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iologisches Zentralbla
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel. und DrR: Hertwig
Prof. der Botanik Prof. der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Achtunddreissigster Band
IgI8
Mit 72 Abbildungen
Leipzig 1918
Verlag von Georg Thieme.
Universitäts-Buchdruckerei von Junge & S
Inhaltsübersicht
des
achtunddreissigsten Bandes.
0, —= Orisinalarh = Referat.
Becher, E. Die fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen und die
Hypothese eines überindividuellen Seelischen. A GR
Boecker, E. Die geschlechtliche Fortpflanzung der deutschen en
polypen. O
Bretscher, K. Die Abbanstgkeit de Vogelzues's von er Wale ©)
Brun, R Nochmals die wissenschaftlichen Grundlagen der Ameisenpsycho-
logie. O0 EN AR
Buchner, P. Über aa een 2 elestomen ann 0%
Buddenbrock, W. v. Einige Bemerkungen zu Demoll’s Buch: Die nr
organe der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funktion. 0 SIELER Kae
Demoll, R. Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre
Funktion. R. SER NT Mr RER
Eckstein, Fr. Die Überwinterung unserer Stechmücken. O
Forel, A. Zur Abwehr. O 5 N:
Frisch, K. v. Beitrag zur Kenntnis Kost Inskinkte Ds kalitären Bee 0
Greiner, J. Cytologische Untersuchungen bei der Gametenbildung und Be-
fruchtung des Coceids Adelea ovata. 0 x Re
Gutzeit, E. Die Bakterien im Haushalte der Natur Ber de Mensdieh. R
Henning, H. Zur Ameisenpsychologie. 0) Dre:
Hirsch, G. Chr. Der Arbeitsrhythmus der Ver dsnnngedrüsen KON $
Jordan, Hermann, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur eshekerkalnen
Physiologie. O0 REN RS REN Kae Ste Aero
Kutter, Heinr. Beiträge zur Ameisenbiologie.e 0. . .
Lehmaun, E. Variabilität und Blütenmorphologie. 0. ; ;
schutz, A. Bemerkungen zur Frage über die Erehrung der Was
tiere. 0.
Lubosch; W. ' Der adeiniestreit chen Gebhoy st. een and ee
im he 1830 und seine leitenden Gedanken. O0... . ... .. 35.
Meyer, Fr. J. Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren als Wechsel
verschiedener Morphoden. 0 erh,
Müller, R. T. Zur Biologie von Tanymastix lumde ee 0
Neuerschienene Bücher .
IV Inhaltsübersicht.
Riebesell, P. Einige zahlenkritische Sue zu den Mendelschen
Regeln. ©. :
Schaedel, A. Biologicche Boisschtuneen zur Tr 0% Me
der Malariaverbreitung,. 0 X
Schanz, F. Wirkungen des Lichts aukl Be Pilanze. 0 BR
— Berichtigung zu der Abhandlung:, Wirkungen des Tchts auf die
Pflanze. 0 N LE RN Re Res aD Ne Des RE ee A
Schiefferdecker, P. Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff. 0
Schmidt, Cornel. Erlebte Naturgeschichte (Schüler als Tierbeobachter). R .
Schmidt, Report on the Danish Oceanographieal Expeditions 1908—1910. R
Schmidt, W. .J. Deckglasdicke, Tubuslänge und Objektive mit Korrektions-
ne WERE R N E
SchimrNorts. Tr. N... Die Drtwenzeilen 18 Oriffelkanale von rin
Mariayon. O0. -
Sierp, H. Über die nn ber aarehrhyalosinehen Vest 0)
Sokolowsky, Alexander Dr, Zur Biologie des Riesenhirsches. O
Stumper, R. Formicoxenus nitidulus Nyl. O ER NIERE
— Psyeho-biologische Beobachtungen und Analysen an en 0 e
Szymanski, J. S. -Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser gegen-
uber, O0 SR :
Tischler, G. Das Heikfostyiie. Problem. 0872:
Vogel, R., Dr. phil. Wie kommt die ne rd Schliehnns der Tamelle
des Maikäferfühlers zustande? 0.
Wasmann, E., S. J. Bemerkungen zur neuen ala von Se Bschörich
Die... Ameise... OR en ee RER DEBRd EDEN ar
— Totale Rotblindheit der kleinen Stubenfliege (Homalomyia cani-
eularis L.). © ER
— Zur Lebensweise und Fortpilanzung von Be ;eudacteon formiearum Verr.
(Diptera, Phoridae). O0 . ß ee: ES in RE
— Nachtrag zu: Zur Lebensweise von Pisaeciion formicarum. O0
Zacher, Fr. Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung. R
Zuntz, N.. Ernährung und Nahrungsmittel. R DEREN Aa
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317
456
180
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Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
DEE K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. BE. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
Januar 1918 Nr. i
ausgegeben am 30. Januar
38. Band
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 8. 1.
Referate: N. Zuntz, Ernährung und Nahrungsmittel. S. 39. — Neuerschienene Bücher. S. 39.
Variabilität und Blütenmorphologie.
Von Ernst Lehmann (Tübingen).
Ich wünschte, man durchdränge sich recht von der Wahr-
heit, daß man keineswegs zur vollständigen Anschauung gelangen
kann, wenn man nicht Normales und Abnormes immer zugleich
gegeneinander schwankend und wirkend betrachtet.
Weil aber beides nahe zusammen verwandt und sowohl das
Geregelte als Regellose von einem Geiste belebt ist, so ent-
steht ein Schwanken zwischen Normalem und Abnormem, weil
immer Bildung und Umbildung wechselt, so daß das Abnorme
normal und das Normale abnorm zu werden scheint.
(Goethe, Nacharbeiten und Sammlungen zur Metamorphose
der Pflanzen, 1820.)
Die Botaniker früherer Zeiten studierten den Bau der Blüte
nur ın ihrem Typus, der ihnen, im Vergleich zu den vegetativen
Teilen der Pflanzen als besonders konstant entgegen trat. Größere,
vereinzelte und besonders auffallende Abweichungen galten als
Monstra oder Terata, kleinere beachtete man nicht. Als Ausdruck
dieser Vorstellungen sei an die bekannten Sätze in Linn&’s Philo-
sophia botanica erinnert: Varietates levissmas non curat botanicus
und Sexus varietates naturales constituit; reliquae omnes mon-
strosae sunt, Besonders charakteristisch tritt, wie jedermann weiß,
38. Band 1
E. Lehmann,
diese Auffassung der Bildungsabweichungen von Blüten in dem.
Erstaunen hervor, welches Linn & bei der Entdeekung der Pelorie
von Linaria vulgaris ergriff, und welches sich schon in der Be-
zeichnungsweise Pelorie, von zo n£&/os, das Ungeheuer, ausspricht.
Linn& sah keine gemeinsame Wurzel für das Normale und das
vom Gesetz Abweichende, oder ın diesem Falle Abnorme. Beides
waren für ıhn grundsätzlich verschiedene Dinge. Er suchte zwar
der Frage nach dem Wesen der Pelorie näher zu kommen und
seine Anschauungen machten in dieser Richtung mannigfaltige Wand-
lungen durch. (Vgl. dazu den Briefwechsel zwischen Linn& und
Jussieu 2, S. 214 und 375 und Sirks, 1915.) Im allgemeinen
aber fiel für ihn die Pelorie wie andere Monstrositäten aus dem.
Rahmen der Gesetze der Blütenbildung heraus.
Dieser Auffassung der Anomalıen begegnen wir noch lange
Zeit. Ich führe nur zwei Äußerungen aus den vierziger Jahren des
19. Jahrhunderts an. Einmal den bekannten Ausspruch des um.
die Kenntnis der pflanzlichen Anomalien besonders verdienten
Moquin-Tandon, welcher 1842 (S. 20) sagt: „Les anomalies sont
des faits toujours accıdentels. Une monstruosite habituelle ou con-
stante est done un etre de raison“ (etwas rein Erdachtes nach
Schauer’s Übersetzung 1842, S. 20). Im gleichen Jahre äußert
sich Laurent (S. 387) sehr lehrreich ‚über Anomalien aus dem
Tierreich in seinem Aufsatze: Recherches sur les trois sortes de
corps reproducteurs, lanatomie, les monstruosites et la maladie
pustuleuse de ’Hydre vulgaire folgendermaßen: „Mais ce qui preuve
que ces modifications aussi nombreuses que singulaires obtenues sur
l’Hydre ne sont que de veritables monstruosites, en dehors
des lois qui regissent cette espece anımale, c’est qu’une
quelcongue de ces Hydres monstrueuses laissee & elle-m&me et
nourrie convenablement, ne donne jamais naissance, soit par gemmes,
soit par eufs, qu’a des individus nouveaux.“
Die durchaus andere Vorstellung, welche sich unser großer
Dichter vom Abnormen machte, ıst in den Zeilen unseres Mottos
klar zum Ausdruck gebracht. Nach ihm walten über Normalem
und Abnormem dieselben Gesetze. Wie sehr die Frage der Miß-
bildungen in seine Metamorphosenlehre hineinspielte, ist zu be-
kannt, um hier noch weiter erläutert werden zu müssen. I
Ganz entsprechende, eingehend dargelegte Anschauungen über
diese Fragen finden wir unter Goethe’s Zeitgenossen sodann bei
De Candolle. In dessen Theorie &l&ömentaire, wie ın seiner Organo-
graphie weist er auf die Bedeutung der sogenannten Monstrositäten
hin. Er sagt (Th: ele., S. 93): ons le nom de monstruosites nous
confondons en general, tout ce qui sort de I’etat habituel des
etres. Sur ce nombre ıl en est, qui sont des retours de la nature.“
Es folgt als Beispiel die Pelorie. Und weiter heißt es in der
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 3
Organographie (Meißner’sche Übersetzung): „Bis auf unsere Zeiten
beschrieb man alle Unregelmäßigkeiten der Gewächse und der Tiere
und schien nicht zu glauben, daß unter diesen Unregelmäßigkeiten
eine Gesetze beobachtende Ordnung verborgen liege. Jede unge-
wöhnliche Form eines Organes erhielt einen neuen Namen und so
wurde es unmöglich, die Analogie dieser Organe untereinander zu
erkennen. Jede ungewöhnliche Form eines Wesens wurde ent-
weder, wenn sie selten war, als eine Mißbildung (Monstruosite) be-
schrieben und man begnügte sich mit diesem bedeutungslosen
Worte, um sie nicht genauer untersuchen zu müssen, oder man sah
sie, wenn die Erscheinung häufig war, als eine besondere Art an
und verlor dadurch alle genauen Mittel zur Unterscheidung der
Wesen. Je mehr aber dıe Zahl der bekannten Wesen sich ver-
größerte, je sorgfältiger man sie studierte, desto mehr wurde man
von der Wahrheit dieses Grundsatzes überzeugt, den ich zuerst
oder unter den ersten in seiner allgemeinen Beziehung aufstellte,
daß es nämlich beinah gewiß sei, daß die organisierten Wesen,
wenn man sie in ihrer Grundform betrachtet, symmetrisch oder
regelmäßig seien, daß die scheinbaren Unregelmäßigkeiten der Ge-
wächse durch Erscheinungen bewirkt werden, die innerhalb ge-
wisser Grenzen beständig und zugleich imstande sind, sowohl ein-
zeln für sich oder vereint stattzufinden, wie z. B. das Fehlschlagen
oder das Ausarten gewisser Organe, ihre Verwachsung untereinander
oder miteinander und ihre Vervielfältigung nach regelmäßigen Ge-
setzen.“
Hier finden wir also wie bei Goethe die Anschauung ver-
treten, daß gemeinsame Gesetze das Normale und Abnorme be-
herrschen. In ähnlicher Weise treten diese Gedankengänge auch
in Jaeger’s-Mißbildung der Gewächse hervor, der nach dem Motto:
Non modo reetum linea curvi sed et curvum linea recti die Miß-
bildungen unter allgemeine Gesichtspunkte zusammenzustellen sich
bemüht und insbesondere die Gradation derselben, ihre Übergänge
ineinander und ihre Vergleichung mit den normalen Bildungen beachtet.
Ganz Goethe’schen Geist atmet dann weiter die elegante Ar-
beit Kirschleger’s: Essai de la teratologie aus dem Jahre 1845.
Im Laufe des 19. Jahrhunderts war es weiter, vor allem im
Anschlusse an De Oandolle, die formale vergleichende Morphologie,
welche gemeinsame Beziehungen zwischen Mißbildungen und nor-
malem Bau der Blüten hervorhob und sich ihrer mit Erfolg zum
Verständnis der Blütenformen bediente. Die hohe Wertschätzung,
deren die Mißbildungen sich in dieser Richtung erfreuten, spricht
sich beispielsweise deutlich in dem Satze Hugo von Mohl’s aus,
daß ohne Beobachtung mißgebildeter Blüten der menschliche Scharf-
sınn kaum imstande gewesen wäre, den richtigen Weg zur Eır-
klärung der Blütenbildung zu finden.
1*
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
nn
Es ist bekannt, wie die Wertung der Mißbildungen dann bald
in Extreme führte, welche zu scharfer Stellungnahme gegen die-
selbe führte, so daß beispielsweise Sachs bei Gelegenheit morpho-
logischer Erörterungen über die Mißbildungen sagt: „Daß die Miß-
bildungen ein Chaos ohne Gesetz und Regel darstellen, wird jeder
zugeben, der einige Sachkenntnis und zugleich Sinn für Ursache
und Wirkung auf dem Gebiete der organischen Form besitzt. Will
man sich auf diesem Gebiete überhaupt zurechtfinden, so ıst das
erste, die Mißbildungen eben als Mißbildungen zu betrachten und
nicht ohne jeden vernünftigen Grund zu glauben, daß man aus der
Unordnung die Ordnung, aus der absoluten Gesetzlosigkeit das
Grundgesetz vegetabilischer Gestaltung ableiten könne.“
Fragen wir nun, worauf diese schroffen Gegensätze beruhen,
so gehen wir wohl kaum fehl, wenn wir wenigstens zum Teil unsere
weitgehende Unkenntnis der tatsächlichen Gesetze, welche das Auf-
treten von Mißbildungen beherrschen, und zum anderen die Ver-
schiedenartigkeit der Bildungen, welche als Mißbildungen oder Mon-
strositäten zusammengefaßt werden, dafür verantwortlich machen.
Wir wollen, um hier einige Klarheit zu gewinnen, zuerst ganz kurz
den Begriff der Mißbildungen im historischen Lichte betrachten
und sodann die Wege erörtern, welche zur Aufdeckung von Gesetz-
mäßigkeiten auf diesem Gebiete geführt haben. Wir haben bei
diesen Darlegungen stets die Anomalien der Blüten im Auge, mit
denen wir uns im folgenden ausschließlich beschäftigen werden.
Der Begriff der Mißbildungen.
Wenn Linn alle Varietäten mit Ausnahme der Sexualvarie-
täten als Monstrositäten auffaßt, an anderer Stelle der Philosophia
botanica aber sagt: Varietates tot sunt, quot differentes plantae ex
ejusdem speciei semine sunt productae, so wird schon hierdurch
die Labilität des Begriffes der Monstrosität offenbar. Über diese
Labilität ist man bis heute nicht hinausgekommen. Eine Abgren-
zung dessen, was als Mißbildung oder Monstrosität zu bezeichnen
ist, ist weder nach der Seite der Varietät, noch nach der der
Krankheit bisher möglich gewesen. Das erhellt aus allen Defini-
tionen, von denen wir nur einige hier anführen wollen. Hofmeister
sagt (1868, S. 557): „Im Gegensatz zu der Benennung Spezies
oder Art, unter welcher die Gesamtheit der einander sehr ähnlichen
Individuen gemeinsamer (beziehentlich mutmaßlich gemeinsamer)
Abstammung verstanden wird, werden derartige Bildungen Varie-
täten, Abartungen genannt, wenn die Unterschiede derselben von
dem bis dahin gewohnten nicht sehr beträchtlich sind; Monstrosi-
täten oder Mißbildungen aber, wenn die Differenz eine sehr augen-
fällige ist. Die Unterschiede sind nur quantitativ; und es wird
denn auch von verschiedenen Seiten eine und dieselbe von der
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 5
gewohnten abweichende Form von der einen als Varietät, ven der
anderen als Monstrosität bezeichnet — so z. B. die einblättrige
Erdbeere, die Form der Celosia eristata mit faszuerter Inflores-
cenz etc.“
Ganz ähnlich, nur mehr mit Betonung des wertbestimmenden
Momentes, definiert Darwin: „Unter Mißbildung versteht man
irgendeine beträchtliche Abweichung der Struktur, welche der Art
meistens nachteilig oder doch nicht nützlich ist.“ Und ähnlich sind
sehr viele Definitionen, die man bis ın die neueste Zeit findet.
Überall vermißt man wirklich scharfe Kriterien und es ist deshalb
nicht verwunderlich, daß als Mißbildungen oder Monstrositäten das
allerverschiedenartigste beschrieben wird. So finden wir schon bei
Jaeger (1814) eine Erörterung über diese Verschiedenwertigkeit.
Er sagt: „Ich bediente mich meistens des geläufigeren Wortes Mib-
bildung, wenngleich nicht jedes durch Mißentwicklung entstandene
Organ als ein mißgebildetes erscheint, sondern häufig bei übrigens
völlig normaler Bildung nur in Absicht auf Lage und Stellung
abweicht, wodurch also immerhin das Bild des genannten Orga-
nismus mehr oder weniger verändert wird.“
Im Grunde ganz dasselbe führt Sachs aus (1893, S. 234). „Ich
beschränke mich (dabei) auf die eigentlichen Monstrositäten, denn
manche Abweichungen von den normalen Bildungen kann man
besser als das Gegenteil von Mißbildungen betrachten, als Erschei-
nungen, in welchen der morphologische Typus vollständiger zum
Vorschein kommt, als in der normalen Form. So sind z. B. die
von Peyritsch vortrefflich untersuchten Pelorien typisch richtiger
gebaut, Zahl und Stellung ihrer Blütenorgane entsprechen dem
Klassentypus vollkommener als die in den betreffenden Familien
herrschenden durch Zygomorphismus vom Klassentypus abweichen-
den Zahlen und Stellungsverhältnisse der Blüten.“
Wenn also Sachs in demselben Aufsatz den oben angeführten
Ausspruch über das Chaos der Mißbildungen tut, so meint er da-
mit vor allem die von ihm als eigentliche Mißbildungen betrach-
teten, trifft aber natürlich alle, da er nicht scharf zwischen beiden
Kategorien scheidet. Stenzel, welcher wohl in Übereinstimmung
mit Velenovsky so besonders scharf gegen Sachs zu Felde zieht,
geht aber eigentlich in dem folgenden Satz mit jenem durchaus parallel
(1902,S.4): „Was für einen Sinn hat es aber, wenn man eine voll-
ständig ausgebildete Pelorie, eine in allen Teilen zweizählige Blüte
von Colchicum autumnale, Galanthus nivalis, Iris Pseudacorus oder
eine ebenso durchgehends fünfzählige Paris quadrifolia für eine
Monstrosität, eine Mißbildung erklären soll, die in ihrer Art so
regelmäßig gebaut ist, wie irgendeine dreizählige der ersten Arten
oder eine vierzählige Einbeere?“ Nur die logische Folge ıst dann,
wenn Stenzel weiter, wie übrigens vor ihm schon Wigand und
6 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorpbhologie.
andere taten, die Ausdrücke Monstrositäten und Mißbildungen ganz
fallen läßt und dafür die Bezeichnung: Bildungsabweichungen, Ab-
normitäten, Anomalien gebraucht.
Zu dieser Auffassung ist dann offenbar auch Goebel gekommen,
wenn er in der 2. Auflage der Organographie die Überschrift Miß-
bildungen ersetzt durch: Abnorme Umbildungen.
Wir schließen uns diesen Anschauungen vollkommen an. Es
ist nicht zu bezweifeln, daß die populären Ausdrücke Monstrositäten
und Mißbildungen ın naturwissenschaftlich-kausalem Sinne nicht
mehr zu brauchen sınd und durch andere, auf Grund näherer Ana-
lyse gewonnene ersetzt werden müssen. Das letztere wird natürlich
erst auf Grund eingehender Studien geschehen können.
Aber auch mit der Bezeichnung Anomalie oder Abnormität geht
es uns häufig nicht viel besser. Als Anomalie bezeichnet Moquin-
Tandon: „toute modification extraordinaire dans la formation ou le
developpement des organes independamment de toute influence sur la
sante.“ Vöchting (1898) nennt die von ihm beschriebenen Bildungs-
abweichungen bei Zinaria spuria Blütenanomalien, Jost (1399) hebt
hervor, daß sie diesen Namen wegen ihrer Erblichkeit nicht mit
Recht verdienen, sondern da sie zum Wesen der Art gehören, viel-
mehr als Abänderungen zu bezeichnen wären. Nach Wettstein
(vgl. Abel) wieder ist abnorm eine Abweichung vom normalen
Typus, die aber noch innerhalb der unserer Erforschung zugäng-
lichen Variationsbreite liegt, z. B. tetramere Blüten bei einer penta-
meren Enzianart. Man sieht also, Wettstein vertritt ungefähr die
entgegengesetzte Auffassung wie Jost. Im allgemeinen aber verhält
es sich wohl so wie Masters sagt (1869, S. XXX): „It cannot how-
ewer be overlooked, that the form and arrangement called normal
are often merely those, which are the most common, while the
abnormal or unusual arrangement is often in consonance with that
considered, to be the typical than the ordinary one.“
Schon dieser kurze Blick auf die Verwendung der Bezeich-
nungen Abnormitäten und Anomalien zeigt aber, daß auch diese
Ausdrücke eine weitere kritische Auflösung und Zersetzung be-
nötigen.
Man hat nun schon seit langem die verschiedensten Wege be-
schritten, das Wesen alles dessen, was wır heute als Mißbildungen
und Abnormitäten oder Anomalien auffassen, aufzuhellen. Wir
wollen zunächst ganz kurz die wichtigsten dieser Wege, welche uns
Aufschluß über Blütenanomalien erbracht haben, verfolgen.
Die Wege zum Studium der Blütenanomalien.
Die älteste Methode, die Gesetze, welche die Blütenanomalıen
beherrschen, zu erschließen, war die vergleichend-morphologische
R
b
int Lehmann‘ Varjabilität und Blütenmorphologie. : ri
Betrachtung. Wir werden auch im folgenden dauernd auf ihr zu
gründen haben.
Der zweite Weg, welcher uns in das Dunkel der Blütenano-
malien hineingeführt hat, ist der der entwicklungsgeschichtlichen
Untersuchung. Er belehrt uns über die Entstehung der verschie-
denen Variationen am Vegetationspunkt und klärt uns über mancherlei
Zusammenhänge auf. Wie früher der morphologische, so ist auch
zeitweise der entwicklungsgeschichtliche Weg einseitig überschätzt
worden (vgl. dazu z.B. Naegeli, 1882, S. 456).
In neuerer Zeit benützte man die entwicklungsgeschichtliche
Untersuchung auch zum näheren Studium von Zahlenvariationen in
der Blüte (vgl. Murbeck, 1914 und Kraft, 1917).
Zwischen entwicklungsgeschichtliche und vergleichend-morpho-
logische Forschung und mit beiden Hand in Hand gehend treten
histologische Untersuchungen.
Schon Masters aber sagte (S. XXVII): „The most satisfactory
classification of malformations would be one founded upon the
nature of the causes indueing the several changes‘, und Goebel be-
tont (1882, S. 124): „Die Aufgabe der Teratologie ist, die Bedingungen
des Zustandekommens der Mißbildungen zu erklären. Auf diesem
Wege hat bekanntlich zuerst Peyritsch seine schönen Erfolge
durch Rückführung mancherlei Anomalien, vor allem wieder ge-
wisser Pelorien auf äußere Bedingungen erzielt.“ Solche Unter-
suchungen sind, dann bis in die neueste Zeit von den verschiedensten
Forschern fortgesetzt worden. Ich nenne besonders: Vöchting,
Goebel, Klebs,..Strasburger, de Vries,'Molliard,
Blaringhem.
Erklärungsversuche auf theoretischer Basis für das Zustande-
kommen von Mißbildungen suchte Sachs mit Hilfe seiner Theorie
von Stoff und Form zu erbringen.
Nun hatte aber schon Goebel die Frage: Was ist eine Miß-
bildung, 1884 (S. 115) in folgender Weise beantwortet: „Es läßt
sich das ebensowenig in einer scharfen Definition aussprechen wie
die Charakteristik jeder organischen Bildung überhaupt. Denn wir
können nicht angeben, wo das Normale aufhört, das Anormale
anfängt, beide sind oft durch die sanftesten Übergänge miteinander
verbunden und zudem wissen wir, daß das, was wir normal nennen,
keineswegs eine konstante, sondern eine variable und deshalb nicht
scharf faßbare Größe ist.“
Goebel betont also statt der beträchtlichen Abweichung von
der normalen Struktur, welche früher immer die Definition der
Mißbildungen beherrschte, die Variabilität des Normalen, das
„Schwanken zwischen .Normalem und Abnormen“. Betrachten wir
aber das Normale als etwas Variables und gelingt es uns, diese
Variabilität zu erfassen, so werden wir wieder einen neuen Weg
S E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
zum Studium der Mißbildungen betreten. Die Einordnung mancher,
bei Unfaßbarkeit dieser Variabilität abseits stehender Anomalien
in das Gesamtbild der Blütengestaltung würde so möglich. Es ist
nun das besondere Verdienst Vöchting’s, diesen Weg zuerst be-
schritten zu haben, indem er die Variationsrechnung in das Studium
der Blütenanomalien einführte. Auf S. 3 seiner Arbeit über die
Blütenanomalien formuliert Vöchting den früheren Stand der An-
schauungen über Anomalien: „In keiner der vorhandenen Arbeiten
ist versucht worden, das zahlenmäßige Verhältnis der Anomalien
unter sich und zwischen ihnen und der normalen Form festzu-
stellen. Und es ist wohl begreiflich, daß dies nicht geschehen.
Im allgemeinen treten Anomalien in der Natur sporadisch auf,
tragen so sehr den Charakter des Zufälligen, daß man beim ersten
Blick wenig geneigt sein mag, in ihrem Erscheinen eine bestimmte
(Gesetzmäßigkeit zu suchen.“
Am Ende seiner Untersuchungen aber kann der Verfasser auf
breiter experimenteller Grundlage den Satz aufbauen: „Die Ano-
malıen selbst ordnen sich um die normale Blüte nach der Gauß’-
schen Wahrscheinlichkeitsformel. Die als typische oder normale
Blüte bezeichnete Gestalt stellt nur den Mittelwert dar, dem sich
dıe übrigen Formen gesetzmäßig anschließen. Die sämtlichen Ge-
stalten bilden den Variationsbereich der Blüten einer Art, ein Be-
reich, der bald eng, bald sehr weit sein kann.“
Mit dieser Feststellung hat Vöchting also für seinen Fall die
Aufgabe gelöst, die variable Größe scharf zu fassen. Er steht da-
mit zugleich recht eigentlich auf dem Boden unseres Go ethe’schen
Mottos. Die hier untersuchten Anomalien werden unwiderruflich
in den Variationsbereich des normalen Organes hineingestellt. Man
hat also nicht mehr mit Anomalien als etwas besonderem, sondern
als mit Teilen eines organischen Ganzen zu rechnen oder es ist
gezeigt, wie das Geregelte und Regellose von einem Geiste belebt
wird und die Normalform nur den häufigsten Spezialfall der Ge-
staltung darstellt.
Man hat diese Schlußfolgerungen heute scheinbar teilweise ver-
gessen. Wenn Sirks (1915, S. 13) sagt: „La partie“ — der Arbeit
Vöchting’s — „intitulee „statistische Untersuchung“ contient de
nombreuses observations sur l’apparition des pelories et d’autres
anomalıes dans cette espece; toutefois, c’est sans importance pour
une explication de l’origine des pelories, puisque des recherches
statistiques d’une population d’un phaenotype dans le sens qu’attache
Johannsen ä ces termes, sont en general infructueuses, et qu’elles
ne sont utiles que quand l’experimentation est entierement exclue*,
so ist er wohl in diesen ‚Fehler verfallen.
Mit Vöchting’s Untersuchungen sind wir somit dazu ge-
kommen, statt der gleitenden Vorstellungen über Anomalien und
Kent 77;
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 1%)
Monstrositäten Linn&’scher Zeit zahlenmäßig kritische Grundlagen
für die Untersuchung derselben zu gewinnen. Da uns aber nun-
mehr solche Blütenanomalien, welche sich in das Variationsbild
der Art einordnen lassen, nicht mehr als Mißbildungen oder Ano-
malien erscheinen, so werden wir sie in Zukunft auch nicht mehr
so benennen, sondern mit Klebs als Blütenvariationen bezeichnen.
Wir fassen sie mit allen sonstigen Blütenvariationen gemeinsam
auf und wollen im folgenden versuchen, uns ein Bild von der Ent-
wicklung und den bisherigen Ergebnissen statistischer Unter-
suchungen solcher Variationen zu machen.
Statistische Untersuehungen der Blütenvariationen.
Die ursprünglichen Angaben der Zahlenwerte in der Blüte be-
zogen sich ausschließlich auf die Typen. Das spricht sich am deut-
lichsten im Linn&’schen System aus, welches ja auf diesen typischen
Zahlen begründet ist. Über die Verwendung dieser Zahlenwerte
äußert sich De Candolle 1819, S. 500: „Le nombre absolu s’ex-
prime en Botanique comme dans la langue ordinaire, par la serie
dest nombreset, 2, 3,)74,.5,.6%7,.8% 9,10; au. dela de 10.1 ‚est
rare qu’on se donne la peine de compter exactement le nombre
des parties et dans plusieurs cas, on emploie le nombre 12 pour
exprimer d’une maniere vague tous les nombres de 11 & 19, celui
de 20 pour exprimer une vingtaine environ, et celuı de beaucoup
ou plusieurs ... pour designer un nombre sensiblement audessus
de 20.“ Man sieht, die Zahlenangaben sind noch zu De Oandolle’s
Zeiten sehr primitiv.
Daß die Zahlentypen hier und da nicht ganz konstant waren,
das wußte man natürlich auch zu damaliger Zeit recht gut. Braun
sagt: „Das Variieren der Blattstellung in den Blüten ıst längst be-
kannt als eine der Hauptschwierigkeiten des Linne&’schen Systems
(Evonymus, Rubus, Trientalis, Lythrum)“ und ganz ähnlich spricht
sich De Candolle aus (S. 45). Man half sich, so gut es ging.
Auch die verschiedene Variabilitätsgröße der Blütenglieder war
schon aufgefallen. De Oandolle äußert sich darüber folgender-
maßen: „Le nombre absolu des organes de chaque plante est en
general d’autant plus fixe, et par consequent d’autant plus impor-
tant, que ce nombre est moins considerable. Aınsi ıl y a moins
de variations quant au nombre des etamines par exemple, dans les
fleurs triandres que dans les pentandres etc. I] y a peu de varla-
tions dans les verticilles a 2 ou 3 feuilles, davantage dans ceux
a 5 ou 6; beaucoup plus encore au delä de 10 etc.“ Das ist im
Grunde dasselbe, was Isidore Geoffroy (1832, S. 4ff.) ganz allge-
mein für die Variabilität vervielfältigter Organe ausspricht und in
bezug auf die Blütenphyllome im Anschluß an Geoffroy von
Darwin wie folgt ausgeführt wird (Varueren Il, S. 451): Wenn
in) ie EEE SIEBEN RT NRER ER en Bor
ae AR |
E. re Variabilität und ER
die Kronblätter, Staubfäden, Pistille, Samen bei Pflanzen sehr zahl-
reich sind, so ist die Zahl meist variabel. Die Erklärung dieser
einfachen Tatsache liegt durchaus nicht auf der Hand. Auch
Eichler (1875, S. 10) äußert sich ähnlich. Er führt als Familien mit
großer Konstanz Umbelliferen, Oruciferen und Compositen, als solche
welche leichter variieren, Primulaceen, Ericaceen, Jasminaceen,
Rubiaceen, Rosaceen, Ürassulaceen, unter den Monocotylen die
Smilaceen und Cyperaceen an. Schon aus den angeführten Bei-
spielen aber geht’ hervor, daß die Größe der Variabilität in den
Zahlenverhältnissen der Blüte nicht nur auf die Anzahl der Blätter
ım Quirl zurückzuführen ist, sondern daß auch Pflanzen mit gleicher
Quirlzahl ganz verschieden variabel sein können, vgl. z. B. Cruci-
feren und Umbelliferen auf der einen, Rubiaceen und Primulaceen
auf der anderen Seite. Eichler erörtert. diesen Wechsel der -
Zahlenverhältnisse ın der Blüte dann noch etwas eingehender und
weist auf Schwankungen nicht nur von Familie zu Familie und Art
zu Art, sondern auch innerhalb derselben Spezies, ja auf ein und
demselben Individuum hin. Er nımmt für diese Fälle eine wirk-
liche originäre Variabilität in den Quirlzahlen an.
Trotz dieser Erörterungen war es Eichler und den älteren
Morphologen wohl kaum darum zu tun, solche Abweichungen zu
studieren, ihnen lag es wie gesagt am Typus, ähnlich wie Linne
auf dem Gebiete der Systematik.
Heute haben wir die Bedeutung dieser Variationen als Teile
eines organischen Ganzen erkannt. Ihr Studium und ihre scharfe
Erfassung (siehe S. 7) sind zur unbedingten Notwendigkeit,
aber zugleich auch möglich geworden. Die Variationsrechnung gibt
uns die Mittel dazu an die Hand.
Wir wollen uns nun kurz danach umsehen, welche Ergebnisse
auf diesem Gebiete bisher erzielt wurden. Wir gliedern dazu den
Stoff in zwei Abschnitte.
Spezielle Darstellung der Variationsverhältnisse der Zahl
in der Blüte auf statistischer Basis.
Anfangs waren die genaueren Angaben über Variationen der
Zahl ın der Blüte noch durchgehends mehr gelegentlicher Natur
und entbehrten eigentlich statistischer Grundlagen. Wenn Müller
in Befruchtung der Blumen 1873, S. 450 für die Petalen von
Abutilon angıbt:
Betalenzahl ..). 222205 6 7
Einzelfälle. . . 145 103 130%
so entspringt das zufälliger Beobachtung, wenngleich die Zahlen
uns schon eine typisch en Verteilung darbieten. Wenn aber
Goebel 1882 das Schwanken der Staubblattzahl bei Rosaceen und
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. ET
anderen Blüten untersucht, so bringt er den Zahlen selbst nur
untergeordnetes Interesse entgegen; sein Interesse konzentriert sich
auf die Bedingungen, welche verschiedene Zahlen hervorbringen.
Ganz im Gegenteil bestanden bei den ersten Autoren, welche die
Variationen in den Blütenwirteln auf rein statistischer Grundlage
untersuchten, in allererster Linie rein mathematische Interessen |
(Pearson, Ludwig etc.). Wir sehen von dieser Betrachtungs-
weise ım folgenden natürlich durchaus ab und stellen die Statistik
ausschließlich ın den Dienst unserer morphologisch-biologischen
Untersuchungen.
Die Lage des oder der Mittelwerte (M).
Einer der ersten Autoren, welcher den Mittelwert der Anzahl
von Blütenorganen ermittelte, ist Cockerell (1890). Er studierte
die Variabilität der Follieuli bei Caltha palustris. Weiter hat Bur-
kill, 1895 ete. eine ganze Anzahl von Blütenvariationen nach dieser
Richtung betrachtet.
Auf breiter Grundlage und mit allen Hilfsmitteln der Variations-
statistik hat sich sodann seit den neunziger Jahren vor allem Lud-
wig mit der Untersuchung der Mittelwerte beschäftigt. In der
Hauptsache behandelt ‘er zwar Blütenstände, deren Betrachtung
nicht hierher gehört, doch hat er auch Blüten untersucht, so 1898
und 1900 Trollius europaeus und Ranunculus arvensis auf Grund
eigener Zählung und solcher von Heyer. Es lassen sich, wie auch
bei der Untersuchung der Blütenstände, mehr oder weniger enge
Beziehungen der Werte vonM zur Braun-Schimper’schen Reihe
konstruieren (vgl. dazu auch 1898 über Mercurialis, Orataegus, Pirus
Pledge, 1898 und Harris, 1911).
Weiter wendet sich das Interesse zum Studium von
. Kurvenverlauf und Variantenverteilung.
Allgemeine Studien über den Kurvenverlauf organischer Varı-
anten unternahmen bekanntlich Pearson und Ludwig. .Bei
Blüten wurde er eingehend zuerst von de Vries (1894) untersucht.
Derselbe konnte bei einer Reihe von Blütenblättern die Varianten-
verteilung nach halben Galtonkurven feststellen, so z. B. bei Caltha
palustris Blbl., Potentilla Blbl., Rubus caesius Kelch., Weigelia
amabihs Blbl., Acer Pseudoplatanus (Gynaeceum) (vgl. dazu auch
Mutationstheorie 1900, I, S. 430ff.). Dasselbe fand Mac Leod
(1895, S. 355) für die Griffel von Oenothera Lamarckiana. De Vries
hat gleich anfangs auf die Beeinflussung des Kurvenverlaufes durch
äußere Bedingungen hingewiesen und damit die absolute Bedeutung
desselben in gewisser Weise beschränkt.
Für die Verteilung der Variation im Blütenbau von Linaria
vulgaris fand Vöchting (1898) eine ideale Gauß’sche Wahrschein-
12 | E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
lichkeitskurve. Die daraus abgeleiteten Schlüsse haben uns schon
beschäftigt. Reinöhl(1903) konnte die Variantenverteilung ım Andrö-
ceum von Stellaria, welche an einem sehr großen Material studiert
wurde, auf äußere Bedingungen zurückführen, wie wir sogleich
näher sehen werden. Von eingehenderen Studien sei dann noch
an Burkill’s (1902) Untersuchungen der Variationskurven für die
einzelnen Blütenphyllome von Ranumeulus arvensis erinnert.
Varıabıilitätsgröße der Blütenphyllome.
Der Variabilitätsgröße der Blütenblattkreise wendet wohl zu-
erst Verschaffelt (1894, S. 350), besondere Aufmerksamkeit zu.
Er berechnet dieselbe mit Hilfe von Galton’s Quartil, beispiels-
weise für Aydrangea hortensis und Papaver somniferum. Des gleichen
Maßes bedient sich Mac Leod 1899 zur Feststellung der Varıa-
bilitätsgröße der Blütenblätter von Flcaria ranumncoloides. Auch
Tammes, 1904, benützt diese Methode zur Bestimmung der Varıa-
bilitätsgröße der Anzahl der Früchte von Ranunculus arvensis und
Malva vulgaris ım Zusammenhange mit den äußeren Bedingungen.
Später wird das viel bessere Variabilitätsmaß, die Standard-
abweichung o(e) für die Zahl der Biütenblätter ete. bei Flcaria
ranunculoides von seiten verschiedener Autoren angewandt.. Auch
Reinöhl (1905) berechnet die Variabilitätsgröße ım Andröceum
von Stellaria media mit Hilfe der Standardabweichung.
Für uns gewinnen die statistischen Feststellungen aber erst
im Zusammenhange mit äußeren und inneren, die Gestaltung der
Blüte bedingenden Faktoren tieferes Interesse. Wir wenden uns
nunmehr zur Betrachtung dieser Zusammenhänge.
Untersuchungen über die Ursachen für das Zustandekommen
der Zahlenvariationen. ®
Man hatte begonnen, die Ursachen für das Zustandekommen
der Anomalien auf nicht statistischem Wege zu erklären. Schon im
Jahre 1856 berichtet Watelet über abweichende Zahlenverhält-
nisse in der Blüte von Raphanus Raphanistrum, hervorgerufen
durch Verwundung. Weiter führte Goebel (1882) die Varia-
bilität der Zahl der Staubblätter bei Rosaceen teils auf Raum-
verhältnissen am Vegetationspunkt, teils auf Ernährungsbedin-
gungen zurück. Sachs suchte Zahl und Stellung der Blüten-
organe ganz allgemein von Raumverhältnissen am Vegetationspunkt
abzuleiten (1893). Später hat Sturm (1910) die sehr verschiedenen
Zahl- und Stellungsverhältnisse der Kelchglieder von Adoxa Moscha-
tellina (1\—5) auf Druckwirkung ın den diehten Blütenständen zu-
rückgeführt. Ganz neuerdings (1914) hat Murbeck die Variation
der Blütenglieder von Comarum auf entwicklungsgeschichtlicher
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 13
Basıs betrachtet und sektionsweise Anlage der Blütenglieder fest-
stellen können.
Ernährung und Auslese.
Mit statistischen Hilfsmitteln hat wohl zuerst de Vrıes (1894)
gezeigt, wie dıe Variantenverteilung der Blütenblätter durch Kultur
und Auslese verschoben werden kann. Er konnte halbe Galtonkurven
ım Petalenkreis von Ranuneulus bulbosus ın symmetrische Variatıons-
kurven umwandeln. Es ließ sich zeigen, wie sich aus am wilden
Standort angedeuteten Einzelvarıanten Anfänge diskontinuierlicher
Variation auffinden lassen, aus denen dann durch Auslese Plus-
varianten zu erzielen sind, mit einem M, welches in der wilden Kurve
auf einer extremen Variante lag. Die Wirkung der Momente von
Ernährung und Auslese wurde hier indessen noch nicht scharf ge-
getrennt (vgl. de Vries, I, S. 582).
Ernährungs- und andere Außeneinflüsse der verschiedensten
Art wurden aber dann in ihrer Wirkung auf die Variationsverhält-
nisse von Blütenphyllomen von sehr verschiedenen Seiten studiert.
Besonders klassisch geschah es durch Vöchting, Reinöhl und
Klebs. Wir betrachten dıe einzelnen Faktoren gesondert.
Boden und Ernährungseinflüsse.
Zunächst hat Haacke (1896) (Campanula glomerata an ver-
schieden trockenen Standorten auf die Zahl der Narbenstrahlen
untersucht und feststellen können, daß die häufigste Zahl 3 mit
steigender Trockenheit immer mehr zugunsten der Zweizahl zurück-
tritt. Auch Burkıll hat die Zahl der Blütenglieder bei Ranun-
culus arvensis ın ihrer Variation im Zusammenhange mit den Boden-
verhältnissen studiert.
In eingehender und äußerst sorgfältiger Weise wird die Ab-
hängigkeit der Staubblattvariabilität von den Standortsbedingungen
bei Stellaria media durch Reinöhl untersucht. Während unter
günstigen Bedingungen M bei ca. 4,3—4,7 liegt, fällt es unter un-
günstigen Bedingungen auf ca. 3,3, im ersten Falle liegt der Kurven-
gipfel auf 5, im zweiten auf 3 Staubblättern, im ersten Falle ist
o(e) 1—1,5, im zweiten ca. 0,65. An der gleichen Pflanze hat
neuerdings auch Kraft (1917) die Abhängigkeit der Blütenvariationen
von äußeren Bedingungen studiert. Die Ergebnisse sind aber, da
statistische Angaben ganz fehlen, im Vergleich zu den Untersuchungen
Reınöhl’s weniger überzeugend. Nach den Untersuchungen von
Mac Leod wird der Variabilitätskoöffizient für die Zahl der Narben-
strahlen bei Papaver Rhoeas im Gegensatz zu den Staubblättern
von Stellaria media durch kärgliche Ernährung gesteigert, während
die Quartilgröße nach den Untersuchungen von Tammes (1904)
für die Früchtchenzahl von Ranunculus arvensis und Malva vul-
,
Mr Nat L VE RER
# 7 f, > m
14 7 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphol gie.
garis durch schlechte Ernährung nur sehr unerheblich beeinflußt
wird.
Unter den verschiedensten Ernährungsbedingungen, abweichen-
den Bodenverhältnissen, bei Darreichung verschiedener Chemi-
kalien etc. untersuchte Klebs die Größe der Variabilität der Blüten-
phyllome von verschiedenen Urassulaceen. Bei Sedum .spectabile
bestimmte er die Variantenverteilung, M und o(e). Er 'kam im ein-
zelnen zu den verschiedensten interessanten Resultaten, auf die wır
hier nicht näher eingehen können. Es genüge ganz allgemein, dar-
auf hinzuweisen, daß durch abweichende äußere Bedingungen die
Variabilitätsgröße ganz erheblich gesteigert werden konnte und daß
versucht wird, dıe Variantenverteilung durch das Verhältnis von
Kohlenstoffernährung und Nährsalzquantum zu erklären. Auf die bei
Sempervivum Funmkii erzielten Ergebnisse werden wir später bei
Betrachtung der Korrelationen noch eingehender zurückkommen.
Hier genüge der Hinweis, daß die Variationsbreite in allen Kreisen
durch abweichende Bedingungen erhöht, der Mittelwert nach den
Minusvarianten verschoben wurde (S. 274).
Einzelne Angaben über Einfluß von Ernährungsbedingungen
auf die Zahl der Blütenphyllome ohne statistische Hilfsmittel liegen
dann natürlich noch für sehr verschiedene Blüten vor. Es sei als
Beispiel an die Mitteilung Buchenau’s erinnert, daß die Anzahl
der Blütenblätter bei Juncus-Arten mit der Ausgiebigkeit der Er-
nährung wechselt.
Licht.
Daß das Licht auf die Quantität der bei Zinaria spuria auf-
tretenden Blütenvariationen von bestimmenden Einfluß ist, stellte
Vöchting (1898) fest. Auf statistischer Grundlage zeigt sodann Rein-
öhl, daß auch die Staubblattvariabilität von Stellaria media durch
das Licht weitgehend beeinflußt wird. Bei schwacher Beleuchtung
liegt der Variantengipfel auf Ordinate 3, stärkere Beleuchtung macht
Variante 5 zur Maximalordinate, wozu ein weiterer Gipfel auf der
Ordinate 8 kommt. Wie bei ungünstiger Bodenbeschaffenheit so
wird auch bei verringerter Beleuchtung 6 (e) immer kleiner. — In
neuester Zeit zeigte sodann Losch (1916), daß an gut beleuchteten
Standorten o und M der Sepalenzahl von Anemone nemorosa steigt,
wobei allerdings nicht sicherzustellen ist, ob hier Licht oder Tempe-
ratur der ausschlaggebende Faktor ist.
Die Beeinflussung der Blütenvariationen durch die Qualität
des Lichtes, die verschiedenen Spektralbezirke untersuchte vor
allem Klebs (1906, S. 196) bei Crassulaceenblüten. Es ıst zu er-
warten, daß solche Untersuchungen ım Zusammenhange mit zahlen-
kritischer Behandlung noch vielerlei wichtige Resultate zeitigen
werden.
Temperatur.
Verschiedentlich ist auch der Einfluß der Temperatur auf die
Variantenverteilung in der Blüte Gegenstand der Untersuchung
gewesen. So sagt Müller (Befr. der Blumen S. 182): Von den
10 Staubgefäßen bei Stellaria media sind fast immer einige, meist
sogar 5—7 verkümmert, im ganzen, wie mir schien, um so mehr,
je kälter die Jahreszeit. Burkıll kommt zum gleichen Resultat auf
Grund einiger Zählungen und Goethart (1890) führt die Variabilität
der Staubblätter von Malva erispa (S. 391) auf wechselnde Tempe-
raturverhältnisse in verschiedenen Klımaten zurück. Im Gegensatz
hierzu weist Reinöhl nach, daß in allen diesen Fällen zu geringe
Zählungen zu den Schlußfolgerungen verführt haben dürften und
zeigt für das Andröceum von Stellaria media, daß die Temperatur
sicher nicht, sondern, wie wır sahen, das Licht ausschlaggebend ist.
Ich (1913) ) selbst habe dann bei Fi icaria ranunculoides auf Grund
eigener und fremder Anschauung die Petalenzahl studiert und war
zu dem Ergebnis gekommen, daß mit steigender Temperatur bezw.
in wärmeren Klimaten die Zahl der Blumenblätter ım Mittelwert
zunahm. Das läßt sich allerdings nicht, wie ıch später sah, voll-
kommen mit den in der Biometrika publizierten Arbeiten in Über-
einstimmung bringen, wenngleich nicht zu verkennen ist, daß auch
hier klimatische Faktoren wirksam sind (vgl. die Zählungen aus
Gais mit hohem M auf 8—10 Blütenblättern). Um die Differenzen zu
erklären, wird man ın Zukunft alle Standortsbedingungen stets berück-
sichtigen müssen. Höchstwahrscheinlich spielen bei Bestimmung der
Blütenblattzahl das Licht, die Temperatur, maritimes Klima, die Stel-
lung an der Pflanze, die Blüheperiode, Rasseneigentümlichkeiten etc.
eine Rolle. Ganz dasselbe dürfte wohl für die entsprechenden Fest-
stellungen für Caltha palustris von Falck (1910, 1912), Jensen (1914)
und Ge rtz gelten und wird neuerdings auch für Anemone nemorosa
von Losch Bolont, Will man über de Ursachen der Blumenblatt-
varıabilität hier ins Reine kommen, so wird man ganz entsprechende
Untersuchungen auszuführen haben, wie sie von Stark (1915) für den
Taubbiakgmel von Paris quadrifolia unter Berücksichtigung . der
allerverschiedensten Faktoren angestellt wurden. Be Rende
Zählungen, welche mit einer Reihe von Pflanzen von Falck in der
Gegend von Stockholm und von mir in Württemberg an verschie-
denen Standorten begonnen wurden, weisen nachdrücklich auf eine
solche Behandlung der Frage hin. Daß aber die Variabilität der
Blumenkronenzahlen in den verschiedensten Gruppen derartig an-
greifbar sein dürfte, dafür noch einige Beispiele.
Wenn Malme (1907) auseinandersetzt, er habe bei forma suecica
der Gentiana campestris ın Södermannland zuerst auf zahlreiche tri-
mere Blüten hinweisen können, während sonst vorzüglich pentamere
Varianten gefunden wurden, so könnte man vielleicht auch an ein
nu
46 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
Auftreten blumenblattärmerer Rassen im Norden denken. Anderer-
seits teilt Dahlgren (1910/11) mit, nach Angabe von fil. Kand. Th.
Fries variiere Campanula rotundifolia in Torne Lappmark ganz außer-
ordentlich, so daß er untersuchen wolle, ob vielleicht im Norden mehr
Anomalien ausgebildet würden als ım Süden. In ähnlicher Weise
fand Witte (1905) für Campanula rotundifolia bei Luleä 10%, ab-
weichender Blüten, während Dahlgren aus S.-Schweden erheblich
niedrigere Prozentsätze angibt. Dasselbe könnte für die Griffelzahl
von Parnassia palustris gelten. Hier fanden die mitteleuropäischen
Autoren im höchsten Falle 9%, Seemann in Alaska aber ca. 50%,
von der 4-Zahl abweichender Werte (vgl. Burkill, 1896).
Periodizität der Blütenvariationen.
Daß die Zahl der Blütenblätter an verschiedenen Orten der
Pflanzen verschieden sein kann, das ıst eine altbekannte Tatsache.
Klassische Beispiele dafür sind Berberis, Adoxa Moschatellina etc.
Manchmal kommen bestimmte Orte für die abweichenden Zahlen-
verhältnisse in Frage, wie gerade bei Berberis, bei Ruta graveolens,
in anderen Fällen sind die Abweichungen mehr über die Pflanze
verteilt.
In neuester Zeit wurden diese Variationsverhältnisse verschie-
dentlich auf statistischer Basıs behandelt. So teilt Malme (1907) für
(rentiana campestris mit, daß Trimerie ausschließlich bei Seiten-
blüten vorkommt. AufGrund größerer Zahlen erörtert sodann Geyer
(1908) das Vorkommen verschiedenzähliger Blüten bei Menyanthes
trifoliata. Auch Sturm’s (1910) Bearbeitung der Adoxa Moschatel-
lina gehört hierher. Zweifellos liegen für ähnliche Verhältnisse noch
eine größere Anzahl Daten vor, auf die wır aber im einzelnen
nicht eingehen können.
Nicht sowohl die Stellung an der Pflanze als das Vorkommen
verschiedener Blütenvarianten im Laufe der Blüheperiode hat so-
dann eine größere Anzahl von Autoren untersucht. Schon Pey-
rıtsch (1870, S. 30) machte bei seinen Versuchen über die Pelorien von
Leonurus Cardiaca die Erfahrung, daß am Beginn und während der
Höhe der Entwicklung die Gipfelblüten der Sprosse pelorisch waren,
während die zuletzt gebildeten Sprosse anderweitig abnorme Blüten,
vielfach Mittelbildungen zwischen zygomorphen und aktinomorphen
Blüten entwickelten. In ähnlicher Weise zeigte Heinricher (1892,
S. 80), daß die ersten Blüten bei /ris pallida atavıstisch waren,
d. h. 6 Staubblätter aufwiesen, dann später solche mit normalen
untermengt erscheinen, die anderweitig abnormen Blüten aber erst
ganz gegen den Schluß der Blütezeit auftreten. Er folgert daraus,
daß zwischen durch Atavismus abnormen Blüten und den ander-
weitig Monströsen ein tieferer Unterschied zum Ausdruck kommt.
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 17
Besonders eingehend und auf statistischem Wege hat dann
wieder Reinöhl die Frage bei Stellaria media verfolgt (S. 168—170)
und gefunden, daß mit dem Alter der Pflanzen die Zahl der Staub-
gefäße wechselt. Der Gipfel der Variationskurve liegt zu Anfang
auf 3, ın der Mitte der Entwicklung auf 5, am Ende wiederum
auf 3. Die Anschauung Burkill’s, daß die jüngsten Blüten die
zahlreichsten Staubfäden aufwiesen, konnte als fälschlich und auf
zu geringen Zählungen beruhend zurückgewiesen werden. Ebenfalls
auf statistischer Basis beruhen mancherlei Angaben von Vuillemin,
von denen mir die neueren (La loı et l’anomalie, 1913) leider nicht
zugänglich gewesen sind. Ich möchte aber zwei frühere Beispiele
anführen. Über die Blütenvariationen von P’hlox subulata äußert sich
Vuıllemin (1907, S.20) wie folgt: „Les dıvers nombres (der Blumen-
blätter) varient de frequence selon l’&poque de la floraison. Les nom-
bres 5 et 6 sont normaux a toutes les periodes et gardent entre eux un
rapport voisin d’un neuvieme. Les nombres 4 et 7 sont limites a
l’apogee de la floraison (sauf les cas sporadiques), le premier devan-
cant le second.“ Interessante Angaben weiß derselbe Autor auch
über die periodische Verteilung der Pelorien bei Antirrhinum zu
machen: „Le trac& montre que le nombre des pelories isomeres
oscille entre 30 et 50% aux divers niveaux, mais que le taux
de l’ensemble des pelories decroit de 85 a 33%, du premier au
quatorzieme noeud parallelement ä celuı des fleurs pl&eiomeres.“
Mit dem Blühestadium wechseln nach Losch auch die Plus- und
Minusvarianten der Sepalen bei Anemone nemorosa, während nach
Burkill die durchschnittliche Anzahl von Organen nach und nach
ım Verlaufe der Lebensperiode von Ranunculus arvensis abnımmt
(vgl. dazu auch Potentilla Anserina de Vries, I, S. 635).
Fragen wir aber nun nach den Untersuchungen, welche es sich
zur Aufgabe gemacht haben, den Ursachen dieser periodischen
Variantenverteilung der Blütenteile nachzugehen.
Von manchen Seiten wird die Ernährung schlechthin als aus-
schlaggebend für das Auftreten bestimmter Varianten angesehen.
Schon Linne& sagt (Philos. bot. S. 215): Fiunt haec monstra (flores
multiplicati, pleni, floriferi) frequentissime a culturae mangonia et
nımıo alımento. Das ıst ziemlich dasselbe, was de Vries in neuerer
Zeit immer wieder betonte: Gute Ernährung bestärkt das Auftreten
von Anomalien. Ich habe mich mit dieser Anschauung schon ander-
weitig beschäftigt und verweise daraufan dieser Stelle (1909, S.200). In
unserem Zusammenhange aber möchte ich ein paar besonders instruk-
tive Beispiele ın dieser Richtung nebeneinanderstellen. De V.ries (1900,
S.635) hatte zur Bekräftigung dessen, daß die gute Ernährung auch
dann die Anomalie begünstigt, wenn dieselbe in einer Reduktion besteht,
Zählungen der Blütenblätter von Potentilla Anserina, welche normal
zu 5, anormal zu 4 bezw: 3 vorhanden sind, vorgenommen, einmal
35. Band 2
18 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
bei in gedüngtem, das andere Mal ın ungedüngtem Boden erwach-
senen Pflanzen. In gedüngtem Boden erhielt er 65%, ın unge-
düngtem Boden nur 49%, Blüten mit 3 bezw. 4 Blumenblättern.
Die Zählungen sind allerdings nıcht an besonders großem Material
(384 Einzelblüten) vorgenommen worden und dürften deshalb noch
nicht bindend sein. Zudem erforderte diese Pflanze im Zusammen-
hange mit ihren in der Blumenblattzahl häufig besonders varıablen
Verwandten sicher noch eingehendere Behandlung. Besonders wäre
noch das Folgende festzustellen. Wir kennen Potentilla-Arten mit
normal 4- und solche mit normal 5-blättrigen Blüten. Werden nun
wirklich immer dann, wenn Varianten ın der Zahl auftreten, die
anormalen, d. h. selteneren, durch die ausgiebigere Ernährung be-
günstigt?
Oder denken wir an Gentiana-Arten, die teils 4-, teils 5-, teils
6-blättrig normal sınd. Wie stellt sich da der Einfluß der Ernährung
auf die Anzahl der Blütenblätter? Daß bei den Gentianen die gute Er-
nährung die normale Blütenblattzahl nicht immer auslöst, wird durch
Malme’s Untersuchung an Gentiana campestris gezeigt, nach denen Tri-
merie daselbst fast ausschließlich auf Seitenzweigen vorkommt (1907,
S.363). Vollständige Trimerie in terminaler Blüte hat Malme nur
einmal gefunden und zwar bei einem Individuum mit ın dreizähligen
Wirteln stehenden Blättern. Das widerspricht aber doch offensicht-
lich der allgemeinen Formel bei de Vries, denn es ıst doch kaum
zu bezweifeln, daß die trımeren Blüten, wenn überhaupt, als das
Anormale aufzufassen sınd, dennoch aber stehen sıe auf den Seiten-
zweigen, also offensichtlich den Stellen schlechter Ernährung. Ihr
Verhalten ıst demnach dasselbe wıe das der Pelorien von Linaria
spuria (Vöchting) und gelegentlich auch derjenigen von Linaria
vulgaris (vgl. Ratzeburg, 1825, Hofmeister, 1868, S. 560, Anm.).
In anderen Fällen wurde häufig die Erfahrung gemacht, daß
Pleiomerie und gute Ernährung parallel gehen. Schon Goebel
(1882, S. 357) zeigte, daß die untersten, am besten ernährten Blüten
von Agrimonia Eupatorium viel mehr Staubgefäße enthalten als die
oberen, schwächer ernährten oder die kräftig ernährten Blüten von
Nigella damascena 5 Fruchtblätter aufwiesen, die später gebildeten
teils 4, teils 3 (Organogr. 1900, .S. 716). Dasselbe zeigt Burkill
auf statistischer Basis für Ranuneulus arvensis. Auch Murbeck
(1914) fand, daß bei Comarum palustre die pleiomeren Blüten an
den Stellen kräftiger Ernährung, kräftigen Zweigen etc. stehen.
Und solcher Erfahrungen gibt es sicher noch sehr vielerlei. In-
dessen diese Regel ist nicht ohne Ausnahme. Velenovsky sagt:
„Wir haben auch Blütenstände, wo die Endblüte eine kleinere Zahl
aufweist als die übrigen Blüten. So hat Phloxr orala eine vier-
zählige Terminalblüte, während die anderen Blüten fünfzählig sınd.
Das gleiche kommt bei TÜ7scaria vulgaris vor. Man wird also durch
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 19
diese Beispiele zur Vorsicht angehalten in der Wertung der Er-
nährungseinflüsse und erkennt die große Zahl ungelöster Fragen,
die hier noch der Erledigung harrt.“
Jahreszeiten.
Es liegt nahe, daß periodische Verhältnisse in der Verteilung
der Blütenvarianten sich auch in dem Prozentsatz aussprechen, in
welchem die einzelnen Varianten zu den verschiedenen Jahreszeiten
aufgefunden werden. Schon Mae Leod findet für Flcaria vernu
(vgl. dazu die Zahlenwerte bei Alice Lee, 1901, S. 318) bei den
frühen Blüten erheblich mehr Staubblätter und Stempel als bei den
späten. Weiter konnte Reinöhl ebenfalls auf statistischem Wege
zeigen, daß zwar zu allen Jahreszeiten Blüten mit 3 Staubgefäßen
am häufigsten sind, daß aber ım Frühjahr und Herbst die relative
Häufigkeit dieser Blüten größer ist als im Sommer. Auf Grund
einer Reihe von Überlegungen (S. 166-168) kann die mit dem
Lebensalter der einze eltan omas wechselnde Anzahl der Staub-
blätter hierfür verantwortlich gemacht werden (vgl. dazu auch
Ritter, 1909).
Vererbung.
Die neuzeitliche Biologie steht im Zeichen der Vererbungslehre.
Es ist verwunderlich, daß Vererbungsuntersuchungen noch so wenig
in den Dienst morphologischer Betrachtung gestellt worden sind.
Man kann dies kaum anders als dadurch verstehen, daß die Mor-
phologie heute die unmodernste botanische Disziplin darstellt. Wir
werden aber erkennen, wie Vererbungsuntersuchungen in breitestem
Maße unbedingt zur Klärung der Blütengestaltung gehören.
In früherer Zeit galt die Vererbung weit vom Typus abweichen-
der Varianten oder Monstrositäten als unmöglich. Hören wir, was
hierzu Vrolik (1844) sagt: „Die Naturforscher sind darüber ziem-
lich einverstanden, daß sichtbare Abweichungen von der gewöhn-
lichen Form oder sogenannte Monstrositäten sich bloß auf den
Gegenstand beschränken, an dem sie sich zeigen, und also nicht
durch Fortpflanzung sich dem Geschlechte mitteilen, das dadurch
erzeugt wird. Monstrositäten sind durchgängig unfähig, sich fort-
zupflanzen und wenn es je geschieht, so hält man sich überzeugt,
daß durch die Frucht, welche aus der Vermischung der beiden
Geschlechter hervorgegangen ist, die ursprüngliche und nicht die
entartete Form zurückgegeben wird, welche sie erzeugt. — Es gıbt
berühmte Gelehrte, die dies so bestimmt behaupten, daf sie ie
Entscheidung der Frage davon abhängig machen wollen, ob sonder-
bar erscheinende Formen bloß für Modifikationen zu halten sind, oder
ob sie als eine gänzliche Abweichung von der natürlichen Be-
schaffenheit betrachtet werden müssen. — Wiewohl diese Behaup-
)%
20 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
tung im allgemeinen als gültig anerkannt ist, so fehlt es doch nicht
an Beispielen, daß sichtbare Abweichungen von einem Gegenstande
sich dem anderen mitteilen und sozusagen einen Geschlechtszug
bilden.“ Als Beispiel solcher vererbten Monstrosität beschreibt
Vrolik Digitalis purpurea peloria. Auch sonst haben vereinzelte
Forscher älterer Zeit schon längst erbliche Blütenanomalien oder
Monstrositäten beschrieben. Gerade für Pelorien gibt es eine
größere Reihe derartiger Arbeiten (vgl. Sirks, 1915). Hofmeister
(1868, S. 557) unterscheidet schon ganz allgemein zwischen erb-
lichen und nichterblichen Monstrositäten, von denen die letzteren
aber häufiger seien als die ersteren.
Besonders eingehend hat sich dann 1890 Heinricher mit der
Erblichkeit von Blütenvariationen bei Iris-Arten beschäftigt. Er
konnte zeigen, daß das Auftreten des inneren Staubblattkreises,
welches von ıhm vorzüglich bei /ris pallida beobachtet wurde,
durch Generationen unter mannigfaltigen Abänderungen konstant
blieb und sich durch Auslese steigern ließ.
In den letzten Jahren sind mannigfache Erblichkeitsunter-
suchungen von Blütenvariationen auf der Grundlage der Mendel'-
schen Vererbungsgesetze angestellt worden. Auch hier waren es
wieder die Pelorien, welche besondere Aufmerksamkeit auf sich
zogen. Keeble, Pellew und Jones untersuchten 1910 die Ver-
erbung der Pelorien bei Digitalis und Baur (1910) und Lotsy (1910)
zeigten, wie die Pelorien von Antirrhinum Mendel’scher Vererbung
folgen.
Statistische Untersuchungen von Blütenvariationen auf der
Basis der neuzeitlichen Grundsätze der Vererbungslehre liegen aber
noch kaum vor. Anfänge dazu bilden die Arbeiten von de Vries
über Ranunculus bulbosus und Linaria vulgaris Peloria. Vöchting
und Reinöhl sammelten die Blüten ihrer Versuchspflanzen ohne
Wahl im Freien. Die Ergebnisse ihrer Untersuchungen belehren
uns demnach über das Auftreten der einzelnen Varianten draußen
im Freien, oder mit Johannsen’s Worte, in der Population, also
bei freier Kreuzung und unter den gerade am Standort obwaltenden
Bedingungen. Schon Vöchting hatte allerdings die Frage aufge-
worfen, ob die von ihm beobachtete ideale Verteilung der Varianten
wohl allgemein zu beobachten sei und bemerkte: „Sonach deutet
also alles darauf hin, daß nicht äußere Bedingungen die Bildung
der Anomalien an unserer Pflanze hervorrufen, sondern daß sie auf
der Wirkung innerer Ursachen beruhen, solcher, die mit der Kon-
stitution der Spezies gegeben sind.“ Dieser Gedankengang ist dann
von Jost (1899) aufgenommen worden. Er hat gemeinsam mit
Wislicenus m Franken und allein ım Elsaß verschiedentliche
Zählungen von Blüten der Linaria spuria vorgenommen. Es konnte
dadurch mehrfach das wichtige Resultat gewonnen werden, daß
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. Dr
Standorte mit viel höherem Anomaliegehalt, als durch Vöchting,
aufgefunden wurden, vorkommen. In der Gegend von Schwein-
furth wurden unter 2560 gezählten Blüten 23,4%, „Anomalien“ ge-
funden, im Elsaß bei Maursmünster unter 852 Blüten 13,5%, ın
2 anderen Fällen 11,7 und 6,3%. Jost schloß aus diesen Befunden,
daß die Anomalien zweifellos erblicher Natur sein müssen. Er
stellte sie den hauptsächlich sonst bekannt gewordenen und durch
Goebel in der Organographie vereinigten an die Seite. — Wie
vorsichtig man aber in der Wertung statistischer Daten gerade
nach der Seite der Erblichkeit sein muß, ergibt sich aus Ludwig’s
Zählungen der Blütenblätter von Ficaria ranuneoloides. Er glaubt
aus verschiedenen Mittelwerten und Variabilitätsgrößen, die er für
die Blütenorgane dieser Pflanze an mehreren Standorten fand, auf
petites especes schließen zu können, doch wurde von Alice Lee
im gleichen Jahre nach Berechnung der Zählungen Lud wıg’s (1901)
und Vergleich derselben mit den ebenfalls berechneten früheren
Zählungen Mac Leod’s betont, daß die von Ludwig erhaltenen
Differenzen „are not by any means greater than the same plant in the
same locality at different periods of its season or the same plant
in different distriets at the same period has been known to give.“
Zweifellos wären auch die von Dorsey (1912) bei einer Anzahl
Weinsorten statistisch ermittelten verschiedenen Durchschnittswerte
für die Staubblatt- bezw. Kronblattzahl unter ähnlichen Gesichts-
punkten näher zu prüfen. Und auch die schon wiederholt er-
wähnten Zählungen schwedischer Autoren an Campanula und Gen-
tiana bedürften erneuter Bearbeitung auf einwandfreier Vererbungs-
.grundlage. Auch die vierkarpelligen Cruciferenformen (wie Bla-
rınghem’s Capsella Vigwieri, die Tetrapoma und Holargidium-Arten
(vgl. Solm’s, 1900) bedürften solcher statistischer Vererbungsunter-
suchungen.
Die Statistik bietet uns aber nicht nur die Möglichkeit, die
Variabilität der Blütenphyllome innerhalb eines Kreises zu studieren;
auch das gegenseitige Verhalten der Variationen in verschiedenen
Blütenkreisen läßt sich mit Hilfe statistischer Methoden näher be-
trachten. Wir wenden uns zu diesem Zwecke zum Studium der
Korrelationen der Blütenvariationen.
Korrelationen.
Das gegenseitige Verhalten der einzelnen Teile in der Blüte
gehört zu den am meisten und besten studierten Gegenständen der
Botanik. Wie die Zahl der Glieder in den einzelnen Wirteln, die
Symmetrieverhältnisse der ganzen Blüte, so gehören die gegen-
seitigen Beziehungen der einzelnen Blütenteile zum Problem der
Blütengestalt, auf dessen Lösung von den Botanikern schon so
viele Mühe verwandt wurde. Wichtige Gesetzmäßigkeiten verschie-
99 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
dener Art sind aufgefunden worden, welche uns Einblick ın die
Gestaltungsprozesse am Vegetationspunkt und das gegenseitige Ver-
hältnıs der Blütenorgane gestatten.
Die klassische Zusammenstellung des Tatsächlichen über die
gegenseitige Stellung der einzelnen Blütenteile liegt in Eichler’s
Blütendiagrammen vor, die geniale Zurückführung all der vielen
einzelnen Stellungsverhältnisse auf mathematische Grundlagen hatte
die Braun-Schimper’sche Reihe gegeben. An sie schloß sich
eine Epoche in der Morphologie an. Während aber durch diese
Untersuchungen Einzeldaten auf eine gemeinsame Grundlage zurück-
geführt werden sollten, welche keine Erklärung des Geschehens
zu bieten beansprucht, bemühte man sich später darum, die Ur-
sachen der gegenseitigen Beziehungen festzustellen.
Zuerst waren es äußere Bedingungen, die man in ihrer Wir-
kung auf die Blüte studierte. Vöchting, Goebel und Sachs
stehen hier an der Spitze. Und bis in die neueste Zeit ist man
auf diesem Gebiete mit verfeinerter Methodik vorgegangen. Uns
werden in dieser Richtung besonders die Arbeiten von Klebs be-
schäftigen.
Druckverhältnisse am Vegetationspunkt suchte Schwendener
zur Erklärung der Stellungsverhältnisse heranzuziehen. Die Unter-
suchungen von Vöchting, Jost, Winkler u. a. zeigten indessen,
daß die mechanische Theorie in ihrer allgemeinen Fassung nicht
haltbar ist. Die genannten Autoren legen dar, daß mechanisch-
äußere Gründe nicht zur Erklärung der Stellungsverhältnisse ge-
nügen, sondern in erster Linie innere Gründe vorliegen, welche hier
bestimmend wirken. „Bei dem heutigen Stand unserer Einsicht ın
die Lebensvorgänge“, sagt Winkler (II. S. 540), „stoßen wir bei
der Analyse eines jeden Gestaltungsvorganges bald auf einen Punkt,
wo unsere Analyse vorderhand Halt machen und zu inneren Gründen
ihre Zuflucht nehmen muß.“ Beantworten wir aber mit Wınkler
die Frage, um was für innere Gründe es sich dabei handelt, so
kommen wir dazu, in ihnen nichts anderes als Korrelations- und
Vererbungsfaktoren zu sehen. Wie nötig das Studium der Ver-
erbungsfaktoren zur Kenntnis der Blütengestaltung ist, suchte ich
im vorigen Abschnitt auseinanderzusetzen. Wir wollen nun. ım
folgenden untersuchen, inwiefern Korrelationsverhältnisse den Blüten-
bau beeinflussen.
Unter Korrelationen verstehen wir mit Pfeffer (ll, S. 195)
die Gesamtheit der physiologischen Wechselbeziehungen, gleichviel
ob es sich um Stoffwechselprozesse oder Wachstumsvorgänge han-
delt. Wie Johannsen (II, S. 314) ausführlich darstellt, hat man
unter diesem Namen Korrelation vielfach aber zwei ganz verschie-
dene Sachen durcheinander geworfen: „Einerseits die stets wirkenden
physiologischen Verkettungen in jedem -gegebenen individuellen
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 23
Organismus, und andererseits die durch den Vergleich verschie-
dener Individuen zu beleuchtende Variabilität ın den Verkettungs-
weisen.“ Die erste nennt Johannsen physiologische Korrelation,
die zweite korrelative Variabilität. Man könnte die zweite wohl
auch als genetische Korrelation bezeichnen, da bei ihr dıe Einzel-
eigenschaften gemein<am vererbt werden, also in ein und denselben
oder in mehreren ıniteinander verkoppelten Genen übertragen
werden. Beide Formen der Korrelation müssen wir ım folgenden
stets streng unterscheiden.
Wir Term das Gebiet der Belsionen hier aber noch ein-
schränken, indem wir die qualitativen Korrelationen beiseite lassen
und uns nur mit den quantitativen beschäftigen (vgl. Pfeffer,
S. 195ff.). Von diesen aber wiederum wird nur auf solche einge-
sangen, welche zahlenmäßig statistisch faßbar sind. Eine solche
Behandlung wird aber erst dann möglich, wenn wir auf den ın der
Einleitung gewonnenen nen weiterbauen, d.h. in unserem
Falle die: ne ons vom „Typus“, die Variationen der Zahl
in den Blütenwirteln nicht als etwas „Besonderes“, sondern als den
Variationsbereich des Organes auffassen. Wir werden dann die
einzelnen Glieder des Variationsspielraumes jedes Wirtels, als die
Variationen derselben, untereinander ın Beziehung setzen und auf
diese Weise die Korrelationsgröße der Blütenwirtel bestimmen.
Wir müssen uns dabei aber immer auf 2 Wirtel beschränken, da
die Berechnung der Korrelationen zwischen mehreren Wirteln zu
weit führen würde. Wir werden aber vorerst gut tun, diese Korre-
lationsstudien noch etwas mehr an frühere morphologische Vor-
stellungen anzuknüpfen.
Wir scheiden mit Eichler (S. 8) bezw. Naegeli (S. 496)
azyklische (spiroidische), hemizyklische (spirozyklische) und zyklische
(holozyklische) Blüten und stellen uns mit Naegeli auf den Boden
der Annahme, die azyklischen Blüten stünden am Anfange der
Entwicklung. Wir denken an den Sporangienstand von Lycopodium
und fassen ihn als den Typus einer azyklischen Blüte auf. Hier
existiert noch keine Scheidung in die verschiedenen Blütenblatt-
regionen. Von diesem einfachsten Stadium bis zu den phylogene-
tisch am weitesten fortgeschrittenen Bildungen gibt es viele Ent-
wicklungsreihen, ein Stadium bildet beispielsweise die Blüte von
Calycanthus floridus, welche zwar noch durchaus spiralige Anord-
nung ihrer Teile zeigt, aber dennoch zwischen Perigonblättern, An-
dröceum und Gynaeceum scheiden läßt. Als Beispiel der hemi-
zyklischen sei an viele andere Ranuneulaceen erinnert. Schließlich
folgt die zyklische Blüte, wo die Spirale vollkommen in einzelne
Kreise aufgelöst ist. Die einzelnen Wirtel sind einmal noch polymer,
in anderen Fällen sind sie oligomer geworden. 'Oligomere wie
polymere können euzyklisch und heterozyklisch sein. Bei den
J4 E Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
euzyklischen Blüten sınd sämtliche Blütenblattkreise isomer, bei
den heterozyklischen ıst die Zahl ın den einzelnen Wirteln ver-
schieden, sie sind heteromer. Die Grade der Heterozyklie können
sehr verschieden sein, je nachdem nur ein Kreis in der Zahl von
den anderen abweicht, oder aber mehrere bis alle Kreise verschie-
dene Zahlen aufzuweisen haben. (Alle Einzelheiten finden sich bei
Celakovsky, 1894.)
„Eine solche Auffassung der Blüte hat“, wie Naegeli (1884,
S. 501) auseinandersetzt, „besondere Vorzüge. Die ältere ver-
gleichende Morphologie ging, wie wir schon weiter oben sahen,
von verschiedenen Typen aus und erklärt daraus, namentlich unter
Zuhilfenahme von Abort, Vervielfältigung (Verdoppelung, Spaltung)
und Verschiebung das abweichende Verhalten verwandter Pflanzen.
Damit ist gegenüber dem rein beschreibenden Verfahren viel ge-
wonnen, indem die Blüten ganzer Familien oder ganzer Gruppen
von Familien auf einen einheitlichen Plan zurückgeführt wurden.
Aber es wird durch dieses Verfahren nur das gegenseitige Verhältnis
derjenigen Bildungen erklärt, die von einem Typus abgeleitet
werden können. Für die Beziehung der verschiedenen Typen
untereinander ist damit noch nichts geschehen, ebensowenig für
die überall so zahlreich auftretenden Ausnahmen und Variationen,
... daß man aber nicht einfach neben den als typisch erklärten
Bildungen von Ausnahmen und Variationen, gleichsam als von
einem Naturspiel sprechen darf, liegt doch auf der Hand. „Jede
Bildung hat ihre reale Existenz, ihre bestimmten Ursachen und
muß erklärt werden. Erst wenn für alle Variationen in einer Fa-
milie die phylogenetischen Ursachen nachgewiesen sind, kann von
systematischer Erkenntnis die Rede sein.“
Die Darstellung Naegeli’s läßt unser Problem klar erkennen:
Es handelt sich darum, durch Erfassung sämtlicher Varianten
der Blütenwirtel die Beziehungen derselben zueinander zu er-
kennen. Wir wollen untersuchen, auf welchen Wegen dies mög-
lich wird.
Bei euzyklischen Blüten ist die Sache ın vielen Fällen eine
sehr einfache. Die Variabilitätsgröße o ist da zumeist sehr klein,
oft nahezu 0. Treten dennoch einzelne Varianten auf, so sind sie
in den aufeinanderfolgenden Wirteln die gleichen, r, der Korrelations-
koeffizient, wird dann nahezu oder ganz gleich 1 sein. Ohne ge-
eignete Bastardierungsversuche werden wir dieses r allerdings nur
physiologisch und nicht genetisch auffassen dürfen. „Ein Zu-
sammentreffen erblicher Charaktere kann nicht einfach als Korre-
lation aufgefaßt werden. Solche Charaktere könnten ja jeder für
sich — und vielleicht in verschiedenen Epochen der Stammes-
geschichte —, für die betreffende Rasse oder Sıppe eigentümlich
geworden sein“ sagt Darwin. Aber auch das physiologische r bleibt
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 25
durch Einwirkungen verschiedener äußerer Bedingungen auf seine
Größe zu prüfen (vgl. Goebel, Klebs).
Das tatsächliche Vorkommen solcher Korrelationen in der Blüte
finden wir aber mit viel Verständnis schon von Jäger behandelt.
Er weist auf gewisse Verhältnisse der Koexistenz von Mißbildungen
mehrerer gleichartiger oder ungleichartiger Organe hin und erörtert
diese speziell auch für die Blüten (S. 250): „Die unbekannte Ur-
sache, durch welche die Koexistenz einer ähnlichen Mißbildung
mehrerer Organe bedingt wird, kann man durch den Ausdruck Asso-
zıationen der Mißbildungen bezeichnen... So ist z. B. häufig die
Zahl der petalorum und der staminum gleichzeitig abgeändert,
ebenso die der Blumen und Blätter bei Fuchsia ete.* „Allein es
scheint, daß die meisten dieser Mißbildungen noch unter dem höheren
Verhältnis der Relation stehen, wodurch die gradweise Differenz
der Produkte der Mißbildung eines oder mehrerer gleichzeitig ver-
änderter Organe und somit die Konfirmation einer durch Mißent-
wicklung eines oder mehrerer Organe entstandenen Mißbildung,
z. B. der Blume bestimmt wird. ... Noch mehr aber ist dies der
Fall bei der S. 90 beschriebenen Mißbildung der Tulpen, bei welcher
sich die Zahlenverhältnisse des Pistills, der Staminum und peta-
lorum wie auch in vielen normalen Beispielen nach einem be-
stimmten Verhältnis abändern.“
Jäger ıst diesen Relationen der Zahlenverhältnisse in den ver-
schiedenen Blumenblattkreisen in mancher Hinsicht weiter nach-
gegangen. Man findet einzelne Beispiele S. S5 ff. ausgeführt. Vgl.
dazu auch de Candolle, Organogr. (1828, S. 468/69).
Weniger eingehend behandeln Wigand und Moquin-Tandon
diese Fragen. Der letztere sagt S. 331: „Im allgemeinen treten
Vermehrung von Kelch und Blumenblättern in inniger Verbindung
auf. Wenn der Kelch einer Blüte von Jasminum offieinale 6 Stücke
hat, so kann man fast mit Gewißheit annehmen, die Blume werde
ebenfalls 6 Abschnitte annehmen;*“ oder S. 336: „Wie wir bereits
gesehen, so zieht die Vermehrung der Kelchblätter meistenteils
auch eine Vermehrung der Blumenblätter nach sich. Die Beobach-
tung lehrt ferner, daß die Spaltung eines Teiles in irgend einem
Wirtel eine ähnliche Spaltung auch in den benachbarten Wirteln
herbeiführt. Geradeso wie das Fehlschlagen eines Gliedes in einem
Kreis fast allemal von einem Fehlschlagen in einem höher oder
tiefer stehenden folgenden begleitet ist. Nur selten wächst ein
Organ vereinzelt einem Wirtel zu; am häufigsten erstreckt sich die
nämliche Anomalie auf alle Kreise.“ Das wird von einer großen
Reihe von Einzelbeispielen gestützt, deren man übrigens auch ın
größerer Anzahl bei Engelmann: de Antholysi S. 20 begegnet.
Ganz entsprechend äußert sich Sachs, 1892, S. 245: „Ist einmal
durch irgendwelche einstweilen noch unbekannte Ursache die Zahl
25 IE. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
der ersten Quirlglieder gegeben, so ist damit auch oft die Zahl
und Stellung der folgenden bestimmt. So findet man z. B. ın der-
selben Infloreszenz von Gentiana Iutea statt regelmäßig typisch
5zähliger Blüten 3zählige, 4-, 6-, 7-, Szählige Kreise des Kelches,
der Korolle und des Andröceums.*
Nun ist aber, wie schon Jäger erkannt hat, eine solche enge
Korrelation nichts allgemeines. Ein Blick in Penzig’s Teratologie
lehrt Fälle ungleichmäßiger Variation der verschiedenen Wirtel ın
großer Zahl kennen. Man vergleiche nur beispielsweise Solana-
ceen, Borragineen, Rubiaceen, Campanulaceen etc., ja sogar ın Fa-
milien mit so konstantem Blütenbau »-wie die Cruciferen, kommen
Fälle vor, wo die Variabilität ın den einzelnen Kreisen recht ver-
schieden ist. Solche Fälle sind für manche Lepidium-Arten be-
kannt, z. B. Lepidium ruderale, wo dıe Staubblattzahl bei zumeist
gleichbleibender Kronblattzahl zwischen 1 und 6 schwankt (Eichler,
1865) oder wie schon Hofmeister (S. 571) anführt, bei Stellaria
media und Seleranthus annuus. Von Interesse sind aus früherer
Zeit hier auch Peyritsch’s Arbeiten über Labiatenpelorien, bei
denen die einzelnen Kreise durchaus nicht gleichzählig varıieren
(1870, S. 12).
In manchen Fällen wurde diesen Korrelationen schon etwas
eingehendere Aufmerksamkeit geschenkt. So sei nochmals an
Witte’sund Dahlgren's Arbeiten an Campanulaceen-Arten erinnert.
Für Campanula rotundifolia, persicaefolia, patula und rapunerlorides
werden hier die mannigfaltigen Kombinationen, in welchen die
Zahlen in den einzelnen Blütenwirteln zusammentreffen, aufgeführt.
Fast alle Möglichkeiten sind dabei realisiert. Ich habe die Zahlen,
die von Dahlgren in einer größeren Tabelle, mit der man aber
so, wie sie ist, nicht gar zu viel anfangen kann, in einigen Korre-
lationstabellen vereinigt.
N Krone Staubblätter Staub-| Fruchtblätter
Kelch | ® an RTone Se — —] Platt I 2,
a EEE FAR EN anal ae ren een
al a 3 ale 3. W2 Fa
4 | .Iıes! 2] 0) 2. \\1lıgal 22) a) 1 | 8117710]
5 .I1] 47110832! 2 5 5 16 |.67169 [2
| | 2179| 6 2.119 6.1 a2lsı!
7 3 7 2 ıla- 7 2 ı
8 Lan na a | hi s
9 | ) | 1 i) | |
In diesen Tabellen fehlen die „normalen“ Blüten. Man erkennt
aber aus den Tabellen, daß auch dann, wenn ıie Blüte „anormal“
zu werden beginnt, die Variationen in den einzelnen Kreisen noch
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 7
) 1 5 ot
in recht nahen Beziehungen zueinander verharren. Die anderen von
Dahlgren geprüften Campanula-Arten dürften prinzipiell keine Ab-
weichungen von den hier dargelegten Verhältnissen bieten. Weniger
enge Beziehungen zwischen den aufeinanderfolgenden Wirteln be-
stehen nach den Untersuchungen Geyer’s schon bei Menyanthes.
Korrelationsstudien von Klebs an Urassulaceenblüten.
Bekanntlich hat Klebs durch sehr starke Variation der Außen-
bedingungen die Variabilität von Sempervivum Funke und. Sedum
spectabile in weitem Umfange nach den verschiedensten Richtungen
zu beeinflussen gesucht. Wie sehr ihm das gelungen ıst, ist zu
bekannt, als daß es hier nochmals erörtert werden müßte. Gleich-
zeitig hat Klebs an recht einheitlichem Material die physiologischen
Korrelationen mit Hilfe größerer Zahlen studiert.
Klebs’ umfangreiches Zahlenmaterial ist auf statistischer Grund-
lage nur für Sedum spectabile zusammengestellt, Korrelationsberech-
nungen wurden weder bei Semperrirum noch bei Sedum ausgeführt.
Durch solche Berechnungen ließe sich aber die sh nen:
vielleicht noch etwas erhöhen und die Resultate ließen sich etwas
schärfer fassen. Da das Zahlenmaterial, welches ein wertvolles
Glied in der Untersuchungskette der Korrelationsverhältnisse der
Blüte darstellt, vorliegt, so habe ich die nötigen Berechnungen, soweit
das noch möglich und wünschenswert war, nachträglich ausgeführt.
Doch sehen wir erst zu, was Klebs über die Korrelation der
Zahlenwerte in den verschiedenen Wirteln selbst aussagt. Auf
S. 275 führt er aus: „Das Verhältnis der Gliederzahlen in einer
Blüte ist unter den gewöhnlichen Kulturbedingungen relativ kon-
stant. Unter 530 Blüten fanden sich 10,9%, abweichende, bei den
schon etwas abweichend kultivierten Exemplaren mit 70 Blüten
25,7 %,, in der Gesamtheit von 600 Blüten 12,6%. Vor allem aber
handelt es sich dabei stets um kleinere Abweichungen, die die
Karpidenzahl betreffen, um die Verminderung von einem Karpell
in der größten Mehrzahl der Fälle, selten von 2 Karpiden oder
um die Vermehrung von I resp. 2 Karpiden. Unter den veränderten
Lebensbedingungen tritt die selbständige Variation aller Blüten-
glieder in hohem Grade hervor. Unter den gezählten 287 Blüten
fanden sich 187 mit abweichenden Verhältniszahlen, d.h. 65%, und
die Abweichungen gingen, wie ein Blick auf die Tabelle zeigt,
außerordentlich viel weiter.“
Klebs kommt also zu dem Ergebnis, daß die Variation der
Blütenglieder unter den veränderten Lebensbedingungen selbständig
von statten ging. Er spricht das auch bei der Behandlung der Kelch-
blätter S. 277 aus, indem-er sagt: „Wie ein Blick auf die Tabelle
(S. 246) zeigt, variiert die Zahl der Kelchblätter in den abweichenden
Blütenformen unabhängig von der Zahl der anderen Organe.“
38 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
Wenden wır uns aber nun.zu den Korrelationsberechnungen,
die durchaus ım Anschlusse an Johannsen mit Hilfe der Bra-
vaıs’schen Formel ausgeführt wurden. Die folgenden Tabellen
Korrelationen zwischen Anzahl von Blumenblättern und
Karpiden in den Blüten lateraler Zweige von
Sempervivum Funkii (nach Versuchen von Klebs).
© Blumenblätter
S[o|1l2 3j415/6|7|8 9 Jlo11 12jıslia1s 16j17 18119 20 2122123 24125 26127
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| | Iıl lılololsauassmalıs Jea2lı | 1 | || | II [eco
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 24
stellen das Material zusammen, welches für die Blüten von Semper-
rirum Funkii gewonnen wurde, die an den lateralen Zweigen unter
verschiedenen Bedingungen kultivierter Pflanzen auftreten.
Korrelation zwischen Anzahl von Staubblättern und
Blumenblättern in den Blüten lateraler Zweige von
Sempervivum Funkii (nach Versuchen von Klebs).
Staub-
Blumenblätter
Pr SIT az se 3 FR Me EEE ; | Tea
ao 231256789 0 Ka ea lı1a | 15 J16
L !
I1.| 7 144155 45 |57
| | |
r — 0,6186 + 0,038
30 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
Beide Korrelationsberechnungen erweisen also, daß die Variation
der einzelnen Glieder ın den verschiedenen Wirteln trotz künstlich
außerordentlich gesteigertem o noch keineswegs unabhängig von-
einander von ‚statten geht, vielmehr noch einen ganz stattlichen
Wert besitzt.
Ganz dasselbe läßt sıch auf Grund der Angaben von Klebs
für Blumenblätter und Karpiden von Sedum spectabile berechnen,
Ich habe auch diese Berechnung ausgeführt:
Kr Blumenblätter
DRS STE
3 | „) 1 X
4 | 2 305 3a | 342
5 na selon alex | 1895 o, — 0,50611
6 11 33 al | 38 0, = 0,42077
r 7 3 an 23 x
Q b a | 5 r — 0,621 + 0,013
ii
Tl
Bl SsB | 180 ea 1 | 2312
VE a EB EI RE IEN SE IR
y
Auch hier also ist r noch 0,621. Wir finden demnach, daß
bei unter abweichenden Bedingungen gesteigertem o der Korre-
lationskoeffizient r verkleinert wird, die Korrelation aber immer
noch in ziemlich erheblichem Maße besteht.
Die veränderten äußeren Bedingungen sind also im vorliegenden
Falle imstande, die Korrelation erheblich herabzusetzen, aber durch-
aus nicht zu sprengen. Es bleibt die Frage, ob es möglich sein
wird, das Gestaltungsvermögen der Pflanze soweit zu beeinflussen,
daß jede Korrelation schwindet, was doch sicher mit unter die
von Klebs auf S. 303 ff. aufgestellten Forderungen an die experi-
mentelle Behandlung der Variationen gehört, wenn er sagt: „es
müßte möglich sein, .... jede Variation an einem jeden Individuum
hervorzurufen.* Die zahlenkritische Untersuchung wird uns über
das Ausmaß des Erfolges stets die beste Antwort erteilen.
Korrelationsberechnungen auf Grund großen Zahlenmatersals
wurden dann schon früher für Ficaria ranuneuloides angestellt.
Wir werfen auch auf diese Untersuchungen einen kurzen Blick.
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. Rz |
Ficaria ranunmenulorides.
Auf die Korrelation zwischen der Kelch- und Kronenblattzahl
von Flcaria ranuneuloides lenkte schon 1890 Hildebrand die Auf-
merksamkeit. Er hatte unter einer größeren Anzahl Blüten mit
sehr wechselnder Kelch- und Blumenblattzahl eine Blüte gefunden,
welche 5 Kelchblätter und 5 Kronenblätter aufwies, also ın dieser
Beziehung normalen Ranunculaceen-Blüten glich. Hildebrand be-
absıchtigte nun, sein Augenmerk darauf zu richten, ob er weiterhin
Pflanzen mit nur 5zähligen Blüten würde beobachten können. Er
hält das allerdings für ziemlich zweifelhaft, da er einzelne Pflanzen
beobachtet habe, bei denen die Zahlenverhältnisse ın der Blüte sehr
verschiedene waren. Immerhin hält er die Sache einer längeren
Untersuchung wert, um zu sehen, ob die Anlage zur Bildung von
5 Kelchblättern und 5 Blumenblättern. welche bei den meisten
Ranunculaceen-Blüten ausnahmslos(?) zum Ausdruck kommt, auch bei
der verwandten Frcaria ın Ausnahmefällen zur Ausbildung gelangt.
Die modernen Korrelationsuntersuchungen beı Ficearia haben
nun zwar recht andersartige Ergebnisse gezeitigt. Zuerst war es
Mac Leod, welcher ım Jahre 1899 die Korrelation zwischen Staub-
blatt und Fruchtblattzahl beı dieser Pflanze untersuchte. Er fand
eine ziemlich starke Korrelation zwischen beiden, die er mit Hilfe
der Verschaffelt’schen Korrelationsberechnung feststellte. Da
sich aber diese Methode auf die Galton’sche Quartilberechnung
stützt, welche die Mediane als Ausgang der Berechnung benützt,
und nicht den Mittelwert, so hat Mac Leod’s Berechnung nicht
zu völlig stichhaltigem Ergebnis geführt. Es wird das von Weldon
(1901) und Reıitsma (1907) dargelegt, welche die Korrelation
weniger hoch finden. 1901 (S. 11) hat dann auch Ludwig Korre-
latıionstabellen für die Sepalen und Petalen mitgeteilt, deren Werte
von Alice Lee mit Hilfe von o ausgerechnet wurden. Schließlich
finden sich noch in Biometrika Il, 1902/03, S. 145 auf umfang-
reichen ‘Zählungen beruhende Korrelationstabellen für sämtliche
Blütenphyllome von ZVcaria. Relativ niedrig sind diese Koeffizienten
für die äußeren Kreise, höher -— 0,7489 — für Staub- und Frucht-
blätter. Zu verschiedenen Blüheperioden sind sie verschieden hoch.
Trotz der zahlreichen Zählungen sagen uns aber die Korre-
lationswerte für Frearia ın biologischem Sinne noch recht wenig
aus, was sicher in gleicher Weise zu erklären ist wie bei den oben
besprochenen einfachen Variantenwerten.
Für eine andere Ranunculacee, R. arvensis, hat Burkill auch
Korrelationstabellen aufgestellt. Aus den Tabellen geht hervor,
daß zwischen den einzelnen Wirteln nur lose, durch äußere Be-
dingungen recht weitgehend zu beeinflussende Korrelationen be-
stehen. Burkıll bildet sich theoretische Vorstellungen über diese
39 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
Korrelationen und studiert die Ernährungseinflüsse im Zusammen-
hange mit den korrelativen Veränderungen.
Schon längst haben weiter die gegenseitigen Verhältnisse der
Jahlen ın den Wirteln von
Paris quadrifolia
das Interesse verschiedener Forscher hervorgerufen. Wenn wir von
den älteren Untersuchungen absehen, so bringen Vogler (1903)
und Magnin (1905) auf Grund größerer Zahlen beachtenswerte
Angaben. Die Hauptresultate decken sich bei beiden Autoren. Es
zeigt sich, daß die Zahl der Abweichungen von der Norm 4 und
damit die Variationsgröße von außen nach innen abnimmt. Vogler
gibt an:
Zahl der Abweichungen
Blätter&. 0, 2281
Kelchblätter. ......81 ;
Kronblatten 2°. 2:60
Staubblätter..:. .: 74
Griffel 2a na RE
Die größere Zahl im Andröceum wird aus der Achtzähligkeit
dieses Kreises, in welchem die Wahrscheinlichkeit zu variieren größer
seı als in den 4zähligen Kreisen, hergeleitet.
Beide Autoren finden weiterhin, daß die Variabilität der Blüte
bei 4 blättrigen Exemplaren eine erheblich geringere als bei 5—6-
hlättrigen ist. Bei 4blättrigen fand Vogler unter 915 Pflanzen
nur 4, bei 5blättrigen unter 225 30, bei 6blättrigen unter 20 aber
6 unregelmäßige Blüten, was den folgenden Prozentsätzen entspricht:
4blättrige Pflanzen . . 0,44%,
5bhlättrige Pflanzen . . .11,4%,
6blättrige Pflanzen . . 23,1%.
Die von Magnın beobachtete Form war offenbar etwas varianten-
reicher, was auch daraus hervorgeht, daß Stark (1915, S. 674) hier
ın der ganzen Literatur allein ein 8blättriges Individuum angegeben
findet Bl auch selbst nie ein solches ern. Das Ergebnis
stimmt aber ım großen und ganzen mit dem Vogler’s überein und
läßt sich dahin zusammenfassen, daß Individuen, die im äußeren
Kreise von der Normalzahl abweichen, auch in den anderen Kreisen
eine viel geringere Konstanz zeigen als solche mit der Normalzahl').
Parnassia palustris.
In seinem Aufsatz in der botanischen Zeitung vom Jahre 1852:
Abnorme Normalgestaltungen berichtet Roeper über Parnassia
1) Die Arbeit von Stark aus den Ber. d. d. bot. Ges. Jahrg. 1917 konnte
hier nicht mehr berücksichtigt werden.
w
E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie. 9:
q
w
palustris pentagyna: „Jahrelang hatte ich bei Parnassia nach einer
typischen, d.h. 5gliedrigen Frucht gesucht und wohl über tausend
ihrer so zierlichen Blumen mit stets getäuschter Hoffnung beiseite
gelegt. Da ward endlich meine Ausdauer belohnt, insofern ich,
zuerst am 23. August 1848 und später am 12. August 1851 bei
Dalwitzhof, unweit Rostock, das längst ersehnte mit eigenen Augen
zu erblicken so glücklich war. In mehreren der übrigens ganz nor-
malen Blumen zeichnete sich die Frucht durch 5 Nähte und 5 Narben
aus.“ Fünfgliedrige Gynaeceen von Parnassia wurden vorher schon
von Bravais, später von verschiedenen Seiten, aber fast überall
nur vereinzelt festgestellt (vgl. Burkill, 1896), mit der schon oben
erwähnten Ausnahme von Seemann, der sie ın Alaska ın ca. 50%,
der Fälle gefunden zu haben angibt. Burkill selbst hat bei seinem
Material ca. 9%, im Gynaeceum abweichender Blüten gefunden. Das
Material Burkill’s ın Korrelationstabellen zusammengeordnet und
berechnet bringt in mancher Beziehung recht beachtenswerte Er-
gebnisse.
Burkill hat 5182 Blüten von Parnassia gezählt. Stellen wir
die Zahlen für Petalen und Karpelle ın das Korrelationsschema
zusammen, so erhalten wir:
Karpelle
Petalen Pe
3 4 5) 6
| 13
> 5150
6 19
|
Ganz anders bei der Zusammenstellung des Materials für Pe-
talen und Gynaeceum. Hier ergibt sich:
Karpelle
Petalen |- e f
3 IR 6
Be Are ® Irre REN
te | o, = 007598
4 ) 4 | 13 o, = 0,36663
| X y
5 20] +700 224 25 ‚150
6 [78 a 1 19 r — 0,1603 4 0,0001
| | | ]
oıı | A202. |. 238. | 6 | 5182
— — —_—
y
>38. Band , 3
34 E. Lehmann, Variabilität und Blütenmorphologie.
Hier ıst also r ım Gegenteil sehr klein. Die r’s zwischen den
verschiedenen Wirteln sind demnach sehr verschieden. Hätten wir
allerdings Seemann’s Material untersucht, so wäre r sicher auch
ım letzteren Falle viel größer geworden. Das Problem wäre, fest-
zustellen, ob die verschiedenen r’s physiologisch oder genetisch
differieren bezw. in welchem Grade äußere oder innere Bedingungen
die Größe dieser beeinflussen.
Die angeführten Beispiele werden genügen, zu zeigen, ın welcher
Richtung Variabilitätsuntersuchungen auf der Basis unserer neu-
zeitlichen Forschungsergebnisse und vor allem auch unter Berück-
sichtigung der Tatsachen der Vererbung unsere Kenntnis von den
die Blütengestaltung beherrschenden Gesetzen zu fördern imstande
sind und von welcher Bedeutung es ist, bei blütenmorphologischen
Studien immer Normales und Abnormes gegeneinander schwankend
und wirkend zu betrachten. Der Blick ın die Vergangenheit aber,
den wir ın den vorstehenden Ausführungen getan haben, wird
hoffentlich den sich überall regenden neueren Einzeluntersuchungen
auf unserem Gebiete eine allgemeinere Grundlage zu geben ım-
stande sein.
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Inhaltsübersicht.
Deite
Einleitung . . BR ERS NE EEE NEUE ES SER BESTER eg SL 1
Begriff der Mißbildungen ee EEE RSS EREH D B 4
Die Wege zum Studium der Eee u RE ee 6
Statistische Untersuchungen der Blütenvariationen . . RE RATE )
Spezielle Darstellung der Variationsverhältnisse der Zahl in der Blüte auf
statistischer Basis. . Re AR EI REN aa ur ae BEZ NEE ARE
Die Lage der Mittelwarte NER AN an ee
Kurvenverlauf und Variantenverteilung ER a Re En dar Diss
Variabilitätsgröße der Blütenphyliome EEE Ru
Untersuchungen über die Ursachen für das Zustandekommen der Zahlen-
varlationen . . RE ER TED EA NE EEE 2
Ernährung und Auslas NEE RR NER SO Te A Er
Boden!und: Ernährungseinflüsset ». w., lu. a2 es en 3
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Parnassia. palustrise an N ar EA
Literaturübersicht.. .. .. 12 Ole ee SS De ae a
N. Zuntz, Ernährung und Nahrungsmittel. 39
Referate.
N. Zuntz. Ernährung und Nahrungsmittel.
3. Auflage. Kl. 8". 136 S. Mit 6 Abbild. im Text und 1 Tafel. Leipzig-Berlin
1918, Verlag von B. G. Tenbner.
Die Forderungen des Krieges haben für alle Bewohner Deutsch-
lands die Fragen der Ernährung in den Vordergrund gerückt und
so sind eine Reihe von Schriften in den letzten Jahwen erschienen,
welche dem damit geweckten Interesse und Bedürfnis entgegen-
kommen. Auch das vorliegende Werkchen ist nunmehr neu er-
schienen, mit wesentlichen der Zeit gemäßen Änderungen gegen-
über der früheren Frenzel’schen Fassung und dient dieser Auf-
gabe. Es gibt dem Leser von seiten des sachverständigen Fach-
mannes die Tatsachen an die Hand, die er bedarf, wenn er sıch
für dieses äußerst wichtige Gebiet ein gewisses Verständnis und
Urteil erwerben und bilden will. Die Darstellung ist einfach ge-
halten, jedem zugänglich und verständlich, Möge das Werkchen
in. viele Hände, auch von Nicht-Arzten, gelangen und das Ver-
ständnis für diese lebenswichtigen Fragen anbahnen!
E. Weinland.
Neuerschienene Bücher
die der Zeitsehrift zugegangen sınd.
(Eine Besprechung der hier genannten Bücher ist vorbehalten,)
Biologische Grenz- und Tagesfragen. Heft I: Prof Dr. V. Haecker,
Die Erblichkeit im Mannestamm und der vaterrechtliche Familienbegrift.
Jena 1917. Verlag von G. Fischer. Preis M. 1.—.
Eekstein. Prof. Dr. K., Die Schädlinge ım Tier- und Pflanzenreich
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lich-gemeinverständlicher Darstellungen. 18. Bändchen. Leipzig und Berlin
1917, Verlag von B. G. Teubner.)
(kaupp T. weil. Prof. E., August Weismann. Sein Leben und sein
Werk. Jena 1917, Verlag von G. Fischer. Preis M. 9.—, geb. M. 11.—
Haeckel. Ernst, Kristallseelen, Studien über das anorganısche Leben.
Mit einer Tafel in Farbdruck und zahlreichen Abbildungen im Text. S".
152 S. Leipzig 1917, Verlag von Alfred Kroner. Preis geh. M. 4.—.
Maurer. Prof. Dr. E., Die Beurteilung biologischen Naturgeschehens
und die Bedeutung der vergl. Morphologie. Rede geh. z. Feier
der akadem. Preisverteilung in Jena. Jena 1917, Verlag von G. Fischer.
Preis M. 1.80.
40 Neuerschienene Bücher.
Molisch. Dr. Hans, Pflanzenphysiologie. Mit 63 Abbildungen im Text.
(Aus Natur und Geisteswelt, Sammlung wissenschaftlich-gemeinverständlicher
Darstellungen. 569. Bändchen.) Klein-Oktavo. 102 S. Leipzig-Berlin 1917,
Verlag von B. G. Teubner.
Ploetz. Dr. A. in Verbindung mit Nordenholz, Dr. A., München, Plate.
Prof. Dr. L., Jena, Rüdin. Prof. Dr. E., München und Thurn-
wald. Dr. R., Berlin. Archiv für Rassen- und Gesellschafts-
Biologie einschließlich Rassen- und Gesellschafts-Hygiene. Eine
deeszendenztheoretische Zeitschrift für die Erforschung des Wesens von Rasse
und Gesellschaft und ihres gegenseitigen Verhältnisses, für die biologischen
Bedingungen ihrer Erhaltung und Entwicklung, sowie für die grundlegenden
Probleme der Entwicklungslehre. Bd. 12, 3./4. Heft. 8°. Leipzig-Berljn 1917,
Verlag von B. G. Teubner, Siemens. Hermann Wr., z. Zt.ın München,
Biologische Terminologie und rassenhygienische Propaganda,
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drohung des Bestandes der Naturvölker und die Vernichtung
ihrer Eigenart, S. 268. Graßl. Medizinalrat Dr., in Kempten
ı./B., Die vermutlichen Verheiratungsaussichten der deutschen
Frauen nach dem Kriege, S. 321. Lenz, Dr. Fritz, ın Puch-
heim-Eichenau bei München, Der phylogenetische Haarverlust
des Menschen, S.335. Lenz, Dr. Fritz, Die Strafbarkeit der
geschlechtl. Ansteckung, S. 337.
Schoenichen. Prof. Dr. W., Praktikum der Insektenkunde. Nach
biologisch-ökologischen Gesichtspunkten. S°. 1938. Mit 201 Abbildungen
im Text. Jena 1918, Verlag von G. Fischer. Preis M. 7.—.
Verworn. Prof. Dr. M., Biologische Richtlinien der staatl. Organı-
sation. Naturwissensch. Anregungen f. d. polit. Neuorientierung Deutsch-
lands. Jena 1917, Verlag von G. Fischer. Preis M. 1.—.
YlIppö. Dr. Arvo, P,-Tabellen enthaltend ausgerechnet die Wasser-
stoffexponentwerte, die sich aus gemessenen Millivoltzahlen
bei bestimmten Temperaturen ergeben. Gültig für die ge-
sättigte Kalomel-Elektrode. Berlin 1917, Verlag von Julius Springer.
Klein-Oktavo. 75 8. Preis M. 3.60.
Zacher, Dr. Friedrich. Die Geradflügler Deutschlands und ihre
Verbreitung. Systematisches und synonymisches Verzeichnis der im Ge-
biete des Deutschen Reiches bisher aufgefundenen Orthopteren-Arten (Der-
maptera, Oothecaria, Saltatoria). Mit einer Verbreitungskarte. Jena 1917,
Verlag von Gustav Fischer. S°. 287. S. Preis brosch. M. 10.—.
Verlag.von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr.K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
ne von Georg Thieme in ne
38. Band Februar 1918 | Nr. 2
ausgegeben am 28. Februar
Une jährliche nennen (2 Hefte) beträgt 20 E
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: G. Chr. Barsels Der Ans en nans der _Verdauungsdrüsen. s. 11.
Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Beiträge zur Arbeitsautonomie und Reizwirkung in
tierischen Zellen.
Von Gottwalt Christian Hirsch.
z. Zt. im Felde.
(Mit 20 Figuren im Text.)
Inhalt. Seite
a DL a Tr ER BR a Re N Re GERIET Een
I.- Prinzipien’. £ BT DE NE REN FERI TAA
Die Begriffe (V Sekte Na Rhydimus) TE RER ERERR
DiesZelle® er; \ : A a ER u ED
Die Sekretion (Definition Tann vier Phasen) Se TE NN >)
DIE HM CHEN N NEE 249
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ASTCUS NE REN N ed ea DO
Insekten . . . in nun.’ Ol
Grastropoden (Dibeobrunehnea).. BEN nr 16m 04
Flunger Doro er Ne 25 206
Erste Sekretionsperiode . 35
Zweite: Sekreiionspenode 1a nut Sims ee 389
38. Band 4
42 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Seite
Hauptzellen des Magens (Hund, Er Schwein)@7% 1. Sa el
Hungerperioden. en... 20% PER I ee u 02
Erste. Sekretionsperiode 7 ar2 ra SR Reebok Bao
Zweite ee ER BR ERRRRET NER E)
Pankreas. . . Re ne a DR ar LS re or > Er
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Erste ,Sekretionsperiode:. '. ‘=... 22) as a u ee nee
Zweitessekretionsperiode "20 ze Le a a
IT. Vergleichendes .. . . a. u Vo
1. Die Verkettung . . nn RR Tr, N, un NA TREE RN. BE
Die Verkettung der Phasch EN RE N Re en RER EEE
Die Verkettung ‚der Perioden... 3. „mar ZH I ee 6
Die ‚Autonomie. der. Verkettung 7.202. nee ee 80
DHDIE Reize. - 2.2 Ben nn VRR Eh De ze PA
Errregende Beize u sud son an et ee ee ee 29
Hemmende: Reizexi ı 4, sa a ll ee 90,
Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen offenbart sich zu-
nächst als ein Wechsel von „Arbeit“ und „Ruhe“: solange Reize
die Drüse treffen arbeitet sie, später ruht sie!).
In diese Zeit der Arbeit ıst aber näher einzudringen. Sie be-
steht zunächst in der Abgabe der fermenthaltigen Granula. Wenn
dann eine Drüse viele Stunden lang unter Reizwirkung sezerniert,
so muß sie ihren Bestand an Granula notwendig während dieser
Zeit auch ersetzen. Es fragt sich also: wie reguliert die Zelle Ab-
.gabe und Ersatz?
Zwei Möglichkeiten sind dafür gegeben: Entweder läuft auf Reiz
hin das Sekret aus der Drüse wıe Wasser aus einer Wasserleitung, die
wir langsam auf- und wieder zuschrauben; mit anderen Worten: die
Abgabe des Fermentes steigert sich gleichmäßig bis zum Höhe-
punkt, um dann gleichmäßig bis zum Aufhören des Reizes zu sinken.
Dies kann von der Zelle auf zwei Weisen bewerkstelligt werden:
entweder arbeiten alle Zellen synchron, und es wird in jeder Zelle
an dem einen Ende Sekret gebildet und an dem anderen in dem-
selben Maße abgegeben, bis der Reiz zur Abgabe erlischt und da-
mit auch die Bildung stockt; oder die Drüsenzellen arbeiten nicht
synchron, und eine Arbeitsteilung des Organs bewirkt, daß die einen
Zellen abscheiden, während die anderen neubilden.
Die zweite Möglichkeit ist: es halten sich in der Zelle bei
längerem Reiz Aufbau und Abgabe des Sekretes nicht genau die
Wage, und eine Arbeitsteilung besteht nicht. Vielmehr wırd von
allen Zellen zuerst mehr Sekret abgegeben als aufgebaut, dann
mehr aufgebaut als abgegeben, dann mehr abgegeben als aufgebaut
u.s. w. Jede Zelle arbeitet wie eine intermittierende Quelle.
Wenn nun die Zellen ungefähr synchron arbeiten, dann wäre die
1) Vielleicht bestehende Ausnahmen s. Anm. 122.
©. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 45
Folge, daß sich im Sekret je nach Arbeit der Zelle einmal mehr,
dann weniger Ferment findet, daß also das Maß des Fermentes
periodisch auf- und niederschwankt.
In dem ersten Falle würden wir von dem Maß des spezifischen
Produktes eine Kurve erhalten, die gleichmäßig ansteigt und gleich-
mäßıg abfällt. In dem zweiten Falle würden wir eine ve be-
kommen, die ansteigt, abfällt, ansteigt, abfällt u. s. w., bis die Reize
erlöschen und damit die Kurve endgültig absinkt.
Der Beantwortung dieser Frage nach dem Ablauf der Sekretions-
arbeit ist diese Veröffentlichung zunächst gewidmet. Die Physiologen
sind heute der Ansicht, daß dıe Verdauungsdrüsen so arbeiten, wie
es die „erste Möglichkeit“ darstellte. Dagegen konnte ich 1915
nachweisen ?), daß die Mitteldarmdrüsenzellen der Meeresschnecke
Pleurobranchaea so sezernieren, wie ich esals „zweite Möglichkeit“
eben ausführte. Der Europäische Krieg hindert weitere Experimente:
doch fand ich bei Durchsicht der Literatur über Drüsen anderer
Tiere eine Menge Tatsachen, die — ım Gegensatz zur heutigen theo-
retischen Ansicht — ein periodisches Schwanken der Fermentkraft
während der Verdauungszeit entweder unmittelbar aufzeigen oder
durch eine solche erklärt werden Ich habe jedoch nirgends eine
Meinung gefunden, die einen solchen Ablauf der Sekretionsarbeit
während der Verdauung vertritt; die Tatsachen sind wohl be-
schrieben, aber nicht als mehrfache Arbeitsperiodizität erklärt worden.
Ist die Form des Ablaufs festgestellt, dann erhebt sich ein
wichtigeres biologisches Problem: welche Bedingungen des Ablaufs
liegen in den Zellen selbst und welche Bedingungen in den Reizen,
welche die Zellen treffen ; welches ıst das Machtbereich der Zelle und
in welchen Punkten ist sie den Reizen des Organısmus untertan?
Damit ergeben sich wichtige Beziehungen zur Zellrhythmik, die
heute in der Nervenphysiologie und der botanischen Forschung
Gegenstand vieler Untersuchungen und Meinungsverschiedenheiten
ist. Durch Vergleich der vorliegenden Tatsachen bei verschiedenen
"Drüsen aus fremden und eigenen Veröffentlichungen ist es möglich,
eine neue, wohlbegründete Theorie über den Arbeitsrhythmus der
Verdauungsdrüsen aufzustellen.
Herrn Professor Dr. Valentin Haecker und meinem Freunde
Walter Kotte bin ich für eingehende Durchsicht und Kritik der
Arbeit vielen Dank schuldig; ebenso Herrn Prof. Dr. H. Driesch
und Herrn Prof. Dr. Frischeisen-Köhler für eine liebenswürdige
Auskunft.
2) Hit: rsch, Gottwalt Chr., Ernährungsbiologie fleischfressender Gastro-
poden, I. Teil (makroskopiächer Baus Nahrung, Nahrungsaufnahme, Verdauung,
Sekretion). Zool. Jahrb. Abt. Physiologie der Tiere 1915, Band 35, S. 375.
N Es Be a LEN
a le a
44 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
I.
Prinzipien.
In den „Phasen“ der Zellteilung wird eine ungeteilte Kette
von Geschehnissen in willkürlich unterschiedene Abschnitte zer-
legt. Zuletzt bietet jede Zelle das Ursprungsbild, es hat sich also
ein geschlossener Kreis von Phasen abgespielt, in welchem die
(Geschehnisse in einer regelmäßigen Verkettung abrollten und zum
Ausgangspunkt zurückkehrten. Wir können diesen geschlossenen
Kreis mehrerer Phasen als eine Periode bezeichnen und Sie der
Befruchtungsperiode gegenüberstellen. Die Verkettung und die
Zeiten der Phasen in den Teilungs- und Befruchtungsperioden offen-
baren den Arbeitsrhythmus der Zelle°).
Wie hier die einzelnen Phasen des normalen Teilungs- und Be-
fruchtungsvorganges nut Notwendigkeit aufeinanderfolgen, so folgen
auch in dem Arbeitsablauf eines ausgewachsenen Organes die einzelnen
Arbeitsphasen ın einer bestimmten Verkettung aufeinander (Systole
und Diastole kontraktiler Hohlorgane, Aus- und Einatmen) *). Ist die
Phasenkette zu ihrem Ausgangspunkt zurückgekehrt, so ist eine
Periode abgelaufen, auf welche dann eine der drei möglichen
Fortsetzungen folgt: eine neue gleiche Periode, eine neue ungleiche
Periode oder Stillstand der Arbeit.
Für unsere Darstellung teilen wir die Sekretion der Ver-
dauungsdrüsen ın vier Phasen, die in bestimmter Weise geordnet
eine ringförmig geschlossene Handlung darstellen, fassen sie zu-
sammen als eine Periode und untersuchen ihre Zeitfolge, d.h. ihren
Arbeitsrhythmus. |
Eine Arbeitsphase ıst also eine Teilarbeit, die wir willkür-
lich aus der Arbeitsfolge eines Organs herausschneiden.
Eine Arbeitsperiode ist eine Folge von Arbeitsphasen, die
sich rıngförmig schließt, also zum Ausgangspunkt zurückkehrt.
Die Arbeitsverkettung ist die bestimmte Reihenfolge, ın
welcher Phasen und Perioden eines normalen physiologischen Ge-
schehens aufeinanderfolgen.
Der Arbeitsrhythmus ist die Einordnung dieser Arbeitskette
ın dıe Zeit?).
Sn
In einer Drüsenzelle sind viele Funktionen vereinigt‘), von
denen Wasserausscheidung und Fermentsekretion getrennte Ar-
3) Über die Bedeutung des „Teilungsrhythmus“ für das Zustandekommen von
Tierzeichnungen und damit für die Vererbungslehre s. V. Haecker, Zeitschr. f.
indukt. Abstammungs- und Vererbungslehre, Bd. 14, 1915, S. 263.
4) Siehe das vergleichende Kapitel S. 83.
5) Ausführliches über diese vier Begriffe steht im vergleichenden Kapitel S. 4.
6) Über die Einzelarbeit bei der Sekretion siehe die Zusammenfassungen:
H. Heidenhain (Plasma u. Zelle, Jena 1907—1911), Noll (Ergebnisse der Physio-
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 45
beiten sind . Deswegen kann die Menge des Sekretes nicht zum
Maßstab der ecntlichen Sekretionsarbeit gemacht werden, wie es
immer wieder geschieht, sondern allein die Kerment er ım Sekret.
Der an Maßstab für eine Einzelarbeit ist die Messung
ihres besonderen Arbeitserzeugnisses: in diesen Fällen des Fer-
mentes im Sekret, dessen Werden zum Teil auch morphologisch an
den Granula erkennbar ist. Wir werden also vor allem nach der
Fermentstärke im Sekret, in zweiter Linie nach den Beobachtungen
im Innern der Zelle ein Bild des Arbeitsrhythmus entwerfen.
Alle Zellen einer Drüse sind zu einer höheren Arbeitseinheit
zusammengefaßt: dem Organ. Wir wissen nicht, wieweit die Zellen
dieses Organs einheitlich arbeiten (s. S.91) Bei der Betrachtung
einer solchen Arbeit müssen wir daher kombinieren: wir ermitteln
den Arbeitsrhythmus aus dem Sekret als Ausdruck des Organs und
‘aus dem morphologischen Bilde als Ausdruck ‚der Zelle.
Die Hauptarbeit einer Drüse ist die Sekretion! die Erzeu-
gung eines Überflusses an plasmafremdem Stoffin einer
Zelle und sein Transport nach außen‘) (oder dauernde
Ablagerung im Innern).
Mit anderen mir bekannt gewordenen Definitionen kann ich nicht überein-
stimmen. Es kann nicht das Bezeichnende einer Drüsenzelle „in der Ausschließ-
lichkeit und Einseitigkeit ihrer Funktion — der Produktion spezifischer Produkte
und ihrer Beförderung nach außen“ liegen®); die Definition aller Gegenstände be-
ruht auf ihrer Funktion, und jedes Charakteristikum auf seiner „Ausschließlichkeit
und Einseitigkeit“. Aber es wird z. B. Protease nicht ausschließlich im Pankreas
gebildet, sondern in jeder Zelle; das Charakteristische für eine Proteasedrüse ist
vielmehr der Überschuß der gebildeten Protease, die nach vorausgegangener Speiche-
rung abgegeben wird. — Auch eine andere Definition scheint mir zu eng'®), wo-
nach „in jeder echten Drüse ein Flüssigkeitsstrom, also Wasser ausgeschieden wird,
welches die spezifischen Produkte des Organs in gelöster Form enthält“. Zunächst
sind Wasserausscheidung und Fermentsekretion nicht immer die gleiche Arbeit, so
daß man schwerlich beide in einer Definition zusammenfassen kann; ferner ist nicht
Abscheidung allein das Charakteristische, sonst wäre wohl jede Zelle eine Sekretzelle;
und zuletzt wird ein Sekret nicht allein im Flüssigkeitsstrom ausgeschieden; sondern
logie Bd.4, 1905, S. 116), Metzner (Nagels Hdb. d. Physiol. Bd. 8), Gurwitsch
(Morphol. u. Biol. d. Zelle, Jena 1904).
7) S. auch 8. 61, 75, 76. Über die vermutliche Lokalisation der Wasserabsonde-
rung s. Martin Heidenhain, Plama u. Zelle 1907, 8.348. — Ellenberger u.
Scheunert (vgl. Physiol.’d. Haus- u. Säugetiere 1910, S. 181) geben für diese
strenge Scheidung zwischen Wassersekretion u. Sekretion d. spezifischen Bestand-
teile noch einen interessanten Beweis: Das Sekret der Drüsen nach völligem Schwunde
der Granula ist fermentfrei oder fermentarm, enthält dagegen reichlich Wasser.
Also sind beide Sekretionsarbeiten getrennt möglich.
8) Hirsch, Gottwalt Chr., Zeitschr. f. physiol. Chemie, Bd. 91, 1914, 5.75,
9) Gurwitsch, Morphol. u. Biol. d. Zelle 1914, S. 164.
10) Martin Haidenhain, Plasma u. Zelle 1907, S. 335,
46 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
auch durch Abschnürung!!) oder durch Austritt fester Granula, die sich erst im
Lumen lösen'?). — Wenn wir ferner nur diejenigen Zellen als Drüsenzellen be-
zeichnen wollen, welche ‚ihr Sekretmaterial aus morphologisch erkennbaren Formen
und zwar meist in Gestalt von Granula hervorgehen lassen“ !?), dann machen wir
unsere Definition nicht von der Zellarbeit, sondern von dem Stande unserer _je-
weiligen Technik abhängig und sehen von den Drüsen mit „innerer“ Sekretion ab. —
Ich bın mir der Weite meiner Definition wohl bewußt; so um-
faßt sie z. B. die Kohlehydrat- und Fettspeicher des Körpers, die
ich als „Speicherdrüsen“ subordinieren würde, weil im Arbeits-
ablauf kein grundsätzlicher Unterschied gegen die Drüsen xzar’
2£oyyv: die Verdauungsdrüsen, besteht !*). Begriffe entstehen immer
nur an einem kleinen Kreis von Erscheinungen; bei Erweiterung
dieses Kreises ıst es gut, auch den Begriff mit zu erweitern, um
die Ähnlichkeit zu betonen, und neue Begriffe zu subordinieren, um
die Unterschiede hervorzuheben °°).
Die Sekretion der Verdauungsdrüsen zerfällt also zunächst ın
die beiden Phasen: Erzeugung mit Speicherung des Stoffüber-
schusses und die Abgabe. Die Erzeugung ist jedoch eine Arbeit,
bei welcher der zu erzeugende Stoff eine Reihe von Entwicklungs-
stufen durchläuft, bis er zum Ausstoßen bereitliegt. Unsere Kennt-
nisse über diese Stoffabrikation sind auffallend dürftig, so daß wir
nur durch morphologische Zellbeobachtungen eine Reihe von Arbeits-
stufen beschreiben können. Wir wollen den Aufbau des Sekretes
in drei Arbeitsphasen zerlegen:
1. die Aufnahme der Rohstoffe aus dem. Blut,
2. die Bildung eines Vorstoffes aus den Rohstoffen,
3. die Bildung der Granula aus den Vorstoffen,
so daß mit der Ausscheidung (die wir zusammen mit der meist
11) Herm. Jordan, Vergl. Physiol. Wirbelloser, I, 1913 S. 659, Anm.,
S. 407, 409, 603.
12) Pleurobranchaea (Hirsch, Gottw. Chr., Jahrb. f. Zoologie, Abt. f.
Physiol. d. Tiere Bd. 35, 1915, S. 492), Cladoceren (Jordan, Vergl. Physiologie
Bd. 1,1913, S.407), Giftdrüsen der Schlangen (Pütter, Vergl. Physiol. 1912, S. 307),
Octopus (Jordan, a. a. OÖ S. 257); s. ferner: Noll, Ergebn. d. Physiol. Bd. 4,
1905, S. 116 (Geotriton-Pankreas, Scyllium-Magen). Bei Säugetieren soll diese Er-
scheinung nur dann eintreten, wenn Flüssigkeit mangelt (Ellenberger u. Scheu-
nert, Vergl. Physiol. d. Haussäugetiere 1910, S. 170).
I9)»Nioll, 2..2..0.,8,87 -
14) Will man dieser allzuweiten Definition entgehen, so braucht man zu
meinem Satz oben nur hinzuzufügen: der nicht für den Aufbau der Gewebe ver-
wendet wird (Gegenbauer, Stöhr).
15) So ist auch der Begriff Afrika von Karthagos Umgebung auf den Erd-
teil ausgedehnt worden und die Begriffe Nordafrika, Südafrika u.s. w. sind später
subordiniert worden; ebenso wurde erweitert der Kanton Schwyz zur Schweiz, die
Prov. Preußen zu Preußen u. s. w. So arbeitet das Volksdenken und die Wissen-
schaft wird folgen müssen. Viele Definitionsunklarheiten wären so zu schlichten.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 47
vorhergehenden Lösung als eine einzige Arbeitsphase ansehen wollen)
allgemein vier Sekretionsphasen zu unterscheiden sind '*).
1. Phase: Die Fermente sind das Arbeitsprodukt der Zelle,
welche sie wahrscheinlich aus niederzusammengesetzten Stoffen auf-
baut, die aus dem Blute stammen. Näheres über die Chemie dieser
Rohstoffaufnahme ist nicht bekannt!”.. Wir können daher nur
negativ sagen: wenn von Bildungen, die offenbar mit der Sekretion
in Zusammenhang stehen (Vorstoffe, Granula) nichts vorhanden ist,
das Plasma der Zelle also einen „homogenen“ Eindruck macht, dann
wird sich die Drüsenzelle vielleicht in der ersten Arbeitsphase be-
finden; ein solcher Fall ist z.B. bei der Giftdrüse der Salamander-
larve beschrieben worden '°).
2. Phase: Es werden nach Rohstoffaufnahme von den Drüsen-
zellen sicher erst Vorstoffe gebildet, bevor die Granula als Träger des
fertigen Ferments oder Proferments entstehen. Vielleicht ıst ein
netziges Fadenwerk im Protoplasma, das sich anders färbt als die
Granula der Ausdruck eines solchen Vorstoffes!?). Im Pankreas
bildet es eine von den Granula deutlich geschiedene Schicht, deren
Verhalten wir unten genauer darlegen werden (S. 72). Ein solches
Fadenwerk ist häufig am basalen Zellteile besonders verdickt: die
„Basalfilamente“ oder „Ergatoplasmafäden“, über deren Ursprung
und Bedeutung noch keine Einigung besteht. Es gibt gewichtige
Stimmen?°), welche jede Stoffwechselbeziehung zwischen diesen Fi-
lamenten und den Granula leugnen und den Filamenten allein eine
Rolle bei der Wasseraufnahme zusprechen; zwischen den Granula
sollen die Fäden ebenfalls vorhanden, aber schwer darstellbar sein,
nach Schwund der Granula dagegen leicht nachzuweisen. Damit ist
jedenfalls ıhr Erscheinen ein Indikator für das Fehlen der Granula:
und das genügt zunächst.
16) Spätere Forschung wird innerhalb der drei Phasen weitere Etappen unter-
scheiden und Unterschiede zwischen den Verdauungsdrüsen verschiedener Tiere wahr-
nehmen.
17) Dagegen ist die physikalische Frage nach den Bedingungen, durch welche
der Stoffaustausch zwischen Blut und Gewebe stattfindet, in den letzten Jahren sehr
häufig untersucht ; sie liegt aber außerhalb dieser Darstellung und ich verweise auf
die Arbeiten von Asher, Botazzi, Macallum, Spiro u.s. w.
18) Gurwitsch, Morph. u. Biologie 1904, S. 182, Abb. 100.
19) Gurwitsch, a.a. ©. S. 175. Über Vorstufen des Muzins s. Heiden -
hain, Plasma und Zelle 1907, S. 361. .
20) Z.B. Martin Heidenhain, Plasma und Zelle 1907, S.391 u. Ellen-
berger u. Scheunert, Vgl. Physiol. d. Haussäugetiere 1910, S. 170. — Dagegen
meint Noll (Ergbn. d. Physiol. Bd. 4, 1905, S. 121), daß „wenn man diese Bil-
dungen ... als Ausdruck irgendeiner einstweilen noch unbekannten chemischen
Differenzierung in dem betreffen den Protoplasma betrachtet, so wird man mit dieser
Beschränkung auch ihnen eine Beziehung zu den Sekretgranula zusprechen dürfen,
wenn... dem Schwunde der Fäden einer Vermehrung der Granula in der Pankreas-
zelle entspricht“. Eben: „wenn!“
48 (1. Chr. Hirsch, Der Arbeitsthythmus der Verdauungsdrüsen.
3. Phase. Die aus Vorstoffen aufgebauten Granula nehmen
an Menge und Größe in dieser Phase zu und enthalten das Ferment
in aktivem oder inaktivem Zustande, was sich dadurch nachweisen
läßt, daß ın der Zeit größten Granulareichtums auch das meiste
Ferment nach Aktivierung aus der Drüse sich ausziehen läßt. In
dieser Granulaform wird das Ferment gespeichert. So ruht es,
bıs die ın den Organismus eingeführte Nahrung seine Mobilmachung
veranlaßt.
Die 4. Phase stellt recht eigentlich den Sekretionsprozeß dar:
die Mobilmachung und Ausstoßung des Sekretes, wofür vor allem
das Ausfließen eines Sekretstromes (oder das Auftreten fester Sekrete
im Lumen |Anm. 12]) bezeichnend ist, zugleich mit dem allmäh-
lichen Schwund der Granula°'). (Diese Arbeiten haben eine Tem-
peraturerhöhung und stärkere Kohlensäureentwicklung zur Folge.)
Die Granula werden gegen das Zellende transportiert und in Va-
kuolen gelöst, die häufig zusammenfließen.
Diese vier Phasen der Sekretion fassen wir zu einer Periode
zusammen. Nach ıhrem Ablauf wäre die Sekretzelle granulaleer
und hätte damit ıhre Arbeit eingestellt; wır würden in solchem
Falle es mit einer einperiodischen Sekretarbeit zu tun haben
(S. 87). Oder die Zelle kann nach Ablauf dieser Arbeitsperiode in
eine zweite gleiche Periode eintreten und das Spiel der Phasen
beginnt von neuem: wir sprechen dann von einer vıielperiodi-
schen Arbeit der Drüsenzelle und verzeichnen eine bestimmte Ver-
kettung der aufeinanderfolgenden Perioden ??):
1. Phase 2.Phase 3.Phase 4.Phase 1.Phase 2.Phase 3. Phase 4. Phase usw.
1. Periode 5
gen en en
2. Periode usw.
nm nm an nn mn ann nn mann nn nn UL nn an nn nn nn nn sen na u un a nn nn nn nn
Ein Verdauungsabschnitt.
So können wir z. B. ın der Mitteldarmdrüse der Gastropoden
beobachten, wie zwei Sekretionsperioden während eines Verdauungs-
abschnittes abrollen??). Und eine ähnliche Verkettung der Phasen und
Perioden glaube ich auch aus den vorliegenden Beobachtungen der
21) Martin Heidenhain schildert in seinem auch physiologisch wertvollem
Werke: Plasma und Zelle 1907, S.383 „zwei Perioden in der Geschichte der
Granula ..., eine der aufsteigenden Entwicklung und eine der Lösung und des
Zerfalls“. — Über diese 4. Phase siehe auch die vergleichende und ausführliche
Darstellung A. Noll’s, Ergebn. d. Physiol. Bd.4, 1905, S. 115.
22) Ranvier (zit. nach Gurwitsch, Morph. u. Biol. d. Zelle 1904, S. 190)
teilt die Drüsen in merocrine, die nur Teile des Zelleibes abscheiden und holocrine,
bei welchen die gesamte Zelle mit dem Sekret stirbt. Diese Unterscheidung bezieht
sich zunächst nur auf den Modus der Abscheidung, ist aber auch auf die Ver-
kettung der Arbeit anwendbar.
23) Hirsch, Gottw. Chr., Zool, Jahrb., Abt. Physiol. d. Tiere, Bd. 35,
1915, S. 356.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 49
Magen- und Pankreasdrüsen des Hundes u. s. w. herauslesen zu
können; bei normaler Sekretion dieser Drüsen findet hier aber eine
völlige Entleerung der Granula sehr selten statt.
Schon daraus erhellt, daß ın einer Zelle die einzelnen Perioden
nicht so genau hintereinander laufen wie dies unser Schema an-
gibt, sondern auch nebeneinander hergehen°*). Das ist für die Be-
urteilung des Zellbildes wichtig. Wenn die Zelle z. B. ın der vierten
Phase sich befindet, so fängt sie bereits mit der ersten Phase der
pächsten Periode an. Wir können daher die Phase, ın der sıch
die Zellarbeit befindet, allen am Zellbild nicht erkennen, sondern
müssen vor allem das Verhalten des Arbeitsprodukts: des Sekretes,
als wertvollsten Gradmesser der Arbeit ansehen (s. S. 94).
Daraus ergeben sich bestimmte Forderungen für die Methodik
der Untersuchung: die Drüse muß zunächst auf möglichst vielen
Arbeitsstufen untersucht werden, die Beschreibung einer einzigen
und beliebigen Stufe genügt selbst zu einer oberflächlichen Kennt-
nis der Arbeit nicht”). Zur Beurteilung der Arbeit auf den ein-
zelnen Stufen muß eine Reihe gleichzeitiger Kriterien zu verschie-
denen Zeiten nach der Nahrungsaufnahme herangezogen werden,
die je Auskunft über eine Seite der Zellarbeit geben: mikroskopıi-
sches Bild, Fermentgehalt des Extraktes, Fermentgehalt des Sekretes
(wie dies in meiner Arbeit 1915 zum erstenmal ausgeführt wurde).
Bei Wirbellosen ist bisher (außer ın obiger Untersuchung) nur
ein einziges Kriterium auf beliebiger Stufe angewandt; bei Wirbel-
tieren fehlt es auch noch an Untersuchungen, die möglichst viele
Erscheinungsformen der Arbeit gleichzeitig beobachten. So bın
ich gezwungen, für die Darstellung des Arbeitsrhythmus aus ver-
schiedenen Arbeiten verschiedene Kriterien, die zu verschiedener
Zeit angewandt wurden, zusammenzutragen. Trotzdem hoffe ıch,
ein ungefähr einheitliches Bild zeichnen zu können, zu dem mir
eine Unterlage in der Literatur nicht bekannt ist.
I;
Rhythmus.
Wir schreiten m der Darstellung des Arbeitsrhythmus von
weniger bekannten und einfacheren Verhältnissen bei Wirbellosen
fort zu a eizteren bei Säugetieren,
24) Auch Ellenberger u. Scheunert (vgl. Physiol. d. Haussäugetiere 1910,
S. 169): „In Wirklichkeit sind beide Stadien, das der Bildung und das der Abgabe,
nicht scharf voneinander getrennt. Bei manchen dauernd sezernierenden Drüsen
|wohl nicht nur bei diesen. H.) finden beide Vorgänge stets nebeneinander in den
Zellen statt, wenn auch abwechselnd der eine oder der andere Vorgang überwiegt.“
Diese Sätze enthalten in nuce bereits meine Anschauung des periodischen Wechsels.
25) Über en die bei Wirbellosen bisher nicht angestellt
wurden, s. Hirsch, G. O.,a. a. O. S. 995
50 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Astacus.
Die Verkettung der vier Sekretionsphasen ist an
mehreren Objekten beobachtet. Ich führe hier zunächst die Ent-
stehung des Sekretes ın der Mitteldarmdrüse des Flußkrebses an ?*),
Hier entwickeln sıch die Sekret- oder Blasenzellen aus sogenannten
Anfangszellen, die im Grunde des Drüsentubus liegen.
Die erste Sekretionsphase: die Rohstoffaufnahme, ist durch
Versuche mit Injektion von Eisenlösung in die Leibeshöhle nach-
gewiesen: das Eisen wird aus dem Blut, vermutlich gleichzeitig mit
anderen Stoffen, aufgenommen ?”).
Die zweite Sekretionsphase wird wahrscheinlich dadurch histo-
logisch offenbar, daß die Anfangszellen in das Stadium der „Fibrillen-
zellen“ übergehen: diese sind durch besondere Filamente ausge-
zeichnet, die sich meist ın der Mitte der Zelle parallel und längs
erstrecken. Vor allem färbt sich in diesem Stadium der Zellkörper
mit kernfärbenden Hämatinlösungen (nach Sublimatfixierung) „bei-
nahe ebenso dunkel“ wie das Chromatın des Kernes.
Die dritte Sekretionsphase zeigt sich in der Ausbildung feiner
Granula. Die blaufärbbare Substanz (Apathy’s Dreifachfärbung) ver-
schwindet allmählich und die rotgefärbten Granula werden immer
zahlreicher ?*).
