samen nur in der gewöhnlichen Weise ausgesät worden wären.
Auch habe ich für meine diesjährige Kultur die Samen dieser
Pflanzen nur nach Anwendung des Druckes ausgesät.
9) Siehe die Abbildung in: Gruppenweise Artbildung, Berlin 1913, S. 35,
Fig. 10.
470 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc.
Oenothera Lamarckiana. Auf drei zweijährigen Pflanzen wurde
am Hauptstengel jeden dritten Tag eine Blüte in einem kleinen
Beutel mit dem eigenen Pollen rein befruchtet; die Früchte wurden
mit Marken bezeichnet und später einzeln geerntet. Nach der Ernte
wurden aus jeder Frucht womöglich 200 Samen abgezählt und zum
Keimen ausgelegt. Die gekeimten Samen wurden nach 2 und nach
4 Tagen gezählt. Dann wurden die übrigen in Wasser unter Druck
gebracht und zwar für die Pflanze A während 24 Stunden bei
6 Atm., für B während 48 Stunden bei demselben Druck und für
Ü 3 Tage lang bei 8 Atm. Darauf wurde wiederum die Anzahl
der Keimlinge nach 2 und nach 4 Tagen ermittelt. Schließlich
wurden die nicht gekeimten Samen mit einer Nadel geöffnet und
die noch vorhandenen, teils noch lebenden aber ruhenden, teils
toten und zu einem Zellenbrei gewordenen Keime zusammen gezählt.
Nachdem die Zählungen für die 54 Einzelproben abgelaufen
waren, wurden für jede Pflanze die Summen und die Mittelzahlen
berechnet. Die drei Versuche hatten den Zweck, zu ermitteln, ob
der Prozentsatz der normalen Keime an den Rispen auf verschie-
dener Höhe, und somit zu verschiedener Jahreszeit und beı ver-
schiedenem Wetter merkliche Differenzen aufweisen würde.
Die ersten Blüten öffneten sich am 23. und 26. Juni und am
2. Juli; die Versuche dauerten bis etwa Mitte August, an jeder
Rispe haben während dieser Zeit etwa 100 Blüten geblüht. Das
Wetter war bis zum 23. Juli warm und hell und die Anzahl der
geöffneten Blüten pro Tag eine verhältnismäßig große; später aber
war der Himmel meist bewölkt und ging das Aufblühen langsamer
vor sich. Die Keimungsprozente für die dreitägigen Perioden zeigten
aber zu diesem Wechsel keine Beziehungen; sie schwankten um die
Mittelzahlen der ganzen Rispe in unregelmäßiger Weise. Ich habe
die Resultate in Kurven umgerechnet und diese verglichen mit den
Kurven für Temperatur und Sonnenschein, welche im Versuchs-
garten neben den Pflanzen ermittelt worden waren, konnte aber
keinen Parallelismus nachweisen.
Da somit die Keimungsprozente auf der ganzen Rispenlänge die-
selben waren, verzichte ich auf die Mitteilung der Einzelzahlen und
gebe nur die aus den Summen berechneten Prozentzahlen für die
drei Rispen. Sie sind ın der nebenstehenden Tabelle zusammengestellt.
Aus dieser Tabelle ergibt sich, dass die drei untersuchten
Pflanzen sich im wesentlichen gleich verhielten. Die Keimungs-
geschwindigkeit war unter den günstigen Bedingungen des Ver-
suchs in den ersten Tagen eine bedeutende (4,5—15%), fiel dann
aber rasch auf 1,5—4,5%, herab. Zahlreiche Kontrollversuche haben
gelehrt, dass diese Abnahme unter sich gleich bleibenden Bedin-
gungen längere Zeit anzuhalten pflegt bis schließlich in mehreren
Wochen nur noch ganz einzelne Samen nachkeimen.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete. 171
Oenothera Lamarckiana.
Keimungsprozente vor und nach Einwirkung erhöhten Druckes.
Anzahl der Gekeimt nach Tagen Prihende
Pflanze Reina Summe
Früchte | Samen 2 4 Atm. 6 8
A 20 3800 4,5 1,5 D. 6 18 4,5 6 34,5
B 16 3200 8 4,5 D. 6 17 25 5,5 37,5
C 18 3400 15 3 DES 22 1 5 46
Nach den vier ersten Tagen wurden die Samen ın Wasser dem
oben angegebenen Drucke von 6—8 Atm. ausgesetzt und darauf
wiederum im Keimschrank zum Keimen bei 30° C. ausgelegt. In
den beiden ersten Tagen keimten dann 17—22°%,, also viel mehr
als vor der Einwirkung des Druckes. Darauf fiel der Prozentsatz
ab, aber die Ursache davon lag in der Erschöpfung der Proben an
keimfähigen Samen, denn als nach 4 Tagen die nicht gekeimten
Samen geöffnet wurden, enthielten nur noch 5--6%, einen Keim,
während die übrigen taub waren. Unter jenen Keimen war etwa
die Hälfte offenbar noch lebendig, die andere Hälfte aber gestorben
und einer Fäulnis anheimgefallen, welche sie in ihre einzelnen Zellen
auflöste.
Wir sehen somit, dass ohne Druck etwa 6—18%, Samen keimen,
dass mit Anwendung künstlichen Druckes diese Zahl um 19—23 %,
erhöht und dadurch auf etwa 50—40%, gebracht wird. Und ferner,
dass nach dieser Behandlung nur noch ganz wenige Samen (etwa 3 %,)
fortfahren zu trotzen.
Die Pflanze C enthielt ın ıhren Samen etwa 46% Keime; A und
B aber nur 34,5 und 37,5%. Die Ursache dieses Unterschiedes
liegt in der Kultur, da die beiden letzteren auf ungedüngtem oder
fast ungedüngtem Boden wuchsen, während C auf einem sehr stark
gedüngten Beete gepflanzt worden war. Ähnliche Unterschiede
habe ich sehr oft beobachtet.
Die Samen von Oenothera Lamarckiana enthalten immer etwa
zur Hälfte gute Keime, während diejenigen der anderen Hälfte leer
sind. Diese Erscheinung ist in jüngster Zeit von O. Renner ein-
gehend studiert worden!”). Er fand, dass die tauben Samen in
gewöhnlicher Weise befruchtet werden und dass ihr Keim die ersten
Teilungen durchläuft, dann aber zu wachsen aufhört und schließ-
lich abstirbt. Die Samenschale entwickelt sich aber in annähernd
normaler Weise, erreicht etwa dieselbe Größe und anscheinend
denselben Bau wie diejenige der keimhaltigen Samen. Sie bleibt
10) O. Renner, Befruchtung und FEmbryobildung bei Ornothera Lamarckiana
und einigen verwandten Arten. Flora Bd. VII, Heft 2, 1914, 8. 115—150.
72 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete.
aber, soweit meine Erfahrungen reichen, auch im reifen Zustand
für Wasser viel leichter permeabel. Harte Samen enthalten wohl
fast stets gute Keime.
Bei günstiger Kultur fand ich im Sommer 1914 den Gehalt an
keimhaltigen Samen meist etwa 43—46 %, als Durchschnittszahlen
aus zahlreichen Versuchen, welche je meist 400 Samen umfassten.
Bei weniger günstigen Bedingungen fiel dieser Gehalt auf 32—39%
(etwa 20 Versuche mit je 400 Samen) und im Sommer 1913 war
er noch bedeutend niedriger gewesen. Dass dabei die Anzahl
der Renner’schen Keime zunimmt, scheint mir nicht wahrschein-
lich, da dıe Erscheinung genau mit demjenigen übereinstimmt, was
man auch bei Arten ohne solche beobachtet!!. Doch habe ich
diese Frage nicht untersucht.
Oenothera suaveolens Desf. ist eine Art, welche mit O. La-
marckiana ın dem Besitze tauber Samen übereinstimmt. Sie wächst
in Frankreich und in Portugal an zahlreichen Stellen im Freien
und wurde früher als Synonym von O. grandiflora Ait. betrachtet.
Als ich aber Samen der ersteren Art im Forste von Fontainebleau
und von letzterer unweit Castleberry in Alabama gesammelt hatte
und daraus die Pflanzen nebeneinander ın meinem Versuchsgarten
blühen ließ, ergab sich, dass diese beiden Arten durchaus verschieden
sind. Die Samen der Form von Fontainebleau, im Herbste 1914
in meinem Versuchsgarten nach künstlicher Selbstbefruchtung ge-
sammelt, enthielten nur 18—29%, guter Keime. Ich untersuchte
vier Pflanzen, von jeder zwei Früchte und aus jeder Frucht 200 Samen.
Aus Portugal schickte mir Herr A. Cortezao, jetzt Direktor
des landwirtschaftlichen Versuchswesens auf den westafrikanischen
Inseln San Tom& und Prinzipe, Samen einer Unterart von O. sua-
veolens, welche von ihm unweit Coimbra gesammelt worden waren.
Ich erzog die Pflanzen daraus im Sommer 1914 und fand, dass die
Blätter wesentlich schmäler waren als in der französischen Art,
dass sie sonst aber mit dieser in den Hauptzügen übereinstimmten.
Die nach reiner Befruchtung geernteten Samen benutzte ich zu dem
folgenden Versuche. Es wurden aus zwei Früchten je 200 Samen
abgezählt und zum Keimen ausgelegt. Es keimten bei 30° C. nach
2 Tagen 14,5%, und in den beiden nächstfolgenden Tagen nur noch
4%. Darauf wurden die übrigen während dreier Tage in Wasser
einem Drucke von 8 Atm. ausgesetzt und nachher 6 Tage lang im
Keimapparat sich selber überlassen. Es keimten jetzt noch 10,5 %.
Von den übrigen enthielten 4,5%, teils lebensfähige, teils faulende
Keime, während alle übrigen leer waren. Zusammen also 33,5%
keimhaltiger und 66,5%, tauber Samen.
11) Vergl. hierüber den weiter unten beschriebenen Versuch mit einer neuen
Mutante aus Oenothera Lamarckiana.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc. 173
L
Durch das Einpressen des Wassers wurden hier somit etwa ein
Drittel der vorhandenen Keime, welche sonst wohl ruhend geblieben
wären, zum Austreiben veranlasst.
Sollte die erbliche Eigenschaft, welche das Taubwerden von
mehr als der Hälfte der Samen bedingt, in O0. Lamarckiana und
O. suaveolens dieselbe sein, so würde man erwarten, dass ıhre
Bastarde denselben Gehalt an leeren Samen aufweisen würden. Dem
ist aber nicht so; im Gegenteil sind die gekreuzten Samen eben so
vollständig keimfähig wie diejenigen von (0. biennis und den übrigen
oben mit dieser angeführten Arten. Es geht dieses aus den beiden
folgenden Versuchen hervor.
Im Sommer 1914 befruchtete ich O0. Lamarckiana aus meiner
Kultur mit dem Blütenstaub einer der aus Fontainebleau her-
stammenden Pflanzen und zählte nach der Ernte aus einer Frucht
200 Samen ab. Es keimten in den 3 ersten Tagen 126, in den
beiden folgenden noch 54, aber in weiteren 2 Tagen nur noch ein
einziger Same. Zusammen also 181. Die übrigen 19 wurden nun
ın Wasser während 3 Tage bei 8 Atm. Druck aufbewahrt. Nach
dieser Behandlung keimten in 2 Tagen 7, in den beiden folgenden
Tagen aber keine Samen, während die Untersuchung mit der Nadel
noch 7 teils lebendige, teils faulende Keime und 5 Samen ohne
sichtbaren Keim ergab. Im ganzen somit 195 oder 97,5%, keim-
haltiger Samen.
In demselben Jahre machte ıch die reziproke Kreuzung: O. sua-
veolens von Fontainebleau mit ©. Lamarckiana aus meiner Rasse.
Auf 200 Samen aus einer einzelnen Frucht erhielt ich nach 3 Tagen
59, in den folgenden beiden Tagen 41, und in den beiden darauf-
folgenden 18 Keimlinge. Zusammen also 118. Nach dreitägiger
Einwirkung eines Druckes von 8 Atm. keimten nun in zwei weiteren
Tagen noch 37 und in den beiden folgenden nur noch ein einziger
Same, während die Nadelprobe noch 23 Keime aufwies. Zusammen
also 179 Keime auf 200 Samen oder 89,5%.
In beiden Versuchen war, trotz einer großen normalen Keim-
kraft, der Gehalt an keimenden Samen durch Anwendung des
Druckes wesentlich erhöht worden (um 3,5 und 19%), und damit
jener an trotzenden Keimen auf einen geringen Rest zurückgebracht.
Die mikroskopische Untersuchung der heranreifenden Samen
von O. suaveolens verspricht, in Verbindung mit den oben erwähnten
Befunden an O. Lamarckiana und den beiden Kreuzungen, wichtige
Ergebnisse, doch habe ich eine solche noch nicht angefangen.
Oenothera Lamarckiana mut. rubricalye Gates. Die meisten
Mutanten von O. Lumarckiana verhalten sich in bezug auf die Keim-
fähigkeit wie die Mutterart. Es lohnt sich deshalb nicht, hier mehr
als ein Beispiel anzuführen. Ich wähle dazu die schöne von Gates
gewonnene OÖ. rubricalye. Sie entstand in seinen Versuchen aus
474 De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme ete.
O. rubrinervis, von der sie sich namentlich durch die dunkelroten
Blütenkelche unterscheidet!?). Sie stellt nach Gates eine pro-
gressive Mutation dar. Ich erhielt einige Samen von Herrn Gates
ım Winter 1913/14 und erzog daraus etwa 25 Pflanzen, welche sämt-
lich geblüht haben. Aus einer selbstbefruchteten Frucht zählte ich
200 Samen aus und überließ diese in der üblichen Weise der
Keimung.
Die Einrichtung des Versuches war genau dieselbe wie im
letztbeschriebenen Fall; ich erhielt die folgenden prozentischen
Zahlen auf 200 Samen.
Oenothera rubricalyx Gates.
Einfluss künstlichen Druckes auf die Keimkraft.
Vor An- Nach An- er:
wendung des | wendung des Summe "Sa altıge
Druckes Druckes amen
Nach Tagen: 2 | 4 o |
Keimlinge 2124. .r0% 21 il 18,5 40,5 | 47
Wie man sieht, war der Erfolg ebenso deutlich als sonst.
Oenothera Lamarckiana mut. nov. Die Eigenschaft von O. La-
marchkiana, etwa zur Hälfte taube Samen hervorzubringen, geht bei
den Mutationen nicht immer unverändert auf die neuen Formen
über. Namentlich fehlt sie bei O. gigas. Ebenso verhalten sich
einige meiner neuen, noch nicht beschriebenen Mutanten. Mit
einer von diesen, welche ich vorläufig als B bezeichnen will, habe ich
einen Versuch über den Einfluss der Kultur auf die Keimkraft der
Samen gemacht. Die Form ist verwandt mit O. rubrinervis, aber
nicht so spröde wie diese, blasser ın der Farbe und mit lockeren
Blütenrispen, und soll später veröffentlicht werden.
Ich gebe zunächst die erhaltenen Zahlen:
Vor An- Nach An- Keimhati
wendung des | wendung des Summe S Ren
Druckes Druckes er
Nach Tagen: 2 4
A. Normale Kultur 54 10,5 24 88,5 99
B. 5 ” 15,5 | 19 45 79,5 99
OÖ. Schwache Pflanze 45 6 25 53,5 SH
D. 5 > 52 1 0 53 72,5
12) R. R. Gates, The new Phytologist, Vol. 12, Nr. 8, S. 291, 1913.
De Vries, Über künstliche Beschleunigung der Wasseraufnahme etc, 175
Von jeder Pflanze wurden 200 Samen aus je einer Frucht bei
30°C. zum Keimen ausgelegt, und die Keimlinge nach 2 und nach
4 Tagen ausgezählt. Darauf wurden die übrigen Samen bei Zimmer-
temperatur (etwa 15°C.) während dreier Tage in Wasser einem Drucke
von 8 Atm. ausgesetzt und dann wieder in den Keimapparat zurück-
gebracht. Als nach weiteren 5 Tagen die Anzahl der neuen Keim-
linge ermittelt worden war, wurden die übrigen Samen mit einer
Nadel geöffnet, um zu sehen, wie viele unter ihnen deutliche Keime
enthielten.
Die Pflanzen A und B standen in ausreichenden Entfernungen
auf einem gut gedüngten Boden und wurden gut begossen. Die
Exemplare C und D standen dicht zusammen auf schlechtem Boden
und konnten sich nur kümmerlich bewurzeln. Die ersteren wurden
sehr stark und grün, hatten reich ausgestattete Blütenrispen und
erreichten eine Höhe von 1 m. Die letzteren blieben schwach und
dünnstengelig, konnten jede nur etwa 4—6 Blüten zur Ausbildung
bringen und erreichten nur 60 cm Höhe. Namentlich aber wies in
ihnen eine auffallend rote Färbung des Laubes und der Kelche auf
eine kümmerliche Bewurzelung hin.
Der Einfluss dieses Unterschiedes auf die Keimkraft der Samen
ist auffallend. Die kräftigen Pflanzen hatten fast gar keine tauben
Samen, die schwachen etwa 25%. Die ersteren keimten zu 80—88 '/,,
die letzteren nur zu 53%. Die Ausbildung tauber Samen war also
in diesem Falle eine Folge der künstlich stark herabgesetzten Lebens-
bedingungen. Ich habe in jeder der beiden Gruppen noch zwei
weitere Exemplare untersucht, mit fast genau demselben Erfolg
(75 und 75%, gegen 97 und 96,5%, keimhaltiger Samen). Man darf
hieraus und aus zahlreichen analogen Versuchen folgern, dass durch
mangelhafte Ernährung oder Wasserversorgung u. s. w. ein nicht
unerheblicher Teil der Samen ohne guten Keim bleiben kann und
dass solches auch für andere Arten von Oenothera Geltung hat.
Bei der normalen Kultur war der Einfluss eines künstlichen
Druckes auf die Keimkraft auffallend, bei den schwachen Pflanzen
aber unmerklich.
Zusammenfassei:d sehen wir, dass Samenproben von Oenothera,
welche unter gewöhnlichen Bedingungen eine ungenügende Anzahl
von Keimlingen hervorbringen, durch sofortige oder nachträgliche
Einwirkung eines Druckes von 6-8 Atm. 2—3 Tage lang, zur
vollen oder nahezu vollen Keimung gebracht werden können.
Es liegt auf der Hand anzunehmen, dass durch diesen Druck
das Wasser in sehr feine lufthaltige Risse der Hartschicht hinein-
gepresst und dass dadurch ein beschleunigtes Aufquellen des Keimes
ermöglicht wird.
17 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc.
Die Ermittlung des Gehaltes an leeren Samen, gleichgültig, ob
dieser durch erbliche Ursachen oder durch ungünstige Lebens-
bedingungen veranlasst wurde, wird offenbar durch die Anwendung
der Methode des künstlichen Druckes wesentlich erleichtert.
Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten
von Secerov und Kammerer.
Von F. Werner (Wien).
In Band XXXIV Nr. 5 des „Biolog. Uentralblattes“ (20. Mai
1914) bringt Herr Dr. Slavko Seterov Mitteilungen über das
Farbkleid von Feuersalamandern, deren Larven auf gelbem oder
schwarzem Untergrunde gezogen waren. Diese Ergebnisse fordern
in mancher Beziehung zu einer Kritik heraus, da sie mir nichts
weniger als beweiskräftig erscheinen. Ich will dabei ganz davon
absehen, dass diese Untersuchungen mit ganzen 12 Individuen, die
noch dazu zu vier verschiedenen Versuchen benützt wurden, aus-
geführt sind; aber sehen wir weiter. Der Verfasser hat die Ver-
suche am 8. Maı 1911 begonnen und am 27. Juni desselben Jahres,
also nach etwas mehr als 7 Wochen abgeschlossen, da um diese
Zeit die Hälfte der Tiere der Hitze erlag (!), die andere konserviert
wurde. Er teilte die teils dem Uterus entnommenen, teils auf
natürlichem Wege geborenen Jungen eines Weibchens der Varietät
taeniata in zwei Gruppen, in eine helle und eine dunkle, hielt von
beiden einen Teil auf gelbem, einen anderen auf schwarzem Papier
und beschreibt nun die Färbung der Jungen nach 7wöchigem Aufent-
halte unter diesen Bedingungen. Verf. bringt nun auf einmal Ab-
bildungen von vier Jungen (Fig. 2—5), von denen er behauptet, sie
hätten unter dem Einflusse der gelben, bezw. schwarzen Unterlage
ihre Zeichnung erhalten. Aber er zeigt nicht, wie sie vorher aus-
gesehen haben. Und das ıst doch nicht so unwichtig. Wenn ein
junger Salamander aus der hell- oder dunkelgraubraunen Wasser-
färbung ohne weiteres in die abgebildete Landfärbung übergeht,
wie will Verf. beweisen, dass die Unterlage an dem Auftreten dieser
schuld ist? Wenn aber ein schwarzgelbes, anders gezeichnetes Vor-
stadium vorlag, warum bildet er es nicht ab und lässt unserer
Phantasie alles zu erraten übrig? Ich möchte nun ferner darauf
hinweisen, dass Sederov im Irrtum ist, wenn er annimmt, die
beiden Jungen, die auf Fig. 2 und 4 abgebildet sind, hätten (infolge
Haltung auf gelbem Papier) mehr Gelb als das Muttertier; es scheint
diese Selbsttäuschung darauf zurückzuführen zu sein, dass das Gelb
namentlich bei Fig.2 anders verteilt ist und auf dem Kopfe einen
größeren zusammenhängenden Raum bedeckt als bei der Mutter.
Es bleibt aber auch hier zu beweisen, dass die Gelbfärbung dem
Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4177
gelben Papier zu verdanken ist, es kann sehr wohl das betreffende
Jungtier schon von vornherein soviel Gelb gehabt haben.
Die beiden auf schwarzem Grund gehaltenen Jungen (Fig. 3
und 5) sind ausgesprochene Kümmerformen und da schon Kam-
merer in einem Kapitel „Hunger und Mast“ (auf p. Y95ff. seiner
großen Arbeit!)) angıbt, dass Hunger Dunkelfärbung zur Folge
habe, so könnte man vielleicht annehmen, dass die Ursache der
überwiegenden Schwarzfärbung dieser beiden Jungtiere auf diesen
Umstand zurückzuführen sei, wenn man überhaupt annımmt, dass
die Zeichnung der Salamander durch äußere Faktoren noch beein-
flusst werden kann; von ihnen scheinen mir erheblich mehr als die
Färbung der Umwelt, die chemische Beschaffenheit des Mediums ?)
von einiger Bedeutung zu sein, obwohl sie ım Freileben des Sala-
manders kaum eine Rolle spielt. Wenn wir die Secerov’schen
und Kammerer’schen Experimente und ihre Ergebnisse betrachten,
so drängt sich uns unwillkürlich die Frage auf: Sind die Verhält-
nisse, unter denen die Tiere gehalten werden, solche, die erwarten
lassen, dass sie auch nur einige Monate am Leben bleiben können?
Ich möchte es sehr bezweifeln. Die ganze Versuchsanordnung ist
ein Gewaltakt gegen die natürlichen Lebensbedingungen des Sala-
manders und es erscheint mir höchst unwahrscheinlich, dass ein so
elend und halbverhungert aussehendes Individuum, wie z. B. Fig. 10
auf Taf. XIV der Kammerer’schen Arbeit noch 4 Jahre ausge-
halten haben sollte oder dass eine Behandlung, welche ein Indi-
vıduum vom Aussehen der Fig. 14 derselben Tafel erzeugt hat,
natürlichen Lebensbedingungen entspricht. Eın Tier, das ein so
intensives Bedürfnis hat, sich zu verbergen, wie der Salamander,
das ım Freien den größten Teil seines Lebens unterirdisch ver-
bringt, zu zwingen, sich lebenslang auf einer deckungslosen Fläche
aufzuhalten, einerlei, ob sie nun gelb oder schwarz ist, heisst ein-
fach, es einem langsamen Sıechtum aussetzen. Hat aber auch
Kammerer mit den natürlichen Existenzbedingungen von Sala-
mandra ein Kompromiss geschlossen — und dass er dies in manchen
Fällen getan hat, indem er den Tieren Moos zum Verbergen gab,
ist außer Zweifel —, wo bleibt dann die Elimination von Faktoren,
die das Experiment beeinflussen können?, und warum sträubt er
sich so hartnäckig dagegen, Ergebnisse, die an freilebenden Sala-
mandern gewonnen wurden und die den seinigen diametral gegen-
überstehen, anzuerkennen? Es ist ein wenig Selbsttäuschung dabei,
wenn Kammerer annimmt, dass bei seinen Versuchen die Sala-
1) Vererbung erzwungener Farbveränderungen IV. Archiv f. Entwickelungs-
mechanik XXXVI, 1913.
2) Irena Pogonowska, Über den Einfluss chemischer Faktoren auf die
Farbenveränderung des Feuersalamanders. Archiv f. Entwickelungsmechanik XXXIX,
1914, p. 351—362
XXXV. 12
178 Werner, Einige Bemerkungen an den Salamandra-Experimenten etc.
mander unter gleichmäßigeren Bedingungen leben als an vielen
Fundorten, an denen z. B. ich selbst sie beobachtet habe — dass
freilich an solchen Fundorten, wo Bodengrund, Feuchtigkeits- und
Belichtungsverhältnisse jahraus jahrein mindestens ebenso gleich-
artig sind wie bei den Kammerer’schen Versuchen, sehr stark
gelbe und sehr stark schwarze Salamander jahrelang am selben
Fleck hausen, ist freilich sehr ärgerlich.
Bei Betrachtung der Schnelligkeit, mit der jetzt mitunter
experimentelle Untersuchungen zur Welt gebracht und (s. Sederov)?)
mit spärlichem Material Ergebnisse gewonnen werden, die auf Be-
achtung Anspruch machen sollen, drängt sich mir — und wohl auch
manchem anderen Leser bereits vorher — die Frage auf: Warum
werden diese Stadien nicht photographiert? Heutzutage, wo in jeder
besseren Aquarien- und Terrarienzeitschrift gute Photos eine ganz nor-
male Erscheinung sind (man vergl. z. B. die Abbildungen von Molge
vittata ın den Mitteilungen von Lantz und diejenigen der Salamandra
caucasica bei Gyren*) sollte eine Arbeit, die auf wissenschaftliche
Exaktheit Anspruch macht, der Zuhilfenahme der Photographie um
so weniger entraten, als ja dem Nachprüfer der Untersuchungen
über Veränderungen des Farbkleides infolge Einwirkung der Um-
3) Ein anderer Jünger Kammerer’s, Alois Gaisch, bringt in den Verh.
zool. botan. Ges. Wien, LXII, 1912, p. 54 unter dem Titel „Ein weiterer Beitrag,
zur künstlichen Schwarzfärbung des gefleckten Salamanders (Sulumandra macu-
losa Laur.)“ auch gleichzeitig einen weiteren Beitrag zu der Methode, mit der heut-
zutage mitunter „experimentell zoologisch“ gearbeitet wird. Der Verfasser brachte
Anfang Mai 1911 einen Salamander in ein Aquaterrarium, dessen Bodenteil schwarzer,
feuchter Torfmull bildete. Nach 3 Monaten beobachtete er, dass eine Änderung der
Zeichnung vor sich gegangen war; die Flecken waren viel kleiner geworden, ob einige
schon verschwunden waren, wagt Verf. nicht zu entscheiden, da er das Tier bis zur
Entdeckung der Veränderung nicht kontrolliert hatte. Auch hatten die
Flecken einen düsteren Ton angenommen und es traten innerhalb ihres Grenzbereiches
eine Menge feiner schwarzer Pünktchen auf. Jedermann, der sich mit Salamandern
näher befasst hat, erwartet nun, dass das Tier, das augenscheinlich krank und
außer stande war, sich zu häuten — daher die düstere Färbung der sonst hellen
Flecken — nächstens eingehen werde; das geschah nun auch; Verf. fand das Tier
tot im Wasser und stellte fest, dass die düstere Färbung nur scheinbar war und
unter der alten Haut die gelben Flecken sichtbar wurden. Bei zwei anderen, unter
gleichen Verhältnissen gehaltenen Exemplaren war trotz wiederhoiten Nachsehens
keine Veränderung zu beobachten. Resultat der so gründlichen Beobachtung: Der
Salamander wurde anfangs gar nicht näher angesehen, erst nach 3 Monaten, als er
(angeblich) verändert war. Die Verdüsterung war eine scheinbare. Die beiden
„Kontrollsalamander‘‘, bei denen „wiederholt nachgesehen“ wurde, veränderten sich
— wie zu erwarten stand — gar nicht. Und ein solches Ergebnis nimmt drei
Druckseiten in Anspruch und soll die Annahmen Kammerer’s stützen. Da kann
wohl die experimentelle Zoologie sagen: ‚Herr, bewahre mich vor meinen Freunden !“,
denn solche Freunde sind diskreditierend für sie.
4) Bl. Aq. Terr. Kunde 23, 1912, p. 181—188; Ber. Senkenbg. Ges. 42, 1911;
schöne Autochrombilder von Salamandra bei R. Weigel: Über homöoplastische
und heteroplastische Hauttransplantation bei Amphibien mit besonderer Berück-
sichtigung der Metamorphose. Arch. Entw.-Mech. XXXVI, 1913, Taf. XXVIII.
Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten ete. 4179
welt außer dem Endstadium, dem Ergebnis des Experimentes eigent-
lich gar nichts positives zur Verfügung steht. Ergebnisse experi-
menteller Untersuchungen sollten aber doch nicht nur auf Treu
und Glauben hingenommen werden müssen, und wo die Möglichkeit
wirklich vorhanden ist, Vorstadien des endgültigen Resultates ın
einwandfreier Weise abzubilden, da soll man sie auch benützen.
Ich kann auch Kammerer den Vorwurf nicht ersparen, dass er
dieser Mühe ausgewichen ist und es vorgezogen hat, die beob-
achteten Veränderungen ın vorgezeichnete Umrisse einzutragen.
Nicht darum handelt es sich, ob die photographischen Abbildungen
genauer sind als die gezeichneten, sondern darum, dass man den
Entwickelungsgang der Zeichnung der einzelnen Individuen wirklich
sehen kann und nicht bloß glauben muss. In der Wissenschaft
sollen wir uns doch lieber auf das verlassen, was wır sehen können
(wo wirklich etwas zu sehen ist), als auf das, was uns auch der
ausgezeichnetste Experimentator zu glauben vorlegt.
Und dass Kammerer trotz gegenteiliger Außerungen eigent-
lich nicht sehr darauf erpicht ıst, dass seine Experimente bald
wiederholt werden, geht aus den Worten seiner Einleitung (p. 7)
zu der vorzitierten großen Arbeit hervor, in denen er die großen
Schwierigkeiten eindringlich und nachdrücklich hervorhebt, die dem
Experimentator bei der Ausführung dieser Versuche begegnen
würden: „will er hier mit dauerndem und sicherem Erfolg experi-
mentieren, so muss er ein gutes Stück seines Lebens daran wenden;
unter einem bis zwei Jahrzehnten geht es nicht ab.“ Wenn das
nicht Abschreckungstheorie ist, so weiß ich nicht, was es sonst
sein soll. Einem eventuellen Nachprüfer prophezeien, dass er erst
vielleicht in 20 Jahren seine Ergebnisse als richtig oder falsch er-
weisen kann, d. h. doch nichts anderes, als ihm den Wink geben,
seine kostbare Zeit lieber auf etwas anderes zu verwenden. Ich
habe eine solche Warnung schon vorgeahnt, als ich in einem
Referat über Boulenger’s Alytes-Arbeit (Zentralbl. f. Zoologie II,
1913, p. 349, Ref. 656), der zu wesentlich anderen Ergebnissen kam
als Kammerer, sagte: „Man muss bedenken, dass diese Versuche
de facto unkontrollierbar sind, da der Experimentator immer die
Divergenzen auf nicht vollkommen übereinstimmende Versuchs-
anordnung beim Kontrollversuch zurückführen kann.“
Aus einem Vortrage von F. Megusar während der Versamm-
lung Deutscher Naturforscher und Ärzte in Wien, 1913°) geht nun
hervor, dass dieser nicht nur auf Grund unrfangreichen (und, wie ich
nach Besichtigung seiner Zuchten sagen kann, in tadellosem Gesund-
heitszustande befindlich gewesenen) Untersuchungsmaterials zu dem
Ergebnisse gekommen ist, dass die Zeichnung des Feuersalamanders
5) Siehe das allerdings sehr kurz gehaltene Autoreferat im Sitzungsbericht B,
Zweite Untergruppe der naturw. Abt. Nr. 13. p. 719.
12*
480 Werner, Einige Bemerkungen zu den Salamandra-Experimenten etc.
durch die Farbe des Bodengrundes nicht beeinflusst wird, sondern
dass seit einer Reihe von Jahren die Pflege der Versuchstiere gar
nicht mehr in den Händen Kammerer’s selbst lag, vielmehr
Megusar anvertraut war, der jedenfalls keine Dezennien brauchte,
um herauszubringen, was schon von vornherein zu erwarten war —
dass Kammerer, der selbst die Begriffe von physiologischem und
morphologischem Farbenwechsel mit Recht auseinanderhält, gar
nicht bemerkt hat, dass es einen morphologischen Farbenwechsel
nur insofern gibt, dass während der postembryonalen Entwickelung
gewisse Zeichnungsformen einander ablösen, d. h. die phylogenetisch
älteste, die bei der Jugendform auftritt, allmählich (und zwar
ohne Rücksicht auf die Umwelt) durch eine andere ersetzt
wird. Es könnte also die Fleckenfärbung sich von bleichgelb zu
hochgelb und gelbrot verändern, aber von einer relativen Größen-
veränderung (ein absolutes Wachstum der Flecken gleichzeitig mit
dem Wachstum des Tieres selbst ist ja selbstverständlich) kann
nach meinen eigenen Erfahrungen keine Rede sein. Hätte die
Fleckenzeichnung nicht stammes- oder ım speziellen Falle wenigstens
familiengeschichtliche Bedeutung, so wäre es höchst unverständlich,
dass gewisse Zeichnungen, wie die auf dem oberen Augenlid und
an den Extremitätenwurzeln so hartnäckig sich erhalten. Die von
einer Mutter stammenden Tiere Megusar’s, die ich gesehen hatte
(und sie erwiesen sich auch dadurch als Geschwister, dass sie trotz
großer Zahl alle von gleicher Größe waren — und zwar damals
einem Stadium, das im Freien überhaupt selten gefunden wird und
daher unmöglich in so großer Zahl gefangen werden kann) zeigten
in der Zeichnung unverkennbare Übereinstimmung und zwar trotz-
dem sie unter den verschiedensten Lebensbedingungen gehalten
worden waren. (Auch Kammerer spricht an verschiedenen Stellen
von solchen hochgradigen Familienähnlichkeiten — Taf. X u. XIV,
Fig. 10—11; Taf. X u. XV, Fig. 16—17 —, merkwürdig ist dabei
nur, dass die Familienähnlichkeit bei ihm immer erst nach experi-
menteller Behandlung herauskommt — in den Anfangsstadien merkt
man nichts davon.)
Zum Schlusse möchte ich noch bemerken, dass Stadien, wie
sie die großen Tiere auf Taf. XIII darstellen (Fleckenverdüsterung
ohne wesentliche Fleckenverkleinerung), sehr leicht dadurch ent-
stehen, dass man die Tiere recht trocken hält (Kammerer gibt
selbst an: Q der P-Generation auf trockenem Boden); sie können
sich dann nicht häuten, ‘die alte Haut, die auf den hellen Flecken
festhaftet, ruft den Eindruck einer Verdüsterung hervor. Ich bin
nicht davon überzeugt, ob Kammerer mir auch nur ein Exemplar
dieser Düsterform vorweisen kann, für das diese Erklärung ver-
sagen würde.
Wien, 13. Juli 1914.
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 181
Nachschrift. Erst jetzt im Oktober ersehe ich aus den „Be-
merkungen zu Kammerer’s Abhandlung: Vererbung erzwungener
Farbveränderungen IV“ von Erwin Baur (in Arch. Entw.-Mech.
XXXVII (1914, p. 682—684), dass den Tafeln XIV u. XV der
Kammerer’schen Arbeit, die allerdings keine Serien, sondern nur
Anfangs- und Endstadien vorstellen, photographische Aufnahmen
zugrunde liegen. Schade, dass gerade diese, wie Herr Prof. Baur
bemerkt, sehr schlechte, vielfach retuschierte Photographien sind,
schade ferner, dass Kammerer erst jetzt die Retusche der Figuren
— wenigstens 9 und 26 — auf Taf. XIV u. XV (nicht XV u. XV],
wie er angıbt) erwähnt. Nicht ganz verständlich ist der Passus 3
(ad „Anfangs- und Endstadium“) der Aufklärungen Kammerer’s.
Stellen die hier erwähnten Abbildungen durchwegs’verschiedene Tiere
vor, so begreift man nicht recht, was ihre Abbildung für einen
Zweck haben soll; solche Einzelexemplare kann man auch leicht
zusammenkaufen, man braucht sie nicht zu züchten. Eine einzige
photographierte Serie wäre vertrauenswürdiger als diese Neben-
einanderstellung geduldiger Stadien verschiedener Serien. Aber
eine solche Serienaufnahme vermisse ich schmerzlich.
Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer
Jungfische.
Von Dr. Ludwig Scheuring, Helgoland').
Symbiose und Parasitismus sind zwei Erscheinungsformen von
Lebensgemeinschaft, die durch viele Übergänge miteinander ver-
bunden, es dem Beobachter oft schwer machen, sich für die eine
oder andere zu entscheiden. Erschwert wird die Trennung beider
sowohl durch die Variationsbreite der symbiotischen Erscheinungen,
als auch durch die Mannigfaltigkeit der möglichen parasitären
Lebensweisen. Bei der Symbiose werden nur in den allerseltensten
Fällen beide Symbionten der gleichen Gemeinschaft aus dieser ein
gleiches Maß von Vorteil ziehen; weit mehr wird der Fall eintreten,
dass das Plus des Einen sich auf Kosten des Anderen vermehrt.
Verschiebt sich das Verhältnis immer mehr zugunsten des einen
Gesellschafters, so kommen wir zu Erscheinungen, die sich je nach-
dem einem Fress- oder einem Ektoparasitismus immer mehr nähern
und schließlich zu einem echten Parasitismus führen können. Deshalb
können nur sehr exakte Besbachtungen beider Symbionten in ihren
natürlichen Verhältnissen und passende Experimente die Frage klar
entscheiden, haben wir es in diesem oder jenem Fall mit Sym-
biose oder mit Parasitismus zu tun?
1) Diese Arbeit wurde dem Biol. Centralbl. im November 1913 eingereicht;
infolge bedauerlicher Umstände wurde eine frühere Veröffentlichung, entgegen dem
Wunsche des Verfassers, verhindert.
482 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische.
In folgendem soll das Verhältnis zweier Tiere, über deren gegen-
seitige Beziehungen noch Unklarheit bestand, näher betrachtet
werden.
In dem Aquarium der Biologischen Anstalt Helgoland werden
in einem der großen Schaubecken während des Sommers Quallen
(Oyanea capillata und Aurelia aurita) gezeigt. Häufig sieht man
hier unter der Scheibe der Haarqualle und zwischen ihren lang
herabhängenden Fangfäden kleine Fische herumspielen, anscheinend
völlig unbekümmert um die Nesselzellen, mit denen die langen
Senker bewaffnet sind. Wir haben es hier mit den Jungen von
Gadus merlangus und Caranz trachurus zu tun, die beide die Ge-
wohnheit haben, sich unter dem Schirm der Qualle oder in deren
nächster Nähe aufzuhalten.
Über den Zweck dieses eigentümlichen Aufenthaltes wusste
man nichts ganz Sicheres. Im großen und ganzen ging die land-
läufige Meinung dahin, dass es sich bei dem Zusammenleben von
den Jungfischen mit der Qualle um ein „ideelles Freundschafts-
bündnis“ handle: Die Qualle gewährt der zarten Brut Schutz unter
und hinter ihren mit Nesselzellen bewehrten Tentakeln und lässt
auch die Fische von dem Überflusse der an ihren Senkfäden hängen-
bleibenden kleinen Planktontieren zehren, wofür sie durch diese
von den parasitischen Amphipoden (Hyperia galba), die sich in ihren
Schirm einnagen, befreit wird. Jedoch wurde dieser Deutung als
unbewiesen immer wieder Zweifel entgegen gestellt, und meist
wurde das Verhältnis von Fisch und Qualle nicht weiter untersucht
und nur auf die Abhängigkeit des Vorkommens der Jungfische von
dem der Qualle hingewiesen.
Die Literaturangaben, die das Zusammenleben von Fischen mit
Quallen behandeln, sind sehr spärlich und weit zerstreut. Mög-
licherweise ist mir deshalb auch die eine oder andere Quelle ent-
gangen, um so mehr, da häufig sich derartige Notizen in größeren
Arbeiten finden, deren Titel sie nicht vermuten lässt.
Der erste Forscher, der das Vorkommen von Jungfischen unter
(uallen beobachtete und sich auch über die Art dieses Verhält-
nisses äußerte, war A. W.Malm. In Öfversigt af Kong]. Vetenskaps.-
Akademiens Förhandlingar. Attonde Argängen 1852 berichtet er in
einem Aufsatze: Über die Brut von (Caranx trachurus (Om yngel
af Caranz trachurus) auf p. 226 folgendermaßen?). „Während
meines Aufenthaltes in den Schären von Bohuslän im letzten
Sommer sagte mir ein alter Fischer, dass der Wittling (Merlangus
2) Ich gebe das Zitat in deutscher Übersetzung wieder, weil doch die Kenntnis
des Schwedischen nicht allgemein verbreitet ist. Für die Übersetzung bin ich
Herrn Geh.-Rat Prof. Dr. Heincke und Herrn Rektor Erichsen, Helgoland,
zu Danke verpflichtet.
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 183
vulgaris) in der Qualle (Oyanea capillata) „gestiftet“ (geboren) werde;
ein anderer versicherte, dass die Qualle Heringsbrut fresse.
Um die Ursache dieser Äußerungen zu ergründen, fing und
untersuchte ich eine Menge Quallen und fand in einer 7, in einer
anderen 3 und in einer dritten 5 kleine Junge von Trachurus. Sie
wurden alle zwischen den Ovarien der Qualle angetroffen. Und als
ich versuchte, diese kleinen Tiere zu fangen, arbeiteten sie sich so
weit als möglich unter den Schirm der Qualle. Mit der letzten, die
ich erhielt, stellte ich folgende Versuche an: Nachdem ich die Fische
in ein Gefäß mit Wasser gesetzt hatte, erhielt die Qualle ihre Frei-
heit wieder; und als ich sofort darauf einen Fisch nach dem anderen
frei ließ, sah ich zu meinem größten Vergnügen, dass alle unter
die Qualle, die sich um zwei Fuß gesenkt hatte, tauchten und
augenblicklich unter den Schirm derselben flohen. Der Versuch
wurde erneuert, aber vier meiner kleinen Fische starben dabei, so
dass der eine allein seine, wie es schien, geliebte Qualle erreichte.
Jetzt nahm ich die Qualle und setzte sie in ein am Strande liegendes,
zur Hälfte gesunkenes Boot, und während der 3 Tage, die ich ın
Christineberg war, besuchte ich oft diese Qualle, unter deren Ovarien
sich der kleine Fisch leise bewegte. Nachdem ich den Darmkanal
des Fisches untersuchte und ıhn voll mit Eiern der Qualle fand,
zweifelte ich nicht mehr, dass diese kleinen Fische wie eine Art
Parasiten bei der Oyanea capillata leben. Als Grund für diese meine
vielleicht gewagte Annahme kann ich weiter anführen, dass ich beı
Anstellung genauerer Untersuchungen diese Fischjungen niemals
anders als bei der genannten Qualle antreffen konnte. Es verdient
auch noch erwähnt zu werden, dass ich niemals eine andere Fischart
bei der genannten Qualle gefunden habe, obwohl iclı sie dann und
wann unter tausenden Individuen von Gobius ruthensparri Euphras
und anderen Fischen fand. Dass die Stachelmakrele schon sehr
früh zwischen die Ovarien der Qualle geht, um sich dort zu nähren
und dort bleibt bis der Fisch eine vollkommenere Entwickelung
erreicht hat, kann schließlich auch daraus gefolgert werden, dass
die Individuen, die in derselben Qualle gefunden wurden, fast alle
dieselbe Größe hatten.“
In seinem bekannten Werke: Göteborgs och Bohusläns Fauna,
Ryggradsjuren 1877 kommt Malm p. 421 auf diese Beobachtungen
zurück und fügt noch einige Ergänzungen hinzu. 1853, 1854, 1873
konnte er in Christineberg immer das gleiche Schauspiel beobachten.
Immer fand er junge Stöcker unter der Oyanea capillata. Nur ein ein-
ziges Mal traf er sie auch unter Rhixostoma aldrovandii an und istgewillt,
in dieser Tatsache eine Ausnahme zu erblicken, die auf einem Irr-
tum des Fisches beruhe. P. 485 lesen wir zum ersten Male, dass
auch junge Brut von Gadus merlangus mit der Qualle zusammen-
lebt. „Im Sommer kann man vom Lande oder von einem Boot aus
184 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismur pelagischer Jungfische.
oft mehrere Exemplaye sehen (gemeint junge Gadus merlangus)... .,
welche ich in dem klaren Wasser der Qualle CUyanea capillata
folgen sah, genau if derselben Weise, wie dies bei den Jungen
von Caranz der Fall ist...“ Am 3. Juni 1856 erhielt ich bei
Känsö einige Junge von 19—30 mm Länge ın Gesellschaft der ge-
nannten Qualle; den 7. August 1865 bei Strömstad auf dieselbe
Weise, welche von 15—30 mm Länge und weiter an derselben
Stelle in demselben Jahre welche von 50—60 mm Länge, die aber
getrennt schwammen.“
Collet (1875) berichtet, dass während ihres pelagischen Lebens
die Jungen von Gadus morrhua unter Oyanea capillata und Medusa
aurita gegen die vielen Gefahren Schutz suchen (p. 106) und dass
die Brut von Gadus aeylefinus und Gadus merlangus zusammen mit
Oyanea gefunden wird (p. 108 u. 109).
Möbius und Heincke erwähnen in ıhrem bekannten Werke:
Die Fische der Ostsee, sowohl für Caranz als auch für Gadus aegle-
finus und Gadus merlangus, dass deren Jugendformen zusammen mit
der Qualle Cyanea capillata vorkommen „Nach Beobachtungen
anderer Forscher sollen ganz junge Stöcker in den Ernährungs-
höhlen von Quallen leben“ (p. 216).
Smitt bezieht sich in: A history of Scandinavian Fishes, was
Caranz anbetrifft, auf die Beobachtungen von Malm, die durch
brieflich an Eckström berichtete Angaben von I. W. Grill be-
stätigt werden (p. 87 u. 88). In bezug auf Schellfischbrut heisst
es p. 471 „Like the young of several other fishes, of the Horse
Mackerel and the Cod for example, the Haddock fry according to
Sars and Collett, seek shelter and food under the bodies of
Medusae, together with which they drift about, until they are more
than 50 mm long.“ Auch junge Dorsche suchen nach Smitt den
Schutz der Qualle auf: „The fry now (10—15 Tage alt) seek shelter
under Medusae and other floating objekts“ (p. 478). P. 491 be-
spricht der Autor dann das Verhältnis von jungen Wittlingen zu
der Qualle, und hier wird zum ersten Male die schon vorn skizzierte
Ansicht geäußert, dass der junge Merlangus als „Freund“ der Qualle
diese von ıhren Parasiten befreie... „The fry may be seen assem-
bled ın fairly great numbers under the large jelly-fish (Oyaneca
capillata) ın which the sea abounds. Thus the fry of the Whiting
like those of the Cod and other fishes, fly for shelter to these
creatures and feed upon the erustaceans which live as parasites ın
the body of the jelly-fish or adhere to its long, filiform, and slımy
tentacles. During the summer... small Whiting from 10 to 12 mm
long may olten be seen keeping close to a jelly-fish for hours,
following its sluggish movements ın a manner that seems to indi-
cate a certain intimacy and mutual confidence between these strangely-
assorted companions.“
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 185
In den Veröffentlichungen der Internationalen Meeresforschung
wird häufig das Vorkommen von jungen Gadiden und Caranz
zusammen mit Quallen erwähnt und die Abhängigkeit der ersteren
von letzteren betont. Die Art des Abhängigkeitsverhältnisses aber
wird nieht näher untersucht.
In „Eier und Larven von Fischen der deutschen Bucht“ be-
tonen Heincke und Ehrenbaum ausdrücklich, dass man wohl
das Zusammenleben von Fisch und Qualle schon lange kenne, über
den Zweck desselben aber noch nicht genügend unterrichtet: seı.
„Die Jugendformen der Bastardmakrele sind längst bekannt und
oft beobachtet, namentlich wenn sie in kleinen Gruppen die Schirm-
quallen der Gattungen Cyanea und Rhixostoma umschwärmen, mit
denen sie noch nicht völlig aufgeklärte Beziehungen erhalten“
(p. 277).
Ausdrücklich hebt auch Heincke in: Die Eier und Jugend-
formen der Nutzfische ın der Nord- und Ostsee und die Alters-
bestimmungen der Nutzfische, die Abhängigkeit des Vorkommens
von Jungfischen von dem der Quallen hervor. „Es ist bekannt,
dass die jungen Wittlinge, so lange sie noch etwas kleiner sind
und eine pelagische Lebensweise führen, fast immer mit Quallen
(meist Oyanea) zusammen gefunden werden. Ob dieser so
charakteristische Aufenthalt der jungen Fische unmittelbar neben
den Quallen, ja zwischen ihren Fangfäden — wie wir es oft ın
unseren Aquarien und zuweilen auch auf offener See nahe der
Wasseroberfläche gesehen haben — eine Art echter Lebensgemein-
schaft ist und welcher Art, ist noch nicht bekannt. Sicher ist,
dass wir ın unseren Oberflächennetzen fast niemals pelagische Witt-
linge gefangen haben ohne auch zugleich Quallen zu fischen und,
dass meist um so mehr Wittlinge in einem Fang waren, je mehr
Quallen er enthielt. Wie weit übrigens auch die Jungfische anderer
Gadiden-Arten, wie z. B. kleine Schellfische und Kabeljaue, mit
Quallen zusammenleben, können wir aus Mangel an Beobachtungen
noch nicht bestimmt sagen; wir wollen hier nur betonen, dass
alle unsere pelagischen Jungfisch-Fänge Quallen ent-
hielten und, dass Kabeljaue und Schellfische, wenn sie in solchen
Fängen vorhanden waren, immer mit Wittlingen zusammen gefunden
wurden, wobei die letzteren fast ausnahmslos in der Mehrzahl
waren“ (p. 39).
Ähnlich spricht sich der gleiche Forscher in dem 3. Jahres-
bericht: Die Arbeiten der Kgl. Biologischen Anstalt auf Helgoland
in.der Zeit vom 1. April 1904 bis 31. März 1905, aus. „Von be-
sonderem Interesse ıst die durch unsere Untersuchungen festgestellte
merkwürdige Abhängigkeit der Brut gewisser dorsch-
artıiger Fische, wie des Kabeljaues, des Schellfisches und des
Wittlings, von dem Vorkommen der Quallen, besonders der
456 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische.
sogen. Haarqualle.e Wenn die Brut dieser Fischarten das Larven-
stadium vollendet hat, führt sie eine Zeitlang ein pelagisches Leben
ın freiem Wasser und geht erst allmählich zum Leben auf dem
Meeresboden über, am spätesten der Wittling, am frühesten der
Kabeljau. Während dieses pelagischen Lebens nun trifft man diese
drei Fischarten fast ausschließlich in Gesellschaft der ge-
nannten Quallen, in deren unmittelbarer Nähe und zwischen
deren Fangfäden sie umherschwimmen. Dieses eigenartige, in seiner
wahren Bedeutung noch nicht erkannte Zusammenleben von Fischen
und Quallen ist in der Nordsee ein so enges, dass dort, wo keine
Quallen sind, auch fast niemals junge Fische der genannten Arten
gefunden werden. Wir sind in der nordwestlichen Nordsee auf
hoher See tagelang gefahren, ohne eine Qualle gesehen und ohne
einen pelagischen jungen Gadiden gefangen zu haben; sobald dann
aber die ersteren wieder sich zeigten, waren auch diese sofort
wieder da.
Da die Quallen in hohem Grade planktonische Tiere sind und
durch Strömungen wahrscheinlich weit umhergetrieben werden,
muss man annehmen, dass auch die Verbreitung der jungen Brut
des Kabeljaues, Schellfisches und Wittlings in erheblichem Maße
durch Strömungen beeinflusst werden kann.“
Einige Seiten später heisst es dann noch in bezug auf den
Wittling: „... Sie leben von 2—5 cm Länge in den Sommer-
monaten in enormen Mengen zusammen mit den Quallen
ın den oberflächlichen und mittleren Wasserschichten und bleiben
auch sehr häufig noch dort, wenn sie zu 10, 15 und mehr Zenti-
meter herangewachsen sind“ (p. 79).
Haben Heincke und Ehrenbaum darauf verzichtet, etwas
Bestimmtes über die Art der Lebensgemeinschaft zwischen Jung-
fischen und Quallen zu behaupten, so wird an anderer Stelle die
Ansicht geäußert, dass die ersteren bei den letzteren Schutz suchten.
So sagt z. B. Griffini in bezug auf Caranz in einer Ittiologia
ıtalıana: „Fu osservato come ıi giovanı individul accompagnino
talora le grosse meduse, riparandosı anche sotto l’ombrello di
queste, e trovando cosi una protezione neglı organı urticantı di
quei celenterati“ (p. 408).
Auch T. W. Bridge und G. A. Boulenger machen sich bei
der Bearbeitung der Fische in: The Cambridge Natural History
diese Auffassung zu eigen. „The young... of Caranz trachurus
keep together in small bands in the neighbourhood of medusae, under
which they seek shelter when disturbed.“
Nicht nur in der Familie der Gadiden und der Öarangiden
finden wir ein Zusammenleben von Jungfischen mit Quallen. So
weist z. B. die Familie der Stromateiden eine ganze Reihe von
Arten auf, die mit Quallen zusammen angetroffen werden. Bekannt
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 187
ist, dass Physalia oft von einem Fisch dieser Familie, Nomeus gro-
novii Gmelin, begleitet wird. Waite berichtet in Rec. Austral.
Museum Bd. 4, p. 39 darüber wie folgt: „It is noticed that Nomeus
is only found on our coast, when the ‚Portuguese men-of-war“
are driven ashore, and this is quite in accord with the habit
of the fish in swimming beneath the Physalia.“ Über die Art der
gegenseitigen Beziehungen der beiden äußert sich Waite p. 40:
„The relationship which exists between Nomeus and Physalia is a
very curious one, and invites speculation as to the advantage of
the association. A similar partnership is known between fishes and
medusae. The benefit must be primarily with the fish, for ıt ıs a
voluntary agent, whereas the Physalia has no power of locomotion.
If the fish secures safety from ıts enemies by entering the area
embraced by the deathly tentacles of the Physalia, which attains a
length of ten to twelve feet, it must be immune to their influence;
a remarkable condition considering that as I have previously recorded,
small fish have often been seen in their stomachs and entangled
in their tentacles* (Waite, Austral. Museum Mem. Bd. 4, 1899,
p. 15)°). Auch in bezug auf den Nahrungserwerb stellt sich nach
seiner Ansicht der Fisch bei dem Zusammenleben mit der Qualle
besser. „It ıs probable that, in addition to protection, the fish
derives its food from association with Physalia ... The Physalia
doubtless paralyses many more anımals than ıt can consume. —
The residue falling to the lot of the fish, which may be present
to the number of ten* (p. 41).
Um endlich über das Verhalten von Jungfisch zur Qualle Klar-
heit zu erhalten, stellte ich in den Becken der Biologischen Anstalt
eine Reihe von Beobachtungen und Versuchen an. In der Haupt-
sache wurden dazu junge Wittlinge und Oyanea capillata benutzt
und nur die wesentlichsten Befunde wurden an jungen Caranz
nachgeprüft.
Die Quallen halten sich in den Becken nur für kürzere Zeit
vollkommen frisch und werden deshalb öfter durch andere ersetzt.
Bei dieser Gelegenheit fiel mir auf, dass die in dem Becken be-
findlichen Fische sich gierig auf die bei dem Transport der Qualle
von dieser losgerissenen Ovarfetzen stürzten und sie verschlangen.
Dieses Tun erweckte ganz den Anschein, als ob hier die Fische
ihre natürliche Nahrung vor sich hätten, die selbstredend am liebsten
genommen wird. Bestärkt wurde ich in diesem Gedanken durch
den Umstand, dass die Aufzucht von Wittlingsbrut zusammen mit
Quallen fast immer Erfolg hat, wogegen die Fische, wenn sie ge-
trennt von Quallen gehalten werden, viel eher sterben, selbst wenn
3) Nach Garman (Bull. Lab. Nat. Sc. 1896, p. 86) werden aber auch die
kleinen Nomeus selber häufig von der Physalia getötet und verzehrt.
488 Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische.
sie regelmäßig und reichlich mit frischem Plankton gefüttert werden.
Beobachtete man die Fische weiter, so konnte man oft genug sehen,
wie, nachdem sie alle losgerissenen und herumtreibenden Ovar-
fetzen der Quallen aufgefressen hatten, sie lebhaft nach deren Genital-
höhlen stießen und Eibündel herausrissen. Aber nicht nur die
Eierstöcke der Quallen waren solchen Angriffen ausgesetzt, sondern
oft wurde auch an den Tentakeln herumgezerrt. Nie aber konnte
ich beobachten, dass die häufig in dem Schirm der Quallen schma-
rotzenden Amphipoden eo galba), dıe in allen Größen vor-
handen waren, irgendwie von den Fischen beachtet wurden.
Bei der Magenuntersuchune eines Fisches, der mehrere Tage
ständig mit Quallen zusammen war, fand ich die Verdauungsorgane
prall angefüllt mit Ovar- und Tentakelfetzen, konnte aber nicht die
Spur von Kopepoden oder anderen Krustern finden, obgleich die
Quallen (und somit auch die Fische) täglich reichlich mit Plankton
gefüttert wurden und oft genug tote Krebschen an ihren Senkfäden
hingen.
Nun isolierte ich einige Fische verschiedener Größe von den
Quallen und ließ sie 1—2 Tage hungern. Dann wurden sie mit
Övarfetzen gefüttert. Rasch wurden diese verschlungen; und solche
Mengen nahmen die Fische zu sich, dass man ıhrer äußeren Körper-
form deutlich den überfüllten Magen ansehen konnte.
Nach einer abermaligen Hungerperiode wurde den Fischen ein
Gemisch von Ovarfetzen und kleinen lebenden Krustern (Kope-
poden und Dekapodenlarven) gereicht. Wieder stürzten sich die
kleinen Wittlinge gierig auf die ersteren, während letztere gar keine
Beachtung fanden.
Dann wurde den gut ausgehungerten Tieren eine größere
Menge von Hyperia galba ın allen Größen vorgesetzt. Aber auch
nicht eine der Amphipoden fand den Weg in den Magen der jungen
Wittlinge.
Auf reines Plankton, das den Fischen gereicht wurde, gingen
die meisten gar nicht; nur die größeren Exemplare (über 9 cm)
nahmen nach einigem Zögern wenige Kruster, aber, wie es schien,
durchaus nicht mit Eifer und Fresslust, sondern nur weil sie an-
scheinend der Hunger dazu trieb. Die jüngsten Fische dagegen
weigerten die Annahme von Plankton vollkommen.
Alle die vorliegenden Versuche wurden mehrfach wiederholt
und auch zum Teil an Caranxz nachgeprüft. Nach ihnen steht so-
mit fest, dass die jungen Wittlinge und Pferdemakrelen als echte
Parasiten der Qualle aufgefasst werden müssen. Sie leben aus-
schließlich von Teilen der Qualle. Malm hatte also mit seiner
diesbezüglichen Vermutung recht. Die Qualle hat von dem Zu-
sammenleben mit den Fischen gar keine Vorteile, denn ihre Para-
sıten werden ja von diesen als Nahrung verschmäht; es kann des-
»
Scheuring, Beobachtungen über den Parasitismus pelagischer Jungfische. 189
halb nicht von einem Freundschaftsverhältnis zwischen Qualle und
Fisch die Rede sein, es handelt sich um einen Parasitismus,
nicht um eine Symbiose.
Fragen wir uns, wie und warum sich vermutlich das Para-
sitieren der Jungfische bei den Quallen herausbildete, so müssen
wir den Grund hierfür in einer Anpassung an das.pelagische Leben,
verbunden mit einem stigmotaktischen Fluchtinstinkt, suchen.
Sehr viele freilebende Jungfische werden nur unter treibenden
Algen u. s. w. angetroffen. Diese gewähren ihnen sowohl Schutz
als auch Nahrung; bei Verfolgung verschwinden die Larven rasch
unter und zwischen dem Gewirr von Halmen und Stengeln, und
die an den Pflanzen ansitzenden und daran herumkriechenden Tiere
bilden ihre Hauptnahrungsquelle. Treibende Tangmassen finden
sich aber immer mehr ın der Nähe der Küste als auf der offenen
See. Extrem pelagische Larven werden deshalb auf der Hochsee
nicht genug Unterschlupf unter derartigen Treibmassen finden.
Diese passen sich nun den rein pelagischen, ebenfalls treibenden
Quallen an und suchen bei ihnen, genau wie ihre Verwandte unter
Algen, Schutz und Nahrung.
Eine gute Stütze für diese hier skizzierte wahrscheinliche Heran-
bildung des Parasitismuses bietet das Verhalten der Jungfische ver-
schiedener Gadiden.
Die jungen Gadus pollachius führen kein eigentlich pelagisches
Leben und werden ausnahmslos unter und zwischen Algen der
Strandregion gefangen. Gadus virens zeigt schon etwas die Ten-
denz zum Leben in freiem Wasser; seine Larven finden sich haupt-
sächlich unter Triftmassen. Gadus morrhua lebt wohl in der Jugend
pelagisch, geht aber früh zum Leben auf dem Grund und in der
Tangregion über. Seine Brut wird ın der Hauptsache unter treiben-
den Algen angetroffen, kommt aber auch zuweilen unter Quallen
vor. Später als der Dorsch geht der Schellfisch!) zum Boden-
leben über. Seine Larven schätzen denn auch das Zusammenleben
mit der Qualle, obgleich auch ihr Vorkommen unter Triftmassen
allgemein ist. Der pelagischste Gadide ist der Wittling. Seine
Brut ist vollkommen auf das Parasitieren bei der Qualle spezialisiert
und hat verlernt, sich, wie ihre Verwandten, von kleinen Krustern
zu nähren. (Man vergleiche die oben zitierten Beobachtungen von
Heincke.)
Durch meine Experimente wurde die Frage nach der Immunität
der Jungfische gegen die Nesselzellen der Qualle nicht angeschnitten.
Ich möchte dazu nur die Vermutung äußern, dass eine derartige
4) Ich hatte leider keine Gelegenheit, mit jungen Gadus aeglefinus zu experi-
mentieren, um festzustellen, ob diese noch Plankton, besonders kleine Kruster als
Nahrung annehmen.
190 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete,
absolute Unverletzbarkeit des Fisches nicht angenommen zu werden
braucht. Die Mund- und Rachenpartien müssen zwar gegen die
Wirkung der beiden unempfindlich sein, da die Tentakel ja ge-
fressen werden. Im übrigen kann man häufig sehen, wie es dem
Fisch gelingt, infolge seiner geschickten Bewegungen die Berührung
der nesselnden Fäden mit dem Körper zu vermeiden. Außerdem
fragt es sich doch noch, ob bei einer eventuellen Berührung die
Nesselfäden genug Kraft haben, die ziemlich dieke schleimige Epi-
dermis des Fisches zu durchstoßen.
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Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen!').
Von Dr. med. Rudolf Brun,
Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich.
M.H.! Das Problem der Orientierung im Raum bietet bekanntlich
auch beim Menschen ein nicht geringes psychophysiologisches und
klinisches Interesse; — ıch erinnere hier nur an das staunenswerte
Örientierungsvermögen, welches, nach den Berichten zahlreicher
Forschungsreisender, Angehörige gewisser wilder Völkerschaften an
den Tag legen sollen, sowie andererseits an jene merkwürdigen und
schweren Orientierungsstörungen, welche der Neurologe bei der
Rinden- und bei der sogen. Seelenblindheit zu beobachten Gelegen-
1) Vorträge, gehalten in der psychiatrisch-neurologischen Gesellschaft in
Zürich, am 12. Dezember 1914 und am 23. Januar 1915.
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc, 191
heit hat. Doch ist diese Frage beim Menschen naturgemäß eine
außerordentlich verwickelte; sie ist hier (wie übrigens auch bei den
Säugern) experimentell noch kaum ernstlich in Angriff genommen)
und daher selbst mit Bezug auf die Beteiligung der wesentlichsten
Komponenten noch sehr wenig geklärt. Dagegen vermag die experi-
mentelle Analyse der um vieles einfacheren Verhältnisse bei
niedrigeren Organismen (Vögeln, Insekten) uns wenigstens einen
rohen Einblick in die Prinzipien zu gewähren, nach denen der kom-
plizierte Mechanismus der Fernorientierung sich abwickelt, und
eine Reihe wichtiger Gesichtspunkte als Basıs für künftige Frage-
stellungen. Durchgeht man aber die reiche diesbezügliche Lite-
ratur, so ist man vielfach überrascht zu sehen, wie willkürlich
manche sonst streng wissenschaftliche Autoren bei der theore-
tischen Beurteilung ihrer an sich sehr sorgfältigen und klaren
Beobachtungen verfuhren; — eine Willkür, die vielfach selbst vor
der Aufstellung ganz abenteuerlicher, physiologisch unbegreiflicher
und schon erkenntnistheoretisch von vornherein unhaltbarer Hypo-
thesen nicht zurückschreckte: Geheimnisvolle, noch unentdeckte
Kräfte (Fabre, Bethe), eine „absolute, von allen sinnlichen An-
haltspunkten der Außenwelt unabhängige innere Richtungskraft“
(Cornetz), eine absolute Kenntnis der vier Kardinalpunkte des
Raumes (Berthelot), Wahrnehmung des Erdmagnetismus (V iguier)
oder „infraluminöser Strahlen“ (Duchatel), ein „nasaler Raum-
sinn* (Öyon), eine minutiöse kinästhetische Registrierung sämtlicher
beim Hinweg ausgeführter Körperdrehungen (Bonnier, Reynaud,
Pieron), eine Polarisation chemischer Duftteilchen (Bethe); —
alle diese und noch manche andere mysteriöse Fähigkeiten wurden
nacheinander zur „Erklärung“ der Fernorientierung der Brieftauben,
Bienen und Ameisen mit herangezogen. Die Ursache aller dieser
wissenschaftlichen Missgriffe ist m. E. in einem gewissen Mangel
an allgemein-biologischen Gesichtspunkten zu suchen; es fehlte
an einer festeren theoretischen Grundlage, welche eine einheitliche
Betrachtungsweise der Orientierungsphänomene im allgemeinen,
ihrer verschiedenen biologischen Stufen und der allgemeinen psycho-
physiologischen Gesetze, welche sie beherrschen, ermöglicht hätte.
Eine solche theoretische Basis habe ich in meiner Monographie
über die Raumorientierung der Ameisen?) in ihren Umrissen zu
skizzieren versucht und die dabei gewonnenen Gesichtspunkte
haben sich mir auch bei meinen speziellen experimentellen Frage-
stellungen als praktisch und fruchtbar erwiesen. Ich möchte Sie
2) Systematische Untersuchungen über den kinästhetischen Richtungssinn des
Menschen wurden erst in jüngster Zeit von Szymanski (Pflüger’s Arch. f. d.
ges. Phys. 1913) ausgeführt.
3) Brun, Die Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem
im allgemeinen. — Gustav Fischer, Jena 1914.
199 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
daher auch an dieser Stelle zunächst mit diesen allgemeinen Ge-
sichtspunkten bekannt machen, bevor ich, im zweiten Teile meines
Vortrages, zur Darstellung der experimentellen Ergebnisse bei den
Ameisen übergehe, — um so mehr, als eine solche theoretische
Übersicht Ihnen auch das Vers ‚tändnis der dort zu erörternden, oft
recht komplizierten Versuchsanordnungen wesentlich erleichtern
dürfte.
T:
Über Raumorientierung im allgemeinen.
Als Orientierung ım Raum können wir ganz allgemein die
Fähigkeit der Organismen definieren, ihren Körper oder Teile des-
selben ın bestimmter Weise auf die einwirkenden Reize einzustellen,
bezw. ihre räumliche Fortbewegung in irgendeiner gesetzmäßigen
Weise auf die betreffenden Reizquellen zu beziehen. Nach dieser
allgemeinen Definition kommt die Orientierungsfähigkeit wohl sämt-
lichen Organısmen, auch den sesshaften, ohne Ausnahme zu: Sie
ist eine primäre Eigenschaft des lebenden Protoplasmas und als
solche schon mit jeder primären Reizbeantwortung verknüpft.
Versuchen wir, die ungeheure Mannigfaltigkeit aller hier in
Betracht kommenden Erscheinungen nach biologischen und physio-
logischen Gesichtspunkten zu gruppieren, so können wir sie zu-
nächst zwanglos ın zwei Hauptkategorien unterbringen und unter-
scheiden:
I. Eine propriozeptive (absolute) und II. eine exterozeptive
(relative, relationelle) Orientierung.
I. Die propriozeptive Orientierung empfängt ihre Angaben
ausschließlich von inneren, d. h. bei passiven oder aktiven Be-
wegungen ın den bewegten Teilen selbst entstehenden Reizen; sie
hat deshalb keinerlei nähere Beziehungen zur Außenwelt, sondern
orientiert den Organısmus lediglich über seine absolute Lage im
umgebenden Raum, bezw. über die gegenseitige Stellung seiner
Glieder. Natürlich trıtt die propriozeptive Obiehtrerune nn bei
der exterozeptiv orientierten Lokomotion jeweilen ausgiebig in
Funktion, jedoch nur als notwendige Vorbedingung zur hen
Ausführung der dabei stattfindenden Einzelbewegungen, niemals im
Sinne einer Direktion der Gesamtleistung, hinsichtlich des Be-
wegungszieles.
Die propriozeptive Orientierung ist eine statische oder eine
dynamische, je nachdem, ob dr Zweck sich ın der einfachen
Beantwortung der primären een erschöpft, oder ob das
Resultat dieser primären Antwortbewegungen seinerseits wieder ın
einem höheren Zusammenhange registriert und zum Aufbau neuer,
sekundärer Orientierungen verwertet wird.
1. Bei der statischen Orientierung handelt es sich um ein-
fache Einstellungsbewegungen des Körpers oder seiner Teile ın
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 193
einem bestimmten Verhältnis zur Lotrichtung der Schwerkraft. Bei
den Pflanzen sind diese Bewegungen äußerst träge; sie beruhen
hier offenbar auf polar ungleicher Wachstumsintensität in den von
dem Reize getroffenen Zellen und führen so allmählich zu jenen
Wachstumseinstellungen des Pflanzenkörpers, wie sie als Axotro-
pismen (Geotropismus, Heliotropismus u. s. w.) bekannt sind. Wir
können diese primitivste Form der räumlichen Orientierung als
plasmostatische Orientierung bezeichnen und der neuro-
statischen Orientierung der Tiere gegenüberstellen, wo die
betreffenden Einstellungsbewegungen äußerst prompt und in feinster
Anpassung an die fortwährend stattfindenden aktiven Änderungen
des Körpergleichgewichts durch Vermittlung komplizierter stato-
tonischer Sinnes- und Reflexapparate erfolgen.
2. Die dynamisch-propriozeptive Orientierung baut sich
auf aus einer mehr oder minder komplizierten zeitlichen Sukzession
derjenigen sekundären propriozeptiven Registrierungen, welche man
als Kinästhesien (im weitesten Sinne) zu bezeichnen pflegt.
Die Statolithenapparate, die Organe der Seitenlinie, die Bogen-
gänge des Labyrinths, zeigen dem Organısmus passive Lageverände-
rungen der Körperachse bekanntlich auch dann an, wenn alle übrigen
Kinästhesien und exterozeptiven Merkzeichen ausgeschaltet sind.
Dass dem so ist, beweist die interessante Tatsache, dass Taub-
stumme unter Wasser (wo der myostatische Sinn ausgeschaltet,
bezw. sehr herabgesetzt ıst) sehr oft jede Orientierung über die
absolute Lage ıhres Körpers im Raum verlieren und sogar nicht
mehr wissen, was oben und unten ist. Wir können die Funktion
der statischen Apparate zusammen mit dem myostatischen Sınn
(nebst den entsprechenden passiven Spannungswahrnehmungen in
den Sehnen, Gelenken und der Haut) als passıven Lagesinn
oder als passive Kinästhesie zusammenfassen. Im Gegensatz zu
ihm orientiert die aktive Kinästhesie, der Muskelsinn sens. strict.
oder besser: der „Bewegungssinn“ in ziemlich genauer Weise
über den jeweiligen aktiven Kontraktionsgrad in den verschiedenen
Muskelgruppen und somit auch über die bei Ausführung bestimmter
kinetischer Figuren (z. B. „Vierteldrehung rechts“) zu benutzenden
Synergien und Sukzessionen. Als Barästhesie („Schwere- oder
Kraftsinn*“) registriert er ferner in roher Weise die aktive Erhöhung
des Muskelwiderstandes, welcher beim Bergansteigen zur Überwin-
dung der Schwere oder beim Bergabsteigen zur Verhinderung des
passiven Falles erfordert wird und ermöglicht so eine gewisse Schät-
zung des Neigungswinkels. Und schließlich wäre es denkbar, dass
auch von der Länge einer zurückgelegten Wegstrecke dadurch eine
gewisse Vorstellung entstehen würde, dass die Intensität der dabei
auftretenden Ermüdungsgefühle der Weglänge irgendwie proportional
ist. In diesem Sinne ist man also auch berechtigt, von einem „Er-
XXXV. 13
194 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
müdungssinn“, oder — nach seiner Funktion — geradezu von einem
'Strecken- oder Podometersinn zu sprechen.
Die Bedeutung aller dieser Kinästhesien für die räumliche
Orientierung wird im allgemeinen entschieden unterschätzt; man
hat sich gewöhnt, dieselben unter die sogen. „dunkeln Empfin-
dungen“ zu rechnen, welche: keine klarer assozuerten Vorstellungen
zu erwecken vermögen. Das ist aber ein Irrtum, denn schon die
alltägliche Beobachtung lehrt, dass diese komplexen Sensationen
unter Umständen sehr deutliche kınästhetische Engramm-
sukzessionen?) hinterlassen, die — im Verein mit exterozeptiven
Sinneserfahrungen, aber nur mit diesen! — auch für die lokomoto-
rische Orientierung im Raume von der größten Bedeutung sind.
Jeder weiß z. B. aus eigener Erfahrung, wie sicher man im Dunkeln
die nötigen Drehungen und Wendungen ausführt, um, sagen wir,
vom Bette zum Waschtisch oder zur Zimmertür zu gelangen, Aber
hier hat uns der Tastsınn zuvor über die relative Lage des Bettes
belehrt und von diesen exterozeptiven Anhaltspunkten aus können
wir dann getrost die gewohnte kinästhetische Reise ins Dunkle an-
treten, die uns im fremden Hotelzimmer natürlich an ganz verkehrte
Orte hinbefördern würde. — Noch viel feiner sind die kinästhetischen
Engrammsukzessionen bekanntlich bei den Blinden entwickelt; sie
bilden hier wohl den wesentlichsten Inhalt des Engrammschatzes,
welcher diesen Leuten ihre oft so staunenswerte Sicherheit in den
ihnen bekannten Räumen, ja selbst in den Straßen ihrer Heimat-
stadt verleiht.
II. Während die propriozeptive Orientierung sich nur auf die
Lage und Bewegung des Körpers ın einem sozusagen „absoluten“
Raume bezieht, orientieren die exterozeptiven Sinne den Organis-
mus relationell, d. h. sie setzen ıhn in Beziehung zu ganz be-
stimmten Punkten ın der Außenwelt. Die notwendige Voraus-
setzung hierzu ist natürlich eine mehr oder minder scharfe sinn-
liche Lokalisation der betreffenden Reize, oder mit anderen
Worten: Die Ausstattung der betreffenden Sinne mit Ortszeichen.
Sich im Raum exterozeptiv orientieren heisst also: Ex-
terozeptive Reize auf den rezipierenden Sinnesflächen
scharf lokalisieren.
Ein Beispiel wird Ihnen dies klar machen: Beim Menschen kommt
der Geruchssinn für eine exaktere räumliche Orientierung nur deshalb
nicht in Betracht, weil die rezipierende Sinnesfläche — die Riech-
schleimhaut — tief ım Inneren des Schädels versteckt liegt und
daher die von den verschiedenen Gegenständen ausgehenden Ge-
4) Ich bediene mich im folgenden (wie schon in früheren Arbeiten) zur Bezeich-
nung mnemischer Vorgänge im wesentlichen der einfachen und klaren Terminologie
von R. Semon (Die Mneme, 2. Aufl., Leipzig 1908).
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 195
ruchsemanationen nicht räumlich getrennt, sondern in diffuser
Mischung empfängt. Anders bei den Ameisen: Hier sind die
Geruchssensillen oberflächlich an symmetrischen und äußerst be-
weglichen Organen, den Fühlern, angebracht und mit diesen ihren
„beweglichen Nasen* (wie Forel sich treffend ausdrückt) pflegen
die Ameisen außerdem fortgesetzt alle Objekte, die sie beriechen
wollen, ın allen Ebenen des Raumes abzutasten. Der Geruchssinn
der Ameisen ist also ein Kontaktgeruchssinn, ein relationeller
„topochemischer Sinn“ (Forel), welcher seinen Trägern ganz
exakte olfaktorısche Raumempfindungen (und event. olfak-
torısche Raumvorstellungen) vermitteln muss. —
Die exterozeptive Orientierung fängt nicht erst bei der Loko-
motion an, sondern sie erstreckt sich zunächst auch
1. auf den eigenen Körper und dessen nächste Umgebung.
Sie kann hier eine reflektorische oder eine spontane sein.
a) Zu den exterozeptiven Orientierungsreflexen ge-
hören alle diejenigen reflektorischen Antwortbewegungen, welche
mit Ortszeichen versehen sind, d. h. deutlich nach der gereizten
Stelle hinzielen. Unter den spinalen Orientierungsreflexen dieser
Kategorie sind der Wischreflex des dekapitierten Frosches (bei Be-
tupfen des anderen Beines mit Säure) und der Kratzreflex des
Rückenmarkshundes (Sherrington) schöne, jedem Physiologen be-
kannte Beispiele. Von den kortikalen Reflexen gehören hierher
der Plantarreflex des Fußes, die Seh- und die Hörreflexe (Augen-
einstellung nach dem optischen Reiz, Kopf- und Blickwendung nach
der Schallquelle).
b) Die höchste Stufe der orientierten Gliedbewegungen bilden
die spontanen Zielbewegungen, das Greifen, Zeigen, Abtasten
mit den Fingern, das Fixieren mit den Augen u.a. m.
2. Mit dem Auftreten der spontanen Lokomotion nimmt
die Orientierung im Raum wesentlich andere Formen an. Sie wird
zur lokomotorischen Fernorientierung, welche nicht mehr
allein auf die Befriedigung unmittelbarster Bedürfnisse des nächsten
Raumes hinzielt, sondern zum Teil auf entferntere biologische Ziele
gerichtet ist: Aufsuchung des andern Geschlechts, Herbeischaffung
von Nahrung und Baumaterial zum Nest — oft aus weiter Ferne,
endlich Nestwechsel, Raub- und Kriegszüge aller Art mit voraus-
gehenden Erkundungsreisen einzelner: Eine ganze biologische Welt.
Während eine reflektorische Gliedorientierung gewöhnlich durch
jeden beliebigen (genügend kräftigen) Reiz der betreffenden Sinnes-
qualität ausgelöst werden kann (z. B. eine Augeneinstellungsbewegung
durch jeden beliebigen optischen Reiz), so ist für die orientierte
Lokomotion charakteristisch, dass es hier selbst in den aller-
primitivsten Fällen nur ganz bestimmte, nach Quantität und Qualität
spezifische Reize sind, auf welche der Organısmus mit einer
13*
196 Brun, Das ÖOrientierungsproblem im allgemeinen etc.
nach Vorzeichen?) und Richtung meist ebenfalls spezifischen Orien-
tierung antwortet. Ein so spezialisierter Prozess hat nun offenbar
mit primärer Reizbeantwortung schon nichts mehr zu tun, er setzt
vielmehr unbedingt noch das Dazwischentreten eines weiteren,
mnemischen Faktors voraus. Nach der Natur dieses mnemischen
Prozesses, wie er sich, Hand ın Hand mit der fortschreitenden
Ausbildung besonderer Reizleitungs- und Reizspeicherungsapparate,
im Laufe der Phylogenie allmählich differenzierte, kann man nun
bei der lokomotorischen Fernorientierung wiederum zwei Haupt-
formen unterscheiden: Eine mehr primitive, die unmittelbare oder
direkte Orientierung, und eine höhere Stufe, die mittelbare oder
indirekte Orientierung.
a) Eine unmittelbare oder direkte Orientierung liegt
dann vor, wenn das Endziel der Lokomotion als aktueller Reiz
direkt sinnlich wahrgenommen wird.
Entspricht einem spezifischen Fernreiz ein vorgebildeter
Mechanismus, der ım ÖOrganısmus gleichsam ab ovo für ıhn
bereitlag, so ist die resultierende Orientierung als Ekphorie eines
erblichen Engrammkomplexes zu betrachten und zwar kann
es sich da wieder entweder um einen Tropismus, oder um einen
Reflexautomatismus, oder endlich um einen Instinktautomatismus
handeln.
Wenn eine direkte Orientierung unabänderlich ın der Einfalls-
achse des Reizes erfolgt, so ist man berechtigt, von einem Tropis-
mus (Loeb, Verworn) zu sprechen. Doch sollte m. E. diese
Bezeichnung ausschließlich auf die entsprechenden einfachen Reiz-
beantwortungen niederster Organismen, bei denen weder spezifische
Sinnesorgane noch ein zentrales Nervensystem ausgebildet sind,
beschränkt bleiben®). Bei den höheren Tieren, wo diese Apparate
vorhanden sind, bringt der „tropische Reiz“ gewöhnlich einen kom-
plizierteren vorgebildeten Automatismus zur Auslösung, nämlich
einen Reflex-, bezw. einen Instinktautomatismus.
Eine reflektorische Fernorientierung darf nur dann an-
genommen werden, wenn eine zwangsmäßig erfolgende Lokomotion
zeitlich streng an die Fortdauer des adäquaten richtunggebenden
Reizes gebunden ist und bei Erlöschen dieses Reizes sofort eben-
falls aufhört. Ein Frosch z. B. kriecht und springt nur so lange
nach der Fliege, als diese sich bewegt; sobald sie stillsitzt, erlischt
5) Nach der Reizquelle hin oder von ihr weg.
6) Vollends als Missbrauch ist es zu bezeichnen, wenn Szymanski (Arch.
f. d. ges. Physiologie 138. 1911) neuerdings sogar den Begriff des „Mnemo-
tropismus“ aufstellt und darunter solche Fälle versteht, wo eine bestimmte Rich-
tung unter dem Einfluss einer mnemischen Erregung (z. B. bei Ameisen in-
folge der Erinnerung an eine vorher stattgehabte Winkelabweichung, zu der man
sie gezwungen hatte) eingeschlagen wird. „Tropisch“ im eigentlichen Sinne des
Wortes können unter allen Umständen nur aktuelle (originale) Reize wirken.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 197
das Interesse des Amphibiums an dem soeben noch anscheinend
heiß begehrten Nahrungsobjekt. Wir können solche reflektorischen
Fernorientierungen als einphasige Bewegungskomplexe be-
zeichnen, weil hier der hereditäre Engrammkomplex sich in der
einen Phase der orientierten Lokomotion vollständig erschöpft.
Anders beim Instinktautomatismus. Hier ekphoriert der
primäre Richtungsreiz einen bereits hochdifferenzierten, mehr-
phasigen hereditären Engrammkomplex, der sich, einmal angetönt,
durch alle seine Phasen in ziemlich autonomer Weise, d.h. unab-
hängig von der Fortdauer des prımär auslösenden Reizes,
wie eine willkürliche Handlung, abwickeln kann. Das hängt mit
zwei Eigentümlichkeiten solcher mehrphasiger hereditärer Komplexe
(= Instinkte) zusammen: Einmal damit, dass sie aus einer Reihe
sukzessiv assoziierter Einzelengrammkomplexe (zeitlicher Phasen)
zusammengesetzt sind, welche durch sogen. „phasogene Ek-
phorie“* manifest werden können, indem die durch den Ablauf
jeder Phase jeweilen neu entstandene energetische Situation an
sich wiederum als „adäquater Reiz“ ekphorisch auf die nächst-
folgende Phase wirkt”). Zweitens besitzen aber die meisten In-
stinkte auch eine gewisse Plastizität (individuelle Anpassungs-
fähigkeit), die sich darin äußert, dass sie sich mit plastischen En-
grammen, d. h. solchen, welche erst während ihres Ablaufs neu
erworben wurden, assoziieren und so gewisse Veränderungen (Kor-
rekturen, Ergänzungen, Hemmungen) ihres Ablaufs erleiden können.
Ein Beispiel möge das veranschaulichen. Es gibt Nachtschmetter-
linge, welche den Duft ihrer Weibchen auf kilometerweite Ent-
fernung zu wittern imstande sind. Sobald ein solcher Schmetter-
ling diesen spezifischen Duft rezipiert, wird er sich nach derjenigen
Richtung in Bewegung setzen, nach welcher der Reiz zunimmt.
Angenommen nun, ein Windstoß verwehe auf einige Minuten diese
äußerst feine Emanation. Wird das Männchen seinen Flug unter-
brechen? Keineswegs! Denn da die hereditäre Engrammsukzession
(in unserm Falle die verschiedenen Phasen des Sexualınstinkts)
noch nicht durchlaufen ist, sondern sich vielmehr erst in ihrer
ersten oder Orientierungsphase befindet, so dauert die entsprechende
mnemische Erregung fort. Da aber anderseits der tropische Original-
reiz, welcher den Ablauf dieser Phase realisierte, verschwunden
ist, so kann der Flug des Männchens jetzt natürlich nicht mehr
orientiert sein, sondern wird einen unruhig hin- und herpendelnden
Charakter annehmen: Das Tier „sucht“ gleichsam den verloren ge-
gangenen Reiz°).
7) Das bedingt zugleich einen gewissen Zwang, die einmal begonnene Suk-
zession unter allen Umständen zum Ende zu führen: Die mnemische Erregung
dauert während des ganzen Ablaufs an.
8) Diese instinktive Unruhe wird regelmäßig beobachtet, wenn man den Ab-
lauf einer hereditären Engrammsukzession plötzlich dadurch unterbricht, dass man
198 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
Es besteht aber noch eine zweite Möglichkeit: Das Tier hatte
vielleicht während seines ziemlich geradlinigen Fluges nach der Duft-
quelle zugleich konstant das Bild des Mondes in den vorderen Ab-
schnitten seiner Fazettenaugen wahrgenommen und diesen aktuellen,
einer ganz andern Sinnessphäre angehörenden Reizkomplex sekun-
där mit der Richtung seines Fluges assozuert. Dann könnte dieser
sekundär erworbene plastische Richtungsengrammkomplex nach
Verschwinden des primär tropischen Reizes offenbar vikariierend
an dessen Stelle treten und so die bisherige Orientierung wenig-
stens noch eine Zeitlang aufrecht erhalten: Die ursprünglich direkte
Orientierung ist sekundär zur indirekten geworden. Ähnliche Mecha-
nismen, wie der eben angedeutete, sind bei Ameisen tatsächlich
wiederholt nachgewiesen worden. —
Bei den bis jetzt genannten Formen der direkten Orientierung
reicht, wie wir sahen, dıe erbliche Mneme wenigstens zur Erzeugung
des Initialphänomens vollkommen aus. Es gibt nun aber selbst-
verständlich auch eine direkte Orientierung, welche auf Ek-
phorie individuell erworbener plastischer Engramme be-
ruht. Die Reizkomplexe, welche diese Ekphorie bewirken, treffen
im Organismus nicht eimen eigens für sie vorgebildeten primären
Mechanismus, sondern verdanken ıhre sekundär-tropische Kraft
lediglich dem Umstande, dass ihre erste Einwirkung seinerzeit von
einer direkten sinnlichen Anziehung oder Abstoßung gefolgt war.
Es erfolgt dann bei jeder späteren Wiederkehr einer ähnlichen
(oder auch nur scheinbar ähnlichen) Situation prompt die nämliche
Reaktion, infolge einer „Ähnlichkeitsassoziation“ oder eines „ein-
fachen Analogieschlusses“. Ein Beispiel:
Forel’) reichte Bienen Honig auf künstlichen verschiedenfarbigen Blumen
aus Papiermache. Nachdem die Bienen den Vorrat durch Zufall entdeckt hatten,
stürzten sie sich gierig auf sämtliche Artefakte und kehrten erst dann wieder zu
den natürlichen Blumen zurück, nachdem das letzte Honigtröpflein aufgeleckt war.
Nach einiger Zeit legte Forel in die Nähe des Blumenbeetes. auf dem die Bienen
weideten, zwei einfache Stücke roten und weißen Papiers, aber ohne diesmal Honig
darauf zu tun. Trotzdem stürzten sich alle Bienen sofort wieder auch auf diese
neuen Attrappen, untersuchten sie peinlich genau und ließen erst dann wieder von
denselben ab, nachdem sie sich überzeugt hatten, dass wirklich kein Honig darauf
sei. Bienen, welche jene günstige Erfahrung eines Honigfundes auf Papier früher
nie gemacht hätten, wären nie dazu gekommen, irgendwelchen farbigen Papier-
stückchen auch nur die geringste Aufmerksamkeit zu schenken!
b) Die höchste Stufe der lokomotorischen Orientierungsfähig-
keit ıst in der mittelbaren oder indirekten Orientierung
den aktuellen Reiz, welcher die betreffende Phase realisierte, eliminiert. Ich habe
die Erscheinung, in Ermangelung eines schöneren griechischen Wortes, als „Reiz-
suchung“ bezeichnet. Dieselbe ist also für das Vorhandensein einer mne-
mischen Erregung charakteristisch. Das Phänomen wurde u. a. auch von
Bethe ganz richtig beobachtet, von ihm aber fälschlich als ‚Suchreflex“ bezeichnet.
9) Forel, A., Das Sınnesleben der Insekten. — Reinhardt, München 1910.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 199
erreicht. Was wir unter einer solchen zu verstehen haben, ist nach
allem früher Gesagten ohne weiteres ersichtlich: Im Gegensatze
zur direkten Orientierung ist hier das Endziel der Lokomotion nicht
mehr sinnlich, als direkter tropischer Reiz gegeben, sondern im
„Sensorium“ des Tieres lediglich als Engramm vertreten. Die Ek-
phorie dieses Zielengramms veranlasst zwar die Lokomotion
als solche, d. h. sie bildet den inneren Antrieb zu derselben und
begleitet sie als mnemische Erregung während ihrer ganzen Dauer,
doch sagt es natürlich an sich gar nichts aus über die reelle räum-
liche Lage des Zieles und somit auch nichts über die zur Er-
reichung dieses Zieles einzuschlagende Richtung. Die Richtung
der Lokomotion, mit anderen Worten die eigentliche Orien-
tierung (bei der Realisation) wird hier vielmehr mittelbar be-
stimmt, durch sekundäre intermediäre Komplexe, welche mit
dem Reizkomplex des Ausgangspunktes einerseits, mit dem des
Zieles andererseits assoziativ verknüpft sind und zwar, sofern es
mehrere sind, durch kontinuierliche sukzessive Assoziation !%). Jeder
dieser intermediären Reizkomplexe hinterließ bei seiner ersten Ein-
wirkung einen entsprechenden Engrammkomplex und die gesamte
Reihe dieser letzteren vom Ausgangspunkt bis zum Ziele bildet so-
mit einen sukzessiv assoziierten Engrammkomplex. Der Vorgang
der indirekten Orientierung besteht nun darin, dass jeder dieser
intermediären Komplexe bei seiner aktuellen Wiederkehr zunächst
das ıhm entsprechende Engramm zur Ekphorie bringt. Die bei
diesem inneren Vorgang auftretende mnemische Erregung wird als
mehr oder minder übereinstimmend mit der betreffenden (sekun-
dären) Originalerregung empfunden; es findet somit eine Deck-
empfindung (ein „Gleichklang“) zwischen beiden statt, die wir mit
Semon als identifizierende mnemische Homophonie be-
zeichnen; oder vulgärpsychologisch als „Wiedererkennung*“.
Zweitens wirkt aber diese mnemische Erregung ihrerseits auch
wieder ekphorisch auf das nächstfolgende Engramm der inter-
mediären Reihe und erzeugt den Trieb, den diesem zweiten En-
grammkomplex homophonen Reizkomplex mit den Sinnen aufzu-
suchen: Es kommt zu jener Erscheinung, die wir bereits im vor-
hergehenden Abschnitt als „Phänomen der Reıizsuchung“ kennen
gelernt haben.
10) Die sukzessive Assoziation einer Reihe aufeinanderfolgender En-
grammkomplexe kommt nach Semon bekanntlich dadurch zustande, dass die auf-
einanderfolgenden einzelnen Originalerregungen vermittelst ihrer sogen. „akoluten
Phasen“ (Abklingungsphasen) kontinuierlich ineinander überfließen, derart, dass
der Beginn jeder nächstfolgenden Erregung zeitlich noch mit dem Abklingen der
vorausgegangenen Erregung zusammenfällt, also mit ihr „akolut-synchron“
ist. Zeitlich weiter auseinanderliegende Originalerregungen können sich somit nicht
zu einem sukzessiven Engrammkomplex assoziieren.
200 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
In dieser Weise wird der gesamte intermediäre Komplex vom
Ausgangspunkt bis zum Ziele sukzessive wieder abgewickelt, wobei
natürlich dieser mnemische Ablauf in der ursprünglichen Reihenfolge
stattfinden muss bei einfacher Wiederholung eines „Hinweges“
(Reiteration), dagegen in der umgekehrten Folge, sofern es sich
um einen Rückweg handelt (sukzessive Reversion).
Die Rückkehr von einer indirekten Fernreise wäre also dem-
nach ım Prinzip stets eine sukzessive Reversion des Hinweges
(„Loi du econtre-pied“ von Reynaud!!)). Die theoretische Be-
gründung dieses — vom rein logischen Standpunkt aus eigentlich
selbstverständlichen — Mechanismus begegnet aber, namentlich mit
Bezug auf die Rückkehr von einer Erstreise, doch gewissen
Schwierigkeiten: Nach Semon ist nämlich der mnemische Ablauf
sukzessiv assoziierter Engrammkomplexe bekanntlich ein „polar
ungleichwertiger“, indem sukzessiv erzeugte Engramme weit stärker
in der Reihenfolge ihrer Entstehung aufeinander ekphorisch wirken
als umgekehrt. So wırd z. B. eine in der umgekehrten Tonfolge
(nach rückwärts) gesungene Melodie niemals erkannt und ebenso
macht eine bekannte optische Sukzession (z. B. die Bewegungsfolge
irgendeiner ganz alltäglichen Handlung) einen ganz bizarren Ein-
druck, wenn sie im Kinematographen nach rückwärts abgewickelt
wird. Demnach müsste also auch die Rückkehr von einer einiger-
maßen ausgedehnten Erstreise zum mindesten eine sehr unsichere,
wenn nicht unmögliche Sache sein, da eben die beim Hinweg suk-
zessiv angetroffenen optischen Komplexe ın der umgekehrten Reihen-
folge nicht richtig „assoziiert“ werden können. Allein in Wirklich-
keit wird eine solche Erstreise niemals auf größere Entfernungen
ausgedehnt, vielmehr lernen die jungen Tiere die Umgebung ihres
Nestes nur ganz allmählich auf sukzessive immer weiter ausge-
dehnten „Orientierungsreisen“ kennen, wobei jede folgende Reise
den bei der letzten Reise erreichten Endpunkt zu ihrem Ausgangs-
punkt nımmt!?). Der Endpunkt «a der ersten Reise ist sozusagen
noch in Sehweite des Nestes gelegen, er wird daher mit dem Kom-
plex Nest noch akolut-synchron assozuert und die erste Rückkehr
11) Reynaud, Theorie de l’instinet d’orientation, ©. R. Acad. Sc. 125, 1897.
— ND’orientation chez les oiseaux, Bull. Inst. gen. Psychol. I, 1902. — Bonnier
(Revue scientif. 1598) und Pi@ron (Bull. Inst. gen. Psychol. 1904) führten die Er-
scheinung auf den „Muskelsinn“ zurück, d. h. sie stellten sich vor, dass die Tiere
beim Rückweg eine minutiöse sukzessive Reversion sämtlicher beim Hinweg evol-
vierter kinetischer Figuren ausführen.
12) Dieser Modus ist durch Hachet-Souplet (Annales de Psychol. Zool.
V, 1902) bei Brieftauben, durch v. Buttel-Reepen (Biol. Centralbl. 1900) bei
jienen, durch Bates (The Naturalist on the River Amazone, London 1873) und
C. und E. Peckham (Wisconsin Nat. Hist. 1893) bei anderen fliegenden Hyme-
nopteren, durch Ernst (Arch. f. d. ges. Psychol. 1910 und 1914) und mich (l. e.)
bei Ameisen übereinstimmend nachgewiesen worden.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 201
ist nicht eine sukzessive, sondern eine simultane Reversion des
akolut-synchronen Engrammkomplexes a—-N. Der nämliche Vor-
gang wiederholt sich bei der zweiten Reise (von a aus) hinsichtlich
des Komplexes b und so fort, bis schließlich eine ausgedehnte,
durch zahlreiche Intermediärkomplexe a—x vermittelte Fernreise
entsteht. Die sukzessiv assoziierten Intermediärkomplexe
einer ausgedehnten indirekten Fernreise sind also im
wesentlichen nichts anderes als die ursprünglichen End-
etappen der früheren Teilreisen und die indirekte Orien-
tierung auf Grund sukzessiv assoziierter Engramm-
komplexe kann in der Weise aus der direkten Orien-
tierung abgeleitet werden, dass man sie auffasst als eine
etappenweise fortschreitende Serie direkter ÖOrien-
tierungen auf diese Intermediärkomplexe, als die ur-
sprünglichen direkten Ziele’), Und die Rückkehr von
einer solchen etappenweisen Fernreise ist in Wirklich-
keit weniger eine unmittelbare Reversion des gesamten
sukzessiven Engrammkomplexes, als eine Reiteration
einer zweiten, in der umgekehrten Richtung ablaufenden
Sukzession, welche ebenso etappenweise wie dieHinweg-
Sukzession und unabhängig von derselben ım Laufe der
wiederholten Rückwege erworben wurde.
Wir gingen bisher von der stillschweigenden Voraussetzung
aus, dass die indirekte Fernorientierung stets durch mehrere oder
zahlreiche verschiedene Intermediärkomplexe vermittelt werde. Das
trifft aber in Wirklichkeit nur in einer sehr beschränkten Zahl von
Fällen zu, für welche ich allein den Namen des echten, asso-
zıativen Ortsgedächtnisses reservieren möchte. Unter einem
echten Ortsgedächtnis wäre also — um eine exakte Definition des-
selben zu geben — nur diejenige höchste Stufe der indirekten Orien-
tierungsfähigkeit zu verstehen, welche auf dem Vorhandensein einer
Sukzession zahlreicher qualitativ verschiedener („differenzierter“)
Ortsengramme beruht. Der Typus eines solchen Ortsgedächtnisses
ist die Orientierung des Menschen in den Straßen einer bekannten
Stadt, nach den zu beiden Seiten sukzessive angetroffenen optischen
Engrammen der verschiedenen Gebäudekomplexe, verbunden mit
den kinästhetischen Engrammkomplexen eines Abzweigens bald
nach links, bald nach rechts, u. s. w. Es ıst klar (und damit haben
wir eine letzte Eigentümlichkeit dieser differenzierten indirekten
Orientierung erwähnt), dass bei einem solchen Orientierungsmodus
die relative Richtung der Orientierung (relativ zum Aus-
13) Nur mit Hilfe dieser Annahme ist es auch zu erklären, wie diese schein-
bar ganz zufällig gewählten Intermediärkomplexe, die ja an sich gar nichts mit dem
Endziel der Reise zu tun haben, überhaupt dazu kommen, als „Anhaltspunkte“ (zur
Agnostizierung des Weges bis zu diesem Ziele) zu dienen.
202 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete.
gangspunkt oder zum Ziele) unter allen Umständen un-
mittelbar eindeutig bestimmt wird durch die zeitliche
Folge der verschiedenen Engrammkomplexe, d. h. durch
ihre Ablaufsrichtung. —
In zahlreichen einfacheren Fällen genügt aber schon ein ein-
ziges intermediäres Richtungszeichen, um die indirekte Orientierung
zu ermöglichen, nämlich dann, wenn dieses Richtungszeichen die
gesamte Strecke vom Ausgangspunkt bis zum Ziele als stabiler
Komplex begleitet. Das ist z. B. der Fall bei einer Ameisenstraße,
die von dem am Fuße einer Mauer gelegenen Nest N dieser Mauer
entlang zu einem Blattlausstrauche 1 führt (Fig. 1).
Fig. 1.
Es ist klar, dass ein so beschaffener gleichförmiger Komplex
nur in globo, in einer zeitlichen Phase engraphiert wird; er hinter-
lässt einen einphasigen (globalen) Engrammkomplex, zum
Unterschied von den mehrphasigen (differenzierten) Komplexen, auf
denen das echte, sukzessiv assozierte Ortsgedächtnis beruht.
In dem soeben angeführten Beispiel wird die globale Orien-
tierung durch die Mauer gleichsam kanalısiert; wir können deshalb
diese Form füglıch als kanalisierte Orientierung bezeichnen.
In diese Kategorie gehören offenbar alle Fälle, bei denen sich die
Orientierung auf räumlich vorgezeichneter Bahn bewegt, sei
es, dass wirkliche gebahnte Straßen oder räumliche Wegmarken
aller Art: Fußspuren, Geruchsfährten, bestimmte topographische
Linien, wie Mauern, Flussufer o. dgl. als orientierendes Merkmal
benutzt werden. Das Gemeinsame aller dieser Fälle liegt darin,
dass hier der orientierende globale Reizkomplex in unmittelbarer
Nähe der rezipierenden Sinnesflächen (Augen, Geruchs- und Tast-
organe) gelegen ist, so dass schon eine geringe seitliche Abweichung
das Tier außerhalb des Wirkungsbereiches der betreffenden Reiz-
quelle bringt und es daher notwendigerweise vollständig desorien-
tieren muss.
Ganz anders verhält sich die Sache in denjenigen Fällen, wo
die Quelle des globalen Orientierungsreizes sich ın relativ unend-
licher Entfernung von den aufnehmenden Sınnesflächen befindet.
Typische Beispiele hierfür sind die Orientierung nach den magne-
tischen Polen (d.h. nach dem Kompass) und nach einer entfernten
Lichtquelle, z. B. nach der Sonne. Die relativ unendliche Ent-
fernung dieser Reizquellen bedingt einerseits eine ÜUbiquität der
von ihnen ausgehenden Reizwellen und anderseits, dass diese letz-
teren innerhalb sehr weiter (praktisch unendlich weiter) Grenzen
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 203
u
in allen von ihnen getroffenen Punkten parallel einfallen. Infolge-
dessen wird hier selbst eine sehr bedeutende seitliche Abweichung
(z. B. experimentell vermittelst seitlichen Transportes des Tieres)
an der absoluten Richtung der Orientierung offenbar gar nichts
ändern: Das Tier (oder, bei der Kompassorientierung: das Schiff)
wird seinen bisherigen Kurs beibehalten; es wird mit anderen Worten
eine Scheinorientierung oder virtuelle Orientierung
(Santschi)'*) ausführen, deren absolute Richtung der früher einge-
haltenen genau parallel sein wird und die daher wohl sehr exakt
ist hinsichtlich der räumlichen Lage der benutzten intermediären
Orientierungsquelle, nicht aber mit Bezug auf das erstrebte reelle
Ziel. Daraus folgt, dass eine solche „freie“ Orientierung (im
Gegensatz zur eben besprochenen kanalisierten Orientierung) nur
so lange eine reelle sein wird (mit Bezug auf ein bestimmtes Ziel
in der Außenwelt), als die räumlich-kinetische Kontinuität der Reise
streng gewahrt bleibt. —
Noch auf eine letzte wichtige Erscheinung möchte ich hier auf-
merksam machen. Wir haben gesehen, dass bei der indirekten
Orientierung auf Grund mehrphasiger (differenzierter) Komplexe
die relative Richtung eindeutig aus der zeitlichen Reihen-
folge der verschiedenen Intermediärkomplexe hervorgeht. Bei der
einphasigen, globalen Orientierung kann dies natürlich schon des-
halb nicht der Fall sein, weil hier ja entweder nur ein einziger
globaler Komplex vorhanden ist, oder, falls eine Sukzession besteht
(wie z. B. bei einer kontinuierlichen Fußspur), die sich folgenden
Einzelkomplexe vollkommen gleichförmig beschaffen sind. Wenn
nun trotzdem auch hier die relative Richtung der Fortbewegung in
den meisten Fällen unmittelbar eindeutig bestimmt erscheint (man
denke wieder an das Beispiel der Fußspurfährte!), so kann dies
nur auf der räumlichen Anordnung der betreffenden Komplexe
beruhen, oder, physiologisch ausgedrückt: auf der Art ihrer sinn-
lichen Lokalisation. Und in der Tat finden wir in allen Fällen,
wo ein glohaler Komplex eine eindeutige relative Richtungsangabe
vermittelt, dass die betreffenden Reize asymmetrisch auf
scharf umschriebenen Sinnesflächen lokalisiert sind und
daher bei der Rückkehr eine sinnliche Reversion auf die
korrespondierenden, bezw. diametral symmetrischen
Sinnesflächen der anderen Seite erfahren. Überall dort
dagegen, wo dies nicht der Fall ist — so vor allem bei diffuser
oder bilateral-symmetrischer Lokalisation — erscheint die globale
Orientierung mit Bezug auf ihre relative Richtung im Prinzip zwei-
deutig determiniert (Gesetz der sinnlichen Reversion). So
14) Santschi, F., Comment s’orientent les Fourmis. — Revue Suisse de
Zoologie 21, 1913.
204 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
sind in unserem ersten Beispiel von der eine Mauer flankierenden
Ameisenstraße (Fig. 1 S. 202) die beiden Richtungen dieser Straße
— nach den Blattläusen, nach dem Nest — an jedem Punkte ein-
deutig bestimmt infolge der asymmetrischen Lokalisation des ein-
phasigen Orientierungskomplexes der Mauer. Alle vom Nest nach
den Blattläusen wandernden Ameisen fühlen nämlich diese Mauer
mit dem rechten Fühler und sehen sie mit dem rechten Fazetten-
auge; bei der Rückkehr dagegen nehmen sie den Komplex mit den
entsprechenden Sinnesflächen der anderen Körperseite wahr. Falls
sie nun diese konstanten asymmetrischen Lokalisationen mit den
entsprechenden Zielengrammen assoziieren, so werden sie offenbar
jederzeit wissen, ın welcher der beiden Richtungen das Nest, in
welcher der Blattlausstrauch liegt. Nun nehmen Sie aber an, die
Ameisenstraße verlaufe wie ein Hohlweg zwischen zwei ganz
gleichen Mauern. Dann empfangen die links- und rechtsseitigen
Sinnesorgane genau identische und symmetrische Eindrücke, welche
eine sinnliche Reversion im obigen Sinne nicht zulassen. Würde
man also eine Ameise von einer solchen Straße abfangen und
nach einiger Zeit wieder zurückversetzen, so wäre sie zweifellos
unfähig, auf Grund dieser symmetrischen globalen Komplexe zu
entscheiden, in welcher Richtung das Nest und in welcher der
Blattlausstrauch liegt und wäre somit genötigt, irgendeine der beiden
Strecken aufs Geratewohl zu verfolgen, um erst am Ende des Kom-
plexes zu erkennen, ob sie zufällig richtig oder falsch gegangen
ist. — Genau das gleiche Prinzip gilt mutatis mutandis auch für
alle übrigen einphasigen Orientierungskomplexe, kanalisierende wie
freie: Eine Orientierung nach dem Kompass, nach einer entfernten
Lichtquelle wird hinsichtlich ihrer relativen Richtungen immer ein-
deutig bestimmt sein; wären dagegen zwei genau symmetrisch
lokalisierte Lichtquellen vorhanden oder würden auf dem Kompass
die Bezeichnungen für die Himmelsgegenden N—S fehlen, so wäre
die Orientierung lediglich hinsichtlich ihrer absoluten Richtungs-
achse bestimmt. Eine Fußspur oder eine Wegmarkierung durch
rote Pfeile stellt einen Orientierungskomplex dar, dessen einzelne
Richtungszeichen sinnlich polarisiert sind; würde die Weg-
markierung einfach aus gleichartigen roten Strichen, statt Pfeilen
bestehen, so wäre sie hinsichtlich der relativen Richtungsanzeige
offenbar wertlos. Ebenso könnte eine vollkommen homogene Ge-
ruchsspur, deren kleinste chemische Teilchen auf jeder Teilstrecke
qualitativ und quantitativ gleichartig wären’), niemals eine rela-
tive Richtungsanzeige vermitteln. —
Zum Schluss noch einige allgemeine Bemerkungen über den
15) Wir werden später sehen, dass dies bei den Geruchsfährten der Ameisen
nur für gewisse Fälle zutrifft.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 205
mnemischen Mechanismus und die biologische Bedeutung der indi-
rekten Orientierung.
Was zunächst die Natur des Engrammschatzes anbetrifft, auf
dem sich die indirekte Orientierung aufbaut, so dürfte klar sein,
dass derselbe im wesentlichen der im individuellen Leben er-
worbenen (plastisch-assoziativen) Mneme angehören muss.
Für die mehrphasige Orientierung (differenziertes Ortsgedächtnis)
ist dies eigentlich selbstverständlich, indem der Standort des Nestes,
in dem die verschiedenen Generationen zur Welt kommen, doch
innerhalb weniger Jahre oder Jahrzehnte fortwährendem Wechsel
unterworfen ist. Aber auch von den einphasigen Intermediär-
komplexen muss für gewöhnlich von jedem Individuum — oft sogar
für jede einzelne Reise!®) — ein mit Bezug auf seine jeweilige sinn-
liche Lokalisation besonderes Engramm erworben werden, —
wennschon natürlich die Disposition, sich vorzugsweise nach
diesen oder jenen globalen Intermediärkomplexen (z. B. nach der
Sonne) zu orientieren, als solche eine hereditär fixierte sein kann.
Das letztere gilt auch für die Ekphorie des „Zielengramms“: Es
wäre z. B. denkbar, dass sowohl das Zielengramm „Nest“ als das-
jenige gewisser Nahrungsquellen, wie Blattläuse, bei Wiederkehr
bestimmter Situationen primär-instinktiv zur Ekphorie gelangen
würde.
Die biologische Bedeutung der indirekten Orien-
tierungsfähigkeit liegt auf der Hand: Beı Tieren, die ohne
festen Wohnsitz frei herumschweifen, reicht die direkte Orientierung
natürlich zur Bestreitung aller Lebensbedürfnisse vollkommen aus.
Anders bei den nestbauenden, und ganz besonders bei den
sozialen Tieren; da wird die indirekte Orientierungsfähigkeit,
infolge der Notwendigkeit, von allen Streifzügen immer wieder zu
einem bestimmten Wohnsitz zurückzukehren, zur notwendigen
Existenzbedingung. Sie ist denn auch hier, wenn auch viel-
fach erst in ihren primitiveren Formen, wohl überall ohne Aus-
nahme nachweisbar.
Natürlich erfordert die Leistung einer indirekten Orientierung
auf Grund individuell erworbener Engrammassoziationen weit mehr
Hirnsubstanz, oder — physiologisch ausgedrückt -—— das Vorhanden-
sein von weit komplizierteren Erregungsbögen, als die Abwicklung
einer auf festgefügten hereditären Mechanismen beruhenden direkten
Orientierung, wie ja überhaupt selbst die kompliziertesten Instinkte
mit einem viel geringeren Aufwand von Neuronkomplexen arbeiten,
als verhältnismäßig einfache plastische Leistungen. Doch darf auf
der andern Seite die bei der indirekten Fernorientierung jeweilen
aktuell geleistete Nervenarbeit auch nicht überschätzt werden; —
16) So z. B. bei der Orientierung nach der Sonne.
206 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen ete.
kann doch selbst eine so ungeheuer komplizierte Sukzession asso-
ziierter optischer, kinetischer und akustischer Engrammkomplexe,
wie der tägliche Gang ins Geschäft, ın einer Großstadt, nach häufiger
Wiederholung fast unbewusst sich abwickeln! Diese sekundäre
Automatisierung ursprünglich hochbewusster plastischer Engramm-
komplexe ist eine der interessantesten Erscheinungen auf dem Ge-
biete der Biologie der Mneme; sie beruht in erster Linie auf dem
Gesetz der Ekphorie, nach welcheın schon die partielle Wieder-
kehr eines kleinen Bruchteils desjenigen Erregungskomplexes,
welcher vormals engraphisch gewirkt hatte, genügt, um den ge-
samten sukzessiv assoziierten Engrammkomplex zu reaktivieren,
indem die sukzessive Ekphorie gleichsam „wie ım Lauffeuer“,
autonom sich von einem Engramm aufs andere ausbreitet.
Damit sind wir am Ende unserer theoretischen Betrachtungen
angelangt. Wenn dieselben vielleicht auch vielfach äußerlich einen
etwas abstrakt-philosophischen Charakter hatten, so sind sie doch
nichts weniger als sterile Spekulationen: Ich hoffe vielmehr, Sie im
zweiten, experimentellen Teil meines Vortrages hinlänglich davon
überzeugen zu können, dass alle die soeben erörterten psychobio-
logischen Mechanismen auch ın der Natur mit eben der strengen
Gesetzmäßigkeit sıch abspielen, wie wir sie hier zunächst rein theore-
tisch-logisch abgeleitet haben und dass die stete Vergegenwärtigung
dieser Gesetzmäßigkeiten auch für die fruchtbare experimentelle
Analyse der oft sehr verwickelten Einzelfälle von eminenter
praktischer Bedeutung ıst. Dabei ist aber allerdings nie zu
vergessen, dass die Natur auch hier meist mit mannigfachen Mitteln
arbeitet, indem bei der Fernorientierung nicht allein der höheren
Tiere, sondern auch der Ameisen, viele jener, aus Gründen der
Einfachheit für sich analysierten Mechanismen ständig in den mannig-
fachsten Kombinationen bald simultan, bald sukzessiv assozuert
zusammenwirken.
Biologische Einteilung der Orientierungsphänomene.
I. Propriozeptive (absolute) Orientierung.
1. Statisch-propriozeptive Orientierung.
a) Plasmostatische O. (axotropische Wachstumseinstel-
lungen).
b) Neurostatische ©. (statotonische Reflexapparate).
2. Dynamisch-propriozeptive (kinästhetische) Orientierung.
a) Passive Kinästhesie.
a) Passive Lageveränderungen der Körperachse: Vesti-
bularsınn.
P) Passive Lageveränderungen einzelner Glieder: Passiver
Lagesinn, insbesondere: Myostatischer Sinn.
Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen etc, 207
b) Aktive Kinästhesie: Myodynamischer Sinn, Schwere-
und Kraftsinn (Barästhesie), Ermüdungssinn (sogen,
Strecken- oder Podometersinn).
II. Exterozeptive (relationelle) Orientierung.
1. Orientierungsbewegungen einzelner Gliedmafsen.
a) Exterozeptive Orientierungsreflexe.
b) Spontane Zielbewegungen.
2. Orientierte Lokomotion (Fernorientierung).
a) Unmittelbare (direkte) Fernorientierung.
a) Auf Grund hereditär-mnemischer Automatismen (Tro-
pismen, Reflex- und Instinktautomatismen).
ß) Auf Grund individuell erworbener (plastischer) En-
grammkomplexe.
b) Mittelbare (indirekte) Fernorientierung.
a) Vermittelst einphasiger (globaler) Intermediärkomplexe
(sinnlich reversible — irreversible),
kanalisierte Orientierung,
freie Orientierung.
ß) Vermittelst mehrphasiger (differenzierter) Intermediär-
komplexe (echtes Ortsgedächtnis). (Schluss folgt.)
E. Wasmann. Das Gesellschaftsleben der Ameisen.
Das Zusammenleben von Ameisen verschiedener Arten
und von Ameisen und Termiten. Gesammelte Beiträge
zur sozialen Symbiose bei den Ameisen.
Zweite, bedeutend vermehrte Auflage. — 1. Band. Mit 7 Tafeln und 16 Figuren
im Texte. — Aschendorff’sche Verlagsbuchhandlung, Münster (Westf.), 1915.
Das neue Buch Wasmann’s, dessen I. Band mir vorliegt, ist
zum großen Teil eine zweite, erweiterte Auflage verschiedener Ab-
handlungen des hochverdienten und unermüdlichen Forschers des
Lebens der Ameisen und ihrer Gäste. Er hat, wie er selbst ın dem
Vorwort schreibt, dieselben nicht zu einem neuen Buch etwa nach
Art von Wheeler’s Werk „Ants“ umarbeiten, sondern in ihrer
historischen Reihenfolge unter einem neuen Titel zusammenfassen
wollen.
„Der Plan des vorliegenden Werkes ist somit folgender: Wegen
seines 800 Druckseiten übersteigenden Umfangs musste es in zwei
Bände geteilt werden. Der vorliegende I. Band enthält den I. und
II. Teil, der im nächsten Jahre folgende II. Band wird den II.
und IV. Teil enthalten.“
„Der I. Teil ist die Neuauflage der ‚ZZusammengesetzten
Nester und gemischten Kolonien‘ von 1891. Auf besonderen
Wunsch mehrerer Fachkollegen wurden, um das Nachschlagen und
Zitieren zu erleichtern, die Seitenzahlen der ersten Auflage beibe-
halten. Die neuen Zusätze sind auf die allernotwendigsten Ergän-
208 Emery, Das Gesellschaftsleben der Ameisen ete.
zungen beschränkt, die in eckigen Klammern teils im Texte, teils
in den Anmerkungen beigefügt sind.“
„Der II. Teil ıst die zweite Auflage meiner 1901—1902 in der
‚Allgemeinen Zeitschrift für Entomologie‘ erschienenen Abhandlungs-
serie ‚Neues über die zusammengesetzten Nester und die
gemischten Kolonien der Ameisen‘. Dieser Teil ist inhaltlich
um mehr als die Hälfte des früheren Umfangs durch neue seit-
herige Beobachtungen vermehrt und hat fünf neue photographische
Tafeln erhalten.“
„Der III. Teil (im 1I. Bande) enthält meine gesammelten Bei-
träge zur Stammesgeschichte der sozialen Symbiose, die
von 1905—1915 im ‚Biologischen Centralblatt‘ und anderen Fach-
zeitschriften erschienen. Auch dieser Teil ist inhaltlich stark ver-
mehrt und mit kritischen Bemerkungen über den Fortschritt unserer
Anschauungen versehen. Er wird ferner ebenfalls eine Reihe neuer
photographischer Tafeln erhalten.“
„Der IV. Teil (im II. Bande) wird ganz neu sein. Er soll
eine zusammenfassende Übersicht des gegenwärtigen
Standes unserer Tatsachenkenntnis über die soziale Sym-
biose bei den Ameisen, sowie eine kritische Zusammen-
fassung derstammesgeschichtlichen Hypothesen aufdiesem
Gebiete enthalten. Ein ausführliches Literaturverzeichnis wird
den Schluss dieses Teiles bilden.“
Die einzelnen Serien von Abhandlungen, welche die ersten drei
Teile bilden, führen den Leser durch des Verfassers Darstellungen
der eigenen oder fremden Beobachtungen, theoretischen Zusammen-
fassungen und Hypothesen und veranschaulichen, wie er das höchst
umfangreiche und mannigfache Material behandelt, eigenartige An-
schauungen entwickelt und Polemik gegen abweichende Ansichten
geführt hat.
Zwischen der Veröffentlichungszeit des I. und des II. Teils be-
steht ein Raum von etwa 10 Jahren. Unterdessen hat die Ent-
deckung des temporären Parasıtismus einer Reihe von Ameisen bei
der Gründung ihrer Gesellschaften stattgefunden, welche viele Fälle
von gemischten Gesellschaften in einem ganz neuen Licht erscheinen
lassen. Der IIl. Teil wird hauptsächlich veranlasst durch die theo-
retischen Folgen obiger Tatsache und durch die neue Debatte über
die Entstehung der Sklaverei und des Parasıtismus bei den Ameisen,
Nach den Zusätzen zu urteilen, welche Verfasser zur neuen
Auflage eingeschaltet hat und die fast ausschließlich tatsächlichen
Inhalts sind oder Detailansichten betreffen, darf man schließen,
dass er seine damaligen allgemeinen und speziellen Anschauungen
nicht wesentlich geändert hat.
Ref. ist in mehreren fundamentalen Anschauungen bekanntlich
mit dem Verf. durchaus nicht einverstanden; aber eine Polemik
hier anzuknüpfen, wäre nıcht am Platze. C. Emery.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Dre = m bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Centralblatt
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig. München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z. Z. Nürnberg, Roonstr. 13,
einsenden zu wollen.
BEXXXV 20. Mai 1915. M 5.
Inhalt: Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? — Brun,
Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf Grund experimenteller Forschungen bei
den Ameisen. — Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter aus eigenen
Mitteln ersetzen? — Nöller, Die Ubertragungsweise der Rattentrypanosomen. — Lindau,
Kryptogamenflora für Anfänger.
Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei
Orchideenluftwurzeln?
(Mit 10 Abbildungen im Text.)
Von K. Goebel.
Die Luftwurzeln mancher Orchideen weisen sehr eigenartige
und für allgemein morphologische Fragen wichtige Gestaltungs-
verhältnisse auf.
Wir sehen dabei ganz ab von der aus toten Zellen bestehenden
Wurzelhülle, dem oft besprochenen „Velamen“, ferner der Tat-
sache, dass diese Wurzeln, soweit sie dem Lichte ausgesetzt sind,
wohl alle Chlorophyll bilden (was bei gewöhnlichen Erdwurzeln
nur ausnahmsweise, z. B. bei Menyanthes trifoliata der Fall ıst) und
berücksichtigen ausschließlich die Symmetrieverhältnisse. Während
die Erdwurzeln mit einigen Ausnahmen!) radıär sind, finden sich
unter den Örchideenluftwurzeln, wie zuerst Janczewskı?) nach-
1) Z. B. Isoötes (vgl. Goebel, Organographie der Pflanzen I, 2. Auflage
(1913), p. 307.
2) Ed. de Janczewski, Organisation dorsiventrale dans les racines des
Orchidees. Ann. des science. nat. Bot. 7%me serie, t. 2 (1855).
XXXV. 14
910 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
wies, solche, die auffallende Dorsiventralität zeigen. Diese äußert
sich in der Gestalt und im anatomischen Bau. Die dorsiventralen
Wurzeln pflegen nicht rund, sondern mindestens auf einer Seite
abgeflacht zu sein, was bei manchen so weit geht, dass sie mit
Blättern verwechselt wurden’).
Im anatomischen Bau ist die Lichtseite der Wurzeln ausge-
zeichnet vor allem dadurch, dass die Zellen hier stärkere Wand-
verdickung zeigen und dass die Wurzelhülle auf dieser Seite der
einen ihrer Funktionen, der der Wasseraufsaugung ganz oder fast
ganz entzogen ist — andere Verschiedenheiten werden sich aus
dem Folgenden ergeben.
Nun fand Janczewskiı, dass bei zwei dorsiventralen Orchideen-
luftwurzeln (denen von Epidendrum nocturnum und Sarcanthus
rostratus*)) die dorsiventrale Ausbildung durch das Licht bedingt
ıst, also verschwindet, wenn man die Wurzeln im Dunkeln sıch
weiter entwickeln lässt. Bei andern aber gelang dieser Nachweis
nicht, die Wurzeln behielten auch an den im Finstern neu zuge-
wachsenen Teilen ihre dorsiventrale Struktur beı.
Da nun zweifellos alle diese Wurzeln ursprünglich radıär waren und
die dorsiventrale Ausbildung erst in Verbindung mit der epiphytischen
Lebensweise angenommen haben, so schienen hier zwei Fälle vor-
zuliegen: Der einer „induzierten“ Dorsiventralität bei Epedendrum
nocturnum, Sarc. rostratus und Sarc. Parishü, der einer „auto-
nomen“ bei Aeranthus fasciola, Phalaenopsis und Taeniophyllum.
Nichts lag näher, als anzunehmen, dass hier vielleicht ein Bei-
spiel für die „Vererbung erworbener Eigenschaften“ vorliege, indem
ein ursprünglich induziertes Gestaltungsverhältnis später autonom
geworden sei. In dieser Richtung ist auf das Verhalten der Orchi-
deenluftwurzeln hingewiesen worden vom Verf.?) und von Francis
Darwin®). Die nähere Untersuchung von zwei der obengenannten
Orchideen zeigte indes, dass eine solche Annahme nicht haltbar ist,
dass vielmehr auch hier induzierte Dorsiventralität vorliegt.
Das mag ım folgenden näher erläutert werden.
1. Phalaenopsis.
Die einzelnen Arten dieser Gattung verhalten sich bezüglich
der Gestaltung ihrer am Lichte wachsenden Wurzeln verschieden’).
3) Auf eine andere Ausbildung der Dorsiventralität, welche sich dadurch
äußert. dass die dem Substrat anliegende Wurzelseite abgeflacht und schwächer ent-
wickelt ist, soll hier nicht eingegangen werden (vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilde-
rungen, p. 195, Fig. 87 B).
4) Ebenso verhält sich Sarcanthus Parishii (vgl. Goebel, Pflanzenbiol.
Schilderungen, p. 351).
5) Goebel, Organographie, 1. Aufl., 1I, 285.
6) Fr. Darwin, Presidents address, British Assoc. for the advanc. of science.
Dublin 1908.
7) Vgl. Goebel, Organographie, 1. Aufl., p. 485, Fig. 36.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 211
Bei Ph. Esmeralda sind die Wurzeln radıär, bei Ph. Lüddemanniana
deutlich, bei Ph. Schilleriana und Ph. amabils sehr bedeutend ab-
geflacht; das chlorophyllhaltige Rindengewebe ist flügelartig auf
beiden Flanken der Wurzel in die Breite entwickelt.
Licht- und Schattenseite sind verschieden: 1. Im Bau des
Velamens. 2. In dem der unter dem Velamen liegenden Zellschicht,
der „Exodermis“ (Abbildungen bei Janezewskia.a.O. und Goebel,
Organogr., 1. Aufl., p. 485). Auf anatomische Einzelheiten braucht
hier nicht eingegangen zu werden. Es sei nur erwähnt, dass das
„Velamen“ auf der Schattenseite aus zwei Schichten dünnwandiger,
Wasser aufsaugender Zellen besteht und
dass dort allen die „Durchlüftungs-
streifen“ vorkommen, welche durch ıhren
Luftgehalt hervortreten, wenn die übrigen
Zellen mit Wasser gefüllt sind. An der
Oberseite ist die innere Zellschicht des
Velamens stark verdickt, Wasserauf-
saugung kommt hier nicht mehr in Be-
tracht.
Die Exodermiszellen der Oberseite
sind gleichfalls mit ungemein stark ver-
dickten Außenwänden versehen. Außer-
dem sınd sie länger als die Exodermis-
zellen der Unterseite (vgl. Fig. 1 / und II)
und es sind zwischen ihnen viel weniger Fig. 1. Phalaenopsis Schil-
„Durchlasszellen“ vorhanden. leriana. Flächenschnitt der
So bezeichnet man bekanntlich kurze, Exodermis. /der Ober-, II der
s < - Unterseite bei gleich starker
protoplasmahaltige Zellen, welche Ne ene D. Durchlass-
schen die toten Exodermiszellen einge- zllen.
streut sind. Man nimmt von ihnen wohl
mit Recht an, dass sie den Übertritt von Wasser und darin ge-
lösten Nährstoffen aus dem Velamen in die Zellen der Wurzelwände
vermitteln °).
Die Bedeutung der Dorsiventralität in teleologischer Beziehung
ist klar: Die Lichtseite ist gegen Transpiration geschützt, die
Schattenseite besorgt die Wasseraufnahme, dementsprechend sınd
hier auch die Durchlüftungsstreifen und zahlreiche Durchlasszellen.
Ausgehend von der Beobachtung, dass bei Phal. amabilis außer
den dorsiventralen Lichtwurzeln auch radiäre Wurzeln ım Substrat
vorkommen, vermutete Janezewski, dass die Dorsiventralität der
Phalaenopsis- Wurzeln eine induzierte sei.
Auf Grund der Beobachtung, dass ein in einer verfinsterten
Glasröhre neu zugewachsenes, mehrere Zentimeter langes Stück
8) Sie zeigten bei Dendrobium nobile einen wesentlich höheren osmotischen
Druck als die Rindenzellen (25: 10 Atmosph.).
14*
21 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
einer Phalaenopsis-Wurzel noch ebenso abgeflacht war wie am Lichte
und (abgesehen von durch die feuchte Umgebung bedingten Verschie-
denheiten gegenüber der Lichtwurzel) noch einen dorsiventralen Bau
aufwies, glaubte ich früher, dass bei Ph. Schilleriana die Abflachung
der Wurzel nicht durch das Licht bedingt seı.
Das war indes ein durch zu kurze Dauer des Versuchs be-
dingter Irrtum. Später ergab sich folgendes’): „Eine in eine ver-
dunkelte Glasröhre eingeführte Wurzel hatte in 3!/, Monaten in
dieser ein neues Stück von 14 cm Länge gebildet. 6 cm lang war
die Abflachung noch deutlich erkennbar, dann verlor sie sich, die
Wurzel wurde fast zylindrisch. Auch die Verteilung der Durch-
lüftungsstreifen auf die Unterseite verlor sich.“ Es war die Wurzel
also bei Lichtabschluss radiär geworden, bezw. radiär geblieben. Nur
war eine länger dauernde „Nachwirkung“ zu überwinden, ehe die
Dorsiventralität verschwand. Hinzugefügt sei, dass auch eine Um-
kehrung der Dorsiventralität leicht gelingt.
Am 15. Februar wurde eine Wurzel von Phal. Schilleriana um
180° gedreht auf einem feucht gehaltenen Holzstück befestigt.
Am 9. April ergab die Untersuchung, dass die Wurzel in der
alten Farbe (welche der Unterseite, die jetzt nach oben gekehrt
war, eigentümlich ist) 3,5 em lang weiter gewachsen war.
Auch hier also wirkte die Induktion längere Zeit nach. Daran
schloss sich ein mit dunkler Farbe (beruhend auf Anthocyanbil-
dung in den oberen Schichten) versehenes Stück von 2 cm Länge.
An diesem war die frühere Unterseite anatomisch als Oberseite
ausgebildet. Das ergab sich vor allem aus Gestalt und Ver-
dickung der zweiten Velamenschicht, welche sich der für die Ober-
seite eigentümlichen Ausbildung näherte. Dagegen waren die
Exodermiszellen auf der neuen Oberseite noch dünnwandig, ohne
Zweifel aber würde bei weiterem Fortwachsen auch hier die für
die Oberseite charakteristische starke Wandverdickung einge-
treten sein.
Auf der jetzigen Unterseite dagegen hatte das Velamen den
Bau der Schattenseite angenommen.
Andere Wurzeln zeigten, dass man auch eine der Flanken zur
Ausbildung als Oberseite oder Unterseite veranlassen kann.
Die Wurzeln werden also, was die Lage der Licht- und Schatten-
seite anbetrifft, nicht dauernd induziert, sie bleiben ohne einseitige
Beleuchtung radıär und können eine beliebige Seite als Licht- oder
Schattenseite ausbilden. Ob es möglich ıst, durch gleichstarke Be-
leuchtung von zwei entgegengesetzten Seiten hier etwa zwei Licht-
seiten auszubilden, wurde nicht untersucht.
9) Goebel, Organogr., 2. Aufl. (1913), p. 310.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 913
2. Taeniophyllum.
Taeniophyllum ist eine höchst interessante, auf Baumstämmen
als Epiphyt wachsende Orchidee.
In der Umgebung von Buitenzorg ist Taeniophyllum Zollingeri
häufig namentlich auf Palmstämmen, sie ist dort vom Verf.!%) und
Wiesner!) untersucht worden.
Merkwürdig ist die Pflanze dadurch,
dass die Blätter zu kleinen Schuppen ver-
kümmert sind, welche nur noch für den
Schutz der Stammknospe, nicht mehr aber
für die Kohlenstoffassimilation in Betracht
kommen. Diese wird ausschließlich von
den Wurzeln besorgt, deren Chlorophyll-
gehalt und starke Abflachung bedingten,
dass Blume, welcher die Gattung auf-
stellte, die Wurzeln für Blätter hielt (vgl.
das Habitusbild Fig. 2).
Es gibt ım malaischen Florengebiet
eine Anzahl von Arten, die sich insofern
nicht ganz gleich verhalten, als bei den
einen, z. B. T. Zollingeri und T. philippinense
(Fig. 2), die Wurzeln dem Substrat — Baum-
rınden — fest angedrückt sınd, bei den
andern, namentlich Gebirgsbewohnern, da-
gegen frei herabhängen. Selbstverständlich
wirken äußere Faktoren dabei mit: 7. phi-
Iippinense, das ıch (durch die Güte des Herrn
A. Loher in Manila) nur mit anliegenden
Wurzeln erhalten hatte, bildete nach einiger
Zeit in einem feuchten Gewächshaus auch
von dem Stück Holz, auf dem die Pflanze
wuchs, abstehende Wurzeln.
Im Gegensatz zu den europäischen
Orchideen gehört Taeniophyllum zu den
Angehörigen dieser großen Familie, bei denen EM
2 ar ? ; lippinense.
man Keimpflanzen häufig antrifft. Die Ver- Blübönden pie nat
mehrung durch Samen ist hier die einzige, de an: ehem, ein.
Einrichtungen zu ungeschlechtlicher Ver-
mehrung, wie sie z. B. unsere erdbewohnenden Orchideen durch
ihre Knollen u. s. w. besitzen, fehlen hier vollständig.
Fig. 2. Taeniophyllum phi-
10) Goebel, Pflanzenbiologische Schilderungen, I (Marburg 1889), p. 193.
11) Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg, VI. Zur
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri. Sitz.-Ber. d. Kais. Akad. d. Wiss. in
Wien, Math. Phys. Klasse Bd. CVI, 1897.
914 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Schon die Keimung ist sehr merkwürdig '?), und zwar einer-
seits durch die Gestaltung des Hypokotyls, dann durch seine Haft-
organe und endlich durch das Verhalten des Kotyledons.
Da der Keimling zunächst ganz wurzellos ist, muss das Hypo-
kotyl die Anheftung an einer Baumrinde besorgen.
Demgemäß ist es dorsiventral entwickelt, während es bei
aufrecht keimenden Orchideen radıär ist.
Die dem Substrat anlıegende Seite ist als „Sohle“ ausgebildet,
die dem Lichte zugekehrte annähernd messerklingenförmig (vgl.
Fig. 3). Das Gewebe ist also zum Lichte in „Profilstellung“ '?).
Es ist klar, dass es für einen wurzellosen, einer Palmenrinde ange-
klebten Keimling, der zur Wasseraufnahme auf die „Wurzelhaare“
seiner Sohle angewiesen ist, von Vorteil sein wird, dass er nicht
allzuviel transpiriertt und doch seine Assimilations-
fläche nicht zu klein ausfällt. Das wird durch deren
Profilausbildung erreicht. Dass die Dorsiventralität
des Hypokotyls mit den Lebensverhältnissen zusammen-
hängt, ist also klar. Wie weit diese vom Lichte ab-
hängig ist, bleibt zu untersuchen. Eine Beeinflussung
erscheint mir wahrscheinlich, wenn auch vielleicht
die dorsiventrale Ausbildung selbst nicht davon ab-
hängt. Es wäre sehr interessant, die Keimlinge bei
Liehtabschluss mit Zuckerernährung zu erziehen —
Fig.3. Taenio- falls dies möglich ist. Es könnte ja schon die Keimung
phyllum Zol- vom Lichte abhängen.
lingeri. Quer- Jedenfalls gewinnt im Freien der Keimling die
schnitt durch Baumaterialien, welche zu dem länger dauernden
ein Hypokotyl. 3 3
Die ee Heranwachsen des Hypokotyls notwendig sind durch
Zonepunktiert. eigene Assimilation. Wie weit daran der Pilz, der
in der dem Substrat zugekehrten Seite des Hypokotyls
sich einfindet, beteiligt ıst, ist noch nicht untersucht.
Der Kotyledon ist als ein leitbündelloses Anhängsel am Ende
des Hypokotyls wahrnehmbar.
Die Spaltöffnungen, welche am Hypokotyl und Kotyledon vor-
handen sind, sind die einzigen, die für die Kohlensäureaufnahme
in Betracht kommen. Bei den Schuppenblättern der Stammknospe
sind sie äußerst spärlich, und da diese so gut wie kein Chlorophyll
haben, für die Kohlenstoffassimilation gleichgültig. Die Hochblätter
an der Infloreszenz javanıscher Taeniophyllen haben etwas mehr
Spaltöffnungen '*).
Taeniophyllum ıst also eines der jedenfalls seltenen Beispiele,
dass eine nicht untergetaucht lebende Samenpflanze, abgesehen vom
12) Vgl. Goebel, Pflanzenb. Schilder., Fig. 88.
13) Der Querschnitt erinnert an den einer Riella-Pflanze.
14) Ob sie funktionsfähig sind, ist aber fraglich.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 215
ersten Keimungsstadium und der Infloreszenz, keine besonderen
Eintrittsstellen für Kohlensäure hat. Die Kohlensäureaufnahme
(teils mit Wasser, teils direkt durch die Zellmembranen '°)) wird
demgemäß auch eine langsame sein — schon dadurch ist das lang-
same Wachstum der Pflanze erklärlich. —
Die Haftorgane des Hypokotyls treten auf ın Gestalt zahl-
reicher, nur auf der Sohle gebildeter Zellscheiben, deren Zellen
protoplasmareich und vielfach nach unten vorgewölbt sind (Fig. 4).
Sie scheiden offenbar eine Klebesubstanz aus, welche das Hypo-
kotyl anheftet, vielfach sieht man z. B. der Sohle kleine Lebermoose
fest ankleben. Morphologisch stellen diese Haftorgane, die später
von N. Bernard und Burgeff
auch — wenngleich, wie es scheint, ae E>
meist in einfacherer Ausbildung — 9.0 0 (@.
bei den Hypokotylen anderer Orchi- N OD Sa
deen aufgefunden worden sind — 0% 009 2
offenbar eine eigenartige Ausbildung ) O0 ll.
bezw. Neubildung von „Wurzel- Ub
haaren“ dar. Der einzige ähnliche L &
Fall, der mir bekannt ist, findet sich
bei einigen epiphytischen Leber- &n,
moosen aus der großen Gattung “E
Lejeunea, welche gleichfalls aus W
Rhizoiden Haftscheiben entwickelt Fig. 4. Re Zollingeri.
haben '!®). Bei Taeniophyllumscheinen IT Stück der „Sohle“ eines Hypo-
die Haftscheiben stärker entwickelt kotyls mit Haftscheiben. // Haft-
7 bei H kotvlen Scheibe stärker vergr. III Eine andere,
Bee beiden VE die Grenzzellen und die Innenzellen
anderer Orchideen, bei denen sie yimmern durch IP Dane snchriit
später gefunden wurden. Sie treten eines Hapters, die Innenzellen mit X
auf dem Hypokotyl in großer Zahl bezeichnet.
auf (vgl. die Flächenansicht Fig. 47).
In Flächenansicht fallen zunächst die oben erwähnten protoplasma-
reichen Zellen auf, die in wechselnder Zahl vorhanden sınd. Ihrer
Anordnung nach sind sie aus Teilung einer Zelle hervorgegangen.
Sie können alle zu Rhizoiden auswachsen, so dass diese dann
büschelig zusammenstehen.
Umgeben ist die Scheibe von einem Kranz hellerer (proto-
plasmaärmerer) Zellen. Unter der Scheibe sind noch Basalzellen !”)
vorhanden (in Fig. 4 1/7 punktiert, in Fig. 4/V mit X bezeichnet) in
geringerer Zahl als die Scheibenzellen.
15) Es ist natürlich wohl möglich, dass nur die in Wasser gelöste Kohlen-
'säure in Betracht kommt, wie dies z. B. auch für epiphytische Moose. nachgewiesen
wurde (Goebel, Flora 1893, p. 439).
16) Vgl. Goebel, Pflanzenbiol. Schilder., p. 161, Fig. 66.
17) Vgl. Burgeff, Die Wurzelpilze der Orchideen (1909), p. 75.
916 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Leider war es mir wegen Materialmangel nicht möglich, die
Entwickelungsgeschichte der Haftscheiben zu verfolgen. Nach
Burgeff!”) waren die Basalzellen von Laelio-Cattleya aus Teilung
einer hypodermalen Zelle entstanden. No&äl Bernard macht über
die Entstehung der Rhizoidbüschel keine Angaben. Es ist nicht
ausgeschlossen, dass der ganze Apparat, also Rhizoidbüschel mit
Basalzellen, aus der Teilung einer Dermatogenzelle hervorgeht, doch
ist wahrscheinlicher, dass nur die Scheibe aus der Epidermis ent-
steht.
Wie dem auch sei, jedenfalls liegt hier eine eigentümliche
Organbildung vor, welche bei den genannten Formen auf das Hypo-
kotyl beschränkt ist: ein Organ, das erst als Klebscheibe zu dienen
scheint, dann in Rhizoiden auswächst,
die an Stelle der fehlenden ersten
Wurzel die Befestigung am Sub-
strat übernehmen. Diese Organe,
die wir als primitive „Hapteren“ be-
zeichnen können, finden sich bei
einigen andern Orchideen an den
Rhizomen. Denn die „Haarwurzel-
büschel“, welche Irmisch vor
langer Zeit für Coralliorhiza und
Goodyera angegeben hat, sind offen-
bar nichts anderes als die am Hypo-
kotyl auftretenden „Hapteren“.
II Bei der wurzellosen, saprophy-
f : tisch lebenden Coralliorhixa treten
= T sie offenbar als teilweiser Ersatz
Bien. Ob yanıhes BT Hapten für die Wurzeln auf, ähnlich wie am
in Außenansicht. II Ein anderer im Hypokotyl von Taeniophyllum u. a.
Längsschnitt. Die Untersuchung der Corallio-
rhixa-Rhizome ergab, dass die
„Hapteren“ mit denen von Taeniophyllım im wesentlichen überein-
stimmen, nur dass die Büschel von Wurzelhaaren auf einem mäch-
tigeren Gewebepolster sitzen und auch in der Jugend nicht als
„Scheiben“ auftreten.
Die auffallendsten Hapteren sitzen (nach mündlicher Mit-
teilung des Herrn Dr. Burgeff) an den Ausläufern der javanıschen
Coryanthes pieta, von der ich dank der Freundlichkeit von Herrn
Prof. Stahl Untersuchungsmaterial erhielt.
Fig. 5 / zeigt, dass die Rhizoidenbüschel auf einem weit über
die Oberfläche vorspringenden Gewebepolster sitzen, die einzelnen
Rhizoiden hängen unten ein Stück weit zusammen.
Wir haben es hier also mit einem eigenartigen, auf die Sprosse
von Orchideen beschränkten Organ zu tun, das namentlich in Funktion
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität, bei Orchideenluftwurzeln? 2147
tritt dort, wo Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sind. Dass
sie am Hypokotyl der Keimlinge besonders auffallend hervortreten,
ist also nicht zu verwundern, da die Entwickelung einer Haupt-
wurzel am Hypokotyl der Orchideen ausnahmslos unterbleibt.
Raciborski'®) fand später eine dorsiventrale Ausbildung des
Hypokotyls auch bei anderen Orchideen: Aerides, Vanda, Phalae-
nopsis. Bei Aerides vermehren sich sogar die Keimpflanzen durch
Adventivsprossebildung (leider ist nicht angegeben, ob dabei neue
Keimpflanzen, mit Hypokotyl u.s. w. oder direkt beblätterte Sprosse
entstehen !?). Er nennt den Keimspross einen „Protokorm* — eine
Bezeichnung, auf welche unten zurückzukommen sein wird.
Die Angaben des Verf. über die Keimung von Taeniophyllum
sind später von No&öl Bernard in seiner schönen Abhandlung
„L’evolution dans la Symbiose, les Orchidees et leur champignons
commensaux“ ?°) bestätigt worden.
Fig. 6. Taeniophyllum Zollingert.
] Spitze eines Keimlings in Außen-
ansicht: Der Kotyledon Co ist mit
dem ersten Blatt db, scheidenförmig
verwachsen, b, zweites Blatt. II Das-
selbe im Längsschnitt, v Vegetations-
punkt. III Spitze eines jüngeren
Keimlings schräg von unten und der
Seite, So Sohle des Hypokotyls mit
Haftscheiben. 1. I. I.
Doch ist Noöl Bernard in einem Punkte anderer Ansicht als
der Verf. Er sagt (a. a. O. p. 66): „Goebel a considere comme
un rudiment de cotyledon la partie saillante anterieure de la crete
dorsale?!), mais cette interprötation me parait inexacte; icı en effet,
comme chez les Phalaenopsis, la premiere feuille, au lieu d’etre
oppose A ce pretendu cotyledon, se developpe du meme cöte que
lui par rapport au sommet vegetatif.“
Wenn das so wäre, so würde allerdings meine Deutung un-
haltbar sein.
Ich untersuchte deshalb die Reste meines vor 30 Jahren in
Java gesammelten Materials an Keimlingen. Obwohl es nicht mehr
sehr reichhaltig war, genügte es, um zu zeigen, dass der Irrtum
nicht auf meiner, sondern auf No&öl Bernard’s Seite liegt. Denn
wie Fig. 6 zeigt, entsteht das erste Blatt (D,) nicht (wie N. Ber-
18) Raciborski, Biol. Mitteilungen aus Java, Flora S5 (1898).
19) Ob auch die Jueniophyllum solche Adventivbildungen hervorbringen
können, ist fraglich. An den im Freien gesammelten fand ich keine, möglicher-
weise sind sie aber durch Wegnahme des Vegetationspunktes hervorzurufen, wie
denn Keimpflanzen regenerationsfähiger zu sein pflegen als spätere Entwickelungs-
stadien (vgl. Goebel, Über Regeneration im Pflanzenreich, Biol. Centralbl. XXIV).
20) Annales des sciences naturelles, IX. Ser., botan., t. IX (1909), p. 65.
21) Raciborski bezeichnet diesen Teil als Nase“. Anm. des Verf.
918 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln?
nard angibt) auf derselben Seite wie der Kotyledon, sondern, ent-
sprechend der bei den Orchideen am meisten verbreiteten zwei-
zeiligen Blattstellung ihm gegenüber — auf der andern Seite
des Vegetationspunktes. Außerdem kommen auch Fälle vor, in
welchen der Kotyledon etwas mehr entwickelt ist als sonst (nament-
lich bei älteren Keimlingen), d. h. auf seiner dem Vegetations-
punkt zugekehrten Seite eine Abflachung aufweist, die sich einer,
freilich in den ersten Anfängen steckenbleibenden Scheidenbil-
dung nähert, ja diese Scheide kann mit der des gegenüber-
stehenden ersten Blattes verwachsen (Fig. 6B). Es kann an der
Richtigkeit meiner alten Deutung also wohl kein Zweifel mehr be-
stehen — wie Noöl Bernard zu seiner unrichtigen Angabe kam,
ist mir rätselhaft. Vermutlich untersuchte er ältere Keimlinge, bei
denen eine Verwechslung bezüglich der Blattstellung möglich ist.
Dass ein Leitbündel im Kotyledon nicht ausgebildet wird, ist natür-
lich kein Grund, ıhm die Blattnatur abzusprechen.
Er stellt ein extremes Beispiel eines „unifazialen“ Blattes
dar??), da eigentlich nur seine abaxıale Seite (die Unterseite, welche
dem Lichte zugekehrt ist) entwickelt ist. Ohne Zweifel ıst das be-
dingt dadurch, dass das Hypokotyl sich mit seiner Lichtseite weit
stärker entwickelt als auf seiner Schattenseite (Fig. 3), da der
Kotyledon nur ein kleines Anhängsel des Hypokotyls darstellt, ist
eine solche Beeinflussung leicht verständlich.
Ich bin hier auf diese Frage nach dem Kotyledon eingegangen,
nicht um No&öl Bernard’s Einspruch gegen meine Auffassung ab-
zuweisen. An sich ist es ja ziemlich gleichgültig, wer ın einer
solchen Spezialfrage recht hat. Aber hier wird zugleich eine Frage
von einigem allgemeinen Interesse berührt.
Treub hatte seinerzeit für Lycopodium-Keimlinge den Begriff
eines „Protokorm“ aufgestellt, und in diesem einen Vorläufer
des beblätterten Sprosses der heutigen Pteridophyten erblicken zu
können glaubte, also ein phylogenetisch „primitives“ Organ. Dem-
gegenüber hob der Verf. hervor??), dass es sich bei diesem Proto-
korm wesentlich nur um eine (vielleicht mit der „Pilzsymbiose
zusammenhängende“) eigenartige Ausbildung eines Hypokotyls
handle, die ın verschiedenen Verwandtschaftskreisen auftreten könne,
namentlich auch bei solchen, die wie die Orchideen das Gegen-
teil von primitiver Struktur aufweisen. Auch hier liegt eine Rück-
bildung schon darin vor, dass diesem Hypokotyl die Wurzel fehlt
und dass der Kotyledon — wie der Streit um ihn zeigt — nur
wenig entwickelt ıst. Für diese Auffassung aber ist es von Inter-
esse, nachzuweisen, dass Taeniophyllum einen Kotyledon hat, also
22) Vgl. Goebel, Organographie, 2. Auflage (1913, p. 278).
23) Goebel, Organographie, 1. Auflage, p. 440,
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität.bei Orchideenluftwurzeln? 219
der darunter befindliche Teil mit Recht den Namen eines Hypokotyls
trägt.
Noel Bernard dagegen glaubte nachgewiesen zu haben *),
„que l’apparition et l’evolution du protocorme chez les Orchid6es
sont des ev&nements dus aux progres de la symbiose*.
Das ist ein Irrtum. Das Auftreten (l’apparition!) des Proto-
korm hängt nicht von der Symbiose ab. Das Hypokotyl war schon
vorhanden. Es kann, wie ja auch Verf. als möglich annahm, im
Zusammenhang mit der Pilzsymbiose andere Eigenschaften ange-
nommmen haben, aber entstanden ist es sicher nicht dadurch!
Auf Noäöl Bernard’s phantastische Annahme (a. a. O. p. 18),
dass die Gefäßpflanzen infolge einer hohen Anpassung gewisser
Muscineen an eine Smhloss mit Pilzen entstanden seien, näher
einzugehen, ist wohl nicht erforderlich. Sie ist ebenso wie die
Aufstellung des Protokorms eines der zahlreichen Beispiele dafür,
dass phylogenetische Spekulationen auf Abwege geraten sind.
Außerdem: die Erscheinung, dass einem Forscher, der eine Ent-
deckung macht, diese nun zum Ausgangspunkt kühner Theorien
wird, wiederholt sich ja oft. — Bernard’s Verdiensten können aber
seine phylogenetischen Phantasmagorien keinen Abbruch tun. —
Mir scheint es zweifellos, dass der „Protokorm“ der Orchideen nichts
ist, als ein eigentümlich entwickeltes, beimanchen Formen lange fort-
wachsendes Hypokotyl und dass deshalb die ganze Bezeichung am
besten fallen gelassen würde. Übrigens verhalten sich nos des
Kotyledons = Keimpflanzen von Phalaenopsis ganz ebenso wie die
von Taeniophyllum, nur dass bei ersterer Orchidee der Kotyledon
sich später entwickelt als bei letzteren. Es ist mir unerklärlich,
wie No&l Bernard angeben konnte, dass auch hier das erste Blatt
auf der Seite des „prötendu cotyledon“ stehe.
Die bessere Kenntnis der Keimungserscheinungen der Orchi-
deen, welche wir jetzt besitzen, gestattet uns auch, uns ein Bild
zu machen, wie eine so sonderbare Form wie Taeniophyllum ent-
stand.
Bernard schildert, dass die Keimlinge von Phalaenopsis (einer
Kreuzung von Ph. rosea und amabihs) im Keimlingsstadium redu-
zierte Blätter besitzen, während die Wurzeln verhältnismäßig mächtig
entwickelt und offenbar auch als Assimilationsorgane von größerer
Bedeutung sind als die Blätter. Erst später gewinnen diese dann
bei Phalaenopsis eine bedeutende Entwickelung. Die flachen grünen
Wurzeln können dann bei den Arten, welche in der Trockenheit
ihre Blätter verlieren, vorübergehend dieselbe Rolle spielen wie bei
Taeniophyllum zeitlebens (Fig. 7).
24) A.a. 0. p. 17.
390 Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Taeniophyllum bleibt einfach auf einem Stadium stehen,
welches bei Phalaenopsis ein bald vorübergehendes Jugend-
Fig. 7.
(nach No&l Bernard).
Verf... #4 Hypokotyl, W,
Co Kotyledon, 1—4 Blätter.
Phalaenopsis amabilis X Ph. rosea
4 Monate alte
Keimpflanze 4fach vergr. (Bezifferung vom
W Wuızeln,
stadium ist. Es ist also
nicht nötig anzunehmen, dass
die Laubblätter, welche die
Vorfahren von Taeniophyllum
jedenfalls besessen haben, all-
mählich kleiner wurden und
verkümmerten. Es brauchte
einfach deren Bildung von
vornherein, also miteinem
„Sprung“, schon bei der Kei-
mung gehemmt zu werden.
Die Pflanze war trotzdem weiter
existenzfähig, weil sie grüne
Wurzeln schon besaß und
konnte vermöge ihrer geringen
Ansprüche an Standorten ge-
deıhen, welche sonst nur für
Flechten und Moose, die perio-
dische Austrocknung ertragen,
bewohnbar sind.
Sie lebt dort im wesentlichen (wie auch Wiesner hervorhebt)
wie eine Krustenflechte.
Pi
II.
Fig. 8. Taeniophyllum philip-
pinense. I Querschnitt einer
Wurzel, das chlorophyllreiche Ge-
webe punktiert. /I Querschnitt
durch die Ober-, /II durch die
(Querseite der Exodermiszellen mit
X. bezeichnet, V Velamen.
Wie diese ist sie auf das von der Baunr-
rınde herabrieselnde Wasser ange-
wiesen, das von der Unterseite der
Wurzeln aufgenommen wird.
Diese fallen auf durch ihre Ab-
flachung.
Am auffallendsten abgeflacht fand
ich die Wurzeln bei T. philippinense.
Hier ist der Breitendurchmesser der
Wurzeln mehr als fünfmal so groß
wie der Höhendurchmesser (Fig. 8 7).
Der dorsiventrale Bau der Wurzel
tritt hier ungemein deutlich hervor.
Zunächst schon darin, dass das Chloro-
phyll auf der Lichtseite stärker ent-
wickelt ıst als auf der Substratseite.
Zur Ausbildung eines typischen Assi-
milationsparenchyms ist es freilich
auch hier nicht gekommen. Sodann
ın der Ausbildung der Wurzelhülle.
Bei T. philippinense und
T. Zollingeri ıst das Velamen auf der
Oberseite nur ın Resten vorhanden, während es auf der Unterseite
Goebel, Induzierte und autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 291
in zwei Zellschichten erhalten bleibt (Fig. 8 IT und III). Besonders
eigentümlich ist die „Exodermis“,
Auf der Oberseite sind die nach außen gekehrten Zellwände
und die Seitenwände der Zellen ungemein verdickt, auf der Unter-
seite ganz dünnwandig (Fig. 8 /Z und IIT).
Es ıst klar, dass die starke Verdiekung der nach außen ge-
legenen Zellwände einen wirksamen Schutz gegen Transpiration
darstellt, welcher auf der dem Substrat zugekehrten Seite un-
nötig ist.
Kausal ist die Verschiedenheit wohl durch die Verschiedenheit
der Transpiration bedingt, bezw. dadurch, dass letztere auf der
Lichtseite eine stärkere Anhäufung organischer Baustoffe zur Folge hat.
Außerdem spricht sich die Dorsiventralität auch noch darin
aus, dass die Exodermis der Wurzeln von T. I nur auf
der Unterseite „Durchlasszellen“ hat
(Fig. 9). Damit haben die Taeniophyllum- NN
Wurzeln den höchsten Grad von Dorsi- N
ventralität erreicht, welcher für Orchi- ||
deenluftwurzeln bis jetzt bekannt ist.
Denn selbst die Luftwurzeln von Aeran- a
zewski an der Exodermis der Ober-
seite noch Durchlasszellen.
Dass diese Zellen auf der Oberseite,
wo keine Wasseraufnahme stattfindet, Fig. 9. as yllum phi-
überflüssig sind, ist natürlich noch keine lippinense. Flächenansicht der
Erklärung für ihr Fehlen. Offenbar er. Fxodermis. I der Ober-, II der
= E : \ 2 ; Unterseite einer Wurzel.
fährt die Oberseite einerseits eine Ent-
wickelungshemmung, wie sie sich in der Reduktion des Velamens
und im Unterbleiben der Abtrennung der Durchlasszellen ausspricht
— andererseits eine abweichende Ausbildung, die sich in stärkerem
Wachstum und stärkerer Wandverdickung der Exodermiszellen der
Oberseite (vgl. die Flächenansicht Fig. 9 7 mit 9 II) zeigt. Ob diese
beiden Eigentümlichkeiten auf denselben Reiz oder auf verschiedene
zurückzuführen sind, ist fraglich.
In physiologischer Beziehung wurde Taeniophyllum untersucht
von Wiesner?). Er stellte u. a. fest, dass die Wurzeln sehr
langsam wachsen und meint, es sei in hohem Grade wahrscheinlich,
dass die Wurzeln im Finstern überhaupt nicht wachsen.
Damit wäre ein sehr wesentlicher Unterschied von den typischen
Wurzeln, den Erdwurzeln festgestellt, von denen sich doch zweifellos
thus fasciola — einer gleichfalls „blatt-
losen“ Orchidee — haben nach Janc- N
25) J. Wiesner, Pflanzenphysiologische Mitteilungen aus Buitenzorg IV zur
Physiologie von Taeniophyllum Zollingeri.
922 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
die Taeniophyllum-Wurzeln ableiten. Denn diese werden bei Licht-
schluss in ihrem Wachstum nicht gehemmt. Im Gegenteil erfolgt
durch die Beleuchtung eine Verlangsamung des Wachstums 2°),
Taeniophyllum befindet sich allerdings in anderen Bedingungen als
andere Wurzeln. Diese erhalten ihre organischen Baumaterialien
von den chlorophyllhaltigen oberirdischen Teilen, bei Taeniophyllum
liegen vollständig autotrophe Wurzeln vor, die auch ihren Kohlen-
stoffbedarf selbständig durch Assimilation aus der atmosphärischen
Kohlensäure decken, nur die ersten Entwickelungsstadien werden
auf Kosten der im Stämmchen oder älteren Wurzeln gespeicherten
Reservestoffe zurückgelegt. Wenn es eine Pflanze gibt, bei ‘der
man ein „Erblichwerden erworbener Eigenschaften“ vermuten
könnte, so würde man sie wohl in Taeniophyllum suchen können.
Die Wurzeln hätten die Fähigkeit, im Dunkeln zu wachsen ver-
loren und eine nicht mehr direkt durch das Licht induzierte Dorsi-
ventralität angenommen.
Der Direktion des botanischen Gartens ın Buitenzorg verdanke
ich eine Anzahl lebender Taeniopkyllum-Pflanzen. Diese wachsen
— wenigstens eine Zeitlang — in Kultur ganz gut, wenn man sie
möglichst in Ruhe lässt, namentlich nicht viel spritzt, da sie sonst
leicht faulen.
An zweien wurde die Stammknospe durch Überbinden eines
schwarzen Tuches und aufgelegte Watte verdunkelt, die äußeren
Wurzelteile blieben unbedeckt.
Eine der Pflanzen ging — auf nicht näher aufgeklärte Weise —
verloren. Die andere zeigte nach etwa 8 Monaten, als der Verband
geöffnet wurde, drei neue, unter diesem entwickelte bleiche, chloro-
pbyllose Wurzeln. Die längste war 1!/, cm lang.