Zuletzt lösen sich die Granula ın der vierten Phase auf, indem
sie „zu rundlichen Gruppen zusammentreten, um welche der Zell-
körper je eine helle Blase bildet. Die kleinen Blasen vereinigen
sich und es entsteht eine große Blase, welche bereits eine wohl-
unterscheidbare Membran erhalten hat, gewissermaßen eine intra-
zelluläre Kutikula, welche die Blase sehr scharf gegen den noch
übrig gebliebenen Zellkörper abgrenzt. Die große Blase drängt
den Kern, welcher bereits etwas kleiner geworden ist als ın der
Fibrillenzelle, immer mehr an die Basis der Zelle, buchtet ıhn ein
und gestaltet ıhn kuppenförmig. Zu dieser Zeit ist keine Spur
mehr von der stark blaufärbbaren Substanz vorhanden, hingegen
sind längs der Zelle, durch die Blase an die Seite gerückt, die
kaum färbbaren, glatten, stark lichtbrechenden Fibrillen noch immer
gut zu sehen, welche früher die stark färbbare Substanz einge-
scheidet hatten“. Der Akt der Ausstoßung des Sekretes ist sehr
merkwürdig: entweder platzen die Blasen und entleeren dadurch
26) v. Apathy und Bela Farkas, Naturw. Museumshefte (Siebenbürgischer
Museumsverein), 1. Bd., 1.—2. Heft, 1906, S. 130.
27)'Cuenot, L., Arch. Biol.-T..13, 1895, S. 245. — Jordan, R., Arch. f.
ges. Physiol., Bd. 105, 1904, S. 365. — Zusammenfassung: Jordan, H., Vergl.
Physiol. Wirbelloser, Bd. 1, 1913, S. +10.
28) Martin Heidenhain würde diese Erscheinung so erklären, daß durch
das Anwachsen der Granula die Fibrillen nicht mehr darstellbar werden.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. Ay
ihren Inhalt in das Lumen der Drüse oder die reifen Drüsenzellen
werden ganz abgeschnürt und sind dann im Darm und Magen nach-
weisbar. —
Damit wäre zunächst der Sekretionsablauf in Gestalt einer ein-
zigen Periode beendigt. Er muß beendigt sein, wenn die Zellen
ganz abgeschnürt werden (einperiodischer Rhythmus); er kann
jedoch im Falle der -Blasenabschnürung vielleicht ın eine zweite
Periode mit denselben vier Phasen übergehen (mehrperiodischer
Rhythmus). Genaueres wissen wir leider nicht.
Beobachtet ist in diesem Falle also eine typische Sekretions-
periode in vier Phasen, während wir über den weiteren Verlauf
des Sekretionsrhythmus keine Nachrichten besitzen.
Insekten.
Im Mitteldarm der Insekten sind solche Sekretionsphasen nicht
beobachtet, dagegen ist ein Rhythmus bestimmter aufeinanderfolgen-
der Perioden sehr wahrscheinlich gemacht.
Im allgemeinen ist die Arbeit der Mitteldarmzellen bei Insekten
ein Rhythmus, der (abgesehen von anderen Arbeiten) in Perioden
von Sekretion und Resorption zerfällt?°.. Haben die Zellen diesen
Rhythmus wiederholt durchgemacht, so werden sie zuletzt beim
Sekretionsvorgang zugleich mit ihrem Sekret abgeschnürt. — Es
gibt aber auch Insekten, bei denen beobachtet wurde, daß offenbar
jeder Sekretionsvorgang in emer Loslösung des gesamten Darm-
epithels besteht: in einem rhythmischen Wechsel von Loslösung
verbunden mit Sekretion, und dann Erneuerung des Epithels aus
stehengebliebenen Regenerationsherden verbunden mit Resorption.
Physiologische, experimentelle Untersuchungen fehlen leider noch
in diesen Fällen; es ist nur morphologisch bei vielen Tieren beob-
achtet, daß eine rhythmische Abstoßung des Epithels wahrschein-
lich einen Sekretionsprozeß darstellt.
So ist der Darminhalt der Larven von Tenebrio molitor (Mehl-
wurm) von einer Hülle umgeben, die längsgeschichtet und in eigen-
artiger Weise gebaut aus einem „Sekret“ der Darmzellen mit zahl-
losen eingeschlossenen Zellresten besteht?°). Diese Nahrungshülle
wird gebildet durch „völlige Zerstörung der als Ganzes abgestoßenen
Epithelien, die... bei dieser Sekretion zugrunde gehen“, worauf
von bestimmten Regenerationspunkten aus immer wieder neue
Darmzellen gebildet werden. Es wird angenommen, „daß nach
Aufnahme von Nahrung der Prozeß der Zell-, Di- und Regeneration
29) Jordan und Steudel, Verhandl. d. deutsch. zool. Gesellsch. 1911,
S. 272. — Allgem. Darstellung dieses Zellarbeitsrhythmus: Jordan, H., Vergl.
Physiol. Wirbelloser 1913, Bd. 1, S. 599.
30) Biedermann, Arch. f. ges. Physiol. 1898, Bd. 72, S. 130.
van
El;
ungleich lebhafter und energischer erfolgen wird als sonst“, weil
bei Hungertieren sich klarere Zellbilder ım Mitteldarm ergeben als
bei gefütterten. In dieser „periodisch sich wiederholenden Des-
quamation des Epithels“ wird eine Sekretionsarbeit erblickt.
Fig. 1.
ER
Darmepithel
Membrana prop.
innere Längsmuskelm vr
Ringmuskeln =» ---
Zelle c*
Zelle b «
Regenerulionshendwarserernunssnnennsnensennnerennnnnen :
Fig. 1-4 Abstoßung des Mitteldarmepithels von Aydrophilus piceus.
1. Stadium (etwas schematisiert nach Rengel).
Fig. 2.
Darmepithel-------
Chitinmembran ı..,,
Membrana prop.*"""""
Schleim nun Bene h R
üussere Lüngsmuskeln“----+-+-------
»
RANDE j
Zellen. berissetar S%
Regenerationsherd ---+---=--+-- nen... >
2. Stadium.
Bei Myrmecophila®') wird sezerniert durch starke Vakuolen-
bildung ım Plasma der Darmzellen unter dem Stäbehensaum und
durch Auflösung des Zellkernes, wobei in den Vakuolen ein fein-
31) Schimmer, Fr., Zeitschr. f. wiss. Zool. 1909, Bd. 93, $. 497.
£
VA
/
! | G. Chr. Hirsch,
körniger Inhalt bemerkbar ist,
Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
2.4
53:
der ın das Lumen austritt. Dabei
büßt das Protoplasma „seine streifige Natur, die es in ruhendem
Zustande besitzt, völlig ein“, „es ıst verschwommen krümelig und
namentlich über den Kernen stark alveolär“.
untersuchungen übeı das Ver-
halten des Darmepithels wäh-
rend einer Verdauungszeit
nicht angestellt worden; von
25 Individuen befand sich je-
doch bei 10 das Darmepithel
in völliger Auflösung, bei 8
hatte die Auflösung eben be-
gonnen und war nahezu be-
endigt, woraus man allerdings
auf einen schnellen Wechsel
zwischen Zellabstoßkung und
Zellneubildung raten kann,
ohne damit die sekretive Funk-
tion dieses Prozesses zu be-
weisen.
Einen Schritt weiter gehen
die Beobachtungen an Aydro-
philus®?), welche einen perio-
dischen und viel komplizier-
teren Abstoßungsprozeß des
Darmepithels beschreiben und
als Sekretion deuten. Der
Regenerationsherd des Darm-
epithels ıst hier in geson-
derten, kleinen Darmdiver-
tikeln gelegen, welche in
den meisten Funktionsstadien
gegen das Lumen des Darmes
geschlossen sind und das
Darmepithel nach seiner Ab-
stoßung offenbar sofort er-
Setzen.
Erstes Stadium (Fig. 1).
Die „Regenerationsdivertikel*
sind nach dem Darmlumen zu
geöffnet.
Auch hier sınd Stufen-
Darmepithel
Chitinmembran
Membrana: prop.
kingmuskeln‘
Schleim
Zellen ce
Zellen base Je
Regenerationsherd un
äussere Längsmuskeln
7 ith een WEIL LIFT
Darmepithel De 2
& h J4 9 #77 ”
Chitinmembran NE FE BG
Sehleims---.--....2...- 4
Zellen c als neues Darm-
epithel
Membrana prop.
VAN EL DK
Zellen. bu. Aleaerne £ r
Regenerationsherd.--...,
S
äussere Lüngsmuskeln ---.. 2» RS:
(05) &p 3
4. Stadium.
An der Wand ıhres Blindsackes sind drei Arten Zellen
zu erkennen: am Boden des Sackes zahlreiche embryonale Zellen
mit Karyokinesen: der Regenerationsherd; weiter oberhalb lang-
32) Rengel, C., Zeitschr. f. wissensch. Zoologie, 1898, Bd. 63, S. 445.
\
54 @. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
gestreckte Zellen (b); am Halse des Blindsackes Zellen, welche sich
mit Hämatoxylın auffallend färben und auf diesem Stadium un-
mittelbar in die Darmepithelzellen: übergehen (ce).
Zweites Stadium (Fig. 2). Die Darmepithelzellen ziehen jetzt
über die Öffnung des Divertikels hinüber und sondern an ihrer
Basis eine „starke Chitinmembran“ ab, welche sich auf die ursprüng-
liche Membrana propria auflegt. Ferner sondern die Zellen (c) am
Hals des Divertikels in das Lumen ein Sekret ab, welches das
Lumen fast ausfüllt; es soll mit dem eigentlichen Verdauungssekret
nicht identisch sein. |
Drittes Stadium (Fig. 5). Die äußeren Längsmuskeln pressen
jetzt die Divertikel, welche schon durch die Ringmuskeln gegen
das Darmlumen gedrängt wurden. zusammen (das Nähere über diese
Mechanik macht R. wahrscheinlich) und bewirken so einen Innen-
druck im Divertikellumen, der verursacht, daß die Chitinmembran
der Darmzellen sich von der Membrana propria abhebt und das
Sekret des Divertikels in den neu entstandenen Hohlraum über-
tritt. So wird allmählich das gesamte Darmepithel abgehoben.
Viertes Stadium (Fig. 4). Zugleich werden die Zellen (c) am Halse
des Divertikels herausgehoben und treten an die Stelle der Darm-
zellen, iudem sie sich als ein niedriges Epithel ausbreiten. Die
tiefere Lage Zellen bleibt ım Divertikel zurück und bildet dort die
Halszellen der nächsten Absonderungsperiode.
Dieser Vorgang soll sich „in der Zeit des lebhaften Stoffwechsels,
in der Zeit der Fortpflanzung in Abständen von nur 36 Stunden“
periodisch wiederholen. Es ist sehr wahrscheinlich, daß es sich
um einen Sekretionsprozeß handelt.
Ich habe diesen Beobachtungen deshalb besonderen Raum ge-
gönnt, weil hier ein Fall vorliegt, in welchem eine periodische
Tätigkeit der Darmzellen beobachtet ist; ein Rhythmus von einer
Periode Sekretion ‚und einer Periode Resorption spielt sich hier
offenbar binnen 36 Stunden in einer Zelle, bezw. in einem Organ
ab. Er tritt uns in der Sekretionsperiode durch seine morpho-
logischen Veränderungen besonders entgegen. Aber es fehlt leider
noch vieles an einem klareren Bilde des Arbeitsablaufes: vor allem
die genaue Scheidung zwischen Resorptions- und Sekretionsperiode
und eine Kenntnis der innerhalb jener Perioden verlaufenden Ar-
beitsphasen °°).
Gastropoden (Pleurobranchaea).
Die Zellen der Mitteldarmdrüse der Pleurobranchaea°*) sınd
zum Studium des Sekretionsablaufes besonders geeignet, weil das
33) Ich bin eben an solchen Untersuchungen beschäftigt, die sich jedoch durch
den Krieg in die Länge ziehen.
34) Hirsch, G.C., Zool. Jahrb. Abt. Phys. d. Tiere, Bd. 35, 1915, S. 440—504.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 55
Ferment an gelbe Granula gebunden ist, deren Werden und Lösung
auch ohne Färbung gut zu erkennen sınd. Die Drüsen sınd mikro-
skopisch und chemisch stufenweise untersucht worden. Die ferment-
führenden Granula entstehen in besonderen Zellen der Mittel-
darmdrüse ın Gestalt feinster dunkler Punkte, die zu Haufen in
einem Plasmahof liegen (Fig. 5). Die Anzahl dieser Körner ver-
mehrt sich, der Durchmesser wächst, bis sıe schließlich zu einer
Morula geballt einen solchen
Plasmahof ausfüllen. Bei Fig. 5. Dee
der Auflösung wird jede Bil
Morula oder jedes einzeln
liegende Korn von einer
Längsvakuole umgeben
(Fig. 6); die feine Punk-
tierung der Körner schwin-
det, wie leuchtende Ol-
tropfen liegen sie in der
Vakuole, lösen sich in ıhr,
so daß dann nur noch die
großen Vakuolenblasen ın
der Zelle übrig bleiben, die
dem Gewebe ein siebartiges
Aussehen geben. — Es
gibt aber noch eine zweite
Art der Auflösung: die >7%
Morulae treten aus der Zelle Pleurobranchaea meckeliü, Kleinkernzelle der
heraus; dann lösen sich im _ Mitteldarmdrüse. Fig. 5: Hungerperiode
Magensaft die einzelnen mit allen drei Bildungsstadien des Sekretes. —
Sekretkugeln innerhalb des Fig. 6: Sekretionsperiode mit allen drei
I bandeeri leuch Auflösungsstadien des Sekretes. (Entnommen
aus Hirsch, Zool. Jahrb. Abt. Phys. Bd. 35,
tenden Blasen, der Verband 1915, 8. 478.)
reißt und die Blasen platzen,
ihren Inhalt in den Magensaft ergießend.. Wir können also
zwischen einer intra- und extrazellulären Lösung der Fermentkugeln
unterscheiden.
Die oben genannten vier Sekretionsphasen zeigen sich an
folgenden Erkennungsmerkmalen:
1. Aufnahme von Rohstoffen: Kein unmittelbares Merkmal;
mittelbar: Homogenität des Plasmas.
2. Bildung der Vorstoffe: Ein mit Hämatoxylin besonders färb-
bares verästeltes Gerüst im Plasma wird erkennbar; Vorstoffe?
3. Bildung der Granula: Feinste Körnchen bis dunkelgelbe
Körner, oft in Morulaform zusammenliegend.
4. Abscheidung des Fermentes: a) intrazelluläre Lösung der
Granula in einer Lösungsvakuole; b) extrazelluläre Lösung im
Bl Ar
Se DE
RR Ede IG 2 Ar VERTZRREEENE
P N ARTE Me f
56 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Magensaft. In beiden Fällen entstehen leuchtende Blasen, die
platzen und deren Inhalt ein Ansteigen der Fermentkraft im Magen-
saft hervorruft.
Nach der Nahrungsaufnahme beginnen die Sekretkörnerzellen
auf irgendeinen Reiz der Nahrung hin zu sezernieren; es lassen
sich darauf bis 10 Stunden nach der Nahrungsaufnahme mehrere
Sekretionsperioden unterscheiden, welche wieder in jene oben ge-
nannten vier Phasen zerfallen. Der Zeitpunkt für die Grenzen der
einzelnen Perioden tritt in den Drüsen und ım Saft zu recht ver-
schiedener Zeit auf, weil bei Gastropoden die Fermentwirkung im
Magen der Fermentmobilmachung in der Drüse immer erst in einem
gewissen Abstande folgt (Fig. 7).
Die Hungerperiode. Unter diesem Begriff verstehe ich die-
jenige Periode, bei der in der dritten Arbeitsphase das
Ferment, gebunden an Granula, gespeichert wird; es tritt
also die vierte Phase nicht ein, sondern die Drüse „ruht“, bis ein
von außen sie treffender Reiz die vierte Arbeitsphase auslöst. Das
erste ausfließende Sekret ıst also nicht während der Verdauungs-
zeit gebildet worden, sondern gehört seiner Entstehung nach zur
Hungerperiode.
Fig. 5 und 8 zeigen das typische Bild einer Mitteldarmdrüse
des Hungertieres: Viele Granula, z. T. in Form einer Morula ge-
ballt, ach ın dem homogenen Plasma eingebettet; teilweise läßt
sich ein Bllbers feiner, Keller Hof um sie a Die Zelle be-
findet sich also in der dritten Phase der Hungerperiode.
Trifft nun ein (uns noch unbekannter) Nahrungsreiz das Organ, so
setzt die Abscheidung des Sekretes ein: die vierte Phase, die sich
in den hellen Höfen des Plasmas, den Lösungsvakuolen offenbart
(Fig. 9). Schon bei schwacher Vergrößerung zeigt sich das Gewebe
von großen Vakuolenblasen siebartig durchlöchert. Das im Hunger
Bespeicherte Ferment ıst binnen etwa einer halben Stunde hinaus-
befördert worden.
Der Extrakt aus der Mitteldarmdrüse enthält beim Hungertier
durch die vielen Granula eine starke Protease (Fig. 7a). — Je mehr
Ferment nun aber auf den Reiz der Nahrungsaufnahme hin aus
den Zellen entfernt wird, desto mehr sınkt der Fermentgehalt des
Drüsenextraktes, bis er eine Stunde nach Nahrungsaufnahme seinen
geringsten Wert erreicht hat, zu einer Zeit, in der bereits lebhaft
frische Granulazellen gebildet werden.
Der Magensaft des Hungertieres enthält kein Ferment (Fig. 7b);
die in ıhm enthaltenen Granula, die vermutlich während des Hungerns
abgeschieden wurden, sind zerfallen oder zeigen sonst Eigenschaften,
die mit der normalen extrazellulären Lösung nichts zu tun haben.
— Nach Nahrungsaufnahme dagegen werden viele Granula in
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 57
Morulaform in den Magen ausgestoßen, die sich dort langsam, un-
gefähr binnen 2 Stunden, zu hellen Blasen lösen und platzen. Erst
nach ihrer Lösung, also nach 2—3 Stunden, macht sich ein starkes
Ansteigen der Fermentkraft im Magensaft bemerkbar, welche nach
Fig. 7a.
£rsteSekr Periode Zweite Sekr Periode
—
3. Phase
S
Anzahl der Verdauungsstunden
mBT 2 3.0.09, 6.,(7 (9. (9 10® Hunger
Stunden nach der Nahrungsaufnahnte
Protease im Extrakt der Mitteldarmdrüse von Pleurobranchaea.
Periodisches Schwanken der Fermentkraft.
Ordinate: Zeit nach der Nahrungsaufnahme.
Abszisse: Anzahl der Stunden, welche die Protease brauchte, um Karminfibrin
bei natürlicher Reaktion zu verdauen (Durchschnitt aus je drei Versuchen); damit
ungefähre Angabe der Fermentkraft, die umgekehrt proportional der Stundenanzahl
ist (daher stehen die Zahlen an der Abszisse in umgekehrter Reihenfolge als gewöhnlich).
Fig. Tb.
Hungerperiode Erste Sekretionsperiode
S
gs 8
Anzahl. der Veraauungsstunden
NEE
lergeung Ha 2 7 2: 3 (HH 6 (N & (Y 70 Hunger
Siuroen nach der Wahrungsaufmahme
Protease im Magensaft der Pleurobranchaea.
Periodisches Schwanken der Fermentkraft. Erklärung wie Fig. 7 a.
Nebenbei ist aus beiden Kurven ersichtlich, wie die Fermentwirkung im Magen der
Fermentmobilmachnng in der Drüse erst in einem Abstand von einigen Stunden folet.
3 Stunden eine bedeutende Höhe erreicht. Die langsame Lösung
der Granula im Magen bringt es mit-sich, daß die Wirkung
des einst in der Hungerperiode erzeugten Fermentes erst in der
92. und 3. Stunde nach Nahrungsaufnahme bemerkbar wird. Somit
38. Band 5 t
55 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
liegt also zwischen dem Ausstoßen eines Granulum und seiner Wir-
kung ein Zeitraum von 2—3 Stunden, was bei der Beurteilung der
Kurve des Magensaftes von Bedeutung ist.
Hungerperiode | I. Sekretionsperiode
| 3. Phase
3. Phase 4. Phase |
Hungertier
Fig. 8. Fig. 9. Fig. 10. Rigssanl.
II. Sekretionsperiode
4. Phase | 3. Phase | 4. Phase
Fig. 12. Fig. 13. Fig. 14.
Pleurobranchaea meckelii, Kleinkernzelle der Mitteldarmdrüse, Sekretionsablauf
innerhalb der Zelle in der Zeit vom Hungertier bis 10 Std. nach Nahrungsauf-
nahme. (Aus Hirsch, Zool. Jahrb. Abt. Physiol. Bd. 35, S. 482.)
Erste Sekretionsperiode. Als Sekretionsperioden bezeichne ich
diejenigen Perioden, deren erste Stadien während des Ver-
dauungsablaufes abrollen, also auf die Hungerperiode folgen,
die nun abgelaufen ist.
Ungefähr 1 Stunde nach Nahrungsaufnahme muß in den Zellen
ein neuer Sekretschub gebildet werden, soll nicht die Sekretion
versiegen; das ıst der sichtbare Anfang der 1. Sekretionsperiode.
Bereits !/, Stunde nach Nahrungsaufnahme zeigen sich kleine,
mit Hämatoxylin färbbare, verästelte Gebilde im Plasma, vielleicht
Vorstoffe der Granula. Während die 4. Phase der Hungerperiode
überwiegt, arbeitet also die Zelle schon an der 2. Phase der folgen-
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 59
den ersten Sekretionsperiode. Nach.1 Stunde (Fig. 10) sind die
ersten Bildungsstadien der 3. Arbeitsphase sichtbar: feine Körnchen,
oft zusammengedrängt. Nach 2 Stunden (Fig. 11) sind die gelben
Fermentkugeln gebildet, zum Teil in Morulaform, Bilder, dıe denen
der Hungertiere gleich sind: damit ist die 3. Phase der ersten
Sekretionsperiode beendigt. — Nach 3 Stunden (Fig. 12) werden
die Granula ausgestoßen: das Gewebe ıst zum Teil siebartig durch-
löchert, jede Sekretzelle enthält zahlreiche, große Sekretvakuolen,
während intakte Granula nicht mehr sichtbar sınd: die 4. Phase
überwiegt. Damit ist die 1. Sekretionsperiode in den Zellen abge-
schlossen.
Je mehr Granula vollendet werden und sich schließlich nach
3 Stunden lösen, um so höher steigt die Fermentkraft des Extraktes
(Fig. 7a) und erreicht nach 3 Stunden den Höhepunkt. Sobald aber
alle Granula der ersten Sekretionsperiode aus den Zellen entfernt sind
(in der Zeit der 3.—6. Stunde), sinkt die Kraft der Protease wieder
(4. Phase). So ist für die Extraktprotease einer einzigen Sekretions-
periode eine Kurve charakteristisch, die einmal hinauf und einmal
hinuntergeht. Es wurde hier erstmalig nachgewiesen, daß mehrere
solche Perioden ın einer Drüsenzelle während der Verdauung statt-
finden können.
Die Granula der ersten Sekretionsperiode treten ın der 3. Stunde
in den Magen über und lösen sich hier, wie gesagt, langsam. Die
Fermentkraft des Magensaftes (Fig. 7b) ıst um diese Zeit von der
Hungerperiode her noch recht hoch, sinkt dann rasch und steigt
nach Lösung der Granula zwischen der 6.—10. Stunde empor; leider
habe ich zwischen diesen beiden Zeitpunkten keine Stufenunter-
suchungen gemacht. Es scheint jedoch im Magensaft die erste Sekre-
tionsperiode erst nach 10 Stunden beendet zu sein.
Zweite Sekretionsperiode. Bereits nach 3 Stunden zeigen sich
in den Drüsenzellen die zahlreichen mit Hämatoxylın gefärbten ver-
ästelten Gebilde, die stellenweise wie ein Schwammgitterwerk aus-
sehen, und in der Nähe des Kernes feinste Körnchen: die zweite
Sekretionsperiode beginnt (Fig. 12) noch während die Granula der
1. Sekretionsperiode sich lösen. — Nach 6 Stunden finden wir die
verästelten Gebilde geschwunden, dafür zahlreiche fertige Granula
in den Zellen, oft ın Morulaform (Fig. 13) und nach 10 Stunden
(Fig. 14) sind diese Granula der zweiten Sekretionsperiode gegen das
Lumen zu von einem Lösungshof umgeben, zu Blasen umgewandelt
oder ausgestoßen. Damit ist in der Zelle die zweite Sekretions-
periode fast vollendet.
Entsprechend dem Wachstum der Granula steigt die Ferment-
kraft des Drüsenextraktes (Fig. 7a) in der Zeit von 6—10 Stunden
wieder erheblich an. Wenn die Granula in der 10. Stunde zum
dritten Male ausgestoßen werden, dann muß auch (nach unseren
5*
60 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
bisherigen Erfahrungen) die Kurve der Extraktprotease entsprechend
sinken, wenigstens auf jene Höhe wie beim Hungertier. Unter-
sucht ist dieser weitere Kurvenverlauf noch nicht.
Im Magensaft fand ich nach 10 Stunden nochmals frische
Granula: die Produkte der 2. Sekretionsperiode; sie werden gelöst,
so daß nach 1—3 Tagen keine intakten Granula mehr im Magen-
saft aufzufinden waren. Die Fermentkraft ist später als nach
10 Stunden noch nicht gemessen. Es ist möglich, daß man noch
klare Kurven nach dieser Zeit erhält; es ıst aber wahrscheinlicher,
daß die Wirkungen der einzelnen Sekretionsperioden sich störend
beeinflussen, so daß keine klare Kurve mehr entsteht. — —
Der Rhythmus der Sekretionsarbeit besteht bei Pleuro-
branchaea während einer 10stündigen Verdauungszeit aus
der 4. Phase der Hungerperiode und aus zweı darauf-
folgenden Sekretionsperioden. Einen ähnlichen Verlauf haben
die Kurven der drei Verdauungsdrüsen und des Magensaftes der
Murex. auf deren Darlegung ich hier verzichte, weil noch keine
entsprechenden histologischen Stufenuntersuchungen gemacht sınd.
In diesen Fällen diente eine Mactra als Nahrung, die binnen
1 Minute verschlungen wurde; es ıst wahrscheinlich, daß auf mehr
Nahrung sich noch mehr Perioden zu einem Rhythmus einen. Auch
der Zeitpunkt des Einsetzens der auf die Sekretionsperioden folgen-
den Hungerperiode ist noch nicht festgestellt. — —
£ *
Hauptzellen des Magens beim Hunde, der Ziege
und dem Schweine.
Der Wechsel des Zellbildes und die Kurve des Fermentgehaltes
ım Hundemagen sind seit einiger Zeit bekannt. Zuerst wurden die
morphologischen Veränderungen nachgewiesen und sind heute in
jedem Lehr- und Handbuche der Physiologie nachzulesen °°); man
behauptet ein einmaliges Lösen und Neubilden der Granula während
der Verdauungszeit.
Die Änderungen der Fermentkraft im Magensaft stimmen nicht
mit dieser Ansıcht überein; sie zeigen vielmehr ın einer großen
Anzahl Versuche (vor allem der Petersburger Schule°®), daß die
Fermentkraft auf die meisten angewandten Erreger hın folgender-
35) Metzner in Nagel’s Hdb. d. Physiol., Bd. 2, S. 1004. — Noll, Ergebn.
d. Physiol. Bd. 4, 1905, S. 108.
36) Neuerdings sind die zahlreichen Dissertationen der Pawlow’schen Schüler,
die in russischer Sprache geschrieben unzugänglich sind, zusammengefaßt in dem
Werke: Babkin, Äußere Sekretion der Verdauungsdrüsen, Berlin 1913. Es ist als
Quelle sehr wertvoll und hier hauptsächlich benutzt, währen( es durch unklare An-
ordnung und oberflächliche geistige Verarbeitung leidet.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 61
maßen schwankt ?”) (Fig. 15): anfangs steigt sie stark; sinkt dann ab,
um wieder zu steigen; sinkt und steigt meist nochmals, um zum
Ende des Verdauungsablaufes endgültig abzusinken. Die Ferment-
kraft ergibt also eine weit kompliziertere Kurve, als die histologi-
schen Bilder der Granula vermuten lassen. Trotzdem gelingt es,
beide Forschungsergebnisse ungefähr zur Deckung zu bringen, wenn
man sich die Erfahrungen an Pleurobranchaea vergegenwärtigt,
Die Hauptfrage ist: Ist diese komplizierte Kurve der Fer-
mentkraft nur auf bestimmte Reize und Hemmungen zurückzu-
führen, welche die Zellen treffen, so daß diese entsprechend Fer-
ment abscheiden oder zurückhalten müssen (wie angenommen wird)?
Oder ıst sie neben der Reizwirkung auch der Ausdruck einer auto-
nomen periodischen Zellarbeit? Diese Frage soll das vergleichende
Kapitel lösen; hier folgen: zunächst die Tatsachen.
Wir beschränken uns dabeı auf die Proteasebildung; Wasser-
abgabe dagegen nebst Säurebildung der Magenzellen bleiben außer-
halb der Darstellung, weil sie einem anderen Arbeitsablauf angehören.
Ferner bitte ich zu beachten, daß eine genaue Zeitspanne für die
Perioden nicht angegeben werden kann, weil das Tempo der Ab-
sonderung — wie gesagt — je nach den Reizen recht verschieden ist ?®).
*
Als Erkennungsmerkmale der vier oben genannten Sekretions-
phasen gelten °°):
1. Aufnahme von Rohstoffen: kein Merkmal.
2. Bildung von Vorstoffen: körnige Trübung des Plasmas im
Alkoholpräparat; färbbar ın Karmin und Anilinblau.
3. Bildung des Vorferments: hellere Granula ohne Färbbarkeit
mit diesen Farbstoffen.
4. Abscheidung des Sekretes: Ansteigen der Fermentkraft ım
Magensaft; an Stelle der gelösten Granula tritt körniges Plasma.
Den Beweis für die Richtigkeit dieser Merkmale liefert Heiden-
hain, auf dessen Untersuchungen unsere morphologischen Angaben
vor allem fußen *%). Die Schwierigkeit, aus dem Zellbilde auf die Zell-
arbeit zu schließen, beruht vor allem, darin, daß die Zelle zu keiner
Zeit der Verdauung nur an einer einzigen Phase beschäftigt ıst; es
überwiegt jedoch immer eine Phase, wie uns auch Pleurobranchaea
37) Ein Schwanken der Fermentkraft bei Speicheldrüsen ist bisher m. W. nicht
beschrieben.
38) Bereits von R. Heidenhain, Hermann’s Hdb. d. Physiol. Bd. 5, 1,
S. 144 betont. — Noll u. Sokoloff. Arch. f. [Anat. u.) Physiol. 1905, lehnen aus
denselben Gründen jede Zeitteilung ab; beachtet man jedoch gleichzeitig die Ferment-
kurven, so kann man ungefähr eine Zeitspanne angeben.
39) R. Heidenhain, a.a. O. S. 146.
40) Außer Noll, a.a. ©. und Ergebn. d. Physiol., Bd. 4, 1905.
42 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
zeigte, so daß wır wenigstens aus dem Sekret, meist auch aus dem
Zellbilde, eine periodische Arbeit schließen können.
ae
Diese besteht zunächst in der Hungerperiode (Definition S. 56).
l. Die Bildung und Speicherung der Granula (3. Arbeits-
phase). Im Hungerzustande ist der Magen leer, sein Schleim zeigt
alkalısche Reaktion: es wird also nicht sezerniert*).
Auch Rudolf Heidenhain*?) gibt an, daß das Hungertier nicht sezerniere;
er zeichnet aber in der Kurve seiner Figur 39 unter 0. Stunden, also beim Hunger-
tier, eine mittelstarke Fermentkraft ein, ohne anzugeben, wie er zu dieser Zahl
kommt; seine Untersuchung beginnt natürlich nicht beim Hungertier, d.h. das Tier
hungert nicht, „wenn die Mahlzeit auf eine vorangegangene sobald folgte, daß der
Blindsack noch in der Absonderung begriffen war“. Es müßte demnach auch
Heidenhain’s Kurve bei 0 Stunden mit 0 Ferment beginnen. Das’ ist für die
nächste Periode zu beachten.
Morphologisch wurde gefunden *), daß die Hauptzellen des
Fundus und Pylorus hell und groß sind, mit Karmin und Anılin-
blau nicht färbbar. Die Granula sind ansehnlich und erfüllen die
ganze Zelle. „Während des Hungerzustandes wird das eiweißreiche
Protoplasma zum großen Teil allmählich in Ferment oder doch ın
die fermentbildende Substanz umgesetzt. In dem Maße als das
geschieht, werden die Zellen heller und verlieren ıhre Färbbar-
keit“ **).
2. Die Abscheidung des Fermentes (4. Arbeitsphase). Zwei
Reize lösen bekanntlich die Abscheidung des Sekretes innerhalb der
ersten Verdauungsstunde aus: der psychisch-nervöse Reiz, empfangen
durch die aus der Ferne erregten Sinnesorgane Auge und Ohr, geleitet
durch die Großhirnrinde, assozuert mit eingefahrenen, erworbenen
Vorstellungen; zweitens der nervöse Reiz des im Munde bewegten
und durch den Oesophagus geschobenen Nahrungsbrockens, ohne
Beteiligung der Großbirnrinde, eine ererbte Reizbahn. Binnen der
ersten Verdauungsstunde tritt sicher noch ein dritter Reiz hinzu:
der chemische vom Pylorus aus®), hervorgerufen wohl vor allem
durch Extraktivstoffe des Fleisches und durch Eiweißabbauprodukte.
Die Wirkung dieser drei Reize auf die Magendrüsen läßt sich
zunächst morphologisch nachweisen; sie besteht — wie bei viel-
41) Babkin, Äußere Sekretion der Verdauungsdrüsen, 1913, 8. 95 -
42) R Heidenhain, a a.O., Hermann’s Hdb.d Physiol., Bd. 5,1, S. 157.
43) R. Heidenhain, a.a.O., S 143, 145, 146. — Noll u. Sokoloff, Arch.
f. |Anat u.) Physiol. 1915, wo die weitere Literatur angegeben ist.
44) R. Heidenhain, a.a.O., S. 146.
!5\ Das Nähere dieser oft noch strittigen Fragen nach den Wegen der Reize
soll uns hier nicht interessieren, wo es sich vor allem um die Periodizität der Zell-
arbeit handelt und um die Frage, durch was sie bewirkt wird; da können wir be-
obachtete Reizwirkungen innerhalb eines Zeitabschnittes als gegeben hinnehmen.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 63
leicht allen Reizen — in einem Abbau **) der gespeicherten Sub-
stanz: derGranula. R. Heidenhain faßt die ersten 6 Verdauungsstunden
als einen einzigen Abschnitt zusammen; man kann jedoch auf Grund
seiner eigenen Beobachtungen auf einfache Weise hier genauer teilen.
Er gibt an, daß die körnige Trübung des Plasmas, also die Bildung
der Vorstoffe (unsere 2. Arbeitsphase) bereits nach 2—4 Stunden
auf voller Höhe stehe. Zwischen der oben geschilderten 3. Phase
der Hungerperiode und dieser 2. Phase muß sich aber notwendig
eine 4. Phase der Hungerperiode und eine 1. Phase der ersten
Sekretionsperiode einschieben, denn auf eine 3. Phase kann keine 2.
unmittelbar folgen; daß eine solche 4. Phase der Hungerperiode
einsetzt, werden wir aus dem’ starken Fermentgehalt des Sekretes
sehen. Wenn wir also in der zweiten bis vierten Verdauungstunde eine
überwiegende Bildung der Vorstoffe beobachten, so kann dies nur
geschehen, wenn vorher der Platz für diese Vorstoffe geräumt wurde.
Deutlich soll allerdings der Granulaschwund in den ersten Ver-
dauungsstunden nicht sein *). Sollte sich diese Beobachtung weiter
bestätigen, was mir wahrscheinlich ist, dann wäre angesichts der
bedeutenden abgeschiedenen Fermentmenge nur die Erklärung mög-
lich, daß zu dieser Stunde ebensoviele Granula an der Basis der
Zelle gebildet werden, wie am Zellende gelöst wurden.
R. Heidenhain schreibt*®): „Bei Anfüllung des Magens beginnt nun die
sekretorische Tätigkeit desselben [bereits früher auf Grund der nervösen Reize] *),
bei welcher zwei zueinander in engster Beziehung stehende Prozesse Hand in Hand
gehen: die Umwandlung der pepsinogenen Substanz in Pepsin und die Ausscheidung
des letzteren einerseits [4. Phase) — die Aufnahme neuer Albuminate und damit ein-
hergehende Vermehrung der Protoplasmas zum Zwecke neuer Fermentbildung
andererseits [1. u. 2. Phase. Das Aussehen der Zelle ist durch das Verhältnis
beider Prozesse zueinander bestimmt, insofern als das Volumen der Zelle von dem
Verhältnis der Aufnahme zur Abgabe abhängt |?], der Grad ihrer Trübung von ihrem
Reichtum von noch nicht umgesetzten Albuminaten (an Protoplasma).“ Die Ver-
größerung des Volumens ist später nicht mehr beobachtet®”); das Zellvolumen er-
scheint mir auch kein Kriterium für die eigentliche in Frage stehende Zellarbeit:
für die Fermentbereitung. zu sein, weil es vor allem vom Wassergehalt der Zelle,
also von einer anderen Arbeit abhängt. Deshalb ist auch der Heidenhain’sche
Schluß unrichtig, daß die Vergrößerung der Zelle beim Beginn der Absonderung
ein Zeichen für das Überwiegen der Aufnahme über die Abgabe sein soll. Vielmehr
ist zu bedenken, daß in der nächsten Periode nach morphologischem und chemischen
Urteil die Auen über die Abgabe überwiegt; da nun gleichzeitig in der näch-
sten Periode die Abgabe erheblich sinkt, so ist sie wahrscheinlich in dieser Hunger-
periode zum Schluß mindestens gleich der Aufnahme, wenn nicht größer, sofern die
Aufnahme sich gleich bleibt.
46) Verworn, Erregung und Lähmung, Jena 1914, S 81.
47) Noll u. Sokoloff, Arch. f. [Anat. u.] Physiol., 1905, S. 121. Die Proben
der Magendrüsen wurden Hunden mit Magenfistel auf 3 Verdauungsstufen entnom-
men, leider ohne ne der Fermentkraft.
48) a.a.0., S. 146.
49) Das in [| stehende ist Einfügung von mir,
64 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. ı
Die Sekretion beginnt, nach Ausschaltung der psychisch-nervösen
Reizbahn 6— 8 Minuten nach Nahrungsaufnahme. Das Sekret, welches
in dieser 4. Phase der Hungerperiode ausgeschieden wird, besitzt
eine sehr gute Fermentkraft (Fig. 15) auf alle drei untersuchten
Erreger hin: Fleisch, Milch und Brot?®). R. Heidenhain gibt zwar
in seiner Kurve°!) ein Absinken der Fermentkraft an, was jedoch
nach seinen eigenen Angaben nicht möglich ist, wenn das Tier vor-
her hungerte (vgl. S. 62).
Mag er 1 Sekr. Periode 2.Sehr. Per. las? 2
Br Magensaft des Hundes während einer
Verdauungszeit (von mir konstruiert nach
Zahlenangaben von Chishin und Lobas-
sow, aus Babkin, a. a. O.).
Nach "normalem Fleischgenuß von
200 g Fleisch; Sekretion aus dem
isolierten kleinen Magen.
Nach Hineinlegen von 130 g Fleisch
in den Magen; Sekretion aus dem
isolierten kleinen Magen (chemischer
Reiz vom Pylorus aus).
| Fig. 15. 2 Kurven der Fermentkraft im
3 Phose IR
N
Fermentkraft
&
IS)
Ei
A ET Fe 336 RE 27272
Das in dieser Periode ausgeschiedene Sekret ist, wie oben dar-
gelegt, auf drei Reizbahnen erregt worden. Die einzelnen Reize
sind auch isoliert worden und das auf jeden Reiz abgeschiedene
Sekret wurde untersucht: dies führte zu folgender Aufklärung ’)
(Fig. 16): die Latenzzeit beider nervöser Reize beträgt 5-6 Minuten,
also ähnlich der bei normaler Nahrungsaufnahme; die Latenzzeit auf
chemischen Reiz vom Pylorus aus dagegen 30 Minuten; daraus folgt,
daß die Auslösung der normalen Fermentabgabe innerhalb der ersten
halben Stunde nur auf beide nervöse Reize zurückgeführt werden
kann, aber auch innerhalb der zweiten halben Stunde müssen die
beiden nervösen Reize noch nachklingen, denn die normale Ferment-
kraft ist höher als die allein auf chemischem Pylorusreize hervor-
gebrachte. Besonders beachtenswert scheint es mir: die Höhe der
Fermentkraft auf normalen Fleischgenuß bildet genau die Mitte
zwischen den auf die drei isolierten Reize hin erhaltenen Werte.
Daraus ergibt sich, daß die Auslösung der Fermentabgabe wesent-
lich von den beiden nervösen Reizen, die Menge des- abgegebenen
Fermentes ın diesem Falle dagegen von allen drei Reizbahnen ab-
hängt, da die gesamte gespeicherte Fermentmenge zur Verfügung
steht.
Über den Verlauf der Fermentkurve innerhalb der 4. Phase
der Hungerperiode erhalten wir ferner durch die zwei isolierten ner-
50) Babkin, Äußere Sekretion der Verdauungsdrüsen, 1913, S. 96.
5l) Heidenhain, Hermann’s Hdb. d. Physiologie, 5,1, S. 157. Vel. die
Widerlegung auf der vorigen Seite dieser Arbeit,
52) Babkin, a.a.O.,S. 105 u. 110.
mm
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 65
vösen Reizungen einen interessanten Aufschluß (Fig. 16,....... und“. 2):
Während der ersten Stunde schwankt die Fermentkraft auf beide
nervöse Reize hin parallel: sie ıst in der zehnten Minute am größten,
sinkt bis zur dreißigsten Minute und steigt bis zum. Ende der ersten
Stunde. Was dann aus der Fermentkraft auf den nervösen Reiz
hin wird, gibt Babkin nicht an; auf psychisch-nervösen Reiz hin
hört jedenfalls nach 1 Stunde 20 Minuten die Sekretion auf, also
sinkt die Fermentkraft auf 0. Dies parallele Schwanken muß einen
Fig. 16.
0 10’ 20' 50' 0 50' 1b 1m’ 20' 30' 40' 50’ 2%
a
R
Fermenkraft [ in mm der Mettschen Röhre)
N
4 Kurven der Fermentkraft im Magensaft des Hundes binnen 2 Stunden nach
Nahrungsaufnahme (von mir konstruiert nach Zahlenangaben von Chishin, Sanozki,
Ketscher und Lobassow, aus Babkin a. a. O).
Nach normalem Genuß von 200 & Fleisch; Sekretion aus dem isolierten
kleinen Magen.
Nach 5 Minuten langer Reizung durch den Anblick und Geruch von Fleisch
(psychisch-nervöse Bahn).
---- Nach 15 Minuten langem nervösem Reiz vom Mund aus bei einem Ööso-
phogotomierten Hunde.
+++ Nach Hineinlegen von 130 g Fleisch in den RE Sekretion aus dem
isolierten kleinen Magen ( (chemischer Reiz).
Grund haben; es ist entweder auf den inneren Zellarbeitsrhythmus
zurückzuführen oder darauf, daß beide Reize nervöse Reize sind,
also auf die spezifische Eigenschaft eines nervösen Reizes; ein Ver-
gleich mit einem chemischen Reiz ist noch nicht möglich, da in
keinem solchen Falle Stufenuntersuchungen in 10 Minuten Abstand
angestellt wurden. Beachtenswert erscheint mir: beide nervöse
Reize wirkten auf die Drüse nur 6--15 Minuten, der zweite Auf-
stieg der Fermentkraft geschieht aber erst nach 30 Minuten —:
es müßte also, nach der zweiten Erklärung, eine Reizsteigerung im
Nerv zu einer Zeit auftreten, in der kein Reiz mehr den Nerven
trifft. Somit möchte ich folgern, daß diese Schwankungen ihre Ur-
sache nicht ım Reize, sondern vielleicht in dem inneren Zellarbeits-
rhythmus haben; doch sind sie noch nicht häufig und exakt genug
untersucht worden, um Schlüsse auf eine Periodizität zu dieser Zeit
66 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
ziehen zu können; ich nehme daher diese Beobachtungen nicht in
mein „periodisches System“ auf.
Erste, Sekretionsperiode. Als Sekretionsperioden bezeichne
ich wiederum diejenigen Perioden, deren Anfang während der Ver-
dauungszeit liegt (S. 58).
1. Das Vorwiegen der Bildung der Vorstoffe (1.—3. Ar-
beitsphase, c. 2.—4. Stunde). Die Wirkung der beiden nervösen
Reize ist ım isolierten Versuch nach 1—1!/, Stunden abgelaufen _
(Fig. 16); es ıst also anzunehmen, daß zur Zeit dieser ersten Sekre-
tionsperiode ausschließlich die chemischen Reize vom Pylorus’ her
einwirken, welche ım isolierten Versuch eine langandauernde und
che Sekretion hervorrufen (Fig. 15 )?).
Über das Zellbild in dieser Zeit schreibt R. Heidenhain 5%):
„nach reichlichster Fleischnahrung tritt die Trübung der Hauptzellen
bereits nach 2 Stunden ein, nach 4 Stunden sah ich sie sowohl
beı Fütterung mit Fleisch als auch bei Darreichung von Brot und
Kartoffeln auf voller Höhe.“ Diese Trübung ıst das Merkmal starker
Speicherung der Vorstoffe, die zu Ferment verarbeitet werden
(Heidenhain); also hekindet sich die Zelle in einem Abschnitt, ın
welchem neue Fermente für eine neue Periode gebildet werden;
wahrscheinlich hat die Rohstoffaufnahme gleich in der ersten Stunde
eingesetzt.
Damit stimmt das Verhalten der Fermentkraft überein. Schon
früher beobachtete man ein starkes Absinken der Fermentkraft
innerhalb der zweiten Verdauungsstunde °*); die Petersburger Schule
hat diese Beobachtungen an sehr vielen Versuchen bestätigt, ohne
ihr Gewicht beizulegen °’). Beistehende Kurven (Fig. 15) zeigen,
daß auf normalen Fleischgenuß und bei Hineinlegen von Fleisch
in den Pylorusteil des Magens die Fermentkraft des isolierten
Fundussekrets innerhalb der zweiten Stunde herabsinkt. Und die-
selbe Erscheinung zeigte sich bei Hineinlegen von Gelatine, Hühner-
eiweiß, Fleisch mit Butter, Milch, Sahne; ferner ım Safte des iso-
lierten Fundusteiles nach dem Fressen von Eigelb, Eiweiß, Vollmilch,
abgesahnte Milch, Sahne, saure Sahne, geronnene Milch, Quark, Fett
und Magerkäse, jegliche Art Fleisch, Wurst und Fett, Weißbrot
und Kartoffeln, Hirse, Buchweizen und Reis: ım ganzen ın 65
Untersuchungen. — Auch bei der Ziege wurde ein starker Abfall
der Fermentkraft innerhalb der 3.—4. Stunde wahrgenommen (Fig.17),
nach Genuß von Heu, Brot und Rüben °*).
Ha eidenhain: Hermann’s Hdb. d. Physiol., 5,1, S. 144.
54) R. Heidenhainm, a.a.O., S. 157.
55) Babkin, Äußere Sekretion, 1913, 8. 96, 127, 129, 130, 153, 156, Gr 203,
204, 206, 208, 211. — Pawlow, Nagel’s Hab. d. Physiol., Bd. 2, 1906, S. 705.
56) Großer, Zitrbl. £. Physiol, Bd. 19, 1905, S. 266.
G Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 67
Wie ist dieser Fermentabfall zu erklären? Babkin ’”) führt
ihn auf die hemmeude Wirkung des Fettes zurück, das vom Duo-
denum ın der Tat imstande ıst, die Fermentkraft herabzusetzen:
Fleisch mit Butter veranlaßt ein zeitlich längeres Absinken der
Kurve als Fleisch allein ®®). Doch ıst Babkin’s Ansicht irrig, denn
die Kurve sinkt bei normalem Genuß fettfreien Weißbrotes oder
Kartoffeln, oder bei Hineinlegen der Gelatine oder des Hühner-
eiweiß in den großen Magen genau so wie auf fetthaltige Speisen.
Ko. 17:
dd 7. Sehr Periode | 2.Sekr. Per. 3. Sehr. Periode 2
rs
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&
BEE esse le)
BE ZEN 8 BE Se
BONS EN 2
&
RS
IS
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um verdawtes Eiweiss [Technik na
(6)
oa
Hu 1 ZERO OB TOTEN BSH
Kurve der Pepsin-Menge im Magen einer Ziege (Pawlow’s „kleiner‘‘ Magen) ge-
messen an der Menge des verdauten Eiweiß. Zusammengestellt nach den Zahlen-
angaben von Grosser, Zentralbl. f. Physiologie Bd. 19, 1905, 8. 266. Über die
Zeit vor der Fütterung werden keine Angaben gemacht; die gestrichelte Linie ist
also Annahme.
Es ıst angesichts der vielen Versuche mit den verschiedensten Nah-
rungsmitteln nicht möglich, den Fermentabfall auf einen heute
bekannten Reiz zurückzuführen. — Bleibt als zweite Erklärungs-
möglichkeit: die nervösen Reize haben aufgehört, was den Abfall des
Fermentgehaltes bedingt. Auch diese Erklärung stimmt nicht, denn bei
chemischem, dauerndem und isoliert arbeitendem Reiz vom Pylorus
aus, der so stark ıst, daß er isoliert ın der dritten und vierten Ver-
dauungsstunde eine höhere Fermentkraft hervorruft, als der normale
Fleischgenuß, sinkt die Fermentkraft ebenfalls (Fig. 15). Auch setzt
dieser Reiz sicher bereits nach einer Stunde ein. — Bleibt als
dritte Erklärungsmöglichkeit: vielleicht auf dem Wege des chemi-
57) Babkin, a.a.0,,.S8. 170.
58) Babkin, a.a.O., S. 156.
68 G Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
schen Reizes oder sonst findet eine bei jeder Nahrungsaufnahme
wiederkehrende Hemmung statt. Da uns das Wesen und der Weg
des chemischen Magenreizes ziemlich unbekannt ist, das Wesen
einer solchen Hemmung aber völlig fremd, so würden wir bei dieser
Erklärung eine Hypothese mit einer Hypothese stützen. — Bleibt
als weitere Möglichkeit: der Fermentabfall beruht auf der notwen-
digen Phasenfolge der Drüsenarbeit: die Hauptmenge der Fermente
ist in Gestalt gelöster Granula hinausgeworfen, es werden jetzt vor
allem die Vorstoffe des Fermentes neu gebildet und deswegen kann
nur wenig Ferment ausgeschieden werden. Trotz der starken Reize
vom Pylorus her wird die Fermentkraft nicht mehr auf der alten
Höhe gehalten, weil vor allem neues Ferment gebildet wird (vgl.
die Zusammenfassung S. 92).
2. Das Vorwiegen der Abscheidung des Fermentes
(4. Arbeitsphase, ce. 5.—6. Stunde). Die Reize dieser Phase sind
nach unserer Kenntnis ausschließlich die chemischen vom Pylorus
aus, die ım ısolierten Versuch beim Hunde eine Sekretion von
6—7 Stunden hervorriefen (Fig. 15). Je länger aber die Verdauung
anhält, um so unklarer wird das Bild der Reize und Hemmungen,
desto mehr muß die Vermutung bestehen, daß hier vielleicht noch
andere Reize aufgefunden werden.
Die Fermentkraft steigt ın dieser Zeit bei weitaus den
meisten Untersuchungen: das charakterisiert die 4. Phase und das
Ende der ersten Sekretionsperiode. Die -Verdauungsstunde aller-
dings, in der die Fermentkraft von neuem steigt, ist bei den ein-
zelnen Nahrungsmitteln verschieden und wird durch Fett hinaus-
geschoben; Fett bestimmt also die Zeit der zweiten Absonderung,
hat aber auf die Folge der Phasen und Perioden jedenfalls keinen
Einfluß. — Der zweite Anstieg tritt in allen den 65 Fällen ein, bei
denen oben der erste Anstieg in der ersten Sekretionsperiode ge-
schildert wurde, außer auf normalem Genuß von Hirsebrei, Buch-
weizen und Reis, bei denen die Fermentkraft weiter sinkt. Es ist
anzunehmen, daß diese drei Nahrungsmittel einen so schwachen Reiz
auf den Magen ausüben, daß keine zweite Abscheidung erfolgt; ihre
Kohlehydratnatur ist jedenfalls kein Grund des weiteren Absinkens,
denn Weißbrot und Kartoffeln verhalten sich wie die anderen 59
Versuche. — Auch die Fermentkraft der Ziege zeigt einen zweiten
Anstieg innerhalb der fünften Stunde (Fig. 17).
Es wurde früher dasselbe erneute Ansteigen in der dritten bis
fünften Verdauungsstunde beobachtet und daraus geschlossen, „daß
die Menge des freien Pepsins sich auf Kosten der pepsinogenen
Substanz vermehrt hat“ °P). Leider wurden morphologisch für
59) R. Heidenhain, Hermann’s Hdb. d. Physiol. 5,1, S. 158.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 69
ein solches Ansteigen keine Begleiterscheinungen beobachtet. Es
sollen in der 1.—6. Stunde die Hauptzellen stets mäßıg getrübt
sein, woraus ich schließe, daß die Fermentaufbauarbeiten in dieser
Zeit dem Fermentausstoßen die Wage halten, so daß kein klares
Zellbild entstehen kann. Ähnlich sprechen sich neuere Untersucher
aus °®), die ja überhaupt deutlichen Veränderungen im Zellbilde ın
den ersten 10 Stunden sehr skeptisch gegenüberstehen; es wird
behauptet, daß ım Gegensatz zu anderen Wirbeltieren die Verände-
rungen der Granula ın den Hundehauptzellen nur darın bestehen,
daß die Granula während der Verdauungszeit kleiner werden, aber
selten ganz schwinden; auf bestimmte Zeiträume dies Schwinden
festzulegen, wird (nach 6 Untersuchungen in der Zeit von 5, 7 und
10 Stunden) ausdrücklich abgelehnt. (Vgl. die Erklärung dieser
Tatsache S. 94.)
*
Zweite Sekretionsperiode: erneute Bildung und erneute Aus-
scheidung.
Über die Reize in dieser Periode läßt sich wenig sagen; es
bleiben vielleicht nur die allmählich abklingenden Pylorusreize und
schwache Duodenalreize übrig, gegen welche die Hemmungen vom
Duodenum aus arbeiten. Je länger die Verdauung andauert. um so
unklarer sind uns diese Verhältnisse.
Dies zeigt sich auch morphologisch. Es würden die beiden
letzten Perioden ım Sinne R. Heidenhain’s (6.—20. Stunde) etwa
dieser Zeit entsprechen. Die Hauptzellen des Fundus zeigen eine
teilweise Trübung (Bildung neuer Vorstoffe), während die Pylorus-
zellen hell oder nur sehr schwach körnig sind (Bildung des Ferments
aus Vorstoffen). Dann hellen die Funduszellen auf, während sich
die Pyloruszellen trüben, bis auch sie heller werden; so nähern sich
beide Zellformen allmählich dem Hungerzustand. — „In späteren
Sekretionsstadien“ sollen die Hauptzellen des Hundes eine stärker
färbbare protoplasmatische Schicht am basalen Ende zeigen‘"), so daß
man annımmt, „daß auch basal Granula liegen, aber daneben mehr
Protoplasma als ın der ruhenden Zelle vorhanden ist“ °!). Am
frischen Präparat zeigte sich jedoch das nicht.
Die Kurve der Fermentkraft ist ın dieser Zeit auf die
verschiedenen Nahrungsmittel hin nicht mehr einheitlich ge-
richtet. In weitaus den meisten Fällen sinkt die Kurve langsam
stetig bis auf 0. Die zweite Sekretionsperiode wird also nicht
vollendet, wohl aber begonnen und geht in die Hungerperiode
über. Nur in wenigen Untersuchungen von den obengenannten 69
steigt die Kurve nach diesem Absinken um die 7. Stunde nochmals
60) Noll u. Sokoloff, Arch. f. [Anat. u.] Physiol., 1915, S. 112.
61) Noll u Sokoloff, a.a.0., S. 115.
70 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
an), so daß wir noch eine ausgesprochene Periode mit Abfall und
Ansteigen der Fermentkraft beobachten (Fig. 15 u. 17). —
In diesen wenigen Fällen müßte nach Ablauf dieser zweiten
Sekretionsperiode noch eine dritte angenommen werden, in welcher
die Kurve bis zum Nullpunkt des Hungertieres absinkt und die
Bildungsphasen der Sekretionsarbeit ın den Zellen nun dauernd
überwiegen; die Reize der Nahrung schwinden allmählich, so‘daß
die gebildeten Granula nicht mehr ausgestoßen werden. So geht
die zweite oder dritte Sekretionsperiode über in die Hungerperiode
der nächsten Verdauungszeit.
x
Diese Theorie des Zellarbeitsablaufes wird bestätigt durch die Be-
obachtungenan Glyzerinextrakten desSchweinemagens®®?), Die
Tiere hungerten 36 Stunden, be-
kamen eine Hafermahlzeit und
Fig. 18.
BORGERERBEEN EEE wurdenzu verschiedenen Zeiten
re 4 Phase am|#m| danach geschlachtet, wonach das
ei Pepsin ım Extrakt der Magen-
BE schleimhaut nach Zusatz von
92 Salzsäure geprüft wurde. Für
den Fundus ergaben sich je nach
den Zeiten recht verschiedene
Ergebnisse, die nach dem Pro-
zentsatz des verdauten Eiweißes
gemäß den Zahlen der Autoren
von mir zu einer Kurve zu-
sammengestellt sind (Fig. 18):
danach steigt der Fermentgehalt
% Eiweiss, die in 4 Std verdout wurden.
SERR
TE ZINK STE TE IT 2510:
Kurve der Protease im Glyzerinextrakt
der Fundusschleimhaut des Sch weines.
Verschiedene Stunden nach einer Hafer-
mahlzeit (konstruiert nach den Zahlen
(mit einer geringen Schwankung)
bis zur 2. Stunde, fällt bis zur 4.,
steigt bis zur 7., fällt nochmals
von Bengen und Haane).
zur 12. Stunde.
nicht angegeben.
Die beiden Autoren erklären den ersten Abfall der Kurve ganz recht damit,
daß die Zellen an Ferment ärmer werden, stehen aber vor dem zweiten Abfall und
dem davorliegenden zweiten Anstieg ratlos: „Das ın den Drüsenzellen aufgespeicherte
Sekretmaterial reicht für die ersten drei bis vier Stunden aus, und dies um so mehr,
als die Drüsen fortwährend neues Sekretmaterial produzieren. Später aber müssen
die Drüsen fermentärmer werden (s. 4. u. 5. Verdauungsstunde). Die Tatsache, daß
in der 5.—7. Verdauungsstunde wieder eine Steigerung der verdauenden Kraft des
ie}
Fundusextraktes eintritt, die in der Zeit von der 7.--9. Stunde wieder verschwindet, "
bis zur 9. und steigt wieder bis
Leider ist der Fermentgehalt beim Hungertier
62) Nur auf Brot, Fleisch (Babkin, S. 96 u. 153), Milch (S. 99) und Sahne
S. 158).
63) Bengen u. Haane, Arch. f. Physiol., 1905, Bd. 106, S. 267.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 11
ist schwer zu erklären. Hier spielen offenbar noch unbekannte Faktoren (die Art
der Magenentleerung u. dgl.) mit, vielleicht auch die Aufsaugung der verdauten
Nährstoffe. wodurch vermittelst des Blutes den Drüsen neues Material für die Bil-
dung der Sekretstoffe zugeführt wird.“ Selbstverständlich wird die Bildung neuen
Sekretes nur durch das Vorhandensein von Rohstoffen im Blut ermöglicht; es ist
aber sehr unwahrscheinlich, daß das periodische Schwanken in der Fermentbildung
abhängt vom Reichtum oder der Armut des Blutes an Rohstoffen. Vielmehr ist es
wahrscheinlicher, daß das zum Magen strömende Blut auch an jenen Rohstoffen
ebenso konstant ist, wie nachweislich an anderen Stoffen. Warum sollte auch der
Gehalt des Blutes bei verschiedenen Tieren in so auffallend gleichem Rhythmus
schwanken ?
Ich halte folgendes für die gegebene Erklärung: die ım Hunger
gespeicherten Granula werden in a ersten 2 YVerdaunngstunden
verbraucht, dann setzt in der 3. und 4. Stunde die erste Sekretions-
periode ein, in welcher zunächst die Neubildung der Granula über-
wiegt, in der 5.—7. Stunde dann die Ausscheidung. Darauf beginnt
die zweite Sekretionsperiode, bei der ebenfalls eine Bildungs- von
einer Absonderungsphase zu unterscheiden ist.
x
Zusammenfassung. Soweit sich bisher aus dem Sekret, dem
Zellbilde und dem Drüsenextrakt, die niemals gleichzeitig untersucht
wurden, eine Kurve des Ablaufs der Magendrüsenarbeit gewinnen
läßt, konnten wir etwa folgenden Arbeitsrhythmus feststellen:
Hungerperiode. Während des Hungerns überwiegt die 3. Ar-
beitsphase: viele Granula, kein Sekret.
Ungefähr in der 1. Verdauungsstunde ühermiekt die 4. Arbeits-
phase: allmähliche Trübung des Plasmas, also Granulaschwund. Im
Sekret Anstieg der Fermentkraft.
Ersie Sekretionsperiode. Etwa in der 2.—4. Verdauungs-
stunde überwiegt die 2. Arbeitsphase: stärkere Trübung des Plasmas;
Abfall der Fermentkraft (trotz wahrscheinlich dauernder Reizung).
Etwa in der 5.—6. Verdauungsstunde überwiegt die 4. Arbeits-
phase: zwar ist keine Granulavermehrung beobachtet, aber in weitaus
den meisten Fällen steigt die Fermentkraft von neuem.
Zweite Sekretionsperiode. Etwa in der 6. Verdauungsstunde
bis zum Schluß nähert sich das Zellbild allmählich dem Hunger-
zustande. Die Fermentkraft sinkt in allen, steigt nochmals in we-
nigen Fällen.
Eine dritte Sekretionsperiode ist fraglich, Je nach Nah-
rungsart und -menge wird sie oder schon die zweite. Sekretions-
periode in die Hungerperiode übergehen. In allen Fällen fällt die
Fermentkraft des Sekretes.
Dies sind die Tatsachen. Über die Ursachen dieser Periodizität
wird das Vergleichende Kapitel sprechen.
N
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
I
[9
Pankreas des Hundes.
Auch beim Pankreas sınd nach der Nahrungsaufnahme das
Zellbild und der Fermentgehalt des Sekretes ın einigen Stufen unter-
sucht worden, ohne daß beide Erfahrungen .bisher verglichen oder
bei einem Versuche gleichzeitig beöbachtet wären. Leider ist die
Anzahl der Untersuchungen weit geringer als beim Magen.
Im Zellbilde ist wie bei den Magendrüsen das Verhältnis
der Granulazahl zum Protoplasma charakteristisch für die Arbeit der
Zelle; daß dies Kriterium mit Vorsicht anzuwenden ist zeigten uns
schon die Magendrüsen. Nach der Nahrungsaufnahme werden die
Fie. 19. Fig. 20.
periade
DEN
AR
2. Sehr. Per J.Sehr. Periode
D
Or
mer
HAREBEEN
Das Schwanken der Kraft der 2
drei Fermente im Pankreas- DE
saft des Hundes nach Genuß ER ER ARE ON A eher 2 SA
Der I en en Das Schwanken der Kraft der drei Fermente
8 ee ) im Pankreassaft des Hundes nach Genuß von
... Lipase, . 250.8 Brot (nach Babkin, a. a. O. $.'260).
---- Amylase. Protease, .. Lipase, ---- Amylase.
Granula‘') gegen die Plasmazone zu trüber, gegen das Lumen da-
gegen lösen sie sich in kleinsten Vakuolen®); allmählich vergrößert '
sich die protoplasmatische Zone auf Kosten der Granulazone. Nach
einigen Stunden wächst die Granulazone dann auf Kosten der
. Plasmazone.
Die Fermentkräfte im Sekret sind vor allem von der Peters-
burger Schule‘) mit allen Kautelen, besonders der Aktivierung,
untersucht worden (Fig. 19): das Hungertier sezerniert keine größeren
64) R. Heidenhain, Hermann’s Hdb.d. Physiol., 1883, Bd. 5,1, S. 173. —
Albert Mathew’s Journ. of Morph., 1899, Bd. 15, S. 173. — Neuere Zusammen-
fassung: Noll, Ergebn. d. Physiol., 1905, Bd. 4, S. 111.
65) Kühne u. Lea, Unters. d. physiol. Instit. Heidelb., 1882, Bd. 2, S. 471.
Beobachtung d. lebenden Zelle.
66) Babkin, Außere Sekretion der Verdauungsdrüsen, 1914, S. 258 ff., 290.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. Te
Sekretmengen °); innerhalb der 1. Verdauungsstunde steigt die
Fermentkraft; sie fällt innerhalb der 2. und 3. Stunde und steigt
wieder an; beides wiederholt sich nochmals, bis die Fermentkraft
gegen das Ende der Verdauungszeit steil abfällt. Diese auffallende
Ähnlichkeit der Kurve mit der des Magensekretes ist bisher nicht
beachtet oder analysıert worden.
Auch darin sind die Verhältnisse den Magendrüsen ähnlich, daß
zunächst keine Übereinstimmung zwischen den alten Zellforschungen
und den neuen Sekretuntersuchungen besteht. Mein Schema des
Arbeitsrhythmus wird sich auch hier zunächst an das Sekret halten,
weil dieses als Arbeitsergebnis das klarste Kriterium für die Arbeit
selbst ıst; dabei werden die Zellbilder herangezogen. Von der
Wasserabgabe, der Salzausscheidung und dem Alkalıtätsgrade können
wir absehen, da sie andere Zellarbeiten darstellen.
Die Erkennungsmerkmale für die 4 Arbeitsphasen sind auf
Grund der Beobachtungen obengenannter Forscher folgende:
1. Phase. Rohstoffaufnahme: nicht erkennbar.
2. Phase. Bildung der Vorstoffe: Trübung und Färbbarkeit der
Granulazone, Verbreiterung der Plasmazone.
3. Phase. Bildung der Vorfermente: Hellerwerden der einzelnen
Granula, Verbreiterung der Granulazone, d. h. Vermehrung der
Granula.
4. Phase. Ausstoßen des Sekretes: Steigen des Fermentgehaltes
im Sekret, Bildung heller Vakuolen am Innenrand der Granulazone.
Es wird sich erneut zeigen, daß zu keiner Zeit der Verdauung
die Zelle ausschließlich bei einer einzigen dieser Arbeitsphasen be-
schäftigt ist, daß ın jeder Zeit jedoch eine Phase überwiegt.
6
Hungerperiode. 1. Zunächst überwiegt während des Hungerns
in den Zellen die 3. Arbeitsphase: Bildung der Granula ausden
Vorstoffen. Die Plasmazone ist hell, schmal und mit Karmin
färbbar; die Granulazone voll Granula, mittelhell und mit Karmin
nicht färbbar; die Ränder der Läppchen sind glatt. In der Plasma-
zone findet die Aufnahme und Verarbeitung der Rohstoffe statt:
der Stoffansatz; in der Granulazone dagegen der Stoffverbrauch,
d. h. die Umwandlung der Plasmastoffe in das spezifische Sekret:
die Fermentbildung und Fermentabgabe °*).
Eine stärkere Sekretion findet im Hunger nicht statt, wir können
also die Kurve der Fermentkraft bei 0 beginnen lassen. —
2. Etwa 1 Stunde nach der Nahrungsaufnahme überwiegt ın den
Zellen die Fermentabgabe über die Fermentbildung (wenn nicht
Abgabe und Neubildung sich die Wage halten).
67) Vgl. S. SI u. 96 dieser Arbeit.
68) Theorie R. Heidenhain’s.
38. Band 6
74 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Die ersten Reize laufen vom Munde aus‘®): 1—2 Minuten
nach einer „Scheinfütterung“, bei der das Fressen am Ende des
Oesophagus wieder herausfällt, sondert die Drüse 5—29 Minuten
lang Saft ab, der bereits nach 15 Minuten sehr spärlich wird; seine
Verdauungskraft ıst nicht gemessen. Zu dieser Zeit ıst eine Er-
regung vom Duodenum her nicht möglich, denn dieses ist Jeer und
zeigt alkalische Reaktion, weil erst 6—9 Minuten nach Nahrungs-
aufnahme Magensaft een wird, dieser also noch nicht in das
Duodenum getreten seın kann. — Der zweite Reiz innerhalb der
Stunde ıst der Vagus- und Sympaticusreiz: 3—5 Minuten, nach-
dem Fett in den Magen des Hundes gegossen wurde, sezerniert das
Pankreas, trotzdem wieder kein Fett und keine Salzsäure in das
Duodenum gelangten’®). Das Sekret enthält (auch auf elektrischen
Reiz hin) viel feste Substanzen und sehr viel Ferment, dagegen
wenig Salze und Alkali; es verarmt im Laufe der 1. Stunde schnell
an Fermenten, während seine Menge, d. h. sein Wassergehalt lange
Zeit konstant blaben Bar
Mit diesen Befunden nach einer isolierten Reizung stimmen die
Vorgänge bei normalem Fressen so auffallend überein, daß man
sagen kann: auch bei normalem Fressen wird die Sekretion zunächst
ausgelöst vor allem durch jene Vagus- und Sympatieusreize. Der
Fermentgehalt ıst im Laufe der 1. Stunde nicht gemessen, sondern
nur am Ende der 1. Stunde: er ıst bei allen drei Fermenten sehr
stark, auf Fleisch, Brot und Milch, bei Hund und Mensch’?). Die
Kurve steigt vom Hungertier bis 1 Stunde nach Nahrungsaufnahme
steil an (Fig. 19 u. 20).
Die in den ersten Stunden beobachteten Zellbilder stimmen
mit dieser energischen Fermentausscheidung gut überein; zugleich
scheint bereits am Aufbau des neuen Fermentes gearbeitet zu werden.
Ältere Untersuchungen”®) fassen die ersten 6 Stunden zu einer
Epoche, zusammen: „Die körnige Innenzone der Zellen ... zeigt
während der ersten Verdauungsstunden stärkere und dichtere Trü-
bung und wird gleichzeitig empfänglich für Farbstoffe... Allmäh-
lich verkleinert sich jene Zone... bis sie ın vielen Zellen nur die
dem Lumen des Schlauches zugewandte Innenseite einnimmt und
selbst ganz schwindet, während die homogen gefärbte Außenzone
an Breite gewinnt und hier und da, wo die Körnerzone vollständig
fehlt, den ganzen Umfang der Zelle einnimmt.“ Neuere Unter-
sucher”*) haben dies bestätigt und hinzugefügt, daß die dem Lumen
zunächst liegenden Granula heller werden und weniger lichtbrechend
69) Babkin, Äußere Sekretion, 1913, 8. 286
70) Babkin, a a.0,, S. 276.
72 Beabkom, a22.0,,.82303:
72) Babkin,a.a.O,, s 260; Wohlgemuth, Berl. klin. Wochenschr. 1907.
73) R. Heidenhain, Hermann’s Hab. d. Physiol., 1883, Bd. 5,1, S. 200.
7b Kühne u. Lea, Untersuch. d. Physiol., Inst. Heidelb., 1882, Bd. 2, S. 472,
@. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 75
in kleinen Vakuolen liegen, während sıe vom Kern zum Lumen
vorrücken. Dies alles beweist eine starke Fermentabgabe ın der
ersten Zeit; es scheint jedoch, als ob — wenigstens in der 1. Stunde
normaler Verdauung — sich die Granulazone nicht auffallend ver-
kleinere. So ist anzunehmen, daß in der 1. Stunde, während des
Ausstoßens der ım Hunger gespeicherten Granula, bereits lebhaft
an einer Neubildung gearbeitet wird, daß Fermentabgabe und Fer-
mentbildung sich die Wage halten, indem an der Grenze gegen das
Lumen zu in der Granulazone ebensoviel Ferment abgeschieden
wird wie an der Grenze gegen die Plasmazone zu gebildet wird.
Mit dieser Neubildung ständen wir bereits ın der ersten Sekretions-
periode. g
Erste Sekretionsperiode. 1. In der 2.—-3. Stunde ıst das Oha-
rakteristische ein Vorwiegen der Fermentbildung (1.—3. Ar-
beitsphase), was auf Grund der Funde in der Hungerperiode entweder
dadurch zustande kommt, daß die Fermentausscheidung geringer
oder die Bildung stärker wırd als vorher.
Im Sekret ıst ein Absınken der Kraft aller drei Fermente
innerhalb (Fig. 19 u. 20) und zwar
bei Fleisch- und Brotnahrung binnen der 2., bei Milch binnen der
Stunde im Pankreas des Menschen und des Hundes”°).
Nebenbei ‚ein Wort über die Saftmenge. Sie erreicht zu dieser Zeit gerade
ihren Höhepunkt: es steigt also die Wasserabgabe, während der Fermentgehalt sinkt,
was ein Beweis für die schon an Speicheldrüsen nachgewiesene”®) Tatsache ist, daß
Wasser und Fermentsekretion zwei verschiedene Arbeiten sind. Wir können also die
Wasserabgabe vernachlässigen. In diesem Falle steigt auf Genuß von Fleisch und
Brot die Saftmenge, während sie auf Milch gleichzeitig mit dem Fermentgehalt sinkt.
Welche Reizbahnen spielen in dieser Zeit eine Rolle? Wir
hörten oben von dem energischen Reiz auf dem Wege des Vagus
und Sympathicus, welcher über 1 Stunde vom Magen aus wirkt;
wir wissen ferner, daß 40 Minuten nach Nahrungsaufnahme
Salzsäure ın das Duodenum übertritt und hier als starker Reiz
wirkt: und dennoch vermögen beide Reize den Fermentgehalt
nicht auf der ersten Höhe zu halten. Die Fermentkraft sinkt, trotz-
dem höchstwahrscheinlich ein Reiz vorhanden ist. Ich möchte hier
wie bei den Magendrüsen (S. 67) keine uns unbekannten Hem-
mungen als Ursache annehmen, sondern vielmehr meinen, daß
durch eine innere Arbeitsverkettung in der Zelle dieser Ab-
fall bedingt wird. Nach einer Zeit lebhafter Fermentabgabe tritt
auch mitten ın der Verdauungsarbeit und trotz der Reize eine
Zeit vorwiegender Fermentbildung ein, die so lange dauert, bis
wieder eine gewisse Menge Ferment entstanden ist. Diese not-
wendige Neubildung vermögen auch starke Reize nicht zu stören.
75) Babkin, a.a. ©., S. 260.
76) R. Heidenhain, a.a.0,
6°
6 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Je schneller und gründlicher die Abgabe erfolgt, desto schneller die
Neubildung; so kommt es, daß auf den schwachen Milchreiz hin erst
in der 3. Stunde die erste Sekretionsperiode auftritt (siehe im Ver-
gleichenden Kapitel S. 94). Gestützt wird diese Theorie auch da-
durch, daß Wasser — wie gesagt — weiter reichlich abgegeben
wird, vor allem auf den Säurereiz hin, der dafür spezifisch ist ’”);
die Wasserabgabe ist natürlich nicht an eine Umsatzarbeit gebun-
den, sondern verlangt nur Transportarbeit.
Schon bei der Hungerperiode erwähnten wir, daß zweifellos
eine Neubildung der sezernierten Stoffe in der Pankreaszelle sich
anbahnt. Es wurde eine „stärkere und diehtere Trübung“ der Gra-
nulazone beobachtet, bei der sie mit jenen Farbstoffen färbbar wird,
mit welchen früher nur die Plasmazone sich färbte; es ist also an-
zunehmen, daß ın der Granulazone Stoffe der Plasmazone einge-
drungen oder dort gebildet sind, welche den Platz der gelösten
Granula einnehmen, und dann zu neuen Granula verarbeitet werden,
während die Umwandlung der Granula zu Ferment (soweit sie über-
haupt ın der Zelle stattfindet) fast ganz stockt. Allerdings ist die
(Granulavermehrung zu dieser Zeit noch nıcht beobachtet; wir stehen
hier vor einer ähnlichen Schwierigkeit, wie bei den Magendrüsen
ın der ersten Sekretionsperiode (Erklärung S. 94). —
2. Etwa 2—4 Stunden nach Nahrungsaufnahme beobachten wir
ein Vorwiegen der Fermentabgabe (4. Arbeitsphase).
Zu dieser Zeit passieren in der Regel die letzten Teile von
100 Gramm Fleisch den Pylorus’*®); also wird bei dieser Nahrung
von Reizen wohl ausschließlich der Duodenalreiz des Sekretins auf
das Pankreas wirken, während bei Brot und Milch, die länger im
Magen liegen, auch noch nervöse Magenreize mitwirken können.
Dieser Duodenalreiz steht bekanntlich in engem Verhältnis zur Säure-
sekretion des Magens; die Sekretion ım Pankreas erfolgt nicht, wenn
der Magen durch Verbrühung sekretionsunfähig geworden ist ’®). Es
erregen also je nach Nahrungsmenge, Nahrungsart und Salzsäure-
menge entweder Magen- und Duodenalreiz oder nur der Duodenal-
reiz das Pankreas; und je nachdem steigt der Fermentgehalt des
Sekretes innerhalb der ersten Sekretionsperiode über die Höhe des
ersten Anstiegs hinaus oder bleibt hinter dieser Höhe zurück; denn
der Duodenalreiz allein erregt durch Säuren, Wasser und Seifen
einen an Fermenten ärmeren Saft als der reflektorische Reiz:
reize ich z. B. durch Einspritzen von Salzsäure ın das Duodenum
und gebe dann nach 4 Stunden dem Hunde noch 250 g Brot zu
fressen, so steigt der Fermentgehalt auf Grund der Vereinigung
77) Babkin, a.a. ©., S. 268.
78) Cohnheim, Physiol. d. Verdauung u. Ernährung, 1906, S. 19.
79) Babkin, a.a. O.,S. 293.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 27
beider Reizgruppen erheblich ®’). Auch innerhalb des Duodenal-
reizes wirkt Fett stärker auf die Fermentsekretion als Säure.
Je nach diesen verschiedenen Reizen also steigt der Ferment-
gehalt des Saftes in dieser Zeit stärker oder schwächer an; genug,
er steigt erst jetzt wieder an, trotzdem seit 3 Stunden der nervöse
Reiz, seit mindestens 2 Stunden der Duodenalreiz wirken. Auf
diese Reize kann also wohl die Stärke der zweiten Absonderung, aber
nicht diese neue Absonderung selbst zurückgeführt werden; solange
wir nicht einen neuen Reiz entdecken oder dieses rhythmische
Schwanken in ein Ganglienzentrum der Drüse verlegen: solange
glaube ich, daß jetzt die Zellen genug Sekret gespeichert haben
und es nun langsam wieder abgeben können. So steigt der Fer-
ınentgehalt bei Hund und Mensch auf Fleisch (Fig. 19) und Brot-
genuß (Fig. 20) zum zweiten Male an. Auf Fettnahrung dagegen
(Milch) hatte ja die Kurve des Menschen erst in der 3. Stunde
ihren Höhepunkt erreicht und fällt nun jetzt ohne erneuten Auf-
stieg langsam bis Schluß der Verdauung ab; es werden offenbar
ın diesem Falle die Granula der Elunsersesiode sehr langsam
ausgestoßen, eine Ruhepause, d. h. Erneuerung des Sekretes ın
einer besonderen und vorwiegenden 3. Arbeitsphase braucht nicht
einzutreten, sondern 3. und 4. Phase fallen zeitlich zusammen und
bewirken ein allmähliches Absinken der Kurve. Ist auf einen
starken Reiz die Absonderung sehr schnell vor sich gegangen (Fleisch
und Brot), dann muß eine Erneuerungspause eintreten; ist die Ab-
sonderung aber langsam gewesen (Milch), so können Absonderung
und Erneuerung zeitlich zusammen arbeiten, wobei die letzte all-
mählich überwiegt. Dasselbe zeigten die Magenzellen in der zweiten
Sekretionsperiode.
Das Ende dieser Sekretionsperiode entspricht histologisch
dem Ende des Heidenhain’schen ersten Verdauungsstadiums ®%):
allmählich verkleinert sich die Granulazone, bis sie in vielen Zellen
nur die Innenspitze einnimmt; dadurch wird die Plasmazone sehr
groß. Je mehr Granula verschwinden, desto mehr Ferment ist aus-
geschieden. Die Zelle arbeitet offenbar zu dieser Zeit am Ersatz
langsamer als am Verbrauch der Granula.
=
Zweite Sekretionsperiode. 1. Wir stellen ungefähr 4—5 Stun-
den nach Nahrungsaufnahme in manchen Fällen nochmals ein Vor-
wiegen der Fermentbildung fest. Die Menge der Fermentkraft
sinkt beim Hunde auf Fleisch innerhalb der 5. Stunde (Fig. 19),
bei Brot innerhalb der 4. Stunde (Fig. 20); beim Menschen sind die
Untersuchungen nicht über die 4. Stunde hinausgeführt worden.
Auf Milch sinkt die Kurve, ohne in der ersten Sekretionsperiode
angestiegen zu sein, weiter ab.
80) Babkin, 2.2.0.2
sı) R Eerdenhasn‘ Hermann’s Hdb. d. Physiol., 1883, Bd. 5,1, S. 200.
8 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Morphologisch entspricht diese Neubildusg dem Heidenhain’-
schen zweiten Verdauungsstadium, wenn es mir auch zweifelhaft
ist, ob man beide gleichsetzen darf, da sie zeitlich nicht ganz über-
einstimmen. „Die früher verkleinerten Schläuche haben an Volumen
wieder erheblich gewonnen dank einer bedeutenden Vergrößerung
der Sekretionszellen“, was offenbar auf die geringere Wasserabgabe
zurückzuführen ıst. „Die schon früher stark reduzierte Innenzone
[Granulazone] erstreckt sich jetzt fast über die ganze Zelle, während
die homogene Außenzone [Plasmazone] nur einen schmalen Saum
bildet, meist nur weniger breit als im Hungerzustand“, woraus folgt,
daß die Aufbauarbeit in diesem Stadium über die Abgabe über-
wiegt.
2. Während die Sekretmenge weiterhin sinkt, steigt die Fer-
mentkraft ım Sekret bei Fleisch- und Brotnahrung um die 5. bis
6. Stunde nochmals ein wenig an (Fig. 19 u. 20). Bei Milchgenuß
ist das Ferment entweder bereits versiegt oder seine Kraft sinkt
weiter.
Morphologisch ıst ein erneuter Granulaschwund nicht beschrieben
worden, vielmehr füllt sich die Innenseite der Zelle mehr und mehr
mit Granula.
Je länger die Verdauung andauert, desto unsicherer werden die
Tatsachen, weil es mehr und mehr an feineren Untersuchungen
fehlt und die Unterschiede der einzelnen Perioden sich verwischen. —
Ob wır unter diesen Umständen den starken Fermentabfall
in der 7. Stunde bei Fleischgenuß oder die weiteren wenig gleich-
mäßıgen Zacken der Kurven bei Brotgenuß in der 7.—10. Stunde
noch als eine drittte Sekretionsperiode deuten dürfen, ist
mir nicht gewiß. Sicher ist nur, daß sich die Zellarbeit mehr und
mehr dem Hungerzustand nähert, also Granula speichert, so daß
die Fermentkraft des Sekretes allmählich auf O0 sinkt. Sollte eine
genauere Forschung die Kurven noch präziser festlegen, dann wird
es möglich sein, den Zeitpunkt des Eintritts der Zelle ın die Hunger-
periode sicher anzugeben und damit den Ring der periodischen
Erscheinungen zu schließen.
*
Diese Theorie der Sekretionsperioden wird ferner durch Tat-
sachen gestützt, welche an Hunden folgendermaßen gewonnen
wurden ®%): das Pankreas mehrerer Tiere wurde verschiedene Zeit
lang auf verschiedene Art gereizt: durch Vagusreizung und durch
Eingießen von Salzsäure und Seifenlösung in den Magen; dann
wurde das Pankreas exstirpiert und das Zellbild untersucht.
82) Babkin, Rubaschkin, Sawitsch, Arch. f. mikr. Anat. Bd. 74,
1909, 8. 68.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 79
Die tatsächlichen Ergebnisse sind in folgenden drei Versuchs-
gruppen gewonnen:
Es wurden drei Versuche mit Eingießen einer 0,5%, Salzsäure-
lösung gemacht; zwei wurden nach 3 Stunden, einer nach 4 Stun-
den abgebrochen. Zweimal waren die Granulamenge in den Zellen
gegenüber dem Hungertier kaum verändert, wenn man nämlich
180—200 cem Salzsäurelösung in drei bis vier Portionen binnen
3—4 Stunden in den Magen goß. Einmal dagegen war die
Granulamenge stark vermindert: nach dreimaligem Reiz mit ins-
gesamt 700 cem Salzsäurelösung innerhalb 3 Stunden.
Vier Versuche wurden mit gleichartiger Vagusreizung ge-
macht und zwar 2 Stunden 40 Minuten, 3 Stunden, 4 Stunden
40 Minuten und 5 Stunden 30 Minuten lang. Dabei waren nach
2 Stunden 40 Minuten und nach 5 Stunden 30 Minuten die Granula
nahezu geschwunden, jedoch nach 3 Stunden und 4 Stunden 40 Minuten
noch in großer Zahl vorhanden.
Zwei Versuche wurden mit dreimaligem Eingießen von je
50 ccm Seife angestellt. Nach 3 Stunden 28 Minuten waren die
Granula wie beim Hungertier reichlich vorhanden, nach 5 Stunden
30 Minuten dagegen stark vermindert. —
Nach meiner Meinung ist das gemeinsame Ergebnis dieser
Versuche, daß innerhalb jeder Versuchsgruppe mal viel, mal wenig
Granula gelöst wurden. Wenn wir nun'annehmen, daß es sich in
allen Fällen um gesunde, gleichdisponierte Tiere handelt, so ergeben
sich m. E. zwei Erklärungen für diese Verschiedenheit aus den
Versuchen selbst: einmal ist bei gleicher Reizart und gleicher Reiz-
menge (Salzsäure, Seife), aber verschiedener Zeitdauer des Ver-
suches das Ergebnis ganz verschieden. Es ist aber nicht so: je
länger der Versuch, desto weniger Granula, sondern ohne erkenn-
bare Regel befinden sich z. B. in der zweiten Versuchsgruppe nach
3 Stunden und 4 Stunden 40 Minuten viele Granula in den Zellen,
vorher aber (2 Stunden 40 Minuten) und nachher (5 Stunden 30 Min.)
sind die Granula geschwunden.
Diese Befunde schließen die andere Erklärung, welche sich uns
bei der ersten und dritten Versuchsgruppe aufdrängt, aus: daß
nämlich die Stärke des Reizes allein schuld sei an der Verminde-
rung der Granula. Es ergab sich hier, daß nach 3 Stunden die
Granula vermindert oder gleich geblieben waren je. nach Menge
der eingeführten Salzsäure; oder bei gleichem Reiz waren nach
3 Stunden 25 Min. die Granula reichlich, nach 5 Stunden 30 Min.
dagegen stark vermindert. Spielt die Stärke und Dauer des Reizes
gewiß eine Rolle, weil die Zelle durch starken Reiz gezwungen
werden kann, schneller auszuscheiden als bei schwächerem Reiz,
so ist der äußere Reiz doch allein nicht maßgebend für das Zell-
bild, sondern auch der Zeitpunkt, in welchem der Versuch auf-
hörte. Das lehrt die zweite Versuchsgruppe. Die verschiedenen
s0 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Zeitpunkte, an denen die Versuche abgebrochen wurden, trafen die
Zelle mal in der Bildungsphase, mal in der Abscheidungs-
phase, welche — wie oben dargelegt — über die Kurve des Fer-
mentes in bestimmter Reihenfolge verteilt sind. Diese bestimmte
Reihenfolge, die Verkettung der aufeinanderfolgenden
Phasen und Perioden ist die Hauptursache der verschie-
denen Bilder; daneben spielt der äußere Reiz durch Beschleu-
nigung und Vermehrung der Arbeit nur eine Nebenrolle.
Babkin und seine Mitarbeiter sind anderer Ansicht. Es ist nicht einzusehen,
wie sie aus ihren Versuchen den Schluß ziehen konnten, „daß die Sekretion auf
Säure im allgemeinen von einer langsamen und unbedeutenden Ausscheidung der
Körnchen begleitet sei“, wo doch nach 3 Stunden auf 700 cem Salzsäurelösung ein
starker (Granulaschwund beobachtet ist. Es kann doch niemand etwas „Allgemeines“
aussprechen, das nicht alle in Frage stehenden Fälle innerhalb einer Varietäten-
grenze umfaßt.
Ferner behauptet Babkin, im Gegensatz zum Säurereiz führe der Nerven-
reiz zu einer Verarmung der Zelle an Granula. Zwei Versuche von vier sagen doch
das Gegenteil! Man kann nur allgemein sagen, daß die Pankreaszellen bei gleicher
Nervenreizung zu verschiedener Zeit recht verschiedene Bilder geben.
Es fragt sich nun, worauf diese Verschiedenheit beruht. Babkin sagt:
„Der Unterschied in den mikroskopischen Bildern ... steht in engem Zusammen-
hang mit dem Umstande, daß wir es einerseits mit dem Resultat der überwiegenden
sekretorischen Prozesse, andererseits mit dem Prävalieren der trophischen Einflüsse ...
zu tun haben“. Granulaschwund ist seit langem Anzeichen für Sekretion; demnach
erklärt Babkin die vorwiegende Sekretion durch den „überwiegenden sekretorischen
Prozeß“; andererseits den Granualreichtum durch trophische Einflüsse, die uns völlig
unbekannt ®®) sind. =
3abkin schließt aus den Versuchen mit Vagusreizung, daß hierbei zwei
Perioden zu unterscheiden wären: „Die eine wird physiologisch durch langsame
Sekretion und morphologisch durch unbedeutende Körnchenausscheidung charakte-
risiert; die andere zeichnet sich durch stärkere Sekretion und stark ausgeprägte
Verarmung an zymogenen Körnchen aus.“ Demnach also müßten sich die Pankreas-
zellen auf denselben Reiz hin nach 3 Stunden und 4°/, Stunden in der körnchen-
reichen nach 2?/, Stunden und 5?/, Stunden in der körnerarmen Periode befinden.
Aber dieselbe Periode kann doch nicht um 2°/, und 5!/, Stunden liegen, wenn eine
andere um 3 und 4°/, Stunden sich dazwischen schiebt. Es bleibt also nur übrig,
mindestens drei Perioden zu unterscheiden: nach 2°/, Stunden sind die Zellen
körnerarm (vierte Arbeitsphase in meinem Sinne), nach 3 Stunden und 4°/, körner-
reich (dritte Arbeitsphase) und nach 5!/, Stunden wieder körnerarm (vierte Arbeits-
phase). Wie ich oben auseinandersetzte, könnte dann vielleicht die hier zuerst ge-
nannte Phase der Hungerperiode angehören, die beiden darauffolgenden der ersten
Sekretionsperiode.
So sehe ich im Gegensatz zum Autor seine Versuche als eine
Stütze meiner Periodentheorie an, wobei betont werden muß, daß
diese Versuche noch mehr vertieft werden müssen, ehe man bin-
dende Schlüsse aus ihnen ziehen kann. Heute bilden Babkin’s
Versuche eine Nebenstütze für die Theorie, daß das Schwanken
der Granulamenge seinen Grund nicht allein in äußeren Reizen,
sondern vor allem in der Verkettung der Sekretionsphasen hat,
83) S. dazu Rud. Heidenhain (Hermann’s Hbd.d. Physiol. Bd. 5, 1) und
Verworn, Allgem. Physiol. 6. Aufl., 1915, S. 428.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. Ss1
da wir bei gleichem Reiz zu verschiedener Zeit verschiedene Granula-
mengen antreffen.
=
Zusammenfassung. Auch das Sekret des Pankreas zeigt
schwankende Fermentkraft. Vergleichen wir die Kurve der Fer-
mente mit den unabhängig davon gewonnenen Zellbildern zu ver-
schiedenen Zeiten nach der Nahrungsaufnahme, so ergibt sich folgen-
des System:
Hungerperiode:
A. Während des Hungerns werden die Granula gespeichert.
Es fließt keine größere Menge Sekret (3. Phase).
B. Binnen einer Stunde werden viele Granula der Hunger-
periode gelöst und wahrscheinlich gleichzeitig viele neu-
gebildet. Die Fermentkraft steigt (4. Phase).
Erste Sekretionsperiode:
A. Binnen 3—4 Stunden trübt und verkleinert sich dıe Granula-
zone; Neubildung von Vorstopfen [und Granula?] (2. [u. 3. ?]
Phase). Die Fermentkraft sınkt.
B. Binnen 2-4 Stunden werden die meisten Granula gelöst.
Die Fermentkraft steigt (4. Phase).
Zweite Sekretionsperiode:
A. Binnen der 5. Stunde u. s. w. wächst die Granulazone stark
an. Die Fermentkraft sinkt (3. Phase).
B. Ein deutlicher Granulaschwund ist nicht mehr festgestellt.
Die Fermentkraft steigt in einigen Fällen.
Dritte Sekretionsperiode ist ungewiß; allmählich gehen die
Sekretionsperioden in die Hungerperiode über, in der die
Granula gespeichert werden und keine größere Fermentmenge
mehr ausgeschieden wird.
Die Neubildung des Fermentes in der ersten und zweiten Sekre-
tionsperiode ist auf heute bekannte äußere Reize nicht zurückzu-
führen. Meine Erklärung der Periodizität von Bildung und Abscheidung
ist die Annahme einer notwendigen Arbeitsfolge in der Zelle, auf
welche die äußeren Reize nur bezüglich Sekretmenge und Sekre-
tionsgeschwindigkeit Einfluß haben (vgl. Kap. II)
*
Die Beobachtungen über eine periodische Arbeit der Verdauungsdrüsen be-
ziehen sich bisher nur auf die Arbeitszeit während der Verdauung, nicht auf die
Hungerzeit. Es sind aber über 100 Versuche an 30 Hunden beschrieben worden ®'),
nach denen auch während des Fastens eine periodische Sekretion des Pan-
kreas stattfinden soll: Die Drüse scheidet 20-30 Minuten lang etwa 2—3 cem
Saft aus, „ruht“ darauf 1'/,—3 Stunden, sondert dieselbe Menge in der gleichen
34) W. Boldyreff, Ergebn. d. Physiol. Bd. 11, 1911, 8. 190.
82 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
Zeit aus, ruht wieder eine entsprechende Zeit u. s. f. Die Zeitspanne der Absonde-
rung und die der „Ruhe“ soll bei demselben Individuum so konstant sein, daß man
nach einmaliger Feststellung der Periodenzeit bei einem Tier genau den Zeitpunkt
angeben kann, wann wieder eine Sekretion erfolgen wird. Absonderungszeit und
Ruhezeit sollen in einem festen Verhältnis zueinander stehen: je länger die Arbeits-
periode, desto länger die Ruheperiode: falls aus irgendeinem Grunde bei einem
Hunde die Ruheperiode länger als gewöhnlich dauert, so währt auch die Arbeits-
periode entsprechend länger. Ferner ist die Zeit beider Perioden durch Krankheit
zu behindern; auch auf Fressen „bricht die periodische Tätigkeit sogleich ab und
macht der Verdauungstätigkeit Platz“. — Genau in den gleichen Perioden soll die
Darmwand Saft ausstoßen und soll Galle aus der Gallenblase fließen. Künstlich ließ
sich bisher solche periodische Sekretion nicht hervorrufen.
Auf den ersten Blick scheinen diese Beobachtungen eine schöne Ergänzung
meiner Theorie periodischer Sekretion während der Verdauung zu sein: danach
könnten wir uns vorstellen, daß die periodische Arbeit der Verdauungsdrüsen auch
in der Hungerzeit auf die Tatsache eines periodischen Aufbaus und Abbaus der
Fermentgranula zurückzuführen ist: ist eine bestimmte Menge der Granula gebildet,
so erfolgt automatisch die Ausstoßung. Dafür spräche auch die Tatsache, daß Be-
standteile, spez. Gewicht, Fermentkraft und Alkaleszenz des Pankreassaftes auffallend
konstant bei jeder Sekretion sein sollen. Demnach wären die Perioden der Hunger-
zeit auf dieselben Ursachen zurückzuführen wie die der Verdauungszeit und wir er-
hielten ein ansprechendes Bild des gesamten Arbeitsrhythmus.
Zunächst aber, ehe nicht die Ursachen des Rhythmus in der Hungerzeit und
dessen direkte Beziehungen zum Rhythmus der Verdauungszeit erforscht sind, läßt
sich Sicheres nicht aussagen. Es ist heute unwahrscheinlich, daß der Rhythmus
der Hungerzeit auf Ursachen zurückzuführen ist, die in der Drüsenzelle bezw. im
Drüsenorgan zu suchen sind; denn erstens sezerniert (nach bisherigen Beobachtungen)
der Magen nicht periodisch in der Hungerzeit, vor allem aber sollen Pankreas,
Gallenblase und Darm zu gleicher Zeit ihren Saft ausstoßen. und der Magen soll
sich dabei gleichzeitig kontrahieren, wobei 3—5 cem Schleim abgesondert werden.
Ebenso kontrahiert gleichzeitig der Darm vom Duodenum bis zum Blinddarm. Ist
diese Beobachtung richtig, daß alle diese Organe eine so verschiedene Tätigkeit
gleichzeitig und periodisch ausüben, dann muß der Grund dafür im Gesamtorganismus,
aber nicht innerhalb einer Drüse gesucht werden. Dies ist jedoch ein wesentlicher
Unterschied gegen meine Auffassung der periodischen Sekretion während der Ver-
dauungszeit; somit läßt sich eine Beziehung zwischen beiden Erscheinungen heute
noch nicht herstellen.
I1.
Vergleichendes.
Zwei Aufgaben stellten wir uns: einmal die Frage zu beant-
worten, ob die Drüsen während einer längeren Verdauungszeit ein-
periodisch oder mehrperiodisch arbeiten. Zweitens, ob die Be-
dingungen des periodischen Ablaufs in den Zellen oder in den
Reizen liegen.
Die Antworten auf beide Aufgaben, in der Einzeldarstellung
nicht voneinander trennbar, sollen jetzt gesondert gegeben werden
und ihre Stellung in dem Problem rhythmischer Organarbeit soll
aufgezeigt werden°°).
85) Eine vollständige (tatsächliche und begriffliche) Auseinandersetzung mit
den herrschenden Meinungsverschiedenheiten über rhythmische Lebensvorgänge, be-
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 85
1. Die Verkettung.
Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen offenbart sich zu-
nächst in einer festgelegten Reihenfolge des Arbeitsablaufs: einer
Verkettung bestimmter Phasen und Perioden; zweitens in einer
bestimmten zeitlichen Beeinflussung dieses Ablaufs. Wir betrachten
zunächst die Verkettung.
Die Verkettung der Phasen.
Die Entwicklung des Fermentes ın den Drüsenzellen wurde
schematisch in vier Phasen zerlegt (S. 46), um Kriterien für den
Entwicklungsablauf zu gewinnen:
Rohstoffaufnahme |
Bildung eines Vorstoffes eine Arbeitsperiode.
Bildung der Granula
Ausstoßen des Sekretes
In dieses Schema lassen sich spätere Ergebnisse einordnen und
fügen sich Betrachtungen an anderen Drüsen °°).. Hier wurden
diese Phasen dargestellt bei der Mitteldarmdrüse des Astacus (S. 50),
der Gastropode Pleurobranchaea (S. 55) sowie bei den Magenhaupt-
zellen (S. 61) und Pankreaszellen des Hundes (S. 73).
Eine analoge Anordnung der Phasen ist uns aus anderen rhyth-
mischen Erscheinungen des Organismus wohlbekannt. Es ist in
Hinblick auf manche begrifflich unklare Untersuchung wertvoll,
sich kurz vergleichend mit ihnen zu beschäftigen.
Die bekannteste periodische Arbeit im tierischen Organismus
ist die Herztätigkeit mit vier Phasen”):
Die Anspannungszeit |
Die Austreibungszeit |}
Die Entspannungszeit] _..
Die Anfüllungszeit | Bastele
Systole
‚ eine Arbeitsperiode.
Andere Forscher haben die Grenzen der Phasen etwas anders
gezogen °*), was die Willkür solcher Einteilung beleuchtet, welche
— wie die unsrige — nur den Zweck hat, das Gebundene zur
Klärung zu trennen. Genau so steht es bei der Phaseneinteilung
der Karyokinese. Häufig lassen sich zunächst nur zwei Phasen
unterscheiden, wie bei der Atmung, der kontraktilen Vakuole und
dem Vor- und Rückschlag der Geißel- und Wimperbewegung; ebenso
sonders auf botanischem Gebiete, ist dabei natürlich nicht möglich; dies wird eine
spätere Arbeit auf größerer Tatsachenbasis versuchen.
S6) Siehe die Zusammenfassungen von M. Heidenhain, Metzner, Noll
und Gurwitsch.
857) Hürthle, 1891.
88) Engelmann, Luciani u. a.
S4 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
konnten die rhythmischen Entladungen, mit denen eine Ganglien-
zelle einen unrhythmischen Reiz beantwortet, als eine sehr rasche
Folge der zwei Phasen: Impuls und Pause beobachtet werden, die
in solcher Schnelligkeit wechseln, daß man über hundert solcher
Impulse und Pausen in einer Sekunde nachweisen konnte *).
Das Gemeinsame dieser an sehr verschiedenen lebendigen
Systemen beobachteten periodischen Geschehnisse ist erstens, daß
die Arbeit des betreffenden Organs ringförmig zum Ausgangs-
punkt zurückkehrt und damit eine Periode abgeschlossen ist,
gleichgültig, ob sie sich wiederholt oder nicht.
Das zweite Gemeinsame ist die Verkettung”), die be-
stimmte Reihenfolge der einzelnen Phasen innerhalb einer
normalen Periode und der Perioden innerhalb des nor-
malen Gesamtablaufs. Diese Verknüpfung ist im normalen
Geschehen so eng, daß wir sie als notwendig bezeichnen können.
Damit ist nicht gesagt — wie man gemeint hat — daß diese Ver-
kettung nicht in irgend einem Punkte gehemmt (oder beschleunigt)
werden könne; wir werden diese Wirkung nachher kennen lernen.
Sondern es ist nur gesagt: auf eine bestimmte Phase eines nor-
malen Geschehens kann immer nur eine bestimmte andere folgen,
nicht eine beliebige; genau wie in der normalen Organismenentwick-
lung ein Stadium nur in ein bestimmtes anderes übergehen kann.
Auch ist mit dem Worte notwendig nicht Lebensnotwendigkeit
gemeint — wie man es auch gelegentlich aussprach —; vielmehr
wird der Gesamtorganismus das Stillstehen vieler Arbeiten seines
Innern ohne Schädigung überleben und regulieren können.
Die Organisation eines Organismus kann im großen über Stoffe
und „Stoffwechselwege ungemein frei verfügen, aber andererseits
89) Verworn, Erregung und Lähmung, 1914, S. 228.
90) Ich habe mich in der Embryologie (Entwicklungsmechanik) und Physiologie
leider vergeblich nach einem allgemeinen Begriff für die Verkettung der Vorgänge
in einem ablaufenden System umgesehen. Auch in der Logik ist mir ein Ausdruck
für Geschehnisse nicht bekannt, die so miteinander verbunden sind, daß b aus a,
ce aus b, d aus ce u.s.w. entsteht, daß also die Phasen a, b, e durchlaufen werden
müssen, um, d zu erreichen. Ich habe den deutschen Ausdruck Verkettung
gewählt, der dem physiologischen Begriff der Koordination ungefähr gedank-
lich entspricht; dieser letzte ist zunächst für die Reflexwirkung auf Bewegungs-
organe gebraucht worden, welche synchrone oder metachrone Bewegungen aus-
löst (z.B. Driesch, Philosophie d. Organischen, 1909, Bd. II, S. 27); als Pa-
rallele käme für uns vor allem die metachrone Wirkung der „Kettenreflexe“ (Loeb)
in Betracht. Dann haben Bayliss u. Starling (Ergebn. d. Physiologie, 1906, Bd. 5,
S. 666) den Ausdruck „Koordination“ erweitert und verstehen darunter einen Mecha-
nismus, „vermittels dessen die Tätigkeit eines Teiles oder eines Organs auf die Tätig-
keiten oder das Wachsen anderer Organe, welche sehr weit von den ersten entfernt
sind, einwirken kann“. Das „sehr weite“ Entferntsein ist zu relativ, um als Begriffs-
grundlage zu dienen; vielmehr möchte ich als Koordination oder Verkettung
jede Verkuppelung normaler aufeinanderfolgender Geschehnisse im
Organismus bezeichnen. —
@G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 85
sind die Bahnen, in denen ım kleinen der normale Vorgang der
Zellen und Organe sich abspielt, fest eingefahren. Die Phasen der
Kernteilung sind ın ıhrer Reihenfolge innerhalb verhältnismäßig
enger Grenzen für alle Organısmen gleichmäßig vorgeschrieben. Es
müssen Inspiration und Exspiration so notwendig wechseln, wie die
vier Phasen der Herztätigkeit und die zwei Phasen der Vakuolen-
pumpe. Es müssen Impuls und Pause der Ganglienarbeit, d.h.
wahrscheinlich Zerfall und Wiederaufbau bestimmter Substanzen
in den Ganglienzellen °!), ebenso notwendig aufeinanderfolgen,. wie
Vor- und Rückschlag der Wimperbewegung. Und ebenso erfolgt
in den Drüsenzellen eine Vorstoffbildung nur nach Rohstoffaufnahme:
und nach der Vorstoffbildung müssen (bei unserm heutigen Wissen)
stets erst Granula gebildet werden, ehe das Ferment ausgeschieden
wird.
Diese Verkettung des Ablaufs ist die zwangläufige Bahn, die
eine Organisation ıhrer Arbeit vorschreibt; sie ıst der Zwang eines
Systems. Als Vergleich mag die Notwendigkeit dienen, mit der
in einer Melodie ein Ton auf den vorhergehenden folgt, wenn diese
Melodie gewahrt werden soll”); auch die Notwendigkeit, mit der
innerhalb einer Maschinenarbeit ein Geschehen auf das andere folgt,
wenn der normale Ablauf der Arbeit garantiert werden soll’®). Das
Wachstum ist ebenfalls solche Verkettung, dıe mit der physiologi-
schen Arbeitskette erwachsener Organe viele Parallelen hat, ja, ihr
im Wesen vielleicht gleich ıst?°*)
Der Begriff Johannes Müller’s „Spezifische Energie der
Sinnessubstanzen“ läßt sich mit Recht auf jede Zelle erweitern).
Sie besteht zunächst aus einer Verkettung der Geschehnisse in
einem lebenden System, d. h.: ein das System treffender äußerer
Reiz löst in dem System eine spezifische Kette von Vorgängen
91) Verworn, a.a.0., 8. 242.
92) Daß damit die Melodie nicht allein bestimmt ist, s. S. 100.
93) Da, wo rhythmisches Geschehen und Ontogenie sich berühren, wie bei
rhythmischer Pflanzenentwicklung fällt die Schwierigkeit besonders auf, in den viel
größeren Komplex von Geschehnissen hineinzublicken, als ihn die Zellsekretion
z.B. darstellt; daher wohl der Meinungsstreit. Im’ allgemeinen ist ja „Entwick-
lungsarbeit“ (z. B. Teilung) ein Vorgang, der von den andern physiologischen Ge-
schehnissen getrennt, durch besondere Reize ausgelöst, neben ihnen herläuft oder an
ihre Stelle tritt (vgl. OÖ. Hertwig, Allgem. Biologie, 4. Aufl., 1912, S. 537).
94) Auf die Wichtigkeit eines solchen notwendigen Zusammenhangs ist oft
hingewiesen worden; so z.B. bei Driesch (Philosophie der Organischen, 1909). —
Jordan H., Die Lebenserscheinungen und d. naturph. Monismus 1911 u. Vergl.
Physiol. Wirbelloser I, 1913. — Lotze, Mikrokosmos, 5. Aufl., 1896, Bd. 1, 8. 58.
95) Hertwig, Osc., Allgem. Biologie, 4. Aufl., 1912, S. 148, 504. — Verworn,
Allgem. Physiol., 6. Aufl., 1915, S. 589. — Ders., Erregung u. Lähmung, 1914,
S. 67, 289. — Der spez. Energie ist wohl gleichzusetzen die „Autoergie* (Roux)
und die „spezifische Struktur“ plus demjenigen Teil der „inneren Bedingungen“, der
„abhängig von den Potenzen der spezifischen Struktur ist“ (Klebs, Sitzgsber. d,
Heidelb. Akad., 1913, S. 9).
S6 G. Chr. Hirsch, der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
aus, deren Reihenfolge im normalen Geschehen durchaus unab-
hängig ist von dem Reiz. Diese Verkettung nennt Hermann Jordan
„mittelbare Kausalıtät“: „Der Schuß tritt mit Notwendigkeit ein,
weil die Anordnung der Teile des Gewehrs die Entzündung des
Pulvers mit Notwendigkeit verursacht“). Daß die spezifische
Energie nicht allein durch diese Verkettung bezeichnet ist, werden
wir unten sehen (S. 93).
Es ıst kaum notwendig, zu sagen, daß der Ablauf der Gescheh-
nisse eine Reihe „innerer Bedingungen“ zur Voraussetzung hat,
die aber nicht von ihm begrifflich trennbar sind, wie man wollte;
sondern das gleichmäßige Eintreten der einzelnen Bedingungen für
jede Phase stellt das Wesen der Verkettung selbst dar. Welche
inneren Zellvorgänge die eine Phase der Sekretionsperiode ın die
folgende überführen, ist uns unbekannt; selbstverständlich hat jede
einzelne Phase ihre Bedingungen, und daß diese ın gesetzmäßiger
Reihenfolge auftreten, nennen wir Verkettung””).
Noch ein Wort über die Notwendigkeit der Verkettung. Es ist
schon betont worden, daß sich diese nur auf den normalen Ablauf
eines physiologischen Geschehens bezieht. Wir würden aber die
Phylogenie nicht verstehen, wenn!{wir nicht annähmen, daß der
Arbeitsablauf durch besondere Einwirkungen auch geändert werden
kann. Man hat diese Wirkung besonderer Reize eine metamor-
photische genannt‘’) und damit alle Bedingungen der Gewebs-
metamorphosen und der Variation bezeichnet. Während die normalen
Reize die normale Arbeitsfolge selbst nicht beeinflussen, so können
doch metamorphotische Reize Folgen haben, welche die Zelle zwingen,
eine andere Arbeitsfolge einzuschlagen, Da wir hier bei den Drüsen
nur vom normalen Ablauf sprechen, so genügt dieser Hinweis. —
Die Verkettung der Perioden.
Nach Ablauf einer Periode müssen die, Geschehnisse in be-
stimmter Weise weiter laufen, wobei zwei Möglichkeiten bestehen:
entweder setzt eine andere Arbeit mit anderen Phasen ein, dann
bricht also die erste Periode nach einmaligem Ablauf ab; oder die
Periode wiederholt sich, d. h.: die gleiche Phasenfolge beginnt am
Ausgangspunkt von neuem. In dem ersten Falle kann natürlich
auch diese neue Arbeitsfolge unserer Beobachtung entzogen sein
und wir sagen: die Arbeit „ruht“. Dies ist mir nur von der
Zellarbeit, nicht von der Organarbeit bekannt und ist nur dann
96) Jordan H., Vergl. Physiol. Wirbelloser, I, 1913, S. 3.
97) Wie man sich die physikalisch-chemischen Bedingungen in der Zelle denkt,
s. Höber, Physik. Chemie der Zelle u. Gewebe, 4. Aufl., 1914. Auch Klebs,
Sitzgsber. d. Heidelb. Akad., 1913, S.41 u. Verworn, Erregung u. Lähmung, 1914,
Ss. 41.
98) Verworn, a.a.0., S. 68, 301. — S.auch Hertwig, Osc., Allgem. Bio-
logie, 4. Aufl., 1912, 8. 154, 525541, 552—607.
@. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 87
verwirklicht, wenn andere Aufgaben an die Zelle herantreten
oder die betreffenden Zellen z. B. durch Abschnürung vernichtet
werden.
Einen solehen einperiodischen Ablauf erblicken wir in dem
Befruchtungsvorgang, nach welchem die Zelle in andere Arbeiten
eintritt; vielfach ist auch der Zellteilungsvorgang eine einperiodische
Leistung, nämlich dann, wenn nach einer Teilung die Zelle dauernd
„ruht“, d. h. andere Aufgaben zu erfüllen hat. Auch bei der Se-
kretion kommt gelegentlich solch einperiodischer Ablauf vor, wenn
nach einmaliger Bildung des Sekretes die ganze Zelle abgestoßen
wird, im Lumen zerfällt und hier die Fermente freimacht (Astacus,
S. 50); dagegen arbeitet die Zelle mehrperiodisch, wenn das Plasma
nur teilweise abgeschnürt wird und der Zellrest mit dem Kern in
eine neue Sekretionsperiode eintritt.
Die Verhältnisse bei Hydrophilus (S. 53) werfen ein helles Licht
auf die Unzulänglichkeit morphologischer Begriffe für physiologische
Systeme. Je nachdem man die Zelle oder den Darm als einheitlich
arbeitendes System betrachtet, kann man —- nach den physiologisch
spärlichen Ergebnissen — den Ablauf als einperiodisch oder mehr-
periodisch ansehen: etwa alle 36 Stunden soll das gesamte Darm-
epithel periodisch abgestoßen und in der Zwischenzeit neu gebildet
werden bezw. die Funktion der Absorption übernehmen; demnach
wäre die Zellsekretionsarbeit einperiodisch, die Organarbeit mehr-
periodisch.
Ein mehrperiodischer Funktionsablauf ist eine Verkettung
von Perioden (periodische Zellteilungen der Einzelligen), wie eine
Periode eine Verkettung von Phasen ıst. Für die Sekretionsarbeit
der Zelle ist es bei höheren Tieren bekannt, daß nach einer Ver-
dauungszeit nicht sämtliche Drüsenzellen abgestoßen oder vernichtet
sind. Es muß sich also ın der gleichen Zelle dieselbe Periode ım
Laufe ihres Daseins mehrere Male abspielen. „Der Erguß der Se-
krete nach außen, d. h. auf die Körperflächen und in die Körper-
hohlräume und -kanäle, erfolgt in der Regel intermittierend, ın
Pausen, so daß man zwischen Ausscheidungspausen und Ausschei-
dungszeiten unterscheiden muß, oder wenn sie dauernd erfolgt, doch
fast stets mit zeitlichen Steigerungen und Minderungen, äußerst
selten ununterbrochen in gleicher Stärke“ ®).
Wo ist aber die Grenze zwischen der „dauernden“ Sekretion
mit ihren „Steigerungen und Minderungen“ und zwischen einer kür-
zeren Sekretion mit einer einzigen Periode? Sollten sich nieht auch
binnen einer durehschnittlichen Sekretion von 3—10 Stunden solche
Steigerungen und Minderungen finden lassen, so daß man auch
während dieser Epoche Ausscheidungszeiten und Ausscheidungs-
99) Ellenberger und Scheunert, Lehrbuch der Vergleich. Physiol. d. Haus-
säugetiere, 1910, S. 168.
Ss G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
pausen unterscheiden kann? Dann würde sich ein intermittierender,
mehrperiodischer Prozeß auch während der Verdauungszeit finden,
nicht nur ım ganzen Dasein einer Drüsenzelle.
In der Tat konnte dies chemisch und morphologisch bei Pleurobran -
chaea gezeigt werden (S. 55). Auffallend ähnliche Kurven in 59 von 65
Fällen zeigte die Fermentkraft im Magensaft des Hundes (Fig. 15),
des Menschen und der Ziege (Fig. 17), sowie im Glyzerinauszug des
Schweinemagens (Fig. 18). (Eine vierte Phase der zweiten Sekretions-
periode und eine dritte Periode sind nur selten zu beobachten, was man
wohl auf die geringe Menge der Probenahrung zurückführen kann.)
Ebenso verhalten sich die Pankreaszellen des Hundes (Fig. 19 u. 20).
— Im Zellbilde lassen sich auch mehr Perioden unterscheiden als
die Autoren es bisher taten; doch läßt sich bei Säugetieren eine
vollständige Übereinstimmung der Zellfunde mit den Angaben über
die Fermentstärke noch nicht erbringen. Die Zelle arbeitet im
Augenblicke wahrscheinlich nicht nur an einer einzigen Arbeitsphase,
sondern stets an mindestens zwei (vgl. S. 94). Es ist aber keines-
wegs so, daß sie alle Arbeitsphasen gleichzeitig leistet, denn dann
müßte ja das Zellbild unveränderlich sein, indem an dem einen Ende
ebensoviel Granula gebildet wıe am andern Ende aufgelöst werden,
und in der Sekretkurve müßte die Fermentkraft einmal ansteigen
und einmal abfallen. Vielmehr überwiegen wahrscheinlich in der
Zelle periodisch ein bis zwei hintereinanderliegende Arbeitsphasen.
In der Mitteldarmdrüse der Pleurobranchaea dagegen sind die ein-
zelnen Perioden morphologisch deutlicher hintereinander geordnet,
nur die letzte Phase der einen Periode deckt sich zeitlich etwas mit
der ersten. Phase der nächsten Periode.
Wir sehen also vor allem an dem Fermentgehalt des Sekretes,
daß während einer etwa zehnstündigen Verdauungszeit die
Fermentabsonderung vieler Drüsen einen mehrperiodi-
schen Prozeß darstellt, während die Wasserabgabe gleichmäßig
einen einperiodischen Prozeß bildet.
Sollten sich Zusammenhänge zwischen der sogen. „periodischen Hungersekre-
tion“ (S. 81) und der periodischen Verdauungssekretion ergeben, so würde man eine
Kurve erhalten, in der ein längeres gradliniges „Ruhestadium“ periodisch abwechselt
mit der schnell auf- und absteigenden Zacke einer Hungersekretion, welcher gleich-
mäßige Verlauf nur zur Verdauungszeit durch mehrere höhere und dichtaufeinander-
folgende Zacken als Reizzeit unterbrochen wird Doch ist dies noch sehr fraglich.
Von diesen Beobachtungen periodischer Drüsenarbeit aus wird
auch Licht auf die Sekretion erstarrender Sekrete fallen.
Stufenuntersuchungen an der arbeitenden Zelle und an dem Pro-
dukte dieser Arbeit werden bei den zahllosen festen Zellausschei-
dungen wertvolle Aufklärungen über die Folge der Arbeitsphasen
und Perioden geben. Viele solcher Sekrete sind so gestaltet, daß
man sie nur durch eine periodische Arbeit der Zelle erklären kann.
Es werden Zellen mit einperiodischer Arbeit gefunden werden, wie
wahrscheinlich die Bildung der Schmetterlingsschuppe, des Chiton-
@. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. sy
stachels u. s. w. — und Zellen mit mehrperiodischer Arbeit, ın denen
sich mehrere gleiche Perioden mit verschiedenen Phasen abspielen,
wie wahrscheinlich bei dem Bau der Sepiaschulpe, der Sekretion
des Chitins und vieler anderer fester Sekretionsprodukte auch der
Pflanzenzelle !0). Ein grundsätzlicher Unterschied zwischen der Se-
kretion erstarrender und flüssiger Sekrete besteht nicht, wenn man
die Zelleistung als solche betrachtet !').
Die Autonomie der Verkettung.
Der Ablauf der periodischen Geschehnisse wird ausgelöst durch
einen das physiologische System treffenden Reiz. Es erhebt sich
nun die wichtige Frage, ob für den beschriebenen Arbeitsrhythmus
der Verdauungsdrüsen die Bedingungen *ausschließlich in jenen
äußeren Reizen zu suchen sind: dann müßte für das Eintreten jeder
Phase, für das Auf- und Absteigen jeder Kurvenzacke ein beson-
derer Reiz verantwortlich gemacht werden. Dies nımmt die Peters-
burger Schule — wie vorstehend gezeigt — an!"). Es gibt aber
auch noch die andere Möglichkeit: die äußeren Reize wirken zwar
quantitativ, die Verkettung jedoch wird qualitativ allein von der
Zellorganisation gebildet. Dieses Problem soll vergleichend erörtert
werden.
Dafür ıst es notwendig, zunächst jeden periodischen Vorgang
so weit wie möglich zu seinen Wurzeln zu verfolgen; denn viele
periodische Erscheinungen werden nur von anderen periodischen
Vorgängen vorgeschrieben, besitzen also keinen Eigenrhythmus.
Man hat diese als exonome Rhythmen!") bezeichnet (oder als
Rhythmen HH. Ordnung '!)). So folgt der Rhythmus des Lungen-
apparates wahrscheinlich dem periodischen Arbeiten des Atem-
zentrums und der Vagusregulierung. — Dagegen möchte ich jene
Vorgänge, welche die Bedingungen für die normale Ver-
kettung ihrer Phasen ın ihrem geschlossenen System
tragen, als autonome !®) Rhythmen bezeichnen. Dabeı ist also
100) Küster, E., Über Zonenbildung in kolloidalen Medien, Jena 1913. —
Ders., Über die Schichtung der Stärkekörne', Berichte d. dtsch. bot. Gesellsch.,
Bd. 31, 1913, 8.339. — Ders., Über den Rhythmus im Leben der Pflanze, Ztschr.
f. vergl. Physiol, Bd. 17, 1916, 8. 1.
101) Küster, E., a. a. O. 1916, S. 16 teilt die rhythmischen Vorgänge in
reversible (Mimosa-Bewegung, Herz, Flimmerepithel) und irreversible (Wachstum,
Strukturen).
102) Analog glaubt eine neuere botanische Richtung den Wachstumsrhythmus
der Pflanzen ausschließlich auf äußere Reize zurückführen zu können.
103) Verworn, Erregung und Lähmung, 1914, S. 238.
104) F. W. Fröhlich, Rhythmische Natur der Lebensvorgänge, Ztschr. f
allgem. Physiol., Bd. 13, 1912, 8. 27. — Offenbar ohne Kenntnis dieser Arbeit
scheidet Munk (Biol. Zentralbl., Bd. 34, 1914, S. 625) zwischen prim. u. sek. Rhythm.
105) Verworn, a.a. 0.8. 938 stellt ch auf den äußeren Standpunkt des
Reizes und scheidet zwischen automatischer Rhythmenbildung (ohne Reizwirkung)
38. Band 7
g0 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
der Begriff der Autonomie jedesmal in Beziehung zu einem ge-
schlossenen System und ım Gegensatz zur Außenwelt zu setzen 10%),
Er ıst hier zunächst nichts als ein negativer Ausdruck: nicht ab-
hängig von den äußeren Reizen; positiv können wir bisher, wie über
die Zusammenhänge eines jeden physiologischen Systems überhaupt,
so gut wie nichts sagen. Dieser autonome Rhythmus läßt wieder zwei
Formen erkenhen: Erstens, der Rhythmus läuft ohne jede Auslösung
der Reize der Außenwelt ab, allen auf Grund der inneren Be-
dingungen; man hat diese Vorgänge als automatische bezeichnet
und behauptet, daß die pulsierenden Vakuolen und der Wimper-
schlag einiger Protozoen solche autonomen Rhythmen wären 17).
Andererseits kann man dieser Automatie diejenigen periodischen
Vorgänge gegenüberstellen, welche zwar durch äußere unperio-.
dische Reize auf das betreffende physiologische System ausgelöst
werden, bei denen aber dıe Bedingungen für das Eintreten der
darauf folgenden Phasen ım System selbst liegen: eine periodische
Antwort auf einen unperiodischen Reiz. Man kann diese Vorgänge
als endonome!"*) bezeichnen (Ganglienzelle, Zellteilung). Demnach
sei das Schema rhythmischer Geschehnisse ım Organismus:
Exonome Rhythmen (Rh. 11. Ordnung): Ohne Eigenrhythnmus.
Autonome Rhythmen (Rh. 1. Ordnung): Mit Eigenrhythmus.
Automatische: ohne äußere Auslösung durch Reize.
Endonome: mit äußerer Auslösung durch Reize.
In welche Gruppe des Schemas gehört der beobachtete Rhyth-
mus der Verdauungsdrüsen? Nicht in Betracht kommt die Gruppe
und rhythmischer Reizwirkung (exonom, amphonom, endonom). Es ist jedoch
klarer, sich auf den Standpunkt der Zellarbeit zu stellen. Da fehlt nun bei Ver-
worn ein Gesamtbegriff für die den Reizen gegenüber selbständige
Zellarbeit, gleichgültig ob diese ohne jede Reizwirkung abläuft oder mit Aus-
lösung durch Reizwirkung. Diesen (Gesamtbegriff nenne ich Autonomie (vgl.
Anm. 106). Der sprachlich unschöne Gegensatz zwischen exonom und autonom
rührt daher, daß Verworn den Begriff endonom leider bereits enger festgelegt hat
(vgl. Anm. 108).
106) In ähnlichem Sinne wendet P feffer (Pflanzenphysiol. II, 1909, besonders
S. 388) dies Wort an, mit ihm Küster (Zonenbildung in kolloidalen Medien, Jena
1913). — Dagegen wenden sich Klebs (Sitzber. Heidelb. Akad. 1913, Munk (Biol.
Zentralbl., Bd. 34, 1914, S. 626) und Lakon (Biol. Zentralbl., Bd. 35,: 1915,
S. 401). In ganz anderer Weise benutzt es Driesch in vielen Arbeiten. Neuer-
dings bezeichnet v. Tschermak (Allgem. Physiol. 1916, S. 36) den „durch äußere
Faktoren zwar beeinflußten, aber nicht verursachten Charakter“ eines organischen
Prozesses als autonom.
107) Verworn, a. a. O., S. 2322.
108) Verworn, a. a. O., S. 238 unterscheidet zwischen endonomen Vor-
gängen (bei denen nur ein unrhythmischer Reiz mit einem Rhythmus beantwortet
wird) und amphonomen Vorgängen (bei denen ein rhythmischer Reiz mit einem
andern Rhythmus beantwortet wird). Beide Vorgänge beruhen jedoch auf derselben
Leistung der Zelle: auf Reiz mit einem Eigenrhythmus zu antworten; deshalb fasse
ich sie zusammen unter den Begriff endonom.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 91
der automatischen Vorgänge, weil der Sekretionsrhythmus ausgelöst
und beeinflußt wird durch Reize. Bleibt also nur die Frage: ıst er
exonom oder endonom ?
Dabei ist zunächst das geschlossene System abzugrenzen, das
endonom sein soll oder nicht. Nehmen wir zunächst als einheit-
liches System die Drüse, denn es geht aus dem vorstehenden
Kapitel hervor. daß die Drüse in ziemlich engen Grenzen einheit-
lich arbeitet. Man hat dies darauf zurückgeführt !°), daß die Drüsen
in sich eine solehe Arbeitsteilung besäßen, daß alle Funktions-
stadien gleichmäßig sich in dem Organ fänden und dieses dadurch
imstande sei, ganz gleichmäßig während der Verdauungszeit Fer-
mente zu liefern. Unsere vorstehenden Kurven beweisen aber die
Ungleichheit der Fermentlieferung. Dagegen beweist die Gleichheit
der immerwiederkehrenden Kurvenform, daß die Drüse innerhalb
einer Variationsgrenze einheitlich arbeitet, so daß zu einer bestimmten
Zeit die Mehrzahl der Zellen sich auf einem gleichen Funktions-
stadium befindet.
Für eine Erklärung des einheitlichen Rhythmus der Drüsen-
arbeit- gibt es drei Möglichkeiten: entweder sind die Reize der
Nahrung einheitlich rhythmisch (wie die Petersburger Schule schließen
muß, wenn sie konsequent ist) oder die Entladungen eines die
Drüsenarbeit regulierenden Zentrums sind einheitlich rhythmisch,
oder drittens die Zellarbeit — und erst sekundär die Organarbeit —
ist einheitlich rhythmisch. Die letzte Entscheidung über das Zu-
treffen einer dieser Möglichkeiten haben die Experimente, doch
läßt sich kritisch schon jetzt einiges durch unsere heutige Erfahrung
sagen.
Die erste Erklärung: die Phasen und Perioden innerhalb des
Drüsensystems sind allein auf Reize der Außenwelt zurückzuführen,
ist unwahrscheinlich, denn wir müßten dann annehmen, daß in
jeder Nahrung bestimmte Stoffe steckten, die als bestimmte Reize
und Hemmungen wirken, welche die Drüse der Schnecken, Hunde,
Ziegen, Schweine, Menschen in stets gleichmäßiger Reihenfolge
treffen und die einzelnen Phasen und Perioden auslösen. Ferner
müßten für die Wasserabgabe, die einperiodisch verläuft, andere
Reize gelten als für die Fermentabgabe. Eine wenig wahrschein-
liche Vorstellung! Und wo die Petersburger Schule den Abstieg
der Fermentkraftkurven z. B. auf dıe Fetthemmung zurückführen
wollte, konnten wir das Unrichtige dieser Vermutung nachweisen
(S. 67). Da gerade im Sekret des Hundemagens bei 65 verschie-
densten Nahrungsmitteln imıner wieder eine sehr ähnliche Kurve
entsteht, so ist es allein schon hier sehr unwahrscheinlich, daß die
Kurve nur durch Nahrungswirkung hervorgerufen wird, um so mehr,
109) Ellenberger u. Scheunert, Lehrb. d. vergl. Physiol. d. Haussäuge-
tiere, 1910, S. 168, 320, 332.
16*
42 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
als auch bei den anderen Tieren ähnliche Kurven entstehen; damit
ist die experimentelle Prüfung durch natürliche Nahrung eigent-
lich schon abgeschlossen.
Die zweite Möglichkeit wäre: der unrhythmische Reiz der
Außenwelt wirkt auf ein Zentrum jeder Drüse, tritt also damit in
das System der Drüse ein und wird in diesem zu einem Eigen-
ıhythmus umgeformt. So entstünde auch ein autonomer Rhythmus
einer (oder mehrerer) Ganglienzellen. der dann auf die einzelnen
Drüsenzellen übertragen wird und ın ihnen den beobachteten Ar-
beitsrhythmus auslöst. Dieser Fall der Autonomie ist denkbar und
wir haben vielleicht am Rhythmus des Atmens eine Parallele (aller-
dings ıst hier noch nicht genau bekannt, wie weit der rhythmische
Vorgang Eigenrhythmus des Zentrums ıst und wie weit er auf Ein-
wirkung des Blutes und Hemmung des Vagus hin abläuft). Aber
dann müßte dies Zentrum, so lange es selbst erregt wird, für jede
einzelne Phase: für Rohstoffaufnahme, Vorstoffbildung, Granula-
bildung und Abscheidung einen besonderen Reiz entsenden; und wie
viel Phasen gibt es, die durch weitere Forschung immer mehr ge-
spalten werden, und wie viel Reize sollen also unterschieden werden?
Auch diese Erklärung ist unwahrscheinlich, wenn es auch nicht
von der Hand zu weisen ist, daß vielleicht die Nahrungsreize in den
Drüsenzellen irgendwie umgeformt werden.
Bleibt also die dritte Möglichkeit: Die Reize ın der Nah-
rung (Außenwelt) wirken auf das geschlossene System
der einzelnen Drüsenzelle und lösen hier eine Sekretion
aus, deren Folge der Phasen und Perioden unabhängig
von den Reizen, autonom, verläuft. Diese Erklärung ist die
wahrscheinlichste und gewinnt durch parallele Erscheinungen bei
Ganglienzellen einen hohen Grad der Sicherheit.
Der periodische Vorgang wäre demnach so zu verstehen: Die
gleichmäßigen chemischen und nervösen Reize der Nahrung treffen
jede einzelne Drüsenzelle zuerst ın der dritten Phase der Hunger-
periode (S. 56, 62, 73); diese Phase, welche durch Granulareichtum
ausgezeichnet ist, bildet den „primären Angriffspunkt des
Reizes“, wie es Verworn bei Ganglienzellen nennt!'°), d. h. ın
diesem Stadium ıst die Drüsenzelle reizbar und löst die Granula.
Weil nun im Augenblick des Reizes sich alle Drüsenzellen in der-
selben Arbeitsphase des Hungerzustandes befanden, so ist auch die
Wirkung des Reizes in allen Zellen eine gleiche, d. h. die Zellen
arbeiten synchron und die Drüse arbeitet einheitlich. — Ebenso
wirkt ein Reiz auf die Ganglienzellen: es werden durch ihn ver-
mutlich Stoffe in den Zellen zersetzt, was den Impuls bewirkt; beı
dieser Zersetzung wird Sauerstoff verbraucht!'!), wie bei Drüsen-
110) Verworn, Erregung und Lähmung, 1914, S. 80, 292, 502.
111) Verworn, a. a. O©., S. 88.
@. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 95
zellen eine starke CO,-Entwicklung während der Sekretion beob-
achtet wurde.
Dieser spezifische Angriffspunkt ıst das zweite Merkmal der
spezifischen Energie!!%) (S. 85). Sind durch den Reiz eine be-
stimmte Menge Granula gelöst, dann beginnt in der Folge die
„Restitution“, d. h. die autonome Wiederherstellung der abge-
gebenen Substanz. Eine solche ıst bei der Wasserabgabe nicht
notwendig, darum verläuft diese einperiodisch. Aber in der Fer-
mentfabrikation der Zelle setzt auf dıe vierte Arbeitsphase hin eine
neue Kette von Phasen ein: die Zelle trıtt in die erste Sekretions-
phase (S. 58, 65, 76). Diese neue Periode muß nun in der be-
stimmten Arbeitsfolge ablaufen, bis ein neues Ferment gebildet
ist und auf den andauernden Reiz hin von neuem frei werden
kann.
Wenn wir uns die Reize als ziemlich gleichmäßig während
einer Verdauungszeit vorstellen, wozu wir bei der Vielheit der Reiz-
wege guten Grund haben, dann zeigt sich hier folgende interessante
Tatsache: Nach Abgabe einer gewissen Menge Ferment wird der Reız
unwirksam. Nach unserer Auffassung ıst das so zu erklären: es tritt
jetzt eine neue Periode ein, in deren ersten Bildungs-
phasen die Reize die Abgabe einer nur sehr geringen
Fermentmenge erregen können: die Fermentkraftkurve
fällt. Dies ıst der Hauptstützpunkt für die Theorie der autonomen
Verkettung: die dauernden Reize vermögen nicht dauernd Sekret
hervorzurufen, sondern sie wirken allein auf das Ende der Phasen-
folge ein. So lange die Arbeitskette aber noch nicht an diesem
Ende der Periode steht, so lange sind die Reize unwirksam. Die
Zelle beantwortet einen gleichmäßigen Reiz ungleich-
mäßıg. Solch ein Stadium der Unempfindlichkeit gegen Reize
nennt man allgemein das Refraktärstadium. Wenn wir nicht an-
nehmen wollen, daß die Reize selbst die Arbeitsfolge hervorrufen,
dann bleibt keine andere Erklärung, als daß die Drüsenzellarbeit
ein Refraktärstadium besitzt!!?), in welchem die Zellen unempfind-
lich sind weil in dieser Zeit die abgeschiedenen Stoffe ersetzt werden
und damit die Zelle in den Zustand zurückgeführt wird, ın dem
sie für die Reize von neuem angreifbar ist, d. h. in die dritte
Arbeitsphase.
Bei Ganglienzellen!°) ist gleichfalls ein Refraktärstadium festgestellt: sie sind
in der Phase der Pause für Reize nicht erregbar''*). Die Erklärung, die Verworn
112) Falls man nicht ein regulatorisches Drüsenzentrum mit rhythmischer Ar-
beit aunehınen will.
113) Hirsch, Gottwalt Chr., Naturw. Wochenschr., N. F., Bd. 16, 1917,
S. 185 (kurz zusammenfassend).
114) Verworn, a. a. O., S. 152, wo auch andere Beispiele. Ein Refraktär-
stadium bei rhythmischen Vorgängen der Pflanzen beschreibt auch Kniep (Verh.
d. Phys. Med. Gesellsch., Würzburg, N. F., Bd. 44, 1915).
94 (+. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
dafür gibt, lautet!'°®): „Jedes lebendige System, das Erregbarkeit besitzt, hat auch
während und nach jeder Erregung eine Phase herabgesetzter Erregbarkeit, denn
jede Erregung vermindert momentan die Menge des zum Zerfall notwendigen Ma-
terials und erhöht die Menge der Zerfallsprodukte in der Raumeinheit, und da die
Restitution Zeit braucht, so kann ein Reiz, der in die Phase vor der völligen Resti-
tution desselben fällt, nicht die gleiche Menge von Molekülen zum Zerfall bringen
wie nach der völligen Restitution, d. h. der Reizerfolg ist geringer und die Erreg-
barkeit ist herabgesetzt.“ Daß das Refraktärstadium eine Phase des spezifischen
Stoffwechsels der Zelle ist, konnte dadurch nachgewiesen werden, daß die Läuge des
Refraktärstadiun:s abhängig ist von der Sauerstolfversorgung, der Temperatur und
dem Ausspülen der Stoffwechselschlacken vermittels einer indifferenten Flüssigkeit ').
Die Verkettung der Arbeitsphasen bedingt es also in beiden
Fällen, daß die Zellen so lange für Reize unempfindlich sind, bis
in ihnen derjenige Zustand wieder erreicht ıst, von dem der Arbeits-
ablauf ausging, d. h. bis die Periode sich ringförmig geschlossen
hat. Die Reize sind nicht die Erreger der Arbeitskette, sondern
sie treffen diese nur an einer bestimmten labilen Stelle und be-
wirken damit die Auslösung des autonomen Abrollens der Arbeits-
kette. Am Anfang der Phasenreihe wird von den Ganglienzellen
Sauerstoff gebraucht, an ihrem Ende müssen Abfallstoffe beseitigt
werden; beides sind aber nicht Bedingungen - der Verkettung,
sondern nur ihres zeitlichen Verlaufes, ındem Mangel an Sauer-
stoff und Anhäufung der Abfallstoffe den Fortgang der Arbeit
lähmen, aber nicht ändern. Ebenso sind Kohlezufuhr und Aschen-
abfuhr Bedingungen des Fortgangs der Maschinenarbeit, aber nicht
des spezifischen Arbeitsweges der Maschine '!'").
Es erscheint zunächst verwunderlich, daß auf einen Reiz hin
nichts mehr abgegeben wird, wenn as) Ahgabestoff vorhanden
ist. Wır sahen oben beı 1 Pankreasdrüsen (S. 76), daß nicht
immer während des Absinkens der Fermentkraft ım Sekret auch
ein deutliches Zunehmen der Granula zu beobachten ist. Die
Zelle geht in das Refraktärstadıum auch dann,
wenn noch Granula vorhanden sind. Dies Verhältnis findet
hier seine mögliche Erklärung: für das Einsetzen des Refraktär-
stadiums ist wahrscheinlich die Anhäufung von Stoffwechselschlacken
und zugleich das Vorwiegen der ersten beiden Arbeitsphasen in der
Zelle verantwortlich zu machen; das Vorhandensein noch einiger
Granula hindert offenbar das Einsetzen des Refraktärstadiums nicht.
Die Wiederherstellung erfolgt, sobald einiges Ferment abgegeben
ist. Während der Wiederherstellung ist die Zelle refraktär !!?).
115) Verworn,a. a. ÖO,, 5; 10.
nn Verworn, a.a. OÖ 162, 166, 168.
17) Zur Kritik auch er Arbeit über pflanzlichen Rhythmus. Ferner
sei A auf Verworn’s Darstellung der Lähmung (a. a. OÖ.) hingewiesen.
118) Man kann danach vielleicht mit Verworn (a.a.O., S. 157) die Drüsen-
zellen als „‚heterobolische Systeme“ bezeichnen mit einem „relativen Refraktärstadium“.
Dafür sprechen auch einige Versuche mit künstlicher Reizung der Drüsen, die
Babkin angibt (Äußere Sekretion der Verdauungsdrüsen, 1914).
un
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 95
Diese autonome Erneuerung ist die „Selbststeuerung des Stoff-
wechsels“ genannt worden !!?); so lange nicht durch sie der alte
Ausgangspunkt der Arbeitskette erreicht worden ist, kann ein gleich
starker Reiz nur wenig oder gar kein Sekret hervorrufen. Ebenso
vermag der Schlagbolzen eines Maschinengewehrs erst dann wieder
einen Schuß auszulösen, wenn eine Reihe von Geschehnissen in
bestimmter Verkettung durch „Selbststeuerung“ abgelaufen sind:
Entzündung des Pulvers, Neuspannung der Feder, Herauswerfen
der alten Hülse und Hineinschieben der neuen Patrone; während
dieser ganzen Zeit befindet sich das System ım „Refraktärstadium“.
So ıst durch Beobachtung und Analogieschlüsse die Ansicht
begründet, daß die Arbeitskette der Verdauungsdrüsen an sich aus-
schließlich auf organisatorıschen Bedingungen der einzelnen Zellen
beruht. Damit wäre diese neue periodische Zellarbeit auf die gleiche
Stufe mit der Ganglienzelle gesetzt und vielleicht auch mit der
sich teilenden Zelle und den Vorgängen des Befruchtungsvorganges:
die Arbeitsfolge ist autonom (endonom) und bildet den
ersten Bedingungskomplex des Arbeitsrhythmus.
Was von Ganglienzellen und Drüsenzellen gilt, wird sehr wahr-
scheinlich von der Arbeitskette anderer Zellen auch gelten. Indem
wir die Bedingungen der Arbeitsfolge eines Vorgangs sondern von
den Bedingungen der Arbeitszeit, fällt ein neues Licht auf die alten
Fragen: der Variation und Regulation, des normalen und patho-
logischen Verlaufs und besonders auf den physiologischen Begriff
des geschlossenen Systems und seiner Organisation, der sich mit
den üblichen morphologischen Begriffen nicht immer deckt. Damit
dringt man auch in die letzten Fragen der heutigen Biologie ein.
2. Die Reize.
Den zweiten Bedingungskomplex rhythmischen Geschehens
bilden die auf das Arbeitssystem wirkenden Reize. Sie bewirken
mit der Verkettung zusammen den Ablauf, indem die Verkettung
die Bahn der Geschehnisse angibt, die Reize die Zeit, in
der die Geschehnisse sich abspielen. Beide Bedingungskomplexe
wirken so ineinander, daß sie nur künstlich zu trennen sind.
Die Wirkung der Reize auf die von uns besprochenen Drüsen
soll nach den Tatsachen der Petersburger Schule kurz dargestellt
werden, da hier Neues nicht zu sagen ist. Ihrer Leitungsbahn nach
119) Verworn, a. a. O., S. 75 (nach Hering). Man hat vielfach auf die
Analogie der Periodizität einiger physikalisch-chemischer Vorgänge mit der Perio-
dizität organischer Vorgänge aufmerksam gemacht; z. B. Hoeber, Phys. Chemie
d. Zelle u. Gewebe, 4. Aufl., 1914, S. 738 und Leduec, St. D. Leben in seinen
physik.-chemischen Zusammenhang, 1912, S. 85. — Vor allem aber: Küster,
a. a. O. und dazu: Kolloid. Ztschr., Bd. 14, 1914, S. 307 und Bd. 18, 1916, S. 107.
— Fröhlich, Ztschr. f. allgem. Physiol., Bd. 13, 1912, S. 38.
a: >, he Be HR 2 Bea A a 85)
96 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
zerfallen die Reize in nervöse (psychisch-nervöse und direkt-nervöse)
und chemische; die mechanischen spielen keine oder nur eine sehr
geringe Rolle!2P). Ihrer Wirkung nach dagegen können wir sie ın
erregende (auslösende und steigernde) und hemmende Reize einteilen.
Erregende Reize.
Wir beobachten die Abscheidung eines Verdauungssaftes im
Plasma einer Sarkodine erst dann, wenn Nahrung in das Plasma
aufgenommen ist: die Sekretion ıst also eine Reaktion auf den
Reiz der Nahrung!?'). Dies Verhältnis zwischen Nahrung und
Sekretion wird bis zu den Wirbeltieren durchweg festgehalten;
wenn wir auch gelegentlich eine langsame Sekretion vorfinden, wo
offenbar kein Nahrungsreiz vorhanden ist!??), so bewirkt die Nah-
rungsaufnahme doch stets eine bedeutende Steigerung der Se-
kretion und der Hunger eine Abnahme der Sekretion; dies gilt
auch für Pflanzen (Drosera und Dionaca). Auch bei allen vor-
stehend beschriebenen Drüsen wird die Sekretion ausgelöst durch
Reize der Nahrung'??).
Zu den oben dargelegten Funden bei Plrurobranchara kommen noch die-
jenigen bei Murex und Natica und vor allem bei der glasdurchsichtigen Ptero-
trachea, bei der sich ohne Experiment durch Außenbeobachtung sehen läßt, wie der
verdauende Saft von der Mitteldarmdrüse zum Kropf strömt, sobald die Nahrung
den Osophagus durchschritten hat, und wie die Sekretion aufhört, sobald sich keine
Nahrung mehr im Kropfe befindet!”*). So ist die Auslösung der Sekretion auch
bei anderen Wirbellosen und bei sämtlichen Drüsen des Hundes beschrieben worden
mit Ausnahme jener eigentümlichen Sekretion im Hungerzustand, von der oben die
Rede war (S. Sl), deren Auslösung uns noch nicht bekannt ist, was von bedeuten-
dem Interesse wäre, weil es sich hier nicht um eine Auslösung durch Nahrungs-
reize handeln kann, sondern die Bedingungen wahrscheinlich im gesamten Er-
nährungstraktus zu suchen sind, da mit der Sekretion noch eine Reihe anderer Er-
scheipungen zusammenfallen.
Die zweite Aufgabe der Reize ist, die Gesamtmenge des Saftes
und des darin enthaltenen Fermentes zu regulieren. — Die Ge-
samtmenge des sezernierten Saftes ıst annähernd proportional
der Menge der in den Magen gelangten Nahrung'?”)., Bestimmte
120) Gottwalt Chr. Hirsch, Erregung und ‚Arbeitsablauf der Verdauungs-
drüsen, Naturw. Wochenschr., N.F., Bd. 15, 1916, S. 553.
121) Jordan, Herm, Vergl. Physiol. der Wirbellosen I. 1913, S. 69.
122) So bei Cephalopoden (Jordan, a. a. O., S. 372), Pflanzenfressern: die
Wanddrüsen der Mundhöhle und die Parotis (Ellenberger und Scheunert,
Lehrb. d vergl. Physiol. d. Säugetiere, 1910, S. 318), auch Pferd und Kaninchen
(R. Heidenhain, Hermann’s Hdb. d. Physiol., Bd. 5,1, 1883, S. 179).
123) Einer der seltenen Fälle, wo auf einen Berührungsreiz hin sezerniert wird,
ist bei den Schleimdrüsen des Magens bekannt geworden, wo die Sekretion „eine
lokale Reaktion auf einen lokal wirkenden Reiz‘ darstellt. Oppenheimer, Hdb,
d. Biochemie, 1912, Bd. 3,1, S. 56.
124) Vgl. die Abbildungen in: Hirsch, Gottw. Chr., Ernährungsbiologie
fleischfressender Gastropoden, Zool. Jahrb., Bd. 35, 1915, S. 435.
125). S. Arrhenius, Gesetze der Verdauung und Resorption, Zeitschr. f,
Physiol. Chemie, 1909, S. 321.
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 97
Mengen derselben Nahrung erregen also die gleiche Menge Saft.
Aber gleiche Mengen ungleicher Nahrung erregen eine ungleiche
Menge Saft, so daß für jede Nahrung in einer bestimmten Zeit
eine bestimmte Menge Saft abgeschieden wird, die sich bei allen
Versuchen wiederholt. Daraus geht hervor, daß nicht nur die
Quantität des Reizes, sondern auch die Qualität der Nahrung auf
die Gesamtmenge des Saftes regulierend einzuwirken imstande ist.
Als bekanntes Beispiel mögen die Ergebnisse an den Speicheldrüsen gestreift
werden: hier rufen Fleisch, Milch, Sand geringe Mengen, dagegen salzige, trockene und
saure Speisen große Mengen Sekret hervor (Verhältnis etwa wie 1: 4)!?*); trockenes
Fleisch erregt viermal so viel Sekret als normales, ein trockenes Pulver weit mehr
als ein angefeuchtetes; glatte Steine erregen gar kein Sekret, dieselben Steine zer-
rieben zu Sand eine mittelmäßige Menge u.s. w. Ähnliches beobachtete man am
Magen: N-äquivalente Mengen von Fleisch, Brot und Milch erregen eine ganz ver-
schiedene Gesamtmenge Saft!?”). Dasselbe gilt von Pankreas!”®): dort werden bei-
spielsweise auf die gleiche N-Menge Fleisch 141,0 cem, Brot 320,2 ccm, Milch
92] ecm Saft abgeschieden.
Ganz ähnliche Ergebnisse zeigt eine Messung der Gesamt-
menge des Ferments, das — wie oben ausgeführt — unabhängig
von der Wassermenge sezerniert wird. Diese Unabhängigkeit zeigt
sich z. B. auch darin, daß Sekretionsgeschwindigkeit und Ferment-
‚menge keineswegs parallel gehen, vielmehr mit steigender Sekretions-
geschwindigkeit die Verdauungskraft abnimmt und daß vor allem
bei gleicher Sekretionsgeschwindigkeit, aber verschiedener Nahrung,
die Fermentmenge häufig recht verschieden ıst!??). — Auf eine be-
stimmte Menge Nahrung hin trıtt eine bestimmte Gesamtmenge
Ferment ım Sekret auf; aber zwischen den drei Fermenten des
Pankreas besteht dabei kein Unterschied, sondern diese werden
alle drei parallel abgeschieden; diese häufige Beobachtung ist ent-
gegen anderer Meinung besonders zu betonen !*®),
So wird im Pankreas des Hundes auf Milch das stärkste Eiweißferment abge-
schieden, auf Fleisch weniger, auf Brot das schwächste. Auch Lipase und Amylase
sind auf Milch am stärksten und auf Fleisch und Brot um so geringer. — Anders
deı Magen: er sondert auf Brot ein starkes, auf Fleisch ein mittelstarkes, auf Milch
ein schwaches Ferment ab'!’'). Ganz besonders merkwürdig ist dabei die Tatsache,
daß der Magen dieselben verschiedenen Fermentmengen ausscheidet, wenn die be-
treffende Nahrung nicht in ihn gelangt, sondern nur Auge und Nase des Hundes
mit der Nahrung gereizt werden !??).
Drittens ist die Gesamtmenge der abgeschiedenen festen und
organischen Substanzen je nach der Qualität und Quantität
126) Babkin, Äußere Sekretion der Verdauungsdrüsen, 1914, S. 12—24.
127) Babkin, a. a. O., S. 102.
128) Babkin, a. a. O., S. 259—261.
129) Babkin, a. a. O., 8. 247, 262, 289.
130) Babkin, a. a. O., S. 247, 260, 262, 263 (Tabelle der Fermentkraft bei
Hund und Mensch), 289. Auch Fig. 19 und 20 dieser Arbeit.
TabjrBabkin 2aa..03578. 100.
132) Babkin, a. a. O., S. 105.
98 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
der Nahrung auffallend verschieden: so werden ım Magen auf Brot
viele, auf Fleisch weniger, auf Milch noch weniger feste Substanzen
abgeschieden. Es zeigt sich dabei, daß Fermentmenge und Menge
fester Substanzen parallel gehen, also beides Produkte derselben
Arbeit sind!?!). Dasselbe ergaben Versuche am Pankreas !??): es
wurden ausgeschieden an festen und organischen Stoffen auf Milch
viel, auf Brot mittelmäßig, auf Fleisch wenig. Es hat nach den
vorliegenden Ergebnissen den Anschein, als wäre die Fermentaus-
scheidung zusammen mit derjenigen organischer Stoffe (bezw. N)
eine zusammenhängende Arbeit, und die Wasserausscheidung zu-
sammen mit derjenigen der Salze eine zweite Arbeit. Beide Ar-
beitsgruppen sind getrennt und werden getrennt durch Reize be-
einflußt !3*).
Untersuchen wir das Sekret ın der Verdauungszeit in bestimmten
Zeitabschnitten, dann trıtt zum Mengenmaß das Zeitmaß, und wir
erfahren, daß die sezernierte Menge in einer Zeiteinheit, also die
Geschwindigkeit und mit ihr dre Dauer der Sekretion von
Reizen abhängig ist.
So wird z. B. im Magen der Höchstpunkt der Saftmenge auf Brot schnell
erreicht, langsamer auf Fleisch, recht langsam auf Milch '’); oder nach Hineinlegen
von Fleisch in den Magen wird langsamer sezerniert als bei normalem Genuß der
gleichen Menge '’°): demnach spielt auch der Reizweg für das Tempo der Sekretion
eine Rolle, was von den Speicheldrüsen seit langer Zeit bekannt ist '’+) *!), — Die
Sekretionsdauer ist im Magen bei Verdoppelung der Nahrungsmenge etwa um 1,5 mal
größer '*”). — Im Pankreas steigt auf Milch die Menge langsam an und fällt ebenso
langsam; auf Brot jedoch steigt sie schnell und fällt recht langsam; auf Fleisch
(mit der gleichen Menge äquivalenten N) steigt sie schnell und fällt schnell '?®).
Auch die Geschwindigkeit und Dauer der Fermentausscheidung ist bis zu
einem gewissen Grade von den Reizen abhängig: auf Brot wird im Magen sofort
schnell und viel Pepsin sezerniert, es muß also eine lange Erholungspause folgen
(Verkettungswirkung!), auf Milch und Fleisch wird langsamer und weniger Pepsin
sezerniert und die Erholungspause ist entsprechend kürzer’. Für das Pankreas
des Menschen noch ein Beispiel: auf Fettnahrung wird schnell und viel Ferment
abgegeben, auf Eiweißnahrung mittelmäßig und langsamer, noch langsamer auf
Kohlehydrate '*P).
Wir erhalten also für die Saftmenge wie für die Ferment-
menge durch die verschiedenen Reize verschiedene Sekretions-
geschwindigkeiten und Sekretionsdauer und dadurch ganz verschie-
dene Kurven, die den bestimmten Nahrungsmitteln typisch sind.
133) Babkin, a. a. O., S. 264, 287, 324.
134) Siehe auch die Ergebnisse an Speicheldrüsen (Becher und ludwig,
Heidenhain u.s. w, Babkin, S. 48).
135) Babkin, a. a. O., S. 96.
136) Babkin,a.a. O., S. 128, siehe auch die sehr vielen Versuche S. 200— 219.
137) Babkın, a. a. V. S. 10%
138) Babkin, a. a. O.; S. 254.
139) Babkin, a. a. O., S. 96.
140) Babkin, a. a. O., S. 263 (nach Wohlgemuth).
G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen. 99
Das heißt: die zeitliche Einordnung der Phasen und Perio-
den ist abhängig von der Art und der Menge der Nahrung.
Dafür bringt Babkin noch zahlreiche Beispiele.
Der Erregungsmechanismus ist durch die verschiedenen Reizwege'*) und
reizenden Substanzen so kompliziert, daß wir mit vielen Versuchen deswegen so
wenig anfangen können, weil schon der Reizkomplex, aber auch der Reizweg nicht
einfach genug gemacht waren. Neuere Untersuchungen haben infolgedessen die
einzelnen Bestandteile einer Nahrung isoliert auf das Organ wirken lassen und damit
eine fester umschriebene Reihe indifferenter und erregender Stoffe festgestellt: so
z. B. daß das Pankreas auf Fett einen alkalischen Saft ausscheidet, der reich ist
an organischen Substanzen und Fermenten; auf Salzsäure dagegen arm an orga-
nischen Substanzen und Fermenten, aber stark alkalisch'*’). Damit ist auch nur
erneut die Richtigkeit des Satzes bewiesen: wenn ein bestimmter Stoff reizt, so übt
er eine spezifische Wirkung aus, und von diesem Reiz hängen bei Drüsen Ge-
samtmenge und Tempo der Sekretion ab.
Hemmende Reize.
Die zweite Gruppe der Reizwirkungen ist die der hemmenden
Reize, die bei den in Frage stehenden Verdauungsdrüsen weniger
untersucht worden sind; es genügen deswegen hier wenige Bei-
spiele.
Die hemmenden Reize können nervöse und chemische sein.
So werden ım Vagus sekretorische und sekrethemmende Fasern
für die Magensekretion vermutet!*), doch ıst aus den Versuchen
nicht ersichtlich, ın welchem Funktionsstadium sich diese Drüsen
befanden; ın Unkenntnis dieses ersten Bedingungskomplexes für
den Sekretionsablauf ıst jedes Ausbleiben des Sekretes trotz des
Reizes als Hemmung gedeutet worden, während wir der Ansicht
sind, daß es sich hier oft um eine innere Hemmung durch die
Selbststeuerung des Stoffwechsels handeln kann: um ein Refraktär-
stadium (S. 93).
Dagegen spricht nicht die häufige Beobachtung, daß ie Ausscheidung des
Sekretes plötzlich durch einen ‚‚Affekt‘‘ '**) gestört werden kann, dessen Hemmungs-
weg unbekannt ist. — Ebenso hemmt ein Reiz des N. ischiaticus eine durch Ourare
hervorgerufene Sekretion der Uuterkieferdrüse !°); und eine Sekretion des Pankreas,
die durch Vagusreizung hervorgerufen wurde, wird durch erneute Reizung oder
durch Reiz des anderen Astes gehemmt '*),
Andererseits sind einige Hemmungen durch chemische Reize bekannt ge-
worden. So sollen z. B. Fett und zum Teil starke Kochsalzlösung vom Duodenum
aus hemmend auf die Magensekretion einwirken '*") (es wurde jedoch S. 67 bereits
nachgewiesen, daß auf diese Hemmungen das wiederholte Absinken der Ferment-
141) Bezüglich der Reizwege siehe die bekannten Ergebnisse R. Heidenhain's
an der Parotis bei Sympathikus- und Chorda-tympani-Reizung und die Versuche der
Petersburger Schule am isolierten Magen bei Scheinfütterung und isolierter Nerven-
reizung.
142) Babkin, a. a. O., S. 287.
143) Babkin, a. a. O., S. 181, 188.
144) Babkin, a. a. O.. S. 112.
145) Babkin,a. a. O,, 5 60.
146) Babkin, a. a. O., S. 302, 334.
147) Babkin, a. a. O,, S. 152, 157, 159
100 G. Chr. Hirsch, Der Arbeitsrhythmus der Verdauungsdrüsen.
kraft während der Verdauungszeit nicht zurückgeführt werden kann). — Vom Magen
aus soll die Pankreassekretion durch Lösungen der Alkalisalze gehemmt werden '*®?);
doch 'ist dies wahrscheinlich deswegen keine direkte Hemmung, weil der Magensaft
neutralisiert wird und damit die Ursache der Sekretinbildung im Duodenum fortfällt.
Normale Reize, erregende wie hemmende, wirken auf den Ab-
lauf des physiologischen Systems der Drüsen ausschließlich
zeitlich; sie bilden eine quantitative Regulation; aber die
spezifischen Lebensäußerungen: die Kette der normalen Gescheh-
nisse vermögen sie nicht zu beeinflussen. —
Diejenige Periodizität, die man bisher als „intermittierende*
Tätigkeit der Drüse bezeichnete, d. h. der Wechsel zwischen
„Arbeit und Ruhe* ist ausschließlich auf Reize zurück-
zuführen: während der Nahrungsreize „arbeitet“ die Zelle, während
des Hungerns „ruht“ sie. Diejenige Periodizität aber, die wir vor-
stehend während der Verdauungsarbeit beschrieben, ıst durch beide
Bedingungskomplexe: Reize und Arbeitsverkettung bedingt !*).
Man hat als „mitbestimmende Außenwelt“ ferner Faktoren aufgezählt, die gar
nicht spezielle Bedingungen des Rhythmus, sondern allgemeine Bedingungen des
Lebens im Gesamtorganismus sind '°); dies ist natürlich abzulehnen.
*
Der Rhythmus einer Melodie wırd gebildet durch die Kette be-
stimmter Töne und die Zeitdauer eines jeden einzelnen Tones; dieselbe
Tonkette ergibt bei verschiedener Zeitdauer der einzelnen Töne
ganz verschiedene Rhythmen.
Ebenso wird der Rhythmus eines periodischen Vorganges ım
Organismus gebildet durch die Verkettung bestimmter Phasen und
Perioden nt durch die Zeitdauer jeder ke alinen Phase; dieselbe
Arbeitskette ergibt bei verschiedener Zeitdauer der einzelnen Phase
ganz verschiedene Rhythmen.
148) Babkin,a.a. O., S. 284.
149) Zur Analyse der Entwicklungsvorgänge bemerkt Oskar Hertwig
(Allgem Biologie, 4. Aufl., 1912, S. 152): „Bei einer allgemeinen und erschöpfenden
Untersuchung eines Entwicklungsprozesses ist es daher ebenso falsch, wenn ich die
Ursache in das Ei, als wenn ich sie außerhalb desselben verlegen wollte, da der
sanze oder volle Grund stets in beiden ruht.“
150) So meint Munk (Biol. Zentralbl. Bd. 34, 1914, S. 626), daß es für die
Periodizität der Liesegang’schen Ringe ein Teil der ‚‚mitbestimmenden Außen-
welt“ sei, daß man die Gelatine nicht umschüttele oder umrühre. Selbstverständlich :
kann jemand nur so lange periodisch um den Marktplatz wandeln, als ihn kein
Ziegelstein totschlägt; aber niemand wird den „negativen“ Ziegelstein als Faktor
des periodischen Wandelns ansehen. Da alle Geschehnisse zusammenhängen, so gilt
es allein, die letzten unmittelbaren Bedingungen aufzusuchen (siehe auch Schopen-
hauer, Satz vom Grunde $ 20). Rhythmische Vorgänge eines physiologischen
Systems sind stets Teilvorgänge seines Gesamtlebens; wollen wir sie beschreiben,
so müssen wir auch die Teilbedingungen erkennen, die jenen Teilvorgang zusammen-
setzen.
Verlag von C Georg Thieme in 1 Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
38. Band März 1918 “INES
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: Dr. Alexander Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches S. 101.
Heinr. Kutter. Beiträge zur Ameisenbiologie. S. 110.
E. Wasmann S. J., Bemerkungen zur neuen Auflage von K. Escherich „Die Ameise“. S. 116.
E. Wasmann S. J., Totale Rotblindheit der kleinen Stubentliege (Homalomyia cunieularis L.).
S. 130.
Dr. phil. R. Vogel, Wie kommt die Spreizung und Schließung der Lamellen des Mai-
käferfühlers zustande? S. 150.
Hermann Jordan, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur medizinischen Physiologie.
S.#138:
Referate: R. Demoll, Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funktion. S. 139.
Zur Biologie des Riesenhirsches.
Von Dr. Alexander Sokolowsky. Hamburg.
Unter den Tierarten, die ın der Diluvialzeit die Erde be-
völkerten, nımmt der Riesenhirsch (lervus euryceros s. Megaceros
hibernieus, Owen) unser besonders lebhaftes Interesse in Anspruch.
An Größe unseren heute lebenden Edelhirsch übertreffend, trug er
ein Geweih mit Schaufelenden, das bis zu 4 m von’ Ende zu Ende
klafterte. Daß der Träger eines solchen Geweihes geradezu gigan-
tisch wirken mußte, geht schon aus den verschiedenen in Museen
aufgestellten fossilen Skeletten dieses gewaltigen Tieres hervor.
Da aber die riesige Ausdehnung des Geweihes, verglichen mit dem
Kopfschmuck unserer heute lebenden Hirsche, etwas Unverständ-
liches an sich hat, entsteht die Frage nach der Entstehung und
dem Zweck dieser Geweihbildung. Die Beantwortung dieser Frage
führt uns zunächst zu einer neuen: Welchen Zweck hat die Ge-
38. Band s
109 A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches.
weihbildung überhaupt? Auftreten und Ausbildung des Geweihes
können nur auf sexuelle Ursachen zurückgeführt werden. Das
geht schon unzweifelhaft aus der Tatsache hervor, daß bei sämt-
lichen Hirschen, eine Ausnahme macht nur das in beiden Ge-
schlechtern ein Geweih tragende Renntier, nur das Männchen im
Besitze dieses Kopfschmuckes ist. Wir wissen denn auch, daß mit
der hohen Ausbildung des Geweihes die Kampflust bei den brunsten-
den Hirschen, wie es unser Edelhirsch in besonders ausgeprägter
Weise erkennen läßt, besonders entwickelt ıst, da die um den
Besitz der Weibchen miteinander kämpfenden Hirsche sich als
Nebenbuhler der Geweihstangen als Waffe bedienen.
Die Familie der Hirschtiere hat sich mit Ausnahme von
Australien und Südafrika über die meisten Kontinente
verbreitet, hat aber ıhren Ursprung und ihre Blüte in der alten
Welt. Die Stammgruppe der Hirsche besaß noch kein Geweih,
während, wie bei den noch heute lebenden Moschustieren,
die oberen Eckzähne hauerartig entwickelt waren. Die Bil-
dung des Geweihes begann erst in der Obermiozänzeit.
Lebende Überreste dieser nur durch ein Spießgeweih ausgezeich-
neten Hirsche sind die Muntjaks des Sunda-Archipels (Cer-
vulus muntjae.), Auch hier hat das Männchen noch die großen
Eckzähne behalten und trägt auf den Stirnbeinen ein Paar lange
Knochenzapfen (Rosenstock) mit.kranzförmig verdicktem Ende (Rose),
während das auf letzterem sitzende „Geweih“ noch kleın und ein-
fach ist, indem es einen soliden Hautknochen ohne Äste vorstellt
oder nur noch einen kurzen Basalsprossen erkennen läßt. Erst
gegen Ende der Miozänzeit sind aus den Gervulinen die echten
Hirsche (Cervina) entstanden, bei denen die oberen Eckzähne
Rückbildung erfahren, während sich das Geweih fortbildete und
jährlich zum Abwurf gelangte. Erst ın der jüngeren Pliozänzeit
werden die Geweihe länger und treiben zahlreichere Sprossen, während
der sie tragende Rosenstock sich verkürzt. Um diese Zeit sind
auch die Hirsche erst aus der alten in die neue Welt hinüber-
gewandert. Erst im obersten Pliozän beginnt die Entwicklung der
mächtigen, oft reich verzweigten und schaufelförmigen Geweihe,
durch welche zahlreiche Hirsche der Gegenwart sich auszeichnen.
Auffallen muß es, daß die mit primitivem Geweih versehenen,
stammesgeschichtlich entschieden älteren Vertreter des Hirsch-
geschlechts entweder sehr klein, oder doch nur verhältnismäßig
klein gebaut sind, während mit der Zunahme in der Ausbildung
des Geweihes entschieden auch eine solche in der Größe der Körper-
gestalt bei den verschiedenen Hirscharten verbunden ist. Verglichen
mit den zierlichen moschustierartigen Hirschen und den Muntjaks sind
die mit vielendigem Geweih ausgezeichneten Hirsche wahre Riesen.
Es läßt sich demnach bei dem Werdegang des Hirschgeschlechts
A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches. 105
deutlich in der Stammesgeschichte eine Entwicklungsrichtungerkennen,
die aus zierlichen Anfängen zu großen, mit starkem, vielgliederigem
Geweih gekrönten Hirscharten führte. Bei dieser Geweihausbildung
lassen sich zwei voneinander abweichende Formen unterscheiden,
die leicht erkennbar sind, obwohl es an Übergängen von der einen
zur anderen nicht fehlt. Es sind das Stangen- und Schaufelgeweihe.
Diese finden einerseits bei unserem Edelhirsch, andererseits bei
unserem Damhirsch ihren typischen Ausdruck. Bei dem durch
mächtige Schaufelbildung seines Geweihes ausgezeichneten Elch
lassen sich Übergänge von der einen Form in die andere nach-
weisen. Dabeı muß aber ausdrücklich betont werden, daß es sich
bei dem Elch um die Schaufelbildung als Norm handelt, während
bei ihm die Stangenbildung als Rückschlag anzusehen ist. Manche
Forscher haben auf Grund dieser verschiedenartigen Geweih-
bildung zwei europäische Elcharten aufzustellen versucht.
Martenson, dem wir ene Monographie des Elches ver-
danken, hat überzeugend nachgewiesen, daß „von einer beson-
deren Art des Elchs der Gegenwart, dem Stanglerelch, keine Rede
sein dürfte und letztere als eine Spielart oder Varietät hinzustellen,
erscheint verfrüht, so lange unsere Beobachtungen noch so unvoll-
ständig und lückenhaft sind. Vorläufig könnte man ihn nur als
eine beginnende Umbildung der bestehenden Art oder eine sich
heranbildende Subvarietät bezeichnen“.
Nach meiner Überzeugung handelt es sich hierbei entschieden
um Einflüsse der Außenwelt, die gerade nicht als Degenerations-
erscheinungen, wohl aber als Variationen aufzufassen sind. Durch
die Beschränkung der Existenzverhältnisse des Elches durch die
fortschreitende Kultur wird die Entwicklungsrichtung, die zu einer
hohen Ausbildung des Schaufelgeweihes führte, beeinflußt, so daß
es nicht zu dieser in solcher Entfaltung, sondern zu einem Rück-
schlag in die Stangenform, denn von dieser ist die Schaufelbildung
herzuleiten, kam.
Eine in das Extreme durchgeführte Schaufelbildung zeigt der
Riesenhirsch.
Professor Karl Hescheler in Zürich, der im Jahre 1909
eine monographische Abhandlung über den Riesenhirsch veröffent-
lichte, äußert sich über die Geweihbildung des in der geologischen
Sammlung der Eidgenössischen Technischen Hochschule
in Zürich aufgestellten vollständigen Exemplars wie folgt: „Die
Spitzen der am weitesten nach außen abstehenden Sprossen klaftern
beim hiesigen Exemplar 2 m 52 cm. Bei den größten bis jetzt
gefundenen Geweihen geht die Spannweite bis gegen 4 m. Die
Entfernung der genannten äußersten Punkte des Geweihes von-
einander, im Geweihbogen über die Stirn weg gemessen, ist 3 m
74 cm. ‚Jede Geweihhälfte sitzt auf einem kurzen Fortsatze des
g*
104 A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches.
Stirnbeines, Rosenstock genannt; dann folgt jene wulstige Ver-
breiterung an der Basis des Geweihes, die als Rose bezeichnet wird,
welche ringsum mit knopfartigen Verdickungen, den sogenannten
Perlen, besetzt ist, darüber alsdann die enorme Masse von Geweih-
substanz, die nun nicht wie beim Edelhirsch aus einem System von
zylindrischen, am Ende zugespitzten Sprossen besteht, welche selbst
wieder einer zylindrischen Stange aufsitzen, sondern die sich bald
zu einer gewaltigen Schaufel verbreitert, von deren Rande längere
oder kürzere Zacken abgehen. Es handelt sich also um ein Schaufel-
geweih, wie wir es beim Damhirsch, beim Elch sehen. Aber die
Ähnlichkeit mit dem Damhirschgeweih ist bedeutend größer: wie
bei diesem folgt zunächst auf die Rose noch eine mehr zylindrische
Stange, an der als erster Sproß dicht über der Rose der Augen-
sproß sitzt. Dem Elch geht letzterer ab, und es breitet sich von
der Rose weg das Geweih sofort zur Schaufel aus. Der Augen-
sproß des Megaceros ıst gewöhnlich verzweigt. Beim Riesenhirsch
herrscht eine ziemliche Variation in der speziellen Ausbildung des
Geweihes, und es weichen häufig die Geweihhälften bei ein und
demselben Individuum mehr oder weniger stark voneinander ab.
Als Maximum der Sprossenzahl einer Hälfte wird 10—11 angegeben.
Es kann nicht dem geringsten Zweifel unterliegen, daß der Riesen-
hirsch denselben Gesetzen des Geweihwechsels und der Geweih-
bildung folgte wie seine lebenden Verwandten. Jedes Jahr wurde
auch dieses Riesengeweih abgestoßen und in der Zeit von wenigen
Monaten bis zur Brunstperiode neu aufgebaut.“
Im Jahre 1892 veröffentlichte Hans Pohlig eine „Monographie
der Oerviden des thüringischen Diluvial-Travertines“, in welcher er
den Riesenhirsch unter der Benennung (ervus euryceros in eine
Anzahl Rassen zu zerlegen versucht, wobei er sich zunächst auf
die Merkmale der Geweihbildung beschränken muß. Die best-
gekannte Rasse ist der in Irland und auf der Insel Man in
zahlreichen Resten festgestellte Oervus ewuryceros Heberniae, der
„Irish elk“, der die größten Geweihe mit der höchsten Spannweite
von 3—4 m besitzt. Es dürfte auch, nach Hescheler, die geo-
logisch jüngste Rasse sein, wahrscheinlich postglazıal prä-
historisch. Die für Deutschland konstatierte Rasse ist. der
Cervus euryceros Germaniae. Sie gehörte dem eigentlichen Dilu-
vium an und ist also vermutlich älter als die irische. Dabei
zeichnete sie sich durch kleineres, gedrungeneres Geweih aus und
zeigt in der Geweihbildung zahlreiche Variationen im Gegensatz
zu der viel einheitlicher sich verhaltenden irischen Rasse.
Gleichalterig mit .der germanischen Varietät sind die Funde
aus Italien und Ungarn, die unter Cervus euryceros Italiae ver-
einigt werden und sich ebenfalls durch kleineres und gedrungeneres
Geweih mit Drehung nach hinten und unten auszeichnet. Als vierte
g
A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches. 105
Varietät wird noch Cervus euryceros Belgrandi beschrieben, die
früher auf Grund von französischen Funden aus dem älteren
Diluvium der Umgebung von Paris als besondere Öervidenspezies
aufgestellt wurde. Sie zeigt im Geweih Annäherung an den Elch und
dürfte auch im älteren Diluvium von Deutschland vertreten
sein. -. Ihr gehörten nach Pohlig auch die vom jüngsten Tertiär
Englands beschriebenen Cervus Dawkinsi und Cervus verticornis
an, die den Übergang zu den obertertiären Vorfahren der
Riesenhirsche bilden, denen nach Hescheler der mediterrane
Cervus dieranius mit außerordentlich stark verästeltem Geweih nahe
stehen dürfte.
Der Riesenhirsch verbreitete sich über Großbritannien,
Frankreich, Deutschland, lebte in größerer Zahl in der Po-
ebene und im ungarischen Tiefland, spärlicher in Österreich,
namentlich aber im europäischen Rußland und in West-
sibirien. Wie lange er gelebt hat und wann er ausgestorben ist,
läßt sich mit Sicherheit nicht angeben. In der Skelettbildung des
Riesenhirsches fällt es nach Hescheler auf, daß die Extremi-
tätenknochen gegenüber denen anderer Cerviden besonders massig
erscheinen. Ebenso besitzen die vorderen Rückenwirbel Dornfort-
sätze von gewaltiger Länge. Auch haben sich bei ihm die gewaltigen
Dimensionen im ganzen, in erster Linie die riesenhaften Verhältnisse
des Geweihes beim Männchen in Proportion zu dem Riesen-
maß des Leibes gesetzt.
Diese Besonderheiten stehen nach dem zitierten Gelehrten in
Beziehung zu dem enormen Gewicht des Geweihes, das bei ganz
großen Exemplaren nahezu 90 Pfund betragen kann; dieses bedingt
entsprechende Nackenmuskeln und -bänder, die ıhren Ansatz am
Hinterkopf, an den Halswirbeln und den Dornfortsätzen der Rücken-
wirbel suchen müssen. So wird denn beim weiblichen Riesenhirsch-
skelett der Halswirbel um ein Drittel schmäler, die Dornfortsätze
der Rückenwirbel kürzer, und es fehlt unter anderem auf dem
Schädeldache jene mächtige Knochenleiste, die sich beim männ-
lichen Schädel zwischen den Ansatzstellen beider Geweihhälften
erstreckt. Daß der Riesenhirsch sein Haupt stolz erhaben trug
wie der Edelhirsch, darüber kann, nach Hescheler, kein Zweifel
bestehen. Daß dem Halse aber auch eine große Beweglichkeit und
Exkursionsfähigkeit zukam, das zeigt ebenso die Form der vorderen
und hinteren Gelenkflächen der Halswirbelkörper: neben starker
Wölbung resp. Vertiefung weisen sie eine auffällige Streckung in
dorso-ventraler Richtung auf. — Es geht aus diesen anatomischen
Befunden Hescheler’s unzweideutig hervor, daß der Riesen-
hirsch trotz seiner gigantischen Gestalt und enormen Entfaltung
seines Gew@ihes durchaus kein ungelenkiges, schwerfälliges Tier
war, sondern sich seiner anatomischen Anlage entsprechend, leicht
106 A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches.
und behend bewegen konnte. Das spricht schon von vornherein
kaum für die Ansicht, daß sıch bei ıhm die Produktionskraft der
tierischen Organismen erschöpft habe, so daß er auf den Aus-
sterbeetat gesetzt war.
Während der schwedische Zoologe Lönnberg im Jahre
1906 der Verwandtschaft des Riesenhirsches mit dem Renntier
das Wort redet, haben sich vorher namhafte Forscher, wie Rüti-
meyer, Pohlig, Lydekker, Rörig, Weber und Nehring für
die Damhirsch-Natur desselben ausgesprochen. Namentlich hat
Rütimeyer auf Grund einer sorgfältigen Vergleichung der Schädel-
und Gebißcharaktere die nahe Verwandtschaft desselben mit dem
Dambhirsch vertreten. Dieser Auffassung möchte auch ich mich
hier rückhaltlos anschließen. — Die Schaufeln starker Damhirsche
aus freier Wildbahn in guten Gegenden erreichen nach Schäff oft
wirklich imposante Dimensionen, die man nicht ahnt, wenn man
nur das Durchschnittsdamwild aus kleinen Parks und zoologischen
Gärten kennt. Ein vom Kaiser 1895 im Grunewald geschossener
Kapitalschaufler zeigte eine Stangenhöhe, geradlinig gemessen, von
71cm, eine Auslage von 94cm und eine Schaufelbreite von 21 cm.
Auf den Berliner Geweihausstellungen haben die Dam-
hirschgeweihe, welche aus den Revieren von Hessenstein
stammten, nicht nur allgemeine Bewunderung gefunden, sondern
sogar Erstaunen erregt. Sie zeichneten sieh durch breite und starke,
mit langen Enden versehene Schaufeln, sowie durch außergewöhn-
lich starke Stangen aus.
Von besonderem biologischen Interesse ist es, daß, wie Berg-
miller mitteilt, die künstliche Beeinflussung der Geweihbildung
beim Damwild eine besonders große ist, denn „wohl bei keiner
anderen Hirschart geht die gute Fütterung so sehr ins Geweih wie
beim Damwild; sodann vererbt sich die Anlage, gute Geweihe zu
entwickeln, bei einem Dam wildbestand in ganz auffälliger Weise.
Diese leichte Beeinflussung der Geweihbildung, namentlich der
Entfaltung großer Schaufeln beim Damwild durch äußere Verhält-
nisse, hat für mich insofern ein besonderes Interesse, als mir da-
durch ein Einblick gegeben wird in Vorgänge, die in der Vorwelt
sich bei der Schaufelbildung des Riesenhirsches geltend gemacht
haben können.
Eine für die Geweihbildung der in der Diluvialzeit lebenden
Cerviden wichtige Mitteilung entnehme ich Goeldi. „Der Hirsch
aus der Pfahlbauzeit weist eine durchschnittlich bedeutendere
Größe, die oft die Höhe ansehnlicher Pferde übertraf, und ein
reichlicher entwickeltes Geweih auf, aber, setzt Studer hinzu, der-
selbe war damals noch nicht in Forsten gehegt und in seiner freien
Bewegung gehemmt, wie dies heutzutage der Fall ist. »Erwähnens-
wert ıst das häufige Vorkommen von Geweihen mit starker Ab-
ıı
%
A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches. 107
plattung der oberen Teile der Stangen und bedeutender Expansion
im Gebiete der Geweihkrone. In der Ausbildung solcher Besonder-
heiten stimmte übrigens der Pfahlbauhirsch unseres Wissens mit
Hirschen aus dem Diluvium Rußlands und solchen aus den
Torfmooren Irlands überein.“
Es geht aus diesen Angaben hervor, daß in der Vorzeit die
Neigung einer Abplattung des Geweihes auch bei dem Edelhirsch
vorhanden war. Daraus schließe ıch, daß es ın den Einflüssen der
Außenwelt lag, solche Geweih-Besonderheiten zu bewirken.
Schädel mit Geweih vom Riesenhirsch.
Nach einer photographischen Aufnahme!) des im Besitz der Naturhistorischen
Abteilung des Provinzial-Museums zu Hannover befindlichen montierten
Skeletts eines Riesenhirsches.
Wir wissen, daß das aus den Mittelmeerländern stammende
Damwild, seinen Lebensgewohnheiten entsprechend, Wälder von
parkartiger Beschaffenheit zu seinem Gedeihen bevorzugt. Der
Damhirsch ist meiner Auffassung nach nicht in dem Sinne solch
ausgesprochenes Waldtier wie der den geschlossenen Wald liebende
Edelhirsch. Darauf beruht ja auch die vortreffliche Verwendung
des Damhirsches als Parktier. Die Entstehung der Schaufelbildung
führe ich auf diese Vorliebe für lichter bestandene Waldungen zu-
rück. Daß die Schaufelbildung eine verhältnismäßig junge Erwer-
bung dieser Hirschart sein muß, leite ich aus dein Umstand ab,
l) Ich verdanke die Abbildung der Güte des Herrn Professor Dr. A. Fritze.
108 A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches.
weil die Ausbildung der Schaufelbildung erst mit zunehmendem
Lebensalter eintritt. Erst im 5. Lebensjahr trägt nach Bergmiller
der Damhirsch ein Schaufelgeweih, dessen Schaufeln schon
wesentlich verbreitert und mit mehr oder weniger langen, enden-
artigen Auswüchsen ausgezackt sind. Im freien Zustand steht der
Sinn des Damhirsches aus dem gleichen Anlaß stets nach den
Wiesen, von denen er selbst durch große Beunruhigung und schlimme
Erfahrungen nicht abzubringen ist. Das Wiesengras ist dem Dam-
wild die liebste und bekömmlichste, die Geweihbildung am meisten
fördernde Äsung. Hierin erkenne ich biologische Ursachen, die
auch bei der Entfaltung des gewaltigen Geweihes des Riesen-
hirsches wirkend waren. Bemerkenswert ist auch noch, daß das
Damwild vorzugsweise die Ebene bewohnt und im Gebirge lange
nicht so hoch hinaufgeht wie der Edelhirsch. Es liebt mit Wiesen
und Feldern abwechselnden Wald und zieht im Sommer gern in
das Getreide. Diese Eigenschaften kennzeichnen zur Genüge die
Siınnesart des Damwildes, aus dem Waldgebiet ın das offene, freie
Gelände hinauszutreten.
Auch der Riesenhirsch kann, wie Nehring betont, kein
Bewohner des dichten Urwaldes gewesen sein, das ergibt sich schon
nach ihm aus der enormen Breite und dem eigentümlichen Bau
seiner Geweihschaufeln; im Urwalde würde er nach dem gleichen
Forscher mit seinem bis zu 14 Fuß in die Breite klafternden Ge-
weih kaum von der Stelle gekommen und bald eine Beute seiner
Verfolger geworden sein. Er war demnach nach Nehring offenbar
ein Bewohner offener oder schwachbewaldeter Gegenden, wie sie
während der postglazialen Steppenzeit in Mittel- und Westeuropa
ın großer Ausdehnung vorhanden waren; namentlich hat er die
grünen Triften Irlands auch zahlreich bewohnt. Auch Kobelt
schließt sich dieser Anschauung an, wenn er sagt: „Sumpfige Bruch-
gebiete waren offenbar sein Iieblingsaufenthalt, wie der des Ebers,
und es mag mehr der sich ausdehnende Urwald gewesen sein, in dem
er mit seinem riesigen Geweih sich nur schwer bewegen konnte, als
die Verfolgung des Menschen, die ihn aus Deutschland vertrieb.
Für mich steht es fest, daß die Vorliebe der damhirsch-
artigen Öerviden für den Aufenthalt in freiem Gelände die Ver-
anlassung zur Schaufelbildung war. Diese einmal von der Natur
eingeschlagene Entwicklungsrichtung führte beim Riesenhirsch zur
extremen Bildung. Es müssen demnach äußere Einflüsse der Um-
welt gewesen sein, die die gewaltige Schaufelbildung begünstigten
und durch Korrelation der Organe zum Riesenwuchs bei diesen
Cerviden führten. Zunahme der Vegetation ın der Form ge-
schlossener Wälder, die sich namentlich in Deutschland geltend
machten, wurden verderblich für diesen Riesen, dessen durch Ein-
halten der Entwicklungsrichtung ausgebildete Riesenorganisation
A. Sokolowsky, Zur Biologie des Riesenhirsches. 109
dieser Einschränkung seiner Lebensgewohnheiten nicht gewachsen
war. Äußere Einflüsse der Umwelt sind es demnach auch, die
seiner Existenz eine Grenze setzten. Nun besteht für mich aber
auf der anderen Seite kein Zweifel, daß die Ausrottung des
Riesenhirsches schließlich durch den prähistorischen Men-
schen erfolgte. Als derselbe aber sein Vernichtungswerk aus-
führte, fand er in diesem Riesen aber bereits ein Geschöpf vor,
dessen Existenz durch die Lebensverhältnisse der Umwelt bereits
in Frage gestellt wurde. Der Mensch ist demnach nicht als die
einzige, sondern als die ausschlaggebende Ursache seiner Ausrottung
anzusehen, während Steinmann den Menschen als die allgemeine
Ursache ansieht, die der allgemeinen Verarmung an größeren Tiere
auf allen Festländern zugrunde liegt. In dieser Anschauung scheint
mir der vortreffliche Gelehrte zu weit zu gehen. Ich erkenne viel-
mehr in den äußeren Lebensverhältnissen, deren Änderung gewaltige
Wirkungen auf Organisation und Lebensweise der Organismen aus-
üben mußte, die Hauptursache des Aussterbens der Tiergeschlechter.
Der Mensch der Vorwelt hatte demnach sozusagen: „Freies Spiel“
zur endgültigen Vernichtung derselben. Dieser verfolgte nach Abel
eine eigenartige Jagdmethode, indem er die Hirsche in die Sümpfe
jagte, um sie leichter erlegen zu können. Das beweisen die aul-
gefundenen Knochen dieser Tiere in den irischen Torfmooren.
Hinzufügen möchte ich noch, daß ich in der Rassenbildung
des Riesenhirsches, wie sie durch die Funde in den verschie-
denen Ländern nachgewiesen wurde, ebenfalls die Einwirkung der
äußeren Lebensbedingungen wiedererkenne. Das reichbewaldete
und durch die Zunahme seiner Wälder auf die Organisation dieser
Hirsche einwirkende Deutschland zeitigte kleinere Exemplare mit
langzackigem Geweih, während in Irland, wo der Riesenhirsch
der Entwicklungsrichtung seiner Organisation entsprechende gün-
stigere Lebensverhältnisse vorfand, das gewaltige Tier an Größe
zunahm and besonders riesige Schaufelbildung seines Geweihes er-
kennen läßt.
In letzter Linie sind es demnach die Verhältnisse des Aufent-
haltsortes und der Ernährungsbedingungen, die den Wuchs, die
Entwicklung und schließlich die Vernichtung dieser Riesentiere
verursachten. Auf den ausgedehnten Äsungsflächen Irlands fand
demnach dieser Hirsch der Vorwelt den höchsten Ausdruck seiner
Entfaltung.
Wie ich vorher schon erwähnte, muß die Entwicklung des Ge-
weihes auf sexuelle Forderungen zurückgeführt werden. In dieser
Auffassung folge ich derjenigen von Hoernes: „Die Vererbung
durch Zuchtwahl erworbener Eigentümlichkeiten ist es zunächst,
welche exzessive somatische Eigenschaften herbeiführt. Die sekun-
dären Geschlechtseigentümlichkeiten können da in erster Linie in
110 H. Kutter, Beiträge zur Ameisenbiologie.
Betracht kommen. Sobald sie einmal auftreten, werden sie leicht
übertrieben, da sie jenen Individuen, bei welchen sie stärker ent-
wickelt sind, stets den Vorrang bei der Bewerbung um das andere
(Geschlecht sichern. Das Geweih der Cerviden, die Wucherungen
an Kopf und Bruststück der Lucaniden, die gewaltigen Inecisive
der Proboscidier liefern dafür gute Beispiele. Es ist kein Zweifel,
daß die bei den meisten Hirschen eingetretene allmählich gesteigerte
Entwicklung des Geweihes zunächst für dieselben vorteilhaft sein
mußte. Sie konnte die Männchen nicht nur bei ihren Kämpfen
untereinander, sondern auch bei der Abwehr von Feinden unter-
stützen. Als aber die Entwicklung des Geweihes über einen ge-
wissen Grad hinausging, mußte dasselbe für seinen Träger nicht
nur lästig, sondern geradezu gefährlich werden. Cervus etruscus
und Megaceros hibernicus liefern Beispiele einer exzessiven Entwick-
lung des Geweihes, die für den Träger zweifellos schädlich wurde.
Es mag sein, daß der irische Riesenhirsch durch die ausrottende
Tätigkeit des Menschen sein Ende fand, aber auch dann ist dieses
Ende herbeigeführt oder doch beschleunigt worden durch das un-
geheure Geweih, welches seinem Träger die Flucht in die Waldungen
unmöglich machte.“
Daß es sich bei der Geweihbildung des Riesenhirsches tat-
sächlich um eine in das extreme geführte Entwicklung handelt, die
nicht mehr durch ihre ursprüngliche sexuelle Aufgabe befestigt
war, sondern ausartete, beweist für mich die Tatsache, daß, wie
Hescheler hervorhebt, die Geweihhälften bei ein und demselben
Individuum mehr oder weniger stark voneinander abweichen.
In vorstehenden Ausführungen hoffe ich den Beweis erbracht
zu haben, daß wir in der Verfolgung paläobiologischer Pro-
bleme durch die Heranziehung lebender Vertreter verwandter Tier-
arten eine tiefere Einsicht ın den Bau und die Lebensweise aus-
gestorbener Geschöpfe erhalten. Es sollte mir große Freude be-
reiten, dadurch Anregung zur Aufnahme weiterer Forschungen auf
diesem Gebiete gegeben zu haben.
Beiträge zur Ameisenbiologie.
Von Heinr. Kutter, Zürich.
Von dem Gedanken ausgehend, daß jegliches wissenschaftliches
Forschungsresultat nur dann dazu geeignet ist, ein möglichst einwand-
freies Bild des erforschten Gebietes zu geben, wenn es sich auf mög-
lichst viele, wenn auch unscheinbare Detailkenntnisse stützen kann,
habe ich mich entschlossen, die nachfolgenden Beobachtungen und
H. Kutter, Beiträge zur Ameisenbiologie. 111
Funde zu publizieren. Viel neues ist nicht dabei, doch glaube ich,
daß die folgenden Ausführungen insofern Interesse erwecken dürften,
als die meisten sich auf Gebiete erstrecken, welche immer noch
ihrer endgültigen Aufklärung und Beurteilung harren.
A.
Über das Auftreten von Pseudogynen bei Formica rufa L.
Seit vielen Jahren waren wir Zürchermyrmekologen Dr. Brun,
Emmelius und ich daran gewöhnt, das nötige Tiermaterial, wenig-
stens zu einem großen Teile, für unsere Versuche in Garten und
künstlichen Beobachtungsapparate, einer äußerst volkreichen und
lebenskräftigen rufa-Kolonie im Zollikerwald, in der Nähe der
Stadt, zu entnehmen. Das Hauptnest der betreffenden Kolonie lag
am Waldrande und schaute nach Südwesten. Zahlreiche und statt-
liche Zweignester unterhielten einen lebhaften Verkehr mit dem
schon alten, aber immer noch sehr volkreichen Stammneste. Wir
entnahmen jedoch meist den eben erwähnten Nebennestern unsere
Versuchstiere aus dem einfachen Grunde, weil sich dieselben leichter
nach Königinnen und Brut untersuchen ließen. Nie trafen wir
auf Pseudogynen, worauf wir stets besonders achteten, vor allem
da wir Jungen, Emmelius und ich dieselben erst aus Abbildungen
und ihrem Namen nach kannten. Was wir bei unsern zahlreichen
Durchsuchungen, auch des Hauptnestes, an Gästen fanden, be-
schränkte sich im wesentlichen auf kleine Staphyliniden (Myrmi-
donia, Notothecta, Xantholinus ete.), Histeriden u. s. w., also vor
allem Synechthren und Synoeken. Niemals stießen wir jedoch
auf Atemeles.. Auch nicht in den Myrmica-Nestern der Umgebung.
Dagegen fanden wir in der Nähe in einigen Sanguinea-Kolonien
Lomechusa.
Im Laufe des Jahres 1913 traten nun plötzlich eine Unmenge
von Pseudogynen auf, und zwar handelte es sich vor allem um Meso-
pseudogynen, Makropseudogynen wurden keine gefunden. Ich
besitze aus jener Pseudogynenperiode 48 Exemplare in meiner
Sammlung, von welchen nur 2 Tiere reine Arbeiter sınd, während
sich alle andern durch eine mehr oder weniger deutlich ausgeprägte
Hypertrophie des Thoraxrückens als typische Pseudogynen erweisen.
Nun hatten wir ganz besonders in jenem Jahre wiederholt die
Kolonie heimgesucht und zwar beinahe mit einer katastrophal wir-
kenden Rücksichtslosigkeit. Schon im März wurden etliche Säcke
voll Tiere fortgetragen. Vor allem aber war der 10. Mai für die
betreffende Kolonie ein Unglückstag, indem wir nämlich an diesem
Tage dem Hauptneste zwei große Säcke voll Tiere mit Brut
entnahmen, welche zu Studienzwecken im Garten von Dr. Brun
ausgesetzt wurden.
112 H. Kutter, Beiträge zur Ameisenbiologie.
Im gleichen Jahre nun trat die plötzliche, gewaltige
Pseudogynenbildung auf, und zwar fast ausschließlich ın
dem von uns am meisten heimgesuchten Hauptneste!
Vergegenwärtigen wır uns die Situation in der sich die Kolonie
in diesem Jahre befand. Durch wiederholten und oft in großem
Maßstab betriebenen Raub verlor dıe sonst mächtige und blühende
Kolonie, welche gewissermaßen die Stellung einer militärischen
Großmacht, menschlich ausgedrückt, ınnehielt und der Schrecken
für alle anderen Ameisen war, die sich in der Umgebung ansiedeln
wollten, mit einem Schlage einen großen Teil ihrer Bedeutung.
Nicht nur mußte sie ganz mechanisch, durch die wesentlich ver-
rıngerte Arbeiterzahl veranlaßt, ıhren äußeren Einflußkreis ver-
ringern, sondern es mußte bald auch an Arbeitskräften mangeln,
den völlig durchwühlten, riesigen Haufen wieder aufzubauen, die
umhergestreute Brut zusammenzutragen und zu sortieren, Nahrung
zu suchen für die Unmenge von Brut, welche ın den unteren Etagen
zurückgeblieben war etc. Der sprichwörtliche, unermüdliche Fleiß
der übrig gebliebenen Arbeiter überwand zwar diese plötzlichen ge-
steigerten Anforderungen ın relativ kurzer Zeit; aber eines konnte
er nicht mehr ersetzen: die verlorene, einflußreiche Bedeutung
früherer Jahre.
Wie ıst nun das plötzliche, massenhafte Auftreten von Pseudo-
gynen zu erklären? Auffallend ıst vor allem die ungeheure Menge
der pathologisch veränderten Tiere. Wenn das Verhältnis der An-
zahl der reinen Arbeiter zu der Zahl der Pseudogynen meiner
Sammlung wirklich auch für die Tiere des natürlichen Nestes zu-
trifft, so wären also beinahe 96%, der Gesamtbevölkerung pseudo-
gynenhaft mißbildet! Dies ıst aber wahrscheinlich doch etwas zu
hoch gegriffen. Fernerhin ist beachtenswert, daß im Jahre darauf
keine Pseudogynen mehr auftraten.
Daß die Pseudogynenbildungen nicht blastogenen Ursprungs sind,
scheinen meines Erachtens wenigstens für unsere Ameisen die Versuche
von Viehmeyer:!)und Wasmann?) direkt, auf dem Wege des Experi-
ments, zu beweisen. Deshalb scheint auch für unsern Fall die An-
nahme, daß die Ameisen ihren Brutpflegeinstinkt zu regulieren ver-
mögen, für vollauf berechtigt. Da in unserer Kolonie jedoch nie Ate- -
meles gefunden wurden, trotzdem dieselbe während mehrerer Jahre von
uns besucht wurde, kann wohl die plötzliche, nur einmalige, zugleich
aber sehr stark auftretende Pseudogynenbildung nicht ursächlich
mit der Anwesenheit von Gästen (in unserem Falle Atemeles) zu-
sammenhängen, sondern wahrscheinlich zum Teil mit einer instink-
1) Experimente zu Wasmann’s Pseudogynen-Lomechusatheorie und andere
biologische Beobachtungen. Allgem. Zeitschr. f. Entomol., Bd. 9, p. 334— 344, 1904.
2) Zur Kenntnis der Ameisen und Ameisengäste von Luxemburg. III. Teil,
P-1063,.1909:
f
H. Kutter, Beiträge zur Ameisenbiologie. 113
tıven nachträglichen Umzüchtung von Larven zu Arbeitern, die
früher für den Weıibehenstand bestimmt waren. Da die Kolonie
die meisten ihrer Königinnen nach unserm Raubzug noch besaß,
so wird es sich wohl kaum um eine zu spät versuchte Umzüchtung
von Arbeiterlarven zu Königinnen handeln. Eine instinktive Um-
züchtung ist auch ziemlich begreiflich, da ja die Kolonie plötzlich
eine riesige Menge von Arbeitskräften verloren hatte, ander-
seits aber die Anforderungen, welche an die zurückgebliebenen
Arbeiter gestellt wurden, mit einmal sich ganz bedeutend ver-
größerten.
Dabei bleibt nun aber doch offenbar auch die fernere Mösglich-
keit offen, daß nämlich, wie Wheeler es in seiner Arbeit: „The
Polymorphisme of Ants“ (1907) ausführt, die Pseudogynen als Kümmer-
formen zu betrachten sind, welche durch bloße Vernachlässigung
der weiblichen Larven entstanden seien. Es ist nun wohl möglich,
daß viele Larven, die zu weiblichen Geschlechtstieren auferzogen
werden sollten, während der ersten Tage nach dem gewaltsamen
Eingriff unsererseits in den blühenden Staat, ungewollt teilweise
vernachlässigt wurden, indem die wenigen Arbeiter nicht mehr so
viel Nahrung herbeizuschaffen vermochten wie früher, vorausgesetzt
natürlich, daß die Umzüchtung der Larven lediglich mit der Regu-
lation der zugeführten Nahrungsm enge bewerkstelligt werden kann.
Dies scheint mir aber sehr unwahrscheinlich, denn die Erfahrung
lehrt uns, daß bei bloß verminderter Nahrungszufuhr keine Pseudo-
gynen sondern die bekannten Hungerformen entstehen. So konnte
ich z. B. durch beabsichtigten Lebensmittelentzug einige Formica
fusca heranzüchten, deren Länge nur 3 mm beträgt. — Auch würden,
wenn Wheeler’s Anschauung richtig wäre, alle Pseudogynen nur
auf einer Verkümmerung von weiblichen Larven beruhen, und es
wäre ihre Entstehung aus Arbeiterlarven undenkbar. — Wir müssen
vielmehr noch andere Faktoren als bloß Quantität und Qualität der
den Larven gereichten Nahrung in Betracht ziehen, um die Ent-
stehung der verschiedenen normalen und pathologisch veränderten
Formen verstehen zu können. Art der Bespeichelung, Temperatur,
Feuchtigkeit ete. werden sicherlich von nicht zu unterschätzendem
Einfluß auf die Entwicklung der Larven sein. Je nach dem Zu-
sammenspiel all dieser Faktoren wird sich die Larve so oder anders
herausbilden. Ein anderer Einwand gegen die zwei eben erwähnten
Erklärungsversuche findet natürlich eine Stütze in der ungeheuren
Zahl der auftretenden Pseudogynen, indem mit Recht darauf hin-
gewiesen werden könnte, daß nicht eine solche Unmenge von Larven
ursprünglich zu weiblichen Geschlechtstieren aufgezogen werden
sollte. In voller Anerkennung dieses Einwandes sei doch auch
darauf hingewiesen, daß gerade Formica rufa oft eine unglaublich
große Zahl von Weibchen besitzt und aufzuziehen vermag. Dies
114 H. Kutter, Beiträge zur Ameisenbiologie.
wird vor allem auch in blühenden, lebenskräftigen Kolonien, wie
die unsrige, der Fall sein.
Übrigens erwähnt auch Viehmeyer?°) in einer Arbeit über
die sächsische Ameisenfauna (1915) eine große Zahl pseudogynen-
haltiger sanguinea- und rufa-Kolonien, ohne daß er die jeweils in.
Betracht kommenden Gäste (Lomechusa resp. Atemeles) in den er-
wähnten Kolonien fand. Die Beobachtungen Viehmeyer’s scheinen
jedoch nicht absolut für jedes Fehlen von Gästen zu sprechen.
Mein Fall steht insofern etwas abseits, als hier künstliche Eingriffe
Situationen ın der Natur schafften, welche wohl sehr selten auf
natürliche Weise entstehen dürften. Allerdings bedarf meine Beob-
achtung noch der einwandfreien, exakten Kontrolle, und bis dahin
soll sie nun als Anregung zur weiteren Untersuchung dienen, ob
die Ameisen nicht auch auf diesem Wege zur Aufzüchtung von
Pseudogynen veranlaßt werden könnten. Als Versuchskolonien
kämen hierbei aber wahrscheinlich nur sehr große und individuen-
reiche Kolonien in Betracht.
Ohne Zweifel steht, mit Reichensberger*t), „Pseudogynen-
zucht im engsten und ursächlichsten Zusammenhang mit dauernder
Lomechusa- resp. Atemeles-Zucht“. Daneben mögen aber abnorme
Ursachen, wie es bei meinem Falle zu sein scheint, ebenfalls Pseudo-
gynenbildung veranlassen; Ursachen, deren Wesen bis zum Vor-
liegen von reichlicherem Material noch nicht völlig abgeklärt sein
dürfte.
B.
Zur Koloniegründung von Formica rufa L.
Im April 1906 war es Wasmann vergönnt zum ersten Male
bei Luxemburg natürlich gemischte Kolonien rufa-fusca zu ent-
decken und deren Bedeutung zu erkennen. Seither häuften sich
die Berichte solcher Kolonien von Jahr zu Jahr immer mehr, so
daß man heute, gestützt auf das viele Material, ımstande ist, die
Verhältnisse der Koloniegründung von Formica rufa s. str. beinahe
lückenlos zu übersehen. Deshalb bringen auch die Funde, welche
ich bei Gelegenheit eines kurzen Aufenthaltes in Zermatt im Sommer
1917 machte, an und für sich nichts Neues mit sich; sie bestätigen
vielmehr durch ihre Zahl die gewonnenen Ansichten aufs trefflichste.
Es sei noch erwähnt, daß es Wheeler im Sommer 1909 gelang,
solche Kolonien zum ersten Male für die Schweiz ın Zermatt und
im benachbarten Turtmanntale nachzuweisen. Die große Zahl von
rufa-fusca-Kolonien, welche ich in der Umgebung von Zermatt fand,
3) Zur sächsischen Ameisenfauna. Abhandl. naturw. Ges. Isis, Dresden 1915,
S. 61—64.
4) Beobachtungen an Ameisen II. Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiologie,
Bd. XII, Heft 7/S, p. 145—152, 1917.
H. Kutter, Beiträge zur Ameisenbiologie. 415
und die vielen Beobachtungen, welche mit dieser Frage zusammen-
hängen, vermochten ein vortreffliches Bild zu geben von den mannig-
fachen Gefahren, welche den jungen rufa-Weibchen nach ihrer Be-
fruchtung auflauern, der Hartnäckigkeit dieser jungen zukünftigen
Stammütter, mit welcher sie ihr festgesetztes Ziel verfolgen, bis es
ihnen gelingt, in einem fusca-Neste Unterschlupf und Pflege zu
finden. Zugleich aber vermochte ich mich auch von der relativen
Häufigkeit dieser Adoptionskolonien zu überzeugen, vor allem in
den hochgelegenen Alpweiden, wo es von fusca wimmelt, und nur
hie und da noch ein altes r«fa-Nest sich findet, deren junge Königinnen
während der wenigen warmen Sommertage eine neue Heimat suchen
bei den zahlreichen benachbarten fusca-Kolonien, um dieselben für
die Aufzucht der künftigen eigenen Brut zu gewinnen.
Ich nahm mir die Mühe, einen ganzen Tag lang eine nach
Süden gerichtete, 2000-2300 m hoch liegende Fläche von etwa
300 m im Geviert einer Alpweide systematisch nach solchen natür-
lich gemischten rufa-fusca-Kolonien abzusuchen, daneben auch um
einen sichern Einblick in die Ameisenfauna jener Höhen zu erlangen.
Während dieser Zeit vermochte ich nun auf der erwähnten Fläche
nicht weniger als 5 rufa-fusca-Kolonien 1. Stadiums nachzuweisen,
während nur ein einziges rufa-Nest in dem untersuchten Bezirke
lag. Zudem waren die jungen Geschlechtstiere dieser Kolonie noch
nicht ausgeschwärmt, so daß die zahlreichen jungen rufa-Weibchen,
welche überall herumliefen, andern, weiter entfernt liegenden Kolonien
entstammen mußten. Neben den erwähnten 5 Adoptionskolonien
konnten nun sozusagen noch alle Zwischenstadien beobachtet werden,
von dem Befruchtungsmoment an bis zur Aufnahme bei fusca.
Fünfmal sah ich je eine junge rufa-Königin aufgeregt, aber doch
vorsichtig am Nesteingang einer fusca-Kolonie sich zu schaffen
machen. Wie sie sich schon vor den fremden Arbeitern in Vertei-
digungsstellung versetzten und mit denselben aufs heftigste kämpften,
aber sich doch stets unverdrossen den fusca-Nestern wieder näherten.
Zweimal fand ich ein rwfa-Weibchen im heftigsten Kampfe ver-
wickelt mitten im fusca-Neste; und die Leichen dreier rufa-Weibehen
in drei weiteren fwsca-Nestern zeugten von harten Kämpfen. Die
fusca besaßen in allen diesen Fällen noch ihre eigenen Weibchen.
Alle diese Beobachtungen wurden auf der erwähnten verhältnıis-
mäßig kleinen Fläche gemacht. Wie groß mußte die Zahl der
rufa-fusca-Kolonien auf dem ganzen riesigen Gebiete der ausge-
dehnten Alpweiden sein!
C.
Ein „Friedhof“ von Formica rufa.
Bei einem kleinen Ausflug im Juni 1917 nach Glattfelden (Kt.
Zürich) mit einigen Kameraden aus der Grenzbesetzung stießen
116 E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“.
wir längs eines Waldrandes auf der Straße nahe beim Dorfe plötz-
lich auf ein ungeheures Leichenfeld von Formica rufa. Die toten
Tiere bedeckten auf einer Strecke von ca. 25 m die Straße in einer
Breite von etwa 1,5 m! Viele Tausende von Tieren mußten hier
liegen, denn ihre Körper deckten den Boden beinahe zu. Was
aber am meisten auffallen mußte, war die ungeheure Menge
von völlig entflügelten toten Königinnen, welche sich unter
.den toten Arbeitern befanden. Ich nahm mir aufs Geratewohl eine
Zündholzschachtel voll der Tiere mit und fand in dem mitge-
nommenen Material 50 tote Königinnen mit nur 121 Arbeiter-
kadavern, woraus sich beinahe ein Verhältnis von 1:2,5 ergibt!
Daneben fanden sich noch Fliegen-, Spinnen- und Käferteile etc.
Offenbar benutzten die Ameisen einer riesigen Kolonie, welche sich
am Abhang ca. 50 m über der Straße befand, dieselbe als ıhren
„Friedhof“ und Kehrichtplatz. Es waren jedoch nur ganz verein-
zelte lebende Tiere zu sehen, welche auf ıhren toten Schwestern
herumliefen.
Eine befriedigende Erklärung dieser unglaublichen Menge von
toten Königinnen konnte ich bis heute noch nicht finden, vor allem
da kein einziger Flügelüberrest, noch Teile.von Männchen gefunden
werden konnten. Auch zeigen sämtliche Weibchen keine Spur
mehr von Flügelstummeln.
Bemerkungen zur neuen Auflage von K. Escherich
„Die Ameise“').
(Zugleich 229. Beitrag zur Kenntnis der Myrmecophilen.)
Von E. Wasmann S. J., Valkenburg.
Die erste Auflage dieses im ganzen vortrefflichen Buches, das
eine kurze Zusammenfassung der Ameisenbiologie darstellt, wurde
vom Referenten ım Biolog. Zentralblatt 1906 (S. 801—806) ein-
gehend besprochen. Nun ist nach 11 Jahren die zweite, dem
heutigen Stande unserer Ameisenkunde entsprechend vermehrte
und verbesserte Auflage erschienen. Das Manuskript wurde bereits
am 31. Juli 1914, am Tage vor Beginn des Weltkrieges, abge-
schlossen; der Druck begann im Sommer 1916. Daher kommt es
wohl, daß die 1915 und 1916 erschienenen neuen Publikationen
nur zum Teil, und zwar recht ungleich berücksichtigt wurden.
(Man vergleiche z. B. die Literaturverzeichnisse des 2., 4. und
8. Kapitels mit dem weiter fortgeschrittenen des 10. Kapitels.) Bei
1) Schilderung ihrer Lebensweise. Zweite verbesserte und vermehrte Auflage.
8°, XVI, 3488. Mit 98 Abbildungen im Text, Braunschweig 1917, Vieweg.
Preis Mk. 10, geb. Mk. 12.
E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. 417
dem riesigen Anwachsen der biologischen Ameisenliteratur im letzten
Jahrzehnt war es selbstverständlich nicht leicht, für den Zweck
der Neubearbeitung dieses Kompendiums die richtige Auswahl zu
treffen, zumal der Verfasser seit einer Reihe von Jahren einem
neuen Tätigkeitsfelde, der angewandten Entomologie, sich zuge-
wandt hat, das seine ganze Arbeitskraft in Anspruch nahm. Viel-
leicht hätten manche gewünscht, daß die neue Auflage von Esche-
rich’s „Ameise“ nach dem Vorbilde des weitschichtiger angelegten
Werkes von W. M. Wheeler „Ants, their structure, development
and behavior“ (New-York 1910) umgestaltet worden wäre. Aber
auch abgesehen davon, daß dem Verfasser hierfür nicht die nötige
Zeit zu Gebote gestanden hätte, wäre dadurch die Eigenart des
Escherich’schen Buches aufgehoben worden, die gerade in der
knappen, übersichtlichen Darstellung der Forschungsergebnisse liegt
und durch die am Schlusse der einzelnen Kapitel beigefügten Lite-
raturverzeichnisse an praktischer Brauchbarkeit gewinnt. Wer über
die betreffenden Fragen sich näher unterrichten will, findet daselbst
meist reichliches Material zitiert. Es ist daher keineswegs zu be-
dauern, daß Escherich’s „Ameise“ im wesentlichen geblieben ist,
was sie war.
Die dem Zwecke des Buches entsprechende frühere Anordnung
des Stoffes ist beibehalten worden. Zuerst werden Morphologie
und Anatomie der Ameisen kurz behandelt, dann ihr Polymorphismus,
ihre Fortpflanzung, der Nestbau, die Ernährung, verschiedene Lebens-
gewohnheiten, die Beziehungen der Ameisengesellschaften zueinander
und zu anderen geselligen Insekten (soziale Symbiose), die Be-
ziehungen der Ameisen zu nichtsozialen Tieren (individuelle Sym-
biose, Myrmecophilie), die Beziehungen der Ameisen zu den Pflanzen
und endlich die Psychologie der Ameisen. Anhang I bespricht die
Ameisen als lästige Haus- und Gartenbewohner und ihre Bekämpfung,
Anhang II gibt eine systematische Übersicht über die in Deutsch-
land heimischen Arten dieser Familie.
Der Text des Buches ist von 232 Seiten auf 348 vermehrt, die
Zahl der Abbildungen von 68 auf 98; nicht wenige der neuen Ab-
bildungen sind dem Buche von Wheeler entnommen. Am aus-
giebigsten umgearbeitet und vermehrt wurden die Abschnitte über
die soziale Symbiose (Kap. VII), über die Beziehung der Ameisen
zu den Pflanzen (Kap. IX) und über die Psychologie der Ameisen
(Kap. X). Letzterer Abschnitt ist von Dr. R. Brun (Zürich) neu
bearbeitet worden, der systematische Anhang II, die Bestimmungs-
tabelle der einheimischen Ameisen, von H. Viehmeyer (Dresden).
Einige kritische Bemerkungen mögen hier folgen, die so-
wohl dem Leser des Buches als auch dem Verfasser für eine neue
Auflage dienlich sein können.
38. Band Yy
Fr
448 D. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise‘.
Im Abschnitt über „Untersuchungsmethoden“ wird, wie
schon in der ersten Auflage, so auch hier (S. 15) mit Recht Nach-
druck auf den Satz gelegt: „Die Grundlage der Ameisen-
forschung muß stets die genaue Beobachtung der nor-
malen Lebensgewohnheiten der Ameisen — sei es draußen
oder im künstlichen Nest — bilden.“ Durch die Vernachlässigung
der Beobachtung und einseitige Überschätzung des Experiments
sind ja Albrecht Bethe (1898) und neuerdings Hans Henning
(1916) auf vollständig irreführende Fährten in der Ameisenpsycho-
logie geraten. Aber die lange, jetzt neu beigefügte Anmerkung
von Rudulf Brun legt doch etwas zu einseitig Gewicht auf die
direkte Beobachtung in freier Natur und unterschätzt die durch
künstliche Versuchsnester gewonnenen Ergebnisse, denen die
Ameisenbiologie eine Menge wichtiger und kritisch gesicherter
Kenntnisse zu verdanken hat. Nicht einmal für die Frage der
Koloniegründung der parasitischen und der sklavenhaltenden Ameisen,
auf die jene Ausführungen hauptsächlich sich beziehen sollen, haben
sie volle Geltung. Die mittelst künstlicher Nester angestellten Ver-
suche hierüber von Emery, Santschi, Wasmann, Wheeler
u.s. w. haben uns vielfach den Weg gewiesen, auf dem das Zu-
standekommen der betreffenden gemischten Kolonien in freier Natur
zu erklären ist. Insbesondere die gewaltsame Beseitigung der fusca-
Königin durch die aufgenommene Polyergus-Königin (Emery) oder
durch die aufgenommene rzwfa-Königin (Wasmann) ist ein Vor-
gang, den wir in freier Natur niemals hätten beobachten können,
obwohl er dort auch sicherlich in manchen Fällen vorkommt.
In noch höherem Grade hat sich der Wert der Beobachtungen
und Versuche mittelst künstlicher Nester auf anderen Gebieten der
Ameisenbiologie erprobt. Was wüßte man ohne sie beispielsweise
über die näheren Beziehungen der Ameisen zu ihren Gästen, nament-
lich über die Beleckung und Fütterung der Symphilen und die Er-
ziehung ihrer Larven durch die Ameisen? So gut wie nichts.
Selbstverständlich müssen den Ameisen in den Beobachtungsnestern
möglichst natürliche Existenzbedingungen geboten werden, und die
Umstände, die in der Gefangenschaft eine Veränderung des Ver-
haltens der Ameisen herbeiführen, müssen aufgedeckt und in Rech-
nung gezogen werden. Zahlreiche Beispiele hierfür wird man ın
der 2. Auflage meiner Schrift Die psychischen Fähigkeiten
der Ameisen (Nr. 164, Stuttgart 1909) finden ?).
In manchen Fällen ist es leicht, in anderen schwer, die Über-
einstimmung zwischen den natürlichen und den künstlichen Ver-
hältnissen herzustellen. So ıst beispielsweise die kritische Prüfung
2) Im Literaturverzeichnis des 10. Kapitels bei Escherich S. 315 ist nur
die 1. Aufl. (von 1899) zitiert, in jenem der Einleitung S. 18 und in jenem des
8. Kapitels S. 253 dagegen die 2. Aufl.
Mar Be:
E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. 119
des ursächlichen Zusammenhangs zwischen der Erziehung der Lome-
chusa-Larven und der Entwicklung der Pseudogynen bei Formica
sanguinea in künstlichen Versuchsnestern nahezu aussichtslos, weil
diese Ameisen in den künstlichen Nestern ohnehin fast immer nur
Arbeiterinnen aus den befruchteten Eiern der Königin erziehen,
aber keine Weibchen. Daher kann hier schwerlich das Problem
geprüft werden, ob die Pseudogynenerziehung auf einer Mischung
von Arbeitererziehung und Weibchenerziehung beruht. Ich habe
hierauf bereits 1909 (Nr. 168, Ameisen und Ameisengäste von Luxem-
burg, III. Teil, S. 69) aufmerksam gemacht. Dagegen haben die
umfangreichen Statistiken in freier Natur, die ich mit 410 sangwinea-
Kolonien bei Exaten 1895—1899 und mit 40 sangwinea-Kolonien
bei Luxemburg 1904—1906 durchführte, die überzeugendsten Be-
weise für den ursächlichen Zusammenhang der Pseudogynenerziehung
mit der Larvenerziehung von Lomechusa geliefert. Namentlich gilt
das von der Exatener Statistik, die ich 1915 eingehend veröffent-
lichte in der Arbeit Nr. 205: Neue Beiträge zur Biologie von
Lomechusa und Atemeles?) (S. 258—321). Leider ist auf diese Ar-
beit in der neuen Auflage von Escherich’s Buch nirgendwo Bezug
genommen, weder im Abschnitte, der über die Pseudogynentheorie
handelt (Kap. II, S. 69), noch in demjenigen über die Myrmecophilie
(Kap. VIII, S. 246); sie fehlt auch in den betreffenden Literatur-
verzeichnissen, obwohl jenes des X. Kapitels auch eine Reihe erst
1916 erschienener Arbeiten enthält.
Derjenige Abschnitt, der ın der neuen Auflage Escherich’s
wohl am reformbedürftigsten blieb, ıst das VIII. Kapitel über die
individuelle Symbiose der Ameisen mit anderen, nichtsozialen
Arthropoden oder über die Myrmecophilie. Für die Anerken-
nung, die der Verfasser den Forschungen und Arbeiten des Refe-
renten auf dem Gebiete der Myrmecophilenkunde an mehreren
Stellen dieses Kapitels (S. 230 und 251) ausspricht, sei ihm hier
ausdrücklich Dank gesagt. Durch die große Zahl dieser Arbeiten,
die 1916 schon 220 betrug, wurde es, wie der Verfasser (S. 253)
bemerkt, unmöglich, alle anzuführen, und er könne deshalb nur die
wichtigsten nennen. Sein Literaturverzeichnis derselben reicht aber
überhaupt nur bis 1912, und hier fehlen schon hauptsächliche, zu-
sammenfassende Arbeiten, wıe der auf dem 1. Internat. Entomologen-
kongreß 1910 gehaltene Vortrag Die Ameisen und ıhre Gäste
(Nr. 184), der sogar ım Smithsonian Report für 1912 Aufnahme
gefunden hat. Ebenso fehlen auch eine Reihe wichtiger Arbeiten
über Myrmecophilen von Mann, Reichensperger, Silvestri,
Wheeler u. s. w., während eine Arbeit von so zweifelhaftem Werte
3) Zeitschr. f. wiss. Zool. CXIV, Heft 2, S. 233—402, mit einer statistischen
Karte und zwei photographischen Doppeltafeln.
\
420 E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich ‚Die Ameise“.
wie jene von K. H. Chr. Jordan über ZLomechusa und Atemeles
(1913) besonders berücksichtigt worden ist.
Es ıst anzuerkennen, daß an manchen Stellen dieses Kapitels
wertvolle, neue sachliche Ergänzungen, meist in. Anmerkungen, hin-
zugekommen sind. Es wäre jedoch von großem Vorteil für das
Buch gewesen, wenn der Verfasser auch seine Grundanschauungen
über das Wesen der Myrmecophilie und insbesondere der
Symphilie einer nochmaligen Prüfung unterzogen hätte. Das
war um so eher zu erwarten, da der Verfasser die betreffenden
Arbeiten in seinem Literaturverzeichnis anführt. Aber es ist hierin
alles beim alten geblieben wie 1906.
Escherich teilt (S. 231) die Beziehungen der Ameisen zu den
Myrmecophilen immer noch ein in „aktive Beziehungen“, in denen
die Ameisen die aktive Rolle spielen, wozu er nur die Trophobiose
rechnet; und in „passive Beziehungen“, in denen die Ameisen die
passive Rolle spielen, „oder wenigstens primär gespielt haben“
hierher rechnet er alle anderen Beziehungen der Myrmecophilen zu
ihren Wirten. In dem neuen Zusatz „oder wenigstens primär ge-
spielt haben“ ist ein kleiner Fortschritt zu bemerken, indem zuge-
geben wird, daß gegenwärtig auch viele Symphilen von den Ameisen
aufgesucht werden. Zum Verständnis der primären Verhältnisse
wäre es jedoch erforderlich gewesen, auf die mutmaßliche Stammes-
geschichte der Symphile kurz einzugehen und die verschiedenen
Entwicklungswege derselben auf Grund der Arbeiten des Referenten
zu erwähnen. Das echte Gastverhältnis kann sich nämlich mor-
phologisch aus einem ursprünglichen Trutztypus entwickelt
haben oder aus einem ursprünglichen Mimierytypus oder aus einem
ursprünglichen indifferenten Typus; biologisch aus einer ursprüng-
lichen Synechthrie oder aus einer ursprünglichen Synoekie oder
sogar aus einem ursprünglichen Parasitismus. Die verschiedenen
Entwicklungswege der Symphilie speziell bei den dorylophilen
Staphyliniden wurden vom Referenten 1916 behandelt °); hier kommen
drei verschiedene Entwicklungswege in Betracht, aus dem Mimicry-
typus, dem Trutztypus und dem indifferenten Typus. Bei den
symphilen Paussiden und Hysteriden handelt es sich dagegen nur
um einen morphologischen Entwicklungsweg, aus einem ursprüng-
lichen Trutztypus, der jedoch biologisch bei den Paussiden der
Synechthrie, bei den Hysteriden vorwiegend der Synoekie diente.
Bei den Clavigerinen hat die Entwicklung der Symphilie wohl nur
aus einer ursprünglichen Synoekie stattgefunden, u. s. w.
Daß ım Wesen der Symphilie mehr liegt als ein bloßer
Parasitismus oder Commensalismus (S. 231), ist vom Verfasser
8) Nr. 218: Neue Anpassungstypen bei den Dorylinengästen Afrikas (Zeitschr.
f. wiss. Zool. OXVII, 2. Heft, S. 257—360, mit 4 photograph. Doppeltafeln), Kap. 11,
S. 323—328.
E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. 421
immer noch nicht berücksichtigt worden, obwohl durch zahlreiche
Arbeiten des Referenten längst gezeitigt worden war, daß in der
Symphilie ein wirkliches Gegenseitigkeitsverhältnis, also ein
Element der echten Symbiose liegt’). Die Gegenleistung der Sym-
philen, das „Kostgeld“, das sie für ihre gastliche Behandlung zahlen,
ist eben die Annehmlichkeit, der Genuß, den die Wirte durch die
Beleckung der Exsudatorgane der Symphilen erhalten. Daß die
Gastpflege in manchen Fällen zum Bankerott der Wirtskolonien
führen kann (die Pflege der Lomechusini und ihrer Larven) ändert
nichts an dem Gegenseitigkeitsverhältnis, auf welchem die Symphilie
beruht. In der von Escherich (S. 253) zitierten Arbeit des Refe-
renten „Über das Wesen und den Ursprung der Sym-
philie“ (Nr. 173, Biolog. Zentralbl. 1910, Nr. 3—5) hätte sich hin-
reichende Aufklärung hierüber gefunden. Sie blieb jedoch völlig
unbenutzt, wie dıe folgenden Zitate zeigen.
„Die Symphilie bedeutet (wenigstens in weitaus den meisten
Fällen) für die Ameisen eine soziale Krankheit, wie etwa die Opium-
sucht für die Menschenstaaten“ (S. 246) — also genau wie 1906
(S. 171)! Aus einem bloßen Vergleich, der wohl für populäre Kreise
anziehend sein mag, wird also immer noch eine wesentliche Gleich-
heit gemacht. Das ist doch keine wissenschaftliche Erklärung.
Tatsächlich ist die Ähnlichkeit beider Erscheinungen nur eine ganz
entfernte und oberflächliche, die gegenüber den weitaus größeren
Verschiedenheiten derselben zurücktritt, Nur für wenige Fälle ist
bisher überhaupt die Schädlichkeit der Symphilie für die betreffen-
den Wirtskolonien nachgewiesen, nämlich für die Larvenpflege der
Lomechusini in höherem, und für den Brutparasitismus der Paussidae
in geringerem Grade. Daß die Symphilie allgemein oder wenig-
stens in weitaus den meisten Fällen für die Ameisen eine soziale
Krankheit bedeute, ist schon aus diesem Grunde ungefähr das
Gegenteil von der Wahrheit.
Ebenso unverändert sind auch die Ausführungen über die Be-
ziehungen der Symphilie zur Selektionstheorie geblieben (S. 247).
Es ist schwer begreiflich, wie noch 1917 die oberflächliche Be-
hauptung ohne weiteres wiederholt werden konnte, Wasmann’s
„Symphilieinstinkt“ der Ameisen sei gleichwertig mit einem „Opium-
instinkt* der Menschheit. Referent hatte doch in zahlreichen Ar-
beiten, besonders in der obenerwähnten von 1910 (Über Wesen
und Ursprung der Symphilie) auf Grund der Prinzipien der Deszen-
denztheorie den bisher unwiderlegten Nachweis geführt, daß es bei
verschiedenen Ameisenarten (bezw. Rassen) verschiedene, zwar aus
5) Im neuen Handwörterbuch der Naturwissenschaften von Korschelt hat
A. Reichensperger der Symphilie ihren richtigen Platz im Artikel „Symbiose“
angewiesen (Bd. IX, 1913, S. 927).
7
122 E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen. Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“.
der gemeinsamen Wurzel des Brutpflege- und Adoptionsinstinkts
entspringende, aber in ıhrer stammesgeschichtlichen Entwicklung
spezifisch differenzierte und erblich fixierte Symphilie-
instinkte gibt. So ıst beispielsweise der Symphilieinstinkt bei
Formica fusca nur auf Atemeles emarginatus und dessen Larven
eingestellt, bei F. rufibarbis nur auf At. paradoxus und dessen
Larven, bei F. sangwinea nur auf Lomechusa strumosa und deren
Larven sowie auf At. pubicollis Forei und dessen Larven, bei F.
truncicola auf At. pubicollis truncicolordes und dessen Larven u. s. w.
Wo bleibt da die oberflächliche Parallele mit einem „Opiuminstinkt
der Menschheit“? Mit derartigen populären Vergleichen erklärt
man die tatsächlichen Verhältnisse nicht, sondern man täuscht den
Lesern nur eine Erklärung vor, die in Wirklichkeit im Widerspruch
mit den Tatsachen steht.
Daß die spezifisch begrenzten Symphiliemstinkte der Ameisen
sich stammesgeschichtlich entwickeln und erblich befestigen konnten,
ist und bleibt ferner ein Beweis gegen die „Allmacht der Natur-
züchtung“; denn da sie für die Erhaltung der Wirtsart mindestens
indifferent waren, fehlte offenbar jeder Angriffspunkt für dıe Natural-
selektion. Von dem Augenblicke an aber, wo die betreffende In-
stinktvariation anfing, ihren Besitzern schädlich zu werden, mußte
die Selektion derselben entgegenwirken und sie ausmerzen. Das
ist tatsächlich bei der in der Gattung Formica weitverzweigten
Lomechusa- und Atemeles-Pflege nicht geschehen. Daher ist und
bleibt die 1901 von mir aufgestellte®) Amikalselektion, die
instinktive Bevorzugung bestimmter echter Gäste durch ihre Wirte
und die hierauf beruhende positive Auslese, die beste biologisch
und psychologisch befriedigende Erklärung für den Entwicklungs-
gang der Symphilieinstinkte und der durch sie herangezüchteten
symphilen Anpassungscharaktere der Gäste. Es sei hier nochmals
verwiesen auf die eingehende Begründung dieser Anschauung in
der auch von Escherich zitierten, aber nicht berücksichtigten Ar-
beit Nr. 173 von 1910 „Über das Wesen und den Ursprung der
Symphilie“, S. 164 ff. Weitere tatsächliche Bestätigungen derselben
finden sich auch in der Arbeit Nr. 205 von 1915 „Neue Beiträge
zur Biologie von Lomechusa und Atemeles“, indem aus den Ergeb
nissen der Lomechusa-Statistik klar hervorgeht, daß nicht nur ın
den künstlichen Beobachtungsnestern — wie ich schon früher fest-
gestellt hatte — sondern auch in freier Natur bestimmte
Pärchen der Gastart von ihren Wirten zur Nachzucht
6) In Nr. 118: Gibt es tatsächlich Arten, die heute noch in der Stammesent-
wicklung begriffen sind (Biolog. Zentralbl. Bd. 21, Nr. 22 und 23) S. 739 u. 742.
Der dem Worte Amikalselektion zugrunde liegende Begriff ist übrigens schon 1897
(Nr. 60: Zur Entwicklung der Instinkte, in: Verh. Zool. Bot. Ges. Wien), S. 181 ff.
von mir erörtert worden.
NT AR
n
E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. 123
„ausgelesen werden“ (vgl. S. 300). Im Anschluß an diese Ar-
beit hat sich auch August Reichensperger 1917’) für die An-
nahme der Amikalselektion ausgesprochen auf Grund seiner eigenen
Beobachtungen. |
Zu den Forschungsergebnissen, welche ım Kapitel über Myrme-
cophilie der neuen Auflage von Escherich hätten berücksichtigt
werden können, gehört auch die interessante Fortpflanzungs-
weise von Lomechusa und Atemeles. Bei Lomechusa strumosa ist
nach meinen, über 25 Jahre sich erstreckenden Untersuchungen
Viviparie die normale Fortpflanzungsweise, indem die Eihaut schon
bei der Geburt der Larve zerreißt. Das nämliche gilt auch für
Atemeles pubicollis truncicoloides und wahrscheinlich auch für die
übrigen Lomechusa-Arten und für die größeren Atemeles- Arten,
bezw. Rassen (pubicollis-Gruppe). Bei Atemeles emarginatus dagegen
konnte ich, wenigstens in einigen Fällen umgekehrt Ovoviparie nach-
weisen, d. h. einen kurz dauernden freien Eizustand von wenigen
Tagen oder Stunden. 4A. paradgeus scheint zwischen jenen beiden
Extremen zu vermitteln. Die Melege finden sich in den 1915 er-
schienenen Arbeiten Nr. 205°) und 216°). Auch die verschiedenen
aufeinanderfolgenden Larvenstadien von Lomechusa und Atemeles,
die mit ihrer teilweise räuberischen, teilweise symphilen Ernährungs-
weise innig zusammenhängen, sind daselbst beschrieben und photo-
graphisch abgebildet.
Weit besser gelungen als das Kapitel über Myrmecophilie ist
in Escherich’s neuer Auflage das VII. Kapitel: „Beziehungen
der Ameisengesellschaften zueinander und zu anderen
sozialen Insekten (Termiten). Soziale Symbiose.“ Dieser
Abschnitt ist wirklich, soweit der beschränkte Raum es zuließ, den
modernen Forschungsergebnissen entsprechend umgearbeitet. Gegen-
über der ersten Auflage ist er auf das Doppelte des Umfangs an-
gewachsen (von 20 auf 40 Seiten). Auch das Literaturverzeichnis !°)
7) Beobachtungen über Ameisen II. Ein Beitrag zur Pseudogynentheorie
(Zeitschr. f. wissensch. Insektenbiolog. XIII, Heft 7—8, S. 145—152). Diese. Arbeit
konnte Escherich selbstverständlich noch nicht kennen.
8) Neue Beiträge, Abschnitt IIB, S. 322—362 und S. 387—3%.
9) Viviparität und Entwicklung von Lomechusa und Atemeles (Wien. Entom.
Zeitung XXXIV, Heft 8—10, S. 382—393).
10) Es fehlen jedoch beispielsweise folgende Arbeiten:
Bönner, W., Der temporäre soziale Hyperparasitismus von Laszius fuliginosus
und seine Beziehungen zu Olaviger longicornis (Zeitschr. f. wiss. Insektenbiol. XI,
1915, Heft 1-2, 8. 14—20).
Crawley und Donisthorpe, The founding of colonies by queen ants (Trans.
II. Intern. Congr. Entomol. Oxford, 1912, S. 11—77); Experiments on the formation
of colonies by Lasius fuliginosus (Trans. Ent. Soc. London 1912, S. 664—672) etc.
(Erstere Arbeit ist übrigens bei Escherich schon S. 102 erwähnt.)
Mräzek, A.,: Myrmecologische Notizen, IV. (Acta Soc. Ent. Bohemiae V,
1908, Heft 4.) (Alianzkolonie von Strongylognathus testacus mit Tetramorium ..)
424 E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“.
ist relativ vollständiger als dasjenige über die Myrmecophilie im
engeren Sinne. Insbesondere ist der Teil über die gemischten
Kolonien (sozialer Parasitismus und Sklaverei) bedeutend vermehrt
und fast ganz neu durchgearbeitet. Die Frage „Können wir alle
diese Formen in einen phylogenetischen Zusammenhang bringen“, also
die Stammesgeschichte des sozialen Parasitismus und der Skla-
verei wird am Schlusse behandelt (S. 219—223). In der ersten
Auflage hatte Escherich die von Wasmann 1905 aufgestellte,
relativ einfache Entwicklungsreihe angenommen, nach welcher die
temporär gemischten Kolonien den Ausgangspunkt für die Ent-
wicklung der Sklaverei bilden und aus der Entartung der Sklaverei
dann der permanente soziale Parasitismus hervorging. W. hatte
jedoch schon früher betont, daß dieser Entwicklungsgang keines-
wegs ein monophyletischer, sondern ein polyphyletischer ist, indem
2. B. Polyergus von Formica, Strongylognathus von Tetramorium,
Harpagoxenus von Leptothorax abzuleiten ist. Die Einheit jenes älteren
Entwicklungsschemas war somit bereits nur eine ideale, keine reale;
es zeigte in seiner Gesamtheit nur ine Stufenreihe, keine Ahnen-
reihe; Ahnenreihen ließen sich nur innerhalb der einzelnen Zweige
jenes biologischen Stammbaumes nachweisen. Diesen Unterschied
hatte Escherich in seiner ersten Auflage von 1906 vielleicht nicht
genügend berücksichtigt, indem er daselbst (S. 154) von einer
„phylogenetischen Reihe“ sprach, „die in einen aufsteigenden und
einen absteigenden Ast zerfällt“. In dem neuen, 1917 von Esche-
rich (S. 221) gebotenen, hauptsächlich an Wasmann’s Arbeiten
von 1908— 1910!) sich anlehnenden Schema, das den gegenwärtigen
Stand der deszendenztheoretischen Frage nach dem Ursprung und
der Entwicklung des sozialen Parasitismus und der Sklaverei bei
den Ameisen zusammenfaßt, ist es eigentlich selbstverständlich, daß
es sich hier um ein ideales Schema handelt. Die reale Grund-
lage desselben bildet der von Emery 1909 aufgestellte, von W.
genauer gefaßte, von Esch. S. 223 zitierte Satz: „Die parasitischen
Ameisen stammen von der Gattung ihrer heutigen Hilfsameisen ab
und nahmen ihren Ursprung wahrscheinlich meist in jener Arten-
gruppe, welcher auch ihre heutigen Hilfsameisen angehören. Doch
sind sie mit letzterer vielfach nur indirekt oder sogar nur seitlich
stammesverwandt, durch Vermittlung anderer Artengruppen der-
Rüschkamp, F., Eine neue natürliche rufa-fusca-Adoptionskolonie (Biolog.
Zentralbl. 1912, Nr. 4, S. 213—216); Eine dreifach gemischte natürliche Kolonie
(Biolog. Zentralbl. 1913, Nr. 11, S. 668—675).
Yano, M., A new slavemaking ant from Japan (Psyche, XVII, 1911,
8.110.112).
11) Besonders an Nr. 162 (Weitere Beiträge zum soz. Parasitismus, Biolog.
Zentralbl. 1908), S. 427—441 und an Nr. 170 (Über den Ursprung d. soz. Para-
sitismus ete., ebenda 1909), S. 699—703.
E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. 125
selben Gattung.“ Wenn somit in dem phylogenetischen Schema
skizziert wird, wie aus der ursprünglichen Form der selbständigen
Koloniegründung durch die Zweigkoloniebildung zuerst die ab-
hängige Koloniegründung hervorging, welche sich einerseits in
eine dulotische, andererseits in eine parasitische Richtung spaltete,
deren erstere zur obligatorischen Dulosis und deren letztere zum
obligatorischen Parasitismus führte, worauf schließlich diese beiden
Zweige wiederum konvergierten und zum extremen sozialen Para-
sıtismus hin sich weiterentwickelten, so ıst es selbstredend, daß
dieses biogenetische Schema als Ganzes nur den Wert einer
idealen Entwicklungsfolge, einer Stufenreihe, keiner
Ahnenreihe haben kann. Für phylogenetisch weniger geschulte
Leser wäre es vielleicht doch gut gewesen, dies noch ausdrücklich
zu bemerken. Die heutigen sklavenhaltenden und para-
sitischen Ameisen sind die Endpunkte von vielen ver-
schiedenen Entwicklungsreihen, die zu verschiedenen
Zeiten von verschiedenen Arten selbständig lebender
Ameisen aus verschiedenen Unterfamilien des Ameisen-
stammes ausgingen und sich bis heute verschieden weit
von ıhren Ausgangspunkten entfernt haben, die in den
Gattungen ihrer heutigen Hilfsameisen zu suchen sind
— also eine ausgesprochen polyphyletische Entwicklung! Das
allgemeine Entwicklungsschema wird hiedurch nicht entwertet; denn
es erschließt uns das Verständnis der einzelnen Entwicklungs-
prozesse und zeigt uns ın großen Zügen den ganzen biologischen
Entwicklungsverlauf, den wir ın den realen Stammesreihen nur
stückweise verwirklicht finden können. Ich möchte das zusammen-
fassende phylogenetische Entwicklungsschema daher einem Mosaik-
bilde vergleichen, das aus einer Summe von einander ergänzenden
Teilen zusammengefügt ıst. Im II. Band vom „Gesellschaftsleben
der Ameisen“, dessen I. Band 1915 (Münster ı. Westf.) erschien,
hoffe ich auf diese Gesichtspunkte zurückzukommen.
Auch das IX. Kapitel der neuen Auflage Escherich’s „Die
Beziehungen der Ameisen zu den Pflanzen‘ ist vermehrt
und besonders bezüglich der Theorie der Ameisenpflanzen neu durch-
gearbeitet. Im Literaturverzeichnis wäre allerdings eine Reihe von
Arbeiten noch beizufügen, die wichtige Beiträge zu dieser Frage
enthalten!?),. Auch der Abschnitt über die Myrmecochoren, die
12) Emery, C., Die in Akaziendornen lebenden Ameisen von Costarica (Biolog.
Zentralbl. Bd. 11, 1891, Nr. 5 u. 6, S. 151-168); Les plantes ä fourmis (Scientia,
Vol. XII. XXTV —4, 1912, S. 41—56).
Keller,C., Neue Beobachtungen über Symbiose zwischen Ameisen und Akazien
(Zoolog. Anz. XV, 1892, S. 137—143).
Warburg, O., Uber Ameisenpflanzen (Myrmecophyten) (Biolog. Zentralbl.
Bd. 12, 1892, S. 129—142).
126 E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. N
durch Ameisen verbreiteten Pflanzen, ist bedeutend bereichert. In
der Frage der Ameisenschutztheorie von Delpino, Schimper
u. s. w. nimmt der Verfasser einen gemäßigten Standpunkt ein. Er
hält jene Theorie zwar (S. 270) für „in ihren Grundfesten erschüttert‘,
weil es sich gerade in den klassischen Fällen (bei Ceeropia nach
v. Ihering, bei Myrmecodia nach Treub) nur um eine einseitige
Ausnutzung der Pflanzen durch die Ameisen handelt. Andererseits
bemerkt er jedoch: „Inwieweit freilich der extreme Standpunkt
Rettig’s, der in dem Satze gipfelt: ‚es gibt wohl Pflanzenameisen
in Hülle und Fülle, aber wenig oder überhaupt keine Ameisen-
pflanzen‘ berechtigt ist, kann heute noch nicht entschieden werden.
Vielleicht ist Rettig in der Verallgemeinerung zu weit gegangen.“
Diese auch vom Referenten 1915 (siehe Anm. 12) vertretene
Ansicht dürfte wohl die richtige Mitte halten zwischen beiden
Extremen.
Das von R. Brun (Zürich) überarbeitete X. Kapitel über die
„Psyehologie“ der Ameisen ist stark vermehrt (von 21 auf 35 S.);
ebenso auch das Literaturverzeichnis zu demselben, das auch die
neueren Arbeiten vollständiger berücksichtigt'?), als dies ın den
Literaturverzeichnissen der übrigen Kapitel der Fall ist. Die grund-
sätzliche Stellung des Verfassers in der Ameisenpsychologie — die
auch vom Referenten stets vertreten wurde — ıst die nämliche
geblieben wie ın der ersten Auflage: Die Ameisen sind „weder
intelligente Miniaturmenschen noch auch bloße Reflexmaschinen,
sondern Wesen, welche zwar in der Hauptsache nach ererbten
Instinkten handeln, jedoch deutlich plastische Anpassungen
(Modifikationsvermögen) auf Grund von Erfahrungen, welche im
individuellen Leben erworben wurden, erkennen lassen“ (S. 279).
Mit der ın einer neuen Anmerkung daselbst gegebenen Definition
des Instinktes als Erbgedächtnis der Art kann der Referent
sich nicht einverstanden erklären, wenigstens nicht mit der hier
gegebenen Erklärung des Wortes „Erbgedächtnis“, die ıhm eine
rein reflektorische Bedeutung unterlegt. Denn die Instinkte sind
tatsächlich mehr als bloße „komplizierte, assozierte Reflexe“ oder
„Kettenreflexe“, weil sie ın ihrer Betätigung von der Sinneswahr-
Wasmann, E., Eine neue Pseudomyrma aus der Ochsenhorndornakazie in
Mexiko, mit Bemerkungen über Ameisen in Akaziendornen und ihre Gäste. Ein
kritischer Beitrag zur Pflanzenmyrmecophilie (Tijdschr. v. Entom. LVIII, 1915,
Lief. 3—4, S. 296—325; Nachtrag ebenda im Supplement S. 125—131).
Wheeler, W.M., Observations on the Central-American Acacia Ants (Trans.
II. Intern. Congr. 1912, S. 109—139).
13) Von Wasmann, Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen, wird aller-
dings nur die erste Aufl. (1899) zitiert, nicht die bedeutend vermehrte zweite (1909).
Auch der Hinweis auf die Mimikry bei Ameisengästen (S. 287, Anm,) ist nach dem
VI. Kap. der zweiten Aufl. jenes Werkes zu ergänzen,
- E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. 1297
nehmung des Individuums ausgelöst und überdies in ihrer Aus-
führung geleitet und mannigfach modifiziert werden. Die wesent-
liche Gleichstellung der Instinkthandlungen mit bloßer Reflextätigkeit
ist psychologisch unhaltbar, weil sie der kritischen Analyse
der instinktiven Tätigkeiten nicht entspricht und zudem einen ganz
unnatürlichen Riß schafft zwischen der erblichen Instinktanlage
und ihrer Betätigung unter dem Einfluß der individuellen Sinnes-
‚erfahrung. Der Instinkt muß daher, wie Referent längst gezeigt
hat!%), als die erbliche Anlage des sinnlichen Erkenntnis-
und Begehrungsvermögens definiert werden, aus der sowohl
ihr erblich konstantes wie ıhr individuell modifizierbares Element
gleichmäßig erklärt werden kann.
In der Anmerkung auf S. 279 wie in anderen Arbeiten Brun’s
über Ameisenpsychologie tritt der Einfluß der Hering-Semon’-
schen Mnemetheorie hervor. Ich kann es nur für einen Mißgriff
halten, wenn man die moderne Ameisenpsychologie mit dieser
Theorie verquickt; denn sie ist in sich selber philosophisch falsch,
weil sie das Individualgedächtnis als wesentlich gleichartig mit der
Vererbung hinstellt, während doch tatsächlich zwischen beiden bloß
eine entfernte Analogie besteht. Zudem belastet sie die Ameisen-
psychologie mit einer Unmenge vollkommen entbehrlicher griechischer
Kunstausdrücke, für deren Begriffe wir bereits deutsche oder latei-
nische Worte besitzen, die viel leichter verständlich sind. Man
mag immerhin eine neue Ameisengattung zu Ehren dieser Theorie
Engramma (Forel!) taufen, aber mit den Engrammen, Ekphorien
u.s. w. in der psychologischen Erklärung des Ameisenlebens möge
man uns lieber verschonen. Glücklicherweise ist die erwähnte An-
merkung auf S. 279 die einzige Stelle im ganzen Kapitel über
Psychologie, wo die Mnemetheorie durchklingt. Im übrigen ist sie
in der Formulierung der Ergebnisse der Ameisenpsychologie hier
nicht zur Verwendung gekommen), auch nicht in der vortreff-
lichen Zusammenfassung derselben S. 310. Hiermit ist von Brun
14) Schon in der Münster 1884 erschienenen Studie „Der Trichterwickler, eine
naturwissenschaftliche Studie über den Tierinstinkt‘“. Genauer findet sich der Nach-
weis in der Schrift „Instinkt und Intelligenz im Tierreich“, 3. Aufl. (Freiburg i. B.
1905), 3. Kap.
15) Viel stärker tritt sie in manchen anderen Arbeiten Brun’s hervor, so auch
in der kritischen Besprechung Henning’s „Die moderne Ameisenpsychologie ein
anthropomorphistischer Irrtum“? im Biolog. Zentralbl. 1917, Nr. 7, 8. 357—371.
Da ich mit Brun’s Kritik der unglücklichen Henning’schen Reaktionstheorie, die
ebenso unhaltbar ist wie die Bethe’sche Reflextheorie des Ameisenlebens, im übrigen
einverstanden bin, bedauere ich um so mehr, daß die von Brun verteidigte Mneme-
theorie die schwache Seite seiner Kritik bildet. Henning’s Arbeit „Künstliche Ge-
ruchsfährte und Reaktionsstruktur der Ameise“ erschien übrigens zuerst in der
„Zeitschrift für Psychologie“ Bd. 94, 1916, S. 161-202. In der neuen Auflage
von Escherich ist sie noch nicht erwähnt.
. 128 E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise
I.
cr
selber tatsächlich zugestanden, daß die moderne Ameisenpsycho-
logie sehr gut ohne die Semon’sche Mnemetheorie fertig werden
kann.
In der Besprechung der Sinne der Ameisen (S. 279ff.) ist mit
Recht auf Forel’s Theorie des Berührungsgeruches (odeur au con-
tact) Gewicht gelegt, sowie auf die von Santschi hervorgehobene
Lokalisierung der Lichteindrücke auf der Netzhaut der Ameise.
Der Gehörsinn (S. 282) ist wohl etwas zu kurz gekommen. Mehr
Material dafür wäre in Wasmann’s „Psychische Fähigkeiten der
Ameisen“, .2. Aufl. (1909) zu finden gewesen, wo das ganze VII. Ka-
pitel das Gehörvermögen der Ameisen behandelt. Die Fragen „Wie
erkennen sich die Ameisen“? (S. 284ff.), namentlich aber „Wie
finden die Ameisen ihren Weg“? (S.290 ff.) sind weit eingehender
behandelt als früher, letztere besonders mit Berücksichtigung der
vortrefflichen eigenen Versuche Brun’s. Aber auch die Unter-
suchungen von Cornetz, Pieron und speziell die Lichtkompaß-
theorie von Santschi wurden zweckentsprechend verwertet. In
den Ergebnissen dieses Abschnittes (S. 303) wird betont, daß das
Problem der räumlichen Orientierung der Ameisen ungeheuer kom-
pliziert und mit den hier erörterten Fragen noch keineswegs er-
schöpft ist. Namentlich wird vor einseitiger Verallgemeinerung der
Versuchsergebnisse an einzelnen Arten gewarnt, durch welche Bethe
und später Henning auf falsche Fährten gerieten. Nicht bloß die
einzelnen Arten verhalten sich bezüglich der vorzugsweise zur Ver-
wendung kommenden Sinnesorgane (Augen und Fühler) mannig-
faltıg verschieden, sondern auch bei der gleichen Spezies können
je nach den Umständen die Orientierungsmittel sich in verschiedener
Weise kombinieren. Das sind sehr richtige Bemerkungen.
Das Mitteilungsvermögen der Ameisen, das besonders durch
die Fühlersprache ein sehr mannigfaltiges ıst, wird (S. 303ff.) gut
und übersichtlich beharfdelt. Der Trieb, die eigenen Gefühlszustände
und Bewegungsimpulse auf andere Individuen derselben Gemein-
schaft zu übertragen, ist in der Tat ein Haupthebel des geselligen
Lebens der Ameisen. (Vgl. auch VIII. Kapitel der 2. Auflage der
„Psychischen Fähigkeiten“, Wasmann, 1909). Ob der Mitteilungs-
trieb auch bei den Ameisen im Sexualbetrieb wurzelt, wie in einer
neuen Anmerkung S. 306 gesagt wird, ıst recht zweifelhaft, und
die Berufung auf Forel’s „Sexuelle Frage“ erscheint im Zusammen-
hang etwas weit hergeholt. Sonst ist in diesem Abschnitte kaum
etwas Neues hinzugekommen. Den Schluß des Kapitels über die
Psychologie der Ameisen bildet die Frage „Besitzen die Ameisen
ein formelles Schlußvermögen“? Sie wird wie 1906 negatıv
beantwortet, indem höhere geistige Fähigkeiten bei diesen Tieren
nicht nachweisbar sind. Auch dieser Abschnitt ist wesentlich unver-
ETD.
E. Wasmann, Bemerkungen zur neuen Aufl. von K. Escherich „Die Ameise“. 129
ändert geblieben, da er bereits in der ersten Auflage gut durch-
gearbeitet und klar formuliert war. Insbesondere gilt dies für
die Zusammenfassung der Ergebnisse der Ameisenpsychologie
Sr a310!
AnhangI „Die Ameisen als lästige Haus- und Gartenbewohner
und ihre Bekämpfung“ ist in der Auflage neu hinzugekommen.
Die empfohlenen Bekämpfungsmittel legen von Escherich’s neuer
Tätigkeit auf dem Felde der angewandten Entomologie Zeugnis ab.
In den Literaturnachweis dieses Abschnittes, der sehr kurz ist,
hätte wohl auch die grundlegende Arbeit „The Argentine Ant“ von
Wilm. Newell und T. C. Barber (Washington 1913) aufgenommen
werden können, da hier die Ausbreitung und Bekämpfung von
Iridomyrmex humilis eingehend behandelt wird. Ebenso auch die
zusammenfassende, 1914 erschienene Abhandlung des Referenten
„Ameisenplagen im Gefolge der Kultur“ (Stimmen aus Marıa-Laach,
87. Bd., 10. Heft), zumal dieselbe von Escherich in der „Mün-
chener Allgemeinen Zeitung“ ausführlich besprochen worden war.
Sie fehlt übrigens auch im Literaturverzeichnis der von Escherich
(S. 320) zitierten Arbeit von Stitz aus dem Jahre 1917.
Anhang II „Übersicht über die in Deutschland einheimischen
Ameisen“ ist von H. Viehmeyer großenteils neu bearbeitet und
zum Teil erheblich erweitert. Dies zeigt sich auch in den bio-
logischen Bemerkungen, die den einzelnen Gattungen und Arten
beigefügt sind. Diese Neubearbeitung bedeutet einen entschiedenen
Fortschritt gegenüber der ersten Auflage. Bei Formica fusca rufi-
barbis wäre wohl auch die sehr häufige var. fusco-rufibarbis For.
zu erwähnen gewesen. In der r«fa-Gruppe (S. 335) ist rufa dus-
meti Em. entbehrlich, da sie (nach Emery, 1909) nur aus Spanien
bekannt ist. Dafür hätten die Mischrassen r«fo-pratensis For.,
rufo-truneicola W asm. und truncicolo-pratensis For., die als Bastard-
rassen von besonderem Interesse sind (Wasmann, 1910 u. 1915),
Aufnahme finden können.
Den Schluß bildet wie in der ersten Auflage ein Namensregister
der zitierten Autoren und ein ausführliches Sachregister'®).
16) An Druckfehlern, die teils aus der ersten Auflage stehen geblieben, teils
neu sind, sind mir nur die folgenden aufgefallen:
S. 69, Z. 17 von oben muß es heißen 1895 (statt 1885).
SA A De A RB Zwischenformen (statt Zwitterformen).
DD SHE Zn N 2 NR ERR Notothecta (statt Notonecta).
SHE 1877 5 kr Termitophilen (statt Termitophylen).
130 E. Wasmann, ‚Totale Rotblindheit der kleinen Stubenfliege.
Totale Rotblindheit der kleinen Stubenfliege
(Homalomyia cunicularis L.).
Gelegentlich meiner mikrophotographischen Aufnahmen mache
ich schon seit langem konstant die folgende Beobachtung. Als
Lichtquelle bei Entwicklung der Platten dient eine 16kerzige,
spektroskopisch geprüfte, sehr dunkle Rubinglasbirne. Einige Minuten
nach Verdunklung des Raumes kommen gewöhnlich die kleinen
Stubenfliegen und setzen sich an die weiße Zimmerwand in der
Nähe der Birne Ich kann nun ganz ruhig meinen Finger jeder
einzelnen Fliege nähern und sie zerdrücken, ohne daß sie jemals
die Annäherung bemerkte. Auch wenn der Schatten des Fingers
bei der Annäherung sıch über sie bewegt, rührt sie sich nicht.
Ebenso konnte ıch auch ein Glasröhrchen über sie stülpen, ohne
daß sie darauf reagierte. Nur wenn der Finger naß war, bemerkte
sie manchmal seine Nähe, aber auch nur selten. Ist aber ın der
entgegengesetzten Ecke des 6 m langen Zimmers eine verhängte,
nur sehr schwaches Licht gebende, weiße elektrische Birne am
brennen, so daß höchstens ein Dämmerschein in die Ecke gelangen
kann, wo die Rubinglaslampe brennt, so bemerkt die Fliege fast
jedesmal die Annäherung des Fingers, sobald er ihr etwa 1 cm
nahe gekommen ist, und fliegt fort. Hieraus ergibt sich:
1. Die kleine Stubenfliege (Homalomyia cunicularis L.) nimmt
die roten Strahlen der Rubinglasbirne überhaupt nicht als Licht-
strahlen wahr, sondern nur als Wärmestrahlen. Sie ist
absolut rotblind.
2. Für weißes Licht dagegen besitzt sie eine relativ hohe
optische Empfindlichkeit.
Die genaue Bestimmung der Art verdanke ich der Güte meines
langjährigen Assistenten P. Heinrich Klene S. J.
E. Wasmann S. J. (Valkenburg).
Wie kommt die Spreizung und Schliefsung der
Lamellen des Maikäferfühlers zustande?
Von Dr. phil. R. Vogel,
Privatdozent, Tübingen.
Bekanntlich vermag die Mehrzahl der Lamellicornier die während
des Sitzens oder Kriechens gewöhnlich zu einer Blätterkeule zu-
sammengelegten Fühlerendglieder vor dem Abflug fächerartig zu
spreizen und während des Fluges in dieser Lage zu halten, bis
nach Beendigung des Fluges der entfaltete Fächer wieder zusammen-
gelegt wird. Jedermann hat diese Vorgänge am Maikäfer beob-
j
[
INCISAN
Be
Y
R. Vogel, Spreizung und Schließung der Lamellen des Maikäferfühlers. 131
achtet, und man sollte annehmen, daß die Entomologen auch be-
reits über die Mechanik des Offnens und Schließens des Fächers
Bescheid wüßten. Zu meiner Überraschung konnte ich hierüber
indessen nichts in der Literatur finden. Ich beschloß daher, die
Frage selbst zu untersuchen. Die Untersuchung wurde nur an Melo-
lontha vulgaris gemacht. Doch dürften ihre Ergebnisse auch für die
übrigen, mit spreizbarer Fühlerkeule versehenen Lamellicornier
gelten.
Als Kraft, welche den Fühlerfächer entfaltet, konnte man ein-
mal direkten Muskelzug erwarten, mit größerer Wahrscheinlichkeit
aber Einrichtungen, bei denen Blut- oder Luftdruck innerhalb des
Tracheensystems wirksam ist.
Die anatomische Untersuchung mit Paraffinschnitten ergab zu-
nächst, wie vorauszusehen, das Fehlen von Muskelfasern innerhalb
der Blätterkeule. Die Antennenmuskulatur verhält sich in unserem
Falle insofern wie bei anderen Pterygoten, als sie nur bis zur Basis
der Fühlergeißel reicht, in den distalen Fühlergliedern aber fehlt.
Weiter zeigte sich, daß auch das Tracheensystem innerhalb
der Antennen keinerlei besondere Bildungen’ — ich dachte z. B.
an Tracheenblasen aufweist, die an der Spreizung des Fühler-
fächers irgendwie beteiligt sein könnten.
Da die Antennenmuskulatur und das Tracheensystem nicht in
Frage kommen, so konnte man mit großer Wahrscheinlichkeit er-
warten, daß die Entfaltung des Fühlerfächers durch Blutdruck be-
wirkt wird, um so mehr, als auch sonst im Reiche der Insekten
Formveränderungen verschiedener Art durch Blutdruck bewirkt
werden. Man denke an die verschiedenen, durch Blutdruck aus-
stülpbaren Epithelschläuche, Drüsensäckchen u. s. w.
Für die Annahme, daß auch das Öffnen des Fühlerfächers der
Lamellicornier durch Blutdruck bewirkt wırd, lassen sich nun experi-
mentelle und strukturelle Beweisgründe vorbringen.
Spritzt man einem lebenden Maikäfer mit einer Pravaz- oder
Rekordspitze etwa '/, cem physiologische Kochsalzlösung in die
Leibeshöhle ein, so bemerkt man, wie durch den gesteigerten Flüssig-
keitsdruck die Fühlerlamellen während des Einspritzens ruckartig
gespreizt werden. Man kann dies ebenfalls, wenn auch nicht so
sicher, erreichen, wenn man mit zwei Fingern einen kräftigen
Druck auf den Thorax des Käfers ausübt. In beiden Fällen wird
offenbar die Leibeshöhlenflüssigkeit in dıe Antennen gepreßt, was
weiter zwangsläufig die fächerartige Stellung der Fühlerlamellen
zur Folge hat.
Man muß sich zum Verständnis dessen die Gelenkverhältnisse
an den Fühlerendgliedern und die quere Stellung der letzteren zu
den proximalen Fühlergliedern klar machen. Die zwischen den
439 R. Vogel, Spreizung und Schließung der Lamellen des Maikäferfühlers.
Fühlerendgliedern befindlichen Gelenkhäute sind asymmetrisch ge-
bildet, derart, daß ihr medialer Teil kurz und dick, ihr lateraler,
also an der Basis der Lamellen gelegener Teil, erheblich breiter
ist. Die Fühlerendglieder erlangen dadurch auf der Seite der La-
mellen größere Bewegungsmöglichkeit als auf der entgegengesetzten
Seite.
Stellt man sich nun vor, daß Blutflüssigkeit ın die Antennen
gepreßt wird, so wird diese bestrebt sein, die quer zur Richtung
des Druckes stehenden Fühlerlamellen nach vorn zu drehen.
Am stärksten wird der Druck auf der vordersten Lamelle sein,
welche die größte Druckfläche darbietet und welche die größte Be-
wegungsfreiheit hat. Die Betrachtung des gespreizten Fühlerfächers
zeigt auch, daß sie relativ am weitesten nach vorn gedreht wird;
sie dreht gleichzeitig automatisch die nächste Lamelle, diese die
nächste u. s. w. immer in abnehmendem Grade etwas nach vorn.
Während die breiten Abschnitte der Gelenkhäute (zwischen
den Lamellen) bei der Drehung der Lamellen gedehnt werden,
werden die entgegengesetzten kurzen Abschnitte gleichzeitig zu-
sammengedrückt. Läßt der Blutdruck nach Beendigung des Fluges
nach, so werden die Lamellen« durch die Elastizität ihrer Gelenk-
häute, hauptsächlich durch die zusammengedrückten Abschnitte
derselben, wieder in ihre normale Lage gebracht, also zur Blätter-
keule zusammengelegt.
Ich muß nunmehr noch eine besondere Einrichtung erwähnen,
welche höchstwahrscheinlich an der Spreizung der Fühlerlamellen
mit beteiligt ist.
Schnitte durch den Fühler in verschiedener Richtung zeigen,
daß in der Fühlerbasis außer zwei Haupt- und sechs kleineren
Nervenstämmen noch zwei große Tracheenstämme und, was für
unsere Frage von Belang ist, ein Blutgefäß, verlaufen.
Letzteres hat im basalen Abschnitt des Fühlers zunächst nur
einen mäßig großen Durchmesser. An der Basis der Fühlerkeule
erweitert es sich jedoch ganz erheblich und entsendet tief in jede
Lamelle hinein einen kräftigen Fortsatz, dessen Wandung mit der
Epidermis der Lamelle vielfach verwächst. Ob die Gefäße in den
Fühlerlamellen blind oder offen endigen, konnte ich nicht ent-
scheiden. — Die Wandung des Gefäßes besteht aus einer Epithel-
lage mit elastischen (?) Fasereinlagerungen, welche im Bereich der
erwähnten Erweiterung zahlreicher sind. Rückwärtig steht das
Gefäß vielleicht mit der Kopfaorta in Verbindung; es ließ sich dies
leider wegen der außerordentlichen Schwierigkeit, eine lückenlose
und tadelfreie Schnittserie durch die spröde Kopfkapsel zu erhalten,
nicht mit Sicherheit erweisen. Einleuchtend ist aber, daß, wenn
Blut durch das Antennengefäß hindurch in die von ihm seitlich
en.)
FR.
t
H. Jordan, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur med. Physiologie. 133
entspringenden Lamellengefäße gepreßt wird, dies ebenfalls eine
Drehung der Lamellen nach vorn zur Folge hat.
Zusammenfassend läßt sich also sagen, daß die Spreizung
der Fühlerlamellen durch Blutflüssigkeit bewirkt wird,
welche teils aus der allgemeinen Leibeshöhle in das
Fühlerlumen, teils durch das Fühlerblutgefäß in die von
ihm entspringenden Lamellengefäße gepreßt wird. Es
ist zur Spreizung offenbar ein gesteigerter Blutdruck
erforderlich, wie er durch die beschleunigten Atem-
bewegungen vor dem Abflugerzeugt wird. DieRückkehr
des Fühlerfächers zur Blätterkeule erfolgt durch die
Elastizität der Gelenkhäute der Lamellen.
Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur
medizinischen Physiologie').
Von Hermann Jordan, Utrecht.
In seinem Aufsatze „Die Physiologie ın ıhrem Verhältnis zu
Medizin und Naturwissenschaft (diese Zeitschrift Bd. 37, Nr. 7, 1917,
S. 325) kommt Bethe auch auf meine Ansichten zu sprechen, die
ich über den Ausbau des zoo-physiologischen (vergleichend -physio-
logischen) Unterrichts für Biologen geäußert habe. Ich ergreife die
Gelegenheit, indem ich dem geschätzten Kollegen antworte, über
einige Punkte meine Meinung deutlicher zu umschreiben, als dies
in der kurzen, von Bethe zitierten Antwort an Reisinger mög-
lich war.
Ich möchte von der Tatsache ausgehen, daß Bethe und ich
verschiedene Probleme behandeln. Um es kurz auszudrücken:
Bethe besprieht den Ausbau des Unterrichts an physiologischen
Instituten nach der allgemeinen Seite hin. Ich bespreche den
zoologischen Unterricht — nichts mehr, eine interne Angelegenheit
der zoologischen Institute sozusagen. Gewiß, es gibt in letzter Linie
nur eine Physiologie. Allein diese theoretische Erkenntnis kann
ebensowenig zur Praxis werden als die Tatsache, daß es nur eine
Morphologie gibt. Wir müssen in beiden Fällen der Praxis der
Medizin und der Biologie (zunächst als Lehrfach) Rechnung tragen,
unbekümmert um die Frage, wie die Dinge sich ın ferner Zukunft
gestalten mögen.
Wir Zoologen haben als Lehrer. dıe Aufgabe, unsere Schüler
in die Mannigfaltigkeit tierischer Organisation einzuführen. Diese
1) Wir möchten mit diesen Aufsatz die Diskussion über diese Frage, die
zurzeit keine große Bedeutung hat, für das Biologische Zentralblatt vorläufig
schließen. DS>EL
88. Band 10
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4134 H. Jordan, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur E ER
Aufgabe wurde bislang auf einseitige Weise gelöst: Organisation,
als Bau und Leistung der Organe, steht unter doppeltem Einflusse,
Einmal unter dem Einflusse dessen, was dıe Phylogenie Abstammung
nennt (Platz im System), dann unter dem Einflusse der spezifischen
Umwelt. Die Zoologie — soweit sie überhaupt Probleme zu
lösen versucht hat — hat sich bis vor kurzem vornehmlich auf
diejenigen Erscheinungen der Organisation beschränkt, die unter
dem Einflusse der Abstammung bestimmte Eigenarten aufweisen, die
ihrerseits Licht auf die Abstammung wu werfen versprachen. Daher
verwahrloste man den funktionellen, physiologischen Teil der Zoo-
logie: So leicht, wie sich die Leistung an die Forderung der Um-
welt anpaßt, so konservativ sind gewisse Grundzüge des anato-
mischen Baues. So ist der Bau das Material des Systematikers
und Phylogenetikers. Meine Forderung lautet demnach: daß als
gleichberechtigte zweite Hälfte der Zoologie die Physiologie „aller“
Tiere, als Antwort auf die Frage, wie durch die Leistung der Organe
den Anforderungen des Lebens ım allgemeinen, vornehmlich aber
den Forderungen der für jede Art spezifischen Umwelt Genüge
getan wird, erforscht und unterrichtet wird. Wie ich diese Auf-
gabe bezüglich des Unterrichtes löse, das hoffe ich in absehbarer
Zeit mitteilen zu können. Bis ich hierzu Gelegenheit gefunden
habe, muß ich bitten, mit dem Urteil über mein Programm zurück-
halten zu wollen. Die Notiz im Zool. Anzeiger enthielt ein solches
keineswegs, sie verwies hingegen auf die kommende Veröffent-
lichung.
Wenn somit auch meine Vorschläge andere sind als diejenigen,
welche Bethe bespricht, so bietet mir doch seine Auseinander-
setzung noch weiterhin Gelegenheit, einiges über die praktische
Ausgestaltung des zoophysiologischen Unterrichts zu sagen. Ich
hoffe, daß Bethe in dem folgenden keine Kritik seiner Worte sehen
will: Ärztlich physiologische, oder gar ärztliche Unterrichtsfragen
lasse ich vollkommen unangerührt.
Bethe spricht über die Ausbildung der „Physiologen“ und ich
möchte an der Hand seiner Ausführungen einiges über die Aus-
bildung der Vertreter des physiologischen Teiles der Tierkunde
sagen:
Bethe schreibt: „Wenn ich die Wahl hätte zwischen einem
physiologisch wenig ausgebildeten Zoologen und einem zoologisch
nicht sehr a Physiologen, so würde ich für eine der-
artige Stelle immer als dem kleineren Übel dem letzteren den Vor-
zug geben.“ Solch eine Entscheidung für den physiologischen Teil
der Zoologie zu treffen, halte ich für unnötig. Warum in solchen
Fällen über die Ausbildung in den Grenzgebieten diskutieren? Für
Lehrstühle in der Zoophysiologie kommen ausschließlich Zoophysio-
logen in Frage. D.h. Forscher, die das gewaltige Tatsachenmaterial
H. Jordan, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur med. Physiologie. 135
des ın Frage stehenden Faches beherrschen und die außerdem durch
eigene Untersuchungen auf verschiedenen Gebieten dieses Faches
. persönliche Erfahrungen gesammelt haben. Die Frage lautet nun,
wie kann — so lange es an Lehrstühlen in diesem Fache fehlt —
der einzelne zu solch einer Ausbildung gelangen. Das Fehlen
solcher Lehrstühle zwingt den Studenten nun allerdings, mit den
Grenzgebieten anzufangen.
Es bedürfte einer langen Auseinandersetzung an der Hand etwa
eines Kapitels aus einem Lehr- oder Handbuche der Zoophysiologie,
um überzeugend darzutun, wie in den meisten Fällen das „zoo-
logische“ Material (d.h. das Material der vergleichenden Organisations-
lehre) durchaus vorherrscht. Die spezifischen physiologischen Teile
solch eines Kapitels aber sind größtenteils völlig anderer Natur
als die klassische ärztliche Physiologie. (Ich verweise auf Winter-
stein’s Handbuch der vergleichenden Physiologie, zumal auf die
Teile, die durch Biedermann, Babäk, Burian und Strohl be-
arbeitet wurden, sowie auf mein Buch [Jena 1913, G. Fischer].)
Gewiß hat Bethe recht, wenn er sagt: „Physiologie kann man
zurzeit nur. bei den Physiologen der medizinischen Fakultät und
der tierärztlichen Hochschulen lernen.“ Aber für die spezielle
Physiologie „aller Tiere“ kann diese Ausbildung nur den Wert
haben, denen Ausbildung in wichtigen Grenzgebieten eben zukommt.
Das gilt sogar für die Methodik! Jedes Fach hat seine eigenen
Probleme, damit seine Methodik und seine Technik. Wer die
klassischen Arbeiten auf unserem Gebiete kennt, der wird darın die
Anwendung der verfeinerten Technik der ärztlichen Physiologie im
großen und ganzen vermissen, trotzdem diese Arbeiten größtenteils
von „Physiologen“ stammen. Ich verweise auf die Arbeiten von
Biedermann, Loeb, v. Uexküll und nicht zum mindesten auf
Bethe’s treffliche Publikationen. Zunächst gilt es bei solchen Ar-
beiten, sich eine überaus feine operative Methode anzueignen, die
sich eng an die zootomische Technik anlehnt. Sodann kommt viel
histologische, endlich eine ganz besondere zoophysiologische Methodik
zur Anwendung (z. B. Thunberg, Krogh, Babäk). Gewiß arbeitet
die Zoophysiologie auch mit Apparaten, wie z. B. dem Kymographion.
Allein fast niemals handelt es sich hierbei um eine komplizierte
feine Technik. Denn die Fragestellungen beschränken sich in der
Regel auf Vergleichungen von Werten, bei denen lediglich große
Unterschiede verwertbares Material liefern. Das hat freilich zur
Folge, daß nicht selten die Physiologen die Arbeiten von Zoo-
physiologen als „dilettantisch“ verachten.
Vom „Dilettantenhaften“ mancher Arbeiten von Zoologen auf
ihrem physiologischen Gebiete will ich hier nicht reden. In den-
jenigen Fällen, in denen Bethe mit Recht diesen Vorwurf erhebt,
handelt es sich gewiß um Forscher, denen das Gebiet der Zoo-
10*
136 H. Jordan, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur med. Physiologie.
physiologie in erster Linie fremd war, die zu einer experimentellen
Arbeit überhaupt noch nicht reif waren. Man könnte zahlreiche
Beispiele jenen an die Seite stellen, wo ärztliche Physiologen, zum
Teil gerade ihrer — was die Objekte betrifft — einseitigen Aus-
bildung wegen, nicht weniger Dilettantisches erzeugt haben: Kruken-
berg dürfte als Beispiel genügen, der unter vielem anderen aus
der Gonade der Holothurien eine Verdauungsdrüse macht, oder
Stamati, der beim Flußkrebs den Magensaft gewinnt Durch An-
legen einer Magenfistel?), und an dem schwer ae ers Tiere
zu falschen Resultaten kommt. Allein, das sind ja alles individuelle
Erscheinungen, die man bei reifen Forschern beider Lager nicht
finden wird.
Wenn nun aber auch guten Arbeiten aut unserem Gebiete hier
und da der Vorwurf des Dilettantischen gemacht wird, so liegt das
an der Jugend unseres Wissenszweiges. Feine Technik kommt mit
dem Detailausbau eines Faches; so weıt sind wir noch nicht. ° So
lange man noch mit der Feststellung des großzügigen Planes eines
Gebäudes beschäftigt ıst, hat man an einem Entwurf der Einrich-
tung einzelner Zimmer wenig Nutzen. Wer ohne weiteres feine
Meßmethoden auf Wirbellose anwendet, der kommt zunächst mehr
auf Fragen der allgemeinen als auf solche der Zoophysiologie.
Wir müssen daher bewußt mit primitiven Mitteln arbeiten und
uns den etwaigen Vorwurf des Dilettantischen ruhig gefallen lassen:
Jungen Wissenszweigen dürfte es stets so ergehen: Es geht sich
nun einmal eleganter auf gebahnten als auf nicht gebahnten Wegen.
Noch mehr als ın ihrer Technik ıst die Zoophysiologie ihrem
Inhalte nach ein Fach, das praktisch von der medizinischen Phy-
‚siologie zu trennen ist: Wenn auch gewiß viele Physiologen sich
gut auf einzelnen zoophysiologischen Spezialgebieten eingearbeitet
haben, die Eroberung des Gesamtgebietes — wie sie zum Unter-
rıchterteilen nötig ist — ist für sie sicherlich eine größere Arbeit
als für einen wohlgeschulten Zoologen, der einige Yaine an physio-
logischen enan gearbeitet Ba Mit der Zeit ergibt sich für
den zoophysiologischen Unterricht eine bestimmte Zahl von Tieren,
die als Beispiel, als Schulobjekte zu dienen haben: die Bearbeitung
eines jeden Organes dieser Tiere muß dem Lehrer völlig geläufig
sein, um von dem Forscher, der neue Objekte zu seinen Problemen
a priori richtig erkennen muß, hier völlig zu schweigen. Genug:
die Vorbereitung zur Ausbildung des Zoophysiologen muß Zoo-
logie und Physiologie (nebst einer Vorlesung über allgemeine Patho-
logie), aber in erster Linie Zoologie (im richtigen Sinne des Wortes)
sein. Daneben dürfen natürlich Physik und Chemie nebst deren
2) Der richtige Weg ist, ein Glasröhrchen in den Ösophagus einzuführen und
den Saft auszuhebern.