Das zeigt zunächst, dass die Wurzeln die Fähigkeit, sich
ım Dunkeln zu entwickeln, nicht verloren haben — wenig-
stens wenn sie von Anfang an im Dunkeln auftreten. Ob die Spitze
einer Luftwurzel im Dunkeln weiter wächst und wie sich die Zu-
wachsgeschwindigkeit ım Licht und ım Dunkeln verhält, wurde
nicht untersucht und derzeit haben die noch übrigen Exemplare
keine gesunden Wurzelspitzen. Indes ıst es nun, nach den Eır-
fahrungen, die über Phalaenopsis mitgeteilt wurden, sehr wahrschein-
lich, dass auch die am Lichte angelegten Taeniophylium-Luftwurzen
sich im Dunkeln weiter entwickeln können. Wenn man die ganze
Pflanze verdunkelt, so können leicht schädliche Stoffwechselprodukte
entstehen, die eine Weiterentwickelung verhindern — es gibt auch
andere chlorophyllhaltige Pflanzen, die sich im Dunkeln nicht weiter
entwickeln und nicht etiolieren. Mich interessierte hauptsächlich die
Frage, ob die Dorsiventralität der Taeniophyllum-Wurzeln eine
induzierte ist oder nicht.
26) Vol. die in Pfeffer’s Pflanzenphysiologie II, p. 110 mitgeteilten Messungen.
Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln? 993
Es zeigte sich, dass das erstere zutrifft. Die im Dunkeln ent-
wickelten Wurzeln waren, wie die Querschnitte Fig. 10 zeigen,
nicht abgeflacht, sondern annähernd zylindrisch, ‚selbstverständlich
können Abweichungen schon durch mechanische Beeinflussung vor-
kommen. Auch war in der Beschaffenheit des Velamens und der
Exodermis kein durchgreifender Unterschied zwischen den verschie-
denen Seiten festzustellen. Namentlich waren Durchlasszellen in
der Endodermis überall vorhanden. Damit ist nachgewiesen, dass
die Dorsiventralität der Wurzeln auch hier vom Lichte bedingt ist.
Natürlich wäre es wünschenswert, den Versuch in größerem
Maßstab und im Heimatland der Pflanze zu wiederholen. Dann
werden sich Einzelfragen näher untersuchen lassen, wie die, ob
nicht eine gewisse „Nachwirkung“ (die hier aber durch den Spross
vermittelt sein müsste) insofern vorkommt,
als kleinere Unterschiede im Bau von ada-
xialer und abaxialer Seite der Wurzeln sich
noch nachweisen lassen.
Als Hauptresultat scheint mir aber auch n 7
durch die einzige Versuchspflanze erwiesen:
Die Wurzeln von Taeniophyllum haben, trotz-
dem sie seit ungezählten Generationen nur
am Lichte sich entwickeln, ihre Fähigkeit, In.
im Dunkeln zu wachsen, nicht verloren. Fig. 10. Taeniophyllum
Ihre Dorsiventralität wird direkt Zollingeri. Querschnitte
erchdas Tıcht bestimmt. Ob eme, dureh Wurzeln? I und TE
5 Be im Dunkeln, //I am Lichte
Nachwirkung stattfindet und wie die Wachs- ntwickelt (Be Tan
tumsgeschwindigkeit ım Licht sich zu der unten gekehrt).
im Dunkeln verhält, bleibt näher zu unter-
suchen. Der einzige Fall, in welchem jetzt noch eine „autonome“
Dorsiventralität von Orchideenwurzeln vorzuliegen scheint, ist der
von Aeranthus fasciola.
Janczewski (a. a.0. p. 26) sagt: „L’organisation dorsiventrale
apparaissant de si bonne heure doit etre une qualit& innde a la
racıne de l!’Aöranthus fasciola; experience le prouve d’une maniere
incontestable,. en nous apprenant que cette organisation ne peut
etre eliminee par la developpement de la racine dans l’obscurite.“
Das Experiment, auf welches sich diese Angabe stützt, ıst
folgendes. Eine mit Stanniol umwickelte Wurzelspitze stellte ihr
Wachstum ein. Später regenerierte sich die Wurzelspitze (d.h. es
entstand offenbar eine Seitenwurzel, wie das nach der Verletzung
von Orchideenluftwurzeln oft eintritt ?”)), die Wurzel war der Haupt-
sache nach dorsiventral, ı:ur fehlten die „Flügel“, zu deren Ent-
wickelung auch nach Janczewski’s Ansicht Licht notwendig ist.
27) Vgl. Goebel, Einleitung in die exper. Morphologie, p. 169.
224 Goebel, Induzierte oder autonome Dorsiventralität bei Orchideenluftwurzeln ?
Es ist natürlich möglich, dass die verschiedenen Orchideen sich
verschieden verhalten und Aeranthus fasciola tatsächlich eine auto-
nome Dorsiventralität der Wurzeln aufweist. Aber der Janc-
zewskische Versuch dürfte auch noch einer anderen Deutung fähig
sein. Und zwar aus folgenden Gründen.
1. Es ist nicht nachgewiesen, dass die neue Wurzel wirklich
auch ım Dunkeln entstand, sie konnte schon vorhanden, am Lichte
induziert und nun weiter gewachsen sein.
2. Selbst wenn sie ım Finstern entstand, kann die Wurzel,
an der sie sich bildete, auf sie eine Nachwirkung ausgeübt haben,
wie wir oben eine solche bei Phalaenopsis nachwiesen. Bei längerer
Dauer des Versuchs wäre auch diese Wurzel wohl radıär geworden.
Es scheint mir also derzeit wahrscheinlich, dass bei allen dorsi-
ventralen Orchideenluftwurzeln nur eine labile Induktion vorliegt.
Ob diese Auffassung zutrifft, werden weitere experimentelle Unter-
suchungen zeigen müssen, die ja namentlich ın der Heimat dieser
Pflanzen leicht auszuführen sind.
Inhaltsübersicht.
1. Die auffallende dorsiventrale Ausbildung der Luftwurzeln
mancher Orchideen beruht auf zwei Vorgängen:
a) Eine Hemmung der anatomischen Differenzierung auf der
Lichtseite,
b) eine stärkere Wandverdickung der Außenzellen auf der
Lichtseite.
2. Die Hemmung macht sıch bei den einzelnen Gattungen in
ungleichem Maße geltend. Sie betrifft teils die Ausbildung
des Velamens, teils die Exodermis. Bei letzterer werden beı
den meisten Formen die „Durchlasszellen* auf der Oberseite
in geringerer Zahl ausgebildet als auf der Unterseite. Bei
Taeniophyllum wunterbleibt ıhre Differenzierung ganz. Die
Wurzeln dieser Gattung stellen also die am meisten dorsi-
ventral ausgebildeten dar.
3. Die dorsiventrale Ausbildung ist ın allen vom Verf. unter-
suchten Fällen vom Lichte abhängig, auch bei Taeniophyllum,
von dem Wiesner annahm, dass ein Wachstum der Wurzeln
im Dunkeln nicht stattfinden könne.
Es macht sıch aber eine länger andauernde Nachwirkung,
namentlich bei Phalaenopsis, geltend. Die ım Dunkeln ent-
wickelten Wurzeln zeigen allseitig die Ausbildung, welche
sonst der (nicht gehemmten) Schattenseite zukommt. Die ab-
weichende Angabe von Jancze wskı betreffend Aeranthus fas-
ciola ıst wahrscheinlich durch „Nachwirkung“ bedingt.
4. An den Sprossteilen einer Anzahl von Orchideen finden sich
eigentümliche „Hapteren“, hervorgegangen aus der Teilung
Brun, Das Orientierungsproblem im. allgemeinen etc. 395
einer Oberhautzelle und einer Anzahl darunter liegender Zellen.
Sie dienen bei Tueniophyllum zunächst als Haftscheiben, später
wachsen die äußeren Zellen zu Wurzelhaarbüscheln aus. Außer
bei Keimlingen sind diese „Hapteren“ auch bekannt an den
unterirdischen Sprossteilen von Coralliorhixa, Goodyera, an
den Niederblättern von Microstylis, Sturmia, Malaxis?°).
Ihre höchste bis jetzt bekannte Entwickelung erreichen sie
bei Corysanthes. Sie sind offenbar namentlich dann von Be-
deutung, wenn Wurzeln fehlen oder spärlich entwickelt sınd.
6. Ob die Dorsiventralität des Hypokotyls mancher Orchideen
eine „autonome“ oder eine durch die Außenwelt bedingte ist,
bleibt zu untersuchen.
Es liegt aber kein Grund vor, bei den Orchideen von einem
„Protokorm“ zu sprechen. Was so genannt wurde, ist nichts
als ein Hypokotyl von oft eigenartiger Ausbildung, an welchem
keine „Hauptwurzel“ sich findet. Dieses Hypokotyl spielt viel-
fach auch eine wichtige Rolle als erstes Assimilationsorgan.
7. Der Kotyledo ist bei Tueniophyllum -— entgegen der An-
gabe von N. Bernard — in normaler Stellung vorhanden,
aber sehr rückgebildet.
Das Orientierungsproblem im allgemeinen und auf
Grund experimenteller Forschungen bei den Ameisen.
Von Dr. med. Rudolf Brun,
Assistent an der Nervenpoliklinik der Universität in Zürich.
(Schluss.)
IT.
Experimentelle Ergebnisse über die Fernorientierung
der Ameisen.
Nachdem wir im vorhergehenden die allgemeinen psychobio-
logischen und mnemischen Gesetze, welche den verwickelten Mecha-
nismus der Fernorientierung beherrschen, in großen Umrissen
skizziert haben, wollen wir uns nunmehr den Ergebnissen der experi-
mentellen Analyse eines ganz besonders lehrreichen Spezialfalles
zuwenden, nämlich der Fernorientierung der Ameisen. Die Er-
kenntnis der großen Bedeutung, welche diese Spezialfrage für das
Örientierungsproblem im allgemeinen besitzt, veranlasste nicht nur
Entomologen von Fach, sondern auch zahlreiche Biologen, Psycho-
logen und Physiologen, sich mit derselben näher zu befassen und
so entstand allmählich eine ziemlich umfangreiche Literatur, ın
28) Vgl. Goebel, Zur Biologie der Malaxideen, Flora 88 (1901), p. 100, Fig. 6.
XXXV. 15
326 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen: etc.
De
welcher ein reiches und äußerst interessantes Tatsachenmaterial
niedergelegt ist!”).
Die Ameisen eignen sich nämlich zu Studien über die Fern-
orientierung aus zwei Gründen in ganz besonderem Maße: Einmal
wegen ihrer sesshaften, sozialen Lebensweise, welche sie nötigt,
von ihren Fernwanderungen immer wieder zu einem ganz bestimmten
Ausgangspunkt, dem Neste, zurückzukehren; — dann aber auch
deshalb, weil sie (im Gegensatz zu den Bienen) in der Arbeiter-
kaste flügellos sind und daher eine verhältnismäßig langsame, leicht
verfolgbare Fortbewegung haben.
Das richtige Verständnis einer so komplizierten biologischen
Leistung, wie sie die Fernorientierung der Ameisen darstellt, setzt
natürlich vor allem eine genauere Kenntnis der Anatomie und Phy-
siologie der beteiligten Sinnesorgane, sowie des diesen Sinnen über-
geordneten zentralen Assoziationsapparates voraus. Ich möchte
daher, bevor ich auf die biologischen Erscheinungen eingehe, noch
ganz kurz die wesentlichsten dieser anatomischen und physio-
logischen Tatsachen in Erinnerung bringen.
Die Sinne, die bei der Orientierung der Ameisen in Be-
tracht kommen können, sind im wesentlichen der Geruchssinn,
der Tastsınn, der Gesichtssinn und die kinästhetischen Registrie-
rungen. Was die Mitwirkung dieser letzteren betrifft, so sind
wir da natürlich ausschließlich auf die experimentell-physiologische
Analyse angewiesen. Über die Funktionen der anderen Sinne kann
uns, teilweise wenigstens, schon die anatomische Struktur der be-
treffenden Organe wichtige Fingerzeige geben.
Der @eruchssinn ist bekanntlich der biologisch weitaus wich-
tigste Sinn der Ameisen. Wie wir schon im allgemeinen Teil dieser
Arbeit (S. 195) gesehen haben, kommt derselbe hier auch für die
exterozeptive Orientierung im Raume sehr wesentlich in Betracht,
weil seine peripheren Endapparate oberflächlich, an den sym-
metrischen und äußerst beweglichen (geknieten) Antennen lokalı-
siert sind. Der Geruchssinn der Ameisen gehört daher, wie unser
Auge, zu den relationellen Sinnen, d. h. er ist in erster Linie
ein Kontaktgeruchssinn, welcher die von den verschiedenen
Objekten ausgehenden Duftemanationen nicht, wie unsere Riech-
schleimhaut, in diffuser Mischung, sondern in ganz bestimmter
räumlicher Anordnung, entsprechend den gleichzeitig durch die
Tasthaare der Fühler wahrgenommenen Formen der duftenden Ob-
jekte, rezipieren muss. Auf diese Überlegungen gründete Forel°®)
17) Ich werde im folgenden nur die wichtigsten einschlägigen Arbeiten an-
führen und verweise im übrigen auf meine kürzlich erschienene Monographie („Die
Raumorientierung der Ameisen und das Orientierungsproblem im allgemeinen“, —
Gustav Fischer, Jena 1914), welche ein ausführliches Literaturverzeichnis enthält.
15) Forel, Experiences et remarques critiques sur les sensations des insectes.
— Rivista di Se. Biolog. II u. III, Como 1900—1901. — Die psychischen Fähig-
Brun, Das Orientierungsproblem im -allgemeinen etc. Ser
fe
bekanntlich seine geistreiche Kontaktgeruchstheorie oder
Theorie des topochemischen Fühlersinnes, welche eben be-
sagt, dass die Ameisen vermittelst ihrer Fühler räumlich scharf
umschriebene „Geruchsformen“ wahrnehmen. Sie werden also bei-
spielsweise runde von viereckigen, harte von weichen, elliptische
von kugeligen Gerüchen unterscheiden und werden diese verschie-
denen Geruchsformen in eben der gegenseitigen räumlichen Anord-
nung und zeitlichen Folge, wie sie im umgebenden Raume ange-
troffen wurden, auch im Gedächtnis als assozuerte topochemische
Engrammkomplexe aufspeichern. Doch betont Forel ausdrück-
lich, dass die Ameisen von dieser topochemischen Assoziation, ent-
sprechend der absoluten Kleinheit ihres Gehirns, natürlich nur in
sehr beschränktem Umfange Gebrauch machen können. Diese
selbstverständliche Einschränkung vorausgesetzt, besteht seine Theorie
zweifellos auch heute noch zu Recht.
Im Vergleich zum Kontaktgeruchssinn ıst das Ferngeruchs-
vermögen der Ameisen offenbar nur sehr gering entwickelt; man
kann sich wenigstens leicht davon überzeugen, dass Ameisen selbst
stark duftende und für sie ungemein „lustbetonte* Substanzen, wie
Honig, nur auf wenige Zentimeter zu wittern imstande sind.
Auch der Gesichtssinn weist bei den Ameisen —- wie bei
den Insekten überhaupt — eine Reihe von Besonderheiten auf,
welche von vornherein vermuten lassen, dass derselbe bei der
Fernorientierung wohl ın ganz anderer Weise funktioniert als bei
den Wirbeltieren. Bekanntlich entwerfen die Fazettenaugen der
Insekten nach der Müller-Exner’schen Theorie des musivischen
Sehens von den Objekten der Außenwelt ein einziges aufrechtes
Mosaikbild (Appositionsbild), dessen Schärfe in erster Linie von der
Zahl der Fazetten, in zweiter Linie von der Länge und Schmalheit
der einzelnen Ommatidien abhängt: Je zahlreicher nämlich die Fa-
zetten, in um so zahlreichere Bildpunkte wird das Gesamtbild auf-
gelöst und desto kleinere Objekte werden somit noch einigermaßen
deutlich „erkannt“; je länger und schmäler die Ommatidien, um so
konzentriertere Lichtbündel leiten sie den entsprechenden Netzhaut-
elementen zu, indem die Randstrahlen abgeblendet werden. Die
Augen der bestsehenden Ameisen haben (im Arbeiterstand) eine
verhältnismäßig geringe Fazettenzahl'!’) und ziemlich kurze Omma-
tidien. Ihr Fernpunkt, der hauptsächlich von der Wölbung der
Kornealinsen abhängt, ıst bei den meisten Arten bis auf wenige
Millimeter oder Zentimeter ans Auge herangerückt. Die Unbeweg-
lichkeit der Fazettenaugen bringt es ferner mit sich, dass die Auf-
keiten der Ameisen, 2. Aufl., Reinhardt, München 1902. — Sinnesleben der In-
sekten, ebend. 1910.
19) Bei Formica rufa, einer der bestsehenden Arten, beispielsweise nur 600,
gegenüber 20000 bei vielen Libellen!
15*
338 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
Frl Fr)
merksamkeit des ruhenden Insekts nur durch bewegte Objekte zu
erregen ist. — Die Augen der Ameisen scheinen demnach haupt-
sächlich für das Sehen großer, bewegter Objekte aus nächster Nähe
eingerichtet (Forel). Man glaubte daher früher allgemein, dass
der Gesichtssinn bei der Fernorientierung dieser Insekten nur eine
sehr untergeordnete Rolle spielen könne. Es ist hauptsächlich
Santschi’s?°) Verdienst, diesen Irrtum, der, im Verein mit einer
gewissen Voreingenommenheit zugunsten des Geruchssinnes, das
unbefangene Urteil in der Deutung mancher Tatsachen lange Zeit
trübte, endgültig widerlegt zu haben. Wır werden auf die wichtigen
neuen Ergebnisse der Forschungen dieses hervorragenden Myrme-
kologen noch ausführlich zurückzukommen haben. -—
Die Frage, ob die Ameisen „hören“, scheint trotz allen darauf
gerichteten Untersuchungen noch immer nicht ganz einwandfrei
entschieden zu sein. Man hat eigentümliche, im Inneren der Tibien
ausgespannte sogen. „chordotonale“ Organe wiederholt als Gehör-
organe angesprochen; — falls dieselben wirklich echte Schallwellen
rezipieren, dürften sie aber wohl nur für die Wahrnehmung jener
feinsten Zirplaute („Stridulationen“) aus nächster Nähe in Betracht
kommen, welche manche Ameisen durch Aneinanderreiben gewisser
Teile ıhres Chitinpanzers erzeugen. Was endlich statische Organe
anbetrifft, so sind solche bis jetzt bei Insekten überhaupt nicht
nachgewiesen worden. —
Vergleichen wır die eben kurz angedeuteten Sinnesfunktionen
mit Bezug auf ihren direkten Wirkungsbereich, so stellen wir ohne
weiteres fest, dass durch keine derselben eine direkte Rezeption
des Nestes (oder besser: des psychophysiologischen Erregungskom-
plexes „Nest“) aus größeren Entfernungen als höchstens einem Meter
ermöglicht wird. Daraus folgt, dass jede Fernorientierung
der Ameisen über einen Meter hinaus eine indirekte sein
muss, d.h. dass sie nicht nach einem sinnlich (als aktueller Reiz-
komplex) gegebenen, sondern nach einem im „Sensorium“ der
Tiere lediglich als Engramm vertretenen Ziele erfolgt, mit Hilfe
von intermediären, mit ‘diesem Zielengramm sekundär assoziierten
Richtungszeichen. Nun setzt aber, wie wir gesehen haben, jede,
auch die einfachste Form einer indirekten Orientierung im Prinzip
die Fähigkeit zur Erwerbung und Assoziation individueller En-
grammkomplexe voraus und es fragt sich daher, ob wir berechtigt
sind, so winzigen Geschöpfen wie Ameisen ein solches plastisches
Engraphie- und Assoziationsvermögen zuzuschreiben. Manche Autoren
20) Santschi, F., Observations et remarques eritiques sur le mechanisme de
’orientation chez les Fourmis. Revue Suisse de Zool. 1911. — Comment s’orientent
les Fourmis. Ibid. 1913. — L’wil compos6 considere comme organe d’orientation
chez la Fourmi. Revue Zool. Africaine III, 1913.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 399
— unter ihnen namentlich Bethe?!) — haben den Insekten be-
kanntlich alle „psychischen“ Qualitäten (oder sagen wir besser:
eine individuelle Mneme) rundweg abgesprochen, und wo ihre eigenen
Experimente sie mit dieser vorgefassten Meinung in Widerspruch
brachten, waren sie eher geneigt, ihre Zuflucht zu irgendeiner phy-
siologisch unerklärlichen „unbekannten Kraft“ zu nehmen, als ihre
These aufzugeben. Bevor wir indessen diesen Autoren auf das
dunkle Gebiet der wissenschaftlichen Mystik folgen, werden wir
doch gut tun, uns vorerst noch danach umzusehen, ob im Zentral-
nervensystem der höheren Insekten nicht anatomische Strukturen
vorhanden sind, welche als das morphologische Substrat jener
biologisch nachweisbaren plastischen Neurokymtätigkeiten ange-
sehen werden könnten.
vo
Fig. 2. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der
roten Waldameise (Formica rufa L.). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 65 X.
Hämatoxylin-Eosin. Cp = Corpora peduneulata Dujardini. F' = Fazettenauge.
Lo — Lobus opticus. Lolf. — Lobus olfactorius. MI. — Massa lateralis proto-
cerebri. Ri = Regio intercerebralis.
Wenn wir einen Frontalschnitt durch den vorderen Abschnitt
(„Proto- und Deutocerebron“) des Gehirns (Öberschlundgang-
lions) einer phylogenetisch hochstehenden Ameise be-
trachten (Fig. 2), so fallen uns daran sofort vier eigentümlich struk-
turierte dorsale Gebilde in die Augen, welche in diesen Frontalebenen
einen relativ sehr bedeutenden Teil des gesamten Hirnquerschnitts
einnehmen. Es sind dies die sogen. pilzhutförmigen Körper
oder Corpora pedunculata von Dujardin. Dieselben präsen-
tieren sich im Frontalschnitt als vier symmetrische, tief eingebuch-
tete, bezw. gewundene Massen grauer Substanz vom Typus des
flächenförmigen oder Rindengraus, bestehend aus einer dor-
salen kompakten Rindenschicht sehr dichtstehender indifferenter
21) Bethe, A., Dürfen wir den Ameisen und Bienen psychische Qualitäten
zuschreiben? — Arch. f. d. ges. Physiol. Bd. 70, 1898.
230 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec.
Körnerzellen und einer tieferen, semmelförmig gebuchteten diekeren
Molekularschicht. Diese Massenanhäufung von Substantia mole-
cularıs besteht im wesentlichen aus nichts anderem als aus den,
zu einem unentwirrbaren Neuropilemfilz verflochtenen, Fibrillen-
aufsplitterungen und Axonen zahlreicher Projektions-, Assoziations-
und Kommissurenfasern, welche teils aus den Körnerzellen der
Rindenschicht hervorgehen, teils aus allen übrigen Hirnregionen
(Lob. olfactorius, Lob. opticus u. s. w.) herbeifließen, um sich um
die Körnerzellen aufzusplittern. Jede Windung entsendet zwei dicke
Stiele (Pedunculi), welche tief in die Zentralmasse des Protocere-
brons eintauchen (in dem Mikrophotogramm Fig. 2 sind nur die vor-
RER
Fig. 3. Frontalschnitt durch das Gehirn (Öberschlundganglion) der
Schmeißfliege (Calliphora vomitoria). — Mikrophotogramm. Vergr. ca. 40 X.
Toluidinblaufärbung. Cp = die kaum andeutungsweise entwickelten Corpora pedun-
culata. Die übrigen Bezeichnungen wie in Fig. 2.
deren Umbiegungen dieser mächtigen Stiele zu sehen, da ihre Ver-
einigung mit den Corp. pedunec. erst in etwas kaudaleren Ebenen
erfolgt).
Die eben geschilderte mächtige Entwickelung der Corpora
peduneulata findet sich nun aber bezeichnenderweise nur bei den
phylogenetisch jungen sozialen Hymenopteren (Ameisen, Bienen,
Wespen), und auch da nur in der Weibchen- und Arbeiterkaste,
welche ja auch allein jene höheren plastischen Fähigkeiten verraten,
von denen wir oben gesprochen haben. Bei den viel dümmeren
Männchen sind diese Organe, wie Forel zuerst nachwies, stets
wesentlich kleiner, nur wenig gefaltet, oft geradezu rudimentär und
bei den übrigen (nicht sozialen) Insekten stellen sie bestenfalls nur
einfach geschichtete, dorsale Höcker, ohne jede Faltung dar, oder
fehlen vollständig. So werden Sie dieselben z. B. bei den stu-
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 231
piden Fliegen, diesen Proletariern unter den Insekten, vergeblich
suchen; man sieht hier (Fig. 3) an der entsprechenden Stelle nur
medial eine spärliche Ansammlung von Körnerzellen, während die
ganze dorsale Partie des Protocerebrons zwischen den (hier dafür
um so mächtiger entwickelten) Lobi optici einfach fach abgeschnitten
erscheint. — Mit Rücksicht auf alle diese Tatsachen ist man m. E.
gewiss zu dem Schlusse berechtigt, dass man in den Gorpora
pedunculata tatsächlich einen phylogenetisch relativ
spät auftretenden, funktionell hochwertigen zentralen
Assoziationsapparat vor sich hat, welcher also insofern
gewissermaßen ein Analogon des Großhirns der Wirbel-
tiere darstellen dürfte. —
Und nun wollen wir uns den merkwürdigen biologischen Pro-
blemen zuwenden, vor welche die staunenswerte Orientierungsfähig-
keit der Ameisen die Wissenschaft gestellt hat. Wir unterscheiden
dabei, nach dem Vorgehen von Cornetz, zunächst aus rein prak-
tischen Gründen scharf zwischen zwei Grundphänomenen:
Einer Massenorientierung zahlreicher Individuen auf kollektiv
begangenen Wegen und der Orientierung einzeln vom Nest aus-
gehender Individuen. Bei vielen Arten, so namentlich bei den
augenlosen und schlecht sehenden, wie Lasius fuliginosus, ist aus-
schließlich der erste Modus im Gebrauch, andere Arten gehen nach
Belieben bald scharenweise, bald einzeln vom Neste aus (Formica,
Polyergus, Lasius niger), noch andere immer nur vereinzelt (Cata-
glyphis). Die psychobiologischen Grundlagen beider Orientierungs-
arten sind z. T. wesentlich verschieden.
1. Die Massenorientierung.
Dieselbe ist in der Regel (aber durchaus nicht immer) eine
Orientierung auf vorgezeichneter Bahn, welche zumeist
durch eine chemische Spur, seltener durch eigentliche von den
Ameisen angelegte gebahnte Straßen markiert wird. Uns inter-
essiert hier vor allem die Orientierung auf Geruchsspuren,
da diese Erscheinung trotz ihrer scheinbaren Einfachheit ein Pro-
blem in sich birgt, das bis vor kurzem noch aller Erklärungs-
versuche zu spotten schien. Es bietet sich dabei gewöhnlich folgendes
Bild: Man sieht auf einer Strecke von 5, 10, ja selbst 100 und
mehr Metern eine ununterbrochene Kette von Ameisen zwischen
Nest und Ziel (gewöhnlich ein Blattlausstrauch) hin- und herwandern;
dabei folgt jedes Tier, fortwährend den Boden mit den Fühlern ab-
tastend, genau seinem Vordertier, ohne auch nur einen Finger breit
vom Weg abzuweichen. Dass die Ameisen dabei in der Tat eine
auf dem Boden deponierte materielle Geruchsspur verfolgen, geht
aus einem einfachen Versuch hervor, den der Genfer Gelehrte
Ch. Bonnet schon vor mehr als 100 Jahren machte. Zieht man
232 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
nämlich mit dem Finger einen Strich quer über die Straße, so
stauen sich die Ameisen zu beiden Seiten desselben an; sie suchen
aufgeregt mit den Fühlern herum, bis endlich eine es wagt, das
Hindernis langsam, zögernd zu überschreiten, worauf die übrigen
folgen und der Verkehr sich allmählich wieder herstellt. Neuer-
dings (1911) hat übrigens Santschı durch aufmerksame Beobach-
tung mit der Lupe festgestellt, dass viele Ameisen ihre Spur
aktiv markieren, indem jedes Individuum von Zeit zu Zeit stehen
bleibt und ein winziges, wahrscheinlich den Analdrüsen entstammen-
des Sekrettröpfehen auf dem Boden deponiert. Über die Flüchtig-
keit, bezw. die Zähigkeit des Festhaftens des Spurgeruches gewann
ich selbst auf folgende Weise einige Anhaltspunkte: Ich ließ Ameisen
(Lasius niger) durch ein System kommunizierender Glasröhren wan-
dern, schaltete dann einzelne Röhren für eine bestimmte Zeit aus
und sodann wieder ein. Ich fand, dass der Spurgeruch der aus dem
Verkehr ausgeschalteten Röhre noch nach 2, 4 und 8 Stunden in fast
unverminderter Stärke anhaftete; auch durch Ausblasen mit dem
Munde, ja selbst durch 5 Minuten langes Auswaschen in kaltem
Wasser wurde er nicht völlig entfernt. Um eine vollständige Ver-
kehrsunterbrechung zu bewirken, musste ich das Lumen der Röhre
nach der Spülung mit Watte ausreiben!
Nach alledem sollte man denken, dass die Orientierung auf
Geruchsspuren ein sehr einfacher, vielleicht gar reflektorischer Vor-
gang sei. Nun hat aber Bethe (l. c.) im Jahre 1898 die merk-
würdige Entdeckung gemacht, dass die Ameisen nicht allein die
Spur als solche, sondern auch die beiden Richtungen derselben
anscheinend unmittelbar zu unterscheiden vermögen, und zwar
nicht etwa mit Hilfe zufälliger Nebenwahrnehmungen anderer Sinne
(z. B. Wahrnehmung der Lichtrichtung), sondern auf rein olfaktivem
Wege. Infolge dieser wichtigen Entdeckung Bethe’s gestaltete
sich die Frage der Orientierung auf Geruchsspuren zu einem der
schwierigsten und umstrittensten Probleme der Insektenpsychologie.
Bethe leitete eine Fährte von ZLasius niger, dıe zu einem Blatt-
lausstrauch führte, über drei aufeinanderfolgende schmale Brettchen,
a, b und
(Blattläuse) + | < c — | - b - | — a <| (Nest)
Drehte er nun eines dieser Brettchen (z. B. b) rasch um 180°,
(Bl.) os ze 5 .- (N.)
so entstand an den beiden Grenzen des Drehstückes jedesmal eine
sehr deutliche Verkehrsstörung, ähnlich wie im Bonnet’schen
Versuch, obschon ja durch das Drebungsmanöver die Spur als solche
nicht unterbrochen wurde. Dagegen bewirkte die bloße Vertauschung
Brun, Das Örientierungsproblem im. allgemeinen etc. 233
der Brettehen keine Verkehrsstörung, so lange dieselben nicht gleich-
zeitig auch gedreht wurden:
Nun legte Bethe die Brettehen b und e nebeneinander,
und zwar b nicht gedreht, ce um 180° gedreht:
RT SONENEIRE FAR b
(Bl.) DT > ine a -| + (N.)
Die Folge war natürlich einmal eine komplette Verkehrsunter-
brechung an der Stelle, wo e früher gelegen hatte, seitens der von
den Blattläusen heimkehrenden Ameisen. Die vom Nest her auf
dem Teilstück a ankommenden Ameisen hingegen gingen von a
sämtlich auf das nicht gedrehte Teilstück b über, suchten an dessen
Ende eine Weile nach der unterbrochenen Spur und wanderten
dann aufec wieder nach a zurück. Daselbst neue Verwirrung,
abermaliges Übergehen nach b, wiederum Zurückwandern auf ce
u.s. w., „wie in einem Circulus vitiosus gefangen“.
Aus diesen merkwürdigen Resultaten seiner Experimente glaubte
Bethe den Schluss ziehen zu müssen, dass die chemischen Duft-
teilchen der Ameisenspur eine polare Anordnung besitzen, so
zwar, dass alle in der Richtung vom Nest nach den Blattläusen
verlaufenden Spuren negativ polarisiert seien, alle in der umge-
kehrten Richtung (nestwärts) führenden dagegen positiv polarisiert.
Die olfaktive Rezeption dieser Polarisation sollte dann in den
Ameisen einen „Chemoreflex“ auslösen, welcher sie zwingen würde,
die verschiedenen Fährten stets nur im Sinne ihrer „Polarität“ zu
verfolgen.
Die Bethe’sche Polarisationshypothese hat indessen trotz ihrer
bestechenden Einfachheit bei den Kennern des Ameisenlebens eben-
sowenig Anklang gefunden, wie die übrigen nihilistischen An-
schauungen dieses Autors über das psychische Leben der Insekten.
Sie wurde insbesondere durch Wasmann?) als theoretisch wie
sachlich gleichermaßen unbegründet vollständig widerlegt. Auf
die scharfsinnige und gründliche Beweisführung Wasmann’s brauche
ich hier nicht näher einzugehen, da Bethe’s Polarisationslehre,
wie seine Reflextheorie überhaupt, längst von allen Forschern ver-
lassen ist und heute nur noch historisches Interesse besitzt. Nur
ein Hauptpunkt der Wasmann’schen Kritik sei hier wenigstens
angedeutet, die Tatsache nämlich, dass ja die Ameisen auf ıhren
Geruchsfährten stets in beiden Richtungen verkehren, so dass
somit eine beim Hinweg allenfalls entstandene Polarisation der
22) Wasmann, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. II. Aufl. —
Schweizerbart’scher Verlag (E. Nägele), Stuttgart 1909.
234 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
„Hinspuren* durch die umgekehrt polarisierten „Rückspuren“ der
heimkehrenden Ameisen vorweg wieder aufgehoben würde; —
es sei denn, dass die beiden en stets säuberlich getrennt neben-
einander herlaufen würden. Das ist aber keineswegs der Fall;
vielmehr überkreuzen und überlagern sich auf dem sehr schmalen
Terrainstreifen natürlich Tausende von Hin- und Herspuren in
wirrem Durcheinander.
Wasmann’s Erklärung des Bethe’schen „Polarisationsphäno-
mens“ gipfelt in der Annahme, dass die Ameisen imstande seien,
die „Geruchsform“ ihrer Fußspuren zu unterscheiden. Die-
selbe müsste natürlich für die hin- und zurückführenden Spuren
verschieden sein (d. h. eine verschiedene Richtung haben), da die
Stellung der Füße in beiden Fällen eine entgegengesetzte ist. Nimmt
man nun außerdem noch an, dass dıe Hinspuren wahrscheinlich einen
gewissen Nestgeruch, die Rückspuren dagegen mehr einen Blatt-
Fig. 4. Schema zur Veranschaulichung der „Fußspurentheorie“ von
Wasmann: Das Mittelstück der Fährte N Z: a # y ö ist um 180° gedreht. Weiße
Keile: Die mit Nestgeruch behafteten „Hinspuren“. Schwarze Keile: Die nach
Futter duftenden „Rückspuren“. Die bei ab, bezw. cd vor dem Drehstück an-
kommenden Ameisen treffen dort plötzlich verkehrt stehende ‚„Geruchsformen“
(Hin- und Rückspurformen) an. — (Aus Brun, Raumorientierung der
Ameisen.)
lausgeruch an sich haben, so wären durch eine solche Kombination
zweier verschieden gerichteter Spurformen mit zwei verschiedenen
Geruchsqualitäten die beiden Richtungen der Fährte allerdings un-
mittelbar eindeutig erkennbar. Die Sache wäre dann nämlich, um
ein Gleichnis aus unserer Sinneswelt zu gebrauchen, ungefähr so,
wie wenn auf einer Landstraße alle von der Stadt nach dem Dorfe
wandernden Passanten mit roter Farbe angestrichene Schuhe an-
hätten und somit rote, dorfwärts gerichtete Fußabdrücke hinter-
lassen würden, alle in der umgekehrten Richtung wandernden Leute
dagegen blaue (Fig. 4).
Es ist ohne weiteres zuzugeben, dass diese „Fußspurentheorie*
Wasmann’s (wie wir sie nennen wollen) sämtliche von Bethe
beobachteten Erscheinungen in befriedigender Weise erklärt. Be-
denkt man aber anderseits, dass die Gehspur einer Ameise sechs-
füßig ist und dass auf einer vielbegangenen Fährte nicht zwei,
sondern Tausende von solchen sechsfüßigen Einzelspuren sich ın
wirrem Durcheinander überlagern, so wird man zugeben müssen,
dass der Wasmann’sche Erklärungsversuch doch zum mindesten
ein sehr gewagter und gekünstelter ist.
Brun, Das Orientierungsproblem im ‚allgemeinen etc. 235
Noch anders, wiewohl ebenfalls auf der Grundlage seiner topo-
chemischen Theorie, suchte Forel das Bethe’sche Phänomen zu
erklären. Im Gegensatz zu Wasmann verlegt er das Hauptgewicht
nicht auf die Spur selbst, sondern auf den benachbarten Raum
links und rechts neben der Spur und stellt sich vor, dass die
Ameisen bei häufiger Begehung einer bestimmten Fährte von den
sukzessive angetroffenen Gegenständen links und rechts der Spur
allmählich eine gewisse Summe assoziierter topochemischer
Engramme gewinnen werden. Sie werden, mit anderen Worten,
allmählich eine förmliche „Geruchskarte“ ihres Weges aufnehmen,
mit deren Hilfe sie sich jederzeit darüber orientieren können, was
links und rechts, was vorn und hinten ist und sie werden also,
wenn man nun plötzlich eine Teilstrecke des Terrains um 180°
dreht, offenbar „eine plötzliche Umkehrung des Raumes verspüren,
die sie notwendig desorientieren muss“, da jetzt die Reihenfolge
der links und rechts angetroffenen Geruchsformen sich nicht mehr
in Übereinstimmung befindet mit der in ihrem Gedächtnis engra-
phierten Sukzession.
Auch durch diese geistreiche Theorie wird m. E. das Zustande-
kommen des Bethe’schen Phänomens nicht in allen Fällen erklärt.
Denn wenn es auch zweifellos richtig ıst, dass die Ameisen auf
ihren Reisen von der sukzessive wechselnden allgemeinen Be-
schaffenheit des Bodens, über welchen sie gewandert sınd?), viel-
leicht auch von gewissen, besonders charakteristischen Örtlichkeiten
topochemische Engramme fixieren, so ist doch schwer einzusehen,
wie eine sukzessive Engraphie zahlreicher differenter Einzelengramme
auch unter den künstlich vereinfachten Bedingungen des Bethe’-
schen Versuchs zustande kommen soll, wo die Spur über drei
ganz gleichartige homogene Brettchen führte.
Diese kritischen Bedenken, die ich sowohl der Wasmann’schen
wie der Forel’schen Deutung des Spurdrehungsphänomens ent-
gegenhalten musste, veranlassten mich, die merkwürdige Erschei-
nung unter variablen Versuchsbedingungen nochmals nachzuprüfen
und genauer zu analysieren. Ich ging dabei von den folgenden
Überlegungen aus:
Falls die Ameisen wirklich, wie Wasmann annımmt, die Ge-
ruchsform ıhrer Fußspuren zu unterscheiden vermögen, so müssten
sie offenbar auch imstande sein, die beiden Richtungen ihrer Fährte
augenblicklich, vom Fleck weg, wo man sıe hinsetzt, zu er-
kennen, und zwar ganz gleichgültig, ob sie die betreffende Fährte
von früheren Gängen her „kennen“ oder nicht. Hätte dagegen
Forel recht, so wäre die Richtungsunterscheidung den Ameisen
natürlich nur auf solehen Fährten möglich, welche sie von früher
23) Ich werde hierfür weiter unten noch nähere Beweise anführen.
236 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc.
her kennen, nicht aber auf solchen, die sie früher nie begangen
haben (da sie ja keine Engramme von solchen besitzen). Aber
auch auf „bekannten Fährten“ wäre ıhnen die Entscheidung zwischen
den beiden Richtungen jedenfalls nicht sofort, vom Fleck weg, wo
man sie hinsetzt, möglich, sondern sie wären zweifellos genötigt,
durch kurzes Hin- und Herwandern in beiden Richtungen zu-
nächst den Gang der topochemischen Sukzession festzustellen.
Meine Versuche, die ich ın ihrer Gesamtheit als den „mne-
mischen Versuch“ bezeichnet habe, bestanden demnach im Prin-
zıp darin, dass ich Ameisen auf irgendeinen Punkt bald einer ihnen
im obigen Sinne „bekannten“, bald einer sicher unbekannten Fährte
setzte und nun beobachtete, ob und auf welche Weise sie eine
Fig. 5. (Aus Brun, Raumorientierung der Ameisen.)
Richtungsentscheidung zu treffen imstande waren. Zu diesem
Zwecke teilte ich eine Kolonie der glänzend schwarzen Lasius fuli-
ginosus (eine Art, die sich fast ausschließlich auf Geruchsfährten
bewegt) in zwei getrennte Abteilungen A und B. Die Abteilung A
kam in einen provisorischen Behälter, aus dem ich nach Be-
darf Ameisen und Brut entnehmen konnte. Die Abteilung B da-
gegen etablierte ich ın einem künstlichen Beobachtungsnest (N)
dessen gläserne Ausgangsröhre auf den Anfang einer 1 m langen
schmalen Papierbrücke mündete (Fig. 5). Diese Brücke verlief
quer über den Mittelpunkt eines nach meinen Angaben konstruierten
kreisrunden Experimentiertisches zu einer kleinen Plattform (Pl),
auf welcher ich den Ameisen nach Bedarf Honig reichte. Der zen-
trale Kreis des Tisches samt dem über ıhn führenden Brückenstück
konnte für sich gedreht werden.
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 237
Um eine rein olfaktorische Orientierung zu haben, musste ich
natürlich alle übrigen Orientierungsmöglichkeiten durch geeignete
Maßnahmen sicher ausschließen, in erster Linie die optische Orien-
tierung. Dies geschah erstens dadurch, dass ich in einem Dunkel-
zelt arbeitete, dessen gleichmäßig schwarze Wände und Gewölbe
keinerlei visuelle Anhaltspunkte boten und zweitens durch „bipo-
lare“ Beleuchtung, indem ich statt einer Lichtquelle deren
zwei an genau symmetrischen Punkten links und rechts am Tische
(quer zur Achse der Brücke) aufstellte. Bei dieser Versuchsanord-
nung ist es klar, dass eine von der Mitte der Brücke abgehende
Ameise in beiden Augen streng symmetrische Lichteindrücke
empfangen muss, deren sinnliche Lokalisation sich gleichbleibt, ob
sie nun in der Richtung N oder in der entgegengesetzten Richtung
läuft; mit anderen Worten die Orientierung wird hinsichtlich der
sinnlichen Lokalisation der Lichtquelle zweideutig bestimmt sein
und keinerlei Indikation der relativen Richtungen gewähren.
Die Ameisen zögerten nicht, eine lebhaft begangene „Futter-
fährte* zu dem Honig auf P! zu etablieren. Nun führte ich die
oben angedeuteten Versuche wie folgt aus:
I. 1. Ich fing Ameisen, die eben, vom Honig gesättigt, nach
dem Nest zurückkehren wollten, bei Pl vermittelst eines Bleistifts
ab und ließ sie von dessen Spitze auf die Mitte der Brücken-
fährte absteigen, und zwar in der falschen Richtung, d. h. gegen
Pl. Resultat: Alle Ameisen behielten diese falsche Rich-
tung zunächst noch eine Strecke weit bei. Nach einer Weile
aber stutzten sie, schwankten ein- oder mehrmals, indem sie kurze
Schleifen nach beiden Richtungen beschrieben und kehrten dann
schließlich definitiv nestwärts um. Sie benahmen sich also genau
so, wie wir es nach der Forel’schen Hypothese erwartet hatten:
Als ob sie den Gang der topochemischen Sukzessionen feststellen
wollten.
2. Ich lasse die Ameisen näher beim Nest auf die Brücke ab-
steigen. Gleiches Resultat, doch erfolgt jetzt die Umkehr aus der
falschen Richtung viel früher als von der Mitte aus.
3. Abstieg von der Mitte in der Richtung N: Die im Ver-
such 1 beobachteten Schwankungen werden zumeist vermisst;
die Ameisen verfolgen die gute Richtung anfangs zögernd, dann
immer sicherer bis zum Nest.
II. Ich wiederholte die gleichen Versuche mit Ameisen aus der
Abteilung A, denen also die Brücke vollständig „unbekannt“ (im
Sinne Forel’s) sein musste. Um eine eindeutige Reaktion zu haben,
benutzte ich aber zu diesen Versuchen nur solche Ameisen, die
gerade eine Larve trugen, denn diese können selbstverständlich
nur ein Ziel haben: Das schützende Nest. Resultat: Diese
Ameisen benahmen sich genau ebenso wie die Ameisen B, d.h,
238 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etec.
auch sie erkannten, nach anfänglichem Falschgehen, regelmäßig
ihren Irrtum und korrigierten nach N. Folglich kann diese
olfaktorische Richtungsunterscheidung nicht auf
dem Vorhandensein einer topochemischen Engramm-
sukzession beruhen, wie es anfangs den Anschein hatte.
Aber auch Wasmann hat Unrecht, denn diese Richtungs-
unterscheidung erfolgte in keinem einzigen Falle un-
mittelbar vom Fleck weg, wo die Ameisen hingesetzt
wurden, sondern erst nach Zurücklegung einer gewissen
Wegstrecke und eventuell unter wiederholtem Schwan-
ken zwischen beiden Richtungen.
Iil. Nunmehr ersetzte ich den Honig auf der Plattform durch eine
große Menge Larven, welche die Ameisen sofort ins Nest abzuholen be-
gannen. Nach einigen Stunden war der Larventransport noch in vollem
Gange. Ich wiederholte die verschiedenen Varianten des mnemischen
Versuchs und war überrascht zu sehen, dass jetzt alle in der falschen
Richtung abgestiegenen Ameisen diese falsche Richtung bis zur
Plattform beibehielten, ohne unterwegs jemals zu schwanken oder
gar zu korrigieren, mit anderen Worten, dass auf Fährten, über
welche längere Zeit Brut getragen wurde, eine olfakto-
rische Richtungsindikation vollständig zu fehlen schien.
Das wurde noch deutlicher, als ich nun die Larven, anstatt von der
Plattform, von der Mitte der Fährte abholen ließ: Die vom Nest
her bei dem Larvenhaufen ankommenden Ameisen stutzten, stiegen
auf den Larven herum, ergriffen schließlich eine und wollten mit
ihr nach Hause eilen. Gut die Hälfte gingen aber nach der
falschen Seite ab, gelangten zur Plattform, wo sie lange nach
dem Nesteingang suchten und kehrten dann erst nestwärts um oder
verirrten sich gänzlich °%).
Nun brachte ich an der einen Seite der Brücke eine 5 mm
hohe Brüstung aus steifem Papier an, so zwar, dass die vom Nest
zur Plattform wandernden Ameisen dieses Geländer links hatten,
die heimkehrenden Ameisen dagegen zur Rechten. 3 Tage ließ ich
diese Versuchsanordnung bestehen und wiederholte sodann den Ver-
such des „Larvenabholens aus der Mitte“. Und siehe da! Diesmal
ging nur etwa ein Viertel bis ein Fünftel der Ameisen aus der
Mitte nach der falschen Seite ab und auch von diesen falsch ge-
gangenen korrigierten die meisten, sobald sıe zufällig mit dem
Fühler ans Geländer stießen. Sie stutzten dann, traversierten
schräg zur geländerfreien Seite hinüber, stutzten abermals und
kehrten um! Der merkwürdige Vorgang wiederholte sich so kon-
stant, dass ein Zufall vollkommen auszuschließen ist. Die Probe
24) Ich erinnere hier nochmals, dass sämtliche Versuche im Dunkelzelt unter
bipolarer Beleuchtung ausgeführt wurden.
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 239
w
aufs Exempel erhielt ich übrigens sofort, als ich das Geländer mit
der Schere wieder abschnitt: Sofort gingen wieder 50%, der Ameisen
falsch und keine einzige stutzte unterwegs oder kehrte um. Dieser
Versuch beweist somit, dass die Ameisen die topoche-
mischen Eindrücke ıhrer linken Körperseite von den-
jenigen der rechten unterscheiden und dass sie auch ım-
stande sind, solche konstant einseitig lokalisierten
Eindrücke mit der entsprechenden Wegrichtung zu asso-
ziieren, bezw. die Wegrichtung daraus zu erkennen.
Diese verschiedenen Varianten des mnemischen Versuchs haben
uns über die Natur des Bethe’schen Phänomens eigentlich mehr
negative Aufklärung gebracht, neben einigen positiven Hinweisen.
Wir wissen jetzt, dass diese geheimnisvolle Richtungsindikation
nicht vom Fleck weg, sozusagen von Millimeter zu Millimeter, ent-
steht, dass sie (auf gleichförmig begrenzter Fährte) nicht auf dem
Vorhandensein einer topochemischen Engrammsukzession beruht,
dass sie näher beim Nest rascher zustande kommt als in der Mitte
der Fährte und endlich, dass sie auf Fährten, über welche längere
Zeit Brut getragen wurde, vollständig fehlt.
Zum Zwecke einer weiteren Aufklärung der Erscheinung
wiederholte ich nun auf meiner Brückenfährte auch die Bethe’-
schen Drehungsexperimente, und zwar einerseits auf der
„Futterfährte“, andererseits auf der „Brutfährte“, mit folgenden
Modifikationen: Ich legte auf das Nestende und auf das Platt-
formende der Brücke gleichbrete mobile Papierstreifen
von sukzessive zunehmender Länge. Nachdem sich der Ver-
kehr notgedrungen seit einigen Stunden über diese Hindernisse
wieder hergestellt hatte, drehte ich erstens jeden Streifen an Ort
und Stelle um 180° sodann vertauschte ich beide Streifen mit-
einander, bald um 180° gedreht, bald nicht gedreht. Es wurde
jedesmal an beiden Orten beobachtet, ob eime Verkehrsstörung ein-
trat oder nicht und der Grad derselben zahlenmäßig (nach den
Reaktionen der 12 ersten bei den Drehstücken ankommenden Ameisen)
festgestellt, wobei ich vier verschiedene Grade des Stutzens unter-
schied. So erhielt ich eine fortlaufende Serie zahlenmäßiger Be-
lege, aus deren Vergleichung im wesentlichen folgendes her-
vorgeht:
1. Es zeigte sich, wie im mnemischen Versuch, dass das
Bethe’sche Phänomen auf der „Brutfährte“ vollständig
negativ ist, indem alle Ameisen sowohl die an Ort und Stelle
gedrehten als die miteinander vertauschten Streifen stets passierten,
ohne ım geringsten zu stutzen.
2. Dagegen ıst das Phänomen auf der Futterfährte aller-
dings durchweg positiv, jedoch mit folgenden wichtigen Besonder-
heiten: |
240 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc.
a) Im Gegensatz zu Bethe’s Angaben kam eine starke Re-
aktion auch dann zustande, wenn der Neststreifen mit dem Platt-
formstreifen ohne Drehung vertauscht wurde ?°).
b) Die Reaktion nımmt zu mit zunehmender Länge des ge-
drehten Spurabschnittes;
c) sie fällt stärker aus nach Vertauschung der (gedrehten) Teil-
stücke als nach bloßer Drehung derselben an Ort und Stelle;
d) sie ıst am Nestende der Fährte um das Vielfache intensiver
als am Futterende;
e) und endlich reagieren die vom Nest zum Futter wandernden
Ameisen an beiden Orten stets viel intensiver als die heimkehren-
den Ameisen.
M.H.! Alle diese Tatsachen lassen sich m. E. in befriedigender
Weise nur durch die Annahme erklären, dass der Geruchskom-
plex der Ameisenspur im Verlaufe seiner Kontinuität ein
sukzessives Intensitätsgefälle gewisser Komponenten
aufweist, und zwar wahrscheinlich nach beiden Rich-
tungen: Beim Ausgehen vom Neste verschleppen Tausende von
Ameisen den Nestgeruch an den Füßen und Fühlern in sukzessive
abnehmender Intensität ın der Richtung des Zieles, und umgekehrt
verschleppen die heimkehrenden Ameisen den Honiggeruch in
abnehmender Stärke nestwärts. Die Fährte wird also ın der Nähe
des Nestes starken Nestgeruch und keinen oder nur schwachen
Honiggeruch aufweisen, während in der Nähe des Zieles das Um-
gekehrte der Fall sein wird. Dreht man nun sagen wir in der
Nähe des Nestes — ein Teilstück der Fährte um 180°, so werden
die vom Nest her bei demselben ankommenden Ameisen plötzlich
eine starke Intensitätsschwankung wahrnehmen, die natürlich
um so stärker ist, je länger das gedrehte Teilstück ıst. Betreten
sie aber das Drehstück trotzdem, so werden sie bei weiterer Ver-
folgung der Fährte anstatt zunehmenden Honiggeruchs wieder zu-
nehmenden Nestgeruch verspüren, was sie vollends desorien-
tieren muss. In der Nähe des Zieles liegen die Verhältnisse ähnlich
mit Bezug auf den Honiggeruch, doch dürfte dieser letztere sich
der Fährte mit viel geringerer Intensität mitteilen, als der Geruch
des Nestes, in dem sich die Ameisen den größten Teil des Tages
über aufhalten. Auch werden die Ameisen in der Nähe des Zieles
nicht mehr in dem Maße fähig sein, auf kleinste Intensitätsschwan-
kungen zu reagieren wie beim Nest, teils wegen direkter Ermüdung
der Geruchsorgane, teils weil sie, nach Zurücklegung des größten
Teiles des Weges, ihrer Sache nunmehr sicherer geworden sind.
So erklärt sich die viel geringere Reaktion der Ameisen in der
25) Dieser Widerspruch mit Bethe’s Resultaten dürfte sich so erklären, dass
bei meinen Versuchen die beiden Teilstücke viel weiter auseinanderlagen als in den
3ethe’schen Experimenten.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 341
Nähe des Zieles, verglichen mit der Reaktion beim Nesteingang.
In noch höherem Maße wird das zuletzt erwähnte — mnemische —
"Moment sich bei den heimkehrenden Ameisen ‚geltend machen,
denn diese alle haben ja die gesamte Strecke schon einmal beim
Hinweg durchmessen und dürften daher ım Besitze gewisser aktueller
Engramme sowohl von der allgemeinen topochemischen Beschaffen-
heit der Fährte als von deren Länge sein. Sie haben es daher
nicht mehr nötig, die Spur so sklavisch mit den Antennen zu ver-
folgen wie beim Hinwege und so werden ihnen feinere Intensitäts-
schwankungen ın der Zusammensetzung des Spurgeruches leicht
entgehen. Daher die geringe Reaktion der heimkehrenden Ameisen
auf die Spurdrehung.
Wesentlich anders legen die Verhältnisse auf der „Brut-
fährte*. Hier wird der Zielgeruch (in diesem Falle also der
Larvengeruch) nicht bloß ın Gestalt spärlicher Geruchspartikel auf
die Spur verschleppt, sondern die Fährte wırd, infolge des Trans-
portes der Larven, mit diesem Zielgeruch ın gleichmäßiger
und originärer Stärke gleichsam bestrichen. Die Fährte
wird daher in allen ihren Abschnitten allmählich einen vollkommen
homogenen Brutgeruch annehmen, welcher den Nestgeruch um so
eher übertäuben wird, als dieser letztere, infolge der Gegenwart von
vielen tausend Larven ım Neste, im wesentlichen wohl selbst einen
„Brutgeruch“ darstellt und welcher weder ın der einen noch ın
der anderen Richtung ein merkliches Intensitätsgefälle darbieten
wird. —
Damit haben wır das geheimnisvolle Spurdrehungsphänomen,
wie ich glaube, ın einfacher und befriedigender Weise erklärt, —
ohne Herbeiziehung eines physiologisch unfassbaren, mystischen
Prinzips, wie es die Bethe’sche „Polarisation“ ım Grunde ist und
ohne andererseits den Ameisen irgendwelche außerordentlichen sınn-
lichen oder psychischen Fähigkeiten zuzuschreiben. Glauben Sie aber
nicht, dass die Frage der Orientierung auf Geruchsfährten damit
erschöpft sei; — der olfaktorısche Faktor ıst nur eine, allerdings
sehr wesentliche Komponente dieses verwickelten Mechanismus,
welche nötigenfalls für sich allein zur Indikation der relativen Rich-
tungen ausreicht. Die übrigen Faktoren, welche hier noch eine
Rolle spielen, werden wir bei der Orientierung auf Einzelwande-
rung kennen lernen, deren experimenteller Analyse wir uns nun-
mehr zuwenden wollen.
2. Die Orientierung auf Einzelwanderung.
Die Rolle des Geruchssinnes bei der Orientierung der Ameisen
wurde früher ım allgemeinen überschätzt, obschon man längst wusste,
dass es sogar gewisse Formen der Massenorientierung gibt, bei
welchen dieser Sinn von sekundärer Bedeutung zu sein scheint.
XXXV. 16
342 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
So versagt z. B. der Bonnet’sche Fingerversuch auf den Heerstraßen
der roten Waldameise (Formica rufa) vollkommen. Bei der gleichen
Art blendete Forel die Fazettenaugen, indem er sie mit schwarzem
Lack überzog; er fand, dass die so behandelten Tiere die größte
Mühe hatten, die Ameisenstraße zu verfolgen und alle Augenblicke
seitwärts abirrten. Forel?®) sowie Fabre?’) berichten ferner über-
einstimmend, dass die von ihren Raubzügen heimkehrende Armee
der Amazonenameise (Polyergus rufescens) durch Abschwemmen des
Bodens mit dem Wasserstrahle in der Einhaltung ihrer Richtung
keineswegs beeinträchtigt wird. Auch Miss Fielde°®), die Ameisen
auf der Heimkehr durch Unterwassersetzen des Bodens zum
Schwimmen zwang, konstatierte die gleiche Erscheinung. Was-
mann (l. ce.) wies in seiner Kritik der Bethe’schen Polarisations-
theorie unter anderm auch auf die Saisonumzüge der Formica san-
guinea hin, welche keineswegs auf einer schmalen Fährte erfolgen.
Alle diese Autoren kamen zu dem Schlusse, dass, zum mindesten bei
den genannten Arten, auch der Gesichtssinn, bezw. ein gewisses
Maß von visuellem Ortsgedächtnis, bei der Orientierung wesent-
lich beteiligt seı.
Man wusste ferner längst,
Nenn! )_ x en dass"Ameisen? Schr Xof Jauch
einzeln vom Nest ausgehen
R x1 und dass sie dabei oft so-
gar recht weite Wanderungen
Fig. 6. unternehmen; man setzte aber
ohne weiteres voraus, dass
diese Einzelgänger auf ihrer eigenen Hinspur zum Neste zurück-
finden. Diese durch nichts begründete Annahme wurde dann durch
den französischen Psychologen H. Pi@eron?’) zum ersten Male
experimentell widerlegt.
Pieron fing einzeln wandernde Ameisen auf der Heimkehr
zum Nest bei irgendeinem Punkt & ab und versetzte sie mehrere
Meter seitwärts, auf einen Punkt x, (Fig. 6):
Die so transportierten Ameisen setzen ihre Reise ruhig fort,
jedoch nicht mehr in der Richtung des Nestes, sondern in einer
Richtung, welche der vor dem Transport eingehaltenen
genau parallel ıst und noch ungefähr so weit, als der
Distanz («—N) entspricht, die sie, ohne Transport, noch
bis zum Neste hätten zurücklegen müssen. Dann beginnen
26) Forel, Fourmis de la Suisse, Geneve 1874.
27) Fabre, Souvenirs entvmologiques Il; Paris, Delagrave 1870.
28) Fielde, Experiments with ants induced to swim. Proc. Acad. Nat.
Sc. Philadelphia 1903.
29) Pieron, Du röle du sens musculaire dans l’orientation des Fourmis.
zull, Inst. gen. Psychol. 1904.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 345
sie wirre „konzentrische Kurven“ zu beschreiben, als ob sie das
Nest suchen wollten. Mit anderen Worten: Die Ameisen verhalten
sich nach dem seitlichen Transport genau so, als ob sie einen
inneren Kompass hätten, an dem sie die absolute Richtung ihrer
Orientierung ablesen könnten und als ob sie einen Schrittmesser
(Podometer) besäßen, der ihnen die noch zurückzulegende Distanz
in Streckendifferenzen anzeigen würde.
Von dieser interessanten Erscheinung ausgehend hat dann der
algerische Ingenieur V. Cornetz°®) die Einzelwanderung bei Ameisen
eingehend studiert. Er bediente sich dabei der graphischen
Methode, indem er die von den Ameisen beschriebenen Kurven
jeweilen dicht hinter den Tieren im Terrain markierte, sodann aufs
Genaueste ausmaß und in verkleinertem Maßstab in einen geo-
metrischen Plan einzeichnete. Er erhielt so überaus exakte Bilder
der gesamten Reise mit allen Einzelheiten ihres Verlaufs. Das
erste, was Cornetz feststellte, war die Tatsache, dass die Einzel-
wanderer nicht auf einer Geruchsspur gehen, denn man
kann den ganzen Boden vor ihnen her ausgiebig mit dem Besen
bearbeiten, ohne dass sie davon im geringsten Notiz nehmen. Die
Reise ist kein regelloses Umherirren, sondern sie lässt gewöhnlich
eine bestimmte Hauptrichtung erkennen, zu welcher das Tier
nach vorübergehenden seitlichen Abschweifungen immer wieder
mit bemerkenswerter Genauigkeit zurückkehrt. Die Rückkehr
zum Nest erfolgt niemals auf der „Hinspur“, sie verläuft
jedoch in der Nähe derselben und ist ihr im großen ganzen parallel.
Selten kommt es vor, dass eine Ameise ım Verlaufe der Reise
nacheinander zwei (oder drei) verschiedene Hauptrichtungen ein-
schlägt, die dann meist senkrecht aufeinander stehen. Beı der
Rückkehr wird das so entstandene Dreieck oder Polygon nie direkt
vermittelst der Diagonale geschlossen, sondern die verschiedenen
Hauptachsen werden sukzessive in der umgekehrten Reihenfolge
und auf ungefähr gleiche Distanzen wieder aufgenommen. Hat sich
die Ameise dem Nest wieder bis auf eine gewisse (wechselnde)
Distanz genähert, so verlässt sie ın der Regel die meist etwas
fehlerhafte Hauptrichtung plötzlich an irgendeinem Punkte und
korrigiert genauer nach N; meist schießt sie jedoch etwas am Ziele
vorbei, wodurch eine neue Korrektur nötig wırd; der gleiche Vor-
gang kann sich noch einige Male wiederholen, so dass die Ameise
das Nest in immer engeren konzentrischen Kurven umkreist, bis
sie schließlich genau den Nesteingang trifft. Interessant ist dabei,
dass diese Korrekturen von den betreffenden Punkten aus (aber
nur von diesen!) immer in der gleichen Richtung erfolgen: Ver-
30) Cornetz, Trajets de fourmis et retours au nid. Me&moires de l’Institut
gen. Psychol. 1910.
16*
44 Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc.
27
setzt man beispielsweise eine Ameise, die von Y nach Z (Fig. 7)
korrigiert hat, wieder nach Y zurück, so läuft sie wieder nach Z,
bringt man sie aber auf irgendeinen Punkt der Strecke zwischen
Y—Z, so läuft sie in einer beliebigen anderen Richtung?!).
Was den Pıeron’schen Parallellauf betrifft, so wıll Cornetz
denselben selbst im tiefsten Waldesschatten, sowie nach Transport
aus der Sonne in den Schatten, oder umgekehrt, beobachtet haben.
Dagegen versagt dıe Erscheinung meist vollständig, wenn der Trans-
port auf einen dem früheren ganz unähnlichen Boden (z. B. von
Sandboden auf eine Wiese) erfolgt, — m. E. ein Beweis, dass
die Ameisen auf ihren Wanderungen die allgemeine
Bodenbeschaffenheit engraphieren. Nach primärem Trans-
port vom Nest weg fand Cornetz die Ameisen stets vollständig
desorientiert, mit Ausnahme eines einzigen Falles, der sich folgender-
maßen verhielt: Eine Ameisenfährte überquerte in schräger Rich-
tung eine Landstraße; das Nest befand sich unter einem Randstein
des Trottoirs. Als Cornetz einige Tage später den Ort wieder
.N aufsuchte, war diese Fährte einge-
Zn ES WR gangen. Er nahm nun einige Ameisen
Y direkt beim Nesteingang und setzte
rn sie mitten auf die Landstraße, einige
Meter seitlich von der früheren Fährte.
Die Tiere liefen sofort zum Randstein zurück und zwar in einer Rich-
tung, welche der alten Fährte genau parallel war, und am Rand-
stein angekommen bogen sie nach links ab, genau wie auch jene
Fährte verlaufen war. —
So tüchtig und gewissenhaft sich Cornetz als Beobachter er-
wiesen hat, so ratlos ließen ıhn die von ıhm beobachteten Tatsachen
bezüglich ihrer Deutung. Der Pieron’sche Parallellauf und die
Konstanz der Reiserichtung sind für ıhn Rätsel, die uns zur An-
nahme eines uns noch ganz unbekannten Richtungssinnes zwingen
sollen. Und so stellt Cornetz denn allen Ernstes die folgenden
erstaunlichen Behauptungen auf:
Die Orientierung der einzeln wandernden Ameise sei
ım Prinzip gänzlich unabhängig von irgendwelchen sınn-
lichen Anhaltspunkten in der Außenwelt, — sie erfolge
vielmehr kraft eines unbekannten, absoluten, inneren
Richtungssinnes, einer Richtungsangabe, welche während
der Hinreise ım Sensorium des Tieres entstehe und ıhm
erlaube, eine früher einmal innegehaltene absolute Rich-
tung des Raumes jederzeit (selbst nach Tagen) wieder
aufzunehmen.
31) Cornetz, La connaissancee du monde environnant son gite pour une
fourmi d’espece sup£rieure. Revue des Idees 1912.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen etc. 945
Diese Lehre, die schon erkenntnistheoretisch völlig unhaltbar
ist, wurde in neuester Zeit von Dr. Santschi°?), einem in Tunis
lebenden Myrmekologen, aufs heftigste angegriffen und durch glän-
zende Gegenexperimente vollständig widerlegt.
Für Santschi stand es von vornherein fest, dass jede orien-
tierte Lokomotion sich auf irgendwelche in der Außenwelt wirkende
Reizquelle beziehen muss. Wenn also eine Ameise nach seitlichem
Transport von einem Punkte x nach x, vom letzteren Ort aus ohne
weiteres ihre frühere Richtung wieder aufnimmt, so kann es hier-
für logischerweise nur eine Erklärung geben: Nämlich die, dass der
bei x wirkende tropische Reizkomplex auch bei x, in genau der
nämlichen räumlichen Beziehung (zum sinnlichen Rezeptor des
Tieres) gegenwärtig ist. Ein solcher allgegenwärtiger und an jedem
beliebigen Ort aus der gleichen Richtung fallender tropischer Reiz
ist z. B. das Licht, speziell das Licht der Sonne. Sollten sich
nicht die einzeln wandernden Ameisen nach dem Lichte orientieren?
Alles, was wir über die Anatomie und Physiologie des Insekten-
auges wissen, scheint Santschi zugunsten dieser Hypothese zu
sprechen:
Wir haben gesehen, dass die Fazettenaugen hauptsächlich für
das Sehen von Bewegungen, d.h. der relativen Ortsverände-
rungen des Netzhautbildes eingerichtet sind. Wenn dies
richtig ist, so scheinen sie aber auch umgekehrt geeignet, bei gerad-
liniger Fortbewegung des eigenen Körpers, große, entfernte stabile
Objekte oder entfernte direkte Lichtquellen ın ungemein
exakter Weise räumlich zu lokalisieren. Da nämlich die
schmalkonischen Ommatidien nur den mehr oder minder senkrecht
einfallenden Strahlen den Zutritt zur lichtempfindenden Sinnesfläche
gestatten, alle schrägen Strahlen dagegen in ihren pigmentumhüllten
Wänden absorbieren, so wird sich eine solche Lichtquelle jeweilen
nur in wenigen Fazetten abbilden, und zwar wird diese Lokalisation
— bei geradliniger Fortbewegung — konstant die nämliche sein,
dank der unendlichen Entfernung der Lichtquelle. Mit anderen
Worten: um eine bestimmte gerade Richtung einzuhalten, hat das
Tier nur dafür zu sorgen, dass das Sonnenbild konstant in die
nämlichen Fazetten fällt. Und wenn es sich ferner bei der Rück-
kehr nun so zur Lichtquelle einstellt, dass deren Bild jetzt ebenso
konstant die diametral entgegengesetzten (korrespondierenden)
Fazetten des andern Auges trifft, so ıst klar, dass sein Kückweg dem
Hinweg parallel sein wird und es somit ziemlich genau zum Aus-
gangspunkte zurückführen muss. Und nun formuliert Santschi
aus diesen Prämissen seine geistreiche Theorie wie folgt:
32) Santschi, Comment s’orientent les fourmis. Revue Suisse de Zoo-
logie 21, 1913.
246 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
Die Fazettenaugen der Ameisen sind gewissermaßen
Lichtkompasse, welche den Tieren mit Hilfe einer exak-
ten sinnlichen Lokalısation der Lichtquelle und — bei
der Rückkehr — vermittelst sinnlicher Reversion dieses
lokalisierten Lichteindruckes auf diametral symme-
trische Sinnesflächen eine geradlinige Richtungseinhal-
tung und eine sichere Rückkehr zum Ausgangspunkte
ermöglichen. Der Pıieron’sche Parallellauf aber ist nichts
anderes als eine virtuelle Orientierung nach der Licht-
quelle.
Unter den zahlreichen experimentellen Tatsachen, durch welche
Santschi die Richtigkeit seiner „Lichtkompasstheorie“ be-
legt, will ich hier nur seine Spiegelexperimente®®), als die be-
weiskräftigsten, hervorheben:
Bei einzeln heimkehrenden Ameisen beschattete Santschı das
Terrain durch einen großen Schirm und projizierte sodann das Bild
der Sonne vermittelst eines großen Spiegels auf die andere Seite.
Der Erfolg war jedesmal der, dass die Tiere sofort umkehrten und
so lange in der entgegengesetzten Richtung (also jetzt gerade vom
Neste weg) liefen, als Santschi die falsche Sonne einwirken ließ.
Drehte Santschi den Spiegel so, dass die falsche Projektion der
Sonne nur 90° betrug, so wichen die Ameisen dementsprechend
auch nur in einem rechten Winkel aus ihrer Richtung ab. Der
Spiegelversuch ergab Santschi selbst auf Ameisenstraßen und mir
sogar auf Geruchsfährten (bei Zasius fuliginosus) noch positive
Resultate, — ein Umstand, der beweist, dass die Lichtorientierung
selbst hier noch der ausschlaggebende Indikator der relativen Rich-
tung ist!
Santschi ist übrigens nicht der erste, der die Orientierung nach
dem Lichte bei Ameisen nachgewiesen hat; er hat sie aber physio-
logisch näher begründet. Lubbock°*) (nachmals Lord Avebury)
hatte nämlich schon vor mehr als 30 Jahren gezeigt, dass Ameisen
augenblicklich auf ihrem Weg umkehren, wenn man die relative
räumliche Lokalisation der Lichtquelle um 180° ändert, sei es
durch Umstellung des Lichtes auf die andere Seite, sei es durch
Drehung der Unterlage bei feststehendem Licht. Die Ameisen ant-
worten dann sofort mit einer entsprechenden Gegendrehung im
umgekehrten Sinne, welche ausbleibt, wenn man die Lichtquelle in
geeigneter Weise verdeckt oder wenn die Lichtquelle die Drehung
mitmacht. Hätte Bethe diesen letzteren Umstand beachtet, so
hätte er nicht, ın gänzlicher Missverstehung der Experimente Lub-
bock’s, aus der Erscheinung einen „Drehreflex“ gemacht. Gegen
33) Revue Suisse de Zoologie 19, 1911.
34) Ants, bees and wasps. — London 1881.
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete. 937
29
einen solchen spricht auch die Tatsache, dass blinde Ameisenarten
auf Drehungen der Unterlage niemals mit einer Gegendrehung
reagieren.
Auf noch anderem Wege gelang es mir selbst, bei Ameisen
die Tatsache der Orientierung nach der Sonne nachzuweisen
und zugleich zu zeigen, wie exakt der eben geschilderte Mechanis-
mus der sinnlichen Reversion des Lichteindrucks arbeitet. Es war
mir aufgefallen, dass die Rückkurve der von mir vermittelst der
Cornetz’schen Methode verfolgten Einzelwanderer von der
Hinweglinie meist um einen kleinen Winkel nach rechts ab-
wich. Ich ging nun so vor, dass mA
= = > = RG Da L
ich eine Ameise, die — fast gerad- no u Zu2
linig der Sonne entgegen — über 7
einen mit Sand bestreuten Spiel-
platz wanderte, an einem Punkte x
fixierte, indem ich eine kleine
runde Schachtel über ihr ın den r
Sand stülpte. Es war genau 3 Uhr
nachmittags. Ich ließ die Ameise ‚30
genau 2 Stunden gefangen. Als ich .
um 5 Uhr das Schächtelchen weg- /
nahm, saß die Ameise unbeweglich X
im Zentrum des kleinen Kreises. Sie
drehte sich langsam um und wan- o
derte wiederum fast geradlinig über 5"pm
den Sandplatz zurück, in der Rich- arm
tung des Beetrandes, an dem sich fig. 88 Nachweis der Orien-
ihr Nest befand. Doch wich ıhre tierung nach der Sonne durch
Rückweglinie von der Hin- den „Fixierversuch“. (Nach
kurve um 30° nach rechts ab, Brun, Raumorientierung der
E Ameisen.)
d.h. um genau so viele Bogen-
grade, als dieSonne während der 2Stunden am Firmament
nach links gewandert war (Fig. 8). Ich wiederholte den Ver-
such, indem ich den Zeitraum der Fixierung variierte: Der Ab-
weichungswinkel der Rückkurveentsprach in allen Fällen
dem betreffenden Sonnenwinkel, mit einem Fehler von meist
nur !/,—1 Bogengrad (nur in einem Falle betrug er 6 Bogengrade).
— Dass die Ameisen die Zeit ihrer Gefangenschaft und die Tat-
sache, dass die Sonne inzwischen am Firmament weiter wandert,
nieht in Rechnung bringen, ist nicht verwunderlich; — es wäre im
Gegenteil wunderbar, wenn sie diesen logischen Schluss machen
würden!
Ich denke, diese Beobachtungen dürften vollkommen genügen,
um die Richtigkeit der Lichtkompasstheorie von Santschi darzu-
tun. Bedarf es da noch positiver Beweise gegen die Cornetz’sche
248 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
Lehre von der Existenz eines (erkenntnistheoretisch unmöglichen
und physiologisch undenkbaren) absoluten Richtungssinnes? Ich
bin indessen im Falle, auch solche positive Gegenbeweise anzu-
führen, und zwar haben wir dieselben bereits kennen gelernt. Sie
erinnern sich an jene Brückenfährte, auf welcher wir das Bethe’sche
Polarisationsphänomen analysierten. Wir hatten damals die Mög-
lichkeit der Lichtorientierung vermittelst der Methode der bipolaren
Beleuchtung vollständig ausgeschaltet. Trotzdem waren die Ameisen
zur Not noch imstande, die beiden Richtungen ihres Weges zu
unterscheiden, da ihnen das „Wärmer- und Kälterwerden“ des Nest-
geruchs noch immer eine gewisse Richtungsangabe vermittelte. Als
‘wir ihnen aber, durch Verwandlung der Futterfährte ın eine Brut-
fährte auch diese letzte Möglichkeit genommen hatten und nun
Larven von der Mitte der Brücke abholen ließen, da zeigte es sich,
dass die Ameisen vollständig dem Zufall ausgeliefert waren, ob sie
in der Richtung des Nestes oder in der entgegengesetzten Richtung
aus der Mitte abgingen, denn 50% gingen eben falsch. Dieses
Falschgehen von 50% aller Ameisen nach Ausschaltung
aller äußeren sinnlichen Orientierungszeichen beweist,
dass etwas ähnliches wie ein absoluter innerer Rich-
tungssinn nicht existiert.
Andererseits versagt aber mein „Fixierversuch“* gerade
bei den mit den besten Augen ausgestatteten und auch psychisch
höherstehenden Arten der Gattung Formica meist vollständig,
indem die Tiere nach der Fixierung ihre frühere Richtung ohne
merkbare Abweichung wieder aufnehmen. Auch sonst deutet
manches darauf hin, dass diese Ameisen sich auf ihren Einzel-
gängen meist in viel freierer Weise orientieren als dies mit dem
Lichtkompassmechanismus von Santschi vereinbar wäre. Es
gelang mir hier auch verhältnismäßig selten, einen typischen
Pieron’schen Parallellauf zu erzeugen, namentlich dann nicht,
wenn der seitliche Transport nur einige Meter betrug, indem die
Ameisen dann nicht selten die seitliche Abweichung durch ent-
sprechendes Traversieren prompt ausglichen. Kurz, man hat den
Eindruck, dass die Fernorientierung hier größtenteils durch diffe-
renzierte visuelle Komplexe vermittelt wird, vielleicht durch
-die mehr oder weniger verschwommene Wahrnehmung gewisser
entfernter großer Objekte (Bäume, Häuser o. dgl.), mit deren Stand-
ort die räumliche Lage des Nestes assoziiert wird. Zugunsten dieser
Annahme sprechen auch die Resultate gewisser anderer Experi-
mente, die ich — ursprünglich, um den Einfluss kinästhetischer
Winkelregistrierungen zu studieren — bei Formica sangutnea VOr-
nahm. Dieselben bestanden darin, dass ich eine Ameise vom Nest
fortjagte und durch Lenken mit den Händen zwang, auf dem oben
erwähnten freien Sandplatz einen in bestimmter Weise kurvierten
Brun, Das Örientierungsproblem im allgemeinen etc. 349
Weg zurückzulegen, den ich vorher in den Sand gezeichnet hatte.
Zu meiner Überraschung kehrten die Ameisen nach Absolvierung
eines solchen „Zwangslaufes“ stets ohne weiteres und auf der
direktesten Linie zum Neste zurück, obwohl der Endpunkt, wo
ich sie freigab, oft recht weit, 20—34 m, vom Nest entfernt war.
Und zwar erfolgte die Rückkehr nach rechtwinkligem (zwei-
achsigem) Zwangslauf merkwürdigerweise nicht mittelst sukzes-
siver Reversion der beiden Schenkel des Weges, sondern gegen die
Cornetz’sche Regel, in der Diagonale, also durch direkte
Schließung des Polygons (Fig. 9). Nun ließ ich die Ameisen
große Kreisbögen oder in anderen Fällen sehr komplizierte viel-
winklige Kurven mit zahlreichen Gegenrichtungen beschreiben; die
Rückkehr geschah in den ersten Fällen prompt in der Sekante, in
den zweiten Fällen in
der ungefähren Resul-
tante der Hinkurve, also
wiederum ziemlich di-
rekt in der Richtung des
Nestes. Wurden die Ameı-
sen vor Ausführung des
Zwangslaufes, direkt vom
Nest auf den Endpunkt
der Kurve transportiert,
so zeigten sie sich voll- x
ständig desorientiert; — Fig.9. Das „Zwangslaufexperiment“. Zwei-
ein Beweis, dass das allge Ze ms Nr (gestrichelte Linie).
eireffönde Bichtimes Rückkehr in der Diagonale (ausgezogene Linie).
: oO (Nach Brun, Die Raumorientierung der
engramm tatsächlich wäh- Ameisen.)
rend des Zwangslaufes
erworben wurde. Nun blendete ich mehreren Ameisen die Fazetten-
augen nach Forel’s Methode und ließ sie dann einen einfachen zwei-
achsigen Zwangslauf ausführen: Sie waren absolut unfähig zur Heim-
kehr, nur ein einziges Tier machte einen mühsamen Versuch, den
zweiten Schenkel der Reise zu revertieren. Folglich kann der
Diagonallauf nicht etwa auf komplizierter Assoziation kinetischer
Winkelengramme beruhen! Und endlich ließ ich eine Ameise einen
zweiachsigen Zwangslauf auf sehr große Distanz ausführen, einen
Weg, dessen zweiter Schenkel weit über jenen freien Sandplatz
hinausführte. Der Erfolg war der, dass das Tier bei der Rückkehr
zunächst nicht die Diagonale einschlug, sondern den zweiten Schenkel
des Weges revertierte und erst nach Wiederankunft auf dem
freien Platz plötzlich in der Richtung des Nestes korrigierte.
Und nun zur Frage: Ist bei Ameisen auch ein echtes, aus
sukzessiv assoziierten Engrammen aufgebautes individuelles Orts-
gedächtnis, wie es bekanntlich bei Bienen in einwandfreier Weise
250 Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete.
festgestellt werden konnte, nachweisbar? Unsere bisherigen Beob-
achtungen scheinen nicht dafür zu sprechen, sie zeigen höchstens,
dass einige psychisch hochstehende Arten imstande sind, im Laufe
einer aktuellen Reise gewisse visuelle Richtungszeichen zu engra-
phieren, mit welchen sie die Lage des Nestes simultan assozileren;
doch schienen sie nicht mehr fähig, im weiteren an diesen Rich-
tungskomplex nun auch die Örtlichkeit, welche den Endpunkt ihrer
Reise bildete, zu assoziieren und somit einen sukzessiv asso-
zuerten Engrammkomplex a—b—-ec zu fixieren, — ein Vorgang,
welcher allein den Namen eines echten Ortsgedächtnisses verdient.
Auch Cornetz hat die Existeuz eines solchen ohne weiteres ver-
neint, gestützt auf seine Erfahrung, dass Ameisen nach Transport
vom Nest weg sich in allen Fällen vollständig desorientiert zeigen.
Demgegenüber verfüge ich aber über eine ganze Reihe
von Beobachtungen bei Formica, in welchen diese Ameisen
sich nach dem besagten primären Transport auf 30 m Ent-
fernung fast augenblicklich auf dem kürzesten Wege
nach dem Nest reorientierten. Allerdings hatte ich meine
Ameisen nicht wahllos an irgendeinen beliebigen Ort x versetzt,
sondern auf eine Örtlichkeit, die von der betreffenden
Kolonie früher einmal nachweislich sehr häufig besucht
worden war, und von der somit noch am ehesten zu er-
warten war, dass zahlreiche Individuen individuelle
Engramme von derselben besaßen. Natürlich führte ich aber
die Experimente jeweilen erst dann aus, nachdem dieser Verkehr
seit Wochen gänzlich eingestellt war und wandte auch dann
noch alle Kautelen an, um die Möglichkeit, dass die Tiere vielleicht
doch eine noch vorhandene Geruchsspur verfolgten, mit Sicherheit
ausschließen zu können.
Es ıst somit diesen Tieren ein individuelles, auf suk-
zessiv assoziierten Richtungsengrammen aufgebautes
echtes Ortsgedächtnis unbedingt — wenn auch in be-
scheidenem Umfange — zuzuschreiben. Wie wir uns diesen
Mechanismus im einzelnen vorzustellen haben, darüber kann ich
mich vorläufig nur vermutend äußern. Wahrscheinlich wird der
Engrammkomplex der betreffenden entfernten Örtlichkeit zunächst
auf topochemischem Wege ekphoriert; hierauf stellen sich die
weiteren, vermutlich in erster Linie visuellen, Richtungsengramme
ein, welche diese Örtlichkeit mit einer zweiten intermediären oder
mit dem Neste assoziativ verknüpfen. Die diesen Engrammen ent-
sprechenden (homophonen) Komplexe in der Außenwelt (bestimmte
Baumgruppen, das verschwommen perzipierte Bild einer weißen
Hauswand u. s. w.) werden aufgesucht und nun wird dieser, aus
drei, event. noch mehr Gliedern bestehende Richtungsengramm-
komplex sukzessive wieder abgewickelt. —
-
Brun, Das Orientierungsproblem im allgemeinen ete., 251
Haben wir jetzt alle ÖOrientierungsmittel, über welche die
Ameisen möglicherweise verfügen, erschöpft? Keineswegs! Noch
haben wir eine wichtige Gruppe — die kinästhetischen Rich-
tungszeichen — kaum erst erwähnt. Allerdings ist die Frage
der kinästhetischen Orientierung bei Ameisen noch sehr mangelhaft
studiert und auch die wenigen bisher vorliegenden Angaben der
Autoren sind m. E. nicht einwandfrei. Man hat sich lange darüber
gestritten, ob Insekten imstande seien, die Schwerkraft zu
empfinden und man glaubte im allgemeinen diese Frage verneinen
zu müssen im Hinblick auf das ungemein geringe Körpergewicht
der Insekten, das bei der relativ ungeheuren Muskelkraft, welche
diese Tiere bekanntlich entwickeln, gar nicht in Betracht komme.
Demgegenüber gelang es mir, den Nachweis zu erbringen, dass
Ameisen nicht allein fähig sind, schon mäßige Terrain-
steigungen auf rein kinästhetischem Wege wahrzu-
nehmen, sondern dass sie zur Not — d.h. bei Ausschluss
aller übrigen Richtungszeichen — auch imstande sind,
sich auf Grund dieses einzigen dürftigen kinästhetischen
Engramms allein noch einigermaßen zu orientieren.
Meine Versuchsanordnung war folgende: Ich befestigte am
Rande meines großen Experimentiertisches ein künstliches Nest
mit einer kleinen Kolonie von F. rufa. Die Ausgangsröhre des
Nestes mündete auf die Tischplatte. Dieser Tisch ist so konstruiert,
dass seine Platte in allen Ebenen des Raumes drehbar ist und
zwar sind alle Bewegungsachsen genau zentriert. Bei diesen Experi-
menten nun war die Tischplatte in der Ausgangsstellung um
20° nach der Nestseite geneigt, derart, dass der Nesteingang die
tiefste Stelle bildete. Die Tiere mussten von hier zum Honig, der
sich genau im Zentrum des Tisches in einem runden Näpfchen
befand, ansteigen. Durch bipolare Beleuchtung, die in der Trans-
versalebene des Tisches zu beiden Seiten desselben angebracht war,
wurde für Ausschaltung der Lichtorientierung gesorgt und das ganze
System befand sich im Zentrum eines Dunkelzeltes. Ich wartete
nun jeweilen, bis eine Ameise am Honig saß und kehrte dann
die Neigung des Tisches geräuschlos in die entgegen-
gesetzte um, so dass sich das Nest jetzt oben befand. Die Tiere
wollten, nachdem sie genug gefressen hatten, natürlich nach Hause;
aber da war guter Rat teuer! Die Ameisen schwankten zunächst
eine geraume Zeit unentschlossen zwischen beiden Richtungen hin
und her, indem sie nach jeder Seite nur einige Zentimeter zurück-
legten und immer wieder zum Honig zurückkehrten. (Man beachte
hier die Differenz mit den Lasius unserer Brückenspur, die gewöhn-
lich ohne weiteres aufs Geratewohl in einer Richtung davonrannten;
— die Formica dagegen schienen sich offenbar eines Dilemmas
bewusst zu sein.) Endlich entschlossen sie sich aber doch für eine
359 Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete.
Richtung, und zwar gingen alle ohne Ausnahme abwärts, ziem-
lich genau nach dem tiefsten Punkt, wo sie lange Zeit
eng begrenzte Kurven beschrieben, ganz als ob sie den
verschwundenen Nesteingang suchten! Sie hatten somit in
der Tat eine virtuelle Orientierung nach der Schwerkraft
ausgeführt!
Damit will ich meine Ausführungen schließen. Die Aufgabe,
das verwickelte Thema im knappen Rahmen einer Stunde vorzu-
führen, gestattete mir nicht, auf zahlreiche interessante Einzelfragen
näher einzugehen. Ich denke aber, Sie werden nach allem, was
Sie eben gehört haben, doch die Überzeugung gewonnen haben,
dass die Fernorientierung der Ameisen ein ungemein
komplizierter psychophysiologischer Vorgang ist, bei
welchem je nach den vorwaltenden Umständen und je
nach der Organısation der betreffenden Art, Erfahrungen
der verschiedensten Sinnesgebiete: topochemische, topo-
graphische, visuelle, kınästhetische Eindrücke bald für
sich allein, häufiger aber kombiniert zur individuellen
Engraphie und Ekphorie gelangen. Wir haben es in der
Hand, in jedem Einzelfalle die Art der Mitbeteiligung jedes einzelnen
dieser Faktoren durch geeignete Versuchsanordnungen festzustellen
und so allmählich zu einer befriedigenden Analyse des ganzen kom-
plexen Mechanismus fortzuschreiten.
Dank der Anwendung solcher ım streng physiologischen Sinne
exakter Versuchsanordnungen in Verbindung mit der neutralen
Terminologie von Semon sind wir nunmehr auch ein- für allemal
der Versuchung enthoben, unsüber vergleichend-psychologische Fragen
in unfruchtbaren Spekulationen zu verlieren; die vergleichende
Psychologie ist zur exakten Wissenschaft geworden, zur
vergleichenden Physiologie der individuellen Mneme.
Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter
aus eigenen Mitteln ersetzen?
Von €. Emery (Bologna).
Anfang November 1910 erhielt ich aus Porticı eine Anzahl
Arbeiterinnen und viele kleine Larven von Messor barbarus minor
Er. Andr& aus einem Nest; kein Weibchen war vorhanden.
Ich setzte die Ameisen in ein Janet-Nest und hielt es, während des
Winters, in meinem geheizten Studierzimmer. Die Larven ent-
wickelten sich sehr langsam; die erste Puppe sah ich am 6. Juni
1911, die ersten Arbeiterinnen erst Mitte Juli. Eine Larve wurde
gewaltig groß; daraus entwickelte sich am 11. August ein geflügeltes
Weibchen.
Am 3. März hatte ich einen Klumpen von ungefähr 30 Eiern
bemerkt, die jedenfalls von den Arbeiterinnen gelegt waren; andere
Emery, Können weisellose Ameisenvölker die fehlende Mutter ete. 353
Eier kamen dann und wann hinzu. Die Eier der Arbeiterinnen
entwickelten sich und die Larven, dıe daraus ausschlüpften, wuchsen
verhältnismäßig rasch. Einmal groß geworden, wurden sie aber
sehr verschieden von den gewöhnlichen Larven, d. h. von den Ar-
beiterinnen- und Weıibchen-Larven. Sie schwollen an, wurden sozu-
sagen hydropisch; ‚die meisten wurden von den Arbeiterinnen auf-
gefressen oder an andere Larven verfüttert; eine einzige gelangte
endlich zum Puppenstadium und lieferte Ende September ein Männ-
chen, leider mit geschrumpften Flügeln. Im Oktober sah ich
mehrere hydropische Larven, welche sich zu Männchen-Puppen
umwandelten, aber gefressen oder verfüttert wurden; keine wurde
zur lmago!').
Ich weıß nicht, ob das Weibchen, das anscheinend normal ent-
wickelt war (es hatte nur ein verkrüppeltes Bein) und unterdessen
seine Flügel zum Teil verloren hatte, mit dem Männchen kopuliert
hatte. Ich glaube nicht, dass das Weibchen bis zu seinem Tod
Eier gelegt hat; es lebte bis zum 25. Juni 1912.
Diese Beobachtung ist deswegen interessant, weil sie vermuten
lässt, dass gewisse Ameisen, falls ihre Königin durch irgendwelchen
Zufall stirbt und sie junge Larven haben, nicht nur ein junges
Weibchen erziehen, sondern fast gleichzeitig aus den parthenogene-
tischen Eiern der Arbeiterinnen Männchen bekommen können.
Letztere mögen mit den Weibehen ım Nest kopulieren und die-
selben befruchten. So würde eine echte befruchtete Königin zu-
stande gebracht werden.
Wasmann berichtet?), dass P. E. Deckelmeyer beim Um-
wälzen eines Steines bei Barro in Portugal einen merkwürdigen
Fund machte. Ein starkes Nest von Pheidole pallidula enthielt,
außer Arbeiterinnen und Soldaten, einige Männchen-Puppen und
5 sonderbare Individuen (2 ausgefärbte, 2 unausgefärbte und eine
ganz weiße Puppe), die Wasmann als ergatoide Weibchen deutet;
sie waren durch das Vorhandensein einer Stirnocelle, sowie eines
langen Hinterleibes ausgezeichnet. Kein geflügeltes Weibchen und
keine Königin war vorhanden.
Wasmann nimmt an, die Männchen und die ergatoiden Weib-
chen seien Schmarotzerameisen einer arbeiterinnenlosen Art (Phei-
dole symbiotica Wasm.), die im Nest von Ph. pallidula haust. Er
ist in seiner Annahme bestärkt durch kleine Unterschiede in den
Fühlern der Männchen-Puppen von Ph. symbiotica gegen Ph. palli-
dula. Die .Fühler sind nämlich schlanker, das erste Geißelglied
weniger verdickt und das Endglied ist länger (doppelt so lang wie
das vorletzte).
l) Vergl. Rend. Accad. Se. Bologna, Anno 1911—12, p. 108.
2) Diese Zeitschrift, Bd. 29, p. 693; Bd. 30, p. 515 (1909—1910).
254 Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen.
Die Fühler des Männchens von Pk. pallidula sind aber ın
ihrem Bau ziemlich veränderlich; ich finde nämlich Charaktere,
wie die, welche von Wasmann bei Ph. symbiotica beschrieben
wurden, bei einem Männchen von var. Zristis For. aus Tunesien
und bei Männchen aus Portugal, die mit normal geflügelten Weib-
chen gefangen wurden.
Der Bau der Männchen beweist also nichts für die Anschauung
Wasmann’s, aber er beweist auch nichts dagegen.
Das von Wasmann abgebildete ergatoide Weibchen bietet eine
auffallende Ähnlichkeit mit den Individuen von Ph. absurda For. aus
Costa Rica, die ich damals ebenfalls als ergatoide Weibchen beschrieben
und abgebildet habe und die sich nachträglich als mit Mermis infi-
zierte Weibchen (oder Soldaten) entpuppt haben. Diesen Verdacht
teilte ich Herrn Wasmann mit. Er hatte die Güte, eines seiner
Exenplare ın Zedernöl zu legen und dadurch durchsichtig zu machen,
um, falls der vermutete Wurm vorhanden wäre, ıhn unter dem
Mikroskop zu erkennen. Das Resultat war vollständig negativ; die
ergatoiden Weibchen von Ph. symbiotica enthielten keinen Mermis.
Wasmann’s Ansicht, dass die ergatoiden Weibchen und die
Männchen, die sich in demselben Nest vorfanden, einer besonderen
parasitischen arbeiterinnenlosen Ameise angehören, ıst ganz gut
annehmbar, aber sie ıst durchaus nicht bewiesen.
Ich möchte eine andere Erklärung resp. Hypothese äußern.
Ph. pallidula hat ın jedem Nest, wie ich beobachtet habe, stets nur
eine Königin; wenn sıe stirbt und nicht ersetzt wird, ıst das Volk
weisellos. Ich vermute, dass das Nest von Barro im Winter
oder im Beginn des Frühlings weisellos wurde. Die
ergatoiden Weibchen würden aus dem Rest von Larven
der toten Königin stammer, welche nicht jung genug
waren um zu normalen, geflügelten Weibchen gezüchtet
zu werden. Die Larven der Männchen dagegen würden
sich aus parthenogenetischen Eiern der Soldaten ent-
wickelt haben. '
Die hypothetische Erklärung, die ich vorschlage, ist ungefähr
dieselbe, die in meinem künstlichen Nest sıch als Tatsache ereignete,
aber mit einem Unterschied: dass ım Fall von Messor das Weib-
chen normal geflügelt ist, im Fall von Ph. symbiotiea die Weibchen
ergatoid sind. Ich habe versucht, durch meine Vermutung den
Grund des Unterschiedes klarzulegen.
Wilhelm Nöller: Die Übertragungsweise der
Rattentrypanosomen.
Jena 1914, Gustav Fischer, gr. 8, 33 S., S Textfig. u. 2 Tafeln.
Als Broschüre sind hier zwei Abhandlungen vereinigt, die 1912
und 1914 im Archiv für Protistenkunde veröffentlicht worden sind.
Besonders wichtig ist zunächst die Technik des Verfassers: er be-
Nöller, Die Übertragungsweise der Rattentrypanosomen. 355
schreibt genau, wie es ıhm gelang, in Nachahmung des Verfahrens
der Flohzirkusleute, Flöhe, und zwar vorzugsweise Hundeflöhe, in
ein Drahtgestell zu fesseln, in diesem regelmäßig an Versuchstieren
zu füttern und sie so einzeln wochenlang in Gefangenschaft zu
halten. Auch über die Präparation der Flöhe zur mikroskopischen
Untersuchung und über die zweckmäßige Fesselung von Ratten für
solche Versuche finden sich genaue Angaben.
Diese technischen Fortschritte haben es ermöglicht, sichere Er-
gebnisse zu gewinnen über die Bedeutung der Flöhe für die Über-
tragung von Trypanosomen; sie werden sich auch auf andere, meist
oder zuweilen durch Flöhe übertragene Infektionskrankheiten an-
wenden lassen. Ein Seitenzweig der Forschungen N.s betrifft die
Flagellaten als Darmparasiten der Flöhe: mehr oder weniger aus-
führliche Angaben über Leptomonas Aenocephali Fantham, eine
noch unbenannte Leptomonas aus Ceratophyllus gallinae und colum-
bae, Legerella parva N., Nosema pulicis N., Malpighiella refringens
Minchin sind in der Arbeit enthalten.
Die Hauptergebnisse sind, dass Trypanosoma Lewisi zunächst ım
Flohmagen eine intrazelluläre Entwickelung und Vermehrung durch-
macht, wie schon Minchin und Thomson beobachtet hatten, dann
aber die jungen Flagellaten sich im Enddarme frei an dem Epithel fest-
heften und sich hier (nicht bei allen infizierten Flöhen) derart vermehren,
dass sie ein Hindernis für den Kot darstellen und nach mehreren Tagen,
während oder nach einem neuen Saugakt, in großen Mengen mit
dem Kot entleert werden. Die Ratten erwerben die Infektion durch
das Ablecken der trypanosomenhaltigen Flohfäces. Wahrscheinlich
kann auch Verspritzen der Fäces auf Schleimhäute (wie die Augen-
bindehaut) oder Einreiben derselben in die Stichwunde die Infektion
übertragen. Ein direktes Einimpfen durch den Flohstich, infolge
einer Überwanderung der Trypanosomen durch das Cölom der
Flöhe in Speicheldrüsen oder infolge Regurgitierens von Magen-
inhalt kommt nicht vor oder nur ganz ausnahmsweise. Diese Ver-
mehrung der Trypanosomen im Floh scheint aber ın der Regel nur
beim Saugen auf einer ziemlich frisch infizierten Ratte einzutreten.
Flöhe, die an vor längerer Zeit infizierten, chronisch kranken
Ratten saugen, werden nicht infektiös.
Das Ergebnis, dass die Flöhe nach Ablauf einer nichtinfektiösen
Periode leicht durch ihre Fäces infizieren, erscheint dem Verfasser
für die phylogenetische Ableitung der Blutflagellaten interessant.
Er sıeht darin den einfachsten Weg, auf dem Insektenflagellaten
zu Blutparasiten der Wirbeltiere werden konnten. Mit den Floh-
fäces ausgestoßene Trypanosomen seien auf den Schleimhäuten des
Säugetierwirts in günstige Lebensbedingungen geraten und seien
dann in die Blutbahn eingedrungen, von der aus sie wiederum den
blutsaugenden Insektenwirt infizieren konnten.
Die Versuche v. Prowazek’s über die Übertragung des Tryp.
Lewisi durch die Rattenlaus, Hämatopinus spinulosus Burm., kann
Verfasser, wie schon andere Forscher, ım ganzen bestätigen. Er
glaubt aber doch „die Entwickelungsformen“ in der Laus nicht als
solche im spezifischen Hauptwirt, sondern als Degenerations- oder
256 Lindau. Kryptogamenflora für Anfänger.
Kulturformen deuten zu sollen. Sein Hauptargument ist, dass die
infizierten Läuse nur kurze Zeit, allerhöchstens 20 Tage infektions-
tüchtig bleiben und sich m ihnen eine Steigerung der Infektions-
tüchtigkeit der Trypanosomen durchaus nicht zeige, die dagegen im
Kote der infizierten Flöhe sehr deutlich sei. Auch bei den infi-
Ben Läusen finden sich die Trypanosomen im Kot; den von
„. Prowazek beobachteten Übertritt in die Leibeshöhle der Läuse
ee N. immer auf Verletzungen (beim Fangen der Läuse) zurück-
führen zu müssen.
Seiner Arbeit schließt N. eine versuchsweise Einteilung der
Trypanosomen nach ihrer Übertragungsweise an; dieser Versuch
soll hauptsächlich zu einer genaueren Beachtung der letzteren bei-
tragen, denn selbstverständlich will der Verfasser Morphologie und
Tierpathogenität i in ihrer systematischen Bedeutung nicht erschüttern.
Die Frage, ob ein Trypanosoma in zwei Blutsaugern, die ganz ver-
schiedenen Tiergruppen angehören, beidemal eine echte Entwicke-
lung durchmachen könne, sieht er für noch nicht entschieden an.
Ein ausführliches Literaturverzeichnis bis Ende 1913 schließt die
Abhandlung. W.R.
G. Lindau, Kryptogamenflora für Anfänger.
Bd. IV,2. Die Algen. 8, 200 S. mit 437 Fig. Berlin 1914, J. Springer.
Der vorliegende Band der Kryptogamenflora enthält einige
besonders schwierige Familien, z. B. die Desmidiaceen und Oedo-
goniaceen, in denen es für den Anfänger schwer ist, sich zurecht-
zufinden. Um so notwendiger ist eine Anordnüng der Bestimmungs-
tabellen, die praktische Zwecke verfolgt, ohne die wissenschaftliche
Grundlage vermissen zu lassen. Das dürfte gut gelungen sein.
Nur erscheint es dem Ref. zweifelhaft, ob es gut ist, die heute
als Mesotaeniaceen zusammengefassten Gattungen, die eine recht
natürliche Gruppe bilden, wieder unter die Desmidiaceen einzuordnen
und die Gattungeu Penium und Closterium zwischen sie einzuschieben,
Wer physiologisch und ökologisch zu denken gewöhnt ist,
kann das Bändchen nicht durchbl: ättern ohne den Wunsch zu hegen,
dass recht viele dieser hier aufgeführten, z. T. recht sonderbaren,
fast wie durch eine Laune der Natur geschaffenen Formen hinsicht-
lich ihrer Bedürfnisse und Standortsverhältnisse auf Grund von
Beobachtungen und Züchtungsversuchen erforscht werden möchten.
Es sind das Aufgaben, zu denen gar keine großen Mittel gehören,
die größtenteils selbst ohne eigentliches Laboratorium in Angrift
genommen werden können. Einige Glasgefäße und Salze sowie ein
Destillierapparat zur Herstellung reinen Wassers genügen neben
dem natürlich unentbehrlichen Mikroskop. Und welche Fülle von
Anregungen und Ergebnissen, die erst in ihrer Gesamtheit volle
Früchte tragen werden, erwarten den, der die nötige Geduld hat.
Möge die Lindau’sche Flora in diesem Sinne anregend wirken!
E. G. Pringsheim.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
DESK, Goebel und... ‚Dr.’R& Hertwie
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem
Berg 14, einsenden zu wollen.
Bd. XXXV. 20. Juli 1915.
E7TT
Inhalt: Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln gegen Tierfraß und
ihre Lösung. — Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien. — War-
ming's Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie. — v. Buttel-Reepen, Leben und
Wesen der Bienen. — Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre
Ziele, III. 4. I. Allgemeine Biologie.
Die Frage von den natürlichen Pfianzenschutzmitteln
gegen Tierfrals und ihre Lösung.
Erörtert in kritischer Besprechung von W. Liebmann’s Arbeit
„Die Schutzeinrichtungen der Samen und Früchte gegen unbefugten
Tierfraß“.
Von Franz Heikertinger in Wien.
Die nachfolgende Abhandlung bildet die Ergänzung einer
anderen, die im Vorjahre unter dem Titel „Über die beschränkte
Wirksamkeit der natürlichen Schutzmittel der Pflanzen
gegen Tierfraß“ ın dieser Zeitschrift erschien. Wie dort
E. Stahl’s Studie „Pflanzen und Schnecken“, so bildet hier die ım
Untertitel genannte Arbeit Liebmann’s!) Ausgangspunkt und Grund-
lage der Darlegungen.
1) Jenaische Zeitschr. f. Naturwissensch., Bd. 46, S. 445—510, Jahrg. 1910,
und Bd. 50, 8. 775—838, Jahrg. 1913. — Liebmann hat seine Untersuchungs-
ergebnisse überdies in populärer Form in einer selbständigen Broschüre „Die Be-
ziehungen der Früchte und Samen zur Tierwelt“ (Leipzig 1914, Verl.
Quelle & Meyer) veröffentlicht. Da dieselbe im wesentlichen nur ein Auszug aus
seiner erstgenannten Publikation ist, habe ich sie im folgenden nicht besonders be-
rücksichtigt.
XXXV. 17
258 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
Was meine seinerzeit?) zum Ausdrucke gebrachte Auffassung
der Dinge anbelangt, so finde ich auch im gegenwärtigen Falle
nicht nur keinen Anlaß, von meinem — übrigens völlig theorien-
losen — Standpunkte abzugehen, sondern glaube im Gegenteile
mit Vorliegendem einen neuen Beweis für die Richtigkeit desselben
erbracht zu haben. Das Urteil hierüber will ich allerdings dem
Leser überlassen, den ich um nichts als um Vorurteilslosigkeit bitte.
Er möge sich von manchem, das er früher gelesen oder vielleicht
sogar geschrieben hat, frei und unabhängig machen.
Einigen Einwänden, die meinen früheren Artikeln gegenüber
gemacht wurden, bin ich hier erläuternd begegnet und glaube alles
in allem die Lösung der so hoffnungslos scheinenden Frage wenn
nicht gegeben, so doch angebahnt zu haben.
Was die Arbeit Liebmann’s selbst anbelangt, so fühle ich
mich verpflichtet, ausdrücklich zu erwähnen, dass dieselbe, sofern
positive, experimentell gewonnene Feststellungen in Betracht kommen,
außerordentlich hochwertig ist. Seine Untersuchungen über den
Geschmackssinn der Vögel sind von weittragender Bedeutung und
ich werde mir gestatten, mich bei anderer Gelegenheit auf sie zu
berufen. Dass Liebmann zu (meines Erachtens) falschen Schluss-
folgerungen gelangte, war lediglich die Folge falscher Voraus-
setzungen, war das Dogma von dem unbedingten Vorhandensein
natürlicher Pflanzenschutzmittel, von dem er ausging.
Nochmals stelle ich fest: Hier wie in meinen eingangs genannten
Abhandlungen handelt es sich mir nicht um Verfechtung einer vor-
gefassten Meinung, einer Theorie, sondern lediglich um ein ein-
faches, unbefangenes Ergründen der wahren Zusammenhänge der
Dinge. Und was an scharfen Worten fallen sollte, gilt keiner
Person, sondern nur einer Sache, die ich als Irrtum mit voller
Kraft bekämpfen zu müssen glaube.
I. Die Grundlagen der Schutz- und Anloekungsmitteltheorie.
Der Standpunkt, auf dem Liebmann von vornherein steht,
ist derjenige der typischen Schutzmitteltheorie.
Ich zitiere aus der Einleitung zu seiner Abhandlung:
(S. 445.) „... Es ıst jedoch bekannt, dass sämtlichen Pflanzen,
auch scheinbar ganz wehrlosen, irgendwelche Einrichtungen zu Ge-
bote stehen, mittels deren sie die wichtigsten tierischen Feinde
abhalten können; eine Pflanze ohne jedes Schutzmittel wäre ganz
2) „Über die beschränkte Wirksamkeit der natürlichen Schutz-
mittel der Pflanzen gegen Tierfraß. Kine Kritik von Stahl’s biologischer
Studie ‚Pflanzen und Schnecken‘ im besonderen und ein zoologischer Ausblick auf
die Frage im allgemeinen.“ Biol. Centralbl. XXXIV, S. 8S1—-108; 1914. — „Gibt
es natürliche Schutzmittel der Rinden unserer Holzgewächse gegen
Tierfraß? Ein Beitrag zur Frage des ‚Kampfes ums Dasein‘ zwischen Pflanze
und Tier.“ Naturwiss. Zeitschr. f. Forst- und Landwirtsch. XII, S. 97”—113, 1914.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 959
undenkbar, weil sie sofort ihres guten Geschmackes und ihrer
leichten Erreichbarkeit halber von den Tieren ausgerottet werden
würde. Keine von diesen Einrichtungen ist so vollkommen, dass
sie alle Feinde abschrecken könnte; meist geht der Schutz nur so
weit, dass die Erhaltung des Individuums gerade gesichert ist.“
Nach dieser Schutzmitteltheorie sind die „Schutzmittel“ also
das arterhaltende Prinzip im Daseinskampfe der Pflanze gegen das
Tier. Welcher Art diese Schutzmittel sind, ıst bekannt genug.
Wir haben chemische in Gestalt von abwehrendem Geruch oder
Geschmack oder von Giften, wir haben mechanische in Gestalt von
harter Oberhaut, von Haaren, Stacheln, Dornen u. s. f. — Es ist ja
ın den letzten Jahrzehnten genug darüber geschrieben worden.
Im Falle der Schutzmittel der Früchte, die den Gegenstand
der folgenden Abhandlung bilden sollen, kompliziert sich die Frage
jedoch ein wenig. Neben hartschaligen, schutzfarbenen, trockenen
Früchten, die in jeder Hinsicht kampfbereit der Tierwelt gegen-
überzustehen scheinen, finden sich auch weiche, angenehm riechende
und schmeckende Früchte von auffälliger Färbung. Wie bestehen
diese im Kampfe?
Die Frage ist scheinbar leicht zu lösen. Diese schönen, wohl-
riechenden und wohlschmeckenden Früchte haben im Innern relativ
kleine, harte Samen. Die Tiere nun, die diese weichen Früchte
fressen, kümmern sich um die Samen nicht; diese letzteren werden
entweder zurückgelassen oder mitgefressen und gehen im letzteren
Falle meist unverdaut und ohne Beeinträchtigung ihrer Keimfähig-
keit durch das Tier. Die fleischige Frucht bedarf also keiner Schutz-
mittel, da ihr Untergang nicht zugleich auch die Samen trifft und
mithin die Existenz der Pflanzenart nicht gefährdet. Der nächste
Schritt auf dem Wege dieser Überlegungen war die Erkenntnis,
dass die Pflanzen durch das Besen derartiger Früchte
sogar Nutzen davontragen, indem sie durch die Tiere weiter ver-
breitet werden — und weiters der nächste Schritt war die An-
nahme, dass die Pflanzen überhaupt nur darum fleischige, grell-
farbige, wohlschmeckende Früchte ausgebildet haben, um sich diesen
Verbreitungsvorteil durch Tiere zu sichern. In mehr oder minder
teleologischer Fassung finden wir diese Annahme, von manchem
Autor zur Gewissheit gestempelt, allenthalben wieder. Streng
selektionistisch, also kausal-mechanistisch, den Weg des Werdens
solcher Eigenschaften zu verfolgen, daran denkt kaum jemand.
Nicht einmal die zur Klarheit des Ganzen so unbedingt notwendige
reine, selektionistische Stilisierung findet stets Anwendung. Die
Stilisierung treibt vielfach die üppigsten Blüten teleologischer, also
die wirklichen Verhältnisse völlig verschleiernder Redewendungen.
Um nur ein Beispiel gleich aus der hier besprochenen Arbeit
zu geben:
me:
260 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
(S. 447.) „... Jedoch auch für pflanzliche Gebilde ist es unter
Umständen vorteilhaft, an einen anderen Ort zu gelangen, wenn
es sich nämlich um die Verbreitung der Samen und Früchte handelt.
Manche Pflanzen haben sıch nun die größere Beweglichkeit ihrer
tierischen Feinde, ın unserem Falle also der Vögel und Säugetiere,
zu nutze gemacht um diesen Zweck zu erreichen.. .?).*
„Sich etwas zu nutze machen“ „um einen Zweck zu erreichen“,
einen Zweck, der wie hier noch dazu den Interessen des Individuums
an sich völlig fern und ın weiter Zukunft liegt, das wären Bewusst-
seinshandlungen so komplizierter Natur, dass selbst der weitestgehende
Pflanzenseelenverteidiger sie für einen beerentragenden Strauch
nicht in Anspruch nehmen wird. Ich weiß wohl, dass der. Autor
es nicht in diesem Sinne gemeint hat; aber bei Dingen, bei denen
es wie hier lediglich auf die Auffassung ankommt, ist es unbe-
dingtes Erfordernis, dass die Auffassung des Autors in der Stili-
sierung klar und eindeutig zum Ausdruck komme. Nachlässigkeiten
in der Stilisierung oder unüberlegte Redeblumen rächen sich schon
am Autor selbst, indem sie unbewusst die Klarheit seiner Vor-
stellungen und dadurch die Exaktheit seiner Schlüsse beeinträch-
tigen; sie veranlassen vollends aber erst die oft recht wenig
kritischen Leser, die ganze Sache von einer schiefen Seite aufzu-
fassen. Und dann schießen von solcher Basıs aus die kühnsten,
unbedachtesten Schlussfolgerungen empor.
Gewisse Früchte haben also angeblich — wie der oft ge-
brauchte Ausdruck lautet: — „Anlockungsmittel ausgebildet“, um
sich die endozoische Verbreitung zu sichern.
Das ıst der Stand der Sache von den Pflanzen aus gesehen.
Von den Tieren ausgehend, sagt die Schutzmitteltheorie folgender-
maßen:
Es gibt Tiere, die Samen fressen und damit den Arterhaltungs-
kampf der bezüglichen Pflanzen erschweren. Ein solcher Tierfraß
ist für die Pflanzen sozusagen unerwünscht. Kerner*) sprach noch
von „unberufenen* Gästen, Liebmann spricht bereits von einem
„unbefugten“ Vogelfraß. Das Adjektivum „unbefugt“ bringt die
zunehmende Selbstsicherheit der Theorie zum Ausdrucke.
Es gibt aber anderseits auch Tiere, die große, fleischige Früchte
fressen und deren Samen endozoisch verbreiten — und das ist der
„befugte“ Tierfraß.
Der „unbefugte“ Tierfraß wird seitens der Pflanze durch „Schutz-
mittel“ erschwert, der „befugte* durch „Anlockungsmittel“ begünstigt.
Das ist, kurz gesagt, der Gedankengang der Theorie.
3) Sperrdruck von mir.
4) A. Kerner, Die Schutzmittel der Blüten gegen unberufene
Gäste. Festschr. z. 25jähr. Best. d. k. k. zool.-botan. Ges. Wien, 1876, S. 189ff.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 261
Ohne mich hier über die Berechtigung der Ausdrücke „befugt“
und „unbefugt“ und ihre begrifflichen Grundlagen zu verbreiten,
möchte ich nur kurz erwähnen, dass ich dieselben selbst vom
Standpunkte der Schutzmitteltheorie aus ziemlich unglücklich ge-
wählt finde.
Meiner ablehnenden Haltung gegenüber der Schutzmitteltheorie
überhaupt habe ich an den angegebenen Orten genügend Ausdruck
gegeben. Es erübrigt mir daher nur noch eine kurze Darlegung
jener Prinzipien, die ich an Stelle dieser Theorie als wirklich maß-
gebend für die dauernde Arterhaltung im Pflanzen- wie auch im
Tierreiche anerkenne und die ich als Ersatz für die abgelehnte
Schutzmitteltheorie bieten will. Nach einem kurzen Streiflicht auf
diese theoretische Grundlage möchte ich den Erklärungswert der
von mir aufgestellten Sätze an Liebmann’s Arbeit praktisch er-
proben.
11. Die Prinzipien der Arterhaltung.
Da ich die Schutzmitteltheorie als Prinzip der Arterhaltung
ablehne, obliegt mir die Pflicht, die Tatsache der Arterhaltung ın
ihren natürlichen Bedingungen klar darzulegen und die wirklichen
Prinzipien dieser Arterhaltung offen zur kritischen Beurteilung vor-
zuführen.
Ohne in den Fehler zu verfallen, einer Theorie wieder eine
Theorie entgegenzustellen und so den Teufel durch Beelzebub aus-
treiben zu wollen, möchte ich nur mit etlichen wenigen Erfahrungs-
sätzen arbeiten, die so einfach, so selbstverständlich, so alltäglich
und naiv sind, dass sie des üblichen Arsenals der Theorien, der
zusammengesuchten „Belege“, gar nicht bedürfen. Es macht fast
den Eindruck, als wären sie der Wissenschaft allzu alltäglich, allzu
einfach gewesen. Nur so lässt es sich denken, dass man an der
verblüffend einfachen Lösung der ganzen Frage bis zur Stunde
vorübergegangen ist.
Drei Sätze sind es, die ich als klare Richtpunkte aufstellen
möchte:
1. Den Satz vom erschwinglichen Tribute oder der zu-
reichenden Überproduktion.
2. Den Satz von der@eschmacksspezialisation der
Tiere.
3. Den Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen.
Diese Sätze wollen weder neu noch originell, sie wollen nichts
als klar und einleuchtend sein. Mit diesen Sätzen möchte ich nun
— wie gesagt —- moderne Theorien ersetzen und auf der solcher-
gestalt neu geschaffenen Basis zu arbeiten versuchen.
1. Für die Theorie vom „Kampfe ums Dasein“ setze
ich die Lehre vom ständigen, ersehwinglichen Tribute und
der zureiehenden Überproduktion.
262 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
Jede Organismenart zahlt schutz- und kampflos ihren Tribut
an andere. Die Art als solche kämpft nicht, bedarf darum auch
keines mechanischen oder chemischen Schutzes und sucht auch
keinen. Was zu kämpfen oder zu entrinnen sucht, ist nur das
Individuum für sich; es sucht rein persönlich nicht unter den
Tribut zu geraten. Das mag als „Auslese“ wirken, das Artbild
modifizieren, aber mit der Herausbildung eines „Schutzes“ der Art
hat es nichts zu tun. Denn der Tribut wird trotz aller Modi-
fikationen bei Heller und Pfennig von der Art eingetrieben. Und
die Art kann ihn leisten, denn dieser Tribut ist keine Geißel,
sondern nur ein wohltätiger Regulator, der die Art von dem Über-
schuss der Nachkommenschaft befreit, der von jeder Generation
erzeugt wird und der keinen Lebensraum und keine Erhaltungs-
möglichkeiten fände. Dieser Überschuss soll ja sozusagen gar
nicht geschützt sein, er soll ja untergehen, er muss untergehen,
damit das Gleichgewicht im Naturleben erhalten bleibt. Das ist
doch der erste Satz, mit dem Darwin’s Selektionstheorie beginnt,
auf dem sıe fußt.
Wir haben also eine Auslese, die ein Artbild ändern mag,
wir haben aber keinen Schutz, weil die ausgelesenen Formen von
ihren natürlichen Feinden noch genau so gut gefunden und ge-
fressen werden wie einst die Urform und weil dieser Tribut als
Ablenkung des Überschusses heute wie damals im „Naturwillen“
liegt.
Als Arterhaltungsproblem betrachtet, stellt sich die Sache so:
Organismen, die nicht dauernd eine Nachkommenschaft erzeugten,
welche zahlreich genug war, um den Ausfall zu decken (den Tribut
zu erschwingen) und sich außerdem noch fortzupflanzen — solche
Organismen traten vom Schauplatz ab. Übrig konnte nur dasjenige
bleiben, bei dem die Produktion stets größer war als der
Konsum durch feindliche Mächte. Die absoluten Ziffern
beider sind vollständig gleichgültig — die hinreichend hohe aktive
Bilanz ist das einzig Wesentliche. Das ist der Satz von der
„zureichenden Überproduktion“.
Welche Faktoren sichern nun diese Bilanz?
Ich denke, es gibt nur eine ehrliche Antwort hierauf: Wir
wissen heute nicht das mindeste Sichere darüber. Die
ökologischen Lebensbedingnisse jeder einzelnen Art sind so unend-
lich kompliziert, so verworren ineinandergewoben und so ver-
schleiert, und wir wissen so beschämend wenig davon, dass es ge-
radezu naiv erscheint, aus tausend untrennbar ineinandergreifenden
Faktoren einen beliebigen herauszureissen und dem staunenden
Leser zu sagen: „Nun will ich dir einmal zeigen, wie von dem da
alles abhängt!“
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 26:
Welche Anmaßung, welches Verkennen der Wege und Auf-
gaben der Wissenschaft liegt doch in solchem Beginnen! Und
welch krause Irrwege muss ein solcher Gedankengang im weiteren
Verfolge einschlagen, wie viele muss er irreführen, die ihm ver-
trauend folgen!
Was wir tun können ist: Teil um Teil vornehmen und einzeln
erforschen. Und was die Betrachtungsweise anbelangt, so darf sıe
weder final noch kausal, sondern muss einzig konditional sein. Wir
dürfen nie auf ein Ganzes schließen, das sich aus hundert ver-
schiedenartigen Faktoren zusammensetzt — wenn wir nur einen
einzigen Faktor notdürftig kennen. Das lehrt uns die Mathe-
matik, das Musterbild exakter Wissenschaft. Welcher Mathematiker
würde den verstehen, der aus einem gegebenen Produkte von hundert
Faktoren den Wert eines einzigen Faktors herausrechnen wollte,
wenn ihm die neunundneunzig anderen unbekannt sind?!
Um ein Beispiel zu geben: Ich habe jahrelange Mühe der Er-
forschung der Nährpflanzen meiner erwählten Spezialgruppe, der
Haltieinen, gewidmet, habe ein nach Möglichkeit klares Bild von
ihnen erhalten und weiß, dass jede Art nur auf ganz bestimmten
Pflanzenarten lebt.
Warum aber lebt jede Halticinenart nur auf gewissen Pflanzen-
arten? Nichts erschien (und erscheint mir heute noch) zweck-
loser, unverständlicher als ein „Warum?“ an solcher Stelle. Wer
diese Frage im Ernste stellt, ist entweder ein Kind oder der allzu-
eifrige Diener einer Theorie. Aber damit kommen wir bereits zum
nächsten Punkte.
2. Für die Theorie von den „natürlichen Schutz-
mitteln der Pflanzen gegen Tierfraß“ setze ich die Tat-
sache der Gesehmacksspezialisation der Tierwelt. An anderer
Stelle habe ich die Frage bereits eingehend behandelt, stelle daher
hier nur kurz fest: Nicht mechanische und chemische Schutzmittel
schützen eine Pflanze, sondern der angeborene Geschmackssinn der
Tiere. Jedes Tier greift normal nur einen bestimmten Kreis von
Organismen als Nahrung an, unbekümmert um „Schutz“, und
kümmert sich um alle anderen Pflanzen, ob „geschützt“ oder „un-
geschützt“, überhanpt nicht, greift sie gar nicht an. Im ersten
Falle, bei der Normalnahrung, ist ein „Schutz“ logisch undenkbar.
Im zweiten Falle ist er unnütz, denn wo regulär kein Angriff er-
folgt, ist auch kein „Schutz“ nötig.
Eine Kiefernraupe verschmäht das schutzlose, saftige, weiche Salat-
blatt und will starrsinnig die harte, harzig-bittere Kiefernadel. „Sie frisst
keinen Salat“ sagt der gemeine Mann ruhig und denkt mit Recht
nie. daran, „warum“ sie ihn nicht frisst. Das sind eben Geschmacks-
geheimnisse, deren jedes Tier sein besonderes hat und für die es
weder eine Erklärung noch einen einheitlichen Maßstab von „gut“
264 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
oder „schlecht“ schmeckend gibt, weil der Geschmack jedes Tieres
ein anderer ist. Man hat die „Spezialisten“ — die Monophagen
und Oligophagen meiner Auffassung’) — als Ausnahme hingestellt®).
Das ist ım tiefsten Grunde unrichtig. Engere oder weitere Spe-
zıalısation ist allgemeime Regel ın der Tierernährung und wirkliche
„Omnivoren“ gibt es wohl überhaupt nicht.
Durch die Tatsache der Geschmacksspezialisation in der Tier-
welt nun werden die Angriffe verteilt — auf jeden Organismus
fällt nur eine gewisse Anzahl von Feinden. Und die Tatsache der
effektiven Existenz eines Organısmus beweist, dass er imstande
war, bis zur Stunde alle seine natürlichen Feinde zu befriedigen
und mit dem verbleibenden Reste von Individuen seine Art fort-
zupflanzen. Die „geschütztesten“ Pflanzen aber haben durchschnitt-
lich nicht weniger Feinde als die „ungeschütztesten“. Man werfe
einen Blick in die lebendige Natur hinaus oder nehme — wenn
dies etwas umständlich scheint — den alten, aber immer noch
mustergültigen Kaltenbach’) zur Hand. So veraltet er auch ist,
diese Tatsache geht klar aus ihm hervor.
3. Zur Erklärung des anscheinend tierabwehrenden
Charakters der heutigen Pflanzenwelt setze ich die Lehre
von der Bevorzugung des Zusagenderen.
Ein Gleichnis wird den einfachen Gedanken am besten ver-
mitteln.
Auf einem Markte werden zu einem Einheitspreise Äpfel feil-
geboten. Die Frauen kommen, wählen aus, kaufen. Die schönsten
Äpfel gehen zuerst ab. In den späten Vormittagsstunden wird die
(Qualität des Vorhandenen (im Vergleiche zum ursprünglichen Ge-
samtangebot) bereits erheblich gesunken sein. Die Äpfel mit
„käuferabwehrenden“ Eigenschaften wiegen auffällig vor. Sind diese
Äpfel nun „geschützt“? Sicherlich nicht. Die Käufer, die nun
kommen, passen sich der verschlechterten Qualität an und wählen
unter dem Vorhandenen weiter aus. Gegen Mittag sind nur wenige
Reste mehr, das „Käuferabwehrendste“, vorhanden. Aber dieses
ist nun „geschützt“?! Mit nichten. Das gibt die Äpfelfrau den
Jungen, die sich um ihren Standplatz drücken, und macht ihnen
immer noch eine Freude damit.
Das aber ıst die simple Lösung der Frage von dem tier-
abwehrenden Habıtus der heutigen Pflanzenwelt: Unter sonst
gleichen Verhältnissen werden Pflanzen, die an einem Orte von
einer dominierenden Tierart bevorzugt werden, am stärksten leiden.
5) Vergl. meinen Artikel über die Standpflanze (Wien. Entom. Zeit. XXXI,
S. 207 £f., 1912); ferner „Zoologische Fragen im Pflanzenschutz“ (Centralbl.
f. Bakt., Paras. etc., II. Abt., 40. Bd., 8. 233 f., 1914).
6) Stahl, Ludwig u.a.
‘) Die Pflanzenfeinde aus der Klasse der Insekten. Stuttgart 1874.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 265
Wir können uns unbedenklich vorstellen, dass eine Anzahl Pflanzen
einer dauernden Bevorzugung schließlich sogar erlag. Man wird
sagen, dieser Satz von der Bevorzugung des Zusagenderen sei nichts
als das einfache Selektionsprinzip. Und man hat recht, insoferne
es sich um nichts anderes als um eine „Auslese“ allein handelt.
Wenn es sich jedoch um den Begriff „Selektion“ handelt, wie er
heute zur Erklärung aller erdenklichen Dinge angewendet wird, so
muss ich ihn rundweg ablehnen.
Denn es wird uns ferne liegen, alle anscheinend tierabwehren-
den Eigenschaften solchergestalt mit Auslese erklären zu wollen.
Ein großer Teil davon wäre sicherlich ohne tierische Auslese ım
gleichen Ausmaße vorhanden wie mit derselben; es sind eben
Struktureigentümlichkeiten, die von selbst entstehen und die gar
keinen Selektionswert zu haben brauchen, um erhalten zu bleiben.
Wieviele von den solchergestalt richtungslos entstandenen Merk-
malen ohne Selektion da wären, vermag niemand auch nur an-
nähernd zu beurteilen. Doch nehmen wir für den vorliegenden
Fall eine Wirksamkeit der Auslese ım weitestmöglichen Ausmaße an.
Es wird sich nun lediglich darum handeln, festzustellen, was
jetzt geschah. Waren die nun übrigbleibenden Pflanzen durch ihre
missliebigen Eigenschaften „geschützt* ?
Sie waren es in keiner Weise. Nachdem das Bevorzugte ver-
schwunden war, musste das minder Bevorzugte heran. Und mangels
des Besseren ıst das Gute auch stets willkommen und ersetzt
ersteres vollständig. Den Beweis liefert uns ein einziger Blick ın
die Natur: da wimmelt es von „Schutzmitteln“ — nach Versiche-
rung der Schutzmitteltheoretiker ıst ja keine einzige Pflanze ganz
ohne „Schutzmittel“, weil sie dann sofort unterliegen würde °) —
und da wimmelt es aber auch gleichzeitig von phytophagen Tier-
arten, die mit einem Appetit, den keine Theorie hinwegzuleugnen
vermag, in dieser „geschützten“ Pflanzenwelt fressend wüten.
Stahl’) sagt selbst, dass es „denn auch wohl keine einzige Pflanze
gibt, welche der Tierwelt nicht ihren Tribut zu zahlen hätte“. Die
sonderbare Ausflucht, die „Schutzmittel“. seien nur „bedingt“ wirk-
sam, schützten nur gegen einige, nicht aber gegen alle Tiere, ıst
leicht zu widerlegen. Man fasse jene Tiere, gegen die die „Schutz-
mittel“ angeblich wirksam sind, nur einmal zoologisch kritisch ıns
Auge und man wird leicht nachweisen können, dass diese Tiere
ihre Normalnahrung ganz anderswo finden, einer anderen, vielleicht
noch kräftiger „geschützten“ Nahrung von Natur aus angepasst
sind, dieselbe schonungslos vernichten und darum die angeblich
8) Stahl, Liebmann u. a.
9) Pflanzen und Schnecken. ‚Jenaische Zeitschr. f. Naturw. u. Med. XXII,
INCH. SNV..Bep.ıD. 2,
266 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
„geschützte“ Pflanze normal gar nicht benötigen und daher auch
gar nicht angreifen.
Jedes phytophage Tier besitzt seine angestammte Normalnahrung
normal in Fülle, mehr verlangt es gar nicht. Diese den Bedarf in
der Natur vollauf deckende Normalnahrung aber ist dem Tiere
gegenüber absolut ungeschützt — bezw. nur durch ihre Masse „ge-
schützt“ —, wird in Unmengen vernichtet. In Spezialfällen mag
ja das Leben einer Pflanze einmal von ihrer Bedornung oder ihrem
scharfen Safte abhängen, wenn nämlich den ortsbewohnenden Tieren
ihre Normalnährpflanzen ausgehen. Aber das ist eben ein Zufall
und kein Naturprinzip.
Wir Zoologen vermögen angesichts des unermesslichen, ver-
nichtenden Tierfraßes an einen wirksamen bewaffneten Schutz der
Pflanzenwelt gegen Tiere nicht zu glauben. Gerne aber wollen wir
an eine hier und dort wirksam gewesene „Auslese“ glauben, die
das am meisten Begehrte verschwinden machte und das minder
Bevorzugte — aber darum keineswegs Verschmähte oder gar „Ge-
schützte* übrig ließ. Dieses minder Bevorzugte gibt nun der
heutigen Pflanzenwelt ihren anscheinend tierabwehrenden Zug, mit
dem sich die heutige Tierwelt aber, wie das Naturleben zeigt, in
vollem Umfange abgefunden hat und der den Pflanzen nunmehr
nicht das mindeste nützt.
Ich habe das Wort „Auslese“ gebraucht und habe gezeigt,
wie weit man mit meiner Auffassung der Dinge an die Lehre
Darwin’s, soweit sie das Walten einer im ausmerzenden Sinne
wirksamen Selektion betrifft, heran kann. Wir können deren Grund-
lagen anerkennen, bis das Wort „Schutz“ fällt — dann scheiden
sich die Wege. Die Auslese erzeugt minder begehrenswert scheinende
Formen — einen wirksamen Schutz gegen wirkliche Feinde aber er-
zeugt sie nicht, weil die feindliche Tierwelt jeden Schutz durch stete
unvermerkte Gegenanpassung zu nichte macht. Wohl kaum ein
Tier der Erde ist durch dieses allmähliche Verschwinden des von
ihm Bevorzugten und das Vortreten des von ihm minder Bevor-
zugten zugrunde gegangen. Wohl aber kann ein durch seinen Ge-
schmackssinn (ohne Rücksicht auf Schutz, der ja bei Spezialisten
gänzlich außer Betracht fällt) angepasster Spezialist bei Ver-
schwinden seiner Pflanze mit verschwinden.
Das sind die Gedankengänge, die ich dem Leser zur reiflichen
Erwägung vorführen möchte.
Und nun will ich mich der Kritik des experimentell-sachlichen
Teiles des Liebmann’schen Artikels zuwenden. An ıhm soll
das soeben Entwickelte die Probe auf seinen Erklärungswert be-
stehen.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 267
II. Der Gesehmackssinn der Vögel und die Wirksamkeit der
„chemischen Schutzmittel“.
Die Einleitung zu dem Artikel Liebmann’s gibt neben einer
Darlegung der leitenden Gesichtspunkte der Arbeit einen allge-
meinen Überblick über den Verdauungsapparat und die Sinnes-
organe der Vögel, soweit letztere in Beziehung zur Nahrungsauf-
nahme stehen.
Der Autor kommt zu dem sehr interessanten, für die Abwehr-
und Anlockungstheorie indes doch vielleicht ein wenig unbequemen
Schlusse, dass bei den Vögeln zum Auffinden der Nahrung das
Auge die wichtigste Rolle spielt, dagegen Geruchs- und Geschmacks-
sinn nur eine ganz untergeordnete. Das Innere der Mundhöhle
samt der Zunge der Vögel ist hart und verhornt, Speichel wird
sehr wenig abgesondert. Für die geringe Empfindlichkeit des Ver-
dauungstraktes spricht schon die Tatsache, dass Sand und Steinchen
ihm nichts anhaben, sondern von den Tieren vielfach freiwillig
aufgenommen werden.
Ein sprechendes Beispiel für die ganz unerwartet große Ge-
schmacksstumpfheit der Vögel geben die Experimente, die der Autor
mit verschiedenen Vogelarten (vgl. S. 486ff.) anstellte. Ich zitiere
kurz hieraus.
(S. 487 ff.; Tannin.) „... Alle Vögel fraßen die gerbsäure-
haltige!‘) Nahrung vollständig auf; kein einziger ließ etwa nach
dem ersten Bissen ab, was er getan haben würde, wenn er ihm
schlecht schmeckte.“
„Kein Vogel erlitt irgendwelchen sichtbaren Schaden durch
diese Experimente, trotzdem teilweise ganz beträchtliche Quantitäten
Tannin vertilgt worden waren.“
(S. 4389—490; Zitronensäure.) „... wirkt in solchen Kon-
zentrationen, wie sie in den folgenden Versuchen angewandt wurden,
sehr scharf und ätzend.“
Gequetschter Hanf und Ameisenpuppen, die 6 Stunden in einer
etwa 7prozent. Lösung von Zitronensäure gelegen waren, wurden
von drei Meisenarten, Stieglitz und Dompfaff, bezw. drei Meisen-
arten, Kleiber und Rotkehlchen, „scheinbar gern“ verzehrt; zurück-
gelassen wurden nur die Hanfschalen.
„Endlich bekamen alle Vögel als Trinkwasser eine etwa
2!/,prozent. Zitronensäurelösung; sie verweigerten dieselbe durchaus
nicht.“
(S. 490; Ameisensäure.) „Ferner warf ich Mehlwürmer in
reine Ameisensäure hinein; die Kohlmeise holte mit dem Schnabel
die sich lebhaft krümmenden Tiere heraus und fraß sie ohne wei-
teres mit Behagen stückweise auf.“
10) D. h. künstlich mit Tannin vermischte Nahrung.
268 Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
(S. 490; Pıkrinsäure.) „Einen äußerst widerlichen Geschmack
zeigt die Pikrinsäure, welche auch noch giftig ist. Selbst ın mini-
malen Mengen genossen schmeckt sie entsetzlich ... Deshalb
scheint sie zu Experimenten über den Geschmack besonders ge-
eignet, wenn man sie auch, soviel mir bekannt, bis jetzt im Pflanzen-
reiche noch nicht nachgewiesen hat.“
„In einer etwa 3prozent. Lösung von dieser Säure wurde
„Wealdfutter“ !!) eine Nacht über hen gelassen... Die aufge-
nommene Nahrungsmenge blieb beträchtlich Finer der normalen
zurück !?). Immerhin aber hatten beide Vögel (Kohlmeise und Grün-
fink) so viel verzehrt, dass Schnabel und Exkremente hochgelb
gefärbt waren... Mehlwürmer, mit einem dünnen Pikrinsäurebrei
bestrichen, wurden von der Meise anstandslos vertilgt. Irgendeinen
sichtbaren Nachteil trugen die Tiere nicht davon.“
(S. 492; Kaliumbioxalat, Sauerkleesalz.) „Da es sehr scharf
schmeckt und außerdem giftig ist, scheint es als Schutzmittel sehr
geeignet zu sein.“
In einer bei Zimmertemperatur gesättigten Lösung dieses Salzes
wurden Ameisenpuppen und gequetschte Hanfkörner mehrere Stunden
lang eingeweicht. Erstere wurden hierauf an drei Meisenarten,
letztere an diese und an Stieglitz und Dompfaff verfüttert. „Alle
Tiere nahmen wiederholt davon, als ob es gewöhnliches Futter
wäre; hätte es ihnen zu schlecht geschmeckt, so würden sie gleich
nach dem ersten Versuche von ıhrem Vorhaben abgelassen haben.“
Die Versuche wurden noch mit größeren Salzmengen vorge-
nommen. „Schädliche Folgen traten nirgends ein, trotz der Giftig-
keit für andere Tiere.“
Lediglich der Milchsaft von Euphorbia Myrsinites konnte den
Versuchstieren das Futter verekeln.
Zusammenfassend sagt der Autor selbst (S. 494):
„Was geht nun aus diesen Versuchen hervor? Jedenfalls so
viel, dass der Geschmackssinn der Vögel nur sehr wenig
ausgeprägt ist, wenn auch nicht behauptet werden kann,
dass er vollständig fehlt. In solchen Quantitäten, wie sie hier
verwandt wurden, kommen chemische Substanzen ın Samen und
Früchten kaum vor... Man kann also nicht erwarten, dass irgend-
welche Substanzen, die als chemische Schutzeinrichtungen ange-
sehen werden können, auf Vögel irgendwie einwirken .. .*
Ich habe den Worten des Autors nichts zuzufügen. Seine
Worte besagen klar: Es gibt keine wirksamen chemischen
natürlichen Schutzmittel der Pflanzen gegen Vogelfraß.
1) Käufliche Nahrung der Körnerfresser, der Hauptsache nach Samen von
„Picea excelsa, Phalaris canariensis, Panicum miliaceum, Brassica-Arten, Can-
nabis sativa, Linum usitatissimum, Dipsacus laciniata und Lactuca sativa“.
12) Hier spielt möglicherweise die durch die Pikrinsäure verursach te auffallende
intensive elbfärbung des Futters mit.
Heikertinger, Die Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 269
Wir halten diese Konstatierung schon hier fest und legen da-
mit die gesamten „chemischen Schutzmittel* gegen Vogelfraß ebenso
berechtigt als gänzlich unwirksam ad acta, wie wir seinerzeit die
„chemischen Schutzmittel“ der Rinden unserer Holzgewächse gegen
Säugetierfraß ad acta gelegt haben'?). Und in beiden Fällen habe
ich den Nachweis allein mit den eigenen Worten der Autoren, die
doch ausgezogen waren, um die Wirksamkeit der Schutzmittel
nachzuweisen, führen können. Beiden Autoren muss voll und ganz
eines zugestanden werden — die unbedingte wissenschaftliche Wahr-
haftigkeit, mit der sie die Ergebnisse ihrer Experimente darlegen,
auch dann, wenn sie ihrer Theorie entgegenlaufen. Nur diese
Wahrhaftigkeit, dieses Nichtsverschweigen hat den Nachweis er-
möglıcht.
Seinen eigenen Untersuchungen fügt der Autor noch die Er-
wähnung gleichsinniger Forschungsergebnisse anderer an. Man hat
überhaupt erst im Jahre 1904 Geschmacksorgane in der Mundhöhle
— nicht auf der Zunge! — der Vögel nachgewiesen; diese Sinnes-
organe stehen jedoch hinter jenen der Säugetiere weit zurück.
Dr. O. Heinroth (zitiert auf S. 497) schreibt: „... Wäre der
Geschmack für den Vogel wirklich sehr wichtig, so würden Beeren,
Mehlwürmer, Eicheln und andere festschalige Futtermittel nicht
unzerstückelt verschluckt werden, wie dies bekanntlich doch meist
geschieht.“
Und auf S. 498 sagt der Autor:
„Bei den Körnerfressern aber, die ihre Nahrung zerbeißen, ist
ein Schmecken deshalb nicht möglich, weil nur nasse oder einge-
speichelte Substanzen mittels des Geschmackssinnes wahrgenommen
werden können; die fleischigen Früchte und Tierchen jedoch, die
diese Bedingung erfüllen, werden von Körnerfressern verschmäht,
von Weichfressern dagegen unzerkleinert verschluckt, wobei eine
Einwirkung auf den Geschmack auch nicht stattfindet.“
IV. Die „.Abwehrmittel** gegen Körnerfresser.
Auf S. 449ff. bespricht der Autor die Einteilung der Vögel in
„Körnerfresser“ und „Weichfresser*“.
Die Körnerfresser besitzen einen kurzen, starken Schnabel,
einen sehr kräftigen Muskelmagen und nähren ‚sich von hartem
Futter, vorwiegend Körnern und harten Früchten, die sie zumeist
mit dein Schnabel zerstückeln und mit dem Muskelmagen zermahlen.
Die Weichfresser besitzen einen längeren, dünneren, zum
Hervorholen von kleinen Tieren, nicht aber zum Zerkleinern ge-
eigneten Schnabel, einen muskelschwachen Magen und nähren sich
13) Vergl. meine eingangs zitierte kritische Abhandlung über die Arbeit
A. Räuber’.
370 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
in erster Linie von Insekten, Würmern u. dgl., in zweiter von
fleischigen Früchten, also durchwegs von weicheren Objekten, die
sie in der Regel unzerstückelt hinunterschlucken.
Mit dem Blicke des Unbefangenen sehen wir hier zweierlei.
1. Fall. — Vögel, die vorwiegend von Samen leben. Wenn
sie davon leben, zerstören sie zweifellos die Samen. Und wenn
sie davon leben, können die Samen ihnen gegenüber nicht „ge-
schützt“ sein. Also: „unbefugter“ Fraß, d. ı. reine Vernichtung,
Fehlen wirksamer Schutzmittel, Weiterbestand der Pflanze
durch Überproduktion gesichert.
2. Fall. — Vögel, die normal von Kleintieren, ausnahmsweise
— oder sagen wir fallweise — von fleischigen Früchten leben '*).
Der Befall der Fleischfrüchte ist wohl weit nıinder belangreich als
der Samenbefall im vorigen Falle. da dort eine Normalnahrung,
hier aber nur eine Eventualnahrung vorliegt. Es ist absolut nicht
einzusehen, warum für diesen sicherlich viel schwächeren Befall
der ım vorigen Falle wirksam gewesene allgemein gültige Modus
der Arterhaltung nicht hinreichen sollte — warum dem Zufalle,
dass hier die Samen keimfähig durchgehen, eine prinzipielle Be-
deutung zugemessen werden soll. Dieser Zufall mag die Zahl der
Individuen dieser Sträucher vermehren — für die Sicherstellung
der Artexistenz aber genügt, wie im vorigen Falle, so auch hier,
ganz gewiss die einfache Überproduktion an Samen. Ich wenig-
stens sehe nicht ein, warum das, was dort weit heftigeren Angriffen
standhielt, hier für den schwächeren Befall nicht genügen sollte.
Niemand kann beweisen, dass — einzelne ganz spezialisierte Fälle
extremer Anpassungen ausgenommen!) — der sogen. „befugte“
Fraß für das Bestehen der Pflanzenarten notwendig ist. Und
um die Notwendigkeit allein handelt es sich doch. Eine ein-
fache Förderung mag das Vegetationsbild beeinflussen, ist aber
prinzipiell bedeutungslos.
Wir haben eine so ungeheure Fülle von Pflanzen, die ohne
„befugten“ Fraß auskommen, ja die sogar „unbefugt“ aufs äußerste
14) Erst im Herbst (früher reifen die Früchte in der Regel nicht) nehmen die
Weichfresser neben der Kerbtiernahrung auch fleischige Früchte an.
15) An anderer Stelle möchte ich mich ausführlicher über solche Fälle — ein
Beispiel für dieselben ist die Mistel — äußern. Hier sei nur kurz erwähnt, dass
die völlige Abhängigkeit einer Pflanze von der Verbreitung durch Tiere nichts Pri-
märes, nichts Prinzipielles an sich haben kann, sondern nichts ist als ein Zufall.
Primär kann sie nicht sein, denn ehe ein Vogel eine Frucht fraß und dadurch ver-
breitete, musste diese Frucht doch gewachsen sein und die Pflanze musste ohne
Vogel bereits Erdalter hindurch gelebt und sich fortgepflanzt und verbreitet haben.
Der Vogel hat ihre Verbreitung darum nicht gesichert, sondern nur modifiziert,
von sich abhängig und damit in gewissem Sinne sogar unsicher gemacht. Das ist
kein Prinzip, sondern dasjenige, was wir — ohne uns vor dem deutschen Worte zu
scheuen — „Zufall“ nennen,
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 274
geplündert werden und die doch gemeiner, häufiger und weiter ver-
breitet sind als viele „befugt“ gefressene, eine solche Fülle, dass
wir nicht begreifen können, warum gerade die wenigen „befugt“
gefressenen unbedingt auf diesen Fraß angewiesen sein sollten,
weshalb gerade bei ihnen die Natur ein neues Erhaltungsprinzip
nötig gehabt haben sollte.
Überlegungen solcher Art indes liegen abseits vom Wege des
Autors der rezensierten Arbeit.
Ein kurzer Blick auf den Weg, den er gekommen, lässt uns
seinen Standpunkt verständlich erscheinen.
Er kommt aus der Schule der Selektion.
In Pflanzen- und Tierwelt tobt der Daseinskampf; die Pflanze
kämpft so gut wie das Tier. Hätte sie keine Waffen, so ginge sie
unter. Jede Pflanze muss demnach Waffen haben. Sein Thema
lautet: Suchet die Abwehrmittel der Pflanzen und zeiget ihre Wirk-
samkeit im einzelnen.
Die Körnerfresser vernichten nun die Samen gewisser Pflanzen.
Um nicht unterzugehen, müssen diese Pflanzen an Früchten und
Samen „Abwehrmittel“ gegen die Körnerfresser ausbilden.
Anders liegt der Fall bei den Weichfressern. Die Weichfresser
vernichten mit ihrem Fraß keine Samen, sie verbreiten solche ım
Gegenteile.. Um Vorteile zu haben, um im Daseinskampfe zu be-
stehen, haben nun diese Pflanzen die Weichfresser in ıhren Dienst
gestellt, sie haben an den Früchten „Anlockungsmittel“ für diese
ausgebildet.
Es ist nicht zu leugnen, dass die Sache in dieser Form nicht
nur interessant, sondern auch völlig plausibel klingt. Wenn man
nämlich den Detailgang der einzelnen hierzu notwendigen selek-
tiven — (an anderes als an Selektion kann ja hier nicht gedacht
werden) — Vorgänge nicht weiter verfolg. Dann kann man
ohne weiteres an den Nachweis der „Anlockungsmittel“ einerseits,
der „Schutzmittel“ anderseits gehen. Man kann sicher sein, auf
jeder Seite übergenug zu finden, das sich derart deuten lässt.
Der kritische Geist aber sollte sich vorerst wohl doch noch
einige Gedanken machen. Er sollte vorerst doch überlegen, ob
dasjenige, was weiter oben über die beschränkte Wirksamkeit von
Schutzmitteln ausgeführt wurde, nicht vielleicht auch hier Geltung
habe. Die „Schutzmittel“ wären ja hochwertvoll, wenn wir es nur
mit körnerfressenwollenden Vögeln zu tun hätten. So aber haben
wir es mit tatsächlich körnerfressenden zu tun — und die
fressen die Körner wirklich und kümmern sich nicht im mindesten
um die vielen „Abwehrmittel“, die wir Menschen mit einigem Eifer
an den Körnern ausfindig machen. Was aber die Wirksamkeit der
„Abwehrmittel“ gegenüber den „anderen“ Vögeln anbelangt, so
sind diese „anderen“ Vögel eben keine Körnerfresser oder doch
372 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
keine, die von solehen Körnern leben. Sie brauchen und suchen
unsere Körner gar nicht, sondern suchen und fressen andere Körner,
die vielleicht noch viel hübschere „Abwehrmittel“ besitzen als
unsere.
Die Körner also werden gefressen — ob mit oder ohne „Schutz-
mittel“ ıst gleichgültig. Dass die Pflanze darum nicht ausstirbt,
verdankt sie also nicht den an maßgebender Stelle ganz unwirk-
samen „Abwehrmitteln“, sondern der einfachen Tatsache, dass sie
so viel Samen produziert, dass außer den von Vögeln (und anderen
Tieren) gefressenen immer noch genug zur Fortpflanzung des Ge-
wächses übrig bleiben.
Was aber die anscheinend abwehrenden Eigenschaften dieser
Früchte und Samen anbelangt, so ıst beispielsweise ihre Harthäutig-
keit meines Erachtens gar nichts so Verwunderliches und ohne
weiteres auch ohne tierische Selektion leicht verständlich. Ein Same
muss den Winter überdauern, muss Kälte, Hitze, Feuchtigkeit,
mechanische und chemische Einflüsse u. s. w. überstehen — wie
sollte er anders sein als hart und trockenhäutig?! Sind nicht
auch die Tiereier harthäutig?! Und gewiss würden wır auch an
den Tiereiern alle möglichen Zierraten und Anhängsel finden, wie
an den Samen, wenn das Tierei nicht den Eileiter passieren müsste.
Ich erinnere nur an die Skulptur und Form mancher Schmetter-
lingseier. Der Ausbildung aller möglichen Anhänge an den Samen
aber steht so wenig entgegen, wie den bizarrsten Ausbildungen an
Pflanzenblättern und Blüten.
Und sind trockenhäutige Pflanzenteile, z. B. Hüllschuppen,
Rinden u. s. w. nicht in der Regel auch unscheinlich gefärbt?!
Bräunlich ist eben die Hauptfarbe trockenhäutiger Gewebe nicht
nur ım Pflanzenreich, sondern auch im Tierreich (z. B. Orthopteren-
flügel ete.). Braucht man da unbedingt eine tierische Selektion
zur „Erklärung“?
Aber gesetzt auch, wir liebten die Selektion so sehr, dass wir
sie auch hier um keinen Preis missen möchten, — an einen „Schutz“
und eine „Abwehr“ ıst immer noch kein Gedanke.
Die Selektion arbeitete einfach so, dass das Bevorzugte all-
mählich unterging und das minder Bevorzugte — eben die Dinge
in ıhrer heutigen, anscheinend abwehrenden Form — übrig blieb.
Wird dies nicht gefressen? Ein Blick auf die Körnerfresser zeigt
uns, dass es genau so gut gefunden und gefressen wird, wie einst
das minder Selektierte, Einladendere, von dem die Vorfahren unserer
Vögel (vielleicht) lebten. Die Gestalt mag sich zum minder Ein-
ladenden geändert haben — ein „Schutz“ ist hieraus in keiner
Weise erwachsen, denn die heutigen Vögel sind eben wieder den
heutigen Früchten angepasst und fressen sie.
Heikertineer, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 97:
> X zhu
Diese Überlegungen — für uns alles Wiederholungen von
weiter oben bereits Dargelegtem — haben für uns etwas so über-
raschend Einfaches, Natürliches, Zwingendes, dass uns der Eifer,
mit dem die Wissenschaft „Schutzmittel“ sucht, seltsam verwunder-
lich berührt.
Und seltsam verwunderlich sind uns viele Vermutungen und
Schlüsse, die der Autor ım zweiten Teile seiner Arbeit, der von
den nichtfleischigen, mit „Abwehrmitteln“ gegen Körnerfresser ver-
sehenen Früchten und Samen handelt, äußert. Ich überlasse es
dem nunmehr aufmerksam gemachten Leser, diese Dinge kritisch
dort nachzulesen. An dieser Stelle würde ihre Erörterung zu weit
führen.
Dass aber das ım voraus gegebene Thema „Selektion“ und
„Sehutzmittel“ auch die Logik beeinflusst, mag nur an etlichen
Proben dargelegt werden.
S. 776. — „Die nichtfleischigen Samen und Früchte sind
also nicht an den Tierfraß. speziell Vogelfraß, angepasst und
müssen lästige Feinde fernzuhalten suchen. Wie aber schon am
Anfang der Arbeit hervorgehoben wurde, bieten alle Schutzein-
richtungen nur einen relativen, keinen absoluten Schutz. Man
darf sich deshalb nicht wundern, wenn man durch Beobachtungen
findet, dass große Mengen nichtfleischiger Samen und Früchte, be-
sonders kleinere, den körnerfressenden Vögeln als willkommene
Speise dienen. Diese Tatsache ist für die Landwirtschaft
von weittragendster Bedeutung, weil auf diese Art zahl-
lose Unkrautsamen vernichtet werden...!P).“
Größere Bedeutung für die Landwirtschaft dürfte vielleicht
doch der Fraß an Kultursämereien beanspruchen. Übrigens ist die
Tatsache der Vernichtung „zahlloser Unkrautsamen“ ein etwas ein-
seitiger Trost und sicher keine Empfehlung für die Wirksamkeit
von Schutzmitteln. Denn der Vogelfraß unterscheidet ja nicht
kritisch Kultursämereien und Unkrautsamen, sondern trifft rück-
sichtslos beide.
S. 782. — „Eine Familie, die von Vögeln besonders gern
heimgesucht wird, ist die der Compositen; daher zeigt ge-
rade diese Familie die verschiedensten Organe zum
Schutze gegen solchen unbefugten Vogelfraß!*).“
Der Schluss ist etwas seltsam; ein Unbefangener könnte kaum
anders sagen als: Je mehr Schutzorgane da sind, desto weniger
gerne werden wohl die Pflanzen von Vögeln heimgesucht. Der
Autor verwechselt unbewusst das supponierte Heimsuchen wollen
mit dem effektiven Heimsuchen; letzteres kann nur ein Beweis
16) Sperrdruck von mir.
XXXV. 18
974 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
dafür sein, dass die Pflanzen den Vögeln zusagen, also keine wirk-
samen Schutzmittel gegen dieselben besitzen.
Mehr als einmal geht der Autor an der einfachen Lösung des
Problems durch den Satz von der zureichenden Überproduktion vor-
bei, ohne sie aufzugreifen.
S. 789. — „... Taraxacum und die übrigen Früchte fielen
allen verwendeten Tieren (Dompfaff, Stieglitz, Meisenarten) verhält-
nismäßig leicht zum Opfer; auch in der Natur werden sie massen-
haft von Körnerfressern vertilgt ... Trotzdem weiß jeder, dass
gerade die genannten Pflanzen zu unseren gemeinsten Unkräutern
gehören. Das liegt daran, dass die Früchte von der Pflanze
in großen Mengen erzeugt werden...“
S. 798. — „... Die Pflanze (es ist von den Früchten von
Dipsacus laciniatus die Rede) entgeht der Vernichtung dank
ihrer massenhaften Erzeugung. Jeder Körnerfresser verzehrt
sie gern, weshalb sie in dem für diese Tiere bestimmten, käuflichen
Futter enthalten zu sein pflegen.“
Auch an anderen Orten ist dieser klare Gedanke ausgedrückt,
leider aber unangewandt geblieben.
Der Autor ist indes ın allen Fällen streng gerecht und führt
auch jene Fälle, die seinen Voraussetzungen widersprechen, ge-
wissenhaft auf.
S. 805. — „Nach allen hier angestellten Erörterungen dürfte
soviel sicher sein, dass den meisten ätherischen Ölen der Umbelli-
feren neben etwaigen anderen Funktionen die des sehr wirksamen
Schutzes gegen unbefugten Vogelfraß zukommt...“
Und hierzu S. 806. — „Ob die ätherischen Öle der Früchte
ihren stammesgeschichtlichen Ursprung lediglich der auslesenden
Wirksamkeit der Vögel verdanken, erscheint einigermaßen fraglich,
da auch alle anderen Teile der Doldengewächse von äthe-
rischen Ölen durchtränkt sind'!*),“
Es, wäre in diesem Falle zweifellos recht erzwungen, wollte
man den Ölgehalt speziell der Samen mittels Selektion durch Vögel
erklären.
Auch an der Tatsache der Geschmacksspezialisation der Tiere
mit ihren unerforschlichen, im Tierbau und nicht ım Pflanzenbau
begründeten Geheimnissen gleitet der Autor vorüber.
S. 807. — (Es ist die Rede von den Samen der Papeliona-
ceen. Der Autor findet es begreiflich, dass die Vögel den großen,
festen Hülsen mancher Arten nicht beikommen können; ebenso
können sie manche besonders harte Samen nicht zerbeißen.) „Ganz
neu und unerwartet ist jedoch die Tatsache, dass die übrigen
(kleineren) reifen Samen und sämtliche halbreifen verweigert wurden,
obgleich sıe leicht zu bewältigen sind und weder besonders scharf
riechen noch schmecken, wenigstens unseren Sınnesorganen nach
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 275
zu urteilen. Auch durch Aussehen und Form unterscheiden sie
sich nicht wesentlich von anderen Samen und Früchten; daher
wurden sie ja von den Tieren auch zunächst probiert und erst
dann verschmäht.“
Die Schutzmitteltheorie erklärt solche Tatsachen nicht. Sie
lässt das Thema einfach fallen. Im Satze von der Spezialisation
der Tiere jedoch liegt die natürliche, ungezwungene Erklärung für
alle Ablehnungen.
S. 810. — „Manche Forscher, besonders Focke und Buch-
wald, vertreten die sonderbare Ansicht, dass die Ausbreitung der
Leguminosen-Samen durch umkommende Vögel erfolgt, so bei
Erbsen, Bohnen und anderen Hülsengewächsen mit nahrhaften
Samen. Weil viele Vögel ıhre Nahrung vor der eigentlichen Ver-
dauung eine Zeitlang im Kropfe behalten, soll die Möglichkeit ge-
geben sein, dass bei gestorbenen Tieren die Samen von hier aus
ins Freie gelangen und dort keimen. Focke selbst hat einen
solchen Fall beobachtet, glaubt aber wegen der Zufälligkeit dieser
Verbreitungsart nicht, dass sie häufiger vorkommt; Buchwald
jedoch hält sie für wichtiger.“
Ich denke doch, es wird niemand behaupten, dass auf diesem
etwas gar zu seltsamen Wege eine Selektion wırksam sei. Man
sollte kaum vermuten, dass derlei abgequälte Erklärungen im Ernste
abgehandelt werden.
S. 814. — „Chenopodium glaucum wurde vom Dompfaff
angenommen, vom Stieglitz aber zurückgewiesen'*).
Das Chenopodiaceen-Beet ist als Futterplatz bei Sperlingen recht
beliebt.“
Noch klarer sprechen folgende Stellen dafür, dass die Ab-
weisung auf Grund der Geschmacksspezialisation von vornherein,
ehe noch ein Schutzmittel wırksam sein konnte, erfolgt.
S. 825. — „Schwartz beobachtete oft, dass die Versuchstiere
manche Samen schon beim bloßen Anblick verschmähten, ohne sie
erst gekostet zu haben.“
„Vögel, welche von den gewöhnlichen ‚Körnern‘ leben, werden
alle Samen, die nicht die Normalform eines ‚Kornes‘ haben, un-
beachtet lassen!°), weil sie sie nicht als genießbar erkennen.“
Was ist dies wohl anders als die Bestätigung der weiter oben
aufgestellten Behauptung, dass ein Tier nur seine Normalnahrung
suche und annehme, alles andere aber gar nicht beachte?!
„Auch Samen, die von der für jede Vogelart normalen Größe
abwichen, fanden keine Berücksichtigung ''). Die klein-
schnäbligen Körnerfresser kümmerten sich nicht im geringsten um
die großen Samen der Eichen und Zirbelkiefer... Der Kreuz-
schnabel verweigerte von Anfang an alle Samen, welche nicht
größer waren als ein Hirsekorn .. .“
18*
376 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
„Oft ist auch die Normalfarbe der Sämereien von ausschlag-
gebender Bedeutung.“ (Der Kreuzschnabel bevorzugte dunkelbraune
Körner, die Koniferensamen ähnelten, ließ dagegen hellgelbe liegen;
Stieglitz und Hänfling wiesen lange Zeit trotz Hungers ein sonst
gern gefressenes Futter zurück, als es blau gefärbt worden war.
Auch durch Pikrinsäure hochgelb gefärbtes Futter wurde ohne
Kostprobe verschmäht.)