H. Jordan, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur med. Physiologie. 157
Methodik nicht fehlen. Dann aber kommt die eigentliche Fachausbil-
dung. Sie kommt nun erst, weil es an elementarem Unterrichte fehlt,
sonst liefe dieser dem anderen parallel. Ein Fach ohne Anleitung
zu studieren, ist gewiß nicht leicht. Allein künftige Bewerber um
Lehraufträge oder Lehrstühle der physiologischen Zoologie werden
sich diese Mühe eben geben müssen: Literaturlesen, Versuche nach-
machen und Neues erforschen, das ıst das einzige Rezept, das man
ihnen geben kann. Und bei alledem ist Einseitigkeit zu vermeiden:
Es genügt durchaus nicht, etwa nur die Leistung des Nervensystems
einer Reihe von Beispieltieren zu kennen: Verdauung, Atmung,
Blut, Exkretion ete., von alledem muß eine Übersicht und einige
experimentelle Routine verlangt werden. Über die Art und Weise,
wie wir dieses Wissen unseren Schülern im zoologischen Institut
zu Utrecht zu übermitteln streben — wie gesagt — ein ander-
mal. Den Beweis, daß das Material des Studiums wert ist, mag
ein Buch erbringen, in welchem das Schulungsmaterial vereinigt
werden wird. Die von Bethe zitierten Bücher (S. 332) beabsichtigen
ganz etwas anderes als das hier Besprochene°).
Zum Schlusse eine Bemerkung über den Namen des in Frage
stehenden Faches: Bethe sagt auf Seite 329: „In Jordan’s Forde-
rung von Lehrstühlen für vergleichende Physiologie — er hat den
ersten (? Verf.) dieser Art in Utrecht inne — ist zwar ein Programm
eingeschlossen; mir scheint diese Bezeichnung aber nicht besonders
glücklich. Vergleichend ıst schließlich jede Naturwissenschaft; aber
weder die Chemie, wenn sie die chemischen Eigenschaften der Ele-
mente miteinander vergleicht, noch die Physik, wenn sie etwa die
magnetischen Kräfte der Körper gegeneinander abwägt, nennt sıch
vergleichend.“ Richtig! Allein keine dieser Wissenschaften, soweit
sie die Eigenschaften aller ihrer Objekte behandelt, steht dadurch
im Gegensatze zu einem zu praktischen Zwecken spezialisierten
Teile, dessen Objekt etwa ein einziges chemisches Element wäre.
Nehmen wir an, daß durch irgendeine wichtige Praxis gezwungen,
die chemische Wissenschaft sich in ihren Anfängen ausschließlich
mit der Erforschung der Eigenschaften des Eisens und seiner Ver-
wandten beschäftigt habe. Sie habe an der Hand dieser Unter-
suchungen die wesentlichsten Tatsachen der allgemeinen Chemie
aufgedeckt. Schließlich würden Forscher auftreten, welche die
Eigenschaften aller Elemente studieren und ihre Resultate syste-
3) Obiger Aufsatz ist zugleich eine Antwort an Stempell (Zool. Anz. Bd. 48,
1917. S. 221), der mich offenbar mißverstanden hat, wenn er sagt: „Ich pin, wie
man sieht, mit Jordan der Meinung, daß der vergleichend-anatomische und ver-
gleichend-physiologische Unterricht in der gleichen Hand liegen muß, und zwar in
der Hand des Hauptvertreters der Zoologie.“ Ich trat lediglich dafür ein, daß der
anatomische und physiologische Unterricht an zoologischen Instituten Hand in Hand
gehe, beide in Händen offizieller Lehrkräfte.
138 H. Jordan, Die Zoophysiologie in ihrem Verhältnis zur med. Physiologie.
matisieren wollten. Dann müßte man für den neuen Wissenszweig
— den man aus praktischen Gründen getrennt von seinem älteren
Bruder bearbeiten würde — einen Namen erfinden. Und dann
scheint es mir nicht unmöglich, daß man von „vergleichender Chemie“
redete. Wie viel mehr paßt der Name für ein biologisches Fach
in Anbetracht der Einheitlichkeit des Lebens!
Bethe ist nicht dieser Ansicht, er sagt: „Dieses Beiwort; (näm-
lich vergleichend) hat nur dann etwas Bezeichnendes, wenn — wie
in der vergleichenden Anatomie — damit eine leitende Grundidee
von programmatischer Bedeutung verbunden ist. Davon kann aber
bei der Physiologie wohl kaum eine Rede sein. Die: funktio-
nellen Anpassungen wechseln hier oft schon so erheblich inner-
halb einer Tierordnung, daß die Aufstellung eines einheitlichen
Systems nach funktionellen Gesichtspunkten unmöglich erscheint.“
Ich bin mit Bethe völlig einer Meinung, daß man auf Grund tier-
physiologischer Ergebnisse nicht zu einem System der Tiere kommen
kann. Dies ist aber auch unsere Aufgabe nicht; die Vergleichung,
als Grundidee der Zoophysiologie wird hierdurch nicht ausgeschlossen:
Das Problem der Zoophysiologie ist die Mannigfaltigkeit der
Lebenserscheinungen, in die sie Ordnung, System zu bringen hat.
Nun sagte ich schon, daß jede Organisation bestimmt ist, einmal
durch Zugehörigkeit zu einer bestimmten Tiergruppe (Abstammung),
sodann durch die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Umwelt. Diese
doppelte Wurzel der Organisation macht eine Ordnung nach ein-
heitlichen Gesichtspunkten unter Erschöpfung alles Vergleichbaren
unmöglich. Daher denn auch die zoologische Systematik ausschließ-
lich diejenigen übereinstimmenden Merkmale verschiedener Tiere
verwertet, die sie durch gemeinsame Abstammung erklärt: hier-
bei handelt es sich vornehmlich um morphologische Merkmale.
Den Zoophysiologen interessiert in erster Linie die Organisation
im Zusammenhange mit der spezifischen Umwelt („Milieu*), deren
Ansprüchen sie eben genügen muß. Wenn wir von gleichartigen
Milieus ausgehen, so kommen wir — was die Organisation betrifft —
zu einer außerordentlich fruchtbaren Vergleichung. Allein, da es
uns keineswegs auf die Aufstellung eines einheitlichen Systems
ankommt, so dürfen wir uns ruhig der beiden Gesichtspunkte be-
dienen: Wenn auch das gleiche „Milieu“ gleichartige Befriedigung
seiner Ansprüche fordert, so ist doch der Weg, der bei verschie-
denen Tiergruppen zu dieser Befriedigung führt, recht verschieden,
je nach dem (durch Abstammung zu erklärenden (Organisations-
material, das hierzu Verwendung findet (z. B. Giftzähne der. Toxo-
glossen, Arthropoden, Schlangen). So liefert uns die funktionelle
Anpassung verschiedenartigen Materials an (für große biologische
Gruppen) mehr oder weniger gleichartige Umwelten „die leitende
Grundidee von programmatischer Bedeutung“. Vergleichende Serien,
RT END.
R. Demoll, Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funktion. 139
einmal prinzipiell gleichartiger Organisationen*) in verschiedener
Verwertung, auf der anderen Seite verschiedenartige Organisationen
in ähnlicher Verwertung, das sind diejenigen Ergebnisse, die uns
ein Recht geben, von „vergleichender Physiologie“ zu reden und zu
hoffen, daß unsere Forschungen uns einen tieferen Einblick ın das
Arbeiten, das „Können“ der Natur gewähren werden. Daß der
Weg gangbar und aussichtsreich ist — das läßt sich durch allge-
meine Auseinandersetzungen nicht beweisen. Das Resultat zahl-
reicher, konsequent ausgenützter Jahre muß dies zeigen. Und
schließlich wird es mit unserem Fache gehen wie es seinerzeit mit
der vergleichenden Anatomie gegangen ist. Während Kölliker
noch drohte, sein Amt niederzulegen, wenn man die vergleichende
Anatomie dem Zoologen anvertraue, ist heute die Anatomie „aller“
Tiere das wesentlichste Gebiet der Zoologen, die es mit ihren eigenen
Fragestellungen nunmehr viele Jahrzehnte lang bearbeitet habe, nicht
ohne dankbar anzunehmen, was medizinische Anatomen, wenn auch
zuweilen von anderen Gesichtspunkten ausgehend, dazu beigetragen
haben. So lasse man auch uns unseren Schülern lehren, was wir
für wichtig achten zum Verständnis der Mannigfaltigkeit der Lebens-
erscheinungen, und lasse uns trachten, diejenigen Probleme aufzu-
lösen, die uns für dieses Verständnis wichtig erscheinen. Soweit
mir bekannt, ist man von zoologischer Seite aus niemals engherzig
gewesen: Man hat Leistungen der Mediziner stets dankbar aner-
kannt. Warum sollten medizinische Physiologie und physiologische
Zoologie in Zukunft nicht vortrefflich, einander ergänzend, neben-
einander bestehen können ?
Referate.
Reinhard Demoll. Die Sinnesorgane der Arthropoden,
ihr Bau und ihre Funktion.
8°, 243 S. Mit zahlreichen Textfiguren. Braunschweig 1917, Fr. Vieweg u. Sohn.
In letzter Zeit sind verschiedene Darstellungen der Sinnes-
apparate der Arthropoden erschienen. Einmal von O. Deegener')
(1912), dann von S. Baglioni, €. v. Heß u. E. Mangold?) (1910
bis 1912). Dazu tritt nun die sehr anregend geschriebene Demoll’-
4) Im großen und ganzen beschränken sich solche Vergleichungen jeweils auf
einzelne Organsysteme.
1) In Schroeders Handbuch der Entomologie Bd. 1, p. 141-235.
2) Im Handbuch der vergl. Physiologie von Winterstein.
440 R. Demoll, Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funktion.
sche Zusammenfassung. Der Verfasser hat in der Hauptsache auf
morphologischer Grundlage aufgebaut und die Frage nach der
Funktion tritt demgegenüber oft bedeutend zurück. Dies ist zu
einem sehr großen Teile bedingt dadurch, daß über die Funktion
der einzelnen Apparate häufig veahältnısmäßig sehr wenig fest-
gestellt ist.
Demoll gruppiert bei seiner Darstellung die Sinne in niedere
Sinne, Chordotonalorgane, statische und dynamische Sinne und
Augen. Die „niederen“ Sinne leitet er im Prinzip vom Haar
(Sinneshaar) ab und geht bei dieser morphologischen Betrachtungs-
weise so weit, selbst die chordotonalen Sinne, die gar keine morpho-
logischen Beziehungen zu einem Haar haben, vielmehr häufig im
Innern des Körpers liegen, ohne daß die Körperoberfläche dabei
irgendwie modifiziert ist, hiervon abzuleiten! Unter die (höchst
wichtigen) niederen Sinne rechnet der Verfasser den Tastsınn,
Drucksinn, den thermischen, die chemischen Sinne und den Schmerz-
sinn. Es ıst das also ein Sammelbegriff, der physiologisch keine
Bedeutung beanspruchen kann. Eine Reihe von Sinnesapparaten
sind leider nicht berücksichtigt, weıl ıhre Funktion dunkel ıst und
weil sie (so weit man bis jetzt weiß) nur einzelnen Gruppen zu-
kommen. Verfasser verweist hierfür auf die Zusammenstellung von
Deegener (s. 0.) für Insekten.
Die Papillensinnesorgane am Grund der Schwinger der
Fliegen hat D. den chordotonalen Organen zugerechnet, obgleich
sie mit diesen wenig Verwandtschaft zeigen, so fehlt z. B. wie er-
wähnt, bei den echten primitiven chordotonalen Organen (u. a. auch
in den Segmenten der Dipterenlarven) eine Beziehung zu einem
Sinneshaar oder modifizierten Sinneshahr der Körperoberfläche voll-
ständig; die Saitenorgane sind ım Innern des Körpers zwischen
zwei Stellen der Körperoberfläche ausgespannt und haben wohl, wie
längst von verschiedener Seite, auch z. B. vom Referenten für die
chordotonalen Organe an der Halterenbasis angenommen wurde, mit
der Aufnahme von Spannungsänderungen ın der Saite zu tun.
Bei den Papillenorganen der Schwinger dagegen sehen wir für jede
einzelne Sinnesnervenzelle eine feste Beziehung zu einer ganz be-
stimmt modifizierten Hautpartie, die man morphologisch immer
noch von einem Haar ableiten kann, wenn man auf eine solche
Betrachtung Wert legt. Der Verfasser vertritt bei ıhnen in der
Grundfrage die zuerst von mir vertretene Auffassung über die Funk-
tion, ohne jedoch dies oder die von mir beigebrachten Beobach-
tungen, die in manchem Stück erwähnenswert gewesen wären, an-
zuführen. Die ganze Beziehung der Organe zum Flug (Steuerung),
vielleicht auch zur Orientierung, die darauf hinweist, daß wir in
den kuppelförmigen Papillenorganen der Insekten zusammen mit
den echten primitiven Chordotonalorganen (wie z. B. in den Rumpf-
segmenten der Dipterenlarven), allem Anschein nach Sinnesorgane vor
uns haben, die (in gewissem Sinne den statischen Organen zu verglei-
chen) über die Lage des Körpers in der Ruhe, beim Gehen, Kriechen,
Schwimmen, Fliegen Aufnahmen vermitteln, ist kaum oder gar nicht
\
ER, Demoll, Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funktion. 141
berührt. Andererseits hat der Verfasser auch, und wohl mit Recht,
die von anderer Seite ausgesprochenen Anschauungen, daß es sich
bei diesen Organen um Gehörorgane, ja um Geruchsorgane handle,
gar nicht erwähnt, obgleich sie z. T. aus neuester Zeit stammen,
wie z. B. die Versuche von Me Indoo?) der in den Papillen-
organen der Flügel die Geruchsorgane sehen will.
Im Anschluß an die echten Öhordotonalorgane bespricht D
die anscheinend bei allen Insekten im Fühlergrund liegenden
Johnston’schen Organe, die jenen ım Baue nahe stehen und
nach Demoll’ s Auffassung, die nicht unberechtigt erscheint, den stati-
schen Organen in ihrer Funktion nahe stehen dürften.
Die tympanalen Chordotonalorgane sehen wir seit Graber
als Hörorgane an; ob noch andere Sinnesapparate bei Gliedertieren
(Haare?) dem Hören dienen, ist noch nicht sicher zu beantworten.
Die statischen Sinne im engeren Sınne (Statocysten) be-
gegnen wir unter den Gliedertieren vorwiegend bei den höheren
Krebsen; über ihre Funktionsweise sınd die Grundvorstellungen
seit Delag e klargelegt. Ein merkwürdiges Organ, das ohne Z,weitel
ebenfalls che ak besitzt, findet sich (Baunacke) beı den
Wasserwanzen (Nepa, Larve und Imago), bei welchen eine Luft-
blase den spezifischen Reiz in der Sinnesgrube ausübt.
Der Hauptteil des Werkes dient der Darstellung der Seh-
organe, zum großen Teil auf Grund eigener, besonders auch
morphologischer” Untersuchungen des Verfassers.
Als den eigentlichen Aufnahmeapparat für das Licht haben
wir nach Hesse die Stäbchensäume der Sehzellen anzusehen, eine
allen Sehapparaten gemeinsame Bildung. Der nähere Bau der
- Augen ist in den verschiedenen Gruppen der Arthropoden außer-
ordentlich mannigfaltig und der Verfasser führt uns eine bedeutende
Zahl verschiedener Formen vor, aus denen hier nur einige Fälle
herausgegriffen werden können. Wir begegnen einmal einfachen
Augen, aus denen sich an verschiedenen Stellen (von einander un-
abhängig) zusammengesetzte (Facetten-) Augen entwickeln. So
einmal unter den Myrıapoden beı Scırtigera, dann unter den Arach-
noideen und Xiphosurer bei ZLimulus. Bei allen Arachnoideen
finden wir Linsenaugen, meist ın größerer Zahl und in bedeutender
Vielgestaltigkeit bei den verschiedenen Ordnungen. Wir begegnen
dabei nicht selten muskulösen Hilfsapparaten, durch welche die Netz-
haut senkrecht zur Augenachse hin- und hergezogen werden kann
(z. B. Saltieus), dann kommen außer Formen mit eversem Bau
der Netzhaut, wobei die lichtempfindlichen Rhabdome am distalen
Ende der Sehzelle, an den dioptrischen Apparat sich anschließen,
Former vor mit inversem Bau der Netzhaut (z. B. Araneiden),
wobei die Sehzelle sich gewissermaßen umkehrt und der zell-
haltige Körper der Sehzelle entweder vor (distal) vom Rhab-
dom liegt, oder seitwärts von der lichtempfindlichen Region
!
- 3) Me Indoo, The olfactory sense of the Honeybec, J. of exp. Zool. 1914
Vol. 16.
r. ” A =
\ » .
442 R. Demoll, Die Sinnesorgane der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funktion. 3
der Netzhaut, u. s.w. Das erste Auftreten dieser Inversion scheint
mit dem Auftreten eines lichtreflektierenden Tapetums hinter der
Netzhaut zusammenzuhängen; doch ist ein solches nicht in allen
Fällen vorhanden.
Über die Funktion der Arachnoideenaugen sei erwähnt, daß
wir wahrscheinlich Augen mit differenten speziellen Anpassungen zu
unterscheiden haben, so Augen zum Sehen in die Ferne, Sehen ın
die Nähe, für Dämmerung, für helles Tageslicht.
Bei den Insekten und Krebsen haben wir wiederum neben ein-
fachen Augen von sehr verschiedenem Bau die Ausbildung von
facettierten Augen festzustellen, für die man hier vielleicht eine
gemeinsame Urform annehmen darf. Auf die Stemmata der In-
sektenlarven, die Ocellen der entwickelten Insekten, das Median-
auge der Krebse und auf zahlreiche specielle Formen, z. B. Copelia,
die großes Interesse verdienen, kann hier nicht eingegangen werden,
nur das Facettenauge der Insekten und Krebse sei besonders her-
vorgehoben. Hier ist außer dem Bau auch die Funktionsweise seit
Exner im wesentlichen geklärt und der Verfasser gibt eine klare
Darstellung der Dioptrik und der Verhältnisse des Appositions-
(Tagesinsekten) und des Superpositionsauges (Nachtinsekten, Krebse),
der Pigmentwanderungen dabei und anderer Einrichtungen, wie z. B.
der häufigen Herausbildung einer Stelle deutlichsten Sehens. Auch
die Entfernungslokalisation (nach Verf. durch Zusammenwirken der
zusammengesetzten Augen mit den Ocellen), die Adaptation und
schließlich die Frage des Farbensehens wird besprochen, wobei
Verf. vorwiegend auf Grund der Versuche von v. Hess einer- und
v. Frisch andererseits zwar für die Krebse ein Farbensehen nicht
für erwiesen ansehen will, wohl aber für dıe Insekten (freilich unter
Verkürzung des Spektrums am roten Ende), obgleich bei diesen
die Verteilung der Helligkeitswerte im Spektrum (v. Hess) gleich
ist wie beim total farbenblinden Menschen.
Die Physiologie der facettierten Augen ist, wie aus dem
wenigen Mitgeteilten ersichtlich ist, heute schon ein vielfach und
erfolgreich angebautes Gebiet. Wenn sich das Interesse mehr
diesen sinnesphysiologischen Fragen zuwenden wird (was in frühe-
ren Jahrzehnten weniger der Fall war), wird auch die Methodik,
besonders auch für das Studium der sogenannten niederen Sinne,
von denen oben gesprochen wurde, ausgebildet werden (immer
unter sorgfältigem Studium der einzelnen Tierform und ihrer
Lebensgewohnheiten) und das wird uns schließlich eine Vorstellung
verschaffen von dem, was in die zentralen Nervenorgane dieser
Tiere eintritt. E. Weinland.
SE < = == Fe
Verlag von
Hof- und Umniv.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr.R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. BE. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
38. Band April 1918 Nr. 4
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: A. Schaedel, Biologische Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive und der Malaria-
verbreitung. S. 145.
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl. S. 161.
Referate: Fr. Zacher, Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung. S. 180.
Biologische Betrachtungen zur Frage
der Malariarezidive und der Malariaverbreitung.
Von Dr. Albert Schaedel.
(Aus der bakt.-hygien. Abteilung des Festungslazaretts Mainz. Leiter: Stabsarzt
Privatdoz. Dr. Georg B. Gruber.)
Es ıst eine bekannte Tatsache, „daß auslösende Ursachen der
Rezidive von Infektionskrankheiten“ alle möglichen die Resistenz des
Organismus schädigenden Einflüsse (Ziemann) sein können. Für
die Hervorbringung von Malariarückfällen ist gerade in den letzten
drei Kriegsjahren eine reiche Fülle von Beobachtungen bekannt
geworden.
Als solche werden die verschiedensten Ursachen erwähnt: Inter-
kurrente Krankheiten (Ziemann), Wochenbett und Verletzungen
mit Blutverlust (Külz), Aufregungen (Ziemann, Mühlens), plötz-
liche Anstrengungen und vermehrte Muskelarbeit (Ziemann,
Silatschek und Falta), Erkältungen (Ziemann), ungewohnte
Hitze und Kälte (Ziemann), oft auch künstlich hervorgerufen durch
warme oder kalte Duschen auf die Milzgegend (Eisner, Mühlens),
38. Band 11
144 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc.
warme Packungen (Mühlens), Dampfbäder (Silatschek und Falta),
oder durch subkutane Injektion Fieber erregender Mittel (Eisner),
Injektionen von Milch (Ziemann, Bauer, Thaller von Draga),
von Nukleohexylen (Mink), von kleinsten Chinindosen (Thaller
von Draga), von Salvarsan (Liebermann und Bilfinger), von
Pferdeserum (Bauer), von Tuberkulin (Fuchs-W olfering), von
Pockenlymphe (Sieber), die Typhusschutzimpfung (Jastrowitz,
Thaller von Draga, Diembrowski), schließlich Temperatur
und Sonnenscheindauer (Lenz), Sonnenbestrahlung und Sonnen-
licht (von Heinrich, Kißkalt).
In der Mehrzahl der angeführten Fälle, die hiermit keineswegs
als erschöpft aufgezählt gelten können, handelt es sich um Zustände,
die durch rein innere (organogene) Bedingungen veranlaßt werden.
Hierher gehören in erster Linie interkurrente Krankheiten, Ver-
letzungen mit Blutverlust und nicht minder die durch die mannig-
fachsten Injektionsmodi geschaffenen Verhältnisse, die ja ın der
Regel lokale, wenn nicht gar totale Störungen (durch Blutdruck-
änderungen, durch Überschwemmung mit Antikörpern u. s. w.) be-
wirken. Es ıst aber auch zweifellos, daß die Verhältnisse des
Kriegslebens — fortgesetzte Überanstrengungen, Übermüdungen,
Durchnässungen, ungeregelte Lebensweise, plötzliche Kälte- oder
Wärmeeinwirkung od. dergl. — in höchstem Grade dazu angetan
sind, die inneren Bedingungen des menschlichen Organismus für
das Angehen einer Infektionskrankheit (wie es u.a. G. B. Gruber
und A. Schaedel für die Ruhrinfektion darlegten) besonders günstig
gestalten.
Daß aber auch allmählich bewirkte und stetig gesteigerte äußere
Einflüsse ohne direkte oder kaum wahrnehmbare organogene Beein-
flussung Rezidive auszulösen vermögen, ist eine ebenso alte Er-
fahrung. Hier spielen die klimatischen Einflüsse, das Milieu, die
größte Rolle. Malarıianeuerkrankungen selbst sind ja ın den meisten
Fällen als Funktionen der wechselvollen meteorologischen Faktoren
angesprochen worden. Neuerdings haben Lenz und Kißkalt
diese, den rein äußeren Faktoren, zuzuschreibenden Zustände als
Hauptanlaß zur Rezidivbildung bezeichnet.
Wie sich die inneren und äußeren Reizwirkungen an der Ent-
stehung von Malariarezidiven beteiligen vermögen, habe ich ver-
sucht an einer großen Anzahl von Fällen von Malariarückschlägen,
die im Seuchenlazarett bei Mainz in den Jahren 1916 und 1917
zur Beobachtung kamen, zu ergründen.
In dem mit einer größeren Malariastation versehenen Seuchen-
lazarett bei Mainz fanden ın den genannten Jahren 375 Malaria-
kranke Aufnahme. Der Zugang erfolgte teils von Revieren der in
hiesiger Garnison untergebrachten Ersatztruppenteile, teils von Ur-
laubern, zu annähernd zweı Drittel der Gesamtmenge aber durch
a
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc. 145
direkte oder indirekte Überweisung aus Feldlazaretten. Wie die
Anamnesen ergaben, hatten alle eingelieferten Kranken Malaria im
Felde durchgemacht und in der Mehrzahl der Fälle bereits längere
Zeit nach scheinbar erfolgreicher Chininbehandlung wieder ihren
Dienst bei der Truppe versehen. Annähernd 80%, der Zugänge
waren Rückfälle von Malaria tertiana, 20°, solche von Malaria
tropica, einige von Mischinfektionen dieser beiden Formen. Latente
Malariafälle, die ja gerade bei der perniziösen Malaria häufiger be-
obachtet werden (Kirschbaum), und auch von Stadelmann,
Mosse, Sılatschek und Falta bei dem Dreitagefieber gerade für
kältere Klimaten beschrieben werden konnten, wurden ebenso wie
Neuinfektionen in den beiden letzten Jahren niemals wahrgenommen.
Eine noch im Jahre 1885 in Mainz beobachtete Anophelesart, die
damals bei der Ausführung von Kanalarbeiten durch Italiener von fach-
männischer Seite (v. Reichenau und Sack) festgestellt wurde und
Anlaß zu einer Anzahl von Neuerkrankungen gab, konnte denn auch
trotz eifrigster Nachfahndung im Stadtbezirk im Seuchenlazarett und
den in seiner Nähe gelegenen Bauerndörfern Zahlbach und Bretzen-
heim niemals gefunden werden. Der alte innerste Festungsbereich
Mainz kann also nach diesen Feststellungen der letzten Jahrzehnte
als ein Enklave in dem von altersher als Anophelesgegend und
Sıtz endemischer Malariaherde wohlbekannten Mainzer Becken (Zie-
mann) betrachtet werden.
Wıe mir Herr Prof. Dr. Sack-Frankfurt a. M., der im Jahre
1910 ım Auftrage der Senckenbergischen Naturforschenden Gesell-
schaft zu Frankfurt a. M. die Verbreitung der Fiebermücken einer
eingehenden tiergeographisch-systematischen Untersuchung unterzog,
in freundlichster Weise mitteilte — wofür ich ihm auch an dieser
Stelle meinen herzlichsten Dank aussprechen möchte —, finden sich
die Anophelesarten A. maculipennis Mg. und A. bifurcatus L. in der
ganzen Rheingegend von Basel bis Bingen. Um Irrtümer auszu-
schließen, hat der bekannte Dipterologe sich damals von allen
Orten, an denen Anophelinen gefunden wurden, Belegstücke schicken
lassen, die im Senckenbergischen Museum aufbewahrt werden. Als
Fundstelle sind Sack bekannt geworden Mannheim und Ludwigs-
hafen. Als geradezu massenhaft bezeichnet er das Vorkommen im
Rheingau und einzelnen Orten Rheinhessens, wie Frei-Weinheim,
Mittelheim, Erbach, Geißenheim, Niederingelheim und Heidesheim.
Oppenheim ist nach Medizinalrat Dr. Balzer-Darmstadt ein ende-
mischer Herd (Sack). Ferner bezeichnete mir Herr Prof. Dr. List-
Darmstadt das Ried als Fundort von Anophelinen und Herr Prof.
Dr. Schmidtgen-Mainz die Gegend um Schierstein und die Stadt
Oppenheim.
Bei sorgfältigster und konsequenter Überwachung der hygie-
nischen Vorsichtsmaßregeln (Verhinderung der Tümpelbildung nach
hal
Re BR N er 3 Et
na) FR
446 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc.
regenreichen Tagen ım Frühjahr durch geeignete Entwässerung,
Benutzung von Mückenfenstern in den Krankensälen und vor allem
Überwachung des Verbots für Malariakranke in der Dämmerung
im Freien zu verweilen, wurden außerdem die Bedingungen für
ein Umsichgreifen der Malaria ohnedies auf die geringste Möglıch-
keit herabgesetzt.
Im ganzen wurden im Jahre 1916 11, im Jahre 1917 364 Malariıa-
rückfälle beobachtet.
Diese Zahl verteilt sich folgendermaßen:
Zugänge von den Truppen 103 (1916 5) d.ı. 28,3%, (1916 27,3%),
durch Urlauber 41 (191673) d. 1.111,39, (19162727 %
& aus Feldlazaretten 208 (1916 4) d.i. 57,1%, (1916 36,4 %).
Tabelle I (s. S. 147) gibt eine Zusammmenstellung der Zugänge
nach ıhrer Herkunft und Häufigkeit in den einzelnen Monaten.
In dieser Tabelle habe ich außerdem in einer besonderen Reihe
eine Anzahl von Zugängen (1916 1 Fall, 1917 12 Fälle) eingefügt,
die ursprünglich wegen anderen Krankheitserscheinungen zur Ein-
lieferung kamen. Es waren dies schwerste Erkrankungen, wie
Lungentuberkulose und Bronchitiden (sechsmal), Diphtherie’und Ruhr
(je zweimal), chronischer Darmkatarrh, Erysipel, Mittelohrentzündung
nach Scharlach (je einmal). Bei diesen Infektionskrankheiten traten
erst im Laufe der Krankheit derartige typische Fiebererscheinungen
(za den ohnedies schon vorhandenen) mit Schüttelfrösten hinzu,
die den Verdacht auf Malarıa aufkommen ließen. Anamnestisch
konnte dann leicht festgestellt werden, daß die Patienten im Felde
malarıakrank gewesen waren!). Diese Erkundungen wurden dann
auch in den meisten Fällen durch den Plasmodiennachweis im
Blute bestätigt.
Hier tritt uns also eindeutig die schwerste Infektionskrankheit
mit ihren den Kranken schwer schädigenden Erscheinungen als
auslösende innere Ursache der Malariarezidive vor Augen.
Ungleich schwerer vermögen wir bei den Urlaubern den Aus-
bruch der Malariarezidive auf innere Einflüsse zurückzuführen. Hier
liegen keine exakten Hinweise auf derartige innere Ursachen aus-
lösende Reize vor. Wir können nur vermuten, daß etwa infolge
des Zusammenwirkens verschiedenster physischer und psychischer
Agentien (Erregungen beim Wiedersehen von Angehörigen, von
Haus und Hof nach langer Trennung, Rückkehr in alte, seither
gänzlich entwöhnte Verhältnisse, Klimawechsel und sonstige Zu-
stände) die Auslösung der Fieberanfälle hervorgerufen worden sind.
Beachten .wir jedoch die Verteilung dieser Fälle auf die Monate
”
1) Herrn Dr. G. Bautzmann (Mainz, Seuchenlazarett) bin ich hierbei für
manche Mitteilung zu Danke verpflichtet.
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc. 147
Tabelle I.
Zusammenstellung der in den Jahren 1916 und 1917 im Seuchenlazarett
zu Mainz beobachteten Malariarezidive.
Zugan
Zugang Se ; Zugang Ve
Jahr Monat | von SR En aus wärtigen I k
Truppe EN Fe Urlaub Laza- Besen
Krankheit ee
1916 Januar — = = a Aa
Februar 1 — — — ii
März = ar IE — Be
April 2 Zi — Br BL
Mai — Y —— Lab BE
Juni E= == er Fe re
Juli a ı — 4 4
August 1 — — — 1
September — = — —
Oktober — | 1 1 - 2
November 1 _ | 1 _ 2
Dezember _ — 1 —_ 1
Insgesamt: 3 | il 3 4 11
1917 Januar il = _ _ 1
Februar 5 2 1 — 6
März 6 1 _ — 7,
| April 9 — 1 -- 10
Mai ii) | 3 1 1 24
| Juni 21 2 3 — 26
Juli 9 _ 10 33 52
August 13 3 2 60 83
September 10 1 11 71 93
Oktober 7 2 2 27 38
November 1 — 4 5 10
Dezember 2 u 1 11 14
| Insgesamt: 103. 12 41 208 364
(Fig. 1), so muß uns auffallen, daß in der wärmeren Jahreszeit
(Juli—September) die größte Anzahl von Rückfällen bei den Ur-
laubern beobachtet werden konnte.
In geradezu herausfordernder Weise tritt die Verteilung der
von den Truppen gesandten Kranken in den einzelnen Monaten
hervor. Hier können wir, wie mir scheint, von direkt bewirkenden
inneren Faktoren überhaupt nicht sprechen, wenn wir von der bis
148 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc.
jetzt allerdings noch nicht erwiesenen, immerhin denkbaren Mög-
lichkeit gewisser, ınfolge der wärmeren Jahreszeit auftretenden
Stoffwechselprodukte im Körper des Menschen absehen wollen.
Die eingebrachten Mannschaften waren größtenteils mehrere Wochen,
ja Monate bei ihrer Truppe, machten ihren geregelten und ge-
wohnten Dienst ohne — wie sie versicherten — besondere Mühen
und Anstrengungen, bis plötzlich ein neuer Fieberanfall sich ein-
stellte. Hier liegen also anscheinend direkte Einflüsse innerer
Art nicht vor, wir müssen die Veranlassung solcher Rezidive
suchen ın der Wirkung von äußeren Faktoren, in Einflüssen des
Milieus.
Diesen Gedankengang hat auch Lenz vertreten. Er hat den
Satz niedergeschrieben: „Es ist eine bekannte Erscheinung; daß das
Auftreten von Malariainfektionen in unseren Klimaten weitgehend
mit der Temperatur parallel geht. Daß auch die Rezidive von der
Außentemperatur abhängig sind, ist ebenfalls bekannt“ (Lenz).
Lenz vermochte bei seinen Beobachtungen im Gefangenenlager
Puchheim auf der oberbayrischen Hochebene während der Jahre 1915
und 1916 weiterhin nachzuweisen, daß die Kurve der Rezidive genau
wie die der Neuerkrankungen verlief.
Danach wurden im April 1915 gar keine Malariafälle beobachtet.
Die Kurve der Rezidive des Jahres 1915 schnellte genau mit
dem Einsetzen der warmen Jahreszeit empor, erreichte schon vor
dem Eintritt der wärmsten Zeit ihren Höhepunkt und fiel dann
allmählich wieder, immer parallel mit der Temperaturkurve ver-
laufend, ab.
Das gleiche Ergebnis konnte ich bei einem Vergleich mit den
mittleren Monatstemperaturen feststellen. Meinen Untersuchungen
liegen die Aufzeichnungen des meteorologischen Dienstes im Groß-
herzogtum Hessen für die monatlichen Temperaturmittel der Jahre
1907—1917 zu Mainz und von der meteorologischen Abteilung des
Physikalischen Vereins zu Frankfurt a. M. für die Tages- be-
ziehungsweise Monatsmittel von Frankfurt a. M. der Jahre 1857—1916
zugrunde.
Auch an dieser Stelle möchte ich Herrn Prof. Dr. Greim-
Darmstadt für die Überlassung der Notierungen der Mainzer Tem-
peraturen, ganz besonders aber Herrn Prof. Dr. Boller, Leiter der
meteorologischen Abteilung des Physikalischen Vereins zu Frank-
furt a.M. für die Überlassung der Tabellen und manchen freund-
schaftlichen Rat meinen herzlichen Dank sagen.
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive ete. 149
Tabelle II.
Temperatur-Monatsmittel für Mainz 1908—1917.
Monate: | I He SIEB BG EV. ME IE VIE | VIIL| ISO ERE REN RT
1908 = 2021034 147720.3:0),.15.2|,195581.1953. 516,2 | 14,02) 9:02,30 hal
1909 —04| 05|44[109lı41| 158 |172| 187 |14,6 111] 41| 3,7
1910 374405,8.110.1|14,6| 185. 117,2| 18,1 | 13,5 | 18,2) 48. 94
1911 04| 35[66| 96 154| ı72 |222| 22,4 | 16,8 1102 |6,1| 48
1912 16/1 40/85| 9,8|151|179|203|153 113 | 81) 44| 33
1913 1,61 32|86| 99l14,8| ızo 164) 173 |m,8 11,0 | 88| 3,6
1914 1,81 301711261132 16,5 | 19,3 | 194 11441101 |5,1| 5,3
1915 27\ 34|49| 94lı6,1| 2038 |1s7|ız8l1a3| 86 34| 5,6
1916 62| 33| 6,6 |10,4|15,7| 14,9 |18,3| 182 | 142 |10,6 |58 | 32
1917 162681 20,7 119,6 132 16,2 | 855°1.6.5 02
190821917 | 111 2260| 98153 178 |18,7| 1821 145. 9851|. 35
Tabelle III.
Temperatur-Monatsmittel für Frankfurt a. M. 1857 —1916.
Monate: Ä I TE SE BEI EV VE VIE VER EVER TORE I ORTE RE
1857—1907 0,35°,2,110:08| 9%7 14.0 148 119,2 183° 14.917 9,6 14,6, 151
1908 2924| 22/46 | 75115,11193 |192|15,9|134 | 88 |2,6 | 0,8
1909 0,5 |—0,2|4,2 |10,4 |13,6 15,4 |16,8| ı83 | 142 | 11,1 | 35 | 3,5
1910 Bd A254 10.971142 17,9 271 .17.2132.|.11.171'3,8, 173,8
1911 03 33/64 | 92 |14,9| 16,7 |21,5| 21,9 | 16,1 | 10,0 | 6,0 | 45
1912 12| 40[83 | 93 14,7 |174 |198| 153 |ıo8| 77 a1 31
1913 15| 34[83 | 95 |143|16,5 |15,9| 16,8 | 14,4 | 10,8 | 8,5 | 3,0
1914 3234| 41[6,7 |12,4 1136| 16,1 [18,6 | 19,1 |138| 9,7145 ,5,5
1915 21) 3343| 89 [154/198 lıs2|ız2 |ı38| 83 |2,9| 5,6
1916 55| 28166 [102 [15,3 | 142 |175| 17,7 | 13,7 | 10,0 | 5,6 | 3,8
1908—1916 | 0,7| 2,916,1 | 9,3 145170 |ı8,1| 17,8 | 13,7 | 10,1 | 46 | 3,6
Die Beobachtungen dieser beiden Wetterstellen sind ın Tab. II
und Tab. III niedergelegt.
Die mittleren Monatstemperaturen sind erhalten als Durchschnitt der festge-
na 9 pP on
stellten mittleren Tagestemperaturen, die wiederum nach der Formel at et =
aus den Beobachtungen um 7 Uhr vormittags, 2 Uhr nachmittags und 9 Uhr abends
berechnet sind.
150 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc.
Die Parallelität der einzelnen Temperaturenkurven, die ich, um
Vergleichswerte zu schaffen, durch Zusammenziehung der Tempe-
raturen einer Reihe von Jahren (Mainz 1908—1917; Frankfurt
1857—1907 und 1908—1916) erhielt, unter sich einerseits und be-
züglich der Rezidivkurve bis zum Juni (also in stetig aufsteigenden
Zweigen) andererseits, fällt ohne weiteres in die Augen (cf. Fig. ]).
Im Juni hat die Rezidivkurve
Fig. I. Graphische Darstellung der Ab- ihren Gipfel erklommen, während
hängigkeit der Rezidivkurve (Truppe _, alle drei Temperaturkurven erst
Urlauber .......) von der Temperarur. im Juli ihre Maxima erreichen.
Die Rezidivkurve fällt von Juni
ab, um ım August nur erneut
schwach anzusteigen; sie sınkt
von diesem Zeitpunkt ab stetig
weiter in Übereinstimmung mit
den Temperaturkurven. Die Kurve
verläuft also ganz analog der
von Lenz beobachteten: „Die
Kurve der Malariarezidive des
Jahres 1915 schnellt genau mit
dem Einsetzen der warmen
Jahreszeit empor. Von durch-
aus sachlicher Bedeutung aber
ıst es, daß der Gipfel der Tem-
peratur oder, was dasselbe ist,
daß die Malarıakurve früher ab-
fällt als die Temperaturkurve.“
Rn ER Auch mit den u.a. von Kirsch-
baum, Werner und Mink als
Temperaturkurven: typisch bezeichneten Malariakur-
— — — Mainz 1908—1917, ven, welche bis Mai steigen, ım
—.—.— Frankfurt 1908—1916, Juni wieder abfallen, sich von
au da 3 1857—1907. Juli an wieder erheben bis zum
Gipfelpunkte im August — Sep-
tember und von da ab bis zum Winter steil abklingen, zeigt die
festgelegte Kurve harmonische Übereinstimmung. Die größeren
Entfaltungen August—September dürften hierbei aber auf die von
diesen Forschern inzwischen zahlreich beobachteten Neuinfektionen
zurückzuführen sein.
Vergleiche, die ich in ähnlicher Weise mit anderen, im Laufe
des Jahres stärker varıierenden meteorologischen Größen, den
monatlichen Durchschnittswerten der Bewölkung und der relativen
Feuchtigkeit (beide beobachtet für Frankfurt a. M.; für die Jahre
1880—1907 und 1908—1916) anstellte, führten gleichfalls zu ähn-
lichen Abhängigkeiten.
a R = FR)
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive ete. 151
Die Grade der Bewölkung sınd in Abstufungen von 0—10 aus
der: beigefügten Tabelle IV zu ersehen.
Tabelle IV.
Mittlere Durchschnittsgrade der Bewölkung für Frankfurt a.M.
1880-1916.
Monate: | ı [m || ıv | v|vıjvoivmjx | x |\xıxu
18581907 || ,0 | 65 |57 |55 |53 |5a [53 |50 |53 | 66 [73 | 76
1908 Sa eG Oz a Aa or an 1.503 90
1909 55 I56 \zı las |38 164 |7A 53 |60 |66 Iso | 72
1910 os |zs a6 |58 [51|1|66 I68 583 |62 |57 |83 | 82
1911 sı68|65 |54 I61|81 |sılaa |50 |65 Is | 82
1912 za se hz2.l51159l63150|81.|68 |69.|85 | 80
1913 78 |52 170165 168 167 |68|59 |52 | 72 |ss | gı
1914 62 68 |7= |50o |2e|l63 |65 |51 |54 |s2 |s7 |s2
1915 85 La Te 54 5039-621 74.|61.|80.|8,1186
1916 ss |sı 65 [59 |58 |z2 50 |e3 | 60 | zz zo |ss
1908-1916 | 2 | zı \67 |53 |55\57 [56 |59 |57 |6r7 [ss | 83
Sie werden in der Weise angegeben, daß man zu ermitteln sucht, wie viel
Zehntel des sichtbaren Himmelsgewölbes von Wolken verdeckt sind. Zur Bestim-
mung dieser Größe denkt man sich die vorhandenen Wolken so lückenlos zusammen-
gerückt, daß sie sich nicht decken und schätzt nun ab, wie viel Zehntel (0—10)
der Himmelsfläche die ganze Wolkenmasse einnimmt. Es bedeutet also
0 einen ganz heiteren Himmel,
5 einen halb verdeckten Himmel,
10 einen ganz bedeckten Himmel.
Mit 3 ist die Größe der Bewölkung zu bezeichnen, wenn etwa ein Drittel des
Himmels von Wolken bedeckt ist. Bei dieser Schätzung der Größe der Himmels-
bedeckung hat man lediglich die von den Wolken eingenommene Himmelsfläche
festzustellen ohne Rücksicht auf deren Dichte oder Mächtigkeit. Diese Werte habe
ich aus technischen Gründen in meinen Kurven und Tabellen nicht berücksichtigt.
Es sei aber darauf hingewiesen, daß bei ihrer Hinzuziehung die Gegensätze noch
schärfer und deutlicher in Erscheinung treten.
Fig. 2 läßt die Abhängigkeit der Rezidivzahl von der Bewöl-
kung unschwer erkennen. Während der Monate Oktober— März ist
die Bewölkung im Durchschnitt relativ stark und — was beigefügt
sein mag — auch dicht. Ihre Maximalwerte erreicht sie sowohl
1858—1907 als auch 1908—1916 in den Monaten November und
Dezember, während ihre mittleren Minima in diesen Zeiträumen
nahezu konvergierende Übereinstimmung ergeben. Bei dem höchsten
Grade der Bewölkung stellen wir die geringste Zahl der Rezidive
fest, mit zunehmender Belichtung erfolgt Ansteigen der Rezidiv-
459 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc. E
kurve, zur Zeit der größten Helligkeit beobachten wir die stärkste
Rezidivauslösung. Mit zunehmender Bewölkung gehen dann die
Rezidive sehr schnell zurück.
Ganz übereinstimmend lassen sich Beziehungen zwischen Re-
zidivbildung und relativer Feuchtigkeit feststellen (Fig. II und
Tab. V).
Fig. II. Graphische Darstellung der Abhängigkeit der Rezidive von Bewölkung
und relative Feuchtigkeit.
Bewölkungskurve
1850— 1907
Bewölkungskurve
1908— 1916
Kurve der rel. Feuchtigkeit
1908—1916
18801907
Malariarezidivkurve
Hier läßt sich erkennen: Bei größter Feuchtigkeit der Atmo-
sphäre kommt es nur gelegentlich zur len, Zunehmende
Trockenheit veranlaßt ein Anwachsen der Malariarückfälle. Bei
größter Trockenheit ist diese Reaktion am stärksten. Beginnende
Wassersättigung der Luft bewirkt Rückgang der Rezidive.
Welches sind nun die Gründe für diese so augenfälligen Ab-
hängigkeitsverhältnisse?
Anase
'
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc. 153
Tabelle V.
Mittlere monatliche relative Feuchtigkeit der Luft (in %) für
Frankfurt a. M. 1880—1916.
Monate 1%. EL LIEol ve | v. | VE VIE |vIm IX RR e XII
18301907 ||83,0 |79,0 | 72,0 | 66,0 | 65,0 67,0 | 70,0 71,0 |77,0 |82,0 | 84,0 | 86,0
ı908 |I5,0 |s2,5 |83,7 |70,8 |73,2|68,9 |69,4 75,8 |77,6 |83,2 |86,8187,3
1909 |ler,; |ss;s |ss,a |71,0 |58,6 [69,1 |71,0|71,6 |s,7 |s2,9 | 85,5 |sa,6
ı910 \\ss,s |s0,9 |74,7 |61,3 |65,2| 70,7 | 73,9 | 72,5: |80,3 180,1 | 83,7 |86,9
ı911 |87,4 |78,0 [72,4 |63,6 |eza less 157,3 |53,9 |66,3 |79,8 | 85,6 87,8
1912 ||s2,8 83,4 |76,0 |62,3 | 64,6 | 68,0 | 66,6 | 76,1 | 26,0 |sı,7 |s4,4 89,6
1913 ||85,0 |r65 [3,6 [71,3 71,1 70,4 |77,2 | 71,7 |80,0 |s6,0 |87,1\86,5
ı91 190,5 188,9 |s1,1 [66,7 [73,1 |71,4 [74,5 | 71,7 |74,1 |83,0 |87,0|82,3
1915 ||81,5 180,3 \76,6°|68,4 |61,8155,8 |62,4 71,7 [70,5 |81,8 83,6 184,9
1916 sı5 Isıı |7a2 |68,6 |65,2| 69,0 |r1,6 [71.3 |77,9 |79,8 |83,7|87,3
1908—1916 86,8 [82,2 | 75,6 |68,1 |66,6 | 67,7 | 69,2 | 70,7 |75,6 |82,0 |85,3 86,1
Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir uns über die ‚bei
einem Malariarückfall in Erscheinung tretenden biologischen Pro-
zesse des Erregers vor Augen halten.
Ziemann nimmt an (p. 181), daß in solchen Fällen Malaria-
keime schon. längere Zeit in einer Form im Körper sich fanden,
welche gegen äußere Eingriffe, seien es Schutzkräfte, seien es Medı-
kamente wie Chinin (Morgenroth!) widerstandsfähig waren. Es
ist ja eine augenfällige Tatsache, die jeder, der sich längere Zeit
mit dem Studium der Malariablutbilder befaßt, bestätigen wird,
daß längere Zeit hindurch in fieberlosen, anfallsfreien Perioden alle
Arten plasmodialer Entwicklungsgebilde, also neben Sphären auch
Formen des agamen Vermehrungskreises beobachtet werden können.
Ob diese letzteren, wie auch Mühlens und Külz anzunehmen
glauben, imstande sind, eine, namentlich im Hinblick auf die Schnellig-
keit der Rezidivauslösung nach mancherlei inneren Reizen, ein-
deutige Erklärung zu geben, erscheint mir unwahrscheinlich, zumal
für diese Auffassung ja auch ein experimenteller Beweis noch nicht
erbracht ist.
Seit Schaudinn’s grundlegender Beobachtung ist der bio-
logische Ausdruck für die Auslösung eines Malariarezidivs die Mobilı-
sierung der im Ruhezustand im Knochenmark verharrenden Gameto-
eyten. Durch besondere Reizwirkung veranlaßt, schreiten die
Gameten zur Parthenogenese. Bei diesem Vorgang überschwemmen
die parthenogenetisch entstandenen Merozoite erneut die periphere
154 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive ete.
Blutbahn, befallen die Erythrocyten und entwickeln sich nun zu
Schizonten, die je nach ihrer spezifischen Entwicklungsdauer inner-
halb zweier bis dreier Tage erneut durch Zerfall ihre Tochterzellen
ın die Blutbahn eintreten lassen, worauf es zu weiterer Autoinfek-
tion kommt. Dieser agame Vermehrungsprozeß dauert nun eine
Anzahl von Generationen hindurch weiter. Seine Zunahme ruft im
Körper bei Erreichung einer gewissen, für den einzelnen befallenen
Organismus verschiedenen Anzahl von Schizonten nach bestimmter
Frist Schüttelfrost mit nachfolgender Temperaturerhöhung als Aus-
druck der Körperreaktion hervor.
Kommen durch den diesen Prozeß auslösenden Reiz die Sphären
in größerer Zahl zur parthenogenetischen Entwicklung, so treten
die äußeren Erscheinungen des Malariaanfalls naturgemäß auch rascher
auf. Ist der die Parthenogenese auslösende Reiz schwächer, ver-
mag er also nur eine geringe Anzahl von Parasitendauerformen
aus dem Latenzstadium zu erwecken, so erfolgt die Körperreaktion
viel langsamer. Hieraus folgert, daß die Intensität des Reizes direkt
proportional der Anzahl der auslösbaren Gameten, mithin der
Schnelligkeit der Rezidivbildung sein muß.
Auf diese Weise erklärt sich denn auch die auffallende Schnellig-
keit, hervorgerufen durch innere Faktoren. Die nur wenige Tage
nach stattgehabter Reizwirkung erfolgten Rückfälle sind eben ein
Ausdruck dafür, daß eine relativ große Anzahl von Gameten diesen
Reizwirkungen erlagen und zur Parthenogenese schritten. Bei lang-
sam verlaufenden Reaktionen sind entsprechend geringere Mengen
von Dauerformen angegriffen worden oder angreifbar gewesen. Die
Zahl der Gameten wird ja wohl nach einer Reihe von Rezidiven
allmählich so zurückgegangen sein, vorausgesetzt, daß bei jedem
Rückfall die therapeutischen Mittel in vollkommenster Weise
zur Anwendung und Wirkung gelangten und die Parasitenformen
keine allzugroße durch Züchtung erworbene Resistenzfähigkeit be-
sitzen.
Unerklärbar bleibt aber ımmer noch die, man könnte sagen,
fast augenblicklich antwortende Rezidivauslösung auf stärkste Reize,
wie sie Sılatschak und Falta nach. vermehrter Muskelarbeit,
Gonder und Rodenwald bei Affen nach kalter Dusche auf die
Milzgegend oder Einspritzung von Pferdeserum und ich bei einem
längere Zeit anfallsfreien, keinen positiven Blutbefund mehr zeigen-
den Soldaten, der unerwartet eine schlechte Nachricht erhielt, be-
obachten konnten. Zur Erklärung müssen wir annehmen, daß eben
infolge der starken wechselvollen physischen und psychischen Be-
einflussung die Gameten in derartig großen Massen aus ihren Ruhe-
lagern sofort in Teilungsformen parthenogenetisch zerfallend, die
periphere Blutbahn überfluteten, so daß die Körperreaktion unmittel-
bar in Erscheinung trat.
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc. 155
Die Beantwortung der Frage nach den Ursachen der durch
äußere — klimatische — Faktoren veranlaßten Malariarezidive fordert
eine andere Überlegung.
Für alle die physikalischen Vorgänge, die sich im Luftmeere
abspielen, stellt die Sonne die letzte Ursache dar. Luftdruck,
Temperatur, Bewölkung, Luftfeuchtigkeit u. s. w. sind direkte Funk-
tionen des Sonnenlichtes. Ihre Größen geben umgekehrt Aufschluß
über die Intensität der Sonnenwirkung.
Die Veränderungen des Luftdrucks im Monatsmittel sind für
unsere Gegend von so geringer Größe, daß ein Vergleich mit dem
Auftreten von Rezidiven sich erübrigte; ebenso lassen andere
metereologischen Faktoren, wie Niederschläge, Winde, eine Kor-
relation wegen ihrer wenig einheitlichen, in Mittelwerte schwer zu-
sammenfaßbarer Vergleichszahlen kaum zu. Regelmäßige vergleich-
bare Verhältnisse geben uns erst der relative Feuchtigkeitsgehalt
der Luft, die Bewölkungsgrade, die Sonnenscheindauer und vor
allem die Temperatur.
Die Schwankungen des Wassergehaltes der Luft sind bei ihrer
zeitlichen Verteilung ja bedingt von anderen meteorologischen
Komponenten, in erster Linie von der Lufttemperatur, sodann durch
Winde und den Luftdruck, während bei der örtlichen Verteilung
außer diesen Faktoren noch die gegebene Möglichkeit der Wasser-
verdunstung in Frage kommt (Findel). Ihre Größe ist also eine
direkte Abhängige dieser Faktoren, die wiederum Funktionen des
Sonnenlichtes darstellen. Die Bewölkung vermindert in ausge-
dehntem Maße die Wärmezufuhr. Nimmt sie hohe Werte an, ver-
hindert sie also das Durchdringen des Sonnenlichtes, so vermag
das Lieht nicht in genügender Weise zu wirken. Berücksichtigen
wir nun noch die Tatsache, daß eine Wolkenschicht nur die dunklen
Wärmestrahlen stärker absorbiert (nach Findel 60%), während die
kurzwelligen chemisch wirksamen, „leuchtenden“ Strahlen in viel
größerem Maße durchzudringen vermögen (81—88), so können
wir uns auch aus den festgestellten Beziehungen einen Schluß auf
die Wirkungsweise des Sonnenlichtes gestatten. Danach scheinen
die chemisch wirkenden Strahlen am hervorragendsten das aus-
lösende Agens darzustellen. — In meinen Angaben (Tabelle V) habe
ich das Mittel der Bewölkungsgrade aus den täglichen Beobach-
tungszeiten von 7 Uhr vormittags, 2 Uhr nachmittags und 9 Uhr
abends berechnet, mithin auch die Bewölkung für eine Zeit, da die
Wirkung des direkten Sonnenlichtes für unsere geographische Breite
ausgeschaltet ist, mit eingeschlossen. Die Bewölkung vermindert
ja nicht nur die Wärmezufuhr von der Energiequelle des Weltalls,
sie verhindert auch nach Sonnenuntergang durch Adsorption der
Wärmestrahlen die Ausstrahlung der Erde in den Weltraum und
wirkt auf diese Weise umgekehrt wärmeerhaltend in der Nacht.
156 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc.
Den Einfluß der Sonnenscheindauer hat Lenz in überzeugender
Weise angeführt. Mir standen meteorologische Beobachtungen
oder astronomische Berechnungen nicht zur Verfügung, indessen
glaube ich nach meinen Beobachtungen annehmen zu dürfen, daß
Vergleiche den Lenz’schen Ergebnissen gegenüber nicht nachge-
standen hätten.
Wenden wir uns schließlich dem Einfluß der Temperatur auf
die Entstehung der Malariarezidive zu. Die Abhängigkeit ist äußerst
stark hervortretend.
Nur eine Erscheinung dürfte hier noch eine besondere Erklä-
rung erheischen: Die Rezidivkurve erreicht bereits vor dem größten
Temperaturwerte ihren Gipfelpunkt, eine Beobachtung, die, wie
bereits dargestellt, u.a. auch von Lenz geteilt wird. Worauf mag
diese Erscheinung zurückzuführen sein? Lenz gibt hierauf zur:
Antwort: „Die Temperaturen des Mai (bei denen er seine größte
Rezidivzahl beobachten konnte) genügten bereits, um bei den Plas-
modienträgern (wohl Gametenträgern!) das Rezidiv auszulösen.
Später waren dann nicht mehr viel latente Kranke vorhanden, die
ein Rezidiv bekommen konnten. Es handelt sich also um eine Er-
scheinung der Auslese. Die Auslösung der Rezidive durch hohe
Außentemperaturen ist der Ausdruck einer — selektionistisch zu
verstehenden — Anpassung der Malariaplasmodien an die Flugzeit
der Anopheles. Die Malariaplasmodien haben gar kein Lebens-
interesse an der Schädigung ihrer Wirte, im Gegenteil, mit jenen
würden auch sie selbst zugrunde gehen. Rezidive in kalter Jahres-
zeit würden daher für die Erhaltung der Plasmodienstämme ganz
zwecklos sein, weil eine Weiterverbreitung in jener Zeit doch nicht
eintreten würde, da eben die Anopheles damn nicht fliegen. So
mußten also die Plasmodien durch die Allmacht der Naturzüchtung
so gestaltet werden, daß sie bei hoher Außentemperatur Rezidive
machen ... Jene Plasmodienstämme hatten die größte Aussicht
dauernd erhalten zu bleiben, welche während der kalten Zeit ihre
Wirte von Krankheitserscheinungen freiließen und welche erst
während der Flugzeit der Anopheles von neuem das Blut über-
schwemmten.“
Die Häufigkeit der Rezidive in den Monaten Mai und Juni, im
Vergleich zu ihrer Abnahme in den Sommermonaten scheint die
Berechtigung dieser Annahme einer Selektion im Sinne von Lenz
zu gewährleisten, welcher Ansicht ich auch noch durch eine andere
Erscheinung bestärkt wurde. Allerdings müssen wir immer berück-
sichtigen, daß meinen Studien nur die Beobachtungen zweier auf-
einander folgenden Jahre zugrunde liegen.
Es ist in der letzten Zeit eine auffallende Tatsache, daß bei
den längere Zeit in hiesiger Lazarettbehandlung befindlichen Kranken,
die an schwersten Tropicafieberanfällen (mit Siegelringformen und
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc. 157
Halbmonden im Blute) litten, die Erscheinungen der Tropica seltener
werden und die typischen Erregerstadien ganz vermissen lassen,
um bei einem späteren Rezidiv ım Blutbilde die gewöhnlichen
Formen der Tertiana zu zeigen. An der Fieberkurve lassen sich
derartige Umschläge in einen anderen Malariatypus zwar nicht er-
kennen, da die Anfälle gewöhnlich nur einmal, äußerst selten nur
zweimal in größeren Zwischenräumen repetieren. Nur die mikro-
skopische Untersuchung zwingt zu dieser Annahme. Auch bei
Mannschaften, die sich längere Zeit in Deutschland oder an der
Westfront, also kälteren Klımaten aufhielten, auf dem Balkan aber
an schwerster Perniziosa litten, wird nicht selten ein Rezidiv mit
allen typischen Erscheinungen der Malaria tertiana beobachtet.
Eisner hat ähnliche Veränderungen feststellen können. Er sah
häufig ım Frühlingsbeginn eine Teertiana auftreten bei Patienten,
die im Herbst eine Tropica hatten. Es scheint also, daß die Malarıa
tropica sich im Laufe der Zeit in die benigne Malaria tertiana sozu-
sagen „umgewandelt“ hat — vorausgesetzt, daß die zur Unter-
suchung gekommenen Fälle nicht etwa Mischinfektionen beider
Arten, sondern ursprünglich nur reine Perniziosainfektionen ge-
wesen sind. Dies ließ sich im allgemeinen aber in unseren Fällen
nur schwer feststellen. Mischinfektionen wurden im einzelnen be-
obachtet, wie diese im speziellen verliefen, vermag ich heute nicht
anzugeben, da mir leider Aufzeichnungen darüber fehlen und die
betreffenden Patienten mittlerweile zur Entlassung gekommen sind.
Immerhin ist das Zurückgehen der Tropica bei unseren Kranken
auffallend. Die typischen Halbmonde verschwinden in kürzester
Zeit, während Tertianagameten sich als sehr viel resistenter er-
weisen.
Eine „Umbildung“ der schweren perniziösen Form in die in
der Regel gutartig verlaufende Tertiana, bei Ablehnung einer ur-
sprünglichen Mischinfektion ist von M. P. Armand-Delille (Re-
marques sur les aspects parasitologiques du paludisme contractees
en Macedonine C. R. t 165 Nr. 5) und anderen französischen
Militärärzten 'bei den französischen Truppen in Mazedonien eben-
falls beobachtet worden. Wurtz, welcher in Frankreich speziell
mit der Behandlung der Malarıakranken aus Mazedonien betraut
ist, konnte das gleiche feststellen: Das Plasmodium vivax hatte
das Plasmodium immaeulatım (= faleiparum) völlig verdrängt. Eine
Form, die noch im Sommer 1916 häufig beobachtet wurde, war im
folgenden Jahre gänzlich verschwunden. Nur der Erreger der pro-
gnostisch günstigen Malarıa tertiana konnte gefunden werden.
Wurtz erscheint es also, als wenn beide Erreger auseinander her-
vorgingen. Ob diese Erscheinung die Ansicht Laveran’s bestätigen
kann, daß man in den beiden Typen (Pl. virax und Pl. immaculatırm)
es nur mit zwei verschiedenen Varietäten derselben Spezies zu tun
458 A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive ete.
habe, will ich nicht behaupten. Die Tatsache gibt aber genug zu
denken und regt zu weiteren, vor allem experimentellen Forschungen
an. Die Variabilität der Plasmodien scheint ja auch durch die ebenfalls
in der Pariser Akademie der Wissenschaften zur Erörterung gebrachten
Tatsache bestätigt worden zu sein, wonach ım Institut Pasteur die
Übertragung des Erregers der menschlichen Malaria auf den mit
spezifischen Hämatozoen (Pl. Kochiti) ausgestatteten Anthropöiden,
den Schimpansen, gelungen sei (Sur la sensibilit€ du chimpanse
au paludisme humain. ©. R. t. 166 Nr. 1). Galt es doch seither
als feststehende Tatsache, daß jede Affengattung ihren eigenen
Malariaerreger besäße, der nach Ferni, Lumbao und Gonder
niemals auf andere Affengattungen übertragbar sei.
Genug, die — experimentell zu lösende — Frage der „Um-
wandlung“ des Pl. immaculatum in das Pl. vivax könnte nur durch
eine rein selektionistische Annahme erhärtet werden. Da eine In-
fektion nur bei einer hohen Temperatur (ungefähr um 25° ©.) möglich
ist, so ist seine Weiterentwicklung in dem auf niedere Temperatur
gebrachten Organismus nicht möglich. Der Kampf ums Dasein
zwingt den Erreger zu einer Umwandlung seiner Eigenschaften ın
die bei niederen Temperaturen (15—18° C.) leicht vegetierfähigen
Plasmodienzustände.
Ich habe diese theoretische Auseinandersetzung nur aus dem
Grunde eingefügt, weil so ausgezeichnete Malariaforscher wie Zie-
mann und Mühlens einer Anpassungsmöglichkeit der Plasmodien
recht wenig zugänglich zu sein scheinen.
Die Tatsache des Rückgangs der malignen Art des Wechsel-
fiebers ın unseren Klimaten gestattet uns die Erwartung einer
günstigen Prognose für die Malaria in unserer Gegend. Tropica-
Infektionen dürften hier als ausgeschlossen zu erachten sein.
Um so mehr ist aber der Kampf gegen die in unseren Klimaten
ihre biologischen Entwicklungsbedingungen überall findende Malaria
tertiana geboten. Und ich glaube, daß meine Erörterungen die
Wirkungen der inneren und äußeren Faktoren uns ein wichtiges
Hilfsmittel in diesem Kampfe anzeigen.
Neben der unausgesetzten Blutkontrolle soll auch das Experi-
ment zur Anwendung kommen. Längere Zeit befund- und fieber-
freie Kranke dürften nicht eher aus der Lazarettbehandlung ent-
lassen und der menschlichen Gesellschaft zugeführt werden, bis
eine künstlich bewirkte Rezidivsetzung sich als negativ erwiesen
hat. Zu diesem Zwecke sind ja ähnlich der v. Pirquet’schen
Tuberkulinreaktion schon Versuche gemacht worden (Bauer, Thaller
v. Draga).
Ließe es sich nicht ermöglichen, die als klinisch geheilt gelten-
den Malarıarekonvaleszenten etwa durch Vornahme der aus militär-
er
A. Schaedel, Biolog. Betrachtungen zur Frage der Malariarezidive etc. 159
hygienischen Gründen ohnedies nötigen Typhusschutzimpfung im
Frühling in warmer, trockner, lichtwirkender Zeit einer Kontrolle
zu unterziehen, oder, was vielleicht noch zu besseren Ergebnissen
führen würde, die Rekonvaleszenten einer ausgiebigen Sonnen-
bezw. Höhensonnen- oder Röntgenbestrahlung der Milz, der Leber,
der Extremitätenknochen — Knochenmark! — (über die Reizung
des Knochenmarks durch Röntgenbestrahlung geben Anhaltspunkte
die Arbeiten von Kurt Ziegler und G. B. Gruber) zu unter-
werfen? Die bei einem Rezidıv übergetretenen Plasmodienformen
sind ja auch mittels der bekannten therapeutischen Mittel wirk-
samer zu bekämpfen als die resistenzfähigen Dauerformen. Das
sind allerdings Fragen, die der Biologe nur aufwerfen kann, deren
Bedeutung und Wichtigkeit aber vielleicht von dem einen oder
anderen Kliniker anerkannt und einer Prüfung unterzogen werden mag.
Die Gefahr der Weiterverbreitung der Malarıa in unserem
Vaterlande ist groß. Anophelinen sind fast überall vertreten. Wo
sie bis heute noch nicht gefunden werden, bedarf es nur einer ein-
gehenden Nachforschung; ihre biologischen Entwicklungsbedingungen
sind fast überall gegeben. Ihre Vernichtung ıst auf die verschie-
denste Weise angestrebt, sie hat schon viel Günstiges gezeitigt,
keine Methode vermag sie jedoch endgültig auszuschalten. Lassen
wir uns aber trotzdem in diesem Bestreben nicht beirren! Die ge-
meinschaftliche Bekämpfung von Erreger und Überträger der Malaria
wird zu einer Verminderung, und hoffentlich einer Beseitigung
dieser schweren Gefahr für unser Vaterland führen.
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(1891—1915).
6. W. M. Wheeler.. Ants 1910 (Chapter XIII: Compound Nests).
Weitere Literaturangaben im Text.
2
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl. 161
Die Lebensweise von Formicoxenus nitidulıs ist größtenteils
noch in tiefstes Dunkel gehüllt. Diese Ameise verbirgt ihre Ge-
wohnheiten eifersüchtig ım Innern der großen Haufen von Formica
rufa 1. und Formica pratensis deGeer. Dazu kommt ihre spora-
dische Verbreitung, so daß man versteht, daß selbst Forscher wie
Forel, Adlerz u. a. m. nur Streiflichter ın dieses Dunkel zu werfen
vermochten. So schreibt denn auch Forel im Jahre 1915 von
dieser Ameise: „Sitten noch wenig bekannt!).“ Über sie wissen wir
bis jetzt sehr wenig: einige Tatsachen über das Vorkommen und über
die Beziehungen zur Wirtsart. Über die Nahrung dieser inter-
essanten Gastameise sowie über die intimere Natur des Gastver-
hältnisses sind wir jedoch vollkommen ım Unklaren. Daher dürften
einige Beobachtungen und Versuche, die ich über diese Ameise zu
machen das Glück hatte und die neues Tatsachenmaterial bringen,
sowie altes ergänzen resp. bestätigen, nıcht ohne Interesse sein.
Über den springenden Punkt: das Zusammenleben so verschiedener
Arten konnte ich leider nur unvollständige Untersuchungen an-
stellen, so daß ich bis auf weiteres von diesem wichtigen Kapitel
Abstand nehmen und mich auf anderes Material wıe Nestbau, Nah-
rung u.S. w. beschränken muß. Diese Zeilen bilden also eigentlich
ein Prodrom, dem weitere Arbeiten folgen sollen.
l. Kurzes Lebensbild.
An Stelle einer langatmigen historischen Einleitung will ıch
die bisher bekannten Tatsachen summarisch darstellen und verweise
auf die oben angegebene Literatur.
Die „glänzende Gastameise“ war früher irrtümlicherweise unter
dem Namen Stenamma Westwoodi W estw. in der myrmekologischen
Literatur bekannt. Stenamma ist nur ein zufälliger Einmieter bei
fremden Ameisenarten. Andre und Adlerz klärten die Verhält-
nisse und begründeten den Namen Formicoxenus nitidulus für die
kleine Myrmicide, die gesetzmäßig bei Formica rufa und pratensis
lebt?). Das Verbreitungsgebiet dieser Gastameise erstreckt sich
über Nord- und Mitteleuropa, so wurde sie gefunden in Schweden
(Lit. 1.), in Holland, Luxemburg, Rheinprovinz, Tirol (Lit. V), in
der Schweiz (Lit. II und Ill), in Frankreich (Lit. IV) und a. a. ©.
Jedoch ist die Verbreitung keine einheitliche, sondern vielmehr eine
lückenhafte, diskontinuierliche. Ein besonderes morphologisches
Merkmal dieser Gattung ist das ergatoide Männchen (siehe weiter
unten!). ;
1) A. Forel. Die Ameisen der Schweiz. Bestimmungsschlüssel. Beil. d. Mitt.
d. Schweizer Ent. Gesellsch. 1915, p. 18.
2) Wasmann fand sie einmal bei 7". truneieola (in Luxemburg). Lit. V, p. 257.
12:
o
1629 R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl.
Die Haufen der großen Wald- resp. Wiesenameisen bieten den
kleinen Inquilinen schätzenswerte Vorteile wie Schutz, Unterschlupf,
Wärme u.s.w., so daß wir uns das Vorkommen daselbst leicht final
erklären können. Die natürliche, primäre Ursache dieses Kommen-
salısmus ist einstweilen noch in hypothetisches Dunkel gehüllt. Die
Beziehungen zur Wirtsameise sınd völlig indifferente; Formicozenus
wird einfach von dieser ignoriert. Ausnahmsweise kommt es wohl zu
minder friedlichen Zusammenstößen, die jedoch sofort beendigt sind,
da die Gastameise bei der geringsten Berührung mit Fremdlingen zu
dem bekannten Verteidigungsmittel „Sichtotstellen“ greift. Haupt-
charakterzüge von Formicoxenus sind Schnelligkeit und Behendig-
keit. Rastlos, die Antennen in steter zitternder Bewegung, durch-
eilen sie — Männchen, Arbeiter wie Weibehen — die Gänge der
Wirtswohnung. Ihre Nester bauen sie in die Säulen und Wan-
dungen des Wirtshaufens; es sind kleine, napfförmige, aus feinem
Material gebaute Höhlungen, die Wasmann mit Vogelnestern in
Miniatur vergleicht. Dieser Forscher fand einmal eine kleine Kolonie
in dem leeren Larvengehäuse von Cetonia floricola. Adlerz traf
Nestkammern von Formicoxenus ın den Spalten eines morschen
Eichenstammes an, der einem rufa-Bau als Unterlage diente. Beı
Nestwechsel begleitet die Gastameise — gleich andern Synoeken
wie Stenus-, Thiasophila-Arten — ıhren Wirt zur neuen Wohnung.
Zur Paarungszeit sieht man häufig Kopulationsversuche der erga-
toiden Männchen, die sich dabei krampfhaft an das Weibchen an-
klammern. Sie umfassen das Stielchen der Trägerin mit ihren
Mandibeln und lassen sich so, halb reitend, ins Schlepptau nehmen
(it, M,; VI),
Was dıe natürliche Nahrung der Gastameisen ist, war bis jetzt
unbekannt. Jedenfalls lassen sie sich nicht — wie ZLeptothorax
Emersoni Wheel. von Myrmica brevinodis — von den Wirtsameisen
füttern. Forel gab ihnen zerquetschte Larven, die sie kaum an-
rührten, während sie verdünntes Zuckerwasser, das Wasmann
ihnen reichte, gleich andern Ameisen, aufleckten.
Die Lebensbeziehungen dieses interessanten Xenobionten stehen
zıemlich isoliert im Ameisenreiche da. Wir kennen einige analoge
Fälle, die jedoch größtenteils noch unerforscht sind. Die Literatur?)
berichtet über folgende myrmekophile Ameisen:
Formicowenus nitidulus Nyl. bei Formica rufa u. pratensis Europa,
Formicoxenus corsicus Em. „ 2? Corsica,
Formicoxenus Ravouxi And. „ Leptothorax unifasciatus
Frankreich,
3) Lit. V, S. 339ff. und Lit. VI, S. 430ff. Siehe auch Escherich, Die
Ameise II. Aufl. n
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl. 165
(?)Phacota Sicheli Rog. bereu 22 Spanıen,
(?)Phacota Nonacheri Em. „ Monomorium subnitdum Algerien,
Sifolina Lamae Em. a = Italien,
Myrmica myrmoxena For. „ Myrmica levinodis Schweiz,
Symmyrmica Chamberlini Wheel. bei Myrmica mulica
N.-Amerika,
Leptothoraxw Emersoni W heel. bei Myrmica brevinodis v. canadensis
N.-Amerika,
Leptothorax glacialis Wheel. bei Myrmica brevinodis v. alpina
N.-Amerika.
Symmyrmica chamberlini nähert sich morphologisch und bio-
logisch der „glänzenden Gastameise*“. Leptothoraw Emersoni und
glacialis bilden Übergangsformen zu den echten Gästen (Symphilen).
Über die Lebensweise der anderen angeführten Arten sind wir noch
ım Unklaren, ein hübsches Feld für weitere Forschungen!
Es stellt sich hier die Frage: welches sind die Unter-
scheidungsmerkmale der myrmekophilen Ameisen von
den parasitischen und dulotischen?
Diese drei Kategorien reihen sich in die soziale Symbiose
(oder Myrmekophilie im weiteren Smne) Wasmann’s ein, sie bieten
jedoch eine Reihe von Übergangsformen, so daß eine scharfe Tren-
nung sehr schwierig ist. Die Natur läßt sich eben einmal nicht
schablonenartig zergliedern. Die parasitischen und dulotischen
Ameisen sind nach Wasmann, Emery und Wheeler alle jene,
die entweder temporär oder permanent in gemischten Kolonien
leben, wobei nur die dulotischen ihre Hilfsameisen durch
Puppenraub gewinnen. Zur besseren Unterscheidung zwischen
diesen Ameisen und den myrmekophilen Arten müssen wir etwas
weiter zurückgreifen. Forel (Lit. II) gruppierte die Symbiose
zwischen Ameisen in zusammengesetzte Nester und gemischte
Kolonien, wobei in dem ersten Falle die fremden Arten nur be-
nachbart sind und in dem andern die Komponenten sich zu gemein-
samer Kolonie mischen. So fallen die myrmekophilen Ameisen
in die erste Gruppe. Da neuerdings Wheeler gezeigt hat, daß
zwischen beiden Kategorien Übergänge vorkommen und zwar Lepto-
thorax Emersoni und L. glacialis, so verliert diese Einteilung ihren
Wert und man ist geneigt nach andern Unterscheidungsmerkmalen
zu fahnden. Wasmann*) nimmt hierzu zu der Art der Kolonie-
gründung Zuflucht. Weibchen mit abhängiger Koloniegründung
sind als parasitisch und dulotisch zu bezeichnen, je nach den bio-
logischen Besonderheiten während der Koloniegründung; sind die
4) Wasmann, Nr. 170, S. 685ff.
164 R. Stumper, Formicoxwenus nitidulus Nyl.
Ameisen, die mit andern Ameisen in Symbiose leben, in bezug auf
ihre Koloniegründung unabhängig, so haben wir es mit myrme-
kophilen Arten zu tun. Ob sich nun aus dem zusammengesetzten
Nest eine gemischte Kolonie bilden kann, hängt von dem Grad der’
Verwandtschaft der beiden Komponenten ab, da bei solcher eine
nähere soziale Symbiose, eventuell sogar Erziehung der Brut der
einen Ameise durch die Arbeiterinnen der anderen Art erfolgen
kann. Diesem Verhältnis nähert sich die oben genannte ZLepto-
thorax-Art. So verstehen wir, daß möglicherweise aus einem
(rastverhältnis sich allmählich permanenter sozialer Parasitismus
gebildet haben kann, wie dies Wasmann an der Leptothorax-Gruppe
näher ausgeführt hat. Formicoxenus nitidulus ist also ein typischer
Myrmekophile und zwar speziell eine Synoeke (indifferent geduldeter
Einmieter).
: 14. Zur Morphologie der Gastameise.
Der typische Formiciden-Trimorphismus — in diesem Falle ıst
nicht der intrasexuale Polymorphismus (der Ameisen-Weibchen),
sondern der intraspezifische Polymorphismus ım weiteren Sinne ge-
meint — ist bei Formicoxenus nitidulus gestört und zwar durch
das extrem ergatoide Männchen’) einerseits und durch die
ergatogynen Übergangsformen andererseits. Wasmann
kommt auf Grund seines Sammlungsmaterials zu folgenden Resul-
taten (L. V, p. 257): „... Die ergatoiden Männchen haben zwar gewöhn-
lich Ocellen, aber manchmal sind dieselben teilweise oder ganz
rudimentär. Bei Linz a. Rh. fand ich im September 1893 unter
den Formicoxenus-Männchen eines und desselben r«fa-Haufens Exem-
plare mit gutentwickelten, mit rudımentären und mit ganz fehlenden
Ocellen. Ferner gibt es zwischen den Weibchen und den Ar-
beiterinnen alle möglichen Übergänge. Neben den normalen, größeren,
meist dunkler gefärbten geflügelten Weibchen (Macrogynen) finden
sich in allmählichen Zwischenstufen kleinere, heller gefärbte ge-
flügelte Weibchen (Microgynen); beide mit Ocellen. Die Microgynen,
die kaum größer als die Arbeiterinnen sind, leiten zu letzteren
über durch Individuen mit rudimentären Flügelansätzen (Über-
gänge zur Brustbildung der Arbeiterinnen) und Stirnocellen. An
letztere schließen sich wiederum solche an, die vollkommen die
Brustbildung der Arbeiterın haben, aber 3,2 oder 1 (häufig un-
symmetrisch gestellte) Ocellen. Die normalen Arbeiterinnen end-
lich haben keine Ocellen.“ Ich fand diese Befunde an meinem
5) Das Formicoxenus-Männchen unterscheidet sich hauptsächlich vom Arbeiter
durch seine 12gliederigen, leierförmig gekrümmten Antennen (Weibchen 11 Glieder)
und durch ungezähnte Mandibeln.
Fig. 1 u. 2.
Fig. 3—10.
Fig.
11.
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl.
g 2
Fig. Fig. 2.
Fig.1 ', Fig. 22 von Formico-
xzenus nitidulus. Vergr. 8:1.
(Photogramm Wasmann.)
Übergangsserie von ® zum 9.
Statistische Karte des Formico-
zenus-Gebietes von Neuenstadt.
P; = Pratensis-Haufen.
Ry= Rufa-Haufen,
Entwicklungsrichtung
Fig. 3—10.
165
SI
10
|
166 R. Stumper, Formieoxenus nitidulus Nyl.
Neuenstädter Material bestätigt und gebe anbei diese Tatsachen
zeichnerisch wieder.
Das Photogramm (Fig. 1 und 2), das ich der Liebenswürdig-
keit des Herrn Wasmann verdanke und wofür ich ihm meinen
besten Dank ausspreche, veranschaulicht klar den Ergatomorphismus
des Männchens. Fig. 1 = Formicoxenus-Männchen und Fig. 2 =
der Arbeiter.
Fig. 5—10 stellen die polymorphen weiblichen Formen
dar. Vom kleinen Arbeiter ohne OÖcellen kann ich an meinem
Neuenstädter Material an die 10 Zwischenstufen bis zum ge-
flügelten normalen Weibchen unterscheiden. Als be-
sonderes Merkmal habe ich die geringe Anzahl der kleinen
Arbeiter gefunden, sodann die große Zahl der Ergatogynen-
Mischformen; diese leiten, in bezug auf die Thoraxform und die
-Färbung, in unmerklichen Stufen zur Macrogyne über.
Fig. 3 ist der kleine, ocellenlose Arbeiter, Fig. 4, der große Ar-
beiter mit Stirnaugen. Fig. 5—7 sind die ergatogynen Mischformen;
die allmähliche Einschiebung des Scutellum und des Metanotum
ist besonders hübsch zu ersehen. Fig. 8 ist die schmalrückige, mit
rudimentären Flügelansätzen versehene Microgyne. Fig. 9 das nor-
male entflügelte Weibchen und Fig. 10 die geflügelte Macrogyne.
Diese atypischen Formen bilden ein ausgezeichnetes Prüffeld für
unsere naturphilosophischen Spekulationen, die im Kapitel: Zur
Phylogenese der Gastameise näher ausgeführt werden.
III. Forschungsmethode.
Formicoxenus nilidulus ıst ein häufiger Gast der zahlreichen
rufae und pratensis-Kolonien, die die Südostausläufer des Berner
Jura bevölkern. Ein 3!/,monatlicher Aufenthalt in Neuenstadt
(Bieler See) gestattete mir einen tieferen Einblick in die biolo-
gischen Geheimnisse dieser interessanten Gastameise. Eine hübsche
Reihe von Beobachtungen veranlaßte mich das Formicoxenus-Gebiet
von Neuenstadt genauer zu untersuchen. Ich griff hierzu zu Was-
mann's Methode der ZLomechusa-Pseudogynen-Theorie, nämlich der
kartographischen Fixierung. Beifolgende statistische Karte (Fig. 11),
in welcher die betreffenden Kolonien in chronologischer Reihenfolge
eingetragen wurden, erläutern die folgenden Zeilen. Was die nähere
Beobachtungsmethode anbetrifit, so bevorzugte ich natürliche
Funde und griff nur notgedrungen zum Experiment, wobei ich
Lubbock-Nester, Gipsarena und einfache Holz- resp. Blechschachteln
verwendete.
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl. 167
IV. Beobachtungen und Versuche aus dem Neuenstädter
Formicoxenus-Bezirk.
Insgesamt wurden 22 Ameisenhaufen untersucht; und zwar er-
wiesen sich 19 als Formicoxenus-haltig und 3 als Gastameisen-frei
(7, 14, 17) Es waren 15 Pratensis-Haufen und 7 rufa-Bauten;
weitere nördlich und östlich gelegene Nester wurden nicht unter-
sucht. Das Gebiet liegt auf stark unterschiedsreichem Abhange;
felsiges Geröll wechselt mit Wald und bebautem Ackerland, das
wiederum an brach liegendes, ' mit Gestrüpp bewachsenes Wiıesen-
land stößt; also eine Ideallandschaft für Ameisen und Ameisen-
liebhaber.
Kolonie 1 und 2: Am 17. Juli hart am Rande einer steilen
Geröllhalde entdeckt. Kol. 1 ist ein großer rufa-Bau, mitten ın
_Prumus spinosa-Gestrüpp gebaut und sehr schwer zugänglich, wes-
halb nicht näher untersucht. Kol.2 dagegen, etwa 5 m von ersterer
entfernt, ist eine junge Zweigkolonie von Kol. 1. Ich fand darın
ein entflügeltes Formicoxenus-Weibchen, das vermutlich mit
nach dort ausgewandert ist.
Kolonie3.4und5: Rufa-Haufen im Dickicht des Pilouvi-Waldes.
Enthielten sehr wenig Gastameisen, meist Weibchen. Diese Beob-
achtungen hängen mit der Koloniegründung zusammen, die auf
zwei Weisen erfolgen kann. Befruchtete ungeflügelte Weibchen
können auf dem Luftwege zu anderen Wirtsnestern kommen und
dort die Fortpflanzung besorgen. Andere geflügelte Weibchen
können per pedes zu neuen Haufen gelangen und so die Verbrei-
tung der Art vollziehen. Zieht man die obligatorische Inzucht
dieser Ameisen in Betracht, nach welcher Begattungsweise,
wie bei normaler Kopulation die Weibchen die Flügel ab-
werfen, so ist die zweite Koloniegründungsweise die
wahrscheinlichere. Dies wird bestätigt durch die Tatsache,
daß ich im ganzen nur vier geflügelte Weibchen fand.
Kolonie 6: Am 2. August 1917 am Rande der Chaussee Neuen-
stadt-Lignieres entdeckt. Mittelgroßes Pratensis-Nest am Fuße einer
jungen Kiefer. Dieses Nest bildet eine sogen. Zentralkolonie
von Formicoxenus, die sich durch eine außergewöhnlich hohe Prozent-
zahl von Gastameisen von den vorigen unterscheidet. Das Zahlenver-
hältnıis betrug 14:13; also fast so viel Formicoxenus wie Wirtsameisen.
Eine solch hohe Anzahl fand bis jetzt nur Adlerz in Südschweden, sie
realisiert sich nur in besonders günstigen Fällen, weshalb Was-
mann diesen Fällen das Prädikat „sehr selten“ gibt. Beim Öffnen
des Haufens-liefen Tausende und Abertausende dieser kleinen, netten
Ameisen mitten zwischen den Wirten umher. Sie zeigten ihre habı-
tuelle fieberhafte Hast und Behendigkeit. Drei geflügelte Weibchen
waren darunter. Die Männchen, an ihren leierförmig gekrümmten
168 R. Stumper, Formicowenus nitidulus Nyl.
Antennen leicht erkennbar, machten zahlreiche Kopulationsversuche,
wobeı sie sich im blinden Eifer der sexuellen Aufregung sogar an
Arbeiterinnen klammerten. Manchmal trug eine Schlepperin zwei
Männchen übereinander einher. Nach etlichem Suchen fand ich die
napfförmigen Nestchen in den Zwischenwänden des Wirtsnestes
eingebaut. Zwei Kolonien mit Brut entdeckte ich in zwei leeren
Schneckenhäuschen (Helix nemoralis?). Dies ist ein Analogon
des Wasmann’schen Cetonia-Larvengehäuses.
Die Anzahl kleiner Zweigkolonien von Formicoxenus, von je
etwa 60—100 Einwohnern ıst sehr groß. Im selben Wirtshaufen
findet sich also eine mehr oder minder große Anzahl von „Einzel*-
wohnungen dieser Pygmäen.
Versuch 1. Etliche (ca. 20) Formicowenus wurden in eine
Polyergus-Formica glebaria-Kolonie (in einem Lubbock-Nest ein-
quartiert) gesetzt. Sie wurden von Polyergus sowohl wie von For-
mica glebaria völlig ignoriert.
Versuch 2. Eine Handvoll Nestmaterial wurde in eine Schachtel
geschüttelt, sie enthielt viele Gastameisen. Die pratensis wurden
mit der Pinzette sorgfältig herausgelesen. Die Formicoxenus
blieben wohl und munter, sie trugen ihre Brut zusammen, wobei
sich auch die Weibchen aktıv beteiligten. Verschiedentlich sah ich
Kopulationsversuche, wie in freier Natur. Außerdem war ich
staunender Zeuge von allerliebsten Spielszenen. Etliche dieser
niedlichen Ameisen balgten sich eine Zeitlang umher, eine Arbeiterin
zerrte an der anderen, die sich sträubte oder sich schleppen ließ,
eine andere faßte einen Arbeiter am Bein oder an den Mandibeln,
sie kollerten über- und nebeneinander, bis einer der Spielgefährten
davonlief um gleich wieder mit einem anderen diese possierliche
Rauferei aufzunehmen. Es handelt sich hier nicht um einfache
Kopulationsversuche, sondern um die bei den Ameisen vorkommen-
den Spiele, über die Gould, Huber, Forel und Wasmann be-
richten. Wir können sie als eine Regulation der Muskel-
energie betrachten und möglicherweise bildet die Hitze den
äußeren auslösenden Reiz. Das künstliche Nest ging mir nach
32 Tagen infolge Trockenheit zugrunde.
Versuch 3. Ich setzte einige indifferent geduldete Gäste von
Formica rufa resp. pratensis (und zwar: Thiasophila angulata, Noto-
thecta anceps und Leptacinus formicetorum) zu einer Anzahl For-
micoxenus. Sie wurden von diesen völlig ignoriert, was also dies-
bezügliche Beobachtungen Wasmann’s bestätigt.
Kolonie 7 und 8: Siehe weiter unten. “
Kolonie 9, 10 und 11: Kleine pratensis-Nester, enthielten sehr
wenige Gastameisen, vorwiegend Weibchen und zwar Macro-
synen.
R. Stumper, Formicowenus nitidulus Nyl. 169
Kolonie 13: Isoliert gelegenes Rufa-Nest, ohne Gastameisen.
Kolonie 7. 8. 14. 15. 16. 17. 18: Sämtliche Nester befinden
sich auf einem kleinen, ca. 300 m? messenden Areal; sie sind eng
benachbart und sie wurden deshalb besonders gründlich untersucht.
Kol. 7 ıst um 2 m von Kol. 8 entfernt, Kol. 17 und 18 nur etliche
Schritte von 16 und 15.
Kol. 16 bildet wiederum eine Zentralkolonie, mit annähernd
dem gleichen Zahlenverhältnis wie Kol. 6 (28:25 prat. zu Formie.).
Dieses Nest bildet einen typischen pratensis-Haufen, der über einen
ganz durchminierten Kiefernstrunk angelegt ist. Dieser Bau wurde
am 28. VIII. 17 gründlich durchsucht. Geflügelte Weibchen fehlten
gänzlich, Kopulationsversuche waren wegen der fortgeschrittenen
Jahreszeit seltener. Kol. 16 bot mir eine besonders günstige Ge-
legenheit, den Nestbau und die Verbreitung der Kolonien im
Wirtsnest näher zu studieren.
Es ist notwendig hier eine kurze Darstellung der Architektur
der Ameisenhaufen vorauszuschicken. Diese konischen Bauten
setzen sich aus zwei Hauptteilen zusammen, dem eigentlichen
Oberneste und dem tieferen Erdneste. Das Obernest bildet
den allgemein bekannten „Ameisenhaufen“. Das Erdnest kann
durch Steingeröll oder durchnagte Baumstrünke (Kol. 16!) ersetzt
resp. ergänzt werden. Ein Vertikalschnitt durch das Obernest zeigt
uns eine periphere Schicht mit den trichterförmigen Nest-
öffnungen. Diese Schicht besteht namentlich aus zusammengelegten
Koniferennadeln. Unter dieser Nestdecke folgt eine kompaktere
Schicht, die die Galerien enthält. Sie ıst aus feinerem Material
gebaut und mit Erdkrümchen zusammengebacken. Gegen das Zen-
trum hin gdewinnt gröberes Baumaterial die Oberhand. Dickere und
längere Zweiglein, Halme, Blattstiele u. s. w. bilden die Säulen und
Wandungen der Brutkammer®). Darunter folgt das Erdnest’).
Die Formicoxenus-Nester bilden, wie schon bemerkt, kleine
Höhlungen, die aus feinerem Material gebaut sind und deren
Miniaturgänge frei in die Galerien des Wirtsnestes münden. Die
Zahl dieser Zweignester ist verschieden und hängt von der Gesamt-
zahl der Gastameisen ab. In einer Scholle Nestmaterial von ca. 10 cm
Durchmesser fand ich 11 solche Näpfchen, von denen einige auch
6) Siehe hierzu Forel: Fourmis de la Suisse p. 187ff. und die klassischen
Darstellungen P. Hubers.
7) Eine an Kol. 20 vorgenommene Messung ergab folgende Resultate. Ge-
samthöhe vom steinigen Erdnest bis zum Gipfel des Haufens 45 cm.
Äußere periphere Deckschicht 6 cm,
mittlere feinere Galerieschicht 14173.
innere gröbere Schicht 25 ER
Diese Maße ändern sich natürlich mit den Gesamtdimensionen (resp. Alter) des Nestes.
10 . R. Stumper, Formicowenus nitidulus Nyl.
untereinander in Verbindung standen. Ich bemerkte nun die
Gesetzmäßigkeit, daß die Formicoxenus-Nestchen ausschließlich
in der subperipheren Schicht angelegt sind und zwar mit Vor-
liebe in den Flanken des Haufens. Im Erdneste fehlt Formico-
zenus ganz.
Nebenstehende Fig. 12 zeigt den halbschematischen Vertikal-
schnitt durch Kol. 16. A ist der Nestbezirk einer Solenöpsis fugax-
Kolonie. BD, == Kiefernstrunk. 1 sind die napfförmigen, mit Vorliebe
in der subperipheren Schicht angelegten normalen Formicoxenus-
Nester; 2 sind Nestchen, die zwischen der Schuppenborke des
Kiefernstrunkes gelegen sind, wie wir sie so häufig bei Leptothorax
acervorum und L. muscorum finden; 3 endlich veranschaulichen reine
Holznester, die ins Holz genagt sind. Fig. 13 zeigt einen Horizontal-
Querschnitt durch ein solches Holznest. aa = die Galerien der
pratensis ım Kiefernstrunk. Man sieht die Kammern und den feinen
Fig. 13.
Gang, der zu einer Galerie des Wirtsnestes führt. Diese Holz-
resp. Borke- und Rindenester legen eine biologische Verwandtschaft
mit Leptothorax nahe; beide gehören übrigens dem Tribus der Myr-
mich an.
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl. 1
Eine besonders merkwürdige Tatsache besteht in dem gänz-
lichen Fehlen der Formicoxenus ın den Nachbarkolonien 7,14 u. 17,
trotz allernächster Zentralkolonie. Ich fand keine Spur von Gast-
ameisen in diesen Bauten. Wie können wir uns diese höchst eigen-
tümliche Tatsache erklären? Anfangs glaubte ich die natürliche
Ursache gefunden zu haben ın dem Vorkommen der kleinen, kampf-
lustigen Solenopsis fugax ın den Kol. 14 und 17. Hiergegen spricht
jedoch das Vorhandensein der Diebsameisen in Kol. 16 (s. Fig. 12),
sowie das Fehlen derselben ın Kol. 7. Die Lösung des Problems
liegt höchstwahrscheinlieh ın dem Zufall, der die Infektion der
ersteren Kolonie herbeiführte. Außerdem können lokale Nest-
vorteile die Auswanderung der Formicoxenus verhindern, so daß
selbst Nachbarkolonien von ıhnen frei bleiben. Hiermit berühren
wir das Entstehen gewisser Zentralkolonien von Formico-
xenus, wo das Zahlenverhältnis zwischen Gast und Wirt sich nähert.
Um dieses Phänomen kausal zu erklären, müssen wir etwas weiter
ausgreifen und nach ähnlichen Erscheinungen aus der Myrmekophilie
suchen. So finden wir denn auch, daß die sogen. Zentralkolonien
gewisser Ameisengäste temporär oder permanent sein können.
Temporäre Zentralisation‘) kennen wir bei Atemeles und
Lomechusa, die sich zur Paarung ın bestimmten Wirtskolonien an-
sammeln. Beispiel”): Herr V. Ferrant fand bei Remich (Luxem-
burg) eine solche Paarungsversammlung von 30 Atemeles paradoxus
in einem Formica rufibarbis-Nest.
Permanente Zentralisation kann beruhen auf der Inı-
tıiatıive der Wirte oder der Gäste. Daß man z. B. größere
Atemeles-Arten (A. pubrcollis, pratensorides u. Ss. w.) gewöhnlich nur
in einer oder wenigen Kolonien der betreffenden Formica-W irte
findet, hat größtenteils seine Ursache in der Initiative der
Wirte, die schon an die Atemeles-Zucht gewöhnt sind. Beispiel!P):
60 Atemeles pratensoides in einem pratensis-Haufen (W asmann).
Jedoch ist in den meisten Fällen die Initiative auf seiten der
Gäste, besonders bei den indifferent geduldeten, zu denen ja auch
Formicoxenus nitidulus gehört. So bildet die Zentralisation dieses
Synoeken ein komplizierteres Problem als es den Anschein hat
und man muß bei eingehender Analyse vorsichtig zu Werke gehen.
Eine Hauptursache dieser Erscheinung liegt jedenfalls in der In-
zucht. Befruchtete Ameisenweibehen werfen mehr oder weniger
bald nach der Kopulation die Flügel ab, so daß siean einen engeren
Erdkreis gebunden sind. Bei Formicoxenus ist die Inzucht obliga-
8) Siehe Wasmann, Nr. 205, an versch. Stellen.
9) Vgl. Wasmann, Nr. 168, S. 82 (u. a. a. O.).
10) Vgl. Wasmann, Nr. 149, 168 (s. 15) u. s. w.
ME NEN
S
172 R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl.
»
torisch, die befruchteten Weibchen werfen also im Mutternest schon
die Flügel ab und müssen so dort verbleiben. Sie schrauben mit
der Zeit die Einwohnerzahl herauf und die Zentralkolonie ist in
voller Entwicklung. So lernen wir also auch die Infektions-
dauer als wirkenden Faktor der Zentralisation kennen. Außer
diesen zwei Hauptursachen kommen dann noch notwendigerweise
lokale Faktoren hinzu wie: Bestimmte Nestvorteile (Kol. 16),
günstige Lage (Kol. 6) und isoliert gelegene Wirtskolonie
(+ Kol. 6). Geht mit der Zunahme der Gastameisen eine Ver-
größerung des Wirtshaufens parallel, so ıst die Zentralisation noch
wesentlich gefördert. In allen diesen Fällen ist also eine Initia-
tive von seiten der Wirte auszuschließen und wir können
zwei Hauptfaktoren: Inzucht:und Infektionsdauer annehmen,
deren zentralisierende Wirkung je nach den Umständen durch
lokale Ursachen ersetzt resp. ergänzt wird.
Versuch 1. Am 26. VIII. 17 isolierte ich eine kleine, etwa
25 Individuen zählende Formicoxenus-Kolonie. Als Nahrung gab
ich eine zerquetschte pratensis-Larve, sie wurde fast vollkommen
ignoriert. Nur selten berührte eine Gastameise den austretenden
Saft, die Larve verschimmelte.
Versuch 2. Am 3. IX. 17 gab ich derselben Kolonie einige
Tropfen Zuckersirup, welcher beleckt wurde, jedoch nicht be-
sonders eifrig! Die Ameisen entwichen durch eine Öffnung.
Versuch 3. Am 28. VIII. 17 entnahm ich eine größere An-
zahl (ein Leinensäckchen voll Nestmaterial) Gastameisen der Kol. 16.
Nach Entfernung des gröberen Nestmaterials quartierte ich sie in
eine Blechschachtel ein. Nachdem ich sie bis zum 5. IX. 17 hungern (?)
gelassen hatte, gab ich zwei zerquetschte pratensis-Larven ins
Nest. Die Formicoxenus begannen sofort eifrigst den Saft aufzu-
lecken. Etwa 17 dieser Tierchen standen ım Kreis um den Saft-
tropfen herum, und man sah ihre Mundteile in eifriger Leckarbeit,
Bei sämtlichen Individuen bemerkte ich eine eigentümliche zitternde
Bewegung des Abdomens während des Aufleckens.
Versuch 4. Am 19. VIII 17 gab ich ihnen eine zerquetschte
Traubenbeere. Dieselbe Szene.
Versuch 5. Verdünntes Zuckerwasser wird mit gleicher Gier
aufgeleckt.
Versuch 6. Einfacher Honig dagegen wird kaum geliebt.
Einige Gastameisen leckten wohl hie und da daran, jedoch ohne
besondere Sympathieäußerung. Nach einigen Tagen wird der Honig
ignoriert. 2
Diese Versuche zeigen uns
1. daß Formicoxenus unterschiedslos tierische oder pflanz-
liche Nahrung zu sich nımmt,
R. Stumper, Formieoxenus nitidulus Nyl. 415
2. daß sie jedoch flüssige Nahrung einer sirupösen,
konsistenteren vorziehen.
Die Tatsache der Vorliebe für flüssige Nahrung brachte mich
auf den Gedanken, daß vielleicht das Durchsickerungswasser -
der Ameisenhaufen den Gastameisen als Nährquelle (!) dient. Es
steht fest (Adlerz, Forel, Wasmann u.a m.), daß For-
micoxenus sich nicht — wıe etwa Leptothora.w Kmersoni von Myr-
mica brevinodis — von seiner Wirtsameise füttern läßt. Um
jedoch über die angedeutete Idee entscheiden zu können, ließ ich
alle Spekulation beiseite und wartete Regen ab.
Kolonie 19, 20. 21 und 22: Nach 5 Tagen Regen begab ich
mich auf die Suche und ich entdeckte obige Kolonien am 3. Okt. 1917.
Diese pratensis-Nester liegen auf einem grasigen, mit Eichen- und
Berberitzengestrüpp bewachsenen Erdstrich. Ich fand hier die Tat-
sache, daß die Formicoxenus vorzugsweise sich in der subperipheren
Flankenschicht anbauen, besonders klar bestätigt. Kol. 19 und 20
sind Zentralkolonien. In 20 fand ich wiederum eine kleine Kolonie
in einem leeren Schneckenhaus. Außerdem_entdeckte ich in sämt-
lichen Haufen kleine Formicoxenus-Nester, die sich (zwischen die
bastartigen Blätter angelegt) am Grunde von dürren Blattbüscheln
einer wilden Allıum-Art befanden.
Ich konstatierte mit Freuden, daß sämtliche Formicoxenus
einen aufgetriebenen Hinterleib hatten, wie es bei den Ameisen
nach reichlicher Nahrungszufuhr immer vorkommt. Sıe zeigten
sogar größtenteils die weißen Intersegmentbänder. Dagegen war
diese Erscheinung bei den pratensis-Wirten fast gar nicht ausge-
drückt (ca. 3%,!); woraus eine gewisse Vorliebe der Formicoxenus
für das Siekerungswasser zu ersehen ist.
Hier kommen jetzt einige physiko-chemische Über-
legungen in Betracht.
Das Regenwasser ist bekanntlich das reinste natürliche
Wasser; als solches hat es einen minimen osmotischen Druck
und ein hohes Lösungsvermögen. Kommt es nun zur Erde, so
sättigt es sich mit den. Bodensalzen, die je nach der geologischen
Formation variieren. Trifft es nun aber einen Ameisenhaufen, so
sind die Verhältnisse wesentlich verschieden. Die relativ lockere
Struktur gibt Anlaß zu Kapillaritätsphänomenen, zu denen sich kolloi-
dale Quellungserscheinungen gesellen. Das Wasser sättigt sich mit
den Bodensalzen (Karbonaten, Phosphaten u. s. w.) und nimmt auch
organische Stoffe auf. Letztere entstehen durch bakterielle
Einwirkung auf die pflanzlichen Stoffe, die so aufgeschlossen
werden (Salze der Humussäuren?). Diese mineralischen und be-
sonders die organischen Stoffe bieten also einen gewissen Nähr-
wert; so können wir denn bis zu einem gewissen Grade diese Nähr-
Y
174 R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl.
quelle für Formicoxenus annehmen!!). Es begreift sicht jetzt auch
das Vorkommen der Formicoxenus in der subperipheren Schicht.
V. Die hypothetische Stammesentwieklung der Gastameise.
Nachdem wir die eigentümliche Lebensweise und die merk-
würdigen morphologischen Formen von Formicowenus sitidulus
näher beleuchtet haben, stellt sich die Frage: Wie erklären wir
uns diese Tatsachen ? |
Zuerst müssen wir die biologische Phylogenese des Gastver-
hältnisses zu den acervicolen Formica-Wirten darzulegen ver-
suchen. Formicoxenus gleicht morphologisch den Leptothora.x-Formen,
biologisch erinnern sie auch an diese Ameisen und zwar durch ihre
Holz- und Rindenester, die ja bei Leptothoraxw acervorum, muscorum
u.s. w. die Regel sind. Außerdem neigen die heutigen Zeptothoraz-
Arten zur Bildung von zusammengesetzten Nestern mit anderen
Ameisen !?). Man ist somit berechtigt, das jetzige Gastverhältnis
von Formicoxenus nitidulus mit Wasmann (L. V, S. 225) aus einer
zufälligen Nachbarschaft mit haufenbauenden Formica-Arten ent-
stehen zu lassen. Die Vorteile, die das neue Nest den Formicozxenus-
Vorfahren bot, erklären ferner, daß sich bei diesen Ameisen sodann
das Engramm erblich fixiert hat, sich regelmäßig in den Bauten
dieser Wirte niederzulassen.
Das evolutionstheoretische Problem der ergatoiden Männchen
und der ergatogynen Mischformen ist viel schwieriger und kompli-
zierter. Es ergeht uns hier genau so, wie beim Betrachten eines
modernen impressionistischen Gemäldes. Von weitem stellt es eın
harmonisches Ganzes dar, das beim Nähertreten in ein wirres Durch-
einander von Farbenklecksen zerfließt. Ebenso stoßen wir bei einer
näheren Analyse der einen oder der anderen Deszendenztheorie auf ein
Labyrinth von Komplikationen und Widersprüchen, während von
weitem betrachtet die eine oder die andere Erklärung uns voll-
kommen befriedigt, indem sie unserer Phantasie reichlich Platz zu
Kombinationen läßt. Und so verstehen wir, daß uns eine einzige
Richtungstheorie nicht ausreicht.
Wasmann(L. V, S. 225) erklärt die Entstehung der ergatoiden
Männchen bei Formicoxenus ‚durch die Naturalselektion; sie sind
durch Variation entstanden und werden durch die Naturzüchtung
weiter differenziert, indem sie den Vorteil der Aufgabe des
11) Daß diese Frage hiermit nicht abgeschlossen ist, ist selbstverständlich. Ich
bin momentan damit beschäftigt einige chemische Untersuchungen (qualitative und
quantitative) darüber anzustellen, die noch weiteres Belegmaterial bringen werden.
12) Wasmann, Nr. 177, S. 494—495. — Forel, Faune myrmecologique des
Noyers. Bull. Soc. Vaud. 1909.
RE 54 ”
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl. 175
Hochzeitsfluges haben. Er spricht sich jedoch nur mit äußerer
Reserve für diese Erklärungsweise aus; denn mit der Aufhebung
der Irrfahrten, die der Hochzeitsflug mit sich bringt, begünstigt
das flügellose, ergatoide Männchen die ungemein schädliche
Inzucht. Die Zuchtwahl kann nur nützliche Charaktere be-
günstigen, sie setzt außerdem die problematische Bedingung einer
erblichen Variation voraus. Sodann kann man noch folgende
Objektionen machen: Warum hat sich bei allen Ameisenarten der
Hochzeitsflug noch nicht durch ergatoide Männchen in Inzucht ver-
wandelt? Warum bildet Formicoxenus mit einigen anderen Arten
gerade die „vorteilhaftere“ Ausnahme? Wir sehen hiermit ein,
daß die Darwin’sche Selektionstheorie nicht auf die Gastameisen
anwendbar wird.
Dagegen hat die direkte Anpassungstheorie mehr Wahrschein-
lichkeitsmomente für sich. Emer y'?) nımmt die ergatoiden Männchen
als reine Adaptationsprodukte an, „deren Grund und Bedeutung
uns noch unbekannt bleibt“. Diese von Emery eingeschlagene
Richtung scheint uns die richtigere und wir können somit versuchen
den direkten Einfluß der Umgebung resp. der Lebensweise ın seine
Faktoren zu zerlegen. Zu einer weiteren Analyse müssen wir not-
gedrungen unser Feld ausdehnen und Analogiefälle heranziehen.
So finden wir ergatoide Männchen bei folgenden Ameisengattungen:
Formicoxenus,
Symmyrmica,
Cardiocondyla,
Ponera.
‘Dem gemeinsamen ergatomorphen Charakter ent-
spricht der gemeinsame biologische Charakter kleiner
Kolonien. Diese Tatsache bildet den Ausgangspunkt der weiteren
Darlegungen. Rein theoretisch betrachtet ıst für solche Ameisen
die Inzucht als normale Begattungsweise anzusehen. In praxi ist
sie jedoch noch nicht sicher festgestellt. Forel spricht sich schon
im Jahre 1874 für die Inzucht bei den, in kleinen Gesellschaften
lebenden, Leptothorax-Arten aus. Auch sprechen einige Neuenstädter
Funde (gleichzeitiges Vorkommen der beiden Geschlechter von
Leptothorax tuberum var. affinis) für diese Annahme. Dieses legt
die Idee nahe, den Ergatomorphismus mit der Inzucht in
ursächlichen Zusammenhang zu bringen. Wie verhalten sich
unsere bekannten ergatomorphen Ameisenarten hierzu? Die bei-
folgende Tabelle gibt uns hierüber den gewünschten Aufschluß:
13) ©. Emery. Zur Kenntnis des Polymorphismus der Ameisen. Biolog.
Zentralblatt, 1906, S. 35.
38, Band 13
176 R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl.
Ameisenart Ergatomorphe: | Inzucht
B. ann
Formicoxenus nitidulus Nyl. . . . | dd u. 99 ‚ obligatorisch
Symmyrmica chamberlini Wh. . . | dd (u. 99) id.
(ardiocondyla-Arten (stambuloffi Fw. |
TEN DE dd. | id.
Ponero®eduandiMor..,.. waere dd 17
Ponera punctatissima Rog. . . . . Ed | id.
Poneravergatandria ‚For... :... 2... dd 1d.
Anergates atratulus Schenk. . . . dd u. 99 id.
Polyergus rufescens Latr. . :.... 00 fakultativ
Harpagoxenus sublaevis Nyl. . . . 99 id.
Leptothorax acervorum F.. . . . . 99 | id.
Leptothorax Emerson! Wh. . . . . 99 | id.
Leptothorax glaciais Wh. . . . . 09 | 1d.
U.S.Ww. |
|
Es sınd in obiger Tabelle die ergatogynen Mischformen mit in
Betracht gezogen. Über die näheren diesbezüglichen Verhältnisse
von Wheeleria, Epoecus, Sympheidole, Epipheidole, Anergatides u.a. m.
bedürfen wir noch weiterer Forschung. Die obige inkomplette
tabellarische Übersicht berechtigt uns ine Zweifel zur Schlußfolge-
rung eines kausalen ne zwischen dem Er
phismus und der Inzucht'*). Mit dieser Erklärung haben wir den
Entwickelungsprozeß der Ergatomorphie vom unsicheren Boden- der
Hypothesen auf den festen Grund tatsächlicher, noch aktuell wir-
kender Faktoren geführt. Diese Methode ıst von nicht zu unter-
schätzendem Vorteil und wir lesen über sie folgende Zeilen ’):
„... le naturaliste‘qui croit en la variation indefinee de l’espece,
peut et doit se demander sous quelles influences les &tres vivants
out acquıs leur organısation actuelle, ıl est amen& a penser que les
causes qui ont agı autrefois agissent encore aujourd’hui; ıl n’a aucune
raison de supposer que notre planete joue un röle priviläegie dans
’univers, que la nature qui nous entoure n’a d’autre raison d’etre
que de servir de cadre a l’'homme et que l’Epoque oü nous vivons
differe essentiellement des &epoques passees; il doit rechercher les
causes naturelles des transformations produites et peut esperer que
la connaissance du present l’aidera a penetrer les mysteres du passe.“
14) Für die ergatoiden Weibchenformen kommen noch andere Momente
in Betracht, die der primären Ursache der Inzucht aber nicht den Rang ab-
laufen.
15) Leclere du Sablon, Les incertitudes de la Biologie, 1914, S.
R. Stumper, Formicoxenus nitidulas Nyl. 177
Wir sehen in den ergatoiden Männchen von Formicoxenus '°)
nitidulus eine Endfunktion eines natürlichen Entwicklungsprozesses,
und wir müssen suchen durch die Differentialrechnung der aktuellen
Größen die Funktion möglichst klar auszudrücken. Für die Gast-
ameise gestaltet sich der Entwickelungsgang, dessen Basis die In-
zucht ist, nun folgendermaßen:
a) Als grundlegender Faktor für das Zustandekommen der
ergatoiden Formicoxenus-Männchen nehme ich innere organische
Eigentümlichkeiten seiner Vorfahren an. Als Stammform der For-
micoxenus kommen Leptothorax resp. Leptothorax-Ahnen in Betracht.
Leptothorax ist im baltischen Bernstein (unteres Oligocän) schon
mit fünf Arten vertreten!”); man kann somit die Differenzierung
der Leptothora:- -Formengruppe als posttertiär bezeichnen.
Die Annahme einer gewissen Prädisposition ist nichts mystisches,
sondern eine reelle he deren heutiger Ausdruck die geringe
Verschiedenheit des Weibcehens und des Arbeiters, sowie
eine bestimmte Tendenz zu einer polymorphen Auflösung
sind (z. B. Leptothorax acervorum). Diese Grundlage stellt somit den
Anknüpfungspunkt zu einer Entwicklung der ergatoiden Männchen
von Formicoxenus dar. Da die Variabilität eine primordiale Eigen-
schaft des lebenden Protoplasmas ist, könnte man diesen ersten
Faktor darauf zurückführen. Ich unterlasse es hier aus dem ein-
fachen Grunde einer besseren Übersicht.
b) Als direkter treibender Faktor kommt sodann dieln-
zucht in Betracht; diese Begattungsweise übt einen unmittel-
baren Einfluß auf die Koimeinlagen aus, der die ergatomorphe
Tendenz auf die Männchen übertrug. Die schädliche Wirkung der
Inzucht ist in der Zoobiologie wohl allgemein angenommen; wir
begreifen also, daß sie einen schädlichen Charakter wie die Ergato-
morphie, die die normale Befruchtungsweise gänzlich verdrängt,
ausbilden kann. Während bei einer selektionistischen Erklärungs-
weise die Inzucht als sekundäres Produkt auftritt, und
zwar in diesem Falle als eine „Überentwicklung“ im Sinne Dahl’s,
kommt ihr in unserer Hypothese eine primär dirigierende
Rolle zu.
c) Außer dieser direkten Wirkung der „Adelphogamie“, gıbt sie
noch zu einem zweiten akzessorischen Einfluß Anlaß. Es
tritt bei einmal entstandenem Dimorphismus des Formicowenus-
16) Es liegt mir fern, alle in der Tabelle angegebenen Konvergenzfälle nach
ein und demselben Schema erklären zu wollen. Allen ist jedoch ein Faktor ge-
meinsam: die Inzucht; die weitere Differenzierung des ergatomorphen Cha-
rakters hängt, wie wir sehen werden, auch von sekundären Einflüssen ab.
x 17) W. M. Wheeler. The Ants of the Baltie Amber. Schriften der Phys.
Ökonom, Gesellsch. zu Königsberg 1915 (S. 4 und 63ff.).
3
2
178 R. Stumper, Formicoxenus nitidulus Nyl.
Männchens ein gewisses selektionistisches Moment in Kraft und
zwar in Gestalt der physiologischen Segregation!®), dieser
Entwicklungsfaktor wirkt positiv, indem er durch Auto-
mixis die ergatomorphen Charaktere häuft und negativ,
indem er die vernachlässigten geflügelten Formen aus-
merzt.
Ob die Formicoxenus-Männchen nun durch eine sprungweise
Variation oder durch langsame, kontinuierliche Entwickelung ent-
standen sind, ist sich gleich. Die Hauptsache ist jedenfalls, die In-
zucht als wirkenden Faktor angenommen zu haben. Möglicherweise
kommt der halbparasitären Lebensweise der Gastameisen auch ein
modifizierender Einfluß zu.
Fassen wir somit die phylogenetischen Resultate kurz zusammen,
so finden wir zuerst den folgenden hypothetischen Stammbaum von
Formicoxenus nitidulus:
Leptothora.x-V orfahren
x
Formicowenus
Y
Heutige Leptothora.x-Formen. Fig. 14.
Sodann haben wir den modifizierenden Einfluß der Inzucht an
einem hübschen Beispiel klargelegt. Zum Schluß ziehen wir die
Folgerung, daß bei evolutionstheoretischen Betrachtungsweisen nicht
ausschließlich eine oder die andere Richtungstheorie ausreicht,
sondern daß alle diese Theorien unter dem Namen Naturgesetze
sich gegenseitig unterstützen und ergänzen.
Anmerkung bei der Korrektur: Ich habe mittlerweile ın
Erfahrung gebracht, daß der variationsbildende Einfluß der Inzucht
durch ein hübsches experimentelles Beispiel an Vanessa levana-prorsa
zu Zürich klargelegt wurde.
18) Romanes, J. T. Physiological selection 1885 (London).
EN a
r .
a
R. Stumper, Formicoxenus nitidulus. 179
Über die Entwicklung der Ergatogynen wird später berichtet
werden,
Schlußfolgerungen.
Die Hauptresultate lassen sich summarisch in folgenden Sätzen
zusammenfassen:
I. Morphologisch-biologische Resultate.
a) Die statistische Karte zeigt, daß die Zentralkolonien ungefähr
b
)
e)
a ee
a)
u
den Mittelpunkt des Formicoxenus-Bezirkes bilden; sie sınd
vermutlich die primären Infektionsnester, von wo aus die Art
sich raketenartig weiter verbreitet hat.
Die sogen. Zentralkolonien sind eine direkte Folge der In-
zucht, der Infektionsdauer, zu welchen Faktoren sich dann
lokale Vorteile gesellen können.
Der Nestbauinstinkt von Formicoxenus ist nicht starr fixiert,
sondern er zeigt ein gewisses plastisches Modifikationsver-
mögen, indem die Gastameisen bestimmte Vorteile (Schnecken-
häuschen u.s. w.) auszunützen verstehen.
Als Nahrung ist für Formicoxenus bis zu einem gewissen Grade
das Durchsickerungswasser anzusehen (Biologische und physiko-
chemische Wahrscheinlichkeitsmomente).
Il. Phylogenetische Resultate.
Die Verwandtschaft von Formicoxenus mit Leptothorax, die
schon morphologisch ziemlich klar ausgedrückt ist, wird durch
die Holz- und Rindenester der ersteren biologisch bestätigt.
Der hypothetische Entwicklungsprozeß der Formicoxenus-
Männchen ist folgender: Direkte dirigierende Momente sind
Prädisposition und Inzucht. Mehr oder weniger mittelbare
Faktoren sind Automixis und die halbparasitische Lebensweise.
.
180 Fr. Zacher, Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung. 3
Referate.
Fr. Zacher. Die Geradflügler Deutschlands und ihre
Verbreitung.
Systematisches und synonymisches Verzeichnis der im
Gebiete des Deutschen Reiches bisher aufgefundenen
Orthopteren-Arten (Dermaptera, Oothecaria, Saltatoria).
S. I-VIII, 1--288, mit einer Verbreitungskarte. Jena 1917. Gustav Fischer.
Preis M. 10.—.
Verfasser gibt eine Zusammenstellung der einheimischen Orthop-
teren mit Aufführung der Synonymik und der Verbreitung. Solche
systematisch-tiergeographischen Zusammenfassungen aller Arten
einer Tiergruppe sind für den deutschen Faunisten stets von det
allergrößten Wichtigkeit und es wäre zu wünschen, daß recht bald
die ganze deutsche Fauna in entsprechender Weise von Spezialisten
behandelt würde. Noch willkommener wäre vielleicht das Werk
manchem gewesen, wenn kurze Diagnosen oder Bestimmungsschlüssel
beigefügt wären.
Verfasser gibt nun aber wesentlich mehr, als er in dem Titel
verspricht: Einen umfanglich geringeren, inhaltlich aber durchaus
nicht minder wichtigen Teil schickt er voraus, der allgemeinere
Fragen enthält und deshalb hier etwas näher besprochen sein mag.
Nachdem Verfasser im Kap. 1 einen Überblick über die Arbeiten
früherer Forscher gegeben hat, wendet er sich in Kap. 2 zu Aus-
führungen über den Artbegriff: Der Artbegriff Lotsy’s, der auf
der Unmöglichkeit der Vererbung erworbener Eigenschaften sich
gründet und nach dem die Verschiedenheit auch nur einer einzigen
Erbanlage, eines Gens, die Zugehörigkeit zu verschiedenen Arten
bedingt, ist für die Praxis der Orthopterensystematik nicht an-
nehmbar. Wenn sich die zahllosen Färbungsspielarten mancher
Gruppen als genotypisch verschieden herausstellten, was nach
Untersuchungen von Nabour und Beobachtungen von Karny,
Wheeler und Hancock nicht unwahrscheinlich ist, so müßten
manche der jetzigen Species in eine unübersehbare Reihe von Arten
aufgelöst werden. Andererseits geht entschieden Ramme zu weit,
wenn 'er den Färbungsabweichungen als „Zustandsformen“* jede
Bedeutung für die Systematik abspricht. Für die Praxis ist die
Definition Plates am brauchbarsten, der als Zugehörige einer Art
alle Individuen betrachtet, die mit der Artdiagnose stimmen, ferner
alle abweichenden Individuen, die mit ihnen durch häufig auf-
tretende Übergänge verbunden sind, mit ihnen im genetischen Zu-
Fr. Zacher, Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung. 181
sammenhang stehen oder mit ihnen durch Generationen fruchtbar
sıch paaren.
Doch auch da gibt es Schwierigkeiten: Manchmal sind heute
meist als gute Arten betrachtete Formen durch Übergänge ver-
bunden, oder bei uns getrennte Formen sind in entlegenen Teilen
des Verbreitungsgebietes durch Zwischenformen verknüpft. Bei
anderen Arten ist diskontinuierliche Variabilität vorhanden, indem
ohne Übergänge brachyptere und macroptere Formen auftreten.
Nach Beobachtungen des Verfassers kommen die kurzflügeligen
Formen besonders an feuchten Orten, die langflügeligen an trockenen
vor. Das stimmt auch im wesentlichen mit der Feststellung über-
ein, daß bei den Feldheuschrecken flugunfähige Formen ım Walde
überwiegen und in der trockenen Steppe fast ganz fehlen. Verfasser
sieht aber nicht, wie Morse in der Kurzflügeligkeit eine Anpassung
an das Leben im Walde, wo fliegen schwierig und unpraktisch
ist, sondern vermutet ihre Entstehung als Mutation durch unmittel-
bare Einwirkung der Feuchtigkeit, wie ja auch bei Hautflüglern
Flügellosigkeit durch Einwirkung von Kälte auf die Puppe sich er-
zıelen läßt.
Die Veränderlichkeit in der Färbung machen die Orthopteren
besonders geeignet für Studien über Vererbung, Variabilität und
Anpassung: Gering ist die Variabilität bei den Dermaptera, Oothe-
caria, Locustodea und Gryllodea. Bei den im Verborgenen lebenden
Formen, wie Öhrwürmern und vielen Schaben, ist die geringe Ver-
änderlichkeit leicht verständlich. Größer ist sie schon bei solchen
Blattiden, die sich im Sonnenschein tummeln und besonders groß
ist sie bei den Acridoidea. Hier zeigt sich, daß die Variabilität ın
ganz bestimmten Bahnen verläuft und daß bei einer Reihe. von
Arten ein gewisser Paralllelismus der Farbenabweichung auftritt.
Man findet eine weitgehende habituelle Ähnlichkeit mancher ım
übrigen gut unterscheidbarer Arten, die auf demselben Substrat
leben, so daß man zu der Auffassung kommt; daß die Färbung
durch die Lebensweise bedingt wird. Die bunte Farbe von Teilen,
die in der Ruhe verborgen getragen, in der Bewegung aber gezeigt
werden deutet Vosseler als Kontrastmimikrie, Morse als Sıgnal-
farben für Artangehörige, besonders des anderen Geschlechts; Ver-
fasser aber bestreitet beide Ansichten und nimmt physiologische
Gründe für sie an. So zeigt sich in bestimmten Fällen, daß blaue
Farben der Hinterflügel an einen geringeren Feuchtigkeitsgrad des
Klimas, rote an einen höheren gebunden sind.
Nachdem Verfasser (Kap. 3) die Zahl der deutschen Gerad-
flügler (94 sichere und 11 unsichere Arten) sowie ihre Verteilung
auf die einzelnen Ordnungen und Familien besprochen hat, wendet
er sich im nächsten Kapitel zu den Arealen der Arten und der
Einteilung Deutschlands in faunistische Gebiete: Mehr als die
Hälfte sind über ganz Deutschland verbreitet und die meisten von
diesen bewohnen ein Gebiet vom mittleren Sibirien bis nach
Frankreich oder bis zur spanischen Grenze. Die anderen Arten
EN ET
189 Fr. Zacher, Die Geradflügler Deutschlands und ihre Verbreitung.
: fehlen ın größeren oder kleineren Teilen Deutschlands. Man kann
das Gebiet in folgende Areale einteilen: Alpengebiet, süddeutsches,
nordwestdeutsches und nordostdeutsches Gebiet.
Was die Frage der Herkunft der Deutschen Orthopterenfauna
betrifft (Kap.5), so kann man bei der großen Wärme- und Trocken-
heitsliebe der Tiere vermuten, daß nach Schluß der Eiszeit das
(sebiet so gut wie orthopterenleer war. Bei Beginn der Eiszeit
standen den weichenden Geradflüglern drei Rückzugsgebiete offen,
Südwesteuropa, die Länder um das schwarze Meer und Sibirien-Ost-
asien. Von dort sind sie dann später wieder eingewandert, so daß
wir eine südwestlich-lusitanische, eine südöstlich-pontische und eine
nordöstlich-sibirische Gruppe unterscheiden können. Wenn wir in
derselben Formation unter gleichen Lebensbedingungen 2—3 sehr
nahe verwandte Arten beobachten können, so ist anzunehmen, daß
es Nachkommen einer voreiszeitlichen einheitlichen Art sind, die
sich in den Rückzugsgebieten zu vikariierenden Arten ausgebildet
und später nach der Rückwanderung wieder auf dem gleichen Areal
getroffen haben. Die Rückwanderung ist in drei Perioden erfolgt,
von denen die letzte noch andauert. Von den diskontinuierlich
verbreiteten Arten sind einige als Relikte aus der Eiszeit, andere
als Vorposten von neueingewandernden Arten anzusehen.
Im 6. Kapitel untersucht Verfasser die „dynamischen Faktoren“
der Verbreitung, die Verbreitungshemmnisse, die Abhängigkeit vom
Klıma, Boden und Pflanzenwuchs und die Lebensgemeinschaften.
Dann bespricht er (Kap. 7) die Beziehung zu Menschen. Er gibt
hier eine Zusammenstellung des Auftretens von Wanderheuschrecken,
der, an und für sich recht geringen, Schädigungen durch Gerad-
flügler sowie der Einschleppung von lästigen Mitbewohnern der
menschlichen Häuser. Das Schlußkapitel des allgemeinen Teiles
behandelt das Auftreten der Orthopteren im Kreislauf des Jahres.
C. Zimmer, München.
ve von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. BE. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
Mai 1918 Nr. 5
ausgegeben am 31. Mai
38. Band
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: K. v. Frisch, Beitrag zur Kenntnis sozialer Instinkte bei solitären Bienen. S. 133.
P.N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Lilium Martagon S. 189.
A. Lipsehütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. S. 1%.
H. Henning, Zur Ameisenpsychologie. S. 208.
Beitrag zur Kenntnis sozialer Instinkte
bei solitären Bienen.
Von Karl v. Frisch, Wien.
Als ich gegen Ende des Monats Juli an einem regnerischen
Tage einen bewaldeten Höhenrücken entlang ging, der sich am Ufer
des Wolfgangsees hinzieht, bemerkte ich auf einer Waldblöße eine
kleine Ansammlung ameisenartiger Tierchen, die sich an einem aus
dem Grase aufragenden dürren Halme eng zusammengedrängt hatten.
Bei genauerem Zusehen erkannte ich sechs Männchen der solitär
lebenden Bienengattung Halctus; der dürre Halm war ein ver-
trockneter Blütenstengel der Komposite Buphthalmum salieifollum ;
das Blütenköpfchen war abgefallen, nur die kleinen Blätter saßen
noch verrunzelt da und dort am Stengel, und wo das oberste dieser
Blättchen vom Stengel entsprang, hatten sich die Bienen zusammen-
geschart (vgl. die Abbildung, welche das obere Ende des Stengels
darstellt). Sie rührten sich kaum, putzten sich nur ein wenig,
doch ab und zu wurde eine von ıhnen lebhafter, flog davon und
38. Band 14
184 K. v. Frisch, Beitrag zur Kenntnis sozialer Instinkte bei solitären Bienen.
beschrieb auf der Waldblöße einige Kreistouren, geriet wohl auch
ganz außer Sicht, doch binnen kurzem kam sie zurück und setzte
sich wieder an den alten Platz zu den übrigen. Eine von ihnen
fing ich. Die anderen wurden, als der Abend kam, immer stiller
und es störte sie auch nicht, als ich versuchte, sie durch wieder-
holtes Antippen an den Stengel aufzujagen. Erst ein kräftiger
Stoß ließ sie nach allen Seiten auseinanderstieben. Nun war ich
gespannt, ob ich sie überhaupt wieder zu Gesicht bekommen würde,
und wenn, ob sie sich dann auf dem gleichen Blütenstengel oder
auf einem der zahlreichen anderen niederlassen würden. Nach
2—3 Minuten kehrte die erste Biene zurück und flog nach einigen kurzen
Zick-Zack-Touren genau an den alten Platz, wo sie still sitzen blieb.
Nach etwa 5 Minuten kam die zweite und ließ sich an einem Punkte
des Stengels nieder, der um einige Zentimeter höher lag als der
frühere Versammlungsort. Hier bewegte sie sich unruhig hin und
her, flog wieder auf, kehrte zurück und geriet nun etwas zu tief
an den Stengel. Wieder ließ es ıhr keine Ruhe, wieder flog sie
auf und fand nun den richtigen Ort, wo sie sich neben die erste
Biene setzte, ohne sich mehr zu rühren. Nach kurzer Zeit kamen
rasch nacheinander zwei weitere Bienen zurück und gesellten sich
zu den früheren. Die fünfte (eine hatte ich gefangen) sah ich nicht
wieder.
Während der folgenden 3 Tage ging ich häufig nach jenem
Platze.. In den Morgen- und Abendstunden sowie des Nachts
konnte ich sicher sein, die Bienen an ihrem Halme versammelt zu
finden!). Tagsüber war ıhr Verhalten verschieden. Bei trüber
Witterung, die leider vorherrschte, blieben sie ruhig sitzen oder
beschränkten sich auf kurze Ausflüge. Doch wenn die Sonne durch
die Wolken brach, wurden sie lebhafter und flogen auf der Lich-
tung umher, wobei sie sich bald da, bald dort auf einen Zweig
oder ein Blatt setzten, mit besonderer Vorliebe aber immer wieder
an ihrem alten Plätzchen ruhten. Und als am vierten Tage der
Sonnenschein etwas dauerhafter wurde, flogen sıe alle davon und
1) Eine kleine Episode sei nebenbei erwähnt: Ich sah einmal gegen Abend
eine Schnecke, die wesentlich größer war als der ganze von den Bienen einge-
nommene Raum, den Halm hinaufkriechen. Diese saßen ganz still, die unterste mit
dem Kopfe nach abwärts und mit vorgestreckten Fühlern. Als die Schnecke beim
Aufwärtskriechen mit den Fühlern der untersten Biene in Berührung kam, wurde
sie von dieser mit den Fühlern betastet, worauf die Schnecke ihren Kopf zurückzog.
Als sie ihn wieder vorstreckte, versetzte ihr die Biene mit einem Vorderfuße einen
Tritt ins Gesicht, der ganz kräftig sein mußte, denn die Schnecke zog sich fast
ganz in ihr Haus zurück. Als sie dann von neuem vorwärts wollte, erhielt sie
wieder einen, und späterhin mehrere, rasch aufeinanderfolgende Fußtritte von seiten
der Biene, die sich nicht von der Stelle rührte. So ging es fort, bis ich den Stören-
fried entfernte,
K. v. Frisch, Beitrag zur Kenntnis sozialer Instinkte bei solitären Bienen. 185
ich bekam trotz stundenlangem Warten keine von ihnen zu sehen,
bis sie eine neue Regenwolke wieder zurückführte.
Mein Urlaub war zu Ende und so nahm ich die ganze Gesell-
schaft in mein Sammelglas und befestigte sie später an dem Buph-
thalmum-Stengel möglichst getreu in der Stellung, die sie einzu-
nehmen pflegten. Nach diesem Präparat ist die neben-
stehende Skizze angefertigt.
Ich würde diese kleine Beobachtung nicht der Mit-
teilung wert halten, wenn sie mir nicht im Zusammen-
hang mit anderen Beobachtungen und Überlegungen von
gewissem Interesse zu sein schiene.
Von der Lebensweise der solitären Bienen bis zu
dem Treiben der nahverwandten Honigbiene mit ihren
hochentwickelten sozialen Instinkten ist ein weiter Weg.
Doch manche solitäre Bienen mit primitiven sozialen
Instinkten, und dann die Hummeln, bilden Zwischen-
glieder, die, wenn sie sich auch nicht direkt in die Stamm-
reihe der Honigbiene einfügen, uns doch ahnen lassen,
welchen Weg die Natur hier gegangen ist.
Die meisten unserer solitären Bienenarten leben
streng solitär. Das Männchen stirbt bald nach der Be-
gattung, das Weibchen baut für jedes Ei eine, gesonderte
Wiege und sobald der nötige Futtervorrat beschafft,
das Ei gelegt und die ganze Anlage, oft in kunstvoller
Weise, nach außen geschützt ist, kümmert sich die
Mutter nicht im geringsten mehr um das vollendete
Werk und die ausschlüpfende Larve. Wenn manche
Solitäre gelegentlich in größeren Gesellschaften nistend
angetroffen werden, kann man kaum von einem sozialen
Triebe sprechen, denn eine günstige Nistgelegenheit, die
sich z. B. in einer Lehmwand bietet, ist das Bindeglied
zwischen ihnen, und auch sie kümmern sich in der Regel
weder umeinander noch um die Brut. Doch bietet solche
äußerliche Vergesellschaftung schon Gelegenheit zu ın- Natürliche
timeren Beziehungen, wie sie manchmal in der Benützung Größe.
eines gemeinsamen Flugkanales für die getrennten
Nestanlagen oder in gemeinsamen Abwehraktionen bei drohender
Gefahr zum Ausdrucke kommen?). Bei manchen solitären Bienen-
arten ist ein gemeinsames Überwintern einer größeren Zahl von
Männchen und Weibchen der gleichen Art, oder auch von Weibchen
2) Man findet Näheres über diese Verhältnisse und auch den Nachweis der
einschlägigen Literatur bei v. Buttel-Reepen, Die stammesgeschichtliche Ent-
stehung des Bienenstaates, Leipzig 1903 (auch im Biolog. Zentralbl. Bd. 23 er-
schienen) und v. Buttel-Reepen, Leben und Wesen der Bienen, Braun-
schweig 1915.
14*
I Ba I 2 RE Et
©;
J ER
186 K. v. Frisch, Beitrag zur Kenntnis sozialer Instinkte bei solitären Bienen.
allein, in ausgehöhlten Pflanzenstengeln oder Erdlöchern wiederholt
beobachtet worden, und dies bezeugt schon deutlicher das Vor-
handensein eines gewissen „Herdentriebes“, obwohl auch hier die
Versammlung der Tiere an geeigneten Plätzen durch die Gunst
äußerer Verhältnisse erleichtert werden mag.
Sucht man bei unsern solitären Bienen nach solchen Anzeichen
primitiver sozialer Instinkte, so fällt die Gattung Halietus be-
sonders auf. Gemeinsame Überwinterung kennen wir zwar außer
von Halictuws auch von anderen solitären Bienengattungen. Doch
über die Benützung eines gemeinsamen Flugloches zu den Nestern
liegt hier eine Beobachtung vor, die zwischen den Weibchen von
Halietus longulhıs eine engere Beziehung vermuten läßt, als sie zu-
fällige Nachbarschaft ergeben würde. Aurivillius?) „fand 1020
Individuen (lauter Weibchen) in einem Nest vereinigt. Eines der
Weibchen bewachte stets den Eingang, indem es mit seinem Körper
resp. Kopf den engen Flugkanal vollkommen ausfüllte; mit der
Pinzette entfernt, ersetzte sofort ein anderes Weibchen seine Stelle.