Diese Versuchsergebnisse zeigen klar, wie hoch die Ernährungs-
spezialisation der Tiere gediehen ist und wie verfehlt es ist, alle
möglichen Tiere mit allen möglichen Pflanzen einfach zusammen-
zustellen und nun mit menschlichem Raten und Deuten ergründen
zu wollen, wodurch das eine vor den anderen „geschützt“ ist.
Als erste, wichtigste gegebene Tatsache muss die Ernährungs-
spezialisation jeder einzelnen Tierart untersucht und kritisch in
Rechnung gestellt werden, und zwar dies ehe überhaupt mit
einem Fütterungsversuch auch nur begonnen wird. Jedem
Tier darf nur die seinem natürlichen Geschmack entsprechende
Spezialnahrung vorgelegt werden, sonst ist der Versuch ebenso
wertlos, wie wenn man einem Menschen Gras und Regenwürmer
vorlegen würde und untersuchen wollte, wodurch diese beiden vor
ihm „geschützt“ sind. Sie sind sicher nicht „geschützt“, und er
nimmt sie dennoch nicht an — einfach weil er sie nicht mag, weil
sie nicht zu seiner normalen Nahrung gehören.
S. 827. — „In Übereinstimmung mit der guten Ausbil-
dung des Vogelauges'°) sind Schutzfarben äußerst wichtig, weil
sie die Körner vor den Blicken der Vögel verbergen'*).“
Dementgegen möchte ich folgendes festlegen:
Wenn ein scharfäugiges Tier — und die Scharfsichtigkeit
stoßender Raubvögel, nächtlich jagender Eulen u. dgl. ist zuweilen
eine für uns Menschen nahezu unfassbare — wenn ein scharfäugiges
Tier sucht, dann findet es die Samen auch nach der Form alleın
und bedarf der Hilfe der Färbung nicht.
Wir nehmen ja auch im Grün der Wiese jede bestimmte Blatt-
form wahr, wenn wir danach suchen, und wir sehen die unreifen
Äpfel im gleichfarbigen Laub’ ganz gut, wenn wir überhaupt auf
den Baum blicken. Unansehnliche Färbung mag einen Gegenstand
vor einem achtlos Vorübergehenden verbergen, vor einem unab-
lässig danach suchenden Spezialisten aber sicherlich nicht.
S. 827. — „Selbstverständlich ist keine der genannten Schutz-
einrichtungen vollkommen zuverlässig. Besonders die kleinen Samen
und Früchte haben viel unter Vogelfraß zu leiden, aber
diese Tatsache ist von größter Bedeutung einerseits für
die Erhaltung unserer Körnerfresser im Winter... und
anderseits für die Vernichtung zahlreicher Unkraut-
samen!P).“
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 277
Ich möchte niemanden kränken — aber dieser Satz erscheint
mir wie ein Bocksprung der Logik. Die Samen sind geschützt —
aber wie gut ist es, dass sie nicht geschützt sind, weil dadurch
die Körnerfresser ım Winter die nötige Nahrung finden und Un-
kräuter vernichtet werden.
Auch aus dem Anhange zur Arbeit des Autors — worin etliche
Einrichtungen besprochen werden, die „ohne weiteres als Schutz-
mittel gegen Tierfraß erkennbar sınd“ (S. 833), gegen Vögel aber
nichts nützen, daher „anderen Tieren“ gegenüber wirksam sein
müssen — ließe sich leicht eine Lese bedauerlicher Erzwungen-
heiten herausgreifen.
Nur etliche Beispiele.
Auf S. 833 spricht der Autor von den Borstenhaaren im Innern
der Rosenfrüchte.
„Über die Funktionen dieser Haare ist meines Wissens bis
jetzt nichts bekannt. Nach eingehender Untersuchung der Frage
glaube ich ihre Bedeutung darin gefunden zu haben, dass
sie als Schutzeinrichtung gegen Mäuse wirken"), welche
unbefugterweise den harten Kernen (nicht dem Fleische!) der
Hagebutten nachstellen.“
Ich kann mir mit aller redlichen Mühe nicht vergegenwärtigen,
wie sich ein Unbefangener ernstlich das Entstehen der Borsten-
haare in den Rosenfrüchten im Wege einer Selektion durch Mäuse
vorstellt. Man halte sich vorurteilsfrei das Walten der Auslese
vor Augen — und man wird nicht begreifen, wozu solche abge-
quälte Unbedingtdeutungen nur ersonnen werden. Gedient ist doch
niemandem damit, am allermindesten der Wissenschaft.
Auf S. 834 wırd die Tannirhaltigkeit der peripheren Schichten
mancher Samenschalen besprochen; gegen Vögel wirkt sie nicht,
da diese die Früchte unzerkleinert verschlingen.
„Die Bedeutung der geschilderten Einrichtungen erhellt viel-
mehr aus Erfahrungen, die jedermann selbst schon gemacht hat.
Wenn man beim Verzehren von Johannis-, Stachel- oder Wein-
beeren zufällig einmal auf einen Kern beißt, nımmt man sofort
einen intensiv bitteren und zusammenziehenden Geschmack wahr
und hütet sich deshalb, ein zweites Mal einen Kern zu verletzen. —
Ebenso dürfte es den Säugetieren beim Vertilgen solcher
und ähnlicher Fleischfrüchte ergehen'®. Auf diese Art
wird die drohende Vernichtung!‘) der Kerne durch Säugetiere
vermieden...“
Zerbeißen wir und die Säugetiere (welche?) die Weinbeeren-
kerne wirklich darum nicht, weil sie bitter sind? Und würden
wir wirklich alle zerbeißen, wenn sie nicht bitter wären? Wurden
wirklich alle nicht bitteren zerbissen und starben aus — nur so ist
doch Selektion denkbar? Ich glaube, es kümmert sich kein Wein-
278 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln etc.
trauben fressendes Tier um die Kerne dieser Früchte; es spuckt sie aus
oder verschluckt sie, gleichgültig, ob sie bitter sind oder nicht,
worauf sie sicher vielfach, wie beim Menschen, unverdaut den Darm
passieren. Dass in diesem Falle irgendwo eine „drohende Ver-
nichtung“, die durch Bitterwerden abgewehrt wird, gesehen werden
könnte, wird jedem Unbefangenen befremdlich scheinen.
Noch ein Beispiel für Annahmen und Beweise, die sich um
sich selbst drehen.
S. 835. — „Bei den unreifen Fleischfrüchten ist der Wert
dieser Eigenschaften des Fruchtfleisches (es handelt sich um den
Gehalt an schlechtschmeckenden oder giftigen Stoffen) völlig klar.
Es darf nicht verzehrt werden, weil die Samen noch nicht die
nötige Ausbildung erfahren haben. Schwieriger liegen die Verhält-
nisse bei denjenigen reifen Früchten, welche den schlechten Ge-
schmack bewahrt haben. Vielleicht soll der unbefugte Fraß ge-
wisser Tiere verhindert werden, die das Fleisch stückchenweise
vertilgen, ohne dabei die Kerne zu verbreiten; z. B. wäre an manche
gefräßige Schneckenarten, mehrere Raupen, Würmer und einige
kleinere Säugetiere zu denken. Die widerlich schmeckenden Arten
haben vor den angenehmen den Vorteil, dass sie von solchen Tieren
nicht angegangen werden können und trotzdem für Vögel genießbar
bleiben. Allerdings ist dann ebensogut der befugte Fraß der Säuge-
tiere unmöglich; wenn wir aber bedenken, dass schlecht schmeckende
Fleischfrüchte gewöhnlich an Standorten wachsen, die nur für Vögel
leicht erreichbar, für Säugetiere aber unzugänglich sind, so scheint
dieser Einwand wesentlich gemildert zu sein.“
Wohl nicht zu mildern ist indessen der Einwand, dass wir mit
solehen Betrachtungen nicht vorwärts kommen können, sondern
nur ım Kreise gehen.
Lassen wir es bei diesen Proben — deren wir ungezählte
herausgreifen könnten — bewenden und zitieren wir, was der Autor
zusammenfassend über die vorangegangenen Versuche, die unreife
und halbreife Samen zum Gegenstande hatten, sagt.
S. 320. — „Als Schutzmittel gegen unbefugten Vogelfraß ist
die chemische Beschaffenheit also kaum zu deuten. Diese Fest-
stellung ist insofern wichtig, als die chemischen Eigenschaften der
reifenden Früchte wiederholt als Schutzeinrichtung gegen Vögel
angesprochen wurden und gegenüber anderen Tieren!) (Säuge-
tieren, Schnecken, Raupen) tatsächlich auch wirksam sind.“
Hier — beim Versagen der chemischen Schutzmittel — stellen
sich wieder die typischen „anderen Tiere“ der Schutzmitteltheorie
ein, um die Theorie zu retten.
Was die reifen Samen anbelangt, so fasst sich bei diesen
der Autor experimentell kürzer.
Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete. 279
S. 821. — „Größere Samen und (nichtfleischige!) Früchte aller
Familien sind ıhrer gelblichen oder bräunlichen Farbe halber schlecht
sichtbar und bieten wegen ihrer Härte dem Schnabel der Körner-
fresser manche unüberwindliche Schwierigkeiten. — Kleine Samen
und Früchte besitzen ebenfalls eine Schutzfarbe, sind aber oft nach-
giebig und müssen massenhaft gebildet werden, damit eine
genügende Anzahl am Leben bleibt. Von großer Bedeutung
sind auch gute Verbreitungseinrichtungen . .. u. S. w.
Das ist alles, restlos alles, was uns von den „Schutzeinrich-
tungen“ der nichtfleischigen Samen und Früchte gegen „unbefugten“
Vogelfraß geblieben ist.
Die chemischen Schutzmittel — Geruch, Geschmack, Giftig-
keit — haben uns bei genauem Hinsehen vollkommen im Stiche
gelassen. Nicht nur uns Zweifler, sondern auch den Forscher, der
auszog, ihre Wirksamkeit zu erweisen. Auch die mechanischen
Waffen — Haare, Stacheln und andere dräuende Gebilde — sind
laut experimentell gewonnener Erfahrung desselben Forschers ın
Anbetracht der Unempfindlichkeit der Mundhöhle der Vögel nicht
als wirksame „Sehutzmittel“ anzusprechen.
Bleibt uns nichts, nichts als die dürftigen Eigenschaften einer
unansehnlichen Färbung und — nicht einmal für alle — einer
harten Samenschale.
Beide gewinnen uns wohl kaum mehr ab als ein zweifelndes
Lächeln.
Was die unansehnliche Färbung anbelangt, so denke ich da
an die Spechte und Spechtmeisen, die ich im benachbarten Wald-
parke des kaiserlichen Lustschlosses Schönbrunn so oft beobachtete.
Ihre Nahrung ist nicht unansehnlich gefärbt — sie ist überhaupt
unsichtbar. Sie ist verdeckt unter Baumrinde u. dgl. — und die
Vögel finden sie doch!
Wenn alle Tiere verhungern müssten, deren Nahrung nicht
greli und auffällig gefärbt vor ihnen liegt — dann könnten wir
den Umfang unserer Zoologiebücher wohl gewaltig reduzieren.
Nein — jedes Tier weiß seine Normalnahrung zu finden, sie
mag grellfarbig, schutzfarben oder überhaupt nicht sichtbar, ver-
borgen in Holz oder Erde sein. Es hat ja den ganzen Tag nichts
zu tun als seine Nahrung zu suchen. Überdies sehen und kennen
ja die körnerfressenden Vögel schon von weitem die Pflanzen, deren
Samen ihnen zur Nahrung dienen. Diese Samen unter den ihnen
bekannten Pflanzen aufzupicken, haben sie Scharfblick und Zeit
genug.
Überdies beweist ein naiver Blick in die Natur: die unansehn-
liche Färbung der Samen ist kein Hindernis, dass nicht ungemessene
Vogelscharen diese Samen wirklich zu finden und von ihnen zu
leben wüssten.
280 Heikertinger, Zur Frage von den natürlichen Pflanzenschutzmitteln ete.
Und gleiches gilt von der harten Samenschale. Die Samen
werden gefressen trotz der harten Schale und wenn ein Same wirk-
lich einmal für einen Vogel zu hart ist, so ist dies eben Zufall.
Einen Vorteil gegenüber den anderen, gefressenen Samen aber hat
der harte Same nicht, denn die Pflanzen mit weicheren Samen sind
genau so existenzfähig wie die hartsamigen — und einzig und allein
nur darum handelt es sich doch. Zudem sagt der Autor selbst,
dass viele dieser Samen „nachgiebig“ seien.
Nein — wir sind mit der ganzen Schutzmittelhistorie — man
verzeihe das drastische Wort — Karussell gefahren und steigen
nun, etwas schwindlig noch, ab. Und zum Absteigen reicht uns
der Autor, der unsere Kreisfahrt geführt, unabsichtlich und unbe-
wusst, selber dıe Hand.
Er weiß es wohl nicht, dass er mit den Worten, die er dieser
Schutzmittelzusammenstellung anfügte, das ganze Problem gelöst hat.
y„:.. Sie müssen massenhaft gebildet werden, damit
eine genügende Anzahl am Leben bleibt.
Das ıst alles, das ganze Um und Auf der Lösung des Pro-
blems — es ist der Satz von der „zureichenden Überpro-
duktion“, den ich weiter vorne aufgestellt habe.
Die „Schutzeinrichtungen“ aber sind endgültig versunken.
* *
*
Und nun noch ein letztes Wort.
Was verliert die Deszendenzlehre, wenn ihr die Schutzmittel-
theorie genommen wird?
Ich denke, wohl nichts.
Dass es Dinge gibt, die man nicht mit Selektion erklären kann,
hat die heutige Wissenschaft längst zur Kenntnis genommen. Dass
es ein Substanzproblem gibt, eine unlösbare Frage nach dem Wesen
der Materie und der Energien, und dass die unendliche Formen-
und Farbenfülle der Natur ein Teil dieses unlösbaren Problems
der Materie ist und bleiben wird -—— das konnte die biologische
Wissenschaft wohl nur vorübergehend vergessen. Formen und
Farben ohne Bedeutung weist uns das Mineralreich zur Genüge.
Und der „Kampf ums Dasein“ darf kein Schlagwort sein, das
uns blind für alles andere macht. Es ist nicht wahr: Die Pflanze
kämpft gar nicht mit dem Tier, sondern sie zahlt kampflos einen
Tribut. Und sıe kann ıhn zahlen, weil sie neben dem Tribut noch
Individuen genug hat, die ihre Art in gleicher Fülle fortpflanzen.
Und wenn wir die letzten Ursachen hereinziehen, die den
Kampf der Theorien einst entfacht, die Ursache, warum die Selek-
tionstheorie einst geschaffen wurde — nämlich das eifrige Ver-
teidigen und Begründen der damals jungen, stark bekämpften Des-
zendenztheorie — dann müssen wir uns wohl fragen, ob der Lärm
4
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 351
mit dem Selektionsproblem nicht heute schon etwas überlebt, zu
spät, im Grunde schon zwecklos ist.
Denn die Deszendenztheorie, die damals verteidigt werden
musste mit allen Mitteln, sie ıst heute die unbeschränkte Herrscherin
im Reiche der biologischen Wissenschaften. Wir brauchen nicht
mehr zu fürchten, sie zu verlieren, auch wenn wir an die Allmacht
der Selektion niımmermehr glauben wollen, auch wenn wir den
Kampf ums Dasein in etwas anderem Lichte sehen als die nächst-
vordere Forschergeneration.
Wir dürfen uns frei fühlen und unbeschwert — das was an
echten Werten die Naturwissenschaft des letzten Halbjahrhunderts
errungen, die neue Blüte seit Darwin, das kann uns nicht mehr
genommen werden und das nehmen auch wir ıhr nicht. Auch dann
nicht, wenn wir manchen Auswüchsen der Selektionstheorie ent-
gegentreten, auch dann nicht, wenn wir hinter Fragen, die beant-
wortet schienen, wieder das alte, peinliche Fragezeichen setzen.
Auch Zurückgehen kann ein Fortschritt sein, wenn es das
Zurückgehen von einem Irrtum war. Und ein Fragezeichen an
richtiger Stelle kaun tieferes Wissen sein als eine irrige Antwort.
Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Ein Beitrag zur Entwicklungslehre.
Zusammenfassende Darstellung der eigenen experimen-
tellen Untersuchungen.
Von Dr. Erich Toenniessen,
Privatdozent für innere Medizin, Oberarzt der medizinischen Klinik.
Aus der medizinischen Klinik zu Erlangen (Direktor: Geh. Hofrat Penzoldt).
Robert Koch hatte ım Jahre 1878 durch Anwendung neuer
Methoden den Beweis erbracht, dass das Reich der Mikroben aus
verschiedenen Arten besteht, die ın ihren Eigenschaften konstant,
artfest sind. Die Lehre von der Beständigkeit der verschiedenen
Bakterienarten wurde durch ihn begründet und gelangte zunächst
zur uneingeschränkten Geltung. Bald aber zeigte sich durch An-
wendung der gleichen Methoden, dass innerhalb der Artfestigkeit
eine sehr weitgehende Variabilität besteht. Eine außerordentliche
Zahl von Arbeiten beschäftigte sich mit dieser Frage; nur einige
seien angeführt, um den Gang der Forschung kurz darzulegen.
G. Hauser war wohl der erste, der Variabilitätserscheinungen ein-
wandfrei nachwies (1885) und eine Bresche in das starre Dogma
legte. Später beschäftigte sich Kruse ausführlicher mit den Er-
scheinungen der Variabilität und stellte in weitergehendem Maße
Versuche über die Vererbung der erzielten Abänderungen an (1891).
Neisser und Massini führten den von de Vries (1901) geschaffenen
Begriff der Mutation in die Bakteriologie ein (1905) und gaben die
289 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität Dei Bakterien.
Anregung zu mehreren Arbeiten auf diesem etwas enger begrenzten
Gebiete. Die Gesichtspunkte der allgemeinen, in ihrem jetzigen
Stande noch sehr jungen Vererbungslehre wurden jedoch erst ın
den letzten Jahren auf die Bakterien angewendet. Dies geschah
hauptsächlich durch Beijerinck, Baerthlein, Eisenberg und
den Verfasser.
Die Bakterien sind in mancher Beziehung sehr geeignet zu
Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Zunächst sind sie leicht
als erblich-einheitliches Material, als „reine Linie“ zu gewinnen.
Die Generationen folgen sehr rasch aufeinander, so dass in kurzer
Zeit eine große Zahl von Generationen überblickt werden kann.
Die Lebensbedingungen sind sehr einfach: die Bakterien sind daher
die am leichtesten zu züchtenden Lebewesen, an denen sich die
Einwirkung äußerer bekannter Reize durch die Erscheinungen der
Variabilität und Vererbung beobachten lässt. Man kann verhältnis-
mäßig intensive Einflüsse zur Herbeiführung der Variationen an-
wenden, ohne dass die Vitalität geschädigt wird. Dass die Bakterien
wegen ihres einfachen morphologischen Verhaltens und der an-
scheinenden Einfachheit ihrer sonstigen sichtbaren Eigenschaften
sich schlecht zur Beobachtung von Variabilitätserscheinungen eignen,
wie schon behauptet wurde, ist nicht zutreffend; im Gegenteil sind
sie zu sehr auffallenden und vielseitigen Abänderungen befähigt.
Der Verfasser wurde durch eine zunächst unwillkommene Be-
obachtung veranlasst, sich an dieser Forschung zu beteiligen. Bei
dem Versuch, den im folgenden erwähnten pathogenen Bakterien-
stamm rein zu gewinnen, fanden sich bei der Kultivierung auf dem
Schrägagar stets wieder Teile des Bakterienrasens, welche sich in
ihrem Aussehen von dem übrigen weitaus größeren und typischen
unterschieden und sich aus morphologisch stark abweichenden Indi-
viduen zusammensetzten. Diese atypischen Teile wurden zunächst
für eine Verunreinigung der Kultur gehalten, obwohl sie auch nach
den Tierpassagen immer wieder auftraten, bis sich endlich ergab,
dass sie unter bestimmten Bedingungen ganz gesetzmäßig aus dem
Typus entstanden. Es handelte sich also um eine Variation und
zwar, wie Variabilitäts- und Vererbungsversuche ergaben, um eine
Mutation. Im Laufe der ziemlich langwierigen Versuche wurden
noch zwei andere Variationsformen Bereit, Die Ergebnisse sind
in mehreren Mitteilungen beschrieben. Als ich : einzelnen
Varıationsformen nen genau untersuchte, fand ich, dass
jede neu aufgefundene Variation auch für die vorher gewonnenen
Resultate neue Gesichtspunkte ergab und dass die Eigentümlich-
keiten der einzelnen Variationsformen erst durch ihre Gegensätze
zu den anderen Variationen klar erkannt werden können. Aus
diesem Grunde scheint mir eine zusammenfassende Darstellung
meiner Befunde nicht überflüssig.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien, 98
U
Allgemein-biologische Grundbegriffe.
Einige allgemein-biologische Grundbegriffe seien insoweit vor-
ausgeschickt, als sie für die Beurteilung der experimentell aufge-
fundenen Tatsachen ın Betracht kommen. Es ist dies notwendig,
um meine Auffassung der Befunde zu begründen und auch um die
angewendete Nomenklatur klarzustellen. Die Nomenklatur der Ver-
erbungsforschung ist leider durchaus nicht einheitlich. Wenn ich
außerdem auch auf einige Fragen kurz eingegangen bin, die zu
meinen Befunden nicht in unmittelbarster Beziehung stehen, so ge-
schah dies einerseits, weil ich eine kurze kritische Zusammenstellung
dieser Fragen in Beziehung zu neuen Befunden schon durch die in
der Vererbungslehre herrschende Divergenz der Meinungen für ge-
nügend begründet halte, andererseits weıl sich bei dem Durchdenken
meiner Befunde auch einige z. T. neue Anregungen allgemein-bio-
logischer Art ergeben haben.
Der Artbegriff. Die „reine Linie“. Die Vererbungs-
forschung befasst sich mit den Gesetzen der Beständigkeit und Ver-
änderlichkeit der Arten, ıhre Folgerungen haben den Artbegriff zum
Gegenstand. Bei dem Versuch, sich über den Artbegriff eine klare
Vorstellung zu bilden, hat man zwei Gesichtspunkte zu berück-
sichtigen. Die Systematik fasst auf Grund der unmittelbaren Be-
obachtung den Artbegriff morphologisch-physiologisch und bezeichnet
— wobei ich mich besonders an Plate’s Definition halte — als
Art jede Vielheit von Individuen, die ın ihren sichtbaren Eigen-
schaften innerhalb eines gewissen Spielraumes gleich sind, sich
untereinander fortpflanzen und deren Nachkommen wiederum in
einem gewissen Spielraum die gleichen Eigenschaften wie die Eltern
besitzen. Dagegen ist der Begriff der „natürlichen Art“ ein gene-
tıscher und ın der Deszendenztheorie begründet. Wir nehmen an,
dass die jetzigen Arten sich aus anderen Arten, sogen. Vorstufen,
entwickelt haben und zwar, dass verwandte Arten aus gemeinsamen
Vorstufen entstanden sind. Wir bezeichnen demnach als natür-
liche Art jede Generationsfolge von Individuen, die sich früher
oder später von einer solchen gemeinsamen Vorstufe abgespalten
und eine selbständige Entwicklungsrichtung eingeschlagen hat — oder
kürzer gesagt: eine genetische Einheit von Individuen. Es ist ohne
weiteres einleuchtend, dass als Endprodukte der phylogenetischen
Entwicklung unter dem Einfluss ähnlicher Außenbedingungen vıele
äußerst ähnliche natürliche Arten entstehen konnten, welche ın
morphologisch-physiologischer Beziehung kaum zu trennen sind und
demgemäß nur eine einzige systematische Art bilden. Die syste-
matische Art schließt also, wie besonders de Vries und Johannsen
betont haben, ein Gemenge natürlicher Arten ein. Sie stellt eine
Kollektivart dar, deren Abgrenzung gegen andere Arten ohne eine
gewisse Willkür gar nicht möglich ist.
284 Toenniessen, Uber Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Bei sexuell sich fortpflanzenden Arten wird der Artbegriff noch
weiter kompliziert durch die Möglichkeit der Kreuzung mit ver-
wandten natürlichen Arten; die Generationsfolge bleibt also nicht
einheitlich in sich geschlossen und es kommt dadurch zur Ent-
stehung komplizierter Polyhybride. Der Artbegriff lässt sich hier
also auch durch Verwendung deszendenztheoretischer Gesichtspunkte
nicht scharf umgrenzen (Plate), so dass er bei vielen höheren Arten
nur systematisch, etwa nach der Definition Plate’s noch am
schärfsten zu präzisieren ist.
Bei den asexuellen Arten, wie den Bakterien, lässt sich da-
gegen der Begriff der natürlichen Art aufrecht erhalten: denn bei
diesen ist eine Kreuzung verwandter Arten unmöglich und die
natürlichen Arten bleiben vom Zeitpunkt ihrer Entstehung an in
sich geschlossen.
Die Erkenntnis, dass die Arten der Systematik zum mindesten
ein Gemenge vieler natürlicher Arten, bei den sexuellen Arten oft
sogar eine außerordentlich komplizierte Kreuzung natürlicher Arten
enthalten, ist für die Methodik der experimentellen Variabilitäts-
forschung von fundamentaler Bedeutung. Denn es ist klar, dass
wir zum Studium der Veränderlichkeit einer Art erblich einheit-
liches Material verwenden müssen, da sonst eine anscheinend experi-
mentell erzielte Veränderung durch Eigenschaften einer anderen
beigemischten Art (bei Bakterien durch eine sogen. „Verunreinigung“
der Kultur) oder bei den Polyhybriden der höheren Arten auf un-
gleicher Vererbung einer Kombination von Eigenschaften (den
Mendel’schen Gesetzen entsprechend) beruhen kann. Die erste
Aufgabe vor Anstellung von Versuchen ist also die Gewinnung
erblich einheitlichen Materials. Wie dies bei höheren Arten erreicht
wird, braucht hier nicht erörtert zu werden. Bei Bakterien er-
halten wir erblich einheitliches Material relativ einfach dadurch,
dass wir uns eine Reinkultur herstellen. Dies gelingt durch das
Burri’sche Tuscheverfahren oder mit genügender Sicherheit durch
wiederholte Plattenisolierungen (Eisenberg, Baerthlein). Eine
solche Kultur entspricht dem von Johannsen aufgestellten Be-
griff der „reinen Linie“: „eine reine Linie ist der Inbegriff aller
Individuen, welche von einem einzelnen, absolut selbstbefruchtenden,
homozygotischen Individuum abstammen.*
Bei den höheren Arten (speziell beim Menschen) ist das Ar-
beiten mit reinen Linien selten bezw. nie möglich, da es sich meist
um komplizierte Polyhybride handelt. Die nach Einwirkung eines
bekannten äußeren Reizes eintretende Variation ist also nicht nur
von dem bekannten Reiz, sondern auch von unbekannten inneren
Faktoren (Variation durch mendelnde Eigenschaften) abhängig. Bei
reinen Linien ist dagegen die Variation eindeutig durch den äußeren
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 985
Reiz bestimmt. Demnach ıst das Verhalten reiner Linien „die
erste Grundlage für die Erblichkeitslehre* (Johannsen).
Selbstverständlich sind die bei Bakterien zu beobachtenden
Gesetzmäßigkeiten nicht ohne weiteres auf die höheren Tiere zu
übertragen; immerhin können sie zu neuen Fragestellungen und
Gesichtspunkten führen, wenn die vergleichend-physiologische Me-
thode mit richtiger Kritik geübt wird.
Vererbung und Variabilität. Die Vererbungsforschung
nimmt an, dass die Artmerkmale durch irgend eine, allen Indi-
viduen der Art gemeinsame, innere Ursache fixiert sind und bei
der Fortpflanzung von den Eltern durch die gleiche Ursache auf
die Nachkommen übertragen, vererbt werden. Diese Vererbung
geschieht bei den sexuellen Lebewesen durch Vermittlung der Keim-
zellen, bei den asexuellen durch das Soma der Eltern unmittelbar
— jedoch nur anscheinend, wie sich aus folgendem ergeben wird —
oder ganz allgemein gesagt: durch eine „Vererbungssubstanz“.
Nägeli hat für diese Substanz die Bezeichnung ldioplasma einge-
führt. Weismann hat ım Anschluss an den von ihm geschaffenen
Unterschied zwischen Soma und Keimzellen die Vererbungssubstanz
Keimplasma genannt und zunächst angenommen, dass das Keim-
plasma nur in den Keimzellen vorhanden sei. Auf der Kontinuität
des Keimplasmas beruht nach W eis mann die Beständigkeit der Arten.
Auf Grund neuerer Befunde müssen wir jedoch annehmen, dass
zwischen den sexuellen Lebewesen mit differenzierten Keimzellen
und den asexuellen ohne differenzierte Keimzellen, z. B. den Bak-
terıien, hinsichtlich der Zusammensetzung aus Soma und Keim-
plasma ein prinzipieller Unterschied nicht vorliegt. Denn erstens
besitzen die sexuellen Lebewesen neben ihrer differenzierten Keim-
bahn auch ın ihren Körperzellen, d. h. in ihrem Soma Keimplasma
(Roux, 13), so dass man ein generatives und somatisches Keim-
plasma unterscheiden muss (wie zuletzt auch Weismann zuge-
geben hat); andererseits kommt, wie neuere Untersuchungen be-
sonders Swellengrebel’s zeigen, auch bei den Bakterien (zunächst
bei Sporenbildnern, nämlich Milzbrand, nachgewiesen) für die Fort-
pflanzung nicht das ganze Soma der Elternzelle ın Betracht, sondern
nur ein vom Oytoplasma und dem zentralen Chromatinfaden sich
abtrennender Teil, und zwar wird ein Teil der Vererbungssubstanz
zur Sporenbildung verwendet — er ist gewissermaßen morpho-
logisch differenziertes Keimplasma — ein anderer Teil bleibt ım
Soma zurück und kann durch Teilung des Somas zur Vererbung
führen; er ist das Analogon zum somatischen Keimplasma der Lebe-
wesen mit differenzierter Keimbahn. Es handelt sich demnach nur
um einen graduellen Unterschied, der darin besteht, „dass der ma-
terielle Zusammenhang zwischen zeugenden und erzeugten Indi-
viduen bei der ungeschlechtlichen Fortpflanzung viel inniger ist
286 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
und viel länger dauert als bei der geschlechtlichen“ (Haeckel, 3).
Auf Grund des Vorstehenden könnte man auch bei den Bakterien
den Begriff des Keimplasmas den Vererbungsvorgängen unbedenk-
lich zugrunde legen. Ich möchte jedoch der Bezeichnung Idio-
plasma den Vorzug geben: denn das Wort Idioplasma ist eine ein-
heitliche Bezeichnung für die Vererbungssubstanz und betont außer-
dem die Arteigentümlichkeit der Vererbungssubstanz.
Das Idioplasma enthält die Artmerkmale nicht als solche fertig
ausgebildet, sondern in irgendeiner anderen Weise ursächlich fixiert.
Wir nehmen an, dass die Artmerkmale als „Anlagen“ in der Ver-
erbungssubstanz enthalten sind, und zwar, dass den einzelnen Art-
merkmalen bestimmte Anlagen entsprechen. Der Begründer dieser
Theorie ist Darwin (Pangenesistheorie). Durch die Mendel’schen
Forschungen hat die Darwin’sche Theorie sehr an Wahrschein-
lichkeit gewonnen und wir können es jetzt als eine Grundanschauunng
für die Vererbungsforschung betrachten, dass die einzelnen Art-
merkmale bestimmten Anlagen entsprechen und also die Vererbungs-
substanz aus emzelnen Erbeinheiten zusammengesetzt ist. Diese
besitzen unter Umständen eine beträchtliche Selbständigkeit und
können bei Kreuzungen sogar selbständig abgespalten werden.
Natürlich können wir uns keine bestimmte Vorstellung über die
Struktur dieser Anlagen machen: aber die Annahme substantiell
bedingter Erbeinheiten erscheint begründet. Lediglich eine „Fähig-
keit“ der Vererbungssubstanz zur Bildung der Artmerkmale anzu-
nehmen ist etwas selbstverständliches und keine Erklärung, wie
auch Plate sagt. Im Laufe der Forschung sind für diesen Begriff
mehrere Namen geprägt worden: Gene (Johannsen), Erbeinheiten
(Baur), Faktoren (Plate), Pangene (Darwin, de Vries), Deter-
minanten (Weismann), Anlagen (O. Hertwig).
Unter gleichbleibenden Bedingungen zeigen die Artmerkmale
große Beständigkeit. Da die Artmerkmale bei der Ontogenese aus
den Anlagen in ıhrer späteren Form schon gebildet werden, bevor
sie durch adäquate äußere Reize hervorgerufen sein können
(O. Hertwig), so folgt, dass die Umwandlung der Anlagen in die
Artmerkmale aus inneren Gründen geschieht, nämlich aus dem Ver-
mögen, sich in der für die Art charakteristischen Weise zu ent-
wickeln. Dieses Beharrungsvermögen der Anlagen muss
als die Ursache der Vererbung angesehen werden.
Durch Einwirkung äußerer Reize kann aber die Entwicklung
der Anlagen beeinflusst werden, sobald die Stärke des einwirkenden
Reizes das Beharrungsvermögen der Anlagen übertrifft. Hierbei
sind adäquate Beziehungen vorhanden. Die Anlagen besitzen dem-
nach die Fähigkeit, auf äußere Reize zu reagieren. Diese Re-
aktıonsfähigkeit des Idıioplasmas auf äußere Reize ist die
Ursache für die Variabilität.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 987
Dies ist noch näher zu erörtern. Zunächst der Begriff der Ursache. Um den
Begriff der Ursache ist in den letzten Jahren ein besonders lebhafter Streit ent-
brannt. Den Ursachenbegriff ganz zu eliminieren, wie es die Anhänger des „Kon-
ditionismus“ tun und einen Vorgang lediglich als einen Komplex von Bedingungen
zu erklären, halte ich nicht für richtig. Bedingungen ermöglichen einen Vorgang
nur, höchstens modifizieren sie ihn: „wirkende Bedingungen sind sprachlich und
sachlich ein Unding‘“ wie Martius (Das Kausalproblem in der Medizin, Beiheft V
der med. Klinik 1914) sehr richtig betont. Denn sie sind mit dem Begriff der
Ursache verbunden. Wollten wir den Ursachenbegriff als mystisch ganz eliminieren,
so müssten wir auch den Begriff der Kraft, der potentiellen und kinetischen Energie
in der Physik und Chemie, ja sogar den der Funktion im Sinne der höheren Mathe-
matik eliminieren Niemand wird behaupten können, dass dies mystische Begriffe
sind. Ich fasse den Ursachenbegriff energetisch auf wie Martius. In diesem
Sinne ist die Ursache für einen Vorgang ein materielles Substrat mit der ihm inne-
wohnenden latenten Energie; die Äußerung dieser Energie (= Ablauf des Vorgangs)
erfolgt durch den auslösenden Faktor, sämtliche äußere und innere Umstände, die
auf die Entstehung und den Ablauf des Vorganges irgendeinen Einfluss auszuüben
imstande sind, werden als Bedingungen bezeichnet.
Weiterhin möchte ich bemerken, dass zur Erklärung der Vererbung zwar un-
bedingt ein Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der gleichen Artmerk-
male wie bei den Eltern angenommen werden muss. Doch kann die Bildung der
Artmerkmale nicht allein auf ein Beharrungsvermögen der Anlagen zurückgeführt
werden, etwa derart wie beim Wachstum einer Zelle lediglich durch die Teilung
wieder die gleichen Zellen entstehen. Sonst wäre ja keine Differenzierung zu ver-
schiedenen Zellen und Organen möglich. Wir müssen also annehmen, dass bei der
Vererbung die Umsetzung der Anlagen in die Artmerkmale durch irgendwelche
Reizwirkungen beeinflusst wird (Theorie der Biogenesis von O. Hertwig) und dass
also eine Reaktionsfähigkeit des Idioplasmas auf Reize nicht nur bei der Variation,
sondern auch bei der Vererbung beteiligt ist: Die Reize, welche bei der Vererbung
neben dem Beharrungsvermögen der Anlagen zur Bildung der Artmerkmale führen,
sind hauptsächlich innerer Art, wie durch die Wirkung bestimmter Drüsen mit
innerer Sekretion bewiesen ist. Diese Reize sind die gleichen wie bei den Eltern,
infolgedessen ist auch das Anlageprodukt das gleiche. Außerdem lässt sich auch
die Wirkung äußerer Reize nicht ausschließen: sie entsprechen bei der unveränderten
Vererbung der Artmerkmale dem für die Art charakteristischen Milieu. Bei der
Variation kommen dagegen neue äußere Reize dazu: infolgedessen wird das Anlage-
produkt abgeändert, während es lediglich auf Grund des Beharrungsvermögens der
Anlagen und der Einwirkung der bisherigen Reize das gleiche geblieben wäre. Doch
spielt auch bei der Variation das Beharrungsvermögen der Anlagen eine wesentliche
Rolle; denn nicht alle Artmerkmale werden durch irgend einen neuen äußeren Reiz
abgeändert, die meisten werden unverändert vererbt. Auch wirkt der Reiz nur insoweit
variierend, als er das Beharrungsvermögen der Anlagen überwindet. Es zeigen sich
also bei dem Vorgang der Vererbung die gleichen Energieformen des Idioplasmas
beteiligt wie bei der Variation. nämlich einerseits ein Beharrungsvermögen, anderer-
seits die Fähigkeit, auf Reize äußerer und innerer Art zu reagieren. In dieser Be-
ziehung sind Vererbung und Variation nahe verwandte Vorgänge, die Variation nur
eine durch äußere Reize modifizierte Vererbung.
Hienach ist die Vererbung vom Kausalitätsstandpunkt folgendermaßen zu
analysieren. Ursache der Vererbung ist die Vererbungssubstanz hauptsächlich auf
Grund ihres Beharrungsvermögens, sich in den Nachkommen ebenso zu entwickeln
wie in den Eltern, außerdem auf Grund ihrer Reaktionsfähigkeit gegenüber äußeren
und inneren Reizen, der auslösende Faktor sind die gleichen inneren und äußeren
Reize, die bisher auf die Entwicklung und das Leben der Art eingewirkt haben,
3edingungen sind das Wachstum und sämtliche Umstände, welche das Wachstum
ermöglichen. — Ursache für die Variation ist ebenfalls das Idioplasma, jedoch haupt-
258 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
sächlich auf Grund seiner Reaktionsfähigkeit auf äußere Reize, weniger auf Grund
seines Beharrungsvermögens, auslösender Faktor ist ein neuer äußerer Reiz, Be-
dingungen sind wiederum alle Umstände, welche das Wachstum und das Leben
der Generationsfolge ermöglichen. Man ist also gezwungen, für den Vorgang der
Vererbung mehrere Ursachen anzunehmen; dies erklärt sich daraus, dass der Vor-
gang der Vererbung in Wirklichkeit kein einziger, einheitlicher Vorgang ist, sondern
sich aus mehreren Vorgängen zusammensetzt. Ebenso ist es bei der Variation
Grundformen der Variabilität. Die experimentell herbei-
geführten Variationen zeigen in der Art und Weise, wie sie äußer-
lich in Erscheinung treten, regelmäßig wiederkehrende Gesetzmäßig-
keiten, auf Grund deren man verschiedene Formen der Variation
scharf voneinander trennen kann. Die von mir beobachteten Varia-
tionen unterschieden sich durch den sichtbaren Variationseffekt,
durch ihre Entstehungsweise und hauptsächlich durch den Grad
ihrer Erblichkeit. Es zeigte sich, dass die Erblichkeit zwar nicht
zur absoluten Trennung der Variationen in erbliche und nicht erb-
liche brauchbar war, da sich die Varianten nicht prinzipiell, sondern
nur dem Grade nach hinsichtlich der Erblichkeit unterschieden.
Diese Unterschiede waren aber sehr scharf und ermöglichten es,
die der sichtbaren Variation zugrunde liegende Veränderung des
Idioplasmas zu analysieren. Auf Grund meiner Befunde kam ich
in teilweiser Übereinstimmung mit den bisherigen Resultaten der
Variabilitätsforschung zu folgender Einteilung der Variationsformen:
1. Die Modifikation. Eine Erbeinheit wird derartig beeinflusst,
dass sie ihr Produkt, das fertige Artmerkmal ın veränderter Weise
(irgendwie modifiziert dem Grade oder der Art nach) bildet, ohne
sich dabei selbst zu ändern.
2. Die Mutation. Eine Erbeinheit wechselt ihren Zustand von
Aktivität. Sie wird völlig inaktiv: retrogressive Mutation, wodurch
das Artmerkmal in den betreffenden Generationen verschwindet,
oder sie wird aus latentem Zustand wieder aktıv: progressive
Mutation.
3. Die Fluktuation. Sie führt als retrogressive Fluktuation zu
einem Verlust, als progressive zu einem Gewinn von Erbeinheiten.
4. Die Kombination. Bei sexueller Fortpflanzung zweier art-
verschiedener Eltern entsteht eine erbliche Verschiedenheit der
Nachkommen gegenüber den Eltern. Diese durch Vermischung
ungleicher Erbsubstanz entstehende Variation richtet sich nach den
Mendel’schen Gesetzen. Zur Entstehung neuer Erbeinheiten führt
sie unmittelbar nicht. Für Bakterien kommt sie, da sich diese
asexuell fortpflanzen, nicht in Betracht.
Vorstehende Einteilung stimmt mit der von Beijerinck ge-
gebenen überein, jedoch nur äußerlich. Denn hinsichtlich der Modi-
fikation und der Fluktuation kam ich zu einer wesentlich anderen
Auffassung. Auch gegenüber manchen anderen heutzutage ver-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 389
breiteten Anschauungen ergaben sich Differenzen; die Begründung
meiner Auffassung wird an der Hand der Tatsachen erfolgen.
An dieser Stelle möchte ich die Begriffe Phaenotypus und
Genotypus kurz erwähnen, welche Johannsen in die Vererbungs-
forschung eingeführt hat. Diese Begriffe gehen von der Tatsache
aus, dass sich eine Art ın ihren sichtbaren Eigenschaften ändern
kann, ohne dass sich die den sichtbaren Eigenschaften zugrunde
liegenden Erbeinheiten zu ändern brauchen. Als Phaenotypus wird
das Gesamtbild der äußerlich sichtbaren Eigenschaften einer Art
bezeichnet, der Genotypus entspricht der wirklichen Zusammen-
setzung einer Art aus den einzelnen Erbeinheiten (Biotypus ist die
Gesamtheit der Individuen des gleichen Genotypus). Phaenotypische
Änderungen brauchen demnach keiner genotypischen Änderung zu
entsprechen: die etwaige gleichzeitige Abänderung des Genotypus
ist erst durch Vererbungsversuche festzustellen.
Die biologische Bedeutung der experimentell er-
zielten Variationen. Die Vererbung erworbener Eigen-
schaften. Die wichtigste Frage bei der Beurteilung einer Variation
ist unstreitig die: führt die Variation zur Überschreitung der Art-
grenzen, kommt sie für die Entstehung neuer Arten in Betracht?
Das Wesentliche der Artumbildung besteht bekanntlich darin, dass
eine Art eine neue Eigenschaft erwirbt, welche erblich ist, d.h.
im Idioplasma als Anlage fixiert wird. Auch durch den Verlust
einer Erbeinheit kann eine Artumbildung eintreten. Infolgedessen
können die Modifikation und die Mutation als artbildende Varıations-
formen nicht gelten, da hierbei die vorhandenen Erbeinheiten den
veränderten Außenbedingungen entsprechend sich nur anders äußern
bezw. ihren Zustand der Aktivität wechseln Die Fluktuation da-
gegen bringt, wie man aus ihrer außerordentlich hohen Erblichkeit
schließen kann, mit großer Wahrscheinlichkeit einen Verlust bezw.
Gewinn von Erbeinheiten mit sich. Die experimentelle Auffindung
dieser neuen Variationsform veranlasst mich, meine Befunde mit
dem Problem der Artumbildung in Beziehung zu bringen und kri-
tisch zu der Möglichkeit der experimentellen Erzielung vererbbarer
Eigenschaften — oder wie meist formuliert: der Vererbung er-
worbener Eigenschaften -— Stellung zu nehmen.
Wollen wir entscheiden, ob durch einen bekannten äußeren
Reiz die Entstehung einer neuen Erbeinheit herbeigeführt werden
kann, so müssen wir uns zunächst über die Rolle der äußeren Reize
bei dem Gewinn nener Erbeinheiten klar sein, so weit dies auf
Grund der bisher bekannten Tatsachen möglich ist. Die Beobach-
tung zeigt uns, dass viele der jetzt vorhandenen Artmerkmale er-
kennbare Beziehungen zu „adäquaten“ Reizen aufweisen. Der Bau
der Sehorgane z. B. wäre ohne den Einfluss von Lichtstrahlen un-
verständlich. Jedoch ist es nicht möglich, durch Anwendung be-
xXXXV. 19
J90 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
stimmter äußerer Reize beliebig die Entstehung neuer vererbbarer
Eigenschaften zu bewirken. Die wesentliche Ursache für die Ent-
stehung neuer Erbeinheiten ist infolgedessen nicht in äußeren Reizen,
sondern in endogenen, der lebenden Substanz innewohnenden Eigen-
schaften zu suchen. Diese bestehen zunächst in der Fähigkeit der
lebenden Substanz und hauptsächlich des Idioplasmas, auf äußere
Reize zu reagieren — wie schon als Ursache der Variation im all-
gemeinen erwähnt wurde. Für die erbliche Erwerbung einer
neuen Eigenschaft muss weiterhin die Fähigkeit des Idioplasmas
vorausgesetzt werden, ein neu aufgetretenes, in Beziehung zu äußeren
Reizen entstandenes Artmerkmal als Anlage in sich zu fixieren.
Dies geschieht für unsere Wahrnehmung unter dem Gewinn neuer
Funktionen und im Sinne des Fortschrittes.
Diese Annahme, welche dem Nägeli’schen Prinzip der Progression entspricht,
scheint mir die natürlichste Erklärung für die Ursache der Fortentwicklung der
Arten zu sein: das Nägeli’sche Prinzip enthält keinen mystischen, teleologischen
Begriff (wie auch O. und R. Hertwig betonen), sondern sucht die Entwicklung
der Arten energetisch zu erklären. Wenn wir mit Haeckel (generelle Morphologie
der Organismen, 2) annehmen, dass lebende Substanz in einem gewissen Stadium
der Erdentwicklung aus anorganischen Vorstufen einmal entstanden sein muss — was
auf Grund des heutigen Standes der Naturwissenschaften ein „logisches Postulat“
(R. Hertwig) ist — so ist das Nägeli’sche Prinzip der Progression nur die Fort-
setzung zu dieser Theorie Haeckel’s. Von diesem Standpunkt aus ist die für uns
im Sinne eines Fortschrittes erfolgende Differenzierung der Lebewesen zu immer
komplizierteren Arten zurückzuführen auf die Außerung einer Energieform. welche
schon für die Entstehung der lebenden Substanz aus anorganischen Vorstufen maß-
gebend war und deren weitere Einwirkung die Fortentwicklung der lebenden Sub-
stanz verursachte. Es handelt sich also um einen Vorgang, der, auf Grund dieser
Energie einmal in Gang gekommen, weiter fortschreitet so lange eben die Differen-
zierungsfähigkeit der lebenden Substanz auf Grund ihrer physikalisch-chemischen
Konstitution ausreicht. Natürlich können wir diese, die Entwicklung der lebenden
Substanz verursachende Energieform ebensowenig wie alle Formen latenter oder
kinetischer Energie, der sogen. „Kräfte‘‘ ihrem Wesen nach erkennen; wir müssen
sie aber ihren experimentell zu beobachtenden Außerangen und Gesetzmäßigkeiten
nach als vorhanden, „gegeben“ hinnehmen.
Neben dieser inneren Entwicklungsfähigkeit spielen aber bei
dem Gewinn neuer Eigenschaften äußere Reize eine wichtige Rolle.
Denn die morphologische und funktionelle Entwicklung der Organe
ist durch die Eigenschaften der adäquaten Reize, beim Auge z. B.
durch optische Gesetze, bestimmt. Man muss also annehmen, dass
äußere Reize bei der Erwerbung neuer Eigenschaften stets beteiligt
sind, auch wenn sie diese Eigenschaften nicht „unmittelbar be-
wirken“, sondern nur auslösende oder modifizierende Faktoren sind.
Auch die Selektion kann unmittelbar keine neuen Erbeinheiten
hervorrufen; sie schafft nur ein Übergewicht der ım Kampfe ums
Dasein tüchtigeren Formen und Individuen. Hierdurch kann aller-
dings die weitere Entwicklung der Art im Sinne eines Fortschrittes
begünstigt oder wenigstens ermöglicht werden, weil die Selektion
dysgenetische Faktoren, die bei der Vererbung eine Neigung zur
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 291
Kumulierung zeigen, ausschaltet. Ebenso schafft die Bastardierung
unmittelbar keine neuen Erbeinheiten, sondern nur eine neue Kom-
bination schon vorhandener Erbeinheiten. Trotzdem möchte ich
den indirekten Einfluss der Selektion und der Bastardierung bei
der Entstehung neuer Erbeinheiten nicht unterschätzen. Denn der
Gewinn neuer Eigenschaften ist auf Grund einer inneren Fähigkeit
bedingt durch den jeweils erreichten inneren Zustand einer Art ın
steter Beziehung zu äußeren Reizen. Dieser innere Zustand ist
sicher durch Selektion und Bastardierung beeinflussbar, wie in vor-
stehendem kurz angedeutet.
Die Vererbung erworbener Eigenschaften müssen wir aus all
dem als eine Grundbedingung für die Entwicklung der Arten vor-
aussetzen. Dies gilt aber nur für die Eigenschaften, die zwar ın
Beziehung zu äußeren Faktoren, aber auf Grund endogener Fähig-
keiten entstanden sind, nicht aber für solche Eigenschaften und
Veränderungen, die beliebig durch äußere Reize (wie durch Ge-
brauch oder Nichtgebrauch) allein bewirkt werden können. Diese
spielen sich innerhalb der Reaktionsbreite der Art ab und führen
nicht zur Veränderung der Vererbungssubstanz.
Daraus geht hervor, dass wir durch äußere Reize nur dann
eine neue erbliche Eigenschaft hervorrufen können, wenn wir durch
den äußeren Reiz eine adäquate, aber noch nicht zur Bildung einer
Erbeinheit fortgeschrittene Differenzierungsfähigkeit des Idioplasmas
treffen. Es erscheint infolgedessen außerordentlich erschwert, ex-
perimentell eine neue erbliche Eigenschaft zu erzielen. Die äußeren
Reize, wie sie jetzt auf die Lebewesen einwirken, sind sich seit
langen Zeiträumen, die weit den Bereich der experimentellen For-
schung überragen, gleich geblieben. Soweit also eine Differen-
zierungsfähigkeit unter Anpassung an die jetzigen Reize möglich
war, ist sie entweder schon zu dem ıhr möglichen Ende gekommen
oder schreitet für unser Wahrnehmungsvermögen unmerklich lang-
sam weiter. Absolut neue, dem bisherigen Milieu einer Art voll-
kommen fremde Reize stellen meist einen groben Eingriff ın die
Lebensbedingungen dar und führen dann lediglich zu einer Schä-
digung. Ich persönlich erachte den experimentellen Beweis für die
Vererbung einer neuen, erworbenen Eigenschaft durch die bisher
beschriebenen Versuche für nicht erbracht, auch wenn die Möglich-
keit dieses Beweises nicht zu leugnen ist. Insbesondere die als
„Mutationen“ beschriebenen Versuche beweisen m. E. nicht die Ver-
erbung erworbener Eigenschaften, da sie zu wenig erblich sind.
Dagegen ist bei meinen Befunden über die Fluktuation (bei der
Zurückverwandlung der retrogressiven Fluktuante) ein außerordent-
licher Grad von Erblichkeit vorhanden; auch wären die Bedingungen
für die Erwerbung einer vererbbaren Eigenschaft gegeben, wie ich
nach Besprechung der Befunde darstellen werde. Allerdings handelt
1135
299 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
es sich auch bei meinen Versuchen nicht um die Erzielung einer
gegenüber dem Ausgangstypus neuen, erblichen Eigenschaft, sondern
nur um die Wiedergewinnung einer experimentell zu Verlust ge-
brachten, also schon einmal vorhandenen Eigenschaft.
Mechanismus der Variationsvorgänge. Im Zusammen-
hang mit meinen Ausführungen darüber, dass zwischen den asexuellen,
einzelligen Lebewesen und den sexuellen ein prinzipieller Unter-
schied in der Zusammensetzung aus Soma und Keimplasma nicht
besteht, möchte ich noch kurz auf die Beziehungen zwischen Soma
und Keimplasma bei der Variation hinweisen.
Variationsvorgänge spielen nicht nur während der Entwick-
lung des Individuums, sondern auch noch im erwachsenen Zustand
eine Rolle. Dass die infolge der Abnützung der Organe, sowie der
Verletzung von Organen beständig notwendige Wiederbildung unter
dem Einfluss des Idıoplasmas steht, zeigen die Regenerationserschei-
nungen. Dass adäquate Reize auch während des erwachsenen Zu-
stands eines Individuums eme sichtbar werdende Veränderung be-
stimmter Anlageprodukte veranlassen können, zeigt die Hypertrophie
mancher Organe durch gesteigerte Funktion. Wie wir uns aber
diesen Vorgang und insbesondere sein Extrem, nämlich die Ent-
stehung einer neuen Eigenschaft und ıhre Vererbung, d. h. ıhre
Fixierung ım Idıioplasma als neue Anlage, ım einzelnen vorstellen,
ist m. E. reine Hypothese.
Eine „somatische Induktion“ kann wohl immer angenommen
werden insofern, als ein Reiz zunächst das Soma alleın treffen kann;
die Veränderung, welche er jedoch bei dem betreffenden Anlage-
produkt bewirkt, erfolgt in der für die Art charakteristischen Weise,
also jedenfalls schon auf Grund der Reaktionsfähigkeit des soma-
tischen Idioplasmas. Bleibt diese Veränderung des sichtbaren Art-
merkmals innerhalb der Grenzen der normalen, für die Art charak-
teristischen Reaktionsbreite, so bringt sie keine Veränderung des
Idioplasmas hervor und erstreckt sich nicht über die Grenze des
Individuums hinaus, d. h. sie ist nicht erblich.
Ist die Veränderung des sichtbaren Anlageproduktes jedoch
derart, dass sie die für die Art charakteristischen Grenzen über-
schreitet, so muss man annehmen, dass der Reiz durch Vermittlung
des Somas zu einer Veränderung des somatischen Idioplasmas ge-
führt hat, natürlich eine entsprechende Reaktionsfähigkeit des Idio-
plasmas als Grundbedingung vorausgesetzt. Hierdurch wird ein
Unterschied zwischen somatischem und generativem Idioplasma
geschaffen, der sich irgendwie ausgleicht, indem das generative Idio-
plasma gleichsinnig verändert wird und die Veränderung als neue
Eigenschaft vererbbar ın sich fixiert.
Diese Erklärung, welche den Reiz durch Vermittlung des Somas
zunächst auf das somatische und hierdurch auf das generative Idio-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 293
plasma wirken lässt, ist m. E. die wahrscheinlichste. Sie entspricht
ungefähr der Theorie von der somatischen Induktion. Die Mög-
lichkeit einer Parallelinduktion in dem Sınne, dass durch den
äußeren Reiz Soma und generatives Keimplasma ohne Vermittlung
des somatischen Keimplasmas gleichzeitig und gleichsinnig ver-
ändert werden, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Auf jeden Fall
müssen wir annehmen, dass der Vorgang der Artumbildung d.h.
der Erwerbung einer neuen, vererbbaren Eigenschaft für unsere
Beobachtung eingeleitet wird durch eine zunächst am Soma
wahrnehmbare, neue Eigenschaft und zu Ende geführt wird durch
Fixierung dieser neuen Eigenschaft in der Vererbungssubstanz.
Dadurch sind die äußeren Reize, welche die Entstehung der neuen
Eigenschaft ausgelöst haben, bei den folgenden Generationen zu
inneren Reizen geworden.
Experimentelle Befunde.
Ausgangsmaterial. Die den Versuchen zugrunde liegende
„reine Tinıe* war ein Stamm des Pneumoniebazillus Friedländer.
Es ist dies ein zu den größeren Mikrobenarten gehörendes Bak-
terıum von sehr charakteristischen Eigenschaften.
Veränderungen dieses Bakteriums wurden schon früher von Kruse (30) und
Wilde (24) beschrieben. Diese Autoren stellten fest, dass man bei Aussaat von alten
Kulturen auf Gelatineplatten neben den typischen Kolonien auch atypische, dem Bact.
coli ähnliche erhält (Wilde), sowie, dass alte Laboratoriumskulturen ihr Schleim-
bildungsvermögen verlieren, wobei die ursprünglich kurzen dicken Stäbchen schlank
werden und sich von Kolibazillen nicht mehr unterscheiden lassen (Kruse). Die
Form der Variabilität konnte aber damals von den Verfassern noch nicht analysiert
werden. In neuerer Zeit hat Baerthlein (21) in seinen Mitteilungen über Mutations-
erscheinungen kurz angegeben, dass er auch bei Kapselbazillen Mutationserschei-
nungen beobachtet hat. Nach den Mitteilungen Baerthlein’s hat auch Gilde-
meister ähnliche Beobachtungen gemacht.
Der typische Bazillus besteht, wenn er lebend in Tusche unter-
sucht wird, aus einem als breites Stäbchen geformten Zellproto-
plasma und einer breiten Zellmembran. Auf die Zellmembran folgt
noch eine sehr breite, von ihr durch verschiedenes Lichtbrechungs-
vermögen deutlich abgesetzte Schleimhülle (auch Kapsel genannt),
die beim Typus bis dreimal so breit als das eigentliche Stäbchen
mit seiner Membran ist (Fig. 1). Bei Hitzefixierung und Färbung
mit Methylenblau färbt sich die schleimige Substanz rotviolett, also
metachromatisch (Heim, 29) und überdeckt die Konturen des eigent-
lichen Stäbchens (Fig. 2). Das Stäbchen und seine Membran sind
lebenswichtige Teile der Zelle, während die sogen. Schleimhülle
ein Sekretionsprodukt vermutlich kolehydratartiger Natur ist. Als
Bezeichnung für das Zellprotoplasma wird in der Bakteriologie auch
das Wort „Endoplasma“, für die Zellmembran das Wort „Ekto-
plasma“ gebraucht, letzteres also in anderem Sinne als in der Proto-
zoenkunde üblich.
294 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Auf den künstlichen Nährböden wachsen die Bazillen sehr
üppig und schnell. Die Bouillon wird dabei gleichmäßig getrübt,
an der Oberfläche bildet sich ein schleimiges Häutchen. Werden
die Bazillen mit der Platinöse auf dem Schrägagar ausgestrichen,
so bilden sie einen zusammenhängenden Bakterienrasen, der zum
größten Teil aus Bakterienschleim besteht. Dieser Rasen ist schon
nach 24 Stunden sehr üppig, erhaben, homogen, grau durchscheinend
und von schleimiger Konsistenz. Lässt man die Bazillen dadurch,
dass man sie in verflüssigtem Agar verteilt und hiervon Platten
sießt, zu einzelnen Kolonien auswachsen, so erhält man Kolonien,
die, wenn oberflächlich gelegen, nach 3 Tagen bis zu 10 mm groß
sınd, von homogen glasig-grauem Aussehen (Fig. 3) und schleimiger
Konsistenz.
Die Pathogenität des Bakteriuns ist eine sehr hohe. Es wurde
aus einem Falle von Pneumonie beim Menschen gewonnen und
hatte unter ausgedehnten Zerstörungen zum Tode geführt. Beim
Tierversuch war die Virulenz ebenfalls sehr hoch. Die weiße Maus
stirbt nach subkutaner oder intraperitonealer Infektion mit 0,0000001
bis 0,0000000001 cem 24stündiger Bouillonkultur in 20—40 Stunden
an Septikämie.
Die den Versuchen zugrunde gelegte Eigenschaft.
Die Erscheinungen der Variabilität wurden an einer Eigenschaft
biochemischer Natur beobachtet. Es war dies das Schleimbildungs-
vermögen. Diese Eigenschaft war zugleich für das morphologische
und tierpathogene Verhalten des Bakterıums maßgebend. Denn
von ihr war die Größe der morphologisch sichtbaren Schleimhülle
(der Kapsel) des einzelnen Individuums, die Menge der in den
Kulturen makroskopisch sichtbaren schleimigen Substanz und der
Grad der Virulenz abhängig und zwar derart, dass die hohe Tier-
pathogenität an die Bildung der Schleimhülle gebunden war. Die
Veränderungen des Schleimbildungsvermögens konnten also auf ver-
schiedene Weise festgestellt werden. Da die Erscheinungen der
Variabilität außerdem schon makroskopisch d.h. durch das Aus-
sehen der Kulturen auffielen, war die gewählte Eigenschaft sehr
geeignet zu Vererbungs- und Variabilitätsversuchen. Den Teil des
Idioplasmas, der für die Schleimbildung maßgebend ist, kann man
nach Beijerinck als „Viskoplasma“ bezeichnen.
Natürliche Existenzbedingungen. Das Milieu, in dem
sich das Bakterium in seinen typischen Eigenschaften konstant er-
hält, ıst der Aufenthalt im Körper bestimmter Tierarten.
Variierender (retrogressiv wirkender) Reiz. Der ab-
ändernde Reiz wurde lediglich durch die Bedingungen der künst-
lichen Kultivierung gewonnen und bestand in der Anhäufung der
Stoffwechselprodukte. Dies ging daraus hervor, daß die Variationen
am zahlreichsten und raschesten eintreten, wenn man an dıe Bak-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 295
terien im zusammenhängenden Rasen züchtete, weniger wenn man
sie als isolierte Individuen in Bouillon wachsen ließ, am wenigsten,
wenn sie, wie beim Plattenguß, bei jeder erneuten Übertragung in
isolierten Keimen wachsen. Der abändernde Reiz ließ sich außer-
dem hinsichtlich der Dauer seiner Einwirkung in weiten Grenzen
beliebig abstufen. Die Stoffwechselprodukte wirkten retrogressiv
auf das Viskoplasma ein, indem sie das Schleimbildungsvermögen
verringerten oder ganz zum Verschwinden brachten. Je nach Dauer
und Intensität ihrer Einwirkung führten sie die verschiedenen retro-
gressiven Variationsformen herbei.
Zwischen abänderndem Reiz und seinem Effekt lassen sich adäquate Be-
zehungen feststellen. Die Beobachtung ergab, dass die Bazillen nur dann retro-
gressive Varianten bildeten, wenn sie die Fähigkeit der Schleimbildung entweder in
vollem oder nur wenig herabgesetztem Maße besaßen; war dieses Vermögen stärker
herabgesetzt (wenn auch nur durch vorübergehende Verminderung, wie sie z. B. der
Typus durch die Modifikation erfährt) oder aufgehoben, so trat keine weitere retro-
gressive Variation ein. Es bestand also eine spezifische Beziehung zwischen Reiz
und Effekt insofern, als die Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes,
wenn sie zu einer gewissen Menge und Konzentration eingetreten ist, bei gleich-
zeitig entstehenden Generationen die weitere Bildung dieses Produktes verhindert.
Es entspricht dies einer in der organischen und anorganischen Natur allgemein ver-
breiteten Erscheinung, welche in dem Gesetz der passiven Widerstände (Le Cha-
telier, van ’t Hoff) zusammengefasst wird. Sobald z. B. durch ein Ferment ein
Stoff zerlegt wird und die Endprodukte eine gewisse Konzentration erreicht haben,
hört die weitere Zerlegung des Stoffes auf, auch wenn noch genug Ausgangsmaterial
vorhanden ist. Neuerdings ist von Mazzetti eine hierher gehörende Erscheinung
beim Stoffwechsel der Cholerabazillen nachgewiesen worden. Die Cholerabazillen
können aus Nitraten Nitrite bilden, aber nur bis zu einer bestimmten Konzentration.
Ist diese Nitritkonzentration im Nährboden schon vor Zusatz der Cholerabazillen
künstlich hergestellt, so findet keine weitere Nitritbildung mehr statt. Trotzdem
geht das Wachstum ungestört weiter vor sich, wie sich durch die Indolbildung
nachweisen lässt. Daraus folgt zunächst, dass es voneinander unabhängige Funk-
tionen des Stoffwechsels gibt und, was für unsere Beobachtung besonders in Be-
tracht kommt: dass durch Anhäufung eines bestimmten Stoffwechselproduktes gerade
die weitere Bildung dieses Produktes gehemmt wird. Der Mechanismus der Varia-
tion in unserem Falle ist also so zu verstehen, dass die von dem normalen Bazillus
und gewissen Varianten gebildeten Stoffwechselprodukte durch ihre Anhäufung und
wohl auch ihre Abbaustufen eine weitere Bildung der gleichen Produkte verhindern.
Diese Hemmung greift also bei den gleichen Stellen des Stoffwechselapparates an,
durch welche vordem die in Rede stehenden Stoffwechselprodukte selbst gebildet
wurden: es werden ganz bestimmte Anlagen in ihrer Funktion beeinflußt und das
wesentliche dabei ist, dass diese Beeinflussung je nach dem Grade des einwirkenden
Reizes nicht nur eine vorübergehende, sondern eine erbliche Veränderung der be-
treffenden Anlagen herbeiführt. Die retrogressive Variation ist also in unserem
Falle eine nach dem Gesetze der passiven Widerstände erfolgende, dem Reiz adä-
quate Hemmungserscheinung.
Progressiv wirkender Reiz. In entgegengesetzter Rich-
tung wie die Anhäufung der Stoffwechselprodukte wirkten bestimmte
Bedingungen der künstlichen Kultivierung und besonders der Auf-
enthalt im Tierkörper auf den Bazillus ein. So konnte lediglich durch
die Kultivierung unter möglichster Ausschaltung der Stoffwechsel-
296 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
produkte (Wachstum in einzelnen Keimen beim Plattenguss) eine
progressive Wirkung auf die Bildung der Schleimhüllen erzielt
werden, wenn diese Fähigkeit bloß gehemmt war, wie bei der Modi-
fikation. Bei den Variationen von höherer Erblichkeit dagegen
waren Tierpassagen nötig, um den normalen Typus wiederherzustellen
oder eine Wiederannäherung an den Typus zu bewirken.
Das Wiederauftreten des sichtbaren Artmerkmals unter den angegebenen Be-
dingungen ist wohl folgendermaßen zu verstehen. Dass sich die bei der Modifi-
kation nur gehemmten Anlagen schon bei Wegfall der Hemmungen wieder ent-
falten, ist lediglich auf das Beharrungsvermögen der Erbeinheiten zurückzuführen
und erfordert nicht die Annahme einer besonderen Reizwirkung. Dass jedoch
bei den Varianten von höherer Erblichkeit der Aufenthalt im Tierkörper das
Schleimbildungsvermögen anregt und wieder zum Erscheinen bringt, muss auf
einen besonderen Reiz zurückgeführt werden. Der Tierkörper enthält bakterizide
Kräfte gegen den Bazillus. Dies geht daraus hervor, dass die nicht mit Schleim-
hüllen versehenen retrogressiven Varianten im Tierkörper zugrunde gehen, wenn
sie nicht in ganz enormen Mengen zur Infektion verwendet werden. Doch auch
dann führt der Aufenthalt im Tierkörper wohl zunächst zu einer geringgradigen
Schädigung, auf jeden Fall zu einer „Reizung“ der Bakterienzelle. Diese Reizung
veranlasst eine Absonderung von schleimiger Substanz — ebenso wie manche Reize
bei gewissen tierischen Zellen die Absonderung schleimiger Substanzen zur Folge
haben — und wirkt so in progressivem Sinne auf die Fähigkeit der Schleimbildung.
Die Wirkung des Reizes ist natürlich nicht allein von ihm abhängig, sondern hat
ihre Grundbedingung in der inneren Fähigkeit des Idioplasmas, auf den Reiz in
der angegebenen Weise zu reagieren.
Der Aufenthalt im Tierkörper stellt also den für die Bildung
der Schleimhüllen progressiv wirkenden, adäquaten Reiz dar.
Vererbung und Konstanthalten des normalen
Phänotypus.
Der normale Phänotypus lässt sich sehr leicht konstant er-
halten. Aın einfachsten dadurch, dass man den Bazillus auf dem
Schrägagar züchtet, einigemale in nicht zu langen Zwischenräumen
(alle 2—3 Tage) überträgt und dann wieder eine Tierpassage ein-
schiebt. Ohne das Einschieben von Tierpassagen lässt sich bei fort-
gesetzter Kultivierung auf dem Schrägagar der normale Phänotypus
nicht konstant erhalten, da sich infolge des Wachstums im zusammen-
hängenden Bakterienrasen — bei jeder Übertragung liegen hier
die Bazillen von Anfang an eng nebeneinander — schon in frühen
Kulturgenerationen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend
macht und die retrogressiven Veränderungen bewirkt. Deshalb müssen
nach einer bestimmten Zahl von Schrägagargenerationen immer wieder
Tierpassagen eingeschoben werden, die in progressivem Sinne auf das
Schleimbildungsvermögen wirken und die entsprechenden Anlagen
wieder zur normalen Entfaltung bringen, so dass sie für mehrere
Kulturgenerationen wieder normal bleiben.
Doch läßt sich der normale Phänotypus auch bei fortgesetzter
Kultivierung außerhalb des Tierkörpers normal erhalten, wenn die
Bazillen nicht im zusammenhängenden Rasen wachsen. Dies ıst der
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 297
Fall bei der Kultivierung in der Bouillon, wenn in nicht zu langen
Zwischenräumen (alle 2- 3 Tage) neu übertragen wird. Bleiben die
Bouillonkulturen wesentlich längere Zeit stehen, so macht sich auch
in ihnen die Wirkung der Stoffwechselprodukte geltend.
Sehr ee lässt sich auch auf a Agar der Typus
normal erhalten, wenn das Plattengussverfahren Sina men wird.
Hierbei wird eine Anzahl normaler Individuen zunächst in einem
flüssigen Medium (Bouillon) verteilt, ein kleiner Teil dieser Auf-
schwemmung mit verflüssigtem Agar vermischt und nach gründlicher
Mischung in Platten ausgegossen. Der Agar erstarrt und die Keime
wachsen jetzt zu einzelnen Kolonien aus. Das Wachstum findet dabeı
zunächst in einem von Stoffwechselprodukten völlig freien Milieu statt,
da die Keime einzeln liegen. Erst wenn die Kolonien größer werden,
ist auch bei diesem Verfahren eine Anhäufung von Stoffwechsel-
produkten anzunehmen, da ja ein zusammenhängender Bakterien-
rasen gebildet wird. Wird aber von diesem abermals auf die gleiche
Weise übertragen, so erhält man wiederum nur phänotypisch normale
Kolonien. Dies kann sogar in langen Zwischenräumen beliebig oft
fortgesetzt werden, eine Serie blieb bei vierwöchentlicher Über-
tragung 1'/, Jahre ganz typisch; hierauf wurde der Versuch abge-
brochen.
Aus diesen Versuchen geht hervor, dass sich die Eigenschaft
der Schleimbildung in normalem Umfang weitervererbt ohne dass
der adäquate Reiz hierfür erforderlich ist, wenn nur die Einwir-
kung retrogressiv wirkender Reize in genügender Weise ausge-
schaltet wird. Diese Ausschaltung muss nicht einmal vollkommen
sein, denn beim Plattengussverfahren wachsen die Generationen
nur zeitenweise in einem von Stoffwechselprodukten freien Milieu.
Dieser wenn auch immer nur vorübergehende Wegfall der hemmen-
den Faktoren genügt aber dazu, um eine konstante Vererbung zu
ermöglichen. Erst wenn die abändernden Faktoren kontinuierlich
auf die Generationen einwirken, überwinden sie das Beharrungs-
vermögen der Erbeinheiten und führen zur Variation. Es zeigte
sich also sehr deutlich, daß die unveränderte Vererbung des ge-
prüften Artmerkmals durch das innere Beharrungsvermögen der
Erbeinheiten erfolgt. Die gleiche Tatsache wird sich auch bei den
erblichen Varianten zeigen.
Variabilität.
Die Anhäufung der Stoffwechselprodukte als variierender Reiz
bewirkte je nach Dauer und Intensität der Einwirkung die ver-
schiedenen Variationsformen. Dieser Reiz lässt sich durch Auswahl
der Kulturbedingungen d.h. des Nährbodens und der Zwischenzeit
der sn Dan. dosieren. Die gelindeste Einwirkung,
dıe den Typus aber noch unverändert lässt Sn zur Überwinduug
des Beharrungsvermögens der Anlagen nicht genügt, bringt die
298 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Kultivierung in Bouillon und im Plattenguss mit sich, falls nicht
zu große Zwischenräume (über 4 Wochen) für die Übertragung ge-
wählt werden. Dies ıst schon bei Schilderung der für die unver-
änderte Vererbung maßgebenden Bedingungen erwähnt. Die geringste
varıierende Steigerung des Reizes wird erzielt durch Kultivierung auf
dem Schrägagar, also Wachstum im zusammenhängenden Bakterien-
rasen, und fortgesetzte Übertragung in kurzen Zwischenräumen
(1—2 Tage); eine stärkere durch fortgesetzte Übertragung in längeren
Zwischenräumen (7 Tage). Bei diesem Verfahren ist die Einwir-
kung der Reizes bezw. sein Effekt in der Mitte des Bakterienrasens
und am Rand d.h. bei den zuletzt entstehenden Individuen ver-
schieden. Die stärkste Abänderung wird erzielt, wenn man die
einzelnen Kulturen noch länger (2—4 Wochen) der Einwirkung der
Stoffwechselprodukte überlässt. Eine weitere Verlängerung der
Einwirkungsdauer des Variationsreizes hat jedoch keine Steigerung
des Variationseffektes mehr zur Folge.
Hieraus ergibt sich die für das Verständnis und die Beurteilung
der Variationen sehr wichtige Tatsache, dass von einem gewissen
Alter der Kultur ab keine weiteren Varianten mehr entstehen;
werden in einer Kultur nach einem bestimmten Zwischenraum
(4—8 Wochen) noch keine Varianten gewonnen, so treten auch
späterhin keine mehr auf. Sind in den ersten 4 Wochen schon
Varianten nachweisbar, so nımmt ıhre Zahl bei späteren Unter-
suchungen nicht mehr zu. Die Varianten entstehen also nur, so
lange das Wachstum der Kultur fortgeht und zwar unter den ver-
änderten Bedingungen. Hieraus ergibt sich die Varıabilität
als eine Funktion des Wachstums unter veränderten Be-
dingungen. Dies geht weiterhin auch daraus hervor, dass man
bei fortgesetzter Übertragung in kurzen Zwischenräumen viel rascher
und reichlicher die Varianten erhält als wenn man eine zunächst
typisch gewachsene Kultur sehr lange Zeit stehen lässt und dann
auf Varianten untersucht. Meist erhält man dabei erst nach wieder-
holten Übertragungen eine Variation d. h. der Variationsreiz muss
erst auf eine gewisse Anzahl von Generationen eingewirkt haben
um eine Veränderung zu erzielen. Im Latenzstadium des Wachs-
tums bleibt der Variationsreiz wirkungslos; das ruhende Idioplasma
ist nicht variationsfähig
Gewinnung bezw. Isolierung der Varianten. Methodik
der Versuche. Die Kulturen bezw. Kulturserien, in denen eine
Variation erzielt werden sollte, wurden durch Abimpfung von iso-
lierten Kolonien erhalten; denn nur so kann man sicher sein, dass
man von erblich einheitlichem Material ausgeht. Dann wurden die
Kulturen je nach Absicht der Reizdosierung weiter behandelt, d.h.
in kürzeren Zwischenräumen weiter übertragen oder längere Zeit
stehen gelassen.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 299
Die Varianten wurden dadurch isoliert, dass aus den Massen-
kulturen nach Aufschwemmung in einem flüssigen Medium Agar-
platten gegossen wurden. Hierbei wachsen die einzelnen Keime zu
isolierten Kolonien aus. Nur dadurch gelingt es, alle Varianten
mit Sicherheit zu gewinnen. Denn die Abänderungen betreffen nie
alle Individuen gleichzeitig, sondern immer nur einen Teil: die
Varianten treten also in Form der Konvarianten, nicht der De-
varianten (Plötz) auf. In Massenkulturen (Strichkulturen auf Agar
oder Bouillonkulturen) lassen sich deshalb die Varianten nur ge-
winnen, wenn sie gegen die normal gebliebenen Individuen in der
Mehrzahl vorhanden sind. Solche Varianten dagegen, welche nur
in sehr spärlicher Zahl auftreten, werden in Massenkulturen durch
die große Menge der normal gebliebenen Individuen verdeckt. Die
Gewinnung der Varianten hat demgemäß durch Selektion der aus
isolierten Keimen gewachsenen Kolonien zu erfolgen.
Feststellung des Variationscharakters. Die Feststel-
lung des Variationscharakters erfolgt durch Vererbungsversuche.
In unserem Falle sind die Abänderungen retrogressiver Natur; ihr
Verhalten hinsichtlich der Erblichkeit wırd also dadurch geprüft,
dass die Varianten sowohl lediglich unter Wegfall des varııerenden
Reizes als auch unter dem Einfluss des entgegengesetzt d.h. pro-
gressiv wirkenden Reizes gezüchtet werden.
Die Modifikation.
Die modifizierte Form erhält man am leichteston durch fort-
gesetzte Kultivierung auf dem Schrägagar. Die Zwischenräume ın
denen übertragen wird, betragen am besten 7 Tage (bei kürzeren
Zwischenräumen bleiben die in den ersten Kulturgenerationen am
Rand des Bakterienrasens auftretenden Mutanten noch weiterhin
erhalten, bei längeren Zwischenräumen könnten Fluktuanten neben
den modifizierten Keimen erhalten werden). Die Übertragung ge-
schieht so, dass stets von der Mitte des Bakterienrasens der letzten
Kultur abgeimpft und auf dem neuen Schrägagar ausgestrichen
wird. Die Kulturen verändern sich dabei allmählich immer mehr.
Zunächst treten am Rand des Bakterienrasens weißliche Sektoren
auf, ın späteren Kulturgenerationen erscheint der Rand als kon-
filuierendes weißliches Band. Diese Veränderungen am Rand des
Bakterienrasens sind verursacht durch Mutation (stärkere Einwirkung
der Stoffwechselprodukte bei den zuletzt entstehenden Individuen
der Kultur, vgl. später). Das Innere des Bakterienrasens bleibt da-
gegen zunächst unverändert d.h. glasig-grau, durchscheinend, faden-
ziehend. Bei fortgesetzter Übertragung aus den zentralen, möglichst
wenig veränderten Partien werden die Kulturen allmählich flacher,
weißlicher, und zwar auch im Innern des Bakterienrasens. Das End-
stadium der Modifikation ist dann erreicht, wenn die Kulturen ganz
300 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
flach, im Innern fast ebenso weißlich geworden sind wie am Rand.
Der Rasen ist dabei nicht ganz homogen, sondern setzt sich aus
feinen weißlichen und etwas durchscheinenden Streifen zusammen,
die am Rand radıär gestellt sind. Dies ıst in der 15.—20, Kultur-
generation erreicht. Der Rand des Bakterienrasens, der zwar meist
noch etwas weißlicher gefärbt ıst als die zentralen Partien, aber
doch bei weitem nicht in solchem Kontrast wie in den ersten Kultur-
generationen, enthält dann keine Mutanten mehr. Wir haben jetzt
eine einheitliche (soweit dies möglich ist, wie folgt) Kultur der
modifizierten Form vor uns. Es ıst von jetzt an gleichgültig, ol
bei weiteren Übertragungen vom Rand oder von der Mitte des
Bakterienrasens übertragen wird; die Kulturen verändern sich nicht
mehr.
Die einzelnen Individuen sind, wenn wir sie auf die Kapsel-
bildung untersuchen, in verschiedenem Grade abgeändert: viele be-
sitzen eine sehr schmale kaum mehr sichtbare Kapsel, einige aber
auch eine breite Kapsel. Bei den meisten zeigt sich die Breite der
Schleimhülle zwischen diesen beiden Extremen. Diese Zusammen-
setzung aus verschiedenartigen Keimen (Fig. 5) erklärt die inhomogene
Struktur des Bakterienrasens bei den modifizierten Kulturen. Er
besteht aus modifizierten und typisch gebliebenen Individuen. Auch
bei beliebig lange fortgesetzter Übertragung der modifizierten Kul-
turen auf dem Schrigen ohren ie typisch bleibenden
Individuen nie ganz. Denn zugleich mıt der Entwicklung der Modi-
fikation nımmt die Schleimbildung der Kulturen d. h. der Variations-
reiz ab. Diejenigen Individuen des Typus, welche die beginnende
Modifikation unverändert überstanden haben, werden infolgedessen
auch durch weitere Übertragungen nicht mehr modifiziert und
wachsen mit den Eigenschaften des Typus weiter. Es gelingt also
nicht, durch weitere Übertragungen eine völlige „Reinkultur“ der
modifizierten Form zu erhalten.
Immerhin aber werden die meisten Individuen durch die fort-
gesetzte Übertragung auf dem Schrägagar im Sinne der Modifi-
kation abgeändert; es gelingt also durch das Verfahren der Massen-
kulturen, die modifizierte Form zu gewinnen.
Sehr deutlich treten die Eigenschaften der Variante hervor,
wenn man von einer modifizierten Schrägagarkultur durch das Guss-
verfahren Platten anlegt. Man erhält dann die den einzelnen Keimen
entsprechenden Kolonien isoliert. Einige sind wie die des normalen
Phänotypus: glasig durchscheinend, groß, erhaben. Sıe bestehen
aus Individuen mit breiten Kapseln und sind hervorgegangen aus
den normalen Individuen, die auch bei lange fortgesetzter Übertra-
gung der modifizierten Kulturen nie ganz aus diesen verschwinden.
Die Mehrzahl der Kolonien dagegen ist wesentlich verändert und
zwar lassen sich bis zu den extrem veränderten alle Übergänge
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 301
nachweisen. Die am wenigsten abweichenden sind fast gleich groß
wie die normalen, enthalten aber ın ihrer glasigen grauen Grund-
substanz weiße Sektoren. Diese bestehen aus Bazillen, welche weniger
breite Kapseln haben und deshalb näher aneinander liegen. Da-
durch werden diese Partien, gegen eine dunkle Unterlage gehalten,
weniger durchsichtig und erscheinen weißlich (gegen helle Unterlage
dunkler, vgl. Abbild.). Die stärker veränderten Kolonien sind kleiner,
bestehen zu ungefähr gleichen Teilen aus grauen und weißlichen
Sektoren (Fig. 4), die extrem modifizierten sind noch kleiner (nach
3 Tagen 3—5 mm), ganz weiß und flach. Bei mikroskopischer Be-
trachtung lässt sich aber deutlich erkennen, dass auch sie radıär
gestreift sind. Die einzelnen Individuen dieser extrem veränderten
Kolonien besitzen meist keine Kapseln mehr, sondern nur Endo-
plasma und Ektoplasma, ganz wenige aber noch breite Kapseln.
Dadurch erklärt sich die inhomogene radiärstreifige Struktur.
Die Modifikation verändert die Virulenz nicht in nachweisbarem
Grade, da die modifizierte Form beim Aufenthalt ım Tierkörper
sofort die Schleimhüllen wieder bildet.
Prüft man die modifizierte Form auf Erblichkeit, so zeigt sich,
dass durch eine Tierpassage (am besten Maus) sofort der normale
Phänotypus wieder erhalten wird. Dieser Rückschlag kann nicht
allein auf Selektion zurückgeführt werden, etwa durch die Annahme,
dass die neben den modifizierten Keimen stets — wenn auch ın
sehr geringer Zahl — vorhandenen normalen Individuen mit breiter
Kapsel und hoher Virulenz allein im Tierkörper zur Vermehrung
gelangen und deshalb nach dem Tode des Tieres aus dem Blut
reingewonnen werden. Dies ıst deshalb ausgeschlossen, weil die
Kulturen der modifizierten Form auch in sehr geringen Dosen die
gleiche Infektionskraft besitzen als die des normalen Phänotypus.
Es müssen also auch die modifizierten Individuen rasch ım Tier-
körper zur Vermehrung gelangen. Da nach einer einzigen Tier-
passage stets nur normale Individuen aus dem Blut gewonnen
werden, sind also die modifizierten in den Typus zurückverwandelt.
Von besonderem Interesse ist das Verhalten der Erblichkeit beim
Plattengussverfahren. Von einer durch Plattenguss isolierten extrem
modifizierten Kolonie gehen in der ersten Plattenaussaat verschieden-
artige Kolonien auf: wenige vom normalen Phänotypus, groß und
slasig, die meisten Übergänge zwischen ihm und der extrem modi-
fizierten Form, einige wie die extrem modifizierte Ausgangskolonie,
d. bh. klein, flach, weißlich. Die weitere Abimpfung und Züchtung
mittels des Plattenverfahrens ergibt, dass von den typisch er-
scheinenden Kolonien nur Kolonien des normalen Phänotypus auf-
gehen, die auch weiterhin die Eigenschaften des Typus beibehalten ;
dagegen erhält man dureh Abimpfung von einer extrem modifi-
zierten Kolonie wiederum das gleiche Gemisch von normalen, mittel-
302 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
stark und extrem modifizierten Kolonien wie von der ersten modi-
fizierten Kolonie. Dies lässt sich beliebig oft wiederholen. Stets
ergibt die Abimpfung von einer extrem modifizierten Kolonie ein
Gemisch von Kolonien des Typus, der modifizierten Form und
einer Zwischenform beider.
Dies ist nicht etwa darauf zurückzuführen, dass die modifi-
zierte Ausgangskolonie aus einem Gemisch von Individuen des Typus
und einer erblichen Variante besteht!). Denn bei einer künst-
lichen Mischung des Typus und einer erblichen Variante gehen bei
der Plattenaussaat die Kolonien nie gemischt an, sondern sie
wachsen immer getrennt oder sie setzen sich, wenn wirklich einmal
zwei erblich verschiedene Individuen unmittelbar nebeneinander zu
liegen kommen, scharf gegeneinander ab und bilden zwei exzen-
trisch geformte Kolonien. Bei Aussaat einer extrem modifizierten
Kolonie wachsen aber die neuen, extrem modifizierten Kolonien
regelmäßig schon vom Zentrum an radıär gemischt und in kon-
zentrischer Anordnung. Daraus geht hervor, dass das Gemisch von
normalen und modifizierten Individuen in einer extrem modifizierten
Kolonie von einem einzelnen, ebenfalls extrem modifizierten In-
dividuum abstammt, bei dessen Proliferation schon die ersten Gene-
rationen zum Teil in den Typus zurückschlagen, während der andere
Teil der Nachkommen modifiziert bleibt. Die in den Typus zurück-
geschlagenen Individuen ergeben bei erneuter Aussaat von vorn-
herein Kolonien des Typus, die modifiziert gebliebenen Individuen
liefern wiederum modifizierte Kolonien, in denen sich der soeben
beschriebene Vorgang wiederholt. Es hat also zunächst den An-
schein, als ob die Modifikation bei einem Teil der Individuen voll-
kommen erblich wäre.
Untersucht man die Plattenkulturen nach längerer Zeit (7 bis
10 Tage), so bemerkt man, dass sich die extrem modifizierten
Kolonien mit einem glasigen, homogenen Saum umgeben. Impft
man von diesem ab (Plattenguss), so erhält man im Gegensatz zur
Abimpfung von der Mitte nur Kolonien des Typus. Die Peripherie
der modifizierten Kolonien enthält also von einem gewissen Alter
der Kultur ab einen Saum von Individuen, die sämtlich ın den
Typus zurückgeschlagen sind. Dies kommt dadurch zustande, dass
die modifizierten Individuen auch bei zunehmendem Alter der Kultur
an Ort und Stelle, wo sie gewachsen sind, also im Bereich der ur-
sprünglichen Kolonie liegen bleiben, während die zurückgeschlagenen,
wieder mit Schleimhüllen versehenen Individuen von dem leicht
1) Die Anregung zu dem in folgendem geführten Nachweis, dass die modifi-
zierten Kolonien nicht aus einem Gemisch des Typus und einer erblichen Variante
bestehen und insbesondere, dass die Erblichkeit der Modifikation durch Fortdauer
des Variationsreizes, nicht aber durch eine wirklich erbliche Abänderung des Idio-
plasmas verursacht ist, verdanke ich Herrn Professor Plate in Jena.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 303
erhabenen Bezirk der eigentlichen Kolonie nach der etwas niedrigeren
Oberfläche des Agars peripherwärts abfließen (wie es ja für die
Kolonien des Typus charakteristisch ist) und dabei einen konfluieren-
den Rasen bilden; dieser besteht dann natürlich nur aus Individuen,
welche in den Typus zurückgeschlagen sind (Fig. 4). Dass dieser
Saum aus modifizierten Individuen hervorgegangen ist, die erst an
der Peripherie der Kolonien in den Typus zurückgeschlagen sind,
halte ich nieht für wahrscheinlich; denn ın diesem Stadium sınd
die Kolonien schon ziemlich groß, und es hat bereits eine gewisse
Ansammlung von Stoffwechselprodukten stattgefunden, welche einen
Rückschlag der Modifikation in den Typus verhindert.
Auf Grund dieser Beobachtungen lässt sich die Erblichkeit der
Modifikation folgendermaßen beurteilen. Kommt ein modifiziertes
Individuum unter Wegfall des variierenden Reizes zur Proliferation,
so bleibt ein Teil der Nachkommen modifiziert, ein anderer Teil
schlägt schon in den ersten Generationen in den Typus zurück. Es
handelt sich also nicht um echte Erblichkeit, da die Variation schon
in den ersten Generationen abklingt und „der Mittelwert der Nach-
kommen sich verschiebt“ (Johannsen). Nun hält sich aber die
Modifikation doch für beliebig viele Kulturgenerationen konstant,
wenn jedesmal von einer extrem modifizierten Kolonie abgeimpft
wird. Dies ist aber nicht auf echte Erblichkeit d. h. auf Fortdauer
der Variation ohne den Variationsreiz, sondern auf erneute Ein-
wirkung des Variationsreizes zurückzuführen. Denn zugleich mit
dem Wachstum der modifizierten Kolonie häufen sich die retro-
gressiv wirkenden Stoffwechselprodukte an, da bei dem Wachstum
die in den Typus zurückgeschlagenen Keime wesentlich beteiligt
sind. Infolgedessen geraten diejenigen Nachkommen des modifi-
zierten Individuums, die nicht schon in den ersten Generationen in
den Typus zurückgeschlagen sind, von neuem unter die Wirkung
des Variationsreizes und werden am Rückschlag verhindert. Sie
wachsen in dieser Kolonie modifiziert weiter und verhalten sich bei
erneuter Aussaat ebenso wie der modifizierte Keim, von dem sie
stammen d.h. sie schlagen wieder nur zum Teil in den Typus zurück.
Die Erblichkeit der modifizierten Form unter den angegebenen
Bedingungen des Plattengusses ist also nur scheinbar und in Wirk-
lichkeit ebenso zu erklären wie bei fortgesetzter Kultivierung auf
dem Schrägagar, d.h. auf die Fortdauer des Variationsreizes zurück-
zuführen. Die Modifikation ist bei Wegfall des Varıa-
tionsreizes nur für eine beschränkte Zahl von Genera-
tionen erblich.
Wesen und Entstehungsweise der Modifikation. Die
Modifikation trat als retrogressive Variation derart ın Erscheinung,
dass durch die gelindeste Wirkung des retrogressiven Variations-
reizes die Schleimbildung ım Laufe vieler Generationen immer mehr
304 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
abnahm bis zum Verschwinden der sichtbaren Eigenschaft (bei den
extrem modifizierten Individuen). Diese Veränderung ging durch
die Einwirkung des in umgekehrter Richtung wirkenden Reizes
sehr rasch, etwas langsamer schon bei Wegfall des retrogressiven
Reizes in den Typus zurück. Deshalb können wir annehmen, dass
die Abnahme der Schleimbildung bei der retrogressiven Modifikation
nur auf eine Hemmung des Vıiskoplasmas zurückzuführen ist; denn
schon bei Wegfall des Variationsreizes, also allein durch ihr Behar-
rungsvermögen, gelangen die gehemmten Anlagen wieder zur normalen
Entfaltung.
Die Entstehung und die Zurückbildung der Modifikation voll-
zieht sich allmählich. Die Hemmung des Viskoplasmas nimmt im
Laufe vieler Generationen stetig zu bis sie ihren Endwert erreicht
hat. Diese allmähliche Zunahme der Variation ist sogar in den
Generationen der einzelnen Kulturen zu beobachten; denn die zu-
letzt entstehenden Individuen, also die am Rand des sich aus-
breitenden Bakterienrasens gelegenen, sind stärker modifiziert als
die ersten. Nie wird ein extrem modifiziertes Individuum unmittel-
bar aus dem Typus erhalten. Die Modifikation braucht also eine
gewisse Zahl von Generationen, bis sie in stetig zunehmendem
Grade ıhr Extrem erreicht hat.
Auch die Zurückbildung der Modifikation erfolgt nicht plötz-
lich in einer Generation. Dies lässt sich zwar nicht bei der Re-
version durch Tierpassagen, wohl aber durch das Plattengussver-
fahren nachweisen. Hierbei entfalten sich die gehemmten Anlagen
erst nach mehreren Generationen wieder in normaler Weise bei
allen Individuen. Eine gewisse Erblichkeit d. h. eine Fortdauer
ohne weitere Einwirkung des Variationsreizes lässt sich also bei
der Modifikation nachweisen, obwohl sıe der geringsten Beeinflussung
des Idioplasmas entspricht, die sich erzielen liess. Ich habe des-
halb früher den für das Abklingen einer Variation gebräuchlichen
Ausdruck „pseudohereditäre Nachwirkung“ hierauf angewendet,
bin aber jetzt der Ansicht, dass diese Bezeichnung überflüssig ist
(wenigstens für unseren Fall), da sie keinem prinzipiell, sondern nur
graduell verschiedenen Begriff entspricht.
Die geschilderte Form der Variation entspricht den Gesetzmäßig-
keiten, die jetzt von den Vererbungsforschern in Anknüpfung an die
„Standortsmodifikationen* Nägelis als charakteristisch für die Modı-
fikation bezeichnet werden: unter dem Einfluss äußerer Bedingungen
ändert sich eine sichtbare Eigenschaft und geht bei Wegfall dieser
Bedingungen mehr oder weniger rasch in den früheren Zustand
zurück. Diese Veränderung beruht auf der Fähigkeit einer (oder
mehrerer) Erbeinheiten, auf eine Veränderung in den äußeren Be-
dingungen entsprechend zu reagieren, ohne sich dabei selbst zu
ändern. Die Reaktionsfähigkeit (oder Reaktionsbreite),
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 305
welche für die Art charakteristisch ist, ändert sich dabei nicht
(Baur, 12). Die Modifikation ist also nicht erblich. Dass die Modi-
fikation ın unserem Falle einen gewissen Grad von Erblichkeit be-
sitzt. muss auf den innigen Zusammenhang zurückgeführt werden,
der bei Bakterien zwischen zeugendem und erzeugtem Individuum
infolge der asexuellen Fortpflanzung besteht (Haeckel). Darauf
wurde schon in der Einleitung hingewiesen.
Bei den Lebewesen mit differenzierter Keimbahn erstrecken sich
die Modifikationen meist nur auf eine Generation. Bei Bakterien kann
man jedoch je nach dem Grade der Erblichkeit, den eine Modifi-
katıon besitzt, von leicht reversiblen und von Dauermodifikationen
sprechen. Auf jeden Fall muss jedoch eine als Modifikation be-
zeichnete Variation schon beim Wegfall des varıierenden Reizes ein
Abklıngen der Veränderung zeigen. Als weiteres Merkmal der Mo-
difikation ist die allmähliche Entwicklung der Variation zu fordern.
Die Mutation,
Man erhält die Mutante beim Friedländerbazillus ebenso wie
bei den anderen Bakterien, bei denen besonders Beijerinck (20)
und Baerthlein (21) die Gewinnung der Mutanten ausführlich
beschrieben haben, wenn man Agar oder Bouillonkulturen des nor-
malen Bazillus längere Zeit im Brutschrank oder nach 24 stündiger
Bebrütung bei Zimmertemperatur stehen lässt und dann Platten
anlegt. Es genügen 4 Wochen, doch erhält man auf diese Weise
nicht aus jeder Kultur die Mutante; tritt die Mutation in einer
Kultur nach 4 Wochen noch nicht ein, so erhält man sie meist auch
durch längeres Stehenlassen nicht mehr. (Im Latenzstadium des
Wachstums tritt keine Variation ein).
Absolut sicher und viel rascher kann man die Mutation her-
beiführen, wenn man durch fortgesetzte Übertragungen auf dem
Schrägagar das Wachstum der Bakterien im zusammenhängenden
Rasen weitergehen lässt. Überträgt man in 3—7tägigen Zwischen-
räumen in der Weise, dass jedesmal von der Mitte des Bakterien-
rasens abgeimpft und dieses Material auf dem neuen Schrägagar aus-
gestrichen wird, so trıtt meist in der 3.—4. Kulturgeneration eine
plötzliche auffallende Veränderung ein. Während die ersten Kultur-
generationen aus homogenem, glasig durchscheinendem Bakterien-
rasen bestanden, treten jetzt plötzlich weißliche Sektoren am Rand
des Bakterienrasens auf, die bei Fortsetzung des Verfahrens ın den
nächsten Kulturgenerationen zunehmen, so dass sie schließlich zu
einem breiten weißen Band zusammenfließen. Diese weißlichen
Partien bestehen aus Mutanten. (Die Mitte des Bakterienrasens bleibt
zunächst noch unverändert; durch Weiterimpfung von hier erhält
man die modifizierte Form.) Legt man von den weißen Sektoren
oder dem weißen Rand einer Schrägagarkultur, in der die Mutation
XXXV. 20
306 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
begonnen hat, durch das Gussverfahren Agarplatten an, so geheu
zwei bedeutend verschiedene Arten von Kolonien auf, die durch
keine Übergangsformen verbunden sind. Ein Teil besteht aus den
großen schleimigen Kolonien des normalen Typus, der andere aus
kleinen, flachen weißlichen Kolonien, den Mutanten. Die einzelnen
Individuen der Mutante sınd schlanke Stäbchen, welche nur eine
sehr dünne Zellmembran besitzen und keine Schleimhüllen bilden.
Impft man von den peripheren weißlichen Partien auf Schrägagar
ab, so erhält man eine flache, fast ganz weißliche Kultur; diese
enthält nur noch wenige glasige, typisch gebliebene Inseln. Wird
eine solche veränderte Kultur abermals durch Abimpfung von per'-
pheren, weißlichen Partien auf Schrägagar übertragen, so erhält
man die Mutante meist schon rein. Die Mutante lässt sich also
wie die modifizierte Form auch ın Massenkulturen rein gewinnen.
Die Virulenz ist durch die Mutation ganz erheblich gesunken;
die dosis letalis minıma für die Maus ist 1,0 cem Bouillonkultur.
Die durch die Mutation erfolgende Veränderung vollzieht sich
in einer Generation. Dies geht daraus hervor, dass die ersten
mutierenden Individuen, die jedoch ın der betreffenden Kultur-
generation gegen Ende des Wachstums der Kultur entstehen, auf
einer Zwischenstufe zwischen normalem Typus und Mutante stehen
bleiben, welche morphologisch sehr charakteristisch ıst (Fig. 6).
Diese Übergangsformen stellen aber keine für sich beständigen
Varianten dar. Bei erneuter Übertragung wird stets das End-
stadium der Mutation erreicht (Fig. 7) und nie eine Übergangsform
mehr angetroffen. Wären die Übergangsformen auch nur für wenige
Generationen beständig, so müsste man sie in der erneuten Über-
tragung wenigstens in einigen Exemplaren noch vorfinden. Sie
gelangen also nur deshalb zur Beobachtung, weil ın ıhnen die Ent-
wicklung der mutierenden Individuen nicht zum Abschluß bezw.
zur Bildung der nächsten Generation kommt; denn die beginnende
Anhäufung der Stoffwechselprodukte verhindert das weitere Wachs-
tum der Kultur. Durch das Auftreten dieser auf eine Generation (nicht
Kulturgeneration) beschränkten Übergangsformen ist der Beweis
ermöglicht, dass die Mutation im Gegensatz zur Modifikation eine
sprunghafte Variation ist. Sie setzt ın einer Generation in einem
gewissen Entwicklungsstadium des Individuums sichtbar ein und ist
bei den Nachkommen dieses Individuums vollkommen ausgeprägt,
worauf sie zu keiner weiteren Veränderung mehr führt.
Dem Beginn der anscheinend so plötzlich eimsetzenden Muta-
tion geht jedoch ein latente Prämutationsphase voraus. Man er-
hält z. B. ın einer Serie von Kulturgenerationen in der fünften die
Mutation, obwohl sich die vierte noch nicht sichtbar gegen die
erste verändert hatte. Alle von der ersten Kulturgeneration an-
gelegten Übertragungen ergeben keine Mutation, dagegen tritt die
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 2307
» S UM
Mutation in sämtlichen von der vierten Kulturgeneration angelegten
Übertragungen ein. Deshalb muss man annehmen, dass sich im Laufe
der Übertragungen latent eine Veränderung in den Kulturen einge-
stellt hat, die in dem angeführten Beispiel erst bei Übertragung der
vierten Kulturgeneration manıfest wird, d.h. eine Prämutationsphase.
Der Variationsreiz, der die Mutation herbeiführt, ıst stärker
als derjenige, welcher die Modifikation veranlasst. Die Mutanten
werden entweder nur aus ziemlich alten Kulturen oder bei frischen
Übertragungen nur an denjenigen Stellen der Kulturen gewonnen,
die zuletzt d.h. unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechsel-
produkte entstehen. Hierbei zeigt sich besonders klar, dass die
Variation eine Funktion des Wachstums ist. Legt man nämlich
von einer am Rande in beginnender Mutation begriffenen Agar-
kultur Platten an, so erhält man bei Abimpfung von der Mitte nur
normale Kolonien, bei Abimpfung vom Rand dagegen reichlich die
Mutanten. Es sind also nur die zuletzt entstehenden, bei Anhäufung
der Stoffwechselprodukte noch ım Wachstum begriffenen Keime
von der Mutation betroffen worden, während der gleiche Variations-
reiz bei den schon im Latenzstadium des Wachstums begriffenen
Individuen keine Veränderung erzeugt hat.
Erblichkeit der Mutation. Die Eigenschaften der durch
Plattenguss rein gewonnenen Mutante verändern sich bei weiterer
Kultivierung nicht mehr. Die Mutante ist ein schlankes Stäbchen
mit schmalem Ektoplasma (Fig. 5), sie bildet auf der Agarplatte
kleine (in 5 Tagen 3—5 mm große), flache, grauweißliche, homogene
Kolonien (Fig. 9), auf dem Schrägagar einen flachen, grauweißlichen,
nicht abfließenden Bakterienrasen. Man kann die Mutante durch
den Plattenguss, auf Schrägagar oder in Bouillon züchten, sie
bleibt bei Übertragung in den üblichen Zwischenräumen (alle 1 bis
4 Wochen) in ihren Eigenschaften vollkommen konstant. Die durch
die Mutation eingetretene Veränderung bleibt also, sobald sıe ein-
mal manifest geworden ıst, auf ihrem Zustand bestehen.
Die Abimpfung von einer Kolonie der Mutante ergibt auf der
Agarplatte nur Kolonien, die der Ausgangskolonie vollkommen
gleichen. Der Wegfall des Variationsreizes führt also keinen Rück-
schlag der Mutante herbei. Der Mittelwert der Nachkommen ver-
schiebt sich hierbei nicht (im Gegensatz zur modifizierten Form).
Unter gewissen Bedingungen lassen sich aber doch ganz regel-
mäßig Rückschläge in den normalen Typus erzielen. Dies gelingt,
wenn Kulturen der Mutante längere Zeit unübertragen stehen ge-
blieben sind (mindestens 8 Wochen) und dann neu überimpft werden.
Dabei schägt ein Teil der Mutanten in den normalen Typus zurück.
Frische Kulturen der Mutante lassen sich nur durch Tierpassagen
in den Ausgangstypus umwandeln. Man muss dabei sehr große
Mengen (wegen der geringen Virulenz) ins Tier verimpfen. Der
20*
308 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Rückschlag tritt dann, je nachdem die Mutante erst kürzere oder
schon längere Zeit auf künstlichen Nährböden fortgezüchtet ist, ın
der 3.—5. Tierpassage ein. Nach den ersten Tierpassagen ist noch
keine sichtbare Veränderung wahrzunehmen, in einer bestimmten
Passage vollzieht sich dann plötzlich der Rückschlag und zwar
ebenso stoßweise wie die ursprüngliche Mutation. Man muss in-
folgedessen annehmen, dass auch dem Rückschlag eine latente Prä-
mutationsphase vorausgeht.
Bei der Gewinnung des normalen Typus durch Rückschlag der
Mutante spielen Selektionsvorgänge eine Rolle. Denn nur ein Teil
der Mutanten schlägt auf den künstlichen Nährböden oder im Tier-
körper in den Typus zurück. Die im Tierkörper zuerst zurück-
schlagenden Individuen gelangen wegen ihrer hohen Virulenz auch
zu starker Vermehrung und werden .unter Umständen schon bei
der ersten Tierpassage, ın der der Rückschlag stattfindet, aus dem
Blute rein gewonnen.
Wesen der Mutation. Vom Standpunkt der Vererbungs-
forschung lässt sich der Mutationsvorgang mit ziemlicher Wahr-
scheinlichkeit analysieren. Die Mutation zeigt sich darin, dass eine
bestimmte Eigenschaft ın einer Generation plötzlich verschwindet
und nach vielen Generationen wieder sichtbar wird. Dies spricht
dafür, dass die Erbeinheit der betr. Eigenschaft nicht verloren ge-
gangen bezw. beim Rückschlag neu entstanden ıst, sondern nur
ihren Zustand gewechselt hat. Beijerinck hat wohl zuerst vermu-
tungsweise den Gedanken ausgesprochen, dass bei der Mutation aktive
Erbeinheiten latent oder latente Erbeinheiten aktiv werden. Diese
Annahme hat lediglich auf Grund der Mutationserscheinungen viel
Wahrscheinlichkeit für sich; durch den Gegensatz der Mutation zu
den anderen Formen der Variabilität, insbesondere zu der später
zu beschreibenden Fluktuation, erscheint sie mir so gut bewiesen,
wie es überhaupt für die ja immerhin hypothetischen Erbeinheiten
nur möglich ıst. Ich schließe mich also der Auffassung Beijerinck’s
an und führe die Mutation auf eine Zustandsänderung, einen Valenz-
wechsel von Erbeinheiten, zurück. Die beobachteten Erscheinungen
sprechen für die Richtigkeit der Theorie Plate’s (8) über den
Valenzwechsel (Grundfaktor — Supplementtheorie). Es werden da-
bei entweder aktive Erbeinheiten latent oder inaktiv: dies ist die
retrogressive Mutation- oder es werden latente Erbeinheiten aktıv:
dies ıst die progressive Mutation. Die Rückschläge ın den Aus-
gangstypus sind weiter nichts als eine Mutation, welche in umge-
kehrter Richtung wie die ursprüngliche verläuft. Neue Erbein-
heiten entstehen also bei der Mutation nicht, die Artgrenzen werden
nicht überschritten.
In unserem Falle ıst die retrogressive Mutation darauf zurück-
zuführen, dass die für die Schleimbildung maßgebenden Erbemheiten
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 309
inaktiv werden. Das Schleimbildungsvermögen beruht, wie sich bei
der Fluktuation ergeben wird, auf dem Zusammenwirken mehrerer
gleichsinniger Erbeinheiten, d.h. eines biologischen Radıkals (Plate);
es wird also ein Komplex von Anlagen mit dem Verlust der sicht-
baren Kapselbildung inaktiv.
Zugleich tritt auch im Endoplasma und Ektoplasma eine sichtbare Verände-
rung ein, denn aus dem breiten Stäbchen wird plötzlich ein schlankes mit schmalem
Ektoplasma. Möglicherweise werden also noch andere, mit dem Aufbau des Endo-
plasmas und Ektoplasmas in Verbindung stehende Erbeinheiten inaktiv, falls diese
Veränderungen nicht auch irgendwie vom Viskoplasma abhängen.
Der Rückschlag in den normalen Typus vollzieht sich durch
die ebenso sprunghaft erfolgende Aktivierung der gleichen Anlagen.
Die Erblichkeit der Mutation beweist, dass das Beharrungs-
vermögen der Erbeinheiten das gleiche ist, wenn sie aktiv oder
latent sind. Die Mutante besitzt im Vergleich zum Typus einen
wesentlich reduzierten Stoffwechsel, der Varıationsreiz fällt mit dem
Verlust der Schleimbildung vollkommen weg. Trotzdem bleibt die
Mutante bei weiterer Kultivierung und zwar sogar beim Platten-
gussverfahren erblich konstant. Ist jedoch der Rückschlag ın den
Typus durch bestimmte stärker progressiv wirkende Faktoren ein-
mal eingetreten, so bleibt der Typus von jetzt ab unter den schon
bei Besprechung der Vererbung genannten Bedingungen ebenso be-
ständig wie vor der Mutation — also unter Bedingungen, die an
sich nicht genügten, um den Rückschlag der Mutante herbeizuführen.
Daraus folgt, dass Typus und Mutante unter gleichen Bedingungen
konstant bleiben, sobald einmal der jeweilige Zustand (Aktivität
oder Latenz) der Erbeinheiten herbeigeführt ist. Die Erbeinheiten
verharren also in dem Zustand der Aktivität oder Latenz, ın den
sie durch äußere Faktoren gebracht werden, ohne dass die den be-
treffenden Zustand herbeiführenden Faktoren ın gleicher Stärke
andauern.
Der Rückschlag d.h. die Reaktivierung der latenten Anlagen
erfordert stärkere progressiv wirkende Bedingungen als die Reversion
der modifizierten Form. Es ist nicht sicher zu erklären, warum bei
neuem Wachstum alter Kulturen der Mutante einige Individuen
in den Typus zurückschlagen und zwar erst, wenn die Kulturen
ziemlich alt sind und sich schon längere Zeit im Latenzstadium des
Wachstums befinden. Vielleicht nimmt nach längerem Ruhezustand
die Fähigkeit zur Aktivierung bei den latenten Anlagen wieder zu,
besonders wenn der inaktivierende Variationsreiz vollkommen fehlt,
wie in den Kulturen der Mutante. Man könnte dann annehmen,
dass die betreffenden Individuen vor dem auf dem neuen Nährboden
erfolgenden Rückschlag noch in der alten Kultur in einen Prämuta-
tionszustand geraten. Der Rückschlag im Tierkörper ist so aufzu-
fassen, dass durch den progressiv wirkenden Reiz, dem vermutlich
sogar die Entstehung des Schleimbildungsvermögens als äußerem
310 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Faktor zuzuschreiben ist, die Aktivierung der latenten Erbeinheiten
verhältnismäßig leicht und rasch gelingt.
Der zeitliche Entstehungsmechanismus der Mutation ist durch
die auf eine Generation beschränkten Übergangsformen verständ-
lich. Die Mutation (zunächst für die Verlustmutation sicher zu
beobachten) vollzieht sich derart, dass bei einem im Wachstum
begriffenen Individuum in einem bestimmten Stadium der Ent-
wicklung Erbeinheiten inaktiviert werden. Auf diese Weise wird
das entsprechende Anlageprodukt in der mutierenden Generation schon
nicht mehr in normalem Umfang gebildet, ist jedoch noch in einem
gewissen Grad vorhanden, soweit es eben vor Einsetzen der Mutation
schon gebildet war; in der darauffolgenden Generation fehlt es aber
ganz, da in dieser die betreffenden Erbeinheiten schon von Anfang
an latent sind. Auf diese Weise erklärt sich am besten das Vor-
kommen der auf eine Generation beschränkten Übergangsformen
zwischen Typus und Mutante und das Sprunghafte der Mutation.
Da sıch der Rückschlag ebenso plötzlich vollzieht, beruht er
wohl auf einem analogen, aber umgekehrt gerichteten Vorgang,
auch wenn sich hierbei die Übergangsformen aus leicht begreif-
lichen Gründen nicht feststellen ließen.
Da mit dem Namen Mutation heutzutage verschiedene Vor-
gänge bezeichnet werden, erscheint es mir dringend notwendig, die
Bezeichnung Mutation für die geschilderte Art der Variation zu
rechtfertigen. Die heutige Erblichkeitsforschung bezeichnet als
Mutation eine wirkliche Veränderung der Art durch Abänderung
ihrer Zusammensetzung aus Erbeinheiten. Wir legten jedoch dem
Mutationsbegriff nur einen Valenzwechsel, eine Zustandsänderung
von Anlagen zugrunde, durch welche die Artgrenzen nicht über-
schritten werden. Wenn ich bei dieser Auffassung bestehen bleibe,
so geschieht das aus zwei Gründen.
Erstens: Hugo de Vries, der das große Verdienst hat, die
Vorgänge der Artbildung experimentell in Angriff genommen zu
haben, hat den Begriff der Mutation für eine bestimmte Variations-
form eingeführt. Er fand bei der Züchtung der Nachtkerze, dass
ein Teıl der Nachkommen „spontan“ mehr oder weniger vom Typus
abweichende Eigenschaften zeigte, während der größte Teil unter
den gleichen Außenbedingungen unverändert blieb. Die Verände-
rungen entstanden sprunghaft, ohne Übergänge und waren erblich.
Nur ein Teil der veränderten Rassen schlug in späteren Genera-
tionen wieder in den Ausgangstypus zurück. De Vries glaubte,
dass es sich hier um einen aus inneren Gründen erfolgenden Ge-
winn wirklich neuer Eigenschaften handle und dass die Mutation die
Quelle der Artbildung sei. Wenn sich die von de Vries als reine
Mutationen aufgefassten Veränderungen der Oenothera lamarckiana
auch zum größten Teil auf Bastardierungserscheinungen zurückführen
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 314
lassen, so kann man doch nicht ausschließen, dass echte Mutations-
vorgänge (in unserem Sinne) damit verknüpft waren. Die von
de Vries für die Mutation als charakteristisch bezeichneten Ge-
setzmäßigkeiten haben sich auch später bei anderen Arten wieder-
gefunden und es werden demnach als Mutationen bezeichnet: stoß-
weise, nur in einem Teil der Nachkommen erfolgende, spontane
(„richtungslos“ erfolgende) und in hohem Grade erbliche Verände-
rungen.
Nun kann die „Richtungslosigkeit“ auf keinen Fall zur Charak-
terisierung einer Variationsform verwendet werden; denn jede Varia-
tion ist durch bestimmte Bedingungen in ihrem Verlauf, d.h. in
den Beziehungen zwischen Reiz und Wirkung, festgelegt, auch wenn
wir diese Beziehungen nicht immer erkennen. In unserem Fall ist
die Richtung der Mutation nach Reiz und Wirkung klar. Maß-
gebend für den Variationscharakter ist nur der Entstehungsmecha-
nismus und die Erblichkeit der Variation. In dieser Beziehung
entspricht die geschilderte Varıationsform den von de Vries ex-
perimentell festgestellten Gesetzmäßigkeiten. Wenn sich auch her-
ausgestellt hat, dass die Mutation nicht dem Vorgang entspricht,
den de Vries lediglich theoretisch von ihr forderte, nämlich den
wirklichen Verlust oder Gewinn von Erbeinheiten, so halte ich es
doch für gerechtfertigt, die von de Vries nach den Tatsachen
charakterisierte und als Mutation bezeichnete Variationsform auch .
weiter Mutation zu nennen.
Zweitens: es ist mir gelungen, experimentell eine Variation zu
erzielen, welche an Erblichkeit die Mutation weit übertrifft. Diese
Variationsform ist wahrscheinlich mit dem Gewinn bezw. Verlust
von Erbeinheiten verbunden. Sie zeigt jedoch ganz andere Gesetz-
mäßıgkeiten als die Mutation. Sie vollzieht sich nicht stoßweise,
sondern allmählich, indem sie eine kontinuierliche Reihe erblicher
Zwischenstufen durchläuft. Ich bezeichne sie deshalb als Fluktuation.
Die Auffindung dieser Variationsform veranlasst mich hauptsächlich
dazu, die Bezeichnung „Mutation“ für die nur zu einem Valenz-
wechsel von Erbeinheiten führende Variationsform beizubehalten.
Als charakteristisch für die Mutation ergab sich also die sprung-
hafte Bildung der Terminalform, der ebenso erfolgende Rückschlag
und ein beträchtlicher Grad von Erblichkeit. Zur Reversion war
die Anwendung des progressiv wirkenden Reizes nötig, nur unter
einer bestimmten Bedingung (nach langem Latenzstadium des Wachs-
tums) erfolgte der Rückschlag durch das Beharrungsvermögen der
Erbeinheiten allein.
Die bakteriologische Forschung hat durch die genaue Verfol-
gung der Mutationserscheinungen die Erblichkeitslehre um die Tat-
sache bereichert, dass durch einen Valenzwechsel von Anlagen erb-
lich konstante Rassen entstehen können. Der Valenzwechsel als
312 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Quelle der Variabilität war zwar schon lange bekannt, aber nicht
als Ursache erblich konstanter und experimentell zu beherrschender
Variation. Derartige schon längst bekannte Erscheinungen des
Valenzwechsels erstreckten sich immer nur auf eine oder mehrere
(senerationen; dass aber durch einen experimentell herbeigeführten
Valenzwechsel Anlagen beliebig viele Generationen hindurch in ihrem
Zustand der Latenz oder Aktivität zu halten sind und sich jeder-
zeit durch gesetzmäßig wirkende äußere Einflüsse in ihren Aus-
gangszustand zurückführen lassen, ist erst durch die Bakterien-
mutationen bekannt und bewiesen worden.
Die Fluktuation.
Als Fluktuation bezeichne ich eine Art der Variation, welche
nicht nur zu einer Variante, sondern zu mehreren Varianten führt.
Diese bilden nach dem verschiedenen Grad ıhrer Abweichung vom
Typus eine kontinuierliche Reihe.
Die Gewinnung dieser Varianten ist etwas schwieriger als die
der bisher geschilderten, weil immer nur sehr wenige Individuen
einer Kultur diese Form der Variation zeigen. Bei Aussaat einer‘
genügend großen Zahl von Individuen, eventuell Verwendung mehrerer
unter den gleichen Bedingungen gehaltener Kulturen gleichzeitig
gelingt es jedoch regelmäßig, die Fluktuanten zu gewinnen. Man
erhält sie folgendermaßen: Von einer durch Plattenguss erhaltenen
Kolonie des normalen Typus, der vorher noch durchs Tier gegangen
oder auf Agarplatten in isolierten Kolonien gewachsen war, werden
Schrägagar- oder Bouillonkulturen angelegt, 24 Stunden bei 37° be-
brütet und dann bei 15° stehen gelassen. Frühestens nach 10 bis
14 Tagen, am besten nach 20—30 Tagen, werden von diesen Kul-
turen (ich habe bei den meisten Versuchen mit Schrägagarkulturen
gearbeitet) Agarplatten angelegt. Über die Reihenfolge im Auf-
treten der verschiedenen Fluktuanten ist später noch besonders zu
berichten. Von allen Teilen des Bakterienrasens wird durch gründ-
liches Verrühren mit der Platinöse Material entnommen, in Bouillon
aufgeschwemmt und dort durch wiederholtes Hin- und Herneigen
des Röhrchens gemischt. Von dieser Aufschwemmung werden ver-
flüssıgte Agarröhrchen nach dem bekannten Verdünnungsverfahren
geimpft und zu Platten ausgegossen. Die Platten stehen 24 Stunden
im Brutschrank, bleiben dann bei Zimmertemperatur stehen und
werden nach 3—5 Tagen untersucht. Von den Platten sind nur
diejenigen verwendbar, welche eine genügende Zahl von Kolonien,
aber doch mindestens in Abständen von !/,—1cm enthalten. Ist
die Aussaat dichter, so kommen die Kolonien nicht vollständig
genug zur Entwicklung ihrer typischen Eigenschaften und können
deshalb nicht beurteilt werden. Auf den Agarplatten, die eine ge-
eignete Keimzahl enthalten, findet man bei der Untersuchung weit-
Toenniessen, Über Vererbung uud Variabilität bei Bakterien. 315
aus die größte Zahl ganz unverändert, einige in der schon ge-
schilderten Weise durch Radiärstreifung modifiziert, eventuell auch
Mutanten. Die für die Fluktuation in Betracht kommenden Kolonien
sind kleiner als die des normalen Typus, und zwar lassen sich
drei verschiedene Stadien der Fluktuation unterscheiden. Die fluk-
tuierten Kolonien sind besonders bei mikroskopischer Betrachtung
mit Sicherheit zu erkennen und zwar dadurch, dass sie homogen
chagriniert sind und keine radiären Streifen enthalten, sowie im Prä-
parat durch die morphologischen Eigenschaften der einzelnen Keime.
Die am wenigsten veränderten Kolonien (Fluktuante I) sind nach
3—5 Tagen ungefähr zwei Drittel so groß wie die des normalen
Typus, 7—10 mm im Durchmesser, erhaben, homogen, aber nicht
ganz so glasig durchscheinend, sondern mehr weißlich-grau. Die
einzelnen Bazillen haben sämtlich eine etwas schmalere Kapsel als
die der normalen Kolonien. Werden von solch einer fluktuierten
Kolonie Platten gegossen, so erhält man die Fluktuante rein. Die
aufgehenden Kolonien sind sämtlich der Elternkolonie gleich. Bei
längerem Wachstum konfluieren die Kolonien, jedoch nicht alle.
Sie überziehen nie die ganze Agarplatte in zusammenhängendem,
zerfließlichem Rasen wie der normale Typus. Durch Abimpfung
einer solchen fluktuierten Kolonie auf dem Schrägagar erhält man
einen homogenen, leicht erhabenen, grau-weißlichen und abfließen-
den Bakterienrasen.
Die Kolonien des 2. Stadiums (Fluktuante II) sind noch etwas
kleiner, nach 3 Tagen 5—7 mm groß, etwas erhaben, stärker weiß-
lich-gelb, aber noch etwas durchscheinend. Bei Abimpfung ergeben
sie nur Kolonien, welche der Elternkolonie vollkommen gleichen.
Die einzelnen Bazillen haben eine Kapsel, die ungefähr zweimal
so breit ist als der Bakterienleib. Bei längerem Stehenlassen kon-
fluieren die Kolonien zum Teil mit den benachbarten Kolonien,
breiten sich aber dann nicht weiter aus. Auf dem Schrägagar er-
hält man einen noch etwas erhabenen abfließenden Bakterienrasen,
der am Rande weißlich-grau, im Innern noch grau durchscheinend ist.
Das 3. Stadium (Fluktuante III) zeigt noch kleinere (3—5 mm
große), leicht gelblich-weiße, nicht mehr durchscheinende Kolonien,
die in den ersten Tagen ganz flach sind und makroskopisch voll-
kommen den extrem modifizierten gleichen. Bei mikroskopischer
Betrachtung (Fig. 10) unterscheiden sie sich von diesen aber da-
durch, dass sie keine radiären Strahlen zeigen. Sie erscheinen
ebenso wie die anderen Fluktuanten homogen chagriniert. Dem-
entsprechend findet man bei mikroskopischer Untersuchung auch
nur gleichartige Einzelindividuen vor. Beim Tuscheverfahren er-
scheinen die Bakterien der Fluktuanten III ohne deutliche Kapsel,
nur aus Bakterienleib und breiter Membran bestehend. Dass die
Schleimhülle fehlt oder nur in minimalem Grade vorhanden ist,
314 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
geht besonders bei der Methylenblaufärbung hervor. Die Bakterien-
leıber erscheinen dabei zwar scharf konturiert, es fehlt aber dıe für
die schleimbildenden Individuen charakteristische violette Über-
deckung (Fig. 11). Auf dem Schrägagar bildet die Fluktuante II
einen flachen Bakterienrasen, der im Innern grau durchscheinend,
am Rande etwas weißlich gefärbt ist. Der Rasen ist abfließend im
Gegensatz zu der ebenfalls weißlich-grauen, flachen Kultur der
Mutante. Bei Abımpfung einer isolierten Kolonie der Fluktuante Ill
erhält man wiederum nur Kolonien, welche der Elternkolonie voll-
kommen gleich sind.
Die Virulenz ist bei den Fluktuanten parallel zu der Herab-
setzung der Kapselbildung gesunken. Bei der Fluktuante IH ist
die dosis letalis minima für die Maus 0,5 cem Bouillonkultur.
Erblichkeit der Fluktuation. Die 3 Fluktuanten sind in
ihren Eigenschaften jede für sich außerordentlich beständig (inner-
halb einer bestimmten, für jede Fluktuante konstanten Variations-
breite). Die Fluktuanten I und II wurden bis jetzt fast 2 Jahre lang,
die Fluktuante III über 3 Jahre lang beobachtet. Die Fortzüchtung
durch das Plattengussverfahren ergibt, dass bei den 3 Fluktuanten
die Nachkommen vollkommen den Elternkolonien gleichen. Der
Mittelwert der Nachkommen verschiebt sich also bei Wegfall des
Variationsreizes nicht.
Tierpassagen, welche die modifizierte Form und die Mutante ın
kürzester Zeit in den normalen Typus zurückverwandeln, lassen die
Fluktuanten selbst nach zahlreicher Wiederholung anscheinend un-
verändert. Bei Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II wurden
20, bei Fluktuante III wurden 100 Mäusepassagen vorgenommen.
Dabei geschah eine Zeitlang die Infektion mit eben tödlichen Dosen,
und später, als es sich herausstellte, dass bei der Mutante der
Rückschlag am raschesten durch Impfung mit enormen Dosen ein-
tritt, wurden außerordentlich große Dosen zur Infektion verwendet.
Auch hierdurch konnte kein Rückschlag in den normalen Typus
erzielt werden. Die Fluktuante III ıst durch die 100 Tierpassagen
nicht einmal in den Typus der Fluktuante II zurückverwandelt.
Fortzüchiung auf dem Schrägagar lässt die Fluktuanten eben-
falls unverändert; sie werden allmählich nur geringgradig ebenso
wie der Typus durch Modifikation verändert, schlagen aber durch
Plattenguss oder Tierpassage sofort wieder in den früheren Zustand
(der Fluktuation) zurück. Auch wurde versucht, die Fluktuante I
in II oder III umzuwandeln bezw. aus Kulturen der Fluktuante 1
durch längeres Stehenlassen einige Individuen von II oder III zu
gewinnen, also die gleiche Methode angewendet, bei der Fluktuante I
aus dem normalen Typus hervorgegangen war. Auch dies war ohne
Erfolg. Es waren höchstens modifizierte Kolonien oder Mutanten
der Fluktuante I zu erhalten.
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 315
Die Fluktuanten waren also von wesentlich höherer erblicher
Konstanz als die anderen Variationen.
Aus der Art der Gewinnung der Fluktuanten ergibt sich, dass
zu ihrer Herbeiführung die stärkste Anhäufung der Stoffwechsel-
produkte notwendig ist, dass sie also durch den stärksten Varia-
tionsreiz entstehen; denn sie werden nur aus alten Kulturen des
Typus gewonnen, nicht aber wie die modifizierte Form oder die
Mutante auch bei Übertragung in kurzen Zwischenräumen.
Entstehungsweise der Fluktuanten. Aus diesem Grunde
ist bei den Fluktuanten eine Beobachtung ihrer Entwicklungsstadien
wie bei der Modifikation und der Mutation nicht möglich. Denn
sie gelangen bei der Aussaat alter Kulturen ın der folgenden Kultur-
generation gleich in ihrem Endstadium zur Beobachtung. Des-
halb schien es zunächst, dass die Fluktuanten ebenso wie die
Mutante unmittelbar, d.h. ohne erblich konstante Zwischenformen
aus dem Typus entstehen, was bei der extremen Fluktuante ein
fast ebenso großer „Sprung“ wäre wie bei der Mutante. Gegen
diese Entstehungsweise spricht aber folgendes: Wird von einer
Schrägagarkultur des Typus nach einer bestimmten Zeit (10 bis
14 Tage) eine Plattenaussaat gemacht, so erhält man meist allein
die Fluktuante I, etwas später Fluktuante II und zuletzt (20 bis
30 Tage) Fluktuante III. Nie wird Fluktuante III vor Fluktuante I
oder II erhalten. Da die Ursache der Variation die Anhäufung
der Stoffwechselprodukte ist, könnte man die Reihenfolge ım Auf-
treten der Fluktuanten so erklären, dass aus Individuen des nor-
malen Typus bei einer bestimmten Anhäufung der Stoffwechsel-
produkte die Fluktuante Il entsteht, bei stärkerer Fluktuante II und
bei stärkster Fluktuante III. Dies wäre möglich, wenn die Ent-
stehung der Varianten alleın von der Einwirkung der Stoffwechsel-
produkte abhängig wäre; doch siud hierbei noch zwei weitere Fak-
toren beteiligt, welche die obige Annahme unwahrscheinlich machen.
Die Stoffwechselprodukte wirken nämlich nicht nur varıerend,
sondern auch wachstumshemmend; eine Variation bewirken sie aber
nur bei denjenigen Individuen, welche im Wachstum begriffen sind,
die also trotz der wachstumshemmenden Wirkung der Stoffwechsel-
produkte noch zur Proliferation gelangen. Im Latenzstadium des
Wachstums befindliche Keime werden, wie sich schon wiederholt
zeigte, durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte nicht zur
Variation gebracht.
Berücksichtigen wir diese für die Enstehung der Varianten
maßgebenden Bedingungen, sowie die Zeit, welche für die Bildung
der Fluktuanten nötig ist, so folgt zunächst, dass die Fluktuanten
unter dem stärksten Einfluss der Stoffwechselprodukte entstehen;
denn sie werden in den einzelnen Kulturen später als die anderen
Varianten, also zuletzt erhalten. Sie entstehen demnach durch
316 Toenniessen, Uber Vererbung und Kariabilität bei Bakterien.
Proliferation der letzten noch wachsenden Individuen einer Kul-
tur. Dabei kommt zunächst die am wenigsten abweichende Fluk-
tuante I zur Beobachtung. Etwas später, also bei noch stärkerer
Variationsursache, entsteht Fluktuante II. Auf Grund des oben
gesagten lässt sich jetzt mit größter Wahrscheinlichkeit entscheiden,
ob die Fluktuante II unmittelbar aus dem Typus oder aus der
Fluktuante I hervorgeht. Entstünde die Fluktuante II unmittel-
bar aus Individuen des Typus, so müssten diese während einer
gewissen Zeit, nämlich so lange, als die Bedingungen für die Bil-
dung der Fluktuante 1 gegeben waren, ıhr Wachstum eingestellt
haben. (Sonst müssten sie ın die Fluktuante I, zum mindesten in
die Mutante oder in die modifizierte Form übergegangen sein.
Letztere beiden kommen aber als Vorstufen der Fluktuante II
nicht in Betracht, da sie, wie später erwähnt wird, nicht zur Bildung
der Fluktuante II befähigt sınd.) Etwas später aber, also unter
den Bedingungen des stärkeren Varationsreizes, müssten diese In-
dividuen des normalen Typus ıhr Wachstum wieder aufgenommen
haben und dadurch sprunghaft ın Fluktuante II übergegangen sein.
Das ist aber nıcht wahrscheinlich; denn mit dem stärkeren Varia-
tionsreiz hat auch die wachstumshemmende Wirkung der Stoff-
wechselprodukte zugenommen, und es ist nicht einzusehen, dass
Zellen, die aus irgend einer Ursache ihr Wachstum schon einmal
eingestellt haben, bei Verstärkung dieser gleichen Ursache ihr
Wachstum wieder aufnehmen. Aus diesem Grunde wird eine un-
mittelbare Entstehung der Fluktuante II und noch mehr der Fluk-
tuante III aus dem Typus unwahrscheinlich. Es bleibt also nur
die Möglichkeit übrig, dass die Fluktuante III aus der Fluktuante Il
und diese aus der Fluktuante I entstanden ist. Es ist auch leicht
zu verstehen, dass die gleiche Generationsreihe des normalen Typus,
die durch eine den Durchschnitt übertreffende Wachstumsfähigkeit
trotz der Einwirkung der Stoffwechselprodukte weiter gewachsen ist,
dadurch aber zur Entstehung der Fluktuante I geführt hat, durch
weitere Fortsetzung ihres Wachstums in die Fluktuante II und vom
Stadium der Fluktuante II aus ın die Fluktuante III übergegangen
ist. Es wäre dies also eine von Generation zu Generation fort-
schreitende, quantitativ zunehmende Abänderung, die nicht nur auf
Grund des Vergleiches der fertigen Varianten, sondern auch ihrer
Genese nach als fluktuierende Variation bezeichnet werden kann.
Zur Stütze dieser Annahme mußte aber bewiesen werden, dass
tatsächlich die Fluktuante III aus Fluktuante II und Fluktuante I
hervorgehen kann. Es musste also aus Reinkulturen der Fluktuante I
und II die Fluktuante III gewonnen werden, denn nur in diesen war
ein sprunghaftes Entstehen der extremen Fluktuante aus dem nor-
malen Typus auszuschließen. Es wurden also zunächst die Fluk-
tuante I und II zwei Mauspassagen unterworfen, um sie möglichst
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. BleT
typisch und durch die künstliche Kultivierung nicht irgendwie
modifiziert zu erhalten. Dann wurden sie durch Plattenguss in
einzelnen Kolonien isoliert und, nachdem sie sich als reine Linie
und ın den für die Fluktuante I und II typischen Eigenschaften
gezeigt hatten, wurde von einer einzeln stehenden Kolonie auf
Schrägagar abgeimpft. Wie schon erwähnt, gelingt es nicht, aus
Reinkulturen der Fluktuanten I und II lediglich durch Stehenlassen
der Kulturen und Anfertigung einer Plattenaussaat nach längeren
Zeiträumen noch stärker abweichende Fluktuanten zu gewinnen,
wie dies beim Typus der Fall ist. Dies ist auch ohne weiteres
verständlich. Denn die Fluktuanten I, Il und III entstehen aus
dem Typus durch stärkste Einwirkung der vom Typus gebildeten
Stoffwechselprodukte. Nun haben aber die Fluktuanten, wie aus
ihrem viel weniger üppigen Wachstum hervorgeht, einen gegen den
Typus wesentlich reduzierten Stoffwechsel. Wachsen sıe also in
Reinkultur, so bilden sie weniger Stoffwechselprodukte als der
Typus, und dadurch verliert der die Abänderung bewirkende Reiz
an Intensität. Ich versuchte deshalb die Wirkung der Stoffwechsel-
produkte bei den Fluktuanten dadurch zu verstärken, dass ich die
im zusammenhängenden Bakterienrasen, also auf dem Schrägagar
gewachsenen Kulturen nach verschieden langer Zeit auf einen neuen
Schrägagar übertrugunddabei die aufdem ersten Nährboden gebildeten
Stoffwechselprodukte (das Kondenswasser des Agars und den ganzen
Bakterienrasen) auf den neuen Nährboden brachte. Dies gelang
durch Anwendung steriler Glaskapillaren mit aufgesetztem Gummi-
käppchen ganz leicht. Diese Art der Übertragung wurde bei den
Fluktuanten I und Il in Serien von 7, 14 und 21 Tagen ausgeführt
und vor jeder Übertragung auf einen neuen Nährboden eine Platten-
aussaat der vorhergehenden Kultur angelegt, wie schon früher bei
Schilderung der Gewinnung der Fluktuanten beschrieben. Schon
in der zweiten Kulturgeneration wurden auf diese Weise bei sämt-
lichen Serien der Flutuante I und II, also bei Übertragung in 7-,
14-, und 21tägıgen Zwischenräumen einzelne Kolonien der Fluk-
tuante III gewonnen. Dass es sich wirklich um Fluktuante III
handelte, wurde durch 6 Mauspassagen festgestellt, welche die Fluk-
tuante III nicht in den Ausgangstypus zurückverwandelten, wäh-
rend die zur Kontrolle gleichzeitig Tierpassagen unterworfene jetzt
schon fast 3 Jahre lang auf künstlichem Nährboden gezüchtete
Mutante des Typus schon in der 5. Tierpassage zurückschlug. Es
war also tatsächlich Fluktuante III aus Fluktuante I und II her-
vorgegangen.
Damit war der Beweis erbracht, dass die Fluktuante III aus
den Fluktuanten II und I entstehen kann. Es ist dies aber nicht
nur eine Möglichkeit der Entstehungsweise, sondern wohl der regel-
mäßıge Vorgang; nicht nur die obigen Ausführungen über die
318 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
Reihenfolge ım Auftreten der einzelnen Fluktuanten in der gleichen
Kultur machen dies wahrscheinlich, sondern auch die später zu
erwähnenden Beobachtungen über die progressive, d. h. umgekehrt
gerichtete Fluktuation. Die Fluktuation unterscheidet sich
also von der Mutation neben ihrer bedeutend stärker
ausgeprägten Erblichkeit besonders dadurch, dass sie
durch mehrere für sıch konstante Zwischenstadien, d.h.
ım Laufe mehrerer Generationen zu ihrer Terminal-
form führt. Hinsichtlich dieser allmählichen Entwicklung zeigt
die Fluktuation Übereinstimmung mit den Vorgängen der Modifi-
kation. Die Modifikation führt ebenfalls zu mehreren Varianten
verschiedenen Grades der gleichen Abweichung. Auch bei ıhr ent-
stehen nie die extremen Varianten durch einen Sprung aus dem
Typus, sondern stets aus weniger abweichenden. Bei der Modifi-
katıon sind jedoch diese Zwischenstufen nur von sehr geringer
erblicher Konstanz; bei der Fluktuation zeigen sowohl die Zwischen-
stufen als auch die Termmalform die höchste experimentell erziel-
bare Erblichkeit.
Es folgt hieraus, dass die Bildung einer kontinuierlichen Reihe
gleichsinniger Varianten bei verschiedenen Varıationsformen vor-
kommt und an sich noch nicht für den Variationscharakter, also
auch für die Erblichkeit bestimmend ist (Plate unterscheidet des-
halb somatische und „mutative“ Fluktuationen). Auch der morpho-
logische Effekt einer Variation ist nıcht maßgebend für den Variations-
charakter; denn die Modifikation führt zu den gleichen morpho-
logischen Abänderungen wie die Fluktuation.
Reversionsversuche an den Fluktuanten. Es wurde schon
erwähnt, dass die einzelnen Fluktuanten selbst durch den stärksten
für die Wiedergewinnung des Typus wirksamen Reiz, nämlich durch
Tierpassagen nicht in den Typus zurückverwandelt werden konnten,
ja dass die stärker abweichenden Fluktuanten nicht einmal das
Stadium der nächsten, weniger abweichenden Form erreichten. Bei
Fluktuante I wurden 10, bei Fluktuante II 20, bei Fluktuante 111
bis jetzt 100 Tierpassagen (Maus) angewendet. Es zeigte sich aber
doch eine deutliche Zunahme der Kapselbildung und Virulenz, die
zum Teil nach einigen Agarpassagen wieder zurückging, also auf
Modifikation beruhte, zum Teil aber doch erblich war. Bei Fluk-
tuante III wurde die Frage, ob durch wiederholte Tierpassagen eine
wenn auch nur geringe, aber doch erbliche Annäherung an die
Fluktuante Il zu erzielen ıst, näher untersucht.
Dies ließ sich durch Feststellung der Zunahme von Kapsel-
bildung und Virulenz entscheiden. Die Virulenz stieg bei subl
kutaner Infektion (24stündige Bouillonkulturen) folgendermaßen:
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 319
Fluktuante III vor Tierpassagen 0,5 Maus bleibt am Leben
nach 10. Maus Q,1 Sy Fr 5;
ll... , 0:2 Maus stirbt in 3 Tagen
Blasen 0] 2 > „ 3 Tagen
Dr ls Maus bleibt am Leben
a 0) a | Maus stirbt in 2 Tagen
DOSE ON! en % „ 36 Stunden
to 0:01 Tr RR TS TEEN
200 5,7001 es 0) „>
er 0.001 ER SHE,
0.000001 en ni „ 4 Tagen.
Es war also eine erhebliche Zunahme der Virulenz durch Tier-
passagen zu erzielen. Diese Zunahme der Virulenz war von einer
gleichzeitigen Zunahme der Kapselbildung (Tierkörper) und Schleim-
bildung (bei künstlicher Kultivierung) begleitet. Doch hatte diese
letztere Fähigkeit noch nicht wieder den Grad wie bei Fluktuante II
(aus dem Typus isoliert, ohne Tierpassagen) erreicht.
Jetzt wurde versucht, ob die Zunahme der Virulenz eine erb-
liche war oder ob sie durch Züchtung außerhalb des Tierkörpers
wieder zurückging. Die Kultur wurde zu diesem Zweck alle 7 Tage
neu auf Agar übertragen und die Virulenz im Laufe der Agar-
passagen geprüft, indem von den betreffenden Agarkulturen Bouillon-
kulturen angelegt und diese nach 24stündigem Wachstum ın die
Maus verimpft wurden. Die Virulenz war folgende:
Nach SO. Maus unmittelbar 0,000001 Maus stirbt in 4 Tagen
en 2. Agarpassage 0,001 e » „ 44 Stunden
0,00001 Maus bleibt am Leben
= 58 = 0,001 Maus stirbt in 52 Stunden
0,0001 55 EN
10. ie 0,001 5: Re NE er
0,0001 Maus bleibt am Leben
ey alar r 0,01 Maus stirbt in 72 Stunden
0,001 55 wie Tagen
20: 0,01 % DA Stunden
0,001 Maus bleibt am Leben
u ” 0,01 Maus stirbt in 50 Stunden
0,001 e" 0 Tagen:
Es geht also die durch Tierpassagen erreichte. Virulenzsteige-
rung der Fluktuante III durch die künstliche Kultivierung zunächst
zurück, bleibt aber von der 15. Agarpassage ab auf einer konstanten
Höhe. Die Dosis letalıs minima ist 0,001 geworden, also ungefähr
1000mal höher als vor den Tierpassagen, jedoch nicht so hoch wie
die Virulenz der Fluktuante II, bei der 0,000001 auch nach beliebig
langer künstlicher Kultivierung meist in 48 Stunden tödlich ist.
Auch die durch die Tierpassagen erzielte Zunahme der Kapsel- und
Schleimbildung der Fluktuante III bleibt trotz der künstlichen
Kultivierung auf einem höheren Wert als vor den Tierpassagen.
Die Fluktuante III hat sich also durch Anwendung einer großen
Reihe von Tierpassagen sehr langsam und allmählich der Fluk-
320 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
tuante II genähert, und zwar ın erblicher Weise. Es ist dies eine
progressive Fluktuation, sie findet allmählich statt. Dies ist ein
weiterer Beweis dafür, dass auch die retrogressive Fluktuation stets
allmählich vor sich geht.
Bei Fortsetzung der Tierpassagen wäre also zu erwarten, dass
die Fluktuante III allmählich das Stadium der Fluktuante II, hier-
auf das Stadıum der Fluktuante I erreicht und schließlich ganz in
den Typus zurückgeht.
Wesen der Fluktuation. Vom Wesen der Fluktuation
können wir uns auf Grund der sichtbaren Veränderungen und deren
Erblichkeit folgende Vorstellung machen. Die zunächst erhaltene
Fluktuation war retrogressiv. Sie bestand darin, dass die Fähig-
keit der Kapselbildung bei den Fluktuanten in verschiedenem Grade
bis zum anscheinend völligen Verschwinden abnahm. Lediglich auf
eine Hemmung oder Inaktivierung von Anlagen kann diese Ver-
änderung nicht zurückgeführt werden. Denn wir sahen, dass bei
der Modifikation ein erheblicher Grad von Hemmung und bei der
Mutation sogar eine völlige Inaktivierung von Anlagen jederzeit
durch gewisse Bedingungen rückgängig wird und in die normale
Funktion wıeder übergeht.
Es könnte sich um eine dauernde Lähmung der betreffenden
Anlagen im Sinne einer Schädigung oder „Degeneration“ handeln.
Es müssten dann bei den drei Fluktuanten je nach dem Grade
der Abänderung drei Grade der Degeneration vorliegen, von denen
sich jede ganz in der gleichen Ausdehnung der Degeneration weiter
vererbt. Dies ist aber sehr unwahrscheinlich. Denn man kann
kaum annehmen, dass die Degeneration einer Anlage, wenn sie ein-
mal so hochgradig geworden ist, dass die Anlage trotz bester Be-
dingungen für ıhre Entfaltung kein Anlageprodukt mehr bildet,
genau in diesem Grade der Schädigung bei der Proliferation er-
halten bleibt und weiter vererbt wird. Diese konstante Vererbung
der drei Fluktuanten, auf Grund deren keine Fluktuante in die
andere übergeht, spricht gegen eine Veränderung der Anlagen
im Sinne einer bloßen Schädigung oder „Degeneration“. Denn
Degenerationen aus äußeren Gründen gehen unter Wiederherstellung
günstiger Bedingungen zurück, Degenerationen aus inneren Gründen
haben eine Neigung zur Verstärkung. Ich nehme infolgedessen ın
Konsequenz mit der Deutung der Modifikation und Mutation an,
dass der gleiche variierende Reiz, der bei gelindester Einwirkung
eine Hemmung von Erbeinheiten und bei stärkerer eine Inaktı-
vierung veranlasst, bei stärkster Einwirkung zu einer völligen Zer-
störung der Anlagen, also zu einer Ausschaltung dieser Anlagen
aus der Vererbungssubstanz führt. Theoretisch können wir uns
vorstellen, dass diese Anlagen bei der Proliferation so stark ge-
schädigt werden, dass sie sich am Wachstumsvorgang des Idio-
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 39
o- Im
plasmas nicht beteiligen können und so aus dem Gefüge der Ver-
erbungssubstanz verschwinden. Wir nehmen also zur Erklärung
des erblichen Verlustes einer sichtbaren Eigenschaft bei
der Fluktuation einen wirklichen Verlust der betreffen-
den Erbeinheiten an.
Dadurch wird es unwahrscheinlich, dass die Fähigkeit der Kapsel-
bildung auf einer einzigen Erbeinheit beruht. Denn es ist nicht
vorstellbar, dass eine einzige Erbeinheit zu einem verschiedenen
Teile verloren geht. Man müsste diese Erbeinheit dann wieder in
einzelne, unabhängig voneinander funktionsfähige Faktoren teilen.
Wenn wir aber bei der Vorstellung der Erbeinheit als des kleinsten
für eine Eigenschaft maßgebenden Teilchens der Erbsubstanz fest-
halten, müssen wir in unserem Falle annehmen, dass die in ver-
schiedenem Grade zu Verlust gehende sichtbare Eigenschaft auf
mehreren Erbeinheiten beruht. Die völlige Ausbildung der normal
entwickelten Kapsel beruht also auf dem Zusammenwirken mehrerer
gleichsinniger Faktoren. Die Kapselbildung ist ein polygenes Merk-
mal, ein „biologisches Radiıkal“.
Die verschiedenen für sich erblich konstanten Stadien der retro-
gressiven Fluktuation beruhen also darauf, dass je nach dem Grade
der Abweichung eine oder mehrere der gleichsinnigen Erbeinheiten
verloren gehen. Nur durch diese Annahme lässt sich m. E. die
erbliche Konstanz der verschiedenen Stadien begreifen. Besonders
klar wird dies durch das Verhalten der einzelnen Fluktuanten bei
weiteren Varjabilitätsversuchen und durch den Gegensatz der Fluk-
tuation zu den anderen Formen der Variabilität, besonders der Mu-
tatıon. Hierbei werden die gleichsinnigen Erbeinheiten in ihrer
Gesamtheit gleichzeitig verändert. Das biologische Radikal wird im
vollen Umfange latent bezw. aktiv. Dadurch erklärt sich der große
Unterschied, der „Sprung“, welcher vom normalen Typus zur Mu-
tante führt, gegenüber den schrittweisen Veränderungen, welche
die Fluktuation bewirkt.
Der Entstehungsmechanismus der Fluktuation wäre also
folgendermaßen zu denken: Wächst eine Generationsreihe des nor-
malen Typus unter dem schon sehr gesteigerten Einfluss der Stoff-
wechselprodukte weiter, so geht zunächst eine gewisse geringe An-
zahl von Erbeinheiten zu Verlust. Dabei entsteht die Fluktuante I,
welche für sich konstant bleibt, wenn sie in diesem Zustand isoliert
und in Reinkultur, also nicht unter dem Einfluss der Stoffwechsel-
produkte des Typus, fortgezüchtet wird. Geht aber ihr Wachstum
in der alten vom Typus angelegten Kultur noch weiter, so werden
durch Fortdauer und ech sogar Verstärkung des Variations-
reizes noch weitere Erbeinheiten zu Verlust gebracht, wodurch die
Fluktuante II entsteht. Diese ist, wenn sie jetzt isoliert wird,
ebenfalls in dem erreichten Stadium konstant. Gelangt sie jedoch
XXXV. 21
322 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
in der alten Kultur zur weiteren Proliferation, so entsteht durch
einen weiteren Verlust von Erbeinheiten die Fluktuante Ill. Diese
ist die Terminalform der Fluktuation.
Wenn wir die retrogressive Fluktuation auf einen Verlust von
Erbeinheiten zurückführen, so müssen wir annehmen, dass bei der
Reversion der Fluktuanten, auch wenn sie nur zu einer Annäherung
der extremen Fluktuante an die Fluktuante Il durchgeführt wurde,
die vordem zu Verlust gegangenen Erbeinheiten teilweise und all-
mählich wiedergewonnen werden. Denn diese progressive Verände-
rung war ebenso erblich wie retrogressive Fluktuation. Die pro-
gressive Fluktuation bringt also den Gewinn neuer, vererbbarer
Eigenschaften mit sich und ist experimentell zu beobachten.
Diese Annahme erscheint auf Grund dessen, was wir über die
Vererbung erworbener Eigenschaften vorausgesetzt haben, als mög-
lich. Die Erwerbung einer neuen Eigenschaft hat als Ursache eine
innere Fähigkeit des Idioplasmas. Diese Fähigkeit ist in unserem
Falle gegeben; denn sonst könnte sich ja das Schleimbildungs-
vermögen nicht beim Typus finden. Der progressiv wirkende Reiz
ıst durch den Aufenthalt ım Tierkörper gegeben. Er führt dazu,
dass das Idioplasma auf Grund seiner derzeitigen Struktur die neue
Erbeinheit bildet, ebenso wie er dıe Reaktion der schon entwickelten
Erbeinheit veranlasst. Denn es ist anzurehmen, dass „die ein-
zelnen Organe (hier das Vıskoplasma) durch Reize, auf welche sie
zu reagieren eingerichtet sind, auch in das Leben gerufen werden“
(OÖ. Hertwig, 5). Ist man also imstande, den für die Entstehung
bestimmter Anlagen adäquaten Reiz lange genug einwirken zu
lassen, so kann man bei gegebener Fähigkeit des Idioplasmas diese
Anlagen zu bilden, eine progressive Fluktuation, d. h. eine Er-
werbung vererbbarer Eigenschaften erzielen. Unseren Befunden
nach zu schließen geht dies allerdings äußerst langsam vor sich,
selbst wenn es sich um die Bildung von Erbeinheiten handelt,
welche schon einmal vorhanden waren.
Obwohl die retrogressive Fluktuation die anderen Variationen
an Erblichkeit weit übertraf und obwohl die extreme Fluktuante
durch lange Einwirkung des progressiven Reizes nicht in den Typus
zurückverwandelt werden konnte, war die Fluktuation doch nicht
absolut erblich. Dies ist aber von keiner Variationsform, auch nicht
von der artbildenden, zu verlangen: denn eine absolute Beständig-
keit des Artbildes existiert bei keiner Art. Infolgedessen spricht
nichts gegen die Annahme, dass die Fluktuation als artbildende
Varıationsform ın Betracht kommt.
Die Benennung „Fluktuation“ rechtfertigt sich zum Teil durch
Anschauungen und Beobachtungen, welche schon von Darwin her-
rühren, zum Teil durch Ergebnisse der modernen Erblichkeits-
forschung. Fluktuierende Variabilität wird jetzt gewöhnlich jede
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 32:
Variabilität genannt, welche zwischen normalem Typus und extremer
Variante kontinuierliche Reihen von Übergängen, Zwischenformen
bildet. Man versteht darunter im allgemeinen die Erscheinung,
dass die Individuen einer reinen Linie in der gleichen Generation
sich nie ganz gleich sind, sondern in ihren Eigenschaften um einen
bestimmten Mittelwert schwanken. Hierher gehören die schon er-
wähnten Plus- und Minusvarianten. Diese fluktuierende Variabilität
ist jedoch nicht erblich. Es gelingt nicht durch Selektion von Plus-
und Minusvarianten eine erblich veränderte Rasse zu gewinnen
(Johannsen). Ich möchte deshalb diese Form der Variabilität ın
Anknüpfung an de Vries „individuelle Variabilität“ nennen und
die Bezeichnung Fluktuation für die oben beschriebene Varıations-
form anwenden, welche ebenfalls ın kontinuierlichen Reıhen statt-
findet, aber erblich ist. Den Begriff des Erblichen hat schon Dar-
wın mit der Fluktuation verbunden. Es erscheint mir auf Grund
meiner Resultate als begründet, den von Dar wın geschaffenen Be-
griff der Fluktuation wieder zur Geltung zu bringen, und zwar in
seiner ursprünglichen Bedeutung.
Als charakteristische Merkmale der Fluktuation wurden dem-
nach experimentell festgestellt: der außerordentlich hohe Grad von
Erblichkeit (Reversion nur durch sehr lange fortgesetzte Einwirkung
des progressiv wirkenden Reizes möglich) und die allmähliche Ent-
wicklung der Terminalform unter Bildung einer kontinuierlichen
Reihe erblicher Zwischenstufen.
Uber die Beziehungen der einzelnen Variationsformen
zueinander.
Die Beständigkeit der verschiedenen erblichen Varianten wird
besonders deutlich, wenn man sie weiterhin auf Variabilität prüft.
Der Reiz, welcher zur Entstehung der Varianten führt, erleidet,
sobald die Varianten einmal in Reinkultur gewonnen sind und auf
die gleiche Weise wie der normale Typus fortgezüchtet werden,
eine Veränderung seiner Intensität: denn die Varianten haben sämt-
lich einen gegen den normalen Typus reduzierten Stoffwechsel, was
sich durch die Abnahme der Schleimbildung bemerkbar macht.
Dadurch verliert der Reiz für eine weitergehende Veränderung der
Varianten an Intensität. Unter diesem Gesichtspunkt wird das
Verhalten der isolierten Varianten gegenüber Variabilitätsversuchen
verständlich.
Die modifizierte Form wächst viel weniger üppig als der Typus.
Weitaus die Mehrzahl der Individuen bildet keine Kapsel mehr.
Aus ıhr lassen sich keine Mutanten oder Fluktuanten gewinnen;
auch bei beliebig langem Stehenlassen der Kulturen werden immer
nur wieder modifizierte Kolonien erhalten. Die Gewinnung von
Mutanten und Fluktuanten ist erst dann wieder ınöglich, wenn
2
394 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
durch Plattenguss oder Tierpassagen der normale Typus wieder
gewonnen wird. So erklärt sich die auch von anderen Autoren,
besonders Baerthlein, beobachtete Tatsache, dass die pathogenen
Bakterien gerade in den kurz den Tierpassagen folgenden Kulturen
besonders leicht mutieren.
Die Fluktuanten I, II und III zeigen in gleicher Reihenfolge
eine zunehmende Reduktion des Stoffwechsels und der Schleim-
bildung. Sie sind, wie schon erwähnt, nicht mehr imstande, durch
Anhäufung ihrer Stoffwechselprodukte auf gleiche Weise wie der
Typus Fluktuanten abzuspalten. Für die Entstehung von Mutanten
genügen dagegen die von Fluktuanten I und II gebildeten Stoff-
wechselprodukte. Die Fluktuanten I und Il sind imstande, unter
den gleichen Kulturbedingungen wie der normale Typus Mutanten
zu bilden, die sich’morphologisch nicht von der Mutante des nor-
malen Typus unterscheiden. Fluktuante III dagegen bildet keine
Mutanten mehr. Erst wenn sie sich durch 80 Tierpassagen der
Fluktuante II genähert und das Vermögen der Schleimbildung ın
gewissem Grade wiedergewonnen hat, ist sie zur Bildung von Mu-
tanten befähigt. Die Mutanten der Fluktuanten zeigen die gleichen
Eigenschaften hinsichtlich der Vererbung und des Rückschlags wie
die Mutanten des normalen Typus. Beim Rückschlag entstehen
wieder die entsprechenden Fluktuanten, ein weiterer Beweis für
die erbliche Konstanz der einzelnen Fluktuanten. Zur Modifikation,
welche durch die geringste Einwirkung der Stoffwechselprodukte
herbeigeführt wird, sind sämtliche drei Fluktuanten befähigt. Die
Modifikation zeigt sich darın, dass jede Fluktuante bei fortgesetzter
künstlicher Kultivierung (Schrägagar) allmählich immer schmalere
Kapseln bildet bıs zu einem für jede Fluktuante bestimmten Minimal-
wert. Bei Fluktuante III ıst dann gar keine Schleimhülle mehr
vorhanden, nur breites Ektoplasma. Durch Tierpassagen wird sofort
der für jede Fluktuante charakteristische Maximalwert der Kapsel-
bildung wıeder erreicht, ebenso wie bei der modifizierten Form
des Typus. |
Die stärkste Reduktion des Stoffwechsels weist die Mutante
auf. Bei ıhr ist also der für eine weitere Variation ın Betracht
kommende Reiz am geringsten, und so wird es verständlich, dass
die Mutante keine weiteren Variationsformen abspaltet, ja dass sıe
in alten Kulturen spontan ın den Typus zurückschlägt. Nur zur
Modifikation ist die Mutante befähigt. Das Ektoplasma nımmt bei
sehr langer Kultivierung auf dem Schrägagar bis zum fast völligen
Verschwinden ab und umgekehrt durch Tierpassagen (bevor der
Rückschlag eintritt) zum ursprünglichen Wert wieder zu
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 325
Die arterhaltende Bedeutung („Zweckmäßigkeit“) der
Variationen.
Sowohl die progressiven als die retrogressiven Variationen er-
weisen sich als nützlich für die Erhaltung der Art.
Die progressiven Variationen führten dazu, dass die schleim-
hüllenlosen Varianten beim Aufenthalt im Tierkörper ihre Schleim-
hüllen wieder bildeten. Durch die Schleimhüllen sind die Bazillen
gegen die bakteriziden Kräfte des Tierkörpers geschützt; denn die
Varianten, welche keine Schleimhüllen besitzen, gehen im Tierkörper
zugrunde, wenn nicht, wie bei den Reversionsversuchen, enorme
Mengen zur Infektion benützt werden. Wir müssen auch annehmen,
dass die Eigenschaft, beim Aufenthalt im Tierkörper sehr rasch die
Schleimhülle zu bilden, phylogenetisch durch Anpassung an die
bakteriziden Substanzen des Tierkörpers entstanden ist (vermutlich
zunächst durch Anpassung an den toten Tierkörper, der geringere
bakterizide Eigenschaften hat). Die Bildung der Schleimhüllen beim
Aufenthalt im Tierkörper erscheint demnach als „zweckmäßig“ und
manche Autoren haben sich zu der Annahme verleiten lassen, dass
die Schleimhüllen aus Gründen der Zweckmäßigkeit von den Ba-
zillen gebildet würden, um sich gegen die bakteriziden Substanzen
zu schützen.
Auch die retrogressiven Variationen erscheinen „zweckmäßig“.
Denn sie treten durch die Bedingungen der künstlichen Kultivierung
ein und zwar durch die Anhäufung der Stoffwechselprodukte. Sie
führen zu einer Reduktion des Stoffwechsels und bewirken, dass
die retrogressiven Varianten unter den gleichen Bedingungen der
künstlichen Kultivierung länger lebensfähig sind als der Typus.
Trotzdem darf als Ursache der Variationen nicht die Zweck-
mäßigkeit angenommen werden. Zweckmäßigkeit als Ursache, als
„energetisches Prinzip“ eines Vorgangs ist nur denkbar, wenn der
Vorgang in seinem Ablauf beeinflusst wird durch eine von dem
materiellen Substrat des Vorgangs unabhängige, also exogene Kraft.
Für eine derartige „zweckmäßige“ Beeinflussung ist es charakte-
ristisch, dass der Vorgang auf Grund einer Erfahrung zu einem
gewollten Ende geführt wird. Dies setzt das Wirken eines erinne-
rungsfähigen und zielbewussten Wesens voraus, welches außerhalb
der Materie des Vorgangs steht.
Die Ursache der Variationen dagegen ist eine endogene, wie
schon bei der Frage nach der Erwerbung erblicher Eigenschaften
erwähnt: nämlich das Idioplasma mit der ihm innewohnenden Fähig-
keit, auf äußere und innere Reize zu reagieren und diese Reaktionen
unter Umständen erblich zu fixieren. Will man aber dennoch die
Zweckmäßigkeit mit der Erklärung des Variationsvorgangs ver-
binden, so kann man mit einer gewissen Willkür Variationen dann
zweckmäßig nennen, wenn sie arterhaltende Wirkung haben. Dann
396 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
ist jedoch „Zweckmäßigkeit* kein absolut vorhandener Faktor,
sondern ein vom Beobachter dem Vorgang untergeschobener sub-
jektiver Begriff. Diese Zweckmäßigkeit zeigt sich darin, dass der
Folgezustand einer Variation gegenüber dem veranlassenden Reiz
für das Leben der Art irgendwie förderlich ist. Hieraus ergibt
sich, dass die „Zweckmäßigkeit“ einer Variation ein Begriff ıst, der
erst von dem Augenblick an existieren und mit dem Variations-
vorgang verbunden werden kann, ın dem der Folgezustand der
Variation fertig ausgebildet und zu den umgebenden Reizen in Be-
ziehung getreten ist. Wie soll also die Zweckmäßigkeit imstande
sein, die vorausgehenden Phasen des Vorgangs zu beeinflussen und
als Ursache auf den Verlauf des Vorgangs einzuwirken, bevor sie
selber vorhanden ıst!? Bei Variationen ist also die Zweckmäßig-
keit erst der Folgezustand, eine Begleiterscheinung des Vorgangs,
aber keinesfalls dessen Ursache.
Weit mehr als die bloße Logik zwingt uns die Berücksichtigung
der Tatsachen zu der Erkenntnis, dass die Zweckmäßigkeit als Ur-
sache der Variationen nicht in Betracht kommen kann. Denn nur
ein Teil der Variationen erwies sich bei dem Entwicklungsprozess
der Arten und erweist sich auch heute noch als „zweckmäßig“, eın
anderer Teil nicht. Dieser wird durch den Kampf ums Dasein
ausgeschaltet. Das Überwiegen der zweckmäßigen Reaktionen, wie
es sich unserer jetzigen Beobachtung zeigt, ıst also die Folge der
Selektion.
Die Tatsache, dass die Reaktionen des Idioplasmas auf äußere
Reize meist arterhaltende Wirkung haben, ist demnach nicht auf
einen bewussten Zweck der Arterhaltung zurückzuführen. Die
„Zweckmäßigkeit“ in den Reaktionen des Idioplasmas muss viel-
mehr als notwendige Voraussetzung für die Existenz der lebenden
Substanz gelten. Ohne diese Eigenschaft wäre die lebende Sub-
stanz, wenn sie überhaupt entstanden wäre, schon längst wieder
ausgestorben.
Von diesem Standpunkt aus lässt sich das Vorkommen der
schleimbildenden Form des Friedländer-Bazillus als pathogener Rasse
dadurch erklären, dass nur sie im Tierkörper lebensfähig ıst und
zwar auf Grund der inneren Fähigkeit, auf den Reiz der bakteri-
zıden Substanzen die Schleimhüllen zu bilden ?). Die übrigen Rassen
gehen dagegen beim Aufenthalt im Tierkörper zugrunde.
Andererseits ist die anscheinend so zweckmäßige retrogressive
Variation mit einem sehr unzweckmäßigen Vorgang kombiniert.
2) Die Virulenz ist hauptsächlich durch die Schleimhüllen bedingt und
zwar in unspezifischer Weise. Sie ist jedoch in gewissem Grade auch von art-
spezifischen Eigenschaften des Endo- und Ektoplasmas abhängig. Diese genügen
aber nicht dazu, um dem Bakterium selbst für die empfänglicheren Tierarten eine
in Betracht kommende Pathogenität zu verleihen. (Näheres hierüber vgl. Toen-
niessen, Centralbl. f. Bakt. Bd. 73, p. 272.)
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 397
Denn die retrogressiven Varianten entstehen in einem Stadium der
Kultur, in dem es schon zu einer beträchtlichen Anhäufung der
Stoffwechselprodukte gekommen ist. Sie werden also ım Zustand
des Wachstums von der schädlichen Wirkung der Stoffwechsel-
produkte betroffen und gehen, wie Versuche ergeben haben, in der
gleichen Kultur viel eher zugrunde als die ältesten Individuen, die
zur Zeit der Anhäufung der Stoffwechselprodukte schon ım Latenz-
stadium des Wachstums sich befinden. Nur wenn die retrogressiven
Varianten nicht zu lange Zeit nach ihrer Entstehung isoliert werden
und in Reinkulturen weiter wachsen, sind sie bei künstlicher Kultı-
vierung länger existenzfähig als der Typus.
Zusammenfassung.
Die den Versuchen zugrunde gelegte „reine Linie* war ein
Stamm des Friedländer’schen Pneumonie-Bazillus. Die Erschei-
nungen der Variabilität und Vererbung wurden an einer Eigenschaft
biochemischer Natur, nämlich dem Schleimbildungsvermögen, be-
obachtet.
Die natürlichen Existenzbedingungen, welche den Phaenotypus
unverändert erhalten, sind durch den Aufenthalt im Tierkörper ge-
geben, als abändernder Reiz wurden die bei der künstlichen Kultı-
vierung sich anhäufenden Stoffwechselprodukte verwendet. Die
durch die Einwirkung der Stoffwechselprodukte erzielten Variationen
waren retrogressiv, d.h. sie bestanden in einer Abnahme sichtbarer
Eigenschaften und sind zurückzuführen auf eine Beeinflussung von
Stoffwechselfunktionen durch Anhäufung von Stoffwechselprodukten.
Der Aufenthalt im Tierkörper wirkte im entgegengesetzten Sinne,
d. h. als progressiver Reız.
Die Vererbung des unveränderten Phaenotypus fand nicht nur
unter ständiger Einwirkung des progressiv wirkenden Reizes, sondern
auch bei künstlicher Kultivierung statt, wenn nur eine zu intensive
Einwirkung des retrogressiv wirkenden Reizes vermieden wurde.
Dadurch war die Vererbung auf das Beharrungsvermögen der Erb-
einheiten zurückgeführt.
Die Variabilität zeigte sich in drei verschiedenen Variations-
formen, die je nach Intensität und Dauer des abändernden Reizes
eintraten. Der Variationscharakter ließ sich sehr scharf durch Ver-
erbungsversuche bestimmen, indem die Kultivierung unter Wegfall
der abändernden Bedingungen und durch Einwirkung des pro-
gressiv wirkenden Reizes fortgesetzt wurde. Die Variationen wurden
durch Züchtung der Bakterien in Massenkulturen (hauptsächlich
Schrägagar) herbeigeführt und die Varianten aus den Massenkulturen
durch das Plattengussverfahren isoliert.
Die verschiedenen Variationsformen waren:
1. Die Modifikation. Durch gelindeste Einwirkung der Stoff-
wechselprodukte geht das Schleimbildungsvermögen im Laufe
328 Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien.
mehrerer Generationen allmählich zurück, bis zum völligen Ver-
schwinden bei den extrem modifizierten Individuen. Die meisten
Individuen der Massenkulturen wurden von der Veränderung be-
troffen. Durch Tierpassagen stellt sich das Schleimbildungsvermögen
sofort, beim Wachstum in isolierten Kolonien allmählich wieder ın
normalem Umfang ein. Die Modifikation beruht auf einer Hem-
mung von Anlagen, die sich schon bei Wegfall des Variationsreizes
wieder normal entfalten.
2. Die Mutation. Durch stärkere Einwirkung der Stoffwechsel-
produkte geht das Schleimbildungsvermögen plötzlich ganz verloren
und zwar nur bei einem geringen Teil der Individuen der Massen-
kulturen. Diese Veränderung vollzieht sich im Laufe einer Gene-
ration, also „sprunghaft“. Sie ist bei der üblichen Art der Über-
tragung erblich, schlägt aber durch Tierpassagen (allerdings schwerer
als die Modifikation) und auch durch Aussaat alter Kulturen wieder
in den Ausgangstypus zurück. Bei der Mutation handelt es sich
um einen Valenzwechsel von Erbeinheiten. Die retrogressive Mu-
tation beruht auf dem Inaktivwerden von Anlagen, der Rückschlag,
d.h. die progressive Mutation auf dem Aktivwerden latenter An-
lagen.
3. Die Fluktuation. Durch stärkste Einwirkung der Stoffwechsel-
produkte entstehen mehrere Varianten, die sich immer nur ın sehr
spärlicher Zahl in den Massenkulturen finden. Nach dem Grade
ihrer Abweichung bilden sie eine kontinuierliche Reihe. Es wurden
drei Fluktuanten isoliert. Es ließ sich zeigen, dass die extremen
Fluktuanten nicht unmittelbar aus dem Typus, durch einen „Sprung“
wie die Mutanten entstehen, sondern durch eine allmähliche, ım
Laufe vieler Generationen zunehmende Abänderung, die zu erb-
lichen Zwischenformen führt.
Die Fluktuation zeigt von den erzielten Variationsformen den
weitaus höchsten Grad von Erblichkeit. Selbst durch eine große
Reihe von Tierpassagen (100) ließ sich keine Reversion der Fluk-
tuante III in den Typus erzielen, doch trat hierbei eine stetig zu-
nehmende (also ebenso allmählich wie die retrogressive Fluktuation
verlaufende) und zwar erbliche Wiederannäherung der extremen
Fluktuante an die Fluktuante II ein. Es ist infolgedessen wahr-
scheinlich, dass bei Fortsetzung der Tierpassagen sogar völlige
Rückkehr in den Typus zu erzielen ist.
Die retrogressive Fluktuation führt wahrscheinlich zu einem
Verlust, die progressive dementsprechend zu einem Gewinn von
Erbeinheiten. Die Fluktuation kommt als artbildende Variations-
form in Betracht, während die Modifikation und Mutation nicht
zur Überschreitung der Artgrenzen führen.
Biologisches Centralblatt 1915. | 112
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Rage:
Toenniessen, Über Vererbung und Variabilität bei Bakterien. 399
Literatur.
Vererbungs- und Variabilitätsforschung:
. Darwin, Die Entstehung der Arten. 1859.
. Haeckel, Generelle Morphologie. 1866.
— ‚ Natürliche Schöpfungsgeschichte. 1889.
Nägeli, Mechanisch-physiologische Theorie der Abstammungslehre. 1884.
Hertwig, Oskar, Allgemeine Biologie. 1912.
Hertwig, Richard, Lehrbuch der Zoologie. 1912.
Weismann, Vorlesungen über Deszendenztheorie. 1913.
Plate, Vererbungslehre. 1913.
— , Selektionsprinzip. 1913.
10. — , Leitfaden der Deszendenztheorie. 1913.
ll. Johannsen, Elemente der exakten Erblichkeitslehre. 1913.
12. Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre. 1911.
13. Roux, Uber die bei der Vererbung von Variationen anzunehmenden Vor-
gänge. 1913.
14. Goldschmidt, Einführung in die Vererbungswissenschaft. 1913.
15. Haecker, Allgemeine Vererbungslehre. 1912.
eruoppwmwn
Bakteriologıie.
Aus der großen Zahl der Originalarbeiten über die Variabilitätserscheinungen
sind nur die genannt, welche zu meinen Befunden in unmittelbarer Beziehung stehen.
16. Koch, Untersuchungen über die Ätiologie der Wundinfektionskrankheiten. 1878.
17. Hauser, Über Fäulnisbakterien 1885.
18. Kruse, Ztschr. für Hyg. 1891.
19. Neisser und Massini, Arch. f. Hyg. 1907.
20. Beijerinck, Mutation bei Mikroben (Folia miecrobiol. 1912).
21. Baerthlein, Arb. a. d. Kaiserl. Gesundheitsamte 1912 und die dort eitierten
Arbeiten des gleichen Verf.
22. = Centralbl. f. Bakt. Abt. I, Ref. Bd. 57 (7. Tagung der freien
Vereinig. f. Mikrobiol. Berlin 1913).
23. Eisenberg, Centralbl. f. Bakt. Abt. I Orig. Bd. 63 u. 66.
24. Wilde, Über den Baeillus pneumoniae Friedländers (Diss... Bonn 1896.
25. Toenniessen, Centralbl. f. Bakt. Abt. I Orig. Bd. 69, 73 und 75.
26. Mazzetti, Centralbl. f. Bakt. Abt. I Orig. Bd. 68.
27. Swellengrebel, Arch. f. Protistenk. Bd. 31 1913.
[8
[ü
Zusammenfassende Werke.
28. Pringsheim, Die Variabilität niederer Organismen. 1910. Hier ausführliche
Literaturangaben über die Einzelbefunde.
29. Heim, Lehrbuch der Bakteriologie. 4. Aufl.
30. Gotschlich, Kolle-Wassermann’s Handbuch. 2. Aufl. Bd. 1, 1912.
3l. Kruse, Allgemeine Mikrobiologie. 1910.
Photogramme.
Die Bilder habe ich im Einverständnis mit dem Verlag Gustav Fischer in Jena
meiner Originalarbeit im Centralblatt für Bakteriologie Orig. Bd. 73 entnommen.
Ich sage dem Verlag für dieses Entgegenkommen meinen besten Dank. Für die
Anfertigung der Mikrophotogramme bin ich Herrn Prof. Heim zu Dank verpflichtet.
Fig. 1. Normaler Phaenotypus in Tusche aufgeschwemmt. Man sieht deut-
lich die Zusammensetzung des Bazillus aus Endo- und Ektoplasma sowie die
Schleimhülle.
Fig. 2. Agarkultur des phaenotypisch normalen Bazillus, auf dem Objektträger
ausgestrichen, durch Hitze fixiert und mit Methylenblau gefärbt. Sämtliche Indi-
viduen erscheinen in gleicher Weise in die Schleimsubstanz eingebettet.
330 Warming’s Lehrbuch der ökologischen Pflanzengeographie.
Fig. 3 Agarkolonie (Gussplatte), phaenotypisch norınal, 4 Tage alt (war
24 Stunden bei 37°, 3 Tage bei 15° C. gewachsen). 7fache Vergrößerung. Die
Kolonie zeigt nur eine Spur von Radiärstreifung.
Fig. 4. Zwei modifizierte Kolonien, Sfach vergrößert. Deutliche Radiärstreifung.
Die dunkler erscheinende Kolonie ist stärker, die hellere in mittlerem Grade modi-
fiziert. Die konfluierende Partie ist homogen und enthält nur Individuen, die in
den Typus zurückgeschlagen sınd.
Fig. 5. Ausstrichpräparat einer modifizierten Kolonie (Hitzefixation, Methylen-
blaufärbung). Die Individuen erscheinen je nach Menge der gebildeten Kapselsub-
stanz heller oder dunkler.
Fig. 6. Nicht zum Abschluss gekommene Mutation. Die mutierenden Indi-
viduen erscheinen als helle Gebilde, da sie keine Schleimhüllen bilden.
Fig. 7. Die Mutation vollendet. Neben den normal gebliebenen Bazillen
schlanke Stäbchen, die Mutanten.
Fig. 8. Reinkultur der Mutante.
Fig. 9. Kolonie der Mutante, 4 Tage alt, 7fach vergrößert. Keine Radiär-
streifung. Die kleinen Kolonien sind tiefliegende.
Fig. 10. Kolonie der Fluktuante III. 4 Tage alt, 7fach vergrößert. Keine
vadiärstreifung.
Fig. 11. Fluktuante III (Hitzefixation, Methylenblaufärbung). Die Schleim-
hüllen fehlen, das Endoplasma ist unverändert geblieben. Die Bazillen liegen als
plumpe, fast farblose, säckchenförmige Gebilde eng aneinander. In ihrem Innern
zeigen sie besonders deutlich die zu kugeligen oder ovalen Formen geschrumpfte
Chromatinsubstanz.
Eugen Warming’s Lehrbuch der ökologischen
Pflanzengeographie.
3. umgearbeitete Auflage von E.E Warming und P. Graebner. 1. Lief. Oktav.
80 S., 42 Abb. Berlin 1914. Gebr. Borntraeger.
20 Jahre ıst es her, seit die erste Auflage von Warming’s
Ökologischer Pflanzengeographie es zum ersten Male unternahm,
die Verteilung der Pflanzen auf der Erde, die gemeinsamen Züge
der Pflanzengenossenschaften und die Grenzen ihrer Verbreitung
mit Hilfe der schon reich ausgebildeten ökologischen Forschung zu
erklären. Seitdem ist die zuerst mit Hilfe weniger geeigneter Ver-
suchspflanzen entstandene Physiologie auf eine breitere Grundlage
gestellt worden, und auch die Anatomie begnügt sich nicht mehr
damit, Grundtypen aufzustellen, sondern vergleicht den Bau ver-
schiedener Pflanzen und selbst derselben Art unter verschiedenen Be-
dingungen. Damit ist ein Material geschaffen worden, das der Pflanzen-
geographie zugute kommen muss. Diese umgekehrt bietet der phy-
siologischen Ökologie, der Wissenschaft der Gegenwart und Zukunft
reichliche Fragestellungen. Denn nur dadurch, dass die durch bloße
Beobachtung gewonnenen Deutungen der Zusammenhänge zwischen
Bau und Aufgabe der Teile im Versuch erhärtet werden, gewinnt
das Ganze die genügende Sicherheit, um weiter darauf zu bauen,
und wird der Blick des Forschers so geschärft, dass er nicht an
oberflächlichen Deutungen hängen bleibt. Es sei hier nur an zwei
Beispiele von sehr vielen, den Laubwechsel und die Ameisenpflanzen
erinnert, die deutlich zeigen, wie wichtig der Versuch auch für
pflanzengeographische Fragen ist.
v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen. 331
Die neue Auflage des Warming’schen Werkes ıst mit zahl-
reichen, sehr guten Abbildungen versehen, die bisher fehlten und
eine wertvolle Bereicherung darstellen.
Der Text hat die alte Anordnung beibehalten, ist aber überall
ergänzt worden. Die vorliegende Lieferung enthält die Schilderung
der ökologischen Faktoren, Licht, Wärme, Feuchtigkeit u. s. f. ın
ihrer Wirkung auf Pflanzenleben und Pflanzengestalt. Die Dar-
stellung ist natürlich sehr gedrängt, aber klar. Bei größerer Breite
wäre ja aus diesem Teil schon ein ganzes Handbuch der öko-
logischen Physiologie geworden. Die Auswahl der Tatsachen ist
manchmal etwas willkürlich, im ganzen aber glücklich. Nach Er-
scheinen der übrigen Lieferungen kommen wir auf das Werk zurück.
E. 6. Pringsheim.
H. v. Buttel-Reepen. Leben und Wesen der Bienen.
Mit 60 Abbildungen und einer Tabelle. Braunschweig 1915. Vieweg u. Sohn.
Das Leben der Bienen ist bereits des öfteren monographisch
dargestellt worden. Manche von diesen Darstellungen aber machen
schon von vornherein keinen Anspruch auf Wissenschaftlichkeit
— ich erinnere nur an Maeterlinck’s „wundervollen Bienen-
roman“, wie ihn v. Buttel-Reepen nennt —, andere sind im
wesentlichen für die Imker bestimmt, und auch in diesen findet
sich häufig genug Wahrheit und Dichtung in buntem Gemisch. In
so kritischer Weise wie in dem vorliegenden Werke v. Buttel-
Reepen’s ist indessen das Thema wohl bisher überhaupt noch nicht
behandelt worden. Es dürfte aber auch unter den heute lebenden
Bienenforschern wohl kaum einer gefunden werden, der geeignet
wäre, in ähnlicher Weise wie der Verf. in der umfangreichen Lite-
ratur, die sich mit der Biene befasst, die Spreu vom Weizen zu
sondern. v. Buttel-Reepen kennt nicht nur die gesamte Lite-
ratur wie kein zweiter, er beschäftigt sich auch selbst seit vielen
Jahren mit den verschiedensten Problemen dieses Gebietes, so dass
er so ziemlich in jedem Kapitel seines Werkes sein Urteil auf eigene
Untersuchungen gründen kann.
Entsprechend dem Titel zerfällt das Buch in zwei Teile. Der
erste ist dem „Leben der Bienen“ gewidmet, der zweite, handelt
vom „Wesen der Bienen“. Einen kurzen systematischen Überblick
über die Gattung Apis schickt der Verf. dem ersten Kapitel voraus.
Wenn er trotz Prioritätsgesetz die richtigere Bezeichnung Apis
mellifica — anstatt der älteren falschen A. mellifera — wählt, so
wird man ihm wohl ziemlich allgemein zustimmen.
„Die Urheimat der Bienen“ behandelt das erste Kapitel. Da
unsere Kenntnisse über fossile Bienen verhältnismäßig gering sind,
so sind wir hier natürlich vielfach auf Vermutungen angewiesen.
In Zentraleuropa sieht der Verf. die Heimat der verschiedenen
Bienengeschlechter, die sich vermutlich in der Kreide von den
Grabwespen abgezweigt haben. In der Kreide dürfen wir wohl
auch den Beginn primitiver Staatenbildung bei den Apiden ver-
332 v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen.
muten. Einen eingehenden Überblick über die heutige Verbreitung
der verschiedenen Varietäten der Honigbiene und ihrer nächsten
Verwandten gewährt das nächste Kapitel. Da die meisten Bienen-
rassen in den verschiedensten Ländern vielfach vermischt worden
sind, haben wir mancherorts heutzutage kaum noch reine Varietäten,
und wer einmal die Honigbiene zu Variations- und Vererbungs-
studien benutzt, darf diese Tatsache nicht außer acht lassen. Ihm
wird die Zusammenstellung v. Buttel-Reepen’s ein wertvoller
Wegweiser sein.
Ganz kurz werden dann die verschiedenen Kasten im Bienen-
staat und die wichtigsten Stadien der Entwickelung des Embryos
geschildert.
Über das vielerörterte Problem der Fortpflanzung der Honig-
biene wird ım vierten Kapitel eine gedrängte Übersicht gegeben,
denn „es würde wohl ein Buch für sich bedeuten, wollte man die
Geschichte der Parthenogenesis, der ‚jungfräulichen Zeugung‘ bei
der Honigbiene nur einigermaßen ausführlich schildern, es würde
zugleich eine Geschichte menschlicher Irrungen, Wirrungen und
laienhafter fixer Ideen sein, eine Schilderung der sonderbarsten
leidenschaftlichsten Kämpfe, und schließlich ein Abklingen in Welt-
anschauungsfragen....“ Es kann heute keinem Zweifel mehr unter-
liegen, dass die Dzierzon’sche Theorie zu Recht besteht. Zahl-
reiche biologische Beobachtungen und zytologische Untersuchungen
berechtigen uns zu dieser Behauptung. Nach v. Buttel-Reepen’s
Ansicht gründet sich „die ganze Staatenbildung auf dem Vorhanden-
sein einer parthenogenetischen Zeugung.“ Der weiteren Aufklärung
bedürfen jedoch noch einige Beobachtungen über die Vererbung
bei der Honigbiene, so z. B. die Beobachtung des Verf., dass bei
einer bestimmten Kreuzung zweier Bienenrassen die Königin im
ersten Jahre zwar Arbeiterinnen erzeugt, die offensichtlich Bastarde
sınd, während im nächsten und in den folgenden Jahren ihre Nach-
kommen kaum noch Merkmale vom Vater zeigen. Sollten die
Samenfäden im Receptaculum im Laufe der Jahre ihre vererbende
Kraft verlieren? Die Honigbiene ist bisher zu wissenschaftlichen,
einwandfreien Vererbungsstudien überhaupt noch nicht verwandt
worden, obwohl doch gerade die Tatsache, dass das eine Geschlecht
parthenogenetisch entsteht, besonders interessante Untersuchungen
ermöglichen würde. Freilich, leicht ist es nicht, mit der Honig-
biene einwandfrei zu experimentieren!').
1) Verf. kommt in diesem Kapitel auch auf die Zwitterbienen zu sprechen.
Er akzeptiert die Erklärung Boveri’s, der es für möglich hält, „dass der Eikern
sich schon vor der Kopulation mit dem Spermakern, auf Grund seiner partheno-
genetischen Fähigkeiten, teilt und der Spermakern erst mit einem der Furchungs-
kerne verschmilzt“. v. Buttel-Reepen meint dazu, man brauchte im Eugster’-
schen Falle „nur anzunehmen, dass die betreffende Königin die Eigenschaft besessen
hätte, die Eier außergewöhnlich lange im Ovarium zurückzubehalten, so dass Tei-
lungsvorgänge bei der Befruchtung vor sich gehen konnten.“ Es scheint jedoch,
dass das Entstehen von Zwitterbienen nicht auf eine Anormalität der betreffenden
Königin zurückgeführt werden kann, sondern die Ursache dürfte in der Regel in
v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen. 333
Die stammesgeschichtliche Entstehung des Bienenstaates hat
der Verf. bereits vor einer Reihe von Jahren zum Thema einer
umfassenden Studie gemacht. Die wichtigsten Ergebnisse seiner
damaligen Untersuchungen teilt er auch hier mit, ergänzt durch in
der Zwischenzeit gewonnene Erfahrungen. Besonderes Interesse
wird auch der zweite Teil dieses Kapitels finden, betitelt „Zur
‚Geschiehtsphilosophie‘ des Bienenstaates“, in dem v. Buttel-
Reepen zu verschiedenen Ansichten über "einzelne Probleme der
Staatenbildung Stellung nimmt. So erörtert er, um nur einiges zu
nennen, die Frage des polygynen oder monogynen Ursprungs der
Staatenbildung, das Wesen der verschiedenen Schwarmarten, sodann
die seinerzeit zwischen Weismann, H.Spencer, 0. Hertwi igu.a.
viel diskutierte Frage, wieviele Keimesanlagen im Keimplasma der
Bienenkönigin anzunehmen sind.
Da das Werk kein Lehrbuch für Bienenzüchter sein soll, kann
der Verf. sich auf eine kurze Darstellung der Wohnungen der
„modernen“ Biene beschränken. Der „Stabilbau“ ıst mehr und
mehr durch den „Mobilbau“ verdrängt worden, nur in wenigen
Gegenden, z. B. in der Lüneburger Heide, sieht man noch das
Wahrzeichen der alten Bienenzucht, den bekannten Stülpkorb aus
Stroh. Als den Begründer des Mobilbaues betrachtet der Verf.
Francois Huber. Dass die Kastenbienenzucht mit beweglichen
Waben in Deutschland einen so großen Aufschwung genommen
hat, verdanken wir in erster Linie Dzierzon, dem Erfinder der
„Stäbehen“, und v. Berlepsch, der diese zu den „Rähmchen“
vervollkommnete, die, nur unwesentlich verändert, noch heute all-
gemein in Gebrauch sind.
Im nächsten Kapitel schildert der Verf. das Leben und Treiben
einer Bienenkolonie ım Laufe eines Jahres. Die Biologie der Honig-
biene bietet eine so unendliche Fülle des Interessanten, dass man
es bei dem Geschick, mit dem der Verf. alle Fragen kritisch zu
behandeln weiß, eigentlich bedauern muss, dass einzelne Abschnitte
hier etwas kurz dargestellt worden ‚sind. Zwei besonders inter-
essante Kapitel aus der Biologie werden allerdings dann ım folgen-
den noch etwas ausführlicher behandelt: das Pollensammeln und
die Wachsausscheidung. Erst in den letzten Jahren hat man die
Vorgänge sowohl beim Pollensammeln wie auch bei der Wachs-
ausscheidung richtig verstehen gelernt. Einzelnen Organen der
Arbeiterin hatte man gänzlich falsche Funktionen zugeschrieben.
Die „Wachszange“ dient nicht, wie man bis vor kurzem glaubte,
einer vorausgegangenen Kreuzbefruchtung zu suchen sein. Die Eugster’sche
Königin war nach v. Siebold eine von einer deutschen Drohne begattete reine
Italienerin. Auch die jüngst durch v. Engelhardt beschriebenen Zwitterbienen
„stammten von einer italienischen Königin ab, die von einheimischen Drohnen be-
fruchtet worden war.“ Dass aber bei einer Kreuzbefruchtung das Spermium in dem
„fremden“ Ei sich mitunter nicht so rasch in den männlichen Vorkern umzuwandeln
vermag wie unter normalen Verhältnissen — so dass der weibliche Vorkern die
Möglichkeit zu einer parthenogenetischen Entwickelung erhält —, dürfte nicht weiter
verwunderlich erscheinen.
334 v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen.
zum Erfassen der zwischen den vier untersten Bauchsegmenten
ausgeschiedenen Wachslamellen, sondern sie ist ein Pollensammel-
apparat, wie Sladen als erster feststellte und der Verf. dann auch
durch eigene Beobachtungen bestätigen konnte. Zum Herausziehen
der Wachslamellen dienen die Bürsten an den Metatarsen. Die
beiden Kapitel sind durch besonders gute Abbildungen nach den
Originalen des amerikanischen Bienenforschers Oasteel illustriert.
Der zweite Teil des Buches handelt, wie gesagt, „vom Wesen
der Honigbiene“. Zunächst werden die Sinne besprochen. Dass
den Bienen ein vortreffllicher Ortssinn eigen ist, lässt sich am
Bienenstande leicht beobachten, jeder Imker rechnet damit. Nach
des Verf. Ansicht vollzieht sich die Orientierung „in der Haupt-
sache durch das Sehvermögen, alle anderen Faktoren spielen durch-
aus eine Nebenrolle“. Der Farbensinn der Honigbiene ist ın den
letzten Jahren von verschiedenen Seiten untersucht worden, Unter-
suchungen, die zu der Kontroverse zwischen v. Hess und v. Frisch
geführt haben. v. Hess glaubt bekanntlich bewiesen zu haben, dass
die Fische und sämtliche Wirbellosen keinen Farbensinn besitzen,
dass sie vielmehr die Farben wie der total farbenblinde Mensch
nur nach Helligkeitswerten unterscheiden. v. Buttel-Reepen er-
hebt zwar gegen die Untersuchungen von v. Hess eine Reihe von
Einwänden, vermeidet es aber doch, direkt gegen ıhn Stellung zu
nehmen. Hätte ıhm bei der Niederschrift dieses Abschnittes be-
reits die soeben erschienene ausführliche Arbeit v. Frisch’s vor-
gelegen, in der dieser neben dem Farbensinn auch den Formensinn
eingehend behandelt, hätte er zudem noch, wie der Referent, die
Versuche v. Frisch’s während des letzten Zoologenkongresses ge-
sehen, so würde wohl auch er keine Bedenken mehr getragen haben,
den Bienen einen Farbensinn zuzuerkennen?). Im Abschnitt über
das Geruchsvermögen konnte der Verf. eben noch die interessanten
neuen Untersuchungen McIndoo's berücksichtigen. Die von
MeIndoo entdeckten, hauptsächlich an den Beinen liegenden
Organe sind zweifellos Geruchsorgane, dass aber den antennalen
Organen keinerlei Geruchsfunktionen zukommen, wie MelIndoo
meint, bezweifelt v. Buttel-Reepen wohl mit Recht. Ausführlich
wird dann noch erörtert der Gehörsinn. Auch einen solchen ver-
mag man heute den Bienen nicht mehr abzusprechen.
Den Instinkten und der Psyche der Bienen sind die beiden
letzten Kapitel gewidmet, den Instinkten, soweit diese nicht bereits
in den früheren Kapiteln besprochen worden sind. Es kommt dem
Verf. hier besonders darauf an, „eine Reihe von Instinkten und
einige morphologische Ausgestaltungen im Licht deszendenztheore-
tischer Betrachtungen darzulegen“. Es sind da in erster Linie die
zahlreichen atavistischen Erscheinungen im Bienenstaat zu nennen,
2) Anm. bei der Korrektur. In einem inzwischen erschienenen Referat
der Arbeit v. Frisch’s (Haben die Bienen einen Farbensinn? Die Naturw.,
3. Jahrg., 1915) sagt denn auch v. Buttel-Reepen: „Es scheint mir, dass auch
der letzte Zweifel an dem Vorhandensein eines Farbensinnes durch diese Ausführungen
zum Schwinden gebracht wird.“
Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwickelung und ihre Ziele. 335
die Instinktsirrungen u. s. w. Des Verf. Ansicht über die Höhe
der seelischen Qualitäten der Bienen sei mit seinen eigenen Worten
wiedergegeben: „Zweifellos müssen wir manche Lebensäußerungen
der Bienen als einfachste Reflexerscheinungen bezeichnen, aber da-
neben dokumentieren sich, wie wir gesehen haben, so zahlreiche
Instinkte, die nicht nur maschinell, automatisch verlaufen, sondern
mit mehr oder minder höheren psychischen Fähigkeiten verbunden
sind, dass jene bekanntlich schon von Descartes befürwortete
Maschinentheorie bei einiger Kenntnis der Biologie hinfällig er-
scheint.“
Nicht unerwähnt möge zum Schluss noch bleiben, dass dem
Werke ein ausführliches Literaturverzeichnis sowie 60 Abbildungen,
darunter zahlreiche Originale, beigegeben sind.
Nachtsheim, Freiburg i. Br.
Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung
und ihre Ziele.
Herausgegeben von Paul Hinneberg. III. Teil. Mathematik, Naturwissen-
schaften, Medizin. 4. Abteilung. Organische Naturwissenschaften. Unter Leitung
von R. Wettstein. I. Band. Allgemeine Biologie. Redaktion: 7 C. Chun und
W. Johannsen. Unter Mitwirkung von A. Günthart Leipzig, Berlin 1915.
B. G. Teubner.
Aus dem Inhaltsverzeichnis: Em. Rädl: Zur Geschichte
der Biologie von Linn& bis Darwin. Alfred Fischel: Die Rich-
tungen der biologischen Forschungen (zoologische Forschungs-
methoden). ©. Rosenberg: Die Untersuchungsmethoden des
Botanikers. H. Spemann: Geschichte und Kritik des Begriffs der
Homologie. Otto zur Strassen: Die Zweckmäßigkeit. Wolf-
gang Ostwald: Allgemeine Kennzeichen der organisierten Sub-
stanz. Wilhelm Roux: Das Wesen des Lebens. Waldemar
Schleip: Lebenslauf, Alter und Tod des Individuums. B. Lid-
forss: Protoplasma. Zellulärer Bau, Elementarstruktur, Mikro-
organismen, Urzeugung. G. Senn: Bewegungen der Chromato-
phoren. Max Hartmann: Mikrobiologie. Allgemeine Biologie der
Protisten. Ernst Laqueur: Entwickelungsmechanik tierischer
Organismen. H. Przibram: Regeneration und Transplantation im
Tierreich. Erwin Baur: Regeneration und Transplantation im
Pflanzenreich. Emil Godlewski, jun.: Fortpflanzung im Tierreich.
P. Claussen: Fortpflanzung im Pflanzenreich. W. Johannsen:
Periodizität im Leben der Pflanzen. Otto Porsch: Gliederung
der ÖOrganismenwelt in Pflanze und Tier. Wechselbeziehungen
zwischen Pflanze und Tier. P. Boysen-Jensen: Hydrobiologıie.
W. Johannsen: Experimentelle Grundlagen der Deszendenzlehre;
Variabilität, Vererbung, Kreuzung, Mutation.
Unter den Bänden der „Kultur der Gegenwart“, biologischen
Inhalts, dürfte der vorliegende eine besondere Stelle einnehmen. Seine
Aufgabe ist es nicht, in erster Linie eine gesichtete und ausgewählte
Übersicht über das Tatsachenmaterial abgerundeter Wissensgebiete
336 Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart, ihre Entwicklung und ihre Ziele.
zu geben. Zunächst ist ja schon der Begriff „allgemeine Biologie“
mehr oder weniger willkürlich. Man kann zu solch einem Allge-
meinteile Abschnitte über allgemein biologisches Denken, über Me-
thodik, dann aber selbst einzelne Experimentaldisziplinen zählen.
Die letzteren zumal werden je nach der Ansicht dieser hierher, jener
aber ın die speziellen Bände gehören. (So finden wir z. B. den
zoologischen Teil der Entwickelungsmechanik hier, den botanischen
Teil jedoch mit den übrigen Abschnitten der Pflanzenphysiologie
vereinigt in Bd. 3.) „Eine einheitliche Darstellung. .. ist ausge-
schlossen; der Band bildet vielmehr eine recht bunte Mosaikdar-
stellung der allgemeinen Biologie!).“ Referent kann aus diesem Um-
stande dem Buche gewiss keinen Vorwurf machen. Im Gegenteil:
Der „Kultur der Gegenwart“ würde bei weniger geschickter Leitung
kaum eine größere Gefahr haben drohen können, als die: eine
Sammlung mehr oder weniger populärer Lehrbücher zu werden.
Nichts konnte sie mehr davor bewahren als der Ersatz systematischer
Darstellung durch eine Reihe sehr persönlicher Aufsätze: Anregung
statt Ermüdung beim Leser, auch bei dem in diesen Dingen unge-
schulten Leser, wie er für dıe „Kultur der Gegenwart“ in erster Linie
ın Frage kommt.
Hierzu kommt ferner, dass die Form des „Mosaiks“ die Mög-
lichkeit gab, verschiedenartigen Autoren die Gelegenheit zu geben,
über dasjenige zu berichten, was ihre Gedanken in erster Linie be-
wegt: Nicht eine Darstellung ihnen mehr oder weniger geläufiger,
umfassender Gebiete, vielmehr ihr eigenstes durften und mussten
sie geben: „Die Repräsentation recht verschiedener Standpunkte
durch die Autoren hat... den Inhalt des vorliegenden Bandes sehr
reich und anregend gemacht. Besonders interessant wird wohl der
Leser die höchst verschiedene Wertschätzung des Selektionsgedankens
sowie der Lamarck’schen Auffassung finden. Die gelegentliche
Uneinigkeit der hier zusammenarbeitenden Autoren ist ja selbst
ein Ausdruck des jetzigen Zustandes der biologischen Forschung
und muss schon deshalb zu Worte kommen. Der einzelne Autor
muss ın dem Ringen der Ideen für sich selbst sprechen“). Dieser
Band ist somit ein Buch, das man nicht zum Nachschlagen benutzt,
aus dem man nicht, der Not gehorchend, studiert, sondern das man
liest! Auch dem Fachmanne wird es Freude, ja oft Genuss ver-
schaffen.
Eine Inhaltsangabe oder gar eine kritische Besprechung muss
der Referent sich versagen. Nicht nur des Raumes in dieser Zeit-
schrift wegen: Man kann das Vorgetragene lesen, man kann in
mancher Hinsicht anderer Meinung sein, allein man wird auch dann
in den Aufsätzen hinreichend Gesundes und Geistvolles finden:
Solche Darbietungen nımmt man hin, wie sie gegeben wurden.
EN H. Jordan (Utrecht).
1) Johannsen im Vorwort.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt,
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. RK. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem
Berg 14, einsenden zu wollen.
Bd. XXXV. 20. September 1915. %8u.9.
——! Te
[nhalt: Jollos, Stanislaus von Prowazek +. — Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei
Moina rectirostris. — Pringsheim, Die Kultur von Paramaecium Bursaria. — Wasmann,
Nils Holmgren’s ‚Termitenstudien‘“‘. — Löhner, Uber künstliche Fütterung und Ver-
dauungsversuche mit Blutegeln. — Roux, Die Selbstregulation ein eharakteristisches und
nicht notwendig vitalistisches Vermögen aller Lebewesen. — Brehm’s Tierleben. — Brehm’s
Tierbilder. — Palladin, Pflanzenanatomie. — Zehnder, Der ewige Kreislauf des Weltalls. —
Meyer, Einführung in die Mikroskopie.
Stanislaus v. Prowazek Y}.
Von V. Jollos (Berlin).
Am 17. Februar starb in Kottbus am Fleckfieber, das er sich
bei Untersuchungen im Kriegsgefangenenlager zugezogen hatte, der
Leiter der Abteilung für Protozoenforschung am Institut für Schiffs-
und Tropenkrankheiten in Hamburg, Professor Dr. Stanıslaus
v. Prowazek. — Selbst in unserer Menschenleben in nie geahnter
Weise entwertenden Zeit können wir an dem Tode des hervor-
ragenden Forschers nicht stumm vorübergehen, sondern wollen auch
an dieser Stelle seiner und seines Werkes gedenken; spiegelt sich
doch in ihm ein gutes Stück des Entwicklungsganges eines bio-
logischen Wissenszweiges, der modernen Protistenkunde.
Der Erforschung der Einzelligen galt Prowazek’s wissenschaft-
liche Arbeit von Anfang an: „Protozoenstudien“ waren der Gegen-
stand seiner Doktordissertation, mit der er nach vierjährigem Stu-
dıum der Naturwissenschaften an den Universitäten Prag und Wien,
24 Jahre alt, 1899 in Wien mit Auszeichnung promovierte, und
Protozoenstudien und mit ihnen zusammenhängende Fragen be-
handeln auch weitaus die meisten seiner zahlreichen späteren Unter-
XIRY, Be
338 Jollos, Stanislaus v. Prowazek r.
suchungen. Eine selten vielseitige und gründliche Ausbildung
ermöglichte es ihm hierbei, Problemen der verschiedensten Art
nachzugehen: Hatte er sich bereits während seines Universitäts-
studiums neben der Zoologie — und neben seinem Lieblingsgebiete,
der Philosophie — gründliche Kenntnisse der Botanik und Physik
erworben, so bot sich ihm bald darauf, als Ehrlich ihn im Jahre
1901 als Assistenten nach Frankfurt rief, die günstigste Gelegen-
heit die Ergebnisse und Probleme der Immunitätsforschung an der
Quelle zu studieren. Im nächsten Jahre sehen wir ıhn dann als
Assistenten am Institute Richard Hertwig’s in München, der
gastlichen Arbeitsstätte so vieler Protozoenforscher. Und nachdem
er hier seine Kenntnisse des Baues und der Lebenserscheinungen
der Einzelligen erweitern konnte, führt ıhn abermals nach einem
Jahre der Ruf Schaudinn’s an das Reichsgesundheitsamt und be-
stimmt damit seine weitere Laufbahn. Als Mitarbeiter Schau-
dinn’s wandte sich Prowazek zunächst ın Rovigno, später in
Berlin dem Studium der parasitischen und pathogenen Protozoen
zu. Er beteiligte sich an den bahnbrechenden Arbeiten des Meisters
der modernen Protistenkunde und führte auch selbst wertvolle
Untersuchungen über den Entwicklungsgang parasitischer Flagel-
laten durch. Als Schaudinn dann einem Rufe an das Institut
für Schiffs- und Tropenkrankheiten nach Hamburg folgte, übernahm
Prowazek an seiner Stelle die Leitung des Protozoenlaboratoriums
am Reichsgesundheitsamt. Bald nach dem frühen Tode Schau-
dinn’s ging er mit der Neisser’schen Syphilisexpedition nach
Java. Nach seiner Rückkehr wurde er im Jahre 1907 Nachfolger
Schaudınn’s in Hamburg. Von Hamburg aus unternahm er in
der Folge mehrere große Reisen zu Forschungs- und Lehrzwecken:
nach Brasilien, den Südseeinseln, nach Serbien und Konstantinopel;
von Hamburg ging er endlich auch nach dem Ausbruch von Fleck-
fieberepidemien ın Lagern russischer Kriegsgefangener nach Kottbus,
um die Ätiologie dieser Seuche zu studieren, mit der er sich be-
reits in Serbien und der Türkei eingehend beschäftigt hatte und
der er nun selbst zum Opfer fiel.
Vielgestaltig wie sein Lebensgang erscheinen auch die wissen-
schaftlichen Arbeiten und Interessen Prowazek’s: Neben Proto-
zoenuntersuchungen vorwiegend morphologischer Art wandte er
sich stets besonders gern physiologischen Fragen zu und suchte
auch die Vorstellungen und Ergebnisse moderner physikalisch-
chemischer Forschung zur Aufklärung von Vorgängen bei den Ein-
zelligen nach Möglichkeit zu verwerten. — In der ersten Zeit, aus
der auch verschiedene entomologische, zytologische und entwick-
lungsmechanische Arbeiten stammen, beschäftigte ihn vor allem
das Studium des Baues und der Vermehrung frei lebender Proto-
zoen. In seinen „Flagellatenstudien“ suchte er schon 1903 eine
Jollos, Stanislaus v. Prowazek 7. 339
Einteilung dieser Gruppe auf Grund der Geißelinsertionen und der
Kernstrukturen zu geben. Eine Untersuchung über Gregarinen
stellte fast gleichzeitig mit Cu&enot und unabhängig von diesem
wichtige Grundzüge des Entwicklungsganges dieser Parasiten klar.
Während seiner Münchener Tätigkeit beteiligte er sich an den von
R. Hertwig ausgehenden Untersuchungen über den Zusammen-
hang wichtigster Lebensäußerungen und morphologisch nachweis-
barer Verhältnisse bei Protozoen.
In den darauf folgenden Jahren beschäftigte er sich unter
dem Einflusse Schaudinn's vor allem mit der Entwicklung
parasitischer Formen und veröffentlichte größere Arbeiten über
den lebenslauf parasitischer Flagellaten aus dem Darme der
Eidechse und der Stubenfliege sowie über die Entwicklung des
Rattentrypanosoma, bei dem er als erster für Trypanosomen
Kopulationsvorgänge beschrieb, — Untersuchungen, deren Ergeb-
nisse in der Folge zwar zum Teil lebhaft umstritten wurden
und werden, die aber unter allen Umständen eine wertvolle Be-
reicherung unserer Kenntnisse von den parasitischen Protozoen
bilden und neben den Arbeiten Schaudinn’s für unsere Vorstel-
lungen von Bau und Entwicklung der Flagellaten grundlegende
Bedeutung hatten. Weitere Arbeiten behandelten die durch Schau-
dinn’s Entdeckung des Syphiliserregers besonders wichtig ge-
wordene Gruppe der Spirochaeten und zeigten aus dem Bau und
dem Verhalten gegenüber verschiedenen äußeren Einflüssen sıch
ergebende Unterschiede dieser Mikroorganismen und der Bakterien.
Während seiner Tätigkeit am Reichsgesundheitsamt wandte
sich Prowazek endlich auch der Erforschung einer Reihe von In-
fektionskrankheiten mit unbekannten Erregern zu. Zuerst bei
Variola resp. Vaccine gelang es ıhm, in den Epithelzellen der ge-
impften Kaninchencornea neben den schon früher beschriebenen
größeren „Guarnierisschen Körperchen“ kleinste Einschlüsse be-
sonderer Art nachzuweisen und zu verfolgen. Diese kleinsten Ge-
bilde sprach er als Erreger der Infektion an und glaubte seine
eigenen Befunde und die anderer Untersucher über verschiedene
teils extra-, teils intraepitheliale Gebilde zu einer Art Entwicklungs-
kreis zusammenfügen zu können: Danach würden kleinste Mikro-
organismen („Initialkörperchen“) die Infektion bewirken, in Epithel-
zellen eindringen und zunächst zu den kleinen „Elementarkörperchen*
heranwachsen. Diese vermehren sich durch fortgesetzte Teilung
und veranlassen die befallene Epithelzelle zur Ausscheidung be-
stimmter Substanzen, die die eingedrungenen Parasiten einzeln
oder in größerer Zahl vereint mit einer Hülle umgeben, so dass
die zuvor erwähnten größeren Einschlüsse (Guarnieri-Körperchen)
entstehen. Diese stellen also nach Prowazek nicht den Erreger
selbst vor, sondern ein spezifisches Reaktionsprodukt der infizierten
99%
340 Jollos, Stanislaus v. Prowazek 7.
Zelle, in dem sich erst die Erreger befinden und vermehren können,
und das im weiteren Gange der Entwicklung wieder zerfällt und
eben die in seinem Inneren eingeschlossenen und durch zahlreiche
Teilungen vermehrten kleinsten Stadien des Erregers („Initial-
körperchen‘“) austreten und neue Epithelzellen befallen lässt. —
Diese zuerst bei Variola-Vaccine gewonnene Vorstellung glaubte
Prowazek im weiteren auch bei einer Reihe anderer menschlicher
und tierischer Infektionskrankheiten (Lyssa, Trachom, Molluscum
contagiosum u. a.) auf Grund eigener und fremder Beobachtungen
bestätigt zu sehen. (Von seinen eigenen Arbeiten auf diesem Ge-
biete sei vor allem noch die zusammen mit Halberstädter ver-
öffentlichte Feststellung entsprechender Einschlüsse beim Trachom
hervorgehoben.) Er fasste daher die Erreger all dieser Infektionen
als eine besondere Mikroorganismengruppe auf, der er wegen der
erwähnten von der befallenen Zelle um die Parasiten ausgeschie-
denen Hülle den Namen „Chlamydozoa“ gab (von yAauös — Mantel).
Ein abschließendes Urteil über diese Auffassung zu fällen, ist
heute noch nicht möglich, da erst die Zukunft zeigen muss, ob
und inwieweit es sich bei den Chlamydozoen Prowazek’s wirklich
um Mikroorganismen und nicht nur um spezifische — und als
solche für die Krankheitsdiagnose unter allen Umständen sehr
wichtige — Reaktionsprodukte der Zelle handelt. Jedenfalls hat
Prowazek selbst seine Anschauungen, abgesehen von morpho-
logischen Beobachtungen, auch durch scharfsinnige Filtrier- und
Übertragungsversuche speziell bei Variola-Vaceine zu stützen ge-
wusst. Dass er ım Zusammenhange mit diesen Untersuchungen
auch Fragen der Immunität bei Chlamydozoeninfektionen bear-
beitete, sei nur nebenbei erwähnt.
Von Prowazek’s pathogene Formen behandelnden Veröffent-
lichungen aus den letzten Jahren müssen wir endlich noch eine
zusammenfassende Darstellung der Infusorienenteritis (Balantidiosis)
sowie die Herausgabe des großen „Handbuches der pathogenen
Protozoen“ hervorheben, für das er selbst verschiedene Kapitel
bearbeitete, dessen Abschluss er aber nicht mehr erleben sollte.
Neben diesen auf breitester Grundlage durchgeführten medi-
zinisch-zoologischen Untersuchungen und Zusammenfassungen, neben
seiner weiteren Tätigkeit als Mitherausgeber des Archivs für Pro-
tistenkunde seit dem Tode Schaudinn’s, vernachlässigte Pro-
wazek aber auch in den späteren Jahren keineswegs das Studium
frei lebender Protozoen und die Behandlung allgemein biologischer
Fragen. In zahlreichen Mitteilungen veröffentlichte er interessante
Beobachtungen über Bau und Teilung, über Regeneration, Enzy-
stierung und manche anderen Lebenserscheinungen verschiedener
Einzelligen und über ihr Verhalten unter experimentell gesetzten
Bedingungen. Viele weitere Untersuchungen und Feststellungen
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung: bei Moina reetirostris. 341
brachte ferner seine 1910 erschienene gedankenreiche „Einführung
in die Physiologie der Einzelligen“, in der er gegenüber noch weit
verbreiteten Anschauungen den Standpunkt vertritt, dass die Proto-
zoen nicht als die einfachsten Lebewesen, sondern vielmehr als die
kompliziertesten Zellen zu werten seien. Dem auf diesem Gebiete
Bewanderten bietet das Buch wie auch die kleineren Veröffent-
lichungen eine Fülle von Anregungen und wertvollem Material,
allerdings nicht ohne gewisse Mühe. Denn die Darstellung ıst
häufig wenig ausgearbeitet und äußerst aphoristisch gehalten, so
dass wegen der Form dieser Arbeiten ihr Inhalt nicht die ge-
bührende Beachtung finden konnte.
In dieser flüchtigen Niederschrift der Ergebnisse auch der mühe-
vollsten und langwierigsten Untersuchungen offenbart sich uns ein
charakteristischer Zug von Prowazek’s wissenschaftlicher Arbeits-
weise: Er gehörte nicht zu jenen Forschern, die eine Untersuchung erst
aus der Hand geben, wenn sie sie in allen Einzelheiten ausgebaut und
auch für den Leser systematisch dargestellt haben ; ihm kam es vielmehr
nur darauf an, ein Problem für sich selbst klargelegt zu haben und
seine eigene Erkenntnis zu befriedigen. Und war dies Ziel erreicht,
so brachte er in seinen Veröffentlichungen häufig viel mehr Re-
flexionen über die gewonnenen Ergebnisse und ihren Erkenntnis-
wert, als dass er den Gang und die Einzelheiten seiner Unter-
suchung genauer auseinandersetzte. Nicht das einzelne Ergebnis
war es eben, was ihn bei seinen Arbeiten interessierte, sondern die
Schlüsse, die sich daraus für allgemeinere biologische oder erkenntnis-
theoretische Fragen ergaben.
So betrauern wir denn in Prowazek nicht nur einen der her-
vorragendsten Vertreter eines biologischen Spezialfaches, sondern
darüber hinaus einen Forscher, der über der Arbeit auf seinem
engeren Gebiete die großen I lem: der Biologie und Erkenntnis-
forschung nicht aus Sn Auge verlor. — Und die ihn persönlich
kennen lernen durften, werden dem still-bescheidenen, feinfühlenden
und vielseitig gebildeten Manne ein freundliches Andenken bewahren.
Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
Von Marta Grunewald (München).
I. Einleitung.
Die Fortpflanzungsverhältnisse der Cladoceren sind in den letzten
Jahren, besonders mit Hinblick auf das Problem der Geschlechts-
bestimmung mehrfach zum Gegenstand experimenteller Unter-
suchungen gemacht worden. Durch die Arbeiten von Woltereck
(1911), von Scharffenberg (1911; 1914) und Papanicolau (1911a
und b) ist nachgewiesen, a der Generationswechsel der Ulado-
3429 Grunewald, Über Veränderung der Fibildung bei Moina reetirostris.
ceren von äußeren Bedingungen abhängig ist, indem Wärme und
reichliche Nahrung die Parthenogenese, Kälte und Hunger den Ein-
tritt der Gamogenese begünstigen, was sich besonders in den mitt-
leren, den labilen Generationen bemerkbar macht.
Dieses Verhalten legt die Vermutung nahe, dass ın den Keim-
zellen im Verlaufe des Zyklus allmähliche Veränderungen vor sich
gehen, die als Übergangsformen zwischen der Bildungsart der par-
thenogenetischen und der befruchtungsbedürftigen Eier zu be-
trachten sind.
Ohne dass von vornherein über die Art etwaiger derartiger
Keimzellveränderungen etwas hätte vorausgesehen werden können,
wurden von diesem Gesichtspunkte aus die vorliegenden Unter-
suchungen, die im Münchener zoologischen Institut ausgeführt wurden,
unternommen. Meinem hochverehrten Lehrer, Herrn Geheimrat
Prof. R. von Hertwig, unter dessen Leitung mir zu arbeiten ver-
gönnt war, möchte ich an dieser Stelle meinen ehrerbietigsten Dank
sagen. Ebenso bin ich Herrn Prof. R. Goldschmidt zu vielem
Danke verpflichtet.
II. Material und Methode.
Meine Untersuchungen beziehen sich alle auf Moina rectirostris
var. Lilljeborgö, die ich aus einem Tümpel in Irschenhausen bezog,
aus dem auch das von Papanicolau zu seinen Experimenten be-
nutzte Material stammte. Da im Sommer 1913 der Tümpel zuge-
schüttet und überackert worden war, arbeitete ich außerdem mit.
Material, das ich mehrmals durch die Freundlichkeit des Herrn
Dr. Honiıgmann aus Halle erhalten konnte, dem ich auch an dieser
Stelle für seine Mühe meinen Dank sagen möchte. Die Aufzucht
der Dauereier geschah am erfolgreichsten im Thermostaten bei
24°C, in dem ich regelmäßig bereits nach 4 Tagen ausgeschlüpfte
Tiere fand, auch nachdem die Dauereier fast anderthalb Jahre aus-
getrocknet gelegen hatten.
Negative Erfolge ın der Aufzucht der Dauereier lassen sich
meinen Erfahrungen nach meist auf zu geringe Anzahl der ange-
setzten Ephippien zurückführen, da immer nur ein gewisser Prozent-
satz auszukriechen scheint; je zahlreicher das angesetzte Materıal,
desto größer ist also die Wahrscheinlichkeit für gute Resultate
beim Ausschlüpfen.
Nachdem sich die im Sommer 1913 durchgeführte Untersuchung
am konservierten, geschnittenen Material der im Sommer 1912 ge-
züchteten Tiere als ergebnislos erwiesen hatte, nahm ich im Winter
1913/14 die Untersuchung in der Weise wieder auf, dass ich die
Eibildung am lebenden Tiere verfolgte. Jedes einzelne Versuchs-
tier wurde vom Tage seiner Geburt an regelmäßig beobachtet und
die Beschaffenheit des Ovars genau untersucht, so dass die ein-
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 343
zelnen Stadien der Eibildung unter den verschiedenen Versuchs-
bedingungen kontinuierlich zur Beobachtung kamen, und auch die
Möglichkeit gegeben war, die Natur und das Geschlecht der aus
der betreffenden Eibildung hervorgehenden Tiere zu erkennen. Die
Durchsichtigkeit der Tiere infolge der sehr schwachen Struktur-
zeichnung der Schale ist Biere von großem Vorteil. Es ist da-
durch möglich, mit starken Vergrößerungen (Ölimmersion 2 mm
von Winckel, Kompensationsokulare 3, 5, 6) die Vorgänge im Ovar
genau zu verfolgen und mittels des Zeichenapparates (den Zeich-
nungen wurde stets die Kombination Immersion 2 mm, Kompen-
sationsokular 3 zugrunde gelegt) festzuhalten, so dass auf diese
Weise ein genaues Bild der Eibildung zustande kommt. Freilich
hat diese Untersuchungsmethode auch ihre Nachteile. Vor allem
gelingt es nicht immer, das Tier vor den Schädigungen, denen es
durch den Druck des Deckglases ausgesetzt ist, zu bewahren, und
man ist gezwungen, eine sehr große Zahl von Tieren zu unter-
suchen, weil die Beobachtungsreihen häufig durch frühzeitiges Ab-
sterben der Versuchstiere missglücken. Dazu kommt, dass Moina
rect. nicht gerade zu den widerstandsfähigsten Uladoceren zu ge-
hören scheint. Im Aquarium, in dem sie mit Daphnia pulex und
Daphnia magna gemischt gehalten wurde, überdauerten die beiden
letztgenannten Arten die erste weit länger, als es durch die Diffe-
renz der Zykluslänge verständlich gewesen wäre. Offenbar ist
Moina gegen Schädigungen weit empfindlicher als die beiden anderen
Arten.
Zur Kultur verwandte ich kleine, vogelnapfartige Glasschälchen
mit dem gleichen Vorteil wie größere !/, Liter enthaltende Becher-
gläser. Auch gegen die Anwendung en Leitungswasser zeigten
die Tiere keine größere Empfindlichkeit als gegen weiches Aquarium-
wasser. Als Nahrung verwandte ich eine Reinkultur von kleinen
einzelligen Grünalgen (Chlorella), die sich sehr bequem aus einer
kleinen Stammkultur züchten lässt, indem man eine an gelösten
organischen Substanzen reiche Nährlösung damit beschickt. Als
geeignete Nährlösung erwies sich ein Aufguss von klein geschnittenen
Mehlwürmern. Man lässt das Glas zugedeckt möglichst in heller
Sonne stehen. Im Lauf von 8-14 Tagen entwickelt sich eine
reiche, dunkelgrüne Algenflora, so dass die anfangs ziemlich reich-
lich auftretenden Fäulnisbakterien durch den von den Algen pro-
duzierten Sauerstoff vernichtet werden. Dass keine Fäulnis mehr
vorhanden ist, kann man leicht am Geruche feststellen. Wenn die
Kultur völlig geruchlos geworden ist, ist sie gebrauchsfähig und
stellt eine sehr bequeme gute Nahrung dar, die stets in beliebigen
Mengen in kurzer Zeit hergestellt werden kann. Ich verdanke die
Angabe der Methode einer mündlichen Mitteilung des Herrn Prof.
Renner vom hiesigen botanischen Institut und bin ihm dadurch
344 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
zu vielem Danke verpflichtet, dem ich auch an dieser Stelle Aus-
druck geben möchte.
Il. Normaler Verlauf der Eibildung.
Erste Voraussetzung einer Untersuchung vielleicht vorhandener
Änderungen der Eibildung ist natürlich die genaue Kenntnis der
normalen Vorgänge, wie sie durch die umfassenden Arbeiten Weis-
mann’s bekannt sind.
Danach entsteht das parthenogenetische „Sommerei“ aus einer
Gruppe von 4 Zellen, der Keimgruppe. Je 3 Zellen der Keimgruppe
werden nach Beendigung des Eigenwachstums von der Eizelle resor-
biert und diese wächst auf Kosten der aufgenommenen Nährzellen
stark an, füllt sich mit Dottertröpfehen und macht die Reifeteilung
durch.
Nach den Angaben Weismann’s und Kühn’s ist bis zum
Augenblick der Resorption der Nährzellen kein Unterschied zwischen
Ei und Nährzellen wahrnehmbar: „An den Zellen dieser jüngeren
Gruppen von Keimzellen ist noch nichts von einer Differenzierung
in Ei und Nährzellen zu sehen; alle haben noch gleiche Struktur
und Größe“ ... „Dann wächst die Eizelle stärker als die anderen
und speichert außerordentliche Mengen von Reservestoffen auf unter
fortschreitender Rückbildung der Nährzellen“ (Kühn, 1911).
Weismann stellt nur fest, dass es stets die dritte Zelle der
Keimgruppe (vom Keimlager aus gerechnet) ist, die sich zur Eizelle
entwickelt. Da aber beı Moina rect. die Keimzellen „keineswegs
bloß in einer Zeile liegen, sondern sich übereinander schieben und
außerdem die Keimzellen eine größere Selbständigkeit der Form
bewahren als z. B. bei Daphnia, so ıst es oft, ja meistens, sehr
schwer, die vier zusammengehörigen Zellen als Keimgruppen zu
erkennen“ (Weismann, Abhandlung 2), so dass P. F. Müller (1868)
glaubte, „dass Moina in bezug auf die Sommereier von dem Eibil-
dungsmodus der übrigen Uladoceren abweiche: „ex una modo cellula
veri simile est eam exoriri“ (Weismann, Abhandlung 2). „Auch
bei den Kernen sieht man sich vergeblich nach einem Kennzeichen
für die Eizellen um. Eine jede der großen, kugligen Kernblasen
enthält schon in der jungen Keimzelle mehrere Nukleoli, zuerst nur
2—-4, später aber, in dem Maße, als die Zelle heranwächst, immer
zahlreichere, bis zu etwa 20°“ (Weismann, Abhandlung 2). „DO
verhält es sich bei den Kernen der Eizelle wie bei de der Nähr-
zelle. Erst die Abscheidung von Dotter lässt die Eizelle mit Sicher-
heit erkennen“ (ebenda).
Die erwähnten Nukleoli sind in der Tat ganz gleichmäßig in
den Keimzellen jugendlicher Ovarıen und in dem als Keimlager
bezeichneten unteren Abschnitte des Ovars vorhanden. Sie er-
scheinen im Leben als rundliche, stärker lichtbrechende Körperchen,
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 345
die sich auf allen untersuchten Stadien bei Färbung mit Säure-
fuchsin-Methylgrün rein oxychromatisch verhalten und daher als
echte Nukleolen angesehen werden dürfen. Sie liegen ın den noch
ganz gleichartigen jugendlichen Keimzellen, den Oogonien, zu je
6—8 etwa ın einem Kern (Fig. 1, 7).
Erst mit dem Beginn der Wachstumsperiode erfolgt ein Zu-
sammenschluss zu den von Weismann (s. 0.) beschriebenen Keim-
gruppen, die allerdings in ihrer Zusammengehörigkeit schwer zu
erkennen sein würden, wenn sich nicht neben dem bei Moina rect.
wenig brauchbaren Merkmal der Lagerung der Keimzellen zueinander
ein zweites Kennzeichen gefunden hätte, durch das nun auf diesem
Stadium wenigstens Ei und Nährzelle gut voneinander unterschieden
werden können. Man findet nämlich an Stelle der für die jungen
Keimzellen beschriebenen, zahlreichen Nukleolen in jeweils drei Zellen
Fig. 1.
1: Junge Oogonien.
2: Erste Diff. Periode.
3: Keimzellen in der zweiten Wachstumsperiode.
einer Keimgruppe einen einzigen, größeren, runden Kernbinnen-
körper, während die vierte Keimzelle, die Eizelle, weiterhin einen
aus zahlreichen Einzelbläschen bestehenden Kernbinnenkörper, ähn-
lich dem der Oogonien, aufweist (Fig. I, 2). Die so aus deutlich
unterscheidbaren Ei- und Nährzellen bestehende Keimgruppe wächst
heran, bis nach Erreichung einer gewissen Größe der kompakte
Nukleolus der Nährzelle zuerst in grobe, dann immer feinere Brocken
zerfällt, bis schließlich in allen vier Keimzellen der Binnenkörper
aus einem Haufen dicht gedrängter, kleiner Einzelkügelchen besteht
(Fig. 1,3).
Von diesem Augenblicke an bis zu dem Zeitpunkt, wo die
Dotterabscheidung in der Eizelle auf Kosten der Nährzellen be-
ginnt, kann man in der Tat, wie das Weismann und Kühn be-
tont haben, beide Zellarten äußerlich nicht mehr voneinander unter-
scheiden. Sie machen gemeinsam noch ein beträchtliches Wachstum
durch, dann beginnen die Nukleolew der Nährzellen sich zu vakuolı-
sieren, zu zerfallen, der Kern nimmt unregelmäßige Formen an,
wird kleiner, in der Eizelle bilden sich die zunächst farblosen Dotter-
tröpfchen, während die Nährzellen schwinden, bis schließlich die
346 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
fertige Eizelle, deren Kern unter dem Haufen farbigen Dotters
fast verschwindet, die Reifungsteilung durchmacht und in den Brut-
raum übertritt.
Wir unterscheiden demnach ım Verlaufe der Eibildung vier
Perioden:
1. das Oogonienstadium der Keimzelle,
2. erste Wachstumsperiode: Ausbildung von Keimgruppen, in
denen die Eizelle gegen die Nährzellen durch die Beschaffen-
heit des Nukleolus differenziert ist: Periode der ersten Diffe-
renzierung,
. zweite Wachstumsperiode: Ei- und Nährzellen sind durch die
Beschaffenheit des Nukleolus nicht mehr unterschieden,
4. die Eizelle differenziert sich gegenüber den allmählich schwin-
denden Nährzellen durch Ausbildung des Dotters und macht
die Reifeteilung durch: Periode der zweiten Differenzierung.
3%)
IV. Änderungen der Eibildung im Verlaufe des Zyklus.
Die Untersuchungen von Papanicolau, Woltereck,
v. Scharffenberg hatten ergeben, dass die Tendenz zur Bildung
von befruchtungsbedürftigen Eiern mit der Zahl der Generationen
und Würfe zunımmt. Es musste daher zunächst untersucht werden,
ob ım Verlaufe des Zyklus Abweichungen von dem eben als Norm
dargestellten Eibildungsmodus vorkommen (der daraufhin beob-
achtete Zyklus ist ın der Tabelle I zusammengestellt!).
Tabelle I.
E22.X,
HR 266.0 -
H’ 31.|X. 69 \ HS RT
| |
H} 5.[XT. 59 19 (H}); 9./XL
| |
2 RUa) 29 AZ ne } :
. 17.IXL(b) 129 (H}), 19./XL.(b) 169
H’ 18./XI.(a) 69 (H;)} 23.[XI. 59 19
4\6 r
NT (H})! 28./XI. 39.
1) Die Bezeichnungen sind so zu verstehen, dass mit Buchstaben oder laufender
Nummer die ganze, von einem Muttertier ausgehende Versuchsreihe charakterisiert
wird. Der obere Index bezeichnet die Generationszahl, der untere die Zahl des
Wurfes, dem das Tier angehört. Als erste Generation wurde die Tochtergeneration
des aus dem Ephippium geschlüpften Tieres bezeichnet. Dieses selbst erhielt die
oberen und unteren Indices „0“. „a bedeutet, wie bei Papanicolau, „befruch-
tungsbedürftiges Weibchen‘.
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 347
Hierbei ergab sich, dass die eben für das der ersten Gene-
ration und dem ersten Wurf angehörige Tier (H!) gegebene Dar-
stellung nicht allgemein für Angehörige anderer Generationen oder
Würfe gilt.
Bei dem eben aus dem Winterei geschlüpften Tiere (H}) wird
im Stadium der ersten Differenzierung, wie wir es in der oben ge-
gebenen Zusammenfassung genannt haben, ein Unterschied zwischen
Ei und Nährzellen bei weitem nicht so deutlich, wie bei dem
Tochtertier (H!). Die Nährzellnukleolen sind hier nicht alle ein-
heitlich, sondern zu 2-—-3 oder auch noch mehr gröberen Stücken
aufgelockert oder zeigen, wenn sie einheitlich geblieben sind, unregel-
mäßige gelappte Formen. Jedenfalls weichen sie von der einfachen
Kugelform ab und scheinen irgendwelche Oberflächenvergrößerung
OEz
II, 1 II, 2
1: Keimgruppe eines normalen ex-Ephippio-2.
2: Keimgruppe eines spät ausgeschlüpften ex-Ephippio-?.
Fig. I.
anzustreben (Fig. II, 7). Das bleibt auch so, bis die zweite Wachs-
tumsperiode erreicht wird, in der dann das Bild mit dem für H!
Gegebenen übereinstimmend wird.
Auch in späteren Generationen und Würfen ist häufig der
Unterschied zwischen Ei- und Nährzellen undeutlich oder gar nicht
mehr zu erkennen. Doch während beı
dem aus dem Ephippium schlüpfen- Tabelle II.
den Tiere die Unterscheidung dadurch
Kompakte Eizellnukleolen
schwierig wurde, dass die Nährzell- wurden beobachtet
nukleolen denen der Eizelle ähnlich in nach dem
blieben, ist in den späteren Generationen "—seneration Wurf
das Umgekehrte der Fall: Der Eizell- —————— 1
nukleolus bleibt wie der der Nährzellen M' | AaR
in der ersten Wachstumsperiode kom- m: 2
pakt (vgl. Fig. III). In der Tabelle II ıst Mm: | 9
eine Zusammenstellung derjenigen Fälle Mm; | 9
gegeben, in denen ein solches Verhalten N. 21
der Nukleolen im Verlaufe des Zyklus ER (1)
beobachtet wurde. Es ist daraus ohne Mm; !
weiteres ersichtlich, dass das in früheren Mi) | ı
Generationen nur bei Angehörigen spä-
terer Würfe, bei späten Generationen bereits im ersten Wurfe der
Fall ist.
48 Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris.
Das gleiche veranschaulicht die folgende Übersicht über das
Auftreten kompakter Nukleolen, wie ich sie aus meinen Protokollen
zusammenstellte (Tabelle III).
Aus der Betrachtung dieser, wenn auch wenigen Vergleichs-
formen, geht hervor, dass für die Gestalt des Nukleolus das Alter
des Tieres sowohl als das des Zyklus von Bedeutung ist, dass also
im Eibildungsmodus des Einzeltieres mit zunehmendem Individual-
alter und mit zunehmendem Alter des Zyklus sich Differenzen
ergeben, die in der Gestalt des Nukleolus ihren Ausdruck finden.
Dapelle III.
BT Generation | | n a en ? en
1134 M! 2 Ovulat. normal | 3
193 M! AR Sn, Ä | 5
155 M: Ba te; ? | 3
188 — 1 männlicher Wurf 2
190 = 1 R a 2
ll _ 1 Ovulat. normal | 22. und.3
RR M; | 1
r ( 2): 1
)) (M}): | | ) 2
” | (M > ) 4 | 2
XXXII (M!): | 1
V, Einfluss der Ernährung und Temperatur.
Die Veränderungen der Eibildung bei Ernährungs- oder Tempe-
raturänderungen wurden in der Weise untersucht, dass von zwei
Geschwistertieren das eine unter normalen Verhältnissen, das andere
unter abgeänderten Bedingungen aufgezogen, und der Zustand der
OÖvarien täglıch verglichen wurde.
a) Wirkung des Hungers:
Von zwei Geschwistertieren der ersten Generation und des
ersten Wurfes wurde das eine in gewohnter Weise mit grüner
Algennahrung, das andere in reinem Leitungswasser, also ohne jede
Spur von geformter Nahrung aufgezogen. Während das erste Tier
einen völlig normalen Eibildungsverlauf zeigte und am 4. Tage
nach der Geburt die Eier in den Brutraum übertraten, entwickelte
sich das Hungertier erstens sehr langsam (es wuchs im Laufe von
6 Tagen von 0,55 auf 0,79 mm, während das gutgenährte Schwester-
tier in 4 Tagen von 0,55 auf 0,86 mm anwuchs) und zweitens
waren vom 3. Tage an die Nukleolen aller Keimzellen, der Ei- so-
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung. bei Moina reetirostris. 349
wohl als der Nährzellen kompakt geworden, ähnlich wie das oben
schon für Tiere späterer Generationen geschildert worden ist. Sie
behielten diese Form bis zum 6. Tage der Beobachtung, an dem
etwas Nahrung zugesetzt wurde, um das Tier vor dem Eingehen
zu bewahren. Hierauf wuchsen die Keimzellen bis zum 7. Beob-
achtungstage recht beträchtlich, die Nukleolen gelangten in der für
die normale Entwicklung typischen Weise zur Auilösung, ver-
mochten aber offenbar diese nicht mehr durchzuführen, da am
nächsten Tage sämtliche Keimgruppen im Ovar zerfallen waren,
Ebenso verlief die Reaktion auf Nahrungsentziehung in einem
zweiten Falle, in dem 13 Geschwistertiere in reinem Leitungswasser
gehalten wurden. Zwölf von ihnen gingen schon am 2. Tage wohl
infolge des Nahrungsmangels ein; nur eins, das von Anfang an
größer und kräftiger als die anderen gewesen war, entwickelte sich
weiter. Dabei zeigten sich während der ersten 4 Hungertage die
Eizellnukleolen noch bis zu gewissem Grade aufgelockert. Erst am
5. Tage trat die typische Hungerreaktion ein: der Nukleolus wurde
ganz kompakt. Um die Entwicklung der Eier bis zum fertigen
Tiere verfolgen zu können, wurde wieder etwas Nahrung zugesetzt,
worauf die Keimgruppen kräftig wuchsen und die Nukleolen den
für die zweite Wachstumsperiode charakteristischen Typus annahmen.
Offenbar war aber auch hier das Tier zu sehr geschwächt, um die
Fähigkeit zur Ausbildung eines Eisatzes wieder zu erlangen; die
Keimgruppen gingen auch hier auf dem Stadium der Zellverschmel-
zung zugrunde.
b) Wirkung der Temperatur:
Ebenso wie bei Nahrungsreduktion wird der Eizellnukleolus
bei Herabsetzung der Temperatur (12° C), während der ersten
Wachstumsperiode
einfach und kompakt; Bier
er lockert sich aber DEN
dann während der '@
®
zweiten Wachstums-
periode auf und es ge-
langen, wenn auch
sehr langsam, fertige
Eier zur Ausbildung.
Wird den in der Kälte I
aufgezogenen Tieren 1: 1. Wachstumsperiode Hunger bei 12° C.
auch die Nahrung ent- SE y 20°C.
zogen, so wird der
kompakte Nukleolus nicht nur seiner Oberfläche, sondern auch
seiner Masse nach erheblich reduziert. Das tritt besonders hervor,
wenn man das in der Fig. Ill, 7 abgebildete Stadium mit dem auf
Fig. III, 2 dargestellten vergleicht.
„ .. „
>50 Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris.
Ich konnte während der zahlreichen analog verlaufenden Be-
obachtungen an solchen Kälte-Hunger-Tieren niemals beobachten,
dass derartige Keimzellen, auch wenn später Nahrung zugesetzt
wurde, sich weiter entwickelten. Sıe sind, so weit ich entscheiden
konnte, stets entwicklungsunfähig. Die ihrer Masse nach nicht ver-
kleinerten Nukleolen dagegen, wie wir sie bereits unter verschie-
denen Verhältnissen auftreten sahen, bedingen nıcht ohne weiteres
ein Zugrundegehen der Keimgruppen. Sie sind, wenn man mit
einem geringen Nahrungszusatz nachhilft, entwicklungsfähig. Das
konnte ich vor allem auch an einer recht beträchtlichen Anzahl
von Beobachtungen feststellen, die sich ihrem Wesen nach direkt
an die Experimente mit hungernden Tieren angliedern:
c) Einfluss der Prädisposition des Tieres.
Bei Untersuchung größeren Materials ließ sich feststellen, dass
es einige Fälle gibt, bei denen auch ohne die im Experiment ge-
stellten Bedingungen und ohne Beziehung zu Generations- und
Wurfzahl die für Hunger charakteristischen Erscheinungen sich
zeigten. Die betreffenden Tiere waren ın der Regel schon von
vornherein auch in ıhrem somatischen Verhalten daran kenntlich,
dass sie kleiner waren als die unter gleichen Kulturbedingungen
gehaltenen Schwestertiere, dass der Fettkörper nur sehr spärlich
oder gar nicht entwickelt war, und dass der Darm, wenn er über-
haupt gefüllt war, in wenig lebhafter Tätigkeit zu sein schien. Es
handelte sich also um Tiere, die von vornherein alle die Erschei-
nungen zeigten, die bei den oben geschilderten Hungertieren erst
experimentell erzeugt werden mussten. Sie kommen, soviel ich
beobachten konnte, in allen Generationen und Würfen, ohne Aus-
nahme vor. Bei der Untersuchung gemeinschaftlich aufgezogener
Geschwistertiere wird man sehr häufig, fast möchte ich sagen in
der Regel, einzelne Individuen treffen, die ın der geschilderten
Weise hinter den andern in der Entwicklung zurückstehen, die ohne
Beziehung zum Milieu das Verhalten von Hungertieren zeigen. So
befand sich von 3 ım gleichen Glase befindlichen Geschwistertieren
das eine noch in der ersten Wachstumsperiode und wies ın sämt-
lichen Keimzellen den einfachen kompakten Nukleolus auf, indessen
von den beiden anderen das eine bereits einen fertigen Wurf im
Brutraum trug, das andere wohl entwickelte, kurz vor der Reife
stehende Keimgruppen zeigte.
In einem andern Falle waren 5 Geschwistertiere ım gleichen
Glase der Kälte ausgesetzt. Es ıst aus Fig. IV unmittelbar zu er-
sehen, wie verschieden diese 5 Tiere auf die Bewirkung von außen
reagierten, und es geht aus den zu der Abbildung gemachten An-
gaben ohne weiteres hervor, dass der aus der Figur erkennbare
Auflösungsgrad der Eizellnukleolen zu der Größe des Einzeltieres
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Morna rectirostris. 351
in Beziehung steht, dass ferner der Ausbildungsgrad des Fettkörpers
— gut — mittel — oder mangelhaft — ebenfalls in direktem Ver-
hältnis zu den beiden ersten Faktoren steht.
Gerade dieser letzte Umstand beweist, dass wir es hier mit
einem, von Natur mangelhaft ausgestatteten Tiere zu tun haben:
Beruhte die Kleinheit der Tiere auf nichts anderem als etwa einer
individuellen Größendifferenz, wie sie überall im ganzen Organısmen-
reich vorkommen, so müssten wir erwarten, dass der Ausbildungs-
grad des Fettkörpers von dem der Schwestertiere gar nicht unter-
schieden, im Gegenteil eher stärker als schwächer entwickelt wäre,
da ja ein kräftiges Wachstum sicherlich dazu beiträgt, auch den
Fig. IV.
IV, 4 Ryr5
1: Ausgangsmaterial 0,61 mm Länge.
Nach eintägiger Kältewirkung bei 12° C:
2 Eee „ . Fettkörper gut entwickelt.
BE Oin3e Ba en mittelgut entwickelt.
4: WO, RR h H 25 5
5: 0,52, SEE s fast völlig verschwunden.
6: 0,55
„ „ . „ 2} „ „
Abbau des Fettkörpers zu beschleunigen, so dass rascher gewachsene
Tiere auch einen stärkeren Verbrauch der Reservenahrug erkennen
lassen würden. Die mangelhafte Ausbildung des Fettkörpers der
im Wachstum zurückgebliebenen Tiere lässt also erst den Schluss
zu, dass es die von Natur schlechtere Lebenslage des Tieres ist,
auf die wir erstens seine Kleinheit und zweitens das Verhalten der
Nukleolen zurückführen müssen. Auch der Zustand des Darmes
lässt meistens einen direkten Schluss auf den allgemeinen Kräfte-
zustand des Tieres zu. Alle erstgenannten Momente sind meist
mit einer quantitativ oder qualitativ mangelhaften Ernährung ver-
knüpft, die aber nicht, wie die oben angeführten Beispiele gezeigt
haben, in dem Zustand und der Menge der gebotenen Nahrung
ihre Ursache haben, sondern offenbar in der herabgesetzten Vitalität
des Tieres. Besonders auffallend wurde das an Beobachtungen
von mangelhaft ausgestatteten Tieren, die ich anfangs hauptsäch-
lich in 12° und 15° C, dann auch gelegentlich bei höheren Tem-
2 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
peraturen machen konnte. Die grüne Algennahrung hatte offenbar
den größten Teil des Darmtraktes unverdaut passiert und lag nun
in der Biegung des Enddarms gestaut, wo sie auch offenbar nicht
mehr verdaut werden konnte, wie an der völlig unveränderten
Konsistenz der kleinen Algen ersichtlich war. Nach Biedermann
(Winterstein’s Handbuch der Physiologie, Bd. II, Teil 7) findet
ja auch der eigentliche Verdauungsprozess ausschließlich im Mittel-
darme der Üladoceren statt.
Dass die Keimzellen aller derartiger Tiere dieselben Erschei-
nungen zeigten, die auch durch direkte Nahrungsentziehung hervor-
gerufen werden, ist nach allem, was eben gesagt wurde, selbstver-
ständlich.
Andererseits kann es auch wieder die günstigere Gesamtver-
fassung des Tieres sein, die es in seinen Reaktionen von den Ge-
schwistertieren unterscheidet. Das zeigt das Tier, von dem schon
oben gelegentlich der Hungerwirkungen die Rede: war, und das als
einziges von 13 Schwestertieren die extremen Hungerbedingungen
zu ertragen vermochte. Dieses Tier war, was Größe, Zustand des
Fettkörpers u. s. w. betrifft, von vornherein allen Schwestern sıcht-
lich überlegen und aus diesem Vorsprung, dessen Ursachen natür-
lich unkontrollierbar sind, erklärt es sich wohl, dass es sich in
seiner Wiıderstandsfähigkeit gegen das ungünstige Milieu so auf-
fallend von seinen Schwestern unterschied.
Wenn es durch derartige Beobachtungen anfangs scheinen
musste, als ob die Unterscheidung von Hunger-Kältenukleolen
einerseits und normalen Nukleolen andererseits eine ganz willkür-
liche sei, da ja auch in „Normalkulturen“ derartige Bildungen auf-
traten, so erwies sich im Gegenteil mit der Erkenntnis, dass es
sich hier um Formen handelt, die von Natur schwach sind, diese
Unterscheidung als durchaus gesetzmäßig und begründet.
Von Interesse ist vielleicht die Beobachtung, dass derartige
Formen sich bereits unter den aus dem Ephippium stammenden
Tieren finden. Leichte Unterschiede ım Ausbildungsgrad des Fett-
körpers, gepaart mit Größendifferenzen, weisen auch hier schon auf
Individualdifferenzen hin, die in dem völligen Mangel des sonst bei
M'-Tieren besonders stark entwickelten Fettkörpers ihren äußersten
Grad erreichen. Überflüssig zu sagen, dass bei solchen Tieren sämt-
liche Nukleolen das typische Aussehen des Hungernukleolus bekommen
(vgl. Fig. II, 2). „Verdauungsstörungen“ können bei solchen Tieren, die
eben erst aus dem Ephippium kommen, unfraglich nicht für die
Schwächeerscheinungen verantwortlich gemacht werden. Dagegen
zeigt es sich, dass, soweit ich beobachten konnte, alle diese Tiere
erst erheblich später in der Kultur auftraten, als die normal sich
verhaltenden Tiere. Im Thermostaten von 24° G finden sich ge-
wöhnlich die ersten ausgeschlüpften Tiere vereinzelt bereits nach
Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 353
4 Tagen; am 6. oder 7. Tage steigt dann die Zahl außerordentlich,
das Maximum kann wohl auch noch bis zum 10. Tage anhalten,
dann sinkt die Frequenz aber ebenso rapide wie sie gestiegen war,
und wieder treten nur ganz vereinzelte Individuen in dem Glase
auf. 5 Wochen nach dem Ansetzen der Epluppien fand ich noch
eben ausgeschlüpfte Tiere ın dem stets sorgfältig beobachteten
Glase vor. Und eben diese Spätlinge, etwa von der 2. Woche
nach dem Ansetzen an, waren es, die sich durchweg als mangel-
haft ausgestattet erwiesen.
Es ist nicht ganz unwichtig, das Vorkommen solcher Indi-
vidualdifferenzen zu betonen. Denn sicherlich lassen sich manche
Widersprüche in den experimentellen Resultaten, viele zunächst
unverständliche Reaktionen auf derartige primäre Unterschiede bei
Geschwistertieren zurückführen. Es ıst klar, dass es auch für den
Verlauf des Zyklus von Bedeutung sein muss, welchem Typus das
ursprüngliche Ausgangstier angehört und dass hier eine Nicht-
beachtung der vorliegenden Verhältnisse experimentelle Resultate
ebenso verwirren kann, wie die Versuche mit Geschwistertieren,
die auf ihren Gesamtzustand nicht vorher untersucht wurden. Zu-
mindest muss man daraus die Forderung ableiten, bei allen Experi-
menten das Versuchsmaterial unter allen Umständen genau zu prüfen,
wenn man zu gültigen Resultaten aus wirklich vergleichbaren Ver-
suchsreihen kommen will. Ein Blick in die Tabellen der bisherigen
experimentellen Untersuchungen genügt, um zu zeigen, dass wir
hier beträchtliche Schwankungen beobachten können, wie sie dem
biologischen Experiment im Gegensatz zum physikalisch-chemischen
eigentümlich sind. Genau genommen sind eben die Versuchsbedin-
gungen im biologischen Experiment nie ganz gleich, jedes Ver-
suchstier bringt seinen eigenen Bedingungskomplex mit und nur
durch eine sehr große Zahl von Experimenten oder aber möglichst
sorgfältige Prüfung des Ausgangsmaterials ist es möglich, die
Fehlergrenzen einzuschränken.
d) Intravitale Färbung mit Neutralrot.
In Ergänzung der vorstehenden Mitteilungen seien noch kurz
die Beobachtungen wiedergegeben, die ich an intravital gefärbtem
Material machen konnte (Fig. V). Bei intravitaler Färbung mit
Neutralrot (es wurde nach den Fischel’schen Angaben eine sehr
schwache weingelbe Lösung verwendet), die ich in der Absicht aus-
führte, etwas über die Natur des von Weismann beschriebenen
„blasigen Epithelgewebes“ im Ovar zu erfahren, fiel auf, dass auf
einem bestimmten, recht frühen Wachstumsstadium des Ovars in
allen Keimzellen ein scharf umschriebener Plasmabezirk, anfangs
nur schwach, dann aber immer stärker den Farbstoff speichert.
Diese Bildung hält an bis zu dem Augenblick, in dem das Eigen-
RIRY 23
354 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
wachstum der Keimzellen aufhört. Von dem Zeitpunkte an, wo
das Wachstum der Eizellen nur noch auf Kosten der Nährzellen
geschieht, also am Ende der zweiten Wachstumsperiode, ließ sich
keine intravitale Färbung mehr im Ovar erzielen.
Fig. V').
y,7 V,‚8
1—5 Eientwicklung bei Neutralrotzusatz.
1; 24./I. Noch ungefärbt.
2 u. 3; 25./I., 26./]I. Während des Wachstums starke Färbbarkeit.
27.]I. Junge Oocyten der 2. Eibildung (Eizellnukleolus kompakt).
28./I. Wiederum mit beginnendem Wachstum starke Färbbarkeit (bei
5a eine der Keimzelle anliegende Drüsenzelle).
6—8 Ebenfalls Entwicklung unter Einwirkung von Neutralrot.
6 u. 7; 20./T., 21./I. In der wachsenden Keimzelle wird Neutralrot gespeichert.
8; 22.[I. In der geschädigten, nicht weiter wachsenden Keimzelle ver-
schwindet die Färbung.
Fig. V, 1 bis 8 stellen diese Verhältnisse für zwei Einzelfälle,
zwei Geschwistertiere, dar, von denen das eine (/—5) bis zur Ablage
des ersten Wurfes und Ausbildung des zweiten Eisatzes beobachtet
werden konnte, während das andere (6— 8) gar nicht zur Ausbildung
eines Wurfes gelangte und nach dreitägiger Beobachtung einging.
Es handelte sich also im zweiten Falle um eine Schwächeform, was
auch in der relativ geringen Wachstumsgröße zum Ausdruck kommt.
Während das eine Tier innerhalb 3 Tagen von 0,66 auf 0,77 mm
heranwuchs, wuchs das schwächere Schwestertier nur von 0,65 auf
0,67 mm. Dementsprechend war bei dem letzteren Tier der Fett-
körper schlecht entwickelt, der Darm mangelhaft gefüllt und, wie
“ Die intravital gefärbten Plasmabezirke sind in der Abbildung schwarz wieder-
gegeben.
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 355
aus der Fig. V, 6 hervorgeht, von Anfang an der Eizellnukleolus
kompakt. Bei dem kräftigen Tiere wurde der Eizellnukleolus eben-
falls, jedoch erst bei der zweiten Eibildung, kompakt. Hieraus
lässt sich wohl schließen, dass das Neutralrot ın ähnlicher Weise
schädigend wirkt, wie die vorher besprochenen Faktoren.
Gleichzeitig zeigt dieses Experiment, wie eng das Auftreten
des kompakten Nukleolus mit Wachstumshemmungen zusammen-
hängt. Die Neutralrotfärbung hält, wie wir oben gesehen haben, und
wie es in Fig. V, /—5a dargestellt ıst, während der ganzen Wachs-
tumsperiode des Eies an, bis zu dem Augenblick, wo das selb-
ständige Wachstum des Eies aufhört. Im Gegensatz hierzu zeigen
die in Fig. V, 6—8 abgebildeten Keimzellen des schwächeren Tieres
die Neutralrotfärbung überhaupt nur sehr schwach, und wir sehen
sie auf einem Stadium verschwinden, wo das normale Keimzellen-
wachstum noch lange nicht beendet sein sollte. Das stimmt nun
genau mit der Tatsache überein, dass das Wachstum dieses Tieres,
wie oben erwähnt, während der Beobachtung ganz gering war, und
dass auch die Keimzellen in der gleichen Zeit, ın der das Schwester-
tier seinen ersten Wurf ausbildete, kaum sichtbar. wuchsen, wie
die Abbildung V, 6— 8 zeigt. Wir können daraus also schließen, dass
die Fähigkeit, intra vitam Farbstoffe zu speichern, eine Eigentüm-
lichkeit des wachsenden Eies ist, wobei es offen bleiben muss,
ob die gefärbten Plasmabezirke Stoffwechselendprodukte oder im
Gegenteil eine Art Reservestoffspeicher oder was sonst sie dar-
stellen. Bleibt die Neutralrotfärbung in der Periode aus, in der
normalerweise das Eı wächst, so ıst als ein Zeichen dafür anzu-
sehen, dass die Zelle ihre Stoffwechseltätigkeit eingestellt oder
wenigstens stark vermindert hat. Die geringe Färbbarkeit mit
Neutralrot ist daher in dem in Fig. V, 6—8 dargestellten Falle ein
weiterer Beweis dafür, dass Wachstumshemmungen und das Auf-
treten des kompakten Nukleolus eng miteinander verknüpft sind.
Es würde zu falschen Vorstellungen führen, wollte man die
oben geschilderten Vorgänge als unabänderliche, stets das gleiche
Bild ergebende Geschehnisse ansehen. Ich habe oben schon be-
tont, dass das biologische Experiment eine sehr große Mannigfaltig-
keit von Versuchsbedingungen bietet, denen eine große Mannig-
faltigkeit von Reaktionen entspricht. So ist es klar, dass die
Anwendung gleicher Faktoren keineswegs immer zu den gleichen
Resultaten führt. Bei einer Schwächeform wird Verschlechterung
des Milieus die Gestalt des Nukleolus anders beeinflussen, als bei
einem von Natur gut veranlagten Tier. Bei dem einen Tier geht
die Veränderung sehr rasch, bei dem anderen sehr langsam von
statten, oder führt wohl auch gar nicht zu der Endform des kom-
pakten Nukleolus. Da der von außen wirkende Faktor stets der
gleiche ist, so müssen derartige vermittelnde Formen als Resultat
23*
356 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris.
des Zusammenwirkens von konstantem Außenfaktor und variablem
Innenfaktor gewertet werden. Sie spiegeln getreu den jeweiligen
physiologischen Gesamtzustand des Tieres wieder und lassen sich
natürlich in beliebiger Anzahl zwischen die beiden Endpunkte der
Reihe der Eizellnukleolenformen einordnen. Auch an die oben er-
wähnte Tatsache, dass die Nährzellnukleolen der ex-Ephippio-
Weibchen, deren Ausstattung vom Dauerei her besonders gut ist,
eine relativ starke Oberflächenvergrößerung erfahren, möge in diesem
Zusammenhange noch einmal erinnert werden.
Demnach haben wir, wenn wir ein vollständiges Bild der bis-
her mitgeteilten Beobachtungen gewinnen wollen, folgende Tat-
sachen im Auge zu behalten:
Während einer bestimmten Wachstumsperiode unterscheidet
sich der Eizellnukleolus durch beträchtliche Oberflächenvergrößerung
von den Nährzellnukleolen.
Dieser Unterschied kann verwischt werden, nach der einen
Seite hin durch Oberflächenvergrößerung der Nährzellnukleolen,
nach der anderen Seite hin durch Oberflächenverkleinerung des Ei-
zellnukleolus.
‘Diese Verkleinerung kann ein Maximum annehmen, das zur
Entwicklungsunfähigkeit führt. Zwischen diesem Typus und dem
normalen Typus bestehen alle Übergangsformen.
Als Korrelat dieser Erscheinungen und wahrscheinlich in ur-
sächlichem Zusammenhange mit ihnen erkannten wir die Intensität
des Stoffwechsels:
1. Die Oberflächenvergrößerung der Nährzellnukleolen fand sich
nur bei besonders gut ausgestatteten Tieren, vor allem bei
denen, die dem Ephippium entschlüpft waren.
2. Die Oberflächenverkleinerung des Eizellnukleolus ließ sich unter
den verschiedensten Verhältnissen konstatieren, die einer Herab-
setzung der Stoffwechselintensität entsprechen. Das waren:
a) Alter des Tieres,
b) Alter des Zyklus,
c) Hunger,
d) Kälte,
e) mangelhafte, vielleicht pathologische Prädisposition des
Tieres, wie sie sich etwa in abnorm langer Entwicklungs-
dauer im Ephippium äußert,
f) Schädigungen auf chemischem Wege, wie sie vielleicht in
der Einwirkung von Neutralrot gegeben sind.
Erinnern wir uns nun der Ausgangsfragestellung, „welche mor-
phologischen Veränderungen im Verlauf der Eibildung lassen sich
mit der Tendenzänderung des Zyklus, mit dem allmählichen Über-
gang von ein- zu zweigeschlechtlicher Fortpflanzung in Verbindung
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 357
bringen?“, so fällt zunächst auf, dass die vier, die Veränderungen
des Nukleolus bedingenden Punkte a—d genau dieselben sind, die
sich im Experiment als geschlechtsbestimmend, besser als be-
stimmend für das Auftreten der zweigeschlechtlichen Fortpflanzung
erwiesen haben. Es würde also sehr nahe liegen, das Auftreten
kompakter Nukleolen als Charakteristikum für den Übergang der
Tiere zur Bisexualität zu betrachten. Freilich können wir nicht
erwarten, aus allen Keimgruppen mit kompakten Einukleolus Sexual-
tiere hervorgehen zu sehen. So wenig wie im Experiment das Aul-
treten von Sexualtieren obligatorisch an verschlechterte KExistenz-
bedingungen geknüpft ist, ebensowenig werden die kompakten
Nukleolen, die wir als Begleiterscheinung verschlechterter Exıstenz-
bedingungen kennen gelernt haben, als Merkmale sexuparer Weib-
chen anzusehen sein. Wir können bisher nur konstatieren, dass
die Phänomene am Nukleolus mit den Erscheinungen parallel gehen,
die für die Sexualtendenzänderung als Ursache verantwortlich ge-
macht worden sınd.
Im folgenden Kapitel wird eine Reihe von Erscheinungen zu
besprechen sein, die vielleicht geeignet sind, den Parallelismus
der Sexualtendenzänderung und der Nukleolenform noch deutlicher
zu erweisen.
VI. Bildung des Dauereis.
Die Bildung des befruchtungsbedürftigen Dauereis stellt den
Endpunkt einer Reihe dar, als deren Ausgangspunkt der normale
Eibildungsmodus ım Sinne, der anfangs gegebenen Darstellung zu
betrachten ist. Wir müssen uns daher, um Ihr gangsformen chi
einreihen zu können, mit den Eigentümlichkeiten des Dauerei-
bildungsprozesses beschäftigen. Auch hier sind wir über die funda-
mentalen Tatsachen durch Weismann unterrichtet, der feststellte,
dass die Bildung eines Dauereis durch die Resorption einer großen
Anzahl von Keimgruppen (den sogen. sekundären Nährzellen, im
Gegensatz zu den drei primären, dr auch in der Sommerei bildung
zu jeder Eizelle gehören) erfolgt. Bekannt ist ferner, dass die
Dauereikeimgruppe bei einer großen Zahl von Uladoceren stets nur
an einer bestimmten Stelle des Ovars sich bildet. Sie folgt un-
mittelbar auf das Keimlager und ist an ihrer die übrigen Keim-
gruppen übertreffenden Größe und an der Abscheidung des typischen
Dauerdotters erkennbar.
Auch bei Moina rect. findet man die Dauereikeimgruppe stets
an dieser Stelle, und es ließ sich feststellen, dass sie sich schon in
ihrer ersten Anlage an drei Merkmalen von den übrigen Keim-
gruppen unterscheiden lässt (Fig. VD.
Erstens ist sie von dem Zeitpunkt ab, auf dem überhaupt
Keimgruppen unterschieden werden können, obwohl sie ihrer Lage
358 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
nach als jüngste Keimgruppe betrachtet werden muss, wie schon
erwähnt, sichtlich größer als die Schwesterkeimgruppen (vgl. VIa u. b).
Zweitens zeigten sämtliche Nukleolen den kompakten Typus
im Gegensatz zu den sekundären Nährzellkeimgruppen, die wie ge-
wöhnlich während der ersten Wachstumsperiode mit drei kompakten
und einem aufgelösten Nukleolus ausgestattet sind. Abweichungen
des Dauereinukleolus von der völlig kompakten Form waren stets
sehr unbedeutend und äußerten sich meist nur im Auftreten der
gelappten oder sonstwie unregelmäßigen Form des Nukleolus;
höchstens aus zwei Stücken bestehende Nukleolen wurden beobachtet.
Drittens: Regelmäßig war die Eizelle und ebenso Eizellkern
und Eizellnukleolus erheblich kleiner als die Nährzellen und ihre
Bestandteile).
Fig. VI.
KOLOCICH
® O0
Sa
VI, 2b
1: Junge Dauereikeimgruppe. «a Dauereikeimgruppe, b Nährzellen.
2: Ältere Dauereikeimgruppe. a und b wie oben.
Bis zu einem gewissen Zeitpunkt bestehen die Größenverhält-
nisse zwischen Dauereikeimgruppe und sekundären Nährzellkeim-
gruppen einerseits, zwischen Eizellen und primären Nährzellen
andererseits, in der beschriebenen Weise weiter, bis schließlich
primäre und sekundäre Nährzellen resorbiert werden, der Eizell-
kern die Kerne der Nährzellen stark überwächst, und in der Eiı-
zelle der Dauerdotter abgelagert wird.
Die Nukleolen aller vier Keimzellen bestehen um diese Zeit,
ebenso wie in der entsprechenden Periode der Sommereibildung
(zweite Wachstumsperiode), aus vielen kleinen gehäuften Einzel-
kügelchen (Fig. VI, 2).
Von den drei oben angeführten konstanten Merkmalen der
frühen Dauereianlage ist uns das eine, die kompakte Beschaffen-
9) De Charakteristikum der Dauereikeimgruppe lässt sich bereits auf einer
von Spengel angefertigten Zeichnung der Dauereibildung bei Evadne erkennen,
die in der Weismann’schen Abhandlung VII, Tafel X, Fig. 23, veröffentlicht ist.
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 359
heit aller Nukleolen, eine aus dem ersten Teile der Untersuchungen
wohlbekannte Erscheinung. Wir hatten schon dort auf die auf-
fällige Korrelation der Nukleolenform und der Sexualtendenzände-
rung bei verschlechterten Existenzbedingungen hingewiesen. Das
konstante Auftreten des kompakten Nukleolus in der Dauereikeim-
gruppe legt den Gedanken an eine derartige Beziehung wiederum
recht nahe. Gerade bei Moina rect. ıst auch die Möglichkeit einer
Kontrolle eines derartigen Zusammenhanges gegeben.
Bekanntlich bildet Moina rect. ım Gegensatz zu den meisten
anderen Uladocerengattungen nur in einem Ovar ein Dauerei aus,
das in das einkammerige Ephippium übertritt. Es gibt vereinzelte
Fälle, in denen in beiden Ovarien gleichzeitig Dauereikeimgruppen
auftreten, von denen aber entweder die eine rückgebildet, oder aber,
wenn sie etwa hinter der anderen im Wachstum zurückblieb, bald
nach dem ersten Dauerei abgelegt werden kann. Im allgemeinen
aber wird man, wenn in dem einen Ovar ein Dauerei angelegt
wird, das Ovar der anderen Seite immer in Sommereibildung treffen.
Ist nun der Umschlag ın der Sexualtendenz tatsächlich mit der
Veränderung der Nukleolen verknüpft, so wird man erwarten
müssen, dass die Nukleolen der Eier die in dem nicht Wintereier
bildenden Ovar sich ausbilden, in den kritischen Stadien einheit-
lich und kompakt bleiben. Meine diesbezüglichen Beobachtungen
ergaben nun in der Tat in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
(80%) das erwartete Resultat, so dass die oben erschlossene Be-
ziehung zwischen Bisexualität und Nukleolenform von dieser Seite
her als gestützt betrachtet werden kann.
Wenn in einzelnen Fällen statt dessen auch Keimzellen mit
typischen, d. h. multinukleonären Eizellen beobachtet wurden, so
wird das zwar die Gültigkeit des Satzes, sofern sie auf diese Be-
stätigung gestützt ist, einschränken, braucht sie aber nicht aufzu-
heben, wenn man bedenkt, welche große Menge von nicht immer
kontrollierbaren Faktoren mit der Änderung des Nukleolencharakters
verknüpft sind. Jedenfalls ist auch hier das gleichzeitige Auftreten
von Gamogenese und kompakter Eizellnukleolenform auffallend und
erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass beide Erscheinungen von einem
und demselben Faktor verursacht werden, dass das Auftreten kom-
pakter Nukleolen in der Tat der morphologische Ausdruck der
physiologischen Veränderungen ist, die schließlich zum Auftreten
von dauereibildenden Weibchen führen.
Die Wahrscheinlichkeit eines derartigen Zusammenhanges wird
noch erhöht, wenn wir nun auch die beiden anderen Punkte unserer
Charakteristik der Dauereikeimgruppen mit in den Kreis der Be-
trachtungen ziehen. Wenn zwischen der Bildungsweise des be-
fruchtungsbedürftigen Eies und dem so sehr viel einfacheren Bil-
dungsmodus der parthenogenetischen Eier eine kontinuierliche Reihe
360 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
von Übergängen existiert, wie das die Beschaffenheit der Nukleolen
wahrscheinlich macht, dann müssen wir erwarten, dass auch für
die beiden anderen Merkmale der Dauereikeimgruppe — das Klein-
bleiben der Eizelle und den Größenunterschied zwischen der Dauerei-
und den anderen Keimgruppen — Übergangsformen zu der Bildung
des parthenogenetischen Eies bestehen. Und ın der Tat finden
sich auch ım Verlaufe der Soemmereibildung Keimgruppen, bei denen
Eizelle und Eikern kleiner sind als die Nährzellen und ihre Kerne,
Keimgruppen, die ihrem Baue nach genau wie Dauereikeimgruppen
aussehen, sich aber dennoch parthenogenetisch entwickeln. Eine
solche dauereiähnliche Keimgruppe stellt Fig. VII dar.
Fig. VII.
® \@
SIT 7 VAT, 2
1 Dauereiähnliche Kgr. 2 Zugehörige normale Kogr.
Die Größendifferenz zwischen der Eizelle und den Nährzellen war
bis zum vierten Tage deutlich, dann begann die Abscheidung des
Iilafarbenen Eidotters. Leider konnte das weitere Schicksal der
Eier nicht verfolgt werden, da das Muttertier starb, ehe das Ge-
schlecht der Embryonen im Brutraum erkannt werden konnte. Doch
geben uns andere Beobachtungen über diesen Punkt Aufschluss:
Das Beobachtungstier 248 zeigte zwischen mehreren normalen eine
Keimgruppe, deren Eikern und Zelle kleiner geblieben war als die
der dazu gehörenden Nährzellen. Nach Ablagerung der Eier ın
den Brutraum heß sich nun deutlich erkennen, dass der Eısatz aus
fünf größeren und einem sehr kleinen Ei bestand, das mit sehr
großer Wahrscheinlichkeit als Produkt der dauereiartigen Keim-
gruppe betrachtet werden kann. Da auch dieses Tier vor Beendi-
gung der Embryonalentwicklung starb, konnte auch bier noch keine
Sicherheit über die Bedeutung der dauereiähnlichen Keimgruppe
für das Geschlecht der Nachkommen gewonnen werden. Immerhin
war deutlich sichtbar, dass während der ganzen Entwicklungsdauer
einer der Embryonen wesentlich kleiner blieb als die Schwestertiere.
Gewissheit über das Schicksal der abweichend gebauten Keinı-
gruppe gaben folgende Beobachtungen: In einem Ovar lagen zwei
normale Keimgruppen, im andern fand sich neben einer Normal-
keimgruppe eine dauereiähnliche Keimgruppe. Der Wurf des be-
treffenden Tieres bestand aus vier Weibchen, von denen. drei nor-
male junge Keimgruppen ausbildeten, eins dagegen eine typische
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 561
Dauereikeimgruppe zeigte. Es ist also im diesem wie in allen
anderen entsprechenden Fällen, aus der dauereiähnlichen Keim-
gruppe der Mutter ein befruchtungsbedürftiges Tochtertier hervor-
gegangen.
Eine Ausnahme von diesem, wie ich glaube, typischem Schick-
sale der dauereiähnlichen Keimgruppe schien anfangs die Embryonal-
entwicklung des Beobachtungstieres 193 a (Fig. VIII) zu machen.
Aus zwei dauereiähnlichen Keimgruppen (Fig. VIIL, 7) waren zwei
Weibchen hervorgegangen, die ich, da sie die Dauereikeimgruppen
zeigten, für befruchtungsbedürftige Weibchen hielt. Am nächsten
Beobachtungstage war jedoch die Dauereikeimgruppe nicht mehr
zu erkennen, und die Bedeutung der dauereiähnlichen Keimgruppe
war damit wieder in Frage gestellt.
Fig. VIII.
VII, 2
‚SIerle, go
VII, 1 VII, 2a
1: Dauereiähnliche Keimgruppe. 2: Dauereiähnliche Keimgruppe des aus dieser
entstandenen Tochtertieres. Sie gelangt nicht zur typischen Weiterentwicklung, weil
sie kleiner ist als die vor ihr liegenden sekundären Nährzellen (2 .«).
Man muss den letzten Punkt der Charakteristik der Dauerei-
keimgruppe berücksichtigen, wenn man diesen Widerspruch lösen
und den Zusammenhang der besprochenen Tatsachen herstellen will.
Die erste Bedingung für die Ausbildung des Dauereis war, wie
wir oben gesehen haben, die, dass die Dauereikeimgruppe größer
ist als die sekundären Nährgruppen, wie das auch in Fig. VI zum
Ausdruck kommt. Vergleichen wir dagegen die in Fig. VII abge-
bildete dauereiähnliche und die vor ihr liegende normale Kein-
gruppe, so sehen wir zwischen beiden keinen derartigen großen
Unterschied. Die dauereiähnliche Keimgruppe ist entweder ebenso
groß wie die vor ihr liegenden Keimgruppen (Fig. VIl), oder sie
ist — und das ist in dem letzten Beispiele Fig. VIII, 2 der Fall —
kleiner als diese. Wenn wir sehen, dass in dem ersten Fall Weib-
chen ınit befruchtungsbedürftigen Eiern entstehen, im anderen Falle
die dauereiähnliche Keimgruppe rückgebildet wird (wie das tatsäch-
lich jedesmal der Fall war, wenn die dauereiähnliche Keimgruppe
kleiner war als die vor ihr liegende Keimgruppe), so muss es als
wahrscheinlich angesehen werden, dass die betrachteten Tatsachen
ın folgender Weise sich verknüpfen lassen:
1. Unter den oben aufgezählten Bedingungen, die zur Ver-
schlechterung des Milieus und damit zur Herabsetzung der
369 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris.
Stoffwechselintensität beitragen, wird der Eizellnukleolus kom-
pakt, während er unter günstigen Verhältnissen aus mehreren
Einzelstücken zusammengesetzt ist.
2. Bleibt außerdem der Eizellnukleolus sowie der Eizellkern und
die Eizelle selbst kleiner als die Nährzellen und ihre ent-
sprechenden Teile, so erhalten wir die dauereiähnliche Keim-
gruppe, zu deren Entwicklung drei Möglichkeiten sich bieten:
a) sie bleibt kleiner als die übrigen Keimgruppen, dann ist
sie durch ihre spätere Entwicklung nicht mehr besonders
gekennzeichnet (Fig. VIII, 2),
b) sie ist ebenso groß, dann entsteht aus ıhr ein kleines, nicht
befruchtungsbedürftiges Ei, das sich in der Regel zu einem
befruchtungsbedürftigen Weibchen entwickelt,
c) sie ist größer als die Nährzellkeimgruppen; dann bildet sich
die regelrechte Dauerkeimgruppe aus.
Freilich wird nur noch eine größere Zahl von diesem Gesichts-
punkte aus gemachter Beobachtungen darüber entscheiden können, in-
wieweit diesen Überlegungen allgemeine Gültigkeit zukommt, ob die
einzelnen hier erwähnten Fälle als typische Vertreter der oben mit-
geteilten Entwicklungsvorgänge anzusehen sind, welche Zwischen-
formen sich finden lassen, oder ob nicht überhaupt noch schärfer
charakterisierbare Grenztypen zu finden sind. Vor allem aber wird
es nötig sein, die Entwicklung der männlich determinierten Eier
von Anfang an zu verfolgen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass
ähnliche Erscheinungen dabei eine Rolle spielen, wie bei der Aus-
bildung eines Dauerweibcehens. Meine Bemühungen, den Vorgang
von diesem Gesichtspunkte aus zu verfolgen, hatten bisher leider
ein durchaus negatives Ergebnis. Ich kann nur darauf hinweisen,
dass ich bei der Beobachtung solcher Weibchen, die bereits einen
männlichen Wurf hinter sich hatten (auf den aber in meinen sämt-
lichen Beobachtungsreihen zufällig ein parthenogenetisch-weiblicher
folgte), in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle bei der im Ovar
befindlichen zweiten Ovulation kompakte Nukleolen vorfand. Zweitens
ist bei solchen Weibchen die ihrer Genealogie nach. mit einiger
Wahrschemlichkeit als Männchen gebärende zu betrachten waren,
sehr häufig ein kleiner, länglicher und offenbar sehr flacher Eizell-
kern beobachtet worden, so dass es den Anschein hat, als sei viel-
leicht eine derartige Form mit der Ausbildung eines männlich
determinierten Eies verknüpft. Die Entscheidung hierüber muss
weiteren Untersuchungen vorbehalten bleiben.
Es liegt sehr nahe, die oben beschriebene Form der dauerei-
ähnlichen Keimgruppen mit der „Abortiv-Dauereikeimgruppe“ ın
Beziehung zu setzen, die bereits Lubbock beobachtete, und die
dann Weismann als „schwerwiegenden Beweis“ für die Richtig-
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung' bei Moina reetirostris. 363
keit seiner Theorie von der Entstehung der zyklischen Fortpflan-
zung der Cladoceren heranzog, ein Beweis, der durch die statistischen
Beobachtungen von Scharffenberg’s illusorisch gemacht wurde.
Es scheint allerdings, als ob die Abortiv- Dauereikeimgruppe (abge-
kürzt Akgr.) dieselben Eigentümlichkeiten besäße wie die dauerei-
ähnliche Keimgruppe. Bei Daphnia pulex „charakterisiert sie sich
einmal durch ihre Lage weit hinten am Ventralrand des Eierstocks,
dann durch bedeutendere Größe als die vor ihr gelegenen Keim-
gruppen und schließlich durch die gegenseitige Lagerung ihrer
Zellen, von welchen die dreieckige Eizelle stets ventral liegt, mit
der Hypotenuse ventralwärts, während auf den beiden Katheten
die drei Nährzellen aufliegen“ (Weismann, Abhandlung VII, Nach-
trag). Sie unterscheidet sich von der bleibenden Dauereikeimgruppe
nur durch ihr Schicksal, da sie, nachdem sie „bis zur Ablagerung
des feinkörnigen Dotters heranwuchs“, verschwindet, indem sie sich
„auflöst“,
Einen solchen „Auflösungsprozess“ konnte ich bei Moina rect.,
wie oben ausgeführt, nur dann konstatieren, wenn die Dauereikeim-
gruppe kleiner blieb als die übrigen Keimgruppen. Da nun bei
Daphnia pulex als Charakteristikum der Dauereikeimgruppe, wie
der, ihr äußerlich ganz gleichen Akgr. im wesentlichen der Größen-
unterschied gegenüber den vor ihr gelegenen Keimgruppen gilt, so
ergibt sich daraus ohne weiteres, dass jedenfalls eine Identifizierung
beider Erscheinungen nieht vorgenommen werden kann.
Dagegen spricht auch, dass auch bei Moina außerdem noch
typische, abortierende Dauereier vorkommen, Dauereier, die bereits
braunen Dotter abgeschieden haben und dann zugrunde gehen.
Derartige Erscheinungen stimmen freilich genau mit denen bei
Daphnia pulex und D. magna überein. Ich kann über ihr Vor-
kommen und ihre Bedeutung bei Moina rect. nichts näheres aus-
sagen, da ich sie nur ganz gelegentlich beobachtete und nur kon-
statieren konnte, dass sie für das Geschlecht der Nachkommenschaft
bedeutungslos sind. Dies scheint auch nach von Scharffenberg
bei Daphnia magna so zu sein: Wie aus seinen Protokollen her-
vorgeht, besaß zwar immer wieder die Nachkommenschaft der-
jenigen Weibchen, die die Akgr. zeigten, die Abortiv-Dauereikeim-
gruppe; aber Dauereier scheinen aus ihr nicht hervorgegangen
zu sein.
Immerhin scheint vielleicht diese Tatsache auf einen physio-
logischen Zusammenhang der dauereiähnlichen Keimgruppe und der
Akgr. zu deuten. Wie wir sahen, kann auch bei Moina aus einer
dauereiähnlichen Keimgruppe anstatt des befruchtungsbedürftigen
Weibchens ein Weibehen mit einer dauereiähnlichen Keimgruppe
entstehen (vgl. Fig. VIII). In dieser Weise können, funktionell
wenigstens, die dauereiähnlichen Keimgruppen und die Akgr. den-
364 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
noch in Verbindung gebracht werden. Bei Moina ist es eben mög-
lich, dadurch, dass noch zwei andere Merkmale die Dauereikeim-
gruppe kennzeichnen, sie auch dann zu erkennen, wenn der
Größenunterschied zwischen ihr und den übrigen Keimgruppen
nicht ausgebildet ist.
Die Abortiv-Dauereikeimgruppe kann demnach vielleicht als
ein weiteres Bindeglied der Entwicklung, die vom parthenogene-
tischen Sommerei über die mit kompakten Einukleolus sich voll-
ziehende Eibildung und die dauereiähnliche Keimgruppe zur Aus-
bildung des endgültigen Dauereis führt, betrachtet werden.
VII. Weitere Veränderungen.
a) Quantitativer Art.
1. Messungen an Keimzellen (Prüfung auf K/P).
Issaköwitsch und Popoff haben bereits darauf hingewiesen,
dass der Generationszyklus der Cladoceren mit dem Lebenszyklus
einer in reiner Linie gezüchteten Protozoenkolonie große Ähnlich-
keit hat. Sie vermuten daher, dass auch bei Oladoceren im Ver-
laufe des Zyklus und bei Abänderungen der äußeren Bedingungen
Änderungen der Kernplasmaspannung auftreten, die wie beim
Protozoenzyklus zur Bildung geschlechtlicher Generationen führen.
von Scharffenberg fand bei gleichaltrigen, hungernden Tieren
am ausgebildeten Ei die gleiche Größe für Kern und Zellkörper wie
bei gutgenährten. Er weist daraufhin die von Issaköwitsch und
Popoff geäußerte Ansicht zurück.
Wenn auch die unregelmäßige Form der Keimzellen und vor
allem der wachsende Dotterreichtum des reifenden Eies jede Mes-
sung sehr fragwürdig machen, so versuchte ich doch, die Frage
auch an meinem Material zu prüfen.
(Gemessen wurde jeweils der Flächeninhalt des größten optischen
Querschnittes, und zwar benutzte ich hierzu ein Planimeter, mit
dem sich derart unregelmäßig begrenzte Flächen sehr einfach und
relativ exakt ausmessen lassen). Volumberechnungen anzustellen,
war bei der unregelmäßigen Form des Materials völlig unmöglıch.
Wie ungenau daher auch alle diese Messungen sein müssen,
so seien im folgenden doch einige davon erwähnt, die eine gewisse
Regelmäßigkeit der Änderung der Kernplasmarelation erkennen
lassen.
Die Größe des Kernes im Verhältnis zur Zellgröße schwankt
außerordentlich. Wird die Zellgröße gleich 100 gesetzt, so finden
sich für die zugehörigen Kerngrößen Werte zwischen 10 und 95
3) Herrn Dr. ing. Fuchs, der mir die Benutzung eines Planimeters aus dem
Besitze des Deutschen Museums gütigst gestattete, möchte ich auch an dieser Stelle
meinen besten Dank sagen.
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Morna reetirostris. 565
auf den verschiedensten Stadien der Eibildung. Bei der Schwierig-
keit einer exakten Zellgrößenmessung lassen sich auch aus einer
größeren Anzahl von Messungen gesetzmäßige Größenverhältnisse
kaum ableiten. Nur zwei Fälle seien angeführt, um zu zeigen, dass
K/P-Veränderungen wohl im Zusammenhang mit der Abänderung
des Milieus auftreten mögen.
An den oben erwähnten bei verschiedener Temperatur autge-
zogenen Geschwistertieren wurden Keimzellen von gleicher abso-
luter Kerngröße gemessen. Bei den in 24° gezogenen Tieren fand
sich eine K/P von 47,37%, und 36,34%, bei den in 12° gezogenen
betrug die K/P 31,3 %, resp. 23,33 %,. Das würde darauf hindeuten,
dass in der Wärme, also unter den die Parthenogenese begünstigen-
den Verhältnisse die K/P zugunsten des Kernes sich ändert.
Vielleicht könnten auch, als weiterer Beitrag zur Stütze der
Vermutung, dass mit fortschreitender Tendenz zur Gamogenese die
Relation K/P zugunsten des Plasmas verschoben wird, die Zahlen
betrachtet werden, die sich bei der Messung von Dauereikeim-
gruppen ergaben.
Aus der Tabelle IV, die die für K/P gefundenen Werte bei
einigen Dauereikeimgruppen (Nr. 1—7) und dauereiähnlichen Keim-
gruppen (Nr. 8—11) nebeneinander stellt, ist leicht zu ersehen,
dass in der Mehrzahl der Fälle die Relation bei den Nährzellen
höhere Werte ergibt als bei den Eizellen. Die K/P für die drei
Nährzellen (es wurden in einzelnen Fällen nur 1 oder 2 Nährzellen
ausgemessen) sind in den drei ersten Rubriken, die für die Eizelle
in der letzten Rubrik dargestellt. Die Werte sind wieder der leich-
teren Vergleichbarkeit halber für P = 100 berechnet.
Tabelle IV.
5 N ähr ze llen
I | II | III Eizelle
|| 7 | z
1b 37,8 9, 35,16 9, Eee 16,3 9,
2. nz | 50 " | 71,4 % 22 Yh
3: — 7652 % |762 % | 304 %
4. Buszor Ko sr 17209),
As on 52 1431.19,
6. ee N | re
de 40,68%, | — En EEE
8. 38.300) 392 0 a 2 OR
9, Be 0 A619 2927,
10. A | 408 Aa, 188
11. De = 24,65 9,
|
366 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
Von allgemeiner Gültigkeit kann auf das übereinstimmende
Verhalten dieser relativ wenigen Fälle hin natürlich nicht die Rede
sein. Aus anderen Messungen scheint gerade das Gegenteil her-
vorzugehen, wie das ja bei der Unzulänglichkeit der quantitativen
Bestimmung eines so unregelmäßig geformten Materials natürlich
ist. Dennoch darf vielleicht in den wenigen übereinstimmenden
Daten ein Hinweis auf Verhältnisse gesehen werden, die besonderes
Interesse dadurch gewinnen würden, dass sie sich zu den für die
Protozoenzelle von Richard Hertwig und seiner Schule aufge-
stellten Gesetzmäßigkeiten genau reziprok verhalten würden.
2. Messungen an Darmzellen.
Angesichts der oben bereits betonten Tatsache, dass wir es in
den Keimzellen mit sehr schwer exakt messbaren, für Zellgrößen-
bestimmungen sehr undankbaren Elementen zu tun haben, hat
Papanıcolau schon darauf hingewiesen, dass Veränderungen des
physiologischen Zustandes in der variablen Größe der leichter mess-
baren Darmzellen zum Ausdruck kommen. Er kam zu dem Resultat,
dass in der Tat Temperatur, Ernährung, Wurf- und Generations-
zahl eine deutlich erkennbare Wirkung auf die Größe der Darm-
zellen ausüben, und zwar in dem Sinne, dass „die Wärme die
Größe der Zellen und Kerne verkleinert, also zugunsten der Par-
thenogenese wirkt, Kälte und Hunger die Zellen und Kerne ver-
größern, also zugunsten der gamogenetischen Fortpflanzung wirken“
(Papanicolau 19105).
Wir haben es also bei diesen Größenbestimmungen nicht eigent-
lich mit Verschiebung des Verhältnisses vom Kern zum Plasma zu
tun, sondern mit der Abänderung der Elemente im ganzen. Dieser
Unterschied muss besonders deshalb hervorgehoben werden, weil
sich daraus ergibt, dass auf derartige Größenveränderungen die
theoretischen Erwägungen, die für Veränderung der Kernplasma-
relation Geltung haben, nicht ohne weiteres übertragen werden
dürfen. Wir können jedenfalls einen kausalen Zusammenhang
zwischen den von Papanicolau gefundenen Größendifferenzen und
den Veränderungen der Sexualtendenz nicht konstruieren. Doch
lässt sich ein gewisser Parallelismus auch hier wieder recht wohl
auffinden, wenn auch dıe außerordentlich variablen Verhältnisse nur
annäherungsweise brauchbare Daten liefern.
Vor allem ist es die Form der Darmepithelzellen selbst, die
Messungen unter Umständen schwierig und unzureichend macht.
Häufig sind die gewöhnlich flachen, polyedrischen Zellen wohl im
Zusammenhang mit gewissen, nicht näher analysierten Funktions-
zuständen des Darmes drüsig erweitert. Die Ausmaße der Zellen
eines Einzeltieres sind untereinander keineswegs die gleichen und
zeigen vor allem in den einzelnen Regionen des Darmrohres recht
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris. 367
bedeutende Differenzen. Die Zellflächen des Anfangs- und End-
darms sind im allgemeinen größer als die des Mitteldarmes. Man
muss daher die Messungen stets an einer eng umschriebenen Region,
etwa dem mittleren Teil des Mitteldarmes, und möglichst in gleichen
funktionellen Zuständen, vornehmen, um die Fehlerquellen von
dieser Seite her möglichst einzuschränken. Das Resultat der aus-
geführten Messungen ist in den nachstehenden Tabellen V, VI und
VII dargestellt.
Tabelle V.
19
aa LER RP ER a ER 7 23 ER ER DE
„| ZEERApReI mer
N
Bi SEzENEm
RBRIEN.
IM
19 Z
35 394377 470312795.592.637,07107100790791,831.820.917,997794105.107
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Tabelle VII.
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368 Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
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Tabelle V gibt die Flächenmaße, Tabelle VI die Höhenmaße,
Tabelle VII die berechneten Volumina an. Die Messungen wurden
täglıch an drei Vergleichskulturen ausgeführt. Zwei Kulturen, von
denen die eine der 1., die andere der 5. Generation angehörten,
wurden bei 20° gehalten (gestrichelte Kurve a und schwarze Kurve 5).
Eine 3., ebenfalls der 5. Generation angehörige, wurde bei 25° ge-
halten (Strich-Punkt Kurve ec). Die Messungen wurden vom Tage
der Geburt an bis zur Ausbildung des 1. Wurfes täglich vorge-
nommen. Auf der Abszısse wurde die Körperlänge der Tiere, auf
der Ordinate dıe zugehörige Zellgröße eingetragen, so dass die ein-
zelnen Punkte der Kurve den ganzen Wachstumsverlauf der Darm-
epithelzellen bis zur Ablage des 1. Wurfes wiedergeben.
Trotz des recht unregelmäßigen Verlaufes der Kurven, der wohl
auf die oben schon erwähnten Fehlerquellen zurückzuführen ist,
lässt sich doch aus dem Vergleich der drei Kurven unmittelbar er-
kennen, dass die Kurve VIla, also die Darmzellgröße der ex-Ephippio-
Tiere auch in ihrem Maximum erheblich gegen die maxımale Darm-
zellgröße der Tiere der 5. Generation zurücksteht, dass also die
Generationszahl die Größe der Darmepithelzellen beeinflusst. Zweitens
sehen wir, dass eine wenn auch unbedeutende Zellgrößendifferenz
zwischen den bei 20° und 25° gehaltenen Tieren in dem Sinne
besteht, dass das Wärmemaximum hinter dem des in mittlerer
Temperatur gehaltenen Tieres zurückbleibt (Kurve c verglichen mit
Kurve db). Drittens zeigt der Verlauf der Kurven in allen drei Ta-
bellen, dass Zellhöhe (Tabelle VI) und Gesamtvolumen (Tabelle VII)
annähernd gleiche Veränderungen unter den verschiedenen Be-
dingungen erfahren, dass aber die Werte für die Zelloberfläche
(Tabelle V) viel geringere Differenzen aufweisen.
Eine Vergleichung der Oberflächeninhalte allein würde also ın
diesem Falle das Resultat gegeben haben, dass bei frühen und
späten Generationen die Zellgrößen nicht derart voneinander ab-
weichen, dass von charakteristischen Differenzen gesprochen werden
kann. Erst die Volumvergleichung lässt die wahren Verhältnisse
erkennen.
Der Verlauf der Kurven zeigt schließlich, dass einzelne Mes-
sungen gleichaltriger oder gleichlanger Tiere verschiedener Pro-
venienz die widersprechendsten Resultate ergeben können; die Wir-
kung der Temperatur resp. der Generationszahl erscheint keineswegs
an allen Punkten der Kurve gleich. Erst die Aufstellung einer
derartigen, einer fortlaufenden Beobachtung entsprechenden Reihe,
konnte zu einem annähernd richtigen Bilde der Wirkungsweise
beider Faktoren führen.
Dennoch möchte ich noch eine Reihe von Einzelmessungen
zur Ergänzung der ın den Kurven gegebenen Verhältnisse .heran-
ziehen, Messungen, die in der Tabelle VIII wiedergegeben sind.
69
eränderung der Eibildung bei Moina reetirostris.
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Grunewald, Über V:
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370 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirestris.
In der 1. Vertikalreihe stehen die Volumina der Darmzellen in auf-
steigender Größenfolge, ın der 2. der Oberflächeninhalt, in der 3.
die Höhe des Prismas. Aus der Tabelle lässt sich deutlich die
Wirksamkeit der Temperatur erkennen. Die höchsten verzeichneten
Ziffern finden sich bei drei in 6° © gehaltenen Tieren verschie-
dener Generationen. Die niederen Ziffern sehen wir vorwiegend
auf die in 25° C gehaltenen resp. ganz jungen Tieren beschränkt.
Wie Kälte wirkt auch Hunger, soweit seine Wirkung nicht durch
erhöhte Temperatur aufgewogen wird (Tabelle VIII, 17). Das zeigt
besonders die Gegenüberstellung der zwei Geschwistertiere Nr. 1
und Nr. 14, von denen das eine bei 25° O, das andere bei 15° ©
hungernd gehalten wurde.
Dass auch der bei zunehmender Sexualtendenz vorhandene
physiologische Gesamtzustand in dieser Weise zum Ausdruck kommt,
zeigt die recht beträchtliche Darmzellgröße des befruchtungsbedürf-
tigen Weibchens (Tabelle VIII, 15).
Im allgemeinen kann also der Befund Papanicolau’s als be-
stätigt angesehen werden, wenn auch die individuellen Größen-
schwankungen nicht gestatten, ın diesen Erscheinungen mehr zu
sehen als eine Reihe von Veränderungen, die mit denen der Sexual-
tendenz parallel verlaufen, und als quantitativ messbares Merkmal
für den physiologischen Gesamtzustand des Tieres recht wohl
brauchbar sein können.
b) Qualitative Veränderungen im Plasma.
Die Frage nach qualitativen Veränderungen im Plasma selbst
innerhalb des Zyklus oder unter veränderten Existenzbedingungen
lag von vornherein sehr nahe. Hatten sich doch gerade bei Moina
rect. qualitative Veränderungen wenigstens des Deutoplasmas, der
Dottersubstanz, schon durch Papanıcolau nachweisen lassen,
Änderungen, die durch die verschiedene Färbung der Dottertröpfehen
gegeben sınd, und die auch nach meinen Beobachtungen als Kor-
relat des physiologischen Gesamtzustandes anzusehen sind. Der
Dotter ıst bei optimal gehaltenen Tieren hellrosa gefärbt, Iila bis
hellblau bei Tieren, welche auch im übrigen einen weniger kräftigen
Eindruck machen. Ganz farblos erscheint der Dotter, wenn wir es
mit wirklich hungernden Tieren zu tun haben.
Die Bedeutung des Dotters für das Geschlecht der aus den
betreffenden Eiern entstehenden Tiere konnte ich jedoch in der
Weise, wie dies Papanicolau gelungen ist, nicht feststellen. In
den meisten Fällen, in denen ıch auf diesen Punkt mein Augen-
merk richtete, entstanden stets nur parthenogenetische Weibchen,
mochten die Eier lila oder blau oder ganz farblos sein. Das be-
weist natürlich nichts gegen die von Papanıcolau konstatierte
häufige Übereinstimmung des Übergangs zur Bisexualität mit den
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris. 374
Farbänderungen des Dotters. Es zeigt nur, dass es sich hier, genau
wie bei den allmählichen Veränderungen der Nukleolenform, um
einen morphologisch sichtbaren Ausdruck physiologischer Ände-
rungen handelt, die wohl für den Kräftezustand der Tochtergene-
ration von Bedeutung sind, aber nicht ausschlaggebend für das
Geschlecht des Tieres zu sein brauchen.
Abgesehen von diesen deutoplasmatischen Differenzen ließ sich
aber eine kontinuierlich seriierbare, sichtbare Veränderung des
Plasmas, wie sie etwa der des Nukleolus entsprechen würde, am
lebenden Objekte nicht auffinden.
Vielleicht lässt sich in diesem Zusammenhange eine Erschei-
nung betrachten, über deren Bedeutung ich bisher nicht ins Klare
kommen konnte, die aber wohl mit den Faktoren ın Zusammenhang
steht, die wir oben bereits für dıe Gestaltung des Nukleolus ver-
antwortlich gemacht haben.
Häufig ist gerade ın solchen. Keimzellen, die durch Kälte,
Hunger, Alter, oder andere ungünstige Momente geschädigt sind,
ein helles, vakuolenartiges Gebilde, wie es z.B. in Figur III mit
eingezeichnet ist, zu sehen. Es ıst seiner Größe und Lage nach
recht varıabel. Mit Vorliebe findet es sich in solchen Keimzellen,
die kompakte Nukleolen enthalten.
In 24 von 50 beobachteten Fällen wurde das Auftreten des
Bläschens gleichzeitig mit dem Vorhandensein des kompakten Nu-
kleolus konstatiert.
Von diesen waren 5 in der Kälte aufgezogen, 2 ohne Nahrungs-
zusatz, 9 waren von Natur mangelhaft ausgestattete Tiere, in drei
Fällen handelte es sich um Tiere, die einem späteren Wurf ange-
hörten, ın einem um ein einer hohen Generationszahl angehöriges Tier,
zweimal um degenerierende Keimgruppen, zweimal um dauereiähn-
liche Keimgruppen. Die übrigen 26 Tiere zeigten entweder Degene-
rationserscheinungen ım Ovar (10 Fälle) oder ließen an der Neigung
zur Bildung kompakter Nukleolen u. s. w. ihren geschwächten Ge-
samtzustand erkennen.
Im ganzen geht aus diesen Daten deutlich hervor, dass diese
Bläschen im Zusammenhang mit degenerativen Prozessen auftreten,
wie denn auch ein gehäuftes Auftreten der Bläschen in den Keim-
zellen nicht mehr rückgebildet werden kann und zum völligen Zer-
fall der betreffenden Keimzelle führt.
VIN. Zusammenfassung und Schluss.
Im folgenden seien die im Verlaufe der Untersuchung ge-
wonnenen Resultate kurz zusammengestellt:
1. Im Verlaufe des Eiwachstums existiert eine frühe Periode der
morphologisch sichtbaren Differenzierung der Keimgruppen in
Ei- und Nährzellen. Sie kommt in der Gestalt des Nukleolus
24*
©
(a)
SV)
Grunewald, Uber Veränderung der Eibildung bei Moina rectirostris.
zum Ausdruck. Die drei Nährzellen sind durch den Besitz
eines einheitlichen kompakten Nukleolus charakterisiert. Der
Eizellnukleolus setzt sich dagegen aus mehreren Einzelstücken
zusammen.
Diese Differenzierung verschwindet bei Herabsetzung der Stofl-
wechselintensität des Tieres. Der Eizellnukleolus nimmt all-
mählich die Gestallt der Nährzellnukleolen an. Die Herab-
setzung der Stoffwechselintensität wurde hervorgerufen durch
Hunger, Kälte, chemische Einwirkungen (Neutralrot), Alter
des Zyklus, Alter des Individuums, besonders spätes Aus-
schlüpfen aus dem Dauerei, angeborene mangelhafte Kon-
stitution.
Eine weitere Veränderung kann unter den genannten Um-
ständen eintreten, indem erstens der Eizellnukleolus kompakt
wird und zweitens Eizelle und Kern von vornherein kleiner
bleiben als die Nährzellen.
Die so charakterisierte Keimgruppe ist typisch für das An-
fangsstadium des Dauereies Die Entscheidung, ob sich die
Keimgruppe zum Dauerei entwickelt, ıst von ihrer Größe ım
Verhältnis zu derjenigen der vor ıhr hegenden Keinigruppen
abhängig. Ist sie größer als diese, so entsteht ein befruch-
tungsbedürftiges Dauerei; ıst sie ebenso groß, so entsteht ein
befruchtungsbedürftiges Weibchen, ıst sie kleiner, so geht die
Eianlage in der Regel zugrunde.
Es besteht somit eine durch alle Übergänge verbundene Reihe
von Eibildungsformen, deren Anfangsglied das parthenogene-
tische Ei mit wohl ausgebildeter Differenzierungsperiode, deren
Endglied das befruchtungsbedürftige Dauerei ist.
Die oben genannten, für die Gestalt des Nukleolus ausschlag-
gebenden Faktoren sind die gleichen, die für die Änderung
der Sexualtendenz im Zyklus verantwortlich gemacht werden.
Die Gestaltsänderungen des Nukleolus können daher sehr wohl
als morphologischer Ausdruck der für die Sexualtendenz wesent-
lichen physiologischen Veränderungen angesehen werden.
Parallel mit diesen gehen weitere Veränderungen der Keim-
zellen.
a) Die Massenbeziehungen zwischen Kern und Plasma, wenn
sie auch exakter Messung schwer zugänglich sind, scheinen
proportional der Stoffwechselintensitätsabnahme eine Ver-
schiebung zugunsten des Plasmas erfahren zu können.
b) Unter den unter 2. genannten Umständen tritt zuweilen ein
Bläschen im Plasma auf, das vielleicht als Übergangsform
zu Degenerationserscheinungen zu deuten ist.
Eine weitere Parallele lässt sich vielleicht aus den für die
Darmzellgröße gefundenen Tatsachen konstruieren.
Grunewald, Über Veränderung der Eibildung. bei Moina rectirostris. 375
Die mitgeteilten Befunde scheinen mir in mehrfacher Hinsicht
von Interesse zu sein. Erstens zeigen sie, dass jener innere Faktor,
dessen Umstimmbarkeit durch äußere Faktoren für die Art der Eı-
bildung verantwortlich gemacht wird, in morphologischen Verände-
rungen der Geschlechtszellen sich äußert.
Damit ist die Möglichkeit gegeben, die Wirksamkeit dieses
inneren Faktors, die bisher nur aus dem Resultat des Experiments
erschlossen werden konnte, am Ovar selbst genauer zu analysieren
und damit vielleicht den physiologischen Grundlagen für die Ver-
änderung der Eıbildung näher zu kommen.
Freilich müssten wir, um in diesem Sinne die Veränderungen
am Nukleolus verwerten zu können, von dessen physiologischer
Bedeutung besser unterrichtet sein, als wir es jetzt sind. Die
innigen Beziehungen der Nukleolen-Veränderungen zu den Schwan-
kungen der Stoffwechselintensität im ganzen, zu den Wachstums-
verhältnissen der Keimzelle insbesondere, wie sie sich aus den vor-
stehenden Befunden ergeben hat, weist entschieden darauf hin, dass
der Nukleolus als ein äußerst aktıver, für den Stoffwechsel der
Zelle höchst bedeutsamer Zellbestandteil angesehen werden muss.
Die Oberflächenvergrößerung des Nukleolus beı Steigerung des
Stoffwechsels ist sehr wohl verständlich, wenn man annimmt, dass
er aktiv am Aufbau der Zellsubstanzen beteiligt ist. Das Prinzip
der Oberflächenvergrößerung bei gesteigerter Leistung ıst ja in der
gesamten Organismenwelt verbreitet. Es lässt sich so auch er-
klären, dass der Binnenkörper des Eikernes während der ersten
Wachstumsperiode aus mehreren Nukleolen besteht, im Gegensatz
zu dem kompakten Nukleolus der Nährzellen, da es recht denkbar
ist, dass die Eizelle von vornherein einen intensiveren Stoffwechsel
hat als die Nährzellen. Vom Standpunkte der Häcker’schen Kern-
sekrettheorie aus wären jedenfalls diese Verhältnisse weniger ein-
fach zu erklären.
Da bisher experimentelle Untersuchungen über diesen Punkt
meines Wissens noch gar nicht vorliegen, ist vielleicht mit diesen
Untersuchungen ein Weg eröffnet, dem hier liegenden großen
Fragenkomplex etwas näher zu kommen. Die zeitraubenden fort-
laufenden Beobachtungen am lebenden Objekte gestatteten es mir
bisher nicht, in dieser Weise besonders auch färberisch die Unter-
suchung zu erweitern, vor allem die Beziehungen zwischen Chro-
matin und Nukleolarsubstanz vergleichend zu verfolgen.
Es ist anzunehmen, dass die Chromatinanalyse für die ver-
schiedenen Entwicklungsformen Unterschiede ergeben wird, die es
ermöglichen, die hier gemachten Angaben exakter zu formulieren
und die vielleicht geeignet sein werden, uns einen Einblick ın
dieses noch so wenig geklärte Gebiet der Zellphysiologie zu ver-
schaffen.
374 Grunewald, Über Veränderung der Eibildung bei Moina reetirostris.
Ri
{or}
|
16.
Literatur.
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besondere bei Cladoceren. Leipzig 1908, Klinkhardt.
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Alfred Hölder’s Verlag.
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Biol. Centralbl. Bd. XXXII.
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Arch. f. mikr. Anat. Bd. 69.
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. v. Scharffenberg, U. Studien und Ergebnisse über die Eibildung u. d.
Generationszyklus von Daphnia magna. 1911. Internat. Rev. d. ges.
Hydrob. u. Hydrogr. Bd. III.
— Weitere Untersuchungen an Öladoceren über die experimentelle Beein-
flussung des Geschlechts und der Dauereibildung. 1914. Int. Rev. f.
ges. Hydrob. u. Hydrogr. Bd. VI, 2.
. Winterstein, Handbuch der Physiologie Bd. II, Teil III
. Weismann, A. Beiträge zur Naturgeschichte der Daphnoiden. Abhdlg. 1—7;
1876-70. 7 tw. 2. Bd.-27, 29, 33).
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u. Hydrogr. Bd. ], 6.
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das Wesen quantitativer Artunterschiede bei Daphniden. 1909. Verhdlg.
d. deutsch. zool. Gesellsch. auf d. 19. Jahresversammleg.
— Veränderungen d. Sexualität b. Daphniden. 1911. Int. Rev. d. ges.
Hydrob. u. Hydrogr. Bd. IV,1 u. 2.
Pringsheim, Die Kultur von Paramaecium Bursaria. 375
Die Kultur von Paramaecium Bursaria.
Von Ernst G. Pringsheim.
Unter den Fällen eines Zusammenlebens von chlorophyll-
führenden mit chlorophylifreien Organismen gibt es alle Übergänge
von ganz lockerer bis zu innigster Gemeinschaft. Die engsten
physiologischen Wechselbeziehungen darf man wohl zwischen ge-
wissen Tieren und den in ihnen lebenden Zoochlorellen und Zoo-
xanthellen erwarten. Ist es doch hier sogar so weit gekommen,
dass die Algen sich im Protoplasma der artfremden Zellen aufhalten
und vermehren, ein Umstand, auf den auffallenderweise noch nie-
mand deutlich genug hingewiesen zu haben scheint. Überhaupt ist
die Literatur auf diesem Gebiete, wie auch die über Flechten-
symbiose in den letzten 25 Jahren äußerst spärlich. Was weiter
auffällt ist, dass Botaniker sich mit den Zoochlorellen und Zooxan-
thellen fast gar nicht beschäftigt haben!). Nur Haberlandt?) hat
die Algen von der Turbellarie Convoluta Roscoffensis genauer unter-
sucht und auch Kulturversuche unternommen.
Und doch liegen zahlreiche Fragen vor, die eine eingehendere
Beschäftigung mit dem Gegenstande lohnend erscheinen lassen.
Hier soll aber nicht darauf eingegangen werden, wie die Algen es
anfangen, der Verdauung zu entgehen, der doch alle freilebenden
Verwandten in denselben tierischen Zellen verfallen. Auch die
Stellung der Zoochlorellen und Zooxanthellen im System sowie die
Verhältnisse bei der Fortpflanzung sollen hier nicht untersucht
werden. Das biologische Hauptproblem bleibt doch immer, welchen
Nutzen die beiden Symbionten, besonders die Tiere, von dem Zu-
sammenleben haben. Über die ökologische Bedeutung der Sym-
biose sind wir eigentlich noch in keinem einzigen Falle genügend
unterrichtet, nicht einmal bei den am meisten untersuchten Flechten,
da wir nicht wissen, ob sie ganz von den Assimilaten der Goni-
dien leben oder auch organische Stoffe von außen aufnehmen, wofür
ja die Erfahrungen an Reinkulturen der Flechtenalgen zu sprechen
scheinen. Auch die Bedeutung der Knöllchenbakterien für die
Leguminosen ist bekanntlich nicht ganz aufgeklärt, da sie ın Rein-
kultur bisher nicht sicher zur Stickstoffbindung gebracht werden
konnten.
Die Meinung der meisten Forscher geht nun wohl dahin, dass die
zoochlorellenführenden Tiere nieht nur von dem durch die Algen
gebildeten Sauerstoff, sondern auch von den Assimilationsprodukten
organischer Natur Nutzen ziehen. Um diese Auffassung zu er-
1) In den Sachverzeichnissen von Pfeffer’s und Jost’s Pflanzenphysiologie
findet sich das Wort „Zoochlorella“ nicht.
2) G. Haberlandt, Über den Bau und die Organisation der Chlorophyll-
zellen von Convoluta Roscoffensis; als Anhang zu L. v. Graff’s Organisation der
Turbellaria acoela, Leipzig 1891.
376 Pringsheim, Die Kultur von Paramaecium Bursaria,
härten, sind von verschiedenen Forschern, so von Brandt?)
mit Stentor polymorphus, Spongilla, Hydra, Actinien u. a., von
v. Graff*) mit Hydra viridis, von Gruber’) mit Amoeba viri-
dis Züchtungsversuche angestellt worden, ın denen feste Nah-
rung durch Filtrieren des Kulturwassers ausgeschaltet werden
sollte. Abgesehen davon, dass kleinste Lebewesen durch Papier-
filter gehen, ist mit Ausnahme des Gruber’schen Versuches
immer nur ein meist nicht einmal lange dauerndes Weiterleben,
niemals aber eine Vermehrung der betreffenden Tiere beobachtet
worden. Nun ist es aber bekannt, dass z. B. Hydren ein monate-
langes Hungern vertragen. Beweisend für genügende Ernährung
der algenbergenden Tiere durch die Symbionten wäre daher nur
ein dauerndes Gedeihen mit ungehinderter Fortpflanzung. Auch
Haberlandt*), der seine Convoluten in eine Algennährlösung
brachte, beobachtete nur eine Vermehrung der Zoochlorellen ım
Wirte, nicht aber ein wirkliches Gedeihen der Würmer.
Um zunächst einmal bei einem Zoochlorellen führenden Tier
die Ansprüche kennen zu lernen, die es an die Ernährung stellt,
nahm ich mit Paramaecium Bursaria, das mir geeignet erschien,
Kulturversuche vor. Dass die angedeutete Frage bisher nicht als
gelöst zu betrachten ist, geht am klarsten aus der neuesten und
sehr eingehenden Übersicht über das Zoochlorellenproblem hervor,
die von Biedermann’) herrührt: „Maupas konstatierte bei Para-
maecium Bursaria reichliche Aufnahme von Bakterien, Flagellaten
und Zoosporen und fand die Tiere gelegentlich sogar ganz mit
grünen Euglenen erfüllt. Auch fand er, dass die Vermehrung von
Paramaecium Bursaria ım Dunkeln genau so reichlich erfolgte wie
ım Licht. Dies beweist aber, wie Bütschli bemerkt, unwiderleg-
lich, dass die Zoochlorellen bei der Ernährung dieses Infusors eine
nur ganz geringfügige, wenn überhaupt eine Rolle spielen. ‚Da
aber gerade diese Art eine der typischsten und regelmäßigsten
Zoochlorellaten ıst, so dürfte der Schluss nicht zu gewagt erscheinen,
dass auch die übrigen sich entsprechend verhalten.‘ Bütschlı
hält es daher für sehr zweifelhaft, ja unwahrscheinlich, ‚dass die
Ciliaten von dem Überschuss der Assimilationsprodukte (speziell
3) K. Brandt, Über die morphologische und physiologische Bedeutung des
Chlorophylls bei Tieren. 1. Teil. Archiv für Anatomie und Physiologie. Physiolog.
Abt. 1882. 2. Teil. Mitteil. aus der zool. Station zu Neapel, Bd. IV, 1883.
4) L v. Graff, Zur Kenntnis der physiolog. Funktion des Chlorophylis im
Tierreich. Biolog. Centralbl. 1584, S. 745 (Ref. aus Zoolog. Anz. von G. Klebs).
5) A. Gruber, Über Amoeba viridis, Festschrift für Weismann, Suppl.-
Zool. Jahrb., 1904, S. 67.
6)RArTA.0)
7) W. Biedermann, Physiologie des Stoffwechsels, 1. Hälfte in Winter-
stein’s Handb. d. vergl. Physiologie, Bd. II, Jena 1911, S. 415.
Pringsheim, Die Kultur von Paramasecium Bursaria., 3
{9}
der Kohlehydrate) ihrer Zoochlorellen ernährt werden, wie Brandt
und Entz annehmen’ *“.
Paramaecium Bursaria trat im Winter 1914/15 ın einer Chara-
kultur ım Laboratorium auf, die vor Jahren aus Stecklingen in mit
Wasser überdeckter Erde erzogen worden war und nur einige
Algenfäden, aber keine Fäulnisorganismen u. dergl. enthielt. Die
deutlich am Licht angesammelten Infusorien wurden mit einer
Pipette in eine verdünnte, ganz hellgelbliche Erdabkochung über-
tragen, wo sie sich am Nordfenster einige Wochen hielten und
dem Augenschein nach auch vermehrten, doch traten die ver-
schiedenartigsten Algen und anderen Mikroorganismen daneben auf.
Aus dieser Rohkultur wurden Tropfen unter das Mikroskop ge-
bracht und die Paramaecien mit einer ausgekochten Kapillarpipette
einzeln in sterile Wassertropfen übertragen. Durch mehrmalige
Wiederholung dieses Verfahrens wurden die Infusorien abgewaschen
und schließlich in Erlenmeyerkölbehen mit verschiedenen sterilen
Nährlösungen übertragen. In einigen von diesen trat nach ein paar
Wochen eine deutliche Vermehrung auf; aber auch die lange Zeit
rein aussehenden Kulturen wurden schließlich durch ziemlich üppig
wuchernde Algen (Plewrococcus spec.) verunreinigt, so dass ich ver-
mutete, diese möchten vielleicht von den Zoochlorellen abgestorbener
Paramaecien herstammen. Jedenfalls waren diese Versuche nicht
beweisend, denn wenn überhaupt freie Algen auftreten, so können
die Paramaecien auch von ıhnen gelebt haben.
Ist diese Vermutung richtig, so ist der ganz zwingende Beweis
für die Ernährung des Paramaecium Bursaria durch seine ptlanz-
lichen Insassen überhaupt nicht zu erbringen, da eine durch dauernde
Überwachung gewährleistete Ausschließung der Aufnahme geformter
Nahrung wohl kaum zu erzielen ist. Für einen durchaus bindenden
Nachweis muss die algenartige, also autotrophe Ernährung des
Zoochlorellaten in rein anorganischer Nährlösung unter Ausschluss
anderer autotropher Organismen gefordert werden. Eine absolute,
also auch bakterienfreie Reinkultur ist dagegen nicht nötig, da die
heterotrophen Bakterien ja nicht die Menge organischer Substanz
in der Flüssigkeit erhöhen, also auch nicht die Grundlage für eine
Vermehrung der Infusorien in einer mineralischen Nährlösung bilden
können.
Diese Forderung konnte nun durch wiederholte Übertragung
und Reinigung der Paramaecien auf die geschilderte Weise schließlich
doch erfüllt werden. Die Ausschaltung fremder Algen gelang sogar
verhältnismäßig leicht, da die Infusorien infolge ihrer lebhaften
Beweglichkeit alle fremden Keime abstreifen und beim Herauspipet-
tieren die algenhaltige Bodenschicht nicht berührt zu werden braucht.
Ich erzielte üppige Kulturen von mindestens mehreren hundert Exem-
plaren aus zwei hineinpipettierten in einer Nährlösung, die 0,02 9%,
378 Pringsheim, Die Kultur von Paramaeeium Bursaria.
Ca(NO,),, 0,002%, MgSO,+7H,0, 0,002 %, K,HPO,, 0,02 %, NaCl und
eine Spur FeSO, in doppelt destilliertem Wasser enthielt. Dass dabei
derReinheit der Gefäße und Salze besondere Sorgfalt zuteil wurde,
braucht kaum besonders betont zu werden. Die Vermehrung war
auch zu lebhaft, als dass sie Spuren von Verunreinigung aus der
Lösung, vom Glase oder aus der Luft zugeschrieben werden könnte.
Bei geringer Einsaat dauert es allerdings ein paar Wochen, bis ein
leicht sichtbares Ergrünen der ganzen Kultur auftritt, doch kann
man nach einiger Übung auch mit bloßem Auge, besser mit einer
Lupe, die einzelnen Exemplare zählen, so lange noch wenige vor-
handen sind. Eine Verunreinigung durch fremde Algen tritt nun
nach mehrmonatiger Beobachtungszeit nicht mehr ein. Es kann
demnach bestimmt behauptet werden, dass Paramaecium Bursaria
von seinen Zoochlorellen ganz und gar ernährt werden
kann und der Aufnahme geformter oder gelöster organischer Stoffe
von außen zu seinem Gedeihen nicht bedarf.
Die vorübergehend auftauchende Vermutung, dass die in den
Kulturen auftretenden Algen von frei gewordenen Zoochlorellen
stammten, ist schon dadurch widerlegt, dass die schließlich erzielten
Reinkulturen 5 Monate lang algenfrei blieben, obgleich doch sicher-
lich immer einzelne Paramaecıen abgestorben sein werden. Das spricht
aber auch gegen die Möglichkeit einer Isolierung der Zoochlorellen, da
günstigere Bedingungen kaum erzielt werden könnten. Ein Bedarf
an organischen Stoffen kann ja nicht vorliegen. Dementsprechend
missglückten alle Versuche, dıe Algen für sich zur Vermehrung zu
bringen. Das gelang weder mit den zerdrückten Paramaecien ın
der oben genannten Nährlösung, noch auf Kieselgallerte und Nähr-
salzagar, erprobten Algennährböden, auf denen die Infusorien nach
dem Verschwinden des Flüssigkeitstropfens, mit dem sie aufgebracht
wurden, zerflossen. Bei diesem Verfahren konnte man mikroskopisch
verfolgen, wie die anfangs grünen Algenzellen schon nach wenigen
Tagen abblassten und starben. Auch vor diesen Veränderungen
von Kieselgallerte in Lösungen übergeimpfte Zoochlorellen gingen
nicht an. Da dies mir die mildeste Methode der Isolierung zu sein
scheint, halte ich die Zoochlorellen von Paramaeeium für nicht ge-
trennt kultivierbar. Auch von Paramaecien, die in verflüssigten
und auf 40° abgekühlten Agar der verschiedensten Zusammen-
setzung, mit und ohne Glukose und organischen Stickstoff, über-
tragen wurden, sah ich nie Älgenkulturen ausgehen. Dasselbe fand
Haberlandt bei den Algen von Convoluta, die den Wirt nicht
überleben, sondern stets mit ıhm zugrunde gehen. Die früheren, mit
viel roheren Methoden erzielten scheinbaren Erfolge von Entz°) u.a.
dürften also auf Irrtum durch Verunreinigung beruhen.
8) G. Entz, Das Konsortialverhältnis von Algen und Tieren. Biol. Centralbl,
Bd. II, 1882, S. 451.
Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. 379
Um einer vorzeitigen Verallgemeinerung der an Paramaecium Bur-
saria gemachten Erfahrungen vorzubeugen, will ich gleich berichten,
dass mir bei Hydra viridis eine rein autotrophe Ernährung bisher
nicht geglückt ist. Die freilich noch spärlichen Versuche wurden
in der oben geschilderten Weise angestellt. Es gelang auch, die
fremden Algen fernzuhalten und die Hydren über ein Vierteljahr
zu erhalten. Schließlich aber schrumpften sie unter Verkürzung der
Tentakeln zu grünen Kügelchen ein, verhielten sich also nicht viel
anders als algenfreie Hydren unter entsprechenden Verhältnissen.
Dass die geprüften Nährlösungen an sich nicht schädlich waren,
ergibt sich daraus, dass die Hydren sich darin mehr als dreimal
so lange hielten als in dem filtrierten Kulturwasser von Brandt.
Das allmähliche Einschmelzen des Körpers und besonders der Fang-
arme hat auch Brandt’) beobachtet, daraus aber den Schluss ge-
zogen, dass „die grünen Hydren nicht allein gar keine Nahrung
mehr aufzunehmen brauchen, sondern dass sie sogar auch das Ver-
mögen, andere Tiere festzuhalten und in die Leibeshöhle hineinzu-
ziehen, gänzlich aufgeben.“ Später allerdings!) gibt er zu, dass
die Verringerung der Körpermasse bei Hydren u. a., wenn sie aus-
schließlich auf die Ernährung seitens ihrer Algen angewiesen sind,
darauf hinweist, dass diese Tiere nicht dauernd auf jede Fleisch-
nahrung verziehten können. In diesem Sinne sprechen auch Ver-
suche von v. Graft.
So dürfte also G. Entz recht behalten, wenn er sagt, dass
manche Infusorien, z. B. Paramaecium Bursaria, mit der Ernährung
durch die Algen ganz zufrieden sind, während Aydra viridis das
nicht genügt. Sie ist auch trotz dem Nahrungsvorrate, welchen
sie in ihrem Innern beherbergt und züchtet, doch recht gefräßig
und steht den farblosen Arten darın durchaus nicht nach
Nils Holmgren’s ‚„Termitenstudien“.
IV. Versuch einer systematischen Monographie der
Termiten der orientalischen Region.
276 S. 4°, mit S photogr. Tafeln und 14 Abbildungen im Texte. Separ. aus:
K. Sv. Vetensk. Handl. L, Nr. 2, Upsala und Stockholm 1913.
Von E. Wasmann S. J. (Valkenburg, Holland).
Der I. Teil der umfassenden „Termitenstudien“ N. Holm-
gren’s (1909), der sich mit der äußeren Morphologie und der Ana-
tomie der Termiten beschäftigte, ist im Biol. Centralbl. 1910 Nr. 9
(S. 303—310) besprochen worden; ebenso der Il. und III. Teil
9YK. Brandt, 224,0; 1882, 8. 144.
10) K. Brandt, Über Chlorophyll im Tierreich. Kosmos, 8. Jahrg., Bd. XIV,
1884, S. 183.
11) .G. Entz, 393204 3. 463,
3s0 Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“.
(1911), der sein neues Termitensystem begründete, im Biol. Cen-
tralbl. 1912 Nr. 9 (S. 586—590). Der vorliegende IV. Teil will
eine mehr spezielle Systematik der Termiten der orientalischen
Region geben. Die Einleitung dazu (S. 3—30) ist allgemeinerer Natur
und sucht die heutige geographische Verbreitung der Ter-
miten stammesgeschichtlich zu erklären. Bei dem unzweifel-
haften Werte, den derartige spezielle Untersuchungen einzelner
Familien für die Deszendenztheorie besitzen gegenüber den ehe-
maligen nur zu oft recht allgemein und spekulativ gehaltenen
stammesgeschichtlichen Versuchen, dürfte es von Interesse sein, ın
unserer Besprechung hauptsächlich diese Einleitung zu berück-
sichtigen.
Vorbemerkung des Referenten. — Der vortrefflichste
Kenner der fossilen Insekten, Anton Handlirsch-Wien, hat sich
wiederholt entschieden dahin ausgesprochen, dass den Termiten kein
mesozoisches, sondern erst ein känozoisches Alter in unserer Erd-
geschichte zukomme. Tatsächlich stammen die ältesten der bıs
heute bekannten fossilen Termiten aus dem oberen Eocän. Kurt
v. Rosen!), der sich speziell dem Studium der fossilen Isopteren
gewidmet hat, gab 1912 eine Übersicht über die bisherigen Funde,
Darunter sind merkwürdigerweise vier Arten der in ihrer Flügel-
bildung zweifellos altertümlichsten, heute noch in Australien leben-
den Gattung Mastotermes Frogg.: M. bouwrnemouthensis aus dem
oberen Eocän von Hampshire, M. anglicus und BDatheri aus dem
mittleren Olıgocän der Insel Wight, und endlich M7. eroaticus aus
dem unteren Miocän von Radoboj in Kroatien. Die morphologisch
primitivste Termitenfamilie erweist sich somit auch als die geologisch
älteste, beginnt aber, soweit bislang bekannt, erst im Laufe des
Eocän. Auffallend ıst das Fehlen von Mastotermes unter den Ter-
miten des baltischen Bernstein. Diese umfassen nach v. Rosen
nur Pro- und Mesotermitiden, dagegen keine Metatermitiden, die
doch heute °/, aller lebenden Arten von Isopteren zählen. v. Rosen
glaubt diese Erscheinung nicht aus dem phylogenetisch jüngeren
Alter der Metatermitiden erklären zu sollen, sondern aus den klıma-
tischen Verhältnissen der Bernsteinfauna, welche höchstens sub-
tropisch, nicht aber tropisch gewesen seien; daher seien keine Meta-
termitiden, die heute nur in den Tropen leben, im Bernstein vor-
handen, sondern bloß Pro- und Mesotermitiden, die auch heute
noch großenteils in gemäßigteren Klimaten vorkommen. Ich zweifle
jedoch, ob diese Begründung für das Fehlen der Metatermitiden
im Bernstein ausreichend ist. Denn unter den Ameisen des bal-
1) Die fossilen Termiten. Eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Funde
(Trans. II. Internat. Congr. Entomol., Oxford 1912, p. 318—335). Diese Arbeit war
Holmgren noch nicht bekannt.