Kam ein zur Kolonie gehöriges Weibchen angeflogen, so zog sich
der Wächter schnell in den sich bald erweiternden Gang zurück,
um die Passage freizugeben, und schloß alsdann aufs neue den
Eingang mit seinem Kopf. Belästigt, drehte er sich um und zeigte
seinen Stachel. Nachdem Aurivillius einige Weibchen mit der
Pinzette entfernt, verbarrikadierte ein Weibchen den Eingang von
innen mit Erdpartikelchen. — Leider nahm Aurivillius keine ge-
naue Untersuchung vor, so daß wir nicht wissen, ob vielleicht nur
ein gemeinsamer Flugkanal in Frage kommt und die Nester der
verschiedenen Weibehen noch getrennt angelegt wurden oder ob
hier schon ein wirklicher Familienbau vorliegt.“
Einen weiteren, wichtigen Fortschritt finden wir bei Halietus
quadricinctus F. Das Weibchen legt seine Zellen in Form einer
kleinen Wabe aus Lehm an, und wenn die letzte Zelle gebaut,
das letzte Ei gelegt ist, verweilt die Mutter dennoch auf den Zellen,
„bebrütet die Wabe“ und erlebt meist das Ausschlüpfen der jungen
Larven ?). 2
Ich will nicht weiter ausführen, welche Hypothesen, welche
tatsächlichen Zwischenstufen von diesen Anfängen hinüberleiten
zum Bienenstaat. Nur betonen möchte ich, daß das Auftreten von
einem gewissen Instinkt der Zusammengehörigkeit die Voraus-
setzung für eine solche Entwicklung bildet. Und solchen sozialen
3) Ich zitiere nach v. Buttel-Reepen, Die stammesgeschichtliche Entstehung
des Bienenstaates, Leipzig 1903, p. 28.
4) Vgl. v. Buttel-Reepen, l.c. und Verhoeff, Zur Lebensgeschichte der
Gattung Halietus, insbesondere einer Übergangsform zu sozialen Bienen. Zool.
Anz. Bd. 20, 1897, p. 369—392.
K. v. Frisch, Beitrag zur Kenntnis sozialer Instinkte bei solitären Bienen. 4187
Instinkt sehen wir bei meinen Halictus-Männchen in seiner
reinsten Form.
Alfken erwähnt, daß Halictus-Männchen oft ın zahllosen Exem-
plaren an Stengeln ruhend anzutreffen seien?) und es ist von den
Männchen verschiedener solitärer Bienenarten bekannt, daß sie sich
zur Nachtruhe in größerer Zahl an geeigneten Plätzen zusammen-
finden. Auch ich habe zahlreiche Exemplare von Halietus-Männchen
an Strauchwerk versammelt gefunden, aber ein derart konsequentes
Festhalten bestimmter Individuen an einer nach Millimetern be-
grenzten Örtlichkeit, die in keiner Weise einen besonderen Vorzug
bot, ist mir neu gewesen).
War schon nicht einzusehen, warum ein Buphthalmum-Stengel
vor anderen Stengeln und Zweigen der Umgebung bevorzugt werden
sollte, so standen überdies in nächster Nähe noch andere verdorrte
Buphthalmum-Stengeln, die sich von jenem bevorzugten anscheinend
in keiner Weise unterschieden, und doch von den Bienen nie auf-
gesucht wurden. Es konnte ihr Zusammentreffen kein zufälliges
sein, wie man es bei massenhaftem Vorkommen annehmen könnte,
denn in der Umgebung sah ich während dieser Tage weit und breit
kein anderes Exemplar von Halictus. Es war kein Verweilen an
gemeinsamer Geburtsstätte, wie die Versammlungen mancher Raupen
und anderer Insektenlarven. Es konnte nicht Wärmebedürfnis sein,
was sie zusammenführte, denn wenn sie auch enge beieinander
saßen, so berührten sie sich doch höchstens mit den Fußspitzen
und in jedem Blütenköpfchen wären sie besser vor Kälte bewahrt
gewesen als an dem im Winde schwankenden Stengel. Das Plätzchen
5) J. D. Alfken, Die Bienenfauna von Bremen. Abhandl. naturwissensch.
Ver. Bremen, Bd. 22, H. 1, 1913, pp. 41 und 42.
6) Ich fand in der Literatur nur eine knappe Angabe, die auf ähnliche Ver-
hältnisse bei einer anderen solitären Biene hindeutet. Es handelt sich um eine
exotische Form: die im tropischen Amerika heimische Gattung Teirapedia. Nach
Peckolt (vgl. H. Friese, Monographie der Bienengattungen Exomalopsis, Pilo-
thrix, Melitoma und Tetrapedia, Annalen des k. k. naturhistor. Hofmuseums Wien,
Bd. 14, 1899, pp. 275 u. 276) setzen sich die Männchen bei Sonnenuntergang „auf
eigentümliche Weise auf den Zweig eines Urwaldstrauches, stets dasselbe Bäumchen
wählend, dicht angereiht eine hinter der anderen, sich mit den Mandibeln festheftend,
der Hinterleib erhöht, auf diese Weise mehrere Zweige von 30—50 cm Länge dicht
bedeckend, im ersten Anblick mit den gelbrötlichen Haaren des Hinterteiles einem
Zweige mit Blüten ähnlich. Dieselben sitzen sehr fest und lassen den Zweig ins
Glas bringen, ohne aufzufliegen. Bei Sonnenaufgang verlassen sie die Ruhestätte
und verschwinden, mein Sohn konnte in der Nähe kein Exemplar wieder beob-
achten“. pr
Wären uns von den Weibchen dieser solitären Bienengattung Außerungen
sozialer Instinkte bekannt, so wäre es naheliegend, in dem geschilderten auffälligen
Verhalten der Tetrapedia-Männchen den Ausdruck eines der Gattung innewohnenden
geselligen Triebes zu erblicken, der, bei den Männchen bedeutungslos, beim Nest-
bau und’ der Brutpflege der Weibchen eine wesentliche Rolle spielen könnte. Doch
scheint über die Lebensweise der Weibchen Näheres leider nicht bekannt zu sein.
488 P. N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Lilium Martagon.
bot ihnen auch keinen anderen Schutz, es deckte sie nicht vor dem
Regen und sie fanden keine Nahrung dort. Nur sich selber fanden
sie, indem sie an jenen Ort immer wieder zurückkehrten, und sie
bewiesen so das Vorhandensein eines sozialen Triebes.
Dies mag als Stütze gelten für die Theorie, welche ın der
Gattung Halictus ein wichtiges Zwischenglied zwischen solitären
und sozialen Bienen sieht.
Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Lilium Martagon.
Von P. N. Schürhoff, Oelschau bei Leipzig.
Die biologische Bedeutung der zweikernigen „Drüsenzellen“,
die ich an dem Vorkommen derartiger Zellen an den Griffelkanälen
von Sambueus!) erläutert habe, veranlaßte mich den ım Einzelfalle
gefundenen Fragen weiterhin nachzugehen und als Ergebnis meiner
diesbezüglichen Untersuchungen möchte ich über die zweikernigen
Epidermiszellen des Griffelkanals von Lilium Martagon berichten.
Die oben genannten „Drüsenzellen“, die sich außer bei Sam-
bucus auch bei Adoxa moschatellina finden, wurden bereits vor meiner
Veröffentlichung von Lagerberg?) beschrieben aber unrichtig ge-
deutet. Lagerberg schreibt: „Es kommt aber ın den Griffelbasen
noch ein leitendes Gewebe anderen Ursprungs vor. Ich möchte es
als spezifisch leitendes Gewebe bezeichnen. Es wird von vier resp.
fünf voneinander isolierten und streng lokalisierten Gewebepartien
gebildet. Schon ın sehr jungen Blüten sieht man, wie eine un-
mittelbar unter der Epidermis der Griffelfurchen liegende und die-
selben umschließende Zellschicht eine Sonderentwicklung andeutet.
In fertigem Zustand erweist sich diese Schicht aus sehr großen
Zellen mit dichtem Zytoplasma und auffällig großen Kernen zu-
sammengesetzt. Besondere Reservestoffe kommen hier nicht vor,
es lassen sich aber in diesen Zellen des öfteren eigenartige Ent-
wicklungsvorgänge beobachten. So betreffs ıhrer Kerne. Diese
wachsen bisweilen sehr beträchtlich heran und machen allem An-
schein nach dieselben Veränderungen durch, die das Chromatin der
Archesporzellkerne in den Prophasen kennzeichnen. Die Entwick-
lung bleibt aber meistens mit der Synapsis stehen. Da eine Mehr-
zahl dieser Zellen meist eine solche Ausbildung aufzuweisen pflegt,
nimmt hierdurch das gesamte Gewebe ein Aussehen an, das eine
besonders auffällige Ähnlichkeit mit einem vielzelligen, in Entwick-
lung begriffenen Archespor zeigt. Vielleicht lassen sich die in diesem
1) Schürhoff: Uber regelmäßiges Vorkommen zweikerniger Zellen an den
Griffelkanälen von Sambucus. Biolog. Zentralbl. 1916, Bd. 36.
2) Lagerberg: Studien über die Entwicklungsgeschichte und systematische
Stellung von Adoxa moschatellina. K.Svensk. Vetenskaps. Handlingar Bd. 44, Nr. 4.
a a
P. N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Lilium Martagon. 189
spezifisch leitenden Gewebe eintretenden Kernveränderungen mit
den Vorgängen vergleichen, die in malignen Neubildungen sowohl
bei Menschen als Tieren beobachtet wurden. In solchen Gebilden
kommen nämlich nicht selten eigenartige Kernteilungsbilder vor,
die durch das Auftreten diakinetischer Figuren eine bestimmte
Ähnlichkeit mit den heterotypischen Teilungsbildern erhalten. In
unserem Falle bei Adoxa handelt es sich auch um ein degenerierendes
Gewebe, obgleich hier die Umbildung der Kerne nicht über die
frühen Prophasen hinausgeht, scheint es mir sehr wahrscheinlich,
daß wir es in beiden Fällen mit dem gleichen Prinzip zu tun haben.
Manchmal unterliegen jedoch die Kerne dieser Zellen keinen solchen
Umbildungen wie den eben geschilderten. Ohne sich merkbar zu
vergrößern, zeigen sie jedoch früher oder später Zeichen von Degene-
ration. Sie wechseln die Form, werden länglich oder hantelförmig
und es setzt eine amitotische Kernteilung ein, so’daß in dieser
Weise jede Zelle mehrere kleine Kerne (am öftesten aber zwei)
aufzuweisen hat — gewissermaßen dieselben Prozesse, die sich in
den Tapetenzellen der Staubbeutel abspielen.“
Der letzte Satz dieser Angaben ist von besonderer Wichtig-
keit, da er zeigt, daß Lagerberg der richtigen Deutung dieser
mehrkernigen Zellen sehr nahe war. Bevor wir aber auf eine
Deutung seiner Befunde eingehen, ist es nötig auch seine Angaben
über Sambucus heranzuziehen:
„Die archesporähnliche Ausbildung dieses Gewebes ist hier da-
durch noch auffälliger, daß fast sämtliche Zellen eine Entwicklung
einschlagen, wie sie für Archesporzellen im allgemeinen charakte-
ristisch ist. Die Kerne wachsen beträchtlich, die Entwicklung bleibt
aber nicht mit der Synapsis stehen, sondern das Chromatin macht
hier sämtliche Stadien der Prophasen durch. Fig. 37 Taf. II bildet
hier somit eine frühzeitige Diakinese eines solchen vegetativen
Kerns ab. Die Doppelchromosomen bilden hier die gewöhnlichen
diakinetischen Figuren — Ringe habe ich jedoch nicht gesehen —
und sind sämtlich an der Kernmembran befestigt. Ihre Zahl läßt
sich als 18 feststellen. Die aus solchen Kernen hervorgehenden
Kernspindeln verraten eine unverkennbare Ähnlichkeit mit einer
heterotypischen Spindel, und es scheint sogar nicht ausgeschlossen
zu sein, daß bei der einsetzenden Teilung eine Art Reduktion der
Chromosomen stattfinden konnte. Nach der Teilung bildet sich
keine Zellplatte, und es entstehen somit zweikernige Zellen. Die
Zweikernigkeit kann aber auch wie bei Adoxa durch amitotische
Teilungen bewirkt werden.“
Nach meinen Untersuchungen handelt es sich bei Sambucus
um „Drüsenzellen“, sei es, daß diese selbst Stoffe erzeugen, die
chemotropisch auf den Pollenschlauch wirken, oder aber daß sie
nur Material für die Tapetenzellen des Griffelkanals liefern. Die
a RE N
190 P. N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Zilium Martagon.
erstere Ansicht scheint mir allerdings wahrscheinlicher zu sein. Ich
konnte ferner feststellen, daß die Zweikernigkeit bei Sambucus stets
durch mitotische Teilung erreicht wird, daß aber die beiden Tochter-
kerne häufig verschmelzen.
Dieser Vorgang der Kernverschmelzung ist von Lagerberg
als Amitose aufgefaßt worden. In der Tat ist es nicht immer leicht,
Kernverschmelzung und Amitose zu unterscheiden, da man einem
bestimmten Zustand nicht ansehen kann, ob er auf die eine oder
die andere Weise entstanden ist, doch läßt sich daraus, daß die
Zweikernigkeit auf mitotischem Wege durch Nichtausbildung der
Zellplatte zustande kommt, mit Sicherheit sagen, daß die Pflanze
zu gleicher Zeit unter der gleichen Bedingung zu dem gleichen
physiologischen Zweck nicht auch den so artverschiedenen Vorgang
der Amitose in Anwendung ziehen wird. In diesem Urteil können
wir uns auf das Verhalten der Kerne der Tapetenzellen in den
Antherenfächern stützen, die, wıe wir sehen werden, auch in anderer
Beziehung sehr große Ähnlichkeit mit den Drüsenzellen im Griffel
von Adoxa und Sambucus aufweisen und eine Erklärung für die
Annahme Lagerberg’s geben, daß es sich um Diakinesestadien
gehandelt ‚habe, woraus er auf versprengte Archesporzellen schließen
zu müssen glaubte. Ich zitiere hierfür Strasburger’s?) Beschrei-
bung der Tapetenzellen von Wikstroemia indica: „Alsbald vermehren
die mit Inhalt sich dieht anfüllenden Tapetenzellen ihre Kerne.
Hans Winkler gibt richtig an, daß das nur auf mitotischem Wege
geschieht. Ich halte überhaupt entgegengesetzte Behauptungen für
Tapetenzellen auf Grund meiner Erfahrungen für unzutreffend. Da
die mitotische Vermehrung der Kerne in den Tapetenzellen, soweit
letztere, was ja meist der Fall ist, mehrkernig werden, sich schon
frühzeitig vollzieht, eine Zellteilung der Kernteilung aber niemals
folgt, so trifft der Beobachter zu Beginn seiner auf die Pollen-
mutterzellen gerichteten Studien schon die mehrkernigen Zustände
in den Tapetenzellen an. Kernteilungen erfolgen ın diesen dann
nur noch vereinzelt, wohl aber liegen die Kerne derselben Zelle
meist einander an und zeigen vielfach auch Stadien der Verschmel-
zung. Letztere machen den Eindruck direkter Teilungen und können
zu solcher Deutung leicht verleiten. Innerhalb der nicht in Mitose
befindlichen Tapetenkerne sind Chromatinkörner von fast gleicher
(Größe, ın annähernd übereinstimmenden Abständen, an der Kern-
wandung verteilt... In einzelnen Kernen wird man auch an Stelle
des einen oder des anderen größeren Kornes eine Gruppe von zwei,
selbst mehr Chromatinkörner finden.“
Die vollkommene Gleichartigkeit zwischen der Entstehung der
zweikernigen Zellen in den Tapetenzellen und in den Drüsenzellen
3) Strasburger: Zeitpunkt der Bestimmung des Geschlechts u.s.w. Jena 1909.
P. N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Lilium Martagon. 191
von Adoxa und Sambucus, ferner das Auftreten von Kernverschmel-
zungen, sowie die physiologische Bedeutung dieser mehrkernigen
Zellen läßt uns nach weiteren Übereinstimmungen suchen. Wir
können daher in dem „Stadium der Diakinese“ Lagerberg’s ohne
Schwierigkeit die von Strasburger beschriebenen Chromatın-
körnchen, die häufig ın Gruppen zu je zwei auftreten, wieder-
erkennen. Ich selbst habe solche Kerne, bei denen die Verteilung
der Chromatinkörner an eine Diakinese erinnern könnte, in meiner
Abb. 4 wiedergegeben.
Ganz besonders einer Diakinese ähnlich sind aber auch Ab-
bildungen von Tahara*), die die Tapetenzellen von Morus indica
darstellen. Insbesondere die Fig. 19 zeigt zwei Kerne, bei denen
die „Doppelchromosomen“ sehr deutlich sind. Tahara gibt an,
daß es sich hier um die Prophase zweier, syndiploider Kerne handle,
jedenfalls ist es klar, daß ähnliche Bilder Lagerberg zu seiner
Deutung veranlaßt haben.
Daß die Tinktionsfähigkeit der Kernsubstanz in drüsigen Zellen
bedeutend steigt, ist eine bekannte Tatsache. Bei Pflanzen, welche
im Kernretikulium distinkte Chromatinansammlungen besitzen, er-
scheinen dieselben in drüsigen Zellen auffallend herangewachsen.
In den Verdauungsdrüsen der insektivoren Pflanzen können sich
in den Kernen sogar chromosomenähnliche Gebilde entwickeln, das-
selbe kommt auch in einigen Zellen vor, welche eine endotrophe
Mykorrhiza besitzen. Ne&mec°) beschreibt auffallende Chromatin-
ansammlungen in Pilzverdauungszellen einiger Mykorrhizawurzeln
von Platanthera bifolia. Dieselben treten als sehr große, unregel-
mäßig gestaltete Gebilde in geringer Anzahl im Kerninnern auf,
außerdem enthält der Kern noch zahlreiche kleinere Körperchen,
die sich ebenso färben.
Endlich möchte ich noch betonen, daß die „Drüsenzellen“ mit
ihren beiden Kernen schon sehr früh ausgebildet sind, so daß sie
meistens schon völlig fertig sind, wenn der Embryosack sein ein-
kerniges Stadium besitzt. Damit stimmt überein, daß auch die
Tapetenzellen der Antherenfächer sich frühzeitig meistens schon
vor dem Stadium der Synapsis ausbilden.
Wir finden also, daß Zellen mit ganz typischer sekretorischer
Funktion durch Mitose in den zweikernigen Zustand übergehen
und daß auch relativ häufig bei ihnen Kernverschmelzungen auf-
treten.
Es dürfte daher von Interesse sein festzustellen, ob sich noch
ähnliche Fälle feststellen lassen. Da die Drüsenzellen am Griffel-
4) Tahara: Über die Kernteilung bei Morus. Bot. Magazine, Tokyo, Bd. XXIV,
Nr. 287.
5) Nemec: Das Problem der Befruchtungsvorgänge, Berlin 1910.
Far ar)
Te
192 P. N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von ZLilium Martagon.
kanal von Adoxa und Sambucus ein ausgesprochenes Familienmerk-
mal darstellen, so lag es nahe zu untersuchen, ob. die Zellen, die
für gewöhnlich die sekretorische Tätigkeit entfalten, die in dem
genannten Falle zur Spezialisierung bestimmter Drüsenzellen geführt
hat, also die Epidermiszellen des Griffelkanals auch durch Zwei-
kernigkeit ausgezeichnet sind.
Ein ganz bevorzugtes Objekt der botanischen zytologischen
Forschung ist stets Lilium Martagon gewesen und alle wichtigen
Fragen sind an diesem Objekt so häufig geprüft und überprüft
worden, daß es als sicher erscheinen sollte, daß alle zytologischen
Eigentümlichkeiten der Befruchtungsorgane dieser Pflanze klar-
gestellt seien. Dem ist nun aber keineswegs so. Um es gleich
vorweg zu nehmen, finden sich in den Epidermiszellen des Griffel-
kanals von Lilium Martagon fast regelmäßig zwei Kerne bezw. ıhr
Verschmelzungsstadium. Trotzdem ist ın der Literatur, die sich
doch z. B. mit den Tapetenzellen der Antherenfächer ausführlich
beschäftigt hat, hierüber nichts bekannt.
Strasburger‘) gibt hierüber z. B. nur an: „Die Zellen, die
diesen Kanal auskleiden, sind nach ihm zu etwas vorgewölbt; sıe
zeigen sich an der dem Kanal zugekehrten Seite mit homogenen,
stark lichtbrechenden Inhalt, im übrigen mit brauner Substanz er-
füllt. Nach dem Kanal zu sind die äußeren Schichten ihrer Wand
verquollen.“ Overton’) schreibt nur: „Mittelst der zweizelligen
Narbenpillen werden dann die Keimschläuche in den Griffelkanal
dirigiert. Dieser Kanal ist von einer Schicht plasmatischer Zellen
ausgekleidet, deren Außenmembrane dick, oben weich sind.*
Es ist allerdings zu betonen, daß auch hier noch insofern ein
gewisser Unterschied besteht, als man die zweikernigen Zellen am
häufigsten im oberen Teile des Griffelkanals findet und vor allem
anschließend an die Narbe bis zu einer Tiefe von 5—10 mm.
Meine Untersuchungen erstreckten sich außer auf Zikum Mar-
tagon vor allem auf bestäubte Griffel von Likum candidum. Ich
stellte fest, daß hier zweikernige Zellen in den Tapetenzellen des
Griffelkanals nicht vorkommen. Überall war nur ein Kern in jeder
Zelle zu finden, die sich von den entsprechenden Kernen von Zeilium
Martagon schon in ihrer Struktur deutlich unterschieden, sie zeigten
nämlich nur die Chromatinkörnchen stark gefärbt, während eine
allgemeine starke diffuse Färbung des Kernes außerdem nicht zu
finden war.
6) Strasburger und Koernicke: Das Botanische Praktikum. Jena 1913,
S. 607.
7) E. Overton: Beitrag zur Kenntnis der Entwicklung und Vereinigung der
Geschlechtsprodukte bei Lilium Martagon. Festschriften für Nägeli und Köl-
liker. Zürich 1891.
des Griffelkanals von Lilium Martagon. 193
194 P. N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Lilium Martagon.
Hervorheben möchte ich noch, daß die degenerierenden
Kerne in den Griffelkanälen von Likum candidum häufig auch
eine hantelförmige Gestalt annehmen, doch ist bei ihnen in
diesem Stadium jede Struktur geschwunden und sie färben sich
mit Safranin gleichmäßig intensiv rot, etwa wie verklumpte Chro-
mosomen.
Auch an anderem Material von Monokotylen und Dikotylen
stellte ich Beobachtungen an, jedoch mit negativem Ergebnis, so
daß ich die Zweikernigkeit der Tapetenzellen des Griffelkanals vor-
läufig auf Zilium Martagon beschränken muß.
Eine gute Übersicht ergeben solche Stellen, die gewissermaßen
Flächenschnitte der Griffelkanalepidermis darstellen. Abb. 1 zeigt
ein derartiges Präparat. Wir sehen, daß fast jede Zelle mit zwei
Kernen versehen ist.
-Eine wichtige Frage ist nun die Entstehung dieser Zweikernig-
keit. Da wir wissen, daß die Tapetenzellen der Antherenfächer
und ebenfalls die Drüsenzellen am Griffelkanal von Sambucus und
Adoxa durch normale Mitosen zweikernig werden und andererseits
die Funktion der Epidermiszellen des Griffelkanals von der der
genannten Zellen nicht wesentlich abweicht, so wird man in erster
Linie zu der Ansicht neigen, daß auch die Vermehrung dieser Kerne
auf mitotischem Wege geschieht und nachfolgend eine teilweise
Verschmelzung der Kerne erfolgt. Doch ist diese Annahme irrig.
Die Vermehrung der Kerne in den Epidermiszellen des
Griffelkanals erfolgt durch Amitose. Der Beweis hierfür
wird dadurch erbracht, daß erstens keine Mitosen zur Beobachtung
gelangten, ferner fanden sich keine Überbleibsel des Phragnoplasten,
die z. B. bei Sambucus recht lange erhalten bleiben, auch das Aus-
sehen der Kerne ließ deutlich erkennen, daß eine Differenzierung,
die auf Prophasen oder Anaphasen zurückzuführen gewesen wäre,
durchaus nicht vorhanden war. Dagegen ließ sich feststellen, daß
die meisten Zellen mit zwei Kernen sich im obersten Teile des
Griffels, also in der Nähe der Narbe befanden, während etwa
10 mm abwärts nur noch verhältnismäßig selten zweikernige
Zellen auftraten, der Übergang wurde gebildet durch typische
Amitosen. Wären diese Kernbilder Kernverschmelzungen, so
müßte der Übergang von einkernigen Zellen über Mitosen zu
zweikernigen Zellen und von dort erst zu Kernverschmelzungen
führen, während in unserem Falle der Übergang für Amitosen
charakteristisch ist, nämlich: einkernige Zellen, Amitosen, zwei-
kernige Zellen.
Die Struktur der sich amitotisch teilenden Kerne und der beiden
Kerne in den zweikernigen Zellen und der älteren einzelnen Kerne
in den Griffelkanälchenepidermiszellen ist völlig gleich. Alle Kerne
zeichnen sich durch eine sehr starke Färbung aus, wie dies auch
P. N. Schürhoff, Die Drüsenzellen des Griffelkanals von Lilium Martagon. 195
von Strasburger?) und Shibata°) für Amitosen beschrieben
wird. Hervorzuheben ist, daß Kernkörperchen in den sich amitotisch
teilenden Kernen nicht zu erkennen waren.
Die Amitose wird eingeleitet durch ein Wachstum des Kernes,
wobei seine Färbbarkeit und seine Struktur nicht verändert werden.
Hat der Kern etwa die doppelte Größe des normalen Kerns er-
reicht, so beginnt er sich ın der Mitte einzuschnüren und zwar
findet diese Einschnürung an A ganzen Umfang in gleicher Weise
statt (s. Abb. 4, 8 und 9); in manchen Fällen ist die Furchung
nicht in der Mitte a so daß anfänglich der eine Teilkern
kleiner ist (Abb. 6), doch gleichen sich diese Unterschiede wieder
aus, wir finden zum Schluß zwei völlig gleiche Kerne. Auch findet
man Kerne, die anscheinend gleichzeitig in drei Tochterkerne zer-
fallen, ob wirklich sofort drei Kerne gebildet werden, dürfte frag-
lich erscheinen. Ich glaube zwar in manchen Fällen drei Kerne
haben feststellen zu können, doch läßt dıe Tatsache, daß sich diese
Kerne stets teilweise decken, keine endgültige Deutung zu, da es
möglicherweise nicht zu einer völligen Durchtrennung der drei
Teilkerne kommt. Das Ergebnis der amitotischen Teilung bilden
normalerweise zwei Tochterkerne, die sıch häufig teilweise decken
(Abb. 10, 11, 12), aber auch einzeln liegen (Abb. 14). In seinem
Aussehen und seiner Färbbarkeit unterscheidet sich ein solcher auf
amitotische Weise entstandener Tochterkern nicht von den Kernen
der einkernigen Griffelkanalzellen.
Ob die erhöhte Färbbarkeit auf eine Vermehrung der Chro-
matinsubstanz oder der Nuklearsubstanz, wie Strasburger an-
nimmt, zurückzuführen ist, möchte ich nicht entscheiden. Wichtig
jedoch scheint mir die Feststellung zu sein, daß es sich um Kerne
eines spezifisch ausgebildeten Gewebes handelt, dessen Tätigkeit
mit der einmaligen kräftigen Funktion seiner Zellen beim Befruch-
tungsakt beendigt ıst. Daher haben die Kerne keine morphologischen
Funktionen mehr auszuüben und dıe Amitose dürfte somit hier den
Ausdruck einer infolge dieser Kernvermehrung aufs höchste ge-
steigerten sekretorischen Funktion darstellen. Diese Deutung würde
mit der bisherigen Annahme, daß durch die Amitose der morpho-
logischen Tätigkeit des Zellkerns das Todesurteil gesprochen ist,
ın elenade: Übereinstimmung stehen.
Als Zweck dieser Kernteilung nehme ich die erzielte Vergröße-
rung des Kernvolumens und der Kernoberfläche im Verhältnis zum
Oytoplasma an, wodurch eine Erhöhung der Intensität der Be-
ziehungen zwischen Kern und op gegeben ist, wie ich dies
8) Strasburger: Einiges über Characeen und Amitöse. Wiesner’s Fest-
schrift 1908.
9) Shibata: Oytologische Studien über die endotrophen Mykorrhizen. Jahrb.
f. wiss. Bot., 1902.
496 A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere.
auch für eine Erklärung der Zweikernigkeit der Drüsenzellen am
Griffelkanal von Sambucus zugrunde gelegt habe. In der Amitose
dürften wir dann gewissermaßen eine überstürzte Teilung des Kerns
erblicken, die vielleicht erst durch einen bei der Bestäubung er-
folgenden Anreiz erfolgt.
Zum Schlusse möchte ich noch angeben, daß die Beobach-
tungen an bestäubten Griffeln von Zilium Martagon angestellt
waren. Die Bestäubung war 6, 12 und 18 Stunden vor der Fixierung
erfolgt. Fixiert wurde mit Chromessigsäure, geschnitten 5 und 10 u
dick, gefärbt mit Safranin-Wasserblau 6 B.
Tafelerklärung.
Lilium Martagon.
Abb. 1. Oberflächenschnitt durch die Epidermis des Griffelkanals. Fast sämtliche
Zellen enthalten zwei Kerne oder Amitosen. Vergr. 250.
Abb. 2. Längsschnitt durch den Griffelkanal. Schleimepidermis sichtbar. Größen-
verhältnis der Drüsenzellenkerne und der Kerne des Griffelgewebes.
Vergr. 250.
Abb. 5—14. Amitosen in den Epidermiszellen des Griffelkanals. Vergr. 1500.
Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der
Wassertiere.
Von Alexander Lipschütz, Bern.
I:
Bis vor kurzem wurde ziemlich allgemein angenommen, daß
in der Ernährung der Wassertiere ähnliche Beziehungen herrschen
wie in der Ernährung der Landtiere: daß die kleinen Plankton-
algen die Produzenten organischer Stoffe sind und von den
Tieren des Planktons gefressen werden, die selbst wieder größeren
Tieren als Nahrung dienen. Vor etwa zehn Jahren hat Pütter!),
gestützt auf eine große Reihe von Berechnungen und auf eigene
Versuche, den Nachweis zu führen versucht, daß diese Auffassung
falsch sei. Pütter wies darauf hin, daß im Verdauungskanal der
Wassertiere sehr wenig, häufig gar keine geformte Nahrung gefunden
wird. Auch seı der Gehalt des Seewassers an Plankton so gering,
daß das Plankton unmöglich hinreichen könnte, um den Bedarf
der Wassertiere an Nährstoffen zu decken. Alle Gewässer, auch
das Seewasser, enthalten aber eine gewisse Menge von organischen
Stoffen in Lösung. Pütter glaubte darum annehmen zu können,
daß sämtliche Wassertiere die im Wasser gelösten organischen
1) Pütter, Die Ernährung der Wassertiere und der Stoffhaushalt der Ge-
wässer. Jena 1909. —- Vergleichende Physiologie. Jena 1911. — Der Stoffwechsel
der Kieselschwämme. Zeitschrift f. allgem. Physiologie, Bd. XVI, 1914.
A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. 197
Verbindungen in ihrem Stoffhaushalt verwerten. Diese gelösten
organischen Verbindungen stammen nach Pütter aus der Lebens-
tätigkeit der Algen. Pütter bestreitet allerdings nicht, daß auch
die geformte Nahrung eine Rolle für die Wassertiere spielen, ja
unentbehrlich für manche Formen sein könnte. Quantitativ kommt
jedoch nach Pütter vor allem diejenige Nahrung in Betracht, die den
Wassertieren in Form von gelösten organischen Verbindungen
geboten wird. Pütter hat seine Auffassung auch auf die Fische
übertragen und sie hier durch eine Reihe von Versuchen zu stützen
versucht. Bezüglich aller Einzelheiten, die der Pütter’schen
Theorie zugrunde liegen, muß auf die Arbeiten von Pütter ver-
wiesen werden.
Die Auffassung von Pütter hat eine Reihe von Einwänden
erfahren, die ich vor mehreren Jahren in einer zusammenfassenden
Arbeit kritisch zu behandeln versucht habe?). Prinzipiell kann die
Möglichkeit nicht bestritten werden, daß die Wassertiere die im
Wasser gelösten organischen Stoffe verwerten. Es ließen sich
jedoch Einwände gegen die einzelnen Grundlagen der Theorie er-
heben. Vor allen Dingen kommt hier in Betracht, daß unsere
Kenntnisse über den Nahrungsbedarf der Wassertiere noch sehr
unvollkommen sind und daß die Werte für den Stoffverbrauch, die
im Experiment gewonnen werden, keinesfalls die Größe des wirk-
lichen Stoffverbrauches in der freien Natur anzeigen. Gelegentlich
einer Reihe von Versuchen an Fischen), die ich vor acht Jahren
auf Anregung von Pütter ausgeführt habe, konnte ich zeigen, wie
sehr der Verbrauch durch die Versuchsbedingungen in die Höhe
geschraubt werden kann. Es ist sehr wahrscheinlich, daß die An-
gaben, welche von den Autoren auf Grund von Atmungsversuchen
an Wassertieren über die Höhe des Stoffverbrauches derselben ge-
macht wurden, weit über den wirklichen Verbrauch der Wasser-
tiere in der freien Natur hinausgehen.
‚Ebenso unvollkommen sind auch unsere Kenntnisse über den
Gehalt der Gewässer an Plankton. Es unterliegt nach den
Untersuchungen von Lohmann) gar keinem Zweifel, daß der
Gehalt der Gewässer an Plankton je nach der Jahreszeit ganz
außerordentlichen Schwankungen unterliegt. Sehr groß sind natür-
lich auch die örtlichen Verschiedenheiten im Planktongehalt der
Gewässer. Es ist also unzulässig, bei der Behandlung der
Frage, welch eine Menge von Nährstoffen Wassertieren in Form
2) Lipschütz, Die Ernährung der Wassertiere durch die gelösten organischen
Verbindungen der Gewässer. Ergebnisse der Physiologie, Bd. XIII, 1913.
3) Lipschütz, Zur Frage über die Ernährung der Fische. Zeitschrift f.
allgem. Physiologie, Bd. XII, 1910. Vgl. S. 84 u. 85.
4) Lohmann, Über die Quellen der Nahrung der Meerestiere und Pütter’s
Untersuchungen hierüber. Internat. Revue d. ges. Hydrobiol. u. Hydrogr., Bd.2, 1910.
498 A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere..
von Plankton zur Verfügung steht, ganz allgemein von dem Plank-
tongehalt der Gewässer zu sprechen. Diese Frage muß für jede
einzelne Lebensgemeinschaft gesondert behandelt werden. Loh-
mann?) hat ferner gezeigt, daß man mit dem Planktonnetz immer
nur ein „Teilplankton“ fängt, nicht das „Gesamtplankton“, zu
welchem auch Formen gehören, die durch die Maschen der feinsten
Netze hindurchgehen. Diese Formen können durch Filtrieren oder
Zentrifugieren des Wassers gewonnen werden. Es ist das „Nano-
plankton“ oder das „Zwergplankton“, das vielleicht eine große
Rolle in der Ernährung vieler im Wasser lebenden Formen spielt.
Befunde von Lohmann, Murray, Woltereck, Dieffenbach,
Sachse und Einar Naumann‘) sprechen in dieser Richtung.
Auch die Bakterien kämen nach Lohmann als Nahrungsquelle in
Betracht.
Auch die Frage, inwiefern von den Befunden von Nah-
rung ım Verdauungskanal der Wassertiere auf die Art ihrer
Ernährung geschlossen werden darf, ist nicht so einfach zu beant-
worten. Ein wichtiges Moment, das niemals aus dem Auge ge-
lassen werden darf, ıst hier dıe Tatsache, daß viele Wassertiere
„Gelegenheitsfresser“ sind. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die
Wassertiere eines sehr weitgehenden Hungers fähig sind. Fische .
können, wie ich am Aalmonte gezeigt habe, zwei Drittel und sogar
mehr von ihrem Brennwert im Hunger einbüßen’). Es ist auch
sichergestellt, daß bei den Fischen periodisch Hungerzeiten wieder-
kehren. Es seı hier vor allem auf die bekannten Befunde von
Miescher am laichenden Rheinlachs hingewiesen. Reibisch hat
ferner gezeigt, daß bei den Schollen der Ostsee die periodischen Schwan-
kungen des Ernährungszustandes nicht allein auf das Laichgeschäft
zurückzuführen sind, da auch die jüngeren, nicht geschlechtsreifen
Tiere den periodischen Wechsel von gutem und schlechtem Er-
nährungszustand mitmachen. Von Bedeutung ist auch die Tatsache,
daß die Intensität des Stoffwechsels während des Hungers sehr
stark abnimmt, so daß während eines relativen Nahrungsmangels
der hungernde Organismus den veränderten Ernährungsverhältnissen
bis zu einem gewissen Grade angepaßt ist.
Was schließlich die experimentellen Grundlagen der
Pütter’schen Theorie betrifft, so sind bisher alle Versuche, eine
Verwertung von im Aquarium gelösten organischen Verbindungen
im Stoffwechsel der Wassertiere direkt nachzuweisen, negativ ausge-
5) Lohmann, Die Probleme der modernen Planktonforschung. Verhandl.
d. Deutschen Zoolog. Gesellschaft 1912.
6) Vgl. hierzu die Besprechung von Lipschütz, Die ernährungsbiologische
Rolle des Zwergplanktons. Monatsh, f. d. naturwissensch. Unterricht, Bd. VII, 1914.
7) Lipschütz, Über den Hungerstoffwechsel der Fische. Zeitschrift f.
allgem. Physiologie, Bd. XII, 1910.
F
A
A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. 199
fallen oder diese Versuche lassen keine Entscheidung zu. Solche Ver-
suche wurden von Pütter, Lipschütz und Kerb an Fischen, von
Knörrich, Wolff und Kerb an Krustaceen, von Pütter an
Actinien und Ascidien ausgeführt. Eine Verwertung von im Aqua-
rıum gelösten organischen Verbindungen konnte mit Sicherheit
niemals nachgewiesen werden‘).
Die Auffassung von Pütter, daß die gelösten organischen
Verbindungen der Gewässer als Nahrung für die Wassertiere dienen
können, erscheint nach alledem nicht in genügender Weise be-
gründet. Aber wie so häufig in der Geschichte der Wissenschaften,
hatte auch hier eine Theorie, die der genügenden Begründung ent-
behrte, die Anregung zu einer weiteren Vertiefung des Problems
gegeben. Pütter hat das große Verdienst, die quantitative
Seite des Problems der Ernährung der Wassertiere stärker betont
zu haben, als es früher der Fall gewesen, und damit eine neue
ersprießliche Diskussion des Problems der Ernährung der Wasser-
tiere eingeleitet zu haben. Eine Reihe von Momenten, die Pütter
zur Begründung seiner Theorie herangezogen hatte, sind im Laufe
der letzten Jahre nach ihrer quantitativen Seite hin untersucht
worden. So die Frage nach dem Gehalt des Seewassers an ge-
lösten organischen Verbindungen durch Henze und Raben, die
Frage über den Gehalt des Seewassers an Planktonorganismen
(vgl. oben) und schließlich die Frage über die Zusammensetzung
des Inhaltes des Verdauungskanals bei den Wassertieren. Die
Untersuchungen, welche die an letzter Stelle genannte Frage be-
treffen, sind von G. J. Petersen und seinen Mitarbeitern ausge-
führt worden. Diese Untersuchungen haben unsere Kenntnisse über
den Stoffhaushalt der Gewässer in ganz außerordentlichem Maße
erweitert und sie sind der Anlaß zu den vorliegenden Bemerkungen,
da die Arbeiten von Petersen und seinen Mitarbeitern es gestatten,
das von Pütter aufgeworfene Problem von neuen Gesichtspunkten
aus zu diskutieren.
Ir.
Petersen’) hebt hervor, daß man sich in den Untersuchungen,
die zur Frage über die Ernährung der Wassertiere ausgeführt
wurden, bisher darauf beschränkt habe, festzustellen, welche Arten
sich im Verdauungskanal der untersuchten Formen finden. Man
hat sich soviel mit der Rolle, die dem Plankton im Stoff-
haushalt des Meereszukommt, beschäftigt, daß man eine andere mögliche
Nahrungsquelle beinahe ganz übersehen habe. Diese bisher wenig
8) Lipschütz, Die Ernährung der Wassertiere u.s.w. Ergebnisse der Phy-
siologie, Bd. XIII, 1913. Vgl. Abschnitt III.
9) C.G. J. Petersen and P Boysen Jensen, Animal life of the sea
bottom, its food and quantity. Report of the Danish Biological Station, XX, 1911.
38. Band 15
200 A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere.
beachtete Nahrungsquelle ist nach Petersen der staubfeine De-
trıtus des Bodens, der, wie die Untersuchungen Petersens und
seiner Mitarbeiter ergeben haben, in relativ kleinen und flacheren,
so den dänischen Gewässern eine hervorragende Rolle im Stoff-
haushalt der Gewässer spielen kann. Auf die Möglichkeit, daß
dem Detritus eine Bedeutung in der Ernährung der Wassertiere
zukommt, hatten übrigens schon Lohmann!®) und Murray (vgl-
S. 151) hingewiesen.
Mit Hilfe neuer von Petersen eingeführter Methoden gelingt
es, die obersten Bodenschichten der Gewässer zutage zu fördern.
Boysen Jensen!!) hat die obere braune Bodenschicht ın ver-
schiedenen Teilen des Limfjordes eingehend untersucht. Diese
Bodenschicht, die eine Dicke von 1—2 mm hat, besteht aus staub-
feinen Teilchen, die locker beisammenliegen. Unversehrte Orga-
nismen kommen nur selten ın ıhr vor. Die chemische Unter-
suchung ergab, daß die braune Bodenschicht organische Verbin-
dungen enthält. Die organischen Verbindungen sind zum Teil stick-
stoffhaltig. Bemerkenswert ist der Gehalt der braunen Bodenschicht
an Pentosan, da sich daraus Schlüsse auf den Ursprung der orga-
nischen Substanzen der Bodenschicht ziehen lassen. Die Pentosane
sind die ım Pflanzenreich sehr verbreiteten Polysaccharide der
Pentosen, d.h. der Zucker mit fünf Kohlenstoffatomen im Molekül.
Es ist zunächst von Interesse, daß die Bodenschicht um so reicher
an organischen Substanzen und an Pentosan ist, je größer die
Verbreitung von Zostera in dem betreffenden Gebiet, daß dagegen .
kein bestimmtes Verhältnis zwischen der Dichte des Planktons und
dem Gehalt der Bodenschicht an organischen Substanzen besteht.
Da Zostera viel reicher an Pentosan ist als die Plankton-
organismen, so folgt aus den Befunden von Boysen Jensen, daß
die organischen Substanzen der Bodenschicht hauptsächlich als
Zostera-Detritus aufgefaßt werden müssen. In den offenen Ge-
wässern ist der Gehalt der Bodenschicht an Pentosan geringer,
und hier liefert wahrscheinlich das Plankton einen nicht unbeträcht-
lichen Teil der organischen Substanzen des Bodens. Es ist möglich,
daß die Exkremente und die zu Boden sinkenden Leichen der Tiere,
soweit sie nicht durch den Einfluß von Bakterien zerstört werden,
den Boden an Stickstoff anreichern. In den dänischen Gewässern
befinden sich auch große Detritus-Mengen in Schwebe, wobei sehr
bemerkenswert ist, daß die Masse des schwebenden Detritus un-
vergleichlich größer ist als diejenige des lebendigen Planktons.
Boysen Jensen konnte sich davon überzeugen, indem er das
10) Zit. nach Petersen and Boysen Jensen, |. c.
1l) Boysen Jensen, Studies concerning the organic matter of the sea
bottom. Report of the Danish Biological Station, XXII, 1914.
.
A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere.. 201
durch Filtrieren von Seewasser gewonnene Material mikroskopisch
untersuchte. In 10 Litern Seewasser aus dem Limfjord fand
Boysen Jensen im Filterrückstand 9,6 bis 73,3 mg, ım Durch-
schnitt über 20 mg Trockensubstanz. Die Menge des Planktons
darin war sehr gering. Vergleichsweise sei erwähnt, daß der größte
Planktonfang, der „Netzplankton“-Fang von Lohmann vor Laboe,
4,6 mg Trockensubstanz in 10 Litern betrug.
Alle Autoren, die den Inhalt des Verdauungskanals von Wasser-
tieren untersucht haben, konnten feststellen, daß die Menge der
organischen Substanzen, die man jeweils in Form von Resten von
Organismen finden kann, sehr gering ist. Manche Autoren haben
auch hervorgehoben, daß man im Verdauungskanal von Wasser-
tieren Detritus-Massen findet. Petersen und Blegvad haben
nun eine systematische Untersuchung der Frage vorgenommen,
welch eine Rolle der Detritus als Nahrung bei den Wirbellosen der
dänischen Gewässer spielt. Sie haben eine Reihe von Beobach-
tungen über die Ernährungssitten der Wirbellosen im Aquarium
angestellt und sie haben den Mageninhalt einer sehr großen Zahl
frisch gefangener Tiere untersucht. Petersen'?) hat bei Abra alba
im Aquarium die Aufnahme von Boden-Detritus durch das Sıphon
direkt beobachten können. Er konnte sogar feststellen, daß Abra
die Bodenteilchen sortiert und nur einen Teil zurückbehält. Peter-
sen hielt Asterias, Ophioglypha albida und Buceinum, Fusus, Litto-
rina littorea, Abra alba, Mytilus edulis, Gammariden und andere Arten
mehrere Monate lang in einem Aquarium, das er mit Wasser und
Detritus vom Boden aus dem Großen Belt beschickte. Das Wasser
wurde nicht erneuert, sondern nur durchlüftet. Über drei Monate
lang blieb das Wasser klar. Von Planktonorganismen waren nur
Bakterien vorhanden. Alle Tiere gediehen in diesem Aquarium
ausgezeichnet. Abra war sehr gewachsen.
Eine sehr große Anzahl wirbelloser Arten der dänischen Ge-
wässer hat Blegvad!?) auf ihren Mageninhalt untersucht. Er teilt
die wirbellosen Tiere mit Bezug auf ihre Ernährung in drei Gruppen
ein: in pflanzenfressende, in detritusfressende und in fleischfressende,
wobei viele Arten eine Mittelstellung einnehmen, indem sie außer
Detritus frische Pflanzen oder Tiere fressen. Man findet allerdings
auch bei den reinen Detritus-Fressern beinahe stets einige Plankton-
organismen im Verdauungskanal. Aber es handelt sich um sehr
geringe Mengen, die nur einen kleinen Teil des gesamten Darm-
inhalts ausmachen. Mit Bezug auf alle Einzelheiten muß auf die
12) Petersen and Boysen Jensen, |. c.
13) Blegvad, Food and conditions of nourishment among the communities
of invertebrate animals found on or in the sea bottom in Danish waters. Report
of the Danish Biological Station, XXII, 1914.
192
902 A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. i
Arbeit von Blegvad verwiesen werden. Blegvad kommt zum
Schluß, daß der Detritus den wichtigsten Teil der Nahrung beinahe
aller Wirbellosen des Meeresbodens der dänischen Gewässer dar-
stell. An zweiter Stelle steht die pflanzliche Nahrung in Form
frischer. Benthos-Pflanzen. Die Bedeutung des lebendigen Phyto-
planktons für die Ernährung ist minimal; es kommt jedoch als
Nahrung für die Plankton- Copepoden ın Betracht. Die Beobach-
tungen von Blegvad an Tieren im Aquarıum, so an Macoma_ cal-
carea, haben ergeben, daß die Tiere die Siphone, in der Art wie es.
der Elefant mit dem Rüssel tut, hin und her bewegen und mit
Hilfe der Siphone Partikelchen vom Boden aufgreifen. Die Siphone
graben sich in den weichen Boden ein.
Von Interesse ist für die Behandlung des Problems noch fol-
gender Befund von Blegvad an Ophioglypha-Arten. Man findet
diese Tiere sehr häufig mit Überresten von kleinen Mollusken oder
Krebsen im Magen. Untersucht man jedoch eine größere Anzahl
von Exemplaren, so überzeugt man sich stets, daß bei einer ver-
hältnismäßig großen Zahl von Tieren der Verdauungskanal völlig
leer ist. Nach Blegvad kann dieser Befund als ein gutes Zeichen
dafür aufgefaßt werden, daß die betreffende Art von Raub lebt.
Die Tiere sind Gelegenheitsfresser, ein Moment, das bei der Dis-
kussion des Problems der Ernährung der Wassertiere nicht unbe-
rücksichtigt gelassen werden darf'%). Das gilt nach Blegvad in
gleicher Weise für Planarien, Nemertinen und Pantopoden, die man
in häufig mit völlig leerem Verdauungskanal antreffen kann.
Blegvad hält es jedoch für möglich, daß manche kleineren detritus-
fressenden Formen neben dem Detritus auch die im Wasser gelösten
organischen Verbindungen verwerten können.
Die Untersuchungen von Petersen und seinen Mitarbeitern
machen es nach alledem sehr wahrscheinlich, daß wohl die Mehr-
zahl der Wirbellosen in den dänischen Gewässern Detri-
tus-Fresser sind, sei es daß sie den Detritus vom Meeresboden
aufnehmen oder ihn aus dem Wasser gewinnen. Dieser Detritus
stammt, wie wir oben gesehen haben, namentlich von den ben-
thonischen Pflanzen dieses Gebietes her.
Blegvad'’) hat auch die Frage über die Ernährung der Fische
in den dänischen Gewässern sehr eingehend untersucht. Es sind
untersucht worden: der Nyborg-Fjord, der als ein typischer Ver-
treter zahlreicher dänischer Fjorde zu betrachten ist, der Limfjord,
der Kattegat, nördliche Teile des Belt und zum Teil die Ostsee.
14) Vgl. hierzu Lipschütz, Zur Allgemeinen Physiologie des Hungers. Braun-
schweig 1915, Kap. IV.
15) Blegvad, On the food of fishes in the Danish waters within the Skaw.
Report of the Danish Biological Station, XXIV, 1916.
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w ;
>
A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. 203
Auch hier soll nicht im Einzelnen auf die zahlreichen neuen und
wertvollen Befunde von Blegvad eingegangen werden. Die wich-
tigsten Momente sind, daß man im Magen aller untersuchten Arten,
wie Gadus, Aal, Zoarces, Cottus scorpius und der kleinen Fische
der Küstengebiete (Gobridae, Labridae, Spinachia, Gasterosteus und
Syngnathidae), große Mengen von Organismen findet, die ihrem Ge-
wichte nach im Durchschnitt für die einzelnen Arten der Fische
!/,, bis !/,,, im großen Durchschnitt etwa !/,,, vom Gewicht der
Tiere ausmachen. Die aufgezählten Arten sind ausschließlich Fleisch-
fresser, Räuber. In der Regel frißt jede Art nur bestimmte Arten,
sie wählt und jagt sie. Eine ganze Reihe von Wirbellosen, die ın
den dänischen Gewässern sehr verbreitet sind, werden von den
Fischen überhaupt nicht oder nur sehr selten gefressen, so Mytilus
edulis, Mya, Arenicola marina, Asterias rubens, Littorina lttorea;
Hydroiden, Bryozoen und Actinozoen werden sehr wenig gefressen. Die
größeren Arten unter den Fischen nähren sich von kleineren Fischen,
Krustaceen und Echinodermen, Polychaeten, Lamellibranchiern,
Gastropoden. Wie verschieden auch die Nahrung der erwachsenen Tiere
bei den einzelnen Arten sein mag, die Jugendstadien leben stets von
derselben Nahrung und zwar von pelagischen CGopepoden, manchmal
auch von Cladoceren oder von Larven pelagischer Gastropoden und
Lamellibranchier. Die kleineren Arten unter den Fischen, die in
den Fjorden und an den Küsten leben, ernähren sıch vor allem von
Krustaceen. Aber auch kleinere Mollusken, Polychaeten, Insekten-
larven dienen ihnen als Nahrung. Auch manche kleinen Fische
suchen und jagen ıhre Beute. Viele Arten jagen nur zu be-
stimmten Tagesstunden. Die meisten kleinen Fische findet man
am Morgen mit leerem Magen, sie fressen also nur bei Tage.
Andere jagen nur bei Nacht, wie der Aal, andere bei Tag und
bei Nacht, wie Gadus callarias. Aus Untersuchungen, die zu
verschiedenen Tagesstunden vorgenommen wurden, hat sich er-
ergeben, daß z. B. bei Gobius Ruthensparri die Nahrung innerhalb
sechs Stunden den ganzen Darmkanal passiert. Die Tatsache, daß
man die Fische zuweilen mit leerem Magen findet, besagt
also noch keineswegs, daß die geformte Nahrung eine ge-
ringe Rolle bei diesen Tieren spielt. Blegvad hat fest-
gestellt, daß ım Winter geringere Mengen von Nahrung im Magen
und im Darme der Fische gefunden werden als im Sommer. Aber
auch unabhängig von der Jahreszeit findet man Fische mit völlig
leerem Magen. Auch die Fische, soweit sie Räuber sind, sind so-
mit Gelegenheitsfresser, die unregelmäßig große Nahrungsmengen
aufnehmen. In zwei Fällen von Cottus scorpius machte der Inhalt des
Magens beinahe ein Drittel vom Gewicht des Tieres (ohne Magen-
16) Petersen and Boysen Jensen, I. c. Vgl. 8. 70—72.
204 A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. T
inhalt) aus. Imanderen Fällen (Gadus callarias) betrug der Magen-
inhalt ?/., !/; und !/,, vom Tiergewicht.
Es fragt sich nun, ob die Beobachtungen, die in den kleineren
und flacheren dänischen Gewässern erhoben wurden, sich auf die
Verhältnisse im offenen Meere übertragen lassen. Petersen!*°) hat
diese Frage diskutiert. Er weist darauf hin, daß im offenen Meere,
wie die schon erwähnten Untersuchungen von Boysen Jensen es
wahrscheinlich gemacht haben, das tierische Leben mehr auf den Produ-
zenten des Planktons, auf den Planktonalgen beruhen muß als auf dem
Detritus, dessen Bildner ja vor allem die Benthos-Pflanzen sind.
Dementsprechend ist die Tiefsee in größerer Entfernung vom Lande,
nach einem Ausspruch von Murray, wie eine Wüste gegenüber
den Küstengebieten der See mit ihrem wimmelnden Leben. Die
geringere Menge des Lebens in der Tiefsee im Vergleich zu
den Gebieten an der Küste würde also für die Bedeutung des De-
tritus als einer Nahrungsquelle auch im offenen Meere sprechen.
Petersen hält es übrigens für möglich, daß aus den zahlreichen
felsigen Küstengebieten Englands und Schottlands und den Fjorden
Norwegens, die eine nicht unbedeutende Vegetation haben, beträcht-
liche Mengen von Detritus auch ins offene Meer gelangen.
Auch Murray schreibt dem zu Boden sinkenden und auf dem
Meeresboden lagernden organischen Detritus eine bedeutungsvolle
Rolle als Nahrungsquelle zu. Auch ist er der Meinung, daß die
Flüsse Nährstoffe für die detritusfressenden Meerestiere in das
Meer tragen '”). Man muß auch in Betracht ziehen, daß die Tempe-
ratur ım offenen Meere schon bei etwa 1000 m Tiefe wenige Grad
über Null beträgt, wodurch der Nahrungsbedarf der Meerestiere
natürlich ganz außerordentlich herabgedrückt wird. Murray weist
auch auf den sogenannten „artificial bottom“ hin, der sich in einer
Tiefe von 400—500 Faden befindet und entsteht, indem der Fall
der zu Boden sinkenden Detritusmassen infolge der veränderten
physikalischen Bedingungen hier verlangsamt werden muß. In
dieser Tiefe findet wahrscheinlich eine Anreicherung des Wassers
an organıschem Detritus statt, so daß nach Murray hier eine reiche
Weide für die Meerestiere vorhanden sein könnte.
Die Tatsache, daß man die pelagischen Fische, wie Olupea
harengus, Clupea sprattus, Scomber scomber und Belone vulgaris
in den dänischen Gewässern sehr häufig mit völlig leeren Mägen
findet, erlaubt ebensowenig einen allgemeinen Schluß auf die Art
ihrer Ernährung wie die entsprechenden Befunde an anderen Fischen.
Nach alledem muß jedenfalls mit der Möglichkeit gerechnet
werden, daß der Detritus auch für die Wirbellosen des Meeres,
17) Murray, The ocean. A general account of the science of the sea. London,
Williams and Norgate. Vgl. S. 134, 175 u. 177.
Br
e".
A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. 205
namentlich auf dem Meeresboden, eine Nahrungsquelle darstellt,
wobei die dem Detritus zukommende Rolle an dem einen Orte
mehr, an dem anderen weniger ins Gewicht fallen könnte. Die
Wirbellosen wieder dienen den Fischen als Nahrung.
IM.
Betrachten wir nun ım Lichte der neuen Befunde von Peter-
sen und seinen Mitarbeitern das von Pütter aufgeworfene Problem!
Pütter glaubte auf Grund seiner Berechnungen annehmen zu
können, daß das Wasservolum, das die Tiere von Planktonorga-
nismen säubern müßten, um ihren Bedarf an Nährstoffen zu decken,
ungeheuer groß sei, daß darum die Planktonorganismen unmöglich
die alleinige Quelle der Nahrung für die Tiere des Meeres sein
können, und daß die gelösten organischen Verbindungen der Ge-
wässer eine bedeutungsvolle Rolle als Nahrung für die Wassertiere
spielen müssen. Wir wissen jetzt, daß außer dem lebendigen
Plankton in vielen Gewässern auch totes Detritus-Material in
Schwebe gehalten wird, und daß auf dem Boden der Gewässer eine
Schicht von organischem Detritus vorhanden ist, der, nach den Be-
funden im Verdauungskanal zu urteilen, eine Rolle als Nahrung
für die Wirbellosen spielt. Wenn also die Menge der Plankton-
organiısmen in vielen. Gewässern dem Bedarf der Planktonkonsu-
ınenten nicht entspricht, so dürfen wir aus diesem Verhältnis jetzt
in keinem Falle ohne weiteres auf eine Ausnutzung von gelösten
organischen Verbindungen schließen. Wir müssen vielmehr stets
mit der Möglichkeit rechnen, daß der Detritus, aus Benthos-Pflanzen,
Tierleichen und Exkrementen entstehend, eine Quelle der Nahrung
für die Wirbellosen darstellt.
Was insbesondere die Fische betrifft, so gestatien es die Be-
funde von Blegvad, die Frage nach den Quellen ihrer Nahrung
auch nach der quantitativen Seite zu behandeln. Im großen
Durchschnitt aller untersuchten Individuen, deren Zahl mehrere
tausend betrug, fand Blegvad, wie schon erwähnt, im Verdauungs-
kanal der Fische etwa !/,, ihres Gewichts in Form von Organismen
vor. Für Gobius Ruthensparri hat Blegvad es wahrscheinlich ge-
macht, daß die Nahrung innerhalb sechs Stunden den ganzen Ver-
dauungskanal passiert. Aber trotzdem findet man den Verdauungs-
kanal von @obius mit Ausnahme von sechs Nachtstunden stets mehr
oder weniger gefüllt. Nach Blegvad!?) wäre daraus zu schließen,
daß Gobius ın 24 Stunden eine Nahrungsmenge verzehrt, die das
Dreifache von dem beträgt, was der gefüllte Magendarmkanal ent-
hält. Wenn wir dieses Ergebnis auf alle untersuchten Arten über-
18) Blegvad, l. c. XXIV, 1916. Vgl. S. 48.
206 A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere.
tragen, so würde das heißen, daß die Fische täglich eine
Nahrungsmenge aufnehmen, die etwa !/,, von ihrem Ge-
wicht ausmacht. Berücksichtigt man nun die Zahlen für den
Sauerstoffverbrauch der Fische, die Pütter!?) bei Gobius paganellus
ermittelt hat, so ergibt sich, daß bei einer Nahrungsaufnahme von
!/, vom Gewicht pro Tag ein sehr beträchtlicher Anteil für den
Ansatz übrig bleiben müßte. Bei einem Gobius von etwa 8 em Länge |
und etwa 9g Gewicht fand Pütter einen Sauerstoffverbrauch von
etwa 2 mg pro Stunde am Tage, an dem das Tier gefangen wurde.
Es ist wahrscheinlich, daß dieser Wert höher ist, als dem wirklichen
Verbrauch entspricht. Rechnen wir mit einem Verbrauch von 2 mg
pro Stunde, so hatte das Tier einen täglichen Verbrauch von etwa 48 mg
Sauerstoff. Die „Sauerstoffkapazität“ eines solchen Tieres, d.h. die
Menge des Sauerstoffs, die nötig wäre, um alle organische Substanz
des Tierkörpers zu verbrennen, berechnet Pütter mit etwa 2800 mg.
Die Menge der organischen Substanzen, zu deren Verbrennung etwa
48 mg nötig waren, machten also höchstens 1.7%, der brenn-
baren organischen Verbindungen des Tierkörpers bei einer Tempe-
ratur von 23° aus. Bei 24 kleinen Moorkarpfen, deren durch-
schnittliche Länge etwa 4 cm und deren durchschnittliches Gewicht
etwa 1 g betrug, fand ich?®) einen stündlichen Sauerstoffverbrauch
von etwa 0,17 mg pro Tier und Stunde oder etwa 4 mg Sauerstoff
pro Tag bei 15°. Die 24 Tiere, deren Sauerstoffkapazität zusammen
mit etwa 5700 mg berechnet wurde, verbrauchten pro Tag ca.
96 mg Sauerstoff. Sie verbrannten also pro Tag etwa 1,6%,
ihres Bestandes an organischen Substanzen. Vergleicht man nun
mit diesen Zahlen, die einen täglichen Verbrauch von etwa
1,7% vom Gewicht anzeigen, mit den Befunden von Blegvad,
nach denen eine Nahrungsaufnahme von 10% vom Gewicht des
Tieres anzunehmen wäre, so ist der Schluß wohl berechtigt,
daß ein sehr beträchtlicher Teil der aufgenommenen geformten
Nahrung für den Anbau von organischen Stoffen zur Verfügung
stehen kann.
Auch bei einigen Arten, bei denen nach älteren Angaben keine
nennenswerten Mengen geformter Nahrung im Verdauungskanal
nachgewiesen werden konnten?!), fand Blegvad beträchtliche
Mengen geformter Nahrung. So betrug der Mageninhalt
19) Pütter, Die Ernährung der Fische. Zeitschrift f. allgem. Physiologie,
Bd. IX, 1909. Vgl. Tab. XVI bis XIX.
20) Lipschütz, Zur Frage über die Ernährung der Fische. Zeitschrift f.
allgem. Physiologie, Bd. XII, 1910. Tab. 14—21 des Anhangs.
21) Pütter, Die Ernährung der Wassertiere und der Stoffhaushalt der Ge-
wässer. Jena 1909. Vgl. S. 78:
A. Lipschütz, Bemerkungen zur Frage über die Ernährung der Wassertiere. 207
bei Gobius Ruthensparri '|,, des Tiergewichtes (namentlich Crustaceen)
„ Gasterosteus pungitus "|y; 5 4
„ Syngnathus typhle a £ 2 (namentlich andere Fische und
Crustaceen).
Auch die Tatsache, daß-bei Fischen der Magendarmkanal häufig
leer gefunden wird, kann, wie oben schon erwähnt, nicht als ein
unbedingt giltiger Hinweis ın der Richtung betrachtet werden, daß
die betreffende Art keine geformte Nahrung, oder diese nur in un-
bedeutenden Mengen, aufnehme. Aus den Untersuchungen von
Blegvad ergibt sich, wie schon mehrfach hervorgehoben, mit aller
Sicherheit, daß auch viele Fische zu den Gelegenheitsfressern ge-
hören.
Zusammenfassung.
Die Untersuchungen von Petersen und seinen Mit-
arbeitern haben es sehr wahrscheinlich gemacht, daß
die Wirbellosen in den dänischen Gewässern vom orga-
nischen Detritus leben, der von den Pflanzen des Benthos,
zum Teil vom Phytoplankton stammt, und daß die Fische
sich von den Wirbellosen, z.T. von kleineren Fischarten
ernähren.
Die Vermutung, daß sowohl die Wirbellosen der Ge-
wässer als die Fische zum Teil Gelegenheitsfresser sind,
erfährt durch die Untersuchungen von Blegvad neue
Stützen.
Die Befunde von geformter Nahrung im Verdauungs-
kanal der Fische waren im Durchschnitt so groß, daß sıe
über die Anforderungen des Betriebsstoffwechsels, wie
sie aus den Atmungsversuchen von Pütter und Lipschütz
zu erschließen sind, weit hinauszugehen scheinen.
Die neuen Befunde enthalten somit keine Momente,
die ım Sinne der Pütter’schen Theorie von der Verwertung
gelöster organischer Verbindungen sprächen. Sie weisen
vielmehr auf die Möglichkeit hin, daß die Planktonorga-
nismen nicht die einzige Quelle geformter Nahrung dar-
stellen, und daß darum aus einem Mißverhältnis zwischen
dem Nahrungsbedarf der Wassertiere und den ihnen im
Meerwasser zur Verfügung stehenden Planktonmengen
nicht ohne weiteres auf eine Verwertung der im Wasser
gelösten organischen Verbindungen geschlossen werden
darf.
208 H. Henning, Zur Ameisenpsychologie.
Zur Ameisenpsychologie.
Eine kritische Erörterung über die Grundlagen
der Tierpsychologie.
Von Privatdozent Dr. Hans Henning, Frankfurt a.M.
Wie das erste Erfordernis einer Tierphysiologie, einer Tier-
geographie oder einer Tierchemie unbedingt in der Beherrschung
der Physiologie, der Geographie oder der organischen Chemie be-
steht, so sollten dem Tierpsychologen die Tatsachen der experi-
mentellen Psychologie nicht fremd sein. Freilich gibt es immer
noch Tierpsychologen, die tierpsychologisch arbeiten, olıne tiefer
in die wissenschaftliche Psychologie eingedrungen zu sein.
Zunächst begegnen wir einem Anthropomorphismus: man unter-
legt den beobachteten tierischen Handlungen einfach seelische Vor-
gänge nach Art der eigenen menschlichen, welch letztere ebenfalls
nicht wissenschaftlich analysiert werden. So setzt man etwa mit
Forel und anderen voraus, die Ameisen denken logisch, lieben
und hassen, fühlen sozial, ja sozialer als wir, oder Insekten sehen
die Welt farbig und geformt gleich uns. Die Entwicklungslinie des
Bewußtseins durch die Tierreihe hindurch wird dabei natürlich
gänzlich verzerrt und die neurologische Stufenfolge einfach über-
sehen. Eine Übersetzung der Anthropomorphismen in besondere
Fachworte macht den Fehler nicht wieder gut.
Eine weitere Richtung weicht der experimentellen Psychologie
aus, indem sie den niederen und mittleren Tieren überhaupt jedes
Bewußtsein abspricht. Allein auf der einen Seite sind die Gehirn-
vorgänge am Lebenden rein physiologisch kaum zu fassen, auf der
andern Seite wird die physiologische „Reflexkette“ durch zahllose
Regelwidrigkeiten durchkreuzt, die sich gerade als psychologische
Gesetzmäßigkeiten erweisen.
Etwas weiter geht die Annahme: das primitivste tierische Be-
wußtsein kennt nur Empfindungen; je höher wir in der Tierreihe
steigen, desto verwickelter gestaltet sich das Bewußtseinsleben aus.
Auch dieser Standpunkt, der sich an einem unkritischen Empfin-
dungsbegriff orientiert, übergeht wesentliche Grundtatsachen der
Psychologie.
1. Die neueren Experimente sicherten vielmehr — ım Einklange
mit der Psychologie des Kindes, des Erwachsenen und des Primi-
tiven —, daß das niederste tierische Bewußtsein mit einem dämmer-
haften, wenig gegliederten Bewußtseinskomplex anhebt;
die verschiedenen Komponenten schmelzen zu einem diffusen Ge-
samtzustand zusammen. Je höher sich die tierische Organisation
erhebt, desto klarer bewußt und desto gegliederter wird ıhr Be-
wußtseinskomplex. Noch der gebildete Europäer — um so mehr
der ungebildete — zeigt kein ganz scharf gegliedertes Bewußtsein:
ungeschieden durchflechten sich die mannigfaltigsten Vorstellungs-
elemente; Organempfindungen, Gefühle, Stimmungen u. a. ergießen
H. Henning, Zur Ameisenpsychologie. 209
sich in diesen Komplex. Selbst der geübte Psychologe erreicht
mit den heutigen Mitteln der Analyse noch nicht überall — so im
Gefühlsgebiete — die letzte reinliche Scheidung. Auf jeden Fall
vermag der Mensch keine einfachen Empfindungen isoliert zu er-
leben, geschweige denn das Tier. So entsteht nun in der Tier-
psychologie die Frage: wie sieht der Bewußtseinskomplex aus, wie
weit ist er gegliedert, bis wohin läßt sich die äußere Gesamtsituation
unbeschadet des gleichen Versuchserfolges verändern, was am Kom-
plexe ıst für das Tier das Wesentliche?
Natürlich steht und fällt die experimentelle Psychologie nicht
mit der Selbstbeobachtung; wie dürfte sie sich auf die Selbstbeob-
achtung von Kindern, Geisteskranken und Primitiven stützen! Be-
sitzt sie doch auch objektive Methoden. Allein sie ist in tier-
psychologischen Fragen nicht einmal auf die Annahme eines tierischen
Bewußtseins angewiesen. Indem sie ihre Analyse zugleich auf die
Scheidung der peripheren von den zentralen Faktoren und deren
genaue Sonderung anlegt, erreicht sie Ergebnisse, die ebenso den
Anhänger wie den Gegner der Tierseele binden. Jedes Sinnes-
erlebnis besitzt sowohl periphere (d. h. durch Reizung der peri-
pheren Sinnesorgane ausgelöste) Erlebnisteile, als auch zentrale
(d. h. ohne äußere Reizeinwirkung auf die Sinnesorgane lediglich
in zentralen Gehirnregionen ausgelöste); die ersteren entsprechen
dem Erlebnis der Reizkomponente (Empfindungsbestandteil der
Wahrnehmung), die letzteren dem Erlebnis der Residualkomponente
(Auffassung oder Erkennung, Assimilation, Apperzeption, Assoziation,
Erfahrung). Die Beteiligung zentraler Erfahrungsfaktoren an unseren
Sinneserlebnissen steht heute im Vordergrunde des experimentellen
Interesses; ihre Erforschung fordert mit Recht die laufende Preis-
aufgabe der preußischen Akademie der Wissenschaften.
Bestimmte zentrale Faktoren, die wir summarisch „Sinnes-
erfahrung“ nennen dürfen, gestalten nun jedes Sinneserlebnis derart
um, daß das Erlebnis nıcht mehr dem äußeren Reiz ent-
spricht. Somit darf die Psychologie nicht mehr allein auf dem
Reiz aufbauen, sondern eben auf psychologischen Begriffen. Die
Gesichtswahrnehmung entspricht z. B. weder der physikalischen
Strahlung des erblickten Gegenstandes, noch läuft sie der peri-
pheren physiologischen Erregung parallel. Das ist natürlich der
Tod einer jeden Tierpsychologie ohne psychologische Grundlage
sowie der rein physiologischen Betrachtung. Da Ewald Hering
diese Tatsachen schon 1879 in die Psychologie und Augenheilkunde
einführte, und da diese Faktoren seither energisch weiter erforscht
wurden, sollten allmählich Außenstehende, die über dererlei arbeiten,
von diesen Grundtatsachen Kenntnis nehmen.
Wählen wir für all das ein Beispiel aus Hering’s neueren
Ausführungen (in Gräfe-Sämisch’s Handbuch der Augenheilkunde):
in der Sonne liegt ein Stück Kohle, daneben im Schatten ein Stück
Kreide. Die sehr viel Licht ins Auge sendende Kohle erscheint
uns schwarz, die wenig Licht aussendende Kreide aber weiß. Das
Erlebnis spricht also der Physik der Strahlung Hohn: es müßte
310 H. Henning, Zur Ameisenpsychologie.
umgekehrt die lichtstarke Kohle hellgrau und die lichtschwache
Kreide dunkelgrau erscheinen; dasselbe verlangt die physiologische
Netzhauterregung. Weshalb widerspricht unser Erlebnis der Natur
der Reizung? Weshalb sehen wir die Kohle und die Kreide so,
wie wir sie unter „normaler“ Beleuchtung bisher zu sehen gewohnt
waren? Bestimmte rein zentrale Faktoren, die durch Vorleben und
Erfahrung bedingt sind, gestalten das Erlebnis so um, daß es
nicht mehr der physikalischen und physiologischen Strahlenwirkung
entspricht. Mit physikalischen und physiologischen Begriffen läßi
sich deshalb das Verhalten der Tiere, sofern sie diese Erschei-
nung auch zeigen, nicht erklären, sondern nur mit rein psycho-
logischen.
Diese speziellen zentralen Faktoren sprechen, wie sich experi-
mentell zeigte, nur an, wo es sich um Öberflächenfarben handelt,
und wo uns der Überblick über die Beleuchtung und Lokalisation
der Gegenstände gewahrt bleibt. Die zentralen Erfahrungsfaktoren
beziehen sich sonach auf die Oberflächenfarbe sowie auf die Berück-
sichtigung der Beleuchtung und der Lokalisation. Schalten wir sie
einmal aus! Wir nehmen einen durchlochten Schirm („Reduktions-
schirm“) vor unser Auge, so daß wir wohl die Gegenstände noch
sehen, aber nur als Flächenfarben, und wobei uns zugleich der
uberblick über die Beleuchtung und die Lokalisation durch den
Schirm genommen ist. Kohle und Kreide sehen wir jetzt nicht
mehr wie im Alltag durch die Brille unserer „Gedächtnisfarben*,
sondern nun erscheint die Kohle hellgrau und die Kreide dunkel-
grau, wie es die Physik der Strahlungen und die physiologische
Netzhauterregung fordert. Durch Bedingungen, die im Alltag nicht
vorkommen, haben wir damit die zentralen Erfahrungsfaktoren von
den übrigen Erlebnisteilen gesondert. (Unter Oberflächenfarben
versteht man die beleuchtete, farbige Oberfläche scharf lokalısierter
Gegenstände der Außenwelt, die eine Struktur zeigen wie Holz,
Papier, Tuch u. s. f.; die Flächenfarbe ist eine ganz andersartige
Erscheinungsform der Farben, wie jeder sie vom Himmel, dem
Regenbogen, dem Spektralband im Spektralapparat kennt. Näheres
Ergänzungsband 7 der Zeitschrift für Psychologie und Physiologie
der Sinnesorgane.)
Der Nachweis nun, daß Affen und Hühner ebenfalls „Gedächtnis-
farben“ besitzen wie wir, also solche umgestaltenden Faktoren bei
optischer Reizung, besagt nicht nur, daß diese Tiere etwa zwei
gleich große mittelgraue Papiere, deren eines etwas weißlicher als
das andere ist, auch richtig wiedererkennen, sofern wir das weiß-
lichere Papier so verdunkeln und gleichzeitig das schwärzlichere
so aufhellen, daß nun die physikalischen Strahlungsverhältnisse und
die physiologischen Netzhauterregungen gegen vorher übers Kreuz
vertauscht sind. Sondern wir wissen auch, daß beı den tierischen
Reaktionen bestimmte zentrale Vorgänge mitsprechen, die von der
Öberflächenfarbe, dem Überblicke über die Beleuchtung und Lokali-
sation des Gegenstandes abhängen, wonach bei diesen Tieren keine
Korrespondenz zwischen Reiz und Erlebnis besteht. Ob
VD
ar) \
H. Henning, Zur Ameisenpsychologie. 211
man jetzt diesen Faktoren, die ohne experimentelle Psychologie
niemals aufzufinden gewesen wären, und der ganzen tierischen Re-
aktion ein Bewußtsein parallel laufen läßt oder immer noch die
Tierseele leugnet: die Wirksamkeit solcher zentraler, nicht aus der
gegenwärtigen Reizung stammender Vorgänge ist auf alle Fälle
erwiesen. So weiterbauend sehen wir schließlich, welcherlei Groß-
hirnprozesse beim Tiere mitwirken, und rasch ist ein Punkt erreicht,
an dem sich angesichts der aufgedeckten Prozesse der Streit um
die Tierseele von selber löst.
Das Wichtige ist also: aus der physikalischen Natur der Reize
und aus der physiologischen Erregung im Sinnesorgan ist das
tierische Verhalten nicht restlos erklärbar, eben weil zentrale Fak-
toren die Reiz- und Erregungswirkung umändern. Und diese Un-
gestaltung über die Reizung hinaus ist auch für den Leugner des
tierischen Bewußtseins nur mit experimentalpsychologischen Mitteln
erforschbar. Seine Erklärung — stellen wir uns einmal auf seinen
Standpunkt — muß in die physiologische Reflexkette diese zen-
tralen Faktoren einschalten, zum mindesten in der Form von phy-
siologischen Großhirnprozessen, die mit dem gegenwärtigen Reize
nichts zu tun haben; diese sind physiologisch nicht verständlich,
werden aber durch die Annahme eines parallel laufenden Bewußt-
seins sofort als Sinneserfahrung begreiflich. Auch stimmt die
Arithmetik der psychologischen Gedächtnisgesetze hierzu. So lange
Bewußtseinsakte am Lebenden nicht physiologisch direkt zu fassen
sind, bleibt man auf psychologische Analysen angewiesen. Sonach
läßt sich die tierische Reaktion sogar bei der allereinfachsten
optischen Anordnung nicht mehr ohne experimentelle Psychologie
erforschen, ganz zu schweigen von komplizierteren Reaktionen.
Heute ist die Existenz des tierischen Bewußtseins zum min-
desten für die höheren Tiere empirisch so gesichert, daß eine
Skepsis nur durch Aufzeigen neuer Gründe berechtigt wäre.
2. Diese Stellungnahme hat neuerdings R. Brun!) ohne Bean-
spruchung der Psychologie bestritten, und zwar hielt er sich an
mein Handbuch des Geruches?), eine Zusammenfassung aller fremder
und eigener Untersuchungen über den Geruch des Menschen und
der Tiere, der als Anhang auch eine experimentelle Studie an
Ameisen mit künstlich angelegten Geruchsspuren u. s. w. beige-
geben ist. R
Zunächst schreibt Brun mir zu, „auf dem Odlande Bethe’scher
Reflexphysiologie nach neuen Lorbeeren zu grasen“ und bezeichnet
mich als Anhänger Bethe’s. Er hat mein Buch wohl mit irgend
einer anderen Veröffentlichung verwechselt, denn ich trete in meinem
Buche ja Bethe ausdrücklich überall entgegen (S. 438, 464)
1) Dr. med. Rud. Brun, Die moderne Ameisenpsychologie — ein anthro-
pomorphistischer Irrtum? Erwiderung auf H. Henning’s Ausführungen über die
Geruchsreaktion der Ameisen in seiner Monographie „Der Geruch“. Biolog. Zentralbl.
Nr. 37 (7), S. 357—372, 1917.
2) Hans Henning, Der Geruch. Leipzig 1916. Johann Ambrosius Barth.
319 H. Henning, Zur Ameisenpsychologie.
und stimme ihm nirgends zu, und ich weise die ganze reflexphysio-
logische Deutung zurück (S. 438 ff., 494ff.). Weiter bekämpft Brun
mich mit kränkenden persönlichen Angriffen, weil ich angeblich das
tierische Bewußtsein leugne. Auch hier scheint Brun mein Buch
mit einem anderen Werke verwechselt zu haben, denn ich schreibe
ja den Tieren auf jeder Seite ausdrücklich ein Bewußtsein
zu (S. 407-496), und speziell für die Ameisen — die Brun allein
berücksichtigt —, gelange ich zu dem Endergebnis, daß „psychische
Komplexe“ vorhanden sind (S. 495). Damit fällt Brun’s ganze
Polemik gegen mich schon hin. Ehe er eine solche Flut gering-
schätziger und verletzender polemischer Worte gegen mich schreibt,
hätte er vorher lesen müssen, was ich schreibe.
Ein Mißverständnis war aber ausgeschlossen, weil ich mich
nicht nur an die Terminologie hielt, wie sie in den psychologischen
Lehrbüchern, Zeitschriften und Vorlesungen seit Fechner, Helm-
holtz, Hering, Wundt, G. E. Müller und bei allen heutigen
Psychologen üblich ist, sondern weil ich im Interesse eines weiteren
Leserkreises die psychologischen Grundbegriffe in das Buch hereinzog
und erklärte. Brun wäre also durch die Lektüre des ganzen
Buches ım Bilde gewesen. Seine Entgegnung zeigt, daß er nur
den Anhang 2 über die Ameisen las. Nun verstehe ich sehr wohl,
daß ein Nichtpsychologe die Psychologie des menschlichen Ge-
ruches überschlägt; aber wenn er die psychologischen Ausdrücke
nicht verstand, so hätte er etwas zurückblättern müssen. Vor allem
aber durfte er nicht lediglich einen Anhang berücksichtigen, wo
das Buch einen besonderen tierpsychologischen Abschnitt enthält,
der nach Tierklassen geordnet alle bisherigen Versuche meldet.
Immerhin, der Anhang über die Ameisen schreibt den Tieren aus-
drücklichBewußtsein zu, vor allem ist der Ausdruck „psychisch“
selbst für einen Nichtpsychologen unmißverständlich.
Das ist der Hauptpunkt der Diskussion. Es bleibt also Brun
nun nichtsanderes übrig, als entweder nachzuweisen, wieso „psychisch“
nicht „psychisch“ ist, und das wird ihm schwerlich gelingen, oder
die Flut der herabsetzenden und verletzenden Kränkungen meiner
Person zurückzunehmen. Ich vergelte ihm nicht mit gleicher
Münze, weil ich ausdrücklich den Tieren Bewußtsein zuschreibe,
wie jeder in meinem Buche nachlesen kann, so daß die unschönen
polemischen Ausdrücke von selbst auf Brun zurückfallen.
3. Er bringt nun im einzelnen mancherlei vor, was im sach-
lichen Interesse nicht übergangen werden kann. Zunächst erhalte
ich den Vorwurf, in meiner Monographie die unumgänglichen Ar-
beiten von Cornetz und eine Veröffentlichung von Brun ver-
schwiegen zu haben. Nun einmal scheint die Arbeit von Cornetz
nicht so unumgänglich zu sein, denn Brun selbst urteilt über die
„erkenntnistheoretisch (sic) unhaltbare Theorie von Cornetz“:
„meines Erachtens sind indessen die Gegengründe, die Cornetz
bis heute vorgebracht hat, bei näherem Zusehen keineswegs stich-
haltig“, wobei der Ausdruck „bis heute“ ein Jahr nach meinem
Buch geschrieben ist. Wie reimt sich das? Zweitens komme ich
4
H. Henning, Zur Ameisenpsychologie. 215
in meinem Buche auf die Arbeiten von Cornetz ausdrücklich zu
sprechen (S. 466), was Brun übersehen hat. Wie reimt sich dies?
Dann ıst nach meinem Buche eine Arbeit von Cornetz und ein
Artikel von Brun erschienen, aber auch die stießen auf herbe
Kritiken. Hätte Brun einen der letzten Bände der führenden
Zeitschrift für Psychologie (und Physiologie der Sinnesorgane) ein-
mal ın die Hand genommen, so wäre er dort über seine Mißver-
ständnisse hinsichtlich der Erscheinungsdaten der Arbeiten unter-
richtet worden. Da ich dies aber im Buche auf der Umseite des
Titelblattes und auf Seite 1 erwähnte, hat er nicht einmal diese
Ausrede, die führende Zeitschrift nicht eingesehen zu haben. Sein
schwerer persönlicher Vorwurf fällt auch hier auf ıhn zurück.
Abgesehen davon, daß ich das Wort „psychisch“ und ähnliches
für die tierischen Reaktionen benutze, habe ich — beim Menschen
ebenso wie beim Tiere — auch die Fachausdrücke „peripherer
Faktor“ und „zentraler Faktor“ verwendet. Diese Ausdrücke sind
Kapitelüberschriften der Zweiteilung der Sinnespsychologie, auf
sie stimmt sich die ganze neuere Forschung der menschlichen
Psychologie nicht nur ab, sondern auch zahlreicher Arbeiten zur
Tierpsychologie und zur „Behavior“psychologie. Brun scheint die
ganze neuere Sinnespsychologie und Sinnesphysiologie ebensowenig
wie die neueren tierpsychologischen Arbeiten zu kennen, denn ihm
sind diese Verhältnisse unbekannt. Meinen Ausdruck „peripherer
Faktor“ setzt er in Anführungsstriche, ja er fügt von sich aus zu:
„sollte wohl heißen reflektorischer“. Andern Worten von mir setzt
er — sie ebenso ins Gegenteil kehrend — in seiner Inhaltsangabe
meiner Ansichten von sich aus das Wörtchen „physiologisch“ voran,
wo es „psychologisch“ heißt, und führt so den Leser über meinen
Text irre. Diese merkwürdige Umtaufe meiner Worte wäre bei
genauem Hinsehen auf die gedruckten Lettern meines Buches nicht
möglich gewesen. Aber es genügt ihm, um meine Person darauf-
hin herabzuziehen. Vielleicht hat Brun sich auch an dem Aus-
druck „Reaktion“ gestoßen, der freilich in der Psychologie unzwei-
deutig ist.
All das muß wohl an der flüchtigen Lektüre liegen. Denn er
schreibt weiter, ich vergäße, „daß zahlreiche (Ameisen-)Arten in
vielen Fällen überhaupt nicht auf Geruchsspuren gingen“. Auch
dieser Vorwurf prallt ab, denn Brun übersah meine Worte: „hier
berichte ich über Versuche vornehmlich an der roten Waldameise
(Formica rufa L.); ...andere Ameisenarten weichen im Ver-
halten in Einzelheiten ab, was hier ausdrücklich festgestellt sei,“
woran ich noch ein Beispiel sogar füge. Und zweitens hatte ich
besonders eindringlich betont, daß die Ameisen in den gequälten
Versuchen in Glaskäfigen natürlich keine Geruchsspuren bilden,
weil der ganze Käfig überall nach Ameisensäure riecht. Nicht mir
ist also die Literatur fremd, sondern Brun ist das fremd, was ich
schrieb.
Dann soll ich Brun’s Hauptergebnisse mißverstanden haben;
aber Brun übersieht, daß ich gar nicht seine Worte wörtlich fixieren,
1 URN RR A Re
214 HR Henning, Zur Ameisenpsychologie.
7
sondern meine allgemeine Folgerungen zusammenzufassen angab.
Uber meine Folgerungen will ich meinen Mann stehen, aber daß
ich Brun nicht gelesen hätte, das wird er vergeblich zu zeigen
versuchen. Was er mir vorwirft, ist ihm passiert.
Wichtig ist das Folgende: ich hatte Forel darauf hingewiesen,
daß das Gestaltserlebnis (rund, eckig u. s. w.) in seinen Bei-
spielen psychologisch kein peripherer, sondern ein zentraler Faktor
sei. Daraufhin schreibt Brun, ich leugnete die Existenz von „zen-
tralen assoziativen Vorgängen bei Insekten“. Damit zeigt er, daß
er Gestaltserlebnis und Assoziation verwechselt, was aber auch gar
nichts miteinander zu tun hat. Außerdem leugne ich niemals
tierische Assoziationen, beruht doch jede Dressur im Stiften von
Assoziationen. Hier hat Brun die ganze Sachlage nicht verstanden.
Es handelt sich um folgendes: nach Forel entsteht die Raum-
wahrnehmung der Ameise aus einer Kombination der im Gehirn
aufgespeicherten Bilder. Dagegen wandte ich ein, daß eine haun-
wahrnehmung nicht aus Aufspeicherungen im Gehirn entsteht, sondern
durch äußere Reize. Sollte die Raumwahrnehmung aus Gehirnauf-
speicherungen entstehen, so wären keine Sinnesorgane zur Raum-
wahrnehmung nötig. ..
Weiter hatte ich gegen Forel eingewandt, daß die Unterschei-
dung eines „Nahgeruches“ von einem „Ferngeruch“ nicht
geruchlich erfolgen könne — etwa durch eine mystische Fern-
akkommodation analog einer Telepathie des Getastes —, sondern nur
darauf hin, daß wir die Geruchsquelle nah oder fern sehen, wissen
oder erschließen. Die Nase sagt uns nicht, ob ein Duftpartikelchen
wenige Zentimeter oder viele Meter zurücklegen mußte, denn die
chemischen Riechatome haben keine geruchliche Taxameteruhren
in sich. Damit entfällt ein Grundpfeiler der Annahmen von Forel
und Brun. Statt einer sachlichen Antwort erwidert Brun mir
darauf, ein wie großer Hirnforscher und Psychiater Forel sei.
Schön, aber wenn Forel in früheren Jahren bedeutende psychia-
trische Arbeiten schrieb, was beweist das in dieser psychologi-
schen Frage? Und es konnte Brun, sofern er die psychologischen
Fachorgane liest, doch nicht entgehen, daß Forel’s gelegentliche
Streifzüge populärer Art durch das Grenzgebiet der Psychologie
und Philosophie ihm nicht gerade den Ruf einer psychologischen
Autorität einbrachten. Aber ich will Brun mit seinen Mitteln er-
widern: bedeutende Mediziner stehen in dieser Frage auf meinem
Standpunkt, z. B. Edinger und viele andere, die Brun unschwer
in der Literatur finden kann. Die „medizinische“ Autorität Forel’s
entscheidet also die psychologische Sachfrage nicht, zumal Forel
unter Nichtachtung der gesicherten medizinischen und psycho-
logischen Tatsachen nur eine Analogie bildmäßig vom Gesichts-
sinn auf den Geruchssinn übertrug. Ehe Brun daraufhin mich
verletzend angreift, muß er schon irgendwie wissenschaftlich
werden.
Nun will er mir zugeben, daß die Spur der Ameisen von
Ameisensäuregeruch gebildet wird, wie ich ja mit gepinselten
H. Henning, Zur Ameisenpsychologie. 215
Linien von Ameisensäure fand, und wie ja die menschliche Nase
nach einigen Ameisenüberquerungen über Papier, Holz u. s. f. den
Ameisensäuregeruch wahrnimmt, während unsere Nase nach Ermü-
dung für Ameisensäure keine anderen Gerüche an tausendfach be-
gangenen Spuren riecht. Was soll dann aber Brun’s Einwand,
daneben könne die Ameise noch anderes riechen? Ich hatte dies
ja mit Flecken anderer Riechstoffe in der Spur nachgewiesen, was
Brun übersah. Natürlich ist dies so, wıe auch der Hund auf der
Spur der Hündin unterwegs eine tote Maus riecht.
Einen Widerspruch findet Brun im folgenden: ich bestritt ın
besonderen Versuchen, ın denen „alle optischen Unterscheidungs-
möglichkeiten“ ausgeschaltet waren, daß die Ameisen die Richtung
(Polarisation) einer gleichförmigen Spur (vom Neste weg oder
zum Neste hin) geruchlich unterscheiden könnten. Dem soll wider-
sprechen, daß ich an anderm Ort sage: bei nicht gleichförmiger
Spur — etwa kontinuierlich zunehmender Geruchsstärke, optischen
Hilfen usw. — können sie die Richtung richtig finden. Brun
übersieht, daß beidemale nicht dieselbe Anordnung, sondern eine
ganz verschiedene experimentelle Sachlage vorliegt. Wieder andere
Bedingungen, etwa Käfige, die überall riechen, d. h. überall Spur
sind, kann er gegen opige Versuchsreihen doch nicht heranziehen,
man muß doch die experimentellen Bedingungen im Auge behalten.
Dabei beschuldigt Brun mich eimes Plagiates an Pieron.
Merkwürdig: ich nannte Pıeron ja. Und zweitens merkwürdig:
das Plagiat besteht darın, daß ich, wie zahllose Untersucher vor
mir, Ameisen von ıhrer Spur aufhob und sie an anderer Stelle
niedersetzte. Die Beibehaltung einer Versuchsanordnung ist
bei mir ein Plagiat, bei Brun aber nicht. Jeder, der mit Stimm-
gabeln arbeitet, ist sonach ein Plagiator an Helmholtz. Im übrı-
gen müßte Brun erst nachlesen, was die verschiedenen Autoren
mit demselben Verfahren im einzelnen prüften, ehe er Vorwürfe
erhebt, nun gar solche des Plagiates.
Dazu weiß Brun, es habe ın meinen Versuchen eine „virtuelle
Lichtorientierung“ der Ameisen stattgefunden. Die muß aber sehr
virtuell gewesen sein, denn sie war gar nicht .da: die Sicht des
Himmels war durch dichte Aste verhindert und die Lichtverhält-
nisse für alle Spurgegenden waren mit optischen Mitteln als gleich
erwiesen. Brun zieht aus den ihm im einzelnen unbekannten Ver-
hältnıssen und Kautelen — in der psychologischen Wissenschaft
läßt man kleine Kapitel nicht durch Angaben aller selbstverständ-
lichen Kautelen zur Lexikondicke anschwellen, aber ich sagte alles
hinreichend — einen falschen Schluß und nennt das „beweisen“.
Darauf läßt sich aber weder etwas Wissenschaftliches aufbauen,
noch solche persönlichen Angriffe, wie er sie übt.
Dabei hatte ich gleiche Bäume von gleichem Abstand mit
gleichen Einzelheiten gewählt und die Tiere aus Gegenden links
von der Kolonie unter den nötigen Kautelen in gleiche Gegenden
rechts vom Neste versetzt, wobei für gleiche Geruchsbedingungen
gesorgt war. Anstatt die optische Orientierung damit ausge-
38. Band 16
a ER PETE
PR FEN TR Ye 16
216 H. Henning, Zur Ameisenpsychologie.
schaltet zu haben, so wendet Brun ein, hätte ich die optische
Orientierung durch Schaffung eleichsinniger Eindrücke im Gegen-
teil noch verstärkt. Zunächst übersieht Brun, daß kein lebender
Psychologe mehr eine additive Psychologie vertreten darf und ver-
tritt. Was besagt aber sein Einwand? Ich habe zwei gleiche
Zimmer und bringe einen Menschen mit verbundenen Augen und
entsprechenden Kautelen bei der Überführung in Vexierversuchen
bald ın dieses Zimmer, bald in jenes Zimmer; nach Brun stärke
ich seine Orientierung. Da er aber wie die Ameise sich irrt, ist
doch die optische Leistungsfähigkeit als schlecht erwiesen und nicht
gestärkt. Wie sollte Letzteres auch beschaffen sein und zustande-
kommen? Umgekehrt kann in Apparaten (Ameisenzwinger), die
überall riechen, keine Geruchsspur aufkommen.
Das gegenseitige Erkennen der Ameisen hatte ich durch Be-
pinselung der Tiere mit verschiedenartigen Aromatika untersucht.
Brun referiert: wenn der künstliche Geruch den Eigengeruch
„maskiere“, dann werde das bepinselte Tier nicht als Artgenosse
erkannt. Hier hat Brun wieder nur flüchtig gelesen: manche
Gerüche wirken auch in geringster Konzentration, die den Eigen-
geruch nicht überdeckt, als feindlich; andere Gerüche wirken in
stärkster Konzentration, die den Eigengeruch des Tieres übertönt,
überhaupt nicht. Und diese Verhältnisse bezog ich je nach den
verwandten Riechstoffen auf die Ordnung der Gerüche zum Ge-
ruchsprisma. Da Brun behauptet, das sei nichts Neues, möchte
ich ıhn darauf weisen, daß die Ordnung der Gerüche zum Geruchs-
prisma von mir herrührt. Meine Analyse des psychischen Bewußt-
seinskomplexes übergeht Brun dabei einfach und wirft mir dafür
vor, ich leugnete das tierische Bewußtsein. Er hat meinen Text
unmöglich genauer gelesen. Das zeigt sich auch an vielen anderen
Stellen. Da sagt er immer’und immer wieder, dieses und jenes
hätte ich nicht berücksichtigt, wo ich doch seitenlang darüber ab-
handele. All das liegt so zutage, daß ich nicht weiter darauf
eingehe. Ich betone nur, daß jeder Einwand Brun’s sich bei der
Lektüre meines Buches von selbst erledigt.
Ebenso steht es um die Belege gegen mich. Daß die Ameisen
freundlich zu Ameisengästen anderer zoologischer Arten sınd,
soll dagegen sprechen, daß der Ameisensäuregeruch orientierend
wirkt. Allen — Wasmann wies schon darauf — die Larven der
Ameisengäste und diese selbst riechen noch stärker nach Ameisen-
säure als die Ameisen selbst, wonach die Gäste vorgezogen werden.
Das Verhalten wendet sich erst, wenn man in die Kolonie hinein-
leuchtet und die ganz anders gestalteten Insekten gesehen werden.
Das spricht doch gerade ım Sinne meiner Befunde. Ebenso der
Einwand, daß die Ameisen in den Finger des Menschen beißen
(feindliche Geruchsreaktion), aber am honigbeschmierten Finger
lecken (Nahrungsgeruchreaktion).
4. Schließlich habe ich gesagt, daß ich die „Mneme“ bei den
Ameisen nicht fand. Ich könnte mich mit dem Hinweis begnügen,
daß es mir nicht gelang, die Ameisen auf individuelle Erfahrungen
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H. Henning, Zur Ameisenpsychologie. 217
zu dressieren, wie dies etwa bei Flöhen (Flohtheater) möglich ist;
sondern wenn die Tiere in einer Situation hundertmal erfolglos
waren, dann hatten sie bei der zweihundertsten Wiederholung
immer noch nichts gelernt. Dieser vom Volksmund ebenfalls
fixıerte Befund trat übrigens auch bei allen andern Autoren zutage.
Doch will ich die Mneme hier analysieren.
Semon übersetzte einige Grundbegriffe der wissenschaftlichen
Psychologie in neue, griechisch abgeleitete Fachworte°). Wie dieser
in die Übersetzung hinübergenommene Extrakt der Psychologie aus-
sıeht, das wird an anderer Stelle zu erörtern sein; bisher hat kein
experimenteller Psychologe mit diesen Begriffen zu arbeiten ver-
mocht. Dabei verwendet Semon die Fachausdrücke in einem viel
weiteren Sinn, der sowohl die Zoologie als die Botanik und die
Psychologie einbezieht. Wir wiesen nun eingangs schon darauf
hin, daß die experimentelle Psychologie unbedingt mit rein psycho-
logischen Begriffen arbeiten muß, und daß sie weder aus der
Physik, noch aus der Physiologie, noch gar aus der Botanık zu ent-
wickeln ist.
Nach Semon — und Brun folgt seiner Terminologie — be-
deutet Mneme (ursprünglich „Gedächtnis“) „die Summe der En-
gramme, die ein Organısmus ererbt oder während seines indivi-
duellen Lebens erworben hat“, wobei Engramm (wörtlich „Einge-
schriebenes“*) besagt, daß der Organismus nach Einwirken und Auf-
hören eines Reizes verändert ist. Das ist eine Übersetzung der
psychologischen Befunde, daß Spuren oder Residuen unserer Er-
ehe im Gedächtnis zurückbleiben, die uns später zum Erkennen,
Wiedererkennen und Erinnern verhelfen. Was sagt nun Semon,
und was sagt die Psychologie darüber?
Semon sieht einen Vorteil darin, statt einer Zahl von Un-
bekannten nur eine einzige Unbekannte zu setzen; allein das psy-
chologische Lehrgebäude kann ebensowenig wie eine andere Wissen-
schaft auf unbekanntem Sockel ruhen. Außerdem weiß die Psycho-
logie ganz genau, was eine Residue ist, während die Mneme tat-
sächlich eine Unbekannte blieb. Wenn die Mneme nun, sei es
mikroskopisch, sei es physikalisch-chemisch aufgefunden würde, so
hätte man damit gewiß etwas naturwissenschaftlich Bedeutsames:
die organische Seite der Beziehung Leib-Seele wäre in dem Sinne
aufgehellt, den Hering in seinem Vortrage über das Gedächtnis
andeutete. Indessen soll dieser mnemische Naturvorgang ebenso
für Pflanzen, wie für Tiere und Menschen gemeinsam gelten. In-
sofern aber die Prozesse in der Pflanze etwas anderes sınd, als die
Prozesse in der Großhirnrinde, denen ja ein Bewußtsein parallel
läuft, erfaßte dieser mnemische Naturvorgang natürlich das Be-
sondere der Großhirnforschung und der Psychologie nicht. So gilt
z. B. der Gravitationssatz ebenso für die Blüte wie für das Gehirn,
ohne daß die Psychologie damit weiter käme. Nach aufgefundener
3) Wozu diese ganze Übersetzung dienen soll, da er sich doch auf die Befunde
der experimentellen Psychologie stützen muß, ist nicht ersichtlich.
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218 | H. Henning, Zur Ameisenpsychologie.
Mneme müßte erst der allgemeine, für Pflanzen und Menschen
zugleich geltende Begriff dahin verändert werden, daß die Be-
sonderheit der nervösen Prozesse als eigentliches Probleın erhoben
wird, insofern eben das, was der Pflanze fehlt, das Wesen des
Psychophysischen ausmacht. Hätte man aber auch diese speziellen
mnemischen Prozesse des menschlichen Großhirns entdeckt, so
wäre wiederum Bedeutendes geleistet: die Chemie und Dynamik
wäre aufgehellt. Wir wüßten etwas über das Korrelat des Psy-
ehischen, nämlich über die materiellen Bedingungen. Aber über
das Psychische selbst wüßten wir damit noch gar nichts, weil eben
das Psychische nicht aus der Physik und Chemie ableitbar ist.
Wir müßten schließlieh doch psychologisch vorgehen, und das
können wir dann lieber gleich tun, statt einige Menschenalter zu
warten. |
Die experimentelle Psychologie ihrerseits war glücklicher. Sie
kann die augenblickliche Stärke des Vergessenen zahlenmäßig er-
fassen, das an sich zu schwach ist, um ins Bewußtsein zu treten,
ebenso die Überwertigkeit der Dispositionen ziffernmäßig bestimmen,
d. h. jenes Plus über diejenige Stärke hinaus, die eben zum Über-
schreiten der Bewußtseinsschwelle nötig ıst. Verschiedene Metho-
den — die ersten rühren von Ebbingshaus und Ohms her —
stehen uns da zu Gebote.
Weiter ließ sich bestimmen, welche Schichtung und Struktur,
welehes Zusammensein und Ineinander diese Spuren oder Residuen
früherer Erlebnisse aufweisen. Wir besitzen einen Einblick in das
Residuensystem, in das Hinzutreten und Fortfallen von Partial-
residuen. Wir wissen, in welcher Reihenfolge diese Spuren inner-
halb minimalster Zeiten ineinander greifen. Eınm Kapitel meines
Geruchsbuches bringt gerade eine weitgehende Aulhellung dieser
Fragen, wo Brun sich über den derzeitigen Stand der Forschung *
hätte unterrichten können, ehe er ohne Kenntnis der psychologischen
Tatsachen eine Polemik eröffnet. Außerdem habe ıch an anderer
Stelle*) die bisherige Residuenforschung zusammengefaßt und neue
eigene Experimente hierüber gegeben. Weiter sagen uns die Schub-
verletzungen im Großhirn mit ihren Ausfallserseheinungen vielerlei
über die Art und Lokalisation der funktionalen Residuen. Wie
dürfte die Psychologie angesichts dessen mit hypothetischen Be-
griffen arbeiten, die auch für die Botanik bindend sein sollen?
Hat doch die Psychologie ihrerseits auch die individuelle Variation
und die Vererbung mit eigenen Mitteln überaus fruchtbar und groß-
zügig geprüft.
Die wesentlichste Ursache nun, weshalb die experimentelle
Psychologie nicht mit einem mnemischen Grundprinzip arbeiten
kann, das ebenso für Pflanzen wie für niedere und höhere Tiere
4) Hans Henning, Versuche über die Residuen. Zeitschr. f. Psychologie u.
Physiologie der Sinnesorgane Abt. I, Band 78, S. 198—269. — Über die organisch-
funktionelle Seite: Refraktärstadien in sensorischen Zentren. Pflügers Archiv f. d.
ges. Physiologie. Band 165, S. 605—614.
-
H. Henning, Zur Ameisenpsychologie. 219
gilt, ist diese: die Struktur der Residue ist derart gebaut, daß sie
sich nicht auf Botanisches anwenden läßt. Wir sind in der
Psychologie also schon so weit, das Typische des menschlichen
Großhirns zu fassen, das beı der Pflanze nicht vorhanden ist. Und
zwar das Typische hinsichtlich des Bewußtseins ebenso, wıe das
‘ Typische hinsichtlich des physischen Korrelats dieses Bewußtseins.
Auch das Letztere ıst bei Pflanzen und niederen Tieren nicht ın
gleicher Weise möglich, weil hier die wunderbare Differenzierung
und Lokalisation des Großhirnes fehlt. Was botanısch zu sagen
ist, das überläßt der Psychologe dem berufenen Botaniker, ohne
ihm unzulänglich ıns Handwerk zu pfuschen, denn die Botanik ist
heute eine hochentwickelte Wissenschaft, die einen ganzen Mann
erfordert.
Die Residuenwirkung nun, die beim gegenwärtigen Erlebnis
mitwirkenden Spuren früherer gleicher oder ähnlicher Erlebnisse,
etwa beim Sehen der Ziffer 3 läuft folgendermaßen ab: mit der
Reizkomponente, die von der Netzhaut kommt, wirkt ım sensorischen
Sehfelde die Residualkomponente zusammen; zuerst sprechen hierbei
die allgemeinsten Residuen an (diejenigen der Räumlichkeit und
Farbe), dann diejenigen der allgemeinen Strichkombination, weiter
die spezielleren Residuen des Zifferhaften (im Gegensatz zum Buch-
stabenhaften u. s.f.), dann die noch spezielleren Residuen (hier der
Rundungen unserer 3 im Gegensatz etwa zu den Ecken der 4) und
schließlich die prompte Residuenwirkung der individuellen Ziffer 3.
Es ist wunderbar, daß man die Struktur der Spuren früherer Er-
lebnisse von der Bewußtseinseite aus so erfassen konnte. Aber wie
sollten derartige Analysen auf die Botanik passen? Wie dürften
wir uns heute mit einer allgemeinen Mneme begnügen, die an sich
unbekannt auch die Pflanzen trifft?
Die Mneme, dieses Pflanzen, Tieren und Menschen gemeinsame
Engramm, habe ich nicht gefunden, weder materiell, noch seelisch.
Ja ich habe überhaupt nie eine Pflanzenseele angetroffen und
ebensowenig materielle botanische Prozesse entdeckt. Aber die
Spuren früherer Erlebnisse im menschlichen Seelenleben habe ich
aufgehellt. Andere prüften dann weiter, ob und inwieweit solche
Residuenwirkungen bei Geisteskranken, bei Tieren usw. vorhanden
sind. Es wird hier also alles erst experimentell untersucht,
wobei sich dann zugleich die Besonderheiten offenbaren. Brun
aber nimmt von vornherein eine unbekannte Mneme ein-
fach als überall gegeben an, auf der er aufbaut. Bei dieser
Sachlage macht er der Psychologie nun einen Vorwurf!
Und wie baut Brun auf der Mneme auf? Das gegenseitige
Erkennen der Ameisen als Koloniegenossen und Fremde z. B. er-
klärt er mit „Erscheinungen komplizierter psychoplastischer asso-
ziativer Gehirntätigkeit, wobei die normale automatische Kampf-
bereitschaft der Tiere unterbrochen und gehemmt werden kann;
teils durch die Ekphorie gewisser anderer übermächtiger Auto-
matismen (Brutpflegeinstinkt, Königininstinkt), teils aber auch durch
momentane kombinierte Assoziationen neuer Engramme unter sich
220 H. Henning, Zur Ameisenpsychologie.
mit früheren mnemischen Komplexen. Dabei können alle Momente,
je nach Umständen, in der mannigfaltigsten Weise bald für sich
allein, bald kombiniert zur Wirkung gelangen“. Viele Fremdworte
benötigt diese „Psychoplastik“, aber keines ist analysiert. Wieso
liegen "Instinkte vor, und was ist denn überhaupt ein Instinkt
psychologisch? Woher weiß Brun denn, daß ein Königin-
ınstinkt und dergleichen erlebt und hernach gehemmt wurde?
Woher weiß er um die Automatismen, um Assoziationen und ihre
Kombinationen ? Das müßte doch erst experimentell gezeigt werden.
Alles was Brun hier den Ameisen zuschreibt, das sind doch nur
Prozesse, die er als Mensch ıhnen deduktiv auf Grund seiner
eigenen Reflexion über die Lage unterlegt, und zwar keineswegs
zwingend unterlegt. Es sind menschliche Folgerungen aus der
Mnemelehre. aber keine experimentellen Analysen des tierischen
Verhaltens. Derartiges aber heißt Anthropomorphismus.
Hierfür brachte ich auch den sachlichen Nachweis. Das Er-
kennen der Ameisen läuft nämlich nicht nach solchen hypothe-
tischen Prozessen ab, sondern: gleich riechende Tiere erkennen
sich (in gewissem Ausmaße) als Artgenossen an, andersriechende
bekämpfen sich in jedem Falle als Feinde.
Wenn nicht anders, so hätte Brun schließlich meine Stellung-
nahme im einzelnen, meine Ansicht über die Struktur des Ameisen-
bewußtseins und mein Eintreten für tierisches Bewußtsein unbedingt
meiner Auseinandersetzung mit V olkelt°) entnehmen müssen, der
ebenfalls ein tierisches Bewußtsein anerkennt und dessen Struktur
analysiert. Mit ihm suchte ich ja ausdrücklich eine (leicht erreich-
bare) Verständigung. Beim Eingehen auf diese Literatur hätte
Brun sich endlich auf das Werk Krügers°), des Amtsnachfolgers
von Wundt, sowie auf die psychologische „Behavior“-forschung
geführt gesehen, und er hätte so den wissenschaftlichen Stand der
Tierpsychologie erfahren.
5) Hans Volkelt, Über die Vorstellungen der Tiere. Arbeiten zur Entwick-
lungspsychologie. herausgegeben von Krüger Heft 2. Leipzig 1914.
6) Felix Krüger, Über Entwicklungspsychologie. Ebenda Heft 1. Leip-
zig 1915.
Verlag. von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
ee ae
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und -Dr.R. Hertwie
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. EEE Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
38 Band Juni 1918 GR NT:6
ausgegeben am 10. Juli
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen. a
Inhalt: H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. $. 221.
R. 'f. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin. S. 257.
Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen
Versuchen.
Von Hermann $Sierp.
Die zahlreichen Untersuchungen, die bis heute ausgeführt sind,
um die Beziehungen zwischen den Lebensfunktionen der Pflanzen
und dem Licht, einer ihrer wichtigsten Energiequelle, zu klären,
haben mit Notwendigkeit ergeben, daß wir uns, wenn wir tiefer ın
dieses Problem eindringen wollen, nicht mehr mit der einfachen
Beschreibung der Reaktion des Lebendigen auf diesen äußeren
Faktor begnügen dürfen, sondern daß wir mehr und mehr bestrebt
sein müssen, die Beziehung zwischen Lebensfunktion und der sie
fördernden Energie quantitativ zu erfassen. Dieses Erfordernis
verlangt nun aber, daß wir uns über die bei den Versuchen bisher
verwandten und weiterhin zu verwendenden Lichtquellen volle
Klarheit verschafft haben.
Früher benutzte man bei den „Lichtversuchen“ vorwiegend das
Tageslicht und zog nur gelegentlich, zumeist wenn besondere Ver-
38. Band 17
992 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 7
hältnisse es geboten, künstliche Lichtquellen heran. Heute liegen
die Verhältnisse gerade umgekehrt, man benutzt vorwiegend künst-
liche Lichtquellen und verwendet das Tageslicht nur in ganz ver-
einzelten Fällen. Früher war mit anderen Worten das mit Tages-
licht beleuchtete Zimmer der zu Lichtuntersuchungen dienende Ver-
suchsraum, heute ist das durch künstliche Lichtquellen erleuchtete
Dunkelzimmer an seine Stelle getreten. Wenn wir über die bei
pflanzenphysiologischen Versuchen benutzten Lichtquellen sprechen
wollen, so werden wir am besten mit dem Tageslicht beginnen,
dies einmal weil solches Licht in sehr vielen Fällen als Lichtquelle
gedient hat, dann aber weil es zweckmäßiger ist, immer an das
normale, natürliche Licht, unter dem die Pflanzen in der Natur
wachsen und gedeihen, anzuknüpfen. Eine Untersuchung des Tages-
lichts bringt also den Vorteil mit sich, daß wir in den Stand ge-
setzt sind, einmal die früheren mit Tageslicht ausgeführten Unter-
suchungen besser zu bewerten, und dann aber auch die mit den
künstlichen Lichtquellen ausgeführten Arbeiten richtiger einzu-
schätzen.
Beim Durcharbeiten der in Betracht kommenden Literatur
wird man sehr bald finden, daß sowohl was das Tageslicht angeht,
als auch was die künstlichen Lichtquellen anlangt, keineswegs
immer die notwendige Klarheit herrscht. Ein Zusammentragen
alles dessen, was wir heute über die Lichtquellen wissen, dürfte,
da ja die Forderung der quantitativen Untersuchungen in den
Vordergrund des Interesses steht, mehr als geboten sein.
1. Tageslicht.
Wir wollen das Tageslicht zunächst einmal als weißes Licht,
so wie es den Pflanzen in der Natur geboten wird, betrachten.
Die Pflanzenphysiologen, die mit dem Tageslicht arbeiteten,
haben von jeher das Bedürfnis empfunden, Licht von verschiedener
Intensität zu gebrauchen. Wie es immer der Fall ist, so waren
auch hier die ersten orientierenden Untersuchungen recht rohe.
In den drei sich darbietenden Intensitäten: im Sonnenlicht, im
diffusen Licht und ın der Dunkelheit glaubte man drei brauchbare
Grade bereits gefunden zu haben. Es kann ja auch nicht zweifel-
haft sein, daß diese oft angewandten Intensitätsgrade für sehr viele
Zwecke ausreichend sind. Aber beim Durchgehen der Literatur
begegnen wir immer wieder Versuchen, wo bereits eine feinere
Abstufung des Tageslichts durch ganz bestimmte Anordnung zu er-
reichen versucht wird. Ich will aus den hier in Betracht kommen-
den Arbeiten nur wenige herausgreifen, die aber genügen, um uns
von diesen Versuchen ein anschauliches Bild zu geben.
Detmer (21), der den Einfluß verschiedener Lichtintensitäten
auf die Entwicklung einiger Pflanzen untersuchte, stellt die Pflanzen
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 293
ın Holzkästen, deren Vorderwand aus verschiedenen Glassorten be-
stand. Der eine wurde mit einer gewöhnlichen Glasplatte versehen,
der zweite mit einer Milchglasplatte, der dritte mit zwei solchen,
der vierte mit drei solchen, der fünfte war völlig dunkel. Die
Intensitätsdifferenzen wurden dabei für die einzelnen Kästen genau
festgestellt. Andere Forscher, ich nenne etwa Famintzin (29),
und von neueren Autoren Lubimenko (61) nnd Baar (2), ver-
suchen eine verschiedene Abstufung der Helligkeit dadurch zu er-
reichen, daß sie das Tageslicht durch eine bestimmte Anzahl Papier-
lagen, die sie vor die Pflanzen stellen, abschwächen. Wieder
andere, so z.B. Vöchting(111), stellen die Versuchspflanzen in
verschiedener Entfernung von einem Nordfenster auf.
Das Tageslicht, das in all diesen Versuchen verwandt worden
ist, stellt eine Lichtquelle vor von recht großer Veränderlichkeit.
Wenn wir die mit "Tageslicht ausgeführten Untersuchungen richtig
bewerten wollen, so bleibt uns nichts anderes übrig, als einmal der
Frage näher zu treten, welches denn eigentlich die Intensität des
Tageslichtes in den verschiedenen Tages- und Jahreszeiten an den
verschiedenen Orten der Erde ist. Die Beantwortung dieser Frage
dürfte aus vielen Gründen oft von Wichtigkeit sein. Ich will hier
nur etwa an die jüngsten Untersuchungen von Klebs (48) er-
innern, in denen zu zeigen versucht wurde, daß die Buchen nur
deshalb nicht im Winter zum Weiterwachsen zu bringen waren,
weil ihnen die nötige Lichtmenge fehlt. Die Beantwortung dieser
Frage setzt doch, wenn man experimentell mit künstlichen Licht-
quellen sie zu entscheiden versucht, voraus, daß man weiß, welche
Menge, und zwar diese ın der gleichen Einheit gemessen, in der
auch die angewandten künstlichen Lichtquellen gemessen wurden,
die Pflanzen ın den verschiedenen Monaten des Jahres bei uns in
der Natur empfangen.
Der erste, welcher auf die große Wichtigkeit solcher Tages-
lichtmessungen aufmerksam machte, war Wiesner. Seine zahl-
reichen Untersuchungen, die zusammenfassend in dem Werke:
„Der Lichtgenuß der Pflanzen“ (121) zur Darstellung gelangten,
sind den Botanikern am geläufigsten und am meisten benutzt worden,
bleiben wır darum zunächst bei ihnen stehen.
Die Methode, die Wiesner anwandte, um die Lichtintensitäten des
Tageslichtes zu bestimmen, lehnt sich eng an das von Bunsen und
Roscoe (15) angewandte, sogenannte photographische Verfahren an.
Es zeichnet durch besondere Einfachheit und Billigkeit sich aus, denn
es gehört nichts weiteres dazu als ein kleines schwarzes Holzrähm-
chen, in dem neben einem Papierstreifen von bestimmten schwarzen
Ton (Normalton) ein in wenigen Minuten herzustellendes photo-
graphisches Normalpapier gelegt wird. Der reziproke Wert der
Sekundenzahl, welche notwendig ist, um dem photographischen
17*
994 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
Normalpapier den Normalton zu geben, ist der Ausdruck der In-
tensität und zwar in Bunsen-Roscoe’schen Einheiten (= der
Intensität, welche wirksam ist, um auf dem Normalpapıer die Farbe
des Normaltons ım Zeitraum einer Sekunde hervorzurufen).
Diese Methode hat sich schnell eingebürgert und es sind mit
ihr teils von Wiesner selbst, teils von anderen, Schimper (95),
Kißling (47), Schwab (99), Rübel (92) und Samec (94) an allen
Orten der Erde zahlreiche Messungen ausgeführt worden, wodurch
unsere Kenntnisse sehr wertvolle Erweiterungen erfahren haben.
So wurden manche gesetzmäßige Änderungen der Lichtintensität
aufgedeckt, manche wertvolle Beziehungen, wie unter anderen
zwischen dem Lichtgenuß und der Lufttemperatur, gefunden und
schließlich auch manche brauchbare Ergebnisse, die dem Forstmanne
im Walde, dem Gärtner bei seinen Züchtungen im Freien und ın
den Gewächshäusern zugute kamen, erzielt.
So wertvoll in vieler Hinsicht diese photographische Methode
auch ist, so muß doch immer wieder von ıhr gesagt werden, daß
die mit ihr ermittelten Zahlen nicht als eigentliche Lichtwerte aus-
gegeben werden dürfen; denn die angewandte Methode gestattet
nur die chemische Intensität der Sonnen- und Himmelsstrahlung
zu bestimmen. Das gleiche gilt übrigens von allen ähnlichen Me-
thoden, die auf demselben Prinzip beruhen, so unter anderen auch
von den von Steentrup!) und v. Esmarch (24) konstruierten Licht-
messern. Bei allen diesen Methoden sind die schwächer brechbaren
Strahlen des Spektrums ganz unberücksichtigt geblieben. Diese
Strahlen spielen nun aber für viele Lebensvorgänge der Pflanzen
eine wichtige, wenn nicht ausschlaggebende Rolle. Die wichtigen
chemischen Vorgänge ın der Pflanze, wie Kohlensäureassimilation
und Chlorophylibildung dürften hauptsächlich in den langwelligen
Strahlen erfolgen. Wenn diese Ansicht nach den Untersuchungen
von Kniep und Minder (51), Meinhold (64) und Schmidt (96)
auch nicht mehr in ihrer ursprünglichsten Form, wo diese Vor-
gänge fast ausschließlich in diesen Strahlen erfolgen sollten, gelten,
so haben doch gerade diese letzten Untersuchungen ergeben, daß
wir diese Strahlen nicht vernachlässigen dürfen.
Doch wie immer in einem solchen Falle werden Zahlen am
deutlichsten sprechen. In einer ausgezeichneten Studie von Dorno
(22) über Licht und Luft im Hochgebirge, die uns in dieser Arbeit
noch des öfteren beschäftigen wird, wurden Lichtmessungen, einmal
mit dem Weber’schen Photometer (s. darüber S. 251) ausgeführt,
dann aber auch zum Vergleich die Wiesrer’sche photochemische
Methode benutzt. Aus dem großen Zahlenmaterial sei hier nur
1) Näher beschrieben in Eugen Warming’s Lehrbuch der ökologischen
Pflanzengeographie. Dritte Aufl. 1914, 1. Lieferung, S. 13.
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 225
die folgende Tabelle 1 wiedergegeben. In dieser ıst das Ver-
hältnis der photographisch wirksamen Strahlung zu der photometrisch
ermittelten roten Strahlung angegeben und zwar im Sonnenlicht, im
diffusen und im Gesamtlicht an absolut wolkenlosen Tagen in Be-
zıehung zur Sonnenhöhe. In der vierten Horizontalreihe ist das
Verhältnis der Zahlen der zweiten horizontalen Reihe zu den der
ersten, also das Verhältnis des Sonnenlichtes zu dem diffusen Licht
gebildet. Die Zahlen sind das Jahresmittel aus einer großen An-
zahl von Messungen.
Tabelle 1.
Verhältnis der photographischen zu den photometrischen Werten.
10° | 15° | 20° | 25° | 30° | 35° | 40° | 45° | 50° | 55° | 60° | 65° |Mittel
|
1. Im Sonnenlicht 8,3| 8,61 8,9[10,0 10,5110,7111,9112,7113,3114,4114,7|14,1) 11,5
DV
. Im diffusen Licht 37,5.36,1136,4.37,2 39,1137,7138,8/38,8|38,5[43,3144,1144,1| 39,3
. Im Gesamtlicht [15,6]14,4113,1113,1|13,5114,2114,8 15,8 17,5117,1|17,1115,7| 14,9
4. Babez Bomenlicht | 1,5) aa\a.1| 3,2) 3,7 3,5 3,3] 3,1] 29] 3,01 30] 31] 3,5
Reihe 1 diff. Licht | | | |
(36)
Aus diesen Zahlen geht deutlich hervor, daß der Anteil, den
das diffuse Licht an der Gesamtbeleuchtung nimmt, ein ungleich
größerer ist als ın Hinsicht des wahren Lichtes. Wir sehen, daß
es sich um Abweichungen von hunderten von Prozenten handeln
Sonnenlicht
diffuses Licht
4'/,mal, im Mittel 3'/,mal so groß gefunden als photometrisch und
das Verhältnis schwankt je nach der Sonnenhöhe um 4,5—2,5. Ich
glaube nach diesen Zahlen wird jeder Dorno recht geben, wenn
er in Hinsicht auf die soviel in der Botanik verwandten Zahlen von
Wiesnersagt: „Eine zahlenmäßige Übertragung des photographisch
gemessenen Verhältnisses auf das wahre Lichtverhältnis erscheint
damit nicht angängig; wıll man praktisch wissen, welches Licht
einer Pflanze in der Sonne im Verhältnis zum Schatten zukommt,
wird man photometrische Messungen nicht umgehen können.“
(S. 67.)
Einen weiteren Übelstand der Wiesner’schen Liehtmeßmethode
müssen wir oft darin erblicken, daß die Messungen nicht Bezug
nehmen auf die heute bei uns allgemein gebrauchte Einheitskerze.
Zur Charakterisierung der sogenannten Bunsen-Roscoe’schen
Einheit sagt Wiesner nur, daß die Intensität des gesamten Tages-
lichtes in Wien bei unbedeckten Himmel zur Mittagszeit in den ersten
Tagen des Mai gleich dieser Einheit sei. Mit dieser Angabe läßt
kann. Das Verhältnis wird photographisch ım Extrem
926 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
sich gar nichts anfangen, so z. B., wenn es uns etwa auf den Ver-
gleich des Tageslichtes mit künstlichen Lichtquellen wie in den
oben erwähnten Versuchen von Klebs (48) ankommt.
Helligkeitsmessungen, die das gesamte Tageslicht berücksich-
tigen und zudem in dem gewöhnlichen Maße ausgeführt sind, liegen
nicht sehr zahlreiche vor. Es dürften hier nur die Arbeiten der
beiden Physiker Weber (120) und Dorno (22) in Betracht kommen.
Ersterer hat seit 1890 regelmäßig die mittlere Ortshelligkeit in
Kiel zur Zeit des wahren Mittags gemessen, letzterer hat in der
bereits oben erwähnten Studie in den Jahren 1908—1910 ausführliche
Untersuchungen über die Lichtverhältnisse in Davos, dem bekannten
im Hochgebirge der Schweizer Alpen, in 1600 m Seehöhe gelegenen
Orte gemacht. Beide Forscher benutzen zu ihren Lichtmessungen
das vom ersteren konstruierte sogenannte W eber’sche Photometer.
Auf die Brauchbarkeit dieses heute bei den Lichtuntersuchungen
oft benutzten Photometers soll an anderer Stelle eingegangen werden
(s. S. 251), ich gehe deshalb gleich zu den von diesen Forschern
ermittelten Zahlen über.
Bereits Lehmann (58) hat auf die Messungen Weber’s hin-
gewiesen und einige seiner ermittelten Zahlen wiedergegeben. Diese
Zahlen seien durch solche aus den Jahren 1908—1910 ergänzt,
denen ich aber die Maxima und Minima sowohl die absoluten wie
die mittleren beifüge. Ich wähle gerade die Zahlen dieser Jahre,
weil Dorno in dem gleichen Zeitraum in Davos die gleichen
Messungen ausgeführt hat, so daß wir in den beiden nächsten Ta-
bellen Zahlen vor uns haben, die ın allen Punkten miteinander
zu vergleichen sind und die uns in der schönsten Weise zeigen
können, ein wie großer Unterschied zwischen zwei so verschieden
hochgelegenen Orten in der Helligkeit herrscht.
Die Angaben in den beiden nächsten Tabellen geben uns also
die mittägliche Ortshelligkeit wieder und zwar ın 1000 MNK
(Meter-Normalkerzen).
Vergleichen wir die Zahlen dieser beiden Tabellen miteinander,
so springt der große Unterschied in der Helligkeit dieser beiden
Orte direkt in die Augen. Davos hat im tiefen Winter die 6fache
Helligkeit, im höchsten Sommer die 1,8fache, im Durchschnitt die
2,5fache von Kiel. Bei dem großen Einfluß, den das Licht auf
das Pflanzenleben ausübt, dürfte es selbstverständlich sein, daß sich
dieser Unterschied auch irgendwie in der Pflanzenwelt zeigt. Jeden-
falls dürfen solche Ergebnisse beim Studium der Hochgebirgsflora
nicht vergessen werden. Aber auch für den Pflanzenphysiologen
kann eine solche Erkenntnis unter Umständen von Wert werden.
Ich denke z. B. hier an die oben von Klebs (45) angeführten Unter-
suchungen über das Treiben der Bäume. Es wäre doch sicherlich
sehr interessant, zu erfahren, ob etwa Buchen in dem lichtreicheren
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 227
Tabelle 2.
Die mittägliche Ortshelligkeit in Kiel in 1000 Meterkerzen,
FE Mittelwert |
Monat aus allen | Mittl. Max. | Abs. Max. | Mittl. Min. | Abs. Min.
Messungen
Januar 7,7 20,4 | 24,8 2,2 2,0
Februar 15,6 | 43,6 67,8 27 | 25
März 37,4. + .81,9 130,6 | 3,4
April 40,5 85,9 123,6 6,0 2,1
Mai 46,8 | 88,7 109,1 91 | 3,9
Juni 59 | 92 97,5 19,1 9,7
Juli 54,4 154,3 184,7 16,6 10,2
August 148 | 2900 97,7 143 12,6
September 44,5 |. 1032 146,8 1230 Ken 3,9
Oktober 240 | 589 77,7 Bl
November 14,4 | 35,0 48,0 2,6 | 2,2
Dezember 7,1 | 14,2 17,5 1,4 1,3
Tabelle 3.
Die mittägliche Ortshelligkeit in Davos in 1000 Meterkerzen.
fi | Mittelwert |
Monat aus allen | Mittl. Max. | Abs. Max. | Mittl. Min. | Abs. Min.
Messungen | |
Januar 45,9 74,7 82,3 17,3 10,9
Februar 61,3 102,3 111,4 20,4 10,1
März 95,8 159,4 180,0 49,2 40,1
April ö 112,4 189,6 206,2 40,9 26,8
Mai 117,0 197,5 204,6 22,1 16,7
Juni 112,7 215,1 223,2 22,6 17,5
Juli 99,8 178,1 181,8 19,1. | 8,1
August 102,4 176,3 182,3 20,6 13,2
September 84,7 161,3 16558 | 198 8,8
Oktober 72,6 Bl 1248 20,0 11,6
November 45,1 on. 90,6.) Wegen 11,3
Dezember 38,2 59,8 68,8 12,5 6,9
Hochgebirge zum Weiterwachsen zu bringen wären. In einer an-
deren Tabelle hat Dorno (22 S. 112) die mittleren Tagessummen
der Helligkeitswerte für die Monatsmitten des Jahres in 1000 MNKSt
998 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
(Meterkerzenstunden) berechnet, die in der folgenden Tabelle 4
wiedergegeben sind.
Tabelle 4.
Mittlere Tagessummen der Helligkeitswerte in 1000 Meterhefnerkerzen.
Wolkenlose Tage.
Helligkeitssummen
1000 Meterkerzenstunden
8 der Horizontalfläche durch ae a
B 3 : Fläche durch
Mona | A, |, | An | Kamm.
15. Januar ARE 236 41 192 588
15. Februar . EP Uyıps 400 63 334 775
19, Marz Sun neu 680 95 590 1079
15. April . KERNE 997 118 871 1375
HD -Marae ee 1290 149 1145 1720
15: Jun nr DR 1290 151 1145 | 1669
IHN ee 1319 160 1143 | 1708
13 AUmEL Ed 1077 85 994 1521
15. September . . . .» 796 68 739 1298
15, @kteber . Sat N. . 516 46 467 981
15. November . . . . 283 52 246 | 7083
15. Dezember . . . . 195 4 1630 568
Für einen Ort der Ebene liegen meinesW issens solche Zahlen nicht
vor. Aus den Angaben aber, daß ın Davos im tiefen Winter die Hellig-
keit ungefähr 6mal und im Sommer ungefähr 1,8mal so groß ist
wie in Kiel, können wir ungefähr aus den obigen Zahlen die Werte
für Kiel berechnen. Wir bekämen für die beiden Monate Juli und
Dezember zu folgenden Werten:
| Gesamtlicht | Diffuses Licht
Monat Juli e. 659.000 MSKSI. e. 80000 MNKSt.
„ Dezember c. 35000 ” c. 7000 a
Diese Angaben beziehen sich auf wolkenlose Tage. Wir sehen,
daß in der Tat den Pflanzen in der Ebene eine verhältnismäßig
geringe Lichtmenge im Winter zur Verfügung steht. In den künst-
lichen Lichtversuchen von Klebs wurden nun ım allerbesten Falle
den Pflanzen 24000 MNKSt. gegeben. In dem Hochgebirge, wo
das Scnnenlicht vorherrschend ist, würden wir den Pflanzen weit
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 229
mehr und vor allem weit billigeres Licht geben können. Das
Hochgebirge ist, was die Lichtverhältnisse angeht, für manche
Untersuchungen nach den Lichtmessungen Dorno’s der ideale
Untersuchungsort.
Dieses Beispiel hat uns indes von den Haupttabellen 2 und 3
abgelenkt, gehen wir darum noch einmal zu ihnen zurück. Ver-
gleichen wir noch die Maxima und Minima miteinander, diese können
uns über die Veränderlichkeit des Tageslichts guten Aufschluß geben.
Wir erkennen vor allem an den Zahlen, die in Kiel gewonnen
wurden (Tab. 2), daß es sich um ganz enorme Schwankungen han-
delt. Nach den Angaben Weber’s (120, 1893, S. 82) kann sich die
Tageshelligkeit innerhalb weniger Minuten um 100%, verstärken
resp. verringern. Daraus folgt, daß für länger währende Unter-
suchungen das Tageslicht nicht zu gebrauchen ist. Aber auch bei
kürzer dauernden Untersuchungen ist die äußerste Vorsicht geboten.
Bei dieser Gelegenheit mag auf eine weitere unter Umständen
wichtige Beobachtung hingewiesen werden. Dorno beobachtet,
daß aufziehende weiße Wolken, wenn sie die Sonne nicht verdecken,
nicht, wie man dies anzunehmen geneigt ist, die Gesamthelligkeit
herabdrücken, sondern daß sie diese unter Umständen sogar bis zu
40%, erhöhen können, ja selbst leichte Dunstschleier vor der Sonne
die normale Helligkeit nicht erheblich heben.
Natürlich ändert sich auch an ganz klaren Tagen sowohl das Ge-
samtlicht, als auch das diffuse Licht in den einzelnen Stunden des
Tages. Solche Zahlen haben gerade im Hinblick auf die Unter-
suchungen, die mit Tageslicht ausgeführt sind, für den Pflanzen-
physiologen großes Interesse, ich gebe darum hier solche von
Dorno (22, S. 111) ın Davos ermittelte Zahlen wieder. Es dürften
dies die einzigsten sein, die in dieser Richtung gemacht sind. Die
erste Tabelle (Tab. 5) gibt das Gesamtlicht, d. h. das Sonnenlicht
—- diffuses Licht, die zweite (Tab. 6) das diffuse Licht allein wieder.
Sicherlich wäre es zu wünschen, wenn solche photometrisch
ermittelten Lichtmessungen, wie sie nun für Kiel und Davos vor-
liegen, noch für mehrere Orte der Erde durchgeführt würden. An
anderer Stelle macht Dorno?) Vorschläge zum systematischen
Studium des Lichts und Luftklimas der den deutschen Arzt inter-
essierenden Orte. Daß auch der Biologe an solchen Untersuchungen
ein gewisses Interesse hat, das dürften diese wenigen Angaben aus
dem so großen Material, das Dorno zusammengetragen hat, bereits
ergeben und es wäre demnach zu wünschen, daß bei der notwendigen,
einheitlichen Organisation auch die biologischen Interessen mit be-
rücksichtigt würden.
2) Veröffentl. d. Zentralstelle für Balneologie. Heft VII.
930 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
Tabelle 5.
Tagesgang der mittleren Gesamthelligkeit an den 12 Monatsmitten in 1000 Meterkerzen.
Wolkenlose Tage.
| | | !
Monat |6a|7a|8a| 9a |10a|11a Mg. ip |2r|3n jr te:
= = | = = - -
150Januar. % | 36,5| 52,2| 53,8] 50,8] 37,2| 20,0
15. Februar . . 39,2] 61,5| 72,8| 75,0] 73,5| 56,5| 40,3
15: März 35,2 64,8] 86,81104,01110,01104,0, 98,2] 74,0,32,8
15. April. . . '35,0[64,0 91,2]118,5|131,9136,01132,0'116,0| 96,0 66,0|35,0
15. Mai . . . 130,2|59,0!88,0 117,81137,8I150,5\156,8151,8 140,6 111,0184,559,2
15. Juni... [83,0/60,889,51112,7 131,5|148,8|153,2'150,0|130,8'109,8 86,262,8'39,6
15. Juli . . . Ko,3l66,7l03,71120,7I137,4|150,6|156,5 150,51134,0 112,4 87,5158,8
15. August . . |12,5!42,5 75,3 101,0 122,3!132,7|136,7 132,9|116,5|101,6\73,7144,3
15. September . 27,6148,7! 78,6| 96,21109,5|113,9 108,0) 95,7| 77,8148,6
15. Oktober . . 19,8) 49,1) 72,81 84,1| 90,0 83,2! 72,8| 51,4
15. November . | 43,8| 52,5| 57,8 56,0| 46,51 24,0|
15. Dezember . | | 26,31 40,3| 43,8 45,8) 36,3| 19,5
Tabelle 6.
Tagesgang der mittleren diffusen Helligkeit an den 12 Monatsmitten in 1000 Meterkerzen.
Wolkenlose Tage.
Monat 62|7a|8a|9a 10alllaMg.|1p/2p|3p|4p an sn
5:2 Januar anne u... | 7,.2\ 8,01 9,4| 9,2| 7.0] 5,2
15. Februar . ENT HR 7,5110,5110,8111,2110,5| 9,0] 6,81
TO MArZ an Paten: 8,2110,8112,0|13,0113,4115,0112,8| 9,8) 7,4
IH April m nr ' 8,8111,8]12,2113,2)13,8113,7/13,2[10,8110,4| 8,8| 7,0
: 15. Mai . . . . .... 1%0111,0112,0113,8115,2|16,0|15,2114,2|13,8111,8| 9,8, 7,8
15. Jwmi........ |80| 82| 8,8]11,2]13,4115,2]15,8112,5]11,3! 9,2] 7,7] 5,8] 3,8
19.2 Julien Ba 5,71 8,5| 8,8112,1115,0|17,3/18,0117,8116,2\14,5112,5|10,6
15. August‘... 7. 02 16,2,.6,9|.7,31,7,6178.10:8.2184| 7,7). 6,4100, 0,6] 10,5
15. September . 5,9 6,2| 6,8| 7,2] 7,6| 7,8] 7,6| 7,2] 6,8] 6,2
15. Oktober . , | 3,5| 6,2] 6,4| 6,5] 6,5| 6,2] 6,2] 5,9
15, November °.., ....». 8,0| 9,0/10,6| 9,1] 8,2] 7,3 |
15. Dezsmber 5,8] 8,81 9,2| 7,8] 7,2| 5,6
Bis jetzt haben wir das Tageslicht als weißes Licht betrachtet.