Wasmann, Nils Holmgren’s ‚„Termitenstudien“. 351
tischen Bernsteins begegnen uns neben paläarktischen Gattungen
(z. B. Formica und Lasius) auch solche, die heute auf die Tropen
beschränkt sind (z. B. Oecophylla, Sima und Pheidologethon) und
überdies kosmopolitische Gattungen (z. B. Camponotus, Plagiolepis,
Prenolepis). Ferner sind im baltischen Bernstein bereits mehrere
Arten der heute ausschließlich tropischen Paussidengattung Arthrop-
ferus vertreten, u.s. w. Die klimatischen Verhältnisse an der da-
maligen Ostseeküste geben somit keine Erklärung dafür, weshalb
gerade unter den dortigen Termiten sämtliche, heute so artenreiche
Metatermitiden fehlen. Es scheint mir, dass wir vielmehr annehmen
müssen, die Metatermitiden seien als phylogenetisch jüngste Isopteren-
familie damals noch wenig oder nicht entwickelt gewesen, während
die Pro- und Mesotermitiden bereits zahlreich vorhanden waren.
Während diese Erwägungen für die Ansicht von Handlirsch
sprechen, der den Termiten nur ein känozoisches Alter zuschreibt,
tritt der beste Kenner der rezenten Termiten, Nils Holmgren,
entschieden dafür ein, dass die Termiten bereits im Mesozoikum
sich entwickelt haben müssen, und zwar aus Gründen der ver-
gleichenden Morphologie und der Tiergeographie. Zwischen den
Protoblattoidea, die schon im Perm verschwinden, und den Masto-
termitidae des Eocäns, deren Flügelgeäder von jenem der ersteren
abzuleiten ist, müssen doch während der langen mesozoischen
Zwischenperioden irgendwelche reelle Bindeglieder in rerum natura
existiert haben, wenn sie auch bisher noch nicht gefunden oder noch
nicht als solche erkannt sind. Ein zweites Hauptargument für das
mesozoische Alter der Isopteren leitet Holmgren aus der heutigen
geographischen Verbreitung der Termiten ab, und dieses
Argument ist der eigentliche Gegenstand der obenerwähnten Eın-
leitung zum IV. Teile seiner „Termitenstudien“.
Die Mastotermitiden, die älteste Termitenfamilie, die nur
eine einzige noch lebende Art in Australien besitzt, waren in der
ersten Hälfte der Tertiärzeit ın Nordeuropa durch mehrere Arten
vertreten?). Obwohl die Gattung Mastotermes ihrem Flügelgeäder
nach zweifellos den primitivsten Isopterentypus darstellt, ist sie
doch in ihrer Kastendifferenzierung „schon sehr weit fortgeschritten‘,
wie Holmgren mit Recht betont. Gleich vielen anderen ım
III. Teil seiner „Termitenstudien“ erwähnten Tatsachen der Ter-
mitenbiologie steht diese Erscheinung in schroffem Gegensatz zum
„biogenetischen Grundgesetz“, ungeachtet der schönen Reflexionen,
welche G. v. Natzmer?) kürzlich wieder über die glänzende Be-
stätigung jenes Gesetzes durch die Insektenstaaten angestellt hat.
2) Siehe oben. Holmgren erwähnt erst eine (Mastotermes eroatieus). Die
drei englischen Arten waren ihm noch unbekannt.
3) Das biogenetische Grundgesetz im Leben der Insektenstaaten (Biol. Cen-
tralbl. 1915 Nr. 1, S. 30—36).
382 Wasmann, Nils Holmgren’s ‚„Termitenstudien“.
Unter den Protermitiden hält H. die Termopsinae ebenfalls
für eine „uralte Termitengruppe“, die am Ende der Sekundärzeit
weit verbreitet war, und von welcher die heutigen dreı Gattungen
nur noch vereinzelte Reste sind. Im Oligocän, wo sie unter den
Bernsteintermiten durch die noch lebenden Gattungen Archotermopsis
und Hodotermopsis und die ausgestorbene Gattung Xestotermopsis
vertreten sind, kamen sie noch weiter nördlich vor als ıhre heutigen
Arten, die auf der Westküste von Nordamerika leben. Unsere
rezenten Porotermes-Arten sind wahrscheinlich die letzten Über-
bleibsel eben jener alten Termopsinenfauna, die über die ganze
holarktische Region sich erstreckte; die Parotermes, die in den
Florissantschichten von Colorado gefunden wurden, können sogar
„mit ziemlich großer Sicherheit als Porotermes-Formen angesehen
werden“; und die rezenten Poroterines-Arten, welche „ın den süd-
lichen Kontinenten fast die Südgrenze der gegenwärtigen Termiten-
verbreitung markieren“, indem sie in Chile, ım Kapland und in
Südostaustralien überleben, sind als die letzten Reste der nach
Süden gewanderten nördlichen Termopsinenfauna zu betrachten.
Die Stolotermes, von denen zwei rezente Arten auf Neuseeland und
in Tasmanien vorkommen, möchte Holmgren ebenfalls als „einen
solchen stark verdrängten Zweig einer nördlichen, spätsekundären
Fauna“ ansehen. Ähnliches gilt für die Oalotermitinae der heutigen
Fauna, welche „gleich wie die Hodotermitinae und Termopsinae Ver-
treter einer uralten, wahrscheinlich der Sekundärzeit angehörenden
weitverbreiteten Termitenfauna sind.“ Dass die COglotermitinae, die
sehr zahlreiche rezente Formen zählen, sich von Norden nach Süden
verbreiteten, wird auch dadurch nahegelegt, dass die Onlotermes
sens. str. in der baltischen Bernsteinfauna vorkommen; bezüglich
ihrer Tibialbewaffnung verhalten sie sich ursprünglicher als alle
jetzt lebenden bekannten Arten derselben Gattung. Man kann es
daher H. nicht verdenken, wenn er den Caloterminen eine „Jura-
oder Kreideverbreitung“ über Europa, Asien und Nordamerika“ zu-
schreibt und auf diesem Verbreitungswege auch die ın Südamerika
endemischen Gattungen Kueryptotermes, Rugitermes u. s. w. sich
differenzieren lässt. Überhaupt bieten die Tatsachen der fossilen
und der heutigen geographischen Verbreitung der Protermitiden
eine starke Stütze für die Ansicht Holmgren’s, dass wenigstens
die primitivsten Termitenfamilien der Gegenwart bereits am Ende
des Mesozoikums ıhre Entwicklung im wesentlichen vollendet hatten.
Wer diese Ausführungen Holmgren’s aufmerksam liest, wird auch
den auffallenden Parallelismus, der zwischen der fossilen und heutigen
Verbreitung der ältesten Termiten einerseits und der ältesten Säuge-
tiere (der Monotremen und Marsupialier) andererseits besteht, nicht
übersehen können.
Für die Familie der Mesotermitiden lässt sich nicht ein so
Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“. 383
einheitliches Verbreitungszentrum feststellen, da sie jüngeren Ur-
sprungs ist als diejenige der Protermitiden. Für die Rhinotermi-
finae nimmt H. an, dass sie ihr ursprüngliches Zentrum in Ostasien
hatten und möglicherweise erst von dort aus nach Afrika, Australien
und Südamerika sich ausbreiteten, wo sie heute ebenfalls vertreten
sind. Die Coptotermitinae lässt er einen ähnlichen, aber etwas
späteren Weg verfolgen. Da sie auch auf Madagaskar vorkommen,
müssen sie dorthin bereits vor der Trennung dieser Insel vom afri-
kanischen Festlande, also vor dem oberen Eocän, gewandert sein.
Ganz eigenartig und einstweilen nicht aufklärbar ist die Verbrei-
tung der Gattung Arrhinotermes, da ihre Arten fast ausschließlich
insular sind in den vier verschiedenen Regionen, wo sie heute
leben, nämlich im asiatischen, australischen, amerikanischen und
madegassischen Gebiete. Die Leucotermitinae, die schon im Oligocän
des baltischen Bernsteins als einzige Vertreter der Mesotermitiden
sich finden und heute als die schädlichsten Haustermiten über alle
Weltteile verbreitet sind, bilden die Nordgrenze der rezenten Ter-
mitenverbreitung, die nur wenig südlicher verläuft als im Oligocän.
Ihr ursprüngliches Zentrum war vielleicht ım paläarktischen Ge-
biete, von dem sie sich vor dem Ende des Oligocän auch über
Nordamerika ausgebreitet hatten: andererseits aber meint H., ein
ostasiatisches Zentrum würde der gegenwärtigen Verteilung der Arten
besser entsprechen als ein europäisches, bezw. ein arktisches; denn
in Südeuropa und Nordamerika leben heute nur sehr wenige Arten
von Leueotermes gegenüber zahlreichen ındischen, australischen und
südamerikanischen. Referent möchte noch beifügen, dass die beiden
uördliehsten ZLeucotermes-Arten der rezenten Fauna, L. lucifugus ım
Europa und Z. flavipes in Nordamerika, vielleicht überhaupt erst
in historischer Zeit dorthin verschleppt wurden durch den mensch-
lichen Handelsverkehr. Wir kennen Beispiele von ostindischen
Ameisen (Prenolepis longicornis), die samt ihren Gästen aus den
Gattungen Coluocera und Myrmecophila auf dem portugiesischen
Schiffswege von ÖOstindien nach Brasilien, Trinidad, den Azoren
u. Ss. w. gelangten*). Die systematische Verwandtschaft zwischen
dem ostindischen Leucotermes indicola Wasm., dem nordameri-
kanischen Z/. flavipes Koll. und dem europäischen L. lueifugus
Rossi ist eine so äußerst nahe, dass einer erst in ganz rezenter
Zeit erfolgten Differenzierung derselben infolge neuer klimatischer
Verhältnisse nichts im Wege steht. Die Annahme einer ostasiatischen
Heimat für Zeucotermes würde sich auf diese Weise mit der extrem
nördlichen Verbreitung einiger Formen ohne prähistorische Wande-
4) Siehe Wasmann, Zur Lebensweise einiger in- und ausländischen Ameisen-
gäste (Ztschr. f. wissensch. Insektenbiologie I, 1905, Heft 8—10); Ameisenplagen
im Gefolge der Kultur (Stimmen aus Maria-Laach, LXXX VII, 1913—14, Heft 10).
384 Wasmann, Nils Holmgren’s „Termitenstudien“.
rungen leicht vereinbaren lassen. Für Leueotermes flavipes, der in
Nordamerika eine weite Verbreitung besitzt, dürfte es allerdings
wahrscheinlicher sein, dass er entweder ein Relikt der dortigen
Tertiärfauna ist oder ein Einwanderer, der ım Pliocän über den
Isthmus von Südamerika herkam, zumal auf demselben Wege auch
Eutermes-Arten, die zweifellos neotropischen Ursprungs sind, in
die Südstaaten der Union gelangten. Dagegen besitzt es für den
sporadisch im Mittelmeergebiete lebenden ZLeucotermes lucifugus?)
größere Wahırscheinlichkeit, dass er kein Relikt der voreiszeitlichen
Tertiärfauna Europas ist, sondern erst nachträglich durch den portu-
giesischen Schiffsverkehr aus Ostindien eingeschleppt wurde. Hier-
für spricht insbesondere seine große Häufigkeit auf Madeira (Har-
tung, Wollaston, Heer!), welche der Häufigkeit der aus Ost-
indien ebendort eingeführten Prenolepis longecornis Ltr. mit ihrem
Gaste Coluocera oculata Bel. (= maderae W ollast.) völlig analog ist.
Seine Untersuchungen über die beiden genannten Termiten-
familien glaubt Holmgren (S. 15) mit dem Satze beschließen zu
dürfen: „Die gegenwärtige geographische Verbreitung der
Pro- und Mesotermitiden scheint deutlich auf eine nörd-
liche, die ganze holarktische Region umfassende Fauna
hinzudeuten, welche (vom oberen Jura) bis zum Eocän
als Zentrum der Pro- und Mesotermitidenverbreitung ge-
dient haben kann.“ Diese Schlussfolgerung hieß sich allerdings
für die Protermitiden besser begründen als für die Mesotermi-
tiden, wo sie keine ebenso große Wahrscheinlichkeit beanspruchen
kann, da die Verbreitung der letzteren als der jüngeren Familie
sich viel mannigfaltiger kompliziert.
In noch höherem Grade gilt dies für die spezialisierteste und
Jüngste unter den vier Termitenfamilien, für die Metatermitiden,
die ım Tertiär überhaupt noch keine Vertreter aufweist‘). Dagegen
sind unter den afrıkanischen Kopaltermiten, die v. Rosen unter-
suchte (1912, S. 332ff.) Metatermitiden, und zwar auch im Soldaten-
und Arbeiterstande, vorhanden.
Die Ausführungen Holmgren’s (S. 16-29) zeigen, auf welche
Schwierigkeiten die phyletische Ableitung bei den Metatermitiden
im einzelnen stößt wegen der geographischen Verbreitung der be-
treffenden Gattungen. Die Termes-Reihe ıst eine der am meisten
lokal begrenzten Gruppen. Die Gattung Maerotermes kommt in
Westafrika und im indisch-ceylonischen Gebiet vor, fehlt dagegen
merkwürdigerweise in Ostafrika. Die Gattung Syntermes ıst aus-
schließlich südamerikanisch, wo sie entstanden sein muss. Das „Ur-
5) Siehe die Fundortsangaben bei Hagen, Monographie der Termiten (Linnaea
Entomologica XII, 1858), S. 178—179.
6) Die älteren Bestimmungen fossiler Termiten sind durch v. Rosen sämtlich
revidiert worden.
Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 3
’ fo} > o -
zentrum“ der ungeheuer artenreichen Gattung Eutermes, deren Sol-
dateh Nasuti mit rudımentären Oberkiefern sind, verlegt H. nach
Südamerika und lässt Vertreter derselben von dort im oberen
Oligocän oder ım unteren Miocän nach Australien wandern und von
da erst ım Pliocän nach der orientalischen Region; in entgegen-
gesetzter Richtung kamen Zntermes-Arten gleichfalls aus Süd-
amerika im Miocän nach Afrika, von dort nach Madagaskar und
schließlich nach Vorderindien. Hier verfügen wir erst über recht
schwanke Hypothesen, wie diese Beispiele zeigen.
Am Schluss seiner Einleitung zum IV. Band der „Termiten-
studien* (S. 50—31) gibt Holmgren eine Zusammenfassung
über die orientalische Termitenfauna und ihre teils nörd-
lichen, teils südlichen, teils östlichen, teils westlichen, teils ende-
mischen Komponenten. Dann beginut die systematische Mono-
graphie der Termiten der orientalischen Region, mit zahlreichen
Neubeschreibungen. In der Gattung Odontotermes scheint dem
Referenten die Spaltung der Arten vielleicht etwas zu weit ge-
trieben.
Der IV. Band dieser „Termitenstudien“ Holmgren’s wird
für jeden Zoologen, der sich für Klärung des schwierigen Deszen-
denzproblems interessiert, manches Lehrreiche bieten. Überdies ist
unsere Kenntnis der geographischen Verbreitung der Termiten und
die spezielle Termitensystematik der orientalischen Region durch
diese Arbeit wesentlich gefördert worden.
Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche
mit Blutegeln.
Von Privatdozent Dr. med. et phil. Leopold Löhner.
(Aus dem physiologischen Institut der Universität Graz.)
Die folgenden Zeilen berichten von Fütterungsversuchen mit
Blutegeln, durch die günstige Bedingungen für verdauungs- und
geschmacksphysiologische Untersuchungen geschaffen werden sollten.
Wegen der außerordentlich langsamen Verdauungsvorgänge und
der aufgenommenen großen Nahrungsmengen schienen die Egel
für diesen Zweck sehr geeignete Objekte zu sein. Es kam nur
darauf an, eime Methode für künstliche Fütterung auszuarbeiten,
um auch die spontane Aufnahme einer Reihe von Substanzen, die
sonst als Nahrung nicht in Betracht kommen, zu erreichen.
Kieferegel, wie unsere Hirudo medieinalis L., sind bekanntlich
nicht imstande, Blut direkt aufzunehmen, wenn man sie in einem
Gefäße mit dieser ihrer natürlichen Nahrung zusammenbringt. Sie
müssen Gelegenheit haben, nach vorausgegangenem Festsaugen
ihren Saug- und Pumpmechanismus in Gang zu setzen. Dieses
XXXV. 25
386 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln.
Moment muss natürlich berücksichtigt werden, wenn man die Auf-
nahme irgendwelcher Substanz erzielen will.
Die Methode der künstlichen Fütterung, die ich schildern will,
eigentlich ein Kolumbusei an Selbstverständlichkeit, hat doch auf
einige Umstände Rücksicht zu nehmen, bei deren Nichtbeachtung,
wie ich mich anfangs nur zu oft überzeugen konnte, das Gelingen
in Frage gestellt wird. Die Methode besteht, kurz gesagt, darın,
ein die betreffende Flüssigkeit enthaltendes Proberöhrchen mit
einem Stückchen Tierfell zu verbinden und den Egel daran sich
ansaugen zu lassen. Damit das Tier nicht nach kürzester Zeit wieder
loslässt, ist es nötig, das über die Öffnung zu stehen kommende
Fellstück in einer entsprechenden Ausdehnung von den Haaren zu
befreien und sodann durch flache Scherenschnitte auf eine mög-
lichst dünne, aber noch als Verschluss wirkende, flüssıgkeitsundurch-
lässige Lamelle zuzuschneiden. Damit der Egel sich rasch und
gerne festsaugt, ist es ferner notwendig, das Röhrchen vorher ım
Wasserbade auf etwa 40° © zu erwärmen. Sobald das Tier mit
Hilfe seiner Kiefer die charakteristisch geformte, dreiblattähnliche
Öffnung in die Lamelle gesägt hat und Flüssigkeit aufsaugt, beginnt
sich im Röhrchen ein immer stärker werdender negativer Druck
zu entwickeln, der die Saugarbeit erschwert und vorzeitig zu Ende
bringt. Es empfiehlt sich daher, mit einer Nadel ın der Membran
vorsichtig ein kleines Loch zu stechen; man kann dann das Auf-
steigen von Luftblasen ın der Flüssigkeit ım Rhythmus der Saug-
arbeit verfolgen.
Auf diese Weise wird von den Egeln defibriniertes Blut, aber
auch Serum, sehr gerne angenommen. Schon schwerer wird das
Ansaugen erreicht, wenn lediglich reine physiologische Kochsalz-
lösung oder eine andere indifferente Flüssigkeit vorliegt. Die Tiere
suchen dann aufgeregt umher, es scheint aber doch der richtige
chemische Anreiz zu fehlen, der demnach nicht oder nicht aus-
schließlich ın der blutleeren tierischen Membran liegen kann, sondern
von der Flüssigkeit ausgeht und sich durch die Membran hindurch
geltend macht. Dass aber das Tierhäutchen trotzdem eine Rolle
spielt, geht daraus hervor, dass andere Materialien, wie z. B. dünnes
Pergamentpapier u. dergl. sich für vorliegenden Zweck ungeeignet
erwiesen.
Um die Aufnahme einer derartigen Flüssigkeit zu erreichen,
ging ich nun so vor, dass ich den Egel sich an einem Serumröhrchen
festsaugen ließ, das Fellstück dann abzog und über ein anderes,
die betreffende Flüssigkeit enthaltendes stülpte; bei raschem und
vorsichtigem Arbeiten gelingt diese Übertragung meist, ohne dass
das Tier loslässt.
Man kann aus dem abgehobenen Fellstücke, das man mit
Nadeln in einem geeigneten Rähmchen befestigt, auch rasch ein
Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 387
kleines Trichterchen formen, an dessen tiefstem Punkte der Egel
saugt. Mit Hilfe ausgezogener Glasrohre können nun verschiedene
mlassiekeiten tropfenweise zugesetzt und auch schnell gewechselt
werden. Diese Anordnung erlaubt die Beobachtung des Kiefer-
spieles und der ganzen en: und ermöglicht ch das reak-
tive Verhalten auf den Dez bestimmter nass katean oder verschie-
dener Flüssigkeitskonzentrationen am genauesten zu verfolgen.
In gleicher Weise wie Proberöhrchen habe ich schließlich auch
mit verschließbarem Zu- und Abflusse versehene Durchströmungs-
gefäße verwendet, die gleichfalls dem schnellen Flüssigkeitswechsel
dienten und zwischendurch noch eine gründliche Ausspülung mit
physiologischer Kochsalzlösung möglich machten.
In allen diesen Fällen soll man es dem saugenden Egel mög-
lichst bequem machen und darauf Rücksicht nehmen, dass er nicht
frei herabhängt. Die Unterlage, — ich verwendete zusammengeballte,
feuchte Tücher —, darf aber jedenfalls nicht zu fest andrücken und
ihn in seinem Bewegungsvermögen behindern.
Nachdem die technische Seite der Aufgabe ın dieser Weise
gelöst war, konnte an die Durchführung verschiedener Versuchs-
reihen gegangen werden.
Zuerst war die Frage zu beantworten, welche Substanzen, bezw.
welche Konzentrationen von Lösungen von den Egeln angenommen
werden, welche nicht. Aus dem Verhalten serumsaugender Egel
bei Flüssigkeitswechsel konnten Schlüsse auf das Geschmacks-
empfinden, auf den chemischen Sinn dieser Tiere, gemacht werden.
Das sofortige Loslassen eines eben noch saugenden Tieres stellt
ein einfaches Kennzeichen dafür dar, dass eine bestimmte Substanz
als von der vorhergehenden chemisch verschieden, und zwar ım
abstoßenden Sinne wirkend, perzipiert wird. Aber auch schon die
Beobachtung des Kieferspieles beim Saugakte und die Feststellung
von Rhythmusänderungen oder -störungen auf Zusatz gewisser Stoffe
gibt in jenen Fällen einen feinen Indikator für das chemische Per-
zeptionsvermögen ab, in denen ein plötzliches Abstoßen nicht statthat.
Hervorgehoben seı hier namentlich die Feststellung, dass körper-
warme physiologische Kochsalzlösung als „zweite Flüssigkeit“ immer
anstandslos weitergesaugt wird, ohne dass irgendein Reflex zu be-
merken wäre. Die Qualität „Salzig* von Serum und Kochsalz-
lösung, für uns Menschen das wichtigste gemeinsame Geschmacks-
kennzeichen dieser beiden Flüssigkeiten, scheint demnach auch von
diesen niederen Tieren als ähnlich perzipiert zu werden.
Wie danach vorauszusetzen war, bereitet die Erzielung der
Aufnahme nicht zu dichter Suspensionen von an und für sich un-
löslichen Substanzen in physiologischer Kochsalzlösung keinerlei
Schwierigkeiten. Von dieser für verdauungsphysiologische Studien
wertvollen Möglichkeit wurde des öfteren Gebrauch gemacht und
95*
388 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln.
so z. B. die Verfütierung von Suspensionen gewaschener Erythro-
zyten oder Leukozyten, von verschiedenen Stärkekörnchen, von
Holzkohleteilchen u. s. w. durchgeführt. Auch die Aufnahme von
Farbstoffen und Indikatoren wurde auf gleiche Weise erreicht, so
die von Karmin, Lackmus, Kongorot und Natriumalizarinsulfonat.
Das Angenommenwerden beschränkt sich aber durchaus nicht
nur auf salzig schmeckende Lösungen; wenn auch weniger gerne
und in kleineren Mengen, werden doch auch noch andere Flüssig-
keiten, wie Brunnenwasser, Rohrzuckerlösungen von etwa 5%, ab-
wärts und Milch weiter gesaugt. Zusätze geringer Mengen von
Substanzen, deren Annahme sonst verweigert wird, zu physio-
logischer Salzlösung oder Serum wird vertragen. Es konnte für
eine Reihe von Substanzen mit ziemlicher Genauigkeit die Konzen-
tration ermittelt werden, bei der das Loslassen mit Sicherheit ein-
tritt. Auf diese geschmacksphysiologischen Versuche, die anderen
Ortes!) geschildert werden sollen, möchte ich hier nicht weiter ein-
gehen.
Durch Messungen der verbrauchten Flüssigkeitsvolumina und
Wägungen der Tiere vor und nach der Aufnahme konnten auch
genaue quantitative Bestimmungen über die Verbrauchsmengen
verschiedener Stoffe gemacht werden. Es zeigte sich, dass Serum
und Kochsalzlösung unter den gegebenen Bedingungen ın ebenso
großen, ja wegen der verringerten Arbeitsleistung vielleicht in noch
größeren Mengen als Blut unter natürlichen Verhältnissen gesaugt
werden. Die Menge, die von einem erwachsenen, ausgehungerten
Individuum vertilgt werden kann, übersteigt mitunter 10 cm? und
beträgt demnach ein Vielfaches des Eigengewichtes. Teilweise
Füllung des Darmsystems, von einer vorhergehenden Nahrungsauf-
nahme herrührend, beeinflusst natürlich in gewissem Grade die
Leistungsfähigkeit; andererseits ist die Gier der Tiere so groß, dass
sie durch eine bestimmte Zeit — ich ermittelte im Durchschnitte
15—30 Minuten — vom Saugen nicht ablassen können. Die maxi-
male Aufnahme, nach der die Tiere zu einer prall gefüllten, un-
förmlichen und kaum bewegungsfähigen Walze werden, erreichte
ich daher in der Weise, dass ıch Fütterungen in einem Abstande
von etwa 2 Tagen einander folgen ließ. War die aufgenommene
Flüssigkeit Kochsalzlösung, so werden die Tiere im durchfallenden
Lichte durchscheinend und lassen besonders das Bauchmark deut-
lich erkennen.
Pütter?) erwähnt die Beobachtung. dass Blut bei längerem
Verweilen im Egeldarme als einzige merkliche Veränderung eine
Eindiekung zu sirupöser Konsistenz aufweist. „Das Blut war also
1) Voraussichtlich: Archiv für die gesamte Physiologie.
2) Pütter, Der Stoffwechsel des Blutegels. Zeitschr. f. allg. Physiol. Bd. 6,
1907, S. 217, und Bd. 7, 1908, S. 16.
Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 389
im Darm des Egels sehr viel wasserärmer geworden, wasserärmer
als die Gewebe des Tieres selbst, was einen aktiven Wassertransport
durch die Zellen der Darmwand bedeutet.“ Ich kann diese An-
gaben vollkommen bestätigen und möchte noch bemerken, dass sich
gleichzeitig mit der fortschreitenden Eindickung des Darminhaltes
eine Volums- und Gewichtsabnahme des Gesamttieres ermitteln lässt.
Diese Eindiekung ist auch für verfüttertes Serum festzustellen;
interessant ist die Beobachtung, dass sich in diesem Falle der Pro-
zess bedeutend rascher vollzieht und dass die Gewichtsabnahme
nach etwa 2 Wochen bereits so weit gediehen ist als bei Bluts-
verfütterung nach ebenso vielen Monaten. Ganz besonders schnell
verläuft aber die Gewichtsabnahme, wenn nur physiologische Koch-
salzlösung eingepumpt wurde. Schon nach wenigen Tagen ıst das
Volumen dieser Tiere nur mehr wenig größer als vor der Fütte-
rung, alles Erscheinungen, die offenbar mit der verschiedenen Diffu-
sionsgeschwindigkeit kristalloider und kolloidaler Lösungen durch
die Darmwand zusammenhängen. Die Flüssigkeitsabgabe von seiten
des Tieres nach außen muss dann in allen diesen Fällen durch
Exkretionsvorgänge, sei esnun durch emunktorielle Exkretion oder
durch allgemeine Oberflächen-Exkretion, stattfinden, keinesfalls aber
durch Brech- oder Defäkationsakte. Flüssigkeitsabgaben auf letzteren
Wegen kommen auch des öfteren vor; sie sind aber stets durch
Verunreinigungen des Aufenthaltswassers leicht zu erkennen und
von jenen anderen zu unterscheiden.
Um Darminhalt für Untersuchungszwecke zu gewinnen, ohne
das Tier opfern zu müssen, bediente ich mich eines alten Volks-
mittels, das bezweckt, den Egel zum Loslassen und Regurgitieren
des eben gesaugten Blutes zu bringen. Das Mittel besteht ın Be-
streuen mit Kochsalz. Ich zog später konzentrierte Kochsalzlösung
vor und fand das Bepinseln des Kopfendes am wirksamsten, das
eventuell noch durch kopfwärts gerichtete Massage unterstützt
werden kann.
Über die außerordentliche Langsamkeit der Verdauungsvorgänge
bei den Hirudineen liegen bereits zahlreiche Angaben vor?); ich möchte
hierzu bemerken, dass sich auch nach Verfütterung gewaschener
Erythrozyten in Kochsalzlösung die Verhältnisse nicht wesentlich
anders gestalten und dass man auch in diesem Falle noch nach
Monaten mehr oder minder unveränderte Blutkörperchen antrifit.
Fütterungsversuche mit Leukozytensuspensionen, hergestellt nach
dem Hamburger-Hekma’schen Verfahren®), brachten das Er-
der Nahrung. Winterstein, Handb.d. vergl. Physiol. Bd. II/1, 1911, S. 540—551.
4) H. J. Hamburger, Physikalisch-chemische Untersuchungen über Phago-
zyten. Ihre Bedeutung von allgemein biologischem und pathologischem (Gesichts-
punkt. Wiesbaden 1912 (J. F. Bergmann), S. 2—13.
390 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln.
gebnis, dass sich die sogen. Mastzellen des Pferdeblutes am wenigsten
widerstandsfähig gegen dıe Verdauung erwiesen und früher als die
anderen Leukozyten Auflösungserscheinungen erkennen ließen.
Um festzustellen, ob ım Verdauungstrakte dieser, an eine so
einseitige Ernährung angepassten Tiere auch diastatische Enzyme
gebildet werden, verfütterte ich Stärkesuspensionen in physiologischer
Kochsalzlösung und prüfte den Darminhalt nach !/,, 1, 1!/, und
2 Monaten. Das Ergebnis war, dass zu allen Zeiten völlig unver-
änderte Stärkekörnchen (Weizen- und Kartoffelstärke) ın großer
Menge aufzufinden waren. Aus diesen negativen Befunden durfte
natürlich noch nicht auf das Fehlen eines diastatischen Enzyms ge-
schlossen werden und das um so weniger, als schon die ungewöhn-
liche Langsamkeit der Verdauung überhaupt zur Vorsicht mahnt.
Durchmustert man nach Ablauf des ersten Monats mehrere Ge-
sichtsfelder mit Sorgfalt, so trıfft man aber immer auf Bruchstücke
von Körnern, vereinzelt auch auf ganze Körner, die unverkennbare
Korrosionserscheinungen aufweisen. Der Gedanke war daher nahe-
liegend, dass die festere, stärkezellulosereiche Außenschichte der
intakten Körnchen erst nach sehr langer Zeit aufgelöst wırd, dass
dagegen mechanisch verletzte Körnchen alsbald angegriffen werden.
Es wurden daher bei späteren Versuchen dıe Stärkekörnchen vor
der Verfütterung in der Achatreibschale möglichst zertrümmert;
die Bilder, die dann, besonders bei Verwendung von Weizenstärke,
erhalten wurden, sprachen für die Richtigkeit obiger Ansicht. Dass
dabei Bakterientätigkeit mitwirken könnte, kann nicht in Abrede
gestellt werden. ist aber nicht sehr wahrscheinlich, da die Darm-
sekrete der Egel stark bakterizide Substanzen enthalten und be-
kanntlich auch die Blutfäulnis verhindern.
Wie bereits erwähnt, wird merkwürdigerweise auch Milch gerne
und in nicht unbeträchtlichen Mengen aufgenommen. Im Vergleiche
zu Kontrollproben mit Milchgerinnung durch Selbstsäuerung erfährt
der Gerinnungsvorgang im Egeldarme eine gewisse Verzögerung,
keineswegs aber eine Aufhebung. Sobald der Ansäuerungs- und
Gerinnungsprozess seinen Höhepunkt erreicht hat, scheint es dem
Egel schlecht zu bekommen. Der Darminhalt wird, von gleichzeitig
gefütterten Tieren nahezu gleichzeitig, spontan in ein- oder mehr-
maligem Akte, regurgitiert. Die erbrochenen Massen bestehen aus
käsigen Gerinnseln, die stark sauer riechen. Der Zeitpunkt, in dem
der Brechakt, und offenbar damit zusammenhängend die voraus-
gehende Gerinnung, einsetzt, hängt von der Außentemperatur ab.
Bei durchschnittlich 15° © konnte ich diese Vorgänge nach etwa
72 Stunden, bei 25° C schon nach 36 Stunden feststellen.
Die Tatsache, dass Serum und Serumverdünnungen so gerne
angenommen werden, forderte zur Anstellung gewisser serologischer
Versuche, über die ich zum Schlusse noch berichten möchte, ge-
Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln. 391
radezu auf. Ohne weiteres gelingt es, das ım Darmsysteme eines
Egels vorgefundene Blut mit Hilfe der biologischen Eiweißdifferen-
zıerungsmethode (Präzipitinmethode) seiner Herkunft nach zu be-
stimmen. Derartige Versuche sınd aber, wıe ich sehe, bereits von
Uhlenhut?) angestellt worden.
Eine andere Frage, die ich mir vorlegte, war die, ob Immun-
körper im Egeldarme eine rasche Zerstörung erleiden oder nicht.
Mehrere Tiere wurden zu diesem Zwecke mit einem Antipferde-
Kaninchenimmunserum gefüttert, das mit der Äntigenverdünnung
!/ 0000 noch merkbare Präzipitation ergab. Nach 14 Tagen wurden
die Egel in der geschilderten Weise zum Regurgitieren des Darm-
inhaltes gebracht. Die von manchen Tieren gewonnenen zäh-
flüssigen, syrupösen Massen sınd klar, hellgelb und frei von allen
Beimischungen, die von anderen Individuen stammenden Portionen
allerdings auch durch altes Blut und Fäzes mehr oder minder ver-
unreinigt, gefärbt und trübe. Für die Versuche wurde nur mög-
lichst reines Material ausgewählt, das, um es pipetieren zu können,
mit etwas 0,355 %,ıger Kochsalzlösung vermischt und angerührt wurde.
Die untenstehende Tabelle bringt die Ergebnisse dieser Versuchs-
reihe nebst den Kontrollproben. Wie daraus entnommen werden
Prä-
zipitation
nach
10 Minut.
Antigen Antikörper
1 cm? !/,, Pferdenormalserum ‚0,lem? Antipferde-Kaninchenimmun- E
serum nach Egeldarmpassage stark a
1 cm? !/,oo > 0,1 cm? ir stark 8
em on ® 0,1 cm? 3 stark =
1 cm? 3000 ® 0,1 cm? R deutlich |
x x 3 |
| I
1 cm? !/;, Pferdenormalserum | 0,1 cm? Antipferde-Kaninchenimmun- | 8
| serumohne Egeldarmpassage | stark 2
sn h ‚0,1 em? re stark |
lem:2ll : ‚0,1 cm? In ' deutlich |&
1 em? *,0000 „ 0,1 cm? » | Spur 18
| =
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lem? !/, Pferdenormalserum | 0,1 em? Kaninchennormalserum nach I
' Egeldarmpassage — | =
Tem . | 0,1 em? oe u | ©
IKem>Ze S 0,1 cm? er == =
Tem), 5000 nn 0,1 cm? 5 Z— =
2
5) Zitiert nach M. Seber, Moderne Blutforschung und Abstammungslehre.
Frankfurt a. M. 1909 (Neuer Frankfurter Verlag), S. 22.
392 Löhner, Über künstliche Fütterung und Verdauungsversuche mit Blutegeln.
kann, hat das Antiserum durch den 14tägigen Aufenthalt im Darme
seine präzipitierende Kraft keineswegs eingebüßt; ja die Präzipitation
in den höheren Antigenverdünnungen scheint hier beinahe stärker
zu sein als die durch die entsprechende Kontrolle (I) veranlasste.
Die Erklärung für diese Erscheinung wird man in der beträcht-
lichen Eindickung des Serums im Egeldarme zu suchen haben. Wie
die Kontrollreihe II mit verfüttertem Kaninchennormalserum zeigt,
bleibt in diesem Falle jede Art Niederschlagsbildung aus, ein Be-
weis, dass die Ausfällung ım Hauptversuche tatsächlich durch eine
typische Präzipitinreaktion zustande kommt.
Nach diesen Feststellungen waren die Vorbedingungen gegeben,
die Präzipitinreaktion auch ım Darminnern des lebenden Tieres
eintreten zu lassen. Diesen Versuch, den ich lediglich als Kuriosum
erwähnen möchte, stellte ich in der Weise an, dass ich mehrere
Egel !/,. und ?/,ooo Verdünnungen von Pferdenormalserum (Ver-
dünnungen hergestellt mit 0,55 %,ıger NaUl-Lösung) trinken hieß und
sie am nächsten Tage zur Aufnahme von ein wenig Antipferde-
Kaninchenimmunserum brachte. Zwingt man die Tiere bald darauf
zum Regurgitieren, so erhält man eine leicht getrübte Flüssigkeit,
aus der sich mit der Zeit ein weißer Bodensatz niederschlägt.
Kontrolltiere, denen bei der zweiten Fütterung Kaninchen- oder
Pferdenormalserum verabreicht wurde, lassen dagegen diese cha-
rakteristischen Serumtrübungen vermissen. Die Präzipitatbildung
im Darme scheint für die Tiere ihrem Verhalten nach völlig indiffe-
rent zu sein.
Zusammenfassung.
1. Unter Beobachtung einer näher geschilderten Methodik ge-
lıngt die künstliche Fütterung von Kieferegeln (Hirudo medieinalis 1ı.)
unschwer.
2. Auf diese Weise wurde neben Blut die Verfütterung von
Seren, physiologischer Kochsalzlösung, verschiedenen Suspensionen
und Zusätzen zu Kochsalzlösung, Wasser, Zuckerlösung von weniger
als 5%, Milch u. s. w. durchgeführt und die Aufnahme dieser Sub-
stanzen erreicht.
3. Die Nahrung erfährt im Egeldarme eine Wasserverarmung
und wird eingedickt. Dieser Prozess verläuft nach Aufnahme von
Serum bedeutend schneller als nach der von Blut, nach der Ver-
fütterung von Kochsalzlösung wieder um vieles rascher als nach
der von Serum.
4. Mechanisch verletzte Stärkekörnchen (Weizen- und Kartoffel-
stärke) zeigen nach längerem Darmaufenthalte Korrosionserschei-
nungen. Ein schwach und langsam wirkendes diastatisches Enzym
dürfte demnach wahrscheinlich in den Verdauungssekreten der Egel
enthalten sein.
Roux, Die Selbstregulation ete. 393
5. Die Gerinnung aufgenommener Milch wird nicht verhindert,
aber etwas verzögert. Sobald die Gerinnung eingetreten ist — der
Zeitpunkt hängt von der Außentemperatur ab —, wird der Darm-
inhalt spontan regurgitiert.
6, Mit Serum eingebrachte Immunkörper (Präzipitine) erfahren
ım Egeldarme keine rasche Zerstörung. So konnte mit Antipferde-
Kaninchenimmunserum, das sich durch 14 Tage im Darmtrakte
befand, die Präzipitinreaktion anstandslos angestellt werden. Bei
entsprechendem Vorgehen kann diese Reaktion auch im Darminnern
des lebenden Tieres zustande kommen.
Roux, Wilhelm. Die Selbstregulation ein
charakteristisches und nicht notwendig vitalistisches
Vermögen aller Lebewesen.
Nova acta. Abh. d. K, Leop.-Carol. Deutschen Akad. d. Naturforscher. Bd. C.
Nr.22.2 9178. -Hallerass: 1914:
Die Erforscher des Entwickelungs- und Lebensgeschehens trennen
sich heute in zwei scharf geschiedene Lager: die Mechanisten im
Sinne Kant’s und Roux’ und die Vitalisten. Während ersteren
das Lebewesen eine unendliche Fülle lockender, durch geistige Ana-
Iyse und ıhr angepasste Experimente bis zu noch nicht bestimm-
barer Grenze „der Erforschung zugänglicher Probleme“ bietet, ist
für den Vitalisten im Grunde nur staunende Bewunderung möglich.
Der hauptsächlichste Grund für diese Verschiedenheiten der
beiden Forschungsrichtungen liegt darin, dass ihre Vertreter ver-
schiedene Ursachen für das Entwickelungsgeschehen annehmen
wollen, darüber zu einer Übereinstimmung bisher nicht gelangen
konnten und wie wir sehen werden, auch nicht gelangen können.
Die beiden einander gegenüberstehenden Richtungen schließen sich
also gegenseitig aus und es frägt sich nur, welche von beiden die
richtige ist. Diese Entscheidung zugunsten der mechanistischen
Richtung zu fällen und damit die Nichtberechtigung des Vitalismus
aufs exakteste nachzuweisen, hat Roux in der vorliegenden Schrift
unternommen.
Der Kernpunkt der Frage ist dabei: wie der heute noch mecha-
nistisch unerklärte Teil des Lebensgeschehens aufgefasst werden
muss. Der Vitalismus sieht sich hierfür zur Annahme eines zweck-
tätıg „gestaltenden“ Agens, einer Entelechie (Driesch), eines Archeus
(gestaltenden Urprinzips von Paracelsus) u. dergl. gedrängt. Für
die mechanistische Erforschung des Entwickelungsgeschehens, also
für die von ihm begründete und benannte „Entwickelungsmechanik*
hat dagegen Roux die Aufgabe gestellt, rein kausale, also „be-
ständig* gestaltende Wirkungsweisen aufzusuchen, welche das Ent-
wickelungsgeschehen hervorbringen.
Roux weist nun besonders darauf hin, dass eine vitalistische
Autonomie (d.h. das eigenen Gesetzen Unterworfensein) des Lebens-
geschehens im Sinne von Drieseh nicht dadurch erwiesen ist, wenn
394 Roux, Die Selbstregulation ete.
solches Geschehen sich heute noch nieht mechanistisch erklären
lässt. Die vitalistisch-entelechetische Erklärung erklärt doch eigent-
lich kein einziges Geschehen und ist außerdem nicht die einzig
mögliche Deutung.
So handelt es sich nach Roux in dem Unvermögen der Ma-
schinen, sich selber ausbessern und fehlende Teile ergänzen zu
können und dass isolierte Teile einer Maschine nicht eine ganze
neue Maschine produzieren können, wie dies Lebewesen (bei der
Selbstvermehrung, Reparation, Regeneration etc.) tun, um das den
gewöhnlichen Maschinen fehlende, den Lebewesen dagegen als eine
elementare und charakteristische Eigenschaft zukommende Regu-
lationsvermögen, welches aber keine „Beweise“ vitalistisch auto-
nomen Geschehens im Sinne Driesch’s darstellt. Das eigentliche
Problem der Vermehrung der Lebewesen beruht nach Roux wesent-
lich nur auf der von ihm „sogen. Assımilation“ des Keimplasmas.
Dass letztere Substanz aber dasjenige leistet, wozu sie geeignet und
wodurch sie gezüchtet worden ist, ıst doch nichts Metaphysisches,
dazu bedarf sie keiner Entelechie.
Seine Stellungnahme begründet Roux in seiner Arbeit, indem
er von der von ihm ausgebauten „funktionellen Definition“ des
Lebens nach den neun Lebensbedingungen (Selbstveränderung,
Selbstausscheidung, Selbstaufnahme, Selbstassimilation, Selbstwachs-
tum, Selbstbewegung, Selbstver mehrung, Vererbung. Selbstentwicke-
lung) ausgeht und dann das von ıhm vor mehr als 30 Jahren er-
kannte, früher fehlende Charakteristikum der Lebewesen die „Selbst-
regulation“ in der Ausübung aller Leistungen genauer entwickelt,
begründet und als eigenartigstes allgemeines Merkmal des Lebe-
wesens genauer bezeichnet.
Die Selbstregulationen haben den Anschein, als würden sie
durch ein zwecktätiges Agens geleitet. Roux dagegen legt dar,
dass die phylogenetische Entstehung dieser Regulationen gleich der-
jenigen der neun Elementarfunktionen der Lebewesen und gemein-
sam mit ihnen auch durch Züchtung aus zufälligen Variationen vor-
stellbar ist. Die anscheinenden Zweckmäßigkeiten können daher
als bloße „Dauerfähigkeiten“ beurteilt werden. Die ersten, ein-
fachsten Lebewesen können somit ım Laufe von längeren Zeit-
räumen durch „sukzessive Züchtung der Elementarfunktionen“ unter
Aufspeicherung dauerfähiger Variationen entstanden sein, ohne dass
hierfür ein metaphysisches, gestaltendes Agens, eine „Gestaltungs-
seele“ behufs Determination des Geschehens nötig ıst.
Da alle diesbezüglichen gegenteiligen Beweise Driesch’s nur
apagogischer Art sind, also darauf beruhen, dass anderes nicht mög-
lich, nicht denkbar sei, so haben sıe keine Beweiskraft mehr, nach-
dem durch Roux dargetan ist, dass eine andere Erklärungsweise
„möglich“, denkbar ist. Damit sind dem Vitalısmus seine besten,
seine „prinzipiellen“ Stützen entzogen.
Aber auch in anderer Hinsicht enthält der fesselnd geschriebene
Aufsatz Roux’ viel Lesenswertes. Vor allem sind die Ausführungen
über die Selbstregulation durch Roux, welcher letztere zuerst
als allgemeines Charakteristikum der Lebewesen erkannt hat und
Brehm’s Tierleben. 395
die Ableitung ihrer Notwendigkeit aus der großen Dauer der Lebe-
wesen im Wechsel der Umstände überaus klar und übersichtlich
gefasst, ebenso die allgemeinen Darlegungen über die organischen
Regulationen und die Wiedergabe der von Roux zuerst ge-
gebenen prinzipiellen Lösung des Regenerationsproblems. Sie werden
von allen denjenigen, welche für Entwickelungsmechanik und kausal-
morphologisches Denken Interesse besitzen, gerne gelesen werden.
Auch die kleineren Abschnitte, wie die scharf umschriebene
kurze Definition des Lebewesens werden weiteste Kreise inter-
essieren, Abschnitte wie der über falsche Buchführung der Vita-
listen sind Meisterstücke exakter wissenschaftlicher Beweisführung.
Den ganzen Gedankenreichtum, der in dem Werke enthalten ist,
kann diese kurze Besprechung einiger Hauptresultate nicht voll wieder-
geben, dazu muss man das Buch selbst lesen. Und das getan zu
haben, wird jeden Leser dauernd bereichern.
Diese Schrift des Begründers der Entwickelungsmechanik ist
die strikteste Widerlegung des Vitalismus; sicher geeignet, die nicht
wenigen derzeitigen Forscher, welche jetzt diesem Irrlicht zu folgen
sich versucht fühlen, zur exakten Forschung zurückzuführen und
andere von ıhm abzuhalten. Albert Oppel, Halle a. S.
Brehm’s Tierleben.
Vierte, vollständig neubearbeitete Auflage. 3. Bd. Die Fische. Von Alfred
Brehm. Unter Mitwirkung von Viktor Franz neubearbeitet von Otto Steche.
Mit 59 Abbildungen nach Photographien auf 10 Doppeltafeln, 172 Abbildungen
im Text, 19 farbigen und 34 schwarzen Tafeln von ©. Bessiger, A. Fiedler,
P. Flanderky, W. Kuhnert und G. Mützel, sowie 1 Kartenbeilage. Leipzig
und Wien, 1914. Bibliographisches Institut.
Der Verfasser des neuen Fischbandes hat es zweifellos nicht
leicht gehabt. Die Einteilung des Werkes ıst so, dass von den
13 Bänden je 4 auf die Säuger und Vögel, 2 auf Reptilien und
Amphibien, dagegen nur 3 Bände auf das ganze übrige Tierreich
kommen. Selbst wenn man annımmt, dass die Mehrzahl der Leser
den 12000 Arten von Fischen kein so großes Interesse entgegen-
bringt als den höheren Wirbeltieren, so ıst es doch betrüblich, zu
sehen, dass Fische und Nagetiere ungefähr gleichviel Text zuge-
billigt erhalten haben. Noch trauriger wird es sein, wenn man
sehen wird, dass eine Drittelmillion Insekten nebst Tausendfüßlern,
Spinnen- und Krebstieren auch nur einen Band bekommen haben
— wie wird da das ungeheure und so interessante biologische Ma-
terial zusammengedrängt werden müssen, wie wenig wird man da
der Farben- und Formenpracht der Insekten, die im ganzen Tier-
reich kaum ihresgleichen haben, gerecht werden können!
Also, es ist dem Verfasser wirklich nicht leicht gemacht worden,
seine Aufgabe zu lösen; um so mehr als er außer den Fischen (von
denen die Oyclostomen mit Recht als besonderer Stamm abgetrennt
und allen übrigen Wirbeltieren, den Gnathostomen gegenübergestellt
werden) noch die Tunicaten und Leptocardier in seinem Band unter-
bringen musste. Den Raum für die Mitteilung der mächtig angewach-
396 Brehm’s Tierleben.
senen neueren Forschungsergebnisse auf dem Gebiete der Fischkunde
— und wie sehr unsere Kenntnisse sich hier vermehrt haben, kann man
leicht ermessen, wenn man nur an einige Hauptpunkte denkt: die
Entwicklungsgeschichte der Lurchfische und von Polypterus, die Ent-
wicklung und die Wanderungen der Aale, und überhaupt die Lebens-
geschichte der wichtigsten Nutzfische: Dorsch, Häring u. s. w.; die
Altersbestimmung der Fische, die Tiefseebewohner und ihre Leucht-
organe, die Lebensweise der zahlreichen, in den letzten Jahrzehnten
eingeführten und im Aquarium gezüchteten ausländischen Süßwasser-
fische, namentlich der Maulbrüter, Kärpflinge, Schmetterlingsfische
u. Ss. w. — dieser Raum konnte nur gewonnen werden durch
‚Streichen der in der früheren Auflage noch reichlichen Spielraum
genießenden Schilderungen alter Schriftsteller und durch kurze Zu-
sammenfassung des Tatsachenmaterials. Dadurch ist es auch
kommen, dass vom alten „Brehm“ viel weniger bleiben konnte
als in den früheren Bänden. Es konnte natürlich auch auf genaue
Einzelbeschreibungen, die etwa zur Bestimmung aller behandelten
Arten ausreichen sollten, unmöglich eingegangen werden; die Er-
kennung der wichtigsten Formen wurde durch Vermehrung der
Abbildungen, von denen die zahlreichen, oft ausgezeichneten photo-
graphischen Aufnahmen besonders bemer kenswert sind, ermöglicht.
Ebenso konnte aus Gründen der Raumersparnis aus Formengruppen
gleicher Lebensweise immer nur eine oder wenige Arten in dieser
Beziehung geschildert werden.
Der Verfasser hat aber nicht nur alles, was in der rein wissen-
schaftlichen Literatur über den Gegenstand zusammengetragen ist,
sorgfältig benützt, sondern auch den deutschen Aquarienzeitschriften,
die so viele interessante Beobachtungen über Lebensweise und Fort-
pflanzung von heimischen und fremdländischen Fischen in Gefangen-
schaft enthalten, soviel nur der Raum gestattete, entnommen, so
dass man wohl sagen kann, dass sowohl der Zoologe von Beruf
eine ausreichende und wissenschaftlich einwandfreie Belehrung aus
dem Bande schöpfen kann, als andererseits derjenige, der ohne
weitergehende wissenschaftliche Absichten, als Beobachter, Pfleger
und Züchter sich mit Fischen befasst, ın klarer Fassung alles
Wissenswerte erfährt.
Was die nieht photographischen Abbildungen anbelangt, so
sind sie von sehr ungleicher Güte; am besten ım allgemeinen die-
jenigen, welche von "Thumm herrühren und Aquarienfische dar-
stellen, am schwächsten wohl manche von Flanderky, die oft
etwas Ruppiges an sich haben, wie es wohl alte größere Fisch-
präparate aufweisen, die schon vor längerer Zeit aus dem Spiritus
herausgenommen w urden, wie z. B. die Nilhechte und der so selten
gut abgebildete Schlammfisch (Amia calva), Heterotis u. a. — Die
ale Abbildung von Hausen und Stör (Tafel bei S. 140), auf der
der Stör wie das Junge vom Hausen aussieht, obwohl beide Arten
Heel leicht unte Srscheidban sind, hätte wohl durch eine bessere er-
setzt werden können. Die so überaus farbenprächtigen Korallen-
fische aus den Gruppen der Chaetodontiden ete. sind auf der Farben-
tafel (bei S, 423) überaus stiefmütterlich behandelt und diese Tafel
Brehm’s Tierbilder. 397
vermag auch nicht im entferntesten den überwältigenden Eindruck
der wundervollen Färbung dieser Fische wiederzugeben; für ein
einigermaßen entsprechendes Bild hätte der Referent gerne auf die
farbigen Abbildungen von Dorsch und Häring verzichtet, ebenso
auf die der Goldmakrele, die, so gut sie gemeint ist, doch zu viel
von einem kolorierten Bilderbogen an sich hat, und die der Bach-
forelle, die noch sehr an die alte Schubert’sche Naturgeschichte
erinnert.
Für die Verbreitungskarten gilt dasselbe, was an anderer Stelle
im Referat über die Reptilienbände (Verh. zool. bot. Ges. Wien,
Jahrg. 64, 1914, p. 85) gesagt wurde, doch ıst die erste Karte,
welche nur die Verbreitung der charakteristischen Familien erkennen
lässt, besser geraten; warum freilich für das paläarktische und neark-
tische Gebiet die Siluriden, die doch so überaus spärlich vertreten
sind, ferner ım paläarktischen die Barben, die nur mehr schwache
Ausläufer der indisch-äthiopischen Barbenfauna vorstellen, beson-
ders verzeichnet sind, will dem Referenten ebensowenig einleuchten,
wie das Fehlen der Cichliden und Ophiocephaliden ın der äthio-
pischen Region.
Textlich wird wohl, wenn man die notgedrungene Beschrän-
kung auf 590 Seiten berücksichtigt, kaum etwas einzuwenden sein,
höchstens ein klein wenig mehr Hinweise ın bezug auf die Ver-
breitung; Polypterus senegalus ıst nicht nur ın Westafrika, sondern
auch ım Weißen Nil überaus häufig, Anabas auch in Afrika ver-
treten, bei den Notopteriden ıst gar keine Heimat angegeben; die
Pappenheim’sche Ansicht über die Bedeutung der Säge bei Pristis
wäre vielleicht zu erwähnen gewesen. Die Gewichtsangaben für
bestimmte Längen verschiedener Fische sind etwas gering ausge-
fallen. — Die systematische Anordnung ıst nach Goodrich; sie
ist vielleicht etwas übersichtlicher als die von Boulanger.
F. Werner.
Brehm’s Tierbilder.
III. Teil. Säugetiere. 60 farbige Tafeln in Mappe. Leipzig und Wien 1915,
Bibliograph. Institut, 4°.
Von der Auswahl der neuen farbigen Tafeln zu Brehm’s Tier-
leben ist nun die 2. Abteilung als Sonderausgabe erschienen, nach
den vor einem Jahre erschienenen Vögeln. Ihre Bedeutung liegt
vor allem ın der vortrefflichen künstlerischen Darstellung seltener,
z. T. von der baldigen Ausrottung bedrohter fremdländischer Tier-
arten; die Auswahl ıst wohl auch vom Zufall, welche Arten den
Künstlern zugänglich waren und bei welchen die Darstellung am besten
gelungen erschien, abhängig gewesen. Die Sammlung in dieser
Form ist aber ein sehr preiswertes Anschauungsbuch und als Unter-
richtsmittel in Lehranstalten jeder Stufe bequem zu verwerten.
Jeder Tafel ist eine kurze Charakteristik der betreffenden Art (z. T.
auch der Familie) von der Art eines Konversationslexikonsartikels
beigefügt; wo der Raum reichte, auch ein Ausschnitt einer Schilde-
rung des Freilebens der Art. 1195
398 Palladin, Pflanzenanatomie.
W. J. Palladin, Pflanzenanatomie.
Nach der 5. russischen Auflage übersetzt und bearbeitet von S. Tschulok. 195 8.
Oktav mit 174 Abb. im Text. Leipzig und Berlin 1914, B. G. Teubner.
Das kleine Lehrbuch enthält die Haupttatsachen über den
inneren Bau der Pflanzen in klarer Form und gut gewählten Bei-
spielen. Einteilung und Darstellung benutzen vielfach sogen. phy-
siologische, in Wahrheit mehr ökologische Gesichtspunkte, ohne
dass diese ım Vordergrunde stünden. Vielmehr ist der Inhalt in
der Hauptsache beschreibend. Auch die Entwickelungsgeschichte
tritt zurück, ıst aber nicht zu sehr vernachlässigt. Von den Tat-
sachen über die Beeinflussung des anatomischen Baues durch äußere
Einflüsse finden wir nur die beliebtesten Beispiele in einem be-
sonderen Abschnitte.
Der Inhalt ist geteilt in die „Anatomie der Zelle“ (ein unglück-
lich gewählter Ausdruck), die „Anatomie der Gewebe“ und die
„Anatomie der Organe“.
Nach einer Einleitung über die Geschichte der Pflanzenanatomie
und Begriff und Bedeutung der Zelle werden die Eigenschaften
des Protoplasmas, Zellkern, Plastiden, Zellhaut, geformte Einschlüsse,
Zellsaft, Farben der Pflanzenorgane und Vermehrung der Zellen
besprochen. Der Teil über die Gewebe ıst eingeteilt: Gewebe ım
allgemeinen, Hautsystem, mechanisches System, Leitungssystem,
Harzgänge, Drüsen und luftführende Räume. Diese Disposition ist
etwas ungleich. Unter Anatomie der Organe wird der Bau des
Stengels bei den typischen Dikotylen und den (rsymnospermen,
dann bei den anormalen, ferner der des Stengels der Munokotylen,
Pteridophyten und Bryophyten besprochen. Sonst ist von Krypto-
gamen wenig die Rede. Schließlich folgen Wurzel, Blatt und ein
kurzes Kapitel über den Einfluss der äußeren Bedingungen auf den
anatomischen Bau der Pflanzen.
Mängel sind nicht allzu viele zu finden. Einige mögen hier ange-
führt werden: S. 36 steht, dass Spirogyra nur ein Chlorophyliband
besitzt. S.38, dass die Chlorophylikörper bei Lemna trisulca an die
Innenwände gehen um der Kälte der Nacht zu entgehen. S. 53
wird behauptet, dass die Stärkekörner ım Samen direkt ım Zyto-
plasma entstehen. S. 54, dass sich um so mehr Stärke in den
Blättern findet, je günstiger die Lebensbedingungen sind. S. 80
wird das Vorhandensein einer Scheitelzelle bei den Blütenpflanzen
als immer noch fraglich bezeichnet. S. 89 wird von Haaren ge-
sprochen, die sich wie Schlingpflanzen um eine Stütze winden.
S. 91 und 92 werden über die Wasserzellen von Rochea und die
Bedeutung des ätherischen Oles lange widerlegte Angaben aus
Kerner’s Pflanzenleben wiederholt. Solche Ausstellungen ließen
sich noch mehr machen.
Trotzdem ist das Buch sicher recht brauchbar. Ob es nötig
war, es aus dem Russischen zu übersetzen, ıst eine andere Frage.
An derartigen Bearbeitungen leidet die deutsche Literatur keinen
Mangel. Was uns not tut, ist ein großes Nachschlagewerk, in dem
man aus der sehr zerstreuten Literatur alle Tatsachen über die
Zehnder, Der ewige Kreislauf des Weltalls. 399
Entwiekelung, Beeinflussung, Bedeutung und Besonderheit des
inneren Baues der Pflanzen zusammengetragen fände. Sicher würde
ein solches nicht nur eine große Erleichterung der Arbeit, sondern
auch manche Tatsachen ergeben, die nıcht ins allgemeine Bewusst-
sein der Botaniker eingedrungen sind.
E. G. Pringsheim, Halle a. S.
Ludwig Zehnder. Der ewige Kreislauf des Weltalls.
8. VIII u. 408 S. 214 Abb. Braunschweig 1914. Friedr. Vieweg u. Sohn.
Das Buch ist aus Vorlesungen entstanden, die augenscheinlich
vor einem Kreis von Hörern verschiedenen Faches gehalten wurden
und besteht aus 3, nach Inhalt und Bedeutung sehr verschiedenen
Teilen. Die ersten beiden, zusammen 229 S., unter den Über-
schriften: „Sichere Ergebnisse“ und „Unsichere Hypothesen“ sind
im wesentlichen eine leichtverständliche Darstellung der Astro-
nomie und Astrophysik und der bisherigen Versuche, ein Weltbild
und eine Kosmogonie zu konstruieren. Der 3. Teil: „Meine Nebular-
hypothese“* bietet dann des Verfassers eigene Hypothesen und Vor-
stellungen, von denen die Kapitel „Entstehung der Lebewesen“ und
„Die Bewohnbarkeit der Weltkörper“ auch für die Biologen von
besonderem Interesse sind.
Die zweifellos originellen Vorstellungen Z.’s über den Aufbau
der lebenden Substanz, über das Wesen einer Urzeugung und der
Assımilation sind von ihm schon 1899 veröffentlicht und damals
durch Keibel im 19. Bd. dieser Zeitschrift besprochen worden.
Ihr Wert als anregende Arbeitshypothesen für den Biologen wird
unzweifelhaft dadurch bestimmt, welche Wahrscheinlichkeit des Vfs.
Vorstellungen vom Wesen und Bau der Materie überhaupt im Rahmen
des gegenwärtigen Standes der theoretischen Physik haben. Und
da kann sein Buch nicht als zuverlässiger Führer des Biologen in
dieses Gebiet empfohlen werden. Gerade die beiden letzten Jahre
haben durch neue Entdeckungen sichere Ergebnisse über die An-
ordnung der Moleküle in Kristallen, über den Bau der einfachsten
Atome u.a. gebracht, die man im Buche vergeblich suchen wird
(weil sie neueren Datums sind) und welche manche Hypothesen
des Verfassers zu überholten Spekulationen stempeln; dank den
neuen Kenntnissen ist man mit Erfolg bestrebt, die charakteristischen
Eigenschaften der chemisch einfachsten Körper mit den bekannten
Gesetzen der Elektrodynamik und Mechanik in Verbindung zu
bringen und der quantitativen Nachprüfung zugänglich zu machen.
Im Gegensatz zu diesen — allerdings modernsten — Bestrebungen
begnügt sich das Zehnder’sche Buch, den Atomen Eigenschaften
(z B. Elastizität) zuzuschreiben, ohne auf deren Zustandekommen
einzugehen oder irgendwelche qnantitativen Prüfungen anzuknüpfen.
Eine Naturerkenntnis, welche zu einem klaren und einheitlichen
Weltbild führen soll, muss vor allem auf die Grundlagen die Haupt-
sorgfalt legen und die Grundkräfte und -gesetze klar formulieren
können.
400 Mayer, Einführung in die Mikroskopie.
Die Ausführungen üher Wachstum, Zellteilung und Vermehrung
der lebenden Substanz haben zwar auf den ersten Blick etwas
Bestechendes für den Biologen; bei genauerer Betrachtung aber
sieht man, dass das an Zellen tatsächlich Beobachtete (Zweiteilung,
Knospung) nur auf etwas andere Weise von den vom Verfasser
angenommenen „Fistellen“, die, eine Art lebender Kristalle, die
Elementarteilchen der lebenden Substanz sein sollen, ausgesagt
wird. Ein Beweis für dıe Existenz solcher Fistellen jedoch, eine
neue Erklärung des Aufbaues lebender Zellen wird nicht gegeben.
E.&R.
P. Mayer (Jena). Einführung in die Mikroskopie.
205 S., 28 Textfiguren. Berlin 1914, J. Springer, 8°.
Das kleine Buch soll ein Hilfsmittel für den Selbstunterricht
sein, für solche Personen, die ohne jede mündliche Anleitung sich
einen Einblick :in die Welt des Kleinen verschaffen wollen, etwa
auch Schüler höherer Lehranstalten, oder die die einst erworbenen
Kenntnisse wieder auffrischen und nutzbar machen wollen, wie Ärzte
und Apotheker in kleinen Orten.
Dementsprechend werden fast keine Vorkenntnisse vorausgesetzt
und alle Arbeiten ausführlich und bis auf den kleinsten Handgriff
beschrieben, daneben aber auch immer klare Erläuterungen der
Theorie, z. B. der mikroskopischen Abbildung, des Aufhellens,
Fixierens, Färbens u.ä. gegeben. Vielleicht ıst für den allerersten
Anfang das Buch doch etwas zu eingehend und daher abschreckend;
das wird aber wettgemacht durch die vortreffliche Anleitung, sich
an den allereinfachsten und ohne jede Mühe zu beschaffenden Ob-
jekten einzuüben und die Grundsätze für jedes Verfahren sich ein-
zuprägen. Sehr ausführlich sind die Hilfsmittel der Untersuchung
behandelt, und zwar werden preiswerte, aber gute Instrumente, wie
das Winkel’sche Kursmikroskop und das Jung’sche Studenten-
mikrotom empfohlen und der Anleitung zugrunde gelegt. Für die
zahlreichen kleineren Hilfsmittel dagegen werden immer die billigsten,
selbst anzufertigenden Modelle in erster Linie empfohlen und ihre
Anfertigung ebenso genau wie ihre Handhabung beschrieben.
Das Buch enthält so viel von den reichen Erfahrungen des
Verfassers, dass es nicht nur dem führerlosen Anfänger, für den es
geschrieben ist, auf das wärmste empfohlen werden kann, sondern
dass auch fast jeder geübte Fachmann, der doch meist nur die
Methoden seines Spezialgebietes ganz beherrscht, manches in ıhm
finden wird, das ıhm die Arbeit erleichtert, besonders wenn er
einmal mit ıhm weniger gewohnten Objekten zu tun bekommt. Es
wird also, neben den ausführlicheren Handbüchern der Mikroskopie
und den fachwissenschaftlichen technischen Hilfsbüchern in jedem
biologischen Laboratorium ein willkommener Berater sein.
WC:
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
DraK Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werıer Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem
Berg 14, einsenden zu wollen.
Bd. XXXYV.
O0. Oktober 1915. X 10.
Inhalt: Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe bei den Pflanzen. —
Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische. — Röder,
Uber den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur.
Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum
und Ruhe bei den Pflanzen.
Von Georg Lakon.
I. Einleitung: Allgemeines über den Einfluss der Außenwelt auf
die Entwicklung der Pflanze.
Die bestimmte Entwicklung, welche eine Pflanzenart in der
Natur durchzumachen pflegt, tritt uns ähnlich wie ihre morpho-
logischen Charaktere als ein spezifischer Charakter der Art ent-
gegen. Anderseits wissen wir aber, dass sowohl die morphologischen
wie auch die Entwicklungscharaktere der Arten durch die Außen-
welt beeinflusst werden. Fassen wir zunächst nur die morpho-
logischen Charaktere der Arten ins Auge, so können wir: gewiss
behaupten, dass sie den Ausdruck der erblich fixierten Artstruktur
darstellen. Zugleich erhebt sich aber die Frage, ob die Artstruktur
nur diese bestimmte Form zulässt. Die erwähnte, allgemeine Er-
fahrung von der Beeinflussung der Form durch die Außenwelt führt
uns zu der Erkenntnis, dass dies nicht der Fall ist. Die spezifische
Struktur der Pflanze lässt vielmehr die Ausbildung mannigfacher
Formen zu; die in der Natur herrschenden äußeren Bedingungen
lassen nur eine dieser Formen zur Ausbildung gelangen, und diese
XXXV. 26
402 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
ist es, die wir als die „normale“ bezeichnen. Die Grenzen, inner-
halb welcher all diese unter den mannigfachsten Veränderungen
der Außenbedingungen entstehenden Formen sich bewegen, sind
von der spezifischen Struktur der Art vorgeschrieben. Diese Grenzen
kennen wir für die einzelnen Arten nicht, da es unmöglich ist, die
Anzahl der herzustellenden Kombinationen von äußeren Bedingungen
zu erschöpfen. In gleicher Weise wie die morphologische Aus-
gestaltung ist auch die Entwicklung der Pflanze einerseits von der
spezifischen Struktur, anderseits von der Außenwelt abhängig. Von
den zahllosen Entwicklungsmöglichkeiten, welche die spezifische
Struktur zulässt, kommen jeweils diejenigen zur Entfaltung, welche
den herrschenden äußeren Bedingungen entsprechen.
Was wir als die „normale“ Entwicklung einer Pflanzenart be-
zeichnen, ist nichts anderes als diejenige Entwicklungsform, welche
für die betreffende Art eben bei dieser bestimmten Kombination
der Außenbedingungen möglich ist. Die Erkenntnis von der Be-
deutung der Außenwelt für die Entwicklung der Pflanze hat sich
erst mit der Förderung der experimentellen Morphologie Bahn ge-
brochen und ist mit den Namen von Goebel und Klebs unzer-
trennlich verknüpft. Klebs richtete sein Augenmerk von vorn-
herein hauptsächlich auf die Unterschiede zwischen vegetativem
Wachstum und der Bildung von Fortpflanzungsorganen. Er wid-
mete sich zunächst ausschließlich dem Studium der Bedingungen
der Fortpflanzung bei niederen Pflanzen, nämlich bei Algen und
Pilzen und konnte zeigen, dass die mannigfachen Phasen in der
Entwicklung dieser Organismen von bestimmten Kombinationen der
äußeren Bedingungen beherrscht werden !).
Die Zeit, deren ein niederer pflanzlicher Organısmus bedarf,
um seinen vollen Entwicklungszyklus von der Keimung bis zur
Bildung von Fortpfianzungsorganen und bis zu seinem schließlichen
Tod zu durchlaufen, ıst bekanntlich vielfach eine äußerst kurze.
Wenn wir einerseits die optimalen Bedingungen des vegetativen
Wachstums, anderseits die die Bildung von Fortpflanzungsorganen
beherrschenden Faktoren kennen und praktisch verwirklichen können,
so sind wir in der Lage, willkürlich sowohl das vegetative Wachs-
tum unbegrenzt zu gestalten, wie auch die Bildung von Fortpflan-
zungsorganen zu jeder Zeit eintreten zu lassen. Indem ich auf die
bekannten Arbeiten von Klebs?) verweise, beschränke ich mich
hier darauf, von den nunmehr zahlreichen bekannten Fällen einige
typische Beispiele herauszugreifen. Zunächst haben wir bei den
Algen zahlreiche Beispiele der Veränderlichkeit der Dauer des rein
1) Vgl. die von der Hand Klebs’ herrührende zusammenfassende Darstellung
der Bedingungen der Fortpflanzung bei den Pflanzen in: Handwörterb. d. Naturw. IV.
S. 276— 29.
h
2) Eine Zusammenfassung mit näheren Literaturangaben bei Klebs, 1900a.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 403
vegetativen Wachstums. Die Fälle von ununterbrochenem vege-
tatirem Wachstum bei geeigneter Kultur der Algen Chlamydomonas,
Vaucheria u. s.w. (Klebs, 1896, 1900a) sind allgemein bekannt
und bedürfen keiner näheren Erörterung. Weiter ıst an das unbe-
grenzte vegetative Wachstum der Kulturhefe zu erinnern; der
Eintritt in das Fortpflanzungsstadium, die Bildung von Sporen kann
nur bei Herstellung von besonderen Bedingungen veranlasst werden.
Auch bei Schleimpilzen sind vielfach die Bedingungen des vege-
tativren Wachstums und der Fortpflanzung erkannt worden; Klebs
(1900 a, S. 75) erwähnt Didymium-Arten, welche bei geeigneter
Behandlung ununterbrochen im vegetativen Stadium verbleiben.
Ähnliche Verhältnisse sind vielfach auch bei echten Pilzen fest-
gestellt worden. So hielt Klebs (1899) Saprolegnia mixta jahre-
lang in Kultur rein vegetativ, indem er für das stete Vorhanden-
sein frischer, guter Nahrung sorgte. Durch bestimmte Verände-
rungen des Kulturmediums gelang es ıhm zu jeder Zeit alle mög-
lichen Entwicklungsformen des Pilzes, wie Sporangien (Zoosporen),
Oogonien, Antheridien, Gemmen, entweder einzeln und in verschie-
dener Reihenfolge, oder gewisse Formen gleichzeitig zu erzielen.
Der Pilz reagiert auf jede bestimmte Kulturweise „mit einer Leichtig-
keit und Bestimmtheit, dass die Resultate der Versuche fast mit
der Sicherheit einer chemischen Reaktion eintreten“ (Klebs, 1899,
S. 141). Die Pflanze zeigt in keiner Weise eine in innerer Veran-
lagung wurzelnde Tendenz zu einem vorgeschriebenen Entwicklungs-
gang. Von höheren Pilzen sei Coprinus plicatikis erwähnt, den ich
(Lakon, 1907) bei stark herabgedrückter Transpiration (feucht und
dunkel) während der ganzen Versuchsdauer (1!/, Jahre) in ununter-
brochenem vegetativem Wachstum hielt; die Fruchtkörperbildung
konnte aber zu jeder Zeit durch Erhöhung der Transpiration (durch
Belichtung oder Luftbewegung) erzielt werden. Ähnliche Erfah-
rungen mit Moosen und Farnen liegen ebenfalls vor, können aber
hier übergangen werden’).
Während bei den niederen Pflanzen, wie Algen und Pilzen,
der vollständige Entwicklungszyklus in sehr kurzer Zeit, meist ın
wenigen Wochen oder Tagen durchlaufen werden kann, haben wir
bei den höheren, den phanerogamen Pflanzen, eine längere Ent-
wicklungsdauer, welche sich meist über mehrere Jahre erstreckt.
Von den Phanerogamen sind in bezug auf die Entwicklungsdauer
diejenigen Arten mit den niederen Kryptogamen vergleichbar, welche
ihre volle Entwicklung in verhältnismäßig kurzer Zeit, innerhalb einer
einzigen Vegetationsperiode durchlaufen, und die man als ein-
jährige Pflanzen zu bezeichnen pflegt. Diese Pflanzen weisen nach
3) Siehe Klebs, 1914a, S. 288. Vgl. ferner die beachtenswerten Angaben
von Goebel (1915, S. 556-557) über die Periodizität in der Entwicklung der Leber-
Moose.
26*
404 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
der Keimung nur zwei Hauptperioden auf, nämlich die des vege-
tativen Wachstums und die der Fortpflanzung, womit das Leben
des Individuums seinen Abschluss findet. Die Entwicklung dieser
Arten nimmt aber nicht ein ganzes Jahr in Anspruch, sondern nur
die Zeit vom Frühjahr bis zum Herbst und zwar entweder ganz
oder nur teilweise. In letzterem Falle kann die Entwicklungsdauer
nur wenige Wochen betragen, so dass es möglich ist, dass inner-
halb einer einzigen Vegetationsperiode mehrere Generationen zur
Entwicklung kommen. Viele unserer Unkräuter gehören zu der
letztgenannten Kategorie, so z. B. die allbekannte Vogelmiere, Stel-
laria media*). Im Gegensatz zu diesen kurzlebigen Arten stehen
diejenigen, welche zwar ebenso wie diese nur eine einzige Fort-
pflanzungsperiode aufweisen, um damit ihr Leben zu beschließen,
welche aber für ihre vegetative Entwicklung einen größeren Zeit-
raum beanspruchen als den einer Vegetationsperiode vom Frühjahr
bis zum Herbst. Zu dieser Kategorie gehören dıe sogen. zwel-
jährigen Pflanzen. Der Abschluss des Lebens des Individuums ist
bei diesen sogen. hapaxanthischen Arten — wie schon hervor-
gehoben — durch das Blühen und Fruchten gekennzeichnet. Durch
Herstellung von für jede einzelne Art geeigneten äußeren Bedin-
gungen können wir vielfach die Lebensdauer dieser Pflanzen ver-
längern (bezw. verkürzen), indem wir das vegetative Wachstum
fördern (bezw. hemmen) und den Eintritt des Blühens verhindern
(bezw. beschleunigen). In der schon zitierten Arbeit von Hilde-
brand (1881) werden zahlreiche Beispiele dieser Veränderlichkeit
angeführt. Abgesehen von den zahlreichen Kulturarten, welche
durch die längere Kultur in ein- und zweijährige Varietäten ge-
spalten wurden, haben wir ın vielen Fällen eine direkte Umwand-
lung der Lebensdauer des Individuums. Das bekannteste Beispiel
einer solchen Verlängerung der Lebensdauer haben wir in der Resede
(Reseda odorata), welche ın der Natur als einjährige Pflanze auftritt,
aber durch Verhinderung der tödlichen Erschöpfung durch massen-
hafte Samenerzeugung sogar zu einer mehrjährigen, holzigen Pflanze
erzogen werden kann. In gleicher Weise ist eine Verkürzung der
Lebensdauer langlebiger Arten möglich, wıe das bekannte Beispiel
von Ricinus communis lehrt, welche Pflanze ın ihrer Heimat in den
Tropen ein mehrjähriger Baum, bei uns dagegen eine einjährige
Pflanze ist. Die Verkürzung der Lebensdauer ist hier eine direkte
Folge der Einwirkung der Außenwelt: die Pflanze kann nur bei
einem milden Winter ausdauern; ich konnte sie in Griechenland
als einen ca. 2 m hohen Gartenbaum antreffen. Anderseits können
wir durch Verlängerung der Vegetationsperiode im ersten Jahre
eine zweijährige Pflanze in eine einjährige umwandeln, worüber in
4) Weitere Beispiele bei Hildebrand, 1881, S. 57.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von: Wachstum und Ruhe ete. 405
der Arbeit von Hildebrand (1881) nähere Angaben enthalten sind.
Für uns sind indessen vor allen Dingen diejenigen Fälle der Be-
einflussung der Lebensdauer von Bedeutung, welche auf einer Ver-
änderung der Dauer des vegetativen Wachstums beruhen. Selbst
in der Natur kommt eine derartige, wenn auch nur beschränkte
Veränderung vor und zwar infolge einer extremen Verschiebung
in dem Verhältnis zwischen den einerseits das Blühen, anderseits
das vegetative Wachstum fördernden Faktoren innerhalb einer
Vegetationsperiode.
Der Nachweis des Einflusses der äußeren Bedingungen auf die
‚ einzelnen Entwicklungsphasen bleibt indessen auch hier, wie beı
den niederen Pflanzen, dem Experiment bei künstlicher Herstellung
bestimmter Kombinationen von äußeren Bedingungen vorbehalten.
Wenn auch unsere bisherigen diesbezüglichen experimentellen Er-
fahrungen mit Phanerogamen nicht so groß sind wie mit den
Kryptogamen, und anderseits bei denselben die Verhältnisse kom-
plizierter sich gestalten als bei den letzteren, so können wir doch
auch hierin die prinzipielle Gültigkeit der bei den Kryptogamen
gewonnenen allgemeinen Gesetze erblicken. Auch eine höhere
Pflanze verharrt bei optimalen Wachstumsbedingungen im vegeta-
tiven Stadium, so dass die Blütenbildung verdrängt und die Lebens-
dauer verlängert wird. Allein das Ausdauern des Individuums
hängt ab nicht nur von der Fähigkeit seiner Vegetationspunkte,
unbegrenzt zu wachsen, sondern auch von der Fähigkeit der spezi-
fischen Struktur, den nunmehr zum Ausdauern bestimmten Organen
die entsprechende Ausgestaltung zu verleihen. Wo diese letztere
Bedingung nicht erfüllt ıst, muss der Verfall des Individuums über
kurz oder lang eintreten. So berichtet Klebs (1912, S. 278— 279),
dass ein Individuum der sonst nur einjährigen Tabakpflanze (Nico-
tiana tabaccum), welches ım Jahre 1909 aus einem Samen gewonnen
wurde, noch ım Jahre 1912 ununterbrochen wuchs: doch es sei
nicht zu erwarten, dass die Pflanze noch mehrere Jahre am Leben
erhalten bleiben wird, „weil sie ihrer spezifischen Struktur nach
nur ein geringes Dickenwachstum des Stammes besitzt und weil
die im Innern absterbenden Zellen leicht zum Anlass der Fäulnis
und des Absterbens werden können“. Bei Versuchen dieser Art
kommt aber stets die Fähigkeit zum unbegrenzten vegetativen
Wachstum unzweifelhaft zum Ausdruck und nur darauf kommt es
eigentlich an. Den Beweis für die Fähigkeit zum unbegrenzten
Wachstum hat zuerst Klebs (1900 b) bei Moehringia trinervia er-
bracht. Der Vegetationspunkt dieser typisch einjährigen Pflanze
hat das Vermögen, unbegrenzt vegetativ zu wachsen, denn man
kann durch die Kultur von Stecklingen bei optimalen Wachstums-
bedingungen die Vegetationspunkte immer wieder in fortdauerndem
vegetatirem Wachstum erhalten. Eine solche Pflanze gleicht einem
406 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Pilz, der durch erneuertes Überimpfen auf frischen Kulturboden bei
Herstellung geeigneter Wachstumsbedingungen in beständigem
Wachstum gehalten wird. Im übrigen sei auf das bekannte Buch
von Klebs (1903) verwiesen, wo weitere Beispiele angeführt werden
und die Frage der künstlichen Entwicklungsänderung auf breiter
Basis behandelt wird. Uns kommt es hier nur darauf an, zu zeigen,
dass die in der Natur zu beobachtende für jede Art bestimmte
Dauer des vegetativen Wachstums keinesfalls den direkten Ausfluss
einer in der Pflanzenzelle erblich wurzelnden, von der Außen-
welt unabhängigen oder unabänderlichen Eigenschaft darstellt.
Bei den langlebigen Pflanzen erstreckt sich die Lebensdauer
des Individuums über mehrere Vegetationsperioden. Nachdem wir
soeben gesehen haben, wie groß der Einfluss der Außenwelt auf die
Entwicklung der kurzlebigen Gewächse ist, erscheint es undenkbar,
dass die Entwicklung der Mehrjährigen, welche den großen, jähr-
lich wiederkehrenden Schwankungen der äußeren Bedingungen
unterworfen sind, unabhängig von der Außenwelt sich vollziehen
sollte. In den Erdteilen mit ausgesprochen wechselndem Klıma
sind zu den verschiedenen Jahreszeiten die Lebensbedingungen ver-
schieden gestaltet und es kehren jährlich Perioden wieder, welche
den Pflanzen das Wachsen völlig unmöglich machen. Die Winter-
ruhe der Pflanzen der temperierten Zone erscheint uns daher als
Folge der widrigen Wachstumsbedingungen verständlich. Dass bei
ungünstigen Wachstumsbedingungen ein Stillstand des Wachstums,
eine Ruhe eintreten muss, ist ohne weiteres klar’). Von diesem
Standpunkt aus wurde auch tatsächlich früher die jährliche Perio-
dizität betrachtet, welche mit dem im Klıma vorhandenen jährlichen
Wechsel zusammenfällt. In Übereinstimmung damit steht das
üppige Wachstum der Pflanzen zu allen Jahreszeiten in mehr oder
weniger gleichmäßigem Tropenklima.
Dieser Glauben an den Zusammenhang zwischen der Periodizität
des Wachstums und der Periodizität der äußeren Lebensbedingungen
wurde jedoch später in Frage gestellt. Denn es wurde berichtet,
dass es auch in den Tropen bei gleichmäßigem Klima Pflanzenarten
gibt, welche eine ausgesprochene Periodizität aufweisen. Die nähere
Feststellung der periodischen Erscheinungen in den Tropen ver-
danken wir Schimper (1898). Dieser Forscher stellte fest, dass
auch in den Tropen „die Lebensvorgänge in der Pflanze eine rhyth-
mische Abwechslung von Perioden der Ruhe und Bewegung aul-
weisen“ (l. c. S. 260). Da er einen Zusammenhang zwischen dieser
5) Unter Wachstum verstehen wir hier die eigentliche, mit einer sichtbaren
Vergrößerung verknüpfte Streekung der Organe. Die eigentliche Ruhe wird da-
gegen durch den völligen Stillstand der Entwicklung, also auch des unsichtbaren
Wachstums, gekennzeichnet; einige Prozesse im Innern der Zellen, in erster Linie
die Atmung, finden aber stets, selbst während des tiefsten Ruhezustandes statt.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 407
Periodizität der Pflanzen und der des Tropenklimas nicht feststellen
konnte, so gelangte er zu dem allgemeinen Schluss, dass die Perio-
dizität eine von den äußeren Bedingungen unabhängige, auf innere
Ursachen allein zurückzuführende Erscheinung sei. Diese Annahme
formuliert er in dem Satze (l. c. S. 262): „Aufgegeben wird solche
Rhythmik jedoch niemals, denn sie ıst im Wesen des Organismus
und nicht in den äußeren Bedingungen begründet. Ihr Zusammen-
hang mit der letzteren ist eine sekundäre Erscheinung, eine An-
passung.“
Das Grundproblem der jährlichen Periodizität, welches uns ın
der vorliegenden Arbeit in erster Linie zu beschäftigen hat, besteht
eben in der Frage, ob diese Annahme Schimper’s Gültigkeit hat
oder nicht. Wir können die Frage folgendermaßen formulieren:
Ist die jährliche Periodizität der Ausdruck eines in der spezifischen
Struktur der Pfianze begründeten, in der Abwechslung von Tätig-
keit und Ruhe bestehenden, unumgänglichen Bedürfnisses — oder
ist sie das Resultat der Einwirkung einer bestimmt gearteten Außen-
welt auf die Pflanze, welche die Fähigkeit besitzt, sowohl dauernd
zu wachsen, wie auch zeitweilig zu ruhen? Es ıst indessen sowohl
für die Fragestellung, wie auch für die Untersuchung selbst er-
forderlich, die Grundbegriffe näher zu präzisieren, eine Aufgabe,
die folgendes Kapıtel zum Gegenstande hat.
II. Bemerkungen über Abgrenzung und Definition der Begriffe,
In der Abgrenzung und Definition der für die Fragen der
Periodizität wichtigen Begriffe folge ich Klebs®). In dem Ver-
hältnis der Pflanze zur Außenwelt unterscheiden wir somit: 1. Die
spezifische Struktur. 2. Die inneren Bedingungen. 3. Die
äußeren Bedingungen.
Der Begriff der spezifischen Struktur ist „nur ein spezieller
Fall des allgemeinen der ‚Substanz‘, durch den unser Denken das
Beharrliche im Fluss der Erscheinungen ausdrückt“ (Klebs, 1903,
S. 5). Das Protoplasma der Spezies ist als ein Substrat von kom-
plizierter chemischer und physikalischer Zusammensetzung zu denken,
an das bestimmte spezifische Fähigkeiten (oder Potenzen)
gebunden sind. Als spezifische Struktur wird demnach das für jede
Spezies eigentümliche, mit bestimmten Fähigkeiten ausgerüstete
Substrat verstanden. Die spezifische Struktur kommt gerade durch
die Entwicklung der spezifischen Fähigkeiten zum Ausdruck, wäh-
rend die Struktur des Substrates (Substanz) selbst uns verborgen
bleibt. Die spezifische Struktur wird durch Unveränderlichkeit ge-
kennzeichnet, welche in der Weise zum Ausdruck kommt, dass
6) Vgl. Klebs, 1903, S. 5—7 und 1913, S. 40, 8—11.
408 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
unter bestimmten äußeren Bedingungen auch bestimmte Fähigkeiten
zur Entfaltung kommen’).
Die Fähigkeiten oder Potenzen, welche die spezifische Struktur
zulässt, kommen erst durch den Einfluss der äußeren Bedingungen
zur Entwicklung. Die Art der Reaktion der spezifischen Struktur
auf die Einwirkung der Außenwelt hängt aber von den inneren
Zuständen des Organısmus ab, welche infolge des Einflusses der
bis dahin wirksamen äußeren Bedingungen hergestellt worden waren.
Diese inneren Zustände sind die inneren Bedingungen. „Das
wesentliche Kennzeichen der inneren Bedingungen ıst ihre von der
Außenwelt abhängige Veränderlichkeit innerhalb des durch die
spezifische Struktur gegebenen Rahmens“ (Klebs, 1913, S. 8). Der
Begriff der inneren Bedingungen ist für das Verständnis der Lebens-
erscheinungen von größter Bedeutung. Durch die Anerkennung
desselben wird uns z. B. verständlich, warum ein und derselbe
Organismus nicht immer in derselben Form auf die Einwirkung
ein und desselben äußeren Faktors reagiert. Die Einwirkung der
äußeren Bedingungen auf die spezifische Struktur ist also eine
mittelbare, indem jene zunächst auf die jeweiligen inneren Bedin-
gungen einzuwirken haben; letztere üben dann ıhren Einfluss auf
die spezifische Struktur aus. Jedem Organısmus ist neben der
spezifischen Struktur stets eine bestimmte Kombination der inneren
Bedingungen mitgegeben und zwar „zunächst durch seine Ent-
stehung von einer vorhergegangenen Generation“ (Klebs, 1903, 8. 7).
Gerade dieser letztere Umstand, dass nämlich die inneren Be-
dingungen von der Mutter- auf die Tochterpflanze übertragen
werden, macht die scharfe Trennung derselben von der spezifischen
Struktur sehr wichtig. Denn wir haben bei den inneren Bedin-
gungen mit Nachwirkungen zu tun, welche leicht mit unveränder-
lichen erblichen Eigenschaften der spezifischen Struktur verwechselt
werden können. Es ist allerdings zuzugeben, dass bei unseren
heutigen Kenntnissen die scharfe Trennung in manchen Fällen nicht
ohne weiteres durchführbar ist; es erwächst der Forschung die Auf-
gabe, für jeden Fall die notwendigen Unterlagen zu liefern.
Für die Beurteilung der periodischen Erscheinungen ist die
Klebs’sche Begriffstrennung geradezu unentbehrlich, was schon
daraus hervorgeht, dass vielfach diametral sich widersprechende
Anschauungen über das Wesen der Periodizität lediglich auf Ver-
wechslungen der Begriffe zurückzuführen sind. Auch die sonst un-
bestimmten Begriffe der „Nachwirkungen“, „Nachschwingungen“,
„innere Disposition“, „innere Hemmungen“ oder „Stimmungen“, die
7) Diese Unveränderlichkeit ist, wie Klebs (1913, S. 8) hervorhebt, keine abso-
lute; die Entstehung neuer Arten durch Mutation ist gerade mit Veränderungen
der spezifischen Struktur verknüpft.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von’ Wachstum und Ruhe ete. 409
man vielfach zur Erklärung der verschiedenen Reaktion ein und
desselben Organısmus auf die gleichen äußeren Bedingungen heran-
zieht, werden durch die Annahme der inneren Bedingungen erklärt
und präzisiert.
Wir haben bisher stillschweigend den Begriff „äußere Be-
dingungen“ oder „Außenwelt“ als etwas selbstverständliches
angenommen. Allein derselbe ist — wie Klebs (1913, S. 10—11)
hervorhebt — nur eın relativer Begriff, dessen Abgrenzung von der
Abgrenzung des Systems abhängt, welches als die zu betrachtende
Einheit angenommen wird. Ein Teil dessen, was für ein begrenztes
System Außenwelt ıst, kann für das erweiterte System zur Innen-
welt gehören. Wir müssen daher für jeden Fall zuerst die Einheit
definieren, um dann die Trennung der Innenwelt von der Außen-
welt vornehmen zu können. Wenn wir die Erscheinungen des
Wachstums und der Ruhe der Pflanzen betrachten, so richten wir
unser Augenmerk vornehmlich auf diejenigen Teile, welche am
Wachstum am meisten und unmittelbar beteiligt sind, nämlich auf
die Vegetationspunkte. Jeder Vegetationspunkt kann somit als ein-
heitliches System angesehen werden; die anderen Vegetationspunkte
und die übrigen Baumteile gehören dann zur Außenwelt. Denn,
wenn z. B. der Nahrungsstrom zu einem bestimmten Vegetations-
punkt infolge der Konkurrenz durch ein oder mehrere andere Vege-
tationspunkte bezw. andere Körperteile derselben Pflanze herabge-
drückt wird, so kann dies als eine Wirkung der Außenwelt angesehen
werden, ähnlich als wenn die Herabsetzung des Nahrungsstromes
infolge der Konkurrenz durch andere Pflanzen hervorgerufen worden
wäre. Diese Wechselwirkungen der einzelnen Teile einer Pflanze
zueinander werden allgemein als „Korrelationen“ bezeichnet und
spielen bei periodischen Vorgängen eine wichtige Rolle. Wenn wir
die ganze Pflanze als Einheit betrachten, so gehören die Korre-
lationen zu den inneren Bedingungen der Pflanze; sie sind aber
allenfals nur das Resultat der Einwirkung der Außenwelt auf die
einzelnen Pflanzenorgane.
Erst nach dieser Definition der Begriffe gewinnt die oben formu-
lierte Frage der jährlichen Periodizität die nötige Klarheit. Die-
jenigen Forscher, welche die Periodizität als ein unumgängliches,
d. h. notwendiges Bedürfnis ansehen, machen keine genaue Tren-
nung der Begriffe, sie kennen die inneren Bedingungen der Klebs'-
schen Nomenklatur nicht; sie sprechen im allgemeinen von „inneren
Gründen“ oder „inneren Ursachen“. Diese „inneren Gründe“ sollen
aber von der Pflanze selbst ausgehen und etwas Unveränderliches
darstellen; sie sollen also der spezifischen Struktur entsprechen,
während sie in Wirklichkeit mit inneren Bedingungen vermengt
sind. Die Natur der „inneren Gründe“ ist unbestimmt. Die An-
nahme von „inneren Gründen“ bedeutet daher nicht einmal den
410 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.,
Versuch zu einer Erklärung; sie stellt vielmehr einen Verzicht auf
die weitere Forschung dar. Sie ist schlechthin das verhüllte Be-
kenntnis der Unwissenheit.
Im folgenden werden wır von den Einzelerscheinungen aus-
gehend das Gesamtproblem der jährlichen Periodizität behandeln,
um uns zunächst ein Urteil ın der in dem erwähnten Sinne ge-
stellten Frage zu bilden; zugleich werden wir aber auch den Ver-
such machen, den Zusammenhang zwischen dem periodischen Ver-
halten der Pflanze und der Außenwelt dem Verständnis näher zu
bringen.
III. Das Verhalten der Pflanzen der temperierten Zone.
Die Zeit der Winterruhe verbringen die mehrjährigen Pflanzen
der temperierten Zone in einem Zustande, welcher ihnen eine völlige
Sicherstellung gegen die Unbillen des Winters gewährleistet. Bei
den krautartigen Gewächsen übernehmen die Aufgabe der Über-
winterung unterirdische Organe (wie Rhizome, Zwiebeln, Knollen);
bei den Holzgewächsen, Bäumen und Sträuchern dagegen über-
wintern außer den unterirdischen Teilen auch der verholzte Stamm
mit seinem Zweigsystem und den Knospen, während das Laub in
den meisten Fällen abgeworfen wird. Die Vegetationsperiode kenn-
zeichnet sich im allgemeinen durch Erscheinungen des Wachstums,
welche mit dem Laubausbruch im Frühjahr ihren sichtlichen An-
fang nehmen und im Herbst mit dem Laubfall den endgültigen
Abschluss finden.
Bei der Untersuchung der Ruheperiode der Pflanzen kommen
wir zu der Erkenntnis, dass die Faktoren, welche zur Ruhe führen,
nicht dann plötzlich einzuwirken anfangen, als die Erscheinungen
der Ruhe schon eintreten, sondern dass sie lange vorher allmäh-
lich wirksam gewesen sind. Es ist daher klar, dass es schwieriger
ist, schon ruhende Pflanzen zum Wachstum zu veranlassen als
wachsende in beständigem Wachstum zu halten, da ın letzterem
Falle eine Überwindung von eingetretenen inneren Hemmungen
richt nötig ist. Für die Erhaltung einer höheren Pflanze in be-
ständigem Wachstum ist aber die Herstellung konstanter optimaler
Wachstumsbedingungen notwendig, was besonders in Anbetracht
des wechselnden und nicht regulierbaren Lichtfaktors im höchsten
Grade schwer zu erreichen ist. Bei der Autotrophie der höheren
Pflanzen ıst aber eine gleichmäßige Kohlensäureassimilation und
demnach eine entsprechend konstante Belichtung unumgänglich).
Wenn es auch aus den angeführten Gründen gegenwärtig nicht
gelingt, bei höheren grünen Pflanzen ein gleichmäßig beständiges
8) Inwieweit phanerogame Parasiten zur Beantwortung der einschlägigen Fragen
herangezogen werden können, bleibt einstweilen dahingestellt. Eine allgemein gültige
Entscheidung kann indessen nur das Studium der grünen Pflanzen liefern.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 41
Wachstum, etwa wie bei den Pilzen, zu erzielen, so haben wir doch
die Möglichkeit, ein beständiges, wenngleich in seiner Intensität
wechselndes, von keiner absoluten Ruhe unterbrochenes Wachstum
zustande zu bringen. Klebs ıst es nun tatsächlich bei verschie-
denen Pflanzen gelungen, beständiges Wachstum zu erhalten und
die Ruheperiode vollständig auszuschalten. Er kultivierte (Klebs,
1903, S. 35— 38, 129ff.) Glechoma hederacea, Fragaria lucida, Rumex
acetosa, Heuchera sanguwinea u. a. unter günstigen Temperatur-, Licht-
und Bodenverhältnissen bei geeignetem Schnitt und erhielt dadurch
jahrelang ausschließlich vegetativ wachsende, keinerlei Ruhebedürf-
nisse zeigende Pflanzen. Eine andere Pflanze, Parietaria offieinalis,
zeigte sogar ununterbrochenes, jahrelanges Wachsen und Blühen,
ohne jegliche Ruheperiode. Bei späteren Versuchen hat Klebs
(1911,5.7 und Tab. VI—IX) eine größere Anzahl meist perennierender
Gewächse aus den botanischen Gärten zu Halle und Heidelberg
untersucht. Die meisten der untersuchten Pflanzen, etwa 75%,
konnten schon im Herbst bis Ende Dezember durch das bloße Auf-
stellen in das geheizte Gewächshaus meist schon innerhalb weniger
Tage zum Wachstum veranlasst werden. Die übrigen Pflanzen
trieben erst später aus und schienen somit eine festere Ruheperiode
zu besitzen. Nach unseren heutigen Kenntnissen müssen wir an-
nehmen, dass diese Pflanzen weit höhere Ansprüche an die Lebens-
bedingungen stellen als die anderen und dass bei diesen eine ge-
nauere Regulierung nicht nur der Temperatur, sondern auch der
anderen Faktoren notwendig ist. Da die optimale Kombination
der Wachstumsbedingungen dieser Arten eine sehr verschiedene
und die durch die Einwirkung der widrigen äußeren Faktoren ein-
getretene Hemmung eine sehr tiefgreifende sein kann, so können
die Mittel und Wege zur Beseitigung der Ruheperiode — wie
Klebs mit Recht hervorhebt — nur nach genauem Studium jeder
einzelnen Art gefunden werden.
Klebs (1911, S. 9ff.) versuchte diese Frage dadurch zu lösen,
indem er einige seiner Heidelberger Pflanzen nach Java brachte.
Die größere Anzahl dieser Pflanzen (27 von 40) wurden durch das
gleichmäßige tropische Klima von Buitenzorg, noch besser durch
das von Tjibodas zu einem sofortigen Austreiben und fortdauerndem
Wachstum angeregt, selbst zu einer Zeit, in der sie in Europa eine
Ruheperiode durchzumachen pflegen. Besonders bemerkenswert und
für unsere spezielle Frage bedeutungsvoll ist die Tatsache, dass unter
diesen, durch das tropische Klima zum Wachstum angeregten Pflanzen,
Arten waren, welche durch die Gewächshauskultur in Halle bezw. in
Heidelberg keinesfalls aus ihrer Ruhe erweckt werden konnten. Für
andere Arten stellte indessen auch das javanische Klima nicht die für
das Austreiben notwendige Kombination der äußeren Bedingungen
dar. Andererseits zeigte es sich, dass die Pflanzen unserer Klimate auf
419 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Java keinesfalls die ihrer spezifischen Struktur entsprechende opti-
male Kombination der äußeren Bedingungen fanden. Aus diesem
Grunde hat Klebs (1911, S. 14ff.) entsprechende Versuche mit
Pflanzen angestellt, welche aus dem periodischen, warmen Klima
Japans stammen. Zu den Versuchen wurden sogar typische Über-
winterungsorgane, wie Rhizome, Knollen und Zwiebeln verwendet,
also Organe, welche in ihrer Heimat während des Winters in Ruhe
verharren. Es konnte festgestellt werden, dass die meisten dieser
Pflanzen durch den Einfluss des warmen tropischen Klimas mitten
im Winter aus ihrer Ruhe geweckt und zu üppigem Wachstum ge-
bracht wurden; sie zeigten ferner, dass ihnen das tropische Klima
viel mehr zusagte als den europäischen Pflanzen. Aber auch unter den
japanischen Pflanzen waren einige, welche durch das tropische Klima
nicht zum Wachstum angeregt wurden. Es ist indessen höchst-
wahrscheinlich, dass diese Arten auch hier keine optimalen Wachs-
tumsbedingungen fanden. Im übrigen dürfen wir aber nicht ver-
gessen, dass besonders bei typischen Überwinterungsorganen durch
die Einwirkung der widrigen Wachstumsbedingungen, welche gerade
zu ıhrer Bildung geführt haben, Hemmungen, d. h. bestimmte Kon-
stellationen von inneren Bedingungen herbeigeführt sein können,
welche nicht ohne weiteres zu beseitigen sind. Es handelt sich
also hier nicht nur um Herstellung optimaler Wachstumsbedin-
gungen, sondern um Einwirkung äußerer Eingriffe zur Beseitigung
schon vorhandener Hemmungen. So treiben die Winterknospen
von Hydrocharis Morsus ranae ım Anfang des Winters nur dann
aus, wenn sie durchschnitten werden (Klebs, 1911, S. 7, 67).
Noch größere Aussicht auf Erfolg als das plötzliche Übertragen
aus dem periodischen in das tropische Klima hat die jahrelange
Kultur solcher Pflanzen in den Tropen, wodurch das Zustande-
kommen von besonderen, zu Ruhezuständen führenden inneren Be-
dingungen unmöglich gemacht wird. Wenn auch speziell in diesem
Sinne ausgeführte Versuche einstweilen fehlen, so haben wir doch
einige mehr zufällige Beobachtungen, welche den Gedanken im
Prinzip völlig bestätigen. Ich möchte zunächst an das bekannte
Beispiel der Kartoffelknolle erinnern. Wir wissen, dass die Kartoffel-
knolle sofort nach der Reife nicht zu keimen vermag, sondern dass
sie erst nach einer längeren Ruheperiode sozusagen keimreif wird.
Nach den Angaben Volken’s (1896) besitzen die Kartoffeln des
Kilimandscharo keine derartige Ruheperiode, sondern sie sind im-
stande sofort nach der Reife auszukeimen. Dass aber dies keine
spezifische Sorteneigentümlichkeit der am Kilimandscharo kultı-
vierten Kartoffelsorten ist, zeigen die Versuche von B. Schmid(1901),
bei welchen es gelang, durch gesteigerte Durchlüftung und höhere
Temperatur die Knollen einheimischer Kartoffelsorten schon im
Herbst zum Austreiben zu bringen. Sıe lieferten normale Pflanzen,
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 413
welche neue Knollen bildeten, die ohne Ruheperiode sofort aus-
keimten. Über ähnliche Versuche berichtet auch Klebs (1903,
S.137). Er fand, dass das sofortige Austreiben der Kartoffelknollen
mit ungenügender Ausreife zusammenhängt und kommt zu dem
Schluss, dass die inneren Hemmungen, welche ein sofortiges Aus-
keimen auch beı günstigen Wachstumsbedingungen verhindern, erst
während des letzten Ausreifens entstehen.
Von besonderem Interesse ıst das Verhalten einiger meist aus
Japan stammender Zwiebel- und Knollengewächse, welche nach den
Angaben von Klebs (1911, 8. 1! ggarten von Tjıbodas
das ganze Jahr hindurch treiben. Auch die Hyazınthe bildet dort
Zwiebeln, die sofort auskeimen. Nur zwei Zwiebelgewächse zeigen
in Tjıbodas periodische Erscheinungen, nämlich Zikum auratum
und Galtonia candicans. Das ıst bedeutungsvoll, denn es zeigt, dass
selbst bei typischen Überwinterungsorganen wie Knollen und Zwie-
beln unter der Einwirkung des gleichmäßig günstigen tropischen
Klimas die Periode der Ruhe ausgeschaltet wird. Die beiden Aus-
nahmen zeigen allein, dass bei diesen das tropische Klima keines-
falls optimale Wachstumsbedingungen bietet.
Im Prinzip ähnlich wie die krautartigen Pflanzen verhalten sich
die Holzgewächse der temperierten Zone. Bei diesen sind aber
die Verhältnisse besonders auffällig, als hier der ganze oberirdische
Pflanzenkörper überwintert. Besonders charakteristisch ist der perio-
dische Wechsel bei den dikotylen Laubhölzern, welcher durch den
Laubausbruch ım Frühjahr und den Laubfall im Herbst, das Kahl-
stehen im Winter gekennzeichnet wird. Von den zahlreichen ein-
heimischen Laubbäumen und Sträuchern sind nur vier Sträucher
(d. ı. nicht einmal 2%, aller Bäume und Sträucher) immergrün (vgl.
Klebs,; 1911,.S.:3).
Während eine Anzahl der ausgesprochen periodisch wachsenden
Holzgewächse schon durch die einfache Treibhauskultur aus der
Ruhe erweckt werden kann, zeigen andere Arten eine festere Ruhe,
welche durch diese einfache Behandlung nicht zu beseitigen ist.
Es gilt auch hier, ähnlich wie bei den krautartigen Pflanzen, nicht
nur die für das Wachstum der einzelnen Arten optimale 'Kombi-
nation der äußeren Bedingungen zu erkennen und künstlich herzu-
stellen, sondern auch Mittel und Wege zu finden, die in jeder
Buhenden Pflanze innewohnenden Een zu beseitigen. Die
ersten bemerkenswerten Versuche auf Alias Gebiete aan von
Askenasy (1877) in den Jahren 1874-76 ausgeführt. Dieser
Forscher untersuchte nur die Wirkung der einfachen Treibhaus-
kultur auf die Jahresperiode der Knospen, kam aber schon auf
Grund dieser ersten Versuche zur richtigen Beurteilung der Natur
der Periodizität. Seit dieser Zeit sind große Fortschritte auf diesem
Gebiete gemacht worden. Die ersten Versuche, die den ruhenden
414 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Holzpflanzen innewohnenden Hemmungen durch Anwendung von
äußeren energischen Eingriffen zu beseitigen, sind die Johannsen’s
(1900, 1906), durch welche die frühtreibende Wirkung der Äther-
und Chloroformdämpfe festgestellt wurde. Außerdem war aber
schon bekannt, dass auch andere Mittel, wie Frost und Trocken-
heit, in ähnlicher Weise wirken. Alle diese Methoden benutzte
Howard (1906), als er die Festigkeit der Ruhe zahlreicher euro-
päischer, asiatischer und nordamerikanischer Holzarten an abge-
schnittenen Zweigen prüfte. Von den untersuchten 234 Arten
konnten 125 schon durch die bloße Überführung ins warme Ge-
wächshaus (in der Zeit vom 20. Oktober bis 4. November) zum
sofortigen Austreiben veranlasst werden. 98 Arten trieben zwar
durch die bloße Warmhauskultur nicht aus, konnten aber durch die
Anwendung der verschiedenen bis dahin bekannten Frühtreibever-
fahren, wie Trockenheit, Frost, Äther, einzeln oder in mannigfachen
Kombinationen dazu gezwungen werden. Die übrigen 11 Arten
zeigten dagegen eine sehr feste Ruheperiode, indem sie allen Mitteln
unbeugsamen Widerstand leisteten. Unter diesen Arten sind einige
besonders bemerkenswert, da sie auch bei späteren Versuchen unter
Anwendung neuerer Frühtreibeverfahren das gleiche Verhalten
zeigten, nämlich Fagus silvatica, Fraxinus excelsior, Quercus-Arten.
In neuerer Zeit sind mehrere neue Verfahren bekannt ge-
worden°), wie das Warmbadverfahren von Molisch (1908, 1909),
die Verletzungsmethode von Weber (1911), die Injektionsverfahren
von Jesenko (1911, 1912), die Radiumbestrahlung von Molisch
(1912), das Nährsalzverfahren von Lakon (1912). Durch dieselben
sind wir in gesteigertem Maße ın der Lage, die Entwicklung der
Pflanze zu beherrschen. Zu meinen Versuchen über die Wirkung
einer gesteigerten Nährsalzzufuhr auf die ruhenden Holzgewächse
hatte ich gerade Arten mit fester Ruheperiode herangezogen. Bei
all den untersuchten Arten konnte die günstige Wirkung des Ver-
fahrens festgestellt werden. Selbst bei der am meisten wider-
spenstigen Rotbuche konnte die Ruhe ins Wanken gebracht werden,
wenn es auch nicht gelang, die Blattentfaltung zu erzielen, was nach
unseren heutigen Kenntnissen darauf zurückzuführen ist, dass die
Beleuchtung bei den Versuchen ungenügend war. Die neueren Ver-
suche von Klebs (1914, S. 91—95) haben die Resultate meiner
Untersuchungen in vollem Umfange bestätigt.
Die Buche blieb aber trotzdem das einzige typische Beispiel
einer durch äußere Eingriffe nicht wesentlich beeinflussbaren Ruhe-
periode. Für die Annahme einer auf inneren Gründen beruhenden
Periodizität bildet eine Pflanze wie die Buche ımmerhin eine ge-
wisse Stütze. Denn der Einwand, dass bei einer solchen Pflanze,
9) Näheres bei Burgerstein (1911), Lakon (1915).
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 445
bei welcher alle Treibmittel versagen, eine innere Ruhe bestehen
kann, konnte nicht als unberechtigt erwiesen werden, so unwahr-
scheinlich er auch war. Aber auch diese einzige beachtenswerte
Stütze der Annahme einer inneren Rhythmik konnte durch die
neueren Versuche von Klebs (1914b) beseitigt werden. Es gelang
ihm, die Entwicklung der Buche derart zu beherrschen, dass diese
Pflanze heute als das beste Beispiel für die Abhängigkeit der Ruhe-
periode von den äußeren Bedingungen gelten kann. Die Entwick-
lung der Buche zeigt nämlich eine große Abhängigkeit von den
Beleuchtungsverhältnissen. Die Versuche ergaben, dass durch kon-
tinuierliche Beleuchtung die Ruheknospen der Buche zu jeder Zeit
ım Herbst und ım Winter zum Austreiben veranlasst werden können.
Bei fortdauernder Kultur in einem besonders zu diesem Zweck ein-
gerichteten kontinuierlich elektrisch beleuchteten Raum konnte
Klebs ununterbrochenes Wachstum beobachten, die Bildung von
Ruheknospen blieb vollständig aus. Aus den wichtigen Feststellungen
Klebs’ — auf die wir später eingehender zurückkommen werden —
geht unzweifelhaft hervor, dass die Vegetationspunkte der Buche
die Fähigkeit besitzen, beständig fortzuwachsen. Diese Fähigkeit
ist an gewisse äußere Bedingungen, in erster Linie an eine be-
stimmte Lichtmenge gebunden. Die Ruheperiode der Buche
in der Natur ist somit auf die ungünstigen Beleuchtungs-
verhältnisse zurückzuführen, welche die Verwirklichung
dieser Fähigkeit selbst nach Herstellung günstiger Tem-
peratur nicht gestatten.
Das Verhalten der Buche ist auch in anderer Hinsicht besonders
lehrreich. Es zeigt, dass für jede Pflanzenart besondere äußere Be-
dingungen für die Entwicklung maßgebend sein können und dass
es unstatthaft ist, über die Ursachen der Entwicklung irgendwas
auszusagen, geschweige denn dieselben auf innere Bedürfnisse zu-
rückzuführen, bevor das Verhalten jeder Art auf die Einwirkung
aller erdenklichen Kombinationen der äußeren Bedingungen genau
studiert worden ist. Es ist allerdings keine leichte Aufgabe, eine
bestimmte Kombination von günstigen een her-
zustellen und längere Zeit hindurch konstant zu el Vor allen
Dingen lässt a wie schon hervorgehoben, der Lichtfaktor nicht
nach Wünschen regulieren. Daher hat man von jeher auf das Ver-
halten der tropischen Bäume das Augenmerk gerichtet. Das Ver-
halten der tropischen Bäume wird im Bee Kapitel erörtert
werden; hier seien nur einige een angeführt, welche das
Verhalten von Bäumen aus der temperierten Zone nach ihrer Über-
führung in das tropische Klima betreffen.
Ein kleines Exemplar der Blutbuche, welches im Herbst nach
Tjibodas gebracht wurde, trieb schon im Januar aus (Klebs, 1911,
S. 17). Noch größer is aber der Einfluss des tropischen Klimas
416 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
beı Exemplaren, die unter dem Einfluss desselben aufgewachsen
waren. Klebs (l.c) berichtet, dass die Rotbuchen, welche vor
einem halben Jahrhundert auf dem Pangerango in einer Höhe von
ca. 3000 m angepflanzt wurden, Anfang November zum Teil frisch
beblättert waren. Klebs verfolgte ın der Zeit von Oktober bis
November in Buitenzorg und Tjıbodas das Verhalten einer größeren
Anzahl von Holzgewächsen der temperierten Zone (Mittelmeerländer,
Japan, Nordamerika) und stellte fest, dass die überwiegende An-
zahl dieser Pflanzen „unter dem Einfluss des tropischen Klimas zu
einer Zeit treiben, wo sie ın ıhrer Heimat ruhen“. Das Klima von
Tjıbodas wirkte merklich günstiger als das von Buiteuzorg. Be-
merkenswert ist, dass, während viele der untersuchten Arten in
ihrem ganzen Umfang beblättert waren, andere die schon von
Schimper (1898, 5. 266) beobachtete Erscheinung zeigten, indem
sie nämlich gleichzeitig lebhaft wachsende und völlig ruhende Zweige
aufwiesen. Dieses verschiedenartige Verhalten von Zweigen ein
und desselben Individuums trat um so deutlicher zutage, je weniger
günstige Wachstumsbedingungen das Klima für die betreffende Art
bot. Die Bedeutung dieser Erscheinung werden wir später näher
erörtern.
Überblicken wir das besprochene Verhalten der
Pflanzen der temperierten Zone, so kommen wir zu dem
Schluss, dass dasselbe in deutlicher Abhängigkeit von
der Außenwelt steht. Der allmähliche Übergang in das Ruhe-
stadium fällt mit den gegen Ende der Vegetationsperiode immer
mehr ungünstig sich gestaltenden Lebensbedingungen zusammen.
Die größte Bedeutung fällt unzweifelhaft der Temperatur zu, da,
wie wir gesehen haben, ein großer Teil unserer Gewächse schon
durch bloße Temperaturregulierung in beständigem Wachstum ge-
halten werden kann. Sehr wichtig ist ferner die Luftfeuchtigkeit,
welcher Faktor schon allein periodische Erscheinungen hervorrufen
kann, wie z. B. in den Klimaten, wo bei nahezu konstanter Tempe-
ratur ein periodischer Wechsel der Luftfeuchtigkeit eintritt, wie
z. B. auf Ueylon. Diese beiden Faktoren, Temperatur und Luft-
feuchtigkeit, sind die augenfälligsten und wohl die einzigen, welche
gewöhnlich bei der Herstellung günstiger Wachstumsbedingungen
berücksichtigt werden. Wir haben aber gesehen, dass auch andere
für das pflanzliche Leben wichtige Faktoren in der Entscheidung
über Wachstum und Ruhe von Bedeutung sein können. Das gilt
besonders vom Licht und dem Nährsalzgehalt des Bodens, Faktoren,
welche trotz ihrer für das Pflanzenleben entscheidenden Bedeutung
bisher bei der Betrachtung periodischer Erscheinungen völlig unbe-
rücksichtigt geblieben waren.
Bei Berücksichtigung sämtlicher äußerer Faktoren besteht die
Aussicht, jede Pflanze in beständigem Wachstum zu erhalten. Die
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 417
Schwierigkeit solcher Kulturen besteht indessen nicht nur in der
Herstellung und der beständigen Haltung bestimmter äußerer Bedin-
gungen, sondern in der Erkenntnis selbst, dieser für jede Art opti-
malen Kombinationen der äußeren Bedingungen. Wenn wir z.B.
heute dank der Untersuchungen von Klebs wissen, dass für die
Buche der Hauptfaktor das Licht ist, so bedeutet dies durchaus
nicht, dass die anderen äußeren Bedingungen gänzlich vernachlässigt
werden dürfen. Es ıst im Gegenteil klar, dass nur dann ein unbe-
grenztes Wachstum zu erwarten ist, wenn dabei auch die anderen
Faktoren in dem für die Art angemessenen Grade wirksam sind.
Ausschlaggebend ist also die „Harmonie“ der äußeren Bedingungen
(vgl. Lakon, 1913, S. 29; Klebs, 1911, S. 7). Ebenso wird das
Licht auch in solchen Fällen mitspielen, wo ihm eine entschei-
dende Bedeutung keinesfalls zufällt.
Auch für die Holzgewächse gilt der Satz, dass die optimale
Kombination der äußeren Bedingungen unverändert
bleiben muss, soll der Eintritt einer Ruheperiode ver-
hindert werden. Ist die Ruhe eingetreten, so genügt das
nachträgliche Einsetzen von optimalen Wachstums-
bedingungen nicht mehr, die vorhandenen inneren Hem-
mungen aufzuheben.
Nachdem wir ım vorstehenden das Verhältnis der Pflanze zur
Außenwelt näher studiert haben, gewinnt es an Interesse, die Ent-
wicklung unserer Holzpflanzen während der Vegetationsperiode selbst
zu verfolgen. Es stellt sich heraus, dass dieselbe eine sehr mannig-
fache ist. Während nämlich bei einigen das Aufhören des Wachs-
tums mit dem Eintritt der widrigen äußeren Bedingungen des
Winters zusammenfällt, haben wir bei anderen Arten einen Wachs-
tumsstillstand schon innerhalb der Vegetationsperiode. Bei der
letzteren Kategorie findet nach der Entfaltung der in den Knospen
angelegten Blätter eine sofortige Bildung von Ruheknospen statt;
hierher gehören die Eichen, die Buche, die Rosskastanie u. a.
Bei der ersteren Kategorie dagegen geht das Wachstum bis zum
Eintritt des Winters ungestört weiter, wobei auch neuangelegte
Seitenknospen zur Streckung übergehen; hierher gehört eine größere
Anzahl unserer Holzgewächse. Um diese Verhältnisse näher auf-
zuklären hat Klebs umfangreiche Beobachtungen in Heidelberg
gemacht, die er in seinem neuen, für unsere Fragen bedeutsamen
Werk niedergelegt hat (Klebs, 1914 b, S. 97—-109).
Klebs unterscheidet vier Kategorien mit folgendem Verhalten:
1. Die Mehrzahl der Triebe wächst bis in den Herbst hinein un-
unterbrochen fort. 2. Nur ein Teil der Triebe, insbesondere Stamm-
und Stockloden zeigen bis gegen Oktober ununterbrochenes Wachs-
tum. 3. Die Mehrzahl der Triebe zeigt nur noch im Juli und August
Wachstumserscheimungen, während mit dem September allgemeine
XXXV. 27
418 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
Ruhe eintritt. 4. Die Mehrzahl der Knospen wird schon im Mai
bis Juni geschlossen; einige der hierher gehörenden Pflanzen öffnen
einen Teil ihrer Knospen schon innerhalb derselben Vegetations-
periode und bilden somit einen zweiten Trieb (Johannistrieb).
In dem Beobachtungsmaterial Klebs’ waren 163 Pflanzen-
gattungen vertreten und zwar einige durch mehrere Arten. Von
diesen Gattungen waren 53 in der ersten, 43 in der zweiten, 50 in
der dritten und 40 in der vierten Kategorie vertreten. Mehrere
der untersuchten Gattungen gehören zugleich mehreren Kategorien
an. In den beiden ersten Kategorien zusammengenommen sind
91 Gattungen vertreten; das bedeutet, dass mehr als die Hälfte
der überhaupt untersuchten Gattungen Vertreter aufweisen, welche
während der ganzen Vegetationsperiode Wachstumserscheinungen
zeigen. Diese Verhältnisse gelten nur für das eine Beobachtungs-
jahr und nur für bestimmte, ım Klıma von Heidelberg wachsende
Exemplare. Es ist indessen anzunehmen, dass die Beobachtung
mehrerer Exemplare ein und derselben Art an verschiedenen Stand-
orten größere Verschiebungen und somit eine größere Mannigfaltig-
keit zutage fördern wird. So hebt Klebs die beachtenswerte Tat-
sache hervor, dass mehrere, gemäß ihres Verhaltens in Heidelberg
zu den beiden letzten Kategorien eingereihten Arten, nach den Be-
obachtungen von Späth (1912) zu den ersten Gruppen gehören.
Der Unterschied beruht auf einer besseren Bodenernährung, da
Späth jüngere, gut gepflegte Exemplare untersuchte. Klebs unter-
scheidet folgende vier Kategorien von Faktoren, welche eine Ver-
längerung der Wachstumszeit veranlassen können: 1. Jugendliches
Alter. 2. Äußere klimatische Einflüsse und Bodenverhältnisse, wie
Temperatur, Feuchtigkeit, Nährsalzgehalt des Bodens. 3. Stecklings-
kultur. 4. Entblätterung.
Die Bedeutung des Alters des Individuums für sein perio-
disches Verhalten ist allgemein bekannt; wir werden später Ge-
legenheit haben, einige damit zusammenhängende Erscheinungen
kennen zu lernen. Klebs führt einige auffallende Beispiele an.
Ältere Bäume von Ailanthus glandulosa gingen schon im Juli in
das Ruhestadium über, während jüngere Exemplare bis Ende Sep-
tember, ja kleine Topfpflanzen selbst in der Zeit von Oktober bis
Dezember wuchsen. Das gleiche wurde für Robinia pseudacacia
festgestellt, welche Pflanze bei älteren Bäumen bis Ende August,
bei jüngeren Topfexemplaren im Gewächshaus bis zum Januar
Wachstumserscheinungen zeigte. Die Bedeutung der äußeren
klimatischen und Bodenverhältnisse kommt schon bei einigen
Versuchen von Späth (1912) zur Geltung, bei welchen Holzarten,
die schon frühzeitig während der Vegetationsperiode zur Ruhe über-
gingen, durch Gewächshauskultur bei erhöhter Temperatur und
Feuchtigkeit sowie guter Düngung zum erneuten Wachstum veran-
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 419
lasst wurden. Im gleichen Sinne wirkt auch die schon lange be-
kannte Methode der Entblätterung, wodurch einerseits die Kohlen-
säureassimilation, andererseits die Beanspruchung des Wassers und
der Nährsalze durch die vorhandenen Blätter herabgesetzt wird.
Bei der Stecklingskultur ist die Beeinflussung eine leichtere,
da hier bestimmte Knospen von der hemmenden Wirkung anderer
Organe freigemacht werden. Die zahlreichen, oben erwähnten Früh-
treibemittel sind vielfach an abgeschnittenen Zweigen mit Erfolg
angewendet worden. Klebs stellte Zweige verschiedener Heidel-
berger Holzarten in Wasser in den Lichtraum und erhielt dadurch
bei zahlreichen, meist zu der vierten Kategorie gehörigen, sonst
frühzeitig ruhenden Arten, ein sofortiges Austreiben der schon in
den Ruhezustand übergegangenen Knospen. Die Methode der Ent-
blätterung wurde von Späth (1912, S. 46—47) in großem Maßstabe
angewendet. Holzarten, welche frühzeitig während der Vegetations-
periode ruhten, wurden durch wiederholte Entblätterungen von Juni
bis September in ständigem Wachstum gehalten. Hierher gehört
auch die Erscheinung der ungewöhnlichen zweiten Belaubung und
Blütenbildung vieler unserer Holzgewächse ım Herbst infolge früh-
zeitigen Hitzelaubfalls, worüber schon zahlreiche Berichte vorliegen.
Als typisches Beispiel hierzu kann dıe Rosskastanie dienen. Klebs
beobachtete diese Erscheinung nach dem heißen Sommer 1911 bei
20 Holzarten. Rosskastanie und Flieder (Syringa vulgaris)
blühten zugleich mit der Neubelaubung zum zweiten Male.
Aus dem Gesagten geht hervor, dass wir in der Lage sind,
das „normale“ Verhalten unserer Holzgewächse zuändern
und dass letztere bei Herstellung geeigneter Bedingungen
die in ihrer spezifischen Struktur begründete Fähigkeit,
ohne Ruhe beständig zu wachsen, zur Entfaltung bringen.
Die Festigkeit der Ruhe ist bei den verschiedenen Arten verschie-
den ausgeprägt, wie auch die infolge der widrigen äußeren Be-
dingungen eintretenden inneren Hemmungen verschieden tiefgreifend
sein können, doch ist sie keinesfalls unbeugsam. Wir gewinnen
den Eindruck, dass die Ruheperiode eine Zwangslage,
aber kein Bedürfnis ist. In diesem Sinne lassen sich auch
einige spezielle, mit der jährlichen Periodizität engverknüpfte Er-
scheinungen erklären, die wir in einem späteren Kapitel behandeln
werden. Vorerst wollen wir im folgenden Abschnitt das Verhalten
der tropischen Pflanzen besprechen.
IV. Das Verhalten der Tropenpflanzen.
Während von unseren einheimischen Holzarten — wie wir im
vorigen Kapitel gesehen haben — nicht einmal 2%, immergrün sind,
verschiebt sich das Verhältnis zwischen Immergrünen und Laub-
abwerfenden immer mehr zugunsten der ersteren je mehr wir uns
97%
wi
490 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
den Tropen nähern. Nach einer auf Grund der Arbeiten von
Wright (1905) und Koorders (1898) entworfenen Zusammen-
stellung Klebs’ (1911, S. 4) haben wir z. B. auf Ceylon und Java
folgende Verhältnisse: In dem Klima Ceylons, wo die Wachstums-
bedingungen das ganze Jahr hindurch zwar viel günstiger sind als
bei uns, wo aber eine deutliche Periodizität von Feuchtigkeit und
Trockenheit herrscht, sind von 650 einheimischen Baumarten 560,
d. h. 86 %,, immergrün. Auf Java, wo auch die Feuchtigkeitsverhält-
nisse im EI erheinen keinen größeren Schwankungen unterworfen
sind, ıst das a: ein noch günstigeres; hier sind von 1200
einheimischen Arten die 1135, d.h. 95%, immergrün. Bemerkens-
wert ist dabei, dass die wenigen Laubabwerfenden meist auf die
niederen Regionen von Ost- und Mitteljava beschränkt sind, wo
eine sommerliche Trockenperiode herrscht. In dem gleichmäßigeren
Klima Westjavas fehlen dagegen auch diese wenigen laubabwerfen-
den Arten fast gänzlich. Gerade diese fortwährende üppige Be-
laubung der tropischen Pflanzenwelt ist es, was in pflanzengeogra-
phischer Hinsicht die Tropen am besten kennzeichnet.
Dieses Bild allgemeiner und kontinuierlicher Bewegung, welches
die meisten Reisenden von der Vegetation in immerfeuchten Tropen-
regionen mitgenommen haben, soll aber nach Schimper (1898,
S. 262) nur ein Trugbild sein! Auf Grund seiner reichen Beobach-
tungen in den Tropen kommt dieser Forscher zur folgenden Cha-
rakterisierung des Verhaltens der tropischen Baumwelt: Der tropische
Wald ist zum größten Teil aus periodisch laubabwerfenden Bäumen
zusammengesetzt. Es gibt dabei Holzgewächse, die ohne jede Be-
ziehung zur Jahreszeit, in größeren oder kürzeren Intervallen (1—6mal
jährlich) ihr Laub abwerfen, derart, dass Bäume derselben Arten,
unter denselben äußeren Bedingungen, sich zu ungleicher Zeit be-
lauben und entlauben. In einigen Fällen entlauben und belauben
sich sogar die einzelnen Zweige ein und desselben Baumes zu un-
gleichen Zeiten. Aber auch die immergrünen Holzgewächse der
immerwährend feuchten Gebiete sınd, nach Schimper, nicht in
fortwährendem Wachstum begriffen, sondern, ebenso wie die laub-
abwerfenden, dem periodischen Wechsel von Ruhe und Bewegung
unterworfen. Dabei ist eine gleichzeitige Verjüngung der ganzen
Krone seltener; häufiger findet ein ungleiche Übers der
Endknospen einzelner Zweige oder Zweigsysteme aus dem ruhenden
in den aktiven Zustand statt.
Bezeichnend für die Anschauungsweise Schimper’s ist der
Umstand, dass nach ihm auch bei den immergrünen Bäumen der
letztgenannten Kategorie, d.h. auch bei solchen, welche an einzelnen
Zweigen das ganze Jahr hindurch in fortwährendem Wachstum be-
griffen sind, eine Abwechslung von Ruhe und Bewegung vorhanden
ist. Jeder „individualisierte“ Zweig habe seine eigene Periodizität.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 421
Das trifft nach Schimper auch für die im immerfeuchten Berg-
garten zu Tjibodas stehenden Holzpflanzen der temperierten Zone
zu, welche vielfach an ein und demselben Exemplare gleichzeitig
winterliche, frühjährliche, sommerliche und herbstliche Sprosse tragen.
Auf Grund der angeführten Beobachtungen kommt Schimper
zu dem allgemeinen Schluss, dass in dem nahezu gleichmäßigen
Klima für die Abwechslung von Ruhe und Bewegung vorwiegend
oder allein innere Ursachen maßgebend sind. „Aufgegeben wird
solche Rhythmik jedoch niemals, denn sie ist im Wesen des Orga-
nismus und nicht in den äußeren Bedingungen begründet. Ihr Zu-
sammenhang mit den letzteren ist eine sekundäre Erscheinung, eine
Anpassung.“
Die Auffassung Schimper’s wurde seither von den meisten
Forschern der Tropenvegetation zu eigen gemacht. Nur Klebs
hat dieselbe nıcht nur auf Grund von Beobachtungen ın den Tropen,
sondern auch von Versuchen bekämpft. Es würde mich zu weit
führen, wollte ich hier alle die von den verschiedenen Forschern
gemachten Beobachtungen besprechen'!®). Ich will mich vielmehr
auf die neuesten Arbeiten von Klebs, Volkens und Sımon be-
schränken.
Volkens (1912) verfolgte das Verhalten verschiedener mar-
kierter Exemplare auf Java. Seine reichen Beobachtungen lassen
sich folgendermaßen kurz zusammenfassen: Die Zeitdauer, welche
der Prozess des Blattfalls bei den verschiedenen Arten beansprucht,
ist äußerst verschieden; sie kann wenige Tage bis mehrere Wochen
betragen. Ein Exemplar von Söindora sumatrana war z. B. 9 Monate
ım Werfen begriffen. Bei derartigen Fällen geht Laubfall und
Lauberneuerung Hand in Hand. Bei einigen Arten vollzieht sich
das Werfen astweise; es beginnt gewöhnlich an der Spitze der
Krone und setzt sich allmählich zu ihrer Basıs hin fort, ein Ver-
halten, was nicht immer mit den Beleuchtungsverhältnissen der
einzelnen Zweige in Zusammenhang steht. Zwischen dieser Kate-
gorie und der der Immergrünen im engeren Sinne stehen einer-
seits diejenigen Arten, welche mit dem Fall der alten zugleich das
Entstehen der neuen Blätter verbinden, andererseits diejenigen, bei
welchen das Werfen erst eintritt, nachdem das ganze Laub sich
bereits zur vollen Größe entwickelt hat. Beiden Kategorien ge-
meinsam ist, dass dauernd nur ein Blattschub funktioniert, während
bei den Immergrünen im engeren Sinne zum mindesten zwei Schübe
gleichzeitig am Baume anzutreffen sind. Von den letzteren werden
zwei Kategorien unterschieden, solche, welche eine ziemlich strenge
Periodizität zeigen und solche, welche das ganze Jahr im schwachen
10) Vgl. hierzu die Arbeiten von Klebs (1911), Volkens (1912) und Lakon
(1913), ferner die Behandlung in Pfeffer (1904).
429 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Werfen begriffen sind. Das typische Verhalten der periodisch
werfenden Arten besteht darın, dass vor, mit oder nach dem Treiben
eines neuen Blattschubes der vorletzte Schub zum Abstoß gelangt,
so dass am Baume stets zwei Schübe funktionieren. Außer diesem
typischen Blattwechsel sind einige Arten dieser Kategorie auch
einer „Generalreinigung“ unterworfen, die darin besteht, dass selten,
vermutlich ın mehrjährigen Perioden, auch der letzte Schub ab-
geworfen wird. Bei den typisch unperiodischen Immergrünen ist
das unausgesetzte Treiben mit unausgesetztem Werfen verknüpft.
Verschiedene Übergangsformen verbinden die verschiedenen Kate-
gorien miteinander.
Sehr charakteristisch für die tropischen Pflanzen ist die Kürze
der zwischen Werfen und Treiben eingeschalteten Ruheperiode.
Die ganz überwiegende Anzahl der Arten bleibt nur auf wenige,
höchstens 8 Tage kahl. Ein Kahlstehen über 2 Monate konnte nur
bei Albixzia Lebbek und Odina gemmifera beobachtet werden. Auch
die partielle Ruhe der einzelnen Äste ist gewöhnlich eine sehr
kurze. Besonders bemerkenswert ist, dass von allen Arten, die nur
wenige Tage kahl stehen, Exemplare beobachtet werden können,
bei welchen Werfen und Treiben ineinander fließt.
Volkens gelangt auf Grund dieser Beobachtungen in völliger
Übereinstimmung mit Schimper zu dem Schluss, dass auch die
tropischen Basıalen periodische Erscheinungen zeigen, welche auf
„inneren Ursachen“ beruhen. Von den äußeren Faktoren des
Buitenzorger Klimas kann nur die Temperatur als beständig gleich-
mäßıg angesehen werden, während die Menge der Niederschläge,
der Feuchtigkeitsgrad der Luft und die Größe der Insolation
Schwankungen unterworfen sind. Ein Zusammenhang dieser Fak-
toren mit den periodischen Erscheinungen konnte indessen nicht
festgestellt werden.
Die Beobachtungen Volkens’ konnten neuerdings durch S. V.
Sımon (1914) bestätigt und erweitert werden, und zwar zum größten
Teil auf Grund desselben Beobachtungsmaterials des Buitenzorger
Gartens. Diese Beobachtungen brachten indessen keine neuen Ge-
sichtspunkte zutage!!). Bemerkenswert ist das Resultat, dass „die
Größe der Niederschläge und der Beleuchtung in den besprochenen
Tropengebieten a des ganzen Jahres nicht so gleichmäßig
ist, wie manche Autoren anzunehmen geneigt sind“. Simon hält
zwar diese Schwankungen „kaum so belangreich, dass sie einen
direkten Einfluss auf das Wachstum ausüben werden“, gibt aber
zu, dass dieselben beı vielen Baumarten den Blattfall beeinflussen
oder sogar hervorrufen, so dass man an die Möglichkeit denken
muss, „dass auf diese Weise eine indirekte Beeinflussung auch des
11) Vgl. hierzu: Lakon (1915).
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von W.achstum und Ruhe ete. 423
Wachstums stattfinden könnte“. Eine derartige Beeinflussung sei
tatsächlich anzunehmen, sie gehe aber nur dahin, den Zeitpunkt
des Laubfalls und der Lauberneuerung zu bestimmen; die primäre
Ursache des periodischen Wechsels zwischen Wachstum und Ruhe
sei dagegen in der spezifischen Struktur zu suchen! Der Grund,
welcher Simon zu diesem merkwürdigen Schluss zwingt, bildet der
Umstand, dass die Mehrzahl der Bäume „begrenzte Knospen“ be-
sitzen, so dass ein kontinuierliches Wachstum unmöglich ist. Diese
Annahme ist indessen durchaus irrig, wie schon aus dem bisher
Gesagten unzweifelhaft hervorgeht, denn wır haben gesehen, dass
selbst der Vegetationspunkt der Buche die Fähigkeit hat, beständig
zu wachsen. Diese Frage kann eben nur das Experiment und nicht
die einfache Beobachtung in den Tropen entscheiden.
Wir sind heute im Besitze eines höchst umfangreichen und
sehr wertvollen Materials über die periodischen Erscheinungen der
Pflanzenwelt der Tropen und trotzdem sind wir durch diese Beob-
achtungen in der Erkenntnis von der Natur der Periodizität selbst
keinen Schritt weiter gekommen als wir durch das Werk Schim-
per’s schon waren. Hierin muss ich der Ansicht Dingler’s völlig
beipflichten, wenn er sagt (1911, S. 133): „Gerade der Periodizität
wird man überhaupt nur auf experimentellem Wege beikommen,
wenn ich auch die Wichtigkeit von Beobachtungen unter natürlichen
Lebensbedingungen nicht unterschätzen möchte — aber mehr für
die biologische Deutung als für das physiologische Wesen eines Vor-
ganges.“ In dieser Hinsicht sind nur die Arbeiten von Klebs von
ausschlaggebender Bedeutung, der seine Beobachtungen ın den
Tropen durch ausgedehnte Versuche ergänzte.
Durch genaue Wachstumsmessungen konnte Klebs (1911,
S. 26ff.) zunächst feststellen, dass in Buitenzorg, abgesehen von den
vielen Farnbäumen und den monokotylen Arten, auch zahlreiche
Dikotylenbäume ein ununterbrochenes Wachstum aufweisen. Bei
anderen Arten dagegen wurde eine Zeit der Ruhe konstatiert.
Klebs versuchte nun die ruhenden Zweige solcher Arten durch
das bekannte Mittel der Entblätterung zu neuem Wachstum zu ver-
anlassen, was ihm tatsächlich bei mehreren Arten gelang. Sehr
interessant war das Verhalten von jungen Topfpflanzen; sie wurden
unter sehr günstigen Licht-, Temperatur- und Feuchtigkeitsverhält-
nissen gehalten, während der stark erschöpfte Boden eine ungünstige
Beschaffenheit besaß. Viele Arten zeigten dabei eine Ruheperiode,
die aber durch Entblätterung oder Verbesserung der Be-
schaffenheit des Bodens durch Begießen mit Nährsalz-
lösung verkürzt oder völlig beseitigt werden konnte. Durch diese
Versuche wurde zugleich auf die große Bedeutung eines weiteren
bis dahin gänzlich vernachlässigten Faktors hingewiesen, nämlich
des Nährsalzgehaltes des Bodens. Heute, nachdem ich (Lakon,
494 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
1912) die Beeinflussung der Ruheperiode durch die Nährsalze näher
begründet habe, ist die Berücksichtigung dieses Faktors bei der
Behandlung von Fragen der Periodizität unerlässlich.
Die Berücksichtigung des Bodenfaktors hat bei den
weiteren Versuchen, die Klebs (1912, 1915) mit tropischen
Pflanzen in Heidelberg anstellte, zu erneuten Erfolgen geführt.
Die Versuche in Heidelberg gestatteten Klebs das Verhalten von
tropischen Pflanzen mehrere Jahre hindurch zu verfolgen. Aus
diesen Versuchen geht zunächst hervor, dass es eine ganze Anzahl
Tropenpflanzen gibt und zwar Vertreter der verschiedensten Familien
und Gewächsformen (Kräuter, Stauden, Sträucher und Bäume), die
das ganze Jahr hindurch ununterbrochenes Wachstum aufweisen.
Bei einigen anderen Arten erfolgt die Blattbildung gleichmäßig,
kann aber durch Ruhepausen unterbrochen werden. Pflanzen, die
ın Form älterer Bäume in den Tropen eine deutliche Perio-
diziıtät aufweisen, konnten als junge Individuen in Heidelberg
in beständigem Wachstum gehalten werden. Die Vertreter
dieser Kategorie unterscheiden sich von denjenigen der ersteren
dadurch, dass bei ihnen die Grenzen der miteinander kombiniert
wirkenden Faktoren anders gezogen sind als bei jenen. Schließlich
gibt es Arten, bei welchen die Blattbildung in Schüben erfolgt;
nach jedem Schub kann Ruhe eintreten. Auch bei solchen Pflanzen
konnte die Ruhe beseitigt werden und zwar entweder durch ge-
eignete Düngung oder durch Düngung unter gleichzeitiger Ent-
fernung der neugebildeten Blätter. Die Ruheperiode der tro-
pischen Pflanzen in Heidelberg fällt mit der Zeit der
geringen Lichtintensität im Winter zusammen.
Die große Mannigfaltigkeit in der Reaktion der einzelnen Arten
auf die Kulturbedingungen mahnt zur größten Vorsicht in der Be-
urteilung des Verhältnisses der Pflanze zur Außenwelt. Ähnlich
wie bei den niederen Pflanzen ist auch hier nur das spezielle Stu-
dium der einzelnen Arten berufen, die für dieselben optimale Kon-
stellation der Wachstumsbedingungen aufzudecken. Die wichtigste
Aufgabe der Erforschung der Periodizität besteht in der
Tat darın, die äußeren Faktoren, welche beı den ein-
zelnen Arten die Ruheperiode provozieren, festzustellen.
Diesen Weg hat Klebs beschritten, indem er die Kultur seiner
tropischen Pflanzen unter bestimmten, mannigfach veränderten Be-
dingungen, jahrelang konsequent durchführt. In seiner neuesten
Arbeit (1915) hat Klebs an fünf Beispielen einige der bisher er-
zielten Erfolge illustriert. Diese Versuche sind von größter Be-
deutung und verdienen hier eine nähere Besprechung.
Die erste Versuchspflanze, Terminalia catappa (Klebs, 1915,
S. 738-752), ıst in ihrem ursprünglichen Standort an der javanischen
Küste (nach Koorders und Valeton) höchstens für eine Woche
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 425
blattlos. Nach den Angaben von Volkens (1912) und Wright
(1905), die Klebs anführt, soll die Pflanze sowohl auf Java wie
auf Ceylon, abgesehen von der kurzen Zeit des jährlich zweimal
erfolgenden Treibens, längere Perioden der Ruhe aufweisen. Klebs
hat früher berichtet (1912, S. 261; 1911, S. 35), dass bei einem
größeren Baum des Buitenzorger Gartens, welcher Anfang Dezember
völlig ruhte, die Entblätterung wirkungslos blieb. Junge, etwa
zweijährige Topfexemplare, welche seit ihrer Keimung nicht umge-
pflanzt waren, zeigten dagegen in demselben Winter ein wesentlich
anderes Verhalten. Nach der Bildung neuer Blätter machten näm-
lich diese Pflanzen Anstalten, in Ruhe überzugehen, wurden aber
durch Entblätterung daran verhindert. Die weitere Beobachtung
der Pflanzen in Heidelberg bestätigte das Ergebnis, dass der Vege-
tationspunkt auch dieser Art die Fähigkeit hat, beständig zu wachsen.
Auf einem gut gedüngten und von Zeit zu Zeit mit neuer
Erde versehenen Hügel wächst die Pflanze beständig,
selbst in der kritischen Zeit der geringsten Lichtmenge
im Winter fort. Bei Topfkultur in begrenzter Erdmenge
zeigt dıe Pflanze dagegen einen ausgesprochenen Wechsel
von Wachstum und längerer Ruhe, letztere vorwiegend zur
Zeit der geringsten Lichtmenge. Besonders instruktiv sind die
Fälle, bei welchen ein und dasselbe Exemplar im Laufe der Jahre
abwechselnd auf freiem Erdhügel mit stets frischer Erde und in
Topf mit beschränkter Erdmenge kultiviert wurde. Im ersteren
Falle wuchs die Pflanze ohne Unterbrechung fort; ım Topf ging
sie dagegen nach einiger Zeit in Ruhe über, aus welcher sie durch
die einfache Überführung in nahrhafte Erde wiederum erweckt und
zum beständigen Wachstum veranlasst wurde. Bemerkenswert ist,
dass die Topfpflanzen außer der einmaligen längeren, auch kurze
Ruhepausen (von 9— 11 Tagen) des Hauptsprosses zeigten und zwar
nur zu einer Zeit, wo die Seitensprosse deutlich wuchsen. Bei
diesen kurzen Ruhepausen des Hauptsprosses handelt es sich um
Folgen des Konkurrenzkampfes um die im beschränkten Maße zur
Verfügung stehenden Nährsalze. Aus dem Gesagten geht hervor,
dass Terminalia catappa bei günstiger Kombination der Außen-
bedingungen ununterbrochen wächst. Dabei fallen zwei
Faktoren besonders ins Gewicht, das Licht und die Nährsalze. Das
Wachstum geht ungestört fort so lange diese beiden Faktoren in
richtigem Verhältnis wirksam sind, dagegen tritt Ruhe ein sobald
auch nur der eine dieser Faktoren vermindert wird.
Die zweite Versuchspflanze, Theobroma cacao (Klebs, 1915,
S. 752— 761), treibt auf Ceylon fünfmal, auf Java zweimal im Jahre
vollständig, wie aus den Angaben von Smith (1909) und Volkens
(1912), die Klebs anführt, hervorgeht. Junge Topfpflanzen zeigten
bei den Versuchen von Klebs in Buitenzorg abwechselnd Ruhe-
426 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
pausen, die aber durch Entblätterung oder Nährsalzzugabe beseitigt
werden konnten. Bei den späteren Versuchen in Heidelberg unter
fortwährend günstigen Bedingungen zeigten die Pflanzen ein ganz
anderes Verhalten. Sie wuchsen ohne Unterbrechung fort, doch
gelangten die Blätter zur Zeit der geringsten Lichtmenge nicht zur
normalen Ausbildung. Besonders bemerkenswert und für die ganze
Frage bedeutungsvoll ıst der Umstand, dass die Pflanze, welche
ein typisches Beispiel der schubweise erfolgenden Blatt-
bildung darstellt, bei dem ununterbrochenen Wachstum
ın Heidelberg ihre Blätter sukzessive anlegte. Die bei vielen
Tropenpflanzen charakteristische Blattbildung in Schüben
ist daher keine unter allen Umständen notwendige Erschei-
nung, welche etwa im Sinne einer erblichen inneren Periodizität
gedeutet werden kann, wie schon vielfach geschehen.
Die dritte Versuchspflanze, Albixzia stipulata (Klebs, 1915,
S. 761— 765), steht (nach Koorders und Valeton) in Mitteljava
während der trockenen Sommerzeit monatelang kahl. Die von
Sımon (1914, S. 107) ın Buitenzorg untersuchten größeren Bäume
zeigten eine 2—3monatliche Ruhe ın der Zeit von Januar bıs Juni,
während die Pflanze auf Ceylon (nach Wright, 1905) nur 9—21 Tage
blattlos steht. Demgegenüber stehen die Angaben von Klebs
(1911, S.43 und 1912, S. 264), nach welchen ein junger Baum des
Buitenzorger Gartens sowie Topfexemplare daselbst während der
ganzen Beobachtungszeit, von Oktober bis Mitte Februar ununter-
brochen fortwuchsen. Bei den Heidelberger Versuchen zeigte diese
Pflanze folgendes Verhalten: Ein Topfexemplar ging zur Zeit der
geringsten Lichtmenge — Ende Dezember — unter Blattfall in den
Ruhezustand über. Durch Entblätterung am 15. Januar fing die
Pflanze sofort zu wachsen an und von nun an wuchs sie mit zu-
nehmender Lichtmenge ununterbrochen fort. Bei einem weiteren
Exemplare konnte die Ruheperiode im Dezember dadurch ausge-
schaltet werden, dass die Pflanze im November in einen großen
Topf mit guter, gedüngter Erde versetzt wurde. Hier wuchs die
Pflanze ohne jegliche Ruhe fort und zeigte keinen deutlichen Laub-
fall. Albixzia stipulata zeigt große Abhängigkeit vom Lichtfaktor.
Durch Verdunklung wird das Wachstum sofort sistiert, wenn die
Pflanze unzureichend ernährt ist; bei guter Ernährung fallen zwar
die älteren Blätter ab, das Wachstum der jüngsten geht aber auch
ım Dunkeln weiter. Aus diesen Versuchen geht hervor, dass
Albixzia die Fähigkeit zum fortdauernden Wachstum be-
sıtzt. Je nach dem Ernährungszustand reagiert sie in verschie-
denem Grade auf die äußeren Bedingungen, welche allein über
Wachstum oder Ruhe entscheiden.
Die vierte Versuchspflanze, Sterculia macrophylia (Klebs, 1915,
S. 765— 770) wird auf Java (nach Koorders und Valeton; Vol-
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 427
ww
kens, 1912, S. 13) zur Blütezeit im Frühjahr kahl. Nach Simon
(1914, S. 121) dagegen soll eine Varietät dieser Art bei einem
Exemplar des Buitenzorger Gartens erst am 27. Juni völlig kahl
geworden sein. Bei den früheren Versuchen in Buitenzorg konnte
Klebs (1911, S. 45) junge Topfpflanzen im Laufe des Winters durch
Entblätterung und Begießen mit Nährsalzlösung zu dreimaligem
Treiben veranlassen. Bei späteren Versuchen in Heidelberg (1912,
S. 269 und 1915, S. 767) wuchs die Pflanze auf gut gedüngtem
freiem Erdhügel im Gewächshaus von Mai bis Oktober ununter-
brochen fort unter beständiger Blattbildung; die Blattbildung
erfolgte also auch hier ähnlich wie beim Kakaobaum nicht
ın den charakteristischen Schüben, sondern sukzessive!
Nach der Überführung in einen Topf im Oktober ruhte die Pflanze
bis Februar. Von dieser Zeit an wechselte Wachstum und Ruhe,
und zwar wurden die Ruheperioden im Laufe der Jahre
immer länger — die letzte Ruheperiode betrug 10 Monate,
eine unverkennbare Wirkung der Topfkultur bei begrenzter Erd-
menge.
Die letzte Versuchspflanze endlich, Pithecolobium Saman (Klebs,
1915, S. 771— 783), scheint nach den vorliegenden Beobachtungen
auf Java nur einmal im für kurze Zeit zu treiben. Einige
von Volkens (1912, S. 64) kontrollierten Exemplare des nn
zorger Gartens blieben in der Zeit von Januar bis Juli unverändert;
sie fingen erst im Juli an die Blätter abzuwerfen. Auf Ceylon
wirft der Baum (nach Wright, 1905) schon im Januar — Februar,
um sich dann im Februar März neu zu belauben. Bei den Heidel-
berger Versuchen zeigte diese Art im wesentlichen das gleiche Ver-
halten wie Terminalia catappa. Frei ausgepflanzt oder im Topf bei
reichlicher Nährsalzzufuhr wuchs die Pflanze das ganze Jahr hin-
durch ununterbrochen fort. Bei mangelhafter Nährsalzversorgung,
in einem Topf mit begrenzter Erdmenge, zeigte sie im Winter eine
längere Ruheperiode. Durch künstliche Steigerung oder
Herabsetzung der Nährsalzzufuhr konnte die Pflanze zu
ununterbrochenem Wachstum oder zu zeitweiliger Ruhe
willkürlich gebracht werden. Pithecolobium Saman zeigt ferner
eine Eigentümlichkeit, welche die Bedeutung der Bodenernährung
noch deutlicher macht. Die. Pflanze ist nämlich eine Mimosacee,
welche an ihren Wurzeln stickstoffbindende Bakterien besitzt. Sind
die Versuchsexemplare knöllchenfrei, so reagieren sie schnell und
deutlich auf die jeweilige Beenpeschaffenheik: gut ernährte und
reichlich mit Knöllchen versehene Exemplare onen dagegen auch
nach der Überführung in Sand ein langandauerndes Wachstum auf-
weisen. Die Pflanze zeigt überhaupt lee Abhängigkeit von den
Außenbedingungen; auch durch geignete Regulierung der Tempe-
ratur konnte sie zum Wachsen oder Ruhen veranlasst werden.
428 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc,
Aus diesen wichtigen Versuchen Klebs’, die hier nur kurz be-
sprochen worden sind, geht folgendes deutlich hervor: Die Vege-
tationspunkte der untersuchten tropischen Baumarten
haben das Vermögen unbegrenzt zu wachsen. Die bei
diesen Pflanzen in der Natur auftretende Ruheperiode
ist die Folge des Einflusses der äußeren Bedingungen.
Bei beständig angemessener Wärme, Luft- und Bodenfeuchtigkeit
treten als die Faktoren, welche über Wachstum und Ruhe zu ent-
scheiden haben, das Licht und der Nährsalzgehalt des Bodens her-
vor. Bei Verminderung der Lichtmenge kann der gesteigerte Salz-
faktor das Wachstum noch aufrecht erhalten, was darauf hinweist,
dass die Empfindlichkeit der Pflanze der Lichtmenge gegenüber
durch den Salzfaktor reguliert werden kann. „Bei der Entstehung
der Ruheperiode können verminderte Lichtmenge und begrenzte
Nährsalzmenge zusammenwirken“ (Klebs, 1915, S. 288).
Aus dem Gesagten geht hervor, dass auch bei den tropischen
Bäumen die Entscheidung über Wachstum oder Ruhe
allein den äußeren Bedingungen zufällt; ein inneres Ruhe-
bedürfnis kommt auch bei diesen Pflanzen keinesfalls zum Vorschein.
Wie kommt es aber, dass diese Pflanzen in dem gleichmäßigen
Tropenklima vielfach periodische Erscheinungen zeigen? Diese Frage
können wir gegenwärtig nicht beantworten, da spezielle Unter-
suchungen fehlen. Für die Beurteilung dieser Frage kommen in
erster Linie folgende Momente in Betracht. Zunächst wissen wir
noch lange nicht sicher, ob die Lebensbedingungen in den Tropen
tatsächlich gleichmäßig sind. Erstens haben wir gesehen, dass so-
wohl nach Volkens wie auch nach den neuesten Untersuchungen
von Simon Feuchtigkeit und Beleuchtung in den als gleichmäßig
geltenden Tropengebieten Schwankungen unterworfen sind. Zweitens
wissen wir aber von der Beschaffenheit des wichtigen Bodenfaktors
in den Tropen noch gar nichts! Selbst die eigene Tätigkeit eines
großen Baumes kann den Bodenfaktor beeinflussen; dann kommt
die Konkurrenz der benachbarten Individuen hinzu. Selbst die Kon-
kurrenz der verschiedenen Zweige ein und desselben Individuums
kann zu einer ungleichmäßigen Verteilung der Nährsalze führen.
Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass in den Tropen eine Perio-
dızıtät im Nährsalzgehalt des Bodens herrscht (Klebs, 1911, S. 52).
Die völlige Gleichmäßigkeit der tropischen Lebensbedingungen ist
demnach nicht nur unerwiesen, sondern sogar in höchstem Grade
unwahrscheinlich. Wenn die verschiedenen Tropenforscher die
Schwankungen der äußeren Bedingungen in den Tropen mit den
periodischen Erscheinungen der Baumwelt nicht in Einklang zu
bringen vermochten, so ist dies — abgesehen von der völligen
Außerachtlassung des Bodenfaktors — darauf zurückzuführen, dass
sie die inneren Bedingungen und die korrelative Verkettung der
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 499
Wirkungen unberücksichtigt ließen. Diese Frage werden wir übrigens
im Schlusskapitel dieser Arbeit ausführlich erörtern, wie auch die
Frage, ob auch beı konstanten äußeren Bedingungen Veränderungen
der inneren Bedingungen entstehen können, welche schließlich
periodische Erscheinungen herbeizuführen vermögen.
V. Die Periodizität der Johannistriebbildune.
Wir haben schon in einem früheren Kapitel gesehen, dass
einige unserer Holzgewächse, welche schon im Mai oder Juni ihre
Knospen zu schließen pflegen, noch innerhalb derselben Vegetations-
periode einen Teil dieser Ruheknospen öffnen und somit einen
zweiten Trieb bilden. Dieser zweite Trieb kommt regelmäßig bei
den Eichen und der Buche vor und ist für diese Arten charakte-
ristisch; er wird als Johannistrieb bezeichnet. Späth, der un-
längst eine umfassende Arbeit über den Johannistrieb veröffentlicht
hat (1912), unterscheidet mehrere Kategorien derartiger zweiter
Triebe und sieht nur im zweiten Trieb der Eichen und der Buche
den echten Johannistrieb. Es ist hier nicht der Ort, die Frage zu
erörtern, ob der Abgrenzung Späth’s die ihr von diesem Forscher
beigemessene physiologische Bedeutung tatsächlich zukommt. Uns
interessiert hier nur die Frage, ob die Behauptung Späth’s zutrifft,
dass die periodische Bildung der „echten Johannistriebe“ der Eichen
und der Buche von äußeren Bedingungen unabhängig und somit
auf „innere Ursachen“ zurückzuführen ist.
Späth hat in seinem Werk zahlreiche und wertvolle Beobach-
tungen und Versuche über die Johannistriebbildung niedergelegt,
doch sind seine Schlussfolgerungen über die Ursachen dieser zweiten
Triebbildung — wie ich an anderer Stelle (Lakon, 1913, S. 41—44)
sogleich nach Erscheinen seines Werkes gezeigt habe — irrig. Unter
Hinweis auf meine früheren ausführlicheren Erörterungen will ich
mich hier nur darauf beschränken, die wichtigsten von Späth fest-
gestellten Tatsachen zu erwähnen.
So wissen wir zunächst, dass nicht alle Terminalknospen der
Eichen oder der Buche zu einem Johannistrieb austreiben, sondern
nur ein von Fall zu Fall verschiedener Teil davon und zwar (nach
Späth, S. 10—11) im Durchschnitt bei der Eiche ungefähr ein
Fünftel, bei der Buche weit weniger. Mit fortschreitendem Alter
nimmt die Tendenz zur Johannistriebbildung allmählich ab. Späth
(S. 10, Anm. 1) sagt: „Bei ganz jungen 1—3jährigen Eichen bilden
häufig sämtliche Frühjahrstriebe ausnahmslos Johannistriebe.“
Der Einfluss der Ernährung macht sich überall geltend. Bei guter
Ernährung wird nicht nur die Johannistriebbildung begünstigt,
sondern es entstehen auch wiederholte Johannistriebe (drittes und
viertes Treiben). „Fast regelmäßig bilden sich dritte Triebe, wenn
430 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
der erste und zweite Trieb durch starkes Zurückschneiden der Mutter-
pflanze ım Frühjahr stark entwickelt war.“ „Nach einem solchen
starken Zurückschneiden braucht die Ruheperiode der Terminal-
knospe des Johannistriebes 1—2 Wochen nicht zu überschreiten
und kann schon Ende Juli aufhören.“ „Bei normal wachsenden,
nicht zurückgeschnittenen Bäumen erfolgt der dritte Trieb erst nach
einer Ruheperiode, die fast ebenso lang wie die erste — also etwa
1!/, Monate — währt“ (Späth, 1. c., S. 19). Späth erwähnt an
derselben Stelle, dass eine stark zurückgeschnittene 5jährige Quereus
pedunculata argenteo-marginata von ıhren 70 Terminalknospen 47 zu
Johannistrieben öffnete und dass von diesen wiederum 20 schon
am 22. Juli zur Bildung eines dritten Triebes (zweiten Johannis-
triebes) übergingen. Aber selbst die zwischen dem ersten und dem
Johannistrieb eingeschaltete, für diesen letzteren charakteristische
Ruheperiode wird nach den Beobachtungen von Späth (. e.,
S. 55—57) beı kräftigen, stark zurückgeschnittenen Eichen oder
Stockausschlägen aufgehoben.
Außer diesen Beobachtungen hat Späth aueh spezielle Ver-
suche zur Klärung des Verhältnisses des Johannistriebes zur Außen-
welt angestellt. Diese Versuche haben zunächst gezeigt, dass durch
verschiedene Mittel, wie Erniedrigung der Temperatur, starke
Bodentrockenheit, schlechte Bodenernährung, Verletzung
der Wurzeln oder mangelhafte Pfropfung die Bildung von
Johannistrieben unterdrückt werden kann. In gleicher Weise wirkt
die Beschattung. Anderseits konnte in vielen Fällen eine will-
kürliche Förderung der Johannistriebbildung erzielt werden, welche
ın der Hauptsache ın einer Abkürzung der zwischen dem ersten
und dem Johannistrieb eingeschalteten Ruheperiode bestand. So
wurde z. B. durch Erhöhung der Temperatur, gute Ernäh-
rung und Schnitt die Ruheperiode der Eiche durchschnittlich
auf 23, im günstigsten Falle sogar auf 16 Tage (anstatt 1!/, Monate)
reduziert. Die Mehrzahl dieser Pflanzen bildete zudem einen zweiten
Johannistrieb. Noch größer war die Wirkung der Dunkelkultur;
hier gelang es, „die sonst zwischen ersten und Johannistrieb ein-
geschaltete Ruheperiode völlig zu überspringen, so dass man hier
wirklich von einem kontinuierlichen Längenwachstum sprechen kann“
(Spark, l.c., 8.60).