Wir wissen nun aber, daß jedes weiße Licht eine Zusammensetzung
ist von mehreren einzelnen Farben. Das Spektrum, das wir er-
m
4
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 231
halten, wenn wir einen Sonnenstrahl durch ein Prisma schicken,
ist- in seiner Zusammensetzung sowohl in den einzelnen Farben von
rot bis violett als auch über die sichtbaren Grenzen hinaus qualı-
tativ und quantitativ genau untersucht. Was die qualitative Unter-
suchung angeht, so brauche ich nur daran zu erinnern, daß wir heute
weit mehr als 5000 Frauenhofer’sche Linien kennen und genau
wissen, welchen Elementen sie zugehören. Durch klassische Unter-
suchungen, vor allem von Langley (56, 57) ıst aber auch die
quantitative Lösung der Aufgabe ım wesentlichen als gelöst an-
zusehen.
Langley legte als Einheitsmaß das der Wärme zugrunde:
Alle Strahlen, sowohl die kurzwelligen wie die langwelligen, führen
demjenigen Körper, der sie restlos absorbiert eine ihrer Energie
entsprechende Wärmemenge zu. In dem Bolometer fand er ein
Meßinstrument, das solche kleine Energien, wie sie in Spektral-
linienbreite entsprechenden Spektralteilen ausgesandt werden, noch
sicher anzeigt. Mit einem solchen Apparat, der auch durch eine
Thermosäule ersetzt werden kann, ist in kürzester Zeit die ganze
Energieverteilung einer Lichtquelle aufzunehmen. Langley unter-
sucht mit diesem Apparat die Wirkung der Sonnenstrahlen. Seine
Ergebnisse, die in der Feststellung der für die Erde wichtigsten
Naturkonstante, „der Solarkonstante“ ihre Krönung fanden, sind
verschiedentlich zusammengestellt. Ich verweise hier nur etwa auf
die Lehrbücher von Hann (39) und Trabert (109). Dort wird man
auch die Energiekurve des Sonnenlichtes außerhalb unserer Atmo-
sphäre und die finden, welche von solchen Sonnenstrahlen erzeugt
wird, die die Atmosphäre durchdrungen haben. In dem letzten der
beiden erwähnten Lehrbüchern wird auch das diffuse Licht weit-
gehendst berücksichtigt. |
In unserem Zusammenhang kommt es weniger auf Messungen
an, die sich auf alle Einzelheiten des Spektrums erstrecken, wir
geben uns schon zufrieden, wenn wir etwas über die Veränderlich-
keit größerer Spektralbezirke ım Tageslicht erfahren. Bei Be-
sprechung der Intensität des weißen Tageslichtes lernten wir den
großen Wert systematisch durchgeführter Messungen kennen und
solche Messungen suchen wir auch über die spektrale Zusammen-
setzung des Tageslichtes.
Der einzigste, der solche Messungen ausgeführt hat, ist wieder
Dorno in seiner bekannten Studie, derer wir schon des öfteren
Erwähnung taten. Durch 3 Jahre hindurch hat er vier Spektralbezirke
genauer verfolgt. Ich gebe seine Resultate in Form von Kurven
hier wieder, die uns in einem Blick ein anschauliches Bild von
seinen Ergebnissen zu geben vermögen (s. Dorno 22, S. 141).
Die erste Kurve (Fig. 1) gibt uns das Verhältnis der Strah-
lungssummen der vier beobachteten Spektralbezirke im Laufe der
932 H.Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
12 Monate des Jahres wieder. Auf der Abzissenachse sind die
Zeiten (Monate des Jahres) und auf den zugehörenden Ordinaten die
zu den Zeiten gehörenden Strahlungssummen aufgezeichnet.
ER ER 4
Aarr |
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Bf
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t
-— Datum
a Wärme- UR
| —.—.— Helligkeits- H | Strahlung der
blauvioletten 7? Sonne
++-++ ultravioletten UV |
Fig. 1. Jährl. Gang der Summen der
Wie groß sind nach dieser Kurve die Veränderungen der
Sonnenstrahlen innerhalb eines Jahres! Betrachten wir nur einmal
die ultraviolette Strahlung. Sie ist im Sommer etwa 20mal so stark
wie ım Winter, von ihr bringt ein Sommertag fast soviel wie ein
ganzer Wintermonat. Wir wissen nun aber, daß diese Strahlen
tief in das Leben der Organısmen eingreifen, wie zahlreiche Unter-
suchungen über die Wirkung dieser Strahlen auf Tier und Pflanzen,
insbesondere Bakterien, ergeben haben. Ich verweise hier nur auf
die Arbeiten von Sachs (93), deCandolle (16), Loeb (60), Thiele
und Wolf(108), Hertel(42), Schulze (98), Kluyver (50), Oker-
Blom (72), Vogt (115) und Bovie (11, 12). Auch in bezug auf
die anderen Strahlen verhalten sich die einzelnen Jahzeszeiten ganz
verschieden. Besonders klar tritt auch die ganz verschiedene Qua-
lität der Frühlings- und Herbstsonne in den obigen Kurven uns
entgegen.
Weiter seien in den vier nächsten Kurven (Fig. 2) die verschiede-
nen Lichtzusammensetzungen des Sonnenlichtes an den verschiedenen
Tages- und Jahreszeiten hier wiedergegeben. Sie beziehen sich nur
auf die verschiedenartigsten (Wärme- und ultravioletten) Strahlen
und sind gezeichnet, indem die Maxima beider gleich und gleich
1000 gesetzt sind.
Man erkennt aus diesen Kurven unmittelbar wie schnell und
gewaltig die Zusammensetzung des Lichts schwankt. Man vergleiche
nur etwa den 15. Juli mit dem 15. Januar. Am Mittag ist ım
Sommer der Wärmeanteil wohl 10mal so groß, am Morgen sogar
20mal so groß wie ım Winter,
Intensitäten im relativen Maß
—S
7
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 933
59
Auch Wolken können die Qualität des Lichtes wesentlich
ändern. Wir hörten (S. 229) ja, daß Dorno festgestellt hat, daß
aufziehende Wolken die Intensität des Lichtes wesentlich erhöhen
können. Dieses stellt man aber nur fest, wenn das. Licht photo-
metrisch gemessen wird. Führt man die Messung photographisch
durch, so zeigen Wolken zumeist sogar eine Schwächung der In-
tensität des diffusen Lichtes. Dies ist nur so zu erklären, daß die
Lichtvermehrung der aufziehenden Wolken nur auf einer Vermeh-
rung der langwelligeren Strahlung begründet ist. Auch ın dieser
Tatsache dürfte sich der große Mangel der photographischen Methode,
gegenüber der photometrischen zeigen.
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Fig. 2. Die verschiedenartige Zusammensetzung des Sonnenlichtes in den vier
Jahreszeiten.
Im übrigen brauchen wir uns nicht weiter mit dem sonst
wichtigen Kapitel der spektralen Zusammensetzung des Lichtes auf-
halten. Es liegen nämlich auf botanischem Gebiet ausgezeichnete
Untersuchungen vor, in denen das ganze Problem scharf herausge-
arbeitet und die ganze in Betracht kommende Litteratur zusammen-
getragen ist, so daß ich hier nur auf diese verweisen brauche. Es
sind die Untersuchungen vor allem von Kniep und Minder (51),
dann die von Meinhold (64), Lubimenko (62), Schmidt (96),
Klebs(49) und Puriewitsch (84). Gerade diese Arbeiten können
einem so recht klar zeigen, wie sehr es bei sehr vielen Unter-
suchungen auf Genauigkeit ankommt, und wie die Vernachlässigung
eines Faktors, wie etwa der der Intensität gleich zu großen Fehl-
schlüssen Anlaß geben kann.
II. Künstliche Lichtquellen.
Künstliche Lichtquellen wurden jederzeit bei den pflanzen-
physiologischen Versuchen benutzt, wenn sie auch gegenüber dem
Tageslicht anfänglich ganz zurücktraten. Es ist nicht uninteressant,
sich einmal in kurzen Zügen die ganze Entwicklung vor Augen zu
führen, welche die Lichtquellen von den ersten Zeiten, wo man
anfıng, physiologische Versuche zu machen bis hinauf in unsere
EN N a UREr
234 H.Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
‚Zeit des Gases und der Elektrizität durchgemacht haben. Wir
werden dabei die ganze Entwicklung wiederfinden, welche die Be-
leuchtung in den letzten anderthalb Jahrhunderten genommen hat.
Dieser geschichtliche Überblick führt uns weit zurück in die Zeit,
wo die herrlichen Arbeiten von Bonnet und Duhamel entstanden.
Bonnet(8) untersucht die Bewegungen, die Blätter ausführen,
um ihre Oberfläche senkrecht zu den einfallenden Lichtstrahlen zu
stellen, und glaubt in dem Licht eine der am meisten in Betracht
kommenden Ursachen gefunden zu haben. Unter den Versuchen,
die dies beweisen sollen, finden wir auch den folgenden: Zwei
Zweige von Atriplee werden abends beim Dunkelwerden abge-
schnitten und künstlich und zwar „avec une bougie de quatre ä la
livre, plac6e a deux ou trois pouces de chacun deux (p. 280)“ be-
leuchtet. Die Zweige waren dabei so aufgestellt, daß ihre Ober-
flächen vom Licht abgewandt waren. Wir, die wir im Zeitalter
der Elektrizität leben, lächeln vielleicht, wenn wir uns diese pri-
mitive Versuchsanordnung vorstellen, aber sie erfüllte ihren Zweck;
denn „a une heure et demie, une des feuille avoit commenc6 a se
retourner, ä sept heures du matin, cette feuille s’etoit fort &levee,
comme pour oflrir sa surface superieure ä la lumiere (p. 211)“.
Derselbe Versuch wird dann mit einem Weinblatt mit dem
gleichen Erfolg wiederholt.
Duhamel (23) widmet der Schlafbewegung der Blätter seine
Aufmerksamkeit und sucht deren Zustandekommen zu ergründen.
Es lag ja zu nahe, in dem Wechsel zwischen Tag und Nacht, vor
allem in dem Wechsel zwischen Licht und Dunkelheit die Ursache
für die Bewegung der Blätter zu suchen. Das Licht wegnehmen
war ja leicht, aber er ließ sich auch durch die damals große Schwierig-
keit das Tageslicht zu ersetzen, nicht abschrecken. Mit einer Fackel
(fambeau) wurden die Pflanzen des Abends beleuchtet. Nach dem,
was wir von den Schlafbewegungen wissen, verstehen wir es, wenn
„la lumiere artificielle d’un flambeau ne produit aucun effect sur
la sensitive (p. 159)“.
Der gleiche Gegenstand wurde etwa fünfzig Jahre später von
de Gandolle(17) behandelt und auch dieser Forscher verwendet
künstliches Lieht. Aber die Beleuchtungstechnik war bereits einen
Schritt: vorwärts gegangen. Die sogenannte Argand’sche Lampe be-
hauptete das Feld. Diese Lampe wurde mit Rüböl gespeist. Statt
des bis dahin verwandten massiven Runddochtes wurde ein breiterer
und flacherer Docht verwandt, der zu einem Hohlzylinder zusammen-
gebogen war. Eine weitere wesentliche Verbesserung bestand darin,
daß die Flamme von außen und von innen von dem Luftstrom ge-
troffen wurde. Es war also die Konstruktion, wie sie die gewöhn-
lichen Petroleumlampen noch heute haben. De Candolle wußte
diese bedeutende Verbesserung für seine Versuche gleich nutzbar
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 235
zu machen. Um den Einfluß dauernder Beleuchtung auf die Schlaf-
bewegung zu studieren, setzt er die Versuchspflanzen dem Licht von
sechs solchen Argandlampen aus, einem Licht, das °/, des hellen
diffusen Tageslichtes (equivalant du 5/6“ du jour sans soleil [p. 860])
gleichkommen soll. Wir haben heute noch alle Hochachtung vor
diesem großen Schritt vorwärts ın der Beleuchtungstechnik, aber
in der Beurteilung der Lichtstärke dürften die damaligen Menschen
doch wohl sehr optimistisch gewesen sein, wenn sie das Licht von
sechs solchen Lampen = °/, eines hellen diffusen Tageslichts setzen.
Selbst wenn wir etwa den ungünstigsten Fall annehmen und nach
Tabelle 2 das Tageslicht gleich c. 2000 MK annehmen, so müßte
eine jer® solche mit Rüböl getränkte Lampe einer Lichtstärke
von c. 270 MK. gleichkommen, also eine Lichtstärke haben, wie sie
unsere heute zur Str aßenbeleuchtung benutzten hochkerzigen Lampen
haben?) Wir verstehen eine solche Überschätzung nach der da-
malıgen dunklen Zeit, aber dies Beispiel ist, und darum führe ich
es an, besonders lehrreich. Es zeigt uns, ein wie großer Fehler
bei der Abschätzung der Helligkeit einer Lampe durch das Auge
eintreten kann.
Diese Argandlampen finden wir noch in mehreren Arbeiten der
folgenden Zeit wieder, so z. B. bei Meyen(65), der beim Studium
des Öffnens und Schließens der Blüten sich vier solcher Lampen be-
diente.
In der Mitte des vorigen Jahrhunderts wurde das Rüböl durch
einen besser brennenden Stoff, durch das Petroleum ersetzt und
durch die Einführung dieses erfuhr die Argandlampe eine weitere
wesentliche Verbesserung. Auch die Petroleumlampe ist zur künst-
lichen Beleuchtung der Pflanzen herangezogen worden. Als erster
benutzte eine solche, soweit ich sehe, Famintzin (26, 27, 28), der
sehr viel mit künstlichem Licht arbeitete und den Beweis erbrachte,
daß künstliches Licht bei keimender Kresse alle die Erscheinungen
zu erzeugen vermag, welche bis dahin unter dem Einfluß des Tages-
lichtes beobachtet worden waren. Diese historische Lichtquelle läßt
sich am besten mit einer „Laterna magica“ vergleichen. In einem
vier eckigen Blechkasten mit dachförmiger oberer Bedeckung standen
zwei Petr oleumlampen, deren Licht durch einen sphärischen Schirm
durch eine vorne im Kasten angebrachte Öffnung geworfen wurde.
Durch eine Linse wurden die hen weiter gesammelt und
konnten durch einen zweiten sphärischen Schirm nach unten geleitet,
werden. Wärmestrahlen waren dabei durch ein Glasgefäß mit
parallelen Wänden ausgeschaltet.
Mit der Zeit, in der Famintzin diese Untersuchungen aus-
führte, sind wir ber eits in eine solche gekommen, wo andere Beleuch-
3) Rüböl hat bei einem Verbrauch von 13,9 g in der Stunde eine Lichtstärke
von 2,8 Kerzen.
936 H.Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 7
tungsarten sich Geltung verschafft hatten: das Leuchtgas und die
Elektrizität.
Des Leuchtgases bediente man sich bei pflanzenphysiologischen
Versuchen oft, und zwar in allen den Brennerformen, die man im
täglichen Leben gebrauchte. Auch der Argandbrenner fehlt nicht,
2. B. Pfeffer (77), Oltmanns(73), Rothert‘(90) und Frö-
schel (30) in ihren physiologischen Untersuchungen, selbst das
Drummond’sche Licht ist verwandt worden (16, 81). Besonders
wichtig wurde eine Erfindung eines neuen Brenners durch Auer
von Welsbach (1885). Mit diesem sogenannten Auerbrenner war eine
Lampe gewonnen worden, die bei verhältnismäßig geringem Gas-
verbrauch eine Lichtintensität von 60—90 MK. besaß. Eine solche
hohe Lichtstärke konnte, abgesehen natürlich vom elektrischen Bogen-
licht lange Zeit keine andere Lampe aufweisen. In der botanischen
physiologischen Literatur begegnen wir diesem Brenner auf Schritt
und Tritt (45, 71, 58, 13, 1, 4, 36, 82, 83), bis hinauf zu der Zeit,
wo Richter (86) ıhr durch die Beobachtung, daß auch die ge-
ringsten Spuren von Leuchtgas nachträglich auf das Pflanzenleben
einwirken können, ihrer weiteren Verwendung ein jähes Ende be-
reitete.
Heute hat sich in der pflanzenphysiologischen Methodik das
elektrische Licht die führende Stellung erworben. Man konnte um
so eher auf das Gaslicht verzichten, weil die elektrische Beleuch-
tungstechnik in den letzten 15 Jahren Erfolge aufzuweisen hat, die
in dem Konkurrenzkampf, den das Gas jederzeit mit der Elektrizität
geführt hat, das Übergewicht ganz dem letzteren gaben. Wir wollen
diese Entwicklung gleich verfolgen. Ich möchte indes zunächst des
Bogenlichts Erwähnung tun, des Lichts, das sowohl was seine In-
tensität, als was seine Farbenzusammensetzung angeht, dem Tages-
licht am nächsten stehen dürfte (vgl. die Arbeiten von Gaud(34)
und Precht und Stenger(80)).
Ich wıll hier nur einige Arbeiten nennen, die sich dieses Lichts
bedienten. Der erste, der von einer solchen Lichtquelle Gebrauch
machte, dürfte Herv&-Mangon (43) gewesen sein, der 1861 an
fünf aufeinanderfolgenden Tagen junge Keimlinge je 12 Stunden mit
dem Licht einer elektrischen Bogenlampe bestrahlte und fand, daß
solche junge Pflanzen bei diesem Licht Chlorophyll zu bilden ver-
mögen. Zu sind dürften weiter die zahlreichen Uutersuchungen
von C. William Siemens (19, 100), der in seinem Landhaus
in Sherwood Versuche darüber anstellte, wie dauernde elek-
trische Beleuchtung von einer Intensität von 1400 Kerzen auf das
Pflanzenleben wirkt. Angeregt wurde Siemens zu diesen Versuchen
durch eine Arbeit Schübeler’s (97), der die Wirkung des ununter-
brochenen Tageslichts auf die Pflanzen der Polarländer untersucht
hatte. In derselben Richtung bewegen sich ja auch die bekannten
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 237
Untersuchungen von Bonnier(9, 10), der das Licht elektrischer
Bogenlampen dauernd auf Pflanzen wirken ließ. Bekannt sind weiter
die heliotropischen Versuche Oltmanns (74), bei denen eine Bogen-
lampe von 5300 HK als Lichtquelle dienten. Weiter arbeiteten u.a.
mit Bogenlicht Stameroff(103), Green (35), Kolkwitz (53),
Rowlee(91), Maxıkow (63), Blaauw (41), Stoppel (104), Ja-
koby(44), Karsten (46), Vogt (115), Buder (i3), Arızs(1) und
Oltmanns (75).
Die zuerst in dem Handel sich befindenden Kohlenfadenlampen
waren wohl wegen ihres verhältnismäßig geringen Lichts und ihres
hohen Wattgebrauchs weniger beliebt. Die von der Technik oft
angesetzten Versuche, die Kohle der Glühlampen durch schwer
schmelzbare Metalle zu ersetzen, führten erst durch die Arbeiten von
Nernst (1897) und Auer (1900) zu einem gewissen Erfolg. Die
nach ihrem Erfinder benannte Nernstlampe hat in den pflanzenphysio-
logischen Versuchen eine nicht unwichtige Rolle gespielt, sie wurde
oft verwandt. Ich verweise u.a. auf die Arbeiten von Nathanson
und Pringsheim (67, 8), Guttenberg (37), Thelen (107),
Gaßner(31), Buder(15), Blaauw (5), Vogt(115), Noack (70),
Nienburg(69) und Heilbronn (41). Heute verschwindet sie auf
dem Markte mehr und mehr und damit wird sie auch wohl für
den Physiologen erledigt sein. Wir werden noch auf diese Lampe
zurückzukommen haben (S. 244). Der Grund, warum diese Lampe
heute immer mehr und mehr zurücktritt, dürfte darın liegen, daß
die Erfindung von Auer sıch als praktisch wertvoller herausgestellt
und darum zu höherer Vollkommenheit entwickelt hat. Auer kon-
struierte die erste Metallfadenlampe, die Osmiumlampe, die wegen
des hohen Preises des Osmiums und anderen Gründen sehr schnell
aus dem Verkehr wieder verschwand. Sie wurde zuerst durch die
Tantallampen und dann fast ausschließlich durch die Osram- resp.
Woltframlampen ersetzt, die gegenüber den ersteren einen noch ge-
ringeren Wattverbrauch pro Kerze haben (erstere 1,5, letztere nur
c. 1, bei der Kohlenfadenlampe im besten Falle 3 Watt). Ein
weiterer großer Fortschritt in der Beleuchtungstechnik wurde dann
noch ım Jahre 1913 durch Einführung einer Lampe erreicht, die
einen Wirkungsgrad hatte von nur !/, Watt pro Kerze. Auch diese
Lampe besitzt einen Glühkörper aus metallischen Osram- resp.
Wolfram, der durch den elektrischen Strom zum Glühen erhitzt
wird. Indessen befindet sich das Leuchtsystem nicht mehr im Vakuum,
sondern ın einem ın den Glaskörper hineingepreßten Gase (Stick-
stoff, Argon u. a.), das die Wärme schlecht leitet*) und dabeı das
Metall nicht angreift. Solche Lampen wurden zunächst in einer
Lichtstärke von 600—3000 NK hergestellt, doch wurden sehr bald
4) Über die Wärmewirkung der künstlichen Lichtquellen s. Voege (113).
38. Band 15
938 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
die Grenzen der Ausführbarkeit erweitert. Heute sind die Halb-
wattlampen mit Lichtstärken von etwa 30 K bis zu 4000 K erhält-
lich. Lampen mit höherem Licht können ebenfalls hergestellt
werden, doch hat sich hierfür der Bedarf bisher als zu gering er-
wiesen.
Wir haben also in diesen letzten Lampen solche gefunden,
welche, was die Lichtstärke angeht, an die bei des Bogenlichts her-
ankommen (vgl. auch die Farbenzusammensetzung dieser Lampe
S. 247), welche aber gegenüber diesem eine viel einfachere Instal-
lierung, die unbeschränkte Fähigkeit der Einzelschaltung beı 110 Volt,
das nicht nötige Auswechseln der Kohlen und vor allem den eines
ruhigen Brennens besitzen. Es kann auch nicht zweifelhaft sein,
daß die heute noch hohen Preise für die 600-, 1000-, 2000- und
3000 kerzigen Lampen (15, 18, 27 und 36 Mk.) im Laufe der Zeit
erheblich herabgesetzt werden. Nach alledem dürfen wir sagen,
daß diese Lampen noch in den physiologischen Versuchen eine Rolle
spielen werden.
Alle diese neueren Lampentypen sind verwendet worden. Die
Tantallampen benutzte z. B. Pfeffer (78) in seinen bekannten
Untersuchungen über die Schlafbewegungen der Blattorgane, außer-
dem Guttenberg (36), Osramlampen (Wotan-, Wolframlampen etc.)
finden wir unter anderen in den Untersuchungen von QOlark (18),
Krones(54), Jakoby (44), Ottenwälder (76), Gaßner (32, 33),
Klebs (49), Pfeffer (78), Vogt(114), Kniep (52), Buder (14),
Harder(40) und Sierp(101). Viele Autoren sprechen einfach
von Glühlampen oder elektrischen Lampen, so z. B. Richter (87, 88),
Tröndle(110), Wilschke (122) und Sperlich (19). Gasgefüllte
Lampen oder Halbwattlampen wurden neuerdings von Klebs (49),
Buder(14), Heilbron(41) und Harder (40) angewandt.
Die großen Fortschritte der Beleuchtungstechnik ermöglichen
uns eine viel bessere Beleuchtung bei den physiologischen Ver-
suchen anzuwenden wie dies ın früheren Zeiten möglıch war, vor
allem gestatten sie in weit größerem Maße eine quantitative Unter-
suchung der Beziehungen der Lichtenergie und dem Leben in
Angriff zu nehmen. Noch letzthin wies Oltmanns (75) mit allen
Nachdruck für die photonastischen Bewegungen auf die Notwendig-
keit hin, die Intensitäten zu varıieren und besser, wie dies der Fall
gewesen sei, abzustufen. Was für diese Bewegungen gilt, trifft ın
derselben Weise für viele physiologische Vorgänge zu. Diese not-
wendige Forderung setzt aber voraus, daß man sich über die ge-
bräuchlichsten Lichtquellen ım klaren ist, daß man vor allem weiß,
welche Intensität man denn mit diesen Lampen anwendet. Gerade
in dieser Hinsicht zeigen viele Arbeiten eine erstaunliche Unklar-
heit, so daß es unbedingt notwendig ist, dieser Frage einmal näher
zu treten.
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 23
In sehr vielen der oben angegebenen Arbeiten kam es den
Autoren auf eine genaue Kenntnis der Intensität der verwendeten
Lichtquellen nicht an, sie geben nur an, daß sie eine Lampe von
so und soviel Kerzenstärke verwendet hätten. Es wäre aber sehr
wohl möglich, daß solche Angaben einmal zum Vergleich einer
quantitativen Untersuchung heranzuziehen seien und dann ergäbe
sich die Frage, ob wirklich den Versuchspflanzen auch die angegebene
Intensität gegeben wurde. Andere Autoren wollen wirklich unter-
suchen, wie ein bestimmtes Maß von Licht auf die Versuchsobjekte
einwirkt. Wenn in diesem Falle eine und dieselbe Lichtquelle,
deren Intensität nicht genau feststeht, ın verschiedene Entfernung
vom Versuchsobjekt gebracht wird, so läßt sich natürlich nichts
dagegen sagen. Man hat dann keine absolute, wohl aber relative,
gut vergleichbare Werte. Ganz anders aber wird die Sache, wenn
man, wie dies oft der Fall sein wird, gezwungen ist, mit verschie-
denen Lampen zu arbeiten. Man verläßt sich dann sehr oft
auf die auf den Lampen angegebene Kerzenzahl, in der sicheren
Annahme, daß diese Angaben, wenn auch nicht ganz genau, so doch
ungefähr die Intensität des Lichtes treffen. Eine solche Vorstellung
kann aber zu großen Fehlern Anlaß geben.
Wenn einmal das Photometer, wie dies ja auf der Hand liegt,
benutzt wird, um diese Kerzenzahlen festzustellen, so kann man
große Überraschungen erleben. Ich will dies durch zwei Beispiele
aus der botanischen Literatur belegen, einmal durch die photo-
metrischen Messungen Ottenwälder’s(76) und dann durch die
Blaauw’s (5). Ersterer macht Keimversuche und letzterer unter-
sucht den Einfluß des Lichts auf das Wachstum, beide sind ge-
zwungen das Licht ıhrer Lichtquelle senkrecht von oben auf die Ver-
suchsobjekte fallen zu lassen. Die von Öttenwälder benutzte Osram-
lampe sollte nach den Angaben auf der Lampe eine Luchtintensität
von 620 K haben. Er hing nun seine Lampe in einer solchen Ent-
fernung auf, daß sie nach dieser Angabe eine Lichtstärke von 500 K
haben mußte. Durch Photometrieren stellte er nun aber fest, daß sıe
in dieser Entfernung senkrecht unter der Lampe nur 84K hatte.
Wurde die Messung 20cm von der Senkrechten durchgeführt, so
fand er eine Beleuchtungsstärke von 200 K, und in 25 cm eine
solche von 228 K. Bei einer 10kerzigen Lampe erhielt erin 100 cm
Entferung statt der 10 Kerzen senkrecht nach unten 2,5, 15 cm da-
von entfernt 3,5 und 20 cm seitlich 4,5 K Beleuchtungsstärke. Die
Lichtstärke war also am geringsten senkrecht unter der Lampe und
nahm von da aus an seitlich zu, obschon der Abstand von der
Lampe größer wurde. In jedem Falle war die ermittelte Zahl be-
deutend geringer, als dıe auf der Lampe angegebene. Ganz anders
in dem Fall von Blaauw, der eine hochkerzige Nitralampe (= Halb-
wattlampe) benützte. Die Lichtstärke dieser Lampe war mit 3000 bis
15°
940 AH. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
4000 K ausgezeichnet. Er fand aber die Lichtstärke in der Rich-
tung senkrecht nach unten, also in derselben Richtung, ın der
Ottenwälder einen viel zu geringen Wert fand, in einer Höhe von
8000 MK, also mehr als doppelt so hoch. Hätte man etwa diese
beiden Lampen, also Osram- und Nitralampe, in dieser Orientierung
zu einem Versuch benutzt und sich nur nach der auf den Lampen
angegebenen Kerzenzahl gerichtet, so hätte man geglaubt zweı
Lampen vor sich zu haben, deren Intensität sich ungefähr wie 6:1
verhielten, während in Wirklichkeit das Verhältnis der Intensitäten
100:1 war. Ein solch enormer Fehler ist also möglich! Man frägt
sich unwillkürlich, wie bei diesen beiden modernen Lampenarten
ein so. großer Unterschied möglich ist.
Aus den eben angeführten Untersuchungen Ottenwälder’s
ergibt sich eines mit aller Klarheit: die Lichtstrahlen, die von einer
Lampe nach allen Richtungen des Raumes ausgestrahlt werden,
sind nicht gleich und können erheblich voneinander abweichen.
Wir können nun leicht ein die ganze Strahlung einer Lichtquelle
charakterisierendes Bild anschaulich machen. Wir stellen zu dem
Zwecke die Lichtstärkeeinheit durch eine passend gewählte Länge,
etwa l1cm oder 1mm dar, dann können wir die von einer Licht-
quelle nach allen Seiten ausgehenden Strahlen in jeder Richtung
durch Strecken bestimmter Länge ausdrücken. Als Ausgangspunkt
der Strahlen wählen wir den Punkt in der Lichtquelle, von dem
das gesamte Licht ausgehend angenommen werden kann, den so-
genannten photometrischen Mittelpunkt oder Lichtquellpunkt einer
Lampe. Tragen wir nun auf allen Strahlen, die von diesem Punkt
nach allen Seiten des Raumes ausgehen, die den gemessenen Licht-
stärken proportionalen Strecken ab, so liegen die Endpunkte alle
auf der sogenannten „photometrischen Oberfläche“. Diese Ober-
fläche schließt einen Körper ein, den man den „photometrischen
Körper“ oder den „Lichtkörper“ der Lampe nennt.
Mit diesem Lichtkörper ist nun ein wichtiger photometrischer
Begriff gewonnen, der gleich von einer Lichtquelle ein anschau-
liches Bild zu geben vermag. In Figur 3 habe ich z. B. einen
solchen Lichtkörper einer gewöhnlichen Osramlampe zu einer Hälfte,
die andere Hälfte ist weggeschnitten, dargestellt.
Für gewöhnlich gibt man nun nicht den Lichtkörper zur Cha-
rakterisierung einer Lichtquelle an, sondern begnügt sich mit der
Wiedergabe der Schnittfläche eines solchen Körpers mit der soge-
nannten „photometrischen Kurve“ oder „Lichtverteilungs-
kurve“, weil bereits diese Kurve alles Wünschenswerte sagt. Ja
bereits die halbe photometrische Kurve genügt; denn für gewöhn-
lich ist der Lichtkörper der am meisten benutzten Lampen ein
symmetrischer Körper’), ‘der leicht durch Rotation der halben photo-
5) Man wird die photometrischen Kurven der gewöhnlichsten Lampen finden
bei Liebenthal(59), Monasch (66), Reichenbach (85) und Teichmüller (106).
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 241
ER
Fig. 3. Halbdurchgeschnittener photometrischer Körper einer Osramlampe.
metrischen Kurve erlangt wird. In der Figur 4 ist die photometrische
Kurve des obigen Liehtkörpers, also einer gewöhnlichen Metall-
fadenlampe, Osramlampe dargestellt.
120___ 180
DER
70 20 0° ZORNERE 70°
Fig. 4. Photometrische Kurve einer Osramlampe.
Nach dieser Kurve verstehen wir sehr gut die Beobachtung
Ottenwälder’s, der ja eine Osramlampe zugrunde lag. Eine jede
solche Lampe hat ihre maximale Lichtstärke in der Horizontal-
ebene. Bewegen wir uns aus dieser Ebene mehr und mehr heraus
nach unten hin, so wird in diesen Richtungen das Licht immer ge-
ringer in seiner Intensität. Direkt senkrecht unter der Lampe ist
aber diese Intensität am geringsten, wie dies Ottenwälder ja
auch fand.
Wir ersparen uns noch die Erklärung des Begriffs der Kerzen-
zahl einer Lampe und wollen erst noch auf das hinweisen, was
aus der gewonnenen Erkenntnis für pflanzenphysiologische Versuche
sich ergibt. Zunächst ist es nicht gleichgültig wie man die Ver-
suchsobjekte zur Lichtquelle orientiert. So wollte, um dies durch
942 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
ein Beispiel zu erläutern, Tröndle (110) durch seine Versuchs-
anordnung in seiner Arbeit über den Einfluß des Lichtes auf die
Permeabilität der Plasmahaut doch sicherlich etwas anderes, als er
erreicht hat, wenn er eine 32-kerzige Lampe so aufstellt, daß ıhre
Längsachse in die Horizontalebene fiel, und die montierten Zweige
dabei so orientiert wurden, daß die zur Untersuchung kommenden
Blätter unmittelbar in der Nähe der verlängerten Birnenachse mög-
lichst senkrecht zur Lichtrichtung standen. Durch das Horizontal-
legen seiner Birne wollte er doch sicherlich den Versuchszweigen
die größtmöglichste Intensität geben. Man konstruiere sich nur ein-
mal den Lichtkörper und man wird erkennen, daß dieses nicht der
Fall ist, ja daß diese Anordnung der Lampe für den Versuch sehr
ungeeignet war.
Sehr oft wird man gezwungen sein, seine Lichtquelle senkrecht
über den Versuchsobjekten anzubringen (z. B. bei Keimungs- und
Wachstumsuntersuchungen). Will man den Pflanzen dann eine
recht hohe Intensität geben, so greift man unwillkürlich zu hoch-
kerzigen Lampen. Oft hat man dann hochkerzige Osramlampen
gewählt (Gaßner (32, 33), Krones (54)), deren Lichtverteilungs-
kurve wir eben kennen lernten. Diese nun sind aber so ohne
weiteres, wie wir gesehen haben, nicht zu gebrauchen; denn gerade
an der Stelle, wo wir das Licht gebrauchen, in der Lampenachse,
finden wir eine Verringerung, die wohl 70—85 Y, des Höchstwertes
betragen kann. Verläßt man sich auf die auf den Lampen ange-
gebenen Zahlen, so gibt man in Wirklichkeit den Versuchsobjekten
eine Intensität, die man viel einfacher und vor allem viel billiger
geben kann. Die Ersparnisse können bei solchen hohen Intensi-
täten recht große sein, wie dies durch das folgende Beispiel er-
läutert werden mag.
Eine 600-kerzig ausgezeichnete Osramlampe ergab nach meinen
Messungen bei 220 Volt 2,1 Amp., also ıst der stündliche Verbrauch
dieser Lampe 462 Watt. Berechnen wir nun etwa die Ersparnisse
auf einen Tag. Wenn die Lampe 24 Stunden brennt, so hat sie
11088 Watt verbraucht. Eine Kilowattsunde kostet bei uns hier
48 Pfg., mithin kostet diese Lampe an einem Tag ungefähr 5 Mk.
Strom. Senkrecht unter der Lampe empfangen die Versuchsobjekte
aber nur eine Lichtstärke von, rechnen wir ganz hoch, 150 Kerzen, wenn
wir etwa alles auf ein Meter Entfernung beziehen. Eine 100 Watt-
lampe würde uns diese Lichtstärke genau so liefern können, ja vielleicht
sogar eine Lampe mit geringerer Kerzenzahl. Eine 100 kerzige
Wattlampe gebraucht ın 24 Stunden aber nur 2,4 Kilowatt, also
für 1,15 Mk. Strom. Die Ersparnisse an elektrischem Licht würden
also in diesem Falle 3,85 Mk. täglich betragen. Diese Zahlen
zeigen bereits, welche enormen Ersparnisse bei einem vorhergehen-
den Studium der Lichtquellen zu erreichen sind. Abgesehen da-
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 243
von sind die Osramlampen für senkrechte Strahlungen nach unten
so ohne weiteres angewandt recht unpraktisch, weil direkt neben-
einander liegende Samen ganz ungleiche Lichtmengen empfangen,
es sei denn, daß man das Licht durch geeignete Reflektoren, von
denen gleich die Rede sein wird, in der richtigen Weise verteilt.
Nach den bisherigen Angaben könnte vielleicht der Eindruck
entstanden sein, als bedeute die auf der Lampe angegebene Zahl
etwas ganz willkürliches. Das ist nun nicht der Fall. Allerdings
können wir auch jetzt, wo wir den Begriff der photometrischen
Kurve gewonnen haben, nicht so einfach die Frage beantworten,
was die auf der Lampe angegebene Kerzenzahl bedeutet, und zwar
deshalb nicht, weil man sich auf eine einheitliche Definition dieses
. Begriffes nicht geeinigt hat.
Ursprünglich, als es unter den elektrischen Lampen nur einen
einheitlichen Typ, die Kohlenfadenlampen gab, war dies einfach.
Man verzeichnet auf den Lampen die sogenannte „horizontale Licht-
stärke“, also die Lichtintensität in der Horizontalebene, die ja bei
diesen Lampen, wie wir aus der photometrischen Kurve sofort er-
sehen, die maximale Lichtstärke der Lampen bedeutet. Auch die
gewöhnlichen Metallfadenlampen sind, wie die Figur 5 zeigt, gut in
180° - 160 140
Fig. 5. Lichtverteilungskurve von Fig. 6. Lichtverteilungskurve von
Wolframlampen Nernstlampen
— — — Tantallampen Vertikalbrenner
nn Kohlenfadenlampen — — — Horizontalbrenner
m Bügelbrenner
derselben Weise zu definieren, denn ihre Lichtverteilung ist eine
ganz ähnliche, wie sie die Kohlenfadenlampen auch besitzen.
Die Berechtigung dieses Maßes ging nun aber verloren, als
Lampen in den Handel kamen, die eine völlig andere Lichtver-
944 H. Sierp, Uber die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
teilung hatten. Bei der Nernstlampe ergaben sich zum ersten Male
Schwierigkeiten. Statt des ın der Richtung der Lampenachse lang-
gestreckten Leuchtsystemes der Kohlenfadenlampe wurden bei der
Nernstlampe horizontal, vertikal und bügelförmig angeordnete Leucht-
körper benutzt. Die verschiedenen Lichtverteilungskurven dieser
drei Typen sind in der Figur 6 wiedergegeben.
Die Nernstlampe ist darum auch niemals unter der Angabe
der Kerzenzahl verkauft worden. Sie wurden wie die Bogenlampen
nach der Amperezahl (!/,-, !/;- und 1-Amperelampe) ın den Handel
gebracht. Hier konnte man sich also noch helfen. Ganz anders
wurden die Dinge aber, als Ausführungsformen der Osram- resp.
Wolframlampen auf den Markt kamen, mit von den übrigen
Metallfadenlampen abweichenden Leuchtsystemen: der Spiral-
draht-, Focus- und neuerdings der sogenannten Halbwattlampe.
Ja nicht allein, daß nun noch andere von den gezeichneten Licht-
verteilungskurven vergleichbar bewertet werden müssen, die Kurven
wechseln auch von Lampenart zu Lampenart bei Erzeugnissen des-
selben Herstellers und Lampen gleicher Sorte sind oft durchaus
unvergleichbar, da die Leuchtsysteme und damit die Lichtver-
teilungskurven bei verschiedenen Fabrikaten voneinander abweichen.
Dies sind Schwierigkeiten, die sich einer einheitlichen Bezeich-
nung entgegenstellen, mit denen die Beleuchtungstechnik lange
gerungen und auch heute noch ringt. Viele schlagen vor, man
solle die mittlere „sphärische Lichtstärke“, also das Mittel aus allen
Strahlen, als die Lichtstärke einer Lichtquelle ausgeben und in der
Tat finden wir bei einer Anzahl Fabriken diese Benennung bereits
vor. Andere wollen die sogenannte „mittlere untere hemisphärische
Lichtstärke“ als Bezeichnung eingeführt wissen. Wieder andere
geben einfach die Zahl der Watt, die die Lampe verbraucht, an
und sehen ganz von der Kerzenstärke ab. Diese in anderen Ländern
(Amerika) bereits gebräuchliche Bezeichnung dürfte sich auch bei
uns durchsetzen. Für wissenschaftliche Zwecke wäre sie weitaus
am geeignetsten. Wir müssen weiter bedenken, daß wir in Deutsch-
land alles auf die sogenannte Hefnerkerze als Einheit zurück-
führen. Diese gilt aber beispielsweise nicht für England und Frank-
reich. Alle Bestrebungen zur Herbeiführung einer Einheitskerze
sind an dem Widerstand dieser beiden Länder gescheitert. Die
englische und französische Einheit sind etwa 10%, größer als die
im übrigen Europa anerkannte Hefnerkerze °).
Kurz und gut, Klarheit in der Bezeichnung herrscht nicht und
mit den Angaben auf den Lampen ist bei wissenschaftlichen Unter-
suchungen nichts anzufangen. Es dürften die Ausführungen zur
Genüge ergeben haben, daß die größten Fehler entstehen können,
6) Über Lichteinheiten vgl. Monasch, Lehrbuch der Photometrie. 1912.
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 245
wenn man sich, wie dies hier und da geschieht, einfach auf «die
Angaben bezieht, die auf den Lampen gemacht sind. Aber auch
die Bezeichnung, die man so oft liest, „die Lichtintensität der Lampe -
wurde mit so und so viel Kerzen festgestellt“, ist aus demselben
Grunde unzulässig. Oft wird hier der Fall vorliegen, daß das bo-
tanısche Institut nicht die notwendigen Meßinstrumente besitzt,
und daß irgendein Physiker die Bestimmungen ausführt. Dieser
wird dann aber unter Umständen die horizontale Lichtintensität be-
stimmen, die vielleicht gar nicht bei den Versuchen gebraucht
wird. Es würde mich zu weit führen, wenn ich die oben ange-
führten Arbeiten alle auf die Brauchbarkeit der Zahlenangaben der
Lichtintensität durchgehen wollte. Ich begnüge mich damit, ein-
drücklichst betont zu haben, daß es für alle Intensitätsangaben
notwendig ist, den Lichtstrahl oder bei Flächenbeleuchtung das in
Betracht kommende Flächenstück des photometrischen Körpers
mittels eines geeigneten Photometers zu bestimmen.
Wir dürfen diese Ausführungen über die Lichtverteilung nicht
verlassen, ohne noch kurz auf zwei Dinge unsere Aufmerksamkeit
gerichtet zu haben. Dies sind die Veränderungen der photo-
metrischen Kurve einer Lampe einmal hervorgerufen durch Reflek-
toren, dann durch den Gebrauch der Lampe.
Alle Angaben, die bis jetzt über die Lichtverteilung gemacht
worden sind, ‚bezogen sich auf Lampen ohne Armaturen und Re-
flektoren. In der folgenden Abbildung (Figur 7) ist, um ein Bei-
spiel zu geben, die Lichtver- 7 ED
teilungskurve einer Wotan- 70 LET II 120
NETT
Halbwattlampe für 1000
Watt mit ziekzackgeführter
Leuchtspirale einmal ohne
Armatur, sodann in einer
Armatur mit Klarglasglocke
und schließlich in einer
ArmaturmitOpalglasglocke,
alles bezogen auf den mitt-
leren Horizontalwert der
nackten Lampe gleich 100 9,
aufgezeichnet.
Aus der Figur ergibt
sich ohne weiteres die große Fig. 7. Lichtverteilungskurve einer Halbwatt-
Bedeutung solcher Reflek- lampe für 1000 W 110 V mit im Zickzack
toren. Wır können mit geführter Leuchtspirale
ihnen die Lichtintensität —— — — ohne Armatur
an bestimmten Stellen des u us Klargbasglocke
Raumes, die für den Ver- a a
Sr bezogen auf den mittleren Horizontalwert der
such in Betracht kommen, nackten Lampe — 100 %.
TEEN
Ka]
Se
Ss
En
u
946 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
wenn dies notwendig ist, verstärken. Auch Lampen, wie die oben
erwähnten Osramlampen können so auch senkrecht unter der
Lampe eine recht hohe Intensität bekommen. Solche Reflek-
toren sind sicherlich in der einen oder anderen der oberen Arbeiten
verwendet worden, ohne daß dies ausdrücklich erwähnt ist. In
den oben ausgeführten Versuchen von Klebs(48) über das Treiben
der Buche sagt dieser, daß über der 1000 kerzigen Lampe eine
Zinkblechscheibe von 64cm Durchmesser angebracht war, „so daß
die unter der Lampe befindlichen Pflanzen auch reflektiertes Licht
empfingen“. Diese Blechscheibe wird sicherlich sehr von Einfluß auf
die an und für sich ungeeignete Lampe bei der gewählten Ver-
suchsanstellung gewesen sein, so daß jedenfalls in den Versuchen
die Pflanzen doch die gewünschten Intensitäten empfingen. Ein
eigentlicher Reflektor oder eine der obigen entsprechende Armatur
hätte in den Versuchen Kleb’s sicherlich dem Zweck besser ent-
sprochen. Bei Anlegung eines Lichtraumes, wie ihn Pfeffer (78,
S. 300) zuerst beschreibt, dürfte die richtige Auswahl der Reflek-
toren wohl zu überlegen sein ’”).
Weiter muß noch erwähnt werden, daß die künstlichen Licht-
quellen, allen voran die heute am meisten benutzten elektrischen,
durch den Gebrauch in ihrer Intensität ständig nachlassen. Diese
Tatsache dürfte vor allem in den Versuchen zu berücksichtigen
sein, die sich auf eine längere Zeit hinziehen. Wie eine Lampe
in der Intensität abnımmt, darüber gibt der Begriff der Lebens-
dauer einer Lampe einen, wenn auch nur rohen Ausdruck. Unter
dieser versteht man nämlich die Zeit, die die Intensität der Lampe
um 20%, herabdrückt. Bei der Abnahme der Intensität wird na-
türlich der Wattverbrauch einer Lampe ein höherer, so daß aus
Gründen der Billigkeit es sich zumeist empfiehlt, eine Lampe nach
einer bestimmten Zeit durch eine neue zu ersetzen. Wie die Ab-
nahme der Intensität resp. die Zunahme der Wattzahl erfolgt, sei
durch die folgende Kurve erläutert, die einem Aufsatz von Bloch (7)
über Straßenbeleuchtung mit Nitralampen entnommen ist. Diese
Figur gibt den Durchschnitt von 31 verschiedenen Nitralampen ver-
schiedener Typen wieder.
Auch hieraus dürfte sich wieder klar ergeben, wie notwendig
bei physiologischen Lichtversuchen photometrische Messungen sind.
Ohne solche Messungen kommt man nun einmal nicht aus.
Im Anschluß an diese Notwendigkeit erhebt sich die weitere
wichtige Frage nach der praktischen Bestimmung der Lichtintensität.
Diese Frage führt uns gleich zu der weiteren nach der Farben-
zusammensetzung der verschiedenen in Betracht kommenden künst-
lichen Lichtquellen. Zwei monochromatische oder auch zwei gleich-
7) Vgl. die lichttechnischen Studien von Halbertsma (38).
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen 247
artig zusammengesetzte Lichtquellen lassen sich gut miteinander
vergleichen. Jedes der vielen im Laufe der Zeit konstruierten
Photometer wird diese Aufgabe mit relativ großer Genauigkeit
lösen. Auch die bei den Botanikern so beliebten photographischen
Lichtmesser, die auf der
Bunsen-Roscoe’schen Me-
thode beruhen, wie das Wyn-
nes-Photometer, das Hey-
den’sche oder Wunne’sche
-Aktinometer etc. können hier
in gleich vorteilhafter Weise
benutzt werden.
Ganz anders wird dies
aber, wenn man zweı ungleich-
artig zusammengesetzte Licht-
quellen zu vergleichen hat, 0 200 400 600 800 1000 1200 Brenn-
das Licht einer künstlichen 2 Kunden
Lichtquelle mit dem Tages- Fig. 8. Anderung der Lichtstärke und des
. . . . Wattverbrauchs pro Kerze.
licht etwa, wie dies ın sehr
vielen pflanzenphysiologischen Versuchen notwendig sein wird. In
diesem Falle würde ein Wynnes’scher oder ähnlicher Lichtmesser
gänzlich versagen und vollkommen ungenaue Vergleichswerte liefern.
Dies dürfte sich bereits aus meinen Ausführungen über die Photo-
metrie des Tageslichts vermittels der Wiesner’schen Methode er-
geben. Dasselbe gilt auch für den Vergleich zweier künstlicher
Lichtquellen, denn diese können eine ganz verschiedene spektrale
Zusammensetzung haben. Sehen wir sie uns daraufhin nur ein-
mal an.
Für die verschiedenen künstlichen Lichtquellen kommt für uns
zunächst eine Untersuchung von Voege (112) in Betracht. In
dieser Arbeit werden Petroleumlicht, elektrisches Glühlicht der
Kohlenfadenlampen, die Osmiumlampe und das Auerlicht in ihrer
Farbenzusammensetzung verglichen. Das Petroleumlicht enthält
nach diesen Untersuchungen erheblich mehr rote Strahlen als das
elektrische Glühlicht, ist dagegen in demselben Verhältnis ärmer
an blaugrünen Strahlen. Im Licht der Osmiumlampe, mehr noch
in dem der Nernstlampe und am meisten in dem Auerlicht, über-
wiegen die grünblauen Strahlen, während dagegen das Licht des
Kohlenfadens reicher an roten und dunkelroten Strahlen ist. Dabei
hängt allerdings beim Glühlicht dieser Gehalt ab von der Spannung.
Bei 7,5%, Uberspannung hat das Licht etwa dieselbe Zusammen-
setzung wie das der Osmiumlampe. Bei weiterer Überspannung
überwiegen bei der Glühlampe die blaugrünen Strahlen. Die Nernst-
lampe stimmt im Blaugrünen mit der Glühlampe überein, im Roten
bleibt sie dagegen hinter der Glühlampe zurück. Die starke blaue
948 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
Farbe des Nernstlichts gegenüber der Kohlenfadenlampe und der
Osmiumlampe erklärt sich also durch das Überwiegen der grünen
und der blauen Strahlen, sowie durch die geringe Intensität ım
roten Teil des Spektrums. Mit dem Auerstrumpf verglichen, sieht
dagegen das Licht der Nernstlampe direkt rot aus. Dem Auerlicht
fehlen eben die roten Strahlen in noch bedeutend höherem Maße,
während die grünblauen ebensosehr überwiegend sind.
Das oft benützte Wolframlicht ist spektrometisch von Ni-
cols (68) mit dem Tageslicht verglichen worden. Diese Arbeit
war mir nicht zugänglich. Ich setze deshalb das, was Klebs (48,
S. 59), der diese Arbeit gesehen, darüber sagt, wörtlich hierher.
„Setzt man die Intensität beider Lichtquellen bei A = 590 uu gleich,
so ergeben sich folgende Werte für das Verhältnis bei anderen
Wellenlängen:
Wellenlänge in uu Be eh
Air Himmelslicht
700 1,59
650 1,278
590 1
550 0,755
500 0,566
460 0,422
420 0,347
Daraus folgt, daß das Verhältnis von Himmelslicht zu Wolf-
ramlicht — die Intensität bei 590 uu gleichgesetzt — für 700 uw
— 0,6, für 500 uu = 1,8, für 420 uu—=3 ıst. Das Wolfram- resp.
Ösramlicht ist also relativ reicher an roten Strahlen und wesentlich
ärmer an blauvioletten Strahlen“. Nach diesen Angaben steht: das
Wolframlicht dem Osmium, das wir oben kennzeichneten, nicht
fern. Das stimmt auch überein mit dem, was Bloch (6) in einem kurzen
Aufsatz über die Farben des Lichts unserer künstlichen Lichtquellen
über diese Lampen sagt. In diesem Aufsatz sind für alle gebräuch-
lichen Lichtquellen das Verhältnis des roten Lichts zum grünen
Licht und des blauen zum grünen ermittelt. Speziell für die elek-
trischen Glühlampen wird der Satz aufgestellt, daß mit fallendem
spezifischen Effektverbrauch das Licht der verschiedenen Glüh-
lampenarten dem Tageslicht sich mehr nähert, indem es an Rot
verliert und an Blau gewinnt. Folgende Zahlen mögen dies er-
läutern:
rot blau
grün grün
1. Kohlenfadenlampe für 3,5 Watt/HK 330 43
2. Tantallampe SR 300 47
3. Metalldrahtlampe „1,0 „0, 256 53
4. Metalldrahtlampe „ 0,8 „ı 245 99.3
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 249
Dasselbe gilt nun auch weiter für die hochkerzige Drahtlampe
für 0,5 Watt/HK. Wir verdanken Vränek (116) eine eingehende
Untersuchung der spektroskopischen Verhältnisse dieser Lampen.
Ich gebe die Ergebnisse dieser Untersuchungen in der Form der
nächsten graphischen Abbildung (Figur 9) wieder, wobei die Wellen-
länge auf der Abszissenachse, die relativen Lichtstärken auf der
Ördinatenachse aufgezeichnet sind. Die zu diesem Versuch ver-
wandten Lampen waren Osram-Azo-
Lampen der deutschen Auergesell-
schaft in Berlin und zwar die für phy-
siologische Versuche sich sehr eignende
Osram - Azo - Projektionslampe, deren
Leuchtkörper auf einer kleinen Fläche
konzentriert ıst und fast das gesamte
Licht in einer Richtung aussendet.
Zum Vergleich wurde eine selbstregu-
lierende Bogenlampe, eine Nernst-
lampe und die Hefner-Einheitslampe,
die Amylazetatlampe herangezogen.
Diese graphische Darstellung zeigt
uns, daß die hochkerzigen gasgefüllten 700 600 500 400 tu
Halbwattlampen in ihrer Farbenzu- Fig. 9. A-— A Amylazetatlampe
sammensetzung sehr nahe an das (Hefnereinheit)
N — N Nernstlampe
0 — 0 Osram-Azolampe
B — B Bogenlampe.
Bogenlicht herankommen, das seiner-
seits unter den künstlichen Licht-
quellen dem Tageslicht am nächsten
steht. Gegenüber dieser Lampe tritt die Nernstlampe, was Reich-
tum an kurzwelligen Strahlen angeht, ganz zurück.
In diesem Zusammenhang sei auch der Quecksilberdampflampe
Erwähnung getan, die gelegentlich bei pflanzenphysiologischen Ver-
suchen benutzt worden ist, so z. B. von Pfeffer (78) und Thelen
(107). Eine genaue Beschreibung dieser Lampen wird in dem Auf-
satz v. Euler in Abderhaldens Handbuch der biochemischen Arbeits-
methoden „Untersuchung biochemisch wichtiger Lichtwirkungen“
gegeben. Das Licht dieser Lampen besitzt kein kontinuierliches
Spektrum, sondern besteht nur aus den Spektrallinien des Queck-
silberdampfes (vgl. die Abbildung in Thelen (107) S. 16). Rot fehlt
fast vollständig, während grün und violett hervortreten. Besonders
reich ist diese Lampe an ultravioletten Strahlen, von denen solche
bis zu einer Wellenlänge von 253 uu festgestellt sind.
Wir dürfen diese Ausführungen über die Farbenzusammen-
setzung der gebräuchlichsten bei pflanzenphysiologischen Versuchen
benützten Lichtquellen nicht verlassen, ohne noch mit Nachdruck
auf eine Erscheinung hingewiesen zu haben, daß nämlich einmal
die spektrale Helligkeitsverteilung von Lampen verschiedener Pro-
mr rn 9 PA AT N
950 H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
venienz ganz verschieden sein kann, und daß weiter ein und die-
selbe Lampe mit dem Altern der Lampen ziemlich stark, mitunter
sehr stark ändert. Vränek (116), dessen Untersuchungen wir eben
Erwähnung taten, hat eine 50 kerzige Osramlampe für 110 Volt
spektrophotometriert und dann durch Steigerung der Spannung die
Lampen künstlich gealtert. Diese Steigerung konnte bis 47,3%, der
ursprünglichen (monochromatischen) Lichtstärke vorgenommen
werden, ehe die Lampe durchbrannte. Ferner wurden zwei 50-
kerzige Lampen Marke „Metallum“ der Firma Joh. Kremenesky,
Wien, spektrophotometriert, eine frische und eine „natürlich“ ge-
alterte, welche zwei Jahre ım Gebrauch war und deren Lichtstärke
bei 630 uu durch Vergleich mit dem Mittelwert aus drei frischen
Lampen zu 12,7%, des ursprünglfchen Wertes gefunden wurde.
Aus der Figur 10 sind die Ergebnisse dieser Messungen zu ersehen.
Auch in dieser Hinsicht sind die
gasgefüllten Lampen anderen Metall-
fadenlampen gegenüber überlegen;
denn durch die Anwesenheit des Gases
wird die Zerstäubung und damit die
Farbenveränderlichkeit stark herab-
gesetzt.
Die Zusammenstellung alles dessen,
was wir von der spektroskopischen
Zusammensetzung unserer künstlichen
Geo aan ooa x” 0us Lichtquellen wissen, zeigt uns, daß
Fig. 10. 0 — O0 Osram frisch diese sich recht verschieden verhalten
a a können. Die Photometrie dieser wird
MM Metallumfrisch Zumeist eine heterochrome sein. Diese
M'— M' Metallum g- birgt nun aber große Schwierig-
altert. keiten in sich (vgl. die Ausführuug
in dem Weyl’scher Handbuch für Hygiene von Reichenbach
„Die Beleuchtung“ und die diesbezüglichen Ausführungen von Mo-
nasch in seinem Lehrbuch der Photometrie). Die Aufgabe ist
nämlich so keine rein physikalische mehr, sondern sie ist in das
Gebiet der Physiologie hinüber getreten (siehe hierüber Stuhr (105,
S. 5ff. und die dort angegebene Literatur). Eine objektive Photo-
metrie gibt es nicht. Die Aufgabe einer solchen bestände in
Energiemessungen, auf Grund deren sich die Helligkeit der Lichter
bestimmen ließe. Dabei geht man aber von der Voraussetzung
aus, daß die Beziehungen zwischen strahlender Energie und sub-
jektivem Helligkeitseindruck, wie dies Krüß (55) besonders be-
tont hat, bekannt sind. Gerade aber diese Bedingung ist schwer
zu verwirklichen. Hier kommen dann gleich die Schwierigkeiten
der heterochromen Photometrie wieder zum Vorschein. Wie die
Dinge liegen, kommen wir an der Tatsache nicht vorbei, daß
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 251
das Auge als Helligkeitsmesser verwandt wird, daß also jede Photo-
metrie mehr oder weniger subjektiv bleibt.
Bei pflanzenphysiologischen Untersuchungen ist das W eber’sche
Photometer am meisten benutzt worden (Blaau w (4, 5), Arızs(1),
Lehmann (58), Ottenwälder (76), Wilschke (122) u.a.). Die
bei diesem Photometer angewandte Methode beruht auf Einstellung
auf gleiche Sehschärfe. Außer diesem Prinzip hat sich u.a. noch
ein anderes Geltung verschafft: Das Aufhören des Flimmerns bei
verschiedener Beleuchtung des Gesichtsfeldes. Letzteres ist in den
Flimmerphotometern verschiedener Konstruktion (Ro.od (89), Bech-
stein (3)u.a.) verwirklicht worden.
Bei dem von Botanikern wegen seiner Handlichkeit und Be-
quemlichkeit bevorzugten W eber’schen Photometer ist die Schwierig-
keit, daß die eine Beleuchtung erzeugende Lichtquelle andere Farben
als die Vergleichslampe besitzt, dadurch zu umgehen versucht, daß
man die Beobachtung auf einen bestimmten Spektralbezirk be-
schränkt. Durch ein vorgeschaltetes rotes Glas gilt die Messung
natürlich nur für diesen Teil des Spektrums. Dieser Wert gibt
kein Bild des Gesamtlichtes; denn die Lichtquelle kann relatıv
mehr rot enthalten als die Vergleichsquelle und umgekehrt. Der
Wert ist also entweder zu groß oder zu klein. Um den wahren
Wert zu bekommen, muß dieser mit einem Faktor k multipliziert
werden, der entweder größer oder kleiner als 1 ist. Dieser Faktor
wird nun so bestimmt, daß die mit seiner Hilfe gefundenen Werte
gleich angeben, wieviel Kerzen die untersuchte Lichtquelle in bezug
auf Sehschärfe äquivalent ist (die Bestimmung dieses Faktors siehe
bei Weber (118, 119), Reichenbach (85) und Liebenthal (52)).
Dieser Faktor gilt streng genommen nur dann, wenn die zu
untersuchende Lichtquelle die gleiche Farbe ‚hat, wie diejenige, mit
der er gefunden ist. Wir müßten also eigentlich, da diese Voraus-
setzung wohl niemals ganz zutreffen wird, den Faktor jedesmal neu
bestimmen. Dieses ist nun aber nicht nötig. Weber zeigt näm-
lich, daß die für die Größe von k ausschlaggebende Färbung der
Lichtquelle mit hinreichender Genauigkeit durch das Verhältnis der
Ablesung im roten und grünen Licht ausgedrückt werden kann.
Für jeden möglichen Wert des Quotienten rot/grün hat er ein für
allemal den Reduktionsfaktor k experimentell festgelegt und in
Tabellen zusammengestellt. Die niederen Werte dieser Faktoren
von 0,5—1,7 wurden an Glühlampen gewonnen, die höheren an
elektrischem Bogenlicht. In der praktischen Beleuchtungstechnik
werden diese Faktoren auch ohne weiteres für andere Lampen
benutzt und es scheint dies auch ohne großen Fehler möglich zu
sein; denn eine Untersuchung des Gaslichtes und des spektro-
skopisch sehr abweichenden diffusen Tageslichtes von Stuhr (105)
292 Hl. Sıerp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen.
ergab Werte für k, die nur wenig von den von Weber ange-
gebenen Werten abweichen. |
Es gibt außer diesen oder ähnlichen, etwas genauer arbeiten-
den, dafür aber ım Bau komplizierteren und darum teueren Photo-
metern, die aber ım übrigen auf demselben Prinzip beruhen, meines
Wissens nur das Flımmerphotometer, das für unsere Zwecke ın
Betracht käme. Aber auch dieses hat den Nachteil, daß es mit
zunehmender Farbenverschiedenheit der beiden zu vergleichenden
Lichtquellen ungenauer wird.
Wir dürfen danach wohl sagen, daß das Weber’sche Photo-
meter den heutigen Bedürfnissen weitgehend Rechnung trägt.
Letzthin hat Buder (5, S. 116) die Brauchbarkeit dieses Instru-
ments für botanische Zwecke angezweifelt. Soviel aus der kurzen
Anmerkung Buder’s zu ersehen ist, richtet sich dieser vor allen
gegen die mit dem Weber’schen Photometer über die Benzin-
flamme gehenden Relativwerte und damit gegen alle Photometer.
Aber es muß dann gefragt werden, wie exaktere Relativwerte zu
erhalten sind. Es wäre sehr schön, wenn wir die Benzinflamme
umgehen könnten. Ich glaube indes, daß diese Forderung nicht
so einfach zu verwirklichen ist. Ich denke, daß meine Ausfüh-
rungen zur Genüge ergeben haben, daß auch die anderen künst-
lichen Lichtquellen, vornehmlich die elektrischen etwas sehr Ver-
änderliches sind. Eine Überspannung des Stromes kann die Ge-
samtintensität und auch die Farbenzusammensetzung wesentlich
ändern, und vor allem hörten wir, daß ein und dieselbe Lampe
durch den Gebrauch etwas ganz anderes wird, als sie zu Anfang
war. Vermeiden wir mit anderen Worten die Vergleichsflamme,
so nehmen wir „den ruhenden Pol ın der Erscheinungen Flucht“.
Nach meiner Ansicht ist es kein Fehler, auch zur Gewinnung von
relativen Werten den Weg über die Vergleichslampe zu nehmen,
um eben in die ganzen Messungen etwas Konstantes zu bringen.
Abgesehen davon wird man in sehr vielen Fällen gezwungen sein,
verschiedenartige Lichtquellen zu vergleichen. Dies geht dann
aber nur über die Vergleichslampe, und ın diesem Falle wird das
Weber’sche Photometer, so wie die Dinge liegen, gute Dienste
leisten.
Es wäre sehr zu wünschen, wenn die Lampen, die für Licht-
untersuchungen verwandt werden, nicht beliebig gekaufte Lampen
wären, sondern wenn bei der Herstellung dieser mit aller Sorgfalt
auf alles geachtet würde, was zu beachten ist, wenn mit anderen
Worten die Lampen für wissenschaftliche Untersuchungen ad hoc
hergestellt würden. Die großen Fortschritte der Beleuchtungs-
technik geben uns die Hoffnung, daß auch in dieser Hinsicht weitere
Fortschritte zu erwarten sınd.
H. Sierp, Über die Lichtquellen bei pflanzenphysiologischen Versuchen. 255
Wir versuchten bei unserer Darstellung historisch vorzugehen
und konnten die schrittweise Entwickluug in ihren einzelnen Phasen
bis zur heutigen Stunde verfolgen. Wir sind sieherlich einen ganz
erheblichen Schritt weitergekommen und haben heute in den elek-
trischen Halbwattlampen eine Lichtquelle, die für die wissenschaft-
lichen Untersuchungen zu den besten Hoffnungen berechtigt. Wenn
- wir uns auch durchaus klar sind, wie in verschiedener Richtung
diese Lichtquellen noch feiner ausgebaut werden können, so werden
doch zweifellos mit den heutigen Hilfsmitteln noch große Fort-
schritte zu erwarten sein, die unsere Kenntnisse über die Be-
zıehungen des Lichts zum Leben der Pflanze wesentlich erweitern
werden.
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Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin.
(Vorläufige Mitteilung.)
Von Robert T. Müller.
(Aus der Zoologischen Anstalt der Universität Basel.)
I. Einleitung.
Die nachfolgenden Zeilen sollen kurz die Ergebnisse 3jähriger
Beschäftigung mit dem Phyllopoden Tanymastiw lacunae Guer.
zusammenfassen.
Mein Material stammte aus dem Eichener See, einem periodisch
wiederkehrenden Bergtümpel in der Nähe des Städtehens Schopf-
heim im Wiesental. Dort findet sich 7. zusammen mit Cyelops
strenuus Fischer, Cypris virens Jurine und einer großen Zahl
gewöhnlicher Teich- und Moosbewohner. Der See liegt 436,8 m
über Meer und füllt sich gewöhnlich im Frühjahr mit Sickerwasser,
das Temperaturen von 0 bis über 20° ©. aufweist. Die Wasser-
tiefe kann 4 m erreichen.
358 R. T. Müller, Zur Biologie von Zanymasti.x lacun«ae Guerin.
Die systematische Stellung von Tanymastix wolle man in Da-
days „Monographie systömatique des Phyllopodes anostracces“
(Annales des sciences naturelles, Zoologie, Vol. 11/1910) nach-
schlagen. Bezüglich seines Baues gleicht 7. sehr dem bekannten
Branchipus; er findet sich beschrieben bei Daday Il. c., Baırd
(Proc. Zool. Soc. 20/1852), Guerin-Meneville (lconographie du
regne anımal, Londres 1839/44).
Die Möglichkeit, im Eichener See vorzukommen, verdankt 7.
dem Besitze von Dauereiern, die nicht nur eine weitgehende Aus-
trocknung ertragen, sondern sogar ohne vorherige Trockenperiode
sich nicht öffnen. und so den Nauplius der Freiheit übergeben
können.
Die Nauplien sind etwa 24 Stunden nach dem Übergießen der
Eier im Wasser zu finden. Sie sind in den ersten Tagen ausge-
sprochen positiv phototaktisch, so lange bis die Ruderbewegung des
zweiten Beinpaares (2. Antennen) kontinuierlich geworden ist. Die
Entwicklung geht nur unterhalb 16° C. richtig von statten. Unter-
halb etwa 8° ist die Sterblichkeit erhöht. Bei 15° wird die Ge-
schlechtsreife in etwa 14 Tagen, bei 4° in ca. 4 Wochen erreicht.
Bei Temperaturen unterhalb 4° sind die Tiere nicht imstande,
sich vom Boden zu erheben, da die tiefe Temperatur die Ruder-
bewegung der Beinpaare zu sehr verlangsamt. Die Tiere schwim-
men auf dem Rücken, seltener wühlen sie bauchabwärts ım
Schlamme. Begattung mit nachfolgendem Eintritt der Eier ın das
Eisäckchen findet alle 2 Tage statt, immer wenn die fertigen Eier
abgelegt sind. Die Eiproduktion beträgt pro Weibchen etwa
17000 Stück. Die Eier sind linsenförmig und müssen nach der
Ablage mindestens 1 Monat im Wasser liegen bleiben, ehe sie die
Austrocknung ertragen können. Ihre Dicke beträgt ım trockenen
Zustand ım Mittel 244 «u, der Durchmesser 421 u.
II. Schwimmbewegunge.
Die Tatsache, daß alle ungepanzerten Kiefenfüße (Phyllopoda
anostraca) meist mit abwärts gewandtem Kücken schwimmen, ist
bisher als eine photopathische Erscheinung gedeutet worden. Um
so mehr, da es leicht möglich ist darzutun, daß Dranchipus, Ohrro-
cephalus, Tanymastix und andere Anostraca unter künstlichen Be-
dingungen die Tendenz zeigen, dem Lichte die Bauchseite zuzu-
kehren und auf das Licht zuzuschwimmen.
Nun haben mich meine Beobachtungen gelehrt, daß unter nor-
malen Bedingungen, im Freileben oder in geeigneten Aquarien,
diese Phototaxis bei 7. vollkommen fehlt. Demnach kann der
Lichtreiz für die Lage des Tieres nicht verantwortlich gemacht
werden. Sie ist vielmehr das Produkt der statischen und dyna-
R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin. 359
mischen Faktoren, die aus der Verteilung der Materie im Innern
des Körpers und aus der Form und Bewegung des Tieres resultieren.
Das spezifische Gewicht von 7. konnte nicht direkt bestimmt
werden. Ich erhielt aber einen angenäherten Wert, indem ich mit
Formol getötete oder mit Chloral betäubte Tiere in Zuckerlösung
zum Schweben brachte und das spezifische Gewicht der Zucker-
lösung bestimmte. Danach beträgt das spezifische Gewicht von
1.030
Ferner gelang es mir, die Lage des Schwerpunktes zu ermitteln.
Eine große Zahl von Tieren wurde mit dem Rücken auf zwei (an
einem andern Orts zu beschreibenden Apparat angebrachte) Glas-
nadeln gelegt, und die Nadeln einander immer mehr genähert, bıs
sie ın paralleler Stellung nur durch einen äußerst kleinen Zwischen-
raum getrennt waren, der häufig weniger als eine halbe Segment-
breite betrug. Das betreffende Tier ruhte also zuletzt in horizon-
taler Stellung auf einer minimalen Unterstützungsfläche. Der
Schwerpunkt mußte sich senkrecht oberhalb derselben befinden.
Auf diese Weise wurde festgestellt, daß der Schwerpunkt der
männlichen Tiere sich meist ım 6. oder zwischen dem 6. und 7.
fußtragenden Segment befindet. Der Schwerpunkt der Weibchen
dagegen liegt weiter hinten zwischen dem 9. und 10. Segment, im
9. oder zwischen dem 8. und 9. dann, wenn das Eisäckchen leer ist.
In Zuckerlösung zum Schweben gebracht, nahmen alle Tiere
Rückenlage ein. Dies beweist, daß der Schwerpunkt des Körpers
nicht mit dem Schwerpunkt des verdrängten Wassers zusammen-
fällt, sondern (wohl dank dem zum Teil erdigen Inhalt des rücken-
ständigen Darms und der stärkeren Chitinisierung der Rücken-
fläche) dorsalwärts von demselben liegt.
Außer der Lage des Schwerpunktes muß auch die Körperform
während der Bewegung dazu beitragen, daß die Dorsalfläche ihre
Lage nach unten beibehält. Bei der horizontalen Fortbewegung
gleitet der Körper von T. in schräger Richtung nach vorn. Die
Rückenfläche bildet gewissermaßen eine schiefe Ebene, auf der die
Bewegung erfolgt. Der Körper müßte also eigentlich in die Höhe
gleiten. Dieser Auftrieb wird aber kompensiert durch die Wirkung
des Übergewichts. Der Körper sinkt ständig nach unten, und die
Resultante des Gleitens und Sinkens ist eine horizontale Fort-
bewegung. Der Körper von T. hat die Form einer in der Rich-
tung der Konkavität etwas gebogenen Rinne. Ein Körper von
dieser Form wird in einer Flüssigkeit von geringerem spezifischen
Gewicht, als er selbst besitzt, mit infolge des Widerstands nach
oben gewendeter Konkavität nach unten sinken, in eine Flüssigkeit
von größerem spezifischen Gewicht, untergetaucht, mit nach unten
gewendeter Konkavität aufsteigen.
260 R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix laeunae Guerin.
Betäubte und tote Exemplare von 7. sinken in Wasser in
hückenlage auf den Boden des Gefäßes. In eine Flüssigkeit, deren
spezifisches Gewicht größer als 1,037 ist (z. B. Zuckerlösung), ge-
bracht, wenden sie sich um und steigen mit nach oben gewendetem
Rücken an die Oberfläche. Dort wird wieder Rückenlage ange-
nommen. Ein deutlicher Beweis dafür, daß auch die Körperform
im Verein mit der Fortbewegung, die ja schräg dorsalwärts zur
Längsrichtung des Körpers erfolgt, dazu beitragen muß, die Rücken-
lage zu befestigen. Werden tote oder betäubte Tiere in Zucker-
lösung gebracht, deren spezifisches Gewicht nur wenig größer als
1,037 ist, so steigen sie äußerst langsam, diesmal in Rückenlage,
an die Oberfläche. Bei der langsamen Bewegung ist der Wider-
stand (proportional dem Quadrat der Geschwindigkeit) nicht groß
genug, um die Wirkung des dorsal gelegenen Schwerpunktes zu
kompensieren.
Diese Überlegungen zeigen, daß die Rückenlage des schwimmen-
den 7. (und wohl aller Anostraken) nichts anderes ist als die Folge
statischer und dynamischer Momente.
Werden betäubte oder tote Exemplare von 7! in Zuckerlösung
zum Schweben gebracht, so dokumentiert sich die verschiedene
Lage des Schwerpunktes bei Männchen und Weibchen in der ver-
schiedenen Neigung, die ihre Längsachse zur Horizontalen bildet.
Männchen und Weibchen schwebten mit, abwärts gewendetem
Hinterende, mit der Horizontalen Winkel von 11,7 und 48,5° bil-
dend. Die Lage des Körpers wird bei der Bewegung eine weniger
steile sein müssen. Horizontalisierend wirken die ventral gelegenen
22 Beinpaare. Ihre Arbeit ıst mehr als genügend für die Hori-
zontalisierung der Bewegung der Männchen. Dementsprechend
tragen diese bei horizontaler Bewegung ihre Furca ım Mittel um
4,0° von der Längsachse nach oben, die Weibchen dagegen, bei
denen durch die Ruderbewegung der Körper nicht genügend hori-
zontal gestellt wird, um 2,3° nach abwärts gewendet. Den Apparat,
mit dem die Winkel gemessen wurden, werde ich andern Orts
beschreiben.
III. Tropismen.
a) Scheinbarer Geotropismus der Nauplien.
Deckt man ein Gefäß, in dem sich frisch ausgeschlüpfte Nau-
plien von T‘ befinden, lichtdicht zu, so findet man kurze Zeit nachher
alle Nauplien am Boden des Gefäßes angesammelt. Man könnte
versucht sein, die Erscheinung als positiven Geotropismus zu deuten,
der durch Verdunkelung ausgelöst werde. Bis zum 5. Lebenstag
nımmt dieser „(seotropismus“ an Deutlichkeit ab und verschwindet.
Daß es kein Geotropismus ist, geht aus folgenden Tatsachen
hervor;
R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin. 261
Die anfänglich inkontinuierliche Bewegung der Ruderantennen
wird bis zum 5. Tage regelmäßig. Das Licht wirkt (s. unten) be-
schleunigend auf die Bewegungen von T. ein, dies um so mehr,
je jünger die Tiere sind. Werden die Nauplien verdunkelt, so ver-
langsamen sich ihre Bewegungen, und sie sinken trotz fortwähren-
dem Aufwärtsstreben zu Boden. Sobald Licht zutritt, sind sie
imstande (von welcher Seite das Licht eintritt, ist gleichgültig), sich
vom Boden zu erheben.
Die Erscheinung ist somit nicht tropistischer Natur, sondern
eine Folge der erst allmählich sich entfaltenden Körperkraft und
Ruderfähigkeit und der erregenden Wirkung des Lichtes.
b) Thermotropismus.
Wenn bei warmem Wetter das Wasser am Ufer des Eichener
Sees sich erwärmt hat, so sind vom Ufer her keine Phyllopoden
mehr zu sehen, sie haben sich ins kältere Wasser zurückgezogen.
Die Grenze zwischen der bevölkerten und unbevölkerten Region
konnte ich 1914 genau verfolgen und feststellen, daß ihr entlang
überall die Temperatur des Wassers 16° C. betrug. Andererseits
sah ich in meinen Aquarien die Tiere sich immer am wärmeren
Ende ansammeln, sobald die Temperatur unter 9° ging. Auch dann,
wenn auf eine Strecke von 20 cm das Temperaturgefälle nur 0,25°
betrug, reagierten die Tiere deutlich thermotaktisch. In ein künst-
liches Temperaturgefälle gebracht, sammelten sich die Tiere im
Wasser von 9°—-16° C. an. Oberhalb waren sie negativ, unter-
halb positiv thermotropisch.
c) Phototropismus.
Nach meinen Erfahrungen treten bei 7. (und auch bei andern
Anostraca) zweierlei Arten von Phototropismus in Erscheinung.
1. Die frisch ausgeschlüpften Nauplien schwimmen, sobald sie
die Embryonalhülle verlassen haben, in der Richtung, woher das
Licht einfällt, und sammeln sich am vorderen (belichteten) Ende
der Aquarien an. Dort tummeln sie sich, indem sie längs der
Wand hin und her schwimmen, den Lichtstrahlen bald die Seite,
bald Bauch oder Rücken zuwendend. Dieser Phototropismus tritt
unter allen Umständen ein und hält bis zum 5. Tage an, nämlich
so lange, bis die Ruderbewegungen kontinuierlich geworden sind.
Er wird auch durch äußerst schwaches Licht, 1 MK und darunter,
sogar schon durch das Licht des durch einen Wolkenschleier
scheinenden Vollmondes ausgelöst und hat wohl die Bedeutung,
die Bewegungen nach einer Richtung, der Richtung des freien
Wassers zu dirigieren. Er ist so stark, daß man durch Beleuch-
tung von unten die Nauplien auf den Boden eines Gefäßes bannen
kann, so daß sie zugrunde gehen.
262 R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin.
4 Y
3, Vom 5. Tage an ist unter normalen Bedingungen von Photo:
tropismus nichts mehr zu konstatieren. In Aquarien, die ich im
Dunkelraum nur von einer Seite her beleuchtete, oder mit Aus-
nahme einer Seite lichtdicht umhüllte, zeigte 7. sich immer gleich-
mäßig verteilt. Traf ich aber in den Kulturen die Tiere an der
Lichtseite angesammelt, so konnte ich mit Sicherheit darauf zählen,
am andern Tage eine große Anzahl derselben tot vorzufinden. Als
1914 der Eichener See sich stark erwärmte, und Fäulnis einsetzte,
sammelten sich die Phyllopoden am Südende an, in allen übrigen
Teilen des Sees waren keine mehr zu finden. Wenige Tage darauf
waren alle zugrunde gegangen.
Künstlich konnte ich den Phototropismus der erwachsenen
Tiere hervorrufen: Durch mechanische Reizung (Stoß an die Aquarien,
Umrühren des Wassers), dabei hielt der Phototropismus nur wenig
länger an als die Störung dauerte. Durch Lichtreiz (z. B. schroffen
Wechsel der Intensität und Richtung des Lichtes), auch hier hält
die Reaktion nicht an. Durch Wärmereiz (Erhöhung der Tempe-
ratur über 16° C.), hier bleibt die Reaktion bestehen, wenn die Tempe-
raturerhöhung bereits zu einer irreparablen Schädigung geführt hat.
Durch Einwirkung chemischer Agenzien (Sauerstoffmangel, CO,,
Säure, Alkali, Fäulnisstoffe). Auch hier verschwindet der Photo-
tropismus wieder, wenn die Einwirkung aufhört, sofern die Tiere
nicht schon geschädigt sind.
Der Phototropismus der älteren Tiere äußert sich auf zweierlei
Arten:
Sind die störenden Reize nur schwach, so orientieren sich die
Tiere so, daß ihre beiden Seitenaugen gleichmäßig bel&uchtet sind,
d. h. sie kehren dem Lichte die Ventralseite zu, ohne sich vorerst
dem Lichte zu nähern. Bei Lichtreiz von unten z. B. kehren sie
die Bauchseite nach abwärts, bei Lichtreiz von der Seite drehen
sie den Körper um die Längsachse und die einzelnen Seitenaugen
in der Richtung nach dem Licht. Bei größerer Intensität der Reize
wird aber diese „Normallage* (Radl) verlassen, und die Krebse
schwimmen in der Richtung des Lichteinfalls (positive Phototaxis).
Die Einstellung in der Lichtrichtung ist aber keine strenge und
stimmt weder zur Loeb’schen noch zur Radl’schen Theorie des
Phototropismus. (Übrigens läßt mich die Loeb’sche Theorie auch
bei der Erklärung des Thermotropismus im Stich.)
Bezüglich der theoretischen Würdigung der Tropismen ver-
weise ich :auf meine ausführliche Veröffentlichung. Hier möchte
ich nur darauf hinweisen, welche Bedeutung die Tropismen für den
Branchiopoden haben. Durch sie wird er bewahrt vor dem Unter-
gang im warmen Uferwasser und in den sauerstoffarmen Schichten
am Grunde des Tümpels und hmausgeführt in sein eigentliches
Element, das freie Wasser.
R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin. 2653
IV. Abhängigkeit der Ruderbewegungen von äußeren
Bedingungen.
Die Bewegungen der Ruderfüße von Tanymastix sind in hohem
Grad hinsichtlich ihrer Geschwindigkeit von äußeren Bedingungen
abhängig. Ihre Frequenz (d. i. die Zahl der Schläge pro Minute)
wird vermehrt durch erhöhte Temperatur, Abnahme der Zähigkeit
des Mediums und erhöhte Beleuchtungsintensität. Andererseits
variiert die Frequenz aber auch mit den Änderungen, die im Innern
des Organismus vor sich gehen. Sie nimmt immer mehr ab, je
älter die Tiere werden. So fand ich für ein Tier in den verschie-
‘denen Altersstadien folgende Frequenzwerte:
Alters ll 15.%.18°..927 788. 22°22.°°/ 45 Bage
S/M: 440 400 326 188 206 156 147 Schläge pro Minute.
Die größte Frequenz, die ich gemessen, betrug 515, die kleinste
137 Schläge pro Minute (bei 12,5° C.). Während der Kopulation,
bei der Eiablage etc. ist die Frequenz oft stark erhöht.
Die Wirkung des Lichts auf die Bewegung der Ruderfüße
konnte ich nur an nicht geschlechtsreifen Tieren beobachten. Sie
ist in den ersten Tagen am größten und nimmt von Anfang an
ab, um mit dem Eintritt der Geschlechtsreife ihren Nullwert zu
erreichen. Die Frequenz der Ruderbewegungen wird also um so
mehr durch das Licht erhöht, je jünger die Tiere sind. Die Wir-
kung des Liehts nimmt ferner mit steigender Temperatur zu. Bei
5°C. z. B. kann keine auch noch so starke Beleuchtung eine Ver-
mehrung der Frequenz hervorrufen. Die bewegungsbeschleunigende
Wirkung fängt erst bei etwa 5°C. an, sich bemerkbar zu machen.
Je höher die Temperatur und je jünger die Tiere, eine um so
größere Frequenzsteigerung kann durch Beleuchtung erzielt werden,
‘eine um so größere Lichtintensität ist aber auch für die Erreichung
der maximalen unter den betreffenden Bedingungen möglichen
Frequenzsteigerung nötig. Diejenige Intensität, welche gerade die
maximale mögliche Beschleunigung hervorruft, habe ich „Kritische
Intensität“, die Wirkung des Lichtes auf die Bewegung „Photo-
kinetischen Effekt“ genannt. Wird die Lichtstärke über die kritische
Intensität hinaus vermehrt, so findet keine Frequenzsteigerung mehr
statt. Wie Temperatur und Alter die mögliche Beschleunigung
und damit die kritische Intensität beherrschen, geht aus den folgen-
den Tabellen hervor:
Intensität: DEE 390.0 3. 25 N DT
Alter: 11 Tage — 214 232 246 248 248 — — 250
Alter .19°: ., 198 220 245 266 263 ° — — 263 |. M
Alter:-18 .', 220.230.250,250: 8° 950. 248 | |
Alter: 22. _:, 164 164 164 — — — 164 — 164
264 R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin.
(Die Intensitäten sind in Meterkerzen angegeben, die Temperatur
betrug 10,2—11,1° C.)
Intensität: 05210 aaa OEL
Temperatur: 0 — 2 — 82 81 81 8%
4,5—4,9 82 2 MER Ran al 82
8,0—8,4 | 89 97.100 100 99 9 — | gy
11,3-—11,9 | 156 167 170 170 169 170 170
15,4—15,5 | 138 167 173 181 180 180 181
177178 | — — 222 240 264 320 320
Zunehmendes Alter und abnehmende Temperatur üben, wie aus
den Tabellen deutlich hervorgeht, dieselbe Wirkung auf den photo-
kinetischen Effekt aus, Ferner ist aus den Tabellen die frequenz-
steigernde Wirkung der Temperaturerhöhung leicht zu ersehen.
Vergleicht man die Frequenzwerte eines Tieres bei verschie-
denen Temperaturen, so lassen sich leicht die Temperaturkoeffizienten
der Ruderbewegung für die verschiedenen Temperaturgebiete be-
rechnen (s. A. Kanitz: Temperatur und Lebensvorgänge, Berlin
1915). Diese Temperaturkoeffizienten (d. s. die Zahlen, welche an-
geben, in welchem Maße ein chemischer oder physiologischer Vor-
gang durch eine Temperaturerhöhung von 10° beschleunigt wird)
10
werden berechnet nach der Formel: Q,, = (vr, worin Q,, den
1
den Temperaturkoeffizienten, T, und T, die Temperaturen und V,
und V, die zugehörigen Geschwindigkeiten darstellen. (Unter der
Voraussetzung, daß die Geschwindigkeit des Vorganges ungefähr
eine Exponentialfunktion der Temperatur seı.)
Ändern wir aber die Temperatur des Wassers, in dem sich die.
Tiere befinden, so ändern wir auch den Sauerstoffgehalt und die
Zähigkeit des Mediums. Von diesen beiden ist die Änderung des
Sauerstoffgehalts, in dem Maße, wie sie bei den Versuchen in Be-
tracht kam, fast ohne Einfluß auf die Bewegungen der Tiere. Anders
die Änderung der Viskosität. Ihr Einfluß wurde in folgender Weise
berechnet. Ich brachte die Tiere in Wasser von 20° C., dessen
Viskosität durch Zusatz von Zucker so gesteigert wurde, daß sie
derjenigen von Wasser von z. B. 10° entsprach. ‚Aus der Ände-
rung der Bewegung bei der Übertragung der Tiere von Wasser in
die betreffende Lösung konnte ein „Zähigkeitsfaktor* berechnet
werden, d.h. eine Zahl, die angibt, um wie viel die Geschwindig-
keit der Ruderbewegung erhöht wird durch die Abnahme der Vis-
kosität, die einer Temperaturzunahme des Wassers von 10° ent-
spricht. Dieser Zähigkeitsfaktor beträgt 1,23. Das will sagen:
va,
R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin. 265
Würde durch Erhöhung der Temperatur des Wassers nur die Vis-
kosität des Mediums, nicht auch die Geschwindigkeit der Vorgänge
(z. B. Kraftproduktion) im Innern des Organismus verändert, so
müßte pro 10° Temperaturerhöhung die Geschwindigkeit der Ruder-
bewegung von 7. auf das 1,23fache anwachsen. Dieser Zähigkeits-
faktor kann zur Korrektur der Brutto-Temperaturkoeffizienten ver-
wendet werden.
Die Ruderbewegungen von T. zeigen eine besondere Abhängig-
keit von der Temperatur. Bisher waren wir gewohnt zu sehen,
daß physiologische Prozesse mit steigender Temperatur zunehmen,
ein Maximum aufweisen und bei weiter erhöhter Temperatur wieder
abfallen. Ferner war bekannt, daß das Maximum erst bei einer
Temperatur erreicht wird, die für den betreffenden Organismus be-
reits supraoptimal ist. Hier existiert ein Maximum nicht, wenigstens
nicht innerhalb des Intervalls von 0—31° C.
Das Gebiet von 0—9° bezeichne ich entsprechend der Kanitz’-
schen Auffassung als Auslösungsphase. In ihr findet eine stetige
Zunahme des Temperaturkoeffizienten statt. Die betreffenden korri-
gierten, d. h. durch den Zähigkeitsfaktor dividierten Werte bewegen
sich zwischen 1 und 3,7. Das Zutreffen des Namens Auslösungs-
phase erhellt deutlich aus dem oben beschriebenen Einsetzen des
photokinetischen Effektes. Bei 9—10° (Fig. 1) weist die Tempe-
raturkurve einen Knick auf und geht über in einen weniger steil
3, EB EN 2 ER Ra Re 2 BE
ee
2 EEE RR
BE a
et
_Aussosung/optimum | | | || |
ED? dummer Be
rm —+--H-
Fig. 1. Temperaturkurve ei Re von Tanymastıx.
100
266 R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin.
verlaufenden Teil, der die optimale Phase darstellt. Die optimale
Phase liegt zwischen 9 und 16°. Sie ist dadurch gekennzeichnet,
daß in ihr der Temperaturkoeffizient den Wert 1,23 dauernd bei-
behält. Es ist also anzunehmen, daß innerhalb dieses Gebietes die
physiologischen Vorgänge unter verhältnismäßig konstanten Be-
dingurgen verlaufen. Die geringe Größe des Koefffzienten spricht
dafür, daß die Zunahme der Frequenz auf physikalische Ursachen
(etwa abnehmende innere Reibung) zurückzuführen sein dürfte. Den
Namen optimale Phase verdient dieser Kurventeil deshalb, weil er
dem Temperaturgebiet entspricht, das für 7. als optimales bezeichnet
werden muß. Unterhalb 9° sind die Lebensbedingungen ungünstiger,
dort ist das Gebiet der Auslösung, oberhalb 16° ist das Leben für
T. auf die Dauer unmöglich. Interessanterweise fällt die optimale
Phase gerade mit dem Temperaturgebiet zusammen, in dem 7.
keine thermotaktische Reaktion zeigt. Bei 16° weist die Tempe-
raturkurve wieder einen Knick auf. Sie wendet sich jetzt, in der
Sehädigungsphase, steil nach oben. Die Koeffizienten zeigen keinen
regelmäßigen Gang. Sie schwanken zwischen 2,5 und 1,1. Die
Frequenz nimmt hier immer mehr zu, bis schließlich die Bewegungs-
organe den immer rascher aufeinander folgenden Impulsen nicht
mehr zu folgen vermögen und Tetanus und Wärmestarre eintreten.
Die van t’Hoff’sche Regel, wonach der Temperaturkoeffizient sich
zwischen 2 und 3 bewegen soll, trifft für keinen Teil der Tempe-
raturkurve zu, nicht einmal innerhalb der Behaglichkeitsgrenzen
(Kanıtz le.)
V. Fortpflanzung.
Wie bei Branchipus gilt auch bei Tanymastix das Gesetz, daß
die Eier nur nach erfolgter Kopulation aus den Eileitern in das
Eisäckchen übertreten. Einige Minuten nach der Paarung öffnen
sich gleichzeitig die Sphinkteren auf beiden Seiten, und die Bier
gleiten in den Brutraum. Dort werden sie befruchtet und erhalten
eine doppelte Eischale. Nach 48 Stunden werden sie abgelegt. Sie
haben im fertigen Zustand linsenförmige Gestalt mit abgeflachtem
Rand. Diese Form erhalten sie im Eisäckchen durch eine Kom-
pression, als deren Ursache der osmotische Druck des Schalen-
drüsensekrets betrachtet werden kann. Die Kompression beginnt
etwa 12 Stunden nach dem Eintritt der Eier in das Eisäckchen, nach-
dem bereits eine dünne Schicht von Schalensubstanz sich gebildet
hat. Erzeugt man durch Entzug der Nahrung kleine Eier, so werden
diese nicht abgeplattet, sondern bleiben rund entsprechend dem
Gesetz, daß die Festigkeit eines Gewölbes bei gleicher Wandstärke
1 r-p
DU RE,
worin s— Wandstärke, r = äußerer Radius, p = Außendruck und
dem Radius umgekehrt proportional ist, nach der Formel s—=
R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin. 267
k = zulässige Spannung (Festigkeit). Solch runde Eier sind auch
zu 1,3°,, im Material vom Eichener See zu finden. Eier mit nur
auf einer Seite ausgebildetem Rand stellen eine Zwischenstufe
zwischen den normalen und runden dar. Sie lieferten ohne Aus-
nahme, wie auch viele der runden, normale Tiere. Die innere Ei-
schale, die dank ihrer hornigen Beschaffenheit für die Form der
Eier maßgebend ist, wird vor der Ablage mit einer zweiten (Gallert-)
Schale überzogen.
Nach der Ablage müssen die Eier noch mindestens einen Monat
im Wasser liegen bleiben, bis sie durch Austrocknung zur Weiter-
entwicklung angeregt werden können. In meinen Versuchen erhielt
ich nach einer Wässerungsdauer von 30 Tagen 3,4%, nach 36 Tagen
5,9%, nach 40 Tagen 59,6%, und nach 43 Tagen 70,8%, entwick-
lungsfähige Eier.
Beim Verweilen im Wasser geht die äußere Gallertschale ver-
loren. Ihre Reste sind nach dem Trocknen als firnisartiger Über-
zug auf der braunen Hornschale zu finden.
Zur Einleitung des Ausschlüpfens genügt schon eine Trocken-
zeit von 4 Tagen. Durch den Austrocknungsprozeß wird die Form
der Eier abermals verändert. Ihre Gestalt wird flacher. Der Durch-
messer verringert sich um 2, die Dicke um etwa 30%. Der Rand
wird noch mehr abgeflacht und dadurch die Hornsubstanz an der
Kante gelockert. Der Inhalt des Eis zieht sich noch weiter zu-
sammen. Schließlich liegt er einer Schalenhälfte an, auf der andern
Seite von einem Luftraum umgeben. Nur durch die Austrocknung
können die Eier zur Entwicklung gebracht werden. Dieser Aus-
trocknungszwang stellt meines Erachtens die höchste Anpassung
an die Periodizität des Mediums dar.
Nach dem Übergießen mit Wasser nehmen die Eier die Form
wieder an, die sie vor der Ablage besessen, und öffnen sich durch
einen äquatorialen Riß. Der Nauplius tritt langsam, umhüllt von
der eiförmigen Embryonalhülle, zwischen den Schalenhälften her-
vor, während im Innern der Eischale eine weitere Hülle, das Chorion,
zerrissen zurückbleibt. Die Embryonalhülle vergrößert sich dank
dem in ihrem Innern herrschenden osmotischen Druck, der schon
die Eischale gesprengt hat und sich auf 22 bis 31 Atmosphären be-
läuft. Durch einen Riß am Scheitelende wird endlich der Nauplius
ausgestoßen.
Eier, die auf der Fläche des Wassers schwimmen, entwickeln
sich nicht, sondern gehen zugrunde. Sie entwickeln sich aber, wenn
über dem Wasser ein sauerstofffreies, indifferentes Gas sich be-
findet, z. B. in einer Atmosphäre von CO,, N, oder H,. Die ab-
tötende Wirkung der Luft ıst somit auf ihren Sauerstoffgehalt
zurückzuführen. Durch vollständige Abwesenheit von Sauerstoff
h
”
L3
268 R. T. Müller, Zur Biologie von Tanymastix lacunae Guerin.
wird die Entwicklung ebenfalls verhindert, aber die Eier gehen da-
durch nicht zugrunde.
In vollkommen reinem Wasser entwickeln sich die Eier nicht.
Nur durch Zugabe von erdigen Stoffen, Aquarien- oder Teich-
Wasser kann destilliertes oder Leitungswasser für die Aufnahme
von Eiern geeignet gemacht werden.
In Salzwasser (NaCl) von höherer Konzentration als 0,2%, ent-
wickeln sich die Eier nicht. Sie sterben in Salzwasser von mehr
als 1%, Gehalt bald ab.
Die Eier von 7. lassen sich im Gegensatz zu denjenigen von
Branchipus weder durch Behandlung mit Salzwasser noch durch
Einfrierenlassen unter Umgehung der Austrocknung zur Entwick-
lung bringen. Nur in äußerst seltenen Ausnahmefällen setzt die
Entwicklung unter den angedeuteten Verhältnissen doch ein. Der
Grund für dieses Verhalten ist wahrscheinlich darin zu suchen, daß
Einfrierenlassen und Behandlung mit Salzwasser wohl durch Wasser-
entzug eine Ruheperiode hervorrufen, nicht aber dazu beitragen,
die Eischale für die Sprengung vorzubereiten.
Eine ausführliche Veröffentlichung meiner Experimente und
deren Ergebnisse wird an anderer Stelle (Ztschr. f. Biologie) er-
folgen. Mögen diese kurzen Mitteilungen anregen zu weiterem
Ausbau der experimentellen Biologie.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
a
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
DrsK: Goebel ind Dr-R. Hertwige
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Ss von SE Thieme in BapzE
SSr Band 223 Deu 1918. Pa Nr. 7
een am 3. Juli
Der jährliche Bhchnemenlänräis (12 Hefte) beige: 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: W. J. Schmidt, Deckglasdieke, Tubuslänge und Objektive mit ers S. 269.
P. Schiefferdecker, Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff. S. 276.
F. Sehanz, Wirkungen des Lichts auf die Pflanze. S. 283.
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzuges von der Witterung. S. 296.
Referate: E. Becher, Die fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen und die Hypothese eines
überindividuellen Seelischen. S. 315.
Deckglasdicke, Tubuslänge und Objektive mit
Korrektionsfassung.
Von Prof. Dr. W. J. Schmidt in Bonn.
Allbekannte Dinge verdienen bisweilen wieder einmal be-
sprochen zu werden, wenn sie nämlich nicht die Beachtung finden,
die ihnen zukommt. Seit Jahren mache ich bei gelegentlichem
Zusammensein mit Fachgenossen, Biologen im weitesten Sinne, bei
mikroskopischen Demonstrationen, in Kursen, im Gespräch mit
Studierenden der verschiedensten Universitäten die Erfahrung, daß
nur selten die Bedeutung von Deckglasdicke und Tubus-
länge für die Güte des mikroskopischen Bildes beim Ge-
brauch starker Trockensysteme hinreichend gewürdigt, und
daß vor allem bei der Einführung in mikroskopische Studien auf
diese Dinge nicht nachdrücklich genug aufmerksam gemacht wird.
Beginnt der Studierende aber später mit selbständigen Arbeiten,
so fehlt es meist an Zeit und Gelegenheit, derartige Versäumnisse
38. Band 20
970 W. J. Schmidt, Deckglasdicke, Tubuslänge u. Objektive m. Korrektionsfassung. w
nachzuholen, und solche, die sich. aus eignem Antrieb der zahl-
reichen vortrefflichen Bücher über Gebrauch und Wirkungsweise
des Mikroskops bedienen, um ihre Kenntnisse zu vervollständigen,
sind Ausnahmen.
Mit der Unterschätzung des Einflusses der Deckglasdicke beim
Gebrauch starker Trockensysteme hängt es. nun zusammen, daß
diese Objektive gewöhnlich nicht mit Korrektionsfassung ge-
kauft und benutzt werden und daß nicht gar selten die Besitzer
von Objektiven mit Korrektionsfassung auf deren sachgemäßen
Gebrauch verzichten, indem sie die ganze Angelegenheit als neben-
sächlich oder nur für feinste Arbeiten in Betracht kommend ver-
nachlässigen.
Die Korrektionsfassung ermöglicht es bekanntlich, durch Drehen
an einem Ringe die Entfernung der beweglichen Hinterlinsen des
Objektivs von (der oder) den feststehenden Vorderlinsen zu ändern
und damit die durch unrichtige Deckglasdicke erzeugte Störung
des Strahlenganges auszugleichen. Der Ring spielt über einer be-
zifferten Skala, die in 10Qustel Millimeter die zur jeweiligen Stellung
passende Deckglasdicke angibt. Derartige Objektive können in
zweierlei Weise gebraucht werden, bei bekannter Deckglasdicke
(Ausmessen derselben mit einem Deckglastaster oder auf andere
Weise), indem der Ring auf die entsprechende Marke gestellt wird,
bei unbekannter Deckglasdicke, was in der Praxis die Regel ist,
indem die richtige Deckglaskorrektion dadurch ausgeprobt wird, daß
man mit der einen Hand den Ring hin- und herdreht und gleich-
zeitig mit der anderen die Mikrometerschraube bedient; man be-
läßt dann den Ring in der Stellung, bei welcher das Bild am
schärfsten erscheint. Bei dieser Einstellung des Objektivs öffne
man die Blende weit und fasse kleine dunkle Gebilde im Präparat
ins Auge, um die Bildschärfe zu beurteilen. Es gibt auch noch
bessere Kriterien als die subjektive Abschätzung der Bildschärfe
(vgl. Siedentopf, Z. f. wiss. Mikr. 1908, S. 277); doch soll darauf
hier nicht näher eingegangen werden, da der einigermaßen Geübte
mit der eben angegebenen, gewöhnlichen Methode vollständig aus-
reicht.
Die histologischen Kurse leiden ganz erheblich darunter, daß
bei einer einigermaßen großen Teilnehmerzahl nicht jeder Praktikant
eine Ölimmersion zu seiner Verfügung hat. Dafür sind diese
Systeme, wenn auch in den letzten Jahren verbilligt (ich sehe vom
Kriegsaufschlag ab!), immer noch zu teuer. Auch ist ihre Anwen-
dung vor allem bei der Untersuchung frischen Materials gegenüber
den Trockensystemen soviel umständlicher, daß sie nicht gleich
dem Anfänger in die Hand gegeben en können. Aber darin
stimmen meine Erfahrungen mit denen von Buchner (Vorwort
zum Praktikum der Zellenlehre I, Berlin 1915) überein, daß das
wo. Schmidt, Deekglasdicke, Tubuslänge u. Objektive m. Korrektionsfassung. 271
Beobachtungsvermögen beim Durchschnitt der Studierenden wohl
ausreicht, um auch mit den stärksten Systemen zu arbeiten und
zu einem Verständnis des mikroskopischen Bildes zu gelangen.
Das bezeugen ja auch die bakteriologischen Kurse (für Medizin-
studierende), ın denen der Gebrauch der Immersionen nicht zu
umgehen ist. Jedenfalls stellt aber auch wenigstens für zoohisto-
logische Kurse die Benutzung der Ölimmersion durch jeden Teil-
ink ein erstrebenswertes Ziel dar. Selbst gelegentliche Demon-
strationen in den Kursen unter Immersion vermögen daran nichts
zu ändern. Nicht nur lassen sich zahlreiche wichtige Dinge aus
der Zellenlehre gar nicht oder nur unvollkommen mit Trocken-
systemen beobachten, sondern es ist auch später dem Studierenden
gewöhnlich nicht ehr möglich, sich einen Überblick über den Bau
der Gewebe des gesamten Tierreiches zu verschaffen, wie er in
vergleichend histologischen Übungen geboten werden sollte, und er bei
den einfacheren Präparationsmethoden etwa zur Zeit Leydigs eher
für den einzelnen erreichbar war. Der Mangel mag für den späteren
Öberlehrer (und Arzt) unwesentlich sein, für den künftigen Forscher,
wie auch sein besonderes Arbeitsgebiet sein wird, ist er aber gewiß
von Bedeutung und auch auf ibn müssen die Kurse Rücksicht
nehmen.
So lange man aber aus den angeführten Gründen auf den
Gebrauch der Ölimmersionen os will oder muß, erhalten
die starken Trockensysteme eine ausschlaggebende Bedeutung,
da sie in Kursen das einzige Mittel darstellen, feinere Strukturen
zu untersuchen. Nun macht aber der Anfänger oft die Beobach-
tung, daß beim Übergang von einem mittleren zum starken Trocken-
system eine ganz bedeutende Verschlechterung des Bildes eintritt.
Er bemüht sich — und nicht nur der Anfänger tut dieses — den
Nebel und die Unschärfe zu beseitigen, indem er die Blenden-
öffnung verkleinert, mit engem Beleuchtungskegel arbeitet, und so,
immer auf Kosten der Helligkeit und gelegentlich sogar des Auf-
lösungsvermögens, ein erträgliches Bila erzielt. Gewöhnlich glaubt
die zuerst beobachtete Unschärfe beruhe auf der Unvollkommen-
heit des Objektives. Die Dunkelheit des Gesichtsfeldes veranlaßt
ihn aber weiterhin, von den starken Trockensystemen möglichst wenig
Gebrauch zu machen, und damit beraubt er sich, da ihm keine
Immersion zur Verfügung steht, des Mittels zur Untersuchung feinerer
Verhältnisse.
Mehr als einmal habe ich einem solchen mit den Leistungen
des starken Trockensystems Unzufriedenen mittels der Abbe Allen
Testplatte gezeigt, daß die Mängel des Bildes nicht dem Objektiv
zuzuschreiben sind, sondern daß es sich einzig um die Wirkung
einer unrichtigen Deckglasdicke (gelegentlich auch Tubuslänge)
yandelt. Da nun der von Scheffer (Wirkungsweise und Gebrauch
20*
der Miskroskops, Leipzig und Berlin 1911, S. 113) ausgesprochene
Wunsch, der Handel solle nur Deckgläser einer bestimmten, ge-
eigneten Dicke auf den Markt bringen, bis jetzt noch der Erfüllung
harrt, und auch bei richtiger Deckglasdicke dadurch eine Störung
des Strahlenganges im Objektiv eintritt, daß eine zwischen Deck-
glas und Objekt gelegene Schicht des Einbettungsmittels wie
eine Erhöhung der Deckglasdicke wirkt, so ıst man praktisch dar-
auf angewiesen, Objektive mit Korrektionsfassung zu ge-
brauchen, wenn man starke Trockensysteme voll aus-
nützen will. Und daß man mit solchen Objektiven auch die
Kursmikroskope ausstattet, dafür möchte ich nachdrücklich ein-
treten. Man scheue die geringe Verteuerung der Objektive nicht,
da diese Unkosten durch die Erweiterung ihres Wirkungsbereiches
mehr als ausgeglichen werden.
Die Ausführung der neueren Objektive mit Korrektionsfassung
ist so solid, daß ein Ausleiern’nicht zu befürchten ıst. Auch wende
man nicht ein, daß ıhre Handhabung zu umständlich sei: der Geübte
läßt den Korrektionsring einige Male hin- und herspielen und die
richtige Einstellung ist gefunden.
Daß die Benutzung der Objektive mit Korrektionsfassung so
wenig verbreitet ist, liegt meiner Ansicht nach darin, daß der Ein-
fluß der Deckglasdicke auf die Güte des Bildes zu selten ad oculos
demonstiert wird. Ich möchte daher anregen, in der kurzen Be-
sprechung, die wohl jeder Dozent als Einführung in den Gebrauch
des Mikroskops seinem eigentlichen Kursthema vorausgeschickt,
folgende bekannte Versuche mit der Abbe’schen Testplatte
zu erwähnen und zu zeigen.
Die Testplatte stellt ın ıhrer neueren Form ein auf einen
Objektträger gekittetes, keilförmiges Deckglas dar, ın dessen ver-
silberte Unterseite zackige Linien, das eigentliche Probeobjekt, ein-
gerissen sind. Neben dem Deckglas befindet sich auf dem Objekt-
träger eine Skala, die ın hundertstel Millimeter die Dicke des Keiles
(ungefähr innerhalb eines Intervalles von 0,1—0,2 mm) angibt.
Man stelle nun ein mit Korrektionsfassung versehenes Objektiv
(am besten einen Apochromaten, etwa 4mm; dazu starkes Okular)
durch Drehen am Korrektionsring für eine Deckglasdicke von 0,2 mm
ein, benuzte dagegen als Objekt den Keil der Testplatte an der
0,1 mm dicken Stelle und öffne die Blende so weit, daß bei her-
ausgenommenen Okular fast die ganze Öffnung des Objektivs von
Licht erfüllt ıst. Die Sılberstreifen erscheinen alsdann äußerst
unscharf. Durch Verkleinern der Blende werden sie deutlicher.
Daun stelle man die alte Beleuchtung (weit geöffnete Blende) wieder
her und verschiebe nun die Testplatte langsam nach ihrem dickeren
Ende zu, indem man immer mit der Mikrometerschraube nachstellt.
Man wird eine ständige Besserung des Bildes feststellen können,
u ee a a m
in. Fe SD
W.J. Schmidt, Deckglasdicke, Tubuslänge u. Objektive m. Korrektionsfassung. 973
und befindet sich die 0,2 mm dicke Stelle unter dem Objektiv, so
erscheint das Bild frei von Nebel und Unschärfe und zwar bei weit
geöffneter Blende!
Steht kein Objektiv mit Korrektionsfassung zur Verfügung, < so
betrachte man mit einem gewöhnlichen arken Trockensystem, für
das die günstigste Deckglasdicke bekannt ist (bei Zeiß und auch
beı Winkel in neuerer Zeit ıst die richtige Deckglasdicke auf den
starken Trockenobjektiven vermerkt), einmal die passende, dann
eine zu dünne und schließlich eine zu dieke Stelle des Deckglas-
keiles und vergleiche die Güte der Bilder. Ist die für das betreffende
Objektiv geeignete Deckglasdicke nicht bekannt, so läßt sie sich leicht
an der Skala der Testplatte ablesen, indem man unter Hin- und
Herschieben der Platte das Bild größter Schärfe aufsucht. (Wer
sich für weitere derartige Versuche interessiert, den verweise ich
auf das treffliche Büchlein in den Übungen zur wissenschaftlichen
Mikroskopie: Heft 3, Methoden zur ns der Objektivsysteme
u.s.w. von Ambronn und Köhler, Leipzig 1914.)
Ist keine Testplatte vorhanden, so stelle man folgenden
Versuch an, der auch neben den erstgenannten gezeigt werden
mag. Auf das Deckglas eines Dauerpräparates, dessen Dicke sich
zum benutzten Objektiv als passend erwiesen hat (gefärbter Schnitt,
der möglichst gleiche Struktur in ganzer Ausdehnung zeigt), be-
festige man mittels eines Tropfens Zedernöls ein zweites, halb so
großes Deckglas, das den Schnitt zum Teil überlagert. Man stelle
nun das Präparat so ein, daß der Rand des oberen Deckglases das
Gesichtsfeld halbiert und somit nebeneinander der gleiche Schnitt
einmal unter richtiger, das zweite Mal unter zu großer Deckglas-
dicke zu sehen ist. Der Einfluß der letzteren macht sich sehr
unliebsam bemerkbar.
Wer sich mehrmals solche Versuche vorführt, wird wohl zur
Überzeugung kommen, daß eine unrichtige Deckglasdicke die Güte
des Bildes bei starken Trockensystemen ganz erheblich ver-
schlechtert, und das um somehr und auffallender, je vollkommener
die Strahlenvereinigung des betreffenden Objektives an sich ist.
Mancher Studierende, der diese Versuche gesehen hat, möchte
auch wohl Aufschluß darüber haben, warum die Dicke des Deck-
glases von so erheblichen Einfluß auf die Güte des Bildes ist.
Diese altbekannten Verhältnisse lassen sich an Hand einiger sche-
matischer Figuren, begleitet etwa von folgender Erörterung ver-
ständlich machen. Die Strahlen verschiedener Neigung zur Achse,
welche von einem unter dem Deckglas gelegenen Objektpunkt aus-
gehen, werden bei ihrem Durchgang durch das Deckglas gebrochen
(parallel verschoben). Verlängert man sie alsdann durch das Deck-
‚glas rückwärts, so ergibt wo daß sie sich mit zunehmender Nei-
gung zur Achse (= mit steigendem Öffnungswinkel) in Punkten
974 W.J. Schmidt. Deckglasdieke, Tubuslänge u. Objektive m. Korrektionsfassung.
schneiden, die dem Objektiv immer näher liegen. So treten durch
die Wirkung des Deckglases an Stelle des Bildes des einen Objekt-
punktes eine Reihe übereinandergelegener virtueller Bilder desselben.
Das Deckglas erzeugt also ein Bild des Objektes, das mit
sphärischen Aberrationen behaftet ıst. Bildet man andererseits ein
Objekt durch eine gewöhnliche Linse ab, so schneiden sich bekannt-
lich die Randstrahlen in einem der Achse nähergelegenem Punkte
als die Zentralstrahlen (sphärische Aberration eines unterver-
besserten Systems). Vertauscht man bei einem solchen Strahlen-
gang, was zulässig ist, Bild- und Objektraum miteinander, so würde eine
derartige Linse mehrere hintereinander auf ihrer Achse gelegene Ob-
jekte in einem Punkt abbilden können. Ein Vergleich des durch
die Wirkung des Deckglases hervorgerufenen Strahlenganges mit
dem in einem solchen unterverbesserten System zeigt, daß es mög-
lich ist, die Wirkung einer gewissen (zu großen) Deckglasdicke
durch eine bestimmte Unterverbesserung des Objektives auszu-
gleichen. Umgekehrt läßt sich die Wirkung eines zudünnenDeck-
glases durch Überverbesserung des Systems aufheben. Den:-
gemäß darf ein starkes Trockensystem nie ohne Deckglas gebracht
werden; ist dies notwendig, z. B. bei Anwendung der Opakillumi-
nators, so muß das Objektiv besonders hierfür korrigiert sein.
Auch das Drehen am Ring eines Objektives mit Korrektions-
fassung bewirkt eine Änderung seiner sphärischen Korrektion,
welche sich zur jeweiligen Deckglasdicke so verhält, daß sie die
durch jene bedingte sphärische Aberration beseitigt.
Ich würde es auch für richtig halten, bei der Einführung ın
einen histologischen Kurs neben der kurzen Erläuterung der Wir-
kungsweise des Mikroskops auf Grund der geometrischen Abbildung,
auch die Grundzüge der Abbe’schen Theorie der sekundären Bild-
erzeugung in ihren Umrissen vorzutragen (Versuche mit dem A bbe’-
schen Diffraktionsapparat!), oder wenigstens darauf hinzuweisen,
daß die geometrische Abbildung nicht alle Erscheinungen des mi-
kroskopischen Bildes zu erklären vermag, vor allem nicht die Ab-
hängigkeit der Auflösung vom Öffnungswinkel des Objektivs. Das
dürfte sich um so mehr empfehlen, als in den physikalischen Vor-
lesungen, die Biologen und Mediziner zu besuchen pflegen, diese
Dinge meist nicht berührt werden. Ein wissenschaftlich arbeitender
Mikroskopiker sollte aber mit der Wirkungsweise seines Instruments
einigermassen vertraut sein.
So lange Objektive mit Korrektionsfassung nur in dem jetzigen
geringen Umfange gebraucht werden bezw. vorhanden sind, ist man
auf den Ausgleich der Deckglasdicke mittels Verlänge-
rung oder Verkürzung des Tubus (durch Verstellung des
Tubusauszugs) angewiesen. Tubusverlängerung erzeugt näm-
lich Überkorrektion, Tubusverkürzung Unterkorrek-
hin ee ee ee ee re
MUGEEENEN VOR
En
R
W.J. Schmidt, Deckglasdicke, Tubuslänge u. Objektive m. Korrektionsfassung. 275
tion. Es wird also die Wirkung eines zu dicken Deckglases
(s. 0.) durch Verkürzung des Tubus, die eines zu dünnen
durch seine Verlängerung ausgeglichen. Seit Jahren pflege ich
im mikrotechnischen Kurs diese Regel den Praktikanten in folgen-
‚der Weise einzuprägen. Man stelle sich die Entfernung von der
Oberfläche des Objektes bis zum oberen Tubusrand als eine un-
veränderlich einzuhaltende Größe vor. Ist das Deckglas zu
dick, dann wird diese Konstante gewissermaßen vergrößert; diese
Vergrößerung muß dann durch eine Verkürzung des Tubus aus-
geglichen werden; umgekehrt bei zu dünnem Deckglas! Daß es
sich hier selbstverständlich nicht um eine Erklärung, sondern nur
um ein mnemotechnisches Hilfsmittel handelt, geht aus dem oben
Gesagten hervor. Wie mittels schiefer Beleuchtung festgestellt werden
kann, ob in einem gegebenen Falle Überverbesserung oder Unter-
verbesserung bezw. zu dickes oder zu dünnes Deckglas vorliegt, das
möge man ın dem genannten Büchlein von Ambronn und Köhler
nachlesen. Bei Siedentopf (Z. f. wiss. Mikr. 25, 1908, S. 279)
findet sich eine Tabelle für die Achromate DD, E, F, die Apo-
chromate 4 und 3 mm, in der angegeben ist, um wie viel der Tubus
bei einem bestimmten — oder — an Deckglasdecke zu verkürzen
bezw. zu verlängern ist.
Aus dem Vorstehenden ergibt sich auch, daß man die
Tubuslänge richtig einhalten soll, wenn man mit stärkeren
Trockenobjekten arbeitet, daß man nicht etwa, wie es häufig
geschieht, den Tubus einstoßen darf, weil das Mikroskop zu
hoch ist. Solche Unbequemlichkeit muß auf anderem Wege,
durch geeignete Tische und Stühle, beseitigt werden. Eine Ände-
rung der vorgeschriebenen Tubuslänge sollte nur vorgenommen
werden, um den Einfluß der Deckglasdicke aufzuheben oder um
durch die mit der Änderung der Tubuslänge verbundene Änderung
der Vergrößerung die letzte oder den Mikrometerwert auf grade
Zahlen abzurunden, was bei manchen Zeichnungen und Messungen
von Vorteil sein kann.
Die Preisverzeichnisse der optischen Werkstätten, vor allen
die vonZeiß, ebenso natürlich die Bücher, welche in den Gebrauch
des Mikroskops einführen, weisen nachdrücklichst auf den Einfluß
von Deckglasdicke nnd Tubuslänge für die Güte des mikroskopischen
Bildes und auf die Vorteile von starken Trockensystemen mit
Korrektionsfassung. hin. Auch findet sich eine Bemerkung über
diese Verhältnisse öfter auf den Vergrößerungstabellen, welche den
Instrumenten beigegeben werden. Trotzdem finden diese Hin-
weise — ich achte schon Jahre lang darauf, ob sie befolgt
werden — nur selten die nötige Beachtung. Zwar ist wohl
gegen früher eine Besserung in diesen und ähnlichen Dingen in der
Handhabung des Mikroskops eingetreten, vornehmlich durch die
f
976 P. Schiefferdecker, Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff.
vom Institut für wissenschaftliche Mikroskopie in Jena inaugurierten
Ferienkurse und durch Vorlesungen, die an gewissen Universitäten
von berufener Seite abgehalten werden. Aber vieles bleibt noch
zu wünschen, und diese Tatsache möge zur Rechtfertigung des vor-
stehenden Aufsatzes dienen, der ja nichts neues dem Bestand der
Mikrotechnik hinzufügen will.
Mahnungen verhallen meist ungehört; das wird wohl auch
das Schicksal der vorstehenden Zeilen sein. Solche Leser, die in
ihrer Praxis nicht gegen die hier besprochenen Regeln verstoßen,
werden den Aufsatz überflüssig finden, andere, die sich bisher nicht
an Deckglasdicke, Tubuslänge u. s. w. gestört haben, werden auch
weiterhin so fort arbeiten. Wenn ich aber auch nur einen jetzigen
oder künftigen Dozenten veranlassen sollte, im Unterricht mehr zu
betonen als bisher, wie wichtig diese Regeln für die Praxis des
Mikroskopikers sind, so halte ich den Zweck dieser Zeilen für
erfüllt.
Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff.
Von Paul Schiefferdecker.
In zwei in letzter Zeit erschienenen Arbeiten hat P.G. Unna
(4 u 5) die Sauerstofforte und Reduktionsorte in verschiedenen
Organen behandelt. Er findet dabei, daß alle Kerne „Sauerstoff-
orte“ sind, d. h. daß sie imstande sind, freien Sauerstoff abzu-
geben. Sie besitzen also kein Sauerstoffbedürfnis. Sie stehen
damit in einem gewissen Gegensatze zu dem Protoplasma der
Zellkörper, das sich sehr verschieden verhalten kann: es kann
bald fast ganz Sauerstoffort sein, bald fast ganz Reduktionsort,
d.h. es kann die Eigenschaft besitzen den Sauerstoff an sich zu
reißen. Es hängt dies davon ab, wie weit Granula oder Tröpf-
chen in das wabenförmige Grundgerüst des Protoplasmas einge-
lagert sind, die Sauerstofforte darstellen; so sind s. B. die Mast-
zellen im wesentlichen Sauerstofferte. Weiter kann der Kern durch
Abgabe von Sauerstoff das Protoplasma mit solchem erfüllen. Der
Zellsauerstoffort, der Kern, gibt eben mehr oder weniger Sauerstoff
an das Protoplasma ab. Durch diese Erkenntnis wird das Verständ-
nis für die Einwirkung des Kernes auf die Zelle wesentlich ge-
fördert. Nun hebt Unna weiter hervor, daß das Epithel seinen
Sauerstoff selbstverständlich erhält von dem gefäßführenden Binde-
gewebe aus, woraus hervorgehe, daß die tiefste, die Zylinderschicht
der Epidermis, die Keimschicht, am besten geeignet sei, Zellver-
mehrungen einzuleiten, da in ihr am meisten Sauerstoff enthalten
sei. Auch aus den Abbildungen geht hervor, daß diese Schicht
augenscheinlich nicht nur in den Kernen, sondern auch ın dem
gesamten Protoplasma sehr viel Sauerstoff enthalten muß, die Kerne
P. Schiefferdecker, Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff. 277
heben sich in ihr von dem Zellkörper gar nicht oder kaum ab.
Weiter hebt Unna hervor, daß die Lungen insofern ganz besonders
praktisch eingerichtet seien, als in ihnen das gesamte bronchiale
Zuführungssystem ein Epithel besitze, das nicht nur in seinen Kernen,
sondern auch in den Zellkörpern so viel Sauerstoff enthalte, daß
die durchströmende Luft keinen Sauerstoff verlieren könne, sondern
mit ihrem gesamten Vorrate davon in die Alveolen gelange. In
diesen wird dann der Sauerstoff von den stark reduzierenden Al-
veolarepithelien massenhaft aufgenommen und wieder an die ebenfalls
und noch stärker reduzierenden roten Blutkörperchen abgegeben.
Auch in den Drüsen finden sich nach Un naähnliche derartige Einrich-
tungen, so geben die schmalen Schenkel der Henleschen Schleifen
und die geraden Harnkanälchen, die ja Ausführungsgängen ent-
sprechen, Sauerstoff an den in den sonstigen Abschnitten der Nieren-
kanälchen, die mit reduzierendem Epithel versehen sınd, gebildeten
Haxn ab, und machen diesen wieder sauerstoffhaltig. Ähnliches
gilt von den Ausführungsgängen der Schweißdrüsen, von denen
Unna schon früher angegeben hatte, daß sie von reichen Blut-
gefäßnetzen umgeben seien. Der Sauerstoff desinfiziert und so ıst
es nützlich, wenn Körperflüssigkeiten, die auf die Oberfläche des
Körpers entleert werden, sauerstoffhaltig sind. Mir scheint diese
Anschauung durchaus annehmbar zu sein und einen interessanten
Einblick in die Körperwirtschaft zu gewähren.
In bezug darauf, wie das Protoplasma der Zellen ın den ge-
nannten Gegenden zu seinem Sauerstoffreichtume kommt, spricht
sich Unna dahin aus, daß es denselben durch die Kerne erhält.
Nun ist ja wohl sicher richtig, daß der Kern mit seinem Sauer-
stoffvorrate auf das Zellprotoplasma einwirkt, und daß man hierin
einen Teil der Bedeutung des Kernes zu sehen haben wird, es er-
scheint mir aber fraglich, ob man den Sauerstoffreichtum des Epithels
des ganzen Luftzuführungssystemes so wird erklären können. Auch
die Keimschicht der Epidermis erscheint so gleichmäßig und stark
von Sauerstoff erfüllt, daß man schwer annehmen kann, daß nur
die Kerne die Zellen so stark damit erfüllt haben. Nun habe ich
in meiner Bearbeitung der Histologie der Nasenschleimhaut in dem
Handbuche der Laryngologie und Rhinologie von PaulHeymann
(1896) (1, S. 111—114 und S. 134—140) und auch ın einem Vor-
trage in der Niederrhein. Gesellschaft für Natur- und Heilkunde (2)
aus demselben Jahre näher die Kanälchen beschrieben, welche ın
der Nase die Basalmembran durchbohren und einer Iymphartigen
Flüssigkeit den freien Durchtritt zwischen die Epithelzellen ge-
statten. Diese vor mir schon von Heiberg (6) und Chatellier (7)
beschriebenen Kanälchen habe ıch damals „Basalkanälchen“ genannt.
Meiner Meinung nach hängen sie, wie ich damals mich ausgespro-
chen habe, zusammen mit dem Saftspalten- oder Saftlückensysteme |
978 P. Schiefferdecker, Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff.
des Bindegewebes der Schleimhaut. Aus diesem würde also fort-
dauernd ein Flüssigkeitsstrom durch die Basalmembran hindurch
zwischen die Epithelzellen treten können und diese dauernd um-
spülen. Er würde schließlich, an der Oberfläche des Epithels an-
gelangt, auf die freie Fläche austreten und diese mit einer dauernd
vorhandenen Flüssigkeitsschicht bedecken. Diese Schicht würde
einmal das Innere der Nase dauernd feucht erhalten und zweitens
den Flimmern dieser Nasenoberfläche Gelegenheit geben, sich zu
bewegen. Selbstverständlich können diese feinen und hinfälligen
Gebilde nicht in der Luft schwingen, sondern nur in einer ihrer
Zusammensetzung nach ihnen angepaßten Flüssigkeitsschicht. An
dieser haften auch die auffliegenden Stäubchen und werden von
den als Besen wirkenden Flimmern nach außen getrieben und ent-
leert. Diese Flüssigkeitsschicht ist demnach für die dauernde Be-
feuchtung der Nase und für die schützende Tätigkeit ihres Flimmer-
epithels von größter Bedeutung. Sie scheint nur sehr wenig Eı-
weiß zu enthalten und ist wahrscheinlich auch verschieden von
der Lymphe. In direktem Zusammenhange mit Lymphgefäßen stehen
die Kanälchen nicht und die Saftspalten wahrscheinlich auch nicht,
so ist es durchaus möglich, daß die in ihnen enthaltene Flüssigkeit
von der Lymphe etwas verschieden ist. Mit diesem Flüssigkeits-
strome wandern auch Leukozyten zwischen die Epithelzellen hin-
ein aus dem Bindegewebe heraus. Die Sekrete der Drüsen der
Nasenschleimhaut mischen sich dieser die Epitheloberfläche über-
ziehenden Flüssigkeitsschicht bei und ergeben mit ihr zusammen
eine Mischung, welche für die Tätigkeit der Flimmern geeignet.ist.
Ich habe in meiner früheren Arbeit schon hervorgehoben, daß
dieser dauernd durch das Nasenepithel hindurchtretende Flüssig-
keitsstrom sehr geeignet sein werde, um Bakterien von einem Ein-
dringen in das Epithel abzuhalten, und daß aus diesem Grunde
auch die offenen Kanälchen keine Gefahr für den Körper dar-
stellten, da Bakterien sie nicht zum Eintritte in den Körper be-
nutzen könnten. Es ist ja zweifellos, daß auf diesem Wege der
Körper fortdauernd Flüssigkeit verliert, aber dieser Verlust wird
unter normalen Verhältnissen nur unwesentlich sein, bei Schnupfen
freilich wird er erheblicher werden können und namentlich auch,
wenn infolge chronischer Reizzustände die Nasenschleimhaut hyper-
trophiert, wobei sowohl die Saftspalten wie die Basalkanälchen
ganz erheblich weiter werden, wie ich das in meiner damalıgen
Arbeit nachgewiesen habe. Aus diesem Grunde waren die Basal-
kanälchen auch zuerst bei hypertrophischer Schleimhaut gefunden
worden; ich habe sie aber auch bei normaler Schleimhaut finden
können und zwar im Anfange meiner Arbeit, als ich von ihrer
Existenz noch gar nichts wußte, erst später ersah ich aus der Li-
teratur, daß sie schon gefunden waren. Ich habe ‚nun damals
NP. Schiefferdecker, ber die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff. 279
schon hervorgehoben, daß dieser Flüssigkeitsstrom nieht nur mecha-
nisch Bakterien von dem Eindringen in das Epithel abhalten werde,
sondern auch geeignet sein werde, dieselben abzutöten, da, wie wir
wüßten, die Körperflüssigkeiten diese Eigenschaft besäßen. Nach
den Mitteilungen von Unna wird diese Fähigkeit zur Desinfektion
nun auch verständlich, denn, wenn wir annehmen, daß dieser Saft-
strom viel Sauerstoff enthält, dann wird er durch diesen schon
desinfizierend wirken, ob allein hierdurch, bleibt vorläufig unbekannt.
Da dieser Saftstrom aber der Gegend der bindegewebigen Schleim-
haut entstammt, in der die Kapillarausbreitung liegt, von der aus
das Epithel ernährt wird, so ist die Annahme eines reichen Ge-
haltes an Sauerstoff durchaus gerechtfertigt. Ist dieses aber der
Fall, dann wird der Sauerstoffreichtum des Epithels auch ver-
ständlich: dann brauchen nicht mehr die Kerne soviel Sauerstoff
an die Zellen abzugeben, sondern der Flüssigkeitsstrom versorgt
die Zellen reichlich damit und genügt an sich vollkommen dazu,
die Wand des ganzen Zuleitungssystemes so mit Sauerstoff zu
sättigen, daß der Sauerstoff der durchtretenden Atmungsluft unge-
fährdet bis in die Alveolen gelangen kann. Es würde dies eine
weitere Eigenschaft dieses Flüssigkeitsstromes sein, an die bisher
wohl noch Niemand gedacht hat. Nun habe ich in meinen da-
maligen Mitteilungen (1, 2) schon angegeben, daß ich diese Basal-
kanälchen auch in Kehlkopf und Luftröhre genau in derselben Weise
gefunden habe, wie in der Nase, und Heymann(3) hat diesen
meinen Befund bestätigt. Man wird also wohl annehmen dürfen,
daß dieser eigenartige Bau sich durch das ganze Zuleitungssystem
hindurch finden wird, überall mit derselben Wirkung. So würde
die Beobachtung von Unna durch diese alten Beobachtungen von
mir ee, werden. Wie weit dieser Flüssigkeitsstrom
gleichzeitig auch zu Ernährung des Epithels dienen wurd! läßt sıch
an sagen. Er würde an sich sicher geeignet dazu sein, und die
Epithelschieht der größeren Abschnitte des Zujeitungssystemes ist
so dick, daß aus diesem Grunde schon ein sie durchziehender Er-
nährungsstrom sicher praktisch erscheinen würde. Andererseits
habe ich damals schon gefunden und darauf aufmerksam gemacht,
daß die Kapillarien sehr dicht an das Epithel herantreten, teil-
weise die Basalmembran verdünnend, ja teilweise noch bis in das
Epithel hineinreichen, so daßalso auch auf diesem Wege möglichst
für eine gute Ernährung gesorgt ist. Bei Schleimhautreizung wird
durch Erweiterung der Blutgefäße eine wesentliche Vermehrung dieser
Flüssigkeitsströmung eintreten können, infolgedessen eine weitstärkere
Durcehspülung des Epithels und eine : Verdickung der Ober-
flächenschicht der Flüssigkeit und damit dann eine weit stärkere
und flüssigere Abscheidung aus der Nase, wie wir das vom Schnupfen
her kennen und auch schon bei der Einwirkung von kalter Luft
N A rt
y Dar ci
980 F. Schiefferdecker, Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff.
auf die Schleimhaut beobachten können, namentlich im höheren
Alter, wenn die Schleimhaut infolge chronischer Reizung schon
mehr oder weniger hypertrophiert ist. Daher dann auch der be-
kannte „Greisentropfen“.
Wie sind die Verhältnisse nun bei der Oberhaut? Ich habe
oben schon angegeben, daß nach den Untersuchungen von Unna
die „Keimschicht* sehr stark von Sauerstoff erfüllt ıst, weiter ın
die polygonalzelligen Schichten des Rete hinein scheint dieser Reich-
tum an Sauerstoff rasch abzunehmen, immerhin sind auch hier die
tieferen Schichten noch deutlich reicher daran. Ich muß nun sagen,
daß diese sehr starke Sauerstoffdurchtränkung der tieferen Schicht
mir auch hier ın ıhrer Gleichmäßigkeit durchaus den Eindruck
macht, daß nicht nur die Kerne Sauerstoff an die Zellen abgeben,
sondern daß wir es auch hier mit einer Flüssigkeitsdurchtränkung
zu tun haben. Es ist eine solche Annahme ja auch durchaus
möglich, die Spalten zwischen den Zellen, durch welche die be-
kannten Stacheln hindurchziehen, die ja jetzt auch als Zellbrücken
angesehen werden, würden. einer Flüssigkeit weit hinein ın die
Schicht den Eintritt gestatten. Allerdings müßte man dann die
weitere Annahme machen, daß der Sauerstoff dieser Flüssigkeit
entweder sehr schnell sich verringert, wohl durch die Aufnahme von
seiten der Zellen, oder daß die Zellen der oberflächlichen-Schichten
sehr rasch die Fähigkeit verlieren, als Sauerstofforte zu dienen,
denn die Intensität ihrer Färbung nimmt schnell ab. Beides ist
möglich, auch zusammen, denn wir wissen, daß die Zellen sich
verändern. Hier bei der Oberhaut sind keine Basalkanälchen vor-
handen, es wird daher der Flüssigkeitsstrom, der zwischen die
Zellen eindringt, bei weitem nicht so stark sein, wie bei der Re-
spirationsschleimhaut, immerhin wird aber eine genügende Menge
von Flüssigkeit durch die Basalmembran hindurchtreten, um die
feinen Spalten zwischen den Zellen zu erfüllen. In der Epidermis
findet ja kein Abströmen auf die Oberfläche statt und aus diesem
Grunde schon genügt eine weit geringere Menge. Bei dicken Epi-
thelien, seien sie geschichtet oder bodenständig, scheint mir über-
haupt für die Ernährung eine Flüssigkeitsdurchspülung oder -Durch-
tränkung die beste, ja vielleicht die einzig mögliche Art zu sein,
wie für die Ernährung gut gesorgt werden kann.
Das Vorhandensein einer solchen zwischen den Zellen des
Rete befindlichen Flüssigkeit habe ich auch schon angenommen in
meiner Hautdrüsenarbeit, über die ich vor kurzem eine vorläufige
Mitteilung (8) habe erscheinen lassen. Ich habe darin, im Anschlusse
an Unna, angenommen, daß die zwischen den Epithelzellen be-
findliche Flüssigkeit übertritt in den letzten, im Epithel verlaufen-
den Abschnitt des Schweißdrüsenausführungsganges, in das „End-
stück“, und sich so dem Schweiße beimischt. Durch diese Bei-
P. Schiefferdecker, Über die Durchtränkung des Epithels mit Sauerstoff. 981
mischung würde demnach der „Schweiß“ schon reicher an Sauerstoff
werden. Wenn nun, wie Unna hervorgehoben hat, auch die in
dem Corium gelegenen Abschnitte der Schweißdrüsenausführungs-
gänge, die im wesentlichen meinem „Mittelstücke“ entsprechen,
als Sauerstofforte anzusehen sınd, von denen aus ebenfalls wieder
Sauerstoff an den durchfließenden Schweiß abgegeben wird, so
würde der größte Teil des Ausführungsganges zu der Versorgung
des Schweißes mit Sauerstoff geeignet sein. Daraus würde folgen,
daß der Schweiß sehr reich an Sauerstoff auf die Haut austritt. Ob
er durch diese Sauerstoffbeimischung auch noch chemisch verändert
wird, wäre näher zu erwägen. Wie ich oben schon erwähnt habe,
hat Unna schon früher hervorgehoben, daß der Schweißdrüsen-
ausführungsgang in dem Corium von auffallend reichen Gefäßnetzen
umsponnen wird, und hieraus schon auf eine besondere Bedeutung
des Ausführungsganges für den Schweiß geschlossen. Dieser Ge-
fäßreichtum würde für dıe Versorgung mit Sauerstoff natürlich sehr
günstig sein. Ob nun in diesem Falle das Epithel des Ganges
alleın den Sauerstoff abgıbt, oder ob auch hier noch ein sauerstoff-
reiches "Serum durch die Wand hindurchtritt, muß zweifelhaft
bleiben. Im letzteren Falle würde der von der Drüse gelieferte
„Schweiß“ noch weiter verdünnt werden. Bei der sehr geringen
Menge von Schweiß, dıe unter normalen Verhältnissen auf die Haut
abgesondert wird, wird die Menge des zutretenden Serums über-
haupt nur äußerst gering sein können, anders wird die Sache bei
starker Schweißabsonderung liegen, bei der wahrscheinlich recht
bedeutende Mengen von Serum dem Sekrete der Drüsen sich bei-
mischen werden. Die Erweiterung der Hautgefäße, vielleicht auch
eine größere Abgabe von Flüssigkeit und Sauerstoff aus denselben
unter Nerveneinfluß wird dabei eine wesentliche Rolle spielen. In
solchen Fällen wird dann wohl auch eine Erhöhung der Atmungs-
tätigkeit zum Ersatze des verlorenen Sauerstoffes eintreten. Da-
mit wird dann weiter eine erhöhte Herztätigkeit verbunden sein.