Trotz dieser Ergebnisse kommt Späth zu dem Schluss, dass
die Johannistriebbildung von äußeren Faktoren unabhängig ist. Die
erzielten Erfolge werden als „anormale“ Zustände und somit als
belanglos bezeichnet! Man muss sich tatsächlich fragen, wozu
Späth eigentlich Versuche angestellt hat. Die Auffassung Späth’s
hat neuerdings auch Klebs (1914, S. 75—76) zurückgewiesen; er
wendet sich besonders gegen den Grundsatz, von welchem Späth
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 431
ausgeht, dass nämlich ein Entwicklungsprozess, der regelmäßig in
der Natur auftritt, „normal“ und somit von äußeren Bedingungen
unabhängig ist.
Nachdem wir heute wissen, dass sowohl die Eichen wie die
Buche das Vermögen zu ununterbrochenem Wachstum besitzen und
dass die Entscheidung über Wachstum und Ruhe den äußeren Be-
dingungen zufällt, erscheint uns die Johannistriebbildung keines-
falls unverständlich. Es liegt die Aufgabe offen, die maßgebende
Konstellation der äußeren Bedingungen und die Verkettung der
Vorgänge festzustellen, welche um Johanni die zweite Triebbildung
veranlassen. Für die Buche kann es — wie Klebs (1914, S. 77)
hervorhebt — kein Zufall sein, dass die Johannistriebbildung zur
Zeit der höchsten Lichtmenge erfolgt. Für die Eichen — bei
welchen das Licht keine unmittelbar entscheidende Rolle spielt —,
werden wohl andere Faktoren maßgebend sein. Klebs (1914,
S. 96) spricht die Vermutung aus, dass „bei Beginn des Hoch-
sommers die Blätter nicht mehr so intensiv assimilieren und daher
den Nährsalzstrom nicht mehr so stark an sich ziehen, so dass dieser
wenigstens einem Teil der Terminalknospen eine genügende Menge
zuführt, um sie zu neuem Wachstum anzutreiben.“ Wir werden
später sehen, dass für das Wachstum ein gewisses Konzentrations-
verhältnis zwischen Nährsalzen und Assimilaten, und zwar ein
relatives Überwiegen der ersteren über die letzteren maßgebend ist.
Wir müssen demnach annehnıen, dass die Johannistriebbildung nur
dann eintritt, wenn auf irgendeine Weise das besagte Verhältnis
hergestellt worden ist. Dafür sprechen die eben angeführten Be-
obachtungen über die Johannistriebbildung, wie z. B. der Umstand,
dass ganz junge oder beschnittene Individuen mehr zur Johannis-
triebbildung neigen als ältere, mit einer umfangreichen Krone ver-
sehene Eichen. In den Versuchen von Späth konnte das Über-
wiegen der Nährsalze über die Kohlensäureassimilate sowohl durch
Erhöhung der Nährsalzzufuhr (gute Düngung), wie auch durch Er-
niedrigung der Assimilation (im Dunkeln) herbeigeführt werden. In
diesem Sinne fielen auch einige orientierende Versuche aus, die ich
in diesem Sommer mit einjährigen Eichen ausführte. Diese Ver-
suche können zwar nicht als abgeschlossen betrachtet werden, sie
bieten aber jetzt schon gewisses Interesse. Ich kultivierte diese
Eichen derart, dass sie bis zur völligen Blattentfaltung im Licht
belassen wurden, um dann ins Dunkle überführt zu werden. Es
fand dann vielfach kein vollständiger Schluss der Knospen statt,
sondern die Terminalknospe bildete einen „Johannistrieb“. Die
Pflanzen wurden dann zur völligen Entfaltung der neuen Blätter
wieder ans Licht geführt, u. s.f. Die Überanhäufung der Produkte
der Assimilation wurde auf diese Weise vermieden, während die
Pflanzen durch die zeitweilige Belichtung zur normalen Entwicklung
432 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
gelangten. Die Versuche werden unter Anwendung verbesserter
Versuchsbedingungen wiederholt.
Aus dem Gesagten geht jedenfalls deutlich hervor,
dass die Periodizität der Johannistriebbildung nicht den
geringsten Anlass zu der Annahme innerer Gründe bietet.
VI. Über einige Abweichungen im Laubausbruch und
Laubfall der Holzgewächse.
In einem früheren Kapitel haben wir gesehen, dass das Ver-
halten der Holzgewächse in den Tropen ein viel mannigfaltigeres
ist als bei uns in der temperierten Zone und zwar dermaßen, dass
bei jenen ein einheitliches Bild des normalen Verhaltens kaum ent-
worfen werden kann. Wir haben nämlich gesehen, dass in den
Tropen nicht nur die verschiedenen Individuen ein und derselben Art,
sondern selbst die einzelnen Zweige ein und desselben Individuums
zur gleichen Zeit in verschiedenen Phasen der Entwicklung ange-
troffen werden können. In unseren Klimaten dagegen sind die Er-
scheinungen der Periodizität im allgemeinen sehr gleichmäßig. Hier
ıst die Wirkung des ausgesprochen periodischen Klimas derart vor-
herrschend, dass kleine lokale Schwankungen der äußeren Faktoren
und individuelle Ausgestaltungen der inneren Bedingungen kaum
zum Ausdruck kommen können. Es kommen indessen auch bei
uns einige Abweichungen im periodischen Verhalten der Holz-
gewächse vor, welche sich mit analogen Erscheinungen in den Tropen
vergleichen lassen und welche für die Frage der Periodizität von
Bedeutung sind. Im folgenden will ich einige derartige Abweichungen
behandeln.
Die Zeit des Laubausbruchs und Laubfalls ist bekamntlich je
nach dem Standort und dem Jahrgang Schwankungen unterworfen.
Diese Schwankungen, welche offenkundig mit der Außenwelt zu-
sammenhängen, sollen selbstverständlich hier nicht näher berück-
sichtigt werden. Ebensowenig bedürfen näherer Erörterung die-
jenigen Fälle, welche zwar die Bäume ein und desselben Waldbestandes
oder die Zweige ein und desselben Baumes betreffen, aber bekannter-
maßen auf äußeren Einflüssen beruhen, wie z. B. die Unterschiede
zwischen den am Waldrand und den mitten im Waldbestand stehen-
den Bäumen, zwischen den Bewohnern des Nord- und des Süd-
randes, zwischen den untersten stark beschatteten und den obersten
stark besonnten Zweigen u. dgl. m.
Vergleichen wir die einzelnen gleichaltrigen und unter dem Ein-
fluss der gleichen äußeren Bedingungen aufgewachsenen Bäume
eines Waldbestandes im Frühjahr zur Zeit der Neubelaubung oder
im Herbst zur Zeit des Blattfalls miteinander, so sehen wir, dass
sie im allgemeinen ziemlich auffällige Verschiedenheiten aufweisen;
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 433
einige Individuen ruhen z. B. zu einer Zeit, wo andere schon in
vollem Treiben sind. Die extremen Fälle früher und später Be-
laubung können nicht selten mehrere Wochen voneinander abweichen.
Ähnliche, wenn auch meist nicht dermaßen ausgeprägte Verschieden-
heiten zeigen auch die Zweige ein und desselben Baumes. Hier
suchen wir vergebens nach einem äußeren Zusammenhang dieser
Verhältnisse mit der Außenwelt. Aus diesem Grunde werden sie
allgemein auf „individuelle Veranlagung“ zurückgeführt und man
spricht von einer Individualisierung der einzelnen Zweige. Sehen
wir zunächst zu, ob diese Annahme tatsächlich unumgänglich ist
und ob die uns gleichmäßig erscheinenden äußeren Bedingungen
überall in gleichem Maße zur Geltung kommen. Erstens fällt uns
auf, dass die verschiedenen Individuen eines Waldbestandes keines-
falls in gleichem Maße kräftig gewachsen sind. Die Ursachen dieser
Ungleichmäßigkeit im Wuchs können verschiedenartig sein. Zu-
nächst können wir — unter vorläufiger Außerachtlassung der erb-
lichen Variationen und Mutationen — an Verschiedenheiten in der
Ausbildung des Samens selbst und zwar des Embryos und des
Nährgewebes denken, dann aber fällt die Art der Bewurzelung der
Pflanze entscheidend ins Gewicht. Nicht nur die oberflächliche oder
tiefe Lage des Samens bei der Aussaat oder der Grad der Be-
schädigung der Wurzeln bei der Verschulung, wie sie bei der Forst-
kultur geübt wird, ist für die Ausbildung des Wurzelsystems von
Bedeutung, sondern selbst die engere lokale Bodenbeschaffenheit.
Fällt diese engere lokale Bodenbeschaffenheit für den erwachsenen
Baum selbst weniger ins Gewicht, so ist sie für die Entwicklung
des Wurzelsystems des heranwachsenden Individuums von größter
Bedeutung. Ein Baum aber, der in seiner Jugend in der Lage
war, ein kräftiges Wurzelsystem zu entwickeln, muss — wie ich
schon früher angedeutet habe (Lakon, 1904a, S. 166— 167) — zeit-
lebens einer bevorzugten Wasser- und Nährsalzversorgung sicher
sein. Derartige Individuen sind von Anfang an im Kampfe um die
Bodenernährung von allen ihren Genossen am meisten begünstigt.
So können wir — selbst wenn wir von den in der Natur vor-
kommenden Erkrankungen, Wiıldbiss u. dgl. absehen — verstehen,
wie die einzelnen nebeneinander stehenden Individuen ungleich
kräftig entwickelt sein können. Die besser entwickelten Individuen
sind aber auch bei der Ausnützung der anderen Lebensbedingungen
im Vorteil, indem sie Raum und Licht mehr für sich in Anspruch
nehmen und die anderen Mitbewerber benachteiligen und unter-
drücken. Aber selbst wo dies letztere nicht eintritt, können schon
durch den Unterschied in der Nährsalzversorgung allein Abweichungen
im periodischen Verhalten zustande kommen.
‚Eine Ungleichmäßigkeit in der Nährsalzversorgung kann auch
bei den Zweigen ein und desselben Baumes entstehen. Mit der
XXXV. 25
434 NLakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Vergrößerung des oberirdischen Baumkörpers werden immer größere
Ansprüche an die Wasser- und Nährsalzversorgung gestellt, es ent-
steht zwischen den einzelnen Zweigen ein Konkurrenzkampf, bei
dem diejenigen Vorteile erringen können, welche eine bevorzugte
Lage nächst den Wurzeln, am Stamm oder an den kräftigsten Ästen
innehaben. Die Abweichungen im periodischen Verhalten können
also auch hier mit Verschiedenheiten in der Nährsalzversorgung
Hand in Hand gehen. Es ist Aufgabe der Zukunft, diese Verhält-
nisse aufzuklären. Die Wirkung der ungleichmäßigen Nährsalzver-
sorgung kommt bei Stockloden deutlich zum Ausdruck; letztere sind
nicht nur mit größeren und kräftigeren Blättern ausgestattet, sondern
zeigen auch deutliche Abweichungen im periodischen Verhalten, wie
wir weiter unten noch sehen werden.
Größere Unterschiede als unter gleichaltrigen Individuen treten
unter Bäumen verschiedenen Alters auf. Wie ın den Tropen, so
ist auch bei uns die Periodizität an älteren, größeren Bäumen am
schärfsten ausgeprägt, was eine Folge der mit fortschreitendem
Alter immer schwieriger sich gestaltenden Nährsalzversorgung dar-
stellt. Einige auffallende Beispiele werden wir weiter unten noch
kennen lernen.
Abgesehen von den typischen, ın ihrer Wasserversorgung be-
sonders stark begünstigten Stockloden, zeigen meist die Zweige der
Krone ein und desselben Baumes nur kleine Unterschiede im perio-
dischen Verhalten, welche zudem durch allmähliche Übergänge
lückenlos miteinander verbunden sind, so dass uns der Baum ım
allgemeinen einen harmonischen Anblick bietet. Um so größeres
Interesse beansprucht daher ein extremer Fall, den ich in den
letzten 2 Jahren zu beobachten Gelegenheit hatte und den ich hier
kurz mitteilen möchte.
Einer der zahlreichen Rosskastanıenbäume (Aesculus hippo-
castanum L.) des Stuttgarter Schlossplatzes weist einen ungefähr
2 m langen, im Durchmesser ca. 25 mm dicken Zweig auf, der ım
Frühjahr seine Knospen etwa 10—14 Tage früher öffnet als alle
übrigen Zweige desselben Baumes. Die Rosskastanien des Stutt-
garter Schlossplatzes sind ältere Bäume und zeigen unter sich
größere Verschiedenheiten im Laubausbruch. Es sind dabei sämt-
liche allmähliche Übergänge vom frühesten bis zum spätesten Laub-
ausbruch vertreten. Der fragliche Baum nımmt eine mittlere Stelle
ein. Auch bei den anderen Bäumen stimmen die einzelnen Zweige
keinesfalls vollständig miteinander überein, doch sind bei ihnen
stets sämtliche allmähliche Übergänge vorhanden, die sich in die
Harmonie des Ganzen fügen. Ganz anders dagegen bei dem
einen fraglichen Baum! Der eine Zweig hebt sich hier mangels
solcher vermittelnder Übergänge dermaßen vom übrigen Baum ab,
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von- Wachstum und Ruhe ete. 435
dass er als Merkwürdigkeit auch dem Laien auffällt'!?). Die Er-
scheinung wäre indessen für das Problem der Periodizität minder
wichtig, wenn sie nicht alljährlich wiederkehrte. Ich konnte näm-
lich die volle Übereinstimmung der Jahrgänge 1914 und 1915 fest-
stellen. Der Vorsprung war ın beiden Jahren in gleichem Maße
deutlich und betrug ca. 10—14 Tage; er betraf nicht nur den Blatt-
ausbruch, sondern auch die Blütezeit. Hier liegt eine ausge-
sprochene, sonst wohl selten vorkommende Abweichung vor, für
deren Erklärung wir auf Vermutungen angewiesen sind. Wir kennen
die Geschichte des Individuums nicht näher und ebensowenig kennen
wir die näheren Umstände der Entwicklung des abweichenden
Zweiges. Äußerlich können wir nichts mehr erkennen, was als
sicherer Anhaltspunkt für die Beurteilung seines Verhaltens dienen
könnte. Auffallend für den fraglichen Zweig ist es nur, dass er vom
ganzen Baum der einzige blütentragende Zweig ist, der ım
Schatten der Krone steht. Auch ist der Ast, aus dem er entspringt,
an seinem oberen Teil schadhaft. Es ıst wohl möglich, dass hier
ein ursächlicher Zusammenhang existiert, den wir nicht mehr nach-
weisen können. Nur das Experiment kann darüber entscheiden,
ob Eingriffe, welche vornehmlich das Verhältnis der Nährsalzver-
sorgung einzelner Zweige zu ihrer Produktion organischer Substanz
beeinflussen, Abweichungen im periodischen Verhalten zur Folge
haben können. Es wäre eine sehr dankbare Aufgabe, solche ab-
weichende Zweige künstlich zu erzielen.
Wenngleich die Entstehung derartiger Abweichungen durch
den Einfluss äußerer Faktoren zweifellos denkbar ist, so ist es
anderseits theoretisch möglich, dass in solchen Fällen Knospen-
mutationen vorliegen. Es ist meine Absicht nicht, hier das
Problem der Knospenmutation zu behandeln; ich möchte nur die
Frage erörtern, welche Bedeutung derartigen Mutationen für das
Problem der Periodizität beizumessen ıst. Liegt in unserem Falle
eine Mutation vor, so müssen wir den abweichenden Charakter des
Zweiges als eine Folge der abweichenden spezifischen Struktur auf-
fassen. In Übereinstimmung mit unserer Anschauung über das
Wesen der Periodizität, verstehe ich diese Abweichung der spezi-
fischen Struktur als eine Veränderung oder Verschiebung im Ver-
hältnis der spezifischen Struktur zur Außenwelt. Wie die verschie-
denen Arten ein verschiedenes Verhältnis zur Außenwelt besitzen,
so dass sie auf dieselben äußeren Bedingungen verschieden reagieren,
so muss auch bei einer etwaigen Knospenmutation ein ver-
ändertes Verhältnis zur Außenwelt entstehen, so dass sich
die Daten in der jährlichen Entwicklung des Mutanten keinesfalls
12) Im Frühjahr 1914 machte das „Stuttgarter Neue Tagblatt‘ seine Leser auf
diese Merkwürdigkeit aufmerksam.
28*
436 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
mit jenen der normalen Zweige decken. Von diesem Standpunkt
aus betrachtet sind also sämtliche derartige Abweichungen von dem
für die Art charakteristischen Verlauf auch für den Fall, dass sie
sich als Mutationen erweisen würden, verständlich, und stehen mit
der von uns vertretenen Auffassung von der Abhängig.
keit der Periodizität von der Außenwelt in vollem Ein-
klang. Der experimentelle Beweis, dass die besprochenen Ab-
weichungen Mutationen sind, wäre dann erbracht, wenn man beı
den Nachkommen dieser Zweige die Vererbung der neuen Eigen-
schaft feststellen könnte. Bei unserem Kastanıenbaum ist man bei
der Unmöglichkeit der Stecklingskultur auf die Samen angewiesen.
Falls der fragliche Kastanıenzweig reife Samen hervorbringen wird,
hoffe ich auch in dieser Richtung meine Beobachtungen fortsetzen zu
können !?2). Ich möchte schließlich darauf hinweisen, dass unser Fall von
der physiologischen Abweichung des Kastanienzweiges dem von Klebs
(1903, S. 157—158) erwähnten Falle der morphologischen Abweichung
an einer Weißbuche (Carpinus betulus L.) des botanischen Gartens
in Halle (ein Zweig mit geschlitzten Blättern) an die Seite zu
stellen ist.
Abweichungen von normalem periodischem Verhalten kommen
ferner bei Erkrankungen vor. Alle diejenigen Erkrankungen,
welche einen vorzeitigen Blattverlust zur unmittelbaren Folge
haben, verursachen ein Austreiben zur ungewohnten Jahreszeit, am
Ende der Vegetationsperiode. Wır haben schon früher auf die
Folgen des Hitzelaubfalls bei der Rosskastanie und anderen
Bäumen hingewiesen. Die gleiche Wirkung hat bekanntlich auch
starker Raupenfraß. Das veränderte Verhalten der Ruheknospen
ist in diesen Fällen eine Folge des Blattverlustes, denn wir wissen,
dass auch die künstliche Entblätterung dieselbe Wirkung hat. Die
unmittelbare Folge der Entblätterung ist — wie wir ım Schluss-
kapitel dieser Arbeit noch sehen werden — im wesentlichen in der
Ablenkung des Wasserstromes zu suchen. Diese Abwei-
chungen sprechen somit deutlich für die Abhängigkeit
der Periodizität von der Außenwelt.
Interessante Fälle von Abweichungen einzelner Zweige von
normalem periodischem Verhalten bilden die Hexenbesen. Die-
selben zeigen allgemein einen frühzeitigen Laubfall, welcher als eine
unmittelbare Folge der Entwicklung des parasitischen Pilzes ohne
weiteres verständlich ist. Besonders auffallend macht sich der
frühe Blattfall bei den Weißtannenhexenbesen bemerkbar,
welche im Winter kahl sind und sich somit vom übrigen benadelten
12a) Anmerkung bei der Korrektur: Der fragliche Zweig hat leider keine ein-
zige Frucht angesetzt. — Im Herbst ging er frühzeitig in den Winterzustand über;
das Vergilben und Abfallen der Blätter hatte in Vergleich zu den übrigen Zweigen
des Baumes einen Vorsprung von ca. 14 Tagen.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 437
Baum deutlich abheben '?). Bemerkenswert ist ferner die Tatsache,
dass die Hexenbesen gar nicht oder nur äußerst dürftig blühen.
So entwickeln die Hexenbesen der Kirsche im Frühjahr nur
Blätter und zwar zu einer Zeit, wo die normalen Zweige blühen '®).
Die Blätter der Erlenhexenbesen entfalten sich dagegen später als
die der normalen Zweige’). Nach Schellenberg (1915, S. 121)
treiben die Knospen der Hexenbesen der Weißtanne, der Kirsche
und der Birke im Frühjahr etwas vor den Knospen der normalen
Zweige aus. Nach diesem Autor soll die Winterruhe der Hexen-
besen dieser drei Baumarten überhaupt wenig tiefgreifend
sein; ein Vergleich zwischen geschnittenen, ins Wasser gestellten
Hexenbesen und normalen Zweigen im Warmhaus ergab, dass die
Hexenbesen viel früher austreiben als gesunde Zweige.
Scehellenberg berührt zwar kurz die Verhältnisse der ın den
Hexenbesenknospen abgelagerten Reservestofle, die Atmungstätig-
keit und Transpiration, gelangt aber zu keinen entscheidenden Re-
sultaten. Er zieht den hypothetischen Schluss (l. e., S. 126), dass,
„wenn wir annehmen, dass bei unseren Bäumen die Winterruhe eine
vererbte Eigenschaft wenigstens bis zu einem gewissen Grade ist,
so muss aus den Experimenten geschlossen werden, dass der Krank-
heitszustand des Hexenbesens diese erbliche Eigenschaft der auto-
genen Ruhe aufhebt“. Mit dieser Hypothese ist indessen nichts
gewonnen, ebenso wie mit dem von Schellenberg beliebten Ver-
fahren, alle Änderungen im periodischen Verhalten als Krankheits-
erscheinungen zu bezeichnen !%). Wir gewinnen dadurch nicht einmal
die Richtlinien zur Anstellung weiterer Untersuchungen.
13) Vgl. v. Tübeuf, Pflanzenkrankheiten. 1895, S. 105.
14) Vgl. v. Tübeuf, l.e, S. 106. — W. Smith, Untersuchung der Mor-
phologie und Anatomie der durch Exoasceen verursachten Spross- und Blattdefor-
mationen (Forstl. naturw. Zeitschr., III. Jahrg., 1894), S. 436.
15) Vgl. v. Tübeuf, 1.c., S. 178 und Smith, |. c., S. 440.
16) Schellenberg geht von der Annahme aus, dass alle Entwicklungen, die
man nach Anwendung von Frühtreibemitteln erhält. als Krankheitszustände aufzu-
fassen sind, und schließt daraus, dass sonstwie erkrankte Organe in bezug auf
ihre Periodizität ein anderes Verhalten zeigen müssen als gesunde Zweige. Es ist
gewiss richtig, dass durch Erkrankungen die periodischen Erscheinungen Verände-
rungen oder Verschiebungen erfahren können; denn durch Erkrankungen werden
vielfach die inneren Bedingungen beeinflusst, welche nach der von uns befolgten
Anschauung Klebs’ sozusagen zwischen äußeren Bedingungen und der spezifischen
Struktur vermitteln. Die Annahme aber, dass jede Einwirkung, welche die Perio-
dizität beeinflusst, Krankheitszustände hervorruft, ist entschieden irrig. Mit welchem
Recht kann man z. B. behaupten, dass eine Pflanze, welche infolge guter Ernährung
ihre Periodizität aufgegeben hat und rüstig fortwächst, krank ist? Wollte man
überhaupt in dem abweichenden Verhalten Krankheitszustände sehen, so müsste
man eher das übliche Verhalten der Pflanze, was infolge ungenügender, zu der
Produktion von organischer Substanz in Missverhältnis stehender Nährsalzversorgung
eintritt, als das krankhafte bezeichnen. Richtiger ist es aber, wenn man sich von
jeglichen Krankheitsgespenstern fernhält und beide Zustände als gesund bezeichnet.
438 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Ich will meinerseits einmal versuchen, die ganze Frage des
periodischen Verhaltens der Hexenbesen zu präzisieren. DieKnospen
der Hexenbesen unterscheiden sich von den normalen
nicht durch Verschiedenheiten in der spezifischen Struktur, sondern
durch Verschiedenheiten ın den inneren Bedingungen,
welche durch das Hinzukommen des neuen äußeren Faktors,
nämlich des schmarotzenden Pilzes veranlasst worden sind. Hier
hat also der Versuch einzusetzen, um diese Veränderungen der
inneren Bedingungen festzustellen. Hierbei haben wir auf diejenigen
Verhältnisse das Hauptaugenmerk zu richten, welche auf Grund
unserer bisherigen Erfahrungen für das Zustandekommen einer
festen Ruhe von Bedeutung sind. Die Festigkeit der Ruhe nımmt
— wie wir später noch sehen werden (S. 466) — um so mehr zu, je
größer die infolge der Anhäufung von Reservestoffen zustande-
kommende Inaktivierung der Fermente ist (Klebs, 1911, S. 47;
Lakon, 1913, S. 46). Ist bei den Hexenbesen die Winterruhe tat-
sächlich weniger tiefgreifend als bei den normalen Zweigen, so
muss bei denselben die Inaktivierung der Fermente eine
entsprechend schwächere sein. Hierzu sind folgende Möglich-
keiten vorhanden: 1. Eine Überanhäufung von Reservestoffen findet
bei den Hexenbesenknospen nicht statt. Dies ıst insofern denkbar,
als die Hexenbesen eine nur beschränkte eigene Assimilation auf-
weisen und auf die Zufuhr aus den anderen Zweigen angewiesen
sind. Dafür spricht der Umstand, dass die Hexenbesen überhaupt
nicht blühbar werden, was nach unseren heutigen Kenntnissen
darauf hindeutet, dass bei ihnen ein relatives Überwiegen der Kohle-
hydrate über die Nährsalze nicht eintritt. Die Angaben Schellen-
berg’s sprechen allerdings gegen diese Annahme. Er behauptet,
dass bei den Hexenbesen eine „auffallend starke Füllung des
Knospengrundes und zum Teil der Knospenblätter mit Reserve-
stoffen aller Art“ vorhanden sei (l. e., S. 124). 2. Die in den
Knospen vorhandenen Reservestoffe werden zu einem beträchtlichen
Teil im Laufe des Winters durch die Tätigkeit des Pilzes verbraucht.
Dafür spricht die Angabe Schellenberg’s (l. e.), nach welcher die
Hexenbesen während des Winters eine gesteigerte Atmung auf-
weisen, welche „auch einen gesteigerten Verbrauch der Kohle-
hydrate zur Folge haben muss“. 3. Die Nährsalzversorgung der
Hexenbesen ist eine bessere als die der normalen Zweige, wodurch
ein Überwiegen der Kohlehydrate ausbleibt. Schellenberg gibt
an (l.c.), dass bei den Hexenbesenknospen eine gesteigerte Tran-
spiration festzustellen ist. Trifft dies allgemein zu, so ist die Mög-
lichkeit einer besseren Nährsalzversorgung gegeben. 4. Der Pilz
Die Pflanze kann ebensowohl ruhen wie wachsen und beide Zustände
sind physiologisch; welcher Zustand jeweils verwirklicht wird, darüber ent-
scheidet die Außenwelt.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von’ Wachstum und Ruhe ete. 439
geht, sobald für ıhn günstige Wachstumstemperatur eingetreten
ist, in lebhaftes Wachstum über, wobei Fermente ausgeschieden
werden, welche die Auflösung der Reservestoffe veranlassen.
Mit den oben angegebenen sind gewiss nicht einmal alle Mög-
lichkeiten erschöpft; die weitere spezielle Untersuchung der Frage
wird auf die weiteren Möglichkeiten hinweisen. Die Entscheidung,
welche von diesen zutrifft, muss der Versuch hefern. Mir kam es
hier nur daraufan, nachzuweisen, dass auch diese Periodizitäts-
frage in der konsequenten Erkenntnis von der Abhängig-
keit der periodischen Erscheinungen von der Außenwelt
in für den Versuch greifbare Nähe gerückt werden kann.
Was ist im Gegenteil gewonnen, wenn wir den Schluss ziehen,
dass die erbliche Eigenschaft durch den Krankheitszustand aufge-
hoben wird?
Schließlich sind diejenigen Abweichungen im herbstlichen Laub-
fall einiger unserer Holzgewächse zu erwähnen, welche mit dem
Ausbleiben eines physiologischen Abstoßens, mit dem Hängen-
bleiben der abgestorbenen Blätter im Herbst und Winter
zum Ausdruck gelangen. Diese Erscheinungen habe ich an anderer
Stelle zum Gegenstand einer speziellen Behandlung gemacht (Lakon,
1914; vgl. ferner Lakon, 1915, S. 93—96); sie verdienen hier eine
nähere Berücksichtigung.
Das Hängenbleiben des vertrockneten Laubes im Winter ist am
meisten bei der Rotbuche (Fagas silvatica L.) und bei den ein-
heimischen Eichenarten (@uereus pedunculata Ehrh. und @. sessili-
flora Sm.) anzutreffen. Wie ich an der oben zitierten Stelle (1914a)
dargelegt habe, tritt die Erscheinung im vollen Umfange nur bei
jungen oder stark beschnittenen Individuen (z. B. Hecken) auf,
während bei älteren Bäumen nur die unteren, direkt aus dem
Stamme oder aus dieken Ästen entspringenden Zweige oder Stock-
ausschläge davon betroffen werden. Das gleiche gilt ferner für die
Weißbuche (Carpinus betulus L.); Weißbuchen-Hecken sind in dieser
Hinsicht neben sehr jungen Bäumchen sehr charakteristisch (vgl.
Lakon, 1915, S. 94—95). An anderen Baumarten kommt die Er-
scheinung nur ausnahmsweise an Stockausschlägen vor. Besonders
instruktiv konnte ich sie bei einer Lindenart (Tika mandschurica
Rupr. et Maxim.; vgl. Lakon, 1914a, S. 162) beobachten. In dem
Hängenbleiben des Laubes infolge des Ausbleibens des physio-
logischen Abstoßens ist zweifellos die Tendenz zu überwintern zu
erblicken. Die Blätter bleiben hängen, weil sie die für den Prozess
der Ablösung notwendige Reife und die damit verbundene Bildung
der Trennungsschicht im Herbst noch nicht erlangt haben. Sie
werden daher im Herbst in einem früheren Entwicklungsstadium
von plötzlich einsetzenden, widrigen Witterungsverhältnissen (z. B.
Frost) überrascht und getötet. Es entsteht nun die Frage, aus
440 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
welchen Ursachen die erwähnten Bäume eine Tendenz zu über-
wintern entfalten. In einer kurz vor meiner oben erwähnten Ver-
öffentlichung erschienenen Arbeit sucht W. Magnus (1913) die
Erscheinung als eine innere, erbliche Eigenschaft, als einen „phy-
siologischen Atavısmus“ zu erklären. Um die Unterschiede, welche
in bezug auf das Hängenbleiben der Blätter die verschiedenen Indı-
viduen derselben Baumart, ja die Zweige ein und desselben Baumes
aufweisen, zu erklären, nımnmt Magnus an, dass der immergrüne
Charakter bezw. die neuerworbene Periodizität bei den einzelnen
Individuen oder auch Zweigen in verschiedenem Grade ausgeprägt
sei: „Die Periodizität seı vom Stamm abgerückt und auf die Zweige
übergegangen.“ Diese Annahme eines physiologischen Atavısmus
scheint mir, wie ıch schon früher dargelegt habe (Lakon, 1914,
S. 167. und 1915, S. 9395), ahnaelnnre unhaltbar. Denn .wie
könnte man sich denken, dass eine erbliche Eigenschaft, die ihren
Sitz doch in den Zellen des Vegetationspunktes haben muss, mit
dem Alter, durch den Schnitt oder durch die Lage am Baum ver-
änderlich ıst? Das Individuum soll die neue Eigenschaft der Perio-
dızität mit fortschreitendem Alter allmählich erwerben, anderseits
aber durch starkes Zurückschneiden derselben verlustig gehen! Ge-
rade diese Tatsachen deuten darauf hin, dass die Erscheinung — wie
die Periodizität überhaupt — von der Außenwelt abhängig ist.
Eine derartige Tendenz zur Verlängerung des Lebens der Blätter
junger Individuen oder einzelner Zweige ist schon für die tropischen
Bäume bekannt. Sıe führt zu einer wirklichen Verlängerung der
Lebensdauer, da hier die äußeren Witterungsverhältnisse, die das
Absterben herbeiführen können, fehlen. V olkens (1912, 3: 108,109,
125) erwähnt, dass an der Stammbas is oder an dieken Ästen
wachsende Spros se (Wasserreiser) ein kräftigeres Wachstum
zeigen und längere Zeit am Leben erhalten bleiben, so dass sie
sich von den übrigen kahlen Ästen deutlich abheben. Ähnlich ver-
halten sich jugendliche Individuen von Teetona grandis, welche
in Ost-Java im Sommer, also ın einer Zeit, wo ältere Bäume kahl
stehen, beblättert sind. Derartige Abw eichungen wurden auch von
Klebs in den Tropen festgestellt. Er teilt mit (Klebs, 1911,
S. 50 und 1912, S. 282), dass die aus abgehauenen Baum-
stümpfen entspringenden kräftigen Sprosse von Teetona auch
zur Trockenzeit frisch beblättert sind. Er weist ferner auf die
schon früher von Wright (1905) gemachte Angabe hin, dass näm-
lich bei zahlreichen Holzarten der periodische Laubfall in Geylon
erst bei älteren Individuen eintritt. Wir haben also auch bei
den tropıschen Bäumen genau die gleichen Erschein ungen;
die Ursachen müssen EBeRralls derselben Natur sein. Es
ist die bessere Wasser- und Nährsalzversorgung, welche
bei den jungen Individuen, basalen Sprossen oder zu-
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 441
rückgeschnittenen Bäumen die Tendenz zur Verlängerung
der Lebensdauer veranlassen; die Blätter bleiben dadurch
längere Zeit hindurch jugendlich frisch. Nachdem wir in den
früheren Kapiteln gesehen haben, wie groß der Einfluss der Boden-
ernährung auf die Periodizität ist, erscheint uns dieser Zusammen-
hang leicht verständlich. Die bessere Ernährung kommt in den
erwähnten Fällen auch durch die Üppigkeit und die größeren Dimen-
sionen der Blätter zum Ausdruck. Dafür sprechen auch die Ver-
suche von Dingler (1905, S. 475), bei welchen es ıhm gelang, das
Leben der unteren Blätter von Langtrieben der Pyra-
midenpappel durch Wegnahme der oberen Blätter und
der austreibenden Knospen über die normale Dauer hin-
aus zu verlängern. Die Annahme Dingler’s (l. c., S. 475) aber
— die übrigens schon von Nördlinger!”) vertreten wird —, dass
das frühe Austreiben junger, oberflächlich wurzelnder Bäume auf
die Bodenerwärmung zurückzuführen sei, ıst zum mindesten für die
meisten Fälle (tropische Bäume, zurückgeschnittene Individuen u. a. m.)
entschieden unhaltbar'°).
Wir gelangen somit zu dem Schluss, dass die Erscheinung
des Hängenbleibens des Laubes ım Winter keinesfalls
eine ın der spezifischen Struktur der betreffenden Pflan-
zen liegende, erbliche Notwendigkeit ist, sondern dass sie
von den äußeren Bedingungen abhängt. In der spezi-
fischen Struktur der Arten liegt nur die Entscheidung,
unter welchen äußeren Bedingungen die Fähigkeit der
Blätter, über die übliche Zeit hinaus jugendlich frisch
zu bleiben, verwirklicht wird. Die äußeren Bedingungen
müssen auch hier zunächst die inneren Bedingungen beeinflussen.
17) Deutsche Forstbotanik. I. Bd. Stuttgart 1874, S. 38.
18) Die Versuche von Dingler (1905) mit geschneidelten Bäumen, aus welchen
dieser Autor den Schluss zieht, dass für den Laubfall das physiologische Alter der
Bäume maßgebend ist. sind nicht geeignet, die Frage nach den tieferen Ursachen
näher zu klären; denn es fehlen die Parallelversuche mit Trieben, welche zwar an
geschneidelten Bäumen, jedoch zur gleichen Zeit mit denjenigen normaler Bäume
entstanden sind. Es ist zu erwarten, dass die Blätter auch dieser Zweige normalen
Alters eine Verlängerung ihrer Lebensdauer aufweisen würden, wie es ja auch, wie
schon erwähnt, die zu Hecken verstümmelten Exemplare tun. Dingler hat auch
tatsächlich am Schlusse einer späteren Mitteilung (1906, S. 21—22) darauf hinge-
wiesen, dass an geschneidelten Hainbuchen die Blätter überhaupt langlebiger werden.
Er sagt: „Sehr interessant ist die Einwirkung des Schneiden und Köpfens der
Bäume auf das Verhalten des Laubes im Jahre nach dem Öperationsjahr. Es lässt
sich nämlich sehr deutlich die Wirkung des relativ vergrößerten Wurzelsystems und
der verminderten Augenzahl auf die Größe und bis zu einem gewissen Grade auch
auf die Langlebigkeit der Blätter noch im zweiten Jahre beobachten, wie ich schon
1901 für Populus fastigiata gefunden hatte. Auch Carpinus Betulus verhält sich
ähnlich, ebenso die meisten anderen Arten, mit denen experimentiert wurde.“ Das
physiologische Alter der Blätter ist eben nicht unter allen Umständen zeitlich genau
bestimmt; es hängt vielmehr von den jeweiligen Lebensbedingungen ab.
449 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
Für die Eichen, die Rot- und Weißbuche, und ın kleinerem Maß-
stabe auch für einige andere Baumarten, werden die entscheidenden
äußeren Bedingungen teilweise in der Natur verwirklicht, so dass
bei diesen Arten die Fähigkeit der Lebensverlängerung zur Ent-
faltung kommt. Es ist eine Aufgabe der Zukunft, die für das
Altern der Blätter maßgebenden äußeren Bedingungen bei den ver-
schiedenen Arten genau festzustellen. Dass es sich hier um ver-
wickelte Wechselwirkungen handelt, zeigt auch die Angabe von
Klebs (1914, S. 77), dass bei seinen Versuchen bei kontinuierlicher
Beleuchtung und relativ geringer Feuchtigkeit die Blätter der Buche
viel schneller alterten als unter natürlichen Bedingungen, so dass
mit der unperiodischen Entstehung neuer Blätter auch ein unperio-
discher Blattfall der älteren Hand ın Hand ging. Der Blattfall
wurde aber während der Entstehung der neuen Blätter auch da-
durch gefördert, dass die neu entstehenden Blätter den älteren das
Wasser fortnahmen. Es kommt also schließlich auch hier der Ein-
fluss der Wasser- und Nährsalzversorgung zur Geltung '?).
Überblicken wir die in diesem Kapitel behandelten Abwei-
chungen ım periodischen Verhalten einiger Baumarten, so kommen
wir zu dem Schluss, dass auch diese Erscheinungen mit
unserer Auffassung von der Periodizität ım vollen Ein-
klang stehen, einer Auffassung, welche auf den ın den früheren
Kapiteln besprochenen Tatsachen beruht und in einem Schluss-
kapitel noch näher dargelegt wird.
VII. Über periodische Erscheinungen überhaupt und ihre
prinzipielle Bedeutung für die Existenz einer inneren
Periodizität.
Nachdem wir im vorstehenden gesehen haben, dass die inten-
sive Beschäftigung mit einer bestimmten Pflanzenart in den meisten
Fällen schließlich doch dazu führt, die Entwicklung derselben mehr
oder weniger zu beherrschen, kommen wir immer mehr zu der
Überzeugung, dass für die Annahme von „inneren“ Ursachen kein
Grund vorliegt. Da indessen eine erschöpfende Untersuchung sämt-
licher Einzelfälle der jährlichen Periodizität keinesfalls möglich ıst,
so müssen wir uns die prinzipielle Frage vorlegen, ob die Annahme
von inneren Ursachen bei anderen periodischen Erscheinungen un-
umgänglich ist. Denn ist dies der Fall, so können wir ihre Gültig-
keit für einzelne Fälle der jährlichen Periodizität theoretisch nicht
ohne weiteres ausschließen.
Eine periodische Erscheinung, welche vor allem unser Interesse
beansprucht, ist die tägliche Periodizität des Wachstums.
19) Klebs geht zwar an der zitierten Stelle nicht weiter auf die uns in diesem
Abschnitt beschäftigende Frage ein, weist aber ebenfalls den Gedanken eines phy-
siologischen Atavismus zurück .
Lakon, Uber den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 443
Während diese Periodizität offenkundig mit dem täglichen Wechsel
in der Beleuchtung, der Temperatur und der Luftfeuchtigkeit zu-
sammenhängt, sind doch auch hier Fälle bekannt, welche einen der-
artigen direkten Zusammenhang mit äußeren Bedingungen vermissen
lassen ?°). Aber auch von diesen Fällen sind einige und zwar die-
jenigen, welche allgemein auf Nachwirkungen zurückgeführt werden,
als Folgen der Einwirkung der Außenwelt verständlich?!). Der einzige
beachtenswerte Fall, der den Anschein einer von der Außenwelt
unabhängigen Periodizität hat, ist der von Baranetzky (vgl.
Pfeffer, 1. ce, S. 256) an ım Dunkeln ausgetriebenen Rüben
(Brassica rapa) beobachtete. Doch ist auch dieser Fall keinesfalls
geeignet, die Annahme einer inneren Periodizität zu rechtfertigen.
Schon der Umstand, dass bei diesen Versuchen Baranetzky's
nicht alle Triebe der Rübe die Periodizität zeigten, erweckt starke
Bedenken; falls hier die Periodizität eine innere, erbliche, ın der
spezifischen Struktur begründete und von der Außenwelt unab-
hängige Erscheinung wäre, so musste sie stets zum Ausdruck kommen.
Die Versuche Baranetzky’s bedürfen überhaupt der Nachprüfung,
denn es fragt sich, ob bei denselben und zwar sowohl vor wie
während des Austreibens eine völlige Konstanz der Außenbedingungen,
insbesondere der Luftfeuchtigkeit tatsächlich eingehalten wurde.
Aber selbst für den Fall, dass die Befunde Baranetzky’s einwand-
frei sind, müssen wir uns die Frage vorlegen, ob bei dieser Perio-
dızität die Außenwelt unbeteiligt ist. Es ist tatsächlich nicht un-
möglich, dass auch dort, wo eim rhythmischer Wechsel der äußeren
Bedingungen fehlt, die äußeren Faktoren bei der Herstellung
der für den Vorgang nötigen inneren Bedingungen zeit-
lich vorher oder während des Vorganges selbst durch
ihre Intensität wirksam sınd. Wir werden später Fälle von
Periodizität kennen lernen, welche diese Vermutung begründen.
Der Umstand, dass bei den Versuchen Baranetzky’s nicht alle
Rübentriebe die Pertodizität zeigten, macht unsere Vermutung ge-
radezu höchst wahrscheinlich. Die Aufgabe, die Richtigkeit dieser
Hypothese zu beweisen, muss zukünftigen Versuchen überlassen
werden, welche die Kurven des täglichen Wachstums zwar bei kon-
stanten, aber ın verschiedenen Intensitäten kombinierten äußeren
Faktoren festzustellen haben.
Wenn wir unsere Kenntnisse über andere periodische Erschei-
nungen überblicken, so sehen wir, dass der ım vorstehenden er-
örterte, zuerst von Klebs (1913) näher begründete Gesichtspunkt
von der Wirkung konstant gehaltener äußerer Faktoren bestimmter
20) Bezüglich ausführlicherer Daten sei auf die Behandlung in Pfeffer, 1904,
S. 252ff. verwiesen.
21) Wir werden später näher erörtern, wie man sich derartige Nachwirkungen
vorzustellen hat.
444 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
Intensität bisher in keinem Falle berücksichtigt worden ist. Man
hat sich dagegen stets darauf beschränkt, lediglich auf die Rhythmik
bezw. Konstanz der äußeren Bedingungen das Augenmerk zu richten.
Das vorhandene Tatsachenmaterial kommt daher nur für die Ent-
scheidung der Frage ın Betracht, ob die Rhythmik der Pflanze mit
einer solchen in den äußeren Bedingungen Hand in Hand geht.
Diese Forschung ist gewiss sehr wichtig, doch für die An-
nahme einer inneren Rhythmik, welche sozusagen ein Be-
dürfnis der Pflanze darstellen soll, selbst ım günstigsten Falle nicht
entscheidend. Aus diesen Gründen will ich auf weitere rhyth-
mische Vorgänge nicht näher eingehen, zumal unsere Kenntnisse
auch bezüglich des bisher verfolgten Zieles nicht als vollständig
bezeichnet werden können. Sie sind jedenfalls nicht derart, dass
man aus denselben weitere Schlüsse für die jährliche Periodizität
ziehen könnte. Ich möchte indessen nicht unterlassen, auf einige
periodische Erscheinungen kurz hinzuweisen, welchen vornehmlich
eine prinzipielle Bedeutung zukommt und welche in der erwähnten
Richtung der näheren Untersuchung harren. Als solche ıst zunächst
die kürzlich von Karsten (1915) ın einer sehr interessanten Arbeit
behandelte Tagesperiode des embryonalen Wachstums zu
erwähnen. Karsten verfolgte an zu verschiedenen Tageszeiten
fixierten Vegetationspunkten höherer Pflanzen die Schwankungen
der Zahl der Kernteilungen, um daraus Schlüsse über die Schwan-
kungen der Intensität des embryonalen Wachstums selbst zu ziehen.
Er fand, dass, während bei den Wurzelvegetationspunkten die Gleich-
mäßigkeit der äußeren Bedingungen ein den ganzen Tag hindurch
gleichmäßiges embryonales Wachstum zur Folge hat, bei den Spross-
vegetationspunkten eine deutliche Tagesperiodizität vorhanden ist.
Diese Periodizität ist durch den Einfluss äußerer Faktoren veränder-
lich, sie wird durch den Wechsel von Tag und Nacht aufrecht er-
halten. Allein auch die Vegetationspunkte von Keimlingen, welche
bei Lichtabschluss aufgewachsen waren, wiesen eine ausgesprochene
Periodizität auf. Karsten kommt daher zu dem Schluss, dass hier
eine Vererbung der täglichen Periode des embryonalen Wachstums
vorliegt. Nach unserer Auffassung bildet auch dieser Fall keinen
zwingenden Grund zu der Annahme einer inneren, not-
wendigen Periodizität. Es liegt auch hier die Frage offen vor,
ob diese Periodizität durch den Intensitätsgrad bestimmter äußerer
Faktoren bedingt wird; es ist noch zu untersuchen, ob nicht bei einer
bestimmten Konstellation der äußeren Bedingungen das embryonale
Wachstum den ganzen Tag gleichmäßig verläuft.
Sehr beachtenswert sind ferner die Schlafbewegungen der
Blätter und Blüten”). Auf Grund seiner neuen ausgedehnten
22) Zur Orientierung über den heutigen Stand unserer Kenntnisse sei auf die
neue Darstellung von Kniep (1913) verwiesen.
Lakon, Über den rhythnischen Wechsel von ‚Wachstum und Ruhe ete. 445
Untersuchungen kommt Pfeffer (1907) zu dem Schluss, dass die
Schlafbewegungen der Blätter von der Außenwelt abhängig sind.
Allein bei späteren Versuchen konnte Pfeffer (1911) feststellen,
dass das sonst übliche Ausklingen der tagesperiodischen Schwin-
gungen der Primärblätter von Phaseolus im Dauerlicht durch lokale
Verdunklung des Blattgelenkes verhindert werden kann. Pfeffer
lässt daher seine früheren Bedenken gegen die Annahme einer
Autonomie von tagesperiodischen Schlafbewegungen fallen. Ander-
seits konnte Stoppel (1912) feststellen, dass bei völligem Licht-
abschluss in konstanter Temperatur erzogene Primärblätter von
Phaseohıs normale tagesperiodische Schwingungen ausführen. Wenn
wir die Richtigkeit dieser Versuche außer Zweifel stellen (mir scheint
die Konstanz der äußeren Bedingungen bei den Versuchen von
Stoppel nicht völlig sicher, ich vermisse z. B. jegliche Angabe
über eine Berücksichtigung der Luftfeuchtigkeit), gelangen wir zu
dem Schluss, dass die Bewegungen auch ohne gleichsinnige Ver-
änderungen der Außenwelt möglich sind. Selbst wenn man diese
Bewegungen mit dem Namen „autonom“ bezeichnen will, so bleibt
auch dann die Frage offen, ob sie selbsttätig, ohne Mitwirkung der
Außenwelt zustande kommen. Zur Beantwortung dieser Frage
musste nach unserer Auffassung das Verhalten der Blätter bei den
verschiedenen Konstellationen konstant gehaltener äußerer Faktoren
geprüft werden. Aber gerade der oben erwähnte Versuch Pfeffer's
mit der partiellen Verdunklung ist ein Beweis für die Richtigkeit
unserer Auffassung; die tagesrhythmische Bewegung wird
bei Dauerlicht nur dann aufrecht erhalten, wenn be-
stimmte Konstellationen von Außenbedingungen wirksam
sind, d.i. hier die dauernde Verdunklung des Blattgelenkes
bei Dauerbeleuchtung der übrigen Pflanze Von einer
von der Außenwelt unabhängigen, aus rein inneren
Gründen herrührenden Rhythmik kann also auch in
solchen Fällen keine Rede sein. Wie beı den Schlafbewe-
gungen der Laubblätter, so haben wir auch beim Öffnen und
Schließen der Blüten mit Bewegungen zu tun, welche nach den
vorliegenden Untersuchungen (vgl.: Stoppel, 1910; Stoppel und
Kniep, 1911) auch ohne Schwankungen der äußeren Faktoren zu-
stande kommen können. Das Verhältnis dieser Bewegungen zur
konstanten Außenwelt muss eben auch hier durch weitere Unter-
suchungen klargelegt werden.
Wir haben nun die Auffassung von der Hervorrufung rhyth-
mischer Vorgänge durch die Einwirkung konstant gehaltener äußerer
Faktoren noch an einem einfacheren Beispiel näher zu begründen.
Zu diesem Zweck wollen wir die Hexenringbildung von Pilzen
einer kurzen Betrachtung unterwerfen, und zwar unter Verwertung
der Ergebnisse von Versuchen und theoretischen Erörterungen von
446 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Ruhe und Wachstum ete.
Klebs (1913) und Munk (1912, 1914). Wenn wir auf eine nähr-
stoffhaltige Gelatineplatte einen Schimmelpilz überimpfen, so breitet
sich derselbe gleichmäßig strahlenförmig aus; er wächst zunächst
vegetativ, um dann zur reichlichen Fruktifikation überzugehen. Da
sämtliche Hyphen dies gleichzeitig tun, so entsteht ein aus Sporen
bestehender Ring. Bei der weiteren kreisförmigen Ausbreitung des
Pilzes wechseln nunmehr rein vegetatives (oder nur schwach mit
Sporenbildung untermischtes) Wachstum und reichliche Sporen-
bildung regelmäßig ab; es entstehen die sogen. Hexenringe. Die
Hexenringbildung ıst nicht das Resultat einer unbedingten inneren
Notwendigkeit des Pılzwachstums, sie hängt vielmehr mit dem Ein-
fluss äußerer Bedingungen zusammen. Dank den Untersuchungen
von Munk (1912a) sind wır über dieselben näher unterrichtet. Die
ringförmige Sporenbildung ist zunächst eine direkte Folge des rhyth-
mischen Wechsels bestimmter äußerer Bedingungen, wie Licht und
Dunkelheit, höhere und niedere Temperatur, starke und schwache
Luftbewegung, welche sämtlich dazu führen, die Transpiration ab-
wechselnd zu steigern und herabzusetzen. Auf gutem, nährstoff-
reichem Substrat und bei gleichmäßiger Regulierung der erwähnten
äußeren Faktoren, d.h. bei Ausschließung jeglicher Transpirations-
schwankung bildet der Pilz keine Hexenringe. Dieselben treten
aber auch bei gleichmäßiger Regulierung der erwähnten äußeren
Faktoren auf, wenn dem Pilz nur begrenzte Nährstoffmengen zur
Verfügung stehen, oder wenn das nährstoffreiche Substrat Alkalien
oder Glyzerin enthält. In diesen Fällen ıst ein sichtbarer Wechsel
der äußeren Bedingungen nicht vorhanden und trotzdem handelt
es sich auch hier um Einflüsse der Außenwelt, nämlich des Sub-
strates. Bei begrenzter Nahrungsmenge findet jedesmal infolge der
Sporenbildung eine Verarmung der Hyphen und des Substrates an
organischen Nährstoffen statt, was vegetatives Wachstum zur Folge
hat. Beim Vorhandensein bestimmter fremder Stoffe, wie Alkalien
und Glyzerin, haben wir es ın ähnlicher Weise mit einer wechselnden
relativen Anhäufung und Verarmung des Substrates an Stoffen zu
tun, welche den Entwicklungsgang des Pilzes beeinflussen. Eine
größere Bedeutung kommt ferner den Ausscheidungsprodukten des
Pilzes zu, sowie ihren Wechselwirkungen mit den im Substrat ent-
haltenen Stoffen. Dies tritt deutlich bei der von Munk (1912b)
näher untersuchten Koremienbildung zutage. Das koremienbildende
Penieillium variabile schreitet nur dann zur Koremienbildung, wenn
die für den Prozess maßgebenden Stoffwechselnebenprodukte (wahr-
scheinlich Alkohole) einen gewissen Grad der Anhäufung erlangt
haben. Die vom Pilz gebildete Säure wirkt dagegen ungünstig auf
die Koremienbildung ein. Die Natur der Stoffwechselprodukte des
Pilzes hängt von der Zusammensetzung des Substrates ab. Ander-
seits wird sowohl die für die Koremienbildung günstige Wirkung
l.akon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 447
der Alkohole, wie auch die ungünstige der Säure, durch fremde, im
Substrat enthaltene Stoffe beeinflusst. Säurezusatz hebt die Wir-
kung der Alkohole auf, während Zusatz von Alkalien eine Neutrali-
sierung der Säure herbeiführt und somit ermöglicht, dass die günstige
Wirkung der Alkohole voll zur Geltung gelangt. Munk (1914,
S. 637) machte einen sehr instruktiven Versuch: Er ıimpfte eine
gewöhnliche Nähragarplatte, der etwas Lackmus beigemengt war,
mit Penieillium variabile und bestrich sie nach etwa 3 Tagen am
Glasrande der Petrischale entlang mit einer Stange Ätzkalı. Es
entstanden Koremienringe, und zwar stets an der Grenze zwischen
roter und blauer Lackmusreaktion, also ın der neutralen Zone.
Wurde die Kultur ungleich stark mit der Kalıstange bestrichen, so
entstanden auf der ätzkalireicheren Seite wenigere und dichtere
Ringe als auf der kaliarmen Seite; beide Ringsysteme waren durch
Anastomosen miteinander verbunden. Ähnliche Resultate wurden
erzielt, wenn Äthylalkohol statt Alkali auf die peripherischen Regionen
der Kulturplatte gebracht wurde. In diesen Fällen sehen wir
also durch das Eingreifen eines neuen Äußeren Faktors,
nämlich des neuen Stoffes Alkali bezw. Alkohol, eine
Ringbildung entstehen und zwar dort, wo eine solche
sonst nıcht zustande kommen würde. Die Hexenringbildung
kann also auch dort, wo Licht, Temperatur, Verdunstung konstant
bleiben, erfolgen, wenn das Substrat infolge seiner Zusammen-
setzung die Bedingungen hierzu bietet. Wır können auch in
diesen Fällen nicht von einem inneren, von der Außenwelt unab-
hängigen Vorgang, einer Selbstdifferenzierung sprechen, da das
Substrat, was hier die Entscheidung bringt, ohne Zweifel zu der
Außenwelt des Pilzes gehört. Die abweichende Ansicht
Küster’s, dass nämlich in solchen Fällen die Zonenbildung auf
Selbstdifferenzierung beruht, hängt damit zusammen, dass dieser
Forscher keine strenge Trennung der Begriffe einhält; er betrachtet
den Pilz nebst Substrat als Einheit. Er sagt (1913a, S. 81), dass
in solchen Fällen die Zonenbildungen „ohne äußeren Rhythmus
lediglich durch die im System (Pilz und Substrat) begründeten
‚inneren‘ Bedingungen hervorgerufen werden können“. Die Auf-
fassung, dass der Pilz nebst Substrat als Einheit anzusehen sind,
führt auch zu einer abweichenden Vorstellung von den inneren Be-
dingungen. Die inneren Bedingungen, wovon im obigen Satz
Küster’s die Rede ist, decken sich keinesfalls mit den inneren
Bedingungen der von uns befolgten Klebs’schen Nomenklatur.
Die Ringbildung in Pilzkulturen hat Ähnlichkeiten mit Struk-
turen in leblosen kolloidalen Medien, mit den sogen. Liesegang’-
schen Zonen, worauf zuerst Munk (1912a) hingewiesen hat. Die
Analogie der Liesegang’schen Zonen mit pflanzlichen Strukturen
überhaupt hat Küster (1913) zum Gegenstand einer eingehenden
448 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
Behandlung gemacht. Es ist wichtig, diese rhythmischen Strukturen
lebloser Substanzen vom Standpunkt der Periodizität aus zu be-
trachten. Der typische Versuch zur Erhaltung Liesegang’scher
Zonen ist folgender??): In einer durch Erwärmung flüssig gemachten
Gelatinelösung wird verdünntes (etwa 0,1%) Kaliumbichromat auf-
gelöst; auf die erkaltete, erstarrte Gelatineplatte trägt man nun
einen Tropfen einer konzentrierten (etwa 30%) Lösung von Silber-
nitrat auf. Wo das Silbernitrat mit dem Kaliumbichromat in Be-
rührung kommt, wird das unlösliche, rotbraune Silberchromat aus-
gefällt. Dies ist zunächst an der Stelle der Fall, auf welche der
Silbernitrattropfen aufgetragen wurde. Das Silbernitrat verbreitet
sich nunmehr allmählich durch Diffusion zentrifugal auf der Gelatine-
platte und erreicht somit immer weitere Kaliumbichromatmengen;
die Ausfällung von Silberchromat findet aber nicht gleichmäßig
über das ganze Diffusionsfeld statt, sondern es wechseln helle silber-
chromatarme mit dunklen silberchromatreichen Ringen ab. Die
zonenweise Anhäufung des Silberchromats steht zwar mit der ent-
sprechenden Anhäufung des Kaliumbichromats m Zusammenhang,
doch sind wir über das Zustandekommen dieses letzteren Vorganges
auf Vermutungen angewiesen, die aber hier übergangen werden
können *). Uns interessiert hier nur die Tatsache, dass beim Liese-
gang’schen Phänomen ein Rhythmus eingehalten wird, der mit
keinerlei rhythmischen Abwechslungen der Außenwelt in Zusammen-
hang steht. Es hat überhaupt den Anschein, als ob sich der ganze
Vorgang unabhängig von der Außenwelt vollzöge. Küster, dem
wir wichtige Untersuchungen verdanken, sagt in der Tat (Küster,
1913a, S. 14 und 1913 b, S. 2), dass der Vorgang allein durch die
im System selbst (Gelatine + Kaliumbichromat —- Silbernitrat) liegen-
den Faktoren bedingt ist (Selbstdifferenzierung) und somit als innerer
Rhythmus bezeichnet werden kann. In diesem Zusammenhang be-
rührt Küster auch die rhythmischen Strukturen der Pflanzen und
schließlich auch die jährliche Periodizität selbst; er meint, dass
auch in diesen Fällen der Rhythmus infolge einer Selbstdifferen-
zierung zustande kommen kann. Wir haben indessen schon bei
der Besprechung der Hexenringbildung gesehen, dass diese Auf-
fassung Küster’s unhaltbar ist. Sie wurde denn auch von Klebs
(1913, S. 4—18) bekämpft. Den eingehenden Erörterungen Klebs
23) Ich möchte hier beiläufig erwähnen, dass man schöne Liesegan g’sche
Zonen auch auf natürlichen Substraten erhält, wenn man nämlich einen Apfel mittels
eines Eisenchlorid enthaltenden Kapillarröhrchens ansticht. Es findet Eisenreaktion
auf die im Apfel enthaltenen Gerbstoffe statt und es entstehen regelmäßige schwarze
Zonen. Diese Zonenbildung hat den Vorteil der leichten Herstellung ohne um-
ständliche Vorbereitungen, aber auch einen Nachteil, der ihren Wert für Demon-
strationen herabsetzt; sie tritt nämlich nur sehr langsam, meist erst nach mehreren
Stunden ein und erreicht erst nach mehreren Tagen ihre endgültige Vollendung.
24) Näheres bei Küster (1913a) und Klebs (1913).
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 449
verdanken wir nun in der Tat die Klärung der beim Liesegang’-
schen Phänomen obwaltenden Verhältnisse. Nehmen wir all die
hier beteiligten Stoffe in Übereinstimmung mit Küster als ein ein-
heitliches System an, so haben wir die Substanzen selbst, d. h. hier
die Molekularstrukturen von Kaliumbichromat, Silbernitrat und
Gelatine als die Vertreter der spezifischen Struktur aufzufassen.
Mit der spezifischen Struktur sind die Fähigkeiten, d. h. die che-
mischen und physikalischen Eigenschaften der drei Körper ver-
bunden. Der Einfluss der Außenbedingungen kommt zunächst in
der Weise zum Ausdruck, dass bestimmte innere Bedingungen,
z. B. bestimmte Konzentrationen und Zustände der beteiligten Körper
hergestellt werden. Die Art der Reaktion des Kalıumbichromats
mit dem Silbernitrat hängt aber von diesen inneren Bedingungen
ab. Durch den Einfluss der Außenwelt können die inneren Be-
dingungen, wie Konzentration der Lösungen, Festigkeit der Gelatine,
örtliche Verteilung der beteiligten Körper, derart ausgestaltet werden,
dass Abweichungen ın Form, Größe, Abstand u. s. w. der Zone
zustande kommen. Größere Eingriffe der Außenwelt können größere
Veränderungen der inneren Bedingungen veranlassen, welche ihrer-
seits dazu führen, dass statt der Zonenbildung die Verwirklichung
einer anderen Fähigkeit, z. B. die einer homogenen Ausfällung von
Silbernitrat ohne jegliche strukturelle Differenzierung, erfolgt. Beim
Liesegang’schen Phänomen ist demnach die Außenwelt in
der Weise beteiligt, dass sie zeitlich vorher die für den
Prozess notwendige Konstellation von inneren Bedin-
gungen geschaffen hat.
Wir haben bei den verhältnismäßig einfachen Fällen der Hexen-
rıngbildung und der Liesegang’schen Zonenbildung gesehen, wie
dıe Konstanz der äußeren Bedingungen eine innere, von der Außen-
welt unabhängige Periodizität vortäuschen kann. Daraus ergibt
sich, wie vorsichtig man bei der Beurteilung von periodischen Er-
scheinungen sein muss. Es ist klar, dass bei komplizierten Fällen,
wie sie bei den Organismen auftreten, die Analyse der Vorgänge
eine viel schwierigere ist; hier hat die Forschung noch vieles auf-
zuklären. Wenn unsere Kenntnisse noch nicht in allen Fällen aus-
reichen, all die Vorgänge restlos aufzuklären, so bedeutet dies
keinesfalls, dass wir zu der Annahme von inneren Gründen greifen
müssen, was mit dem völligen Verzicht auf jegliche weitere For-
schung auf diesem Gebiete gleichbedeutend wäre. Die vornehmste
Aufgabe jeder theoretischen Anschauung von der Perio-
diızität liegt aber gerade darin, zu neuen, für die weitere
Forschung bedeutungsvollen Fragestellungen zu führen.
Bei der Behandlung der periodischen Erscheinungen ist eine strenge
Trennung der Begriffe erforderlich, denn wir haben gesehen, wie
der Gebrauch eines Audruckes wie „Selbstdifferenzierung“ zu falschen
XXXV. 29
450 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
Vorstellungen führen kann. Eine Kritik der gebräuchlichen Aus-
drücke und die nähere Definition einer konsequenten Nomenklatur
werden wir ım folgenden Kapitel zum Gegenstand ausführlicher
Erörterungen machen.
VIII. Allgemeines über das Zustandekommen periodiseher
Erscheinungen. Nomenklatur.
Bei der Erforschung von periodischen Vorgängen hat man sıch
bisher lediglich auf die Feststellung beschränkt, ob die Periodizität
mit einem periodischen Wechsel der äußeren Bedingungen zu-
sammenhängt oder ob der Vorgang auch bei völliger Konstanz der
Außenwelt möglich ist. Im ersteren Falle spricht man mit Pfeffer
(1904, S. 161 u. a. O.) von aitionomen oder aitiogenen, ım
zweiten von autonomen oder autogenen Vorgängen; letztere
beruhen auf „Selbstregulation“ oder „Selbstdifferen-
zierung“. Pfeffer sagt (1904, S. 160—161): „Aufbau und Tätig-
keit sind natürlich bei einem Organısmus, ebenso wie bei einem
Mechanismus, von der Außenwelt abhängig und in beiden Fällen
muss die Tätigkeit in etwas oder auch weitgehend modifiziert
werden, wenn durch die Veränderung einer oder einiger Außen-
bedingungen einer oder einige der inneren Faktoren in irgendeiner
Weise (direkt oder indirekt) eine Verschiebung erfahren. Bei Kon-
stanz der neuen Außenbedingungen ist aber die modifizierte und
wie immer selbstregulatorisch gelenkte Tätigkeit wiederum das not-
wendige Resultat aus den nun bestehenden inneren Konstellationen.
Somit werden der Verlauf und der Ausfall der Tätigkeit immer
durch die Eigenschaften des Organismus und Mechanismus bestimmt,
oder wie man in bezug auf die Lebewesen und die Organe dieser
auch sagen kann, durch die erblich überkommenen, die inhärenten
Eigenschaften, oder was dasselbe sagt, durch die spezifische Organi-
sation, durch den spezifischen Aufbau und die hiermit wechselseitig
verknüpfte funktionelle Tätigkeit. Sofern also die Außenbedingungen
konstant bleiben, ıst der bestimmte Verlauf der Ontogenese (und
jeder anderen Tätigkeit) durch das selbstregulatorische innere Walten
und Verstellen bedingt, und zur Kennzeichnung, dass dem so ist,
dass also eine Veränderung in den Außenbedingungen nicht modi-
fizierend eingreift, kann man unbedenklich, wie es üblich ist, von
autonomem Schaffen und Walten und ın bezug auf die Leistungen,
von Eigengestaltung, Automorphose, Selbstdifferenzierung, unab-
hängige Differenzierung, Autoplasie, ferner von Autotropismus,
Autonastie u. s. w. reden, obgleich es eine von der Außenwelt (von
äußeren Faktoren) unabhängige Tätigkeit niemals gibt.“ Soweit
durch die genannten Ausdrücke eben nur die Konstanz der äußeren
Bedingungen, unter welchen der Vorgang stattfindet, hervorgehoben
werden soll, ist gegen ihre Anwendung nichts einzuwenden. Allein
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 451
es fragt sich, ob der Begriff autonom nur in diesem Sinne ange-
wendet wird. Bei der Anwendung dieses Begriffes tritt in der Tat
im allgemeinen die Bedeutung und Mitwirkung der Außenwelt voll-
ständig in den Hintergrund; der Ausdruck besitzt heute zweifellos
einen starken vitalistischen Beigeschmack. Mit dem Begriff autonom
ist jedenfalls der Begriff der erblichen, inneren Notwendigkeit
verbunden?’). Notwendig wäre eine Phase der Entwicklung nur
dann, wenn sie bei jeder Konstellation der äußeren Bedingungen,
die dem Organismus überhaupt das Leben ermöglicht, zustande
käme. Unsere Auffassung geht dagegen in Übereinstimmung mit
Klebs dahin, dass eine Entwicklungsphase nicht bloß sofern mit
der Außenwelt in Beziehung steht, als sie nur im Zusammenhang
mit der für das Leben des Organısmus notwendigen Außenwelt
denkbar ist, sondern indem sie eine von den vielen von
der spezifischen Struktur zulässigen Phasen ist, die ge-
rade infolge der Einwirkung einer bestimmten Konstel-
lation der Außenbedingungen zur Entfaltung kommt.
Wäre der Wechsel in der Entwicklung eine notwendige Folge des
normalen Entwicklungsganges, so müsste er gerade bei optimalen
Lebensbedingungen auftreten; ferner müssten die optimalen Lebens-
bedingungen der einen Phase auch für die anderen Entwicklungs-
phasen optimalen Wert besitzen. Es trifft indessen beides
nicht zu. So geht z. B. die von Klebs (1896. Vgl. ferner: Klebs,
1904; 1913, S. 19—20) näher studierte Vaucheria repens bei Kultur
unter einer konstanten, aber für das Wachstum keinesfalls opti-
malen Konstellation der Außenbedingungen auf einmal, spontan aus
dem vegetativren Wachstum zur Zoosporenbildung über, während
sie bei wirklich optimalen Ernährungsbedingungen un-
unterbrochenes lebhaftes Wachstum zeigt. Ferner ist allge-
mein bekannt, dass die Optima der verschiedenen Entwick-
lungsphasen keinesfalls zusammenfallen; wir wissen im
Gegenteil, dass darin ein ausgesprochener Gegensatz besteht. Die
für das vegetative Wachstum optimalen Außenbedingungen sind
beispielsweise für das Eintreten des Fortpflanzungsstadiums nicht
nur nicht optimal, sondern geradezu ungünstig.
Dem Wechsel in der Entwicklung geht ein Wechsel
ın den inneren Bedingungen voraus. Der Wechsel der
letzteren wird durch die Außenwelt veranlasst; dabei ist
es im Prinzip gleichgültig, ob die Außenwelt diese Ände-
rung durch einen Wechsel ihrer Bedingungen, oder durch
25) Dass die Annahme von der „Notwendigkeit“ der „autonomen“ Vorgänge
tatsächlich allgemein verbreitet ist, geht schon aus dem Umstande hervor, dass man
die Beweiskraft der in den Versuchen von Klebs erzielten Entwicklungsänderungen
mit der Begründung anzweifelt, sie seien „anormal“, „unnatürlich“ oder gar
„krankhaft“!
29*
452 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete,
den konstanten Intensitätsgrad einiger derselben herbei-
führt. Wie das zu verstehen ist, geht aus folgenden Erörterungen
deutlich hervor: Die verschiedenen Außenbedingungen haben für
die einzelnen Lebensprozesse der Pflanze eine verschiedene
Bedeutung. -Wır können in dieser Hinsicht die äußeren Be-
dingungen in bezug auf einen bestimmten Prozess in wesentliche
und unwesentliche unterscheiden. Für einen bestimmten Prozess
(z. B. die Assimilation) kann ein Außenfaktor (z. B. das Licht) der
wesentlichste sein, der für einen anderen Prozess (z. B. die Atmung)
gerade der unwesentlichste ist. Die verschiedenen Konstel-
lationen der Außenfaktoren, welche einem Organismus ein
allgemeines „Gedeihen“ gestatten, unterscheiden sich da-
durch voneinander, dass sie die einzelnen Faktoren in ver-
schiedenem Intensitätsgrad enthalten. Daraus ergibt siclhı,
dass die verschiedenen Konstellationen der Außenfaktoren auch in
verschiedenem Grade die einzelnen Prozesse beeinflussen, so dass
jeder Konstellation der Außenwelt auch eine bestimmte
Verschiebung in den inneren Bedingungen entspricht.
Den Umfang und die Bedeutung dieser Verschiebungen kann man
nur dann richtig einschätzen, wenn. man im Auge behält, dass die
verschiedenen Lebensprozesse ın bezug auf das Endresultat in zwei
Kategorien, nämlich in aufbauende und abbauende zerfallen.
Das Verhältnis der inneren Bedingungen zueinander
bleibt nur dann dauernd unverändert, wenn die Intensi-
täten der verschiedenen Prozesse in einem bestimmten
Verhältnis zueinander stehen; letzteres ıst nur dann der Fall,
wenn auch die verschiedenen äußeren Bedingungen in
einem entsprechenden, genau bestimmten Verhältnis
miteinander kombiniert sind. Eine derartige Konstellation
der Außenwelt besitzt in bezug auf die entsprechende Entwicklungs-
phase den optimalen Wert. Der Wert der einzelnen äußeren Be-
dingungen bezieht sich also nur auf die einzelnen Prozesse, nicht
auf die Entwicklungsphasen: nur die Gesamtheit der Außen-
bedingungen, d. h. ihre bestimmte Konstellation ist für
die Entwicklung des Organısmus maßgebend.
Wir kommen zu folgendem Schluss: Jede Entwicklungs-
phase wird durch ein bestimmtes Verhältnis der inneren
Bedingungen gekennzeichnet, und dieses Verhältnis muss
unverändert bleiben, falls das Fortbestehen dieser Phase
gewährleistet werden soll. Die Konstellation der Außenwelt,
welche dieses Verhältnis der inneren Bedingungen aufrecht erhält,
ist für die Phase die optimale. Die für die verschiedenen
Entwicklungsphasen eines Organismus optimalen Konstel-
lationen der Außenwelt sind voneinander verschieden.
Bei konstanter Einwirkung einer optimalen Konstellation
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 453
der Außenwelt kann ein Wechsel in der Entwicklung
nicht eintreten. Wenn ein Vorgang periodisch verläuft,
so kann dies als Beweis dafür angesehen werden, dass
hier entweder die Außenwelt Schwankungen unterworfen
ist, oder die konstante Konstellation der äußeren Be-
dingungen keinen optimalen Wert besitzt.
Die Außenwelt lenkt also in jedem Falle die Ent-
wicklung des Organismus innerhalb der von der spezi-
fischen Struktur gesteckten Grenze. Worin liegt dann aber
der tiefere physiologische Unterschied zwischen autonomer und
aitionomer Periodizität? Denn, dass ein Baum in den Tropen
— angenommen bei völlig konstanten äußeren Bedingungen —
periodisch wächst, ist nach unserer Auffassung nur ein Beweis
dafür, dass diese Konstellation der Außenwelt keine optimale ist.
Bei Herstellung der optimalen Konstellation muss auch diese Art
kontinuierlich wachsen können. Anderseits muss es möglich sein,
auch Arten, die keine „autonome“ Periodizität aufweisen, durch
eine bestimmte, selbst konstante, aber ungünstige Konstellation der
Außenbedingungen zum periodischen Wachstum zu veranlassen.
Das wesentliche unserer Auffassung besteht darin, dass der Über-
tritt eines Organismus von einer Phase in eine andere
nicht als eine innere „Notwendigkeit“ angesehen wird;
die Wendung in der Entwicklung entspricht vielmehr
der Fähigkeit des Organismus, in dieser Weise auf die
bestimmt geartete Außenwelt zu reagieren. Das, was ın
der Natur vorkommt, ist ein spezieller Fall, dem in rein
physiologischer Hinsicht keine Sonderstellung zukommt.
Wenn eine Pflanzenart in einem speziellen Falle periodisch, eine
andere unperiodisch wächst, so ist diesem Unterschiede im Prinzip
keine weittragende physiologische Bedeutung beizumessen, da
beide Arten in anderen Fällen sowohl periodisch wie unperiodisch
wachsen können.
Bei der Beurteilung eines Vorganges vom Standpunkt der bis-
herigen Nomenklatur wird der Fehler begangen, dass dem Vor-
gange je nach dem äußeren Schein ein anderer Maßstab
angelegt wird. Bei der Betrachtung eines „autonomen“ Vor-
ganges wird man durch den äußeren Schein dazu verleitet, das
Hauptgewicht auf die spezifische Struktur zu legen, während
bei „aitionomen“ Vorgängen in entsprechender Weise die Auf-
merksamkeit auf die Außenwelt gelenkt wird. Physio-
logische Begriffe dürfen aber nicht die Schale, sondern
sollen den Kern treffen. In Wirklichkeit ist in beiden Fällen
sowohl die spezifische Struktur wie auch die Außenwelt ın gleichem
Maße beteiligt.
454 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Wir gelangen somit in Übereinstimmung mit Klebs (vgl. 1904,
S. 291) zu dem Schluss, dass die Begriffe „autonom, autogen,
aitionom, aitiogen“, sowie die mit diesen zusammenhängenden
„Selbstdifferenzierung, Selbstregulation“ u. dgl. zu verwerfen
sind. Munk (1914) kommt auf Grund seiner beachtenswerten Er-
örterungen zu demselben Schluss und schlägt vor, für die Unter-
scheidung der periodischen Vorgänge, die mit einem Rhythmus der
Außenwelt in Zusammenhang stehen, von solchen, die bei konstanter
Außenwelt verlaufen, die Begriffe primärer und sekundärer
Rhythmus einzuführen. Diese Begriffe sind in der Tat einwandfrei,
da sie das, worauf es hier ankommt, bezeichnen und keinen An-
haltspunkt zu Missverständnissen bieten.
Aus der obigen Darstellung geht deutlich hervor, dass beı
den periodischen Erscheinungen den inneren Bedin-
gungen eine bedeutungsvolle Rolle zufällt. Dieselben sınd
nach der Definition Klebs’ (vgl. Kap. Il) anders ausgestaltet als
das, was man bisher darunter oder unter Innenwelt der Pflanze
verstand. Die inneren Bedingungen sind stets getrennt
von dem Begriff der erblichen spezifischen Struktur zu
verstehen; ihr Hauptmerkmal: ist die Veränderlichkeit.
Da wir von den inneren Bedingungen gegenwärtig nur äußerst
mangelhafte Kenntnisse besitzen, so ist auch der genaue Nachweis
ihrer Veränderungen während der Entwicklung des Organismus un-
möglich. Darin liegt die Schwierigkeit für das Verständnis be-
sonders derjenigen Fälle, welche den äußeren Schein einer „Auto-
nomie* bieten.
Um uns ein Bild von den inneren Veränderungen, welche bei
der Entwicklung der Organismen stattfinden, zu verschaffen, müssen
wir uns gegenwärtig darauf beschränken, Hypothesen aufzustellen,
die geeignet sind, brauchbare Richtlinien für die weitere Erforschung
der inneren Bedingungen zu liefern. Wir sind hier bei der Be-
trachtung von Lebensprozessen stets vom Kausalprinzip ausgegangen
und haben nur chemische und physikalische Gesetze als maßgebend
anerkannt. Wir können uns auch tatsächlich nur unter Berück-
sichtigung der Gesetze dieser Wissenszweige, insbesondere unter
Anlehnung an die Forschungsergebnisse der physikalischen Chemie,
eine brauchbare Vorstellung von den Veränderungen der inneren
Bedingungen des sich entwickelnden Organismus machen.
In der bisherigen Darstellung haben wir in Übereinstimmung
mit Klebs den Standpunkt eingenommen, dass es sich bei der Be-
einflussung der Entwicklung der Organismen durch die Außenwelt
um Änderungen in dem Verhältnis der äußeren Bedin-
gungen zueinander, d. h. um quantitative Veränderungen
der Außenwelt handelt. In der Tat sprechen alle bisherigen
Erfahrungen, insbesondere die ausgedehnten, planmäßig durch-
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 455
geführten Untersuchungen Klebs’ zugunsten dieser Auffassung. In
Anbetracht dieser Tatsache hat Klebs die Hypothese aufgestellt,
dass auch die Veränderungen der inneren Bedingungen
zunächst in Verschiebungen in ihrem quantitativen Ver-
hältnis, und zwar vielfach in Änderungen der Konzen-
trationsverhältnisse bestehen. Von dieser Hypothese haben
wir schon vorhin stillschweigend Gebrauch gemacht.
Die Hypothese von Klebs, dass für die Entwicklungsvorgänge
in erster Linie Änderungen der Konzentrationsverhältnisse inner-
halb der Zellen maßgebend sind, ist geeignet, uns ein annäherndes
Bild von der Natur der inneren Vorgänge zu verschaffen. Schon
früher hat Klebs (1904, S. 489) darauf hingewiesen, dass es bei
der heutigen Sachlage berechtigt erscheint, „sich den neueren For-
schungen der physikalischen Chemie über das bewegliche oder
dynamische Gleichgewicht anzuschließen, dessen Bedeutung für die
Lebensvorgänge von E. Du Bois Reymond, Ostwald, van’t
Hoff hervorgehoben worden ist“. Seine früheren eingehenden Er-
örterungen fasst Klebs’ in einer neueren Arbeit (1913, S. 41)
folgendermaßen zusammen: „Wenn wir die lebende Zelle mit van't
Hoff als ein dynamisches Gleichgewichtssystem auffassen, so müssen
nach dem Massenwirkungsgesetz von Guldberg und Waage die
chemischen Umsetzungen zwischen zwei oder zahlreicheren Kör-
pern, wie sie in den Zellen sich vorfinden, von den beteiligten
Massen, d. h. ihren Konzentrationen, abhängig sein. Von größter
Bedeutung ist die Tatsache, dass durch Konzentrationsverhältnisse
die Richtung der chemischen Prozesse bestimmt werden kann, da
das gleiche Ferment sowohl Spaltungen als auch, bei einer gewissen
Konzentration des Spaltungsproduktes, Synthesen hervorrufen kann.
So liegt der Gedanke nahe, dass ın dem lebenden System der
Zelle, wo beständig Änderungen der Konzentrationen erfolgen,
Änderungen der Konzentrationsverhältnisse der ver-
schiedenartigen Substanzen für die Entwicklungsvorgänge vielfach
entscheidend sind.“ Zur Kennzeichnung des Wertes seiner Hypo-
these fügt Klebs (1904, S. 500) hinzu: „Ich hebe sie* (d. h. die
Konzentrationsverhältnisse) „hervor, nicht um damit zu sagen, sie
seien die allein wesentlichen, sondern um an ihnen anschaulich zu
machen, wie ein solches Verhältnis durch Steigerung oder Ein-
schränkung der Nahrungsaufnahme, des Lichtes, des Sauerstoffs,
der Temperatur geändert werden kann, wie anderseits durch Ände-
rungen dieses Verhältnisses Intensität und Richtung der chemischen
Prozesse verändert werden, die dann Änderungen der Imbibition,
des osmotischen Druckes, der Oberflächenspannung u. s. f. bewirken. *
Die Hypothese Klebs’ verdient beim Studium von periodischen
Vorgängen die größte Beachtung. Gerade für das Verständnis des
Wechsels von Wachstum und Ruhe ist die Berücksichtigung
456 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
der Umkehrbarkeit der durch Fermente beschleunigten
Prozesse bedeutungsvoll.
In diesem Abschnitt habe ich versucht, die allgemeine Grund-.
lage meines die ganze Arbeit beherrschenden Standpunktes darzu-
legen. Meine Darstellung macht keinen Anspruch darauf, die Vor-
gänge restlos aufzuklären; sie verfolgt vielmehr den Zweck, diejenigen
Punkte hervorzuheben, welche für die Beurteilung von periodischen
Erscheinungen von fundamentaler Bedeutung sind. Meine An-
schauung beruht in Übereinstimmung mit Klebs auf der Erkenntnis,
dass es die Außenwelt ist, welche in jedem Falle darüber
entscheidet, welche von den vielen in der spezifischen
Struktur des pflanzlichen Organısmus schlummernden
Fähigkeiten zur Entfaltungkommt. Klebs sagt (1904, S. 298):
„In der spezifischen Struktur der Pflanzen, in der alle sichtbaren
Eigenschaften der Potenz nach vorhanden sind, liegt nichts, was
einen bestimmten Entwicklungsgang notwendig verursacht. In letzter
Hinsicht entscheidet die Außenwelt darüber, welche von den ver-
schiedenen möglichen Entwicklungsformen verwirklicht wird.“
Zum Schluss möchte ich noch darauf hinweisen, dass die von
verschiedenen Seiten immer wieder erfolgende Bekämpfung der
eben dargelegten, von Klebs von jeher vertretenen Ansicht von
der Bedeutung der Außenwelt, in den meisten Fällen auf Missver-
ständnis beruht. Man begegnet nämlich vielfach dem direkten oder
indirekten Vorwurf, als wenn Klebs alle Vorgänge allein durch die
äußeren Bedingungen und unter völliger Außerachtlassung des
Organismus selbst erklären wollte?°). Für denjenigen, der die
inhalts- und gedankenreichen Arbeiten Klebs’ genau liest, muss es
rätselhaft erscheinen, wie man einem solehen Missverständnis zum
Opfer fallen kann. Denn Klebs hat stets hervorgehoben, dass die
Entwicklung und Formung des Organismus unter der Mitwirkung
der Außenwelt sich vollzieht. Die Fähigkeiten sind in der spezi-
fischen Struktur festgelegt, allein sie können nicht von selbst, sozu-
sagen durch den „Willen“ des Organismus selbst zur Entfaltung
gelangen; diese Entscheidung und nur diese fällt der Außenwelt
zu. Die Anschauung Klebs’ wird in den meisten Fällen dadurch
26) Hierher gehören auch die vielfach unternommenen Versuche, einen Mittel-
weg zwischen den Anschauungen Klebs’ und Schimper’s anzubahnen. In einer
Arbeit über die Wasserökonomie der in der Trockenzeit kahl stehenden tropischen
Bäume sagt Kamerling (1913, S. 332): „Am wahrscheinlichsten scheint es mir
allerdings, dass, was die periodischen Erscheinungen in der tropischen Flora betrifft,
die Wahrheit in der Mitte liegt zwischen der von Schimper verteidigten Auf-
fassung einer von äußeren Einflüssen unabhängigen Periodizität und der von Klebs
vertretenen Anschauung, dass die periodischen Erscheinungen in den Tropen aus-
schließlich dureh die Periodizität des Klimas bestimmt sein sollen.“ Auch die Er-
örterungen Simon’s (1914) am Ende seiner Arbeit (S. 154) bedeuten einen ähnlichen
Versuch. Vgl. hierzu die Ausführungen von Munk, 1914, S. 632.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 457
missverstanden, dass man entweder die inneren Bedingungen mit
der spezifischen Struktur verwechselt oder vollständig übersieht,
dass nach der Auffassung Klebs’ die äußeren Bedingungen nicht
direkt die spezifische Struktur, sondern zunächst die inneren Be-
dingungen beeinflussen.
IX. Zustandekommen und Natur der jährlichen Periodizität.
Theoretische Betrachtungen und Schlussfolgerungen.
Die in den früheren Kapiteln erörterten Erfahrungen und Ver-
suche führen uns zu dem Schluss, dass die in einem rhyth-
mischen Wechsel von Wachstum und Ruhe bestehende
jährliche Periodizität keine notwendige, in der spezi-
fischen Struktur der Pflanze begründete und von dieser
unter allen Umständen vorgeschriebene Erscheinung ist.
Das zeitweise Aussetzen des Wachstums, die Ruhe, ıst vielmehr
eine Folge der Einwirkung einer bestimmt gearteten
Außenwelt: Die Pflanze hat die Fähigkeit sowohl zu
wachsen, wie auch zu ruhen; welches von beiden jeweils
eintritt, darüber entscheidet nicht die Pflanze selbst, sondern
die Außenwelt. Wir haben in der Tat gesehen, dass es schon
in zahlreichen Fällen in der Hand des Versuchsanstellers liegt,
Wachstum oder Ruhe herbeizuführen. Wir wollen jetzt an der
Hand eines typischen Beispieles die Verhältnisse näher betrachten.
Als solches Beispiel kann die in der Natur typisch periodisch
wachsende Buche dienen, welche in bezug auf ıhr Verhältnis zur
Außenwelt dank den Untersuchungen von Klebs (1914) am besten
bekannt ist.
Durch die Versuche von Klebs wurde festgestellt, dass das
Austreiben der Buche in erster Linie vom Lichtfaktor, und zwar
von der Lichtmenge (Intensität X Dauer) abhängt. Durch kon-
tinuierliche elektrische Beleuchtung konnten die Ruheknospen der
Buche zu jeder Zeit zum Austreiben veranlasst werden. Bei ge-
eigneter Kultur im elektrischen Lichtraum folgt dem Austreiben
nicht die sonst in der Natur auftretende Bildung von Ruheknospen,
welche durch geringes, mit der Knospenschuppenbildung verknüpftes
Wachstum gekennzeichnet ist; die Vegetationspunkte gehen
vielmehr ohne Unterbrechung zur Bildung neuer Laub-
blätter über. Daraus ergibt sich die Haltlosigkeit der
von verschiedenen Seiten verteidigten Annahme, dass
die für viele Pflanzenarten charakteristische .stoßweise
Blattentfaltung eine Arteigentümlichkeit sei, welche
schlechthin das Vorhandensein einer notwendigen
inneren Periodizität beweise””). Das, was die spezifische
27) So sagt z.B. Simon (1914, S. 182): „Die Annahme, dass der geschilderte
Vegetationsrhythmus auf irgendwelche äußere Faktoren zurückzuführen ist, würde
458 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Struktur der verschiedenen Arten kennzeichnet, ist das
verschiedene Verhältnis zur Außenwelt. Die Buche findet
eben in der Natur diejenige Kombination der Außen-
faktoren vor, welche eine stoßweise Entwicklung not-
wendig herbeiführt. Besonders lehrreich ist der Umstand, dass
bei den Versuchen Klebs’ die einzelnen Triebe der Buche
kein gleichmäßiges Verhalten zeigten, sondern sämtliche
Übergänge vom Granscı nn bis zum typisch
periodischen Wachstum aufwiesen. Diese Verschiedenheiten
kommen durch die besondere Lage der einzelnen Zweige am Baum
zustande; je nach der Lage ıst auch der Ernährungszustand, der
Lichtgenuss sowie der Zufluss von aufgespeicherten Nährstoffen,
von Wasser und Nährsalzen ein verschiedener. Klebs unterscheidet
drei Haupttypen: 1. Langanhaltendes ununterbrochenes Wachstum.
2. Periodisches Wachstum ohne ausgesprochene Ruheperiode, wobei
keine typischen Ruheknospen, sondern neue Laubblattanlagen ge-
bildet werden, welche bei unmittelbar folgender Streckung zu einem
zweiten Schub (zweite Treibperiode) sich entwickeln. 3. Periodisches
Wachstum mit typischer Ruheknospenbildung; die Ruheperiode ist
aber auch hier von kurzer Dauer. Durch die Kultur im Lichtraum
gelang es somit Klebs, an ein und demselben Individuum
genau dieselben Haupttypen der Entwicklung zu erzielen,
die in der Natur bei einheimischen und tropischen Baum-
arten überhaupt vorkommen. Die einzelnen Formen des
Treibens und der Knospenbildung sind also keine Art-
charaktere in dem Sinne, dass sie für die betreffenden Arten die
einzig möglichen sind; der Artcharakter besteht nur darin, dass
unter bestimmten äußeren Bedingungen bei der einen Art diese,
bei den anderen jene Form des be bezw. der Knospenbildung
verwirklicht wird.
Für die Beurteilung der bei der Buche obwaltenden Verhält-
nisse ist ein tieferer Einblick in die Natur der Lichtwirkung bei
dieser Baumart erforderlich. Klebs gelang es zwar nicht, dieselbe
Aeiehzähe die Voraussetzung in sich schließen, dass die Pflanzen die Fähigkeit
besitzen, unter normalen Bedingungen dauernd zu wachsen. Eine Betrachtung der
Örganisationsverhältnisse der Sprosse der meisten tropischen Baumarten zeigt aber,
dass dies offenbar nicht der Fall ist. Denn die Mehrzahl der Bäume besitzt sogen.
begrenzte Knospen und nur eine verhältnismäßig kleine Zahl von Arten hat unbe-
grenzte Knospen. Diese Tatsache bringt es mit sich, dass die ersteren Arten von
vornherein nicht kontinuierlich, sondern, wie dies Volkens’ so eingehend dargelegt
hat, schubweise treiben.“ Wir sehen also auch hier, dass zur Beurteilung von
periodischen Erscheinungen die bloße Betrachtung der Organisationsverhältnisse nicht
genügt, denn es fehlt eben der Beweis, dass diese Organisationsverhältnisse unter
allen Umständen von der spezifischen Struktur unzertrennlich sind. Nur der Ver-
such kann sicheren Aufschluss geben. Wir haben übrigens schon früher (S. 426, 427)
gesehen, dass die typische stoßweise Blattbildung aufweisenden T’heobroma und
Sterculia bei geeigneter Kultur zur sukzessiven Blattbildung übergehen.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 459
mit Sicherheit festzustellen, aus seinen Versuchen geht aber hervor,
dass es sich hierbei nicht um photokatalytische Vorgänge
handeln kann. Die Beobachtungen und Versuche von Klebs
sprechen eher dafür, dass die Wirkung des Lichtes in der Kohlen-
säureassimilation liegt; dabei ist aber nicht an die Kohle-
hydrate, sondern an die allerersten Produkte der Assımi-
lation, namentlich die Aldehyde zu denken, welche für die
Synthese höherer Stickstoffverbindungen von Bedeutung sind. Diese
Hypothese findet eine Stütze ın dem Ergebnis der chemischen
Analyse, welche für die Knospen der Buche eine auffallend geringe
Menge von löslichen organischen Stickstoffverbindungen ergab. Ander-
seits konnte durch die Gasanalyse festgestellt werden, dass unter
den Bedingungen des elektrischen Lichtraums die Ausscheidung von
Kohlensäure durch die Atmung stärker ist als die Bildung von ihr
durch die Assimilation. Die für das Wachstum der Buche günstige
Wirkung des elektrischen Liehtraumes ist demnach ın zwei Rich-
tungen zu suchen. Erstens ermöglicht die ständige Belichtung die
Bildung gewisser Substanzen (wahrscheinlich Eiweißstoffe), welche
für das Wachstum unentbehrlich sind: die Bildung dieser Stoffe
ist bei der Buche vom Licht abhängig. Zweitens lässt die Inten-
sıität des Lichtes im elektrischen Raum eine nur geringe assimila-
torische Tätigkeit zu, so dass eine Anhäufung von organischer
Substanz über das für das Wachstum günstige Maß nicht
eintritt. Aus den bisherigen Erfahrungen geht unzweifelhaft her-
vor, dass für das Wachstum eın bestimmtes Konzen-
trationsverhältnis zwischen organischer Substanz und
Nährsalzen maßgebend ist; letztere müssen die Oberhand über
die Assimilate behalten. Die Kohlenstoffassimilate werden bei einem
Baum außer durch die assımilatorische Tätigkeit im Jacht, auch
seitens der aufgespeicherten Vorräte geliefert. Die Umstände, welche
einen Buchentrieb zur Ruhe zwingen, können daher (vgl. Klebs,
1914, S. 68—69) folgende sein: 1. Eine zu geringe, für die Bildung
der oben besprochenen wachstumsfördernden Substanzen unge-
nügende Lichtmenge, trotz des Vorhandenseins des für das Wachs-
tum günstigen Konzentrationsverhältnisses zwischen organischer
Substanz und Nährsalzen. Dieser Fall tritt ein, wenn eine treibende
Buche im Winter aus dem elektrischen Raum in das Gewächshaus
bei Tageslicht überführt wird. 2. Eine absolut ungenügende Nähr-
salzzufuhr bei genügender Lichtmenge und reichlicher Assimilation.
Dieser Fall tritt ein, wenn z. B. eine Buche längere Zeit hindurch
in einem kleinen Topf kultiviert wird. 3. Eine zwar an sich reich-
liche, aber im Verhältnis zu der sehr intensiven Kohlen-
säureassimilation doch noch zu geringe Nährsalzzufuhr.
Dieser Fall tritt in der Natur stets ein, wenn die Buche ım Mai
nach dem ersten 'Treiben trotz günstiger Bodenverhältnisse sofort
460 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
zur Bildung von Ruheknospen übergeht. Klebs erblickt hierin
mit Recht eine Folge der zu intensiven Assimilation. Die
durch die Wurzeln aufgenommenen Nährsalze werden von den neu-
entstandenen Blättern und von dem in Tätigkeit getretenen Kam-
bıum dermaßen in Anspruch genommen, dass sie im Verhältnis zu
der reichlichen Assimilation in ungenügenden Mengen zu den Vege-
tationspunkten zuströmen; das für das Wachstum notwendige
Konzentrationsverhältnis zwischen Assımilaten und
Nährsalzen wird nicht hergestellt, das Wachstum wird
unmöglich gemacht. Wenn die Auffassung richtig ist, so müsste
jede Herabsetzung der Assimilation neues Wachstum zur Folge
haben. Eine Verdunklung ist bei der Buche nicht anwendbar, da
dann der erste Hemmungsfall eintritt. Die Herabsetzung der Assi-
milation kann aber dadurch erreicht werden, dass die Pflanzen
einer verminderten Lichtintensität ausgesetzt werden. Das ist
nun tatsächlich ım elektrischen Lichtraum der Fall, wo,
wie wir oben gesehen haben, die Assimilation geringer ist als die
Atmung, so dass ein wachstumshemmender Überschuss von
Assımilaten nicht eintritt. -Anderseits altern die Blätter bei
der beständigen Inanspruchnahme im elektrischen Lichtraum schneller
und fallen frühzeitig ab, so dass dadurch auch größere Mengen von
Nährsalzen verfügbar werden. Auf diese Weise wird das für das
Wachstum günstige Verhältnis zwischen Nährsalzen und Assimi-
laten hergestellt. Noch leichter und gründlicher wird dieses
Verhältnis durch Entblätterung herbeigeführt, wobei die Assımi-
lation völlig ausscheidet und die älteren Blätter als
Nährsalzverbraucher ganz ın Wegfall kommen. Wir haben
ja ın der Tat schon gesehen, dass die Entblätterung im Sommer
stets erneutes Treiben veranlasst (vgl.S.419). 4. Mangel an Assımilaten
bei ungenügender Assıimilation trotz großer Liehtmenge. Dieser Fall
tritt z. B. schließlich im elektrischen Lichtraum ein, wenn nach
langanhaltender Kultur die Reservestoffvorräte er-
schöpft werden, da hier der Verbrauch von organischer Substanz
durch die Atmung größer ist als die Erzeugung durch die Assi-
milatıon.
Diese Resultate der Klebs’schen Untersuchungen verschaffen
uns völliges Verständnis für das Verhalten der Buche. Eın unbe-
srenztes kontinuierliches Wachstum wird also beı der
Buche möglich sein, sobald es gelingt, die Intensität des
Lichtes im elektrischen Raum so weit zu erhöhen, dass
die Bildung von organischer Substanz durch die Assımi-
lation den Verbrauch durch die Atmung um so vieles
übertrifft, als es gerade für das Wachstum bei mangeln-
den Reservestoffvorräten erforderlich ıst. Anderseits muss
an den schon erwähnten Umstand erinnert werden, dass nämlich
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 461
in einem konstant gehaltenen Raum keinesfalls sämtliche Vege-
tationspunkte eines Baumes in gleicher Weise im Genuss der äußeren
Faktoren sich befinden. Die Belichtung der mitten in der Krone
befindlichen Vegetationspunkte ist schwächer als die der Peripherie;
die Lage am Baum ist außerdem auch für die Nährsalzversorgung
nicht gleichgültig. Daraus entstehen Verschiedenheiten, welche mit
der Vergrößerung des Umfanges des Baumes immer mehr verstärkt
werden, Die verschiedenen Triebe müssen schließlich — ähnlich
wie bei den Tropenbäumen — ein abweichendes Verhalten zeigen,
was auch tatsächlich bei den Versuchen von Klebs vielfach der
Fall war. Das periodische Verhalten der Buche in der
Natur, wo nicht nur die Temperatur, sondern vor allem
auch die Lichtmenge größere Veränderungen aufweist,
erscheint uns Jetzt durchaus verständlich°°).
Aber noch ein weiterer Punkt in dem periodischen Verhalten
der Buche bedarf der Aufklärung. Bisher haben wir nur die Frage
behandelt, welche Momente für die Unterdrückung des Wachstums,
für den Eintritt der Ruhe maßgebend sind. Jetzt wollen wir unsere
Aufmerksamkeit der Frage zuwenden, warum die einmal ausge-
bildeten Ruheknospen auch nach Herstellung günstiger äußerer Be-
dingungen nur schwer und langsam aus dem Ruhezustand zu bringen
sind. Wir haben ‚zwar schon gelegentlich von Hemmungen ge-
sprochen, welche die Ruheorgane kennzeichnen, doch sind wir nicht
näher auf die Natur und das Zustandekommen dieser inneren Hem-
mungen eingegangen. Dieser Frage kommt die größte Bedeutung
zu, da gerade diese Beharrlichkeit der Ruhe einen der wichtigsten
Charaktere der typisch periodischen Organe darstellt.
Ein Baum, der ın den Ruhezustand übergeht, kann zunächst
noch leicht zum erneuten Wachstum veranlasst werden; wir wissen
auch tatsächlich, dass die Bäume ın diesem Stadium, im Sommer
bis Herbst, schon durch einfache Entblätterung zum neuen Treiben
zu bringen sind. Sind aber die Ruheknospen einmal vollständig
ausgebildet, so ist auch der Ruhezustand derart befestigt, dass nur
schwierig und unter Anwendung gewaltsamer Mittel Wachstum
hervorgerufen werden kann. Später werden die inneren Hemmungen
allmählich beseitigt und die Treibfähigkeit der Knospen nimmt zu.
Diese drei Phasen hat Johannsen als Vorruhe (abnehmende
Treibfähigkeit), Mittelruhe (fehlende Treibfähigkeit) und Nach-
ruhe (zunehmende Treibfähigkeit) bezeichnet?®). Das Vorhanden-
28) Eine nähere Darstellung des natürlichen Verhaltens der Buche bei Klebs,
1914, S. 75 (wiedergegeben bei Lakon, 1915, S. 90).
29) Vgl. Johannsen: „Ruheperioden“ (im Handwörterb. d. Naturw. VIII,
S. 514—519), S. 518. — Bei dieser Gelegenheit sei darauf hingewiesen, dass die
Darstellung Johannsen’s an der zitierten Stelle kein klares, einheitliches Bild von
den die Ruhezustände betreffenden Fragen liefert. Einige der darin ausgesprochenen
462 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
sein der Mittelrube ım Sinne Johannsen’s, d. h. als fehlende
Treibfähigkeit, hat Klebs in Zweifel gezogen (1914, S. 39); ich
stimme darin Klebs völlig bei. Es handelt sich wohl um grad-
weise Unterschiede in den vorhandenen Hemmungen, die allmäh-
lich bis zu einem Maximalwert zunehmen, um dann allmählich ab-
zunehmen. Schon die Versuche mit meinem Nährsalzverfahren
(Lakon, 1912) haben doch ergeben, dass von einer fehlenden Treib-
fähigkeit während der Mittelruhe keine Rede sein kann. Klebs
(1914) hat gezeigt, dass selbst die die schwersten Hemmungen
zeigende Buche das ganze Jahr hindurch treibfähig ist. Nur die
Dauer der Belichtung, welche für das Austreiben der Buche not-
wendig ist, ist zu den verschiedenen Jahreszeiten, je nach den vor-
handenen Hemmungen, verschieden. Klebs (1914, S. 38) konnte
folgende Verhältnisse feststellen:
Die für das Austreiben der Buchenknospen notwendige Be-
leuchtungsdauer betrug
Anfang September 10 Tage,
Ende September 23
Pr] ’
inde Oktober 33 ap
Im November 38—36 „
Ende Dezember 26 ak
Mitte Februar 14
Ende Februar 10 Fa
Anfang März te) Ark
Wir sehen also, dass die verschiedenen Ruhephasen nur durch
den Umfang der vorhandenen Hemmungen gekennzeichnet sind.
Wenn wir uns nunmehr fragen, welcher Natur diese Hemmungen
sind, so können wir zunächst feststellen, dass sie unter den Be-
griff der „inneren Bedingungen“ fallen. Anstatt „innere
Hemmungen können wir also noch besser „für das Wachstum
ungünstige innere Bedingungen“ sagen. Die Natur derselben
kennen wir nicht näher; wir sind vielmehr auf hypothetische Vor-
stellungen angewiesen, die indessen heute auf einer reellen Grund-
lage beruhen und für die weitere Forschung eine nicht zu unter-
schätzende Bedeutung besitzen. Wir haben schon früher gesehen,
dass die Untersuchungen von Klebs die Annahme wahrscheinlich
machen, dass die für die Entwicklung bedeutsamen Veränderungen
der inneren Bedingungen ın Veränderungen der Konzentrations-
verhältnisse innerhalb der Zellen bestehen. Anderseits haben wir
schon angenommen, dass für den Eintritt der Ruhe bei der Buche
Ansichten scheinen mir sehr angreifbar. Das gilt insbesondere von dem „die Ur-
sachen der Ruhe‘ behandelnden Abschnitt. Das wenige, was über die Samenruhe
gesagt wird, ist nicht glücklich gewählt. Bezüglich der Keimung der Samen von
Fraxinus excelsior, die in dem Artikel berührt wird, scheint Johannsen meine
Untersuchungen (Lakon, Zur Anatomie und Keimungsphysiologie der Eschensamen.
Naturw. Zeitschr. f. Forst- u. Landw. IX, 1911, S. 285--298) nicht zu kennen.
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 463
das Konzentrationsverhältnis zwischen Kohlenstoffassimilaten und
Nährsalzen maßgebend ist. Klebs hat nun die Hypothese aufge-
stellt, dass diese Überanhäufung von organischer Sub-
stanz in den Knospen, eine Inaktivierung der Fermente
zur Folge haben kann, so dass die nachträgliche Überführung
dieser Reservestoffe in gebrauchsfähigen Zustand bei Herstellung
günstiger äußerer Bedingungen nur langsam möglich ist. Klebs
hat seine Hypothese folgendermaßen formuliert (1911, S. 47): „Eine
relativ feste Ruheperiode tritt ein, wenn durch Verminderung eines
oder mehrerer wesentlicher Faktoren, Temperatur, Feuchtigkeit,
Nährsalzgehalt, die Wachstumstätigkeit allmählich eingeschränkt
wird und bei anfangs noch fortdauernder Assimilationstätigkeit die
Speicherung organischen Materials die Fermente imaktıv macht.“
Da die Anhäufung organischer Substanz ın den Ruheknospen tat-
sächlich stattfindet, anderseits die Inaktivierung von Fermenten in-
folge der Anhäufung der Produkte ıhrer Tätigkeit eine allgemeine
Erscheinung ist, so ist die Hypothese wohl begründet, wenn auch
der Nachweis fehlt, dass die beiden Vorgänge hier ın dem besagten
Zusammenhang stehen. Die beste Stütze dieser Hypothese besteht
aber in der Tatsache, dass dieselbe alle mit der Periodizität in Zu-
sammenhang stehenden Erscheinungen zu erklären vermag.
Wenn wir von der besonderen Wirkung des Lichtes bei der
Bildung wachstumsfördernder Substanzen bei der Buche absehen’°"),
so haben wir im allgemeinen bei den Pflanzen eine gleichsinnige
Beeinflussung der Entwicklung durch die ın der Natur in verschie-
dener Intensität anzutreffenden äußeren Faktoren, nämlich die
Temperatur, das Licht, den Wassergehalt der Luft und
Ulfe:
des Bodens, und den Nährsalzgehalt des letzteren. Diese
Faktoren beeinflussen jeder für sich ın verschiedenem Grade das
Wachstum und die wichtigen Lebensprozesse, wie die Atmung, die
Assımilation, die Transpiration. Die Bedeutung des Lichtes als
Hauptbedingung der Assımilation ist zwar bisher stets gewürdigt
worden, doch hat man nicht daran gedacht, dass auch eine zu
lebhafte Assımılation unter Umständen zu Ruhezustän-
den führen kann. Aus dem bisher besprochenen geht aber her-
vor, dass es sich hierbei nıcht um die absolute Menge der
Kohlensäureassimilate, sondern um das Verhältnis der-
selben zu den verfügbaren Nährsalzen handelt. Daraus
geht hervor, welch große Bedeutung für die Entscheidung über
Wachstum und Ruhe den Nährsalzen zukommt. Diese Bedeutung
der Nährsalze wurde zuerst von Goebel (1893, S. 359—361) bei
30) Die Versuche von Klebs (1914b, S. 91—95) mit Quercus pedunculata,
Fraxinus excelsior, Carpinus betulus ergaben, dass bei den beiden erstgenannten
Arten das Licht keine besondere Wirkung ausübt. Nur bei der Hainbuche konnten
Anzeichen einer solchen Wirkung beobachtet werden.
464 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc.
Wasserpflanzen erkannt und experimentell nachgewiesen. Goebel,
der ın seinen bekannten Werken die Abhängigkeit der Entwick-
lung der Pflanze von der Außenwelt stets betont hat, weist an der
zitierten Stelle nach, dass die Bildung der Winterknospen bei
Myriophyllum vertieillatum vom Nährsalzgehalt des Kulturwassers
abhängt. Die Pflanze geht bei Kultur in einem Gefäß ohne Erde
stets zur Bildung von Winterknospen über und zwar auch zu einer
Jahreszeit, in welcher sie bei Kultur mit Erde keinerlei Anstalten
zur Winterknospenbildung macht. Goebel fasst die Resultate
seiner Versuche treffend in einem Satze zusammen, der zugleich
den richtigen Gesichtspunkt für die Beurteilung periodischer Er-
scheinungen abgibt; er sagt (l. c., S. 360): „Man kann also durch
Hungern Myriophyllum zu jeder Jahreszeit zur Winterknospen-
bildung bringen, es ist dies die Form, ın welcher die Pflanze
auf ungünstige äußere Faktoren reagiert.“ Dass aber für
die Bildung von Überwinterungsorganen die assimilatorische Tätig-
keit notwendig ist, d.h. dass das „Hungern“ nur die anorganische
Nahrung betrifft, geht aus folgender Angabe Goebel’s (l. c., S. 361)
hervor: „Andererseits haben Pflanzen, die an stark beschatteten
Standorten wachsen, eine zu geschwächte Assımilationstätigkeit, um
die — normal mit Stärke vollgepfropften — Winterknospen bilden
zu können. Sıe gehen dann durch die Kälte zugrunde, entweder
alle oder die überwiegende Mehrzahl derselben. Es sind also zweierlei
Vorgänge bei der Überwinterung unserer Wasserpflanzen zu unter-
scheiden, einfache Hemmung der Entwicklung und Ausbildung be-
sonderer Überwinterungsprozesse.“ Beachtenswert ist, dass die
durch Nährsalzmangel künstlich erzeugten Winterknospen ebenso
wie die in der Natur gebildeten eine Ruheperiode aufweisen, die
auch nach Herstellung günstiger Wachstumsbedingungen nicht zu
beseitigen ist (Goebel, ]l.c., S. 360), was mit unseren Erfahrungen
über die Ausgestaltung der inneren Bedingungen bei ausgebildeten
Überwinterungsorganen in vollem Einklang steht. Für die Bäume
hat zuerst Berthold (1904, S. 242) die Vermutung ausgesprochen,
dass „der Mangel an Salzen ın erster Linie entscheidend ıst für
das Aufhören des Wachstums an der Spitze“. Aber erst Klebs
(1911) war es vorbehalten, die Wirkung der Nährsalze bei tropischen
Pflanzen näher darzulegen. Durch meine Versuche (Lakon, 1912)
wurde dann das Ergebnis der Klebs’schen Untersuchungen be-
stätigt und seine Gültigkeit für die einheimischen Pflanzen bewiesen.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass allgemein bei den Pflanzen
das Verhältnis der Assimilate zu den Nährsalzen in bezug
auf Wachstum oder Ruhe entscheidend sein kann. Das
für das Wachstum günstige Konzentrationsverhältnis muss für jede
Pflanzenart ein bestimmtes sein. Eine Verschiebung in diesem
Konzentrationsverhältnis, welche das Aufhören des Wachstums zur
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 465
Folge hat, kann auf zweifache Weise herbeigeführt werden, näm-
lich entweder durch die einseitige Erhöhung der Assimilate oder
durch die einseitige Erniedrigung der Nährsalze. Wir können daher
sehr gut verstehen, dass sowohl Erhöhung der assımila-
torıschen Tätigkeit durch intensive Belichtung, wie Er-
schöpfung des Nährsalzgehaltes des Bodens dieses Miss-
verhältnis und somit den Ruhezustand herbeiführen kann.
Anderseits ist es klar, dass die Verminderung der Lichtintensität
nicht unter ein Minimum sinken darf, falls Wachstum herbeigeführt
werden soll, denn auch dort, wo keine besondere Wirkung des
Lichts vorliegt, ıst auf die Dauer und nach Erschöpfung der Reserve-
stoffe für die Bildung der für das Wachstum notwendigen orga-
nischen Baumaterialien eine gewisse assimilatorische Tätigkeit Vor-
bedingung (vgl. das über Albixxia gesagte, S. 426). Sehr bemerkens-
wert ist ın diesem Zusammenhang die schon erwähnte (S. 428) Tat-
sache, dass das Verhältnis einer Pflanze zu der gleichen
Lichtmenge je nach der Nährsalzzufuhr sichändern kann.
Wenn wir uns jetzt fragen, welche Umstände die Nährsalz-
zufuhr beeinflussen, so können wir feststellen, dass hierbei -— ab-
gesehen von den Veränderungen des Bodens, seiner Erschöpfung
durch die Tätigkeit der betreffenden Pflanze selbst oder ihrer Kon-
kurrenten — auch andere Prozesse von Einfluss sein können, wie
z. B. die Transpiration, welche ihrerseits von der Temperatur, vom
Licht, von der Luftfeuchtigkeit und von der Luftbewegung abhängt.
Der Nährsalzgenuss eines bestimmten Vegetationspunktes hängt
aber anderseits ab von dem Verbrauch der Nährsalze an anderen
Stellen des Pflanzenkörpers, nämlich an den übrigen Vegetations-
punkten oder am Kambium; d.h. er wird durch die Konkurrenz
mit anderen Verbrauchszentren reguliert.
Die Anhäufung von Assimilaten hängt ebenso nicht nur von
der Intensität der Assimilation ab (unveränderter CO,-Gehalt der
Luft vorausgesetzt), sondern auch von der Höhe des Verbrauchs,
besonders von der Intensität der Atmung, die gleichfalls ihrerseits
von den Außenbedingungen beeinflusst wird, wie z. B. durch die
Temperatur, den Wassergehalt u. s. w. Die genaue Verkettung
aller dieser Einzelprozesse kann man kaum in jedem Einzelfall ver-
folgen, allein das Resultat, d. h. das Konzentrationsverhältnis der
Assımilate zu den Nährsalzen können wir auf Grund von Versuchen
doch ungefähr einschätzen. Denn, wenn die verschiedenen Ver-
suchspflanzen Klebs’ je nach der willkürlich regulierten Nährsalz-
menge zum Wachstum oder zur Ruhe gebracht werden, so muss
eben die Nährsalzmenge den Ausschlag gegeben haben°'). So sahen
31) Die Bedeutung der Nährsalze für die Periodizität ist durch die neueren
Versuche von Klebs vollständig sichergestellt. Eine Zurückweisung der Einwände
von Jost bei Lakon, 1913, S. 47, Anm., und Klebs, 1915, S. 789ff.
XXXV. 30
466 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
wir (S. 427), dass Sterculia macrophylla in einem Topf mit be-
grenzter Erdmenge im Laufe der Jahre immer längere Ruheperioden
aufwies. Püthecolobium Saman (S. 427) konnte durch künstliche
Regulierung der Nährsalze jederzeit willkürlich zum Wachstum oder
zur Ruhe überführt werden. Der Lichtfaktor und demnach auch
die Intensität der Assimilation blieb dabei unverändert.
Die Festigkeit der Ruhe der typischen Ruheorgane haben wir
vorhin nach der Hypothese von Klebs mit einer infolge der An-
häufung der Assimilate eintretenden Inaktivierung der Fermente in
Zusammenhang gebracht. Es ist klar, dass diese Festigkeit
desto größer ist, je länger die Bedingungen, welche die
Anhäufung verursachen, eingewirkt haben. Nachdem die
Anhäufung der Assimilate durch das Aufhören der Assimilation
— und zwar entweder infolge ungenügenden Lichtgenusses, oder
durch das Eingreifen anderer, den Prozess beeinträchtigender Fak-
toren (z. B. zu niedrige Temperatur), oder durch das Absterben
bezw. Abfallen der Blätter bezw. den Verlust ihrer assimilatorischen
Fähigkeit — beendigt wırd, verfügen die Ruheorgane nur über
Stoffe in nicht oder nur schwer diffusionsfähiger Form, so dass die
einfache Herstellung günstiger Wachstumsbedingungen keinesfalls
sofortiges Austreiben herbeiführen kann. Auf diese Weise ver-
stehen wir, warum bei schon ausgebildeten Ruheknospen oder
sonstigen Ruheorganen die Ruhe schwer zu beseitigen ist. Während
der Ruheperiode, wo die Atmungsprozesse und sonstige innere Um-
wandlungen weiter gehen, findet eine allmähliche Aktivierung der
Fermente statt, welche die Überführung der Reservestoffe in die
gebrauchsfähige Form ermöglichen. Deswegen ıst bei der „Nach-
ruhe“ ähnlich wie bei der „Vorruhe“ das Austreiben leichter als
während der „Mittelruhe“. Während der „Mittelruhe“ ist für das
Austreiben eine künstliche Erhöhung der fermentativen Tätigkeit
notwendig. Darin können wir in Übereinstimmung mit Klebs
(1911, S. 47) die Wirkung der verschiedenen Frühtreibever-
fahren erblicken. Sie wirken katalytisch, d.h. sie beschleu-
nigen den Prozess, der sonst nur langsam vor sich geht.
Diese Verhältnisse haben nicht nur für die Ruheknospen, sondern
auch für die übrigen pflanzlichen Ruheorgane Gültigkeit. Wir haben
in der Tat gesehen (S. 415), dass nach Klebs die Ruheperiode der
Kartoffel erst mit fortschreitender Reife eintritt, also erst wenn
eine Überanhäufung von Assimilaten stattgefunden hat. Unreife
Kartoffeln sind in der Lage, sofort auszukeimen. Ein besonders lehr-
reiches Beispiel liefern die von Klebs (1913, S. 33) untersuchten
Knollen von Orepis bulbosa. Diese Pflanze, welche auf den trockenen
Kalkhügeln Südfrankreichs lebt, verbringt die heiße Sommerzeit im
Ruhezustand, in Form von Knollen. Bei der Kultur im Garten auf
feuchtem, nährsalzreichem Boden wächst die Pflanze den ganzen
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete. 46X
Sommer hindurch üppig fort unter Bildung unterirdischer Rhizome.
In Buitenzorg wuchs die Pflanze ebenso während der Wintermonate
ungestört weiter. Aber auch in unserem Winter gelang es Klebs
bei geeigneter Kultur im Gewächshaus unter öfterer Erneuerung
der Erde die Pflanze zu fortdauerndem Wachstum in Form von
Rhizomen ohne jegliche Knollenbildung zu veranlassen. Die Knollen-
bildung tritt aber zu jeder Zeit ein, sobald man die Pflanze in einen
nährsalzarmen Sandboden versetzt oder ın einem kleinen Topf mit
begrenzter Erdmenge kultiviert. Auch Trockenheit des Bodens hat
die gleiche Wirkung durch Verminderung der Nährsalzaufnahme.
Die Bildung der Ruheorgane, der Knollen, trittalso auch
hier ein, sobald durch Einschränkung der Nährsalzzufuhr
bei fortschreitender Assımilation eine Anhäufung von
Assımilaten (im vorliegenden Falle von Inulin) stattfindet. Mit
der Zunahme der Konzentration des Inulins in den in der Bildung
begriffenen Knollen, nimmt auch die Festigkeit der Ruhe der letz-
teren zu, so dass dıe Konstellation der äußeren Bedingungen, welche
die unreifen Knollen zum Auskeimen veranlasst, bei den vollständig
ausgebildeten, reifen Knollen als unwirksam sich erweist. — Aber
auch bei Samen haben wir es vielfach mit analogen Erscheinungen
zu tun. Während bei den meisten Samenarten ein sofortiges Aus-
keimen möglich ist, zeigen einige Arten eine deutliche Ruheperiode,
welche durch die Erscheinung des Keimverzuges zutage tritt. Durch
die „Nachreife* tritt vielfach eine allmähliche Aufhebung des Keim-
verzuges ein. Aber auch während der Zeit, in welcher der Same
die Erscheinung des Keimverzuges zeigt, ist die Keimung durch
Anwendung bestimmter äußerer Bedingungen in vielen Fällen er-
zwungen worden. Viele der Mittel, die sich in diesem Sinne als
wirksam erwiesen haben, wie gesteigerte Temperatur oder Frost,
Austrocknen, Licht, Nährsalzlösungen, erhöhte Sauerstoffpressung,
Säuren, Enzyme, üben auch auf die Ruheknospen eine triebfördernde
Wirkung aus. Es handelt sich hierbei um katalytische
Wirkungen, welche die Abvorgänge fördern?)
Überblicken wir all die besprochenen Tatsachen und daran an-
geknüpften theoretischen Erwägungen, so gelangen wir zu dem
Schluss, dass die von uns befolgte Anschauung Klebs’ ein einheit-
liches Bild von den bei der jährlichen Periodizität obwaltenden
Verhältnissen zu liefern vermag.
Sämtliche Einzelerscheinungen der Periodizität, die wir in den
früheren Kapiteln eingehend behandelt haben, erscheinen uns im
großen und ganzen durchaus verständlich, wenngleich viele Punkte
der weiteren Aufklärung bedürfen. Die „inneren Gründe“, diese
geheimnisvollen Kräfte, welche doch nur ein kümmerliches Über-
32) Näheres darüber mit ausführlichen Literaturangaben bei Lakon (1914b).
30*
468 Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe ete.
bleibsel vitalistischer Betrachtungsweise darstellen, verschwinden.
Neue Bahnen werden der Forschung gewiesen. Wir brauchen uns
jedenfalls heute nicht wie frühere Forscher darüber zu wundern,
dass auch bei tropischen Pflanzen periodische Erscheinungen auf-
treten, dass dort vielfach die einzelnen Zweige ein und desselben
Baumes Verschiedenheiten aufweisen oder dass jüngere Individuen
anders sich verhalten als ältere. Die Nährsalzversorgung der ver-
schiedenen Vegetationspunkte eines älteren, mit einer umfangreichen
Krone versehenen Baumes, gestaltet sich viel schwieriger und un-
gleichmäßiger als die eines jungen, kleinen Individuums.
Nachdem wir oben gesehen haben, dass für das kontinuierliche
Wachstum ein bestimmtes, optimales Verhältnis der Außenfaktoren
notwendig ist, erscheint uns das periodische Verhalten tropischer
Pflanzen keinesfalls unverständlich. Da selbst kleine quantitative
Änderungen in der Zusammensetzung der Außenwelt das Wachs-
tum beeinflussen können, so müssen wir auch geringeren Schwan-
kungen eine gewisse Bedeutung beimessen. Abgesehen vom Boden-
faktor, der bisher gar nicht berücksichtigt worden ist, sind auch
die anderen Lebensbedingungen in den Tropen gewissen Schwan-
kungen unterworfen. Simon hat, wie wır schon früher gesehen
haben (S. 422), hervorgehoben, dass in Buitenzorg weder die Größe
der Niederschläge, noch die Beleuchtung über das ganze Jahr gleich-
mäßig verteilt sind. Diese Schwankungen können schon deswegen
besonders wirksam sein, weil sie vereint wirken; die intensivste
Insolation fällt mit der Trockenperiode zusammen. Das muss so-
wohl das Wachstum selbst wie auch die Anhäufung von Assımilaten
beeinflussen. Klebs (1915, 5. 785) hat schon die Frage aufgeworfen,
„ob nicht in den Tropen, z. B. ın Buitenzorg, zu gewissen Zeiten
auch die C-Assimilation mancher Baumarten zu intensiv
werden kann, so dass diese wie unsere Buchen deshalb
eine Zeitlang ruhen müssen“. Diese Frage lässt sich heute
nicht beantworten. Da aber, wie aus den schon besprochenen Ver-
suchen von Klebs hervorgeht, die tropischen Pflanzen die Fähig-
keit zu ununterbrochenem Wachstum besitzen, so.müssen wir den
Schluss ziehen, dass die betreffenden Pflanzen keinesfalls
im Genuss einer optimalen Kombination der Außenbedin-
gungen sich befinden. Hierbei ist es im Prinzip gleichgültig,
ob dieses Verhältnis das ganze Jahr hindurch besteht oder Schwan-
kungen unterworfen ist. Denn wie wir früher hervorgehoben haben,
schließt die Konstanz der Außenwelt keineswegs das
Zustandekommen einer Periodizität aus, wenn eben diese
Kombination keine optimale ist. Wir können geradezu sagen, dass
die Außenwelt ın bezug auf das Wachstum einer be-
stimmten Pflanzenart nur dann optimal ist, wenn sie
keinerlei Hemmungen und demnach auch keine Ruhe
Lakon, Über den rhythmischen Wechsel von Wachstum und Ruhe etc. 469
herbeiführt. Ich möchte den Satz aufstellen, dass die ersten
Anfänge der Speicherung von organischer Substanz das
erste Zeichen der Wachstumshemmungen und demnach
auch der Disharmonie zwischen der Pflanze und ihrer
Außenwelt darstellen. Bei optimalen Wachstumsbedingungen
müssen die von der Pflanze aufgenommenen Nährstoffe restlos
verkonsumiert werden. Die Disharmonie zwischen der Pflanze
und der Außenwelt bezieht sich aber nicht auf das Gesamtleben
der Pflanze, sondern nur auf das vegetative Wachstum,
welches mit den Prozessen der Nahrungsaufnahme nicht gleichen
Schritt halten kann. Konstellationen der Außenwelt, welche da-
gegen sämtliche Prozesse unmöglich machen oder das Wachstum
an sich fördern, aber die Nahrungsaufnahme sistieren, haben schließ-
lich im Gegensatz dazu den Tod zur Folge.
Wenn wir bei einer bestimmten Art den Ursachen der Periodizität
nachgehen wollen, so müssen wir diese Art einer genauen Prüfung unter-
werfen, um ihr Verhältnis zur Außenwelt festzustellen, wie es Klebs
in seinen vorbildlichen Untersuchungen mit der Buche getan hat. Die
an einzelnen Arten gewonnenen Resultate können wir allgemein dazu
verwenden, um uns dem Verständnis des natürlichen Verhaltens
der Pflanzen überhaupt näher zu bringen. Das Problem der Perio-
dizität ist aber zu sehr mit den gegenwärtig nur unvollkommen
ergründeten innersten Vorgängen des Pflanzenlebens verknüpft, als
dass es mit einem Schlage im vollen Umfange gelöst werden kann.
Wir sind aber heute im Besitz der unerschütterlichen
Basis des Zukunftsgebäudes; sie besteht in der Erkennt-
nis, dass die Periodizität, wie die Entwicklung der
Pflanze überhaupt nur unter der Mitwirkung der Außen-
welt zustande kommen kann.
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472 Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische.
Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes
der Fische.
Von diplom. Tierarzt Ludwig Reisinger,
Assistent an der Tierärztlichen Hochschule in Wien.
Obwohl zahlreiche Versuche zur Erforschung der Funktionen
des Kleinhirns, als dem statischen Zentralorgan der Säugetiere,
unternommen wurden, so fand sich außer Steiner kein Forscher,
der das Thema bei den Fischen einer experimentellen Untersuchung
wert gefunden hätte. Und doch liegt es nahe, dass gerade diese
Wirbeltiere in ihrem labilen Bewegungsmedium einer besonderen
nervösen Regulierung ihres Gleichgewichtes bedürfen. Um zu ent-
scheiden, welche Teile des Zentralnervensystems der Fische an der
Gleichgewichtserhaltung beteiligt sind, ist die Exstirpation be-
stimmter Hirnpartien notwendig, wie sie bereits Steiner ausführte,
welcher jedoch fand, dass die Resektion des Kleinhirns im Gegen-
satz zu den Säugetieren bei Fischen symptomlos verläuft, eine Be-
hauptung, der man nicht ohne weiteres beistimmen kann, wie aus
den folgenden Versuchen zu ersehen sein wird.
Ich benützte zu meinen Untersuchungen ungefähr 10--15 em
lange Barsche, welche Fische sich ihrer Widerstandskraft wegen
besonders für erheblichere Eingriffe eignen. Einem Exemplar wurde
mittels einer krummen Schere die Schädeldecke abgetragen und
das Kleinhirn freigelegt, welches als unpaares, kugeliges Gebilde,
hinter dem paaren Mittelhirn liegend, sofort zu erkennen ist. Das
Kleinhirn wurde sodann mit der Pinzette abgetragen, wobei die
Blutung nur gering war. In den Behälter verbracht, ließen sich
neben erhöhter Reflexerregbarkeit sofort Ausfallserscheinungen fest-
stellen. Auffallend sind die nach abwärts verdrehten Augen, sowie
die große Unruhe des Fisches. Verhält er sich ruhig, so schwimmt
er vorerst auf der Seite, sucht dann die normale Lage einzunehmen,
schwankt jedoch bei der Fortbewegung bald nach Iinks oder rechts,
welche Gleichgewichtsstörung bei schnellem Schwimmen deutlicher
hervortritt. Manchmal dreht sich der Fisch sogar um seine Längs-
achse, wie es ein später operiertes Exemplar beim Schwimmen
kontinuierlich tat. Später nahm der Fisch in der Ruhe eine seit-
lich geneigte Stellung ein. Die beobachteten Störungen sind nicht
auf die Wunde zurückzuführen, da der Fisch versuchsweise nach
Eröffnung des Schädels ın den Behälter gesetzt wurde, woselbst er
ın normaler Weise schwamm. Erst nach Entfernung des Kleinhirns
traten die beschriebenen Störungen in Erscheinung. Besonders
charakteristisch für den kleinhirnlosen Fisch ist die bereits erwähnte
Unruhe; während der normale Kontrolifisch auf einer Stelle ver-
harrt und nur von Zeit zu Zeit dieselbe wechselt, ist das Versuchs-
tier nahezu immer in Bewegung. Dieses Verhalten steht ım auf-
Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische. 473
fallenden Gegensatz zu dem der kleinhirnlosen Säuger, welche
— nach den Ausführungen Munk’s!) — längere Zeit nach der
Operation jegliche Bewegung zu vermeiden trachten. Das gegen-
sätzliche Verhalten der Fische dürfte seinen Grund in deren labilen
Bewegungsmedium haben. Während die Säuger, festen Boden unter
sich habend, in Ruhe verharren können, ıst der kleinhirnlose Fisch
gezwungen, Bewegungen zu machen, um in annähernd normaler Stel-
lung verharren zu können.
Um zu kontrollieren, ob auch Verletzung oder Exstirpation
anderer Hirnpartien die gleichen Symptome verursacht, wurde bei
einem zweiten Exemplar das Vorderhirn entfernt. Trotz dieses
Eingriffes schwamm der Fisch ohne irgendwelche Gleichgewichts-
störung zu zeigen. Hierauf wurde das Mittelhirn abgetragen, was
zur Folge hatte, dass der im Wasser befindliche Fisch auf der
rechten Seite liegen blieb, den Körper ebenfalls nach rechts ver-
krümmt. Die Augen wurden, im Gegensatz zu den Beobachtungen
an kleinhirnlosen Fischen, nicht verdreht. Nachdem sich das Tier
von dem Eingriff erholt hatte, schwamm es anfangs auf der rechten
Seite, später dauernd mit nach abwärts gekehrtem Rücken, wobei
wieder die Unruhe besonders auffällig war. Der bei den normalen
Fischen prompt reagierende Farbenwechsel war anfangs sistiert, da
die dunklen Querbinden auch dann nicht verschwanden, wenn der
Fischbehälter auf hellen Grund gestellt wurde. Der Fisch lebte
noch 2 Tage nach der Exstirpation des Vorder- und Mittelhirns.
Einem dritten Exemplar wurde nur die linke Hälfte des Mittel-
hirns entfernt. In den Behälter verbracht, schwamm der Fisch
anfangs auf der Seite oder dem Rücken, wie das Exemplar, dem
das ganze Mittelhirn entfernt wurde. Nach einiger Zeit stellte sich
der Versuchsfisch, dem nur die linke Hälfte des Mesencephalons
fehlte, senkrecht mit dem Kopf nach aufwärts, welche Stellung er
während der Ruhe immer beibehielt. Beim Schwimmen nahm er
eine schräge Haltung ein, ohne bei der Fortbewegung auf die Seite
zu fallen. Am nächsten Tag lag der Fisch meistens auf der Seite,
beim Schwimmen nahm er jedoch die schräge Stellung wieder eın.
Nach Entfernung der zweiten Hälfte des Mittelhirns schwamm
dieses Exemplar, so wie das vorhin angeführte, mit dem Rücken
nach abwärts, stand jedoch im Gegensatz zu jenem bald nach dem
zweiten Eingriff um. Sehr ausgeprägte Ausfallserscheinungen zeigte
das vierte Exemplar, dem wieder das Kleinhirn entfernt wurde.
Während der Ruhe lag der Fisch auf der Seite, bot also in diesem
Zustand keinen wesentlichen Unterschied im Vergleich mit den vor
ihm beobachteten Tieren. Bei der Fortbewegung suchte er die nor-
1) Munk, Über die Funktionen des Kleinhirns. Sitzungsber. d. Kgl. Preuß.
Akad. d. Wissenschaften, 1906.
474 Reisinger, Die zentrale Lokalisation des Gleichgewichtssinnes der Fische.
male Lage einzunehmen, wobei er kontinuierlich rotierende Be-
wegungen nach links um die Längsachse des Körpers ausführte.
Diese Art der Bewegung war so konstant, dass sie auch am zweiten
Tag nach der Operation noch vorhanden war. Um die Folgen der
gleichzeitigen Exstirpation des Kleinhirns und des Mittelhirns zu
studieren, wurde dem kleinhirnlosen Fisch noch das ganze Mesen-
cephalon entfernt. Nach diesem Eingriff schwamm der Fisch — so
wie die anderen des Mittelhirns beraubten Exemplare — nur mehr
auf der Seite.
Im folgenden sollen die übereinstimmenden Ausfallserschei-
nungen nach Exstirpation verschiedener Teile des Fischhirns zu-
sammengefasst werden, um dermaßen genau den zentralen Mecha-
nismus des statischen Sinnes der Fische festzustellen. Es wurde
beobachtet, dass die Entfernung des Vorderhirns überhaupt keine
Ausfallserscheinungen zeitigt. Die Exstirpation einer Hemisphäre,
insbesondere aber des ganzen Mittelhirns, hat die schwersten Gleich-
_ gewichtsstörungen zur Folge; die Fische schwimmen dauernd auf
der Seite oder mit nach aufwärts gekehrtem Bauch. Im Hinblick
auf diese schweren Ausfallserscheinungen sind die Folgen der Klein-
hirnexstirpation geringer zu bewerten. Die Fische zeigen dauernde
Unsicherheit der Bewegung, Schwanken und Rollen während der-
selben, ohne jedoch jeglichen Gefühls für die normale Stellung zu
entbehren, wie aus den Versuchen, ın diese während der Bewegung
zurückzukehren, hervorgeht.
Auf Grund dieser Ausführungen ist somit ersichtlich, dass die
schwersten Störungen des Gleichgewichtes nach Entfernung des
Mittelhirns zu beobachten sind, während nach Kleinhirnexstirpation
nur im Bereiche der Energie und Koordination der Einzelbewe-
gungen Ausfallserscheinungen zu verzeichnen sind. Diese Auf-
fassung stimmt auch mit den Beobachtungen an kleinhirnlosen
Säugetieren überein, welchen zufolge Munk das Kleinhirn als ein
Hilfs- und Verstärkungssystem des Cerebrospinalsystems auffasst.
Die feinere Art der Gleichgewichtserhaltung beim Sitzen, Gehen,
Stehen und dergleichen hängt nach ihm vom Funktionieren des
Kleinhirns ab. Dasselbe gilt für das Kleinhirn der Fische, welchem
die feine Regulierung der Bewegungen obliegt, während das Zentrum
der groben Gleichgewichtseinstellung im Mesencephalon zu suchen
ist. Diese Annahme der Kleinhirnfunktion bei Fischen steht auch
im Einklang mit den, allgemeine Geltung beanspruchenden Aus-
führungen Edinger’s?), nach welchem das Kleinhirn das Organ des
Statotonus ist, das ıst derjenigen zusammengeordneten und unter
dem Einflusse der Schwerkraft ständig wechselnden Muskelspannung,
2) Edinger, Über das Kleinhirn und den Statotonus. Zentralblatt für Phy-
siologie, 1912.
Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 475
die erforderlich ist, um neben und innerhalb der Bewegung Gang,
Haltung u. s. w. zu sichern. Das Kleinhirn der Fische muss also
ebenso wie das der Säuger als das Organ des Statotonus betrachtet
werden, im Gegensatz zu Franz°), der ın ihm den Sitz des Ge-
dächtnisses der Fische vermutet.
Über den Zusammenhang der Energien in der
belebten Natur.
Von Ferdinand Röder (Wien).
Die letzte zusammenfassende Rede über das Leben wurde von
Professor Schäfer zur Eröffnung der „British Association for the
Advancement of Science“ gehalten. Sie beginnt mit dem Be-
kenntnis, dass wir bis heute keine Definition des Lebens besitzen.
Er selbst habe um so weniger Neigung mit dieser Aufgabe zu
ringen, als neue Fortschritte unseres Wissens auf die Möglichkeit
einer minder scharfen Trennung zwischen belebter und unbelebter
Materie hingewiesen haben, so dass sich die Schwierigkeiten,
eine erschöpfende Definition zu finden, entsprechend vergrößert
haben.
Ich kann dem Verzicht des englischen Physiologen um so
weniger zustimmen, als ich gerade in dem genannten Umstande
eine Erleichterung erblicken muss. Denn je größer das Gebiet der
Ähnlichkeiten wird, um so mehr engt sich das Gebiet der Ver-
schiedenheit ein und damit die Zahl der Instanzen, die das Leben-
dige von dem Leblosen unterscheiden. Je kleiner aber die Zahl
dieser Instanzen ist, desto erschöpfender wird die Definition sein
können.
Wenn es also der neueren Forschung gelungen ist, einzelne
Lebenserscheinungen nachzuahmen, wenn die Bewegung der Amöbe
der Form nach dadurch wiedergegeben werden kann, dass man
einen Tropfen Olivenöl, das eine Spur freier Fettsäure enthält, auf
eine !/,—2 ige Lösung von Na,00, bringt, wenn die Niederschlags-
membran aus Ferrocyankupfer hinsichtlich Permeabilität und Er-
zeugung eines starken osmotischen Drucks gleiche Eigenschaften
aufweist wie die Hautschicht des Protoplasmas, wenn Wachstum
und Teilung künstlicher Kolloide in geeignetem Medium merk-
würdige Ähnlichkeit mit den Erscheinungen von Wachstum und
Teilung lebender Organismen zeigt, wenn sogar die Karyokinese
mit einer Lösung von Kochsalz, die Kohlenpartikel suspendiert ent-
hält, nachgeahmt werden kann, indem sich diese in ihrer Abhängig-
3) Franz, Das Kleinhirn der Knochenfische. Zoologische Jahrbücher, Abt.
f, Anat. u. Ontog., 1912.
476 Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur.
keit vom Elektrolyten wie die Ohromatinpartikel in einem sich
teilenden Zellkern verhalten, so bedeutet dies doch nur, dass die-
selben Beziehungen zwischen chemischer Energie und einer anderen
Energieart, die in der belebten Natur bestehen, bei geeigneter
Wahl der chemischen Substanzen auch in der unbelebten Natur
in gleicher Weise zum Ausdruck gelangen können. Der Unter-
schied ist dann eben der, dass die lebendige Substanz alle die ge-
nannten und noch andere Energiebeziehungen in sich vereinigt,
während die angeführten Substanzen ebenso wie die leblosen Ma-
schinen immer nur eine der bezüglichen Energieumwandlungen
zum Ausdruck bringen. Man könnte diese Eigenschaft der leben-
digen Substanz nach einem der Chemie entlehnten Bilde als die
Mehrwertigkeit der chemischen Energie der belebten Materie be-
zeichnen. Würde man uns etwa eine Materie zeigen, die außer
amöboider Bewegung eine semipermeable Membran, Wachstum und
Kernteilungsfigur aufwiese, so würde es uns sicher wesentlich
schwerer fallen sie als unbelebt anzusehen.
Einen zweiten Unterschied entnehmen wir der Entwicklungs-
mechanık. Sıe zeigt uns den Einfluss der Schwere, der Bewegungs-
energie und der Oberflächenenergie auf lebende chemische Systeme.
Hatten wir vorher die Abhängigkeit der Raumenergien von der
chemischen Energie, so haben wir jetzt die Abhängigkeit der che-
mischen Energie von Energien des Raumes vor uns. Die Bedeu-
tung dieser Tatsache scheint nicht in vollem Umfange gewürdigt
zu werden. Physik und Ohemie weisen keine analogen Erschei-
nungen auf. Dies wird uns um so weniger befremden und um so
mehr verständlich, als wir gerade das Vorhandensein von Analoga
für gewisse Lebenserscheinungen an das Vorhandensein geeigneter
chemischer Substanzen gebunden fanden. Das Fehlen von Analoga
für gewisse andere Lebenserscheinungen muss daher auf das Fehlen
derartiger Substanzen bezogen werden, die geeignet wären, die ent-
sprechenden Energieumwandlungen zum Ausdruck zu bringen, sei
es, dass diese Substanzen bis heute nicht aufgefunden wurden, oder
dass solche in der unbelebten Natur überhaupt nicht exı-
stieren. Denn so wenig befriedigend die Ansicht der einen ist, die
die Lücke, welche die physikalisch-chemische Erklärung übrig lässt,
durch ein unfruchtbares X oder U auszufüllen suchen, so wenig
berechtigt ist die Neigung der andern, die Mannigfaltigkeit der
Lebenserscheinungen in den Rahmen des Bildes zu pressen, das
das geläufige Tatsachenmaterial der anorganischen Wissenschaften
vorgezeichnet hat. Der Rahmen, der Belebtes wie Unbelebtes um-
fassen soll, muss durch Gesetze größter Allgemeinheit, d. s. die
Beziehungen der Energien zueinander, dargestellt werden, nicht
aber durch die besondere Form, in welcher diese in einem Teil
des Weltganzen erscheinen. Mit der Beziehung ist das Maß ihres
Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 477
Ausdruckes noch nicht gegeben. Und wie ein gerechter Richter
an Verschiedenes nicht den gleichen Maßstab anlegt, so hat auch
die Natur Ungleiches nicht mit gleichem Maße bemessen. Das Bei-
spiel der Schwere wird dies erläutern.
Bereits im Anfang des vorigen Jahrhunderts ist die Frage nach
dem Einfluss der Schwere auf chemische Systeme aufgeworfen worden.
Gay Lussae stellte dann Versuche darüber an, ob eine Salzlösung
unter dem Einfluss der Schwerkraft ın einer vertikalen 2 m langen Säule
am unteren Ende eine andere Konzentration annehme als am oberen
Ende. Er erhielt ein negatives Resultat. Gouy und Chaperon haben
dieses Ergebnis später aufgeklärt, indem sie thermodynamisch den Ein-
fluss der Gravitation auf die Konzentration aus der Änderung der
Dichte mit der Konzentration berechneten und denselben so en
fanden, dass seine experimentelle Feststellung nicht ausführbar ist.
In der unbelebten Natur kommt also diese Beziehung nicht zum
Ausdruck. Anders in der belebten Natur. Hier sehen wir, dass
bereits minimalste Potentialdifferenzen der Schwere ıhre Wirkung
äußern können So vermögen sie in dem undifferenzierten, sich
furchenden Froschei die chemische Differenzierung, die Lage der
Spindel zu bestimmen. Durch Kompensation der Schwere durch
Bewegungsenergie wird diese Einwirkung aufgehoben und dadurch
die Teilungsebene verlagert (vgl. die Arbeiten von Pflüger und
Roux). Wir finden also, dass ın der belebten Natur schon die
geringsten Potentialunterschiede dieser Energie des Raumes im-
stande sind, sinnfällige Änderungen der chemischen Energie zu er-
- zeugen, während in der unbelebten Natur diese Beziehung nicht
entwickelt ist.
Verallgemeinernd könnten wir sagen, dass die räumlich zu-
sammenhängenden, zur Materie vereinigten Energien, die ım An-
organischen zum größten Teil unabhängig voneinander erscheinen,
ein Phänomen, das unter dem Namen der Superposition der
Energien bekannt ist, in der belebten Materie in innige, gleich-
mäßige Beziehung zueinander treten. Den Ausdruck dieses all-
seitigen, nn Zusammenhanges könnten wir demnach als
Leben bezeichnen. Diese Definition kann uns einesteils als Führer
dienen, um den einzelnen in Betracht kommenden Beziehungen
nachzugehen, anderesteils wird sie bei Nachweis einer solchen Be-
zıehung selbst eine wesentliche Stütze erhalten.
Aus der Physiologie der Pflanzen wissen wir, dass bei ıhnen
Wachstum nur erfolgt, wenn die Zellen einen gewissen Turgor be-
sitzen, d. h. unter einem nicht zu niedrigen hydrostatischen Druck
stehen. Veränderungen des Zellenturgors durch Veränderungen der
Wasserbewegung infolge geänderter Transpiration rufen nicht nur
Veränderungen der Pflanzenform und des inneren Baues, sondern
auch der chemischen Zusammensetzung hervor (vgl. Schlösing,
478 Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur.
Comptes rendus 1869, S. 355). Wird bei wachsenden Pflanzen,
deren Zellen also unter einem bestimmten hydrostatischen Druck
stehen, z. B. bei Bohrenwurzeln, der Druck durch Eingipsen ge-
steigert, so findet eine beschleunigte Ausbildung der inneren Ge-
webe statt.
Bei den niederen Tieren ist die Bedeutung des Druckes für
das Wachstum durch Versuche von Loeb und Child festgestellt
worden (vgl. J. Loeb, Vorlesungen über die Dynamik der Lebens-
erscheinungen. Leipzig 1906). Schneidet man nämlich bei Aktinien
(Cerianthus membranaceus) die Mundscheibe der Tiere ab, so be-
ginnen neue Tentakel an der Schnittstelle zu wachsen. Macht man
nun, nachdem die neuen Tentakel angefangen haben zu sprossen,
einen seitlichen Einschnitt ın den Körper des Tieres, so hört das
Wachstum der über der Schnittstelle gelegenen Tentakel auf, wäh-
rend die übrigen Tentakel fortfahren zu wachsen. Die Mechanik
dieser Erscheinung ist durch Child klargestellt worden. Jeder
Tentakel ist ein Hohlzylinder, der mit der Körperhöhle kommuni-
ziert, aus der die Flüssigkeit in den Tentakel gepresst wird. Macht
man also durch die Wand von Cerianthus einen partiellen Quer-
schnitt nahe der Mundscheibe, so kollabieren diejenigen Tentakel,
welche über der Durchschnittsstelle stehen, da keine Flüssigkeit
mehr in die Tentakel gepresst werden kann. Ebenso können durch
Regeneration bereits gebildete Tentakel durch Aufhören des Drucks
infolge Einschnittes ın den Fuß und Verhinderung der Wundränder
am Zusammenheilen zum Degenerieren gebracht werden.
Die Unabhängigkeit des Wachstums vom Nährmaterial beweist
die Regeneration der Tentakel an Stücken, dıe aus der Wand eines
Cerianthus geschnitten waren, ferner bei herausgeschnittenen Stücken
von Tubularia, wo sogar die Bildung des Stammstückes wegen
Baumaterialmangel unterbleibt. Bemerkenswert ist hierbei, dass ın
Stämmen ohne Zirkulation keine Regeneration stattfindet. — Ände-
rung des Druckes der Umgebung führt bei Wasserorganismen, vielen
Algen und Pilzen, zu chemischen Vorgängen, die eine dem Außen-
druck entsprechende Erhöhung oder Erniedrigung des Eigendrucks
bewirken.
Die präzise Ausdrucksweise der Energetik befähigt uns, die
Ergebnisse aller dieser Versuche unter ein Gesetz zusammenzu-
fassen. Da den Lebensvorgängen chemische Prozesse zugrunde-
liegen, der Druck aber in der Sprache der Energetik nichts anderes
ist als der Intensitätsfaktor der Volumenergie, so beweist das Tat-
sächliche dieser Versuche die Abhängigkeit der chemischen Energie
der Zellen von ihrer Volumenergie.
Der zuerst beobachtete Zusammenhang zwischen Pflanzenwachs-
tum und Turgor konnte in dieser Fassung nur durch eine mittel-
Röder, Über den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur. 479
bare Abhängigkeit erklärt werden. „Man stellt sich vor, dass der
innere Druck die Membran der Pflanzenzelle dehnt und damit Hohl-
räume schaffe, in welche neues Material deponiert werden könne!).*
Hierzu ist zu bemerken, dass einerseits die Herstellung von Hohl-
räumen durch einen allseitig wirkenden Druck nicht ohne weiteres
verständlich ist, andererseits das Vorhandensein einer reichlichen
Menge von Baumaterial wohl eine notwendige Vorbedingung, aber
nicht zureichenden Grund für den Aufbau bildet. Weiters aber
besteht, wie die übrigen Beispiele zeigen, Proportionalität nur
zwischen Druck und Zelltätigkeit, nicht aber zwischen der Größe
des Nährmaterials und dieser. Ein richtiges Abhängigkeitsverhältnis
kann daher nur zwischen den beiden ersten Größen gedacht werden.
Dieser unmittelbare Zusammenhang ist ohne weiteres verständlich,
wenn man beachtet, dass von der Volumenergie des Systems die
Konzentration der innerhalb des Systems wirksamen Stoffe abhängt,
die den Verlauf der chemischen Vorgänge bestimmt. Wir haben
es also nur mit einem allgemein anerkannten Energieprinzip zu
tun, das bloß durch die Eigenart der lebenden Substanz zu beson-
derer Bedeutung gelangt. Zu der chemischen Eigenart, die das
Beispiel der Schwere illustriert hat, kommt eben bei dieser Be-
ziehung noch der eigentümliche physikalische Charakter. Es mag
daran erinnert werden, dass schon Robert Mayer das lebendige
Gewebe (zum Zweck der Erklärung der Irritabilität) mit den expan-
sibeln Materien, den Dämpfen verglichen hat. Die moderne An-
schauung von der Schaumstruktur des Protoplasmas, die auf eine
Emulsion von Gasen in wässeriger Flüssigkeit hinweist, bringt viel-
leicht die Tatsache der nicht auf Osmose beruhenden Volumsände-
rungen der Zellen dem Verständnis näher. Wie dem immer sei,
sicher ist, dass zwischen der Volumenergie der Umgebung der
Zellen, ihrer eigenen Volumenergie und der Intensität der ın ıhnen
ablaufenden chemischen Prozesse ein Abhängigkeitsverhältnis besteht.
Dass dem Druck an sich eine Bedeutung zukommen muss,
lehrt auch die teleologische Betrachtungsweise, deren Anwendung
schon oft dankenswerte Aufschlüsse erteilt hat. Im Warmblüter-
organısmus wäre der enorme Energieaufwand des Herzens eine
zwecklose Verschwendung, wenn es sich nur um den Transport
des Nährmaterials handelte, da die zur Erteilung einer Geschwindig-
keit nötige Arbeit um ein bedeutendes geringer sein könnte als sie
tatsächlich ist. Das Bestreben des Organismus, den mittleren Blut-
druck annähernd auf gleicher Höhe zu erhalten und die darüber
hinausgehende, von Bayliss nachgewiesene Konstanz des Kapillar-
drucks weisen auf die Wichtigkeit des normalen Drucks für den
normalen Ablauf der Lebensvorgänge hin. Man kann einem Hunde
1) Loeb: Vorlesungen über die Dynamik der Lebenserscheinungen S. 291.
480 Röder, Uber den Zusammenhang der Energien in der belebten Natur.
die doppelte Blutmenge einspritzen, ohne dass sich der Blutdruck
bedeutend erhöht. Andererseits lehren Experiment und Beobach-
tung, dass der arterielle Blutdruck nach Blutverlusten, sofern sie
einen gewissen Grad nicht übersteigen, annähernd wieder die alte
Höhe erreicht. Bei großen Blutverlusten ist, wie die Praxis ge-
zeigt hat, die Wiederherstellung normaler Druckverhältnisse durch
Kochsalzinfusion und nicht der Ersatz des Nährmaterials, den die
Theorie verlangte, das wesentliche Moment zur Erhaltung des Lebens.
Es würde den Rahmen unserer Aufgabe überschreiten, Beweise
aus dem ungeheuren Gebiet der Physiologie und Pathologie zu
sammeln. Nur kurz sei an das Auftreten lokaler Blutdrucksteige-
rung in [funktionierenden Organen’), an die histomechanischen Prin-
zıpien Thoma’s?), die Bau und Wachstum der Gefäße vom Druck
abhängig machen, an die Umbildung von in Arterien transplantierten
Venenstücken, an die Ansicht Skoda’s über die Ursache der Herz-
hypertrophie erinnert: „Man hat die Hypertrophie bei Klappen-
fehlern als ein Heilbestreben der Natur angesehen, doch würde sich
hierdurch die Natur wenig auszeichnen — alles ist mechanische
Notwendigkeit.“
Der Einfluss der Drucksenkung lässt sich am rein mechanischen
Trauma beobachten, bei dem ausschließlich als Folge der Zirku-
lationsstörung Änderung der Durchlässigkeit der Kapillaren ein-
tritt®). Es sei auf die Erscheinung hingewiesen, dass die verschie-
densten chemischen und physikalischen Agentien ähnliche patho-
logische Wirkungen (Degenerationen) erzeugen, wofern sie nur den
Blutdruck in gleicher Weise herabsetzen, auf die Divergenz der
Anschauungen, die über die Bedeutung von Druck und Zelltätig-
keit in der Physiologie und Pathologie der Harnabsonderung herrschen
und welche durch die zwischen Druck und Zelltätigkeit aufgestellte
Beziehung eine Einigung erfahren würden.
Es möge vorläufig die Feststellung genügen, dass eine Prüfung
der vorliegenden Tatsachen nirgends einen Widerspruch mit dem
angenommenen Zusammenhang ergeben hat. Seine Anerkennung
als allgemeines Prinzip würde dem therapeutischen Handeln neue
Richtlinien ‘geben. Im Verein mit den andern in der belebten
Materie entwickelten Beziehungen bestätigt er die früher aufgestellte
Definition des Lebens, deren Inhalt die Möglichkeit einer voll-
ständigen Beherrschung der Lebensvorgänge gewährleistet.
2) Röder: Blutdrucksteigerung bei lokaler Gefäßerweiterung Zentralbl. f.
Physiologie, Bd. XIX, Nr. 24.
3) Thoma: Patholog. Anatomie S. 321 ff.
4) Thoma, ebenda S. 32 ff.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Gentralblatt.
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
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Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie.
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem
Berg 14, einsenden zu wollen.
BaıX
XV. 20. November 1915. x 11.
verteilung der Geschlechtskombinationen bei Mehrlinggeburten des Menschen und des
Schweins. — J.M. Sirks, Indisch Natuuronderzoek. — Reichard, Die deutschen Versuche
mit gezeichneten Schollen. — Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart. Zellen- und Gewebe-
lehre, Morphologie und Entwicklungsgeschiehte. — Baur, Einführung in die experimentelle
Vererbungslehre. — Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik und Meteorologie. — Dahl,
Kurze Anleitung zum wissenscehaftlichen Sammeln und zum Konservieren von Tieren,
Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
Ein Versuch ıhrer Widerlegung.
Von Dr. W. v. Buddenbrock, Heidelberg.
Einleitung.
Es gibt zwei Klassen von Naturforschern. Die einen inter-
essieren sich für die Tatsachen; die Theorien, die sıe aufstellen,
dienen ihnen nur dazu, die gefundenen Tatsachen zu erklären, unter
einem gemeinsamen Gesichtspunkte zusammenzufassen und hier-
durch einen tieferen Einblick ın das Wesen des gesamten Gebietes
zu gewinnen. Auch wenn ihre Arbeit noch so sehr auf theoretischem
(Gebiete liegt, bleibt ihnen doch stets die Tatsache das Maßgebendere.
Findet sich eine solche, die der Theorie widerspricht, so muss die
letztere weichen.
Den anderen gilt die unbedeutende Einzeltatsache gleich nichts.
Ihr hochfliegender Geist dürstet nach weithin sichtbaren Ergeb-
nissen ihres Tuns. Die glänzende Theorie ist ihnen Alles, die
Tatsache nur deren Dienerin. Passt sie nicht, so wird sie gewalt-
sam in das Prokrustesbett der Theorie hineingepresst oder aber nur
XXXV. 3l
482 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
so oberflächlich studiert, dass man das Nichtkonvenierende, das
meist tiefer sitzt, erst gar nicht gewahr wird.
Das Musterbeispiel einer derartigen Theorie, die sich zum
Tyrannen über die Tatsachen aufwirft, ist die sogen. Tropismen-
theorie, deren hauptsächlichster Verfechter J. Loeb ist. Ihrer
Kritik, und wenn möglich ihrer Widerlegung, sind die folgenden
Zeilen gewidmet.
Eine Kritik dieser Theorie ist bereits von verschiedenen Autoren
unternommen worden (Jennings, Radl u. a.)!). Sie begnügten
sich indessen stets mit dem Nachweise, dass gewisse Einzelfälle
mit der Theorie nicht harmonierten. Die wichtigsten allgemeinen
Argumente wurden nicht erhoben. Außerdem beweist Loeb durch
seine letzte Publikation im Handbuch der vergleichenden Physio-
logie von Winterstein, dass die gemachten Einwände ıhn nicht
im geringsten zu erschüttern vermochten, denn er behauptet nach
wie vor das Gleiche. Hierdurch erscheint ein nochmaliges Ein-
gehen auf dieses Thema gerechtfertigt.
Das Wort Tropismus kennzeichnet nur eine einfache Be-
obachtungstatsache. Zahlreiche niedere Tiere besitzen die Eigen-
tümlichkeit, auf Energiequellen, in deren Nähe sie geraten, also
etwa einen Punkt, der Licht, Wärme, chemische Energie ete. aus- '
strahlt, entweder geradlinig hin oder von ıhm weg zu kriechen
oder aber einen Weg zu wählen, der die betreffenden Energie-
strahlen senkrecht schneidet. Diese Orientierungsbewegungen, die
auch bei niederen Pflanzen vorkommen, hat man Tropismen ge-
nannt und spricht je nach der Art der wirksamen Energie von
Photo-, Chemo-, Thermotropismus etc. Man kann solche Tiere mit
der gleichen Sicherheit in einem bestimmten Sinne ablenken, wie
der Physiker eine Magnetnadel, und dieses physikalisch anmutende
Gebaren hat die Väter der Tropismentheorie dazu gebracht, das
ganze Phänomen als etwas höchst Einfaches zu betrachten, dessen
Erklärung möglich sei, ohne dass man die komplizierte Struktur
des betreffenden Organismus irgendwie berücksichtigt.
In welcher Weise sie dies versuchen, möge am Beispiele des
positiven Heliotropismus der geflügelten Blattlaus mit Loeb’s
eigenen Worten gezeigt werden. Er schreibt:
„Zwei Faktoren bestimmen die Progressivbewegung der Tiere
unter diesen Bedingungen. Der eine ist die symmetrische
Struktur des Tieres und der zweite ist die photochemische
Wirkung des Lichtes..
Die symmetrische Struktur des Tieres drückt sich grob-anatomisch
darın aus, dass, wie bekannt, die rechte und linke Körperhälfte
1) Die Literatur des ganzen Gebietes findet man in Loeb’s Aufsatz: Die Tro-
pismen. Winterstein’s Handbuch der vergl. Physiologie. Bd. 4. 1913.
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 483
symmetrisch zueinander sind. Meines Erachtens besteht eine solche
Symmetrie nicht nur in anatomischer Hinsicht, sondern auch in
chemischer Hinsicht; womit ich meine, dass symmetrische
Körperstellen chemisch identisch sind und den gleichen
Stoffwechsel haben, während nichtsymmetrische Körperstellen
chemisch verschieden sind und ım allgemeinen einen quan-
titativ oder qualitativ ungleichen Stoffwechsel haben... Wenn
nun mehr Licht auf eine Retina fällt als auf die andere, so werden
auch die chemischen Reaktionen, beispielsweise die organischen
Oxydationen in einer Retina mehr beschleunigt als in der anderen,
und dementsprechend werden in dem einen optischen Nerven
stärkere chemische Änderungen auftreten als in dem anderen.
Diese Ungleichheit der chemischen Prozesse pflanzt sich von
den sensiblen in die motorischen Nerven und schließlich in die mit
denselben verbundenen Muskeln fort. Wir schließen daraus, dass
bei gleicher Beleuchtung der beiden Retinae die symmetrischen
Muskelgruppen beider Körperhälften ın gleicher Weise chemisch
beeinflusst werden und somit in den gleichen Kontraktionszustand
geraten; während, wenn die Reaktionsgeschwindigkeit ungleich
ist, die symmetrischen Muskeln auf einer Seite des Körpers in
stärkere Tätigkeit geraten als auf der anderen Seite. Das Resultat
einer solchen ungleichen Tätigkeit der symmetrischen Muskeln
beider Körperhälften ist eine Änderung der Bewegungsrichtung des
Tieres.