Da gleichzeitig auch eine erhöhte Tätigkeit der Schweißdrüsen-
knäuel eintreten wird, so wird auch eine stärkere Entgiftung des
Körpers vor sich gehen. Eine solche wırd sehr erwünscht sein,
wenn die starke Schweißabsonderung als Folge einer erhöhten
Tätigkeit des Körpers eintritt, bei der naturgemäß auch viele Ex-
kretionsstoffe erzeugt werden, sie wird aber auch wesentlich sein
können bei so manchen Erkrankungen, bei denen ein starkes
Schwitzen als Heilmittel angewandt wird. Der Erfolg wird auch
hier sein: Hebung von Atmungs- und Herztätigkeit und Ausschei-
dung von Giftstoffen, was bei beginnender Krankheit, bei der diese
Tätigkeiten geschwächt sein können, von Bedeutung sein wird.
Nach dem, was ich in meiner Hautdrüsenarbeit angegeben habe, wird
es sich bei dieser Schweißdrüsentätigkeit im wesentlichen um meine
989 P. Schiefferdeeker, Über die Durchtränkung. des Epithels mit Sauerstoff.
„ekkrinen“ oder „e-Drüsen“ handeln. Diese allein behandelt auch
Unna in seinen Sauerstoffarbeiten.
Zwischen der inneren Körperoberfläche in den zuführenden
Luftwegen und der äußeren Körperoberfläche, der Haut, besteht
also eine Übereinstimmung darin, daß auf die sie bekleidenden Epı-
thelien sauerstoffhaltiges en stärker einzuwirken vermag:
auf die erstere infolge einer direkten Durchströmung des ganzen
Deckepithels bis auf die Oberfläche hin, so daß auf dieser eine
Flüssigkeitsschicht sich dauernd zu erhalten vermag, auf die letztere,
die Haut, in Folge der Durchströmung der tieferen Schichten der
Epithellage bis zu dem Drüsenausführungsgange hin und durch die
Wand dieses in ıhn hinein, so daß auf diese Weise das sauerstoff-
haltige Serum zusammen mit dem Sekrete der Schweißdrüsen auf
die Oberfläche der Haut entleert wird. Es ist dies in letzterem
Falle der gegebene Ausweg, da der direkte Weg durch das Epithel
hindurch hier durch die besonderen Differenzierungsverhältnisse des
OÖberhautepithels versperrt ist.
In umgekehrter Richtung werden die Schweißdrüsenausführungs-
gänge auch dazu dienen können, Stoffe von außen her in den
Körper zu befördern, für welche die Epidermis undurchlässig ist.
Das ıst ja auch bekannt. Es wird da genügen, wenn solche auf-
zunehmenden Stoffe ın das Endstück des Ganges eindringen; eben
bis in die Gegend des Rete. |
Es geht aus dem Gesagten hervor, daß ein Teil des Sauer-
stoffes, den wir einatmen, verbraucht wird für die Auffüllung
von Körperflüssigkeiten und Drüsensekreten, die unseren Körper
verlassen. Dieser voraussichtlich zur Desinfektion verbrauchte
Sauerstoff muß also auch fortdauernd durch die Lungen wieder
ersetzt werden. Wie groß die Menge dieses so verbrauchten
Sauerstoffes ist, und welche Bedeutung dieser Verbrauch infolge-
dessen für unsere Atmung hat, müßte noch festgestellt werden.
Diese kleine Mitteilung möge zugleich zur Ergänzung meiner
Hautdrüsenarbeit dienen, in der ich auf diese so interessante Sauer-
stoffverteilung nicht eingegangen bin. Die letzte Arbeit von Unna
erschien erst, als mein Manuskript schon abgeschlossen und ich
mit anderen Untersuchungen schon beschäftigt war und die vorher-
gehende Arbeit, welche erschien, während ich mit der Niederschrift
beschäftigt war, habe ıch bei dem ungemein großen Reichtume
an Tatsachen und Beobachtungen, die bei jener Arbeit zu berück-
sichtigen waren, nicht genügend beachtet. Jetzt noch mit dieser
Ergänzung bis zu dem Erscheinen meiner großen Arbeit zu warten,
erschien mir auch nicht praktisch, da es vorläufig noch gar nicht
abzusehen ist, wann die Kriegsschwierigkeiten soweit nachgelassen
haben werden, daß ein Erscheinen meiner Arbeit möglich sein wird.
Außerdem erschien mir auch die Besprechung der Lungenverhält-
nisse hinreichend interessant. x
F. Scehanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze. 3853
Literatur.
. Schiefferdecker, Paul, Histologie der Schleimhaut der Nase und ihrer
Nebenhöhlen. (In: Handb.d. DaryuceL; u. Rhinol. von Paul Heymann, Bd.3,
Die Nase, Afred Hölder, Wien 1900, S. $’—151, m. 12 Fig. i. Text. Als
Lieferung erschienen 1896.)
2. Ders., Über Befunde bei Untersuchung der menschlichen Nasenschleimhaut.
(Sitzungsber. d. Niederrhein. Ges. f. Natur- u. Heilk. zu Bonn, Med. Sektion,
Sitz. 21. Jan. 1896, S.2—12.)
Heymann, Paul, Die Histologie der Schleimhaut des Kehlkopfes und der
Luftröhre. (In: Handb. d. Laryngol. u. Rhinol. von Paul Heymann, Bd. 1,
Hälftel, Kehlkopf und Luftröhre, Alfred Hölder, Wien 1898, S. 134—164,
m. 6 Fig. i. Text.)
4. Unna, P.G., Die Sauerstofforte und die Reduktionsorte. Eine histochemische
Studie. (Arch. f. mikr. Anat. Bd. 87, Abt. 1, 1915, S5.96—150, mit 6 Taf.)
5. Ders., und Golodetz, L., Neutralviolett extra. (Arch. f. mikr. Anat. Bd. 90,
Abt. 1, 1917, S 69—97, mit 1 Taf.)
6. Heiberg, H., Kortare meddelanden I. Et Äbend Saftkanalsystem i Slimhinderne.
(Nord. ei. Ark. Bd.4, Nr. 6, 1872, S.1—6, mit 1 Taf.)
‘. Chatellier, H., Canalicules perforants de la membrane basale de la muqueuse
nasale hypertrophiee, (Ann. d. _malad. d’oreille, du larynx etc. T. 13,
1887, p. 233—239.)
8. Sehiefferdecker, Paul, Die Hautdrüsen des Menschen und der Säuge-
tiere, ihre biologische und rassenanatomische Bedeutung sowie die Museularis
sexualis, (Vorläufige Mitteilung.) (Biol. Zentralbl. Bd. 37, 1917, Nr. 11
S. 534—562).
1
cs
Wirkungen des Lichts auf die Pflanze).
Von San.-Rat Dr. Fritz Schanz, Augenarzt in Dresden.
Als Lebensfaktor hat man das Licht sicher von Anbeginn des
Lebens an erkannt. Es wirkt auf die lebende Zelle als chemischer
Reiz. Wir erkennen dies an den Reaktionen, die es an den leben-
den Geweben erzeugt. Die chemischen Veränderungen, die es dabei
direkt hervorruft, waren uns bis vor kurzem noch unbekannt. Den
ersten Einblick in die Wirkungen des Lichts auf den lebenden Organıs-
mus erhielten wir, als Finsen uns zeigte, daß die Veränderungen, die
wir bei intensiver Lichteinwirkung auf die Haut beobachten, vor
allem von den kurzwelligen Lichtstrahlen erzeugt werden, die unser
Auge als Licht nicht mehr wahrzunehmen vermag, die im Spektrum
jenseits von Violett liegen, und die wir deshalb als ultraviolette
bezeichnen. Mit solchen Strahlen hat Finsen ın der Haut Reak-
tionen erzeugt, durch die gewisse Krankheitsherde zerstört wurden.
Der Umstand, daß mittelst Licht Heilwirkungen zu erzielen waren,
veranlaßte die Ärzte, die Wirkungen des Lichtes auf den mensch-
lichen Organısmus weiter zu studieren. Ihr Eifer wurde noch er-
höht, als sich vor allem durch die Arbeiten von Bernhard?) und
Rollier 3) zeigte, daß mittelst Licht auch innere Leiden, die der
1) Mit Benützung eines in der naturf. Gesellschaft Isis in Dresden am 29. No-
vember 1917 gehaltenen Vortrages: Licht und Leben.
2) Heliotherapie im Hochgebirge, ‚Verlag von Enke in Stuttgart 1912,
3) Korrespondenzblatt Schweizer Ärzte, 1904, Nr. 12,
984 F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze.
direkten Bestrahlung gar nicht zugängig sınd, durch Besonnung
günstig beeinflußt werden.
Unsere Kenntnisse über die Liehtwirkung auf die lebenden
Organismen wurden weiter wesentlich gefördert durch v. Tap-
peiner*) und seine Schüler. Ihnen war aufgefallen, daß Infusorien
bei sehr großer Verdünnung gewisser Farbstoffe zugrunde gingen,
während sie manchmal bei ungleich höherer Konzentration am
Leben blieben. Als Ursache stellte sich heraus, daß dies davon
abhängt, ob gleichzeitig Licht auf die Infusorien einwirkt oder nicht.
Diese Wirkung, die v. Tappeiner als photodynamische bezeichnete,
wurde vom Eosin, Erythrosin und einer großen Anzahl anderer
Farbstoffe festgestellt. Die Fluorescenz solcher Stoffe erschien
dabei Bedingung. Auch Toxine, Fermente und ähnliche Stoffe
tierischer und pflanzlicher Organismen werden unter gleichen Be-
dingungen im Licht zerstört, und Zellen höherer Organismen (Flımmer-
epithel, rote Blutkörperchen) können auf diese Weise schwer ge-
schädigt werden. Auch Warmblüter, selbst Menschen, kann man
mit solchen Mitteln hochgradig photosensibel machen und in kurzer
Zeit mittelst Licht so schädigen, daß sie unter Erscheinungen von
Sonnenstich-Hitzschlag eingehen. Im Dunkeln sind solche Stoffe
wirkungslos, sie wirken nur in Gegenwart des Lichtes, sie werden
nicht etwa wirksam, weil sich im lacht eine Substanz bildet, die
giftig wirkt. Man kann solche Mittel lange belichten, sie werden
um nichts giftiger, nur das Zusammentreffen des Lichtes mit dem
Farbstoff im Organismus veranlaßt die Schädigung.
Meine Untersuchungen über die Lichtreaktion der Eiweißkörper
(Pflüger’s Arch. f. Physiol. 1916, Bd. 164) haben die Frage noch
weiter geklärt. Ich war zu diesen Untersuchungen veranlaßt durch
Arbeiten über die Wirkung der ultravioletten Strahlen auf das
Auge. Unsere Netzhaut vermag diese Strahlen direkt nicht wahr-
zunehmen. Unter gewissen Umständen aber vermögen sie am Auge
schwere Entzündungen auszulösen. Es ist dies der Fall, wenn wir
von der Tiefebene ins Hochgebirge kommen, oder wenn wir uns
dem Licht intensiver elektrischer Lichtquellen aussetzen. Diese
Entzündungen sind als Schneeblindheit und elektrische Ophthalmie
bekannt. Sie werden aber nur von den äußeren ultravioletten
Strahlen erzeugt. Die inneren ultravioletten Strahlen, die auch
das Tageslicht in der Tiefebene noch enthält, sind nieht imstande,
solche Entzündungen auszulösen. Die Grenze der inneren und
äußeren ultravioletten Strahlen wird man zwischen 4 320 und 300 uu
zu suchen haben. Ich legte mir die Frage vor, wie wirken die
inneren ultravioletten Strahlen auf das Auge. Die inneren ultra-
violetten Strahlen werden von der Augenlinse absorbiert. Die-
selbe fluoresziert lebhaft unter deren Einwirkung Wie kommt
es, daß wir mit diesen Strahlen an der Linse keine Reak-
tionen zu erzeugen vermögen? Wirken diese Strahlen auf die Linse
nicht als Reiz, oder vermag die Linse auf diesen Reiz nicht zu
reagieren? Das letztere ist der Fall. Die Linse ist nerven- und
4) Strahlentherapie Bd. 2.
EN.
F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze. 985
gefäßlos. Es fehlt ıhr der Apparat, der nötig ıst, um eine Reaktion
auszulösen. In der Linse finden wir aber eine Veränderung, die
im Laufe des Lebens zunimmt und die darin besteht, daß sich auf
Kosten der leichtlöslichen Eiweißkörper schwerer lösliche bilden.
Diese Veränderung der Eiweißkörper halte ıch für die Wirkung,
die das Licht direkt an dem Eiweiß. erzeugt und die ın anderen
‘Geweben die Lichtreaktion auslöst. Da ın der Linse jede Reaktion
fehlt, die diese Veränderung ausgleicht, so summiert sie sich wäh-
rend des ganzen Lebens und erzeugt mit zunehmendem Alter die
Verdichtung des Linsenkerns, die im Alter von 40—50 Jahren am
normalen Auge als Altersweitsichtigkeit in Erscheinung tritt. Geht
der Prozeß weiter, so kommt es zu Trübungen der Linse, zum
Altersstar.
Durch zahlreiche klinische Beobachtungen und experimentell
habe ich diese Anschauung stützen können’). Ich habe gezeigt,
daß wir in Lösungen von Linsen-, Eier- und Serumeiweiß mittelst
Licht. ganz gesetzmäßig Zustandsänderungen hervorzurufen ver-
mögen: In bis zur Chlorfreiheit dialysierten Eıweiß-
lösungen werden durch Licht die leichtlöslichen Eiweiße
ın schwerer lösliche übergeführt, und es gibt zahlreiche
Stoffe, welche diesen Prozeßin positivem und negativem
Sinne beeinflussen. Man erkennt dies, wenn man solche Lö-
sungen nach verschieden langer Belichtung mittelst der Ammonium-
sulfat- und Kochsalz-Essigsäureprobe zur Ausflockung bringt. Je
länger die Proben belichtet werden, desto rascher tritt dabei die
Zustandsänderung ein.
Auf Fig. 1 sind sieben Röhrchen abgebildet, die mit der-
selben Menge dialysıertem Eiweiß gefüllt und in Quarzröhrchen
Fig. 1. Dialysiertes Eiweiß, Ammoniumsulfat-Reaktion.
5) Wirkungen der kurzwelligen, nicht direkt sichtbaren Lichtstrahlen auf das
Auge. Strahlentherapie Bd. VI, Wirkungen des Lichtes auf die lebende Zelle,
38. Band 2]
386 F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze.
dem Lichte der Quarzlampe ausgesetzt waren. Die Zahlen an dem
Röhrchen bezeichnen die Belichtungsstunden. Nach beendeter Be-
lichtung wurden die Röhrchen in den Eisschrank dunkel gestellt.
Am Ende des Versuches wurde den Röhrchen allmählich gleich-
mäßıg ansteigend gesättigte Ammoniumsulfatlösung zugesetzt. Dabei
zeigte sich, daß entsprechend der Dauer der Belichtung, die mit
Ammoniumsulfat ausfällbare Substanz, die wir als Globuline be-
zeichnen, sich vermehrt hatte.
In Fig. 2 zeigt sich die entgegengesetzte Zustandsänderung.
Es handelt sich um dasselbe Eiweiß, nur waren zu 15 cem Ei-
weiß 5 cem !/,Y%ige Kalilauge zugesetzt. Hier hatte sich also die
mit Ammoniumsulfat ausfällbare Substanz, entsprechend der Be-
lichtungszeit, vermindert.
nDoipgRBmbmum
Fig. 2. Dialysiertes Eiweiß, 2% Kochsalz, '/,% Kalilauge,
Ammoniumsulfat-Reaktion.
Mit der Kochsalz-Essigsäureprobe waren dieselben Verände-
rungen festzustellen.
In Fig. 3 waren zu 15 ccm von derselben Eiweißlösung 5 cem
!/, %ıge Milchsäure zugesetzt. Ohne Anwendung eines Reagenz
konnte man mit bloßem Auge die Ausflockung mit zunehmender
Belichtung beobachten.
Setzt man fluoreszierende Farbstoffe, wie sie v. Tappeiner bei
seinen Versuchen verwandt hat, der Eiweißlösung zu, so vermag
man die Zustandsänderung an den Eiweißklösungen zu steigern.
Als solche Stoffe habe ich verwandt: Eosin, Fluorescin, Haemato-
Münch. medizin. Wochenschr. 1915, ‘Nr. 19. Die Wirkungen des Lichtes auf die
lebende Substanz, Pflüger’s Arch. f. Physiologie, Bd. 161. Uber die Beziehungen
des Lebens zum Licht. Münch. medizin. Wochenschr. 1915, Nr. 39. Wirkungen
des Lichtes auf die lebenden Organismen. Biochem. Zeitschr. Bd. 71. Die Licht-
reaktion der Eiweißkörper. Pflüger’s Arch. f. Physiologie, Bd. 164.
F. Schänz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze; IH
porphyrin und Chlorophyll. Aber auch farblose Stoffe vermögen
diese Zustandsänderung ın den Eiweißlösungen zu beeinflussen.
Woran mag dies liegen? Zuerst galt es festzustellen, welche
Lichtstrahlen es sind, die an dem dialysierten Eiweiß die Verände-
rung bewirken. Diese Eiweißlösungen waren klar, sie zeigten einen
leicht gelben Ton. Von sichtbaren Strahlen absorbierten sie also
nur wenig in blau und. violett. Die hierbei besonders wırksamen
Strahlen müssen daher ın den unsichtbaren Strahlungsgebieten ge-
sucht werden. Deshalb habe ich die Eiweißlösungen auf ıhr Licht-
absorptionsvermögen mittelst eines Quarzspektrographen geprüft.
Fig. 4 zeigt solche Spektren. Die oberste Aufnahme ıst das
Spektrum der offenen Bogenlampe, mit der die Untersuchung aus-
geführt wurde. Bei den vier folgenden Spektren war eine 10 mm
dicke Eiweißlösung in einem Quarztrog in den Strahlengang ein-
geschaltet. Die Untersuchung lehrt, daß die Eiweißlösungen, die,
Fie. 3. Dialysiertes Eiweiß, 2% Kochsalz, '/,, % Milchsäure.
wie ihre gelbliche Farbe erkennen läßt, in blau und violett anfangen
zu absorbieren, ganz besonders stark das ultraviolette Licht ver-
schlucken. Daher müssen wir auf diese Strahlen die Zustands-
änderungen beziehen, die wir an den Eiweißlösungen bei intensiver
Belichtung beobachten. Setzen wir den Eiweißlösungen Farbstoffe
zu, so erhalten wir Farbstoffeiweiße. Aus der Histologie wissen
wir, wie innige Beziehungen zwischen den Farbstoffen und den Eıi-
weißkörpern bestehen. Diese Farbstoffeiweiße müssen mehr Licht
absorbieren als die gewöhnlichen Eiweiße. Zu dem Licht, das sıe
sonst absorbieren, kommen noch die Strahlen, die zu ihrer Farbe
komplementär sind. Diese Farbstoffe machen also das Eiweiß
empfindlich für Strahlen, die sonst nicht auf dasselbe einwirken.
Man wird sie mit Recht als Sensibilisatoren bezeichnen.
Wie verhält es sich nun mit den farblosen Stoffen, die auch
die Lichtreaktion der Eiweißkörper beeinflussen? Auch diese habe
2]
88 F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze.
ich mittelst des Quarzspektrographen auf ihr Lichtabsorptionsver-
mögen untersucht. Von diesen Stoffen beeinflussen diejenigen am
stärksten die Lichtreaktion der Eiweißkörper, die ım Ultraviolett
am stärksten absorbieren. In meiner Arbeit: Biochemische Wir-
kungen des Lichtes, die in Pflüger’s Archiv Bd. 170 erscheinen
wird, habe ich eine Anzahl solcher Spektren zur Abbildung ge-
bracht. Bei diesen Stoffen fällt also der Absorptionsbereich mit
dem der Eiweißlösung zusammen. Man wird hier nicht von einer
Sensibilisation sprechen können, am besten bezeichnet man diese
Stoffe wohl als Photokatalysatoren.
Spektren.
400 un 300 u
A A
Bel.-Zeit sichtbar > | <- unsichtbar Marke
| |
0,01 sec. des
0,02 „ Sonnenlichtes
Abb.1. 0,04 „ aufgenommen
02 am 20. III. 16
5 ” mittags 1°"
0597er in Dresden,
0,2 sec .
E des Lichtes
„> n
Abb. 2 der
1,0 ,
Quarzlampe.
2,0 „
a des Lichtes
Abb.3. >» der offenen
Aa Bogenlampe.
2,0 n
Figur 4.
In jener Arbeit habe ich noch zu zeigen versucht, daß wahr-
scheinlich alle organischen Substanzen durch das Licht, das sie
absorbieren, auch verändert werden. Ich konnte zeigen, daß man
organische Substanzen mittelst Licht bis auf ihre Elemente und
Radikale zerlegen kann. Bei farblosen Substanzen liegt der Wiır-
kungsbereich des Lichtes im Ultraviolett und bei den Stoffen, die
im Tageslicht beständig erscheinen, im äußeren Iltraviolett. Je
kurzwelliger die Strahlen, um so mehr sind sie imstande, das Ge-
füge der Moleküle zu zersprengen.
F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze. 289
Die hier geschilderten Untersuchungen über die Wirkungen
des Lichtes auf die lebenden Organismen und auf die lebende Sub-
stanz sind ausgeführt worden, um die Wirkungen des Lichtes auf
den Menschen zu studieren. Viel augenfälliger als beim Menschen
und Tier sınd die Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze. Wenn
die hier dargelegten Anschauungen richtige sind, so müssen wir
bei der Pflanze analoge Wirkungen finden. Ich hielt es deshalb
für geraten, einmal zu prüfen, ob wir bei der Pflanze nicht wesens-
gleiche Prozesse finden. Bei der Pflanze sehen wir die Wirkung
des Lichtes am augenfälligsten beim Assimilationsprozeß. Das
Chlorophylikorn ıst der Träger des Assimilationsvorganges. Dieses
besteht aus dem Chlorophyll und- dem farblosen Struma, dem
CUhromoplasten. Das erstere ıst ein fluoreszierender Farbstoff, das
letztere ıst Eiweiß, von dem wir jetzt annehmen müssen, daß es
wie andere Eiweiße für die kurzwelligen Lichtstrahlen empfindlich
ist. Timiriazeff und Engelmann‘) hatten angenommen, daß
das Chlorophyll auf das farblose Struma des Chlorophylikorns als
Sensibilisator wirkt. Da es ıhnen aber nicht möglich war, den
Nachweis zu bringen, daß das Struma an sich lichtempfindlich ist,
so wurde ihnen von Jost und Hausmann’) widersprochen. Diese
waren der Ansicht, daß es sich um eine photodynamische Wirkung
im Sinne v. Tappeiner’s handelt, daß dabei das Chlorophyll allein
als Energieüberträger wirkt. „Ein anderes lichtempfindliches Sub-
strat ıst nicht nötig und in der Tat auch nicht vorhanden“, sagt
Hausmann. Meine Untersuchungen haben gezeigt, daß ein zweites
Substrat vorhanden ist, von dem wir annehmen müssen, daß es
lichtempfindlich ist. Die Ansicht von Timiriazeff und Engelmann
besteht daher zu Recht. Das Eiweiß des Chlorophylikorns muß
jetzt für lichtempfindlich gehalten werden, und durch das Chloro-
phyll wird es für die Strahlen sensibilisiert, für welche es an sich
nicht empfindlich ist.
In der Pflanzenzelle ıst aber das Chlorophyll nicht der einzige
Stoff, der die Wirkung des Lichtes auf das Chlorophylikorn beein-
flußt. Der Zellsaft durchdringt das Chlorophylikorn und führt ihm
Stoffe zu, deren es beim Assimilationsprozeß bedarf. Unter diesen
Stoffen befinden sich solche, die die Lichtreaktion nach der Art
der Katalysatoren beeinflussen. So wirken die organischen Säuren,
von denen ich eine größere Anzahl geprüft habe, als ausgesprochene
positive Katalysatoren.
Solche Katalysatoren sind nicht nur Stoffe, die die Pflanze
selbst bildet, auch Stoffe, die ihr von der Wurzel her zugeführt
werden, wirken auf diesen Prozeß. Wir können daher endogene
und exogene Photokatalysatoren unterscheiden. Je nach dem Zu-
sammentreffen dieser Stoffe im Chlorophylikorn werden wir bei
den Veränderungen, die das Licht an demselben erzeugt, verschieden-
artige Stoffe entstehen sehen. Diese Stoffe werden mehr oder
6) Farbe und Assimilation. Bot. Zeitung, 1883, 20.
‘) Die photodynamische Wirkung des Chlorophylis und ihre Beziehung zur
photosynthetischen Assimilation der Pflanze. Biochem. Zeitschr. Bd. XII, S. 330.
N ES RHIENELR
390 F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze.
weniger für den Organismus eigentümlich sein. Dabei ist noch zu
berücksichtigen, daß auch dem Licht verschiedener Wellenlänge
verschiedene Wirkung zukommen kann. In den bunten Blüten-
blättern werden andere Strahlen wirksam als in den Laubblättern.
Das kann in den Blüten zur Bildung besonderer Stoffe führen, die
in der Fruchtanlage aufgespeichert und mit dem Samen in den
neuen Organismus übertragen werden.
Bis jetzt war man der Ansicht, daß die bunten Farben der
Blüten den Zweck hätten, den Insekten ıhre Nahrung zu zeigen.
„Bienen und Blumen! Für den Wissenden liegt ein eigener
Reiz in dieser kurzen Zusammenstellung, in der Zusammengehörig-
keit der beiden Begriffe. Das weite, schimmernde, farbenprächtige
Blütenmeer und die auf seinen Besuch angewiesene Insektenwelt,
beides in gegenseitiger Anpassung im Laufe großer Zeiträume ent-
wickelt und zu immer größerer Vollkommenheit herangereift!“
schreibt noch 1915 v. Buttel-Reepen in Nr. 7 der Naturwissen-
schaften. Diese Anschauung, soweit sie sich auf die Färbung der
Blüten bezieht, ıst irrıg. Man sieht, wissenschaftlicher Fortschritt
vermag recht grausam zu sein. v. Heß hat bewiesen, daß die In-
sekten, auch die Bienen, farbenblind sind. v. Frisch hat zwar
v. Heß gegenüber zu beweisen versucht, daß die Bienen doch einen
gewissen Grad von Farbenunterscheidungsvermögen besitzen, es
ähnle dem eines rotgrün-blinden Menschen. Auch diese Feststel-
lung genügt, um zu beweisen, daß das weite, schiımmernde, farben-
prächtige Blütenmeer und die auf seinen Besuch angewiesene In-
sektenwelt sich nicht in gegenseitiger Anpassung entwickelt haben.
Die Buntheit der Blumen kann durch die Insekten nicht erzeugt
sein, ganz gleich, ob dieselben total farbenblind oder rotgrün-blind
sind. Die Zoologen und Botaniker können sich schwer von so lieb-
gewonnenen, tief eingeprägten Anschauungen trennen. Das zeigen
die vielen Publikationen, die jetzt erscheinen und in denen die Ver-
fasser glauben, mit dem Nachweis, daß die Bienen doch ein ge-
wisses Farbenunterscheidungsvermögen besitzen, ihre lieb gewordene
Anschauung gerettet zu haben. Wie ein rotgrün-blinder Maler aus
sich heraus nicht imstande ist, die Farbenpracht der Blüten zu
malen, wie ein rotgrün-blinder Gärtner nicht imstande ist, die
Farbenpracht der Blüten zu züchten, ebenso sind die rotgrün-blinden
Bienen und Insekten nicht imstande, auch nicht ım Laufe großer
Zeiträume, die Farbenpracht der Blumen zu erzeugen.
Wir müssen uns, auch wenn die Feststellungen von v. Frisch
zutreffend sein sollten, nach einer anderen Erklärung für die Be-
deutung der Blütenfarben umsehen. Meiner Ansıcht nach sind die
Blütenfarben Sensibilisatoren, wie das Chlorophyll in den Laub-
blättern. Sie treffen eine andere Auswahl unter den Lichtstrahlen.
Es werden entsprechend den verschiedenen Lichtstrahlen beson-
dere Stoffe gebildet, diese werden ın der Fruchtanlage aufge-
speichert und mit dem Samen in das neue Individuum übertragen.
Bei dieser Auffassung der Blütenfarben als Sensibilisatoren erhalten
dieselbe für die Pflanze hohe Bedeutung.
F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze. 294 |
Durch zahlreiche Untersuchungen ist bekannt, daß die Assimi-
latıon, vor allem von den langwelligen Strahlen des sichtbaren
Spektrums bewirkt wird. Es sind also die Strahlen, für die das
Eiweiß an sich nicht empfindlich ist, für die es erst durch das
Chlorophyll sensibilisiert wird. Die kurzwelligen Strahlen, obgleich
sie sonst chemisch von hoher Wirkung sind, scheinen an diesem
Prozeß wenig beteiligt zu sein. Ich legte mir daher die Frage vor,
wie konımt es, daß die kurzwelligen, vor allem die ultravioletten
Strahlen beim Assimilationsvorg gang so wenig wirksam sind. Um
mir hierüber ein Urteil zu bilden, habe ich Pflanzen das kurzwellige
Licht entzogen und diese mit gleichen Pflanzen verglichen, auf die
das volle Tageslicht einzuwirken vermochte. Möglichst gleich große
Stecklinge derselben Pflanze wurden in Blumentöpfen in die gleiche
Gartenerde gepflanzt. Die erste Pflanze wuchs frei, um die zweite
wurde eine größere Glasglocke aus Euphosglas gestellt. Dieses
Glas ıst gelbgrün, es fängt in blau und violett an zu absorbieren
und absorbiert das Ultraviolett vollständig. Um die dritte Pflanze
wurde eine Glasglocke aus farblosem, gewöhnlichem Glas gestellt.
Auch dieses Glas absorbiert vom Tageslicht einen Teil Ultraviolett.
Die Glasglocken hatten oben eine Öffnung, über die wieder ein
Stück von demselben Glas so gelegt war, daß wohl Luft, aber keın
Himmelslicht direkt zu den Pflanzen gelangen konnte. Die Pflanzen
wurden nebeneinander aufgestellt und mit abgemessenen Wasser-
mengen begossen. Fig. 5 zeigt einen solchen Versuch.
Die erste dieser Pflanzen ist frei gewachsen, der zweiten waren
durch ein Euphosglas alle ultravioletten, der dritten durch gewöhn-
liches Glas ein Teil der ultravioletten Strahlen entzogen. Die Ver-
suche sind mit verschiedenen Pflanzen mehrere Jahre hintereinander
mit demselben Ergebnis wiederholt worden. Die frei wachsenden
Pflanzen zeigten nichts Auffälliges, die unter dem Euphosglas ge-
wachsenen waren viel größer, sie erinnerten in ıhrer Gestalt etwas
an etiolierte, nur waren sie ergrünt. Auch die unter gewöhnlichem
Glas gezüchteten waren größer als die frei gewachsenen. Die
äußeren Bedingungen, unter denen die Pflanzen aufgewachsen waren,
waren gleiche bis auf die Zirkulation der Luft, die natürlich beı
den in den Glasglocken gezogenen Pflanzen eine geringere und mit
der auch eine gewisse Temperatursteigerung verbunden war. Dieser
Unterschied bestand aber nicht zwischen den unter Euphosglas
und gewöhnlichem Glas gezüchteten Pflanzen, die auch deutliche
Unterschiede im Längenwachstum zeigten. Der Unterschied in der
Gestaltung der Pflanzen muß daher in der Verminderung der Licht-
zufuhr gesucht werden. Durch die Euphosglasglocke und die Glocke
aus gewöhnlichem Glas war das Ultraviolett den Pflanzen vorent-
halten worden. Das ergab sich auch daraus, daß der Aschenrück-
stand bei den unter dem Euphosglas gezüchteten Pflanzen am ge-
riigsten war. Die kurzwelligen, vor allem die ultravıo-
letten Strahlen, beeinflussen die Gestaltung der Pflanze.
Daß die Bewegnnd drin bei den Ponzen vor allem auf
die kurzwelligen Strahlen zu beziehen sind, ist bekannt, ebenso
292 F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze.
daß die Assimilation vor allem von den langwelligeren Lichtstrahlen
besorgt wird. Eine Erklärung, warum der einen Strahlenart diese,
den anderen jene Wirkung zukommt, konste ich in der mir zu-
gängigen Literatur nicht finden. Ich meine aber, sie aus den phy-
sıologischen Untersuchungen am Tier und Menschen geben zu können.
Den Strahlen verschiedener Wellenlänge kommt eine ganz
verschiedene Tiefenwirkung zu. Je kurzwelliger die Strahlen, desto
weniger tief vermögen sie in die Gewebe einzudringen. Lassen
wir z. B. auf die Hornhaut des Auges das Licht einer Quarzlampe
einwirken, so sehen wır während der Belichtung keine Verände-
rung, erst nach einer mehrstündigen Latenzzeit beginnt dıe Reaktion.
Es kommt zur Zerstörung nur der allerobersten Schicht, ganz gleich
ob wir fünf Minuten oder eine Stunde belichtet haben. In den
allerobersten Schichten bleiben die Strahlen, die diese Wirkung
Figur 5.
erzeugen, stecken. Die Epidermis der Blätter ist derber als das
Epithel unserer Hornhaut, sie wird bis zu viel größeren Wellen-
längen das kurzwellige Licht verschlucken. Diese Strahlen gelangen
auch bei langanhaltender Belichtung nicht oder nur in geringem Maße
zu den Chlorophylikörnern der Pflanzen, sie können daher auf die
Assımılation nur geringen Einfluß haben: ihre Wirkungen müssen
sich aber in der Epidermis bemerkbar machen. Die Unterschiede
in den Lieht- und Schattenblättern, die Sonnenstellung der Blätter,
wie die übrigen Erscheinungen des Heliotropismus dürften als Wir-
kungen dieser Strahlen anzusehen sein. Zur Deutung meines oben
geschilderten Versuches reichten mir aber diese Erscheinungen nicht
aus. Lange habe ich weiter in der Natur gesucht, um "Erschei-
nungen zu finden, die sich aus .obigen Versuchen erklären. Bota-
nikern, Förstern, Landwirten habe ich dieselben gezeigt. Von
keiner Seite erhielt ich eine befriedigende Erklärung, und so blieben
F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze. 295
sie lange unveröffentlicht liegen, bis mir voriges Jahr ein einziger
Blick meiner Überzeugung nach die richtige Deutung gab.
Am Fuße eines Denkmals im Isergebirge hatte ein Naturfreund
Edelweiße angepflanzt. Durch die Verpflanzung aus dem. Hoch-
gebirge in das Mittelgebirge hatten diese Pflanzen eine Gestalt an-
genommen, die in allem der Gestaltung der Pflanzen glich, denen
ich durch Euphosglas das ultraviolette Licht entzogen hatte. Das
Sonnenlicht, das vom Hochgebirge zum Mittelgebirge vordringt,
verliert auf diesem Wege viel an ultravioletten Strahlen. Bei der
Verpflanzug aus dem Hochgebirge in das Mittelgebirge wird der
Lichtgenuß der Pflanzen in derselben Weise beeinflußt wie beı
meinem Versuch. In der Natur waren es Edelweiße, die bei dem
Entzug von ultraviolettem Licht die Gestaltsverändernng zeigten,
ich hatte bei gleichartigen Veränderungen des Lichtes dieselben
Gestaltsveränderungen bei Begonien, Reseda, Erbsen und Bohnen
beobachtet.
Um diese Verhältnisse richtig beurteilen zu können, müssen
wir uns klar werden, wie das Licht, vor allem die unsichtbaren ultra-
violetten Strahlen in der Atmosphäre verteilt sind. Uber den Ge-
halt des Tageslichtes an ultravioletten Strahlen haben wir keine
rechte Vorstellung. Zerlegen wir das Tageslicht mit einem Prisma,
so sehen wir, daß bei A 400 wu die Sichtbarkeit des Lichtes auf-
hört. Jenseits dieser Grenze gibt es noch Strahlen, die sich durch
ihre chemische Wirkung auszeichnen. Photographieren wir das
Spektrum, so sehen wir, daß es noch erheblich weiter reicht als wir es
sehen, aber ein richtiges Bild erhalten wir nicht, da Glas je nach Zu-
sammensetzung und Dicke erheblich im Ultraviolett absorbiert. _Ver-
wenden wir einen Spektrographen mit Quarzoptik, so erscheinen die
Spektren wesentlich länger. Das Sonnenlichtspektrum reicht
günstigstenfalls bis A291 au. Bei Ballonhochfahrten hat man .diese
Ausdehnung des Spektrums festgestellt. Aber auch bei uns
konnte man bei besonders günstigen Luftverhältnissen Strahlen
von dieser Wellenlänge noch ermitteln. Die Intensität dieser
Strahlen ist aber in den verschiedenen Höhen und zu den ver-
schiedenen Jahreszeiten sehr verschieden. Wenn das direkte
Licht der Sonne durch die Atmosphäre dringt, erleidet es durch
Beugung, Reflektion und Brechung erhebliche Verluste, und diese
Verluste sind um so größer, je kürzer die Wellenlänge. So
wächst die Diffusion an den kleinsten Teilchen umgekehrt pro-
portional zur vierten Potenz der Wellenlänge. Setzt man das Licht
von 4 800 au = 1, so wird das violette Licht A 400 uu 16mal
stärker, das ultraviolette von A 320 uu, das ın der Tiefebene im
Tageslicht noch in erheblicher Menge enthalten ıst, etwa 40 mal
stärker diffundiert. Auf der erhöhten Diffusion des kurzwelligen
Lichtes beruht die blaue Farbe des Himmels, die Strahlen, dıe auf
dem Weg durch die Atmosphäre vom direkten Sonnenlicht abge-
splittert werden, kommen dem diffusen Himmelslicht zugute. Wiır
erkennen dies auch schon daran, daß die Schatten im Hochgebirge
schwärzer erscheinen als in der Tiefebene. Bei dieser eigentüm-
S
294 F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze.
lichen Verteilung des Lichtes ın der Atmosphäre geht aber auch
ein großer Teil vor allem an kurzwelligen Strahlen verloren, bevor
das Licht in die Tiefebene gelangt. Daß wir aber auch hier noch
viel ultraviolette Strahlen im Tageslicht haben, lehren die Spektren,
die ıch zu Frühjahrsbeginn ın Dresden mit einem Quarzspektro-
graphen aufgenommen habe. Die Hälfte der ın Fig. 4 abgebildeten,
auf einer orthochromatischen Platte aufgenommenen Spektren wird
von Strahlen -erzeugt, die unser Auge nicht wahrzunehmen ver-
mag. Im Sommer wächst die Intensität der ultravioletten Strahlen
in viel stärkerem Maße als die der sichtbaren, das Spektrum er-
scheint dann auch länger. Bei meinen Aufnahmen war das Ende
des Spektrums von so geringer Intensität, daß es bei der gewählten
Expositionszeit noch nicht zur Geltung kam.
Den Verlust, den das Tageslicht bei seinem Durchgang durch
die Atmosphäre erleidet, können wir leider noch nicht messen.
Unsere Apparate sind dazu noch zu unvollkommen. Den besten
Apparat tragen wir bei uns. Es ist dies unsere Haut. Wenn wir
aus der Tiefebene ın das Hochgebirge kommen, so sehen wir, wie
dieser Apparat in kurzer Zeit auf diesen Zuwachs von unsichtbaren
Strahlen lebhaft reagiert. Wenige Stunden genügen, um an ihm
die lebhaftesten Reaktionen auszulösen. Wir sehen sie an den Er-
scheinungen des Gletscherbrandes und an der Schneeblindheit.
Wenn wir jetzt unsere Kranken in Höhen von über 1000 m dem
Sonnenlicht aussetzen, so wissen wir, daß auch dann, wenn keine
so heftigen Entzündungen mehr auftreten, im Licht noch reichlich
Strahlen vorhanden sind, die heilend wirken. Und wenn wir zur
Erholung auch nur in unsere Mittelgebirge gehen, so fühlen wir,
daß uns im Licht auch dort noch ein mächtiger Energiefaktor zu-
geführt wird, der uns ın der Ebene fehlt. Schreiten wir von der
Vegetationsgrenze zur Tiefebene, so vermindert sich die Intensität
des sichtbaren, aber noch in viel höherem Grade diejenige des
ultravioletten Lichtes. Wir haben im ultravioletten Licht in der
Natur einen mächtigen Energiefaktor, der zweifellos auch auf die
Pflanzen einwirkt und der von der Höhe nach der Tiefebene hin sehr
viel an Intensität einbüßt. Wie tritt dies bei der Vegetation in Er-
scheinung? Mein Versuch hat gezeigt, daß sich die Gestaltung der
Pflanzen "verändert, wenn wir denselben das kurzwellige Licht ent-
zıehen. Das Edelweiß, das ein Naturfreund vom Hochgebirge in
das Isergebirge versetzt hatte, zeigte dieselbe Veränderung. Von
Sträuchern, die in Pflanzengärten im Erzgebirge gezogen und mit
gleichem Boden in das Tal versetzt wurden, weıß ich, aus einer
Mitteilung von Prof. Neger in Tharandt, daß sie längere Triebe
zeigten. Ich stehe nicht an, diese Erscheinungen zu verallgemeinern.
Im Hochgebirge haben wir eine niedrige Vegetation von
besonders kräftigem Wuchs. Diese Wuchsform ist be-
dingt durch die großen Mengen deskurzwelligen Lichtes,
das dort auf die Pflanzen einwirkt. Je mehr sich dieser
Reiz nach der Tiefebene zu vermindert, desto mehr stei-
gert sich das Längenwachstum der Pflanzen. Daß andere
F. Schanz, Wirkungen des Lichtes auf die Pflanze. 295
Einflüsse, wie Temperatur, Feuchtigkeit, Luftbewegung mitwirken,
soll nicht bestritten werden, doch ist meiner Ansicht nach das
Licht dabei ein so mächtiger Faktor, daß er die anderen an Be-
deutung weit übertrifft,
In der botanischen Literatur sınd eine ganze Anzahl Arbeiten
mitgeteilt, in denen man die Wirkungen der ultravioletten Strahlen
auf die Pflanzen untersucht hat. Viele Arbeiten lassen erkennen,
daß man den Gehalt des Tageslichts an ultravioletten Strahlen nicht
kennt. Das Spektrum des Sonnenlichtes (Fig. 4) reicht günstigstenfalls
bis 4 291 au. Auf dem Monte Rosa, bei Ballonhochfahrten bis
8000 m hat man fast die gleiche Ausdehnung des Sonnenlicht-
spektrums gefunden. Auch in der Tiefebene, so ın Potsdam, Kairo,
Assuan, Südafrika, hat man bei günstigsten Luftverhältnissen
noch Strahlen bis A 291 uu feststellen können. Das Spektrum
des Lichtes der Quarzlampe und der offenen Bogenlampe
reicht viel weiter, man kann in diesen noch Strahlen bis 4 200 uu
leicht feststellen. Daß das Sonnenlichtspektrum gegenüber den
Spektren irdischer Lichtquellen verkürzt erscheint, dürfte daran
liegen, daß der glühende Sonnenball mit einem Dunstkreis um-
geben ist, der Licht von weniger als A 291 wu nicht hindurchläßt.
Wenn auch die Ausdehnung des Sonnenlichtspektrums in den ver-
schiedenen Höhen nicht wesentlich verschieden ist, so nimmt doch
die Intensität des Lichtes gegen das kurzwellige Ende nach der Tief-
ebene zu sehr erheblich ab. Fig. 4 Abb. 1 zeigt Sonnenlichtspektren,
die auf orthochromatischen Platten mittelst eines Quarzspektro-
graphen in Dresden am 20. März 1916 nachmittags 1 Uhr 30 Min.
aufgenommen worden sind. Die Abb. 2 und 3 sind mit demselben
Apparat bei gleicher Einstellung angefertigt worden. Die Sonnen-
. hiehtspektren reichen bis etwa A 320 uu. Kürzere Strahlen haben
bei den angegebenen Expositionszeiten keinen Eindruck erzeugt.
Im Sommer würden diese Spektren bei gleichen Aufnahmebedin-
gungen bis etwa 4300 uu reichen. Wenn auch unter besonders
günstigen Umständen und langer Exposition noch Strahlen bis
1291 uuım Tageslicht zu ermitteln sind, so dürften diesen Strahlen
wohl keine biologischen Wirkungen zukommen.
Bei den botanischen Versuchen über die Wirkung der ultravio-
letten Strahlen auf die Pflanze hat man meist das Licht der Quarzlampe
und der offenen Bogenlampe verwandt und dabei nicht beachtet,
daß man damit ein Licht verwendet, von dem ein großer Teil der
Strahlen gar nicht im Tageslicht enthalten ist. So berichtet
J. Schulze über die Einwirkung der Lichtstrahlen von A 280 uu
auf die Pflanzenzelle ohne zu wissen, daß solche Strahlen im
Tageslicht nicht vorkommen. Ursprung und Blum veröffent-
lichen ın den Berichten der Deutschen Botanischen Gesellschaft 1917
Untersuchungen über die Schädlichkeit der ultravioletten Strahlen,
Nur bei dem ersten Teil ihrer Versuche hatten sie zwischen Quarz-
lampe und Pflanze ein dünnes Glas eingeschaltet. Nur in diesem
Fall hatten sie Licht, das in der Ausdehnung des Spektrums dem
des Tageslichtes etwa gleicht. In den folgenden Versuchen haben
296 K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
sie das Glas weggelassen. Damit sind in diesen Versuchen
Strahlen zur Wirkung gelangt, die für biologische Vorgänge bei
der Pflanze in der Natur nicht in Frage kommen. Das Ultra-
violett ım Tageslicht reicht in Intensitäten die für biologische Wir-
kungen ın Frage kommen, von A 400 uu bis etwa 4 295 uu. Inner-
halb dieser Grenzen nimmt seine Intensität beim Durchgang durch
die Atmosphäre beständig, aber ungleich ab und zwar das äußere
Ende mehr als das innere. Diese Intensitätsabnahme muß in der
Vegetation ıhren Ausdruck finden. Ich glaube, daß mein Versuch
dafür die Deutung gibt. Die ultraviolette Strahlung schwankt auch
im Laufe des Jahres in viel höherem Maße als die sichtbare Strah-
lung. Auch diese Schwankung muß in der Vegetation Ausdruck
finden, und ich möchte nicht unterlassen, auch hierauf die Auf-
merksamkeit zu lenken. Mit Arbeiten, bei denen man Licht von
weniger als 4300 au zu den Versuchen verwandt, können wir der-
artige biologische Vorgänge in der Natur nicht erklären.
Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
Von K. Bretscher, Zürich.
Der Zusammenhang des Vogelzuges mit den äußeren Verhält-
nissen, also mit Wind und Wetter istschon vielfach erörtert worden,
ohne daß es bis jetzt gelungen wäre, dıe Frage endgültig zu lösen.
Im Gegenteil: bald wird der Temperatur, bald dem Wind, bald
der Lage der Depressionen eine größere Bedeutung zugeschrieben je
nach der Untersuchungsmethode, nach dem vorliegenden Material
und wohl auch je nach dem Standpunkt des Verfassers. Die
Rücksicht auf die Knappheit des Papiermarktes möge als Entschul-
digung dafür gelten, daß diese Behauptungen nicht weiter belegt
werden.
In zwei früheren Arbeiten: „Der Vogelzug ım Schweizerischen
Mittelland ın seinem Zusammenhang mit den Witterungsverhält-
nissen* (Neue Denkschr. Schweiz. Naturf.-Ges. Bd. 51, 1915) und
„Vergleichende Untersuchungen über den Frühjahrszug der Vögel“
(Biolog. Zentralbl. Bd. 36, 1916) bin ıch dazu geführt worden, den
Witterungseinflüssen einen großen Einfluß auf die Zugserscheinung
abzusprechen, ein Standpunkt, früher auch schon vertreten, wenn
sıe als Betätigung des Instinktlebens aufgefaßt wurde, der aber
nicht recht in die heute gewöhnliche Auffassung der Naturgescheh-
nisse hineinpassen will.
Dazu kam ich durch die Prüfung der Wind- und Niederschlags-
verhältnisse an den Zugstagen, ferner durch das Studium der
Lage der Depressionen und namentlich der jeweiligen Temperatur-
bedingungen in der Schweiz und in Elsaß-Lothringen. Für beide
1}
<. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 997
Ira
Gebiete ließ sich feststellen, daß der Zug unabhängig von der je-
weiligen Temperaturlage und von den mittleren Frühlingstempe-
raturen erfolgt, wie daß er innerhalb großer Schwankungen der
Wärmelagen sich vollzieht, die z. B. beim Hausrötel von —11 bis
19°C reichen. Die Zusammenstellung der mittleren Temperaturen
der einzelnen Zugstage ergab überall typische Variationskurven
mit einem Maximum, von dem aus die Zahlen nach oben und
unten abnehmen. Die weiße Bachstelze war z. B. mit folgender,
bei —8° beginnender, je um 1° fortschreitender und bei 14° auf-
hörender Reihe vertreten: 1,.2, 5,-6, 10, 9, 20, 22, 28, 39,.61, 64,
80, 76,67, .58, 35, 32,.12,X9, 6, 3, 3. : Die Höchstzahl 80 liegt. bei
4°, welche ich als Zugsoptimum ansprach.. Je größer im allge-
meinen die Zahl der Beobachtungen, um so regelmäßiger an- und
absteigend war die Reihe.
Diese Kurven bildeten nun für die folgenden Feststellungen
den Ausgangspunkt. Sie wurden allerdings neu gebildet, indem
nicht wie dort das ganze Schweizerische Mittelland vom Genfer-
bis zum Bodensee mit Einschluß des nördlichen Jura, sondern nur
das etwa von Bern aus bis zum Bodensee und Rhein und nur die
Erstbeobachtungen, nicht der ganze Zug, zugrunde gelegt wurden.
Gingen dort die Angaben bloß bis 1912 oder 1913, so konnten sie
jetzt bis 1917 berücksichtigt werden: sie erstrecken sich in vielen
Fällen bis in die Sechziger Jahre zurück. Selbstverständlich machte
sich auch der „Reihencharakter* geltend, der allerdings, um so
recht zum Ausdruck zu kommen, eine größere Zahl von Angaben
verlangt. Es können ihrer nicht zu viele sein; je mehr, desto
besser. Sodann bestimmte ich für jede Art ihre Zugszeit und fand
im weitern, daß die mittleren Tagestemperaturen dieser Zeiten nach
Graden zusammengestellt schon für 10, noch besser aber für 20
und 30 Jahre typische Varationskurven ergaben, deren Höchstzahlen
auffallend nahe bei der oben erwähnten Optimältemperatur lagen
oder sogar ganz mit dieser zusammenfielen.
Um diese Tatsache recht zu erhärten, lasse ıch die beiden
Kurven nebeneinandergestellt folgen; sie betreffen die Arten, die für
die Untersuchung mit einer genügenden Zahl von Beobachtungen
vertreten waren. Zu erwähnen ist noch, daß die Mitteltemperaturen
der 30jährigen Zugszeiten sich auf Zürich beziehen, da es in seinen
Wärmeverhältnissen unbedenklich als Vertreter des Gebietes zwischen
Bern und dem Bodensee angenommen werden kann. Die Tempe-
raturreihe der Zugstage dagegen ist so gebildet, daß jeder Be-
obachtungsort seiner nächsten meteorologischen Station zuge-
wiesen wurde und also die wirkliche Zugstemperatur möglichst
genau eingesetzt ist. Die Arten sind nach den „Optimaltempe-
raturen“ ansteigend geordnet, die von 2° bei der Feldlerche bis
9 und 10° beim Wiesenschmätzer und Kuckuck gehen.
298
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
Schon ein flüchtiger Blick über die Doppelreihen zeigt, wie
nahe jeweilen ihre Höchstwerte liegen.
ein bei der Feldlerche, der Rauchschwalbe, dem Schwarzkopf und
dem Wiesenschmätzer.
Sie stimmen völlig über-
1° beträgt der Unterschied bei der Sing-
Tabelle ta.
Zugstemperaturen im schweizerischen Mittelland.
| \ | Weiße Sing- ee Weiden-
e ı aBeldterehe Bachstelze drossel Hausrötel laubsänger
2 | Mitteltempe- | Mitteltempe- ı Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe-
SZ raturen der | raturen der |‘ raturen der raturen der | raturen der
= ı Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs-
® | tage zeit | tage zeit tage zeit tage zeit tage zeit
| | 1 |
_ı2) 2 ” 9
2) 6 1 Tr
_10) s 1 6 3 1
rg) 13 — 5 1 2
er 2 19 — 8 4 1 2
NANE re ZH 16 = a set 3 5
6 1 28 4 131192074 2 |, — l 3
ZEN Ver Er y5 er 10,5:,.100143 7 9
en: SL. 14h‘ ) EN 7 12
RR) DSE.l 6 53 2 44 — HER 18
=91\%.11 108 14 95 11 78 19 29 3 44
el 93 9 80 6 56 18 24 7 32
oa Rz 16.7, 110.88 10 84 21 48 5 59
1 17 168 Sl 149 20 117 20 MAN: 93
3.|u..26 :493* 34 170 207138 37 95 15 110
SE La le) 42. 149° DI 1248 39 99 12 -., 113
A 20H AS 42* 135 23er 11798 1139211109 U 2 ARER
5 18 156 39 126 25 118721, 50° eHlsee a2 131
6 125 144 40° 1% 221. 114, 1546.) 199] 1800 10dE
Zu 17 NT 33" 4.200 19... 05 353.2 109,04 ec 12
hl 98 32 a3 BETT de) 40 9% 17 101
Sud pe 21 61 8 59 41 86 14 90
10 6 25 8 26 4 18 15 51 11 54
11 5 27 4 18 1 16 2. 44 13 44
12 2 24 1 18 — fe) 4 28 8 28
sl 15 1 8 = : 8 43 7 43
99° 5 1 3 1 2 14 7 14
ee 2 1 6 BR
16 3 BR 1. ogse 1 2 1 3 4
17 Br 449 1571253 1
18 389 1 1
Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit
1. 2.—5. 4 5.2.—31. 3 16. 2.—31. 3 6. 3.—15. 4 1. 3.—15. 4
drossel, beim Hausrötel, Mauersegler und Rotkehlchen; 1—2° bei
der weißen Bachstelze, dem Weidenlaubsänger und der Mehl-
schwalbe; 2° bei dem Blaukehlchen, 3° beim Kuckuck und Garten-
rötel und mehr als so viel beim Fitis und Wendehals, aber hier
ist offenbar die Zahl der Angaben zu gering, um ein ausgesprochenes
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 299
Maximum zu liefern. Bei 12 von den 16 Arten können wir von
einer guten bis sehr guten Übereinstimmung in der Lage der Höchst-
zahlen beider Kurven sprechen, was kaum dem Spiel des Zufalls
zuzuschreiben ıst, sondern als der Ausdruck einer bestimmten Be-
zıehung zwischen beiden Reihen zu gelten hat.
Tabelle 1b.
A Rot- Blau- Rauch- | Wende- | Sr au Mauer-
Z kehlehen kehlehen schwalbe hals | cs segler
En ı Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe- Mitteltempe-
3 | raturen der | raturen der | raturen der | raturen der | raturen der | raturen der
= Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- Zugs- Zugs-
| tage zeit tage zeit tage zeit tage zeit | tage zeit tage zeit
—10 | 2
—9 | 2 |
—8| 1 2 Le l 1
—7 | 4 | —_ı 1 l 1
U ER 1 | 17) l | — 1
—5|1 — 7 3 1 Yu DR 3 _ 2
—4 1 10. 2 _ DR a 2°) BR RR 1
ler, a 6 1 BEE. a) Be 7
ES IT ERRN e R Ay 09 REIN 26
ZA ER ON RE Era N Re ae 3
DSIc aldy, Dakar 7 37 2° ..,.29 Bar 20 )
1 | ‚12 86 71,..%8 30 Ss 994273 4 5 44.32 13
BB OT LAS 10.37: BAT 1 OLE 3
3. 21 95 5 45 14 r 3 7 8 TON ED 25
4 | 22 IH SL 52 17 N 71 15 a 32
3 | 33%. 107, - 16 642 6 OBLAN 91 19 91 3 35
6:1r,86=..2:104.17}:*'6 6l 26.771242 1 0 51095:1,22 109 ES A
BED YO Te 199 5129°° 17,967 \.105#,11. 17. 109°, 6, 40
5 9 82 ) 6022105 6*,.798 207.10298 3 58
9 | 12 60 en DB BT ER a A Be Et
TOR Ba 5 BEE N | 4 53 192.483, 11078575190 PEN 13 80
k1 8 24 10 ee: 6 8 16 s1 20 %
12 7:02.22 67.28 1202326731, 1097.2:5602 16.02.2602 18 6
13 5) 15 12 DOSE OL a 7 Ra en Ir 71 19 60
14 3 5 4 20 2 23 120046 44 8 44 17 48
15 1 4 4 1a az 18 3 Da NT 23719 31
16 || 252 3 1 4 || — DR 1 SE) 14 10 25
17 131 1 ee 3 2 ee ker f 203.19
18 1 1 l 2 3 2 3 6 Ss
19 909.07, 100 1.7229 1 RE 1
20 a N, | ı 175
21 185) | 1 12)
Zugszeit Zugszeit | Zugszeit | Zugszeit Zugszeit | Zugszeit
1.3—5. 4 26.3=-20:421.16.3-30.4 | 21.3230.4.12% 3° 30. 4 | 16.4=10.5
\ | |
Noch auffälliger zeigt sich die Übereinstimmung der beiden zu-
sammengehörigen Reihen an den arıthmetischen Mitteln, die hier
mit * angegeben sind. Das sind die Stellen der Kurven, von denen
aus die Summe der negativen und positiven Werte, also hier der
300. K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
obern und untern gleich sind, oder m. a. W. die Summe der ganzen
Reihe — 0 ist.
Zahlen als die Höchstwerte, deren Lage zufällig ist, während die
Eben deswegen sind es vıel charakteristischere
Tabelle 1c.
| Braun-
| Fitislaub- Garten- Mehl- kehliger ER OPER
S | sänger rötel schwalbe Wiesen- Buskuch
an schmätzer
Seh Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mifteltempe-
:3 | raturen der | raturen der | raturen der raturen der | raturen der
= Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs-
ı tage zeit tage zeit tage zeit tage zeit tage zeit
—I | | |
a) 1 1 1: |
—1 l j 1 | 1
0 1 l 1 2: Ice ]
—) | 4 > 4 1 2 K 2 4
4 3 j > 1 5 4 — 2
—a l 8 1 fe) 3 10 1 ale 1 7
> l 30 4 30 u 10 1 DR 2 12
—1 4 21 8 21 3 10 — 10270502 12
0 4 31 6 37 > 7 1 10 | 2 20
1 E= 59 7 59 3 36° 1 Dane re 30
2 fl 73 14 1 5 a 6 DV LNS 35
3 6,72 IK ART OR ee
4° 5... 90%, 1%:49.°.200 10.4 12,5, 21.116,00
Dial 21080200 eh 69 10 BL. 20 88
6 1 a 1722: Ba 2 Fa 7 ee 64 12 032 | S4
7 10:78. TOD 33 ET 74 I) 74 310
8.2 110,107 Sl 1or 12:.= 3.70 8.2.8824 | 108
9) 12.105 41 105 1075,75: IE ERARLT 32* - 110°
10 177,95 28.9 1227092 12,38. 10 34,37127
11 br 5342789 11,%.26625. 224118 23 15
12 142 55 19. 55 RR BE N 28.,4.99
b) ') 6 21 6 > 57 | 10 I2 35 115
14 un, AA 11: ...44 Der 10 LI NER
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16 140 16 3 16 ] GE ER RELO) 65 T dl
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18 2 ee 3.027
19 RB a 175,19
20 l. 346 l 2 19 rd
2] 1 102.03 (
22 | 7 327 1
23 | 1 1
24 | 1 |
25 | 1
| |
Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit
16. 3— 30. 4 16. 3—30. 4 1:4—1.5 6. 4— 20.5 1.4—20.5
der Mittel aus den Bestandteilen der ganzen Reihe hervorgeht.
Hier beträgt der Unterschied 0° beim Hausrötel, der Rauchschwalbe,
dem Wiesenschmätzer und Kuckuck; '/,° bei der Bachstelze, dem
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 501
Weidenlaubsänger, Blaukehlehen, Mauersegler, Fitis, Gartenrötel
und der Mehlschwalbe; 1° bei der Lerche, Singdrossel, dem Rot-
kehlehen, Schwarzkopf und Wendehals. Größer ıst der Abstand
zwischen beiden Werten nirgends.
Die Erklärung für dieses gegenseitige Verhältnis beider Reihen
liegt in der Antwort auf die Frage: Warum stimmen die beiden
Häufigkeitswerte so gut überein? Offenbar treffen die Zugvögel
bei dem Wärmegrad am häufigsten ein, der ihnen am häufigsten
geboten ist; bei allen andern weniger, weil sie weniger vertreten
sind, und ungefähr im gleichen Verhältnis wie die Tage mit tieferen
und höheren Mitteltemperaturen nehmen auch die zugehörigen Zugs-
tage ab. Die zweite Reihe ist das primär Gegebene, die erste
paßt sich ıhr an.
Für das Weitere ist es nun nötig, sich klar zu machen, wie die
Tage mit den häufigsten Wärmegraden sich auf die ganze Zugs-
zeit verteilen. Hiefür habe ich 5°, den Hauptwert beim Hausrötel,
gewählt und um die Darstellung einfach zu gestalten von 1888 bis
1917 je 3 Jahre, vom 1. Februar bis 20. Mai je 5 Tage zusammen-
genommen. So ergab sich folgende Tabelle 2:
Tabelle 2.
Verteilung der mittleren Tagestemperatur von 5° auf die Zugszeit.
I
|
93
14
7
88--90
9496
97—99
00—02
03—05
06—08
91
09—11
12
15
Februar 1— 5
6—10
11—15
16-20
21—25
26—28
März 1—-5
6—10
11—15
16—20
21-25
26a
April 1—- 5
6—10
15
16—20
21—25
26—30
Mai 1—-5
6—10
11—15
16—20
Fe
| | | | ee | ER |
| | | DE ze
Elle een else milaclr
Beet Deal ee le
ee eeeeroisto. al mrsn
Be | esse | al eresa| 182]
Es ist sogleich ersichtlich, daß dieser Wärmegrad durchaus
unregelmäßig verteilt war, ob wir die ganze Zugszeit hiefür ins
38. Band. 22
Ba a a a a na Nadine
309 K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
Auge fassen oder nur die des Hausrötels vom 5. 3—15. 4 berück-
sichtigen. Wie mit dieser mittleren Temperatur von 5° verhält es
sich offenbar mit allen andern. Man braucht nur einen Blick auf
die meteorologischen Tabellen zu werfen, um sich davon zu über-
zeugen. Es ist also den Zugvögeln ganz unmöglich, sich für ihr
Eintreffen und ıhren Zug auf einen ihnen passenden Wärmegrad
einzurichten. Sie wandern unabhängig von den Wärmeverhältnissen,
wenn die Zeit hiefür gekommen ist; sie sind bei ihrem Zug auf
die Zeit, nicht aber auf die Wärme eingestellt. Direkt kommt
diese bei der Zugserscheinung gar nicht ın Frage, wohl aber ın-
direkt insofern, als von den Wärmeverhältnissen die Entwicklung
der Pflanzen- und Tierwelt im Frühling abhängt, und damit den
heimgekehrten Vögeln die nötige Nahrung geboten ist oder nicht.
Ebenso unabhängig wie von den Wärmeverhältnissen sind die
Zugvögel aber auch von den nicht minder wechselnden übrigen
meteorologischen Bedingungen bei ihren Wanderungen, wie vom
Wind und der Lage der Depressionen. Ausdrücklich soll hervor-
gehoben sein, daß diese Behauptung nur für normale Zustände in
der Luft gilt; denn Unwetter, Sturm, schwere Niederschläge hindern
selbstverständlich den Vogel auf seinen Wanderungen. Wenn das
auch von kalter Witterung behauptet wird, so liegt die Ursache
nicht bei dieser, sondern beim Nahrungsmangel, der dann eintritt,
weil gewöhnlich die Erde mit Schnee bedeckt ist. Oft trifft man
bei Behandlungen des Frühlingszuges Sätze wie: infolge des warmen
Wetters ist die und die Art zu der und der Zeit eingetroffen.
Dabei vergißt man, daß häufig auch gesagt werden müßte: trotz
der rauhen Witterung u. s. w. Denn wenn und insoweit die vorher-
gehenden Ausführungen richtig sind, ist der Zug von dieser unab-
hängig. Beide Erscheinungsreihen — Zug und Wetter — gehen
nebeneinander her, aber ohne daß letztere für gewöhnlich zu ersterer
einen bedingenden oder ursächlichen Faktor abgäbe.
In unserer Zeit ist man vielleicht etwas zu sehr geneigt nur
anzuerkennen, was mit Massen erfaßt werden kann; so hat man
nach Zusammenhängen gesucht, die nicht bestehen, und die Beweis-
kraft der alten Beobachtung, daß auch Käfigvögel, die doch be-
ständig in gleichmäßigsten äußeren Bedingungen leben, das „Zug-
weh“ zeigen, ganz vergessen. Wenn ich nun den Schluß ziehe, die
Zeit sei der wichtigste Zugfaktor, so ist damit weiter gesagt, daß der
Vogelzug so, wie er bei uns in die Erscheinung tritt, eine Instinkt-
handlung ist, über deren auslösende Ursachen wir vorläufig noch
gar nichts auszusagen vermögen, Da mein hier nachdrücklicher als
früher vertretener Standpunkt sich zur allgemein herrschenden
Ansicht in einigen Gegensatz stellt, habe ich die Frage weiter zu
beleuchten gesucht und hiefür zunächst das mir bereits bekannte
Material aus Elsaß-Lothringen gewählt. Die Zusammenstellung
ergibt:
Lid
r NN OT BE SER > Dr Fe a er EN Fe
Dieb SR BE
A Re B Ir PR 5 r
x r Di
Ya:
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 303
Tabelle 3.
Zugstemperaturen in Elsafs-Lothringen.
ABED \ Sing- Rauch-s iu 2.0 Mehl- R
3 Dual drossel schwalbe Kuezuck schwalbe Wenzel
& | Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe- Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe-
= raturen der | raturen der | raturen der | raturen der | raturen der | raturen der
= Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs-| Zugs- Zugs-
tage zeit | tage zeit | tage zeit | tage zeit | tage zeit | tage zeit
I | I
—12 1 | |
a |
le 9 |
a 2 3 |
—8 2 3 2
Br, 2 2 2 2
5 4 8 2 13 |
—4| 10 13 4 12 |
—3|| 12 12 5) 17 I 3 |
—2 8 16 8 27 2
—l| 5 27 3 20 3
0| 16 26 8 61 1 8 3 3 1 3 1
1| 14 61 4 DDR ne U 4 na 4 2
Snake 54. | 14 62 2 15 3 7 — >) 4
3| 14 66* | 19 62* 3 15 6 7 5 6 2 6
4 19 52.21.16” 59 7 22. 11.10) 13 3 12 | — s
Dh 08 49. | 21 55 6) 31. 126 26 Mi 23 2 19
Bl 390. 1216 44 54 | 22 40 15 Aut 34
7 3 AAN 52%..19 DEAL 49 12 46 6 25
BA 2. el 35 |16 61. |)40 . 60 |22 9b. | 1er Ag
91 4 9 3 ae 4aHr | 17% 52 10, 48. 46
Ol 12 2 18 7 61 30 6927 5,10 61 10 51*
lee 7 3 18 |19 51 19 63 18 34 | 14* 49
12”. 3-1 — a! 42 |26 57 N) 43 | 15 38
13 | 160° 2 1 3 8 28.13 37 7 28 |18 28
14 | 3 1160 3 4 40 12 44 6 34 14 29
15) 1 1 2 26, «18 31 12 2 hl 25
16 3 13 1 14 1 14 4 16
17| 2 7 E= 1) 2 9 4 1)
18 — I — 7 1 6 1! 2
19) 1 — 1 31417 2 2 2
20) “2136 1.1971 2 3,1002 2
| 1 1.219573 1
| Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit
I 1.2.—10.3 | 1.2.—15.3 |21.3.—30.4 | 1.4.—10.5 | 1.4.—5.5 | 6.4.5.5
Es möge genügen, die Beziehung zwischen Temperatur und Zug
nur an sechs Arten darzustellen, bei denen es sich um gleiche wie
um neue handelt, die bei der Schweiz nicht berücksichtigt wurden oder
mangels Beobachtungen nicht herangezogen werden konnten. Da die
meteorologische Zentralstation in. Zürich, deren Bibliothek Herr
Direktor Dr. Maurer mir ın höchst verdankenswerter Weise zu
benutzen gestattete, die meteorologischen Angaben aus Elsaß-Löth-
rıngen nicht vollständig enthält, konnten nur die 15 Jahrgänge
1890—1905 für die Mitteltemperaturen der Zugszeiten benutzt
22*
304 K. Bretscher. Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
werden, während die Zugsbeobachtungen in die Jahre 1885—1895
fallen. Sie sind von Berg, Ornithologische Beobachtungen aus.
Elsaß-Lothringen, Ornis, Bull. du comite ornith. internat. Bd. 8
und 9, 1896/97 und 1897/98 entnommen. Die Zahlenreihen der
Zugstage beziehen sich je nach der Höhenlage auf Straßburg und
Rothau, die der Zugszeiten nur auf Straßburg.
Auch hier haben wir dasselbe Bild wie aus der Schweiz, wenn
auch etwas weniger gute ÜbereinstimmungderDoppelreihen. 1° Unter-
schied der Höchstwerte zeigen der Star und die Rauchschwalbe,
2° der Kuckuck und die Mehlschwalbe, 2—3° die Singdrossel und
3° die Nachtigall, während die arithmetischen Mittel bei der Rauch-
und Mehlschwalbe gleich sind und bei den übrigen Arten je um
1° voneinander abstehen. Das Zusammenfallen dieser letztern
deutet wiederum darauf hin, daß beide Reihen zueinander in einem
Abhängigkeitsverhältnis stehen; und da ist nun, wie schon be-
merkt, nichts anderes möglich, als daß die Vögel unbekümmert
um die momentane Temperatur bei uns eintreffen, daß ihre Reihe
der Wärmegrade sich der andern einpaßt und anschmiegt; eine
Auswahl besonders günstig gelegener Temperaturen findet nicht
statt, und darum ist das, was ich früher als Zugsoptimum annahm,
gar kein solches; es gibt gar keines.
Diese Ausführungen erhalten eine weitere Stütze, wenn wir
die Asymmetrie der Doppelreihen ins Auge fassen. Bei denen über
den Mauersegler, die Mehlschwalbe, den Wiesenschmätzer und Kuckuck
in der Schweiz, ferner bei denen der Rauchschwalbe aus dem Elsaß
sind beidseitig die Höchstwerte nach unten, alsogegen höhere Tempe-
raturen verschoben, weil eben offenbar die Vögel mit der jeweilen
herrschenden Temperatur sich begnügen, aber darin keine Auswahl
treffen.
Wenn in einigen Reihen die Temperaturen der Zugstage über
die der Zugszeit hinausgehen, so ist das nicht einem Fehler in der
Zusammenstellung zuzuschreiben, sondern kommt davon her, daß
die beiderseitigen Wärmegrade verschiedenen Orten entnommen
sind, sie dann hier nicht übereinstimmten. Überhaupt sagen die
einzelnen Zahlen der Kurven sehr wenig, da sie ganz zufälliger
Art sind. Nur innerhalb der Reihen, deren An- und Absteigen
in den großen Zügen ins Auge zu fassen ist, haben sie Wert und
Bedeutung.
Die Bemerkung dürfte noch am Platze sein, daß die Zeitspanne
als Zugszeit angenommen wurde, innerhalb der die Tage fast lücken-
los oder dann je mit mehreren Beobachtungen vertreten sind; die
vor- und nachher verzeichneten vereinzelten Angaben blieben als
Ausnahmserscheinungen unberücksichtigt.
Die Suche nach weiterem Material hat mich dann auf solches
aus Württemberg geführt, das allerdings nur drei Arten betrifft;
auch erstrecken sich die Beobachtungen leider nur über zwei und
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 305
drei Jahrgänge. Die bezüglichen Angaben sind in den Verhandlungen
der Ornithologischen Gesellschaft Bayern Bd.7 und 9, 1906 und
1908, in der Arbeit von Lampert, Die Frühjahrsbesiedelung von
Württemberg im Jahre 1910. Jahresh. Ver. vaterl. Naturk. Bd. 70,
1914 enthalten. So entstand die Tabelle4, die sich auf den Haus-
rötel, die Rauchschwalbe und den Kuckuck erstreckt. Die Zahl der
Tabelle 4.
Zugstemperaturen in Württemberg.
©
= Hausrötel Rauchschwalbe Kuckuck
5 ' Miitteltemperaturen Mitteltemperaturen Mitteltemperaturen
= | der der der
> | Zugstage Zugszeit Zugstage Zugszeit Zugstage Zugszeit
| vn
| 3
| 4
a 6
— 3 | 7 1 1
—2 10 16 3 3 1
—1 | 13 29 3 6 4
0 13 35 5 5 4 3
1 24 43 1 15 = 7
2 28 74 10 24 2 15
3 18 83 12 3l 12 18
4 28 35 25 41 6 30
5 27 136 22 81 30 53
6 IE 125 19 54 36 42 |
7 33 121* 27 34 30 60
8 32 116 24° 101 28 75
9 24 108 31 102 31 70*
10 11 99 1 104° 19 78
11 10 87 19 101 30 77
12 10 70 19 97 3l 63
13 12 57 22 80 27 I6
14 3 43 10 71 21 45
15 l 20 6 39 3 20
16 2 8 13 32 1 12
17 Per 28 1 33 316 12
18 316 4 2 9 5
19 — 294 6 2
20 1 5 2
21 1 2 1
Zugszeit 5. 3—30. 4 Zugszeit 1.4—15.5 | Zugszeit 6.4—5.5
Beobachtungen ist bei allen drei Arten von befriedigender Größe,
doch ist namentlich die Reihe für den Kuckuck recht unregelmäßig
ausgefallen, offenbar deshalb, weil nur drei Jahre hiefür herange-
zogen werden konnten, nämlich 1906, 1908 und 1910. Die Angaben
der anderen Arten kommen aus den beiden ersten Jahren; die Zugs-
temperaturen wurden den meteorologischen Beobachtungsstationen
Stuttgart und Hohenheim aus den Jahren 1897—1911 entnommen,
EEE LERNT EF REN a AR UNAN IN BASE
306 K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelszugs von der Witterung.
Die Hauptzahlen stimmen nur bei der Rauchschwalbe gut überein,
weniger beim Hausrötel, am schlechtesten beim Kuckuck, während
die arıthmetischen Mittel wieder sehr nahe zusammenfallen ; völlig
beim Kuckuck, mit !/,° Unterschied beim Hausrötel, mit 1!/,° bei
der Rauchschwalbe. Ich zweifle nicht daran, daß die Übereinstim-
mung hier besser ausgefallen wäre, wenn mehr Beobachtungsjahre
hätten ın Berücksichtigung gezogen werden können. '
Aus dem reichen Material, das die „Aquila“ über den Früh-
lingszug ın Ungarn enthält, habe ich ganz willkürlich die ın Ta-
belle 5 behandelten sechs Arten ausgewählt. Die bezüglichen
Angaben rühren von den Jahren 1899—1909 her und aus dem Ge-
Tabelle 5.
Zugstemperaturen in Ungarn.
3 er Storch Reh Kuckuck Pirol Wachtel
5 ı Mitteltempe- | Mitteltempe- |, Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe- | Mitteltempe-
= | raturen der | raturen der | :raturen der raturen der | raturen der | raturen der
= ||Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs- | Zugs- Zugs-
| tage zeit | tage zeit | tage zeit tage zeit | tage zeit | tage zeit
7|\ 2 | |
—6 | 3
—5| 3
4) 4 | |
a 13 3 2|
—2]| — 7 > Di |
—1 1 12 5 >| |
0 — 26 3 14 DE TEA | 1 |
1 6 3% 3 oa RB N 1 |
2 3 95 7 3 Ve a N I ren 1% IE) 1
Sl 69 23 43 MB HA Aa 3 1 1 i:
4| 18 58 22 ABO AA 1a 1 1
5| 12 56a‘ 9% 4 2 EN 5 _ 5
Blu 25 zZ 204 Son a2 3 8 _ 3
7 21 83 40 79 Ton SV: 3 29: I ee 13
8 14 50 55..:108..]95.%,55. 110841236 2.61 4 40 aan and 37
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21|| 171 A — 4 2 4
22\ 2 2 2 ) 2
23 | 1 — 1 — :
| | 150° 119
ı Zugszeit | Zugszeit | Zugszeit | Zugszeit | Zugszeit Zugszeit
| 1.3.—5. 4. /11.3.—30.4.| 11. 3.—30.4 | 6.4.—10.5. | 16. 4.—10. 5 | 16.4.—10.5
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 307
bıet, das den 47. bis 48.° n. B. und den 35. bis 37.° Länge östlich
von Ferro umfaßt. Ich wählte dieses Gebiet, weil Budapest darın
liegt, von dem die meteorologischen Angaben ın unserer Zentral-
station bis 1909 vorhanden sind. Darum wurden auch nicht weitere
Zugszeiten zur Vergleichung herbeigezogen. Die Mitteltemperaturen
fallen ın die Jahre 1390—1909. Die ın der genannten Zeitschrift
zugrunde gelegten Abgrenzungen der Gebiete mochte ich nicht an-
nehmen, weil sie in den ersten Jahrgängen die Breitenkreise durch das
ganze Reich geben, also nıcht tiergeographische Einheiten betreffen,
während mir die Gebiete, in die in den späteren Jahren das ganze
Land zerlegt wurden, teils zu groß erschienen, als daß die Mittel-
temperaturen durchweg richtig hätten sein können, teils auch die An-
gaben über die Wärmeverhältnisse fehlen. Ich denke, gegen die von
mir angenommene Begrenzung werde nicht viel eingewendet werden
können, wenn sie auch nicht eine gut abgeschlossene geographische
Einheit umfaßt.
Die Zusammenstellung der Temperaturen an den Zugstagen
der Waldschnepfe, des Storches, der Rauchschwalbe, des Kuckucks,
Pirols und der Waldschnepfe zeigen wieder das schon bekannte
Bild wie die Arten aus den bereits behandelten Ländern. Die Höchst-
zahlen liegen bei den gleichen Temperaturen beim Storch, dem Pirol
und der Wachtel. Große Unterschiede zeigen hier die Rauch-
schwalbe und der Kuckuck. Letzterer hat. überhaupt einen sehr un-
regelmäßigen Verlauf der Kurve über die Zugstage; offenbar sollte
die Zahl der Beobachtungen größer sein. Bei jener kann zur Er-
klärung des Abstandes der Höchtzahlen angeführt werden, daß
fast 500 Angaben aus dem einzigen Jahre 1893 stammen; derart
wird die Kurve sehr einseitig beeinflußt und diese Einwirkung durch
die übrigen Jahrgänge nicht genügend ausgeglichen. In der Tat
ergeben diese die mittlere der drei Reihen, wo die Höchstzahl in
der Mitte der beiden andern liegt.
Die arithmetischen Mittel zeigen auch hier nirgends mehr als
1° Unterschied bei den beiden resp. drei Parallelreihen, so daß
darüber nichts weiter zu sagen bleibt. Bemerkenswert ist an
dieser ungarischen Gruppe, daß das Ergebnis durchaus dasselbe
bleibt, ob wir es mit nur 120 oder mit 900 Beobachtungen zu tun
haben. Wünschenswert wäre immerhin, wenn die Frage von einem
landeskundigen Fachmann nachgeprüft würde, da einem ortsfremden
die Bearbeitung und Zusammenstellung des Materials nicht ohne
Schwierigkeiten möglich ist.
In „Aquila®* Bd. 9, 12 und 16 finden sich Angaben über den
Einzug vom Storch, der Rauchschwalbe und dem Kuckuck in Hol-
land. Da sie von verschiedenen Örtlichkeiten herrühren, habe ich,
um auch hier die vorliegende Frage nachzuprüfen, die meteoro-
logischen Angaben mehreren Beobachtungsstationen entnommen.
Sie umfassen die Jahre 1891—1907.
4 Y n =
308 K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
Die Zugsbeobachtungen fallen in der Mehrzahl auf die Jahre
1899— 1908, mit wenigen Ausnahmen auf frühere Jahre. Die Zahlen-
reihen gleichen durchaus den früheren. Beim Storch und Kukuck
liegen die Maxima der beiden Reihen um 2, bei der Rauchschwalbe
um 1° auseinander, während die arithmetischen Mittel beim Storch
völlig zusammenfallen, bei den beiden andern je um einen halben
Grad voneinander abstehen.
Tabelle 6.
Zugstemperaturen in Holland.
o
= | Storch Rauchschwalbe Kuckuck
So | Mitteltemperaturen Mitteltemperaturen Mitteltemperaturen
S | der | der der
Ben} |! |
= \ Zugstage Zugszet | Zugstage Zugszeit Zugstage Zugszeit
—3 4
u) 5
—1 7
0 2 26
1 fo) 37
2 12 63 > 3
3 6 67 2 8 8
4 19 90 4 20 1 22
5 16 108 12 52 7 50
6 a3 125* 14 69 14 69
% 17 103 21 88 11 88
8 32 105 31 103 10 103
8) 14 66 32" 34, 13 83
10 3 35 13 81" 17 81"
11 1 22 17 67 7 67
12 2 21 16 78 15 78
13 — 18 6 42 16 42
14 2 8 7 40 5 40
15 1 6 1 25 2 26
16 149° 2 4 15 14 15
17 2 2 15 2 15
18 189° 5 3 8
19 — = —
20 2 2 2
139
Zugszeit 1. 3.—15. 4 Zugszeit 1. 4.—10. 5 Zugszeit 10. 4.—20. 5
Nicht ohne Interesse ist die Vergleichung der Lage der arıth-
metischen Mittel bei gleichen Arten aus verschiedenen Ländern.
Sie fallen bei der Singdrossel in der Schweiz und in Elsaß-Loth-
ringen auf 4°; beim Hausrötel in der Schweiz auf 5°, ın Württem-
berg auf 6—7°; bei der Rauchschwalbe in der Schweiz auf 7°, in
Württemberg auf 8°, in Elsaß-Lothringen und in Holland auf 9°,
in Ungarn auf 10°; bei der Mehlschwalbe in der Schweiz auf 9,
ın Elsaß-Lothringen auf 9—10°; beim Kuckuck in der Schweiz, in
Elsaß-Lothringen und in Württemberg auf 9, in Holland auf 10°,
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 309
in Ungarn auf 11—12°; beim Storch in Holland auf 6, in Ungarn
auf 9°. Also hat die Schweiz immer die niedrigsten, Ungarn die
höchsten mittleren Temperaturen für den Einzug. Ob hier irgend
eine Beziehung verborgen liegt? Die Untersuchung sollte nach
dieser Seite an weiterem Material fortgeführt werden.
Um der hier behandelten Hauptfrage: Zusammenhang des Ein-
zuges der Vögel mit den Wärmeverhältnissen noch allseitiger nach-
zugehen, habe ich den Herbstzug einiger Arten in, der Schweiz
vorgenommen, wo eine genügende Zahl von Beobachtungen zu Rate
Tabelle 7.
Zugstemperaturen im Herbst.
S Feldlerche Bachstelze Hausrötel Gartenrötel
© Mitteltempe- Mitteltempe- | Mitteltempe- Mitteltempe-
= raturen der raturen der raturen der | raturen der
= Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs- Zugs-
. tage zeit tage zeit tage zeit tage zeit
—7 2 2
—6 1 1
—5 1 1
—4 1 2 2 1
—3 2 12 10 1
—2 1 17 sit 14 4 1
—1 1 33 — 33 7 1
0 4 77 2 za 1 22 5
1 6 82 5 82 1 24 10
2 13 104 3) 94 3 41 2 17
3 g 116 6 116 8 44 _ 17
4 5 120 17 120 13 62 2 30
5 13 134 6 134 13 76 2 30
6 15 160 25 163 22 114 6 60
7 20 167 34 177 18 132 4 64
8 15 143, 21 149 24 120 4 0
9 20* 148" 27 158 33 141 6 113
10 18 129 35* 141* 33 136 7 109
11 16 124 23 144 29° 143* 11 125
12 24 144 35 182 34 178 15* 168,,
13 | 9 126 29 174 28 174 13 158
14 | I) 118 20 172 33 172 7 160
1955| 14 76 11 127 16 127 4 117
16 | 3 5 7 114 8 109 1 90
I \ 2 41 ) 88 8 8 | 6) 73
18 4 3anı| 2 91 6 90 6 72
19 —— 16 2 78 2 79 2 69
20 — 4 3 29 3 38 — 28
21 | 4 1 7 37 > 41 2 a7
SR „:1 3 1 16 | 59 23 je 21
0 RR 1 337 | 221,.7108 a
24 9297 | 1
25
Zugszeit Zugszeit Zugszeit Zugszeit
11. 9.—30. 11, 21. 8.—30. 11 21.8.—10. 1] 26. 8.—25. 10
N In KANDEL RAIRE N D
310 K. Bretscher, Die Abhängigkeit d&s Vogelszugs von der Winterung.
gezogen werden konnte. Das war jetzt nur möglich für die Feld-
lerche, die Bachstelze, den Haus- und den Gartenrötel. Während
die Maxima der zusammengehörenden Zahlenreihen bei der ersteren
Art 5° Unterschied aufweisen, stimmen sie bei den andern völlig
überein. Das letztere ıst auch der Fall für die arıthmetischen Mittel
beı der Bachstelze und dem Hausrötel; die Feldlerche und der
Gartenrötel haben !/,° Abstand in den beiden Reihen, also hier
wiederum ein sehr gutes Zusammentreffen. Die Antwort \auf un-
sere Hauptfrage ıst demnach immer dieselbe, und es dürfte als ge-
nügend erhärtetes Ergebnis aus all diesen Untersuchungen zu ent-
nehmen sein, daß ın der Tat der Vogelzug ım Frühling wie ım
Herbst sich von der jeweiligen Temperaturlage unabhängig abspielt.
Es wäre denn, daß die hier zur Ermittlung angewendete Methode
als falsch nachgewiesen werden könnte. Mir scheint dies allerdings
nicht der Fall und von Wert zu sein, wenn sie noch auf weit
breiterer Grundlage durchgeprüft würde.
Welchen Einfluß hat die Lage der Depressionen auf die Zugs-
erscheinungen ? Diese Frage beantwortet Hegyfoky, der die von
der Ungarischen Ornithologischen Zentrale gesammelten Beobach-
tungen von meteorologischen Gesichtspunkten aus bearbeitete, ın
der „Aquila“ 10, 1905, ın folgendem Schlußsatz: „Die Ankunfts-
daten kulminieren, wenn die gute Seite der Depressionen gegen
Ungarn, oder falls sie in Ungarn sind, gegen Osten gerichtet ist,
d. h. wenn ihr Zentrum ın Westungarn, oder ım Westen, Nord-
westen von unserem Lande hin sich befindet. Dazumal herrschen
warme Südströmungen, um das Zentrum herum regnet es, weiter
gegen Osten ist meist klares, trockenes Wetter; dort herrscht nämlich
hoher Druck (Anticiklon) und an dessen Westseite warmes, klares
Wetter mit schwächeren Südwinden. Stellt sich aber in der öst-
lichen Hälfte von Europa niedriger Druck ein und kommt der
hintere Teil der Depression über uns zu liegen, so bekommen wir
kühles, regnerisches Wetter, welches im Frühling oft in Schneefälle
übergeht; flugs werden die Ankunftsdaten seltener, besonders bei Arten
von zarterer Konstitution.“ Die Ausdrücke „Vorder- und Hinter-
seite“ der Depressionen beziehen sich auf deren Vorrücken, das
im ganzen von Westen nach Osten stattfindet. Die „gute“ Seite
ıst ıhr südlicher Teil.
Ich habe nun das nach der Temperatur behandelte Material
auch nach dieser Hinsicht zusammengestellt und zu diesem Zwecke
die Lage der Depressionen in den vier Quadranten NW, NO, SO
und SW angegeben. Nicht gerade selten kommt es vor, daß der
die Windrichtung eines bestimmten Gebietes beeinflussende baro-
metrische Tiefstand nicht ersichtlich ist, weil mehrere solche Minima
vorhanden sind, oder weil kein Wind weht und ın weitem Um-
kreis gleichmässiger Luftdruck herrscht. Diese Fälle habe ich mit
x bezeichnet, und sie umfassen demnach ganz verschiedene Wetter-
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. 311
lagen. Auch hier haben wir es wieder mit Erstbeobachtungen zu
tun. Nun hatte Elsaß-Lothringen an 277 Tagen mit 744 Angaben
NW-Lage der Depressionen, an 187 Tagen mit 425 Angaben NO-
Lage, an 158 Tagen mit 324 Angaben SO-Lage, an 118 Tagen mit
372 Angaben SW-Lage. Die x-Lage ist 52mal mit 115 Angaben ver-
zeichnet. Die Durchschnitte auf den Tag berechnet sind bei NW-
Lage 2,7, bei NO-Lage 2,3, bei SO-Lage 2, bei SW-Lage 3,1 und
bei x-Lage 2,1. Gesamtzahl der Angaben 1865, Durchschnitt 2,5.
Um zu sehen, wie in der Schweiz in verschiedenen Zeit-
abschnitten sich diese Verhältnisse gestalten, nahm ich einerseits
die Beobachtungen von 1885—1901, anderseits die von 1902-1917
zusammen. Für die erste Gruppe ergaben sich bei NW-Lage an
77 Tagen 654 Beobachtungen, bei NO-Lage 52 und 402, bei SO-
Lage 57 und 327, bei SW-Lage 37 und 302, bei x-Lage 21 und 131.
Die Durehschnitte sind 8,7; 8; 6; 8,2 und 6,2. Bei der zweiten
Gruppe sind die entsprechenden Zahlen 357 und 1064; 211 und
584; 260 und 725; 102 und 291; 46 und 108; die Durchschnitte
3; 2,8; 2,8; 2,8; 2,4. Für die ganze Schweiz endlich 434 und
1718; 263 und 986; 317 und 1052; 139 und 593; 67 und 239; die
Tagesmittel 4; 3,7; 3,3; 4,3; 3,6. Die Zahl der Angaben beträgt
1816 und 2772, im ganzen 4588. Die Schweiz und Elsaß-Loth-
ringen haben zusammen 6568 Beobachtungen und ihre Mittel sind
3,4; 3,1; 2,9 und 3,7; für die x-Lage 3.
Der besseren Übersicht halber sei noch folgende Darstellung
gewählt und dabei nur Tagesmittel berücksichtigt.
Elsaß-Lothringen Schweiz 1885—1901 Schweiz 1902—1917
|
den 2:8 87 | 3 3 | 2,8
— 2,1 — 62. — — 24
31 1°2 s2 | 6 28 | 28
j | |
1950 Beob. ‚ 1861 Beob. 2772 Beob.
Schweiz 1885—1917 Elsaß-Lothringen u. Schweiz
|
4 an 3,4 | 34
END... —— 3
43.|. 38 37 1239
4588 Beob. 6568 Beob.
Die Durchschnittszahlen finden sich hier jeweilen in ıhre Qua-
dranten hineingesetzt, die der x-Lagen daneben. Mit Ausnahme
der Schweiz 1902—1917 haben wir überall eine gewisse Bevorzugung
der linken Hälfte des Kreuzes und eine noch stärkere des süd-
westlichen Quadranten; also hätten wır den stärksten Zug zu ver-
zeichnen, wenn das barometrische Minimum im SW liegt, etwas
schwächeren, wenn es im NW, und den schwächsten, wenn es ım
SO sich befindet. Aber die Unterschiede sind überall so gering,
312 : K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelszugs von der Witterung.
daß von einem maßgebenden Einfluß der Depressionen keine Rede
sein kann. In Prozenten ausgedrückt hätten wır beim letzten Kreuz
deren 22, 24, 26 und 28, wenn wir sie ansteigend ordnen. Dann
ist beachtenswert, wie mit den höheren Beobachtungszahlen von
Elaß-Lothringen zu der Schweiz und der Summe beider die Unter-
schiede sich verringern, so daß sie wohl bei besserer Beobachtungs-
tätigkeit auch kleiner ausgefallen wären. Doch zeigt sich darin,
daß die SW- und NW-Lage des geringern Luftdruckes mit größeren
Durchschnitten auftritt, Übereinstimmung mit den Ergebnissen aus
Ungarn, so daß die Frage einer weitern Prüfung wohl wert ist.
Nun dürfen aber auch hier diese Zahlen nicht nur so einfach
nuteinander verglichen werden, sonst kann leicht ein falscher Schluß
die Folge sein. Es zeigt sich nämlich, daß namentlich die NW-
Lagen barometrischen Tiefstandes häufig viele Tage nacheinander
bestehen, dann also eine länger andauernde, gleichmäßige und
ruhige Wetterlage die Folge, die selbstverständlich dem Zug
der Vögel günstiger ıst als rasche und große Wechsel. Dieses
Umstandes wegen mag jener Viertelskreis den andern gegenüber
etwas begünstigt erscheinen. Dies trifft weniger zu für den SW-
@Quadranten, so daß hier die Sache etwas anders liegt und gesagt
werden muß, daß bei südwestlichen Tieflagen des Luftdruckes der
Zug lebhafter zu sein scheint als bei allen andern; wenigstens fallen
auf diese die verhältnismäßig größere Zahl von Beobachtungen.
Da nun aber dieser Mehrbetrag bescheiden sich herausstellt, neige
ich doch der Auffassung zu, daß auch die Depressionen bei uns
nicht von großem oder gar entscheidendem Einfluß auf den Vogel-
zug Sind.
Bezüglich des Barometerstandes und des Windes glaube ich
ın den erwähnten Arbeiten den gleichen Nachweis zur Genüge er-
bracht zu haben. In unserm Gebiet also, scheint mir, sind Vogelzug
und Wetterlage zwei Erscheinungen, die im ganzen genommen, nur
nebeneinander hergehen, ohne daß letztere eine irgendwie aus-
schlaggebende Bedingung für jene ıst. Selbstverständlich muß man
hier wie bei den Temperaturverhältnissen die ganze Erscheinung
in ihren großen Zügen auffassen und nicht zu viel Gewicht auf
einzelne Vorkommnisse legen. Ich legte meine Zusammenstellung
über die Lage der Depressionen und den Vogelzug auch Herrn
Dr.Maurer, Direktor der Schweizerischen Meterolog. Zentralanstalt
in Zürich vor, der die Güte hatte, mir über meine Auffassung sein
Gutachten abzugeben. Er pflichtete ıhr vollständig bei und fand, es
sche bei diesem Resultat nicht an, den NW- und SW-Lagen einen
begünstigenden Einfluß gegenüber den andern zuzuschreiben; denn
es spielen da allerlei kleine Umstände mit, die das Ergebnis im
einzelnen zu verändern imstande seien; so seien u. a. schon die
Grundlagen für die synoptischen Wetterkarten nicht in allen Qua-
dranten gleichwertig.
K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung. >13
Es ist oben darauf hingewiesen worden, daß Ungarn höhere
arithmethische Mittel der Temperaturreihen aufweist als die Schweiz.
Anläßlich einer andern Arbeit kam ich dazu, die Einzugsmittel beider
Länder wenigstens für eine Anzahl von Arten miteinander zu ver-
gleichen.
In der Tabelle 8 sind diese für das Elsaß, die Schweiz und
Ungarn nebeneinander gestellt. Die Reihenfolge ist so, wie die
Arten in Ungarn eintreffen. Es ist sogleich ersichtlich, daß das
Elsaß im allgemeinen ein früheres mittleres Eintreffen verzeichnet
als die Schweiz; aber weiter auch, wie die frühen Arten in Ungarn
entschieden später einrücken als in den beiden andern Gebieten,
während die späten Arten dagegen früher sind, der ganze Zug also
dort auf eine etwas kürzere Zeitspanne sich verteilt als hier. Die
Erklärung ergibt sich aus der Vergleichung der mittleren Tempe-
raturen der Zugsmonate der drei Gebiete. Sie betragen im Elsaß
(gestützt auf die 15 Jahre, die oben den Temperaturreihen zugrunde
lagen) im Februar 2,5°, im März 5,8, im April 9,6°; ın Zürich (nach
Hann, Klimatologie 1911) 0,8°, 3,8°, 8,8%, in Budapest (nach den
oben in Rechnung gezogenen 20 Jahrgängen) 0°, 5,2°, 10,4%. Das
Elsaß ist also mit höheren Februar- und Märztemperaturen ver-
treten als Zürich, und beide sind höher als Ungarn, während hier
die Apriltemperaturen höher sind als dort. Der Frühling rückt in
Ungarn später, dafür aber rascher ein als bei uns und diesem Ver-
halten haben sich die Zugvögel angepaßt, wie sie im Elsaß gegen-
über der Schweiz durch früheren Einzug auf die höheren Februar-
temperaturen reagieren. So zeigen sie sich in jedem Land auf die
örtlichen Verhältnisse eingestellt. Der rasche Anstieg der Tem-
peraturen in Ungarn bedingt nun offenbar, daß da die oben in den
Doppelreihen angemerkten Mittel auch höher zu liegen kommen als
ım Elsaß und der Schweiz.
Auch hier darf man wohl in der Vergleichung nicht zu ein-
läßlich werden, weil die Mittel auf verschiedenen Anzahlen von
Beobachtungen und Beobachtern errechnet wurden, weil diese nicht
gleichzeitig tätig waren, weil für das Elsaß und die Schweiz die
arıthmetischen Mittel angegeben sınd, während es sıch vermutlich
bei Ungarn um die historischen Mittel (Aquila Bd. 14, 1907) han-
delt, die aus dem Zugsanfang und -ende gebildet sind.
Mit der vorgetragenen Auffassung, daß die Zugvögel bei ihrem
Eintreffen sich der mittleren Wasserlage jedes Landes angepaßt
haben, stimmt die vielfach bestätigte Beobachtung, daß sie jeweilen
wieder an ihren früheren Standorte zurückkehren.
Für die Richtigkeit der Ansicht, daß die Vögel in ihrem Eın-
zug auf die Zeit, nicht auf gewisse Wärmegrade eingestellt sind,
kann auch noch darauf hingewiesen werden, daß der Kuckuck in
die Schweiz schon bei —6, ın Ungarn erst bei 5° einzieht. Bis
zu diesem Wärmegrad hat die Schweiz schon 49, also 15%, aller
>
314 K. Bretscher, Die Abhängigkeit des Vogelzugs von der Witterung.
Angaben verzeichnet. In Holland zieht die Rauchschwalbe bei 3°
ein, in der Schweiz bei —5°. Bei 3° sind hier schon 35 = 16%
der Beobachtungen festgestellt.
Tabelle 8.
Einzugsmittel.
Art | Elsaß | Schweiz Ungarn
} 4 |
Beldlerchetn. 207.2, 00.3 een 25. 2 | 28. 2 2.3
SEAT er kee ET E 24. 2 4...
Bachstelze As Sa ne ZellenaRı 8.3 19.73
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Endlich ist es eine allgemein und immer wieder sich zeigende
Tatsache, daß bei jeder Art der Einzug zu einer gewissen Zeit be-
ginnt, seine Häufigkeit bis zu einem späteren Zeitpunkt anwächst,
um dann wieder abzuflauen; die Zugskurve ist also schematisch in
ihrem Verlaufe so: ——-, während die Temperatur in dieser Zeit
beständig ansteigt: _. Wenn die Wärme nun der die Erschei-
nung bedingende Faktor wäre, müßte ihre Kurve der der Wärme
entsprechen, die größte Frequenz am Ende der Zugszeit eintreten.
Ein „Wärmetheoretiker“ wird nun schwer haben zu zeigen, warum
die steigende Wärme im ersten Teil der Zugszeit das Eintreffen
der Vögel befördern, im zweiten aber hemmen sollte. Nach meiner
Darstellung aber können die Verhältnisse gar nicht anders liegen,
als es wirklich der Fall ist: die während der Zugszeit am meisten
vertretenen Mitteltemperaturen haben den größten Zug, alle anderen
Wärmegrade zeigen ihn im ungefähren Verhältnis schwächer als
sie weniger vorkommen, weil der Zugvogel für seine Wanderung
auf die Zeit, den Gipfel der obigen Kurve eingestellt und ange-
paßt ist. |
E. Becher, Die fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen eic. 315
Referate.
‘Becher, Erich. Die fremddienliche Zweckmälsigkeit der
Pflanzengallen und die Hypothese eines
überindividuellen Seelischen.
Leipzig 1917, Veit & Co., 148 Seiten.
In der vorliegenden Schrift behandelt der Philosoph E. Becher
ein interessantes Kapitel zweckmäßiger Anpassung ganz besonderer
Art. Die Pflanzengallen sind bekanntlich Wucherungen des Pflanzen-
gewebes, welche durch den Stich, die darauf folgende Eiablage und
Larvenentwicklung gallicoler Insekten (Gallwespen, Gallfliegen,
Pflanzenläuse u. a) hervorgerufen werden. Sie haben in der Neu.
zeit durch Kerner von Marilaun, Ross und Küster zusammen-
fassende Darstellungen gefunden. An der Hand derselben entwirft
der Verfasser ein sehr anschauliches Bild von den zahllosen zweck-
mäßigen Einrichtungen, welche die Gallen bieten, Zweckmäßigkeiten,
welche nicht der dıe Gallen erzeugenden Pflanze zu gute kommen,
sondern dem das Leben der Pflanzen mehr oder minder schädigenden
Parasiten, die daher nicht „artdienlich“, sondern „fremddien-
lich“ sind, zwei Ausdrücke, welche der Verfasser neu in die Li-
teratur einführt und die vortrefflich geeignet sind, das Eigentüm-
liche des durch die Pflanzengallen gegebenen Anpassungsproblems
zu kennzeichnen. Die den Gallen zukommenden, sie vom gewöhn-
lichen Pflanzengewebe unterscheidenden Einrichtungen haben zu-
nächst den Zweck, durch starke Zellwucherung dem Parasiten reiche
Nahrung zu liefern. Die meisten derselben lassen sich verständlich
machen aus der Wechselwirkung des vom Parasiten ausgehenden
spezifischen Reizes und der normalen Reaktionsform pflanzlicher
Gewebe. Immerhin gibt es auch hier mancherlei Besonderheiten,
die dieser Erklärung Schwierigkeiten bereiten. In noch höherem
Maße gilt das letztere von Einrichtungen, die nicht allen Gallen
zukommen und die darın bestehen, daß die Pflanze den Gallen-
inwohnern mannigfache Schutzorgane liefert, wie Dorne, struppige
Umhüllungen, feste Hüllen, chemische Stoffe, welche verhindern,
daß die Gallen und somit auch ihre Inwohner von anderen Tieren
gefressen werden, ferner darin, daß die Pflanze den Parasiten das
Ausschlüpfen erleichtert, indem sie die Gallen mit Pfropfen und
Deckeln versieht, welche abfallen, wenn die Inwohner zum Aus-:
schlüpfen reif sind. Der Verfasser glaubt hier zur Erklärung be-
sondere Gallen bildende Potenzen annehmen zu müssen, welche
die Pflanze in Anpassung an ıhren Parasiten, somit in Anpas-
sung an eine ihr schädliche Lebensbedingung erworben hat. In
ausführlicher Weise erörtert er, daß man derartige fremddienliche
Anpassungen nicht durch die Selektionstheorie erklären könne, die
ja nur artdienliche Anpassungen verständlich mache. Ebenso ver-
sage der Lamarckısmus auch ın seiner neuen psycho-lamarckistischen
Form, selbst wenn man die vielbestrittene Erblichkeit erworbener
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346 E. Becher, Die fremddienliche Zweckmäßigkeit der Pflanzengallen ete.
Eigenschaften annehmen wollte. Vielmehr werde man genötigt
einen über das Individuum hinausgehenden, die Erscheinungen des-
selben aber beeinflussenden, außerhalb der materiellen Welt stehen-
den Wesenskern anzunehmen ähnlich, wie sich Schopenhauer
den einheitlichen Urwillen, Bergson den „elan vital“, v. Hart-
mann das „Unbewußte“, Driesch die Entelechie, Reinke seine
Dominanten vorstelle. In diesem Sinn spricht Becher von einem
„überindividuellen Seelischen“; er faßt dasselbe als einen „höchst
intelligenten Weltgrund“ auf; als solcher nehme er an den Erfah-
rungen aller Einzelwesen Teil. Er rage mit seinen Verzweigungen
in dieselben ein und bedinge die Zweckmäßigkeit ihrer Erschei-
nungsweise, welche daher nicht notgedrungen individualistisch sein
müsse, sondern auch altruistisch wie ın den uns vorliegenden
Fällen sein könne. Daraus „daß die seelischen Faktoren im Einzel-
wesen sehr beschränkt sind, nur einen winzigen Teil des überindi-
viduellen Seelenwesens ausmachen“, sucht Becher die Unvoll-
kommenheiten der organischen Zweckmäßigkeit zu erklären, welche
geradezu zu dysteleologischen Einrichtungen führen können. Er
ıst freilich nicht darüber ım Zweifel, daß viele Biologen Ge-
danken, wie er sie ausgesprochen habe, als metaphysische Ver-
irrungen weit von sich weisen werden. Er hofft aber, daß es ihnen
gehen möge, wie der Atomistik, welche ebenfalls Jahrzehnte lang
als metaphysisch in Mißkredit gebracht worden sei, in der Neuzeit
aber zahlreiche und glänzende Erfolge davon getragen habe, wenn
er auch zugibt, daß der vorgeschlagene Erklärungsversuch ein ge-
wagter sei. Biologen werden das vortrefflich und klar geschriebene
Scehriftehen mit Genuß lesen, wenn sie auch den Optimismus des
Verfassers nicht teilen. R. Hertwig.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel udn Di, Ro Hertwis
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Yale von Georg Thieme in er
38. Band August 1918 anna
ausgesehen am 31. zent
Der “jährliche onen, (12 Hefte). beapı, 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inkatt: E. Wasmann, Zur else a Fortpflanzung von Ben ee Verr.
(Diptera, Phoridae). S. 317.
P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. S. 329.
J. S. Szymanski, Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser gegenüber. $. 340.
R. Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen. S$. 345.
A. Forel, Zur Abwehr. S. 355.
Zur Lebensweise und Fortpflanzung von Pseudacteon
formicarum Verr. (Diptera, Phoridae).
(230. Beitrag zur Kenntnis der Myrmecophilen.)
(Mit 1 photographischen Tafel.)
Von E. Wasmann S.J. Valkenburg.
1. Bisherige Berichte.
In seinem klassischen Büchlein „Ameisen, Bienen und Wespen“,
das 1883 in deutscher Übersetzung erschien, sagt Lubbock!) (S. 22):
„Rührt man zur Sommerzeit ein Nest dr braunen Ameise (Lasius
niger !) auf, so sieht man meist einige kleine Fliegen über dem Neste
schweben und von Zeit zu Zeit auf eine einzelne Ameise nieder-
stoßen. Diese Fliegen gehören zur Gattung Phora und zu einer
1) Siehe das Literaturverzeichnis am Schlusse meiner Arbeit. In der 16. eng-
lischen Ausgabe von „Ants, bees and wasps“ (London 1904) befindet sich die oben
zitierte Stelle S. 26.
38. Band 23
ET ZANDER RENNEN
. ' an in
3148 E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum.
noch unbekannten Art, die Mr. Verrall so gütig war, für mich zu
beschreiben (vgl. den Anhang S. 370). Sie legen ihre Eier in die
Ameisen, in deren Innern dann die Larven leben.“ Lange Zeit
blieb dies die einzige Kunde über die Biologie von Phora formi-
carum Verr. 1904 kam J. E.Collıin wiederum auf die Beobach-
tungen Lubbock’s zurück und zeigte in der Sitzung der Entomo-
logical Society of London einige Exemplare der kleinen Fliege vor,
die er jedoch nicht als Parasiten bei Lasius niger gefangen hatte,
sondern mit dem Streifnetz ım Grase. Er fügte auch bei, daß diese
Art auf dem Kontinent noch nicht gefunden sei. 1908 berichtete
J.H. Wood abermals über Phora formicarum ın England, aber
nicht auf Grund eigener Beobachtungen. Er bezog sich auf Lub-
bock’'sund Gollin’s Funde und bemerkte, daß Lubbock’s Original-
exemplare wahrscheinlich verloren gegangen seien. Die älteste Kunde
über diese parasitische Fliege stammt übrigens, wie Collin mitteilt,
bereits von J.O.Westwood, der 1840 ım II. Bande seiner „In-
troduction to the modern Ülassıfication of Insects“ sagt, er habe
oftmals bei Störung der Nester der gemeinen braunen Garten-.
ameise eine sehr kleine Pkora-Art bemerkt, welche über den Ameisen
rüttelte und auf sie herabflog.
Eine Reihe von Beobachtungen über Phora formicarum in Eng-
land gab H. Donisthorpe (1909—1914), der sie nicht nur bei
Lasius niger, sondern auch bei Lasius flavus, umbratus und ful-
ginosus, bei Formica sanguinea, Tapinoma erraticum und Myrmica
lobicornis sah und auch einige interessante Schilderungen des Be-
nehmens der Fliege gegenüber den Ameisen bietet, die den Be-
richt Lubbock’s in mancher Beziehung ergänzen. So schreibt er
z B. (1909, b): „Ihave at last succeeded in taking this little species.
I found it rather commonly at Bewdly Forest, in July, wıth Lasius
niger, L. flavus and Formica sanguinea. The little fly hovers over
the ants, fliying very steadily, and getting nearer and nearer to an
ant, which it strikes at. I found they would strike on ants on
my hands, when I kept quite still. It was amusing to watch an
ant which had become aware of the presence of the fly, make a
dash for safety pursued by the fly.“ Aus meinen eigenen Beobach-
tungen wird diese Schilderung noch zu vervollstängen sein.
Die Angabe britischer Entomologen, daß Phora formicarum
auf dem Kontinent fehle, ist allerdings nicht zutreffend. Der erste,
der sie von hier aufführt, scheint, wie P. Schmitz mir mitteilt, der
österreichische Dipterologe P. Gabriel Strobl O.S.B. gewesen
zu sein in seinen „Dipteren von Steiermark“ (S. 125). Aber schon
viel früher, im August 1897, hatte P. R. Handmann S8.J. ein
Exemplar bei ZLasius niger zu Travnik (Bosnien) gefangen und mir
übersandt; bestimmt wurde es allerdings erst später durch meinen
dipterologischen Kollegen und Phoridenspezialisten P. Hermann
E. Wasmann,‘Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum. 319
Schmitz S.J., als er die Dipteren meiner Myrmecophilensammlung
durcharbeitete. Die Art muß nach ıhm zur Gattung Pseudacteon
gestellt werden, welche Coquillet 1907 errichtete. Die Synonymie
ist folgende:
Pseudacteon formicarum Verrall.
(Phora formicarum Verr. 1877 et autorum.)
(Plastophora formicarum Brues 1906.)
(Plastophora formicarum H. Schmitz 1914.)
2. Eigene Beobachtungen über die Lebensweise.
Ich will nun über meine eigenen Wahrnehmungen an Pseud-
acteon formicarum (Taf. Fig. 1) hier ım Süden von Holländisch
Limburg berichten. Es ist verwunderlich, daß diese Fliege nicht
früher gefunden wurde, da sie hier — und sicherlich auch im be-
nachbarten Rheinland — ungemein häufig ist von Anfang Juni bis
Mitte August. Man kann sie in einer Stunde zu vielen Dutzenden
an einem einzigen Neste von Lasius niger L. fangen. Wahrschein-
lich entging sie wegen ihrer Kleinheit (1,17—1,4 mm) und Flüchtig-
keit so lange der Aufmerksamkeit der Dipterologen wıe der Myrme-
. cologen.
Ich hatte in unserem Garten des Kollegs von Valkenburg am
8. Juni 1917 neben einem Neste von Lasius niger ein weißes Tuch
ausgebreitet und legte auf dasselbe die Steine, die auf dem Neste
waren, um Homoeusa und andere Gäste jener Ameise darunter zu
fangen. Als nun die Arbeiterinnen in großer Zahl auf dem Tuche
umherliefen, sah ich plötzlich eine punktförmig kleine Fliege über
ihnen schweben, und zwar bald über dieser, bald über jener Ameise
nach Falkenart rüttelnd, um dann plötzlich auf sie herabzustoßen
und sich für einen Augenblick auf ıhren Hinterleib zu setzen, worauf
sie dann eilig wieder davonflog. Bald sah ich mehrere der Fliegen
über den Ameisen erscheinen und sie emsig verfolgen. Ihr Be-
nehmen glich sehr demjenigen der parasitischen Braconiden der Gat-
tung Elasmosoma bei Formica. Das von mir 1909?) beschriebene
Verhalten von Elasmosoma luxemburgense gegenüber Formica rufi-
barbis sowie der Ameisen dieser Wespe gegenüber stimmt fast
vollkommen überein mit jenem der winzigen Phoride gegenüber
Lasius niger sowie der Ameisen ihr gegenüber. Ich glaubte deshalb
im ersten Augenblick eine kleine Braconide gefangen zu haben, bis
ich sie unter der Lupe sofort als Phoride erkannte und zwar als
Phora formicarum Verr.; die Bestimmung wurde durch P. Schmitz
bestätigt.
Vom 8. Juni an beobachtete und fing ich die Fliege fast täg-
lich (mit Ausnahme von Regentagen) an diesem und mehreren
2) Die psychischen Fähigkeiten der Ameisen. 2. Aufl. (Nr. 164), S. 168
(Zoologica, Heft 26).
ä
23.“
320 E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum.
anderen Nestern von Lasius niger ın unserem Garten und zwar in
immer größerer Anzahl bis Anfang August. Von Mitte August
an wurde sie weniger häufig; Ende August zeigten sich nur noch
wenige Exemplare, und auch diese schwebten meist nicht mehr
über den Ameisen, obwohl es 99 waren, sondern saßen auf Gras-
halmen beim Neste in der Mittagssonne. Aber noch am 4., 7.
und 9. September beobachtete ich an einem der Nester mehrere
Exemplare, und zwar über den Ameisen schwebend und auf sie
herabstoßend (am 4. IX.: 3, am 7.IX.: 4, am 9.IX;: 1), aber sie
verfolgten die Ameisen weit weniger eifrig als früher. Am zahl-
reichsten zeigten sie sich an vollkommen wındstillen, feuchtwarmen
Tagen mit teilweise bedecktem Himmel. Am 20. Juli 1917 z. B.
waren bei einem der Nester viele gleichzeitig über den Ameisen
rüttelnd, und wenn ich eine abfing, erschienen sofort mehrere neue.
Während einer Viertelstunde beobachtete ich an einem Neste
50—60 Exemplare und fing davon 25. Die Fangmethode ist sehr
einfach. Man stülpt, während die Phoride über einer Ameise
rüttelt, rasch ein kleines Fanggläschen, auf dessen Boden mit Äther
getränkte Watte sich befindet, über beide Tiere. Dann kann man
nach einigen Sekunden beide von dem weißen Tuche, wo man sie
leicht sieht, mit einer Pinselspitze aufnehmen und in Alkohol setzen.
Über den geflügelten Männchen und Weibchen von Lasius
niger, wenn solche ebenfalls auf dem Tuche umherliefen, sah ich
die Fliege niemals rütteln oder wenigstens nie auf eines dieser
Individuen herabstoßen, sondern nur auf die Arbeiterinnen. Diese
fliehen, sobald sie die Fliege über sich bemerken, ängstlich weiter
oder halten plötzlich im Laufe ınne, um sich zur zu Wehr setzen,
wıe ıch unten beschreiben werde.
An erster Stelle wird Pseudacteon bei der Jagd auf die Ameisen
vom Geruchssinn geleitet, erst in nächster Nähe vom Ge-
sichtssinn. Daß die Fliegen in so großer Zahl über dem weißen
Tuche sich einstellten, auf dem die Ameisen umherliefen, und zwar
gewöhnlich erst mehrere Minuten, nachdem ich die Ameisen auf,
das Tuch geschüttet hatte, ıst ohne Zweifel nicht ihrem Gesichts-
sinn, sondern ihrem Geruchssinn zuzuschreiben. Sıe flogen und
rüttelten nicht selten auch über solchen Stellen des Tuches, wo
augenblicklich gar keine Ameisen sich befanden, aber kurz vorher
darübergelaufen waren. Sie flogen und rüttelten auch über meinen
Händen, die stark nach der Ameisensäure von L. niger rochen,
wenn auch eben keine Ameisen mehr auf den Händen waren; ebenso
schwebten sie auch über meinen Ärmeln und über der Vorderseite
des Rockes, während ich vor dem Neste kniete, unahhängig davon,
ob gerade Ameisen dort liefen ‚oder sich festgebissen hatten oder
nicht. Ja sogar nachdem ich das Nest bereits verlassen hatte, be-
gleiteten mich meist noch einige der Phoriden, fortwährend über
EEREÄGEET! x ” z fe }
E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum. 321
den Rockärmeln oder der Brustseite des Rockes schwebend, weil
dieselben noch stark nach den Ameisen rochen.
Obwohl nun Pseudacteon hauptsächlich und aus der Ferne durch
den Geruchssinn ihre Beute, Lasius niger, wittert, tritt doch ın
nächster Nähe auch eine Beteiligung des Gesichtssinnes ihrer
sehr großen, die ganzen Kopfseiten einnehmenden Netzaugen klar
zutage. Dies konnte ich mit Sicherheit bei meinen Beobachtungen
feststellen. Wenn die kleine Fliege über dem Tuche umherflog,
machte sie oft plötzlich über einer Arbeiterin halt, die in einer
Entfernung von 2—3 cm unter ıhr herlief. Nachdem sie eine Se-
kunde lang ın schwebender (rüttelnder) Stellung verharrt, folgte sıe
blitzschnell der davonlaufenden Ameise, um auf sie herabzustoßen;
oft wurde eine bestimmte Arbeiterin mehrere Sekunden lang auf
diese Weise von einer Fliege verfolgt, die stets von hinten ihr
beizukommen suchte; wenn die Ameise eine Wendung machte,
drehte sich auch die Phoride in der Luft um, so daß sie wieder
über dem Hinterleib der Ameise sich befand und’zwar in der-
selben Richtung wie diese, den Kopf nach vorne gewandt; plötz-
lıch stieß sie dann auf den Hinterleib der Ameise nieder, blieb eine
oder höchstens zwei bis drei Sekunden auf demselben sitzen und
flog davon, um ihre Jagd bei einer anderen Arbeiterin fortzusetzen.
Auf eine tote oder verwundete Arbeiterin, die sich nicht mehr
normal bewegen konnte, sah ich die Fliege niemals sich setzen,
obwohl es ihr hier viel leichter gewesen wäre. Sie schwebte einen
Augenblick über ıhr, näherte sich ıhr dabei auch manchmal bis zur
Berührung, ließ sich aber nicht auf sie nieder, sondern flog weiter.
Daß die Phoride ihre Beute sieht und durch den Gesichtssinn
beim Angriffe geleitet wird, ist mir nach diesen Beobachtungen
zweifellos.
Aber auch die Ameise sieht ihre Verfolgerin trotz deren Klein-
heit, jedoch nur aus nächster Nähe, in einer Entfernung von 1 bis
2cm. Dies gelıt aus den Flucht- und Abwehrbewegungen der
Ameise unzweideutig hervor. Meist sucht die Arbeiterin, über der
die Phoride rüttelnd schwebt, eiligen Laufes zu entkommen, und
zwar oft mit einer plötzlichen Wendung ihrer bisherigen Bewegungs-
richtung. Wenn die Fliege ihr jedoch hartnäckig folgt, so hält sie
manchmal plötziich im Laufe inne und setzt sich zur Wehr. Un-
beweglich, mit hocherbobenem Kopfe und emporgestreckten Fühlern
öffnet sie dann ihre Kiefer, um nach der Fliege, die über ihr schwebt,
zu schnappen; der Hinterleib der Ameise bleibt dabei fest auf den
Boden angedrückt, nur der Vorderkörper wird erhoben. Natürlich
gelingt es der Ameise nie, ihren Feind mit den Kiefern zu packen,
zumal er sich über ihrem Hinterleibe hält; aber die Fliege läßt
sich durch jene drohende Abwehrstellung doch oft verscheuchen
und sucht sich ein anderes Opfer,
3939 E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum.
Was in den paar Sekunden, während welcher eine dieser para-
sitischen Fliegen sich auf dem Hinterleib einer Arbeiterin von
Lasius niger erfolgreich niedergelassen hat, vor sich geht, kann
man natürlich unter der Lupe nicht beobachten, da unterdessen die
Fliege schon abgeflogen ist; eine doppelte Brille, die ich aufgesetzt
hatte, gab nicht genügende Vergrößerung. Da die Fliege sich je-
doch stets mitten auf den Hinterleib der Ameise, den Kopf nach
vorne gewendet, setzte, ist nach diesen Beobachtungen in freier
Natur anzunehmen, daß sie. blitzschnell mit ihrer Legeröhre eines
oder mehrere Eier zwischen den ersten und zweiten oder den zweiten
und dritten freien dorsalen Hinterleibsring der Ameise einschiebt.
Dies bleibt allerdings für den Beobachter nur Vermutung. Daß
jedoch Pseudacteon nicht nach Art der Raupenfliegen (Tachinen)
ihr Ei bloß äußerlich an die Haut des Wirtes heftet, geht schon
aus der stets vorragenden, bogenförmig nach unten gekrümmten,
sehr fein zugespitzten Legeröhre dieser Phoride hervor (siehe Taf.
Fig. 1 u. 2). Auch konnte ich niemals an einer Arbeiterin von
Lasius niger ein äußerlich angeheftetes Ei unter dem Mikroskope
finden.
3, Über die Wirte von Pseudacteon.
Da Donisthorpe (1909 —1914) angibt, die Phora formicarım
nicht bloß bei Lasius niger, sondern auch bei Lasius flavus, um-
bratus und fuliginosus, ja auch bei Formeica sanguinea, Tapinoma
erraticum und Myrmica lobicornis, also bei Arten aus drei verschie-
denen Unterfamilien der Formiciden gesehen zu haben, könnte es
scheinen, als ob diese Phoride unterschiedslos eine große Zahl
verschiedener Ameisenarten heimsuche. Nach meinen Beobach-
tungen muß ich ‚dies jedoch bezweifeln, und nur Lasius niger als
ihren normalen Wirt ansehen. -
Weil L. niger ungemein häufig ist und fast überall seine
Nester hat, sehr oft auch in der Nähe von Nestern anderer Ameisen-
arten, ist ja von vorneherein zu erwarten, daß jene so häufige
Phoride, die sich außerhalb der Ameisennester aufhält und nur
ihre Entwicklung in den Arbeiterinnen durchmacht, in der Nähe
der Nester verschiedener Ameisen sich zeigen werde, auch
wenn sie zu diesen keine normalen Beziehungen hat. Donis-
thorpe gibt leider nicht an, in welcher relativen Individuenzahl
ihm Pseudacteon bei den von ıhm genannten Ameisenarten be-
gegnete, und doch erscheint gerade dies von entscheidender Be-
deutung. Um Klarheit über diese Frage zu erlangen, wählte ich
im Juli 1917 einige Lasius flavus-Nester aus, die auf demselben
Gebiete in unserem Garten lagen, aber 10 bezw. 15 m von den
obenerwähnten Lasius niger-Nestern entfernt. Zwei andere Nester
von Läsius niger lagen nur 4 bezw. 7m von den beiden flavus-
2,2
E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum. 323
Nestern ab; diese beiden »iger-Nester hatte ich wegen ihrer größeren
Nähe bei den flavus-Nestern absichtlich ungestört gelassen. Bei
der folgenden Untersuchung ist zu berücksichtigen, daß Lasius flavus
sehr nahe verwandt ist mit Lasius niger, und daß daher der spe-
zıfische Geruch dieser Ameise für die Phoride ähnlich sein muß
mit demjenigen von Lusius niger.. Ferner ist zu bemerken, daß die
ausgewählten flavus-Nester sehr volkreich waren, noch bedeutend:
volkreicher als die nöger-Nester, an denen Pseudacteon so massen
haft zu beobachten war. In der Annahme, daß Pseudacteon formi-
carum für Lasius niger und flavus dieselbe Vorliebe hat, mußte
daher bei meiner Untersuchung der flavus-Nester, die an denselben
Tagen angestellt wurde wie jene der niger-Nester, eine relativ eben-
sogroße oder noch größere Zahl der Phoride sich zeigen. Aber das
Gegenteil war der Fall. Über dem weißen Tuche, auf dem viele
Hunderte der gelben Ameisen umherliefen, erschienen während
einer Viertelstunde bei dem einen flavus-Neste nur 3, bei dem an-
deren 5 Exemplare der Phoride — gegen 30 bezw. 50 bei den be-
treffenden niger-Nestern. Auch zeigten die Phoriden eine viel ge-
ringere Angriffslust gegenüber den Lasius flavus als gegenüber den
Lasius niger. Von den drei, die ich bei dem einen flavus-Neste
sah, versuchte nur eine, auf eine Arbeiterin herabzustoßen, von den
fünf beim anderen Neste keine; sie flogen vielmehr oberflächlich
über den Ameisen umher, ohne zu finden, was sie suchten. Das
Bild der ungestümen Jagd des kleinen Parasiten auf die Ameisen,
das bei Lasius niger zu sehen war, fehlte hier fast ganz. Daher
betrachte ich bis auf weiteres nur Zasius niger als normalen Wirt
von Pseudacteon formicarum.
Bei Lasius fuliginosus konnte ich Pseudacteon überhaupt nie-
mals zu Gesicht bekommen, obwohl ich 1917 und 1918 vier, an ver-
schiedenen Stellen der Umgegend von Valkenburg gelegene, sehr
volkreiche Nester dieser Ameise häufig besuchte und stundenlang
beim Durchsieben der Erde des Nestes auf einem weißen Tuche die auf
demselben umherlaufenden Ameisen beobachtete, während ich die
Gäste fing; keine über den Arbeiterinnen schwebende kleine
Phoride erschien. Nester von Lasius niger befanden sich nicht in
der Nähe, und deshalb zeigten sich wohl bei Lasius fuliginosus
hier keine dieser Phoriden. Nach meinen Beobachtungen kommt
Lastus fuliginosus als Wirt von Pseudacteon formicarum jedenfalls
nicht ın Betracht, wenigstens nicht in hiesiger Gegend.
Wenn schon die anderen Zasius-Arten, die doch mit Lasius
niger näher verwandt sind, nicht zu den normalen Wirten dieses
Pseudacteon gehören, so gilt dies in noch höherem Grade von For-
mica, Tapinoma und Myrmica. Bezüglich unserer Formica-Arten,
die bedeutend größer sind als Zasius niger, möchte ich noch folgen-
des bemerken. Wenn die Phoride mittelst ihrer gekrümmten,
324 E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum.
spitzen Legeröhre ihre Eier zwischen die dorsalen Hinterleibsringe
der Ameise schiebt, muß offenbar ein bestimmtes Verhältnis zwischen
der Länge dieser Legeröhre und der Größe der Ameise bestehen,
und dieses Verhältnis muß ZLasius niger angepaßt sein, da die Ar-
beiterinnen dieser Art die normalen Wirte von Pseudarteon formı-
caruım sind. Es ist daher von vorneherein unwahrscheinlich, daß
dieselbe Phoride auch Ameisen von mehr als doppelter Körper-
größe des Lasius niger, wie Formica sanguinea, zu Wirten hat, da
ihre Legeröhre zu kurz ist, um die Eier zwischen den überein-
andergreifenden Segmenträndern bis ın die Unterhautgewebe der
Ameise zu schieben. Als normaler Parasit von Formica sanguinea
oder rufa könnte meines Erachtens nur ein Pseudacteon von min-
destens der doppelten Körpergröße des formicarum Verr. ın Frage
kommen. Bisher ist keine derartige Pseudacteon-Art in der euro-
päischen Fauna bekannt. Am 7. August 1917 beobachtete ich aller-
dings bei einem Neste von Lasius niger zwischen den kleinen
Pseudacteon formicarum plötzlich ein doppelt so großes Exemplar,
das genau dieselbe Flugweise hatte, aber leider wieder verschwand,
bevor ich es fangen konnte. Da in einer Entfernung von ungefähr
SO m von diesen Lasius niger-Nestern ein rufa-Haufen sich befindet,
nahm ich an, dieses vereinzelte große Pseudacteon könnte zufällig
von dort herübergekommen sein. Aber all mein Suchen war bis-
her vergeblich, obwohl ich im Sommer 1917 und im Frühjahr 1918
sowohl die in jenes rıfa-Nest mündenden Ameisenstraßen, auf denen
die beladen heimkehrenden Arbeiterinnen ein günstiges Angriffs-
objekt für die Phoride boten, als auch’ die Oberfläche des Haufens
und die neben demselben auf ein weißes Tuch gesiebten Ameisen
sorgfältig beobachtete.
P. Hermann Schmitz teilt mir mit, daß auch Plastophora
solenopsidis und Wasmanni H. Schmitz, die er 1914 (S. 528ff.) aus
meiner Myrmecophilensammlung beschrieb, zur Gattung Pseudacteon
Coq. zu stellen sind. Sie leben parasitisch bei Solenopsis geminata
F. subsp. saevissima Sm. in Südbrasilien. Aus den Beobachtungen,
welche P. Ambros Schupp S.J. am 5. Juni 1892 aus Porto Alegre
(Rio Gr. d. Sul) mir brieflich mitteilte, geht hervor, daß Pseudacteon
Wasmanni in Ähnlicher Weise auf Solenopsis saevissima Jagd macht
wie unser Ps. formicarum auf Lasius niger. Die Phoride flog zahl-
reich über einem Zuge jener Solenopsis, welcher bei Estrella mit
Beute (wahrscheinlich Stücken getöteter Insekten) beladen einher-
marschierte. Sie umschwirrte dabei jedoch nur die bepackt daher-
kommenden Ameisen, die unbepackten ließ sie alsbald in Ruhe. Die
Ameisen zeigten sich durch die Annäherung der Fliege in hohem |
Grade beunruhigt, liefen eilig davon oder bogen auch seitwärts von
ihrer Straße ab, um den kleinen Verfolgern zu entgehen; einige
versuchten auch, die Fliege durch Abwehrbewegungen des Hinter-
E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum. 325
leibes zu verscheuchen. Ob es die Phoride dabei auf die Beute-
stücke der Ameisen abgesehen hatte — wie P. Schupp vermutete
— oder auf die Ameisen selber, da die bepackten Individuen ıhr
weniger leicht entgehen konnten, bleibt noch dahingestellt.
Es sei noch bemerkt, daß auf dem weissen Tuche, das ıch
zum Fang von Pseudacteon formicarum neben den erwähnten Lasius
niger-Nestern ausbreitete, im Juli und August 1917 auch eine
große Zahl von Weibchen einer kleinen, sehr zart gebauten Sciarine
angeflogen kam und von mir in Menge gefangen wurde. Diese
Sciarine setzte sich jedoch nur auf das mit den Ameisen bedeckte
Tuch, ohne über denselben zu schweben oder auf sıe herabzustoßen,
wie Pseudacteon es tut, hat also eine von letzterem abweichende
Lebensweise. Wie mein Kollege P. Herm. Schmitz, dem ich sie
übersandte, mir mitteilt, handelt es sich um eine neue Gattung und
Art der Sciarinen, die er als Hyperlasion Wasmanni soeben be-
schrieben hat (Tijdschr. v. Entomol. 1918). Die Gattung hat in
beiden Geschlechtern nur eingliedrige Palpen (P. Schmitz).
4. Zur Morphologie von Pseudacteon.
(Hierzu die Tafel S. 326).
Es ıst nicht meine Absicht, die Morphologie dieser parasitischen
Phoride hier eingehend zu behandeln. Es sollen nur, auf Grund
der Präparate und Schnittserien, einige Punkte erwähnt werden,
die für das Verständnis ihrer Lebensweise und Fortpflanzung von
Bedeutung sind.
Die Körperform und Flügeladerung zeigt Fig. 1 (22:1) an
einem ungefärbten, frisch gefangenen Exemplar (Individ. Nr. 2). Das-
selbe maß, einschließlich der Legeröhre, 1,55 mm; andere 99 maßen
1,17— 1,4 (mit Objektmikrom. gemessen). In Fig. 1 fällt der stark
verdickte, kugelförmig geschwollene Hinterleib des reifen 9 sofort
auf. Die Gestalt der sehr spitzen, gekrümmten, stets mehr oder
weniger weit vorragenden Legeröhre zeigt Fig. 2 (100: 1, Canada-
balsampräparat, Eosinfärbung).
Bei Färbung eines 0 in toto mit Haemalaun oder Eosin sieht man
im Hinterleib drei große kugelförmige Gebilde durchscheinen, die wie
riesige Eier aussehen; vgl. Fıg. 3 (70: 1, Eosinfärbung, Canadabalsam-
präparat, Seitenansicht). Die auf der Photographie mit den Ziffern 1 u. 2
bezeichneten Kugeln sind die reifen Ovarıen, die ursprünglich
nebeneinander in einer Horizontalebene liegen, bei stärkerer
Schwellung aber oft fast übereinander zu liegen kommen; hierauf
beruht es, daß bei den reifen 99 mehr die Höhe als die Breite
des Hinterleibes auffällt, indem die Ventralseite sich stark halb-
kugelförmig vorwölbt. Das mit Ziffer 3 in Fig. 3 bezeichnete dritte
kugelförmige Gebilde ist die Basalkapsel der Legeröhre. Die
396 E. Wasmann,
Die nähere Erklärung siehe S. 328.
E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum. 327
sehr feine und dichte ringförmige Streifung dieser Kapsel zeigt sich
schon in Fig. 2.
Präpariert man die Eierstöcke aus dem Hinterleib heraus, so
erhält man das Bild der Fig. 4 (105:1, Eosinfärbung), das die
beiden Ovarien mit dem Uterus zeigt (Individuum Nr. 7). Der
Querdurchmesser jedes Ovarıums ın Fig. 4 betrug 210—216 u (mit
Ocularmierom. gemessen). Die feine Langsninzching der Ovarien
deutet den Verlauf der zahlreichen Hiröhren an, die wegen der
Dicke des äußeren Follikelepithels nur in Zupf- oder Schnittprä-
paraten einzeln sichtbar werden und untereinander durch Follikel-
epithel verbunden sind (vgl. die Fig.°)?).
Ein aus einem Zupfpräparate isoliertes reifes Ei zeigt Fig. 5
(700:1, Zeiß Apoch. 2,0, Haemalaunfärbung). Die Gestalt desselben
ist stumpfsichelförmig und etwas plattgedrückt, an einen Ookineten
von Plasmodium erinnernd; die Länge desselben beträgt (mit Ocu-
larmierom. gemessen) 64,8 u, die Breite 16,9 u.
Einen medianen Querschnitt durch ein Ovarıum eines 9
(Individ. Nr. 16) zeigt Fig. 6 (300:1, Haemalaun-Eosinfärbung).
Die Zahl der Eiröhren beträgt in demselben circa 25, auf den Quer-
schnitten eines Ovarıums von Individ. Nr. 15 dagegen 35. In den
meisten Eischnitten zeigt sich nur feinkörniges.Dottermaterial; in
einigen derselben sind jedoch Follikel getroffen, in denen eine
Differenzierung zwischen Ei- und Nährzellen stattfindet (meroisti-
scher Typus).
Die eigentümliche Basalkapsel der Legeröhre (Fig. 2, 7, 8)
scheint eine besondere Bedeutung für das Fortpflanzungsgeschäft
zu haben. Da diese parasitische Phoride nach den Beobachtungen
in freier Natur nur für eine oder zwei bis drei Sekunden auf den
Hinterleib einer Arbeiterin von Lasius niger sich niederläßt, müssen
während dieser Zeit durch die Legeröhre, die zwischen die Ränder
der ersten Dorsalsegmente der Ameise eingeschoben wird (s. oben
S. 322), äußerst rasch und kräftig einige Eier dem Wirtstiere gleich-
sam eingespritzt werden. Hiermit hängt wohl der Bau der Basal-
kapsel der Legeröhre zusammen. In ihrem oberen (proximalen)
Teil zeigt sie eine ringförmige, äusserst feine Streifung (Fig. 2). Einen
Längsschnitt durch diese Region gibt Fig. 7 wieder (250:1, Eosin-
färbung) ; hier sind keine quergestreiften Muskeln sichtbar, soudern
nur ein dichtes, ringförmig verlaufendes System von äußerst dünnen
eosinophilen Chitinspangen des Kapselgerüstes. Im unteren (di-
stalen) Teile dagegen, welcher den Eingang zur Legeröhre um-
3) Ovarien von ähnlicher Kugelform, aber von anderer Struktur, hat Leon
Dufour 1850 (Recherch. anatomiques sur les Dipteres Taf. VI, Fig. 64) für Bom-
bylius abgebildet. P. Herm. Schmitz teilt mir mit, daß kugelförmige Ovarien
bei Phoriden ihm unbekannt seien,
TE u * De nbR
328 E. Wasmann, Zur Lebensweise u. Fortpflanzung v. Pseudacteon formicarum.
schließt, sind, wie Fig. 8 zeigt, sehr mächtige Bündel quergestreifter
Muskeln gelagert, welche eine kräftige Zusammenziehung der Basis
der Legeröhre und dadurch ein Durchpressen der Eier durch diese
ermöglichen. Im Lumen der Legeröhre oberhalb dieser Stelle zeigt
sich auf den Schnitten derselben Serie eine Gruppe von zwei reifen
Eiern. Es gelang mir allerdings bisher nicht, auf Schnitten des
Hinterleibes einer Arbeiterin von Lasius niger, auf den ein Pseud-
acteon herabgestoßen war, solche Eier mikroskopisch nachzuweisen ;
aber es ist eben fraglich, ob die Phoride auf diesem Individuum
tatsächlich zur Eiablage gelangt war. Da sie auf die Mittellinie
des Hinterleibes ihres Opfers sich zu setzen pflegt, vermute ich,
daß die Eier in das Vas dorsale eingespritzt und von dort durch
die Blutflüssigkeit im Körper verbreitet werden. Hoffentlich ge-
lingt es weiteren Forschungen, darüber Klarheit zu bringen. Wenn
diese Auffassung sich bestätigt, so würde die Ähnlichkeit der äußeren
Form der Eier von Pseudacteon (Fig. 5) mit den Ookineten von
Hämosporidien auch ihr physiologisches Seitenstück erhalten.