Diese Änderung der Bewegungsrichtung kann entweder so er-
folgen, dass der Kopf zur Lichtquelle hingedreht wird, und dass
damit das ganze Tier in der Richtung zur Lichtquelle sich bewegt;
oder dass der Kopf in entgegengesetztem Sinne gedreht wird, und
das Tier sich ın entgegengesetzter Richtung bewegt... Sobald dies
geschehen ist, werden die beiden Retinae gleich stark beleuchtet und
die (symmetrischen d. Verf.) Muskeln in den beiden Körperhälften ar-
beiten nunmehr gleich stark. Es ist infolgedessen kein Grund mehr
vorhanden, dass das Tier in dem einen oder anderen Sinne aus dieser
Richtung abweichen sollte. Es wird deshalb automatisch zur Licht-
quelle geführt. Der Wille des Tieres, der ıhm ın diesem Falle die
Richtung seiner Bewegung vorschreibt, ist das Licht, wie es beim
Fallen des Steines oder der Bewegung der Planeten die Schwer-
kraft ıst“ (1909, p. 9—14).
Jennings hat diese Theorie in ganz treffender Weise die
„Theorie der lokalen Wirkungen“ genannt, weil sie den Tro-
pismus nicht als eine Bewegung des Tieres als eines Ganzen an-
sieht, sondern als eine solche der beiden Körperhälften, die dabei
gegeneinander arbeiten. Dies wollen wir als ein wichtiges Cha-
rakteristikum der Tropismentheorie festhalten. Hieraus folgt direkt,
dass nach der Theorie die Drehung des Tieres stets um eine Achse
al:
484 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
erfolgen muss, die zwischen den beiden Körperhälften, also in
der Symmetrieebene liegt, welche diese beiden scheidet.
Ein zweites vielleicht noch wichtigeres ist die völlige Igno-
rıerung der speziellen Struktur, die es für Loeb und seine
Anhänger einfach nicht gibt. Wir brauchen nichts zu wissen, als
dass der Organismus symmetrisch ist — die Theorie ist gleich an-
wendbar für Einzellige bezw. Larven einfachster Organisation als
auch für die kompliziertesten Metazoen — und dass er überhaupt
auf die betreffende Energie reagiert; alles übrige ergibt sich von
selbst. Wer die Schriften Loeb’s liest, könnte aus verschiedenen
Redewendungen, die sich hin und wieder eingestreut finden, leicht
den Schluss ziehen, als kämpfe er gegen diejenige Auffassung,
welche in den Handlungen auch der niederen Tiere willkürliche
Willensakte sieht und deren Zwangsmäßigkeit leugnet. Dies
ist natürlich nicht der Fall, hätte auch keinerlei Sınn. Die Zwangs-
mäßigkeit ist eine nicht zu leugnende Beobachtungstatsache, die
darın zum Ausdruck kommt, dass unter bestimmten Bedingungen
alle Individuen einer Art das gleiche tun; sie wird von niemanden
bestritten, wenn man auch nicht der Ansıcht zu sein braucht, dass
die Handlungen der niederen Tiere sich mit diesen Zwangsbewe-
gungen erschöpfen.
Loeb hat sich vielmehr die Aufgabe gestellt, den Mecha-
nısmus dieses Zwanges bei den Tropismen zu erklären
und zwar durch mechanisch wirkende Faktoren. Er zieht
gegen diejenigen zu Felde, die den Zwang auf andere Weise er-
klären wollen; vor allem also gegen die Auffassung der Tropismen
— und der Reflexe überhaupt — als ursprünglich indivi-
duelle Handlungen, die sich als zweckmäßig erwiesen
und im Laufe der Zeiten durch Gewöhnung und Ver-
erbung mechanisch und zwangsmäßig geworden sind.
Zum Verständnis des ganzen folgenden Aufsatzes ıst es durch-
aus notwendig, dies festzuhalten.
Disposition der im folgenden versuchten Kritik.
Bei der Widerlegung der Tropismentheorie, die wir mit den
nachstehenden Zeilen beginnen wollen, soll ın der folgenden Weise
vorgegangen werden:
Zuerst wird gezeigt werden, dass die Theorie unmöglich zur
Erklärung sämtlicher Tropismen herangezogen werden kann, indem
erstens in manchen Fällen die Voraussetzung der Theorie (die
Energiestrahlung) fehlt und trotzdem richtige Tropismen zustande
kommen; und indem zweitens ın anderen Fällen, wo die Vor-
aussetzungen an sich vorhanden sind, die Tropismen trotzdem in
einer der Theorie offensichtlich widersprechenden Weise ablaufen.
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. AS5
Im zweiten Teile werden wir dann zu zeigen haben, dass die
Theorie auch in den ihr scheinbar günstigsten Fällen nicht in der
Lage ist, eine einwandfreie Erklärung der Tropismen zu liefern,
und schließlich werden wir einen Einwand kennen lernen, der von
der biologischen Seite her gegen die Theorie erhoben werden muss.
Die ım folgenden angeführten Beispiele beziehen sich sämtlich auf
den Heliotropismus und den Geotropismus, zu welchen bedeutend
die meisten und exaktesten Erscheinungen des gesamten Gebietes
gehören. Ob der Chemo- und Thermotropismus überhaupt in diese
Kategorie gehört, ıst mir zweifelhaft; der Galvanotropismus endlich
ist ein reines Laboratoriumsprodukt, das für den Biologen, insofern
er das Tier studieren wıll und nicht lediglich die chemischen Eigen-
schaften des Protoplasmas, keinerlei Interesse besitzt.
Fälle echter Tropismen, bei denen die Voraussetzungen
der Theorie fehlen.
Tropismen ohne Energiestrahlen. Ich wiederhole noch-
mals, dass man unter Tropismus eine zwangsmäßig verlaufende,
in bezug auf eine Energiequelle bestimmt gerichtete Bewegung ver-
steht. Eine solche Erscheinung reinsten Stils ist der Geotropis-
mus gewisser wirbelloser Wassertiere. Derselbe ist entweder positiv,
zwingt also die Tiere, senkrecht nach unten zu kriechen, oder er
bewirkt eine horizontale, die Schwerkraftslinien schneidende Be-
wegung (Diatropismus), deren Erfolg für den Organismus die sogen.
Erhaltung des Gleichgewichtes ıst. Nun wissen wir, dass in der
Mehrzahl dieser Fälle, auf die wır uns hier beschränken wollen,
der Geotropismus gebunden ist an bestimmte Sinnesorgane, die
sogen. Statocysten, deren Bau ich hier als einigermaßen bekannt
voraussetzen muss. Ihre Funktion beruht nachgewiesenermaßen
darauf, dass der schwere Statolith einen mechanischen Reiz auf
das Sinnesepithel der Statocyste ausübt, und die ganze Wirkung
des Apparates, das Tier in eine bestimmte Lage zur Schwerkraft
zu bringen, kommt dadurch zustande, dass dieser mechanische
Reiz infolge der Beweglichkeit des Statolithen, der stets den tiefsten
Punkt der Blasenwand berührt, immer aus einer durch die Schwer-
kraft bestimmten Richtung kommt. Bewiesen wurde die Statolithen-
drucktheorie durch die berühmten Kreidl’schen Versuche mit den
eisernen Statolithen bei Krebsen, an denen er mit Hilfe eines
Magneten zeigen konnte, dass die Bewegungen des Tieres je nach der
Richtung, aus welcher der Druck des Statolithen kommt, eine ver-
schiedene ist.
Ferner haben Prentiss?) und ich?) gezeigt, dass der Verlust
2) Prentiss, The Otoeyst of decapod Crustacea. Bull. Mus. Comp. Zool.
Harvard Coll. Vol. 36. 1901.
3) v. Buddenbrock, W. Über die Orientierung der Krebse im Raum.
Zool. Jahrb. Abt. f. allg. Zool. u. Phys. Bd. 34. 1914.
4S6 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
des Statolithen allein die gleiche Wirkung hat wie Verlust des
ganzen Organs!).
Eine Energiewirkung auf das lebendige Gewebe, wie
sie die Tropismentheorie vorsieht, gibt es also hier einfach nicht,
dıe Energie wirkt auf den leblosen Statolithen, und die ganze Er-
scheinung gehört in die Kategorie der mechanischen Reize, scheidet
folglich für die Loeb’sche Betrachtungsweise aus.
Als ein weiteres Beispiel tropistischer Bewegungen, die ohne
die Voraussetzungen von statten gehen, von denen sie nach Loeb
abhängen sollen, sind von anderer Seite gewöhnlich die wohl aus-
geprägten Vermeidereaktionen betrachtet worden, welche die Infu-
sorien auf schädliche Reize hin zeigen. Wenn man eine Anzahl
derartiger Tiere, z. B. Paramaecien oder Stylonychıen unter
ein Deckglas bringt, so kann man an ıhnen, wie ın vielen Lehr-
büchern zu lesen steht, die Erscheinungen des Chemo- und Thermo-
tropismus sehr schön studieren, bei grünen Arten tritt dann noch
häufig der Heliotropismus hinzu.
Da nun diese Tiere völlig asymmetrisch gebaut sind, so wäre
hier die Tropismentheorie, welche zwei spiegelbildliche Körper-
hälften oder einen radıären Bau voraussetzt, nicht anwendbar, so
dass hier ein weiteres Beispiel von Tropismen gegeben wäre, die
ohne die der Theorie notwendigen Voraussetzungen von statten
gingen. Die Methode, nach der die Infusorien schädlichen Reizen
ausweichen, ist aber nicht das geradlinige Wegschwimmen von der
Energiequelle, sondern sie führen sogen. Probierbewegungen
aus. Es handelt sich also hier gar nicht um richtige Tropismen,
wie ich in Übereinstimmung mit Loeb gegen Jennings betonen
möchte, so dass diese Fälle, wie überhaupt alle Probierbewegungen,
nicht gut zur Kritisierung der Loeb’schen Theorie verwendet
werden können.
Eine weitere Reihe der Theorie widersprechender Erschei-
nungen werden wir ım folgenden kennen lernen bei Betrachtung
solcher Fälle, wo zwar die Voraussetzungen der Symmetrie
und der Energiestrahlung vorhanden sind, gleichwohl
aber der Ablauf der Bewegung in einer der Tropismen-
theorie widersprechenden Weise erfolgt. Ich beschränke
mich auf drei Beispiele. Das deutlichste dieser Art liefert, worauf
schon H. S. Jennings aufmerksam machte,
4) Bei gewissen Fischen sollnach E. P. Lyon die Sache anders liegen, indem dort
die vorsichtige, eine Verletzung des Sinnesepithels ausschließende Herausnahme des
Statolithen keine Ausfallserscheinungen zur Folge haben soll. Die Richtigkeit dieser
Beobachtung erscheint mir äußerst zweifelhaft, da wahrscheinlich Blutgerinsel, deren
Eintritt in die Blase sich kaum vermeiden lassen dürfte, die Rolle des Statolithen
übernehmen. Für unsere Betrachtung ist aber das Benehmen der Fische einiger-
maßen gleichgültig, da es uns hier nur darauf ankommt, zu zeigen, dass gewisse
Geotropismen, nicht alle, in die Kategorie der mechanischen Reize gehören.
g'
RS
I
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
der Seitwärtsgang der Krabben.
Das Tatsächliche ist hier mit wenigen Worten erschöpft. Wenn
ich eine solche Krabbe in irgendeiner Weise, z. B. durch eine starke
Lichtquelle reize, und zwar von der einen Seite aus, so tritt be-
kanntermaßen nicht die von der Tropismentheorie verlangte
Drehung des Tieres bis zur Einstellung der Symmetrieebene in die
Strahlenrichtung ein, sondern die Krabbe läuft ohne weiteres nach
der entgegengesetzten Seite fort. Das ist nun durch die Theorie
Loeb’s in keiner Weise zu erklären, zeigt vielmehr auf das deut-
lichste, dass das Licht hier nicht auf die beiden Körperhälften ge-
trennt, sondern auf den Organismus als Ganzes einwirkt und eine
harmonische Tätigkeit aller Bewegungsorgane zur Folge hat. Loeb
macht freilich einige Einwendungen gegen diese Kritik. Er schreibt:
„Ich bin aber geneigt, einen anderen Schluss zu ziehen, nämlich,
dass bei den Krabben erstens eine durchaus andere Verbindung
zwischen Netzhaut und Lokomotionsmuskeln vorliegt als das bei
den anderen Krebsen und sonstigen Tieren der Fall ıst; und dass
zweitens auch in bezug auf die Funktion der beiden Netzhäute eine
besondere Eigentümlichkeit besteht, indem dieselben sich nicht wie
symmetrische Oberflächenelemente verhalten. Es ist hier meines
Erachtens eine neue Entdeckung zu machen“ (1909, p. 48 u. 49).
Was es zu bedeuten hat, dass Loeb hier plötzlich die sonst
so vernachlässigte spezielle Struktur zu Hilfe nımmt, werden wir
an einer anderen Stelle sehen, dass er aber mit seiner Entgegnung
irgendeine Entkräftung der gegen die Theorie erhobenen Ein-
wände erreicht, wird schwerlich jemand behaupten wollen. Loeb
ist hier ganz offenbar ein Denkfehler untergelaufen. Sein Einwand
soll wohl, in eine etwas klarere Sprache übersetzt, soviel bedeuten,
dass bei der Krabbe im vermeintlichen Gegensatz zu anderen Krebsen
das Auge nicht nur mit den Beinen einer Seite verbunden ist, was eine
Drehung des Tieres bewirkt, sondern mit den Beinen beider Seiten,
woraus eben eine andere Art der Bewegung resultiert. Der Sinn
der Tropismentheorie ist doch nun aber wahrhaftig nicht der, zu
zeigen, dass durch das Licht irgendeine beliebige Bewegung er-
zwungen wird, sondern es soll sich eine bestimmte Bewegung
daraus ergeben, die nämlich das Tier vom Licht wegführt, und das
ist, wie doch Loeb selbst überall betont, nach Maßgabe seiner Theorie
nur möglich, wenn bei der geradlinigen Bewegung auf das Licht zu
bezw. von ihm weg eine Bewegung der symmetrischen Mus-
keln der beiden symmetrischen Körperseiten eintritt. ‚Beim
Seitwärtsgang der Krabben wird aber die geradlinige Fortbewegung
erreicht durch einasymmetrisches Kooperieren beider Seiten,
indem z. B. beim Gang nach rechts die Beine der linken Seite den
Körper schieben, also die Strecker in Tätigkeit sind, die der rechten
ihn dagegen nach sich ziehen, wobei die Beuger die Arbeit leisten.
488 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
Das ist nach der Theorie unerklärlich und kann nur als eine zweck-
mäßig ausgearbeitete Gesamthandlung des Tieres verstanden werden.
Der Widerspruch mit der Theorie ist also hier so grob wie nur mög-
lich. Auch die Annahme, an die man etwa denken könnte, dass die Wıir-
kung der Energie auf die symmetrische Form hier durch irgendeinen
hypothetischen zweiten Faktor verdeckt sei, ıst unhaltbar. Denn
da das Licht, wenn der Vorgang nach dem Schema Loeb’s ginge,
eine Drehung der Krabbe verursachen müsste, so müsste dieser
zweite Faktor, der diese Drehung wieder aufhebt, für sich allein
eine Drehung nach der entgegengesetzten Seite zur Folge haben.
Dies würde nichts anderes bedeuten, als dass der Krebs ohne die
Lichtreizung dauernd im Kreise liefe, eine offenbare Ungereimtheit.
Zu den hier besprochenen Fällen, in denen trotz des Vor-
handenseins sämtlicher Vorbedingungen der Tropismus in einer der
Theorie widersprechenden Weise vor sich geht, gehört zweitens
eine eigentümliche Erscheinung, die bei Seesternen und bei einem
Krebse zu beobachten sind und die ich als
wechselbaren Heliotropismus
bezeichnen möchte.
Wenn man einen Seestern in ein gleichförmig beleuchtetes Feld
bringt und nun in seiner Nähe einen Fleck abweichender Hellig-
keit, also einen tiefen Schatten oder ein helleres Licht hervorruft,
so kriecht das Tier in beiden Fällen auf diesen Fleck los?).
Unter den Krebsen zeigt, wie ich selbst zu beobachten Ge-
legenheit hatte, Hemimysis lamornae eine analoge Erscheinung.
Dieses Tier schwimmt im Aquarıum dauernd hın und her, soweit
es der Raum desselben gestattet, aber stets in einer ganz be-
stimmten Richtung, nämlich auf das vom Fenster kommende Licht
zu bezw. beim Zurückschwimmen von ıhm weg. Der Krebs wechselt
also nach einer jeden Wendung, die er an der Glaswand des
Aquariums ausführt, den Sinn seines Heliotropismus.
Dass ein und dasselbe Tier sowohl positiven als auch negativen
Heliotropismus zeigt, ist an sich nichts Wunderbares und wider-
spricht in keiner Weise der Theorie, kommt auch sonst gar nicht
selten vor. Die Umkehrung der einen Bewegungsart in die andere
ist aber alsdann stets an die Applizierung irgendeines neuen Reizes
gebunden), durch den der physiologische Zustand des Tieres derart
geändert wird, dass der gleiche optische Reiz nunmehr die umge-
5) Plessner, H. Untersuchungen über die Physiologie der Seesterne. Zool.
Jahrb. Abt. f. allg. Zool. 33, 1913.
6) Es braucht dies durchaus kein äußerer Reiz zu sein. Es ist auch denkbar,
dass im Laufe der individuellen Entwicklung durch die dabei verlaufenden inneren
Prozesse der physiologische Zustand sich ändert. Das Benehmen vieler Larven,
die nach einer gewissen Lebenszeit ohne äußere Veranlassung ihren Heliotropismus
ändern, ist hierfür ein Beispiel.
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 489
kehrte Reaktion bewirkt. Ein schönes und klares Beispiel hierfür
liefern gewisse andere Mysideen (siehe Anm. 9), die nach Be-
leuchtung positiv, nach Verdunklung negativ heliotropisch werden.
Dagegen tritt der Wechsel bei Hemimysis ohne jede Änderung des
physiologischen Reizzustandes ein, und beim Seestern sehen wir
gar, dass ein und dasselbe Tier ganz nach Belieben des Experi-
mentators zu einer positiven oder negativen Reaktion gebracht
werden kann.
Hier setzt die Kritik ein: Nach der Loeb’schen Theorie haben
wir in einem Tier ein bestimmtes System chemo-physikalischer
Kräfte zu erblieken. Wenn auf ein solches System eine Energie
von bestimmter, konstanter Größe einwirkt, so muss die Reaktion
notwendigerweise eine eindeutige sein, d. h., die Bewegung muss
gleiche Reizstärke, und gleichen physiologischen Zustand des Tieres
vorausgesetzt, stets und immer ım selben Sinne erfolgen. Der Fall
Hemimysis ıst also mit Hilfe der Tropismentheorie nicht zu erklären.
Umgekehrt: Wenn ein bestimmtes Kräftesystem durch eine
Energiemenge zu genau der gleichen Bewegung gezwungen wird
wie durch eine andere Energiemenge, so müssen logischerweise
diese beiden Energien gleich groß sein.
Dieser Satz wird vom Seestern umgeworfen, der ım gleichen
physiologischen Zustand von Licht sowohl als vom Schatten ange-
zogen wird; woraus zu folgern ist, dass entweder der Seestern kein
derartiges Kräftesystem ist, wie Loeb es annımmt, oder dass die
Energie in einer ganz anderen Weise auf das Auge einwirkt. Wie
die Erscheinung zu deuten ist, geht uns indessen hier nichts an,
wir begnügen uns mit der Feststellung, dass die Fälle des wechsel-
baren Heliotropismus mit der Tropismentheorie nicht erklärbar sind.
Unerklärbarkeit der Drehungen um die horizontale
Querachse.
Wir gehen jetzt einen Schritt weiter und wenden uns, indem
wir die Besprechung von Einzelfällen verlassen, einer großen ein-
heitlichen Kategorie von Bewegungen zu, die sämtliche Metazoen
bei ihren heliotropischen und geotropischen Bewegungen auf-
weisen, nämlich die Drehungen um die horizontale Querachse. Hier
werden wir ein drittes Beispiel von Tropismen kennen lernen, die,
obgleich alle Voraussetzungen der Theorie vorhanden sind, dennoch
in einer derselben gänzlich widersprechenden Weise ablaufen.
Ich beginne mit den diaheliotropischen Bewegungen vieler
Krebse. Zahlreiche Arten dieser Tierklasse, marine sowohl als Süß-
wasserbewohner, schwimmen stets so, dass sie den Rücken dauernd
dem Lichte zuwenden (Lichtrückenreflex). Sie bewegen sich also senk-
recht zu den Lichtstrahlen, ein unzweifelhafter, echter Diatropismus.
Trifft man die Einrichtung, dass solch ein Tier abwechselnd von oben
490 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
und unten beleuchtet werden kann, so ergibt sich, z. B. bei plötz-
lich eintretender Unterbeleuchtung, eine Umdrehbewegung des vor-
erst in Bauchlage schwimmenden Tieres bis zur hückenlage, so dass
also wiederum die Rückenfläche dem Lichte zugekehrt ist. Das braucht
nun noch gar nicht der Tropismentheorie zu widersprechen, indem sich
langgestreckte Krebse hierbei stets um die in der Symmetrieebene
liegende Längsachse drehen, so dass also, der Einfachheit halber eine
etwas schräge Anfangslage angenommen’), das typische Bild des
theoretischen Schemas sich ergibt: Ungleiche Belichtung zweier sym-
metrischer Körperhälften, hieraus resultierend Drehung des Orga-
nismus bis in die zur Energiequelle symmetrische Endlage. Kurze,
gedrungen gebaute Krebse verhalten sich aber nun ganz anders.
Entsprechend ihrem Körperbait ziehen sie es vor, einen Purzelbaum
zu schlagen, um auf diese Weise in dıe Rückenlage zu kommen.
Der Amphipode Hyperia tut dies stets, die Larve von Sqwlla sehr
oft; das sind nur zwei Beispiele für eine sehr häufige Erscheinung.
Bei einem solchen Purzelbaum fallen nun aber sämtliche Voraus-
setzungen der Tropismentheorie vollkommen fort, indem eine Drehung
des Körpers um eine in der Symmetrieebene verlaufende Achse
gar nicht stattfindet. Vielmehr erfolgt die Drehung um eine senk-
recht zur Symmetrieebene verlaufende, horizontale Querachse,
durch die man keine einzige Ebene legen kann, welche den Orga-
nismus in zwei gleiche Körperhälften zerlegt, wie es doch die
Theorie erfordert. Es fehlt also die leiseste Möglichkeit, die Be-
wegung mit der Theorie in Einklang zu bringen, und doch ist sie
ein ganz echter Tropismus.
Genau die gleiche Überlegung lässt sich bei den diageotro-
pischen Bewegungen anstellen, die bei vielen Krebsen an Stelle
des Lichtrückenreflexes die Erhaltung des Gleichgewichts, alias der
Bauchlage beim Schwimmen gewährleisten. Der Krebs Palaemon
sei als Beispiel gewählt. Sobald das Tier irgendwie aus seiner
normalen, horizontalen Bauchlage herausgebracht wird, führen es
zwangsmäßig verlaufende Bewegungen wieder zu ıhr zurück. Auch
hier ıst nur diejenige Art der Orientierungsbewegung mit der Tro-
pismentheorie vereinbar, bei der eine Drehung um die Längsachse
stattfindet. Stelle ich aber den Krebs einigermaßen senkrecht, so
vollführt er bei seiner Rückkehr zur horizontalen Normallage eine
Drehung um die horizontale Querachse, die, wie wir oben sahen,
jeder Erklärung durch die Loeb’sche Theorie spottet‘°).
7) Die verkehrt symmetrische Lage, in diesem Falle also Symmetrieebene in
Richtung der Lichtstrahlen, aber Rücken dem Lichte abgewendet, bietet der Er-
klärung durch die Theorie große Schwierigkeiten (siehe p. 491).
8) Palaemon reagiert auch ohne Statocysten so mit Hilfe des von mir nach-
gewiesenen allgemeinen Lagereflexes, der an sich, da wir nichts Näheres über ihn
wissen, sehr wohl der Erklärung durch die Tropismentheorie zugänglich sein konnte.
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 491
Vorübergehen kann man an diesen diatropischen Bewegungen
nicht. Sie stellen typische Orientierungsbewegungen in bezug auf
eine Energiequelle dar, sind also durchaus richtige Tropismen.
Loeb wird sich also zu dem Eingeständnis bequemen müssen, dass
es neben dem Seitengang der Krabben noch eine zweite ganze
Kategorie solcher Erscheinungen gibt, die nicht in seine Theorie
passen.
Es ist nun aber nicht einmal notwendig, bei den immer-
hin vereinzelten diatropischen Erscheinungen stehen zu bleiben.
Nehmen wir einen ganz beliebigen positiv (oder negativ) helio-
tropischen Organismus, der sich frei im Raume bewegt, also etwa
schwimmt. So wird er sich, wenn die Lichtquelle wirklich seitlich
von ihm steht, allerdings nach dem Schema der Theorie um eine
Vertikalachse drehen, die in der Symmetrieebene verläuft, befindet
sich also das Licht irgendwo über oder unter ıhm, so dreht sich
das Tier, wie jedes derartige Experiment mit Leichtigkeit zeigt,
wiederum um die uns bekannte, der theoretischen Deutung wider-
strebende Querachse. :
Wir sehen also hier wieder, was schon die Beobachtung von
Squilla und Palaemon lehrte, dass bei einem und demselben Tier
sowohl solche Tropismen vorkommen, die durch die Theorie erklär-
bar zu sein scheinen, als auch andere, die schon auf den ersten
Blick hin gänzlich unerklärbar sind. Nun wird sicherlich nie-
mand geneigt sein, diese beiden Bewegungsarten, die Drehungen
um die Vertikal- und die Horıizontalachse auseinander zu
reißen und zu behaupten, dass zwar die erstere durch die allge-
meinen Gesetze der Tropismentheorie bedingt sei, die zweite aber
einer ganz anders gearteten Erklärung, nämlich durch die spezifische
Struktur des Tieres bedürfe. Nein! Beide Bewegungen, die häufig
vikariierend für einander eintreten und in der verschiedensten Weise
kombiniert sein können, sind zweifelsohne wesensgleich, und da
nun nachweisbar die eine davon gar nichts mit der Tropismentheorie
zu tun hat, so werden wir hieraus den Schluss ziehen, dass die
andere, die Drehung um die Vertikalachse, auch nur scheinbar
mit dieser Theorie zusammenhängt, in Wahrheit aber ebenfalls
durch die zweckmäßige, vorgebildete Struktur des Organismus be-
dingt ist.
Unerklärbarkeit der Reaktion, die von der verkehrt
symmetrischen Stellung aus erfolgt.
Wir haben hier zum ersten Male ein auf sämtliche Tropismen-
arten anwendbares Argument kennen gelernt. Soweit die Drehungen
um die Horizontalachse in Frage kommen, ist es absolut zwingend,
und die Theorie Loeb’s widerlegt. Anders steht es mit den Drehungen
um die Vertikalachse. Für den Fall, dass im diesem Purkte der
492 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
gegen die Tropismentheorie erhobene Beweis, der nur auf einem
Analogieschluss beruht, nicht für genügend erachtet werden sollte,
wollen wir uns im folgenden speziell diesen Bewegungen zuwenden,
die Loeb allem Anschein nach allein im Auge gehabt hat. Es
wird der Nachweis geführt werden, dass auch hier seine Annahme,
zunächst für einen bestimmten Fall, die verkehrt symmetrische
Stellung, zu Konsequenzen führt, welche der Tatsache wider-
sprechen.
Ich nehme also irgendeinen bilateral-symmetrischen negativ-
heliotropischen Organismus und stelle ihn, so genau wie nur mög-
lich, so ein, dass das Vorderende dem Licht zugewendet ist.
Erfahrungstatsache: Das Tier dreht sich sehr schnell um 180°
und schwimmt, fliegt oder kriecht vom Lichte weg. Nun bitte ich
zu überlegen, dass das Prinzip der Tropismentheorie auf der un-
gleichen Wirkung der betreffenden Energie auf die beiden sym-
metrischen Körperhälften beruht. Im angenommenen Falle ist eine
solche Ungleichheit überhaupt nicht vorhanden, beide Seiten des
Tieres werden in genau dem gleichen Maße vom Licht getroffen.
Folglich müsste, wenn wirklich die Verhältnisse so lägen, wie die
Tropismentheorie es annımmt, in diesem Falle eine Reaktion ent-
weder völlig ausbleiben oder erst ganz allmählich eintreten, nach-
dem das Tier durch zufällige kleine Bewegungen aus der Symmetrie-
lage herausgekommen ist.
Mit anderen Worten: Nach der Tropismentheorie müsste die
lichtabgewandte Stellung für positiv heliotropische Tiere, und die
zugewandte für negatıv reagierende ein sogen. toter Punkt sein.
Ein unanfechtbarer, durch keine Dialektik zu beseitigender Ge-
dankengang, mutatis mutandis auf jede Art von Tropismus an-
wendbar.
Dass, wie jede Erfahrung lehrt, auch von der verkehrt sym-
metrischen Stellung aus stets eine schnelle und präzise Reaktion
erfolgt, ist nur so erklärbar, dass der Organismus als Ganzes die
falsche Lage empfindet und darauf reagiert, nie und nimmer aber
durch die einander entgegengesetzte Wirkung der beiden Körper-
hälften, da dieselben sich total aufheben müssten.
Es ist dies der allgemein gültigste Einwand, der sich über-
haupt gegen die Tropismentheorie erheben lässt, er gilt, soweit ich
das Gebiet überschaue, für sämtliche Tropismen, die es gibt. Die
Reaktion, die stets von der verkehrt symmetrischen Lage aus zu
beobachten ist, lässt sich aber auch durch keinen Reflexmechanismus
erklären, wenigstens müsste man ganz komplizierte unbeweisbare
Hilfsannahmen machen, sie weist mit Sicherheit darauf hin, dass
es auch bei den niederen Tieren willkürliche Handlungen gibt, die
auf gewisse Unlustgefühle hin, oder wie man das sonst nennen will,
eintreten.
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 493
Die Unerklärbarkeit der harmonischen Koordination
der Bewegung beider Körperhälften.
Dieser Einwand, dass die Reaktion des Tieres nicht auf der
voneinander unabhängigen Wirkung der beiden Körperhälften be-
ruht, sondern eine harmonische Handlung des gesamten Organismus
darstellt, trifft nun aber nicht nur bei der verkehrt symmetrischen
Stellung zu, sondern überhaupt bei fast einer jeden tropistischen
Drehung um die Vertikalachse.
Ginge eine solche Bewegung nach dem Schema der Tropismen-
theorie vor sich, so könnten wir sie mit folgendem Vorgange ver-
gleichen: In einem Ruderboot sitzen zwei Ruderer, von denen der
eine das linke, der andere das rechte Ruder bedient. Wenn nun
der eine sein Handwerk besser als der andere versteht oder stärker
ist als er, so ist hiervon die unfreiwillige Folge, dass das Boot nicht
geradeaus fährt, sondern sich zu drehen beginnt. Beide Seiten
wirken unkoordiniert, die Drehung wird bewirkt durch die Diffe-
renz der beiderseits angreifenden Kräfte.
Dieser Fall entspricht genau der Tropismentheorie und ist bis
in die Einzelheiten genau realisiert beim Galvanotropismus.
Nun gibt es beim Ruderboot aber noch eine andere Möglich-
keit der Drehung. Nehmen wir an, die beiden Ruderer beab-
sichtigen irgendeine Wendung zu machen; so gehen sie dabei so
vor, dass der eine von ihnen gleich stark oder noch stärker weiter-
rudert als vorher, der andere aber wird entweder den Schlag zur
Unterstützung seines Partners in entgegengesetzter Richtung führen
als beim Vorwärtsrudern, oder er wird wenigstens eine jede Ruder-
bewegung unterlassen, um dem anderen nicht hinderlich zu sein.
Es resultiert also auch hier eine Drehung, deren Effekt nun
aber durch das koordinierte zweckmäßige Zusammenarbeiten
beider Seiten bedingt ist und zwar im ersten Falle durch die Summe
beider Kräfte, die im gleichen Sinne arbeiten, im zweiten durch die
Kraft der einen Seite allein. Ein Gegeneinanderarbeiten beider
Seiten findet niemals statt, das ıst das Kriterium.
Dieser Fall liegt nun bei allen ın der freien Natur vorkommenden
Tropismen vor und ist mit der Loeb’schen Theorie offenbar nicht
zu vereinigen. Ich möchte hiervon einige Beispiele bringen.
Das erste bezieht sich auf die diaheliotropischen Bewegungen,
den schon besprochenen Lichtrückenreflex mariner Krebse. Hier
konnte ich vor zwei Jahren nachweisen, dass bei einseitiger Be-
leuchtung stets eine Seitwärtssteuerung der Ruderfüße beider
Seiten im gleichen Sinne erfolgt, ein deutlich koordiniertes
zweckmäßiges Verhalten, das nach der Tropismentheorie unmöglich
vorauszusehen oder zu erklären ist. Ein solches sich gegenseitiges
Unterstützen der Gliedmaßen bezw. der Muskulatur beider Seiten
ist bei fast allen Wendungsbewegungen im Tierreiche zu beob-
494 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
achten, nur hat man diesen theoretisch wichtigen Dingen bisher nur
ein sehr geringes Interesse entgegengebracht.
Der zweite Fall, dass nämlich nur die eine Körperseite sich
bewegt und die andere vollkommen still steht, ist ganz wesentlich
seltener. Das bestbekannte Beispiel ıst das von Bauer’) studierte
Verhalten der Mysideen Lichtreizen gegenüber. Diese eigentüm-
lichen Tiere sind nach vorausgegangener Belichtung positiv, nach
Verdunklung negativ-heliotropisch, es wirkt also im ersten Falle
Verdunklung, im zweiten Belichtung als Reiz, dem die Tiere zu
entfliehen suchen. Dies geschieht nun in der Weise, dass die reiz-
abgewandten Beine in ihrer Bewegung gehemmt werden, woraus,
da die zugewandten wie vorher weiterrudern, notwendigerweise eine
Drehung vom Reizorte weg erfolgt. Soweit die Tatsachen.
Suchen wir sie zu deuten, so ıst zunächst klar, dass der Be-
fund für Loeb nicht ungünstig ıst, da ja de facto nur die dem
gereizten Auge zugeordneten Beine reagieren, man kann also die
Bewegung als eine nichtkoordinierte betrachten. Anderseits muss
zugegeben werden, dass die Bewegung ın Analogie des oben ange-
führten Beispiels vom Ruderboot genau so gut als eine zweckmäßig
koordinierte beider Seiten betrachtet werden kann, inden eine
jede Behinderung der einen durch die andere vermieden wird.
Wir befinden uns also hier hinsichtlich der uns interessierenden
Streitfrage gewissermaßen auf neutralem Boden, wir können nicht
beweisen, dass der Phototropismus der Mysideen gegen die Theorie
spricht, aber ebensowenig kann Loeb dartun, dass er für dieselbe
günstig wäre.
Einwand der Unauffindbarkeit der Drehachse.
Die zuletzt durchgesprochenen drei Argumente gegen die Tro-
pismentheorie sind merkwürdigerweise von den meisten Kritikern
bisher übersehen worden. Das gleiche gilt von einem vierten ebenso
gewichtigen, das wir uns nunmehr näher betrachten wollen.
Gesetzt also, wir hätten irgendeinen bilateral-symmetrischen,
sagen wir lichtempfindlichen Organismus, um bei einem Beispiele
Loeb’s selbst zu bleiben, eine geflügelte Blattlaus. Dieselbe werde
lediglich von der linken Seite beleuchtet (d. h. die Lichtquelle sei
weder über noch unter ıhr, sondern mit ihr in genau der gleichen
Höhe), so führt sie sofort eine Drehung aus und fliegt geradlinig
der Lichtquelle zu. Hier haben wir einen wunderschönen, stil-
gerechten Heliotropismus im Sinne Loeb’s. Einseitige Belichtung,
Folge: ungleiche Bewegung beider Seiten bis zu einer zur Licht-
quelle symmetrischen Lage, schließlich geradliniger Flug zum
Lichte hin.
9) Bauer, V. Uber die reflektorische Regulierung der Schwimmbewegungen
bei den Mysideen etc. Zeitschr. f. allg. Physiol. Bd. 8. 1908,
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 495
Wieviel ist nun davon durch die Tropismentheorie erklärbar?
Offenbar, von eimigen erst später zu beleuchtenden Bedenken immer
noch abgesehen, höchstens das eine, dass nämlich die beiden Körper-
seiten sich verschieden bewegen. Daraus muss allerdings logischer-
weise eine Drehung des Gesamtorganismus um irgendeine in der
Symmetrieebene verlaufende Achse xy resultieren, die so lange
anhält, bis die Symmetrieebene mit der Ebene xyL (L= Licht-
punkt) zusammenfällt. Das ist aber auch alles, was sich aus der
Tropismentheorie ergibt! Um welche von den unzähligen in dieser
Ebene verlaufenden Achsen eine Drehung erfolgt, verrät sie uns
nicht. Und doch ist, um zu der Energiequelle hin zu gelangen,
die Drehung um eine ganz bestimmte Achse nötig, diejenige näm-
lich, die senkrecht auf der Verbindungslinie des Organismus mit
der Energiequelle steht, und eine jede Theorie, die sich ernsthaft
mit dem vorliegenden Problem beschäftigt, muss erklären können,
wie die Drehung gerade um diese eine Achse, anders gesagt, die
Bewegung ganz bestimmter unter den zahlreichen Flügelmuskeln
zustande kommt. Hätten wir nichts anderes zur Verfügung als die
Loeb’sche Theorie, so wäre die Annahme eines Wunders nötig,
um zu verstehen, wie die Blattlaus nun eigentlich zur Lichtquelle
findet. Wenn Punkt A das Tier, Punkt L die Lichtquelle bedeutet,
und wenn ich die Annahme mache, dass die Drehung, welche die
Theorie verlangt, beendet ıst und also die Linie AL in die Sym-
metrieebene des Tieres zu liegen kommt, so kann dasselbe je nach-
dem, um welche Achse es sich gedreht hat, die verschiedensten
Lagen einnehmen. Es kann sich folglich je nach der Richtung
seiner Längsachse entlang einer jeden von A aus ın der Papier-
ebene verlaufenden Linie bewegen, von denen nur eine einzige,
AL, zum Lichte führt, ohne die Bedingungen der Tropismentheorie
zu verletzen. Deutlicher kann man die völlige Unfähigkeit der-
selben, dasjenige zu erklären, was zu erklären ihre einzige Aufgabe
ist, nicht gut demonstrieren. Dass tatsächlich eine direkte Bewegung
zum Lichte hin erfolgt, ıst durch derartige physikalisch-chemische
Annahmen, wie Loeb sie macht, überhaupt nicht zu erklären, es
beweist vielmehr, dass ım Innern des Organısmus ein zweck-
mäßig funktionierender Mechanismus steckt, der eben auf
den Lichtreiz hin die Bewegungsorgane so ın Tätigkeit setzt, dass
eine Gesamtbewegung nach dem Licht hin erfolgen muss.
Verantwortlich für das Zustandekommen des Tropismus ist
folglich die morphologisch-physiologische Struktur des Tieres, die
in jedem einzelnen Falle gesondert zu untersuchen ist.
Die Unvereinbarkeit der Tropismentheorie mit dem
Vorhandensein eines Reflexbogens.
Dieser letzte Satz leitet von selbst zu dem nächsten Kapitel
über, welches den schwierigsten Teil der gesamten Kritik enthält.
496 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
Es erhebt sich nämlich dringend die Frage, in welchem Verhältnis
die Tropismentheorie zur speziellen Struktur der Tiere steht, oder
anders gesagt: Wenn ich nachweisen kann, dass der Reiz vom
Auge aus eine bestimmte vorgeschriebene Bahn, einen sogen. Reflex-
bogen durchläuft, was hat dann angesichts dieser Tatsache die Tro-
pismentheorie überhaupt noch für einen Sinn?
Der unbefangene Beobachter wird doch dann sicherlich dazu
neigen, eben diesen Refiexbogen, der gewissermaßen einem Uhr-
werk gleicht, wo ein Rad ins andere greift, bis die Zeiger sich be-
wegen, für die Ursache des Tropismus zu halten, woraus sich die
Überflüssigkeit einer weiter her geholten Erklärung dieses Phä-
nomens ergibt.
Wenn wir dagegen Loeb’s Schriften durchblättern, werden
wir zu unserem größten Erstaunen gewahr, dass die Auffassung
dieses Forschers eine gänzlich andere ıst. Am klarsten kommt das
zum Ausdruck im Falle der Taschenkrabben, den wır ja, soweit Tat-
sächliches ın Betracht kommt, bereits kennen lernten. Schon Jen-
nings hatte ihm vorgehalten, dass das Verhalten dieser Tiere, der
Seitwärtsgang, unvereinbar mit der Theorie sei, hierauf antwortet
er nun, wie schon p. 487 zitiert wurde, folgendermaßen: „Ich bin
aber geneigt, einen anderen Schluss zu ziehen, nämlich, dass bei
den Krabben erstens eine durchaus andere Verbindung zwischen
Netzhaut und Lokomotionsmuskeln vorliegt, als das bei den anderen
Krebsen und sonstigen Tieren der Fall ıst; und dass zweitens auch
in bezug auf die Funktion der beiden Netzhäute eine besondere
Eigentümlichkeit besteht, indem dieselben sich nicht wie sym-
metrische Oberflächenelemente verhalten.“
Er leugnet also die Existenz des Reflexbogens nicht nur nicht,
sondern er benutzt ihn geradezu zur Erklärung des Phänomens und
trotzdem hält er die Tropismentheorie in vollstem Maße aufrecht!
Die Lösung dieses Rätsels ist seinen bisherigen Kritikern meines
Wissens nicht gelungen; sie ist nur möglich, wenn man den histo-
rıschen Werdegang der Tropismentheorie berücksichtigt:
Diejenige Erscheinung, welche die Eigentümlichkeit der tro-
pistischen Bewegungen am deutlichsten und aufdringlichsten zeigt,
ist unstreitig der Galvanotropismus, die theoretische Beur-
teilung der übrigen Tropismen wurde durch einen Analogieschluss
gewonnen, der an diese erstere Erscheinung anknüpfte Nun sind
aber die Verhältnisse beim Galvanotropismus ganz besonderer Natur.
Er kommt im Freien nicht vor und ist ein reines Laboratoriums-
produkt. Soweit er in Betracht kommt, ist also das Tier keine
Maschine, die für bestimmte Aufgaben, nämlich die Erhaltung des
eigenen Lebens und die Fortpflanzung der Art zweckmäßig gebaut
ist, sondern lediglich ein symmetrisches Gebilde, das eine
beiderseits gleiche chemo-physikalische Struktur besitzt:
-
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 497
Begriffe wie Anpassung und Zweckmäßigkeit brauchen wir hier
nicht, und wenn es einem Ühemiker der Zukunft gelänge, aus
anorganischer Materie ein Tier, dem Faust’schen Homunculus ver-
gleichbar, zu erzeugen, so müsste auch dieses Wesen, dem Zweck-
mäßigkeit, Zuchtwahl, Anpassung etc. gänzlich fremd wären, mit
Notwendigkeit die Erscheinungen des Galvanotropismus zeigen.
Man kann in diesem Falle den Organismus etwa mit einem Kristall
vergleichen, der zwar auch eine Struktur besitzt, aus welcher bei
Einwirkung gewisser Energien bestimmte Folgeerscheinungen sich
ergeben, demgegenüber aber den Begriff der Zweckmäßigkeit anzu-
wenden durchaus unmöglich wäre.
Der Fundamentalfehler, den Loeb und seine Anhänger machen,
ist nun der, dass sie das beim Galvanotropismus Gefundene ohne
weiteres auf die in der freien Natur vorkommenden "Tropismen
übertragen. Hier ist aber der Begriff der Zweckmäßigkeit kein
lehrer Wahn. Wenn freilich Loeb den bereits oben erwähnten
Grundsatz leugnet, dass das Tier eine für die Selbsterhal-
tung und die Fortpflanzung der Art zweckmäßig gebaute
Maschine ist, dann könnte man nicht mit ihm diskutieren, ıch
nehme aber im Interesse seiner selbst und seiner Beurteilung als
Naturforscher an, dass er so weit nicht geht. Gesteht er sich aber
hierzu bereit, wogegen wir ihm zusichern, dass wir genau wie er
die Handlungen der niederen Tiere als etwas Zwangsmäßiges auf-
fassen und von einem freien Willen meistenteils nichts wissen
wollen, so muss er uns auf einige Fragen Rede und Antwort
stehen:
Zum Beispiel: Der heliotropischen Balanus-Larve dient das
Auge schwerlich dazu, dass sie sich der Schönheit der sie um-
gebenden Natur erfreue; wir behaupten dies, weil wir, genau wie
auch Loeb, ihr höhere Intelligenz und freien Willen absprechen.
Wir werden folglich zu der Auffassung gedrängt, dass der Zweck
des Auges — denn irgendeinen Zweck hat es doch sicherlich — ın
der Vermittlung der heliotropischen Reflexe besteht, wenigstens
kennen wir sonst nichts, worauf die Wirksamkeit des Auges be-
zogen werden könnte. Hieraus folgt unmittelbar, dass auch der
gesamte Reflexbogen, mit dem zusammen erst das Auge einen
funktionsfähigen Apparat bildet, etwas Zweckmäßiges ist, und sind
wir erst so weit, so ist schließlich die Auffassung nicht zu um-
gehen, dass die Grundbedingung des Tropismus eben dieser zweck-
mäßig gearbeitete und funktionierende Mechanismus des Reflex-
bogens ist, und dass die Energie dabei keine andere Rolle spielt,
als dass sie diesen Apparat in Bewegung setzt.
Wenn Loeb auf diese Deduktion einwendet, dass alsdann
sämtliche Tropismen einen biologischen Nutzen haben müssten, so
habe ich darauf folgendes zu erwidern:
XXXV.
co
Tv
498 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
Das Gegenteil hiervon ist keineswegs erwiesen; wenn in zahl-
reichen Fällen der Tropismus sinnlos für das Tier oder gar schäd-
lich zu sein scheint, so liegt das höchstwahrscheinlich daran, dass
wir entweder den Nutzen, den er dem Tiere bietet, nicht ver-
stehen, denn von den normalen Lebensbedürfnissen der niederen
Tiere wissen wir erst blutwenig!°), oder aber, dass der betreffende
Forscher das Tier bei seinen Versuchen unnatürlichen Bedingungen
ausgesetzt hat, ein Fall, der nur allzu häufig ist.
Ich möchte den Gedankengang der vorhergehenden Zeilen, da
er vielleicht etwas schwierig ist, nochmals in verkürzter Form
wiederholen.
Bleibt man bei den Tatsachen, so kann man nur feststellen,
dass das Licht mit Hilfe des Auges und des daran anschließenden
Reflexbogens eine bestimmte Bewegung auslöst, wobei das Licht
die eine, der Reflexbogen die andere Bedingung für das Zustande-
kommen derselben ist. Hieraus kann man gar keinen Schluss
ziehen, weder für noch gegen die Tropismentheorie. Diese be-
kommt erst dann einen Sinn, wenn man den Tatsachen eine be-
stimmte Deutung des Begriffs „Tier“ unterlegt, indem man das-
selbe einfach als ein Gebilde von bestimmter chemophysikalischer
Struktur definiert, ohne irgendwelche Rücksicht auf die Zweck-
mäßıgkeit seines Baues. Auf diese Struktur wirkt dann die blind
waltende Naturkraft genau so ein wie etwa das Eisen auf die
Magnetnadel, und so erhalten wir den Tropismus. Die hier zu-
grunde liegende Definition des Tieres ist aber falsch und folglich
sind dies auch die aus ihm gewonnenen Schlussfolgerungen.
Das Tier ist vielmehr ein für die Aufgabe der Selbsterhaltung
und der Fortpflanzung zweckmäßig gebauter Mechanismus, dies ist
eine unbestreitbare Wahrheit. Aus ihr folgt, dass auch das ein-
zelne Organ, z. B. das Auge, einen bestimmten Zweck besitzt, was
sich übrigens auch schon aus dem zweckmäßigen Bau des Auges selbst
ergibt, und wenn nun dies Auge nichts anderes bewirkt als eine helio-
tropische Bewegung, so muss letzten Endes auch der dieselbe ver-
mittelnde Reflexbogen als ein zweckmäßig gebildeter Mechanismus
betrachtet werden. Hieraus aber folgt, dass die Ursache des Tro-
pismus eben dieser Mechanismus und dass die Tropismentheorie
völlig überflüssig ist. Mit diesem Einwand ist die Tropismentheorie
‚widerlegt, soweit niedere Tiere in Frage kommen, deren Augen-
funktion sich mit den heliotropischen Bewegungen erschöpft.
Eine Einschränkung müssen wir aber machen bei hochent-
wickelten Sinnesorganen, hier liegt nämlich die Sache etwas kom-
10) Ein genaueres Eingehen auf diesen sehr interessanten Punkt würde hier
viel zu weit führen. Ich möchte indessen auf die sehr lesenswerte Arbeit von
V. Franz: „Die phototaktischen Erscheinungen im Tierreiche und ihre Rolle im
Freileben der Tiere“ hinweisen (Zool. Jahrb. Abt. f. allgem. Zool. 33, 1914).
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 49
=)
plizierter.. Wenn z. B. ein Auge sowohl zum Bildersehen eingerichtet
ist als auch heliotropische Bewegungen vermittelt, so könnte man
in der Tat annehmen, dass hier nur das Bildersehen der Zweck
des Auges ist, der Heliotropismus aber eine von der Natur un-
gewollte Nebenwirkung der Sruktur.
In diesem Falle könnte man also tatsächlich beinahe der Loeb’-
schen Auffassung beistimmen — wenn nicht die uns bereits be-
kannten Einwände existierten, die von den Einzelheiten der Be-
wegungen ausgehend die Theorie widerlegen. Die Existenz eines
Reflexbogens macht also mindestens in sehr vielen Fällen die Tro-
pismentheorie überflüssig und beraubt sie eines jeden Inhalts. Der
Tropismus hat dann eben seine Ursache in dem Reflexbogen
selbst. Ihn kann man so ohne weiteres weder „erklären“ noch
wegleugnen, er ıst eine einfache Beobachtungstatsache, die für eine
Theorie keinen Platz mehr lässt.
In allen Fällen ferner, wo nicht gerade ein solcher Reflexbogen
scharf nachweisbar ist, aber ein Nervensystem existiert, das zwischen
Muskeln und Hautsinneszellen vermittelt, ıst es beinahe bis zur
Gewissheit wahrscheinlich, dass es unsere operative Ungeschick-
lichkeit ıst, die uns am Auffinden des Reflexbogens verhindert, und
dass ein solcher nicht etwa fehlt. Auch hier können wir also der
Tropismentheorie nur eine äußerst geringe Lebensberechtigung zu-
sprechen. Ich möchte einen derartigen Fall näher zur Sprache
bringen, weil er in sehr lehrreicher Weise dartut, zu welchen ge-
wagten, völlig unbewiesenen Hilfsannahmen die Anhänger der
Tropismentheorie sich versteigen. Davenport (1897) schreibt
über den negativen Heliotropismus des Regenwurms: „Die Sonnen-
strahlen mögen horizontal und quer xu seiner Achse auffallen.
Dann treffen ihn (den Regenwurm d. Verf.) die einwirkenden Strahlen
seitlich, oder mit anderen Worten, er wird von einer Seite her be-
leuchtet und von der anderen nicht. Da nun das Protoplasma beider
Seiten auf eine gleiche Lichtstärke abgestimmt ist, so ist die
weniger stark belichtete der optimalen Lichtstärke näher. Ihr Proto-
plasma befindet sich in einem phototonischen Zustand, während
die stark belichtete ihren phototonischen Zustand verloren hat.
Daher sind nur die verdunkelten Muskeln imstande, sich normal
zu kontrahieren und die hell erleuchteten sind erschlafft. Unter
diesen Umständen krümmt sich das Tier nach der dunkleren Seite...“
Als Überschrift über das Ganze könnte man „Dichtung und Wahr-
heit“ setzen. Wahrheit ist daran nur der in Kursivschrift gesetzte
Vorder- und Schlussatz. Was dazwischen liegt, kann nur als Be-
weis einer reich begabten Phantasie bewundert werden, ein wissen-
schaftlicher Wert kommt ihm nicht zu. Gar nichts wissen wir
davon, auf welche Lichtstärke das „Protoplasma“ des Wurmes ab-
gestimmt ist. Sein phototonischer Zustand ist uns gänzlich ver-
29%
500 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
borgen und demzufolge auch die Wirkung des Lichts auf ver-
dunkelte und belichtete Muskeln.
Stelle ich dem Einiges gegenüber, was wir wirklich wissen, dass
nämlich in und dicht unter der Epidermis des Regenwurms Zellen sich
befinden, deren ganzer Bau mit Sicherheit auf ihre [Lichtempfindlich-
keit schließen lässt, dass von ihnen Nerven zum Bauchmark ziehen
und andere von da zum Hautmuskelschlauch, dass ferner der ganze
Tropismus aufhört, wenn ich das Bauchmark zerstöre, so dass sich
die Existenz eines Reflexbogens: Lichtempfindliche Hautsinneszellen,
sensorische Nerven, Bauchmark, motorische Nerven und Muskel-
schlauch mindestens ahnen lässt, so kann ich es dem Leser getrost
überlassen, welche von beiden Möglichkeiten, die des Reflexbogens
oder die der Davenport’schen Annahmen die größere Wahrschein-
lichkeit für sich hat. Immerhin bestände in diesem Falle eine ge-
wisse Möglichkeit der Erklärung im Loeb’schen Sinne, vorausge-
setzt, dass die früher gemachten Einwände ihre Gültigkeit verlören;
und wenn wir uns schließlich denjenigen Fällen zuwenden, wo ein
Reflexbogen überhaupt mit unseren derzeitigen Mitteln nicht nach-
weisbar ist, so werden wir, von diesem Standpunkte aus betrachtet,
sogar in der Tropismentheorie die alleinige Beherrscherin der Lage
kennen lernen.
Ich möchte hier zwei derartige Tropismen anführen. Der
erste betrifft die Reaktionen auf Schwerkraftsreize bei solchen
Tieren, die nachweisbar keine Statezysten besitzen bezw. den Geo-
tropismus auch nach Entfernung dieser Organe noch aufweisen,
der zweite die Wachstumserscheinungen gewisser Hydropolypen,
die eine Einstellung des Tieres in die Richtung der Lichtstrahlen
zur Folge haben. In beiden Fällen sind wir, wollen wir auf dem
Boden der Tatsachen bleiben, gänzlich außerstande, die Er-
scheinung zu analysieren. Nichts ist bezeichnender für das ganze
Wesen der Tropismentheorie, als dass sie gerade in diesen dunkelsten
Winkeln unseres Wissens am üppigsten gedeiht. Es ist eben sehr
viel leichter eine Theorie aufzustellen über Dinge, die man so gut
wie gar nicht kennt als über solche, die gut studiert sind, wo dann
die Theorie dauernd Gefahr läuft, an der rauhen Oberfläche der
Tatsachen hier und dort hängen zu bleiben. Es wäre ıhr hier
nicht beizukommen, wenn nicht, nochmals gesagt, die anderen Ein-
wände auch in diesen Fällen zu Recht beständen.
Die Unerklärbarkeit der Zweckmäßigkeit der Tropismen.
Nachdem wir ım Vorhergehenden die Einwände, die von der
morphologischen Seite aus gegen die Tropismentheorie erhoben
werden können, einigermaßen erschöpft haben, wollen wir unsere
kritische Studie damit beschließen, dass wir das vorliegende Problem
nun auch von der biologischen Seite her beleuchten.
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 501
Die Frage nach der Zweckmäßigkeit der Tropismen sei der
(Gegenstand unseres Interesses.
Bewegungsprobleme, wie die Tropismen eines darstellen, werden
ja gemeinhin auf folgende Weise zu lösen versucht. Man betrachtet
die Struktur des Tieres als das Gegebene und beschränkt sich
darauf, die Bewegung als bedingt durch gewisse Elemente dieser
Struktur und durch bestimmte äußere Reize nachzuweisen. Die
Zweckmäßigkeit der Bewegung für den Gesamtorganismus ergibt
sich bei einer solchen Betrachtungsweise ebenfalls als eine Folge
der Struktur. Sie ist also, wo sie nachweisbar ist, eine reine Be-
obachtungstatsache, über deren Herkunft wir uns nicht weiter den
Kopf zerbrechen.
Loeb dagegen geht einen anderen Weg. Für ihn ist, wie wir
eingangs sahen, die Struktur des Organismus etwas durchaus Neben-
sächliches, über das er vollkommen hinweg sieht, um sich sofort
den höheren Sphären der physikalischen Chemie zuzuwenden, dem
Allerweltsheilmittel moderner Forschung. Die Bausteine der Tro-
pismentheorie sind lediglich die Symmetrie des Tierkörpers und
-die blindwaltende unorganisierte Naturkraft, z. B. das Licht. Wenn
aus dem Zusammenwirken dieser Faktoren eine nachweisbar zweck-
mäßige Handlung resultiert, so ist das etwas im höchsten Grade
Erstaunliches, das dringend einer Erklärung bedarf. Diese also ist
Loeb uns schuldig. Der einzige Weg, den er hierbei überhaupt
nur gehen kann, ist die Selektionstheorie, zu der er beiläufig
bemerkt, eine höchst sonderbare und widerspruchsvolle Stellung
einnimmt.
Einerseits spricht er ıhr jeden Wert ab und schreibt: „Wer
seine Zeit nicht mit müßigen Wortspielereien vergeuden will, wird
daher gut tun, die Instinkte in derselben Weise zu analysieren,
wie das für die Vorgänge in der unbelebten Natur üblich ıst, wo
Begriffe wie Anpassung und natürliche Zuchtwahl sich als nutzlos
erweisen; und wo es nur darauf ankommt, den Mechanismus des
Geschehens klarzulegen“ (1913 p. 452). Dagegen finde ich eine
andere Stelle, in der er ganz offen zugibt, „dass Spezies, welche Tro-
pismen besäßen, durch welche die Fortpflanzung und Erhaltung der
Art unmöglich würde, eben aussterben müssten“, was doch wohl
im Prinzip auf ein Zugeben der Wirksamkeit des Selektionsge-
dankens hinauskommt.
Wie sich aber auch Loeb zu Darwin stellen möge, sicher
ist, ob er es nun zugibt oder nicht, dass er seiner Bundesgenossen-
schaft bedarf, wenn er darauf ausgeht, die Zweckmäßigkeit der
Tropismen zu erklären.
Hierbei ist es einerlei, ob es neben den nützlichen Tropismen
auch indifferente oder gar schädliche gibt, was letzteres wir übrigens
502 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
mit großem Recht bestreiten können, s. S. 497, wenn nur das Ent-
stehen der nützlichen klargestellt werden kann.
Wir wollen zunächst einige Beispiele solcher für den Gesamt-
organısmus zweckmäßiger Tropismen kennen lernen:
Es gibt zahlreiche Tiere, bei denen der Tropismus eine Flucht-
bewegung darstellt, die sie vor feindlichen Angriffen rettet. So
werden gewisse im freien Wasser lebenden Muschelkrebse auf
mechanische Erschütterungen hin positiv geotropisch und negativ
heliotropisch, d. h. sie suchen die tiefste und dunkelste Stelle ihres
Gewässers auf. Anderseits gibt es Bewohner dunkler Lokalitäten,
die auf Belästigungen solcher Art mit positivem Heliotropismus
reagieren, wodurch sie etwa einem im Schlamme wühlenden Tiere
entgehen können.
In anderen Fällen ist der Tropısmus dem Nahrungserwerbe
förderlich. Loeb selbst gibt als Beispiel hiervon das Benehmen
der jungen Goldafterraupen an, die aus dem Winternest kriechend
nur mit Hilfe des positiven Heliotropismus die jungen Blätter im
Gipfel der Sträucher finden können.
Schließlich sei ein Fall erwähnt, wo derartige Bewegungen im,
Dienste des Atembedürfnisses stehen. Es wird nämlich der
Wasserskorpion (Nepa) nach Verlust seiner Atemluft negativ geo-
tropisch und positiv heliotropisch ''). Vermöge dessen findet er mit
Sicherheit an die Wasseroberfläche, wo er von neuem Luft schöpfen
kann.
Zur gleichen Kategorie gehört wahrscheinlich auch der von
Loeb beschriebene, auf Zusatz gewisser Säuren, besonders Kohlen-
säure hin eintretende positive Heliotropismus der Daphnien. Er
dient den Tierchen vermutlich zum Aufsuchen reinerer Wasser-
schichten.
Schließlich gibt es zahlreiche Fälle, ın denen der positive
Heliotropismus eine zweckmäßige Schwärmbewegung junger Larven
erzwingt, mit deren Hilfe sie sich ım Wasser verbreiten.
Diese Beispiele ließen sich sehr erheblich vermehren, sie werden
auch sicherlich ın Zukunft ım selben Maße zunehmen, als sich
unsere Kenntnis der Lebensweise der niederen Tiere vertieft.
Wie kann nun Loeb, wenn er auf dem Boden der Tropismen-
theorie stehen bleibt, die sinnfällige Zweckmäßigkeit dieser Tropismen
erklären?
Man muss sich den genauen Vorgang einer solchen Bewegung
vergegenwärtigen, will man verstehen, worauf es hier ankommt.
Bleiben wir bei der Goldafterraupe. Hier ist der Hunger die
conditio sine qua non für das Eintreten des Tropismus, der seiner-
11) Baunacke, W. 1912. Statische Sinnesorgane bei den Nepiden. Morphol.
Jahrb. Abt. Anat. Bd. 34.
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 503
seits die Raupe zu den ernährenden Blättern hinführt. Wir haben
also hier einen physiologisch schädlichen Zustand, der mit Not-
wendigkeit eine solche Bewegung zur Folge hat, welche eben diese
Schädlichkeit beseitigt. Der Hunger ist also gewissermaßen sein
eigener Arzt!
Es sind nicht viele Worte notwendig, um darzutun, dass wir
hier nicht einem einfachen, sondern einem im Gegenteil erstaunlich
komplizierten Vorgange gegenüberstehen. Wollen wir seine Ent-
stehung mit Hilfe der Selektionstheorie begreifen (und einen anderen
Weg besitzt Loeb, nochmals gesagt, überhaupt nicht), so schließt
das die Annahme in sich, dass eine Ausmerzung nicht passender
Individuen in doppelter Richtung vor sich ging: Einmal mussten
alle diejenigen Raupen zugrunde gehen, die zufällig nicht gerade
auf das Licht zu, sondern in irgendwie diaheliotropischem Sinne
sich bewegten, und unter diesen auserwählten waren wiederum alle
dem Tode geweiht, die den Tropismus unter anderen Umständen
als denen des Hungers gleich nach dem Ausschlüpfen zeigten.
Würde der Trieb z. B. bestehen bleiben, nachdem die Wipfel kahl
gefressen sind, so wäre der Tod die sichere Folge hiervon.
Überdies muss man bedenken, dass bei beiden Arten der Aus-
lese, die hier zu unterscheiden sind, die Übrigbleibenden der ganzen
Sachlage nach nur eine verschwindende Minorität der Vernichteten
sein könnten. Bei einer derartig energischen Dezimierung wäre
es, wie mir scheint, das Wunderbarste, dass es überhaupt noch
Goldafterraupen gibt.
Selektionstheoretische Betrachtungen führen niemals zu einem
völlig sicheren Ergebnis, sondern immer nur zu gewissen Wahr-
scheinlichkeiten. Ich glaube gezeigt zu haben, dass in unserem
Falle die Möglichkeit einer selektionistischen Deutung nur sehr
gering ist. Sie wird natürlich noch ganz bedeutend geringer, wenn
wir kombinierte Tropiısmen, wie sie die Muschelkrebse und der
Wasserskorpion besitzen, ins Auge fassen. Mit dem Problem der
Zweckmäßigkeit der Tropismen hat sich Loeb selbst nicht näher
befasst. Es ıst aber nicht ohne pikanten Reiz festzustellen, dass
er, der die Beschäftigung mit den Fragen der Zuchtwahl als „eine
Vergeudung der Zeit mit müßigen Wortspielereien“ ansieht, bei
einer streng logischen Durcharbeitung seiner eigenen Theorie not-
wendigerweise zu geradezu ultradarwinistischen Schlüssen gedrängt
wird.
Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse.
Wir sind mit unserer kritischen Betrachtung zu Ende. Lassen
wir die einzelnen Punkte derselben noch einmal an unserem Auge
vorüberziehen, so ergibt sich, methodisch geordnet, das Folgende.
Zunächst ist leicht festzustellen, dass die Tropismentheorie nicht
für sämtliche Tropismen Geltung hat, denn
504 v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb.
I. fehlen in manchen Fällen die Voraussetzungen der Theorie
und trotzdem kommen echte Tropismen, d. h. zwangsmäßige, in
Bezug auf eine Energiequelle gerichtete Bewegungen zustande.
Beispiele: Es fehlt die Energiewirkung beim Geotropismus,
sofern er an das Vorkommen von Statoceysten gebunden ist. Die
Bewegung ist die Folge eines mechanischen durch den Statolithen
verursachten Reizes.
II. sind in vielen Fällen zwar die notwendigen Voraussetzungen
für die Theorie vorhanden, gleichwohl vollziehen sich die Tropismen
in einer der Theorie widersprechenden Art. Beispiele: a) Seit-
wärtslaufen der Krabben, b) wechselbarer Heliotropismus gewisser
Seetiere, c) Drehung um die horizontale, nicht in der Symmetrie-
ebene liegende Querachse, bei sämtlichen tropistischen Bewegungen
zu beobachten.
Es bleiben jetzt als möglicherweise durch die Theorie erklärbar
nur noch diejenigen Fälle übrig, m denen symmetrische Tiere
Drehungen um die Vertikalachse vollführen. Auch hier er-
weist sich aber die Theorie als unzulänglich, denn:
III. vermag sie nicht die Reaktion zu deuten, die von der ver-
kehrt symmetrischen Stellung aus erfolgt;
IV. kann sie das überall zu beobachtende koordinierte Zu-
sammenwirken beider Körperseiten nicht erklären;
V. vermag sie überhaupt nicht darzutun, warum die Drehung
gerade immer um die Achse erfolgt, die auf der Verbindungslinie
Tier— Energiequelle senkrecht steht; anders gesagt, sie kann über-
haupt nicht erklären, wie das Tier zur Energiequelle hinfindet;
VI. ergibt sich leicht, dass in vielen Fällen bei Anwesenheit
eines Reflexbogens die Theorie völlig überflüssig ist und eines
Sinnes entbehrt, da die Bewegung durch den Reflexbogen allein
schon hinreichend erklärt ist;
VII. kann sie die bei vielen Tropismen unleugbar vorhandene
Zweckmäßigkeit in keiner zufriedenstellenden Weise deuten.
Dem gegenüber können wir als positives Ergebnis unserer
Untersuchung den Satz aufstellen, dass überall, wo es Tropismen
gibt, ein für die Aufgabe, das Tier zur Energiequelle hinzuführen,
zweckmäßig gebauter Bewegungsmechanismus nachweisbar ist, und
dass der Organismus bei der Bewegung stets als ein einheitliches
Ganzes handelt.
Wir werden folglich nach wie vor bei unserer alten Auf-
fassung bleiben können, dass die Tropismen gleich allen übrigen
Reflexen ursprünglich individuelle Handlungen darstellen, die ım
Laufe der Zeiten mechanisch und zwangsmäßig geworden sind.
Auch diese Auffassung wird freilich nicht jedermann befriedigen,
denn sie schließt ebenfalls die Annahme gewisser unbewiesener
v. Buddenbrock, Die Tropismentheorie von Jacques Loeb. 505
Voraussetzungen in sich ein; sie widerspricht aber wenigstens nicht
den Tatsachen.
Wichtig erscheint mir vor allem der Gesichtspunkt, dass man
die Tropismen nicht aus dem organischen Verbande der anderen
Reflexe herausreißken soll. Betrachten wir die Reaktionen der
Tiere auf das Licht, so finden wir vom einfachsten Beschattungs-
reflex bis zum Bildersehen eine kontinuierliche Kette stets kom-
plizierter werdender Reflexe, deren Gemeinsames darin besteht,
dass auf den Lichtreiz hin bestimmte Muskeln in Aktion treten.
Physiologisch sind also diese Bewegungen einander alle gleich; es ist
folglich unzulässg einige wenige von ihnen einer Erklärungsweise
unterziehen zu wollen, die bei allen anderen von vornherein versagt.
Die hier zusammengestellten Einwände werden hoffentlich aus-
reichen, um die Tropismentheorie endgültig aus der zoologischen
Literatur verschwinden zu lassen.
Insofern nur ist sie lehrreich, als sie uns zeigt, dass die An-
wendbarkeit der anorganischen Naturwissenschaften auf die Probleme
der Biologie nur eine sehr beschränkte ist. Ich möchte hier auf
keinen Fall missverstanden werden. Gewiss gibt es zahllose Pro-
bleme und darunter viele von überragender Bedeutung, die nur
mit Hilfe von Chemie und Physik lösbar sind. Es handelt sich
dabei aber stets nur um das Studium einzelner Organe, etwa des
Muskels, der ersichtlich eine chemische Kraftmaschine ist oder des
Verdauungstractus, der eine chemische Fabrik darstellt. Hier und
in tausend analogen Fällen, zu denen natürlich auch die Sinnes-
physiologie gehört, findet der physikalische Chemiker ein Feld
reichster Betätigung. — Sobald man aber das Zusammenwirken
mehrerer Organe, sei es zu einem Organsystem oder einem ganzen
Organismus, betrachtet, so stößt man überall, beim morphologischen
Bau sowohl als auch bei allen physiologischen Vorgängen oder
den sogenannten „psychischen“ Handlungen der Tiere auf An-
passungen, auf Zweckmäßigkeiten. Dies kann nur leugnen, wer
die einzelnen Tatsachen nicht in genügender Weise kennt. Zweck-
mäßigkeiten aber kann man bekanntermaßen nicht mit physikalischer
Chemie erklären. Das Übersehen dieses Punktes ist der haupt-
sächlichste Fehler Loeb’s und seiner Anhänger.
Denn wir fanden überall bei den Tropismen, dass der ihnen
zugrunde liegende Bewegungsmechanismus zweckmäßig konstruiert
ist für seine Aufgabe, das Tier der Energiequelle zu oder von ihr
wegzuführen.
Das Bestreben Loeb’s, die Handlungen der niederen Tiere
auf chemo-physikalische Prozesse zurückzuführen, dürfte daher für
alle Zukunft vergeblich sein. Die von ihm vertretene Forschungs-
richtung ist aber nicht nur an sich wenig fruchtbar, sondern sie
führt geradezu zu einer gewissen Verflachung der ganzen Biologie,
506 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete.
keineswegs zu einer tieferen Auffassung derselben, indem sie dazu
verleitet, das ganze jeweils zu erforschende Problem für erledigt
zu halten, sobald nur die chemo-physikalische Seite desselben auf-
geklärt ist.
. Der Nachweis z. B., dass die Spermatozoen der Farne durch
Apfelsäure angelockt werden, erscheint Alsogesinnten als eine völlig
erschöpfende Feststellung. Der „Mechanismus“ des Vorganges ist
aufgeklärt, und man wendet sich befriedigt anderen Dingen zu.
Was ist damit eigentlich gewonnen? Das Problem besteht doch
wohl darin, dass das Archegonium gerade denjenigen Stoff aus-
scheidet, auf welchen das Spermatozoon reagiert. Das ist eine
raffinierte Anpassung, und solche finden wir überall bei genauerem
Zusehen; wer aber nur auf chemo-physikalische Ergebnisse Aus-
schau hält, läuft an diesem Hauptproblem einfach vorbei, ohne
es auch nur zu sehen. Die Biologie ist in erster Linie eine
historische Wissenschaft, sie handelt von gewordenen Dingen,
deren Erforschung notwendigerweise nach anderen Gesichtspunkten
vor sich gehen muss als die Erforschung irgendeiner anorganischen
Materie. Physik und Chemie lehren uns höchstens das Hand-
werkzeug kennen, dessen die Natur im Bereiche des Lebendigen
sich bedient, um irgendeinen Zweck zu erreichen, an die tieferen
Probleme reichen sıe nirgends heran.
Nur wenn der Physico-Chemiker sich dessen stets bewusst
bleibt, vermag er innerhalb der Biologie eine gedeihliche Tätigkeit
zu entfalten.
Weimar im Oktober 1915.
Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen
bei Mehrlinggeburten des Menschen und des Schweins.
Eıne biostatistische Untersuchung
von Georg Duncker.
Inhaltsübersicht.
I. Methodisches.
1. Problemstellung.
2. Die Behandlung des Problems bei Zwillinggeburten.
3. Erweiterung derselben auf Drillinggeburten.
4. Die allgemeine Behandlung des Problems.
5. Messung der Übereinstimmung zwischen Beobachtung und Berechnung.
II. Resultate.
6. Das Untersuchungsmaterial und seine wesentlichen Eigenschaften.
7. Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen menschlicher Mehrling-
geburten.
8. Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen bei Mehrlinggeburten des
Schweins,
9. Diskussion der Resultate.
10. Zusammenfassung der Ergebnisse.
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 507
E
1. Unter den menschlichen Geburten überhaupt machen Mehr-
linggeburten nur einen sehr geringen Bruchteil (1,2—1,5%,) aus.
Bekannt sind bisher Zwilling- bis Fünflinggeburten, von denen
jedoch nur Zwilling- und Drillinggeburten noch regelmäßig zur Be-
obachtung gelangen; Vier- und Fünflinggeburten zusammen be-
zifferten sich in Preußen während der Jahre 1826—1879 auf etwa
2:10° (Hensen, p. 250).
Das Verhältnis der Geschlechter bei der Gesamtheit der Ge-
borenen wird durchschnittlich auf rund 106 d : 100 2 angegeben.
Das Interesse an der Geschlechtsverteilung bei Mehrlinggeburten
aber erstreckt sich nicht nur auf das bloße’ Zahlenverhältnis der
Geschlechter, sondern auch auf die relative Häufigkeit der einzelnen
Geschlechtskombinationen bei ıhnen.
Liegen » Fälle v-facher Mehrlinggeburten vor, so sind folgende
Geschlechtskombinationen darunter denkbar:
vd, 02 Mei vd
OO 18,019
v—2 dd, 29 2 d, v—2 9
etc. etc.
Bezeichnet man die Frequenz einer einzelnen dieser Geschlechts-
kombinationen unter den n Fällen mit f, so ist
en a 2 = f2, et ie, I N. (1)
Dann ist offenbar die Gesamtzahl der $ bezw. der 9 ın den
n Fällen v-facher Mehrlinggeburten
E()=m= of te Ns teNMot + Motten],
Se
und die Gesamtzahl aller Geborenen
m + w= en. (3)
Für rechnerische Zwecke am bequemsten drückt man das
Zahlenverhältnis der Geschlechter innerhalb einer Anzahl gleich-
klassiger Mehrlinggeburten durch die relative Differenz der Anzahlen
ihrer männlichen und weiblichen Geborenen aus, d. h. durch die
„Geschlechtsdifferenz“
m—w m-—w |
mw Dre (4)
wo d so lange positiv, als m > ww. Dann ist der wahrschein-
liche Fehler von d
E(d) — 0,67149] a (5)
2vn ’
und ferner
vn
— Zt +d), De (1—d). (6)
508 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
Männliche und weibliche Einlinggeburten verhalten sich also
stets wie (14+d): (1 —.d).
Im Durchschnitt aller Geburten ist ziemlich genau d = 0,03,
so dass m : w = 515 : 485. Dies Zahlenverhältnis trifft, infolge ihres
enormen Überwiegens, vor allem für Einlinggeburten zu (Preußen:
d = 3,084 0,01%, Hamburg: d = 2,89 + 0,14%). Bei Mehrling-
geburten dagegen finden sich oft deutliche Abweichungen von dem-
selben (s. Tab. I).
Die Frequenzverteilung der einzelnen Geschlechtskombinationen
innerhalb einer gegebenen Anzahl -facher Mehrlinggeburten ist
natürlich wesentlich von dem Zahlenverhältnis der Geschlechter bei
ihnen, resp. von der Geschlechtsdifferenz d, abhängig. Wären
keinerlei besondere Ursachen vorhanden, welche das Auftreten ein-
zelner dieser Kombinationen begünstigen oder behindern, so müssten
ihre Frequenzen denjenigen entsprechen, welche sich der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung gemäß bei der zufälligen Kombination von m
schwarzen und zw weißen, gleich zusamınen vn, Kugeln zu » Gruppen
von je v Kugeln für diese Gruppen ergeben würden. Diese betragen
w /
n ol I = (m, + m,_ we + m,_2W0 + + mw, mw, _1+ w,), (7)
®
so dass allgemein, wenn a+ß=r und sowohl a wie £ nicht kleiner
als O und nicht größer als » gedacht werden,
m aß
fß=Nn—-
(en),
Re m! w! v! (vn —v)!
al (ma)! P! (w—Bß)! (en)!
NZ A IE) vl
Rep a! Bl vn(von —1)-- ae,
Sind nun, wie bei unserem Material, »», w und » groß (drei-
und mehrstellige Zahlen) im Vergleich zu » (2—5) und daher erst
recht ım Vergleich zu a und £, so wird der Quotient der Produkte
Be et 1) 122 1) Eee
vn(en—1)-- en FE
bei wachsendem Verhältnis » :v immer mehr identisch mit dem
(uotienten der Potenzen
maß
(vn)?
Ferner ist, daa+-ßP=ıv,
vu!
ET 7
und daher merklich
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 509
m ea mawß
BEE
(en) DT
so dass man die wahrscheinlichen Frequenzen der Geschlechts-
kombinationen mit befriedigender Annäherung durch die Glieder
des Binoms
(m + 0)’ — ne rt em ot nm - +rsm?w’?—+ rm 10°] (8)
darstellen kann.
In dieser Näherungsform!) sind nun noch weitere Verein-
fachungen der Rechnung Be Es ist nämlich, da
mt =|y a +4)+" a4],
auch
m+ 0) = z[U+d) + a} (9)
337
(v En:
— wi +adP+v(1 + Ay1(1 — d)+v,(14+d)(1— a)? + See]
[tat +++ Ay) +-
so dass die zu erwartende Frequenz einer einzelnen Geschlechts-
kombination aß unter » v-fachen Mehrlinggeburten,
so lange a > = >ß, durch
fap = vg I+a)"? 1 —2)P,
2
war In ß, durch
v
fap = vv,» (1— d2)2,
sobald a< 5 <-ß, durch
feß = v, A — A)’ T° (1 — d?)"
ausgedrückt werden kann.
1) Auffälligerweise scheint diese Näherungsform als solche nirgends hervor-
gehoben. Hensen (p. 251) wendet sie nach v. Fricks ohne weitere Erklärung
an, und Cobb (p. 501) drückt sich dahin aus, dass die Erwartung der Geschlechts-
verteilung bei Zwillingpaaren der „Mendelian ratio“ 1:2:1 entspreche. — Die
Frequenzen beider Rechnungsformen für die Geschlechtskombinationen unter 100
Zwillinggeburten sind, falls d — 0,03
Fo Fi Joa fu: n—fı,)
Kombinatorisch 26,397 50,206 23,397 1,008
Binomial 26,522 49,955 23,523 0,998.
510 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
Somit wären die einzelnen möglichen Geschlechtskombinationen
unter » Zwillinggeburten mit den wahrscheinlichen Frequenzen
7 B 7 N
n=Fl49, u=zU-9), n=z7Uu-a}
und unter » Drillinggeburten mit den wahrscheinlichen Frequenzen
n 3n 2 3n
24a = +), = UA),
(2 :
m ao,
zu erwarten, falls keine Beeinflussung der Frequenzen einzelner
Geschlechtskombinationen durch besondere Bedingungen stattfände.
Der Vergleich der beobachteten mit den wahrscheinlichen Fre-
quenzen zeigt nun, dass zwischen beiden sehr ausgeprägte Ver-
schiedenheiten bestehen, derart, dass eingeschlechtliche Geburten
wesentlich häufiger, zweigeschlechtliche wesentlich seltener vor-
kommen als der Wahrscheinlichkeitsrechnung gemäß zu erwarten
wären. Z. B. findet man für Preußen in den Jahren 1826-1879
nach Hensen (p. 250) bei
1000 Zwillinggeburten dd ‘9 99 d
Beobachtung 326, 2a 303
Wahrscheinlichkeit?2) 261,7 499,6 238,7 j 90230
1000 Drillinggeburten dJdS dd dag 909 d
Beobachtung 245 285 245 225 )\,.9g
\Wahrscheinliehkeit?, 137,9 387,1 362,1 "Mo, 92777
Es müssen also Bedingungen existieren, die entweder das Auf-
treten eingeschlechtlicher Mehrlinggeburten begünstigen oder das-
jenige zweigeschlechtlicher behindern.
2. Nun sind von Tieren (Vögeln, Reptilien, Knochenfischen)
zahlreiche Beobachtungen bekannt, dass sich gelegentlich aus einem
Ei — vielleicht infolge von Überbefruchtung durch mehrere Sper-
matozoen oder von Teilung des Keimbläschens — zwei Individuen
entwickeln können, die ın diesem Falle gleichen Geschlechts sind.
Ferner führt Hensen (p. 202) Beobachtungen Ahlfeld’s an, dass
auf je 8,15 menschliche Zwillinggeburten je eine mit gemeinsamem
Ohorion für beide Früchte kommt, die dann (l. e. p. 209) ebenfalls
gleichgeschlechtlich sind. Für Zwillinggeburten ist daher die
Annahme wahrscheinlich, dass die Verschiedenheit der beobachteten
und der berechneten Frequenzen der einzelnen Geschlechtskombi-
2) v. Fricks’ bei Hensen (p. 251) wiedergegebene wahrscheinliche Fre-
quenzen sind ungenau. Ausgehend von dem Geschlechtsverhältnis 514,42 £' : 485,58 2
(d = 0,02884) bei der Gesamtheit der Geborenen berechnet er sowohl die Zwilling-
wie die Drillinggeburten mit d = 0,02800, ohne dies zu begründen.
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 511
nationen auf einem durch besondere Bedingungen hervorgerufenen
Überschuss ihrer eingeschlechtlichen Kombinationen beruht. Da-
gegen ist kein kumsnainein.dlen Grund für die Annahme einer Ver-
minderung der zweigeschlechtlichen Kombination bekannt°).
Demnach lassen sich die beobachteten » Fälle von Zwilling-
geburten als aus »’ Fällen „bedingungsfreier*, ein- und zweigeschlecht-
licher und aus n—n’ Fällen „bedingter“*) und dann stets einge-
schlechtlicher zusammengesetzt vorstellen. Da die zweigeschlecht-
liche Kombination nach dieser Auffassung als bedingungsfrei gilt
und deshalb ihre empirische Frequenz (f,,) enden bleiben
muss, so ist notwendig
mW _
Te -(+P 1-9 f,
oder I
und selbstverständlich » > n’, so lange außer bedingungsfreien auch
bedingte eingeschlechtliche Zwillinggeburten vorkommen.
Dann ergeben sich dıe Frequenzen der verschiedenen Geschlechts-
kombinationen bedingungsfreier Zwillinggeburten (f’«£) aus
n’ Aı en ul Hr
zU4a+u-g= ii; a:
mithin
i er] > zu j—d
Hiernach erhält man aus den preußischen tanken unter
1000 Zwillinggeburten (d — 0,0230)
0 2,0 1,1 0,2 P>
Bedingungsfreie (f’) 194,2 371 177,2 142,4
Bedingte (f—f’) 131,8 = 125,8 257,6
Beobachtet (f) 326 71 3058 1000 =n
((-f):f 0,4043 — 0,4152 0,2576.
Die Gesamtheit beobachteter Zwillinggeburten erscheint also in
zwei Gruppen aufgelöst, deren eine, die bedingungsfreie, ein- und
zweigeschlechtliche Geburtenkombinationen umfassend, 74,24%, und
deren andere, die bedingte, nur eingeschlechtliche Kombinationen
3) Über die Berechtigung der Annahme selektiver Verminderung zweigeschlecht-
licher Zwillinggeburten siehe die Anmerkung am Schluss dieses Abschnittes.
4) Ich wähle diese Bezeichnungen, weil in den Adjektiven „bedingungsfrei“
und „bedingt“ nichts von einem physiologischen Erklärungsversuch enthalten ist,
der m. E. bei einer ausschließlich statistischen Behandlung des Gegenstandes unbe-
rechtigt wäre.
512 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
enthaltend, 25,76%, der Gesamtheit beträgt. Letztere ist jedoch
mehr als doppelt so groß wie der Prozentsatz der Zwillinggeburten
mit gemeinschaftlichem Chorion (12,39%); das Auftreten eines
solchen kann daher nicht die einzige Bedingung der Eingeschlecht-
lichkeit ihrer Geburtenkombinationen sein.
Nun ist nach (2) und (6)
1 E rag) =<P:
® 2
2
ferner
f m 1-4.
20 Dre dr
daher beträgt die Anzahl bedingter männlicher Zwillinggeburten
u elle),
fo fo = b) FR,
= (149)
und dementsprechend die Anzahl bedingter weiblicher
el) Tas
Daun nor. 1a
Das Zahlenverhältnis zwischen den eingeschlechtlichen männ-
lichen und weiblichen bedingten Zwillinggeburten ist somit ein anderes
als dasjenige zwischen den entsprechenden bedingungsfreien; erstere
verhalten sich wie (14+-d):(1—d), letztere dagegen wie (1+d)?:(1—d)?,
oder mit anderen Worten: die bedingten Zwillinggeburten
verhalten sich hinsichtlich ihrer Geschlechtsverteilung
abweichend von den bedingungsfreien, nicht wie Zwilling-, sondern
wie Einlinggeburten.
Die relative Häufigkeit bedingter männlicher unter sämtlichen
männlichen Zwillinggeburten beträgt
fa fa _ nt —a)—2f,
[20 nl —d’)— f,(1—d)
2(n—n’)
Fr Da)
die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen weiblichen Zwilling-
geburten
foa—f'o2 DR n( N =) 2 fıı
fo. a 0) 7, (1-2)
2 (n—n‘)
Zn —n’(1-4d) '
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 599
Die Frequenzen der einzelnen Geschlechtskombinationen der
bedingungsfreien Vierlinggeburten verhalten sich ihrer Wahrschein-
lichkeit entsprechend, so dass
Fi: fo = 0,9643,
die der bedingten wie
(fie — 0) : fon — Fo) = 0,8134
= d
oder ähnlich wie ——- ee 0,3667. Es besteht also eine wesent-
lich stärkere des Verhaltens bedingter Vierling- an
dasjenige von Einlinggeburten, als wir solche bei Drillingen fanden,
und damit eine bedeutende Abweichung von demjenigen bedingungs-
freier eingeschlechtlicher Vierlinggeburten.
Die zur Herstellung der hypothetischen Frequenzreihe der Ge-
schlechtskombinationen an /,, — f' Yesp. an fa, — f ,, vorzunehmende
Korrektur ıst daher sehr klein (8,57 statt 8,28 resp. 9,89 statt 10,15)
und die Differenzen zwischen den hypothetischen und den empirischen
Frequenzen überschreiten ın allen Fällen kaum den wahrschein-
lichen Fehler der letzteren, während die wahrscheinlichen Frequenzen
stets erheblich von beiden abweichen. Die entsprechenden relativen
Deckungsfehler der graphischen Darstellungen betragen 3,47 +1,41
zesp., 18,52. 172,91.%:
Die für Zwillinggeburten nachweisbare Zusammensetzung der
Frequenzen aus rund 74%, bedingungsfreier, dem Wahrscheinlich-
keitsgesetz folgender, ein- und zweigeschlechtlicher und aus rund
26 %, bedingter, sich wie Einlinggeburten verhaltender, eingeschlecht-
licher Kombinationen gilt offenbar auch für die höheren Klassen
menschlicher Mehrlinggeburten und zwar, was besonders beachtens-
wert, unter annähernder Innehaltung desselben Zahlenverhältnisses.
8. Vergleicht man die Befunde an den Mehrlinggeburten des
Menschen mit denjenigen an solchen des Schweins, so findet man
bei ıhnen wesentliche Verschiedenheiten.
Unter den Zwillinggeburten des Schweins sind eingeschlecht-
liche seltener als nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu er-
warten; sie betragen 46,5%, der Gesamtheit oder nur 0,93 ihrer
wahrscheinlichen Menge. Die auf die menschlichen Befunde ange-
wandten Erwägungen sind daher für dies Material hinfällig. Be-
dingte eingeschlechtliche Zwillingpaare treten überhaupt nicht auf;
von den eingeschlechtlichen verhalten sich die männlichen zu den
Apr Akte: N: . (1+d
weiblichen wie 0,9720, also ziemlich genau wie k Ei) - rs
und deutlich verschieden von ae _ — 0,9869. Der relative Fehl-
betrag eingeschlechtlicher Zwillinggeburten beim Schwein (7 %,) ist
XXXV. 34
530 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete.
numerisch viel geringer als der relative Überschuss solcher beim
Menschen (rund 26%). Daher stimmt hier auch die wahrschein-
liche mit der empirischen Verteilung der Geschlechtskombinationen
ziemlich gut überein (A = 2,35 0,48 9%).
Unter den Drillinggeburten des Schweins machen die einge-
schlechtlichen 26,5 %, der Gesamtheit aus oder sie sind 1,06mal so
häufig wie nach der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erwarten.
Ferner sind der Analyse nach 6,4 (5) resp. 8,2 (9)%, der eingeschlecht-
lichen und 1,9%, der Gesamtheit bedingte. Das Verhältnis be-
dingter zu bedingungsfreien eingeschlechtlichen Drillinggeburten ist
daher kaum von Null verschieden:
Tot Ts. — = 0.08
Min = Fos '
Die Frequenzen bedingter männlicher und weiblicher Geburten
(5,65 + 6,15) sind kleiner resp. kaum größer als die wahrschein-
lichen Fehler der eingeschlechtlichen männlichen und weiblichen
Geburten überhaupt; man kann ihnen daher keine Sicherheit bei-
messen. Die für die hypothetische Verteilung erforderliche Kor-
rektur derselben ist geringfügig und die hypothetische Verteilung
stimmt mit der empirischen fast völlig überein; aber auch die wahr-
scheinliche weicht von der letzteren nur unbedeutend ab. Die
relativen Deckungsfehler in beiden Vergleichen betragen 0,12+0,09
und 1,08 + 0,28 9.
Von den Vierlinggeburten des Schweins sind 12,8%, also
ebensoviele, wie der Wahrscheinlichkeitsrechnung entsprechen, ein-
geschlechtlich. Der Zahl zweigeschlechtlicher Kombinationen nach
wären nur 0,3%, der Gesamtheit bedingte eingeschlechtliche. So
wird die hypothetische Verteilung fast vollkommen identisch mit
der wahrscheinlichen, und beide stimmen gut mit der empirischen
überein (A = 1,37 +0,37 resp. 1,43+0,38%,); der Deckungsfehler der
hypothetischen und der wahrscheinlichen Frequenzverteilung beträgt
sogar nur 0,20 %.
Von den Fünflinggeburten des Schweins sind 6,9 statt der
wahrscheinlichen 6,3 %, eingeschlechtlich; an bedingten würden sich
0,7%, der Gesamtheit ergeben. So stimmen wiederum die hypo-
thetische und die wahrscheinliche Verteilung der Geschlechtskombi-
nationen sowohl untereinander wie mit der empirischen gut über-
ein; die entsprechenden Deckungsfehler sind: empirisch-hypothetisch
3,47 +0,94 %,, empirisch-wahrscheinlich 3,32 +0,92 %,, hypothetisch-
wahrscheinlich. 0,56 9%.
Unter den Mehrlinggeburten des Schweins lassen sich also,
mit zweifelhafter Ausnahme der Drillinge, bedingte eingeschlecht-
liche Geburtenkombinationen nicht nachweisen. Daher entspricht
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 531
bei ihnen die hypothetische Verteilung sehr genau der wahrschein-
lichen.
9. Beim Menschen bilden Mehrlinggeburten 1,2—1,3 °/,, beim
Schwein 98,5, resp. auf die einzelnen Uterushörner berechnet, 89,4],
der sämtlichen Geburten. Mit diesem Gegensatz in der Häufigkeit
der Mehrlinggeburten verbindet sich ein solcher der Verteilung ihrer
einzelnen Geschlechtskombinationen. Während diese beim Schwein
ihrer Wahrscheinlichkeit entspricht, die Geschlechtskombinationen
hier also nicht merklich beeinflußt von begünstigenden oder behin-
dernden Bedingungen auftreten, läßt dıe Verteilung der Geschlechts-
kombinationen menschlicher Mehrlinggeburten eine ganz andere Ge-
setzmäßigkeit erkennen, welche bei Zwillingen strikt, bei Drillingen
und Vierlingen mit überzeugender Annäherung inne gehalten wird.
Diese Gesetzmäßigkeit besteht darin, dass neben bedingungsfreien,
ein- und zweigeschlechtlichen Geburten, deren Frequenzverteilung
der Wahrscheinlichkeit ihrer möglichen Geschlechtskombinationen
entspricht, ein stets beträchtlicher, wenig variabler Prozentsatz
(24—30, ım Mittel etwa 26°/,) als bedingt bezeichneter, einge-
schlechtlicher Geburten auftritt, die sich ihrer Geschlechtsverteilung
nach zueinander wıe Einlinggeburten verhalten.
Den Befunden entspricht die Vorstellung, dass die unbefruchteten
Eier getrenntgeschlechtlich und für das Geschlecht der daraus her-
vorgehenden Individuen allein bestimmend sind, die Spermatozoen
dagegen keinen Einfluß auf das letztere ausüben. Dann ist die Ge-
schlechtsdifferenz der Geborenen gleich derjenigen der bei den fort-
pflanzungsfähigen Weibchen der Art produzierten männlichen und
weiblichen Eier. Die Geschlechtskombinationen von Mehrlingge-
burten müssen daher so lange wahrscheinlichkeitsgemäß auftreten,
wie sie einer ihnen entsprechenden Anzahl von Eiern entstammen,
und ın diesem Fall verhalten sich die eingeschlechtlichen Kombi-
nationen wie (1 +d)’:(1—d)’. Wenn dagegen aus irgendwelchen
Ursachen mehrere Individuen aus einem einzigen Ei hervorgehen,
so müssen diese nicht nur gleichgeschlechtlich sein, sondern die
Gesamtheit derartiger eingeschlechtlicher männlicher und weib-
licher Geburtenkombinationen muß auch das konstante Verhältnis
(1-+-d):(1—d) ergeben, welcher Klasse von Mehrlinggeburten sie
immer angehören. Dann entsprechen die im Verlauf dieser Arbeit
als bedingt bezeichneten Mehrlinggeburten solchen, die einem ein-
zigen Ei entstammen.
Dieser Vorstellung stehen jedoch mehrere Schwierigkeiten ent-
gegen. Zunächst bleibt unklar, weswegen eineiige Mehrlinggeburten
beim Menschen regelmäßig, beim Schwein dagegen nicht auftreten.
Man könnte hierin eine Folge der ungleichen Ovulation beider Arten
erblicken. Z. B. wäre, gleichmäßige Veranlagung derselben zu ein-
eiiger Mehrlingentwicklung vorausgesetzt, denkbar, dass der bloße
34*
532 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete.
Umstand, dass einem einzelnen Ei beim Menschen, dagegen gleich-
zeitig mehreren beim Schwein, die Existenzbedingungen des Uterus
zuteil werden, eine hypertrophische Entwicklung des ersteren be-
günstigt, der letzteren behindert, und zwar dies um so mehr, je
mehr von ihnen sich gleichzeitig im Uterus’) resp. im Uterushorn
befinden. Eine andere Denkbarkeit wäre, dass Überbefruchtung
eines Einzeleies durch mehrere Spermatozoen in einem ungeteilten
Uterus leichter als in einem weitgehend geteilten stattfinden kann,
da auf die gleiche Anzahl von Eiern in ersterem eine relativ größere
(Quantität Sperma und diese vielleicht mit größerer Geschwindigkeit
gelangt als in letzterem.
Ferner bleibt unverständlich, weswegen der Prozentsatz be-
dingter unter den menschlichen Mehrlinggeburten annähernd konstant
ist. Zur Aufklärung dieses Umstandes könnte vielleicht eine Sta-
tıstik über die Verteilung der Mehrlinggeburten, nach ihren Ge-
schlechtskombinationen geordnet, auf die Gebärenden beitragen,
vor allem auch ım der Hinsicht, ob sich bei den letzteren Mehr-
linggeburten individuell oder familienweise wiederholen und ob sich
dabei eine Scheidung bedingter eingeschlechtlicher von bedingungs-
freien ein- und zweigeschlechtlichen derselben ım Sinne des von
uns gefundenen Zahlenverhältnisses herausstellt, so dass einige Mütter
resp. Stämme von solchen nur bedingte, andere nur bedingungsfreie
Mehrlinggeburten (in erster Linie natürlich Zwillingpaare) zur Welt
bringen.
Endlich widerspricht, allerdings wohl nur scheinbar, der oben
dargelegten Vorstellung der Umstand, dass die Geschlechtsverteilung
der Einlinge von der der Mehrlinge abweicht. Nachstehend gebe
ich eine Zusammenfassung derselben aus den Tabellen I und I.
Tabelle III.
Einlinge d ®) d d:9
Preußen 1826—1879 19532156 18365915 0,03077
Hamburg 1904—1908 59455 56110 0,02894
Summe 19591611 18422025 0,03077 5154:4846
Zwillinge
Preußen 1826—1879 467188 446182 0,02300
Deutschland 1902 26496 25464 0,01986
Hamburg 1904 1908 1523 1509 0,00462
Ver. Staaten 1899— 1912 3429 3239 0,02849
Summe 498636 416 394 -0,02281 5114:4886
9) Bei dieser Annahme würde auch begreiflich, weswegen unter den zweige-
schlechtlichen Kombinationen der Drilling- und Vierlinggeburten des Menschen keine
eineiigen, gleichgeschlechtlichen Zwillingpaare auftreten, so dass jene stets als be-
dingungsfrei anzusehen sind.
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 533
Höherklassige Mehrlinge 4 ö d ee
Drillinge (Pr., Hbg.) 8110 7592 0,03299
Vierlinge (Pr.) 143 165 —0,07143
Fünflinge (Pr.) 12 3 0,60000
Summe 8265 7760 0,03151 5158:4842
Hiernach verhalten sich die Geschlechtsdifferenzen der Einlinge,
Zwillinge und höherklassigen Mehrlinge wie 1,000:0,741:1,024; eine
nachweisbare Verschiedenheit besteht somit zwar zwischen Einlingen
und Zwillingen, nicht aber zwischen Einlingen und höherklassigen
Mehrlingen. Die Klasse der Mehrlinggeburten steht daher zur Höhe
ihrer Geschlechtsdifferenz wohl kaum ın Beziehung.
Im Hinblick auf das Verhalten der Zwilling- und der Vierling-
geburten beim Menschen habe ich sodann die Geschlechtsdifferenzen
der gerad- und der ungeradzahligen Geburten des Schweins ermittelt
und Resultate erhalten, die beim ersten Anblick überraschend wirken,
sich aber bei Untersuchung ihrer wahrscheinlichen Fehler als gänzlich
nichtssagend erweisen:
Geradzahlig Ungeradzahlig
&E 2 d 2
rechts 271 767 742 696
links 707 699 804 784
Summe 1478 1466 1546 1480
d 0,00408+0,00879 0,02181 + 0,00867
Diff. (d) = 0,01773 +0,01235,
d. h. ıhre Differenz ıst kaum 1,44 mal so groß als der wahrschein-
liche Fehler derselben.
10. Zusammenfassung. — Mehrlinggeburten machen beim
Menschen nur 1,2—1,3 °/, der Gesamtheit aller Geburten aus. In
Deutschland kommen auf 1000 Geburten durchschnittlich etwa 1012
Kinder, darunter 522 männliche. Die Geschlechtsdifferenz d, d.h.
die relative Differenz der Anzahlen männlicher und weiblicher Ge-
borenen, beträgt beim Menschen ungefähr 0,03, scheint aber bei
Einlingen etwas höher als bei Zwillingen zu sein. Männliche und
weibliche Einlinggeburten verhalten sich stets wie (1+d):(1 —d).
Der Vergleich der empirischen Frequenzen der einzelnen Ge-
schlechtskombinationen menschlicher Mehrlinggeburten mit ıhren
wahrscheinlichen Frequenzen ergibt einen bedeutenden Überschuss
der eingeschlechtlichen gegenüber den zweigeschlechtlichen Kombi-
nationen. Bei Zwillinggeburten sprechen gewisse physiologische
Tatsachen dafür, dass diese Abweichungen auf einer durch besondere
Bedingungen hervorgerufenen Vermehrung der eingeschlechtlichen,
nicht aber auf einer Verminderung der zweigeschlechtlichen Geburten
534 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
beruht. Daher läßt sich das gesamte Material an solchen in zwei
Gruppen, eine „bedingungsfreie* und eine „bedingte“, zerlegen,
deren erste »’ Fälle ein- wie zweigeschlechtlicher Kombinationen in
dem Verhältnis
fahr» = +aP:2ı1 — ):1—a)?
umfaßt, während die zweite aus (a—n!) ausschließlich eingeschlecht-
licher Kombinationen ım Verhältnis
(in Da N) : Nas 05) = (1 ar d) : (1 u d)
besteht. Die männlichen und die weiblichen Geburten der bedingten
Gruppe verhalten sich also nicht wie Zwilling-, sondern wie Ein-
linggeburten zu einander und zur Gesamtheit aller in der Zwilling-
klasse Geborenen.
Die Größe dieser Gruppen ist durch die Anzahl der zweige-
schlechtlichen Zwillinggeburten (/,,) bestimmt, da
a (rap (1 al—fu
oder
Ben:
1—d?'
Die Gesamtheit menschlicher Zwillinggeburten folgt also nicht
der einfachen Wahrscheinlichkeitsverteilung
n |
la+a)+u-a)],
sondern der anderen:
i 1-+d ‚L—_d\., w Ne} 1—d ‚1-+d
=, (nn) ng, mn ne)
In vier voneinander unabhängigen Beobachtungsreihen mensch-
licher Zwillinggeburten weichen die relativen Beträge nur wenig
untereinander und von den aus der Summe aller Beobachtungen
erhaltenen,
nn = OA 0 0,5961, 75 705 0,5591
ab, so dass man den letzteren allgemeinere Gültigkeit beimessen
darf. Hiernach sind rund 74°/, aller Zwillinggeburten bedingungs-
freie, ein- und zweigeschlechtliche, die übrigen 26°/, bedingt und
eingeschlechtlich.
Überträgt man die auf Zwillinggeburten angewendete Betrach-
tungsweise auf die höheren Klassen menschlicher Mehrlinggeburten
(Drillinge, Vierlinge), so ergibt sich die Zahl bedingungsfreier, ein-
und zweigeschlechtlicher Kombinationen derselben aus der Beziehung
n
— |? +ay— (1 als,
[22
so daß
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 535
as
man
_s[a+)+a—a)}
Der Tune
OH Fa ao
’
n
wo s— (v2 u,u) — 1 9 — oh
u
Für die Berechnung der Frequenzen zweigeschlechtlicher Kombi-
nationen erhält man dann den Ausdruck
T S Te 7
HR,
wobei ebenfalls 2 ur Sn ==;
und für Miesenied der bedingungsfreien eingeschlechtlichen
&: a 2(2r-' 1 de
Ss
©: f 0% — a)" ——— d)" .
Die Gesamtheit der männlichen resp. weiblichen eingeschlecht-
lichen Geburten beträgt
s+2[(v EN al
a
SE Zw Zu —1) I |
%: m=o5l a 2
so daß die direkt gefundenen Frequenzen bedingter eingeschlecht-
licher Geburten
Be (14+d)” 1
ee „u+ d)— a a A — lea Vf,
BR A s ba —d” 1 ”
2: foo I ;l d) 2—1_n re 2
sind.
Ist »>2, so sind die empirischen Frequenzen zweigeschlecht-
licher Geburten trotz Summengleichheit nicht notwendig identisch
mit den berechneten, bleiben ihnen jedoch in den vorliegenden
Beobachtungsreihen so ähnlich, dass man in den vier letzten
Gleichungen f,_,. durch f,_,. und f,,._ durch f"„,„— ersetzen
kann, Dann wird
536 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete.
= on (5°) D
en
und
an fa= , (+9, n- fon, Ua)
Demnach verhalten sich die so korrigierten Frequenzen bedingter
männlicher und weiblicher Geburten, wie bei den Zwilling- so auch
bei den höheren Mehrlinggeburten zueinander wie die Gesamtheit
aller männlichen und weiblichen Geborenen ihrer Klasse oder wie
männliche und weibliche Einlinggeburten. Die bedingungsfreien
eingeschlechtlichen männlichen und weiblichen Geburten dagegen
stehen zueinander im Verhältnis (1+ d)’: (1 — d)”.
Die sich so ergebende Verteilung der Geschlechtskombinationen
von n Fällen »-facher Mehrlinggeburten
fa= er (n — n’ [1 — N)»
Fe—u, u m „(A —+-d) v—2 u (1 — d2)
: 1—d : 1 —: ayP
I 5 (n—n Be ))
haben wir als hypothetische im Gegensatz zur wahrschein-
lichen bezeichnet. Letztere entspricht den Gliedern des Binoms
[U +) +U—a)].
Beide werden identisch, wenn »’ = n.
Die Formeln besagen:
Unter den Mehrlinggeburten des Menschen sind eingeschlecht-
liche wesentlich häufiger als der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach
zu erwarten wären; die zweigeschlechtlichen Kombinationen da-
gegen treten wahrscheinlichkeitsgemäß auf. Daher sind bei den
eingeschlechtlichen zwei Gruppen zu unterscheiden, nämlich die-
jenigen, welche der Anzahl der zweigeschlechtlichen nach wahr-
scheinlichkeitsmäßig zu erwarten sind (bedingungsfreie), und ferner
diejenigen, welche a Überschuss über die letzteren hinaus bilden
und 24—30%, der Gesamtheit menschlicher Mehrlinggeburten aus-
machen (bedingte). Die männlichen und die weiblichen Geburten
der ersten Gruppe stehen zueinander im Häufigkeitsverhältnis
(14 d)’ :(1 — d)’, die der zweiten dagegen (bei Zwillinggeburten
notwendig, bei den höheren Klassen der Mehrlinggeburten mit
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 537
überzeugender Annäherung) im konstanten Verhältnis(1+-d):(1 —d),
d.h. in demjenigen männlicher zu weiblichen Einlinggeburten.
Es ist daher möglich, die von der wahrscheinlichen abweichende
Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen menschlicher Mehr-
linggeburten durch ein besonderes, als hypothetisches bezeichnetes
Verteilungsgesetz darzustellen, welches mit dem wahrscheinlichen
identisch wird, wenn, wie beim Schwein, kein Überschuss einge-
schlechtlicher Mehrlinggeburten zur Beobachtung gelangt.
Für die menschlichen Drilling- und Vierlinggeburten ergibt die
hypothetische Verteilung eine weit bessere Übereinstimmung mit
der empirischen, als die wahrscheinliche. Der relative Deckungs-
fehler zwischen den graphischen Darstellungen der empirischen und
der hypothetischen Frequenzreihe einer-, der wahrscheinlichen an-
dererseits beträgt
Aid, emp.-hypoth. emp.-wahrsch.
Drillinge 0,75 + 0,08 16,44 + 0,35
Vierlinge AT ze AT 18.32.52. 2:97.
Die relativen Anzahlen (1 — —) bedingter unter sämtlichen Dril-
ling- und Vierlinggeburten sind sowohl einander als denen der
Zwillinggeburten auffällig ähnlich. Dem entspricht aber, daß ein-
geschlechtliche Mehrlinggeburten im Verhältnis zu ihrer Wahrschein-
9v—1 3
lichkeit & De / =) um so häufiger werden, je höher ihre Ge-
burtenklasse ist. Ebenso wächst mit dem Steigen der letzteren das
Zahlenverhältnis zwischen ihren bedingten und ihren bedingungsfreien
fro + for 221m — m)
- — — l= |) mit an-
el. 0% Wh )
deren Worten: unter den eingeschlechtlichen menschlichen Mehr-
linggeburten sind bedingte bei Zwillingen seltener, bei Drillingen
und Vierlingen in steigendem Maß häufiger als bedingungsfreie. Die
Zahlenbelege für diese Ausführungen sind nachstehend kurz zu-
sammengefaßt !?).
eingeschlechtlichen Geburten(
10) Beiläufig sei auf ein Zahlenkuriosum hingewiesen. Die den letzten drei
Werten der letzten Kolumne obiger Zusammenstellung unmittelbar benachbarten,
0,68, 1,66 und 2,44, haben die Eigenschaft, dass 0.68 - 2,44 = 1,66. Bei Gültigkeit
derselben wäre
ann Sn—n! An —m
ar: VA 7
n h
oder el
n 4
4n
oder wa
4—+-h
n, da A laut Definition nicht kleiner als Eins werden kann,
ar
d. h. »’ nie größer als
538 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete.
7a 21 t fr) 2° (n — m)
Kr) nh n h
Zwillinge
Preußen 0,2576+0,0004 1.26 0,69
Deutschland _0,2464-+0,0019 1,25 0,65
Hamburg 0,3021+0,0080 1,30 0,87
Ver. Staaten 0,28338+0,0053 1,28 0,79
Mittel d. Quot. 0,2725 1,27 0,75
Summed.Beob. 0,2573 1,26 0,69
Drillinge 0,2926+0,0042 1,87 1,65
Vierlinge 0,2397+0,0328 2,62 2,45
Nittellaugnot. 102653
Summed. Beob. 0,2577
Von den menschlichen wesentlich verschiedene Resultate ergibt
die Untersuchung der auf das einzelne Uterushorn bezogenen Ge-
burten des Schweins. Unter diesen sind Einlinge selten (10,6 °/,),
Zwillinge bis Vierlinge am häufigsten (zusammen 77,4 °/,); die be-
obachtete Höchstzahl von Embryonen in einem Uterushorn beträgt
acht. Es besteht deutliche, positive Korrelation der Embryozahlen
im rechts- und linksseitigen Uterushorn und eine starke Tendenz
derselben zu bilateraler Symmetrie. Wegen des zu geringen Mate-
rıials in den einzelnen Geburtenklassen ist die Geschlechtsdifferenz
nur für die Gesamtheit der Embryonen mit 0,01307 + 0,00617, also
einem bedeutend kleineren Wert als beim Menschen, bestimmbar.
Unter den Zwillinggeburten des Schweins finden sich einge-
schlechtliche seltener als der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach
zu erwarten; die männlichen und weiblichen derselben treten jedoch
—)
mit starker Annäherungan das Wahrscheinlichkeitsverhältnis ( :
auf und müssen daher als bedingungsfrei gelten.
Für die höheren Mehrlinggeburten des Schweins (Drillinge bis
Fünflinge) wird die hypothetische Verteilung ihrer Geschlechts-
kombinationen fast genau identisch mit der wahrscheinlichen. Bei
den Drillingen stimmt die erstere ein wenig besser, bei den Vier-
und Fünflingen beide gleich gut mit der empirischen überein
(s. unten). Die durch Analyse für bedingte Geburten in diesen
: in. : !
Klassen gefundenen Zahlen as ) sınd außerordentlich klein, am
N [
größten noch bei den Drillingen, unter denen daher möglicherweise
solche tatsächlich vorkommen; bei den Vier- und Fünflingen sind
sie nicht mehr nachweisbar, wie aus der letzten Kolumne folgender
Zusammenstellung hervorgeht:
Goebel, Indisch Natuuronderzoek door Dr. J. M. Sirks. 539
Au emp.-hypoth. emp.-wahrsch. 1 -
Driline 0,12+0,09 1,08+028 0,0192 +0,0037
Vierlinge al 1,43 + 0,38 0,0028 + 0,0017
Fünfline 3474094. 3,32+0,92 0,0067 +0,0042
Der wesentliche Gegensatz der Befunde bezüglich der Mehr-
linggeburten bei Mensch und Schwein besteht also darin, dass solche
bei jener Art die Ausnahme, bei dieser die Regel bilden und dass
in ersterem Fall 24—30% von ihnen bedingte eingeschlechtliche
sind, während in letzterem wahrscheinlich überhaupt keine bedingten
vorkommen. Daher besteht bei menschlichen ein erheblicher Über-
schuss eingeschlechtlicher Mehrlinggeburten über die Wahrschein-
lichkeitserwartung hinaus, welcher ihre Anzahl beim Schwein be-
friedigend entspricht. So können die Frequenzen der einzelnen
Geschlechtskombinationen der höheren menschlichen Mehrling-
geburten nur durch das vorstehend entwickelte hypothetische, die
von ebensolchen Mehrlinggeburten des Schweins dagegen sowohl
durch dieses wie durch das bekannte wahrscheinliche Verteilungs-
gesetz dargestellt werden.
Zum Schluss sei noch einmal auf die Notwendigkeit einer
Statistik über die Familienverteilung menschlicher Zwilling- und
Drillinggeburten zur Aufklärung des hohen, annähernd konstanten
Prozentsatzes bedingter derselben hingewiesen. Verfasser bittet um
Nachweis derartiger Statistiken oder um Beiträge dazu.
Literatur.
1881. Hensen, V., Physiologie der Zeugung. Hermann’s Handbuch der Phy-
siologie Bd. VI, 2. Teil, Leipzig 1881, 8°.
1912. Statistik des Hamburgischen Staates. Heft 26: Der natürliche Bevölkerungs-
wechsel im Hamburgischen Staat in den Jahren 1904—1908. Hamburg
1912, 4°.
1912. Handwörterbuch der Naturwissenschaften Bd. VI, Jena 1912, Lex. 8°.
1913. Parker, G. H. and Bullard, C., On the size of litiers and the number
of nipples in swine. Proc. Amer. Ac. Arts Sci. Vol. 49, Nr. 7 (Contrib.
Zool. Lab. Mus. Comp. Zool. Harvard Coll. Nr. 239), p. 399—426.
1915. Cobb, Marg. V., The origin of human twins from a single ovum. Science
N.S. Vol. 41, Nr. 1057, p. 501-502.
Indisch Natuuronderzoek door Dr. J. M. Sirks.
(Koloniaal Instituut te Amsterdam Mededeeling No. VI, Afdeeling Handelsmuseum
No. 2. Amsterdam 1915. Preis fl. 4.25.)
Bekamntlich ist die Tropennatur kaum in einem anderen Teil
der Erde in so reicher Gestaltung ausgebildet als in Niederländisch
Indien. Dem entspricht, dass dieses Gebiet auch mit zu den am
meisten durchforschten gehört.
540 Reichard, Die deutschen Versuche mit gezeichneten Schollen.
Das vorliegende Buch (entstanden aus einer Preisschrift) gibt
eine kurze Geschichte der naturwissenschaftlichen Erforschung von
„Insulinde“. Es wird auch in Deutschland sehr willkommen sein,
nicht nur weil deutschen Forschern ein sehr ehrenvoller Anteil an
der naturwissenschaftlichen Erschließung Niederländisch Indiens
zukommt und weil die Resultate dieser Forschungen vielfach allge-
mein wichtige und bedeutsame Ergebnisse gezeitigt haben, sondern
auch deshalb, weil die Männer, welchen wir unsere Kenntnis Insu-
lindes verdanken, auch als Menschen meist sehr ausgeprägte und
interessante Charaktere waren.
Das Sirks’sche Buch bringt sie uns namentlich auch durch
ganz ausgezeichnete Abbildungen näher. Wen sollte es nicht inter-
essieren, Rheede tot Drakesteen, den ehrwürdigen G. E. Rumpf,
Burmann, Valentin, Reinwardt, Teysmann, Hasskarl,
Junghuhn, Blume (mit allen seinen Orden!) u. a. in künstlerisch
ausgeführten Bildern kennen zu lernen und die Geschichte ihrer
Taten zu hören? — Möge es ın Niederländisch Indien nie an Männern
fehlen, deren wissenschaftliche Ernte eine ebenso ausgiebige ist als
die, von der Sırks’ schönes Buch erzählt. K. Goebel.
Adolf C. Reichard. Die deutschen Versuche mit
gezeichneten Schollen.
IV. Ber. und Ergebnisse der bisherigen internationalen Schollenmarkierungen in der
Nordsee. Wissenschaftl. Meeresunters., herausg. v. d. Kommission zur wiss. Unters.
d. deutschen Meere in Kiel u. d. Biolog. Anstalt auf Helgoland, N. F., 11. Bd.,
H. 1, Kiel und Leipzig (Lipsius und Tischer) 1915. Quart, 64 S., 17 Tafeln.
Mitten ın den Kriegsstürmen, die auch die wirtschaftlichen
und wissenschaftlichen internationalen Beziehungen für lange zu
zerstören drohen, gibt die deutsche wissenschaftliche Kommission
für die internationale Meeresforschung diese Ergebnisse jahrelanger
mühevoller gemeinsamer Arbeiten der an die Nordsee grenzenden
Staaten ın würdiger Form heraus. Die wesentlichen Ergebnisse
sind wohl die folgenden:
Es sind drei Arten von Wanderungen der Schollen zu unter-
scheiden: das allmähliche Vorrücken der jungen Schollen mit dem
Alter in tieferes Wasser, sommerliche Wanderungen in tiefere Ge-
biete mit Rückwanderung ım Herbst und Winter an die Küsten
und drittens die Wanderung der geschlechtsreifen Tiere zu den
Laichgründen, von denen diese selten zurückzukehren scheinen.
Diese Laichwanderungen scheinen nur in zwei Richtungen zu
erfolgen. Alle Schollen ım südlichen Teil der Nordsee bis über
Helgoland hinaus laichen nach dem Verfasser ausschließlich im
Kanal. Der Verfasser glaubt auch aus diesem Grund, dass diese
Fische aus einem Laichgebiet nur einer Rasse angehören können.
Die Schollen der jütländischen Küste, die sich nur in einem kleinen
(Gebiet der friesischen Inseln, bei Amrum, mit jenen mischen,
Hinneberg, Die Kultur der Gegenwart. 54
haben einen ganz anderen Laichgrund, der aber noch nicht be-
kannt ist.
Eine Erklärung, warum die Fische wieder ihren Geburtsort
zum Laichen aufsuchen und wodurch sie befähigt sind, ihn wieder-
zufinden, vermag der Verfasser nicht zu geben. Er erläutert, dass
dies Verhalten, der Meeresströmungen wegen, die Vorbedingung dafür
ist, dass die Tiere in ihrem gegenwärtigen Verbreitungsgebiet er-
halten bleiben, aber er hebt ausdrücklich hervor, dass mit dieser
scheinbaren Zweckmäßigkeit keinerlei Erklärung dieses Verhaltens
gegeben wird. Denn neben dem Kanal würden andere Gebiete die
gleichen hydrographischen Bedingungen bieten, und doch wählt
keine Scholle sie zum Laichen.
Die Untersuchungen über das Wachstum der markierten Tiere
haben noch keine brauchbaren Ergebnisse gebracht. R.
Die Kultur der Gegenwart. Ihre Entwicklung
und ihre Ziele.
Herausgegeben von Paul Hinneberg. III. Teil, IV. Abteilung, Bd. 2. Zellen-
und (Gewebelehre, Morphologie und Entwicklungsgeschichte. Unter Redaktion von
E. Strasburger und OÖ. Hertwig. II. Zoologischer Teil. Unter Redaktion von
OÖ. Hertwig bearbeitet von R. Hertwig, H. Poll, OÖ. Hertwig, K. Heider,
F. Keibel, E. Gaupp. Leipzig, Berlin 1913. B. G. Teubner, 8°, VI, 538 S.,
413 Fig.
Der stattliche Band enthält folgende Aufsätze: Die einzelligen
Organismen von R. Hertwig. Zellen und Gewebe des Tierkörpers
von M. Poll. Allgemeine und experimentelle Morphologie und Ent-
wicklungslehre der Tiere von OÖ. Hertwig. Entwicklungsgeschichte
und Morphologie der Wirbellosen von K. Heider. Die Entwick-
lungsgeschichte der Wirbeltiere von F. Keibel. Morphologie der
Wirbeltiere von E. Gaupp. Diejenigen Teile, bei denen es auf
Schilderung des tatsächlichen Verhaltens ankomnt, sind fast durch-
weg mit großer Meisterschaft geschrieben. Reiches, gut ausgesuchtes
Material ist in aller Kürze so dargestellt, dass auch der Fachmann
Nutzen davon haben kann. Daneben finden wir Abschnitte, deren
Aufgabe es ist, den Leser in modernste Probleme einzuführen. Ich
nenne an erster Stelle OÖ. Hertwig’s „allgemeine und experimen-
telle Morphologie und Entwicklungslehre der Tiere“. Insbesondere
möchte ich auf die Besprechung der künstlichen oder experimen-
tellen Parthenogenese aufmerksam machen. Es ist sicher nicht
ohne Bedeutung, wenn weitere Kreise vor einer übertriebenen Wert-
schätzung dieser Versuche gewarnt werden: „Es ist unrichtig zu
glauben, man habe durch chemische Flüssigkeiten die Befruchtung
des Eies ersetzt oder auch nur einzelne Seiten dieses Vorganges
nachgeahmt, oder man sei jetzt auf dem besten Wege, die Befruch-
tung als einen chemischen Prozess zu erklären. Denn alle diese
542 Baur, Einführung in die experimentelle Vererbungslehre.
Experimente haben eigentlich mit dem Befruchtungsvorgang über-
haupt gar nichts zu tun. Die in ihnen angewandten Mittel sind
nur Reize, durch welche eine Fähigkeit, die doch in der Organı-
sation des Eies von Haus aus gegeben ist, die Fähigkeit sich zu
teilen, sich zu entwickeln und einen fertigen Organismus zu liefern,
veranlasst wird ın Aktion zu treten“ (S. 131). „Die Entwicklungs-
erregung ist überhaupt bei der Befruchtung nur ein untergeordneter
Vorgang. Die Hauptsache bei ihr ist dıe Vereinigung von zwei
lebenden Zellen und die auf diesem Wege ermöglichte Kombination
der Eigenschaften der zwei bei der Zeugung beteiligten Individuen“
(S. 132). Ferner sei hier erwähnt die Besprechung der präfor-
mistischen und epigenetischen Anschauungen über die Eientwick-
lung, und ©. Hertwig’s Versuch, beide miteinander zu verbinden
durch seine „Theorie der Biogenesis“. Bei dieser Aufzählung be-
sonders interessanter theoretischer Betrachtungen darf auch Franz
Keibel’s Abschnitt nicht übergangen werden. Dem Ref. ist es
nicht möglich, alles Wichtige hier auch nur zu nennen. Immerhin
ist Keibel’s Besprechung der Gastraeatheorie, des „biogenetischen
Grundgesetzes“, hier zu erwähnen. Es sind das Theorien und
Lehrsätze, die durch Häckel’s Einfluss sich einer großen Popu-
larıtät erfreuen. Ihre Kritik von seiten eines so verdienten For-
schers wie Keibel an der Hand des neuesten Materials und in
einem Buche, das sich an alle Gebildeten wendet, ist dankbar zu
begrüßen. Jordan (Utrecht).
E. Baur. Einführung in die experimentelle
Vererbungslehre.
2. Aufl., Oktav, 393 S. mit 131 Textfig. u. 10 farb. Tafeln. Berlin 1914, Borntraeger.
Es ıst kein'Wunder, dass das Baur’sche Buch schon nach
3 Jahren in neuer Auflage erscheint. Stellt es doch in seiner
Knappheit und Klarheit einen Führer durch dieses heute so wichtige
Gebiet dar, um den andere Disziplinen neidisch sein könnten. Die
Hauptkennzeichen der Baur’schen Darstellungsweise sind damit schon
genannt. Was bei einem Handbuch ein Fehler wäre, die unerbittliche
und dafür von Einseitigkeit nicht freie Durchführung einer Grundüber-
zeugung, das ist hier ein Vorzug. Dieser Grundgedanke besteht in
der Überzeugung von der überall betonten alleinigen Gültigkeit des
Experimentes, der schon den Titel bestimmt hat, und von der über-
ragenden Bedeutung der Mendel’schen Regeln. Deren Darstellung
steht denn auch im Mittelpunkte des Ganzen. Die Erscheinungen,
die an Art- und Gattungsbastarden beobachtet, als sogen. Ver-
erbungen erworbener Eigenschaften gedeutet oder Mutationen ge-
nannt worden sind, werden dieser streng einheitlichen Auffassung
eingeordnet, soweit das möglich ist, im übrigen sehr knapp und
kritisch besprochen. Auch die presence-absence-Vorstellung wird
als Theorie ganz abgewiesen.
Müller-Pouillet’s Lehrbuch der Physik und Meteorologie. 543
Sehr viel ausführlicher als in der ersten Auflage werden die
Mikroorganismen behandelt, wobei die Identifizierung der erblichen
Veränderungen an Bakterien und ähnlicher Erscheinungen mit Mu-
tationen höherer Pflanzen mit Recht abgelehnt wird. Trotzdem
wird den betreffenden Erfahrungen eine große Bedeutung zuge-
sprochen.
Die Erörterungen und die mitgeteilten Erfahrungen über die
Wirkung der Inzucht scheinen mir besonders wertvoll. Es wäre
erfreulich, wenn sie zu eingehenderer Bearbeitung dieser schwierigen,
aber stark vernachlässigten Frage führen würden.
So ließen sich noch eine ganze Anzahl von Teilfragen auf-
zählen, deren Darstellung besonders geglückt erscheint. Jedenfalls
wird kein Botaniker oder Züchter das Buch ohne großen Nutzen
durchlesen. E. 6. Pringsheim.
Müller-Pouillet's Lehrbuch der Physik und
Meteorologie.
10. umgearb. u. verm. Aufl., herausg. v. Leop. Pfaundler. IV. Bd., 5. Buch,
3. (Schluss-)Abt.: S. 977—1492 mit 312 Abb. u. 3 Tafeln. Gr. 8%. Braunschweig
1914. Friedr. Vieweg u. Sohn.
Die neue Auflage dieses klassischen Lehrbuches, deren einzelne
Teile hier regelmäßig angekündigt worden sind, liegt nun nach
mehr als zweijähriger Pause abgeschlossen vor. In diesem Schluss-
band behandeln W. Kaufmann und A. Coehn die Stromleitung
in Gasen, die Elektronentheorie der Metalle und die Radioaktivität,
A. Nippoldt den Erdmagnetismus und die Erdelektrizität. Wer
nur eine Ahnung hat von der rastlosen und fruchtbaren Arbeit, die
in diesen Gebieten ım letzten Jahrfünft geleistet worden ist, wird
die Schwierigkeiten würdigen können, die sich der Darstellung und
dem Abschluss dieser Kapitel für ein Lehrbuch, unter Beiseitelassen
des Unfertigen und doch mit klarer Wiedergabe alles gesicherten
neuesten Guts, entgegentürmten. Gleichwohl hat auch dieser
Schlussband alle die Vorzüge, die von den früher erschienenen Ab-
schnitten gerühmt werden konnten.
So können wir mit vollster Zustimmung das bescheidene
Schlusswort des Herausgebers vom November 1914 zur Charakteristik
des Werkes hier wiedergeben:
„So wie der gestirnte Himmel niemals ein Bild gleichzeitiger
Vorgänge zeigen kann, weil das Licht verschieden lange Zeit braucht,
um zu uns zu gelangen, so kann auch ein ausführliches Lehrbuch
der Physik nie ein genaues Bild aller unserer momentanen Kennt-
nisse geben, da es eben auch Zeit braucht, bis diese zur Darstellung
gelangen können. Immer wird ein Teil des zuerst geschriebenen
schon überholt sein, bis der zuletzt behandelte Teil zur Darstellung
gelangt. Eine gleichzeitige Bearbeitung aller Teile der Physik
durch eine genügende Anzahl von Darstellern ıst aber schon des-
2
544 Dahl, Kurze Anleitung etc.
halb ausgeschlossen, weil sich die Darstellung eines Teiles auf die
der andern stützen muss. Trotz dieser bei einer so rasch fort-
schreitenden Wissenschaft unvermeidlichen Schwierigkeiten sind
wir überzeugt, dass unser Lehrbuch dank der Bemühungen unserer
Mitarbeiter und der Verlagsanstalt seine Aufgabe in befriedigender
Weise gelöst hat.“ R.
F. Dahl, Kurze Anleitung zum wissenschaftlichen
Sammeln und zum Konservieren von Tieren.
3. verbesserte und vermehrte Auflage. 5°. IX und 147 S. 274 Abbild.
Jena 1914. Gustav Fischer.
Die Dahl’sche Sammelanleitung erscheint hiermit in neuer
Auflage. Der Gedanke, den der Autor vertritt, ist bekannt: der
Gedanke des mechanischen Massenfanges: Man sammle an mög-
lichst verschiedenartigen Punkten eines Geländes, man wende Ge-
räte und Methoden an, die einen Massenfang gewährleisten, man
nehme alle erbeuteten Tiere mit, soweit ihre Größe dies nıcht aus-
schließt; so kann man in verhältnismäßig kurzer Zeit die Fauna
eines Gebietes ın möglichst großer Vollständigkeit zusammen-
bringen.
Gegen die zweite Auflage sind keine wesentlichen Änderungen,
wohl aber einige Erweiterungen eingetreten. Im ersten Kapitel ist
die tabellarische Übersicht der Orte, an denen gesammelt werden
soll, ın geringem Grade verändert. Das zweite Kapitel (Die Geräte
zum Erbeuten der Tiere) hat einen kurzen Zusatzabschnitt erhalten,
behandelnd die ersten, wichtigsten Fänge ın einer Gegend. Dem
vierten Kapitel (Kurze Übersicht des Tierreiches für Sammler) ist
ein Bestimmungsschlüssel vorausgeschickt, um eine allgemeine Orien-
tierung über die systematische Stellung des gefangenen Tieres dem
Anfänger zu ermöglichen. Die Übersicht, die eine nach biologischen
Gesichtspunkten getroffene Einteilung jedes einzelnen Tierkreises
enthält, ist ın manchen Punkten ausführlicher geworden. Vor allem
ist der Kreis der Gliedertiere nicht mehr einheitlich behandelt,
sondern die einzelnen Klassen sind getrennt und jede für sich ın
der angedeuteten Weise eingeteilt worden,
Durch kleineren Druck an manchen Stellen ist es erreicht
worden, dass trotz der Vermehrung des Inhaltes der Umfang des
Buches nicht zugenommen und so seine Handlichkeit nicht ge-
litten hat.
Ein störender Fehler ist aus der zweiten Auflage übernommen
worden: In Fig. 146 ist mit der Unterschrift Anopheles die Larve
und Puppe von Oulex abgebildet. C. Zimmer (München).
Voraer von EEE Thieme in Barae ohne 15. — Dre der En Übayen.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 513
In diesen Verhältniszahlen sind die Zähler für beide Geschlechter
identisch, die Nenner dagegen für das männliche Geschlecht so
lange größer, wie d >0, so dass ihre Werte in diesem Fall für
das weibliche Geschlecht notwendig stets größer ausfallen als für
das männliche.
Endlich beträgt die relative Häufigkeit bedingter unter sämt-
lichen Zwillinggeburten
sea 0 5] Ze
n ee
n
= || — —,
[2
Anmerkung. — Wollte man annehmen, die von der Wahrscheinlichkeits-
rechnung abweichende Verteilung der Zwillinggeburten beruhe auf selektiver Ver-
minderung ihrer zweigeschlechtlichen Kombination bei bedingungsfreier Entstehung
der beiden eingeschlechtlichen, abgesehen von einer allen Kombinationen gemein-
samen, nicht selektiven Todesrate, so müsste notwendig
I
sein. Nun aber ist, je nachdem d
<
a rierlerd
en en:
folglich kommt eine derartige selektive Verminderung der zweigeschlechtlichen
Zwillinggeburten nicht in Betracht.
0,
5 }
Wollte man aber trotz des von ( an ) abweichenden Verhältnisses Ja an
BT il 02
selektiver Verminderung von f,, festhalten, so wäre man zu der weiteren Annahme
gezwungen, dass außer dieser auch eine solche der eingeschlechtlichen Kombination
des häufigeren Geschlechts stattfände, welche jedoch weniger intensiv sein müsste
als die der zweigeschlechtlichen Kombination. Auch für diese Annahme fehlt es
an jedem Anhalt.
3. Wenn man dieselben Erwägungen von den Zwilling- auf
Mehrlinggeburten höherer Klassen (Drillinge, Vierlinge ete.) aus-
dehnt, so darf man sich dem prinzipiellen Einwand nicht verschließen,
dass hier auch unter den zweigeschlechtlichen Geburtenkombinationen
„bedingte“ Individuenpaare denkbar sind, da je f,, und fi» fu fra
und f,, ete. Paare gleichgeschlechtlicher Individuen enthalten.
Bei Drillinggeburten ist, sofern man nach Analogie der Be-
rechnung für Zwillinggeburten die zweigeschlechtlichen Kombina-
tionen derselben als bedingungsfrei voraussetzt,
5-04 A] hat hi
oder Di Alfa, +)
3(1—d2)
XXXV.
co
ca
514 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
Dann ergeben sich die Frequenzen der verschiedenen Geschlechts-
kombinationen bedingungsfreier Drillinggeburten (f’aß) aus
A BI
++ ee erst ++]
mithin
un (nd fr . arte (be
Et el’ I =
6 1
Ben, R N Bez (1 U d), a u (1—.d).
Hiernach erhält man aus den preußischen Beobachtungen unter
1000 Drillinggeburten (d = ;),)
449 3,0 21 1,2. ,,0.003 >
Bedingungsfreie (f’) 97,6 273,8 256,2 79,9 EN
Bedingte(f--f) 147,4 Er27 Zee An 292,5
Beobachtet (f) 245 285 245 225 1000 = n
F-f):f 0,6016 [0,0393 —0,0457] 0,6449 0,2928.
Die Analyse der beobachteten Drillinggeburten ergibt also eine
wesentliche Gruppenzerlegung ihrer eingeschlechtlichen und eine
kaum merkliche, obendrein numerisch sich aufhebende ihrer zwei-
geschlechtlichen Kombinationen. Letztere dürfte daher zu vernach-
lässigen, und die Ausdehnung der für Zwillinggeburten zutreffenden
Erwägungen auch auf die Drillinggeburten berechtigt sein. Der
Prozentsatz bedingter eingeschlechtlicher unter sämtlichen Drilling-
geburten (29,25%) ist in Preußen sogar noch etwas höher als der
entsprechende der Zwillinggeburten (25,76 %).
Nun ist nach (2) und (6)
—_ 3n(l Ta) —Ap, —2fın
fso Sg 6 ’
fıtfe A+d)%
6 1—d
” » ’ —
ferner f.=
es beträgt daher die Anzahl bedingter männlicher Drillinggeburten
fo-fo=zUtN— fat hı2 Se faı
6 ae 3
Ir An—n (+ 2] — Ri
und dementsprechend die Anzahl bedingter weiblicher
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 515
en Bra 3ER fa
la —-fa=5 dd) 6 ze. 3
Bed | Rt 5 fa
=): An —n B+-a@)]—-7-
Hiernach ergibt sich aus unserem Beispiel zwischen eingeschlecht-
lichen bedingten männlichen und weiblichen Drillinggeburten das
Zahlenverhältnis 1,016.
Setzt man jedoch, wie der gefundenen Annäherung nach zu-
lässig erscheint, in den letzten Gleichungen
re a) den
so erhält man als „korrigierte“ Anzahlen bedingter männlicher
und weiblicher Drillinggeburten
ee = (1+d)= 151,1 statt 147,4 unseres Beispiels
fafa= (1— d)= 141,4 statt 145,1 unseres Beispiels.
Die Korrektur der bedingten Frequenzen beruht hier auf der be-
sonderen, durch den tatsächlichen Befund gestützten Annahme, dass
die Einzelfrequenzen der als bedingungsfrei vorausgesetzten zwei-
geschlechtlichen Geburtenkombinationen sich zueinander wahrschein-
lichkeitsgemäß verhalten. Ihre Summe bleibt durch die Korrektur
unbeeinflusst.
Das korrigierte Zahlenverhältnis bedingter eingeschlechtlicher
männlicher und weiblicher Drillinggeburten ist demnach, ebenso
wie das entsprechender Zwillinggeburten, gleich dem von Einling-
1+-d
1—d
demjenigen der bedingungsfreien eingeschlechtlichen Drillinggeburten
el — 1221) ab.
Summiert man die berechneten Beträge der Frequenzen der
bedingungsfreien und die korrigierten der bedingten eingeschlecht-
lichen Geburtenkombinationen, so erhält man deren hypothetische
(sesamtfrequenzen, nämlich
geburten, nämlich
— 1,069, und weicht sehr erheblich von
n=zut+)—AFe ara
22
m, an
I)
516 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
so dass sich die Verteilung unseres Materials
ER: 3,0 21 1,2 0,3
empirisch 24 285 245 225
hypothetisch 248,7 2738 2562 221,3
gestaltet.
Die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen männlichen
Drillinggeburten beträgt analytisch
fo so _ I3n(l nd) (faı +) nr d)
f30 3n(l —d?2)— 2(1—d) (2fa +2)
wi) a Ar u BP) fa
61-4) Pr —n’(1—-d)]—8f,
und hypothetisch
fol _ 4(n—n)
fo An— n (3 —2 d—d?)’
die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen weiblichen Drilling-
geburten analytisch
fs los _ 3n(l le +)
fos 3n(1 —d2)— 2(14a) (+2)
3a) An a ST) Eh
irre:
und hypothetisch
fos ey A(n— n) °)
Berne aaa,
Die relative Häufigkeit bedingter unter sämtlichen ausschließ-
lich weiblichen Drillinggeburten bleibt also des kleineren Divisors
wegen wiederum, wie bei den Zwillingen, etwas größer als der ent-
sprechende Wert der männlichen, so lange d > 0.
Endlich beträgt die relative Häufigkeit bedingter unter sämt-
lichen Drillinggeburten
az Si f os —=]1 fa fe)
3n(1—d?)
72
n
4. Allgemein ergibt sich zur Berechnung der Anzahl (»’) be-
dingungsfreier Geschlechtskombinationen unter n Fällen »-facher
5) Dem entsprechen bei unserem Material die numerischen Unterschiede
analytisch hypothetisch
dJ 0,6016 0,6076
? 0,6449 0,639.
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 517
Mehrlinggeburten unter der Voraussetzung, dass bedingte derselben
stets Erngenchlechuich sind, die Beziehung
" P—(i+ay(1-ay]=s, (10)
wos=f 11+f-23,2+ Pf, at fip ı=R - fo — ndeh. gleich
der Summe aller zweigeschlechtlichen Geburten. Ferner sei
2h=1+a” +1 — d’ =2(1+r,d—+vd’+---).
Dann ist
Du
Se Eee
2(2°-!—.h)
WW =
Ss
Te tee Het]
a+m)+a-a)
va
Ferner ist die Gesamtheit aller eingeschlechtlichen Geburten em-
pirisch
fo + fv = n — S
und hiervon nach (2) und (6) männlich, resp. weiblich
s12 ER — 1) en }
—— 5 (1 E= d) Zerlr = J
®
ne | ce)
fo. = 5a a)
wo0 <u< vr und u ganzzahlig.
Die Summe aller bedingungsfreien eingeschlechtlichen Geburten
beträgt
/D}
fo tfv=mW — Ss
2, ol
— —1 we ’
wovon männlich: = a
| (12)
weiblich: fo Sa
die Frequenzen der bedingten eingeschlechtlichen Geburten daher
unkorrigiert
518 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete.
ET) s 2(2-!—kh)+e(l4d” 1 Seen
fo —f = „ia +d) — 9 Gr, "oa zu | a
h)+ell—d) el Z[® —u—1) ee.
wr1—h ®v u
5. 2 (27
fo» -fn=z(-d)—;,
Zur Berechnung der Frequenzen der bedingungsfreien zweigeschlecht-
lichen Geburtenkombinationen dient der Ausdruck
’ v—2 a1
I v—uy, = E n) u (1-+d) —q ) 7 (14)
so dass
= Ku, = (f, —, N
Unter der erst für »>2 erforderlichen weiteren Voraussetzung,
dass f, an Bo und N N. ergeben sich für männ-
liche und weibliche Be ulccheliche Geburten überhaupt die
hypothetischen Werte
= u+9-z(1 12 en u Bl =
= I Er (” — WW ES (5) Sy
RL Ss da1—r)—v,d’ — v,d’—---
n—5(1 ee De 120 )
3 eeb-)) |
und damit für die bedingten eingeschlechtlichen Geburten die
korrigierten Frequenzen
en ı (1-+d) |
(16)
ha (img, |
so dass bei dieser Hypothese die Geschlechtsdifferenz der letzteren ®)
stets gleich d oder, wie bei Einlinggeburten, identisch mit der-
Jemen der Gesamtheit aller in der betreffenden Klasse Geborenen
6) Die Geschlechtsdifferenz bedingungsfreier eingeschlechtlicher Mehrling-
geburten ist
et -+.a
ee u mm:
I
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 519
ist, Die Summe der bedingten Frequenzen wird durch die Kor-
rektur der letzteren nicht verändert.
Das Verhältnis der bedingten zu den bedingungsfreien einge-
schlechtlichen Geburten ist
fro + for 3 Du (RR)
Bee En airie (17)
Sind sämtliche Fälle einer Klasse von ngsebnrten be-
dingungsfrei, so ist »” —n und die Verteilung ihrer Geschlechts-
kombinationen folgt dem Ausdruck
2 [a+a)+ (d-a)r.
Endlich beträgt die wahrscheinliche Summe aller einge-
i A nh : 5
schlechtlichen v-fachen Mehrlinggeburten: =: die relative Fre-
quenz bedingter eingeschlechtlicher unter sämtlichen v-fachen Mehr-
linggeburten
h
n s
A =) (18)
Die Anwendbarkeit der Methode beruht auf der Richtigkeit
der Voraussetzung, dass nur die Häufigkeit eingeschlechtlicher Kom-
binationen von Mehrlinggeburten durch besondere, wenn auch im
einzelnen ungenügend bekannte Bedingungen begünstigt wird, die-
jenige zweigeschlechtlicher dagegen unbeeinflusst bleibt.
5. Zur Beurteilung der Übereinstimmung der empirischen mit
den berechneten (hypothetischen oder wahrscheinlichen) Frequenzen
der Geschlechtskombinationen einer _—
gegebenen Klasse von Mehrling- BPUNRAEREZ
(Bu SuununE
geburten denke man sich beide
graphisch über denselben Abszissen
dargestellt. Dann ergeben sie in- 20777
haltgleiche Polygone, die sich mehr /
oder weniger genau decken, und
der relative Betrag des Flächen- 79
teils, mit dem sie zur Deckung ge-
NEUER
Ran:
HaL= DR OREUNE
langen, bildet das natürliche Maß
a: len BESERRE
ne Dbereinslummung (vgl. die „sole
ext gur ). . empirisch
Bequemer als dieser Betrag + hypothetisch
jedoch ist sein Komplementwert,
der relative Deckungsfehler der Frequenzpolygone, zu ermitteln.
Dieser erscheint in der graphischen Darstellung aus Trapezen, Drei-
ecken oder aus beiden zusammengesetzt, deren Flächensumme in
folgender Weise berechnet wird.
520 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
Man bildet die Differenzen der homologen empirischen und
berechneten Frequenzen, indem man letztere von ersteren sub-
trahiertt. Dann erhält man eine Reihe positiver und negativer
Werte der Summe Null. Nun bildet man die absolute Summe
dieser Differenzen, indem man sie sämtlich als positive Werte
addiert, berechnet hierauf die Quotienten zwischen dem absoluten
Produkt und der absoluten Summe je zweier benachbarter Diffe-
renzen ungleichen Vorzeichens und subtrahiert die Summe dieser
Quotienten von der absoluten Summe der Differenzen. Die so ent-
stehende Zahl, durch 2», den doppelten Flächeninhalt jedes der
Polygone, dividiert, ergibt den relativen Deckungsfehler A mit dem
wahrscheinlichen Fehler
E (4) = 0,67449 ya
7. B. Drillinggeburten 3,0 2,1 1,2 0,3
empirisch 245 285 245 225
hypothetisch 248,7 273,8 256,2 22103
Differenzen —37 + 112 — 112 + 37,
so dass Z(V (,— A) = 29,8, 9, = 41,44:14,9, q, = 125,44: 22,4,
gs 4164427414.9,727(0) == 11,16, mithin
29,8 — 11,16
2000
d. h. die verglichenen Frequenzpolygone decken sich zu 99,07+0,20%,
ihres Inhalts.
Für den Vergleich der empirischen mit den wahrscheinlichen
Frequenzen (cf. Abschnitt 1) dagegen fände man
die Differenzen: 107,1 — 102,1 — 117,14 112,1
438,4 — 109,54
2000
d.h.dieverglichenen Frequenzpolygone decken sich nur zu 83,56 +0,79,
ihres Inhalts.
Pie —
- —= 0,00932 + 0,00205,
und A==
— — 0,16443 + 0,00791,
I.
6. Die vorstehenden Betrachtungen wurden durch die Ähnlich-
keit der Befunde veranlasst, die ein Vergleich der Frequenzver-
teilung der Geschlechtskombinationen bei vier verschiedenen Be-
obachtungsreihen menschlicher Zwillinggeburten ergab.
In seiner „Physiologie der Zeugung*“ führt Hensen (p. 250)
nach v. Fricks eine Geburtenstatistik für Preußen während der
54jährigen Periode 1826—1879 an. Er gibt zum Teil die absoluten,
zum Teil relative Zahlen, aus denen sich die absoluten ermitteln
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 591
lassen. Diese Statistik umfasst unter 38360057 Geburten über-
haupt Mehrlinggeburten bis zu Fünflingen’). In Band VI des „Hand-
wörterbuchs der Naturwissenschaften“ findet man s. v. „Missbil-
dungen“ (p. 988) eine Statistik der Zwillinggeburten in Deutschland
für 1902. Ferner enthält Heft 26 der „Statistik des Hamburgischen
Staates“ (p. 39 und 56) Daten über 117094 Geburten der Jahre
1904—1908 im Hamburgischen Staatsgebiet, unter denen die höchst-
zahligen Mehrlinggeburten Drillinge sind. Endlich teilte Gobb
kürzlich in „Science“ (p. 501—502) die Frequenzen der Geschlechts-
kombinationen von 3334 Zwillinggeburten aus den Staaten Üon-
necticut, Maine und Vermont während der Jahre 1899—1912 mit.
Um einen Vergleich mit Tieren zu erhalten, welche normaler-
weise Mehrlinggeburten zur Welt bringen, benutzte ich Parker’s
und Bullard’s Arbeit „On the size of lIitters and the number of
nipples in swine“, die ich der Güte der Verfasser verdanke. In
dieser (p. 414—-426) findet sich eine Tabelle, auf welcher für jedes
der beiden Uterushörner von 1000 trächtigen Weibchen einzeln u. a.
die Anzahl, das Geschlecht und die gegenseitige Lage der darın
enthaltenen Embryonen angegeben ist, und aus dieser habe ich die
mich interessierenden Daten ausgezogen. Das gesamte Material um-
fasst also 2000 Uterushörner, wobei auf die einzelnen Klassen der
(bis achtfachen) Mehrlinggeburten natürlich nur wenige Fälle kommen
können; doch ist es mir nicht gelungen, anderweitig eine größere
Beobachtungsreihe aufzufinden.
Die nachstehende Tabelle I gibt eine Übersicht über das ge-
samte mir zur Verfügung stehende Material.
Tabelle I.
v /. Geburten %dtE(d) for o® n
Preußen 1826—1879.
: 987.950 7 307722 010820 976.237 ı 975,881 137898071
2 1.9055 223/002 .0,507 23,351 23,708 456685
3 0,136 33,264 3,81 0,404 0,402 5221
4 0,002 — 71,43 # 27,11 0,007 0,009 77
5 0,000) 600,00 + 98,52 0,0012) 0,000?) 3
Total 1000,000 30,59-+ 0,08 1000,000 1000,000 38360057
!) 0,00008 2) 0,00060 ») 0,00016
7) Des weiteren zitiert Hensen (l.c p. 209) nach Oesterlen eine Statistik
über 33556 Zwillinggeburten ohne Angabe ihrer Herkunft, die schwerlich mit der
preußischen identisch ist, da sie einen wesentlich größeren Wert für 4 (0,03330+0,00184)
als diese ergibt. Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen bei ihnen
ist in relativen Zahlen ausgedrückt, aus denen sich die absoluten nicht mit Sicher-
heit, d. h. ganzzahlig, ermitteln lassen. Vielleicht liegen dabei Druckfehler vor;
jedenfalls ist statt 20,23% für fj, 30,23 % zu lesen.
922
))
0)
1
3
4
5
6
7
8
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
°/oo Geburten °/,.d+E(d) od "oo 2 2
Deutschland 1902.
5 19,86 + 0,58 2 % 25 980
Hamburg 1904—1908.
986.942 728,94=:' 1,407 2 974,736 973,456 115565
12,947 4,62+ 8,66 24,969 26,180 1516
0,111 — 76,92 + 76,14 0,295 0,364 13
Total 1000,000 28,294 1,38 1000,000 1000,000 117094
Vereinigte Staaten 1899—1912.
% 28,49 + 5,84 ? ? 3334
Schwein (Parker und Bullard 1913).
26,0 — — — 52
103,0 58,25 + 33,17 36,045 32,926 206
227,0 —6,61+15,83 149,140 155,126 454
307,5 29,81-511,107°. 314.153 2303802 615
219,5 13,672211,38 7294,31277 7293953 439
87.0002 16.095 16,17. 1141,534% 150.034 174
20,0 --25,00+ 30,78 38,691 41,752 40
1,D 123,81 + 46,19 19,511 15,614 15
2,5 0,00 + 75,41 6,614 6,789 5
Total 1000,0 13,07+ 6,17 1000,000 1000,001 2000
I mi
|
VIE OHM 0m Ho
oe
6
9 32
11 30
29
30 9
1
29 100
Ra ;y-
dB
Kombinationsschema
der rechts- und der linksseitigen Embryozahlen in den Uterushörnern
von 1000 trächtigen Schweinen.
(Nach Parker und Bullard 1913.)
5)
306
471
447
4
2331
466
458
7
51, MON). As zZ d ee)
Er
3 106 57 9
Bo 225 224 226
er 309 479 448
20 "7: LU Sog raus 3e
190.79 °,13 104 250 270
3 2.9. jenem
liwea Blue, dan
1 2.10 6
70 22 10 3 1000 Ts
178 68. 41 10 1513 3024
172 64 29 14 1463 2946
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete. 595
Differenzreihe des Kombinationsschemas.
r-ı:;: 5 —1 —3 — —1 0) i z Det
I: ıl 7 >70 923735025195: 109 24 9
In Deutschland (Preußen, Hamburg) kommen auf die Gesamt-
zahl der menschlichen Geburten in runden Zahlen: Zwillinggeburten
1:84, Drillinggeburten 1: 7350, Vierlinggeburten 1 :500000. In
je 1000 Geburten werden durchschnittlich 1012 Kinder, davon 522
männliche, geboren.
Von der Gesamtzahl geborener Knaben fällt in Deutschland
ein etwas höherer Prozentsatz auf Einlinggeburten als von der-
jenigen der Mädchen; letztere ist daher etwas stärker an den
Zwilling- und, dem Anschein nach, an den Mehrlinggeburten über-
haupt beteiligt. Dementsprechend übertrifft die Geschlechtsdifferenz
der Einlinggeburten Preußens und Hamburgs diejenige der Gesamt-
heit der Geborenen. _
Bei den verschiedenen Klassen menschlicher Mehrlinggeburten
schwankt die Geschlechtsdifferenz in weiten Grenzen (von -—-77 bis
zu 600°/,0); ist jedoch in der Mehrzahl der Fälle mit so großen
wahrscheinlichen Fehlern behaftet, dass auf ıhre numerischen Werte
kein Gewicht gelegt werden darf. In zwei Beobachtungsreihen
(Preußen, Hamburg) bleibt die der Zwillinge deutlich hinter der
der Einlinge zurück, und für die Zwillinggeburten Deutschlands in
1902 ist die gefundene Geschlechtsdifferenz ebenfalls weit niedriger
als der Durchschnitt.
Beim Schwein wurden in den einzelnen Uterushörnern trächtiger
Weibchen 0—8, meist 3 Embryonen angetroffen, in 75,4%, aller
2000 Fälle 2—4. Infolge der weitgehenden Trennung der Uterus-
hörner bei dieser Tierart sind hier von gemeinschaftlichen Be-
dingungen abhängige Mehrlinggeburten nur aus je einem einzelnen
Horn zu erwarten; aus diesem Grunde wurden nur Embryonen-
gruppen aus solchen berücksichtigt. Die Verteilung der rechts- und
linksseitigen Embryozahlen ist aus dem Kombinationsschema der
Tabelle I ersichtlich; so war links in 23, rechts in 29 Fällen das
eine Uterushorn leer, während das andere 1—4 Embryonen ent-
hielt. Ein Vergleich der rechts- und linksseitigen Befunde ergibt
Embryonen davon
A & d ) d
rechts: 2,976 1,35404 1,513 1,463 0,01680 + 0,00874
links: 2,994 1,41339 1,511 1,483 0,00935 + 0,00872
Korrelation: o—=0,44598+0,01709, Asymmetrie: a—= —0,01358,
d. h. bei großer durchschnittlicher Ähnlichkeit der Anzahlen und
der Geschlechtsverteilung rechts- und linksseitiger Embryonen be-
steht eine merkliche positive Korrelation der ersteren, Die (linearen)
524 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
Regressionen der Anzahlen von Embryonen einer Körperseite auf
die von solchen der anderen sind (r = rechts, ! = links)
r = 1,6178 -- 0,45365 I
I = 1,6892 + 0,43844 r.
Die Geschlechtsdifferenz innerhalb der einzelnen Geburtenklassen
schwankt in weiten Grenzen (von 24 bis zu 124°/,,), ist jedoch
stets mit einem so großen wahrscheinlichen Fehler behaftet, dass
keine bestimmten Beziehungen zu ihnen erkennbar sınd. Im Mittel
beträgt sie 13,07 + 6,17°/,,, ist also wesentlich geringer als beim
Menschen.
Tabelle II enthält den Vergleich der berechneten (hypothetischen
und wahrscheinlichen) mit den beobachteten Frequenzen der Ge-
schlechtskombinationen bei den einzelnen Klassen von Mehrling-
geburten des Menschen und des Schweins. Letzteren sind, mit Aus-
nahme derjenigen der menschlichen Zwillmeseburgn ihre wahr-
scheinlichen Fehler beigefügt.
Tabelle II.
A. Mensch.
1. Zwillinge.
Preußen 1826—1879. Deutschland 1902.
d,2 emp. En ne wahrsch. emp. Br bed wahrsch.
20 148879 887034 60176 119483 8355 5091,34 3263,7 6755,5
11 169430 169430 228222 9786 9786 12984,9
02 138376 80906-+ 57470 108980 7839 4702,4-4-3136,6 6239,6
2 456685 339039117646 456685 25980 19579,7 + 6400,3 25980,0
Hamburg 1904—1908. Verein. Staaten 1899—1912.
analyt. analyt.
2 u bed.-fr. + bed. bed.-fr.—+ bed.
20 497 266,95-+230,05 382,51 1118 631,49-1-486,51 881,67
117355297 529 757,98 1193212193 1665,65
02 490 262,07-+227,93 375,51 1023 563,45-4459,55 786,68
wahrsch. emp. wahrsch.
3 1516 1058,02-4457,98 1516,00 3334 2387,94-1 946,06 3334,00
Relative Werte.
Be Wil n' A+E(4A)
1 RS - 20 1 s = 02 1 E a;
Th Tin, n T (wahrsch.)
Preußen 1826—79 0,4042 0,4153 0,2576 + 0,0004 0,0858 + 0,0003
Deutschland 1902 0,3906 0,4001 0,2464 0,0019 0,0821 + 0,0011
Hamburg 1904—08 0,4629 0,4652 0,5021 + 0,0080 0,1007 + 0,0052
Ver. Staaten 1899 —1912 0,4352 0,4492 0,2838 + 0,0053 0,0945 + 0,0034
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 525
2. Drillinge (Preußen 1826—1879).
analyt. bed.
; l h. wahrsch.
d,g@ emp. tE De ae) ıypoth. wahrsch
30 1279-+20,96 509,304 769,70 789,20 1298,50 719,94
21 1488422,00 1429,52 58,489 09 1429,52 2020,76
12 1279+20,96 1337,48 — 58,48 1337,48 1890,66
03 1175+20,35 417,124 757,88 738,38 1155,50 589,64
SE 3693,42 41527,58 1527,58 5221,00 5221,00
3. Vierlinge (Preußen 1826—1879).
analyt. bed.
f hy .. wa A
go. emp.-eB en) ıypoth. wahrsch
40 11+2,07 2,724 8,28 857 11,29 3,58
31 154234 1255-4 2,45 12,55 16,51
22 184250 21,73— 3,73 0,00 21,73 28.58
ee. oe 16,72 21,99
04 15+2,34 4,82 410,18 gan 1a 6,34
Ban DE on san 00 ao
Relative Werte.
ER I el)
Too = Ne (hypoth.) (wahrsch.)
Drillinge 0,6018 0,6450 0,2926 + 0,0042 0,0075 + 0,0008 0,1644 + 0,0025
Vierlinge 0,7527 0,6787 0,2397 +0,0328 0,0347 + 0,0141 0,1832 + 0,0297
B. Schwein.
1. Zwillinge.
analyt.
d,2 emp. +E De wahrsch.
20 104 + 6,04 119,90 — 15,90 112
11 243+717 243 227
02 107 + 6,10 123,12 — 16,12 115
> 454 486,02 — 32,02 454
2. Drillinge.
analyt. bed.
d,? emp.+ Eadlı bei a hypoth. wahrsch
30 8845,86 82,35-- 5,65 6,08 88,43 83,96
21 234+8,12 232,744 1,26 232.14 2. ans
12 218+8,00 219,26 — 1,26 | 70721906. 20a,
03 616 18172. 1174,57 70,20
22615 603,20 411,80 11,80 615,00 615,00
526 ° Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen ete.
3. Vierlinge.
analyt. bed.
euer B bed.-fr.—+bed. (korr.)
Keen 28,891. 211 U 0,61. 2osoo
hypoth. wahrsch.
as 618 112,441.056 112,44 112,75
er 164,11 —711'\ 0,00. 164.11, 1464,56
13 113+6,18 106,45-46,55 106,45 106,75
0A 2%+328 25,90—0,90 v,60 26,50 25,97
Eur 139 437,794+121 1,21 439,00 439,00
4. Fünflinge.
analyt. bed.
bed.-fr.+ bed. (korr.)
50 Ve 4,98-42,02 0,58 5,56 5,01
Be 51290 9572 A72 25,72 25,89
32 544412 53,11-+0,89 53,11 58,47
d,? emp. +E hypoth. wahrsch.
23 604423 54,85+5,15 ( Day 54,85 55,22
9723,22 7 28,52 132 28,32 28,53
05 5+1,49 5,85—0,85 0,59 6,44 5,88
Bu 7A 172,83 1,070 21170 0172009 2172.00
Relative Werte.
eo RE
vo fov a
Zwillinge — 0,1529 —0,1507 —-0,0708+0,0081
Drillinge 0,0642 0,0820 0,0192 + 0,0037
Vierlinge 0,0681 --0,0360 0,0028 -+ 0,0017
Fünflinge 0,2886 —0,1700 0,0067 + 0,0042
A SE IE(A)
(hypoth.) (wahrsch.)
Zwillinge — 0,0235 + 0,0048
Drillinge 0,0012 + 0,0009 0,0108 + 0,0028
Vierlinge 0,0137 +0,0037 0,0143 + 0,0038
Fünflinge 0,0347 + 0,0094 0,0332 + 0,0092
7. Eingeschlechtliche Zwillinggeburten beim Menschen
machen 62,3 (Deutschland 1902) bis 65,1% (Hamburg) der sämt-
lichen Zwillinggeburten aus, d. h. sie treten 1,26 (Preußen), 1,25
(Deutschland 1902), 1,30 (Hamburg) resp. 1,28 (Ver. Staaten) mal
so häufig auf, wie der Wahrscheinlichkeitsrechnung nach zu er-
Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc. 597
warten wäre. Ferner sınd 24,6 bis 30,2%, aller Zwillinggeburten
und 39,1-—-46,5 %, der eingeschlechtlichen bedingte. Das Verhältnis
bedingter zu bedingungsfreien eingeschlechtlichen Zwillinggeburten
(Br -ı) beträgt daher für Preußen 0,69, für Deutschland
Vaozicl 02
1902 0,65, für Hamburg 0,87, für die Ver. Staaten 0,79, für die
Gesamtheit der Beobachtungen 0,69. In allen diesen Zahlenwerten
besteht eine auffällige Übereinstimmung der vier Beobachtungs-
reihen.
Während die Geschlechtskombinationen der bedingungsfreien
Zwillinggeburten Frequenzen aufweisen, die ihren Wahrscheinlich-
keiten entsprechen, so dass
ee ler a2 Zar)”
A en
und fnifa (1a):
verhalten sich diejenigen der bedingten stets wie m: ww der Gesamt-
heit, nämlich
„ 2 1-+d
(fr — ao) : (fa — Foo) = kan?
also nicht wie Zwilling-, sondern wie Einlinggeburten.
Mithin besteht ein charakteristischer und gesetzmäßiger Unter-
schied in der Frequenzverteilung bedingungsfreier und bedingter
Geschlechtskombinationen bei menschlichen Zwillinggeburten, in
welchem die scheinbar irreguläre Verteilung der Gesamtheit der-
selben ihre vollständige Erklärung findet.
Eingeschlechtliche Drillinggeburten beim Menschen machen
47,0%, der sämtlichen aus oder sie sind 1,87mal so häufig wie nach
der Wahrscheinlichkeitsrechnung zu erwarten. Ferner sind 60,2 (J‘)
resp. 64,5%, (9) der eingeschlechtlichen und 29,3%, aller Drilling-
geburten bedingte; solche sind also in Preußen noch etwas häufiger
als bedingte Zwillinggeburten. Das Verhältnis bedingter zu be-
dingungsfreien eingeschlechtlichen Drillinggeburten ist daher
ot la _ 11,65,
ar 03
also viel größer als das entsprechende der Zwillinggeburten.
Die Frequenzen bedingungsfreier Drillinggeburten verhalten
sich ihrer Wahrscheinlichkeit gemäß, so dass
i e 1+d\? ’
aere Dos == we) = 2210.
Die der bedingten hingegen erreichen, wie schon im dritten Ab-
schnitt dieser Arbeit hervorgehoben, das hypothetisch zu erwartende
Verhältnis
528 Duncker, Die Frequenzverteilung der Geschlechtskombinationen etc.
(1--d): (1 —d) = 1,0683
infolge geringer, wahrscheinlich zufälliger ®) Unregelmäßigkeiten der
Frequenzverteilung der zweigeschlechtlichen Kombinationen nicht,
sondern ergeben das wesentlich kleinere
(f30 — 30) : (fo Fan fo) Zn 1,0156,
welches nicht die dritte, sondern rund erst die dreizehnte Wurzel aus
nenn
a) dar stellt.
Statt der analytisch gefundenen müssten die korrigierten Werte
30 — fs = 189,20, fos — F os = 138,38
vorliegen, um das Verhältnis 1,0688 zu ergeben; ihnen entspricht
die Erhöhung von f,, = 1279 + 20,96 auf 1298,5 und die Herab-
setzung von fj, = 1175 + 20,35 auf 1155, also Abänderungen der
beobachteten Größen, die noch innerhalb der wahrscheinlichen
Fehler der letzteren bleiben. Unter der Voraussetzung, dass neben
den bedingungsfreien Geburtenkombinationen in ihrem Wahr-
scheinlichkeitsverhältnis die bedingten im korrigierten Verhältnis
(1-+d):(1—d) auftreten, erhält man die hypothetische Verteilung
der Gesamtheit, die eine weit bessere Übereinstimmung mit der
empirischen, als die wahrscheinliche, ergibt: der relative Deckungs-
fehler der graphischen Darstellungen beträgt in ersterem Vergleich
nur 0,75+0,08%, in letzterem 16,44+ 0,35 %.
An menschlichen Vierlinggeburten enthält das preußische
Material nach Hensen nur 77 Fälle; die entsprechenden Zahlen-
werte sind daher notwendig mit großen wahrscheinlichen Fehlern
behaftet.
Eingeschlechtliche Vierlinggeburten machen 33,8%, der sämt-
lichen aus, oder sie sind 2,62mal so häufig wie nach der Wahr-
scheinlichkeitsrechnung zu erwarten. Ferner sınd 75,3 (S) resp.
67,9(9)%, der eingeschlechtlichen und 24,0%, aller Vierlinggeburten
bedingte. Das Verhältnis bedingter zu bedingungsfreien einge-
schlechtlichen Vierlinggeburten beträgt
ist also noch wesentlich größer als bei Drillinggeburten.
8) Die graphische Darstellung der empirischen Frequenzen (cf. die Textfigur
auf p. 519) ergibt ein Polygon, dessen f,,-Winkel gegen die Fläche desselben ein
wenig einspringt, obgleich sowohl f,, wie /,, ausspringende Winkel aufweisen. Ein
derartiger Befund, der sich zahlenmäßig in einer kleinen positiven zwischen zwei
größeren negativen zweiten Differenzen der Frequenzen äußert, ist erfahrungsgemäß
ein Zeichen zufälliger Irregularität.
Biolosisches Centralblatt
Begründet von J. Rosenthal.
In Vertretung geleitet durch
Prof. Dr. Werner Rosenthal
Priv.-Doz. für Bakteriologie und Immunitätslehre in Göttingen.
Herausgegeben von
DEIK. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig.
Der Abonnementspreis für 12 Hefte beträgt 20 Mark jährlich.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten.
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, alle Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. Werner Rosenthal, z.Z. Erlangen, Auf dem
Berg 14, einsenden zu wollen.
Bd. XXXYV. 20. Dezember 1915, 2% 12.
m
Inhalt: Driesch, Gibt es harmonisch-äÄquipotentielle Systeme? Eine Erwiderung, — Lehmann,
Art, Reine Linie, Isogene Einheit. — Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. —
Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur Vererbung und Bestimmung
des Geschlechts. — Prät, Einige neuere Versuche über die Wirkung des Lichtes auf die
lebenden Organismen. — Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der
Metazoen. — Brehm’s Tierleben. — Seitz, Die Großschmetterlinge der Erde. — Abder-
halden, Lehrbuch der Physiologischen Chemie in Vorlesungen. — Bateson, Mendel’s Ver-
erbungstheorien. — Register.
Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme?
Eine Erwiderung
von Hans Driesch (Heidelberg).
Im Laufe der letzten Jahre habe ich auf Angriffe gegen mein
biologisches Theoriensystem nur in seltenen Fällen geantwortet,
und zwar eigentlich nur dann, wenn es sich um besondere Meinungs-
verschiedenheiten im Rahmen der allgemeinen vitalistischen Theorie
handelte, wie z. B. in der Frage nach der besonderen Art und
Weise der vital-mechanischen Wechselbeziehung!). Ich war näm-
lich der Überzeugung, dass alles gegen den Grundgedanken der
vitalistischen Theorie Vorgebrachte diesen Grundgedanken gar nicht
traf, sondern vielmehr aus einem begrifflichen Missverstehen oder
unvollständigen Erfassen der empirisch und logisch gleich fest ver-
ankerten Theorie entsprungen war. Und ich hatte das Zutrauen,
dass ein gewissenhafter Leser meiner Darlegungen und der Angriffe
auf sie alle Dunkelheiten schon zu beheben wissen werde?).
1) The Problem of Individuality, 1914, S. 40.
2) Gegen die Angriffe, welche A. Greil und K. Marcus vor einiger Zeit
gegen die Entwicklungsmechanik überhaupt richteten, habe ich, im Jahre 1913,
xXXXV. 3)
546 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme?
Wenn ich heute mit Rücksicht auf eine bestimmte, neu er-
schienene biotheoretische Arbeit, nämlich J. Schaxel’s Buch über
Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Meta-
zoen (Jena 1915), von dem in den letzten Jahren von mir befolgten
Verhalten abweiche, so geschieht das darum, weil Schaxel die
empirische Basis meines Lehrgebäudes stark erschüttern zu
können glaubt. Die experimentellen Tatsachen, auf denen dieses
Gebäude ruht, seien, so meint er, teils als Tatsachen unrichtig oder
unvollständig dargestellt, teils schief analysiert. Mit der Basis aber
falle naturgemäß der Bau. Um so mehr aber glaube ich berechtigt
zu sein, den Versuch einer Zurückweisung der Angriffe Schaxel’s
zu unternehmen, weil er andererseits die immanente Logik
meines Theoriengebäudes nicht bestreitet: „Driesch’s auf die
Differenzierung harmonisch -äquipotentieller Systeme gegründeter
Beweis für die Autonomie der Lebensvorgänge ... ıst meines Er-
achtens in sich richtig,“ so heißt es auf Seite 132. Aber — es
gibt nun eben nach Schaxel harmonisch-äquipotentielle Systeme
nicht!
Diesem ganz fundamentalen Angriff gegenüber werden wir nun
freilich zeigen können, dass Schaxel selbst in ganz demselben
Umfange wie ich das Dasein harmonisch-äquipotentieller Systeme
nachgewiesen hat, und zwar auch da, wo er berechtigte Korrek-
turen an meinen Darlegungen in Einzelheiten vornahm, wie z.B.
bei den (Olavellina-Untersuchungen; auch diese Korrekturen
ändern am Wesentlichen nichts.
Ich gehe nun zunächst die verschiedenen kritischen Ausstel-
lungen, welche Schaxel zu meinen Experimentaluntersuchungen
als solchen zu machen hat, der Reihe nach gruppenweise durch,
um alsdann noch gewisse Fragen der Deutung kurz zu erörtern.
1. Veränderung des Furchungstypus durch Temperaturerhöhung
und Seewasserverdünnung.
Im Winter 1891/92°) habe ich durch Temperaturerhöhung den
Typus der Furchung der Eier von Sphaerechinus granularis und
Echinus mierotubereulatus dahin verändert, dass im 16zelligen Sta-
dıum die Mikromeren teilweise oder ganz in Wegfall kamen, der
Keim also aus 16 annähernd gleichen Zellen, meist in nicht ganz
eine kritische Erwiderung geschrieben. Doch habe ich die Veröffentlichung der-
selben unterlassen, da mir die Erörterung des Greil’schen Buches durch Roux
(Arch. Entw.-Mech. 35, 1912, S. 314) hier genug zu sagen schien. Auch ist es
doch wohl etwas viel verlangt, sich literarisch auf Angriffe ein,ulassen, deren Autor,
in diesem Falle Marcus, sich zu dem Satze versteigt: „Die Zahl derjenigen Ar-
beiten, die Tatsachenmaterial zu diesen (sc. den entwicklungsphysiologischen) Pro-
blemen beitragen, ist sehr gering.“ Das Archiv für Entwicklungsmechanik
allein ist nach 21 Jahren bei seinem 42. Bande angelangt!
3) Zeitschr. f. wiss. Zool. 55, 1892, S. 10ff.
Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 547
normalen Lagen, bestand. In der großen Mehrzahl der Fälle erzielte
ich trotzdem normale Larven, und wenn ich nicht normale Larven
erzielte, so handelte es sich ausgesprochenermaßen um durch die
Wärmewirkung „pathologisch“ gemachte kurzlebige Objekte.
Der Bericht über das Zustandekommen der abnormen Furchungs-
stadien sei „dürftig“, sagt Schaxel (S. 136); dem gegenüber kann
ich nur darauf hinweisen, dass ich in vielen Dutzenden von Fällen
einzelne, nach einem besonderen Verfahren isolierte Eier in
jedem Stadium der Veränderung beobachtet und gezeichnet habe.
Was da noch weiter beobachtet werden soll, weiß ich nicht; An-
gaben über irgendwelche Körnchen im Protoplasma oder Ähnliches
scheinen mir recht gleichgültig zu sein*) angesichts des Umstandes,
dass es sich eben doch um ganz bestimmte Dinge handelt, nämlich
darum: Ist der Furchungstypus überhaupt wesentlich veränderbar?
Und wird trotzdem etwa die Larve normal? Beides war auf
Grund sehr zahlreicher Versuche zu bejahen: „Meine positiven Ver-
suche ın dieser Hinsicht zählen nach vielen Dutzenden“, heißt es
auf S. 15 meiner Arbeit.
Schaxel selbst hat die Wärmeversuche an Strongylocentrotus
wiederholt; er hat aber „nur selten“ (S. 136) Keime aus gleich großen
Blastomeren erzielt und nie normale Larven aus solchen gezogen.
Die ausführliche Arbeit ıst noch nicht publiziert; dass Schaxel’s
aus 16 gleich großen Blastomeren bestehende Keime die Ergebnisse
doppeltbefruchteter Eier gewesen seien, ist doch wohl nicht anzu-
nehmen. Aber der Misserfolg wäre auch sonst verständlich; diese
Wärmeversuche sind nämlich äußerst heikler Art: ?/, bis !/,° ©.
zu wenig, und die Mikromeren sind noch da; !/, bis t/,°C. zu viel,
und die Larven sind „pathologisch“ und sterben früh; und dazu ist
noch die „richtige* Temperatur für die Eier des einen Weibchens
nicht die „richtige“ für die des anderen. —
Ehe ich weitergehe, eine allgemeine Bemerkung: Immer wieder
kommt Schaxel darauf, dass alle seine Vorgänger nicht genug
Einzelheiten im Verlauf des experimentell abgeänderten Geschehens
beobachtet hätten. Alle wesentlichen Einzelheiten, kann ich da
nur wiederholen, habe ich und haben auch Wilson, Morgan,
Zeleny u. s. w. stets beobachtet. Ich sehe nicht, dass Schaxel
hier irgendetwas „Wesentliches“ hinzugefügt hätte, es sei denn bei
Ulavellina.. Wenn es aber auf S.188 gar heißt: „Die sich auf den
äußeren Anschein eines Gemenges (sic!) von Objekten beschränkende
4) Anders ist es natürlich bei den mit ausgesprochener Beziehung auf die
Morphogenesis angestellten zytologischen Untersuchungen von Wilson, Conklin
u.s. w. Auch die Angaben Boveri’s über den Pigmentring der Eier von Strongylo-
centrotus sind selbstredend von Bedeutung. Aber dieser Ring konnte doch wohl
nur beschrieben werden, wo er vorhanden war; und er ist bei Hehinus und Sphaer-
echinus nicht vorhanden.
3*
548 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme?
und die Verfolgung von Einzelheiten vernachlässigende Forschung
hat von ihr Unaufgelöstes für das unlösbare Rätsel des Lebens aus-
gegeben,“ so weiß ich wahrlich nicht, was ich zu dieser Rede vom
„Gemenge von Objekten“ sagen soll. Schaxel musste doch wahr-
lich wissen, dass ich jeweils jedes einzelne Objekt, ja jede einzelne
Furchungszelle, wenn es sich um eine solche handelte, isoliert ın
ihrem Entwicklungslaufe beobachtet habe, was durchaus nicht ein
besonders angenehmes, wennschon ein durchaus notwendiges Ge-
schäft war. Und ganz genau ist stets von mir das umständliche
Geschäft der Isolation geschildert worden. —
Bei einem gewissen Grade der Verdünnung des Seewassers
treten an den Keimen der Echiniden Mikromeren schon „vorzeitig“,
d. h. im achtzelligen Stadium auf, ohne dass diese Abnormität die
Entstehung normaler Larven verhindert’). Diese Versuche sind
sehr leicht ausführbar. „Nur einmal“ wurde, meint Schaxel
(S. 136), von der Bildung normaler Plutei von mir berichtet. Das
stimmt. Aber dieses „eine“ Mal heißt es eben: „Eier, welche sich
auf die beschriebene Weise gefurcht hatten, bildeten... durchaus
normale Plutei.“ Warum sollte ıch das mehr als einmal sagen,
wo es sich um eine sehr einfache, jeden Tag mit Leichtigkeit wieder-
holbare Angelegenheit handelt?
2. Veränderung des Furchungstypus durch Druckwirkung und
nachträgliche Verlagerung von Zellen.
Kommen die vorstehend genannten Versuche für mein eigent-
liches Theoriengebäude nicht wesentlich in Betracht, so ıst die Be-
deutung der Druck- und Verlagerungsversuche für meine theore-
tischen Folgerungen allerdings erheblich. Die Druckversuche®)
freilich dienten vorwiegend Negativem, nämlich der Widerlegung
der Weismann’schen Lehre von der differenzierenden Bedeutung
der Kernteilung: trotz durchaus abnorm zueinander hegender Kerne
ein normales Ergebnis.
Die Verlagerungsversuche (ohne Entnahme von Zellen) hatte
ich anfangs’) in ıhrer Bedeutung überschätzt. Später sah ich®°),
dass hier häufig eine rein physikalische Regulation schon während
der weiteren Furchung einsetzte, welche das ursprüngliche Ver-
lagerungsergebnis ohne weiteres rückgängig machte. Für gewisse
Fälle freilich blieb die Bedeutung des Versuches bestehen: Ver-
lagert gebliebene Mikromeren allerdings konnten sich nicht dem
„Ganzen“ einfügen; ihre Verlagerung führt zu partiellen Verdoppe-
lungen der ÖOrganbildung. Aber die Masse der Makromeren
5) Mitteil. Zool. Station Neapel 11, 1893, S. 226ff.
6) Zeitschr. wiss. Zool. 55, 1892, S. 17ff.; Anat. Anz. 8, S. 348.
7) Arch. Entw.-Mech. 4, 1896, S. 112ff.
8) Ebenda 14, 1902, S. 517 ff.
Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 549
konnte vollkommen zu zwei durchaus voneinander getrennten
Haufen verlagert sein, ohne dass dadurch eine normale End-
bildung verhindert ward.
Eben diese letzte Versuchsgruppe stellt Schaxel nun durch-
aus unzutreffend dar, obwohl gerade ihr einige Experimentalunter-
suchungen von ganz besonderer Sorgfalt von mir gewidmet worden
sind. Hier löst in Schaxel’s Darstellung immer eine Unrichtigkeit
die andere ab (S. 139f.):
„Stillschweigend“ soll ich die Notwendigkeit „der sogenannten
Mikromeren“ für die Entwicklung zugeben.
Ich hatte aber in einer besonderen Untersuchung’) gezeigt,
dass sie nicht notwendig sind. Nur dass, wenn sie alle vorhanden
sind, aber in zwei voneinander gesonderten Haufen daliegen, auch
zwei Därme entstehen, habe ich später gesagt.
Und weiter: Das Ergebnis des wichtigen Versuches, in dem
die Zellen des Mikromerenpols beieinander geblieben, die Makro-
meren aber völlig, und zwar, wie mit ganz besonderer Sorg-
falt festgestellt ward, irregulabel voneinander getrennt waren,
und doch ein normaler Pluteus resultierte, referiert Schaxel ın
folgender Form:
Driesch sagt nun: „Es sind also in den letztgeschilderten
Versuchen die Elemente mit einziger Ausnahme des beieinander ge-
bliebenen Mikromerenpols (und der Makromerengruppe! Schx.)
wirklich in ganz durchgreifender Weise definitiv verlagert worden,
ohne dass die Bildung eines normalen Produktes irgendwie gestört
worden wäre.“
Durch den Zusatz „und der Makromerengruppe!“ glaubte
Schaxel meine zusammenfassende Darstellung zu berichtigen und
dadurchinihrer Bedeutungaufzuheben. Er sieht aber nicht,
dass der Zusatz falsch ist: der mit besonderer Sorgfalt festgestellte
Sachverhalt!) war ja gerade, dass die Makromerenverlagerung
„definitiv“ blieb! Diese Versuchsart hat also Schaxel geradezu
gänzlich unrichtig aufgefasst. In diesen Fällen gab es eben keine
nachträglichen physikalisch-regulatorischen Verlagerungen im weiteren
Furchungsverlauf.
3. Versuche mit isolierten Blastomeren und Blastomerenkomplexen.
Wir kommen zum Wichtigsten und — seltsam — gerade
hier hat nun Schaxel nicht, wie vorher, (ungerechtfertigte) An-
griffe gegen den von mir!!) aufgedeckten eigentlichen Tatbestand
9) Mitt. Station Neapel 11, 1893, S. 234.
10) Arch. Entw.-Mech. 14, S. 520-522.
11) Zeitschr. f. wiss. Zool. 53, 1891, S. 160; ebenda 55, 1892, S. 3; Mitt.
Stat. Neapel 11, 1893, S. 232; Arch. Entw.-Mech. 2, 1895, 8. 169; 4, 1896,
S. 104; 10,'1900, S. 361; 14, 1902, 8. 500; 17, 1903, S. 41; 20, 1905, 8. 1; 21,
1906, S. 756; 26, 1908, S. 130 und 8. 146.
550 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme?
beizubringen, hier kommt er im Grunde schon nur mit Deutungen,
mit sehr seltsamen Deutungen freilich, die den unbefangenen Leser
wohl zu der Äußerung veranlassen werden: Was will er denn
eigentlich? Er redet ja doch immer selbst, nur ohre Verwendung
des Wortes, von „harmonisch-äquipotentiellen Systemen“!
Sachlich ist hier eigentlich nur ein Punkt zu berichtigen —
wenn ich von dem immer wiederkehrenden, gänzlich ungerecht-
fertigten Vorwurf, dass ich die „bewirkenden Geschehensweisen“
nicht genügend berücksichtigt hätte, ein für allemalabsehe. Schaxel
hat nämlich eine, wie ich glaube, wichtige Arbeit von mir !?) über-
sehen. Ich habe an dem, was ich „unharmonisch zusammengesetzte
Keime“ nenne, nicht, wie er meint, „nur festgestellt, wie viel
Mesenchym jeweils gebildet wird“ (S. 150); das war ın einer früheren
Arbeit!?) geschehen. Ich habe mir vielmehr auch die Aufzucht von
Pluteis aus unharmonisch zusammengesetzten Keimen ganz be-
sonders angelegen sein lassen, und zwar mit dem Ergebnis, dass
bei jedem beliebigen Zahlenverhältnis zwischen Mikro-, Meso-
und Makromeren die Bildung normaler Plutei möglich ıst. Auch
hier werden selbstverständlich die einzelnen Keime ısoliert auf-
gezogen und auf jedem Stadium beobachtet.
Nun aber das Seltsame:
Schaxel greift keine einzige meiner Angaben über
die Ganzentwicklung isolierter Blastomeren und Blasto-
merengruppen an, findet, woer nachuntersucht hat, ganz
dasselbe wie ich, behauptet aber, dass das „harmonisch-
äquipotentielle System“ nicht existiere!
Nun war das Wort „harmonisch-äquipotentielles System“
meinerseits ein kurzer terminologischer Ausdruck für einen ge-
fundenen Sachverhalt'*); gar keine „Theorie“ liegt in dem Sach-
verhalt; Theorie entsteht erst durch seine denk-analytische Ver-
arbeitung.
12) Arch. Entw.-Mech. 26, 1908, S. 146.
13) Arch. Entw.-Mech. 19, 1905, S. 658.
14) Schaxel verwendet (S. 12Sff.) das Wort „äquifinale Regulationen“ in
einem weiteren Sinne als ich (Arch. Entw.-Mech. 14, 1902, S. 278 und Philos. d.
Org. I [1909], S. 160. Wenn von demselben willkürlich gesetzten atypischen
Ausgangspunkt aus dasselbe Ergebnis auf verschiedenen Wegen, selbstredend
bei verschiedenen Individuen, erreicht wird, hatte ich von äquifinalen Regulationen
geredet. Schaxel meinte in meinem Sinne von einer äquifinalen Regulation reden
zu können, wenn aus atypischem Ausgange überhaupt ein typisches Resultat sich
ergibt. In solchem Falle sage ich einfach „Regulation“, insonderheit „Formregu-
lation“; doch Schaxel’s Gebrauch des zusammengesetzten Ausdrucks ist hier nicht
missleitend. Falsch ist es aber, wenn er, angeblich in meinem Sinne, sagt (S. 131):
„Wo äquifinale Regulationen vorkommen, da differenzieren sich harmonisch-äqui-
potentielle Systeme.“ Das Problem der Aquifinalität in meinem Sinne hat nämlich
an und für sich mit dem der harmonischen Aquipotentialität nichts zu tun.
Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 551
Sollte Schaxel nicht, wenn er das Dasein harmonisch-äquı-
potentieller Systeme bestreitet, den durch dieses Wort bezeich-
neten Sachverhalt aber selbst als zu Recht bestehend nachgewiesen
hat, sollte er nicht uneingestandene „Theorien“ von vornherein
an die empirischen Ergebnisse heran- und in sie hineingetragen
haben?
Eine Äußerung auf S. 156 gibt uns, so scheint mir, den Schlüssel
zu diesem seltsamen Verhältnis: „Es müssen (sic!) sich“, heißt es
da, „also die isolierten Blastomeren unter sich gleich und wie
das Ei verhalten, d. h. die von dem Ei ihren Ausgang nehmenden
Bildungen einleiten.“ Und ganz ähnlich wird dann zwei Seiten
weiter auch die harmonische Ganzentwicklung isolierter Blastomeren-
gruppen der späteren Furchungsstadien für ganz ohne weiteres
verständlich erklärt, und ebenfalls, auf S. 161, die Entwicklung
von Blastulafragmenten zu verkleinertem Ganzen.
Schaxel gibt hier also, um das noch einmal besonders
hervorzuheben, alles Tatsächliche, so wie es von mir auf-
gefunden wurde, zu.
Aber er sieht nicht das ungeheuer Merkwürdige des Sach-
verhaltes!
„Die hier bei der Holoplastie wirksamen Faktoren sind ledig-
lich die der typischen Entwicklung“, heißt es S. 164. Das freilich
habe ich nun auch gesagt und in meinem Begriff der primären
Regulation®’), d.h. der den in Frage kommenden Faktoren-
komplex als solehen durchsetzenden Regulabilität, zum Ausdruck
gebracht. Ich aber sage dann weiter: eben dieses seltsame Phä-
nomen primärer Regulation kann nicht maschinell gedacht werden.
Schaxel aber sagt, es handle sich nicht um „das Werk zielstrebiger
Regulationen“ (S. 164); typische Ausgangspunkte, die zu Typischem
führen, seien vielmehr trotz der Experimentaloperation typisch
geblieben. —
Hier eine zurechtweisende Zwischenbemerkung: Ich soll, nach
Schaxel (S. 165) „endgültige Atypien“ gar nicht „erwähnt“ haben;
ich hätte sie wohl, meint er, wo sie mir untergelaufen seien, für
„misslungene Versuche“ angesehen. Diese Bemerkung nimmt sich
seltsam aus angesichts der großen tabellarischen Übersichten, die
ich bei so vielen Gelegenheiten über typische und atypische End-
resultate in ihrem gegenseitigen Zahlenverhältnis veröffentlicht
habe 1%), —
Kehren wir zur Hauptlinie unserer Gedanken zurück, so dürfen
wir also sagen, dass Schaxel im Tatsächlichen durchaus mit uns
15) Arch. Entw.-Mech. 3, 1896, S. 377; Philos. d. Org. I, S. 111.
16) Z. B. Entw.-Mech. 10, 1900, S. 370ff.; 17, 1903, S. 44. Ferner die ge-
samten Arbeiten: Arch. Entw.-Mech. 4, 1896, S, 247; 21, 1906, S. 756; 26, 1908,
S. 130.
552 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme?
übereinstimmt, dass er aber das eigentlich Wesentliche und unge-
heuer Merkwürdige des von ihm als tatsächlich zugegebenen Sach-
verhaltes deshalb nicht sieht, weil er ihm gar zu selbstverständlich
scheint. Er selbst findet „harmonisch-äquipotentielle Systeme“,
d.h. er findet denjenigen Sachverhalt, den ich mit diesem Worte
terminologisch festgelegt habe. Aber er sagt: „Die Versuche über
die Entwicklung isolierter Keimteile bei Echinodermen geben durch
ihre Resultate keinen Anlass, die Furchung!”) als eine Differen-
zierung harmonisch-äquipotentieller Systeme zu betrachten“ (S. 167).
Wie ıst das möglich? Dadurch ist es möglich, dass Schaxel
ihm selbst unbewusste theoretische Deutungen von vorn-
herein in die Beurteilung der Sachverhalte hineinbringt.
Das soll im Schlussabschnitt erörtert werden '°).
4. Versuch an Qlavellina.
Auch die Ergebnisse meiner Arbeiten am Kıemenkorb der
Olavellina') gibt Schaxel in ıhren wesentlichen Ergebnissen zu,
nur dass er freilich den für das theoretische Resultat bedeutungs-
vollsten Versuch, die Aufzucht kleiner Ganzbildungen aus be-
liebigen Bruchstücken des Kiemenkorbes, nicht ausführte.
Eine wesentliche und gute Ergänzung zu meinen Befunden
liefert er nach der histologischen Seite: Er zeigt mit hoher Wahr-
scheinlichkeit, dass rückgebildete Zellen total zerstört werden und
dass alle Wiederauffrischung von indifferenten Reservezellen aus-
geht. Die Differenzierungsvorgänge sind also nicht in dem Sinne
„reversibel“, wie J. Loeb?°) und ich uns das gedacht hatten.
Aber — ist darum nun der seine wunderbaren Restitutionen
leistende Kiemenkorb der Ulavellina kein harmonisch-äqui-
potentielles System, oder vielmehr, ein System dreier solcher
Systeme? Ich meine die Gesamtheit der Reservezellen stelle
denn doch, in jedem der drei Keimblätter für sich, mit außerordent-
licher Deutlichkeit jeweils ein solches System dar, und zwar nach
Schaxel’s eigenen Befunden. Er beruhigt sich dabei (S. 279),
dass die indifferenten Zellen „eine völlig typische Knospenanlage
aus drei in sich indifferenten Zellschichten bilden, die ın durchaus
typischer Entwicklung eine neue (lavellina bilden.“
17) Der Ausdruck ist hier ungenau; statt „die Furchung‘“ müsste es heißen:
„die Entwicklung des abgefurchten Keimes“.
18) Was Einheitsbildungen aus zwei Eiern anlangt, so ist der Sachverhalt
durch meine Untersuchung von 1909 (Arch. Entw.-Mech. 30,1, 1910, S. 8), sowie
durch die Arbeiten von Bierens de Haan (Arch. Entw.-Mech. 36 u. 37, 1913)
und Goldfarb (Biol. Bull. 24, 1913) wohl endgültig geklärt. Auch hier gibt
Schaxel den Sachverhalt zu (S. 184), hält ihn aber für selbstverständlich.
19) Arch. Entw.-Mech. 14, 1902, S. 247.
20) Amer. Journ. Physiol. 4, 1901, S. 458.
Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme ? 5553
Ist denn das so selbstverständlich? Und sind da keine har-
monisch-äquipotentiellen Systeme am Werk?
Schaxel hat die Ergebnisse seiner Olavellina-Untersuchungen
schon auf der Zoologenversammlung?!) in Freiburg ı. B. (1914) vor-
getragen??). Sowohl Herbst wieSpemann haben sofort das Ver-
fehlte seiner Schlussfolgerungen erkannt. Man vergleiche S. 145
des Berichtes:
„Herr Prof. Herbst bestreitet, dass die vom Vortragenden
mitgeteilten Tatsachen die Existenz harmonisch-äquipotentieller
Systeme bei Tunicaten und Echinodermen irgendwie in Frage stellen.
Herr Prof. Spemann: Herr Schaxel verwechselt nach meiner
Ansicht den Begriff resp. das Problem des harmonısch-äquipoten-
tiellen Systems mit den Schlussfolgerungen, die Driesch daran
knüpft. Man kann die letzteren ablehnen und doch in dem ersteren
ein Grundproblem der Entwicklungsphysiologie erblicken.*
5. Fragen der Deutung.
Also: „Es gibt“, nach Schaxel, „keine ‚Harmonie des Ganzen‘,
sondern nur ‚eine Resultante der Einzelereignisse‘ (S. 189) ın der
Öntogenese.*“ „Die dem angeblichen Nachweis der Lebensautonomie
zugrunde gelegten Erscheinungen kommen in der Natur überhaupt
nicht vor“ (sic! S. 195). Am besten werden daher meine zur Be-
wältigung eines Pseudoproblems eingeführten Terminiı „aus der
Wissenschaft ausgemerzt“ (ebenda). Und nochmals (S. 200): „Frei-
lich konnten wir zeigen, dass die von Driesch angenommene (!)
Differenzierung harmonisch-äquipotentieller Systeme nıcht vorkommt.“
Wie ıst es verständlich, dass solche Sätze ım besten Glauben
hingeschrieben wurden von einem Experimentator, dem selbst har-
monisch-äquipotentieile Systeme auf Schritt und Tritt begegnet sind?
Hier muss ein grundsätzliches Missverstehen obwalten.
Und ich meine, so ist es auch: Schaxel verwechselt bloße
klasseninduktive Begriffsbildung”) mit theoretischen Hypo-
21) Verh. Deutsch. Zool. Ges. 24. Versammlung, 1914, S. 122.
22) Er meint (S. 143 des Berichtes), ich werde jetzt wohl nicht mehr von
einem, sondern von drei harmonischen Systemen bezüglich der Clavellina reden,
wodurch mein „bevorzugtes Paradigma“ zwar „an Großartigkeit‘“ verliere. Hierzu
vergleiche man, abgesehen von allen möglichen anderen Stellen, Arch. Entw.-Mech.
14, 1902, S. 233f., wo es heißt, dass wir 'bei den Ascidienversuchen „wohl drei
oder doch mindestens zwei“ harmonisch-äquipotentielle Systeme‘ je von gesonderter,
beschränkter prospektiver Potenz‘‘ vor uns haben. In der Philos. d. Organ. I
(S. 157) aber ist sogar das besondere neue Problem scharf hervorgehoben
worden, welches sich aus dem Zusammenarbeiten mehrerer harmonischer Systeme
bei Tubularia, Clavellina u. s. w. ergibt (Problem der Reziprozität der Har-
monie). Etwas Neues sagt mir Schaxel also auch hier nicht.
23) Vgl. meinen Aufsatz Zur Lehre von der Induktion in Sitz.-Ber.
Heidelberg. Akad. Wiss, Phil.-Klasse 1915,
554 Driesch, Gibt es harmonisch-äquipotentielle Systeme?
thesen; und er tut das, weil seine eigene Begriffsbildung, ihm un-
bewusst, von vornherein durch ganz bestimmte theoretische Postu-
late gelenkt wird.
Wir sehen aber auf S. 77°*) des Buches von Schaxel den
Urgrund alles künftigen Irrtums deutlich vor uns: „Das Ei von
Asterias stellt die Determination des 2-Stadiums, das 2-Stadium die
Determination des 4-Stadiums u. s. f., die zu der Teilung in radialer
Sonderungsrichtung sich anschickenden Analzelle ?®) der klein-
zelligen Blastula mit ihresgleichen zusammen die Determination
der Gastrulation dar.* Schon Rhumbler, den Schaxel auch
zitiert, hat bekanntlich einmal den gleichen Gedanken geäußert:
„Man sollte von dem befruchteten Eı nicht sagen, dass es das
spätere Individuum hervorbringe, sondern sollte die Befähigung des
Eies nicht weiter abstecken als die persönliche Existenz der Eizelle
dauert, also bis zur ersten Teilung des Eies**®).“
Wenn die Sätze von Schaxel und Rhumbler inhalt-
lich richtig wären, wären alle ontogenetischen Theorien
von Leibniz und Bonnet bis zu Weismann, Roux und mir
selbst überflüssige, weil auf falscher Fragestellung
ruhende Versuche.
Jene Sätze sind aber nicht richtig:
Wenn ich aus einer Flinte das eine Mal eine Holzkugel ab-
schieße und das andere Mal eine explosive Patrone, so geschieht
beide Male etwas vollkommen Verschiedenes als Endergebnis. Und
nach dem Vorbereitetsein dieser Endergebnisse zu fragen, hat
einen ganz klaren Sinn, obwohl die ersten Ergebnisse ım Verlauf
des Geschehens beide Male dieselben, nämlich „Flug eines schweren
Körpers“ sind.
Ganz ebenso im Falle der Ontogenesis. Wer hier nach dem
Vorbereitetsein der nicht durchaus unmittelbaren Ergebnisse nicht
fragt, der übersieht eine naturlogisch bedingte Frage, welche er
hätte stellen müssen.
Wird aber die unbedingt notwendige Frage gestellt, so kann
sie nur in Form der Doppelfrage „maschinelle oder vitalistische
Vorbereitung?“ gestellt werden. Und sie muss, weil es nun ein-
mal harmonisch-äquipotentielle Systeme als Sachbefund nach dem
übereinstimmenden Urteil aller Forscher, die sich mit dem Gegen-
34) Ähnlich $. 201, 207.
25) So im Text; es soll wohl entweder ‚anschickende“ oder „Analzellen“
heißen.
26) Arch. Protistenkunde 1, 1902, S. 250. Wie unzutreffend Rhumbler’s
Auffassung ist. habe ich bereits gleich nach ihrer Veröffentlichung dargetan (Ergebn.
d. Anat. u. Entw. 11, 1902, S. 828f.); und ich habe auch gesagt, dass Rhumbler
durch die Bemerkung, vom Froschei würden nun freilich Frosch blastomeren
hervorgebracht, im Grunde doch das Wesentliche an seinem Gedanken (wie wir
meinen: mit Recht) selbst zurücknimmt.
Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 555
stand befasst haben, Schaxel wider seinen Willen ınbe-
grifffen, gibt, im Sinne vitalistischer Vorbereitung ent-
schieden werden. Jedenfalls hat noch niemand, auch Julius Schultz?”)
nicht, die Denkbarkeit einer Maschine, welche harmonisch-äqui-
potentielle Differenzierung leisten könnte, auch nur in den aller-
unbestimmtesten Zügen zu zeigen vermocht.
Schaxel hält hier alles, sozusagen, für selbstverständlich:
„In der Selbstbestimmung eines jeden Aktes der sukzessiven Deter-
mination der Furchung greift die Gesamtheit mitbestimmend ein.
Diese beständige Wirkung aller Teile aufeinander lässt es ver-
stehen (!), dass die Resultante der Teilgeschehen als „harmonisches“
Gesamtgeschehen erscheint, obwohl keine im Sinne des Ganzen die
Teile ordnenden, oder einem vorbestimmten Endziele zustrebenden
Kräfte am Werke sind“ (S. 107).
Sagen kann man das; aber kann man es nachweisen? Kann
man, insonderheit, irgendwie auf maschineller Basıs begreiflich
machen, dass Zellensysteme auch in beliebigen, und zwar nach
Größe und nach Herkunft aus dem Originalsystem beliebigen,
Bruchstücken, das harmonische Ganze leisten? Es handelt sich ja
doch eben um ein Zusammenarbeiten vieler Einzelner auf
Grund von „Vermögen“, die für jedes Einzelne gleich sind.
Und den Begriff des Vermögens brauchen wir hier eben aus
ganz zwingenden naturlogischen Gründen, trotz Rhumbler und
Schaxel. Seine, des Vermögenbegriffs, Zergliederung ist es, die
hier dann weiter, und zwar, wie wir nach wie vor für erwiesen
halten, zwingend zum Vitalısmus führt.
Art, Reine Linie, Isogene Einheit.
10%
Von Ernst Lehmann.
In dieser Zeitschrift bringt Lotsy (1914, S. 614—618) einige
Einwendungen gegen meine Darlegungen unter gleichem Titel (1914,
S. 285—294) vor, auf welche ich hier nochmals eingehen muss,
damit keine Unklarheiten bestehen bleiben. Die wesentlichen Ein-
wände sind die folgenden:
1. Ich hatte S. 286 gesagt: „Reine Linien können ja noch hoch-
gradig heterozygotisch sein. S. 287. Die Reine Linie ist keine
Einheit des Systems... jedenfalls sicher nicht in der Bedeutung,
welche dem Begriffe heute ganz allgemein beigelegt wird. Aber
auch in der Praxis sollten wir uns heute häufig noch viel klarer
über die ‚Reinheit unserer reinen Linien‘ sein.“
27) Die Maschinentheorie des Lebens, Göttingen 1909.
556 Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit.
Dagegen sagt Lotsy: „Nun definiert aber Johannsen: ‚Eine
‚reine Linie‘ ist der Inbegriff aller Individuen, welche von einem
einzelnen absolut selbstbefruchtenden homozygotischen Indi-
viduum abstammen.‘ Es ist also eine contradietio in terminis,
wenn Lehmann S. 286 sagt: ‚reine Linien können hochgradig
heterozygotisch sein.‘ Heterozygotisch kann aber keine reine Linie
sein; sobald man in einer vermeintlichen reinen Linie Heterozygo-
tismus nachweist, zeigt sich, dass man sich getäuscht hatte, als man
die betreffende Kultur für eine reine Linie hielt.“
Dabei hat Lotsy recht. Ich habe, wie hie und da vorher
auch Lotsy, und wie außer uns sehr viele andere Autoren nicht
scharf genug zwischen der Theorie der reinen Linie und der prak-
tischen Anwendung geschieden. Reine Linien, wie sie heute
als solche angewendet werden, sind sicher in sehr vielen
Fällen heterozygotisch. ReineLinien, wiesie von Johann-
sen definiert werden, sind sicher nicht mehr hetero-
zygotisch.
2. Lotsy (S. 616): „Der Ausdruck isogene Einheit ist nicht un-
zweideutig, denn auch zwei oder mehr heterozygote Individuen
können aus denselben Genen bestehen und wären dann, trotzdem
sie heterozygot sind, isogen.“ — Dagegen möchte ich bemerken, dass
zwei oder ara heterozygote Individuen wohl en nam der
isogen sein können, doch sind sie keine Einheit im Sinne der
Genetik, da sie ja bei Selbstbefruchtung verschiedenes ergeben.
Oder mit anderen Worten: Jede isogene Gesamtheit entspricht
einem Biotypus; eine heterozyg Sneche Gesamtheit aber ist kein
einheitlicher Biotypus im Sinne der Genetik, eine homozygotische
Gesamtheit ist dies. Mir erschiene isogenhomozygotische Einheit
ein Pleonasmus, doch hätte ich gegen die Anwendung dieses Aus-
drucks, wenn er wirklich weiter zur Klärung beitrüge, nichts.
Meiner Ansicht nach genügt unter obiger Oharakterisierung aber:
Isogene Einheit.
3. Ich hatte S.285 gesagt: „Nach Lotsy’s Auffassung sei jede
reine Linie als Art zu betrachten,“ demgegenüber betont Lotsy
jetzt auf S. 614, „soweit ich weiß, habe ich in meinen diesbezüglichen
Publikationen nie von einer ‚reinen Linie‘ als Art ge-
sprochen“. Es ist zwecklos hierüber zu diskutieren, da Lotsy in
seiner jetzigen Entgegnung sagt: „Also ist zwar iede reine Linie
eine Art, aber sınd keineswegs ale Arten reine Linien.“. Jetzt also
ist kein Zweifel mehr, nach Lotsy ist jede reine Linie eine Art.
Nun ist aber eins sicher ausgeschlossen: Nämlich dass wir Art das
eine Mal für reine Linie und das andere Mal für isogene Einheit,
also die Gesamtheit des Isogenhomozygotischen anwenden. Das
will Lotsy indessen, wenn er einmal sagt: Jede reine Linie ist eine
Art und dann: Der Ausdruck Art gilt, meiner Ansicht nach, für
Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 97
die Gesamtheit aller homozygotischen Individuen gleicher gene-
tischer Konstitution.
Reine Linie und isogene Einheit sind aber etwas so grund-
verschiedenes, dass niemals auf Beides die gleiche Bezeichnung, sei
es nun Art oder etwas anderes, angewandt werden könnte, Eine
reine Linie im theoretischen Sinne geht beı ihrer Ent-
stehung stets auf ein einzelnes Individuum homozygo-
tischer Natur zurück. Eine isogene Einheit kann auf eın
einzelnes homozygotisches Individuum zurückgehen,
braucht es aber durchaus nicht. Ich habe S. 289/90 aus-
einandergesetzt, dass die isogene Einheit sich von verschiedenen
Arten herleiten kann. Ich muss zur weiteren Klärung jetzt noch
auf einen anderen Weg zur Bildung isogener Einheiten, der nicht
in einer reinen Linie statthat, eingehen. Bleiben wir bei unserem
auf S. 290 dargelegten Beispiel einer auf dem Wege der Kreuzung
zustande gekommenen Homozygote
BB SS EEHH VV ff.
Stellen wir uns nun vor, es wären bei einer Kreuzung 6 solche
Homozygoten entstanden. Wir nennen sie:
BC DER.
Nehmen wir nun weiter die Voraussetzung hinzu, auf diese
6 Homozygoten wirkten gleichmäßig innere oder äußere Bedingungen
ein, die sie veranlassten, in gleicher Weise zu mutieren und ca. 10
so mutierte Nachkommen hervorzubringen, so erhielten wir
EEE LEG
Yy Y Y Y Y Y
A en Die Bin RT.
Alle die 6-10 Neubildungen wären gleich, sie gehörten wieder
derselben neuen isogenen Einheit an, aber durchaus nicht derselben
reinen Linie. Denn A‘, B‘, C‘ ete. gehen wohl ihrerseits auf je
1 homozygotisches Individuum zurück, alle zusammen aber auf
6 einzelne homozygotische Individuen, die ihrerseits wieder durch
Bastardierung zweier verschiedener heterozygotischer Individuen
entstanden wären. A‘, B’etc. wären dann wohl die Ausgangspunkte
von einzelnen reinen Linien, diese reinen Linien aber wären ihrerseits
Teile einer isogenen Einheit, welch letztere niemals auf eine reine
Linie zurückzuführen wäre. Wir können das ungefähr folgender-
maßen graphisch darstellen (s. S. 558):
Ganz dasselbe kommt übrigens auch durch Kombination zu-
stande, wenn z. B. aus Oenothera Lamarckiana ın Amerika, England,
Amsterdam und Schweden getrennt isogene homozygotische Kom-
binanten hervorgehen, nehmen wir an, isogene rubrinervis-Homo-
558 Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit.
zygoten. Die Nachkommen jeder solchen Kombinante bilden nun
die Amsterdamer, Schwedische, Englische etc. reine Linie von rubrz-
nervis, denn sie gehen ja auf je ein homozygotisches rubrinervis-
Individuum zurück; da die einzelnen reinen Linien untereinander
aber isogen sind, so bilden sie eine isogene Einheit.
A| Art 2
P, |EermGS6ÖFT
P, er
Eine der (2%)” möglichen Kombi-
Bananen der Er BBSSEEHAM
6 homozygotische Enkel
Individuen der F, (identisch mit
Genenumbildung BlUELE LEE
(Mutation) Linie)
WS = ee,
2 ' ' \ 7 i ı + zn } [4 Zi ınhel
F,I1ıA,! ‚B - ıC7 i Dy! E73: 7: (nieht iden-
! 1 N ı ı 1 YIN ! Nr ; tisch mit einer
YES { } { \, ! rer reinen Linie)
—_— = Se Sn = —_
Reine Linien @ 5 e d e ’&
Wir würden, wie hieraus klar hervorgeht, den Teil — die reine
Linie (a—f) — und das Ganze — die isogene Einheit (£) (oder
A'+-B’-+Ü etc.) mit demselben Namen benennen; das aber ist
ausgeschlossen, wie jede einfache Überlegung sagt. Wir können
ee keinesfalls den Ausdruck Art auf reine Linie und
ıisogene Einheit übertragen, wenn anders er eindeutig
bleiben soll.
4. Auf S.292 hatte ich gesagt: „Wir werden also unsere Auf-
fassung von dem Artbegriff in der Weise modifizieren müssen, dass
derselbe strukturell und nicht mehr genetisch zu begrenzen ist.“
Weiter hatte ich auf S. 291 hervorgehoben: „So lange wir aber für
den Artbegriff das verwandtschaftliche oder genetische Moment
fordern... ., ist es durchaus unmöglich, den Ausdruck Art auf die
isogene Einheit zu übertragen. Brächten wir das genetische Moment
in die Begrenzung dieser Arten hinein, so würde ein und dieselbe
isogene Rinheit trotz genotypischer Übereinstimmung und Homo-
zygotie oftmals auf mehrere Arten verteilt werden müssen. Das
aber ıst unmöglich.“
Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit. 559
Lotsy ist anderer Ansicht. Er sagt: „Sobald ich experimentell
nachgewiesen habe, dass die Art A aus der Kreuzung der Arten
B und © hervorgegangen ist, habe ich doch die Genese der Art A
festgestellt. Wird nun später festgestellt, dass die Art A auch aus
der Kreuzung der Arten D und E hervorgehen kann, so wird ge-
zeigt, dass sie biphyletisch entstehen kann; das ıst aber doch auch
noch ‚genetisch‘.“ Wie stimmt dies zu der auf S. 239 von mir
zitierten Stelle aus Lotsy’s Briefe: „Dass die zu einer solchen Art
zusammengefassten Sippen wirklich nahe verwandt sind, ist eine
bloße Annahme, die bisweilen zutreffen wird, bisweilen auch gar
nicht. Ich könnte eine solche Art zusammenstellen aus Individuen,
welche zum Teil der Kreuzung Antirrhinum majus X glutinosum,
zum Teil der Kreuzung 4A. majus X sempervirens entstammen. Wo
bleibt denn die Berechtigung solcher Arten? Tut man denn nicht
besser, statt des Ausdrucks Art, der doch Verwandtschaft angeben
soll, lieber den neutralen Ausdruck Artgruppe zu verwenden, welcher
nichts aussagt über die Verwandtschaft der zusammengefassten
Sippen, sondern nur deren Ähnlichkeit betont?“ Hier also betont
doch Lotsy ausdrücklich, dass biphyletische Entstehung nichts
über Verwandtschaft aussagt.
Der ganze Zwiespalt liegt in der doppelten Bedeutung des
Wortes genetisch. Die Genese — die Entstehung der Sippe -—
lernen wir auch bei biphyletischer Entstehung kennen, über den
Grad der Verwandtschaft können wir gar nichts aussagen. Denn dass
zwei isogene Individuen näher verwandt sind, wenn sie von einem
homozyg een als wenn sie von mehrer en heterozygotischen
Individuen er, das wird niemand bezweifeln können. Da-
nach aber schließen sich strukturelle und verwandt-
schaftliche Fassung des Artbegriffs aus.
Sollen wir nun trotzdem, wie Lotsy will, den Artbegriff
auch ın exakten Vererbungs- und Entwicklungsfragen beibehalten ?
Wenn wir diese Frage erörtern wollen, müssen wir uns erst klar
werden: Sollen wir Art für reine Linie oder isogene Einheit akzep-
tieren? Die Antwort würde wieder darauf zurückkommen: Wollen
wir das strukturelle oder das verwandtschaftliche Element in den
Vordergrund stellen. Im letzten Falle hätten wir uns für Art = reine
Linie zu entscheiden. Dann gäbe es jedoch viele verschiedene,
aber isogen-homozygotische, also genotypisch gleiche Arten. Es
gäbe zudem nur Arten bei Selbstbefruchtern. Im ersten und wohl
einzig möglichen Falle würden wir sagen: Art — isogene Einheit.
Ich möchte aber vor einer solchen Übertragung schlechthin durch-
aus warnen. Wir haben jetzt völlig klar herausgearbeitete Begriffe,
1. die reine Linie, 2. die isogene Einheit. Ist es wünschenswert,
dieselben durch die Übertragung des alten, in ganz anderem Sinne
geläufigen Ausdruckes Art wieder zu verwässern? Und dass hei
560 Lehmann, Art, Reine Linie, Isogene Einheit.
einer solchen Übertragung Missverständnisse vorkommen können,
das wurde ja hier wohl genugsam dargelegt. Wenn Lotsy aber
„den Ausdruck Art in seinem Sinne lieber beibehalten möchte,
weil, wenn man für das ‚Isogenhomozygotische‘ eine neue Be-
zeichnung einführt, man den Eindruck erweckt, als hätten Linn &’sche
Arten irgendein Recht auf die Bezeichnung ‚Art‘,* so möchte ich
hervorheben, dass es noch einen dritten Weg gibt, den Lotsy
schon zur Hälfte beschritten hat. Man nenne die Linne@’schen
Arten auch nicht mehr Arten, sondern, wie Lotsy es schon in
Kreuzung oder Mutation ete. (Zeitschr. f. ind. ete. 14, 1915, S. 204)
getan hat: Linneon. Dann sind wir in jeder Hinsicht klar.
Ehe wir aber den Ausdruck Art, der uns gerade im Sinne
von Lotsys Linneon durchaus geläufig geworden ist, derart zum
alten Eisen werfen, würde meiner Ansicht nach eine durchaus
lohnende Aufgabe sein, die hier auszuführen für mich nicht in
Frage kommen kann: Klarheit zu schaffen in sprachlicher und philo-
sophisch-deduktiver Hinsicht über das „Wort“ Art. Es wird sich
dabei aber wohl zeigen, dass dieses viel gebrauchte Wort kaum
jemals so scharf zu fassen ıst, dass wir es zu unseren exakten Be-
zeichnungen brauchen können. Man werfe einen Blick in Grimm’s
Wörterbuch und man wird sich von der Mannigfaltigkeit der Be-
deutungen des Wortes Art überzeugen. Unsere Begriffe ın der
Vererbungslehre aber müssen klar und eindeutig sein. Die Worte
stehen ım Dienste der Begriffe und sınd nicht ıhrer selbst wegen
da — sprachlich ist alles Konvention —, bedienen wir uns also
der Ausdrücke, die unseren heutigen auf der Genenlehre beruhen-
den Kenntniszustand am sichersten und eindeutigsten zur Geltung
bringen und überlassen wır alle Worte ihrem alten Sinn. Ich
glaube mich hierin durchaus einig mit Johannsen, wenn derselbe
in dem Schlusswort zu seinen Elementen sagt: „Atavismus, Degene-
ration, Erbkraft.... Spezies... und andere Ausdrücke der Erb-
lichkeitslehre Darwin’scher Zeit sind jetzt in analytische Zersetzung
getreten; ... sie stehen in ähnlichem Verhältnis zu den sich jetzt
in der Erblichkeitslehre entwickelnden neuen einfacheren und prä-
ziseren, dafür aber auch engeren Konzeptionen — Abspaltungen....
Genotypus, Reine Linien, Klonen, Biotypen u.s. w. — wie etwa
die populären stofflichen Begriffe des täglichen Lebens ‚Wurst‘,
‚Salat‘, ‚Tinte‘ u. dgl.“ Ich bin der Anschauung, dass sich Art =
Spezies den älteren, ıisogene Einheit aber den heutigen Begriffen
anschließt.
Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen. 561
Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen.
(219. Beitrag zur Kenntnis der Myrmekopbilen.)
Von E. Wasmann 8. J. (Valkenburg, Holland).
In zwei Arbeiten!) habe ich vor einiger Zeit zu zeigen ver-
sucht, dass manche der aus verschiedenen Rassen derselben Art
gemischten Kolonien besonders innerhalb der Formica rufa-Gruppe,
wahrscheinlich auf Mendel’scher Kreuzung beruhen und als Bastard-
kolonien zu deuten sind. Zugleich machte ich auf ähnliche Fälle
gemischter Kolonien aufmerksam, die in der Ameisenliteratur ver-
zeichnet sind und vielleicht eine analoge Erklärung zulassen. Der
Hauptzweck jener Arbeiten war, das Interesse der Forscher auf
das bisher fast gar nicht beachtete und schwer zugängliche Gebiet
des Mendelismus bei den Ameisen zu lenken.
Anknüpfend an meine Beobachtungen über zwei aus rufa und
truncicola gemischte Bastardkolonien, in denen eine Verschiebung
der Arbeiterfärbung vom franeicola-Typus zum rufa-Typus hin sich
zeigte (Nr. 208, S. 118 und 209, S. 95), sei auf eine merkwürdige
Analogie mit gewissen Kreuzungsergebnissen bei der Honigbiene
hingewiesen. Wenn eine italienische Königin von einer deutschen
Drohne befruchtet wird, erscheinen im ersten Jahre unter den 92
zahlreiche Mischlinge beider Färbungen, im zweiten fast nur italie-
nische, im dritten ausschließlich italienische 9%, so dass hier eine
Verschiebung der Erbqualitäten in mütterlicher Richtung stattzu-
finden scheint). Allerdings obwaltet hier insofern ein wichtiger Unter-
schied, als bei der Honigbiene die aufeinanderfolgenden Arbeiter-
bruten von einer einzigen, einmal befruchteten Königin stammen,
während es bei den Ameisen um verschiedene Arbeitergenerationen
(F,, F, etc.) sich handeln kann, da Inzucht im Neste nicht ausge-
schlossen ist.
Ich gehe nun zu einigen brieflichen Mitteilungen von Fach-
kollegen über. Christian Ernst schrieb mir, er halte die Kreu-
zungshypothese für den richtigen Weg, um in das OUhaos der Varie-
täten (rufo-pratensis etc.) innerhalb der rufa-Gruppe Licht zu bringen.
Er fand ferner einmal in der Umgebung von Metz eine scheinbar
reine trunciecola-Kolonie, die im nächsten Jahre eine ganz ver-
änderte Mischung zeigte, analog zu meinen Beobachtungen von 1889
und 1906. Nähere Mitteilungen behielt er sich für später vor.
1) Über Ameisenkolonien mit Mendel’scher Mischung (Nr. 208) (Biolog.
Centralblatt XXX V, 1915, Nr. 3, S. 113—127); Luxemburger Ameisenkolonien mit
Mendel’scher Mischung (Nr. 209) (Festschr. d. Vereins Luxemburger Naturfreunde
1915, 8. 87—101).
2) Vgl. H. v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen, 1915, S. 42,
sowie mein Referat über dasselbe in „Die Naturwissenschaften“ 1915, Nr. 38,
S.486. Zur Erklärung dieser Erscheinung siehe auch Th. Boveri, Über die Ent-
stehung der Eugster’schen Zwitterbienen (Arch. f. Entwicklungsmechanik XLI,
1915, 2 Heft), S. 279, Anm. 1.
XXXV. 36
562 Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus bei Ameisen.
C©. Emery teilte mir mit, dass die Annahme Mendel’scher
Mischungen für Formica-Arten wohl zutreffen möge, nicht aber für
Messor. Denn in Italien fliegt nach seinen Beobachtungen Messor
structor nie, die geflügelten Geschlechter erscheinen im Frühling
und kopulieren im Neste. Dagegen erscheinen bei Messor barbarus
var. nigra die Geflügelten erst im Spätsommer und fliegen zur
Paarung aus. Somit scheine keine Kreuzungsmöglichkeit zwischen
beiden Rassen vorhanden zu sein. Ich hatte übrigens selber (Nr. 208
S. 121) Zweifel darüber geäußert, ob die betreffenden Variationen
bei Messor auf Hybridismus beruhen.
Auf einen wichtigen Punkt, den ich in meinen beiden Arbeiten
nicht berührt habe, machte mich Hans Nachtsheim (Freiburg ı. B.)
aufmerksam, nämlich auf die Berücksichtigung der Dzierzon’schen
Theorie. Wenn bei den Ameisen ebenso wie bei den Bienen die
Männchen aus unbefruchteten Eiern sich entwickeln, so müssen
die Ameisen in etwas anderer Weise mendeln als in nor-
malen Fällen. Er erläutert dies sodann an dem Beispiele der in
meiner Arbeit Nr. 208 unter 1 (S. 114ff.) beschriebenen truncicola-
pratensis-Kolonie von 1910. Ich glaube, seine klaren Ausführungen
hierüber wörtlich zitieren zu sollen:
„Nach Ihrer Ansicht handelt es sich hier um die Nachkommen
aus einer Kreuzung zwischen einem truncicola-g‘ und einem pra-
tensis-9. Es ist dann, wenn die pratensis-Färbung vollkommen
dominant ist über die Zruncicola-Färbung, ın der F,-Generation
das vollkommene Verschwinden der truncicola-Charaktere zu er-
warten. Aber die phänotypisch untereinander gleichen Weibchen
und Männchen der F'!-Generation müssen genotypisch sehr ver-
schieden sein. Die Männchen sınd ja aus unbefruchteten Eiern
entstanden, besitzen also keinen Vater und können infolgedessen
nicht wie die Weibchen latente truncicola-Charaktere besitzen, sie
sind reine pratensis-Sd. Wenn, wie Sie weiter annehmen, ein
Männchen der F,-Generation sich mit einem Weibchen der näm-
lichen Generation gepaart hat, so muss in der F,-Generation die
eingeschlechtliche Entstehung der Männchen zum Ausdruck kommen.
Das folgende Schema möge die Vererbung in der Tochter- und
Enkelgeneration illustrieren. pr. habe ich unterstrichen, weil die
pratensis-Charaktere dominant sind:
P-Generation: pr. 9 X tr.d
F,-Generation: 99: pr.tr.
SI: Pr.
F,-Generation: 09:1, pr.pr. ’/, pr.tr. gg Apr. olız
u
Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus der Ameisen. 563
In der F,-Generation haben wir also, was die Weibehen anbe-
trifft, ein genotypisches Verhältnis von 1:1, d. h. dasselbe Ver-
hältnis, das wir, wenn zweigeschlechtliche Fortpflanzung in beiden
Geschlechtern erfolgt, bei Rückkreuzung der F,-Generation mit
einem der Eltern zu erwarten haben. Die Männchen der F,-Gene-
ration sind in unserem Falle zur Hälfte reine pr.-fd'‘, zur anderen
Hälfte reine tr.-5g‘, vorausgesetzt natürlich, dass es sich um Mono-
hybridismus handelt. Wenn mehrere selbständig mendelnde Merk-
malpaare vorhanden sind, werden die Männchen nicht in allen
Generationen so schön ‚rein‘ bleiben wie bei Monohybriden.“
Ich stimme diesen Ausführungen Nachtsheim’s zu. Es ıst
ın der Tat unerlässlich, bei Anwendung der Mendel’schen Gesetze
auf die Ameisen die wenigstens sehr wahrscheinliche Annahme in
Rechnung zu ziehen, dass die Männchen regelmäßig aus unbe-
fruchteten Eiern hervorgehen. Dann gestaltet sich die Analyse
der erwähnten truncicola-pratensis-Kolonie für die F,- und die F,-
Generation so, wie es Nachtsheim hier auseinandergesetzt hat,
falls als Elterngeneration pr.-Q X tr.-d angenommen wird, und diese
Erklärung stimmt auch mit den tatsächlichen Befunden in jener
Kolonie überein. Allerdings ıst hier noch zwischen den eigentlichen
Weibchen und den Arbeiterinnen zu unterscheiden. Erstere folgten
in der F,-Generation nur in der Färbung den pratensis-99, in der
Skulptur besaßen sie einen deutlichen, wahrscheinlich atavistischen
Einschlag von rufa (Nr. 208, S. 115). Bei den Arbeiterinnen da-
gegen ließ sich ein derartiger Einschlag nıcht so deutlich erkennen,
da dieselben wahrscheinlich zwei Generationen (F, und F,) ange-
hörten und bei den F,-3% der r«fa-Einschlag nur in der Behaarung
sich zeigen konnte. Da jedoch ein Teil der pratensis-farbigen $3
spärlicher behaart war, wie sich bei der Nachuntersuchung heraus-
stellte (Nr. 209, S. 97—99 [11—13 Separ.]), könnten diese %% der
F,-Generation zugerechnet werden. In bezug auf die Prozentver-
hältnisse der Färbung der Arbeiterinnen in der Kolonie stimmt
das Nachtsheim’sche Schema gut zu dem Befunde, dass auf 499
von pratensis-Färbung nur 1 von truncicola kam, indem sämtliche
%2 der F,-Generation nur die pratensis-Färbung zeigen konnten,
während in der F,-Generation die pratensis- und die trunecicola-
Färbung zu gleichen Teilen vertreten sein mussten. Männchen
wurden in jener Kolonie — und ebenso auch in den beiden später
erwähnten Zruneicola-rufa-Kolonien — überhaupt nicht gefunden. Hier-
aus erklärt sich, weshalb ich an die Frage, ob die Jg aus unbe-
fruchteten Eiern stammten, bei meiner Analyse nicht dachte. Es
sei ferner bemerkt, dass die Männchen der drei Rassen rufa L.,
pratensis Retzius und truncicola Nyl. viel schwerer zu unter-
scheiden sind als die Weibehen und die Arbeiterinnen; namentlich
die gg von rufa und pratensis sind sich äußerst ähnlich, jene von
36*
564 Wasmann, Nachtrag zum Mendelismus der Ameisen.
truneicola unterscheiden sich durch glänzendes Stirnfeld und stärkere
Behaarung nur bei Untersuchung mit der Lupe.
Schließlich sei nochmals darauf aufmerksam gemacht, dass,
wie ich in der Nachschrift zu Nr. 208 (S. 127) und in Nr. 209 her-
vorhob, ın der obenerwähnten truncicola-pratensis-Kolonie wahr-
scheinlich nicht einfacher Monohybridismus vorlag, sondern ein
kompliziertes Verhältnis von mehreren, selbständig mendelnden
Merkmalspaaren.
Die Frage, ob bei den Ameisen die Männchen regelmäßig
aus unbefruchteten Eiern hervorgehen, lässt sich übrigens nicht so
entscheidend beantworten wie bei den Bienen. Bei letzteren gibt
die Ablage der betreffenden Eier ın Drohnenzellen einen Anhalts-
punkt dafür, dass sie Sg liefern sollten; auf dieser Grundlage
konnte dann ebenso wie bei den parthenogenetisch erzeugten Eiern
die zytologische Untersuchung durch eine Reihe von Forschern ein-
setzen®). Bei den Ameisen fehlen uns derartige Anhaltspunkte,
um in normalen Kolonien a priori die Eier, welche dd liefern,
von jenen, die 98 oder 99 liefern, zu unterscheiden. Bei unseren
Formieca-Arten sind übrigens nach meinen Beobachtungen*), die
durch Arbeiterinnen parthenogenetisch erzeugten Eier, aus denen
nur dd sich entwickeln, durch bedeutendere Größe und mehr
zylindrische Gestalt von jenen Eiern verschieden, aus denen 9% er-
zogen werden. Zytologische Untersuchungen über parthenogene-
tische Eier von F. sangwinea liegen bereits vor von W. Schleip?),
der in ihnen die haploide Chromosomenzahl fand (24 statt 48).
Durch zahlreiche Beobachtungen in Versuchsnestern ist von mir
und anderen Ameisenforschern bereits längst nachgewiesen, dass ıns-
besondere bei Formica-Arten die Parthenogenesis eine sehr häufige
Erscheinung ist und stets nur Männchen liefert (nicht wie bei
Lasius gelegentlich auch Arbeiterinnen). Dass auch in freier Natur
in solchen Formica-Kolonien, welche ihre Königin verloren haben,
noch mehrere Jahre lang durch die Arbeiterinnen auf partheno-
genetischem Wege massenhaft Männchen erzeugt werden, habe ich
an einer pratensis-Kolonie bei Luxemburg 1903—1905 beobachtet).
Wir dürfen daraus wohl mit großer Wahrscheinlichkeit schließen,
dass auch in den normalen Kolonien, welche eine oder mehrere
Königinnen besitzen, die Männchen regelmäßig aus unbefruchteten
Biern hervorgehen, obwohl der direkte Beweis hierfür noch aussteht.
3) Die Literatur siehe bei Nachtsheim, Cytolog. Studien über die Geschlechts-
bestimmung bei der Honigbiene (Arch. f. Zellforsch. XI, 2. Heft, 1913, S. 169— 241).
4) Neue Beiträge zur Biologie von Lomechusa und Atemeles (Nr. 205) (Zeitschr.
f. wissensch. Zool. OXIV, 2. Heft, 1915, S. 233—402), II. Teil, B, 3. Kap.
5) Die ee im Ei von Formica sanguinea (Zool. Jahrb.
Anat. XXVI, 1908, S. 651 - 682
6) Zur ee von Fchleles pratensoides (Nr. 149) (Zeitsch. f. wissensch.
Insektenbiol. 1906, Heft 1--2), namentlich S. 10—11; Neue Beiträge (Nr. 205),
S. 333—334.
Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung etc. 565
Vorläufige Mitteilung über weitere Versuche zur
Vererbung und Bestimmung des Geschlechts.
Von Richard Goldschmidt.
In zwei früheren Arbeiten!) hatte ich den merkwürdigen
Gynandromorphismus beschrieben, der bei Kreuzung des europäischen
und japanischen Schwammspinners (Lymantria dispar) auftritt und
versucht, die Erscheinung im einzelnen zu analysieren und daraus
Schlüsse auf das Geschlechtsproblem zu ziehen. Trotzdem die Haupt-
punkte klar erschienen, waren noch manche Schwierigkeiten vor-
handen, vor allem die, dass die gleiche Rassenkreuzung nicht immer
dasselbe Resultat ergab, wenn Material verschiedenen Ursprungs
verwendet wurde. Es konnte als feststehend betrachtet werden,
dass das Hauptresultat, das Auftreten von Gynandromorphismus
bei bestimmten Kreuzungen von Rassen, die in Reinzucht normale
Sexualverhältnisse aufweisen, seine richtige Erklärung fand durch
die Annahme einer quantitativ verschiedenartigen Beschaffenheit
oder Potenz der männlichen Geschlechtsfaktoren. Verschiedene Dinge
drängten nun die Vermutung auf, dass diese Potenz im Zusammen-
hang mit der geographischen Verbreitung variiere und so war es
eine meiner Aufgaben gelegentlich eines Studienaufenthalts in Japan,
die dortigen Lokalformen?) ın den verschiedenartigsten Kreuzungen
untereinander und mit verschiedenartigen europäischen Rassen zu
analysieren. Diese Versuche sind zwar noch nicht abgeschlossen ;
ihre Resultate sınd aber jetzt schon so interessant und rücken die
definitive Lösung des ganzen Problems in so greifbare Nähe, dass
sich eine kurze vorläufige Mitteilung über einen Teil des bisher
Erreichten wohl lohnt.
Zunächst ein Wort über die Terminologie. Ich bezeichnete
bisher die sexuellen Abnormitäten, die bei Kreuzung jener Rassen
erzielt wurden, als Gynandromorphe. Es erweist sich aber jetzt als
nötig, diese Bezeichnung aufzugeben, da sie ziemlich allgemein in
einem ganz anderen Sinn gebraucht wird, nämlich dem von Indı-
viduen, die ein körperliches Mosaik aus den beiden Geschlechtern
darstellen. ‘In einem solchen Gynandromorphen ist — siehe etwa
Boveris’ kürzliche Analyse der Eugster’schen Zwitterbienen®?) —
ein gegebener Körperteil oder Zellgruppe entweder männlich oder
1) Goldschmidt, R. Erblichkeitsstudien an Schmetterlingen I. Ztschr. indukt.
Abstammungsl. VII. 1912. — Goldschmidt und Poppelbaum, H. desg]. II.
Ibid. 11, 1914.
2) Die Existenz solcher Lokalformen konnte ich feststellen. Das Problem der
geographischen Rassen dieses Falters bildet seit Jahren den (Gegenstand meiner
Hauptstudien. Die Resultate sind aber noch nicht reif zur Veröffentlichung.
3) Boveri, Th. Über die Entstehung der Eugster’schen Zwitterbienen, Roux’
Archiv 41, 1915.
566 Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung ete.
weiblich. Das ist aber bei meinen Schmetterlingen nicht der Fall;
sie stellen vielmehr eine quantitativ bestimmte Zwischenstufe
zwischen den beiden Geschlechtern dar. Wenn wir etwa ein Weib-
chen als 0 und ein Männchen als 100 bezeichnen würden, so stellt
ein bestimmtes meiner gezüchteten Tiere die Stufe 3 oder 21 oder
75 ete. dar; also nicht ein Gemisch beider Geschlechter, sondern
einen bestimmten Punkt zwischen den beiden Extremen weiblich —
männlich. Ich glaubte früher, in einigen Charakteren ein Mosaik
sehen zu sollen, so in den Flügeln, die auf bestimmten Stufen
scharf umgrenzte Teile weiblicher oder männlicher Färbung er-
kennen lassen. Ich weiß jetzt, dass dies nur eine Konsequenz aus
der Physiologie der Flügelfärbung ist. (Eine Tatsache, die in der
ausführlichen Arbeit der Ausgangspunkt wichtiger theoretischer Er-
örterungen sein wird.) So erscheint es mir notwendig, für die hier
behandelte Erscheinung eine andere Bezeichnung einzuführen. Ich
werde in Zukunft die sexuellen Zwischenstufen als Intersexe be-
zeichnen und von männlichen oder weiblichen Intersexen reden, je
nachdem es sich um Männchen auf dem Weg zur Weiblichkeit oder
Weibchen auf dem Weg zur Männlichkeit handelt*); die Erscheinung
selbst hieße dann Intersexualität.
Bevor ich über die neuen Versuche berichte, dürfte es gut sein,
die verschiedenen mir bekannten Stufen der Intersexualität zu
charakterisieren. Ich kenne nunmehr sämtliche Schritte, die von
einem reinen Weibchen über die verschiedenartigen weiblichen Inter-
sexe zu einem reinen Männchen führen; ferner die Stufen, die von
einem Männchen über die männlichen Intersexe zum Weibchen
führen, bis zu etwa ®/, des Wegs. Von beiden kann ich jetzt eine
jede Stufe durch geeignete Bastardierung beliebig erzeugen. Weib-
liche Intersexualität beginnt mit einer ersten Stufe von Tieren mit
mittelstarkgefiederten Antennen (das Männchen hat bekanntlich ge-
fiederte Antennen), sonst ganz weiblichem Aussehen, vermindertem
Eierschatz, aber voller Befruchtungsfähigkeit. In der nächsten Stufe
erscheinen Flecke der braunen männlichen Färbung in steigender
Ausdehnung auf den weißen weiblichen Flügeln. Die Instinkte sind
noch rein weiblich, die Männchen werden angelockt und kopulieren.
Die Gelege enthalten aber nur Afterwolle, keine Eier, obwohl der
Leib damit angefüllt ist. Auf der nächsten Stufe sind ganze Ab-
schnitte der Flügel männlich gefärbt mit weiblichen Keilen da-
zwischen, der Hinterleib wird schlanker, der Eierschatz geringer,
die Instinkte sind nur noch schwach weiblich und die Männchen
werden nur wenig angezogen. Kiablage findet nicht mehr statt.
4) Die Verschiedenheit dieser beiden Typen erfordert natürlich eine Erklärung,
auf die hier nicht weiter eingegangen sei. Der Tatsache kommt eine spezielle ent-
wicklungsphysiologische Bedeutung zu.
Goldschmidt, Vorläufige Mitteilung etc. 567
Dann breitet sich auf der nächsten Stufe das männliche Pigment
über den ganzen Flügel, der Hinterleib wird fast männlich, enthält
aber noch ein paar reife Eier, die Instinkte sind genau intermediär
zwischen weiblichen und männlichen. Dann folgen schon sehr
männchenähnliche Tiere, die aber noch an Instinkten und Abdomen
die Weiblichkeit erkennen lassen und ihnen reihen sich die fast
wie Männchen aussehenden „Weibcehenmännchen“ an, bei denen
dann, wie ich früher beschrieb, alle Übergänge vom Ovar zum Hoden
gefunden werden. Den Schluss bilden Männchen, die noch in
kleinen Charakteren (Flügelschnitt) ihre weibliche Herkunft er-
kennen lassen.
Die Reihe der männlichen Intersexe beginnt mit Männchen, die
ein paar weibliche Mosaikflecken auf den Flügeln zeigen. Diese
vergrößern sich, werden zu großen Keilen und verdrängen allmählich
die männliche Färbung bis auf ein wenig Pigment auf den Adern.
Entsprechend ändert sich natürlich das Abdomen, das in meinem
extremsten Fall etwa ?/, des weiblichen Umfangs erreicht (NB. ohne
Eier zu enthalten!), ferner die Instinkte, die entsprechend weiblich
werden, der Kopulationsapparat (der auch bei den weiblichen Inter-
sexen jede Stufe von rein weiblich zu rein männlich aufweist) und
die Geschlechtsdrüse, die, wie beim normalen Weibchen, paarig wird
und vereinzelte Ureier enthält.
Noch ein weiterer Punkt muss hier erwähnt werden, da die
Unkenntnis darüber wahrscheinlich einige Irrtümer in meiner früheren
Arbeit bedingte. Es ist mir jetzt bekannt — die Einzelheiten be-
dürfen noch der weiteren Ausarbeitung — dass es japanische Rassen
gibt, die auch im weiblichen Geschlecht einen Pigmentfaktor für
Flügelfärbung besitzen, dessen Wirkung durch Kreuzung erhöht
wird. So können Weibchen mit dunkeln Flügeln entstehen, die
Intersexe vortäuschen, ohne es zu sein, ein Fehler, den ich wahr-
scheinlich früher mehrfach beging. Kombiniert sich diese Erscheinung
nun mit schwacher Intersexualität, so werden hochgradige Inter-
sexe vorgetäuscht, die trotzdem fruchtbar sind. Die weitere Auf-
klärung dieser Punkte, zu der wahrscheinlich eine Mutation wesent-
lich beitragen wird, die in den Zuchten meines Assistenten Dr. Seiler
erschien, wird in mehrfacher Hinsicht wichtig sein.
Und nun zu den Zuchtresultaten, zunächst, soweit sie sich auf
die weibliche Intersexualität beziehen. Es zeigte sich also, dass
sowohl bei den europäischen wie bei den japanischen Formen Rassen
existieren, denen eine ganz bestimnte, aber verschiedene Potenz der
Geschlechtsfaktoren zukommt. Werden Formen gleicher oder ähn-
licher Potenz bastardiert, so gibt es normale Nachkommenschaft.
Werden Formen mit verschiedener Potenz der männlichen Faktoren
gekreuzt, so entstehen, falls die Mutter der Rasse mit niederer
Potenz angehört, weibliche Intersexe, deren Stufe von der be-
968 Goldschmidt. Vorläufige Mitteilung ete.
treffenden Potenzdifferenz abhängt. Die mir bekannten europäischen
Rassen haben nun alle niedere Potenz dieser Faktoren; bei den
japanischen Rassen gibt es aber die verschiedensten Stufen von
niederer bis zu sehr hoher Potenz. Wenn ich also irgendein euro-
päisches Weibchen mit einem japanischen Männchen niederpoten-
zierter Rassen (das sind die Rassen K, Fu, M, H meiner Zuchten)
kreuze, so entstehen nur normale Weibchen. Das gleiche trifft
natürlich für die Kreuzung dieser Europäer oder Japaner inter se
zu. Dagegen müssen nun alle Europäerweibchen und ebenso die
der niederpotenzierten Japanerrassen gekreuzt mit Männchen der
hochpotenzierten Japaner (nämlich G, O, H) weibliche Intersexe
liefern, deren Stufe der Intersexualität von beiden zur Kreuzung
benutzten Rassen abhängt. Im einzelnen sind die Resultate folgende:
1. Alle denkbaren Kreuzungen zwischen den „schwachen“ Euro-
päern S und F und den schwachen Japanern K, Fu, M, H sowie
innerhalb dieser Gruppen liefern ın F, ausschließlich normale
Weibchen.
2. Werden Männchen der mittelstarken Japanerrasse G zur
Kreuzung verwandt, so liefern sie mit Weibchen der sehr schwachen
Europäerrasse F hochgradige Intersexe, fast an die „Männchen-
weibchen“ heranreichend. Dieselben Männchen aber ergeben mit
der etwas weniger schwachen Europäerform S mittelgradige weib-
liche Intersexe; sodann gekreuzt mit der wieder etwas weniger
schwachen Japanerrasse H schwache Intersexualität und endlich mit
der noch etwas weniger schwachen Japanerform Ku nur die erste
Stufe weiblicher Intersexe. Es braucht wohl nicht hinzugefügt zu
werden, dass die Intersexualität sämtliche Weibchen betrifft.
3. Eine etwas stärkere Japanerrasse als G würde bei den gleichen
Kreuzungen mit den schwächsten Europäern nur „Männchenweibchen*,
also höchste Intersexualität ergeben. Diese Kreuzung wurde schon
früher veröffentlicht.
4. Wenn zu den Kreuzungen die Männchen der höchstpoten-
zıerten Japanerrassen A und O (zwischen denen auch ein kleirer,
hier vernachlässigter Unterschied besteht) verwandt werden, so sind
in F, sämtliche Weibchen vollständig ın Männchen verwandelt, wenn
die Mutter einer der schwachen Europäerrassen F und S oder der
schwächsten Japanerrasse H angehörte. (Über vereinzelte schein-
bare Ausnahmen siehe unter 6c.)
5. Dies ıst ein experimentum crucis für die Richtigkeit der ge-
samten theoretischen Erklärung: Die Japanerrasse K erwies sich
als von niederer Potenz der männlichen Faktoren, da sie mit Euro-
päern keine Intersexe erzeugt. Sie erwies sich ferner als doch
wesentlich höher potenziert als jene Europäer, da sie mit der mittel-
starken Japanerrasse G gerade etwas Intersexualität ergab, während
jene Europäer bis zu hochgradigen Intersexen bei Kreuzung mit den
Goldsehmidt, Vorläufige Mitteilung ete. 569
Männchen von G erzeugten. Nun liefern die gleichen Europäer mit
den hochpotenzierten Japanern A und O nur Männchen. Dies er-
gibt eine Gleichung, aus der folgt, dass diese Japaner K mit den
japanischen Männchen A und OÖ mittelstarke bis starke Intersexe
liefern müssen. Und das war ausnahmslos der Fall.
6. Diesen Ergebnissen sind noch ein paar Einzelheiten zu-
zufügen:
a) Die Resultate sind durchaus typisch und kennen bisher keine
Ausnahme. Sie sind ferner sichtlich unabhängig von äußeren
Bedingungen, da sie in identischer Weise in meinen in Boston
durchgeführten Zuchten wie in den von Dr. Seiler ın Berlin
geführten Duplikatkulturen auftraten.
b) Das Maß der Intersexualität in einer Zucht ist einer typischen
Variation um ein Mittel unterworfen, die regelmäßig und kon-
tinuierlich ist. Wenn wir also etwa die Distanz von Weib-
lichkeit zu Männlichkeit in 100 Grade eiteilen, so ergäbe eine
Zucht eine symmetrische Variation um das Mittel von 20 oder
60 u.s. w. mit bestimmter Variationsbreite. (Wie weit kleine
Verschiedenheiten in der Lage des Mittels in Schwesterzuchten
von äußeren Bedingungen abhängt, ist noch nicht klar. Theo-
retisch ist dieser Punkt sehr bedeutungsvoll.) An den beiden
Endpunkten dieser Linie zwischen Weiblichkeit und Männlich-
keit müssen die extremen Plus- und Minusindividuen ins Nor-
male übergehen, also respektive normale Weibchen oder Männ-
chen. Das trifft bei den betreffenden Grenzfällen auch zu.
Bei der Umwandlung aller Weibchen in Männchen sind es
dann solche Minusabweicher, die noch am Flügelschnitt die
weibliche Herkunft erkennen lassen. Die statistische Behandlung
dieser Tatsachen im Zusammenhang mit den F,-Ergebnissen
und denen über männliche Intersexualität wird wohl einen
Weg zur exakten Berechnung der Potenzverhältnisse eröffnen.
In den Kreuzungen, die ausschließlich Männchen liefern, tritt
gelegentlich ein einzelnes normales Weibchen auf, das stets
als letztes Tier ausschlüpfte. Hier liegt wahrscheinlich eın
Fall der von Bridges bei Drosophila entdeckten’) „non-dis-
junetion“ vor: Bei der Reduktionsteilung der Samenzellen
wandern beide Geschlechtschromosomen abnormerweise nach
einem Pol. So entstehen Spermatozoen ohne X-Chromosomen.
Ein solches muss mit jedem Ei ein normales Weibchen er-
zeugen. Bei der zytologischen Untersuchung fand ich bisher
nur eine einzige Spermatozyte II, mit 30 anstatt 31 Chromo-
somen. Dies wird züchterisch wie zytologisch weiter aufge-
klärt werden.
5) Bridges, C. B. Non-disjuncetion of ihe sex chromosomes of Drosophila.
Journ.
Exp. Zool. Bd. 15, 1913.
570 Goldschmidt, Vorläufige Mitteiluug ete.
Bisher war ausschließlich von den weiblichen Intersexen die
Rede, in bezug auf die nunmehr alle entscheidenden Punkte klar-
liegen. Die neueren Ergebnisse über die männlichen Intersexe
zeigen aber, dass meine früheren theoretischen Erörterungen ın
einem wichtigen Punkt eine Änderung erfahren müssen. Ich hatte
festgestellt, dass die männlichen Intersexe in F, aus der eine nor-
male F,-Generation ergebenden reziproken Kreuzung auftreten und
zwar hatte ich genau !/, dieser Formen erhalten. Dies erschien
als ein sehr wichtiger Beweis für die mendelistische Formulierung,
die ich durchgeführt hatte und die mit zwei Geschlechtsfaktoren-
paaren arbeitete. Nun zeigt sich aber, dass die Sache doch ver-
wickelter liegt:
1. Das Auftreten der männlichen Intersexe in den betreffenden
F,-Zuchten ist ein Einzelfall, der bedingt wird durch die Art der
beiden ursprünglich gekreuzten Rassen. Die Zahl !/, ist ebenfalls
nur für die betreffende Kreuzung typisch, in analogen Kreuzungen
anderer Rassen könnte jede andere Zahl zwischen 0 und 50%
typisch sein.
2. Von entscheidender Wichtigkeit ist, dass die männlichen
Intersexe in F, erscheinen können. Einzelne gerade erkennbare
Individuen treten z. B. auf in F, aus den beiden „schwachen“
Rassen japanisches Weibchen K X europäisches Männchen S, ferner
starkes Japanerweibehen O X schwaches Japanermännchen H. Außer-
dem liegt aber eine Kreuzung vor, nämlich schwaches Japanerweib-
chen K X schwaches Japanermännchen H, in der in F, sämtliche
Weibchen normal und sämtliche Männchen stark intersexuell sind ®).
Diese Tatsachen sind für das Verständnis der ganzen Frage höchst
bedeutungsvoll. Es geht nämlich daraus, ebenso wie aus gewissen
neueren F,-Ergebnissen, die frühere Irrtümer berichtigen (s. o. das
über Flügelfarbe Gesagte) als sehr wahrscheinlich hervor, dass der
weibliche Teil der Geschlechtsformeln FFMm — 9 FFMM = nicht
mendelistisch, sondern mütterlich, also protoplasmatisch, vererbt
wird. Auch er zeigt unabhängige Verschiedenheiten seiner Potenz
und das Ergebnis ist die Resultante aus der kombinierten Wirkung
beider Gruppen. Es hat keinen Zweck, dies hier näher auszuführen,
da noch ausschlaggebende Zuchten ausstehen, deren Ergebnisse die
definitive Lösung der ganzen Frage bringen dürften.
New Haven, Conn., Oktober 1915.
6) Eine entsprechende Kreuzung, bei der auch die Rasse H beteiligt war,
aber ein anderes Muttertier, wurde mit dem gleichen Erfolg schon früher von
Toyama’s Assistent Dr. Machida ausgeführt, dem somit die Priorität dieser Ent-
deekung gebührt. Ihm verdanke ich auch das Material der Rasse H. Ich weiß
nicht, ob er inzwischen über den Fall publiziert hat.
Prät, Über die Wirkung des Lichtes auf die lebenden Organismen. H71
Einige neuere Versuche über die Wirkung des Lichtes
auf die lebenden Organismen.
I. Die Schädigung des Auges durch Einwirkung des ultravioletten Lichtes. Von
San.-Rat Dr. med. Fritz Schanz und Dr. ing. Carl Stockhausen. Sonderabdr.
a. d. Elektrotechn. Zeitschr., 1908, 33. II. Schutz der Augen gegen die schädigende
Wirkung der kurzwelligen Lichtstrahlen. Von denselben. Berlin 1910. Weiter
San.-Rat Dr. Fr. Sehanz in Dresden: III. Die Wirkungen des Lichtes auf die
lebende Zelle. Münch. med. Wochenschr. 1915, S. 643—645. IV. Sonnenstich —
Hitzschlag. Ibidem S. 979 und 980. V. Über die Beziehungen des Lebens zum
Licht. Ibidem S. 1315 und 1316. VI. Über die Entstehung der Weitsichtigkeit
und des Starrs. Ibidem S. 1840—1842. VII. Die Wirkung des Lichtes auf die
lebende Substanz. Pflüger’s Arch. f. d. ges. Physiol., 161. VIII. Die Wirkung
des Lichtes auf die lebenden Organismen. Biochem. Zeitschr. 71, 1915, S. 406.
IX. Die Wirkung der kurzwelligen, nicht divekt sichtbaren Lichtstrahlen auf das
Auge. Sonderabdr. aus Strahlentherapie VI, 1915, S. 87.')
Schon früher wurde nachgewiesen, dass die Eiweißstoffe photo-
sensibel sind und dass namentlich die unsichtbaren Strahlen die
Eiweißstoffe in schwerer lösliche verwandeln und schließlich koagu-
lieren (Dreyer und Hansen, Chalupecky). Diese Einwirkung
ist auch an den Eiweißstoffen des lebenden Körpers ersichtlich.
Es ist bekannt, dass die ultravioletten Strahlen kürzerer Wellen-
länge sehr leicht heftige oberflächliche Entzündungen erzeugen, die
ultravioletten Strahlen größerer Wellenlänge dagegen mehr in die
Tiefe dringen. Die beständig der Lichteinwirkung ausgesetzte Haut
wird im Laufe des Lebens derber als die Haut, die vor Lichtein-
wirkung mehr geschützt ist. Der Verf. hat namentlich die Wirkung
des kurzwelligen Lichtes auf das Auge studiert. Wie schon Birch-
Hirschfeld gezeigt hat, erzeugen die kurzwelligen Strahlen beı
sehr intensiver Einwirkung mikroskopische Veränderungen in der
Netzhaut; er konnte auch Farbensinnstörungen durch Quarzlampe
nachweisen. Widmark und Hess wiesen nach mehrstündigen
intensiven Belichtungen mikroskopische Veränderungen im Kapsel-
epithel der Linse nach. Der Verf. untersuchte nun zuerst die Durch-
lässigkeit der Augenteile für verschiedene Strahlen und konnte fest-
stellen (II. S. 10, IX. S 88), dass die Hornhaut etwa von 360 uw
Wellenlänge anfängt stärker zu absorbieren, bei 310 au absorbiert
sie vollständig. 3 mm dicke Linsenschichten zeigten den Anfang
der Absorption im Blau, Ultraviolett wurde außerordentlich intensiv
absorbiert (weniger als 375 au vollständig). Von den Strahlen von
400—370 uu Wellenlänge gelangt ein erheblicher Teil bis zur Netz-
haut und dieser verursacht ihre Fluorescenz, welche auch bei hellem
Tageslicht in der Form eines Schleiers, der sich bei der Blendung
1) Nach Absendung des Manuskriptes an die Redaktion erhielt ich durch die
Liebenswürdigkeit des Herrn San.-Rat Dr. F. Schanz noch zwei neue Separate:
X. Lichtfilter m. a. W. 1915, Nr. 48, S. 1640—1642. XI. Zur Eosinfärbung der
Futtergerste. Medizinische Klinik. Wochenschr. f. prakt. Ärzte 1915, Nr. 51.
Neuerdings hat „Etwas Neues aus der Photophysiologie“ Dr. J. Peklo in
„Biologickl listy“‘ 1915, H. 5, 6 zusammengestellt.
572 Prät, Über die Wirkung des Lichtes auf die lebenden Organismen.
über das Auge legt, erscheint. (Auch die Wahrnehmung des
„Lavendelgrau* hinter dem sichtbaren Spektrum.) Ein Teil der
Strahlen wird an der Hinterfläche der Linse reflektiert — „bei jeder
Reflexion verliert das Licht vor allem an kurzwelligen Strahlen“ —
und auch die kleinsten Teilchen der Linse spalten das Licht nach dem
Diffusionsgesetz ab, weil die Linse nicht „optisch leer“ ist; es werden
also auch Linsenteile, die durch die Iris vor dem direkten Licht
geschützt sind, der Lichteinwirkung ausgesetzt.
Weiter wurde auch durch neue Versuche nachgewiesen, dass
das Licht die Struktur der Eiweißkörper in dem Sinne verändert,
dass aus leicht löslichen schwerer lösliche werden. Die Lösungen
der Eiweißkörper wurden in gekühlten Quarzeprouvetten in einer
Entfernung von 20 cm von einer Quarzlampe der Einwirkung durch
2—4 Stunden ausgesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass z B. 10 cm’
Eiereiweißlösung, welche vor der Belichtung 149,7 mg Albumine
und 3,8 mg Globuline enthielt, nach einer 2stündigen Belichtung
138,9 mg Albumine, 20,4 mg Globuline und 0,8 mg koagulierte Ei-
weißkörper enthielt, dass also die Menge der schwerer löslichen
Kiweißstoffe um 10,3%, zugenommen hatte. Beim Linseneiweiß
stieg während einer 4stündigen Belichtung die Menge der schwerer
löslichen Eiweißstoffe um 13,3%. Dieselben Erscheinungen sind
auch bei Blutserum (20 x mit 0,5%, NaCl verdünnt) festgestellt.
Daraus kann man den Altersstarr der Linse und den Zusammenhang
des Sonnenstiches mit Blutveränderungen erklären. Die Augen
kann man mit Euphosgläsern schützen, die, ohne die Lichtstärke
wesentlich zu schwächen (Lichtverlust 3—5 %,), die vltravioletten
Strahlen ganz abhalten.
Sehr interessant sind die Versuche des Verf. über die Photo-
katalysatoren (IV, V, VIII). Verdünntes Blutserum, welchem etwas
Eosin zugesetzt war, gab nach der Belichtung viel dichteren Nieder-
schlag mit (NH,),SO, als eine Probe ohne Eosin. Durch die Zu-
sammensetzung des Lichtes (Sonnenlicht — Quarzlampe) wird der
Prozess beeinflusst. Wir können also die Wirkung des Lichtes auf
die Eiweißlösungen steigern. Auch in unseren Nahrungsmitteln
finden sich wahrscheinlich Stoffe, die eine Steigerung der Licht-
wirkung veranlassen können (Buchweizen, Mais, Reis; Beriberi, bisher
als Avitaminose betrachtet, kann nach dem Verf. auch durch ge-
steigerte Lichtwirkung durch Reis veranlasst werden).
Weiter wird gezeigt, dass auch Traubenzucker (10 %,) ein Photo-
katalysator ist; ein geringerer Zuckerzusatz erzeugt aber eine hem-
mende Wirkung. Dagegen Aceton (unter Lichtwirkung ın Methan
und Essigsäure zerfallend) ist auch bei geringem Zusatz, ähnlich
wie Alkohol, ein mächtiger Photokatalysator.
Später gibt der Verf. noch ganze Reihen von Photokatalysatoren
an (V, VIII). Der verbreitetste ıst das Blattgrün; wird es in ver-
schieden starker Konzentration angewandt, so ist die Umwandlung
der Albumine in Globuline der ChlorophylImenge proportional.
Ebenso wirkt Phylloporphyrin, einer der kräftigsten positiven Photo-
katalysatoren; in Verdünnung von 1:80000 vermag es Kulturen
Prät, Über die Wirkung des Lichtes auf die lebenden Organismen. 573
von Paramaecium im Lichte eines trüben Wintertages abzutöten;
im Dunkeln ist es wirkungslos. Auch Chlorophyllösung tötet die
Paramaecien im Lichte, nicht aber im Dunkeln. Recht kräftige
Sensibilisatoren sind auch Hämatoporphyrin, Milchsäure, Harnstoff.
Die Versuche wurden so angestellt, dass zwei Serien der Eiweiß-
lösungen mit Photokatalysator aufgestellt wurden, eine ım Lichte
(Sonnenlicht), die andere im Dunkeln. Nach einer bestimmten Zeit
(2 Tagen) wurden die Lösungen mit stark verdünnter Essigsäure
(oder [NH,],SO,) gefällt. In den belichteten Röhrchen trat der Nieder-
schlag auf, die ee Röhrchen blieben beim gleichen Essig-
säurezusatz ganz hell.
Die Photokatalysatoren sind in der Natur schr wichtig. Man
kann endo- und exogene Katalysatoren unterscheiden. Die ersteren
bilden sıch ım Organismus selbst, die anderen werden von außen
den Organısmen zugeführt (vor allem Mineralsalze). Zu den ersteren
gehören namentlich die Farbstoffe, die das Integument der Tiere
färben. Mac Munn fand in dem Integumente von Schnecken, in den
bräunlichroten Seesternen, ın den Streifen an der Rückenseite des
Regenwurms Hämatoporphyrin. Die Regenwürmer sind photo-
sensibel, sie flüchten bei den Belichtungsversuchen ins Rot, das
grell gefärbte Integument der Seetiere hat die Fähigkeit, die in die
Tiefe durchdringenden Strahlen zu absorbieren und für den Orga-
nismus auszunützen, nicht also die Feinde abzuschrecken. Auch die
Farben der Blumen sollen nicht die farbenblinden Insekten anzıehen,
sondern man muss sie für Photokatalysatoren anschauen. „Aus
dem Licht, das uns die Sonne zustrahlt, werden ganz spezielle
Strahlen, die zur Farbe der Blüte die Komplementärfarbe darstellen,
absorbiert, das muss bei der Umwandlung der Eiweißstoffe ganz
spezifische Eiweißkörper geben.“ „Diese Kiweißkörper werden ın
der Fruchtanlage zugespeichert und werden mit dem Samen in den
neuen Organismus übergehen und werden dessen Art bestimmen“
KAVESS: 5).
Weiter kommen die Exokatalysatoren in Betracht. Als solche
Katalysatoren, die Lichtenergie übertragen, sind Fe, Mn, As, U, Hg
einerseits, bestimmte organısche Chromophore (Anthracenderivate)
anderseits zu nennen.
Aber wir kennen nicht nur positive Photokatalysatoren. Das
Pigment kann auch die Lichtwirkung auf die Eiweißkörper ver-
mindern, es ist ein negativer Photokatalysator (dunkle Menschen-
rassen, die starke Rückenfärbung der Tiere). „Organısche Stoffe,
die die Pflanze selbst bildet, wirken auf deren Eiweißkörper eben-
falls als Photokatalysatoren, ebenso wie die Mineralstoffe, die den
Pflanzen aus dem Boden zugeführt werden, auf die organischen
Stoffe der Pflanzen und auch auf deren Eiweißkörper als Photo-
katalysatoren wirken. Aus dem Zusammenwirken solcher positiver
und negativer Katalysatoren werden sich Eiweißkörper bilden, die
sich voneinander unterscheiden“ (spezifische Eiweißkörper. V,S.4).
„Bei den Tieren ist das ganze Integument für Lichtwirkung empfäng-
lich.“ Bei höheren Tieren kommt es zur Entwicklung des Auges,
574 Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Metazoen.
Der Vorgang der Wirkung des Lichtes auf die Netzhaut ist uns
nicht bekannt. „Wir nehmen an, dass sich in der Netzhaut Seh-
stoffe, wie der Sehpurpur, finden, die durch das Licht zersetzt
werden. Wir kennen Pigmente, die die Lichteinwirkung hemmen.
Seit wir wissen, dass die Eiweißstoffe photosensibel sind, müssen
wir auch annehmen, dass die Eiweißstoffe dieser Sinnesepithelzellen
durch Licht direkte Veränderungen erleiden, und es liegt nahe, an-
zunehmen, dass die Sehstoffe und das Pıgment der Netzhaut dabei
als positive und negative Photokatalysatoren wirken. Dem Sehakt
würde dann derselbe photokatalytische Prozess zugrunde liegen,
den wir allenthalben in der belebten ‘Natur beobachten“ (V, S. 5).
Endlich zeigt der Versuch mit Mineralwässern, dass es unter
den Mineralsalzen Stoffe gıbt, welche die Liehtwirkung auf die Eı-
weißkörper verlangsamen (bei den Proben des verdünnten Blut-
serums mit den Mineralwässern kam die Trübung später und er-
reichte auch nicht dieselbe Dichte wie ın Kontrollkölbehen). „Jede
Brunnen- und Badekur sowie jede klimatische Behandlung bei ‚Licht
besehen‘ ist eine Lichttherapie“ (VII, S. 412—414). S. Prät.
Julius Schaxel (Jena). Die Leistungen der Zellen bei
der Entwicklung der Metazoen.
VII und 336 S., gr. 8°. Mit 49 Abbildungen im Texte. Jena 1915, G. Fischer.
Der Verfasser, dem wir wertvolle Arbeiten verdanken, welche
die zytologische Analyse der Entwicklung behandeln, erörtert in
diesem Werke Tatsachen und Probleme der Entwicklungsmechanik
und der Zytologie, welche zu Fragen der allgemeinen Biologie in
Beziehung gebracht werden können, insbesondere jene, welche für
die durch gewisse Ergebnisse entwicklungsmechanischer Unter-
suchungen in den Vordergrund des Interesses gerückte Grundfrage
der Biologie — vitalistische oder mechanistische Auffassung — von
Bedeutung sind. Eine ausführliche Behandlung erfährt hierbei vor
allem das Determinationsproblem der ontogenetischen Entwicklung.
In den ersten Abschnitten des Werkes werden ın klarer und
kritischer Weise die Methodik der Zytomorphologie, hierauf die
Stellung dieser Wissenschaft in der Biologie und ferner ihre Prin-
zipien behandelt. Die scharfe Umgrenzung der Leistungsfähigkeit
der zytomorphologischen Forschung führt den Autor zu dem Schlusse,
dass manches, was bisher aus derartigen Forschungen gefolgert
wurde, in Wirklichkeit in der Zytomorphologie keine Stütze findet.
Dies gelte von der behaupteten Ubiquität der Centrosomen, von
der Kontinuität der Plastosomen, sowie auch von der Individualität
der Chromosomen.
Nach diesen allgemeinen Erörterungen wird der Vorgang der
Eibildung näher untersucht. Er beginnt, nach Schaxel, ım Kerne
(Nukleolenbildung, Chromatinanreicherung), greift dann auf den
Zelleib über (chromatische Granulationen) und erfährt dort seine
Fortsetzung (Chromasie). Man kann demnach drei Stadien unter-
Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Metazoen. 575
scheiden, das der Präemission im Kerne, das der Emission des
Chromatins in den Zelleib und das der Postemission. Während des
letzten Stadiums vollzieht sich die Rekonstruktion der chromo-
somalen Lagerung, wodurch der Kern wieder teilungsfähig wird;
im Zelleib kommt es gleichzeitig zur Ausbildung der an der späteren
Entwicklung Anteil nehmenden Substanzen. Diese Vorgänge gehen
in ganz bestimmten Teilen des Zelleibes vor sich und das, was
durch sie erzeugt wird, verbleibt auch an dem Orte, an welchem
es gebildet wurde. So entwickelt sich eine bestimmte Schichtung,
eine Polarität der Eizelle.
Diesen aus den ım Eı selbst vorhandenen Bedingungen sich
entwickelnden Prozessen legt der Verfasser die größte Bedeutung
bei und er fasst das Problem der Determination in einer von der
ursprünglichen Fassung dieses Begriffes abweichenden Art auf: Außere
Umstände vermögen, nach ihm, nicht ın entscheidender Weise deter-
minierend einzuwirken und so kommt auch z. B. der Besamung
keine determinierende Bedeutung zu, denn die Konstitution des
reifen und zur ersten Teilung schreitenden Eies erfolgt „nach
eigener, in ihm selbst gelegener Determination“. Auch die Hypo-
these von der Beteiligung der Plastosomen der Samenzelle an der
Bildung des Keimes ist danach unbegründet. Die Besamung wirkt nur
als auslösender Realısationsfaktor, dem Plasma der Samenzelle
kommt lediglich eine entwicklungserregende Wirkung zu.
Von besonderer Bedeutung ist der nun folgende Abschnitt über
die Determination der Furchung. Diese erfolgt, nach Schaxel, in
sukzessiven Akten. Die Furchung ist für ihn ein reines Teilungs-
geschehen. Es spielen dabei weder Spezifikationen der Zellen durch
Bildung von Dauerstrukturen, noch Zellumformungen oder -verlage-
rungen, die nicht Teilungsbewegungen sind, eine Rolle. Daher ıst
die Determination der Furchung vollständig mit der Determination
der Aufteilung des Eies ermittelt. Die Determination der ersten
Teilung ist nun in der Konstitution des entwicklungsbereiten Eies,
die Determination jeder weiteren Teilung in der Konstitution der
zu teilenden Blastomere gegeben. Diese Konstitution aber ergibt
sich primär aus der von dem Ei in ununterbrochener Kontinuität
übernommenen Substanzlokalisation, die sekundär Besonderheiten
durch die Nachbarschaftswirkungen der Blastomeren erhält (primärer
und sekundärer Faktorenkomplex der Furchung). So erfolgt die
Aufteilung des Eies in das typisch geordnete Zellenaggregat des
gefurchten Keimes durch in sich sukzessiv determinierte Akte. Die
Furchung ist die Resultante der Einzelereignisse. Für die Annahme
weiterer, in ihrer Wirkung nicht durchschauter geheimnisvoller Vor-
gänge ist danach nicht der mindeste Grund vorhanden.
Zu diesem Schlusse gelangt der Autor nicht bloß aus der Ana-
lyse der normal-ontogenetischen Vorgänge, sondern auch aus der
Untersuchung der künstlich bewirkten Änderungen dieser Prozesse.
Denn nirgends lasse sich ein besonderer ordnender Faktor ermitteln,
stets ist die Harmonie des Zusammenwirkens der Teile als Resul-
tante aller wirkenden, durch die Eikonstitution selbst gegebenen
576 Schaxel, Die Leistungen der Zellen bei der Entwicklung der Metazoen.
Faktoren nachzuweisen und soweit Regulation vorkomme, halte sie
sich stets in den Grenzen der Determination. Jede Änderung der
Keimkonstitution zieht unweigerlich auch eine Determinationsände-
rung nach sich. An die Stelle der behaupteten Äquifinalität tritt
„die Besonderheit jedes Geschehens gemäß der besonderen Kon-
stitution des Ausgangsstadiums“. „Das Spezifische jeder Gestaltung
ist nicht ihr Ziel, sondern ıhre einseitige Bestimmung.“ Statt als
besonderes harmonisch- äquipotentielles System muss man die frühe
Ontogenese als ein „in sich durch sukzessive Akte determiniertes
Geschehen“ auffassen. Damit fällt die Theorie der äquifinalen
Regulation samt ıhren vitalıstischen Folgerungen. Und was die
Entelechie Driesch’s betrifft, so ıst sie kein Naturfaktor, „nicht
weil andere physikalische und chemische Faktoren das leisten, was
sie leisten soll, sondern, weil die ıhr zugeschriebenen Leistungen
überhaupt nicht geleistet werden.“
Die nach der Furchung einsetzende Bildung der Organanlagen
erfolgt durch Wachstums. und Bewegungsvorgänge, nicht auch
durch Produktion von Plasmaderivaten. Das Massenwachstum kommt
durch fortgesetzte Zellteilungen zustande und die bestimmenden
Faktoren hierbei sind von derselben Art wie die die Aufteilung des
Eies bewirkenden. Doch muss der Autor zugeben, dass die Deter-
mination der Anzahl der Teilungen ıhrem Wesen nach noch nicht
erkannt ist. Ebensowenig hat die Forschung die Ursache für die
Lösung der Zellen aus dem Verbande, für ıhre gerichteten Be-
wegungen und für ihre Zusammenfügung zu einem neuen Verbande
ermittelt.
Die histogenetische Differenzierung der Organanlagen beginnt
mit einer ÖOhromatinanreicherung ım Kerne, um dann als Ohromatıin-
emission auf den Zelleib überzugreifen. Dann erst beginnen die
charakteristischen Umbildungen des Cytoplasmas. Alle diese Vor-
gänge sind typisch bestimmt und sie erfolgen ferner ın strenger
Einsinnigkeit. Die Determination der Qualität der jeweiligen Diffe-
renzierung ist aber noch unaufgeklärt und wahrscheinlich nicht mit
zytomorphologischen Mitteln, sondern nur durch die Chemie er-
forschbar. Ungerechtfertigt ist es daher auch, gewisse durch be-
sondere Präparationsverfahren isoliert zur Darstellung gebrachte Be-
standteile des Zytoplasmas, wie die Plastosomen, als die eigentlichen
Bildner der Dauerstrukturen aufzufassen.
Dieser Darstellung folgen die Erörterungen über die zyto-
morphologische Auffassung der Funktion, des Alterns, Absterbens
und der Restitution der "Gewebe. Der natürliche Tod wird als
Folge der begrenzten, einsinnigen Determination der Zellen hinge-
stellt, die Annahme einer Entdifferenzierung und rückläufigen Ent-
wicklung als irrig abgelehnt.
In dem letzten, die Zellentheorie behandelnden Abschnitte wird
zunächst ausgeführt, dass alles ontogenetische Geschehen nur Fak-
toren enthält, die an Zellen gebunden sind, dass es also zellular deter-
miniert ist. Die Zelle bloß als Mittel von ihr über geordneten Faktoren
aufzufassen erscheint zum mindesten nicht notwendig. Ähnliches
Brehm’s Tierleben. 577
gilt von der Auffassung der Zelle als Bildnerin „letzter Einheiten“
(Energiden, Protomeren). — Zellular determiniert ist auch die Ver-
erbung, die stets nur mittels Reservation totipotenter Zellen erfolgt.
Die Erforschung des Vererbungsmechanismus fällt daher zusammen
mit der Ontogenese. Die Möglichkeit der Variation (und Mutation)
ist darın begründet, dass die geänderte Realisation eines der suk-
zessiven Akte der ontogenetischen Determination diesen zu ändern
und damit eine geänderte Determination für die Folgeakte zu be-
wirken vermag. Die Vererbung an sich ist keine Funktion, ihr
dienen daher auch nicht besondere Organe als „Vererbungsträger“.
— Bei der Entwicklung der Metazoen handelt es sich im wesent-
lichen stets nur um durch die Zellkonstitution bestimmte Zell-
leistungen. Hierbei bestimmende und bestimmt werdende Elemente
zu unterscheiden ist nicht notwendig. „Es handelt sich ın den
einander folgenden Stadien vielmehr um ein Zusammenwirken der
Faktoren, das sich aus der Konstellation aller Teile von Akt zu
Akt ergibt.“
Die hier gelieferte Darstellung vermag naturgemäß den Inhalt
des Werkes nicht ganz wiederzugeben, sie soll nur auf dessen wesent-
liche Punkte hindeuten. Man mag über manches anderer An-
schauung als Schaxel sein. Wichtig bleibt sein Werk jedenfalls
schon durch die große Bedeutung der Probleme, zu welchen es
Stellung nımmt. Wer immer sich mit diesen beschäftigt, wird auch
das Werk Schaxel’s genauer studieren und sich zu den darin
niedergelegten Anschauungen in irgendeine Beziehung setzen müssen.
Alfred Fischel (Prag).
Brehm’s Tierleben.
Allgemeine Kunde des Tierreichs. Vierte, vollständig neubearbeitete Auflage, heraus-
gegeben von Prof. Dr. Otto zur Strassen. Vielfüßler, Insekten und
Spinnenkerfe. Neubearbeitet von Richard Heymons unter Mitarbeit von
Helene Heymons. Mit 367 Abbildungen im Text, 20 farbigen und 15 schwarzen
Tafeln von P. Flanderky, H. Morin, G. Mützel und E. Schmidt, 7 Doppel-
tafeln und 4 einseitigen Tafeln nach Photographien und 1 Kartenbeilage. Leipzig
und Wien 1915, Bibliographisches Institut.
Den Verfassern ist das wirklich schwere, aber um so verdienst-
vollere Werk gelungen, auf nicht mehr als 692 Seiten (dazu kommen
noch 14 Seiten Sach- und Autorenregister) das gewaltige Gebiet
der Myriapoden, Insekten und Arachnoideen in einer dem Plane
des ganzen Werkes vollkommen entsprechenden Weise zu bear-
beiten. Nur wenige von den vielen interessanten Entdeckungen
der letzten Jahrzehnte über die Lebensweise und Brutfürsorge der
in Betracht kommenden Tierformen haben in diesem Bande keine
Aufnahme gefunden und eine geradezu überwältigende Fülle von
Material musste gesichtet werden, um in dem jetzt vorliegenden
Bande, von dem noch mehr Abbildungen als Text vom „alten
Brehm“ erhalten geblieben sind, verarbeitet werden zu können.
Heymons geht von der richtigen Erwägung aus, dass der „Brehm“
kein Bestimmungsbuch sein kann und soll und hat der Kennzeich-
XXXV. 37
vi
578 Brehm’s Tierleben.
nung der einzelnen Kategorien nicht mehr als nötig Raum gewährt,
dafür der Schilderung der Lebensweise im weitesten Sinne des
Wortes, also der Ethologie den größten Teil des Bandes zur Ver-
fügung gestellt. In der Systematik hat er die kleineren und kleinsten
Gruppen möglichst vollständig aufgenommen, dagegen natürlich bei
den größeren und größten eine Auswahl ‘getroffen, an der nur wenig
auszusetzen ist — diese Auswahl wird wohl bei dem gleichen Thema
jeder Autor, nach Berücksichtigung der unbedingt aufzunehmenden
Formen nach seinem persönlichen Geschmack treffen, zum Teil
auch nach dem Material, das ihm für die Illustration zu Gebote
steht.
In bezug auf die Auffassung der Mimikry und ihrer Bedeutung
nimmt der Verf. einen gemäßigten Standpunkt ein, was nur gebilligt
werden kann. Die Auswüchse der neueren Mimikry-Hypothetiker
können die wahrscheinlich nur für gewisse tropische Lepidopteren
gültige Theorie selbst im wesentlichen nicht schädigen und wir
müssen uns andererseits davor hüten, das Kınd mit dem Bade
auszuschütten. Denselben vorsichtigen Standpunkt nımmt H. auch
ın der Nomenklaturfrage ein. Doch sınd andererseits unter den
deutschen Benennungen einige wie „Eierpaketler* für Oothecaria,
die sich nur durch ihre hervorragende Hässlichkeit dem Gedächtnis
einprägen werden.
Dass die Termiten und Ameisen mit ıhren Gästen, ihren Bauten
und ihren oft so verwickelten Staatenbildungen ihrer Bedeutung
entsprechend ausführlich behandelt wurden, ist nach dem Vor-
erwähnten selbstverständlich; aber auch die Biologie der land-,
forst- und obstschädlichen Insekten (auch der deutsch-afrikanischen
Kolonien), die verschiedenen, Krankheitserreger übertragenden Dip-
teren und anderen Insekten, Zecken u. dgl. findet reichliche Berück-
sichtigung, und nicht minder sind die paläontologischen Ergebnisse
der letzten Zeit überall benützt.
Es ıst schwer, ım beschränkten Raume eines Referates alles
hervorzuheben, was in diesem Bande im Vergleich zur früheren
Auflage neu und der Erwähnung besonders wert ist; man. kann
sagen, dass nicht nur das naturfreundliche Laienpublikum, für das
der „Brehm“ ja In erster Linie bestimmt ist, sondern auch der Fach-
mann sicher gern und oft nach diesem Bande greifen wird, wo er
eine große Menge zuverlässiger Angaben über Dinge findet, die auch
ihn im hohen Grade interessieren und die auch er nicht immer
gleich so beisammen hat.
Nun zu den textlichen Einwänden. Sie sind kaum der Rede
wert. So wäre die sehr zweifelhafte Eremiaphila tureica, die übrigens
nicht aus Ägypten, sondern aus Mesopotamien stammt, die letzte,
die ich als Beispiel für diese Gattung wählen würde, während die
mächtige E. Typhon und die häufige X. Khamsin bekannte ägyptische,
E, denticallis und genei verbreitete nordwestafrikanische bezw.
syrische Arten sind. Bei den Phasmiden wäre der gegenwärtig
überall in Menge gezüchtete Carausius morosus Brunn. erwähnens-
wert gewesen. Pamphagus marmoratus ıst kein Wüstentier (im
Brehm’s Tierleben. 579
Leben meist schön grün) und der auf der Farbentafel bei S. 87 dar-
gestellte Pamphagus ist nicht marmoratus. Auch die in vielen Warm-
häusern botanischer Gärten etc. eingeschleppte und vollkommen
akklimatisierte flügellose Laubheuschrecke Tachyeines asynamorus
(allgemein unter dem Namen Diestrammena micolor bekannt), die
merk würdige parthenogenetischsich fortpflanzende Riesenheuschrecke
Saga serrata wären einer Aufnahme würdig gewesen. Die Palpares-
Arten, zum mindesten der südeuropäische ?. ibelluloides fliegen bei
Tage, gerade um die Mittagszeit; auch für zwei nordafrikanische Arten
konnte ich das feststellen, wenn auch P. angustus Mc. Lachlan
auch abends zum Lichte fliegt. Bei den Lausfliegen wäre das
höchst merkwürdige Ascodipteron, dessen 2 ın der Flughaut tro-
pischer Fledermäuse schmarotzt, nicht zu übergehen gewesen. Die
Cieindela auf S. 375 ıst sicher nicht campestris, sondern wohl eher
sylvicola. Bei Coenomyia wäre der überaus charakteristische Geruch
nach Ziegerkäse bemerkenswert gewesen. Unter den in Kalifornien
mit so großem Erfolge zur Säuberung der Melonengärten verwen-
deten Coccinelliden wäre die in Kalifornien selbst heimische Hippo-
damia convergens nicht zu vergessen, von den Strepsipteren wäre
auch die Abbildung von 9 und Jugendzuständen interesssnt ge-
wesen.
Schlimmer sieht es mit den Abbildungen aus. Die photo-
graphischen sind durchwegs lobenswert und instruktiv, namentlich
die schönen Bilder von Borkenkäferfraßstücken, von Hymenopteren-
nestern, die biologischen Aufnahmen (Totengräber, Trichterwickler,
Ameisenlöwe, Siebzehnjährige Zikade, Libelle u. s. w.); ferner viele
Textbilder, namentlich von dem ausgezeichneten Heubach, der merk-
würdigerweise auf dem Titelblatt neben den übrigen Künstlern gar
nicht genannt ist. Ganz schlecht ist dagegen Ephippiger (S. 88)
ın bezug auf Halsschild und Flügeldecken, abgesehen davon, dass
ich in meinem Leben dieses typische Gebüsch- oder höchstens Distel-
bewohnende Tier niemals auf einem Grashalm sitzen sah; unver-
ständlich für jeden, der die Verhältnisse nicht aus eigener An-
schauung kennt, ist die Tafel bei S. 87 mit den blutspritzenden
Eugaster, hölzern und augenscheinlich nach gespießten Objekten
gezeichnet sind, viele fliegende Insekten Flanderky’s, wenig kennt-
lich sind die meisten Arten auf der Fliegentafel bei S.336; bei den
tropischen Tagschmetterlingen auf der Tafel neben S. 304 ist der
Künstler an dem prächtigen Troides paradiseus gescheitert und die
ganz unnötigerweise unter die Tagschmetterlinge geratene Bupurtide
Sternocera orientalis ıst ın Form und Färbung unkenntlich. Die
Darstellung des Metallglanzes ist bisher weder den beiden Künstlern,
die sich im Reptilienband an den beiden metallglänzenden Riesen-
schlangen Python reticulatus und Boa madagascariensis versuchten,
noch Morin und Flanderky gelungen, und daher ist es gut ge-
wesen, dass in den Farbentafeln sonst diesem Problem ausgewichen
wurde. Dass die farbigen Käfertafeln und einige andere (Teufels-
blume, Wanderheuschrecken, Wanzen) gut sind, tröstet uns nicht
über die Tatsache hinweg, dass die wundervolle Farbenpracht der
37*
580 Seitz, Die Großschmetterlinge der Erde.
tropischen Insektenwelt im Insektenband des „Brehm“ spärlicher
vertreten ist als im Konversationslexikon.
Wenn wir von der zu grellen farbigen Spinnentafel absehen,
sind die Abbildungen bei den Spinnentieren ebenso gut wie bei
den Myriopoden. Bei diesen fällt ein sehr hübsches Bild der Brut-
pflege von Seolopendra eingulata, die wundervolle photographische
Abbildung des Nestbaues von Polydesmus (in 8 Stadien), die Tötung
einer indischen Calotes-Eidechse durch einen Riesenskolopender,
wenig erfreulich dagegen ein schlecht geratener, durch einen eben-
solehen Geophilus überfallener Regenwurm auf, bei den Spinnen-
tieren ist u.a. das Bild der merkwürdigen Afterspinne Ischyropsalis
helwegi von Interesse; hier ıst die Zahl der neuen Abbildungen
überhaupt nicht erheblich. Zahlreiche gute Abbildungen sind anderen
Werken, namentlich „Hesse und Doflein, Tierbau und Tierleben“
entlehnt. Auf die Verbreitungstafel näher einzugehen, möchte ich
mir versagen, da ich dieser Art geographischer Darstellungen auf
engem Raum von vornherein kein Verständnis entgegenbringe.
Wenn ich von den vorstehend verzeichneten illustrierten
Schwächen, die vielleicht nicht allgemein als solche empfunden
werden, absehe, möchte ıch den vorliegenden Band als einen der
besten bezeichnen, die bisher vom neuen „Brehm“ vorliegen, und
es unterliegt keinem Zweifel, dass er an Interesse keinem anderen
Bande nachsteht. F. Werner (Wien).
Dr. Adalbert Seitz, Die Grolsschmetterlinge der Erde.
Verlag des Seitz’schen Werkes (Alfred Kernen). Stuttgart 1915.
Bereits im Jahre 1907 erschienen die ersten Lieferungen des
Seitz’schen Schmetterlingswerkes. Alle, die damals in das Werk
Einblick nahmen, waren erstaunt über die Großartigkeit seiner An-
lage und über den Riesenplan der Bearbeitung, der hier zur Aus-
führung kommen sollte, wollte der Herausgeber doch insgesamt auf
etwa 1000 großen Bunttafeln nicht weniger denn 40000 Schmetter-
linge der ganzen Erde zur Abbildung bringen, das sind also so
ziemlich alle bisher bekannten Großschmetterlinge. Oft genug
konnte man schon zu jener Zeit die Meinung hören, dass ein solches
Werk überhaupt nicht zu Ende geführt werden könnte!
Die Lieferungen aber folgten sich in ganz regelmäßigen Zeit-
abschnitten, so dass jene Propheten schließlich verstummten. Gegen-
wärtig ist trotz schwerster Kriegswirren das Werk so weit fort-
geschritten, dass weit über die Hälfte dieser Riesenarbeit in geradezu
ausgezeichneter Weise bereits fertig vorliegt.
Das Werk selbst scheidet sich in zwei Abteilungen: Der I. Haupt-
teil umfasst die „Großschmetterlinge des paläarktischen
Faunengebiets“, also die „Europäer“. Er zerfällt in 4 Bände,
besser Doppelbände, von denen je die eine Hälfte immer den Text,
die andere die Tafeln enthält. Hiervon liegen bis heute bereits
die ersten 3 Doppelbände fix und fertig vor: Der I. Band: „Tag-
falter“, mit 89 Bunttafeln und 3470 Abbildungen, der II. Band:
Seitz, Die Großschmetterlinge der Erde. 581
„Spinner und Schwärmer“, mit 56 Farbentafeln und 2489 Faltern,
der III. Band: „eulenartige Nachtfalter“, mit 75 kolorierten Tafeln
und 4338 Abbildungen. Der IV. Band: „Spanner“, ist auch fast
fertiggestellt, ist doch ın letzter Zeit hiervon schon die 127. von
130 Lieferungen, wodurch die Paläarkten abgeschlossen sein werden,
ausgegeben worden. Dieser IV. Band wird 25 Tafeln mit 1977
Buntabbildungen enthalten. Dann aber wird für die Sammler und
Forscher europäischer Schmetterlinge ein Werk geschaffen sein, wie es
besser und schöner noch nicht existiert, ein Werk, auf das die ge-
samte Entomologie, Sammler und Fachzoologen, mit Recht stolz
sein können.
Der II. Hauptteil zerfällt in drei Unterabteilungen, nach den
Erdteilen in eine amerikanische, eine indoaustralische und
eine afrıkanische Fauna sich scheidend. Jeder dieser Teile be-
steht wieder aus 4 Doppelbänden, so dass das ganze Werk 16 Doppel-
bände enthalten wird. Auch diese Teile sind in ganz vorzüglicher
Weise gefördert worden, und wenn auch durch den Krieg der Ver-
kehr mit dem Auslande und mit mehreren der bedeutendsten Mit-
arbeiter ungemein gehindert ist, so hat dies doch das regelmäßige
Erscheinen der einzelnen Lieferungen nicht aufhalten können. Zu-
dem sind gegenwärtig durch den Herausgeber Vorkehrungen dahin
getroffen, dass eine Bearbeitung der noch ausstehenden Bände
auch ganz unabhängig vom Auslande zu ermöglichen sein wird, ein
Ziel, das der deutschen Wissenschaft gewiss zu hoher Ehre ge-
reicht.
Von der Fauna americana wurden bis jetzt 78 Lieferungen
ausgegeben, von der F. indoaustralica 125 und von der F. africana
35, jede Lieferung mit 1—2 Bogen Text und 2 herrlichen Bunt-
tafeln. Diese letzteren gerade sind es, die die Aufmerksamkeit
nicht nur der Entomologen, sondern aller Naturfreunde, selbst der
Künstler, auf sich gezogen haben, zeichnen sie sich doch einesteils
durch vorzügliche Naturtreue, andernteils durch wunderbare Farben-
pracht besonders aus, so dass sie der deutschen Vervielfältigungs-
kunst zur ganz hervorragenden Zierde und Ehre gereichen. Wieder
und wieder kann man diese Tafeln beschauen und studieren, und
stets wird man neuen Genuss, neue Freude daran haben.
In welcher Reichhaltigkeit die einzelnen Tafeln oft gehalten
sind, zeigt beispielsweise die Tafel 13 des 4. Bandes der Paläarkten,
die nicht weniger denn 135 Abbildungen von Cidarien und Eupi-
thecien in tadelloser, unübertrefflicher Feinheit wiedergibt.
Dass natürlich auch der Text, so knapp er auch gehalten ist,
auf die einzelnen Momente in der Entwicklung der Falter, auf die
Lebensgewohnheiten der Raupen und Schmetterlinge, auf Vorkommen
und Futterpflanze, auf Fortpflanzung und Häufigkeit, kurz auf alle
einschlägigen biologischen Verhältnisse Rücksicht nimmt, mag hier
nur angedeutet sein.
Auf alle Fälle aber verdient das Seitz’sche großzügige Schmetter-
lingswerk reichste Verbreitung nicht bloß in allen Bibliotheken,
sondern auch unter allen Fachgelehrten und Entomologen. Sein
582 Abderhalden, Lehrbuch der Physiologischen Chemie in Vorlesungen.
Preis ist bei der Vorzüglichkeit des Gebotenen sehr niedrig: eine
Paläarkten-Lieferung wird mit Mk. 1.—, eine Exoten-Lieferung mit
Mk. 1.50 berechnet. Das Werk erscheint gleichzeitig in deutscher,
französischer und englischer Sprache. Dr. 0. Krancher, Leipzig.
Emil Abderhalden. Lehrbuch der Physiologischen
Chemie in Vorlesungen.
3. Auflage. II. Teil. gr. 8°. 814 Seiten. 28 Figuren. Urban und Schwarzenberg.
Berlin und Wien 1915.
Mit Vollendung des II. Teiles kommt die Neuauflage des
Abderhalden’schen Lehrbuches trotz des Krieges zum schnellen
Abschluss. Er umfasst die anorganischen Nahrungsstoffe, die Be-
deutung des Zustandes der Bestandteile der Zellen für ihre Funk-
tionen, die Fermente und den Gesamtstoffwechsel.
Vergleicht man die neue Auflage mit den vorangegangenen, so fällt
zuerst der doppelte Umfang ins Auge. Aus einem Buche, das der
Mehrzahl der Studierenden noch zugänglich war, ıst so ein Werk
entstanden, welches den Nichtspezialisten durch Umfang und Kosten
abschrecken kann. Anderseits hat das Werk für denjenigen, der
sich einen Einblick in den jetzigen Stand der physiologisch-chemischen
Forschung verschaffen will, mancherlei gewonnen. Es gehört zu
den seltenen Büchern der rein wissenschaftlichen Literatur, die zu
einer wirklichen Lektüre geeignet sind; es übt auf den Leser einen
dauernd fesselnden Reız aus, und diese Eigenschaft verdankt es
nicht nur der umfassenden Beherrschung des gewaltigen Stoff-
materials, sondern vor allem auch dem immer wiederkehrenden
Hinweis auf neue Probleme, auf das in den bisherigen Ergebnissen
noch zweifelhafte oder hypothetische. Auch die Einbeziehung ver-
schiedener Wissenszweige, welche in einem gewissen Abhängigkeits-
verhältnis zur Physiologischen Chemie stehen, wie gewisse Gebiete
der Botanık, der Erbschaftslehre, der Serologie, der Bakteriologie
und der Pharmakologie sichert dem Werke das Interesse eines
umfangreichen Leserkreises. Und weiterhin sind auch die Grund-
lagen der physiologischen Erkenntnis erweitert worden, dadurch,
dass die Berücksichtigung der physikalischen Chemie ausgedehnter
gestaltet und die Kolloidehemie als neue Basis besonders für die
Eigenarten der Zellfunktionen einbezogen worden ist. Nur in einer
Beziehung scheint dem Referenten eine gewisse Differenz zwischen
der Art der Stoffbehandlung und dem möglichen Leserpublikum zu
bestehen; gewisse Wiederholungen und die Erklärung mancher
Einzelheiten sind für den Anfänger berechnet, dem das Werk doch
in den seltensten Fällen zugänglich sein wird, sie wirken aber etwas
ermüdend auf den fortgeschrittenen Leser, für den das Buch aus
den angeführten Gründen in Wahrheit bestimmt sein muss. In
der jetzigen Form kann man Abderhalden’s Physiologische
Chemie den Studierenden als Ergänzung und zur Repetition einer
Vorlesung nicht mehr empfehlen. Das dürfte auch Abderhalden
empfunden haben, wenn er auch im Vorwort die Forderung stellt,
Bateson, Mendel’s Vererbungstheorien. 583
dass der Student seinem Gedankenflug folgen soll. So fehlt uns
momentan ein geeignetes „Lehrbuch“ der physiologischen Chemie
von passendem Umfange. Das Lehrbuch von Hammarsten ist,
trotz seiner vielen guten Qualitäten, zu trocken und zu wenig auf
die interessanten Ergebnisse der neuesten chemischen Forschung
eingestellt, während Oppenheimer’s Grundriss der Biochemie
mehr als Repetitorium denn als Lehrbuch gemeint ist. Gewiss
wird diese Lücke nach dem Kriege bald in geeigneter Form aus-
gefüllt werden. H. Pringsheim (Berlin).
W. Bateson. Mendel’s Vererbungstheorien.
Aus dem Englischen übersetzt von Alma Winckler. Mit einem Begleitwort von
R. von Wettstein. 8° 41 Abbildungen im Text u. 6 Tafeln. Druck und Verlag
von B. G. Teubner. Leipzig und Berlin 1914.
In der Literatur über die Vererbungslehre nimmt das Werk
von W. Bateson: Mendel’s principles of heredity einen ersten
Platz ein. Der Verfasser hat sich bemüht, eine zusammenfassende
Darstellung und Kritik von Mendel’s Forschungen zu geben, er
liefert zugleich eine Übersicht der neueren Forschungen auf dem
Gebiete der Vererbungslehre. An dem Buche ist ganz besonders
anerkennenswert, dass sowohl die zoologische als auch die bota-
nische Seite der Probleme Berücksichtigung finden. Dieses für
Züchter, Botaniker, Zoologen, Mediziner und Anthropologen so
überaus wichtige Werk ist in deutscher Übersetzung erschienen, die
an Klarheit und Prägung der Sprache nichts zu wünschen übrig
lässt. Ich versuche eine Übersicht des reichen Inhalts zu geben,
indem ich die verschiedenen Kapitelüberschriften mitteile: 1. Men-
del’s Entdeckung, 2. Das untersuchte Material, 3. Numerische Folgen
und neue Kombinationen, 4. Farbenvererbung, 5. Gametenkoppe-
lung und Abstoßung, 6. Vererbung und Geschlecht, 7. Gefüllte
Blüten, 8. Beispiele für Mendel’ sche Vererbung beim Rechen,
9. Intermediärformen zwischen Varietäten und den „Reinen Linien“
Johannsen’s, 10. Verschiedene widersprechende und Ausnahme-
Phänomene, 11. Biologische Anschauungen im Lichte Mendel’scher
Entdeckungen, 12. Nutzanwendung der Mendel’schen Regeln,
13. Mendel’s Leben und Werk, 14. Versuche über Pflanzenhybriden,
15. Uber einige aus künstlicher Befruchtung gewonnene Fleracium-
Bastarde. Eine weitere Analyse ist bei dem zur Verfügung stehen-
den beschränkten Raume leider nicht zu geben. Doch schon diese
Inhaltsübersicht und der Hinweis, dass dieses Werk von einem
erstklassigen Fachmanne verfasst worden ist, bürgen ohne weitere
Worte für den hohen Wert dieses Buches. Vorzügliche Schemata
und zum Teil farbige Abbildungen sind dem Werke Dan
. Schwarz.
Verlag von Georg Thieme in _ Leipzig, Antonstraße "15. — Druck der kgl. bayer,
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen,
Alphabetisches Namenregister.
A.
Abderhalden 62. 111. 582.
Ach 160.
Adlerz 69.
Ahlfeld 510.
Arcichovsky 22.
Armbruster 129.
Arrhenius 144.
Askenasy 413.
B.
Baer, von 105.
Baerthlein 282 ff.
Baranetzky 443.
Barfurth 50.
Bartlett 167.
Bateson 583.
Bauer 494.
Baunacke 502.
Baur 181. 286. 542.
Beche, de la 107.
Beijerinck 282 ff.
Bemmelen 151.
Berlepsch, v. 132, 333.
Bernard, Noel 216.
Berthelot 191.
Berthold 464.
Bethe 39. 191. 229 ff.
Biedermann 376.
Bireh-Hirschfeld 571.
Birckner -V. $ff.
Blume 213. 540.
Bönner 65.
Bois-Reymond, E. du 455.
Bokorny 23. 25.
Bondroit 74.
Bonnet 232. 554.
Bonnier 191.
Boulanger 397.
Boulenger 179.
Boveri 332. 5659.
Brandt 376.
Braun 77.
Brehm 395. 397.
Bresslau 128.
Bridge 186.
Bridges 569.
Bronn 105.
Brun 190. 225 ff.
Buchenau 68.
Büchner 109.
577.
Buchwald 275.
Buckl 120.
Buckland 107.
Buddenbrock, v. 481.
Bullard 521.
Burgeff 215.
Burmann 540.
Burmeister 103.
Burri 284.
Bütschli 376.
Buttel-Reepen, v. 31. 39.
129. 200. 331.
©.
Camerano, L. 37.
Candolle, de 104.
Cantor 154.
Carpenter 108.
Casteel 334.
Challier, Le 295.
Chalupecky 571.
Chambers 106.
Chaperon 477.
Child 478.
Cobb 509.
Cockerell 168.
Coehn 543.
Collet 184.
Cornetz 231ff.
Couturat 154.
Cuenot 139.
Curtis 51.
Cyon 191.
Oyren 178.
D.
Dahl 544.
Darwin 93 ff. 266. 281. 286.
501. 560.
Darwin, Fr. 210.
Davenport 499.
Deckelmeyer 253.
Dedekind 154.
Dewitz, J. 37.
Dickel 127.
Dingler 441.
Dobkiewiez 39.
Dogiel 143.
Donisthorpe 75.
Dorfmeister 146.
Dreyer 571.
Driesch 393. 545.
Duchatel 191.
Dujardin 229.
Duncker 506.
Dzierzon 129. 332.
E.
Edinger 474.
Ehrenbaum 185.
Ehrenberg 101.
Ehrlich, P. 159. 338.
Eimer 77.
Eisenberg 282.
Ekler 62.
Emery 75. 208. 252.
Engelhardt, v. 333.
Entz 378.
Ernst 200.
Ernst, Christian 561.
Eugster 332. 561. 565.
Exner 227.
F.
Fabre 191. 242.
Feuerbach 109.
Fielde, Miss 242.
Fischel 577.
Flanderky 396. 579.
Focke 275.
Fodor 111.
Forbes 93.
Forel 39. 117. 226ff.
Franz, V. 475. 498.
Freud 160.
Fricks, v. 509.
Friedländer 293. 327.
Firiesa7an73: i
Frings 151.
Frisch 39.
Frisch, v. 334.
Fruwirth 64.
G.
Gaisch 178.
Gates 173.
Gaudry 104.
Gaupp 541.
Gay-Lussac 477.
Gildemeister 293.
Gmelin 187.
Goebel 209. 463. 540.
Goeldi 30.
Goethe 7.
Alphabetisches Namenregister.
I.
Goldschmidt, R. 123. 342, Issaköwitsch 364.
565.
Goodrich 397.
Gotschlich 329.
Gouy 477.
Graff, v. 376.
Grandori 64.
Grant, Allen 104.
Gray, Asa 104,
Griffini 186.
Grobben 136.
Gruber 376.
Grunewald, Marta 341.
Günther 77.
Guldberg 455.
Haberlandt 375.
Hachet-Souplet 200.
Haeckel 99, 286.
Häcker 373.
Hagedorn 117.
Halberstaedter 340.
Handlirsch 380.
Hansen 571.
Hartung 384.
Hasskarl 540.
Hauff 95. 99.
Hauser 281.
Heck 138.
Heer, OÖ. 104. 384.
Heider 541.
Heikertinger 257 ff.
Heim 293.
Heincke 184,
Henriksen 74.
Hensen 507.
Henslow 107.
Herbst 553
Hertwig, O. 286. 333.
Hertwig, R. v. 133.
342. 541.
Hertz 159.
Heß 39.
Heß, v. 334. 571.
Hesse 84.
Heubach 579.
Hilbert 154.
Hildebrand 404.
Hinneberg 541.
Hoff, van ’t 144. 295. 455.
Holdefleiß 47.
Holmgren 30. 379 ff.
Honigmann 342.
Hooker 104.
Howard 414.
Huber 140.
Huber, Fr. 333.
Huxley 105. 160,
541.
338.
J.
Jäger, G. 106.
Jäkel 38.
Jakobsen, G. 35.
Janczewski 209.
Jennings 38. 482 ff.
Jesenko 414.
Johannsen 283ff. 414.556 ff.
Jollos, V. 337.
Jordan, H. 336.
Judd 9.
Junghuhn 540.
K.
Kamerling 456.
Kammerer 177.
Kant 393.
Karsten 444.
Kaufmann 543.
Keibel 541.
Kerner 260.
Klebs 402ff.
Koch, Rob. 281.
Köllicker 105.
Kohlbrugge 62. 93.
Koorders 424.
Koshevnikov 137.
Krall 154.
Krancher 582.
Kranichfeld 39.
Krause, E. 104.
Kreidl 485.
Kruse 293.
Kuckuck 139.
Kühn 344.
Külpe 159.
Küster 447.
Kuhlgatz 74.
Kutter 47.
L.
Lachlan, Me. 579.
Lakon 401ff.
Lamarck 102. 336.
Landois 84. E
Lantz 178.
Lehmann, Ernst 555.
Leibniz 554.
Liebmann 258ff.
Liesegang 447.
Lindau 256.
Linne, Elisabeth 3. 560.
Lo Bianco 38.
Loeb, J. 37, 196. 478. 481ff,
985
Löhner 385.
Loher 213.
Lotsy 555 ff.
Lotze 103.
Lubbock 39. 246. 362.
Lummer, ©. 7.
Lyell 103.
Lyon 37. 486.
M.
Maeterlinck 331.
Magnus, W. 440.
Maillet, de 103.
Malm 182.
Mantegazza 9.
Martius 287.
Massini 281.
Matenaers 63.
Maupas 376.
Mayer, P. 400.
Mapynie 51.
Mazzetti 295.
MelIndoo 334.
Meckel 108.
Megusar 179.
Meier 137.
Mendel 113ff. 284. 542. 561.
583.
Mertens 77.
Meyer (Gadernheim) 133.
Minchin 255.
Mittelweg 456.
Möbius 184,
Moggridge 120.
Moleschott 109.
Molisch 25. 414.
Morgan 547.
Morin 579.
Müller 227.
Müller, G. F. 99. 155.
Müller, Joh. 110.
Müller, M. 103.
Müller, P. F. 344.
Müller-Pouillet 549.
Munk 446. 473.
N.
Nachtsheim 127. 335. 562.
Nägeli 105. 285ff.
Nathusius, v. 47.
Natzmer, v. 30. 36. 381.
Neisser 281. 338.
Nestler 21.
Newport 143.
Newton, A. 105.
Nippoldt 542.
Nöller 254.
Nylander 73.
986
®.
Oesterlen 521.
Oppel 395.
Oppenheimer 583.
Ostenfeld 68.
Ostwald 455.
1 o
Palladin 398.
Papanicolau 341.
Pappenheim 397.
Paracelsus 393.
Parker 38. 160. 521.
Pearl 51.
Peckham 200.
Petrunkewitsch 132.
Pfaundler 543.
Pfeffer 222. 443.
Pflüger 477. 571.
Pieron 191. 244.
Plate 284.
Plateau 39. 144.
Plessner 488.
Polimanti, ©. 36. 143.
Poll 541.
Popoff 364
Poulton 105.
Bratwazil®
Prentiss 485.
Pringsheim, E.G. 329
375. 399. 543.
Pringsheim, H. 585.
Prochnow 81. 145.
Prowazek 255. 337.
Pütter 388.
Purkinje 4.
R.
Rabe 20.
Raeiborski 217.
Radl 94. 482.
Rasänen 75.
Reichard 540.
Reinwardt 540.
Reisinger 472.
Renner 171. 343.
Reynaud 191. 200.
Rheede tot Drakesteen 540.
Rhumbler 554.
Röder 475.
Rosen, v. 380.
Roux 329. 393. 477. 554.
Royce 154.
Rumpf 540.
Russel 154.
S,
Sahlberg 70.
Santschi 228 ff.
331.
Alphabetisches Namenregister.
Sars 184
Saunder 75.
Schäfer 475.
Schanz 571.
Scharffenberg, v. 341. 369.
Schaudinn 338.
Schaxel 546. 574.
Schellenberg 437.
Scheuring 181.
Schiller 7.
Schimper 406. 420.
Schleiermacher, A. 3ff.
Schleiden 106.
Schleip 129. 564.
Schlösing 477.
Schmid, B. 412.
Schmidt, W. J. 80.
Schneider 153.
Schupenhauer 154.
Schultz, Julius 555
Schroeder 8. 153.
Schwann 101.
Schwartz 275.
Schwarz 583
Secerow 176.
Sedgwick 107. 160.
Seitz, Adalb. 580.
Shull 20.
Siebold, v. 333.
Simon 421. 456.
Sirks 539.
Skoda 480.
Smitt 184.
Späth 418 ff.
Spemann D99.
Spencer 339.
Spuler 5.
Stahl 216 265.
Standfuß 147.
Steenstrup 66. 101.
Steiner 472.
Stockhausen 571.
Stoppel 445.
Strasburger 541.
Strauß 109.
Swellengrebel 255.
Szymanski 196.
I.
Teysmann 540.
Thilo 83:
Thoma 480.
Thomas, F. 3.
Thomson, A. 103. 255.
Thumm 396.
Toenniessen 281 ft.
Tollin 35.
Trendelenburg, W. 5.
Treub 218.
Tschermak 46.
Tübeuf, v. 437.
U.
Uhlenhut 391.
V.
Valetin 540.
Valeton 424.
Verson 144.
Verworn 196.
Viguier 191.
Vogt, ©. 108.
Volkens 412. 421.
Voss 154.
Vries. de 161. 281ff. 310.
W.
Waage 455.
Waite 187.
Waldstein 62.
Walther, A. 47.
Warming 67. 330.
Wasmann, E. 35. 72. 77.
113162 207023319253
379. 561.
Weber 414.
Weismann 146. 285.
3414. 353. 548. 554.
Weissermehl 38.
Werner 176. 397. 580.
Wetterhahn 106.
Wheeler 120. 207.
Whewell 107.
Wickmann 62.
Widmark 571.
Wiesner 213. 22].
Wilde 293.
Wilson, E. B. 160. 547.
Winterstein 352. 482.
Wolfisberg, J. 66.
Wollaston 384.
Woltereck 341.
Wright 420.
333.
YV..
Yersin 143.
2.
Zander 136.
Zehnder 399.
Zeleny 547.
Zimmer 544.
Alphabetisches Sachregister.
A.
Abwehrfermente 111.
Abwehrmittel 269.
Ackerbauameise 120.
Aeranthus fasciola 210.
Aerides 217.
Arilanthus glandulosa 418.
Albizzia Lebbek 422.
5 stipulata 426.
Allianzkolonie 120.
Allometrose 122.
Ameisen 65. 113. 190. 207. 225.
Ameisenkolonien 113.
Ameisensäure 267.
Amia calva 396.
Ammoniak 25.
Ammoniakhefe 28.
Ammoniak, kohlensaures 26.
Ammoniaksalze 26.
Amoeba viridis 376.
Amphioxus 38.
Analytische Methode 145.
Andrena 30.
Anlockungsmittel 258.
Antirrhinum 559.
% glutinosum 559.
5 majus 559.
Antophora 30.
er retusa 143.
Apis mellifera 331
„ mellifica 34. 331.
Arrhinotermes 383.
Artbegriff 283. 555.
Arthropterus 381.
Assoziationsapparat 231.
Asterias 554.
Atemeles 125.
» Pubicollis 125.
Athous rufus 86.
Aurelia aurita 182.
B.
Bakterien 281.
Balanus-Larve 497.
Barästhesie 193.
Bastardierung 46.
Bastardzucht 59.
Batrachier 36.
Befruchtung 127.
Beleuchtung, bipolare 237.
Bewegungssinn 193.
Bienen 39. 127. 331.
Bieneneier 127 ff.
Biogenetisches Grundgesetz 30.
Biologie, allgemeine 160. 335.
Blastomerengruppen 550.
Blitzen von Blüten 3.
„Blitzen, Wetterleuchten‘“ 4.
Blutegel, Füttern ders. 385.
Boa madagascariensis 579.
Bombyx mori 143.
Brutfährte 239.
Buche 414.
Bufo 36.
C.
Calotermitinae 382.
Campanula rotundifolia 41.
Camponotus 381.
Br herculeaneus 74.
Caranz trachurus 182.
Centaurea phrygia 41.
Ceratophyllus columbae 255.
: gallinae 255.
Cerianthus membranaceus 478.
Chemie, physiol. 582.
Chemotropismus 485.
Chenopodium glaucum 275.
Chlorella 343.
Chrysanthemum Leucanthemum 41.
Cirsium oleraceum 40.
er palustre 41.
Clavellina 547. 552.
Coleoptile 20.
Colletes 30.
Coluocera 383.
5 oculata 384.
Convoluta Roscoffensis 375.
Coprinus plicatilis 403.
Coptotermitinae 383.
Coralliorhiza 216.
Corethra plumicornis 143.
Corpora pedunculata 229.
Corydendrium 38.
Corysanthes 225.
Crabronidae 30.
Crepis 42.
» bulbosa 466.
Uyanea capillata 182.
D.
Daphnia magna 363.
pulex 343.
988
Darwiniana 105.
Dendrobium nobile 211.
Deszendenztheorie 102.
Diaheliotropische Bewegungen 489.
Lianthus superbus 42.
Diatropismus 485.
Didymium-Arten 403.
Diestrammena micolor 579.
Dinarda dentata 126.
5 Märkeli 126.
Dorsiventralität 209.
Dorymyrmex 117.
Drehungsexperimente 239.
Drillinggeburten 513.
Drohnen 127.
Drosophila 569.
Dunkelkultur 430.
E.
Eehinus micerotuberculatus 546.
Edelgerste 9.
Eibilduug (Moina) 341.
Eiche 417.
Eifarbentelegonie 48.
Eigenbewegungen der
schinen 81.
Einheit, isogene 555.
Eischalenxenien 48.
Eiweiß, Ammoniakbindung 25.
Ekphorie 198.
Ektoplasma 293.
Elater oculatus 84.
Elisabeth Linne-Phänomen 3.
Endoplasma 293.
Energiewechsel in Organismen 475.
Engrammkomplexe, topochemische 227.
Engrammsukzessionen 194.
kinästhetische 194.
Entflügelte Weibchen 115.
Entwicklung der Keimpflanzen nach 24-
stündiger Weiche in Silbernitrat Off
Entwicklung der Metazoen 574.
Entwicklungsgeschichte 541.
Ephippiger 579.
Epidendrum nocturnum 210.
Erblichkeitslehre 560.
Eueryptotermes 382.
Eudendrium 38.
Eugaster 579.
Eumenes 30.
Ewuphorbia Myrsinites 268.
Exodermis 211. 221.
Tiere und Ma-
F.
Fagus silvatica 414. 439.
Falterstadium 151.
Farbensinn der Bienen 39.
Färbungstelegonie 46.
Farbxenien 46.
Alphabetisches Sachregister.
Faunengebiet, afrikanisches 581.
% amerikanisches 581.
rn indoaustralisches 581.
Wi paläarktisches 580.
Fazettenaugen 246.
Feldwirtschaft 64.
Ferngeruchsvermögen 227.
Fernorientierung 195. 225.
x lokomotorische 195.
spontane 195.
Fische, Gleichgewichtssinn 472.
„ Laichorte 540.
„ Parasitismus 181.
Fistellen 400.
Fixierversuch 247.
Fluktuation 312.
n Entstehungsmechanismus
der 321.
n Erblichkeit der 321.
Formica 117. 381.
® exsecta 74.
5 picea 65.
„ rufa 35. 242. 561.
Br rufibarbis ln
re sanguinea 74. 242.
trunciecola 121.
Formosae 75.
Fragaria lucida 411.
Frasxinus excelsior 414.
Fütterung von Blutegeln 385.
Furchungstypus 546.
Fußspurentheorie 234.
6.
Gadus aeglefinus 184.
„ merlangus 182.
„ morrhua 189.
‚; pollachius 189.
virens 189.
Galium mollugo 43.
Galtonia candicans 413.
Galvanotropismus 493.
Gemmaria 38.
Genitalapparat, weiblicher 61.
Geophilus 580.
Geotropismus 485.
Geruchssinn der Ameisen 226
‚ Kontakt- 226.
Geruchsspur 231.
(Geschlecht bei Mehrlinggeburten 506.
» ‚ Vererbung und Bestimmung
565.
Gesichtssinn der Ameisen 227.
Getreidekörner, Keimfähigkeit 8.
Gewebelehre 541.
Glechoma hederacea 411.
Gleichgewichtssinn 472.
Gobius ruthensparri 183.
Goodyera 225.
Großschmetterlinge 580.
Alphabetisches Sachregister. 589
Guarnierische Körperchen 339.
Gymnadenia conopsea 42.
H.
Haftorgane 215.
Halicine 263.
Hämatopinus spinulosus 255.
Hapaxanthische Arten 404.
Harmonisch-äquipotentielle Systeme 545.
Harpagoxenus sublaevis 74.
Hefe, getötete 27.
„ lebende 27.
Heliotropismus 485.
Hemimysis lamornae 488.
Heracleum sphondylium 41.
Herzhypertrophie 480.
Heterotis 396.
Heterozygoten 556 ff.
Heuchera sanguinea 411.
Hexenbesen 436.
Hexenringe 446.
Hippodamia convergens 579.
Hirudo medieinalis L. 385.
Hodotermes turkestaniceus 55.
Hodotermitinae 382.
Holzgewächse 413.
Homophonie 199.
Homozygoten 557.
Hüllentelegonie 48.
Hühnereier 46.
Hybridform 115.
Hydra viridis 376.
Hydrocharis Morsus ranae 412.
Hymenopteren, soziale 230.
Hyperia 49%.
% galba 182.
Hypokotyl 214.
I.
Idioplasma 286.
Individuum, heterozygotisch 556.
55 homozygotisch 556.
Infraluminöse Strahlen 191.
Initialkörperchen 339.
Insektenstaat 30. 333.
Instinktautomatismus 197.
Intersexualität 566.
Isogene Einheit 555.
J.
Johannistriebbildung 429.
K.
Kaliumbioxalat 268.
Katalytische Wirkungen 467.
Keimfähigkeit 8. 161.
Kinästhesie 193.
Kinästhesie, aktive 193.
3 ‚ passive 193.
Knautia 42.
Knospen, begrenzte 423,
Knospenmutation 435.
Konservieren 544.
Kontaktgeruchssinn 195.
Körnerfresser 269.
Korrelationen 409.
Kotyledon 214.
Kryptogamenflora 256.
Kultur von Paramaecien 375.
Ot
L.
Lacerta faraglionensıs
„» Jüfolensis 77.
> galloti SO.
> llfordi 77.
melissellensis 77.
55 muralis coerulea 77.
rn
‘A
nigra 80.
y ocellata SU.
e pater SD.
R simonyi SO.
” tangintana S0.
ee vivipara 8.
Laelio-Cattleya 216.
Lasius 331.
„ flavus 67.
„ Fuliginosus 70. 236. 246.
Lathyrus pratensis 41.
Legerella parva 255.
Leguminosen 275.
Lejeunea 215.
Leptomanus Aenocephali 255.
Leptothorax 33.
» acervorum 73.
» muscorum 73.
Leucotermes flavipes 383.
1 indicola 383.
5 lueifugus 383.
Leucotermitinae 383.
Lichtkompasstheorie 246.
Lichtwirkung 571.
Lilium auratum 413.
Linne&on 560.
Loelaps laevis 125.
Lolium temulentum 21.
Lokalisation, zentrale des Gleichgewichts-
sinnes 472.
Lotus corniculatus 42. 43.
Luftwurzeln 209.
Lycopodium 218.
Lymantria dispar 569.
M.
Maja verrucosa 144.
Makromere 548.
Malaxis 225.
590 Alphabetisches Sachregister.
Malpighiella refringens 255.
Massenorientierung 231.
Mastotermes Frogg. 380.
“ anglicus 380.
35 Batheri 380.
5 bournemouthensis 380.
5 eroaticus 380.
Mastotermitidae 381.
Materialismus 109.
Medusa aurita 185.
Mehrlinggeburten 506.
Melanismus 77.
‘ Mendelismus 561.
Mendels’che Kreuzung 115.
55 Mischung 113.
5 Spaltung 122.
Mensch, Mehrlinggeburten 506.
Menyanthus trifoliata 209.
Mesotermitiden 382.
Messor 115.
„ barbarus 121. 562.
„ barbarus minor 232.
+ barbarus niger 121. 562.
Metazoenentwicklung 574.
Microstylis 225.
Mikromere 549.
Mikroskopie 400.
Milchsaft 268.
Mimikry 578.
Mneme 205.
Moehringia trinerva 404.
Moina rectirostris 341.
Monohybriden 127.
Monomorium Pharaonis 12.
Morphologie 541.
Muschelkrebse 502.
Mutation 305.
5 Erblichkeit der 307.
"N Wesen der 308.
Myrmica laevinodis “0.
n ruginodis 617.
R scabrinodis 74.
Mysideen 494.
N.
Nährgelatine 64.
Nährsalzzufuhr 465.
Nosema pulicis 255.
®.
Oberschlundganglion 229.
Odina gemmifera 422.
Oecophylla 380.
Ökologie 330.
Oenothera 161.
T biennis 167.
Cockerelli 168.
H grandiflora 172.
* Lamarckiana 162. 557.
Oenothera rubricalyx 173.
e rubrinervis 557.
% suaveolens 168.
syrtiecola 167.
Ontogenetische Entwicklung 34.
Orchideenluftwurzeln 209.
Organe, statische 228.
Orientierung 190 ff. 225 ff.
R dynamisch-proprizeptive
193:
neurostatische 193.
plasmostatische 193.
Orientierung, virtuelle 203.
Orientierungsreflexe, exterozeptive 195.
Orchis maculata 42.
Osmia 30.
2
Palaemon 490.
Palpares angustus 579.
libelluloides 579.
Pamphagus 579.
Paramaecien 375. 486.
Paramaecium Bursaria 375.
Parasitismus von Jungfischen 181.
Parthenogenesis 332.
Penieillium variabile 446.
Periodizität des Wachstums 406.
en der äußeren Lebensbedin-
gungen 406.
Pferde, rechnende 153.
Pflanzenanatomie 398.
Pflanzengeographie 330.
Pflanzenschutzmittel 257.
Phänotypus 296.
Phalaenopsis 210.
er amabilis 211.
® Lüddemanniana 211.
rosea 219.
Schilleriana 211.
Pheidole absurda 254.
5 pallidula 254.
5 symbiotica 259.
Pheidologethon 381.
Phylloxera 64.
Phylogenie 35.
Physalia 187.
Physik 543.
Pikrinsäure 268.
Pilzhutförmige Körper 229.
Pithecolobium Saman 427.
Plagiolepis 381.
Plantago media 42.
Plasma, lebendes und totes 27.
Plastizität 197.
Pleurococeus 377.
Pluteus 550.
Pneumoniebazillus 293.
Pogonomyrmex 117.
Polarisationslehre 233.
Alphabetisches Sachregister.
Polydesmus 580.
Polyergus rufescens \\.
Polypterus 396.
Porotermes-Arten 382.
Prenolepis longicornis 383.
Probierbewegungen 486.
Prosopıs 30.
Protein 26 ft.
Protermitiden 382.
Protoblattoidea 381.
Protokorm 217.
Protoplasmaprotein 26. 27.
Protozoenstudien 337.
Prunella grandiflora 43.
® major 42.
Pulsierendes Gefäß 143.
Puppenstadium 151.
Purkinje-Phänomen 4.
Pyramicus flavus 119.
Python retieulatus 579.
Q.
Quercus-Arten 414.
Quercus peduneulata argenteo-margt-
nata 430.
= sessiliflora 439.
Rana 36.
Ranunculus 42.
Rassenkreuzungen 58.
Rattentrypanosomen 254.
Raumempfindung, olfaktorische 195.
Raumorientierung 192. 249.
„ propriozeptive 192.
Reflexbogen 499.
Regulation, primäre 551.
Reine Linie 555.
Reinzucht 59.
Reiz, progressiv wirkender 295.
„ retrogressiv wirkender 294.
Reseda odorata 404.
Resektionsversuche 16.
Rheotropismus 37.
Rhinantus major 41.
Rhizostoma 185.
Rhythmus im Wachstum der Pflanzen 401.
A nesunlerecheidung, olfaktorische
38.
Richtungszeichen, kinästhetische 251.
Ricinus communis 404.
Rindengrau 229.
Roggen 16. 19.
Rosskastanie 417.
Rückschläge (Atavismen) 152.
Rufa-truneicola-Kolonie 113.
Rugitermes 382.
Ruhe der Pflanzen 401.
kumex acetosa 411.
591
S.
Saga serrata 579.
Salamandra 177.
r caucasica 178.
Es maculosa 178.
Samen, Wasseraufnahme 161.
7 Keimfähigkeit 8.
Sammeln von Tieren 544.
Sanguinea-Gäste 126.
x -Nester 125.
Saprolegnia mixta 403.
Sarcanthus Parishii 210.
5, rostratus 210.
Schlafbewegungen der Blätter und Blüten
444,
Schleimpilze 403.
Schnellkäfer Si.
Schollen 540.
Schutzmittel, chemische 265.
Schwein, Mehrlinggeburten 506.
Scolopendra cingulata 580.
Sekrettheorie 128.
Selbstdifferenzierung 450.
Selbstregulation 450.
Selektionstheorie 501.
Silbernitrat und Keimfähigkeit 8.
Sima 381.
Sindora sumatrana 421.
Sinn, topochemischer 195.
Sinne, exterozeptive 194.
Sommergerste 9. 16.
Spezies 560, vgl. Artbegriff.
Spezifische Fähigkeiten 407.
Sphaerechinus 546.
Sphagnum-Moos 74.
Spiraea ulmaria 42.
Sprungkäfer 85.
Sprungorgan 85.
Squilla 491.
Statocysten 485.
Stellaria media 404.
Sterculia macrophylla 426.
Stolotermes 382.
Sturmia 225.
Stylonychien 486.
Symbiose, soziale 207.
Syntermes 384.
Syringa vulgaris 419.
m,
Tachygines asynamorus 579.
Taeniophyllum 210.
» philippinense 215.
> Zollingeri 213.
Tannin 267.
Taraxacum 274.
Telegonie 59.
Temperaturversuche mit Schmetterlingen
145.
592 Alphabetisches Sachregister.
Terminalia catappa 424.
Termitenstudien 379.
Termopsinen-Fauna 382.
Theobroma cacao 425.
Theorie der lokalen Wirkungen 483.
Thermotropismus 485.
Tierbilder 397.
Tierfraß 257.
Tierleben 395. 577.
Tılia mandschurica 439.
Tragopogon pratensis 41.
Trifolium incarnatum 42.
5 pratense 41.
a repens 41.
Trihybriden 127.
Troides paradiseus 579.
Tropismentheorie 481.
Truncicola-pratensis-Kolonie 562.
Trypanosoma Lewisi 255.
Tubularia 38. 478.
U.
Umbelliferen 274.
Umstimmung, patrokline 61.
Uniformitätsgesetze 115.
V.
Vanda 217.
Variabilität 285.
Vegetationspunkte 428.
Velamen 209.
Verdauungsversuche an Blutegeln 385.
Vererbung 285.
: ‚d. Geschlechts 565.
Vererbungslehre, experimentelle 542.
„ , Mendel’s 583.
Versuch, mnemischer 236.
Vicia cracca 41. 42.
Vitalismus 393. 545.
Ww.
Wachstum der Pflanzen 401.
Wasseraufnahme der Samen 161.
Weichfresser 269.
Weiselersatz 252.
Weizen 9. 16.
Widerstandsfähigkeit als Membranfunk-
tion 14.
Wurzelhaare 215.
x.
Xenienreaktion 47.
2 extraovale 47.
se intraovale 47.
Xeniodochie 50.
Xylocopa 30.
2.
Zamenis gemonensis 79.
Zellen und Entwicklung 574.
Zelleneiweiß 25.
Zellenlehre 541.
Zielbewegungen, spontane 195.
Zitronensäure 267.
Zwangslaufexperiment 249.
Zwillinggeburten 510.
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