Verzeichnis der Figuren.
Fig. 1. Pseudacteon formicarum Verr. 2 (22:1) (Aufnahme in feuchter Kammer,
Leitz, Microsummar 24 mm).
Fig. 2. Legeröhre (100:1) (Eosinfärbung, Canadabalsam, Zeiß D, Projectionsoc. 2*).
Fig 3. Seitenansicht des Hinterleibes (70 : 1) (Eosinfärbung, Canadabalsam, Zeiß AA,
Uompensatoc. 4). (Erklärung der Ziffern: 1 und 2 Ovarien, 3 Basalkapsel
der Legeröhre.)
Fig. 4. Eierstöcke und Uterus, herauspräpariert (105:1) Eosinfärbung, Canada-
balsam, Zeiß D, Projeetionsocul. 2*).
Fig. 5. Reifes Ei, herauspräpariert (700:1) (Haemalaunfärbung, Canadabalsam,
Zeiß homog. Immers., Apochrom 2,0, Compensationsoec. 4).
Fig. 6. Medianer Querschnitt durch ein Ovarium (300 :1) (Haemalaun-Eosinfärbung,
Canadabalsam, D, Ocul. 3).
Fig. 7. Schräger Längsschnitt durch den oberen Teil der Basalkapsel der Lege-
röhre (250 : 1) (Eosinfärbung, Canadabalsam, Zeiß D, Ocul. 3).
Fig. 8. Schräger Längsschnitt durch den unteren Teil derselben Basalkapsel (250: 1)
(wie Fig. 7)
Literatur®).
Collin, J.E. 1904. On Phora formicarum Verr. (Proceed. Entomol. Soc. London
pt.» 1, p. XXI):
Donisthorpe, H. 1909, a) Formica sanguinea at Bewdley, with an account of a
slave-raid, and description of two Gynandromorphs ete. (Zoologist, Dec.
1909, p. 463—466) (Phora formicarum p. 466).
1909. b) Myrmecophilous notes for 1909 (Entomologists Record, XXI,
Nr. 10 u. 11, XXII. Nr. 1). (Die Beobachtungen über Phora formicarum
S. 5 des Separatums.)
4) Nur die bionomische Literatur wird hier erwähnt; die systematische siehe
bei H. Schmitz 1913 und 1914. Auf einige dieser Literaturangaben wurde ich
durch letzteren aufmerksam gemacht, wofür ich ihm meinen Dank ausspreche,
Be &
| _P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. 329
1912, Myrmecophilous notes for 1911 (Entomologists Record, XXIV, Nr. 1—2)
(Phora formicarum p. 36).
1914. Myrmecophilous notes for 1913 (Entomologists Record, XXVI, Nr. 2,
p. 37—45) (Phora formicarum p 42).
Lubbock, John (Lord Avebury), 1883. Ameisen, Bienen und Wespen. Be-
obachtungen über die Lebensweise der geselligen Hymenopteren. Autoris.
deutsche Ausgabe, Brockhaus, Leipzig (p. 22 u. 61; Beschreibung der Phora
formicarum Verr. p. 370).
Schmitz, Hermann, 1913. Zusammenstellung der bis Ende 1913 beschriebenen
myrmecophilen und termitophilen Phoriden (Jaarboek d. Natuur-hist. Genootsch.
Limburg) (p. 6—7 Separ. Plastophora formicarum Verr.).
1914. Die myrmecophilen Phoriden der Wasmann’schen Sammlung (Zool.
Jahrb. System. XXXVII, 6. Heft, p. 509—566 und Taf. 29 u. 30) (p. 532
u. 557 Plastophora formicarum)),
Strobl, Gabriel, 1910. Die Dipteren von Steiermark (Mitteil. Naturw. Ver.
Steiermark XLVI, p. 45—293) (p. 125 erste Angabe über Phora formicarum
auf dem Kontinent),
Verrall, 1877. (Erste Beschreibung von Phora formicarum) Journ. Linn. Soc.
London XIII, p. 258.
Westwood, J. O., 1840. Introduction to the modern classification of Insects, Vol.
II, p. 234ff.
Wood, J. H., 1908. On the British Species of Phora. Part 2 (Entomol. Monthl.
Mag. (2) XIX) p. 174.
Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen
Regeln.
Von P. Riebesell, Hamburg.
1. Aufgabe der vorliegenden Arbeit.
Bei der Entdeckung und der Wiederentdeckung der Mendel-
schen Regeln handelte es sich um die Deutung gewisser Zahlen-
verhältnisse, in denen bestimmte Eigenschaften von Tieren und Pflanzen
bei der Kreuzung auftraten. Zur Erklärung für das Auftreten der
meisten beobachteten Zahlenverhältnisse genügten die folgenden
4 Hypothesen: 1. Eindeutige Zuordnung von Erbfaktoren zu den
äußeren Merkmalen, 2. Vorhandensein von Faktorenpaaren in den
Zygoten, 3. Vollkommene Spaltung der Faktoren bei der Gameten-
bildung, 4. Anwendbarkeit der einfachsten Regeln der Wahrschein-
lichkeitslehre. Später wurden jedoch Zahlenverhältnisse beobachtet,
die sich mit den genannten 4 Grundhypothesen nicht mehr erklären
ließen. Es soll im folgenden zunächst untersucht werden, ob die
Mendelschen Regeln eine notwendige Folge aus den Beobachtungs-
5) Die Angabe p. 532, daß diese Art in der Wasmann’schen Sammlung nicht
vertreten sei, ist zu berichtigen. Das oben (S. 318) erwähnte Exemplar von
R. Handmann aus Bosnien hatte ich bei der Durchsicht der Sammlung für obige
Arbeit von P. Schmitz übersehen und ihm erst später zugesandt.
ne FE ER N
£ a
330 P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. =
ergebnissen und den genannten Hypothesen sind, vor allem ob bei
der Deutung der beobachteten Zahlenverhältnisse die Regeln be-
achtet sind, die die Mathematik für die Ableitung von allgemeinen
Gesetzen aus Beobachtungen aufgestellt hat. Sodann soll gezeigt
werden, daß die zahlreichen Ergänzungshypothesen mit den Grund-
annahmen nicht mehr ın Einklang stehen und eine eindeutige Er-
klärung der Tatsachen nicht ermöglicht wird.
2. Beobachtete und erwartete Zahlen.
Wenn aus einer vorliegenden Beobachtungsreihe unter Be-
nutzung von Hypothesen ein quantitatives Gesetz abgeleitet wird,
ist es unerläßlich, die Genauigkeit anzugeben, mit der das Gesetz
die Beobachtungen wiedergibt, um dadurch einen Schluß zu er-
möglichen, ob das gewonnene Gesetz den Anforderungen der Fehler-
theorie genügt. Die Beobachtungsfehler selbst sollen hierbei un-
berücksichtigt bleiben und die beobachteten Zahlen als Tatsachen
hingenommen werden. Sowohl: in den meisten ÖOriginalarbeiten!)
als auch in den Hauptwerken über Vererbungslehre?) werden nun
Untersuchungen über die Größe der Fehler zwischen den be-
obachteten und den nach den abgeleiteten Gesetzen erwarteten
Zahlen nicht angestellt.
Erst Johannsen und Lang’) haben darauf hingewiesen, wie
wichtig zahlenkritische Untersuchungen der Ergebnisse sind. Sie
haben aber als einziges Kriterium für die Brauchbarkeit der abge-
leiteten Formeln den mittleren Fehler benutzt. Inzwischen hat
I. A. Harris*) darauf aufmerksam gemacht, daß in vielen Fällen
dieses Kriterium versagt, und er hat im Anschluß an eine Arbeit
von K. Pearson’) eine neue Größe eingeführt, mit deren Hilfe
die Mendelschen Regeln auf ihre Eignung zur Darstellung der
Beobachtungen geprüft werden sollen. Es soll im folgenden unter-
sucht werden, wie weit diese Formeln exakten Anforderungen ent-
sprechen.
1) Vgl.z.B.R.C. Punnett, Reduplication Series in Sweet Peas, Journal of
Geneties, Vol. III, Nr.2, 1913. — G. H. Shull, Duplicate genes for capsuleform in
Bursa bursa-pastoris. Ztschr. f. ind. Abst. u. Vererb.-Lehre, Bd. XII, Heft 2, 1914.
2) Vgl. z. B. W. Bateson, Mendels Vererbungstheorien. Leipzig 1914.
3) W. Johannsen, Elemente der exakten Erblichkeitslehre. 1. Aufl., Jena
1909, 2: Aufl., Jena 1913. — A. Lang, Experimentelle Vererbungslehre in der
Zoologie seit 1900. 1. Hälfte, Jena 1914.
4) I. A. Harri's, A simple test of the goodness of fit of Mendelian ratios. The
American Naturalist, Vol. 46, 1912.
5) K. Pearson, On the criterion that a given system of deviations from the
probable in the case of a correlated system of variables is such that it can be
reasonably supposed to have arisen from random sampling. Phil. Magazine, Vol.
50, 1900.
ae x
ee
P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. 331
3. Die Binonialformel.
Sind m genotypische Differenzpunkte (Faktorenpaare) vorhanden,
so ergeben sich die erwarteten Häufigkeiten in der F,-Generation
aus der Formel:
(@) era).
Herrscht beı allen De wreöpzaren vollkommene Dominanz, so
lautet die Formel:
3 1 ım
(&) ch
Für m = 1 ergeben sich aus (2) die Werte: 3:1,
fünsm. —.2: I
für m 3% BONS IEIE SL
Es hat sich nun aber gezeigt, daß in sehr vielen Fällen, soweit
ein äußeres Merkmal ins Auge gefaßt wurde, sich nicht die Zahlen-
verhältnisse 1:2:1 oder 3:1 ergaben, und man stellte die Theorie
auf, daß eine Eigenschaft durch mehrere Faktoren bestimmt wird,
die unabhängig voneinander spalten. Die Zahlenverhältnisse für
m=1,m=2u.s.w. sollen daher nicht nur für mehrere Merk-
malspaare gelten, sondern je nach der Art, wie die Faktoren sich
zu einer äußerlich erkennbaren Eigenschaft zusammensetzen, er-
geben sich für m—2 und m=3 u. s. w. Zahlen, die sich auch auf
ein Merkmal beziehen können,
2 Bs ki m =2: GIER IE FEED ESS W
und für m=3: 2230, 299 ZIUR SE Wi
4. Die Bestimmung der Faktorenzahl.
Gehen wir zunächst von einem äußeren Merkmal aus und liegt
ein beobachtetes Zahlenverhältnis n, :n, vor, so fragt es sich, welcher
Mendelsche Bruch ihm entspricht. Läßt man nur die einfachste
der vielen Möglichkeiten zu, daß nämlich zwei verschiedene Phäno-
typen vorhanden sind, von denen der eine durch das Vorhandensein
sämtlicher dominanten Faktoren bedingt ist und der andere in allen
übrigen Fällen auftritt, so müßte die Gleichung gelten:
alas n7
(3) m gm = ı,
Aus dieser Exponentialgleichung ist m auf einfache Weise zu
berechnen. Es ergibt sich:
(4) log n. — log.n,
a)
log 4 — log 3
won, +n, =n gesetzt ıst.
. Es sind natürlich nur ganzzahlige m zu gebrauchen, und es
‚müßte jedesmal untersucht werden, ob die dem errechneten m be-
Di
392 P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln.
nachbarte ganze Zahl für die erwarteten Häufigkeiten Werte er-
gibt, deren Fehlergrenzen die beobachteten Zahlen umfassen. Daß
das im allgemeinen der Fall sein wird, geht aus den folgenden Be-
trachtungen hervor. N
Zunächst soll an einem Beispiel gezeigt werden, daß die
Formel (4) bessere Ergebnisse liefert, als die bisher angewandte
Methode des Probierens. Es sollen die von Johannsen‘) gegebenen
Zahlen von Miss Saunders genommen werden. Bei der Kreuzung
gewisser weißer und cremefarbiger Levkoyenrassen mit ungefärbtem
Zellsaft war F, saftgefärbt. In F, waren auf 223 Individuen 128
saftgefärbt und 95 saftfarblos. Für m ergibt sich nach der obigen
Formel:
__. log 223 — log 95
log 4 — log 3
— 2.990:
Die nächste ganze Zahl ist 3, und die erwarteten Häufigkeiten
wären 27:37. Die Abweichung ist in der Tat denkbar gering, da
95 27 :
——. — . — _ — (),00/ i
Te
Nun hat Miss Saunders aus biologischen Gründen, wegen des
Auftretens des Farbfaktors neben dem Saftfaktor, m = 2 ange-
nommen und demnach als erwartete Zahlen 7:9 zugrunde gelegt.
In diesem Falle beträgt aber die Abweichung das Dreifache, da
a 95
io 2220205
Die Größe der Abweichung des beobachteten Verhältnisses vom
erwarteten könnte in erster Annäherung als Genauigkeitsmaß an-
gesehen werden.
— 0,012 ist.
9. Der mittlere Fehler.
Sind e, und e, die erwarteten Zahlen und ist n die Gesamt-
zahl der Beobachtungen, so ist der mittlere Fehler f (berechnet
pro e) gegeben durch die Formel:
(5) f— a,
(Ganz abgesehen davon, daß diese Formel, wie in der bio-
logischen Literatur Harris betont hat, nur gilt, wenn n eine große
e ale
Zahl ist und — sowie =, (e=e + e,), nicht weit von 4 ab-
© e 2 i
weichen, muß bei der Anwendung der Formel auf das vorliegende
Problem noch etwas Grundsätzliches berücksichtigt werden. Die
Formel sagt zunächst nur aus, daß bei einer großen Zahl von Be-
6) A. a. O. (2. Aufl.), 8. 506, 518.
ca
P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. 335
obachtungen über Ereignisse, denen a priori die Wahrscheinlich-
keiten n bezw. = zukommen, die mittlere Abweichung von dem
wahrscheinlichsten Wert f beträgt. Daraus darf man aber nicht
ohne weiteres schließen, daß, wenn beı einem beobachteten Zahlen-
verhältnis der Fehler unter dem nach Formel (5) berechneten liegt,
daraus ein Schluß auf die Richtigkeit der vermuteten Zahlen e, und
e, gezogen werden kann. Es ist ohne Schwierigkeit zu sehen, daß
nach den Formeln (3) und (5) für ein gegebenes Verhältnis n, :n,
zahlreiche Werte von m, d. h. von e, und e,, zulässig sind. Das
ist ohne weiteres aus der im 8. Kapitel abgeleiteten Gleichung (13)
ersichtlich.
In dem angezogenen Beispiel ergibt sich für die Annahme 27:37
der Fehler f = 2, 12. Rechnen wir die von Miss Saunders ge-
fundenen Werte auf die Kombinationszahl e = 4° — 64 um, so er-
gibt sich das Verhältnis 27, 26:36, 74 = (27 + 0,26) : (37 — 0,26).
Die Abweichungen liegen also weit unter dem mittleren Fehler.
Für die Annahme 7:9 ergibt sich für f der Wert 0,53; und die
beobachteten Zahlen lauten, wenn sie auf 4° —= 16 umgerechnet
werden, 6,82:9, 18 = (7—0,18):(9 + 0,18). Auch hier bleiben
daher, wenn auch nicht so weit wie vorher, die Fehler unterhalb
des mittleren Wertes.
In zweiter Annäherung könnte das Verhältnis der beobachteten
Abweichung zur mittleren Abweichung als Genauigkeitsmaß dienen.
Wie das Beispiel zeigt, sind also nach dem Kriterium des
mittleren Fehlers allein beide Annahmen zulässig, und wenn auch
diejenige mit 2 Faktorenpaaren die einfachere ist, so gibt diejenige
mit 3 Faktoren die Möglichkeit, auf mehrfache Weise das Zustande-
kommen der äußeren Merkmale aus dem Genotypus zu erklären,
da sie ja außer dem Verhältnis 27:37 z. B. noch die Möglichkeit
28:36 zuläßt, abgesehen davon, daß sie für den ersten Fall die
geringsten Fehler liefert.
Die Ursache für die an dem Beispiel erläuterte Eigentümlich-
keit ist darin zu sehen, daß die verschiedenen auf Grund der Bi-
nomialformel (2) sich ergebenden Mendelschen Brüche so nahe
beieinander liegen, daß der Fehlerbereich des einen den andern mit
umfaßt. Nehmen wir z. B. wieder die Verhältnisse 7:9 und 27:37
und fragen, ob der zweite Wert innerhalb des mittleren Fehlers
des ersten liegen kann. Es muß dann sein:
9.7
169] SAN
64
Daraus ergibt sıch:
Dr .0l,
d. h. so lange die Versuchszahl unter 31 bleibt, ıst zwischen den
38. Band 24
334 P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln.
beiden Möglichkeiten nicht zu’ unterscheiden. Daß dann Zahlen-
werte, die zwischen den beiden Verhältnissen liegen, noch für eine
größere Anzahl von Beobachtungen innerhalb der Fehlergrenze
liegen können, versteht sich von selbst. Noch auffälliger wird dies,
wenn wir zu größeren Werten von e, und e, übergehen. Kehren
wir das obige Beispiel um und fragen, wie lange der Wert 7:9
innerhalb der mittleren Fehlergrenze von 27:37 bleibt, so er-
gibt sich:
dein. 22990:
6. Die exakte Bestimmung des geeignetsten Mendelschen Bruches.
Soll ich zu einem gegebenen Zahlenverhältnis den geeignetsten
Mendelschen Bruch suchen, und lasse ich zunächst alle biologischen
Gesichtspunkte außer Acht, so ist vom rein mathematischen Stand-
punkt aus folgendermaßen zu verfahren: Es ist die Wahrscheinlich-
keit zu bestimmen, mit der sich das beobachtete Verhältnis unter
Zugrundelegung des erwarteten Gesetzes als Versuchsergebnis nach
der Fehlertheorie ergeben würde. Es sind hierbei drei Wege gangbar.
a) Zunächst kann das sogenannte Hauptproblem der aposterı-
orischen Wahrscheinlichkeitsrechnung benutzt werden’).
Hat sich aus n Beobachtungen das Zahlenverhältnis n,:n, er-
geben, so ist die Wahrscheinlichkeit, daß schiıne=e, + ®&
weiteren Versuchen das Verhältnis e, :e, ergibt, durch folgenden
Wert gegeben:
a em to)! Fo)!ardN!
6 a
(6) e,!e,'!(nte-+1)!n !n,!
Die aposteriorische Wahrscheinlichkeit des Ereignisses selbst
wird:
n, —1
7 let
7) 2 n+2
ihr Unterschied von der wahrscheinlichsten Hypothese “ ist also
(8) n, nen on
n n+-2 n(n-+2)
Wenden wir diese Formeln auf unser Beispiel an, so ergibt
sich mit Hilfe der Stirlingschen Formel aus (6) für die Annahme
7:9 (für e = 64 berechnet)
W= 0,088
und für die Annahme 27 : 37
W = 0,089.
7) Vel.z.B. E. Czuber, Wahrscheinlichkeitsrechnung, 3. Aufl, Leipzig 1914,
Bd.ar, Sr 210.
P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. 335
Wir tehen also auch hier wieder, daß die letztere Annahme
die größere Wahrscheinlichkeit hat, während nicht ohne weiteres
in allen Fällen der kleineren Abweichung auch die größere Wahr-
scheinlichkeit zukommt. Gleichzeitig aber bemerken wir, wie außer-
ordentlich klein die Wahrscheinlichkeiten, daß ich mit der Binomial-
formel das wahre Zahlenverhältnis dargestellt habe, überhaupt sind.
Das liegt natürlich daran, daß das geprüfte Material der Zahl nach
viel zu gering ist, um sichere Schlüsse zuzulassen.
b) Eine zweite Methode, die nach der Binonialformel erhaltenen
Werte auf ihren Genauigkeitsgrad zu prüfen, besteht ın der An-
wendung des Bernoullischen Theorems.
Liegen dem Vorgang die Wahrscheinlichkeiten w, = n bezw.
e Ar :
W= nr zugrunde, so verteilen sich die bei verschiedenen Versuchen
zu erwartenden Häufigkeiten n, nach dem Gauß’schen Verteilungs-
gesetz
—y2
1 2nWw, W
Sn
V 2anw,w,
wo e die Basis des natürlichen Logarithmensystems ist und y die
Abweichung vom wahrscheinlichsten Wert w,-n —n, bedeutet.
Da der wahrschemlichste Wert (y=0) mit der Wahrschein-
lichkeit
’
|
10 HN —
a V!n nw,W,
auftritt, kann
— y?
(1) Re EN an 2 nw,W,
als Maß der Genauigkeit für das errechnete Verhältnis e, : e, dienen.
Für die in(11) auftretende Exponentialfunktion finden sich in allen
größeren Lehrbüchern über Wahrscheinlichkeitsrechnung oder über
Variationsstatistik Tabellen, mit denen in einfacher Weise die Werte
von G, zu berechnen sind. Für die Annahme 7:9 ergibt sich für
das beobachtete Verhältnis 95:128 die Wahrscheimlichkeit 0,051,
während bei der Annahme 27:37 das beobachtete Ergebnis mit
der Wahrscheinlichkeit 0,054 zu erwarten ist. Die kleine Differenz
ist von großer Bedeutung, da die Wahrscheinlichkeit für die wahr-
scheinlichste Annahme selbst nur unwesentlich größer als 0,054 ist.
Für den zweiten Fall ergibt sich also G, = 1, während im ersteren
Fall G, = 0,94 ist.
c) Das hier aufgestellte Genauigkeitsmaß unterscheidet sich von
dem von Harris vorgeschlagenen dadurch, daß durch das letztere
24*
en
336 P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln.
ee
die Wahrscheinlichkeit dafür angegeben wird, daß eine Beobachtung
als ein ganz- beliebiges Versuchsergebnis aus einer Reihe von Er-
eignissen, die einem Gesetz gehorchen, angesehen werden kann.
Das Kriterium dafür ıst zwar von Pearson auf verschiedene Bei-
spiele angewandt und auf ein System von Beobachtungen ausge-
dehnt, aber es ıst nicht, wie Harris angibt, von Pearson zuerst
aufgestellt, sondern in der Wahrscheinlichkeitsrechnung bereits durch
das Bernoullische Theorem gelöst worden. Letzteres läßt sich
nämlich folgendermaßen formulieren:
Sind n Versuche gemacht, so ist die Wahrscheinlichkeit dafür,
daß die Häufigkeit des einen Ereignisses (n,) ebenso weit oder
e Mr R e i h
weiter von der wahrscheinlichsten Zahl —.n abweicht als die be-
obachtete Zahl n,, gegeben durch den Ausdruck:
2 nn, en
Ger I m, ee
(12) ; vz ee =)
V2ne, ®,
Sowohl für das Integral wie auch für die Exponentialfunktion
sind ausführliche Tafelwerke vorhanden.
Für unser Beispiel ergibt sich bei der Annahme 7:9 der Wert
G, = 0,68 und bei 27:37 der Wert G, = 0,85.
7. Kritik der Genauigkeitskriterien.
Alle Kriterien sind unter der Voraussetzung abgeleitet, daß den
Ergebnissen feste Wahrscheinlichkeiten zugrunde liegen, d. h. daß
die Abweichungen bei großer Versuchszahl sich nach der normalen
Gauß’schen Verteilungskurve ordnen. Diese sei in der neben-
stehenden Abbildung veranschaulicht.
DZ
m
Dann ist das im 4. Kapitel abgeleitete Kriterium durch die Ab-
weichung a gegeben, die angibt, um wieviel die beobachtete Häufig-
keit von der wahrscheinlichsten abweicht. Das ım 5. Kapitel auf-
gestellte Genauigkeitsmaß wird dargestellt durch das Verhältnis a: m,
wo m den mittleren Fehler bedeutet. Im 6. Kapitel ist durch (9)
|
P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. 337
die Größe W, gegeben, die die Wahrscheinlichkeit, mit der das
beobachtete Verhältnis aus der zu W, gehörigen Variationskurve
sich ergibt, darstellt. Durch (11) ist das Verhältnis W,:W%. ge-
geben. (12) liefert schließlich das Verhältnis der schraffierten Fläche
zur halben Gesamtfläche. Aus den Lehren der Variationsstatistik
folgt ohne weiteres, daß nur die im 6. Kapitel abgeleiteten Kriterien
Ansprüche auf Exaktheit machen können. Von ihnen steht das
Harrissche an erster Stelle. Es ist aber zu betonen, daß die Her-
leitung der Formel (12) nur unter zahlreichen für das Bernoullische
Theorem geltenden vereinfachenden Annahmen möglich ist. Außer-
dem sagt sie nur aus, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß bei
einem beliebigen Versuch die Abweichung ebenso groß oder größer
ist als die beobachtete. Daß diese Wahrscheinlichkeit ein Maß
dafür ist, daß ein beobachtetes Verhältnis aus einer bestimmten
Reihe von erwarteten stammt, ist nicht ohne Weiteres erwiesen,
sondern kann nur als eine Definition von Pearson-Harris be-
zeichnet werden. Über die Wahrscheinlichkeit mit der gerade die
beobachtete Abweichung selbst zu erwarten ist, sagt sie nichts aus.
Es muß daher das Kriterium (9) bezw. (11) hinzugenommen werden,
das eine Vereinfachung des exakt gültigen Genauigkeitsmaßes (6)
darstellt. (9) teilt mit (12) den Vorteil, daß es nicht nur auf das
Verhältnis von zwei Zahlen anwendbar ist, sondern das gesamte
Beobachtungsergebnis auf einmal zu prüfen gestattet.
Alle Genauigkeitsmaße setzen uns in den Stand, verschiedene
Annahmen auf ihren Wahrscheinlichkeitsgrad zu prüfen, sie ge-
statten aber nicht zu entscheiden, ob eine Annahme die allein
richtige ist. Das Versuchsergebnis, und sei es noch so groß, ist
immer nur als ein Versuch anzusehen, und vom Standpunkte der
Wahrscheinlichkeitstheorie aus ist es ganz unzulässig, daraus sichere
Schlüsse zu ziehen. Erst zahlreichere Versuchsergebnisse von gleicher
Individuenzahl könnten über die wahre Gestalt der Verteilungs-
kurve Aufschluß geben. Ergibt sich eine schiefe Kurve — und die
Zusatzhypothesen der neueren Vererbungslehre über die Koppelung
der Faktoren setzen diese Annahme geradezu voraus —, so sind
alle Kriterien ungültig.
Vom mathematischen Standpunkt aus ganz unzulässige Schlüsse
finden sich in der Literatur in großer Zahl. Hier seien nur einige
aufgeführt. So wird bei Bateson (a. a. O. S. 134) aus dem be-
obachteten Verhältnis 70:21:36 auf 9:3:4 geschlossen (m = 2),
während das Verhältnis 141:42:73, welches sich für m=3 er-
geben kann, eine viel bessere Übereinstimmung von erwarteten und
beobachteten Zahlen ergibt. An einer andern Stelle (S. 151) wird
aus 627:27:17:214 auf 637 :27:27:194 geschlossen. Ferner einige
Beispiele bei Lang (a. a. O.):
338 P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln.
Ss. 507: Aus 33:10:8:2:12 wird gefolgert 27 :9:9:3:16.
S. 529: Aus 2156.20: 42 6-wird getolgert 9:3: K222.
S. 562 ergibt sich 66:46 statt 56: 56.
Allgemein gibt Lang an, daß die Fehlergrenze durch den drei-
fachen mittleren Fehler gegeben ıst. Das ist zwar für eine große
Anzahl von Versuchsgruppen gültig. Wıe aber die Verteilungs-
kurve zeigt, kommen auch größere Abweichungen, wenn auch nur
selten, vor. Wenn also Lang bei einem erwarteten Verhältnis
9:3:3:1 eine Zahl von S Individuen untersucht und das Ergebnis
als Stütze für dıe aus theoretischen Erwägungen geschlossenen Er-
wartungszahlen benutzen will (a. a. ©. S. 364), so ıst das unzulässig.
Aus diesem einen Versuch sınd überhaupt keine Schlüsse zu ziehen.
Er kann sowohl an der Grenze wie ın der Mitte der Variations-
kurve liegen. Ist doch selbst bei der doppelten Anzahl von Indi-
viduen, d.h. bei 16, die Wahrscheinlichkeit, daß wirklich das er-
wartete Verhältnis 9:3:3:1 auftritt, nicht etwa 1, wie die landläufige
Auffassung annimmt — die beispielsweise behauptet, daß unter sechs
Würfen mit einem Würfel eine bestimmte Zahl einmal auftritt —
sondern nur 0,2. Leider gibt auch das von Lang zur Veranschau-
lichung seiner Ausführungen herangezogene wahrscheinlichkeits-
rechnerische Beispiel (a. a. ©. S. 367) insofern ein falsches Bild,
als bei der Gegenwahrscheinlichkeit für das betrachtete Ereignis
nicht sämtliche übrigen Ereignisse (statt „mehr als“ muß es immer
heißen „mehr oder weniger als“) berücksichtigt sınd.
8. Schlußfolgerungen.
Im 4. Kapitel wurde gezeigt, daß für zwei ganz beliebige Zahlen
n, und n, sich immer eine zugehörige Faktorenzahl m berechnen
läßt, allein unter der Voraussetzung, daß der eine Phaenotypus
dadurch charakterisiert ıst, daß alle dominanten Faktoren mindestens
in der Einzahl vertreten sind. Läßt man diese einschränkende Vor-
aussetzung fallen, so kann man der Formel (3) zahlreiche andere
an die Seite stellen. So würde beispielsweise die Formel (3 +1)",
(2 2)", zahlreiche Wertepaare m, und m, ergeben. Aber auch
allein mit der Formel (3) ergibt sich für jedes beliebige Verhältnis
nicht nur ein Wert von m sondern mehrere, die nach den Gesetzen
der Wahrscheinlichkeitslehre nicht als unmögliche Werte zu gelten
haben. Es lassen sich zwar unter den verschiedenen errechneten
Werten solche von größerer und geringerer Wahrscheinlichkeit
unterscheiden, aber da es sich nur um Wahrscheinlichkeitswerte
handelt, ist nicht zu sagen, ob nicht gerade der Wert mit der größeren
Abweichung der richtigere ist. So könnte etwa der Wert mit der
kleinsten mittleren Abweichung aus der Formel
P. Riebesell, Einige zahlenkritische Bemerkungen zu den Mendelschen Regeln. 339
(13) ger n a an
n
(wo ö zwischen O0 und 1) durch graphische Darstellung ermittelt
werden. Selbst eine größere Zahl von Beobachtungen würde eine
sichere Entscheidung zwischen nahe aneinander liegenden Zahlen-
verhältnissen nıcht ermöglichen.
Daß beliebige Zahlenverhältnisse auch ohne Zuhilfenahme
weiterer Hypothesen durch einen oder mehrere Mendelsche
Brüche dargestellt werden können, geht auch aus folgender Be-
trachtung hervor. Die Binomialformel, die den Mendelschen
Brüchen zugrunde liegt
1 Je“
(2+?2)
geht für große n über in
T 151,69
et)
Das ıst aber nichts anderes als die Gaußsche Verteilungs-
kurve, die ein ganz beliebiges durch Zufall erhaltenes Beobach-
tungsmaterial darstellt. Daß nun für den Gesamtphänotypus
zahlreiche Faktoren m maßgebend sind, ist ohne Zweifel. Man
könnte daraus den Schluß ziehen, daß die Verallgemeinerung der
Mendelschen Regel auf die Variationskurve führt und daß damit
eine neue Bestätigung für diese Regel erbracht ist. Wenn man aber
bedenkt, daß die Gaußsche Kurve nur die Darstellung für eine
ganz zufällige Verteilung ıst und bei der Prüfung der Mendel-
schen Regeln nicht die sämtlichen Variationen berücksichtigt
sondern gewisse äußere Merkmale herausgegriffen werden, d.h.
. Ordinaten der Variationskurve in beliebiger Weise addiert werden,
so ist daraus nur der Schluß zu ziehen, daß mit diesen Formeln
beliebige Verhältnisse dargestellt werden können. Der Übergang
von der quantitativen zur qualitativen Variation und zur alternativen
Vererbung erscheint so in einem ganz anderen Lichte.
Sind schließlich die Faktoren nicht unabhängig voneinander,
so verliert die Binomialformel ihre Gültigkeit. Die Grundlage für
sie ist der Multiplikationssatz der Wahrscheinlichkeitsrechnung.
Dieser ist aber nur anwendbar, wenn die Wahrscheinlichkeiten un-
abhängig voneinander sind. Die zahlreichen Ergänzungshypothesen
über dıe Koppelung der Faktoren, ihre Anziehung beziehungsweise
Abstoßung, die Epi- und Hypostasie, die Annahme geringerer oder
größerer Lebensfähigkeit bestimmter Kombinationen widersprechen
daher geradezu den Grundlagen der Mendelchen Regeln. Er-
schien bereits durch die Aufstellung der An- und Abwesenheits-
theorie die Annahme, daß die Faktoren immer in doppelter Zahl
340 J. S. Szymanski, Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser gegenüber.
auftreten, einigermaßen gekünstelt, so scheint sie sich bei den neueren
Hypothesen nur noch durch die Absicht, mit Gewalt das Spaltungs-
prinzip aufrecht zu erhalten, rechtfertigen zu lassen.
Eine Entscheidung, welche Wahrscheinlichkeiten dem Vorgang
zugrunde liegen und wie sie voneinander abhängen, ist nur mit
der Methode auszuführen, die Kapteyn‘°) für beliebige Variations-
kurven ausgearbeitet hat. Leider ist das Beobachtungsmaterial in
jedem bisher beobachteten Falle viel zu klein, um diese Methode
in Anwendung zu bringen.
Nun ist es natürlich häufig möglich, aus biologischen Gründen
zwischen den verschiedenen mathematisch möglichen Mendel-
schen Brüchen eine Auswahl zu treffen. Häufig wird die F,-Gene-
ration entscheidend sein. So zeigt die Rechnung, daß in unserm
Beispiel unter den gemachten Voraussetzungen bei der Annahme
7:9 ın F, das Verhältnis 156:100 auftreten müßte und bei der
Annahme 27:37 würde sich 3060:1036 ergeben. Bei einem großen
Zahlenmaterial würde sich also in diesem Falle die Unhaltbarkeit
der einen Annahme durch die Untersuchung von F, erweisen
lassen. Abgesehen davon, daß nur in den seltensten Fällen Be-
obachtungen über F, gemacht sind, lassen sich auch leicht Fälle
finden, wo die Unterscheidung schwierig oder unmöglich ist, so etwa
bei 9:3:4 und 8:4:4 oder 61:3 und 62:2 und vielen ‘anderen.
Jedenfalls muß verlangt werden, daß in allen Fällen die Unhalt-
barkeit der benachbarten Mendelschen Brüche, die häufig größere
mathematische Wahrscheinlichkeit für sich haben als die behaupteten,
dargetan wird.
Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser
gegenüber.
Von J.S. Szymanski, Wien.
(Mit 1 Textfigur.)
Das Wohngebiet vieler Landinsekten ist häufig Überschwem-
mungen ausgesetzt. Denn nach jedem Gußregen bildet sich auf
den Wiesen und Äckern eine Unzahl von Lachen, die kleine Inseln
umschließen.
Es war nun von Interesse zu untersuchen, wie sich die auf
solchen Inseln befindliche Insekten ans „Land“ herüberretten können.
Fast fünfzig Insektenarten wurden mit Rücksicht auf diese
Frage untersucht.
Ss) Vgl. J.C.Kapteyn, Skew frequency curves in biology and statistics.
Teil I, Groningen 1904, Teil II, Groningen 1916.
UNE ger
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RER TRIE,
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J.S. Szymanski, Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser gegenüber. 341
Die Untersuchungsmethode war äußerst einfach: das zu prü-
fende Insekt wurde auf eine kleine Holzbrücke mit zwei Leitern
gesetzt. Die Brücke wurde in ein Gefäß mit lJauwarmem Wasser
derart eingebracht, daß sie über den Wasserspiegel emporragte und
die beiden Leitern unter dem Wasserspiegel bis zum Gefäßgrund
führten. Die Tiefe der Wasserschichte im Gefäß schwankte — je
nach der Größe des zu prüfenden Insektes — zwischen 4—15 cm
(Abb. 2).
9, ie &.. 228,
1. Rosenkäfer (Cetonia aurata), der vorher durch das Eintauchen benetzt wurde, geht
spontan auf einem Stäbchen aus der Luft ins Wasser hinein.
2, Die Insekten, die auf die über dem Wasserspiegel herausragende Brücke ge-
setzt waren, gehen spontan nach einigen Vorversuchen auf den ins Wasser
führenden Leitern unter die Wasseroberfläche herunter, erreichen den Gefäß-
boden und bewegen sich auf dem letzteren fort.
3. Schwimmen einer Ameise ((amponotus)
a) Schwimmen in gerader Richtung: Der Kopf mit den Fühlern wird über
den Wasserspiegel gehalten; die Vorderbeine führen die Bewegungen in
sagittaler Ebene aus; die Mittelbeine rudern in horizontaler Ebene; die
Hinterbeine sind nach hinten ausgestreckt und bleiben bewegungslos.
b) Wendung nach rechts (Steuerfunktion der Hinterbeine): das rechte Bein
bleibt bewegungslos; das linke Bein rudert in horinzontaler Ebene.
Die auf die Brücke eingebrachten Insekten zeigen — je nach
der Art — eine der folgenden vier Verhaltensarten:
I. Gut fliegende bezw. springende Insekten verlassen die Brücke,
indem sie davonfliegen bezw. über die Wasserfläche ans „Land“
herüberspringen (Fliege Sarcophaga, Kleinzirpe Triecphora). Diese
Insekten gehen nicht spontan unter den Wasserspiegel. Die leichten
schnell beweglichen Insekten (Oantharis |wahrscheinlich Fusca|,
Malachius rubidus, Anoncodina austriaca), die ohne einen erhöhten
942 J.S. Szymanski, Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser gegenüber.
Punkt nicht aufzufliegen vermögen, laufen schnell auf der Brücke
auf und ab, fallen zufällig ins Wasser, zappeln mit den Beinen
und bleiben schließlich auf dem Wasserspiegel regungslos liegen.
Diese Arten vermögen sich augenscheinlich aus einem über-
schwemmten Gebiet bloß durch Davonfliegen zu retten.
II. Gut schwimmende Landinsekten werfen sich spontan ins
Wasser und schwimmen ans „Land‘“ (Roßameise Camponotus-Sp.,
Laufkäfer Carabus-Sp., zwei verschiedene Harpalus-Sp., Pterostychus-
Sp.) (s. Anhang).
Ill. Eine Spinnenart (ZLycosa chelata Müller) läuft auf der Brücke
auf und ab und geht bald auf den Wasserspiegel hin, auf dem sie
gleich den Wasserläufern geschwind und geschickt laufen kann.
Wenn sie verhindert wird, das „Land“ zu erreichen, so zieht sie
die Beine zurück und bleibt regungslos auf dem Wasserspiegel
liegen. Wenn sie in diesem Zustand auf die Brücke gebracht wird
so geht sie nicht wieder spontan ins Wasser.
Die anderen Spinnarten (Phrlodromus aureolus Olıv.) können auf
dem Wasserspiegel weder laufen noch stehen; andere wieder (wahr-
scheinlich Dysdera-Sp.) können auf dem Wasserspiegel stehen, aber,
insoweit ich dies zu beobachten vermag, kaum laufen.
IV. Schwere, langsame und nur schwer oder gar nicht fliegende
Arten gehen spontan ins Wasser, gelangen in der Regel auf den
Leitern bis zum Gefäßgrund und suchen das „Land“ zu gewinnen
(Marienkäfer, Lina populi, Orina-Sp., Prionus-Sp., Geotrupes-Sp.,
Cetonia aurata, Grünrüßler Phyllobius-Sp., Abax-Sp., Galleruca Ta-
naceti u.s.f.); auch manchmal die Roßameise. Das Verhalten
dieser Insekten ist dabeı derart, daß sie zunächst die ganze Brücke
absuchen; daraufhin machen sie einen Versuch, ins Wasser zu
gehen, machen wieder kehrt u. s.f.; schließlich gehen sie nach
einigen Versuchen, im Laufe welcher sie ganz benetzt werden, de-
finitiv unter den Wasserspiegel.
Dieses Verhalten beweist, daß das zunehmende Benetzen des
Körpers als adäquater Reiz für das Untertauchen dient.
Diese Vermutung läßt sich durch die Beobachtung bekräftigen,
daß fast jedes Exemplar der von mir untersuchten Insektenarten
spontan auf einem Stäbchen unter das Wasser geht, falls das-
selbe früher samt dem Stäbchen ein oder mehrere Male unter-
getaucht wurde (Abb. 1).
Die Beobachtung der Art, wie sich die Insekten vor der Über-
schwemmung retten, läßt die Abhängigkeit zwischen den organi-
schen Mitteln und dem Verhalten erkennen.
Die gut springenden bezw. fliegenden Insekten nützen diese
Fähigkeiten aus; die gut schwimmenden !) bezw. auf dem Wasser-
1) Die gut schwimmenden Insekten zeichnen sich öfters durch ihren platt ge-
formten und leichten Körper (Carabus, Harpalus) aus.
J. S. Szymanski, Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser gegenüber. 345
spiegel laufenden Insekten werfen sich spontan auf die Wasser-
fläche und führen rudernde bezw. laufende Bewegungen aus.
Schließlich nützen die schweren plumpen, mehr oder weniger kugelig
gebauten Insekten (Chrysomelidae, Marienkäfer, ' Cetonia u.s.f.) ihr
großes Körpergewicht (Überwindung der Oberflächenspannung!) und
die Fähigkeit, sich festklammern zu können, nebst der längst be-
kannten Eigentümlichkeit vieler Insekten, unter Wasser eine Zeit-
lang leben zu können, zum Untertauchen, zum Fortkriechen auf
dem Wassergrund und zum Erreichen des „Landes“ aus.
Diese Tatsachen beweisen, daß die Art des Handelns durch
die vorhandenen Mittel des Organismus bedingt wird.
Anhang.
Die Sehwimmreflexe der Insekten.
Der Schwimm-Mechanismus der Roßameise ist ein recht kom-
plizierter Vorgang, der aus einer Reihe von einzelnen Reflexen be-
steht?).
Die schwimmende Ameise, die bereits dank ihrem geringen
spezifischen Gewicht auf der Wasseroberfläche schweben kann,
hält den Kopf mit den Fühlhörnern über dem Wasserspiegel. Das
Vorderbeinpaar wird nach vorne gerichtet und führt sehr rasche
Bewegungen in sagittaler Ebene aus (s. Abb. 3a).
Das Mittelbeinpaar wird seitwärts ausgespreizt und bewegt
sich in einer annähernd horizontalen Ebene in eifem viel lang-
sameren Tempo als das erste Paar.
Das Hinterbeinpaar, das nach hinten ausgestreckt gehalten
wird, bleibt bei dem Fortschwimmen in gerader Richtung unbe-
weglich. Bei den Wendungen setzt sich das Bein, das auf der der
Wenderichtung entgegengesetzten Seite liegt, in Bewegung und
zwar in horizontaler Ebene; also bei der Wendung nach rechts
rudert das linke Bein, bei der Wendung nach links — das rechte
Bein; das andere Bein bleibt dabei bewegungslos. Dieses Ver-
halten beweist, daß die Hinterbeine die Funktion des Steuerns bei
dem Schwimmen übernehmen (Abb. 3b).
Um sich Rechenschaft von der Wichtigkeit der einzelnen
Beinpaare für den Akt des Schwimmens zu geben, wurden die
verschiedenen Beinpaare bei den verschiedenen Individuen amputiert.
Es ergab sich, daß die Amputation des Vorderbeines keine Stö-
rung in der Gleichgewichtserhaltung, jedoch verlangsamtes und unge-
schicktes Schwimmen nach sich zieht. Die Amputation des Mittel-
2) Es ist mir leider zurzeit unmöglich gewesen nachzuschlagen, ob dieser
Mechanismus bereits beschrieben ist.
Yas
344 J. S. Szymanski, Das Verhalten der Landinsekten dem Wasser gegenüber.
beinpaares bewirkt ebenfalls keine Gleichgewichtsstörung; sie hat
verlangsamtes, aber nicht ungeschicktes Schwimmen zur Folge.
Die Amputation des Hinterbeinpaares beeinflußt weder die Gleich-
gewichtserhaltung noch die Geschicklichkeit des Schwimmens; das
letztere ist nur ein wenig verlangsamt. Bei den Wendungen über-
nehmen die Mittelbeine dıe Funktion des Steuerns.
Die Amputationsversuche zeigen schließlich, daß die Amputa-
tion der Vorderbeine den Schwimmakt am stärksten beeinträchtigt;
weniger beeinflußt denselben das Entfernen der Mittelbeine; und
die wenigsten Störungen bewirkt schließlich die Amputation der
Hinterbeine. '
Die Amputation von allen drei Beinpaaren bei dem gleichen
Individuum beeinflußt nicht das Schweben des Körpers ın der
Rückenlage auf der Wasseroberfläche.
Die anderen Ameisenarten (Formica fusca, andere F.-Sp., Myr-
mica-Sp.) machen die gleichen Schwimmbewegungen, jedoch ohne
den gleichen Erfolg wıe Camponatus.
Die en führen die rudernden Bewegungen mit den
Beinen in der gleichen Reihenfolge, wie dies auch bei dem Gehen
auf dem Lande geschieht, aus; sie steuern, gleich wie die Roßameise
mit dem entsprechenden Hinterbein. Bei den Harpalus-Sp. be-
obachtet man öfters, daß das der Wendungsrichtung gleichsinnige
Bein aus dem Wasser herausgezogen und während der Wendung
in der Luft aufgerichtet gehalten wird.
Außer diesen Insekten habe ich bloß die Baumwanzen Syro-
mastes und Pentatoma vudernde Bewegungen synchron mit beiden
Hinterbeinen ausführen 'gesehen; sie rühren sich dabei kaum von
dem Fleck ). Alle smilres von mir untersuchten Insektenarten, die
sich auch ja nıcht spontan auf die Wasseroberfläche werfen, führen,
wenn sie ins Wasser passiv gebracht werden, bloß zappelnde Be-
wegungen mit den Beinen aus.
) Noch eine Art des Schwimmens ist mir dank der freundlichen Mitteilung des
Hören a A: Handlirsch aus dem k.k Naturhist. Hofmuseum bekannt geworden.
Herr A. Handlirsch hatte nämlich die Freundlichkeit, mir mündlich zul
daß einige kleine Ichneumonidae die Flügel als Ruder Ba Schwimmen benützen.
Dem zuletzt genannten Herrn gebührt auch mein bester Dank für das Bestimmen
einiger in diesem Aufsatz erwähnten Arten.
Kan ae a BZ
N e
R. Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen. 345
Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an
Ameisen,
Von Robert Stumper, cand. ing. chem., Luxemburg.
Ich erlaube mir die folgenden Zeilen Herrn Prof. Dr. A. Forel, dem Altmeister
der Myrmekologie anläßlich seiner 70. Geburtsfeier (1. September 1918) in
aufrichtiger Dankbarkeit zu widmen.
Die Gattung Leptothorax gehört, zusammen mit den paläark-
tischen Genera Formicoxenus, Stenamma, Harpagoxenus, Anergates
U. a. m. zur Sippe der Leptothoracini'). Die Merkmale dieser Gattung
sind zuerst eine auffallende Tendenz zur Rassen- und Varietätenbildung,
sodann das biologische Charakteristikum, daß die einzelnen Arten
ihr Nest konstant auf dieselbe spezifische Weise anlegen: unter
Laub, in hohlen Zweigen u. s.w. Die ZLeptothorax-Arten sind nun
ausnahmslos friedfertige und phlegmatische Tierchen. Dieser psy-
chische Charakterzug stempelt sie, verbunden mit den obigen, zu
den „niederen“ Ameisen. Das Studium der minder hoch spezıalı-
sierten und weniger psychisch begabten Ameisen ist besonders
interessant und wichtig; denn hier lernen wir das Verhalten der
Formiciden in’ essentia kennen und wir sind so imstande die Stammes-
entwicklung der Ameisen durch psychische Belege vergleichend
zu klären. So lernen wir denn auch die höhere Psyche der „oberen“
Ameisen aus den „niederen“ Formen ableiten, was der vergleichen-
den Ameisenpsychologie sicher zu Nutze kommen wird. In der
Literatur ıst leider noch wenig über die niederen Ameisen bekannt,
so daß hier noch viel zu arbeiten ist. Ich mache z. B. auf die
Methoden?) der neuen Tierpsychologie: Labyrinth, Wahlmethode
u. s. w. aufmerksam.
Der Hauptcharakterzug der Leptothorax-Arten ist also phleg-
matische Friedfertigkeit. Diese Eigenschaft ist die natürliche Basıs
der häufigen Doppelnester von Leptothorax mit andern Ameisen.
Solche Fälle sind zahlreich ın der Literatur zu finden: z. B. Was-
mann Nr. 177: Leptothoraz (Mychothoras) acervorum F. mit Formica
truncieola, F. rufa, F. sangwinea, F. fusca, Myrmica u.s. w. So be-
greifen wir also auch, daß verschiedene Forscher die Gastameisen
(Formicoxenus nitidulus Nyl.) aus solchen fakultativen Doppelnestern
ableiten).
Etliche Leptothorax-Arten und zwar hauptsächlich Zeptothorax
tuberum F. r. affinis Mayr, leben gesetzmäßig ın hohlen Zweigen
1) A. Forel. Cadre synoptigue actuel de la faune unviverselle des fourmis.
Bullet. d. 1. Societe Vaudoise d. Sciences naturelles vol. 51. 1917, p. 244.
2) Siehe: Tierpsychologie, Olapare£de in Handwörterbuch f. Naturwissen-
schaften, 1913.
3) R. Stumper. Formicoxenus nitidulus Nyl. I. Btrg. Biol. Zentralblatt 1918.
346 R. Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen.
der Nußbäume und Brombeerstauden. Zu Neuenstadt am Bieler
See bot sich mir die günstige Gelegenheit, die Ameisenfauna der
Nußbäume näher zu untersuchen und ich will die Resultate der
betreffenden Beobachtungen und Versuche, soweit sie interessant
sind, hier auseinanderlegen und kritrisch beleuchten.
T
Die Ameisenfauna der Nußbäume.
A. Forel?) berichtete im Jahre 1874 über das regelmäßige
Vorkommen von Leptothorax tuberum n. affinis M., Dolichoderus’
quadripunctatus L. und Camponotus (Colobopsis) truncatus Sp. auf Nuß-
bäumen und Eichen. Der gesetzmäßige Zusammenhang wurde ihm
jedoch erst nach Entdeckung von stengelbewohnenden Ameisen der
columbischen Savanne klar’). Er fand nämlich, daß die drei oben
genannten Ameisen in der hohlen Markröhre dürrer Nußbaumzweige
ihr Nest haben und zwar bilden Colobopsis und Dolichoderus poly-
dome Kolonien, während Leptothorax affinis ın kleinen, selbständigen
Kolonien lebt. R. Staeger‘) hat die Forel’scben Beobachtungen
und Untersuchungen wieder aufgenommen und er entdeckte die
gleiche Regelmäßigkeit auch in dürren Brombeerzweigen.
Am Bieler See, auf den Südostabhängen der Jura fand ich
insgesamt folgende Ameisen auf Juglans regia.
1. Leptothorax Nylanderi Forst. (1 Kolonie).
2. id. tuberum F. r. affinis Mayr. (sehr vieleKolonien).
3. id. tuberum F\. r.affınis v. tubero-affinis For. (c.6—8
Kolonien.
4. 1d. tuberum F, r. unifasciatus v. unifasciato-inter-
ruptus For. (1. Kolonie).
5. Dolichoderus quadripunctatus L. (sehr häufig).
6. Camponotus (Colobopsis) truncatus Sp. (1 Kolonie).
Diese Ameisen, von denen ZLeptothorax Nylanderti, L. tuberum
r. affinis v. tubero-affinis, und L. affinis r. unifasciatus varr. unt-
fasciato-interruptus noch sehr wenig auf Juglans regia gefunden
wurden, bewohnen die dünnen Zweige, die durch Frost, oder sonstige
schädliche Einwirkungen abgestorben sind. Die Ameisen heben mit
Leichtigkeit die Marklamellen aus und bauen sich so ein bequemes
Nistplätzchen, bis der Sturmwind oder die Leute, die mit langen
Stangen die Nußernte abklopfen, das Zweiglein mit den Bewohnern
abschütteln. So findet man denn auch in den dünnen Ästen, die
unter den betreffenden Bäumen liegen, reichliche Ameisenbeute.
4) Forel. Fourmis d. l. Suisse 1874, S. 227.
5) id. Faune Myrmicologique des noyers. Bull. d. I. Soc. Vaud. de Sciences
nat. 1903.
6) R. Staeger. Zur Kenntnis stengelbewohnender Ameisen in der Schweiz
Revue Suisse de Zoologie 1917.
Ba N.
R. Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen. 347
Die stengelbewohnenden Ameisen bohren aber auch noch Neben-
gänge, benützen auch wohl die Gänge der Orabroniden- eventuell
Bockkäferlarven. Von Leptothorax affinis traf ıch Kolonien sämt-
licher Stadien an: isolierte Königinnen mit und ohne Brut, sowie
junge, mittlere und erwachsene Kolonien. Letztere begreifen 30 bis
50 99 und 1—3 Weibchen.
Die Annahme Forel’s bezüglich der polydomen Dolichoderus-
Kolonien fand ich an dem Neuenstädter Material bestätigt, einer-
seits entdeckte ich das öftere Fehlen der Weibchen (am 13. 8. 17
z. B.) in Kolonien und andererseits konnte ich den Zusammenhang
der einzelnen Kolonien experimentell nachweisen. Ausnahmslos
gliederten sich die Bewohner verschiedener Zweignester
im künstlichen Nest zu einer Kolonie zusammen.
{ Wie erklären wir nun die eigentümliche „Hemisymbiose“ dieser
drei Ameisenarten, die noch dazu drei verschiedenen Unter-
familien angehören?
Figur 1.
a (amponotus (Colobopsis) truncatus Sp. Soldat.
i = Arbeiter.
e = Dolichoderus quadripunctatus. L. oO
d = Leptothorax tuberum, affinis M. 9
— id.
Die Tatsache, daß drei verschiedene Ameisenarten dieselbe
Lebensweise haben, ist nicht überraschend. Wir kennen ja zahl-
reiche Konvergenzerscheinungen in den verschiedenen Ameisen-
gattungen (z. B. die abhängige Koloniegründung u.s. w.). Sehr viel
merkwürdiger ist das friedliche Nebeneinanderleben dieser
Tierchen auf demselben Substrat. So fand Forel (loc. eit.) auf
einem Nußbaume: 9 Nester von Dolichoderus quadripunctatus,
7 Nester von Leptothorax affinis, 2 Nester von Colobopsis truncata.
348 R.Stumper, Phycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen.
Ich fand auf einem Baum, so weit ich die dürren Zweige
erreichen konnte: 3 Dolichoderus-Nester, 10 Leptothorax-Nester,
außerdem in den dürren Zweigen, die unter dem Baum zerstreut
lagen: 1 Dolichoderus-Nest, 3 Leptothorax-Nester.
Ein anderer Baum ergab folgende Ausbeute: 1 Kolonie Cam-
ponotus (Colobopsis) truncatus, 2 Kolonien Dolichoderus quadripunec-
tatus, 7 Kolonien Leptothorax-Arten; unter dem Baum: 1 Lepto-
thorax-Nylanderi-Nest, 3 Leptothorax affinis-Nester.
Um die friedliche Nachbarschaft dieser Ameisen experimentell
zu prüfen, stellte ich eine Reihe Versuche an.
Mischungsversuch I. Am 23. VII. 17 gab ich eine kleine
Leptothorax Nylanderi-Kolonie ın eine Glasröhre. Nachdem sich die
Ameisen einquartiert hatten, fügte ich eine Kolonie Leptothorax
tuberum r. affinis hinzu. Beide mit Brut. Nach der ersten Ver-
wirrung, wobei dıe beiden Arten lebhaft durcheinander rannten,
entstand ein Stadium der Ruhe. Während diesem betasteten die
Ameisen sich gegenseitig und schlossen darauf ohne Feindseligkeiten
Frieden. Sie trugen die Brut zusammen und inspizierten die neue
Wohnung gründlich. Dieses Verhältnis blieb so bestehen, bis gegen
Mitte August, wo ıch das Reagenzglas leerte.
Mischungsversuch II. Am 28. VII. 1917 tat ich eine Kolonie
Dolichoderus quadripunctatus und eine Kolonie ZLeptothorax tuberum
r. affinis ın ein Becherglas. Die beiden Kolonien stammten von
verschiedenen Bäumen. Nachdem die erste Aufregung sich
gelegt hatte, trugen beide ihre Brut in einen hohlen Zweig, den
ich vorher hinzugegeben hatte. Nach einem Tage trat jedoch eine
räumliche Trennung ein, die Zeptothorax waren mit Sack und Pack
aus dem Stengel ausgewandert und hatten sich neben dem Zweiglein
niedergelassen. Es kam jetzt auch zu ganz vereinzelten Kämpfen,
bei denen die kräftigeren Dolichoderus die Oberhand behielten.
Dieser Versuch bildet das Gegenstück des Forel’schen Experi-
mentes (loc. cıt.) mit Componotus (Colobopsis) truncatus und Doli-
choderus guadripunctatus, welche friedlich nebeneinander wohnen
blieben. Forel sıeht darin mit Recht eine Tendenz zur Parabiose.
Adoptionsversuch III. Zu einer Leptothorax tuberum v. affinis-
Kolonie (mit 90) gab ich ein Zeptothorax. Nylanderi-Weibchen. Das
Resultat verlief negativ, das fremde Nylanderi-Weibchen wurde von
den affinis-Arbeiterinnen mißhandelt und ging infolgedessen nach
einigen Stunden ein.
Ein natürlicher Fund inkompletter Parabiose IV. Am 27. VIH.
17 brach ich einen kleinen Zweigstumpf eines Nußbaumes ab. Beim
Aufspalten machte ich die überraschende Entdeckung, daß _ zwei
Ameisenarten denselben bewohnten. Fig. 2 veranschaulicht die
Verhältnisse.
R. Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen. 349
Im Hauptkanal a traf ich eine kleine Colobopsis-Kolonie an.
(1 9, 1 Soldat und 12 92.) In dem Seitenkanal 5 wohnte eine
mittelgroße Leptothorax affinis-Kolonie. (19 und 25 99 mit Brut.)
Beide Ameisenarten lebten also in unmittelbarer Nachbarschaft.
Es gilt jetzt die Beobachtungen und
Resultate I, II, III und IV zu interpretieren. 7
Die Mischungen und Allianzen hängen innig 2
mit dem Problem des gegenseitigen Er-
kennens zusammen und wir müssen bei einer
Analyse der obigen Resultate von diesen
Tatsachen ausgehen. Hier kurz die Dar-
legung unserer Kenntnisse über die künst-
lichen und natürlichen Allianzen:
Ameisen derselben Kolonie erkennen
sich durch den Nestgeruch und unter-
scheiden vermittelst diesem sämtliche
fremden Ameisen, sogar derselben Art aber
andern Herkommens. Dem äußeren Ge-
ruchreiz entsprechen also zwei Reaktionen: 1. eine freund-
liche, wenn der Geruch dem bekannten, eignen Nestgeruche
entspricht (Erfahrungsassoziation); 2. eine feindliche, wenn der
Geruch unbekannt ist.
Der Nestgeruch besteht nach den schönen Versuchen Bruns’’)
aus zwei Komponenten: 1. einem spezifischen Globalgeruch,
der von der Königin übertragen wird: der eigentliche Kolonie-
geruch; 2. einem Individualgeruch, der sich zu dem ersteren
aus dem besonderen Geruch der Nestlokalität beizumischen scheint.
Die letztere von Brun geäußerte Annahme läßt sich ihrer-
seits in zwei Komponenten zerlegen und zwar entsteht der Indivi-
dualgeruch meiner Meinung nach nicht einzig und allein durch
die chemische Beschaffenheit des Nestes, sondern durch
die zahlreichen Drüsenabsonderungen der Ameisen, die von
Ameise zu Ameise wechseln können.
Der Koloniegeruch der Ameisen hat übrigens sein menschliches
Analogon, wie ja auch die Viehzucht, die Champignonkultur, das
Webschiffehen ihre menschlichen und „ameisischen“ Vertreter haben:
Bekanntlich wechselt der Hausgeruch von Familie zu Familie und
man findet nicht zwei Häuser, die längere Zeit hindurch bewohnt
waren, die denselben Geruch aufzeigen.
7) R. Brun. Zur Biologie und Psychulogie von Formica rufa und anderen
Ameisen. Biol. Zentralbl. 1910, Nr. 15. — Id. Zur Psychologie der künstl. Allianz-
kol. b. d. Ameisen. Biol. Zentrbl. 1912, Nr. 5. — Id. Über die Ursachen an künstl.
Allianzen b. d. Ameisen. Journal f. Psychol. u. Neurol. 1913. — Id. u. E. Brun.
Beobacht. im Kemptthaler Ameisengebiet. Biol. Zentrbl. 1913. — Id. in K. Escherich
„Die Ameise“ 2. Aufl., X. Kapitel.
38. Band 25
TR ET EA AN" el
N SUPER. u Ne
u,
350 R.Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und "Analysen an Ameisen.
Die Mischungskolonien und besonders die künstlichen Mi-
schungen. die man durch Schütteln zweier Kolonien ın einem Be-
hälter erzielt, können nun dahin erklärt werden, daß ein neutraler,
einheitlicher Koloniegeruch entsteht, auf dessen Empfindung
die Ameisen dann freundlich reagieren. Diese Erklärung ist je-
doch falsch und zwar aus folgenden Gründen: Erstens müßte die
Reaktion auf den neuen, einheitlichen NeStgeruch von beiden
Seiten eine feindliche sein und zweitens ist es durch Brun be-
wiesen, daß derMischgeruch erst etliche Zeit nach der Mischung
zustande kommt. Diese zwei Gründe genügen vollauf die Bethe’-
sche chemoreflektorische Erklärungsweise zu verwerfen und sie
drängen uns deshalb zu einer näheren Analyse der psychischen
Faktoren, die hier ins Spiel treten.
Als erstes einwirkendes Moment kommt die Zwangslage in
Betracht. Die Ameisen sind aus ihren natürlichen Verhältnissen
herausgerissen worden und die neuen, mächtigen Reize hem-
men die normalen Instinktmechanismen und befördern
somit die friedliche Vereinigung beider Ameisenarten.
Sodann kommen noch sekundäre Faktoren hinzu: Anzahl der be-
treffenden Ameisen, Vorhandensein von Brut und Königin, welche
die Instinkte in die Bahn einer friedlichen Allianz leiten helfen,
Sodann kommt noch der so wichtige Faktor Zeit unter der Form
der gegenseitigen Anpassung und der allmählichen Entstehung
eines Mischgeruches ın Betracht.
Die Mischungskolonien sind somit nicht das Resultat einfacher
olfaktiv-physiologischer Reizwirkung, sondern vielmehr von psycho-
regulativen Tätigkeiten, deren Hauptelemente die neuen Reiz-
komplexe und die Anpassung sind; also eine Assoziation der sozialen
Instinkte mit den neuen einwirkenden Elementen. So beschaffen
bildet die Analyse der künstlichen Mischungsversuche einen klaren,
allgemeingültigen Ausgangspunkt, von dem aus sich nach der einen
Richtung die künstlichen Allianzen und nach der andern die natür-
lichen Allianzen abzweigen. Dieses gilt nun ausnahmsweise für
alle höheren Ameisen, z. B. Formica, Lastus, Camponotus U. S. W.
Für niedere Ameisen ist noch ein Versuchsfeld offen, das ich
durch obige Experimente anzubahnen das Glück hatte®).. Wir
müssen a priori bei der Interpretation der obigen Versuche nicht
vergessen die biologischen und psychischen Besonderheiten zu be-
trachten und diese als Basis der weiteren Ausführungen behalten.
Diese Besonderheiten sind nun für Leptothorax -Friedfertigkeit und
phlegmatischer Charakter.
Also sind bei den Mischungsversuchen von Leptothoraw-Arten
die Reaktionen von Natur aus schon gemildert. Daraus folgt nun,
8) Welches der Einfluß der Temperatur bei den Allianzen ist, steht
auch noch festzustellen !
R. Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen. 351
daß die Intensität der feindlichen Reaktion auf einem neuen Ge-
ruch schwächer ist wie bei hohen Ameisen. Bei Zeptothorax kommt
aber auch das sekundäre Moment des Vorhandenseins von Brut und
Königin, der Anpassungen in Betracht.
So sehen wir, daß bei Versuch I und II die Allianz sich ohne
Feindseligkeiten machte. Anders sind die Verhältnisse bei dem Adop-
tionsversuch Ill. Hier wurde die Nylanderi-Königin umgebracht,
und das beweist was oben gesagt wurde, daß sekundäre Faktoren
ins Spiel treten. Jedoch ist die Adoptionsfrage der Weibchen bei
den Ameisen eine andere Seite der psyschischen Äußerungen der-
selben.
Die biologischen Erscheinungen der Adoption wurden in dem
letzten Jahrzehnt gewaltig geklärt und ihre Kenntnis sehr gefördert.
Und zwar speziell gelten hier biologische Evolutionsserien, da man
die Tatsachen der Sklaverei und des sozialen Parasitismus auf
diesem Wege zu erklären suchte). Die psychologische Seite dieser
interessanten Beobachtungen und Versuche bleibt noch zu beleuchten.
Ohne hier und jetzt tief in dieses Problem, das durch spezielle,
adequate Versuchsserien gelöst werden muß, einzudringen, versuche
ich einiges znr Lösung beizutragen.
Bekanntlich lassen sich manche Ameisenweibchen nach dem
Hochzeitsflug bei fremden Ameisenarten aufnehmen, wo sie das
Fortpflanzungsgeschäft vollbringen und die Brut von den fremden
Arbeiterinnen aufziehen lassen. Normalerweise gräbt sich das
Ameisenweibchen einen Kessel, pflegt und nährt die Brut selbst
und bleibt somit selbst aktıv bis die ersten Arbeiterinnen
erzogen sind. Sodann sinkt die Königin zur Eierlegmaschine her-
unter, wird gehegt und gepflegt und kümmert sich nicht mehr um
die Brut, diese Sorgen ihren Arbeiterinnen überlassend. Somit
sehen wir das psychische Verhalten, bei der Entwicklung der Erst-
lings-Arbeiter, sich plötzlich umwandeln. Dieses ist einfach eine
Folge der erblichen sozialen Instinkte, eine Folge der Arbeits-
teilung.
Die Weibchen der abhängigen Koloniegründungsweise haben
die psychische Eigenart, andere Arten aufzusuchen, wir beschäftigen
uns jetzt nicht mit der Entstehung und Entwicklung dieses In-
stinktes, sondern sehen zu, welches die psychischen Faktoren der
Adoption selbst sind. ;
9) Siehe hierzu die diesbezüglichen Schriften von Wasmann, Brun, Vich-
meyer, Wheeler, Emery, Kutter u. a., die hauptsächlich im Biol, Zentralblatt
veröffentlicht wurden. Die nachfolgenden psychologischen Überlegungen fußen auf
den Adoptionsexperimenten dieser Forscher, besonders der Myrmekologen Wasmann,
Brun und Kutter,
25*
t
352 R.Stumper, Psycho-biologische Betrachtungen und Analysen an Ameisen.
Die Aufnahme ist natürlich an eine ähnliche äußere Gestalt
gebunden, wir finden denn auch Adoptionsweibchen nur bei nahe
verwandten Ameisen, oder bei Ameisen von ziemlich gleicherStruktur.
Eine zu heterogene Gestalt würde bei Betastung eine feindliche
Reaktion auslösen. Dieser Charakter ist aber nur von nebensäch-
licher Bedeutung. Der Geruchswirkung kommt die Hauptbedeu-
tung bei der Adoption zu. Der intensive, dem Weibchen anhaftende,
Koloniegeruch wird schon beim Hochzeitsflug, besonders aber bei
dem nachherigen Umherlaufen stark gemildert, es kommen jetzt
akzidentelle Gerüche (Boden u. s. w.) hinzu, die den primitiven feind-
lichen Geruch teilweise verdecken. So macht denn das Aufnahme
suchende Weibchen eine nützliche Quarantäne durch.
Aber noch ist es nicht adoptiert. Es steht fest, daß große
Ameisenkolonien fast nie fremde Weibchen aufnehmen, andererseits
erleichtern das Fehlen einer eignen Königin oder die Tatsache
einer kleinen Kolonie die Aufnahme sehr. Hier kommen also ge-
waltige plastische Tätigkeiten in Betracht, und zwar beruhen diese
ausnahmslos auf individuell erworbenen Assoziationen. Die Auf-
nahme fremder Weibchen in Ameisenkolonien ist also be-
dingt durch spezielle psycho-plastische Dispositionen
der Arbeiterinnen. Ich zähle deshalb die Adoption zu den In-
stinktregulationen, deren Basis individuell erworbene Assosia-
tionen sind. Das Ameisenleben ist vollgepfropft von solchen sozial-
psychologischen Korrektionen, die die Instinktmechanismen durch
individuelle Plastizismen. regulieren, in nützliche Bahnen leiten und
so eine Anpassung an äußere Vor- und Nachteile herbeiführen. Als
letzter Faktor kommt die Akkomodatıon in Betracht, bei wieder-
holten Aufnahmeversuchen gelingt die Adoption stets mit den
fortschreitenden Versuchen besser. In diesem Falle hat sich die
Assoziation der neuen Erregungen mit den erblichen Instinkten voll-
bracht und ist zum sekundären Automatismus geworden.
Alles in allem: Wir sind berechtigt die Adoptionsvorgänge
der Ameisenweibcehen bei fremden Ameisenkolonien gleich denen
der Allianzkolonien zu hohen psychischen Tätigkeiten zu stempeln,
die zur Kategorie der Instinktregulationen gehören und deren Fak-
toren, in zeitlicher Anordnung, folgende sind:
1. Attenuierter Nestgeruch des aufzunehmenden
Weibchens.
2. Psychische Situation der aufnehmendenKolonie.
a) kleine Kolonie („Bewußtsein der Schwäche*);
» b) Fehlen einer Königin („Bewußtsein der Schwäche*).
3. Psychische Akkomodation.
In unserem Falle (Adoptionsversuch) löste also der Reizkom-
plex „Nylanderi 9“ bei den affinis 29 eine feindliche Reaktion
R. Stumper, Psycho-biologische Betrachtungen und Analysen an Ameisen. 359
aus, aus den zwei Gründen des fremden Geruches und des
Vorhandenseins einer eignen Königin mit Brut.
Wir sehen nun aber auf den Nußbäumen eine sehr heterogene
Ameisenschaft (siehe Figur 1.)
Camponotus (Colobopsis) truncatus (a u. b, s. Fig. 1).
Dolichoderus quadripunctatus (c).
Leptothorax tuberum v. affinis (d).
Dieselben leben ohne Feindschaft nebeneinander, also haben
sie sich gegenseitig aneinander angepaßt.
Welches ist jetzt die psychische Phylogenie dieser Ameisen-
gemeinschaft. Die Versuche Forel’s und auch die meinen zeigen
ein friedliches Übereinkommen. Jedoch sind andererseits alle andern
Ameisen sich gegenseitig Feinde; wir sind somit berechtigt eine
psychische Entwicklung anzunehmen. Die Natur und die Faktoren
dieser phyletischen Anpassung sind meiner Meinung nach folgende:
1. Das primitive Stadium der Nußbaumameisen war jeden-
falls eine feindliche Nachbarschaft.
2. Es traten nun im Laufe der ersten Generationen folgende
psychischen Situationen ein.
Eine gewisse ‚Zwangslage (das Leben auf demselben
Substrat) vereinigte die anfangs feindlichen Nachbaren.
Eine relative Bewegungsfreiheit verminderte die Wahr-
scheinlichkeit des often Zusammentreffens.
Ein gemeinsamer Vorteil (Nist- und Nahrungsvorteile)
trat auch in Kraft.
Die Entstehungeinesziemlich ähnlichen Nestgeruchs
(Juglansgeruch) verminderte die Heftigkeit der Zusammentreffen
und zuletzt die Anpassung an die gemeinsamen Lebensbedin-
gungen.
Alle diese Faktoren wirkten auf die Juglansameisen, die sich
ım Lauf der Zeit erblich fixierten und somit die heutige friedliche
(semeinschaft bewirkten.
1].
Uber Varıation bei Leptothoraz tuberum r. affinis und
Formica rufa.
1. Leptothorax tuberum r. affinis M.
Bei der Bestimmung der ZLeptothorax- Ausbeute aus dem
Neuenstädter Gebiet fiel mir der besondere Umstand auf, daß nur
sehr wenige Exemplare rassenrein waren. Unter 100 Ko-
lonien waren höchstens 15 genau den Beschreibungen und Abbil-
dungen entsprechend. Sie variierten besonders in bezug auf
354 R. Stumper, Psycho-biologische Beobachtungen und Analysen an Ameisen.
Form und Länge der Epinotaldornen. Ob die Ursache dieser
Variationen Inzucht, Bastardierung oder räumliche Seggregation sind,
vermag ich nicht genau zu bestimmen.
2. Formica rufa L.
Die rufa-Bewohner der Kolonie 12 meines Formicoxenus-Be-
zirkes (siehe die betr. Arbeit im Biol. Zentralbl.) zeigte den kon-
stanten Charakter einer eingebuchteten Schuppe. Arbeiterinnen
und Weibchen wichen durch diese Variation vom Normal-rwfa-typus
ab. Hier ist wahrschemlich Inzucht die Ursache der Variation.
II.
Lebenszähigkeit einer Leptothoraz-Kolonie.
Ich hielt eine mittelgroße Leptothorax tuberum v. affinis-
Kolonie, die ich am 15. Mai 1917 zu Veyrier bei Genf gefunden
hatte, bis zum 10. Februar 1918 in einem Reagenzglas gefangen,
ohne ihnen irgendwelche Nahrung zu geben. Erst gegen Mitte
Dezember 1917 fingen die Arbeiter an einzugehen, zuletzt (9.11.
1918) starb die Königin.
IV.
Inzucht bei Leptothora«.
Für kleine Ameisenkolonien ist die Inzucht als fakultative Be-
gattungsweise anzunehmen. Rein theoretisch genommen muß
diese Kopulationsart die häufigere sein. Forel spricht sich schon
1874 hierfür bei Leptothorax aus. Ich fand nun bei Zeptothorax
tuberum v. affinis sehr häufig Männchen und Weibchen zu gleicher
Zeit ın derselben Kolonie vor. Außerdem spricht der Umstand
einer häufigen Pleömetrose (1—3 99) für diese Ansicht.
V
Pleometrose bei Formica pratensis de Geer.
Am 5. Oktober 1917 traf ich, beim Untersuchen eines Formica
pratensis-Haufens nach Formicoxenus nitidulus (Kol. Nr. 20) 12
Weibchen an, und zwar waren davon
1:2 "rein rufa,
8 99 rufa-pratensis,
3 99 rein pratensis
angehörig. Ob sekundäre Adoption der fremden Weibchen. die
Ursache ist, oder ob es vielleicht mendelnde Ameisen sind, ist
schwer zu bestimmen. Beide Möglichkeiten sind wahrscheinlich,
(Genf, April 1818.
A. Forel, Zur Abwehr. 355
Zur Abwehr.
Im Biologischen Zentralblatt vom Mai 1918 entgegnet Herr
Privatdozent Dr. H. Henning dem Herrn Dr. R. Brun, von dem
er sich persönlich gekränkt fühlt. Herr Brun mag selbst darauf
erwidern. Dagegen fand schon früher und findet jetzt wiederum Herr
Dr. Henning, den ich niemals angrıff, für gut mir Aussagen weg-
werfend zu unterlegen, die mich zu einer Abwehr zwingen:
Ich sei in der Tierpsychologie Anthropomorphist, behaupte die
Ameisen denken logisch, fühlen menschlich sozial etc. Den so-
zıalen Instinkt der Ameisen habe ich, wohl mit Recht, stets
hervorgehoben und gesagt er sei stärker als beim Menschen. Heißt
dies etwa menschlich logisch denken und fühlen? Sind das Fühlen
und der Instinkt Sache der Logik ? Ich habe vielmehr den Anthro-
pomorphismus in der Tierpsychologie stets bekämpft.
Ich behaupte, schreibt H., die Insekten sehen die Welt farbig
und geformt gleich wir! Ich protestiere gegen solche Entstel-
lungen. In meinen „Sinnesempfindungen der Insekten“ (Verlag
E. Reinhardt in München) habe ich vielmehr für jeden Unvorein-
genommenen die Unterschiede zwischen Menschen und Insekten ın
ihrer ganz verschiedenen Psychologie möglichst objektiv klar gelegt
und nicht „ganz verzerrt“, auch nıcht „die neurologischen Stufen-
folgen einfach übersehen‘, wie H. schreibt.
„Er hätte mich darauf hingewiesen, sagt er, daß das Gestalt-
erlebnis (rund, eckig u.s.w.) in meinen Beispielen kein peripherer,
sondern ein zentraler Faktor sei.“ Was ıst das für ein Durch-
einander? Ist denn nicht gerade bei Sinnesempfindungen und bei
ihrer Verwertung durch das Gehirn ein beständiger Wechselver-
kehr zwischen Sınn (Peripherie) und Zentrum durch die Nerven
maßgebend ? und wirken nicht beide (der Sınn durch seinen Bau,
das Zentrum durch Assoziationen und Ekphorien) infolgedessen un-
entwirrbar aufeinander ?
Er wendet gegen mich ein, „daß eine Raumwahrnehmung nicht
auf Aufspeicherung im Gehirn, sondern durch äußere Reize entstehe“.
Dabei verwechselt er Wahrnehmung mit Empfindung! Selbstver-
ständlich sind Sinnesempfindungen vermittelst Sinnesorganen
zur Sinneswahrnehmung nötig. Letztere aber entsteht durch Auf-
speicherung assoziativer Vorgänge und deren Kombinationen und
Ekphorien im Gehirn. Muß man wirklich einem Biologen und
Psychologen dieses heute noch erklären.
Ein noch größeres Durcheinander schreibt dann noch H. über
Geruch und Telepathie. Er glaubt mich belehren zu müssen, daß
„chemische Riechatome keine geruchliche Taxameteruhren in sich
haben“! Gewiß nicht, aber wenn diese nicht von der tief nach
innen feststehenden menschlichen Nase, sondern von außen liegen-
den beweglichen Fühlhörnern gerochen werden, können letztere bei
356 A. Forell, Zur Abwehr.
gleichzeitiger Abtastung mittelst ihrer Bewegung die Grenzen, und
nebenbei mittelst der Abschwächung des Geruches, der mit der
Entfernung abnımmt, auch letztere abmessen, was wir nicht können.
H. wirft mir „Nichtachtung gesicherter medizinischer und psycho-
logischer Tatsachen vor“ ...sagt aber nicht welche. Ich verwahre
mich gegen solche allgemeine Anschuldigungen und warte ruhig auf
die Beweise.
Endlich schreibt H. wörtlich, „daß Forel’s gelegentliche Streif-
züge populärer Art durch das Grenzgebiet der Psychologie und
Philosophie ihm nicht gerade dei Rüf einer psychologischen Au-
torität einbrachten“, und beruft sich hierbei auf „psychologische
Fachorgane“. Damit sucht H. meine, Kompetenz über die Frage
herabzusetzen, weil ich auch populär und nicht nur wissenschaftlich
geschrieben habe. "Also sollte man nach H. an Fachgeist leiden,
vielleicht gar an Facheinseitigkeit, um noch wissenschaftlich salon-
fähig zu sein. Ich gestehe rundweg, daß ich auch populäre Werke
und, außer Ameisen, auch andere Tiere, Hirnanatomie, Psychiatrie,
Psychologie, Hypnotismus u.s.w. wissenschaftlich studiert habe.
Ich hasse aber den Autoritätsglauben, will selbst keine „Autorität“
sein und halte mich durchaus ah für unfehlbar. Dagegen muß ich
von einem „Gelehrten“ eine ruhige (nicht affektiv gefärbte), objek-
tive, d h. induktive Prüfung der Tatsachen und Ansichten fordern.
Herrn H. verweise ich auf zwei wissenschaftliche Arbeiten von
mir, die aus den Jahren 1915 und 1918, somit später als meine
populären Schriften, erschienen sind, resp. erscheinen werden:
1. Über unser menschliches Erkenntnisvermögen, Beitrag zur
wissenschaftlichen deterministischen Psychologie, im Journal für
Psychologie und Neurologie, Band 21, 1915, Leipzig, Verlag von
Johann Ambrosius Barth.
2. Der Hypnotismus oder die Suggestion und die Psycho-
therapie, ihre psychologische, psychophysiologische und medizini-
sche Bedeutung, ein Lehrbuch für Studenten und andere Gebildete,
7. ganz umgearbeitete Auflage. Stuttgart, Verlag von Ferdinand
Enke, 1918. Letztere Arbeit wird bald erscheinen; darin befindet
sich auch die kurze Analyse des Buches eines Fachpsychologen,
Max Dessoir: „Vom Jenseits der Seele“.
In diesen beiden Schriften wird H. meine Ansichten gründ-
lich erläutert finden, wenn es ihm darum zu tun ist. Zum Schluß
möchte ich ihn bitten, wenn. er sich von andern „gekränkt“ fühlt,
den Spiegel vor das eigene Ich zu stellen und vor allem selbst
nicht damit anzufangen, daß er andere durch Entstellungen ihrer
Angaben „kränkt“. ae
Zürich. D. A. Forel.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr -KRrGoöcebel und. Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. BE Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
38. Band September 1918 Nr. 9
ausgegeben am 30. September
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte au Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
%
Inhalt: W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Milaire und Cuvier im Jahre 1830
und seine leitenden Gedanken. S. 357.
W. v. Buddenbrock, Einige Bemerkungen zu Demoll’s Buch: Die Sinnesorgane der
Arthropoden, ibr Bau und ihre Funktion. S. 535.
Referate: Schmidt. Report on the Danish Oceanographieal Expeditions !908S—1910. S. 391.
E. Gutzeit, Die Bakterien im Haushalte der Natur und des Menschen. S. 39.
Cornel Schmitt, Erlebte Naturgeschichte (Schüler als Tierbeobachter). S. 396.
Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire und
Cuvier im Jahre 1830 und seine leitenden Gedanken.
Von Dr. Wilhelm Lubosch. ao. Professor der Anatomie in Würzburg.
Inhalt.
Einleitung.
‚|. Die naturphilosophische Gesamtlage um das Jahr 1830.
Cuvier's und Geoffroy’s Behandlung der vergleichenden Anatomie
nicht durch „Exaktheit“ unterschieden, sondern durch ihre Beurteilung
der Tatsachen. Verzicht auf jegliche Beurteilung (Kombination) der Tatsachen
(Cuvier, u. A... Kombination in vierfacher Weise möglich. 1. Idealistisch-
evolutionistisch. Urformenlehre. — 2. Epigenetisch-transformistisch. — 3. Ver-
knüpfung beider Auffassungen. — 4. Goethe's Stellung. Seine praktisch
vergleichend-anatomische Fassung der Typuslehre. Begründung des Homo-
logiebegriffes. — Worin besteht die „Exaktheit“ in der vergleichenden :Ana-
tomie? — Die Methodik der vergleichenden Anatumie als Gegenstand des
Akademiestreites.
38. Band 26
EN ET N aid ar? .%
AN REN EN Le
358 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete,
II. Verlauf und Beurteilung des Akademiestreites.
a) Verlauf. 1. Vorgeschichte und Anlaß. — 2. Verlauf in tabellarischer
Darstellung. }
b) Beurteilung. 1. Charakteristik der Personen. — 2. Gegenstand des Streites.
III. Der Streit bei Mit- und Nachwelt.
Goethe (1830 und 1832), R. Virchow (1867), Joh. Müller (1335), R. Owen
(1848), E. Haeckel (1566). — Evolutionistische Elemente und Geoffroy’sche
Probleme in der späteren und heutigen vergleichenden Anatomie (Archi-
pterygiumtheorie — Entstehung des Haarkleides — Reichert’sche Theorie —
Chondrogenese).
Schluß.
Einleitung.
Die erneute Behandlung dieses Themas wird zwar unmittelbar
veranlaßt durch die Besprechung, die der Akademiestreit kürzlich
durch Kohlbrugge erfahren hat (1913 p. 61ff. Goethe’s Partei-
nahme am Kampf in der Pariser Akademie v. J. 1830). Doch
waren es schon meine eigenen Untersuchungen der letzten Jahre über
spezielle Fragen der vergleichenden Anatomie, die mir mehr und mehr
den Wunsch erweckt hatten, einige theoretische Probleme unserer
Wissenschaft, vor allem das der polyphyletischen Deszendenz,
das neuerdings wieder ın den Vordergrund getreten ist, selbst zu
prüfen. Hierzu war es aber unerläßlich, die historischen An-
fänge der Morphologie, die ın die Zeit der ersten Blüte der ver-
gleichenden Anatomie fallen, durch eigenes Studium der Literatur
kennen zu lernen. Die Möglichkeit zu diesen rein literarischen
Studien bot sich mir während gewisser Zeiten meiner Tätigkeit
ım Felde. Die endgültige Bearbeitung meines Materials konnte
ich dann nach meiner Rückkehr vornehmen, undals ein Teil dieses
Materiales ist die vorliegende Abhandlung aufzufassen, in der der
Versuch gemacht wird, die aus der Kritik Kohlbrugge’s er-
wachsene Darstellung der Vorgänge des Jahres 1530 ın den Rahmen
einer umfassenderen Betrachtung einzuschließen.
Was Kohlbrugge’s Arbeit betrifft, so kann uns bei aller Be-
wunderung, die dem Autor gezollt werden muß, weil er mit er-
staunlicher Belesenheit uns die gesamte, sonst wohl kaum bekannte
Literatur über diese Frage vorführt, doch der Eindruck seiner Dar-
stellung nicht ganz befriedigen. Gewinnt doch der, der nicht selbst
die Akten dieses berühmten Streitfalles studiert, dadurch, wie
Kohlbrugge seinen Verlauf schildert und die beteiligten Männer
charakterisiert, keine ganz richtige Ansicht von der ganzen Sachlage.
Namentlich sind es die Personen Goethe’s und Geoffroy St.-Hi-
laıire’s, dieKohlbrugge glaubt anders beurteilen zu müssen, als
wir es bıs dahin gewohnt waren. Freilich. übernimmt er im wesent-
lichen das Urteil, das schon vor langer Zeit K.E. v. Baer über
den Akademiestreit gefällt hatte; dies Urteil ist aber erst im
Jahre 1897 durch Stieda’s Veröffentlichung der von v. Baer hinter-
W. alex h, "Dei Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 359
seen schönen, fragmentarischen Biographie Ou vier’s allgemeiner
bekannt geworden. Es ist daher auf das allgemeine Urteil über die Er-
eignisse des Jahres 1830 ganz ohne Einfluß geblieben und erst durch
Kohlbrugge's Schrift könnte es weitere Verbreitung gewinnen. Dies
scheint mir aber dem Morphologen die Verpflichtung aufzuerlegen, das
Material erneut quellenmäßig zu würdigen; denn nicht nur handelt es
sich um einen für die Geschichte unserer Wissenschaft ganz ungewöhn-
lich bedeutsamen Vorgang; sondern es ist auch das, wasK. E. v.Baer
über die Sache gesagt hat, bei Kohlbrugge so verschärft worden,
daß hiernachGeoffroy St.-Hilaire als endgültig abgetaner Phantast
ohne Sinn für wissenschaftliche Kritik, als leidenschaftlich-aggressiver,
eitler Theoretiker und Verderber aller exakten Methodik dasteht,
Goethe aber als eitler Greis, der bedauerlicherweise ın einer
schwachen Stunde für den Partei ergriffen hat, der seinen eigenen,
lebenslang gehegten vermeintlich wissenschaftlichen, in Wahrheit da-
gegen unwissenschaftlich-dilettantischen Bestrebungen entgegen-
gekommen war.
Nun ist es gewiß für die gelehrte Kritik völlig gleichgültig, ob
sie unsere Gefühle der Verehrung für den oder jenen Mann kränkt;
nur muß sie dann wirklich unangreifbar sein und sich nicht auf Mei-
nungen über Tatsachen stützen, sondern die Tatsachen selbst reden
lassen. Ob meine Änderungen, die gleichfalls auf das „Aktenmaterial“
zurückgehen, zugleich berechtigte Verbesserungen des von Kohl-
brugge entworfenen Bildes sind, ob es möglich ist, trotz der
Urteile v. Baer’s und Kohlbrugge’s auch weiterhin ; ın Geoffroy
St.- Hilaire einen unserer ne Morphologen zu sehen und
die „dilettantischen* Werke Goethe’s als unerreicht großartige
Dokumente der vergleichenden Anatomie dankbar zu bewahren —
das zu beurteilen muß dem Leser selbst überlassen bleiben. Nur
zu einem solchen Urteilanregen soll diese kurze Darstellung. Besonders
zwei Fragen sınd es, die mir gerade nach Kohlbrugge’s Be-
arbeitung einer besonderen Prüfung zu bedürfen scheinen: erst-
lich die, nach dem eigentlichen Kern der Lehre Geoffroy’s
und zweitens die, warum Goethe inGeoffroy seinen „Alliierten“
mit so großem Nachdruck freudig willkommen hieß.
Was die erste Frage anbelangt, so finden wir wohl bei Kohl-
brugge des öfteren die Angabe, daß Geoffroy „die Einheit des
Bauplanes“ aller Tiere zum Prinzip erhoben habe (p. 64, 67, 72, 99 und
Anm. 22); von der „Einheit der Komposition“ spricht er ebenfalls
(p. 74, 77, 81, 83, u. a.); auch wird kurz die „Theorie der Ana-
logien“ erwähnt (p. 75 u. 82). Aber mit diesen Schlagworten ist
Geoffroy’s Lehre doch nicht gekennzeichnet. Das „Prinzip der
Analogien“ wäre viel tiefer und gründlicher zu erörtern und vor
allem durch das „Prinzip der Konnexionen“ das Prinzip des „Gleichge-
wichts“ und das der „Wahlverwandtschaft der organischen Elemente“
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360 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
(affınıte elective des elements organisques) zu ergänzen gewesen,
wenn man wirklich einen klaren Einblick in Geoffroy’s wissen-
schaftliche Bestrebungen hätte eröffnen wollen. Wir zweifeln gar
nicht daran, daß Kohlbrugge von diesen Dingen gründliche
Kenntnis hat. Aber ob jeder Fer sie auch hat, ob also wirklich
jedem Leser nun die Möglichkeit eines sachlichen Urteils über den
großen französischen Morphologen geboten wird — das möchten
wir nach Lektüre Kohlbrugge’s bezweifeln. Die allgemein ver-
breitete Ansicht über Geoffroy’s Bedeutung war bis vor kurzem
die, daß er einer der ersten Verteidiger der Abstammungslehre ge-
wesen seı und die Veränderlichkeit der Arten gelehrt habe. Diesem
Urteil ist im Jahre 1912 Rauther in einer sehr wichtigen Ab-
handlung (1912) entgegengetreten. Kohlbrugge’s Schrift ist wohl
dem Erscheinen der Rauther’schen Arbeit entstanden, zum
mindesten gleichzeitig mit ıhr, so daß Kohlbrugge zu Rauther’s
Urteilen sich nicht zu äußern ın der Lage war. Rauther geht
aber gerade auf Geoffroy’s Prinzipien sehr gründlich ein und mißt
ihnen einen hohen Wert bei. Da nun ın der Ablehnung der An-
nahme, daß deszendenztheoretische Gedanken bei Geoffroy eine
irgendwie maßgebende Rolle gespielt hätten, Rauther und Kohl-
brugge durchaus übereinstimmen, so ist es um so auffälliger, daß
Kohlbrugge ım übrigen Geoffroy so wenig gerecht werden kann.
Freilich vermißt man auch bei Rauther das wirklich entscheidende
Wort, das allein die Bedeutung & eo ffro y’sfür uns endgültig und klar
feststellen kann. Es ıst ee daß wenn auch nicht dem Worte, so
doch dem Sinne nach @eoffroy unbestritten der Schöpfer des
modernen Homologiebegriffes gewesen ist, eines Begriffes,
der wie kein Zweiter befruchtend auf die Kutvaklung der verlor
den Anatomie gewirkt hat, ja bis auf den Kee Tag ihr a
und wichtigstes Prinzip geblieben ıst. Wenn auch Geoffroy nur
‚ einmal. das Wort „Homologie“ gebraucht (vgl. Spemann 1915,
p- 65), so bildet doch gerade die Unablinsiken. in der er seine „ana-
logen“ Teile von Ale funktionellen Gleichwertigkeit halten will, das
Fundament seiner Lehre und zugleich einen äußerst wichtigen Kontro-
verspunkt in seinem Streit mit Cuvier. Davon erfahren wir aber bei
Kohlbrugge nicht ein Wort. Von allen Vorgängern Geoffroy’s
hatte sich nur Vieq d’Azyr bıs zu einem gewissen Grade von der
physiologischen Vergleichung frei machen können. Er, Geoffroy,
tat diesen außerordentlich folgenreichen Schritt, wie meines Wissens
zuerst Owen (1848), später besonders 0. Schmidt (1855) anerkannt
hat. Nach genau hundert Jahren muß man Geo ffroy’s Auffassung,
daß die Homologie auf Topographie zu begründen sei, mehr bei-
pflichten als je, nachdem sich der Versuch, Homologie alleın auf
gleiche Abstammung zu begründen, als unmöglich erwiesen hat.
(Vgl. auch Spemann 1915, p. 76ff.)
BL.
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=W. EEbach Der Kkadenikstreit Eschen Geoffroy St. Klare u. Cuvier etc. 361
‚ „Hiermit gewinnt nun aber auch die zweite Frage ein bedeut-
sameres Aussehen, warum Goethe in Geoffroy seinen „Alliierten“
gesehen habe. Gewiß hat Kohlbrugge recht, wenn er die philo-
sophische oder teleologische Art, die Natur zu erklären, als beiden
Denkern gemeinsam bezeichnet. Aber tiefer dringt doch in Goethe’s
Morphologie die Überlegung ein, daß er, Goethe und kein anderer
im Jahre 1790 zuerst den späteren, Geoffroy’schen Gedanken
verkündet hat, daß die Annahme übereinstimmender Lagebezieh-
ungen eines Teiles zu allen anderen Teilen ein heuristisches Prinzip
allerersten Ranges für die vergleichende Anatomie bilde. Dies
wird auch Kohlbrugge ohne weiteres zuzugeben geneigt sein, so
gering er auch im übrigen Goethe’s Leistungen als Naturforscher
einschätzt. Mag Kohlbrugge auch mit. vollem Recht darauf auf-
merksam machen, daß Goethe das Os intermaxillare beim Menschen
nicht „entdeckt“ hat, so streift er mit keinem Worte die Frage,
was denn nun die früheren „Entdecker“ dieses Knochens daraus
für Konsequenzen gezogen haben und andererseits was denn
Kamper, Blumenbach und Sömmering aus ihrer Ableugnung
des Goethe’schen Fundes für Konsequenzen hätten ziehen müssen,
wenn sie solche hätten ziehen wollen.
Es scheint mir hiernach wohl berechtigt, noch einmal den Blick
auf jenen bedeutsamen Akademiestreit zu richten. Es leiten so
viele Fäden aus jener Zeit in unsere hinüber — Probleme die später
aufgetaucht sind, erinnern so lebhaft an die, um welche jener Streit
entbrannt war, daß wır auch für die Gegenwart manches Wichtige
daraus ableiten zu können glauben. Es soll im folgenden made:
ein kurzer Überbliek über die naturphilosophische Gesamtlage jener
Zeit (1), sodann eine Darstellung des Streites selbst en werden
(II). Hierbei werden wir die chronologische Vorführung seiner
einzelnen Phasen (ll :) von einer Ber dluns der Vorgänge (II)
trennen. Im Schlußabsehnitt (III) werden wir dann den Streit in
seiner Bedeutung für die Nachwelt zu würdigen versuchen.
Il. Die naturphilosophische &esamtlage um das Jahr 1830.
Über die naturphilosophische Gesamtlage jener Zeit belehrt
uns Kohlbrugge selbst auf S. 63ff. seiner Abhandlung. Er
sondert die physiko-teleologische Richtung, die, wie er sagt, von der
Naturforschung allseitig verworfen wurde, von den Ansichten der
Naturforschung selbst und unterscheidet bei diesen die supranatu-
ralistisch-vitalistisch-teleologische Richtung von der „exakten“ For-
schungsmethode. Zu denen, die jenen Ansichten huldigten, rechnet
er vor allem Geoffroy und Goethe, deren Naturerklärung be-
ruhe, wie er meint, auf der Annahme psychisch wirkender Natur-
gesetze, die wie die Gedanken im Geist des Künstlers die Kunst-
362 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
werke, so als bewirkende Gedanken ım Geiste der „Gottnatur“ ‚die
organischen Formen hervorriefen. Diese zwecktätigen Naturgesetze
seien von der anderen Richtung deshalb verworfen worden, weil
man von ihnen keine Lösung schwebender Fragen erwartete. Der
Anhänger dieser „exakten“ Methode, z. B. Newton und Cuvier
ließ „den übrigens unbestrittenen vitalistischen, kreativen Ursprung
aller Dinge bei seinen Forschungen zur Seite, wie gläubig er auch
sonst im Privatleben war (Newton) und suchte zur Erklärung der
Erscheinungen nach Naturgesetzen, ohne auf deren Ursprung weiter
einzugehen. Solche Gesetze sollten mechanisch wirken, wenn auch
ihr Ursprung ein vitalistischer war. So faßte auch ein Cuvier
seine Stellung als Naturforscher auf, und mit ihm die ganze konkret
zu nennende Schule“.
Die Gegenüberstellung ıst, wenn sie richtiger begründet würde,
wohl zutreffend; mit der von Kohlbrugge gegebenen Begründung
kann sie aber nicht als besonders glücklich oder beweisend ange-
sehen werden. Kann Cuvier’s Methode — die ja natürlich im engeren
Sınne ein unvergängliches Beispiel exakter Naturforschung ıst —
wirklich derjenigen Geoffroy’s gegenüber antithetisch als „exakt“
bezeichnet werden? Das ist die Frage. Richtig ist in diesem Zu-
sammenhang lediglich die Heranziehung Newtons; aber wır wissen,
daß in den anorganischen Naturwissenschaften.. bereits damals
überhaupt keine andere Forschungsmethode als zulässig gelten
konnte. War das denn aber damals für die „biologischen“ Wissen-
schaften bereits auch so? Das würde doch nur zu bejahen sein,
wenn Kohlbrugge an den Materialismus dächte, der ja wie be-
kannt, so alt ist, wie es überhaupt Naturbetrachtung giebt. Viel-
leicht waren die größten und konsequentesten Materialisten dıe mile-
tischen Naturphilosophen,, die den Kosmos nach den Gesetzen der
menschlichen Physiogie, soweit sie ihnen bekannt waren, erklärten
(vgl. Heidel 1911). Grade Kohlbrugge (p. 62) erkennt an,
daß die Schule Lamettries und Holbach’s „ım ersten Drittel des
19. Jahrhunderts allen Einfluß verloren* hatte und daß, wie wir
selbst hinzufügen wollen, erst ın der zweiten Hälfte dieses Jahr-
hunderts das Bestreben als wesentlich anerkannt wurde, das orga-
nische Leben mechanistisch zu beurteilen. Bis auf den heutigen
Tag aber laufen neben dieser Naturerklärung, die wır doch einzig
„exakt“ nennen können, zahlreiche andere einher und erst im bio-
logischen Experiment, in der Erblichkeitsforschung, in der Ent-
wicklungsmechanik haben wir wirklich „exakte“ Forschungs-
methoden vor uns.
Gehörte nun Cuvier in diese Richtung hinein? hat er der-
artige Erklärungen wirklich versucht? Wir antworten: nein. Kohl-
brugge sagt: „So wie man mit solchen Naturgesetzen, die
mühsam aus den Tatsachen abstrahiert werden mußten, nicht
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Ww. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St-Hilaire u. Cuvier ete. 3653
weiter auskam, machte man einfach halt mit den Worten:
„Das können wir nicht wissen, das liegt außerhalb des
Forschungskreises.“ Ob Kohlbrugge hierbei an „Gesetze“ wie
das der „Mannigfaltigkeit“, der „Einheit“ und der „Reduktion“
denkt, wie ‚sie Cuvier’s großer deutscher Mitarbeiter Meckel
(1821 —31, Bd. I, p. VIHI/IX, 8/9 u.s. w.) lehrte? Oder an die Ge-
setze, daß sich die Tiere im Zusammenhang mit der Umgebung
durch spezifischer Affinitäten der Ernährung umbildeten, wie es
Treviranus lehrte? Oder an Lamarck’s psychische Faktoren? Es
sind dies alles „Gesetze“ nicht schlechter und besser als Goethe’s
„Variations- und Spezifikationstrieb*, Blumenbach’s „Bildungs-
trieb“ Geoffroy’s Gesetz des „soi pous soi* und Cuvier’s Ge-
setze der Erdkatastrophen und Tierwanderungen.
Ich glaube daher nicht, daß es möglich ıst, den Unterschied
zwischen Geoffroy’s und Cuvier’s Methode grade ım Mangel oder
im Vorhandensein der „Exaktheit“ zu suchen, sondern nur darin,
worin ihn schon Goethe und später ©. E.v. Baer gesehen haben,
in dem Verzicht Cuvier’s auf die Kombination der Tatsachen.
Daher kommt Cuvier so wenig wie Meckel, K. Fr. Wolf,
Pander und v. Baer ın Betracht, wenn wir von Naturphilosophie
handeln. Diese Forscher trieben keine Philosophie, sondern
lebten der Beobachtung und „Reflexion“. Cuvier beschränkte sich
auf die Beobachtung, Geoffroy, der ebensogut beobachtete, nicht.
Deswegen wird der eine aber nicht zum exakten, der andere
zum unexakten Forscher. -Denn hinsichtlich der Beobachtung gab
und gibt es keine exakten und unexakten Forscher. Mit der un-
exakten Beobachtung hört ja die Wissenschaft auf!).
Hinsichtlich der naturphilosophischen Verknüpfung nun zeigen
sich uns von den Theoretikern der damaligen Zeit vier Wege
beschritten.
1. Sowohl Geoffroy als auch Lamarck haben eine „Philo-
sophie Zoologique“ geschrieben. Alles, was sich der unmittelbaren
Beobachtung entzog, war damals in dem Begriff der „Philosophie“
einbegriffen. Dies spricht am deutlichsten dafür, daß keiner vonihnen
geglaubt hatte, eine wirkliche kausale Erklärung für den Zu-
sammenhang der Orgänismen zu geben. Geoffroy stand mit
seinem Erklärungversuch durchaus auf dem idealistisch-evolutionisti-
schen Standpunkt seiner Vorgänger Buffon und Vieq d’Azyr.
Dieser Standpunkt selbst aber fand seinen Urgrund in dem Ge-
danken des einheitlichen Seins, wie er sich im Altertum ım
1) Ich möchte dies betonen, weil ich nach p. 69 den Eindruck habe, als ob
Kohlbrugge Geoffroy jedes Verdienst als Beobachter absprechen und ihm ledig-
lich die philosophische Verarbeitung der Befunde Cuviers zusprechen möchte.
Zum mindesten scheint K. die mannigfachen Arbeiten G.’s auf deskriptiven und
systematischem Gebiete (s. Michaud) ganz gering zu bewerten,
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364 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Uuvier ete.
Eleatismus ausgebildet hatte. Die Leugnung des „Werdens*,
die Ansicht, daß nur das „Sein“ wahrhaft, nur von ıhm ein (philo-
sophisches) Wissen (&zomun) möglich, von allem Werden, dem
Schein, dagegen nur ein Scheinwissen (öö&a) möglich sei, hat sich
seitdem auch in der abendländischen Denkweise immer wieder
durchzusetzen versucht, Im Platonismus empfing sie durch die
Ideenlehre eine ganz einzige Fassung, die teils durch Plato’s wider-
spruchsvolte Darstellung selbst, teils durch Arıstoteles falsche
Wiedergabe zu den merkwürdigsten Verirrungen geführt hat. Der
Dualismus zwischen Wesen an sich und Erscheinung fand mannigfache
"Ausgänge. Gänzlich ungelöst blieb er bei Schelling’s Lehre von
der Weltseele und ‚ihren Verkörperungen ın einzelnen Sphären.
Spinoza’s Pantheismus sah ım Denken und in der Ausdehnung
nur Attribute der göttlichen Substanz und kehrte damit nahezu zum
vorplatonischen Bleatismus zurück. Leibniz band Denken und
Ausdehnung an die Monaden und wurde dadurch der Vater der
mathematisch gedachten Kontinuitätslehre, die in Bonnet ihren
naturwissenschaftlichen Hauptvertreter fand. All diesen Systemen
wohnte der Grundgedanke inne, daß — naturwissenschaftlich ge-
sprochen — das „Werden“ ein relativer Prozeß sei, nur Teilerschei-
nung eines gegebenen Ganzen, sei es, daß man sich dieses als eine
Unendlichkeit unendlich fein abgestufter Einheiten (Kontinuität)
vorstellte oder als eine ıdeelle Einheit, deren realer Abglanz die Einzel-
formen waren. Eine eigentliche phylogenetische „Entwicklung“ im
epigenetischen Sinne gab es für diese Vorstellung nicht. Ontogenetisch
führte dieser Gedanke zur Einschachtelungslehre;; für die vergleichende
Anatomie aber zur Phylopräformation. Letztere lag den ver-
gleichend-anatomischen Betrachtungen Buffon’s, Vieq d’Azyr’s
und vor allem Geoffroy’s zugrunde Hier handelte es sich nie-
mals um die Annahme einer realen Umbildung, einer Abstammung
von einer „Stammform“. Was damals als „Ausgang“ angesehen
wurde, waren die „Urformen“, die nicht wie die späteren „Stamm-
formen“ Personifikationen eines systematischen Begriffes waren, einer
Kategorie des Systems, sondern in Wirklichkeit platonische Ideen.
Sie konnten nicht durch Analyse, sondern nur durch Synthese ge-
wonnen werden. Die „Urform“ der Nagetiere war kein „Proroden-
tier“, sondern eine symbolische Form, die in sich die Charaktere
aller Nagetiere vereinigen sollte; die Organisation aller Nagetiere
war präformiert; die einzelnen Nagetiere verhielten sich zu dieser
Urform, wie die Spezialfälle zum Gesetz. Daher ıst beim Verständnis
aller hierauf basierender Erklärungen jeder Gedanke an eine reale Ent-
wicklung auszuschalten. Kamper verwandelte durch Kreidestriche
ein Skelett in ein anderes, ohne zu behaupten, daß eines vom an-
deren „abstamme“; Vieq d’Azyr „sieht“ mit seinem geistigen
Auge, indem er den Blick über die mannigfachen Formen hinweg-
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W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 365
gleiten läßt, eine Bewegung der Organe im Reiche der Organismen.
Geoffroy „sieht“ ebenso den Rumpf sich verkürzen, das Sternum
„wandern.“ Im Begriff des Typus war eben der der Beweglichkeit
bereits embegriffen (O. Schmid). Die damals weit verbreitete und
oft bekämpfte Vorstellung, daß Wirbeltiere auf dem Rücken laufende
Insekten wären, so falsch sie war, darf uns doch nicht zu dem
irrigen Glauben veranlassen, als sei es Prinzip gewesen, die Wirbel-
tiere von Insekten „abstammen“ zu lassen. War es auch falsch,
daß ein Wirbeltier über den Rücken zusammengefaltet eine Salpe-
ergäbe, so dachte doch niemand daran, Wirbeltiere von Salpen her-
stammen zu lassen. So falsch also auch die Vergleiche waren —
die heutige Zeit muß so gerecht sein, nicht in die damalige hinein-
tragen und hineindenken- zu wollen, was erst unsere Zeit konse-
quent durchgedacht hat.
Diese Urformenlehre, ein seltsames Ken zwischen realer
Anschaulichkeit und rn Anschauen wurde als Lehre von der
„Einheit des Bauplans® ausgesprochen; bekannt istes, daß Goethe
einen großen Mangel darın gesehen hat, daß Beer Sprache .
nur von „ÜComposition“ und „Materiaux“ zu sagen wußte, wo
eigentlich von den tiefsten Geheimnissen der Organisation des Le-
bendigen die Rede war. Das ist in der Tat auch der schwierigste
Punkt, von dem alles Verständnis, wie alle Gegnerschalt ausgeht: die
Organisation. Ist sie etwas Gewordenes oder etwas Gegebenes?
Bildet sich etwas neu oder ist alles neu Erscheinende nur Umbil-
dung des Vorhandenen? Letzteres war Geoffroy’s und der ihm
Gleichgesinnten Grundüberzeugung, so unvollkommen sie auch durch
„Composition“ sprachlich ausgedrückt wird, ja so sehr sie grade
dadurch ins Gegenteil verkehrt wird. Und ıst es denn nun wirklich
richtig, was ohlbrr ugge S. 82 seiner Schrift sagt: „Die einfache
Frage war: Darf der exakte Naturforscher, der Morphologe be-
Be daß alle Tiere nach einem Plane gebaut sind? Dann ant-
'wortete Cuvier und mit ihm jeder moderne Natur forscher „Nein“.* —
Cuvier konnte so antworten; aber jeder moderne Naturforscher?
Wissen wir nicht heute viel besser als es Geoffroy und
seine Zeit erfahren konnte, daß dies doch der Fall ist? Daß in
der Gastraeatheorie Haeckel’s einer der großartigsten und ge-
waltigsten Gedanken der Naturwissenschaft, die alte Lehre von
der Unite de plan zum Gemeinbesitz aller „modernen“ Natur-
forscher geworden ist, rechtfertigt gewiß grade das tastende Suchen
jener älteren Zeit. Und wenn wir auch ©.E. v.Baerals einen unserer
großen Geister verehren, so wollen wir doch nicht ohne weiteres
jener Entsagung das Wort reden, die er bei Geoffroy vermißt hat,
wenn er ihm schuld gibt (l.e. p. 255), er hätte seine Sehnsucht
nach Vereinheitlichung unterdrücken sollen, weil sie nicht mit voller
Klarheit befriedigt werden und nur nebelhafte Vorstellungen er-
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366 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier elc.
zeugen konnte, die man dann für wirkliche Einsicht gehalten hätte.
Historisch denken heißt: in jeder Erscheinung der Gegenwart die
Wirkung eines Momentes der Vergangenheit erkennen. Und fest-
zustellen, wieviel Keime der naturphilosophischen Zeit erst zur
Zeit des Darwinismus aufgegangen sind, wie gewisse große und
wichtige Probleme von heute (z.B. Archipterygiumtheorie, Reichert’-
sche Theorie, Theorien der Osteo- und Uhondrogenese) unmittelbar
aus jener, jetzt so gern unterschätzten Zeit herausgewachsen sind,
das ist eine besondere Aufgabe, zu deren Lösung man Fachmann
und Historiker zugleich sein muß.
Wir kommen darauf später zurück und wenden uns zu einem
weiteren Punkte jenes idealistisch-evolutionistischen Programmes.
Wie nämlich, fragen wir, wurde denn jene Einheit des Planes in
der Praxis methodisch untersucht? Hier kommen wir auf den be-
reits in der Einleitung erwähnten Umstand, daß diese praktische
Untersuchung Geoffroy zu nichts Geringeren hinführte, als zur
Feststellung des Homologiebegriffes. Daß alle Organismen —
sagen wir zunächst innerhalb der Wirbeltiere — aus denselben
Elementen gebaut sind und daß jedes Element zu allen anderen
Elementen innerhalb des Organismus in der gleichen unveränder-
lichen, topographischen Beziehung steht, ist eine Erkenntnis,
die wir Geoffroy St.-Hilaire verdanken. Daran ıst nichts
zu deuteln und zu drehen. Es ist meiner Ansicht nach ganz
und gar irreführend, wenn Kohlbrugge sagt (p. 82), daß 1830
noch die Möglichkeit bestanden habe, „Analogie“ mit Ähnlich-
keit zu übersetzen und daß man dann auch „den Mond mit dem Teller“
vergleichen könne, weil beide rund sind. Wie man Analogie
übersetzen konnte, darum handelt es sich ja gar nicht, sondern darum,
aus Geoffroys Werken festzustellen, wie er es verstanden hat
und verstanden wissen wollte. Aus seinem Hauptwerk (1818) geht
aber so klar wie nur irgend etwas hervor, daß er eben nicht diese
äußerliche „Ähnlichkeit“ gemeint hat; geht er doch stets grade darauf
aus, zu zeigen, wie die homologen Stücke des Visceralskelettes,
des Schultergürtels u.s.w. gestaltlich einander höchst unähnlich
werden und doch essentiell die gleichen bleiben. Owens Ver-
dienst besteht nicht darin, diese Gleichheit trotz der Unähnlichkeiten
erst unterschieden, sondern für die essentielle Gleichheit einen
bestimmten Terminus, eben den der „Homologie“ eingeführt zu haben,
‘wobei er sich ja selbst auf Geoffroy St.-Hilaire beruft. Be-
weis für Geoffroys Tiefblick ist doch die Tatsache, daß — neben
vielem Irrigen — von ihm z. B. die Homologie der Tuba audıtıva
und des äußeren Gehörgangs mit der ersten Kiemenspalte der Fische
erkannt, manche Homologie der Elemente des Schultergürtels richtig
gedeutet worden ist, die rudimentäre Bezahnung der Wale entdeckt
und dadurch Fragen angeregt worden sind, die erst später durch ent-
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 367
wicklungsgeschichtliche Untersuchungen richtig beantwortet werden
konnten, wie also z. B. die nach der Homologie der Gehörknöchelchen
oder des Operkularskelettes. Wenn er fragte: genügt die Wirbeltier-
organisation um zweierlei Typen der Respirationsorgane hervorzu-
bringen — so ist diese Frage echt wissenschaftlich exakt und
gründlich durch alle späteren Entdeckungen gerechtfertigt — wenn
gleich er selbst die exakte Antwort auf diese Frage noch nicht zu
geben vermochte. Wer ıhn deswegen tadelt, der könnte auch die
alten alexandrinischen Geographen wegen ihrer Landkarten tadeln,
oder Columbus wegen seiner Unkenntnis darüber, daß er Amerika
entdeckt habe.
Soviel über diese ıdealıstisch-evolutionistische Richtung der
damaligen Naturphilosophie.
2. Eine realistisch-epigenetische lebte gleichzeitig n Erasmus
Darwın und Lamarck. Auch Lamarck hat eine „Philosophie
Zoologique“ geschrieben und es ist mir auffällig, daß Kohlbrugge
für diese „Philosophie“ anscheinend kein Wort des Tadels hat.
Denn auch Lamarck hat die Tatsachen, die er beobachtet hat,
durch eine Theorie verbunden, die aber so seltsam war, daß sie sich
keiner der damals naturwissenschaftlich maßgebenden Männer zu
eigen gemacht hat. Mochten sie sonst sich befehden — mochten
sie den verschiedensten Richtungen angehören: Cuvier, Geof-
froy, Goethe, v. Baer — sie haben sie alle abgelehnt. In seiner
Zeit und später (Meckel, Rathke, Joh. Müller, Reichert) ist sie
völlig vergessen worden. Wenn nun Plate (1913 p. 594) den „mecha-
nischen“ vom „vitalistischen“ Lamarckiısmus sondern und jenem
allein naturwissenschaftliches Bürgerrecht zusprechen will, mit der
Behauptung (p. 593 Anm.) Lamarck würde heute den vitalistischen
Teil seiner Thesen aufgeben — so ist daran natürlich soviel richtig, daß
heutzutage, wo im Selektionsprinzip ein damals unbekanntes Moment
als wirksam angesehen wird, der „Psycholamarckismus‘“ nicht un-
bedingt erforderlich ist, wenngleich er in dem abgekürzten Sprach-
gebrauch der heutigen Naturphilosophie fast überall wiederkehrt (also
z. B., wenn versichert wird, die Perissodactylier „mußten, die seit-
lichen Zehen zurückbilden, um flüchtiger werden zu können u. a m.)
Für die damalige Zeit aber, die eben das Selektionsprinzip nicht
hatte, wäre der Lamarckismus ohne sein psychistisches Prinzip
überhaupt sinnlos gewesen und wäre reduziert worden zu dem-
jenigen, was man schon lange kannte, der Umbildung der Formen
nämlich durch den Monde ambiant. Das aber war kein Lamarckis-
mus und war auch mehr oder weniger hier und da akzeptiert worden.
An Plate’s Zweiteilung scheint mir aber auch das nicht richtig, daß
er den „mechanistischen“* d. h. den „Funktionslamarckismus“
überhaupt als etwas unabhängig vom Psycholamarckismus Gül-
tiges auffassen möchte. Wenn Plate (p. 592 Anm.) die beiden
365 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc.
wichtigen Gesetze von der funktionellen Anpassung und Vererbung
wörtlich zitiert (ef. Lamarck 1309, Bd. I p. 235), so übersieht er, daß
kurz vorher (l. c. p. 234) Lamarck selbst die „veritable ordre de
choses“ in der Reihenfolge sieht: 1. Wechsel der äußeren ‚Um-
stände und Wechsel der Bedürfnisse. 2. Wechselnde Bedürfnisse,
neue Aktionen um sie zu befriedigen, und wechselnde Gewohn-
heiten. 3. Demzufolge entweder verstärkten Gebrauch vor-
her weniger gebrauchter Teile oder überhaupt Anwendung
neuer Teile.
Für Lamarck ist also keineswegs etwa die gesteigerte Funk-
tion vom „psychischen Faktor“ unabhängig. Auch der sogenannte
„Funktionslamarekismus“ war damals keineswegs mechanistisch
gedacht, sondern durch und durch psychisch-vitalistisch. Es bliebe
also nur die Vererbung des Erworbenen auf die Nachkommen.
Wenn auch Lamarck dies mit rührender Harmlosigkeit eine verit6
„eminemment confirmee par les faits“ nennt (p. 239), so wissen
wir heute so gut, wie Lamarck’s Zeitgenossen, daß eben grade
das Gegenteil der Fall ıst.
3. Es scheint mir nur durch diese psychisch-vitalistische Dogmatik
Lamarck’s überhaupt erklärlich zu sein, daß seine Lehren so ge-
ringen Beifall fanden. Die Annahme einer „Deszendenz“ und einer
„Veräpderlichkeit der Art“ ohne jenen psychischen Faktor war
nämlich weit verbreitet; diese Lehren galten aber keineswegs als
„Lamarckismus“, ja spielten überhaupt eine verhältnismäßig unter-
geordnete Rolle. Diese Kombination von ıdealistisch-evolutionistischer
Naturerklärung und gleichzeitiger Annahme einer Arteninkonstanz ver-
leiht den Anschauungen jener Periode etwas ganz besondersSehwanken-
des. Die Kombination ıst aber vorhanden und ist soweit ich sehe
bisher nicht, auch nicht bei Kohlbrugge, richtig gewürdigt worden.
Nirgends nämlich, selbst in einem Werke wie Pander und d’Altons
vergleichender Osteologie der Säugetiere, in dem Lamarck’s Lehre
ziemlich rein erscheint, spielt die „Abstammung“ eine Rolle als
Erklärungsprinzip für die beobachtete Ähnlichkeit der Formen. Es ist
das ein Gedankengang, in den wir uns heute nur schwer hineinversetzen
können und für den Faust’s Wort an seinen rührigen Famulus ganz be-
sonders gilt, „daß die Zeiten der Vergangenheit uns ein Buch mit sieben
Siegein* seien. Man hört es oft, daß jene erste Blütezeit der Morpho-
logie nur das „erlösende Wort: Deszendenz“ ‚nicht besessen habe,
um alle Deutungen ihrer eigenen Forschungergebnisse im Sinne
der späteren Zeit schon vorweg nehmen zu können. Das ıst aber,
wie schon Spemann sehr richtig gesagt hat, ganz unzu-
treffend. Das Gegenteil ist richtig; man hatte dieses „erlösende
Wort“ — aber man wußte nichs damit zu beginnen. Es lag das
daran, daß im allgemeinen die Abstammung der Tiere voneinander,
wo sie angenommen wurde, nur als Ausdruck der „Generation“,
_W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 369
d.h. des ununterbrochenen vegetativen Lebens, galt. Sie war gleich-
sam nureinanderer Ausdruck für den Zusammenhang zwischen physio-
logischen Vorgängen und Einwirkungen der Umwelt. Ihr übergeordnet
war aber die, solchen Einwirkungen nicht zugängliche Or-
ganısation, die vom Bildungstriebe beherrscht feste Pläne innehielt.
Während wir heute die „Verwandtschaft“ in dem erblicken, was durch
die Generation übertragen wird, sah man damals die „Verwandtschaft“
gerade in dem, was nicht durch Übertragung vermittelt wurde,
lern was nnabkangie davon gegeben war. Die Generation führte
zu Umbildungen nur ainerkaın des Typischen. Das Typische aber
war nıcht entstanden, sondern galt ın vollem Umfange als erschaffen.
Zwischen den beiden Polen, dem Lamarckısmus und — so zu
sagen — Linneismus gab es also eine mannigfache Abstufung
der Vorstellungen. Ließ Cuvier die Spezies, Linne dre Genera
als erschaffen Ballen so salı z. B. Vogt die Familien, Treviranus
die Urformen a Ehen Tierklassen als „erzeugt“ an. Die Familıen-
oder Klassentyben galten als unveränderlich, und innerhalb ihrer
nahm man dann Abstammung und Veränderlichkeit der Formen an.
Indem Erasmus Darwin und Lamarck die Urzeugung an den
Ausgang aller Formen verlegten, räumten sie der Abstammung. den
weitesten. Einfluß auf die Entstehung von Verschiedenheiten ein,
der überhaupt denkbar ıst.
Besonders bei Geoffroy St.-Hilaire spielt diese Kombi-
nation von Typenlehre und Abstammung zwar nicht sachlich, aber
historisch eine bedeutsame Rolle. Schon gegen Ende der zwanziger
Jahre traten bei ihm diese deszendenztheoretischen Gedanken hervor.
Sıe verdichteten sich ım Jahre 1831 zu ansehnlicher Gestalt
Neuerdings haben sich Rauther und Kohlbrugge mit dieser
Frage beschäftigt, sind aber, wie ich meine, in der Erklärung ihrer
Bedeutung nicht glücklich gewesen. Da andererseits grade des-
wegen Geoffroy als einer der ersten „Darwinisten“ gilt und so-
gar behauptet wird, er habe vor der Akademie gegen Cuvier die
Abstammungslehre verteidigt, wird es notwendig sein, der Frage
einige Worte zu widmen. Man muß sich dabei gegenwärtig halten,
daß Schelling (1798) mit seiner Lehre von der „Weltseele* einen
ganz unheilvollen Einfluß ausgeübt hat. Treviranus übersetzte
(1802) diese Philosophie ins Naturphilosophische und schuf daraus
den „grenzenlosen Organismus“ des Ganzen, des Weltalls. In
diesem „allgemeinen Organismus“ bildet das Reich der lebenden
Organismen wiederum nur ein Glied. Darin entstanden durch Ur-
zeugung einfachste Organismen, nämlich die Urformen der höheren
Klassen, aus denen alle Organısmen dieser Klassen durch allmähliche
Entwicklung entstanden seien. Hieraus bildete Geoffroy später
seine „Eichelle Zoologique* (1831, p.67), der er die „Rapports natu-
relles“ gegenüberstellte. Es gab für ihn nun eine Philosophie dieser
ER ER
370 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. sr ete..
Rapportsnaturellesund unabhängig davon eine Philosophie jener echelle
zoologique. Die Rapports naturelles bezogen sich auf die Analogie der
Wesen, d.h. auf dıe Einheit des Planes. „Aus demselben Urgrund
der Organisation entstehen die unähnlichsten Gestalten, die seltsamsten
Kombinationen vollkommen und bis ins Unendliche varuerter Ge-
stalten.“ Es sınd das die typischen Verschiedenheiten; sie ge-
hören zum Wesen der Keime, und sind der Grund dafür, daß
überall homologe Teile vorkommen, wenn auch in mannigfacher Ab-
änderung ihrer Formen. Die Echelle Zoologique dagegen umfaßt die
Verschiedenheiten, die durch Einwirkung der Außenwelt entstehen.
Jene Verschiedenheiten beruhen „auf den Bedingungen und be-
sonderen Verhältnissen der ersten Anlage der organischen Sub-
stanz — diese beruhen auf dem Umfang, in dem die Außenwelt
einzuwirken vermag. Hierbei wird das lamarckistische Prinzip mehr-
mals scharf zurückgewiesen (l. c. p. S1 u. 85); es wird vielmehr
merkwürdigerweise ganz im Sinne der uralten griechischen Physiologie
(Heidel 1911) ein mystischer Einfluß der Ernährung und Respiration
angenommen. Innerhalb dieser Umbildungen erscheint er in der
Tat ganz modern. Er spricht von einem „Kampf der Umstände“
(p. 67), der kontinuierlichen Abstammung der heute lebenden Tiere
von untergegangenen Tieren der Vorwelt, langsamen Umbildungen,
schädlichen und förderlichen Einflüssen u. s. £.
Darum, weil all dies mit großer Schärfe ausgesprochen ıst,
können wir Rauther nicht zustimmen, wenn er die transformisti-
schen Gedanken G eoffroy’s „Entgleisungen“ nennt; wir können aber
auch in Kohlbrugge’s Tadel nicht einstimmen, daß Geoffroy
seine darwinistisch-lamarckistischen Ideen nicht konsequent und stetig
durchgebildet habe. Beides ıst gleich falsch. Der Transformis-
mus bei Geoffroy ist in seinen späteren Schriften keine „Ent-
gleisung“, sondern eine festbegründete Ansicht; aber es ist eine
Ansicht, die überhaupt auch nicht mehr erklären soll, als die Mannig-
faltigkeit innerhalb des gegebenen Typischen. Das spricht
er mit aller wünschenswerten Klarheit aus (1831, p. 88ff.). Das
Gesetz der Analogien gilt, wie auch das der Konnexionen. Die
Möglichkeit der Teile, sich zu veränndern, gibt die Möglich-
keit zu Transformationen. Alle Veränderungen sind aber nur mög-
lich innerhalb der Grenzen, die durch die „Konnexionen* und das
„Balancement“ gewährt werden.
Sehr einleuchtend ist es, wenn Rauther auf den Gegensatz
hinweist, der grade hierdurch zwischen dem Transformismus Geof-
froy’s und dem Dar win’s auftritt. Wir sind heute gewohnt, die
Übereinstimmungen der Organisation nur in ihren Grundzügen zu
fordern; je kleiner die Gruppen, desto verschiedener voneinander
werden sie durch Divergenz der Entwicklung. Geoffroy dagegen
kennt eine solche Divergenz nicht und will die Analogien für
L
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 3741
alle, auch die kleinen Gruppen festgestellt wissen. Er folgt nicht
einer anfänglichen Indifferenz in ihre zahllosen „Differenzierungen*, -
sondern er nimmt — wie es zu jener Zeit auch ausgesprochen
wurde — eine „ursprüngliche und gleichzeitige Verschiedenheit“
(Pander und d’Alton, Goethe) an, die sich zwar noch meta-
morphosiert aber nicht weiter differenziert (vgl. Lubosch 1918).
4. Abseits von den bisher gekennzeichneten Stellungen treffen
wir nun Goethe. Seine Ansichten über Bildung und Umbildung der
organischen Formen haben vielleicht damals weniger Bedeutung
gehabt als später, wo bei dem wachsenden Wert Goethes für
die deutsche Kultur auch seine naturwissenschaftlichen Werke mit
Recht als unsterbliche Zeugnisse seiner Denkungsart immer stärker
gewirkt haben. Schon während seines Lebens wiesen Zeitgenossen
auf den Inhalt seiner morphologischen Arbeiten hin; bald nach
seinem Tode begannen Untersuchungen, Würdigungen, Erläute-
rungen aller Art, an denen sich die besten Naturforscher beteiligten.
Mit dem Erscheinen der „Generellen Morphologie* Haeckel's be-
gann eine zweite Periode der Goetheforschung, in der das Thema,
ob Goethe „Darwinist* gewesen sei oder nicht, in zahlreichen
Streitschriften erörtert wurde; als dann anfangs der 90er Jahre
die Hinterlassenschaft Goethes im Weimarer Archiv der Forschung
zugänglich gemacht worden war, trat man in eine weitere Periode ein,
in der nun durch Forscher wie Steiner, Bliedner, v. Bardeleben
undv. Wasielewski die Spezialerforschung der einzelnen Phasen von
'Goethe’s morphologischer Arbeit durchgeführt wurde. Daneben ent-
standen Biographien und Sonderbetrachtungen, als deren wichtigste
wir hier die von Simmel (1913, 2. Aufl. 1917)anführen möchten. Kaum
sollte man meinen, daß bei der Fülle von Arbeiten noch unklar sein
könnte, was Goethe als Morphologe bedeutet. Schon eine Schrift wie
dieKohlbrugge’s zeigt aber, daß diese Ansicht irrig ist. Sie ist ferner
auch deswegen irrig, weil— vielleicht abgesehen einzig vonSimm el’s
Werk — in der Tatnirgends mit kurzen Worten und klar zusammen-
gefaßt dargestellt ist, was Goethe eigentlich für die Vergleichende
Anatomie bedeutet hat und noch bedeutet.
“Grade weilGoethe in dem Akademiestreit Partei genommen hat
— ein für Goethe wie für die Beurteilung des Streites gleich gewich-
tiges Faktum —, ist es natürlich unerläßlich sich über jene Frage klar
zu werden. Die in der Literatur darüber niedergelegten Ansichten
sind folgende: 1. Man sah in ihm einen Vertreter der idealgene-
tisch-evolutionistischen Beurteilung der Organisation, etwa so, wie
wir sie oben als die Geoffroy’s wiedergegeben haben (z. B.Ber-
thold, Owen, Joh. Müller, Helmholtz, Virchow, Koss-
mann, Sachs, Lewes, R.M. Meyer, Bliedner, Schneider,
Rauther). 2. Man betonte besonders, daß er die Natur als Künstler,
die Organismen als Kunstwerke mit dem Blick des Genius beurteilt
Ke=T nr Ye
ID We Tubosch, Der Kademlestreit Get st. Hilsire ı u. Curie ol.
habe (z. B. Joh Muller, Helmholtz, Virchow, Dubiieey
mond,Harpf u.a.). 3. Man sah in ihm einen echten Darwinisten
(E. Haeckel, Kalischer, Dacque). 4. Man fand in seinen
morphologischen Werken die Spuren einer Entwicklung, mit zeit-
weilig ınehr oder weniger vorwiegender Neigung zu deszendenz-
a Auffassungen (Magnus, v. Bardeleben, Steiner,
Wasielewskı). 5. Man erblickte in seinen Werken „Vor-
has künftiger naturphilosophischer Ideen (Helmholte) Es
hat endlich 6. auch nicht an Stimmen gefehlt, die Goethe’s Werken
jeden Wert für die Naar neh absprechen, weil ıhm jede
Fähigkeit zu exakter wissenschaftlicher Forschung fehlte (C
v. Baer, Dubois-Reymond-Kohlbrugge).
Man sieht, daß keine Möglichkeit außer acht gelassen ist; aber wie
die Planeten ihren ewigen Gang gehen unbekümmert um alle Forsch-
ungen, die die Astronomen über ihre Beschaffenheit und ihre Bahnen
anstellen, so wirkt unwandelbar Goethe’s Morphologie auf jeden,
der sich in sie versenkt, und besonders gilt das für dıe Morpho-
logen selbst, mit der zwingenden Gewalt einer absolut wahren,
klaren und unmißverständlichen Aussage. Woran liegt das? woran
liegt es, daß alle jene Stimmen zugleich Recht haben und doch
kein Einziger uns wirklich zu sagen vermochte, worım die große
Bedeutuug Goethe’s liegt? Versuchen wir die Antwort zu-
nächst dadurch vorzubereiten, daß wir ausführen wollen, was
sich eingehender Versenkung ın jene Werke erschlossen hat. Es
ist ein großer Fehler wie er oft nnd bei den besten Autoren zu
finden ist, an derGestalt und in der Wirksamkeit des großen Meisters
irgend eine Teilung vorzunehmen. Er ist so wenig „Dichter“ in
der Naturforschung, wie „Naturforscher“ in seinen Dichtwerken
— oder aber das eine so gut wie das andere. Es gibt auch nicht
den Dichter neben dem Naturforscher, denn so gut wir ıhn als
„Dichter“ in seinen Konzeptionen von der Wirbeltheorie des Schädels,
der Metamorphose der Pflanzen, der Metamorphose der Tiere u. s. w. er-
kennen könnten, dürften wir ihn, was die psychologische Beurteilung
und Darstellung seiner dramatischen Charaktere anlangt, doch auch
einen echten Naturforscher nennen. Er ist eine Einheit, der es be-
schieden war, wie ähnlich vor ihm nur Plato, Alles, Menschen, Ver-
hältnisse, Beziehungen, Organische Wesen und Anorganisches, Ele-
mente und Kräfte mit leiblichem und geistigem Auge zugleich zu
betrachten. Platonisch war der Hauptsache nach seine Beziehung
zur Welt. Daher ist ihm eines seiner Hauptprobleme das, wie
Sukzessives simultan sein könne. Den einzelnen Fall hieß er
das Allgemeine; das Besondere sind ihm Millionen Fälle (XI. 127).
Er bekennt sich zur Platonischen Idee; aber er gebraucht dafür
vielfach das Wort „Phänomen“ (die Phänomene, die wir anderen
Fakta nennen“ sagt er XI 38, 39). Es ist dies das charakteristischste
Wort in der gesamten naturwissenschaftlichen Terminologie Goe-
the’s (z.B. WL. 221, X1. 38, XI. 103—105, XT. 111, XT. 140). Es
ist in diesem Sinne eine völlige Neuschöpfung des Meisters, ein
Synonym zwar des Wortes „Idee“, wie um dessen abgeschliffene
Urbedeutung wieder herzustellen, aber mit einer wundervollen Fär-
bung die Aktivität der Natur (Phainomenon) gegenüber ihrer Pas-
sivität (ldeai) feststellend. Die reine Auffassung dieser „Phäno-
mene, die andere Fakta nennen“, — und ihre treue Beschreibung
ist sein Ziel in der Naturbeschreibung. Nicht einen Organismus ın
Teile zerlegen, sondern zum Begriff eineslebendigen Wesens hindurch-
dringen will er (VIll. 69) und so unterscheidet er zwischen solchen
Beobachtern (XIII. 84), denen es um das Leben zu tun ist und solchen,
die durchdringen, feststellen, anordnen, beherrschen wollen (XIII. 84).
Jenen gereichten sagt er, die Geheimnisse der Natur zu Freude und
Trost, diesen zur Verlegenheit. Daß Goethe zwischen platonischer
Idee und dem Begriff scharf und ganz klar unterschied, läßt sich
durch mehrere Stellen beleger (X1.56, XI. 158) und Harpf macht es
sogar wahrscheinlich, daß Schopenha uer’s Lehre von der willens-
freien Erkenntnis der Ideen auf das lebendige Beispiel zurückzu-
führen sei, das Goethe dem jungen Philosophen im persönlichen
Umgange gegeben habe. Ja Goethe ging soweit, für das Intel-
lektuelle eine ähnliche Steigerung für möglich zu erachten, wie im Sitt-
lichen; so wie sich der Mensch hier durch Glauben an Gott, Tugend
und Unsterblichkeit in eine obere Region erheben und an das erste
Wesen annähern könne, so — glaubte er — könne man sich auch
durch Anschauen einer immer schaffenden Natur zur geistigen Teil-
nahme an ihren Produktionen würdig machen (XI. 55). Wenn Kant
gelehrt hatte, daß der Versuch, die Zweckmäßigkeit kausal zu er-
klären, nur einem göttlichen Intellekt möglich sei und jeder Versuch
dazu auf ein „gewagtes Abenteuer der Vernunft“ hinauslaufe, so ver-
maß sich Goethe, dies Abenteuer zu bestehen, weil er eben seinen
Intellekt in der Bahn einer solchen Steigerung tätig empfand; so
kühn vertraute er auf die Kraft semer Anschauung?). Nicht nur einige
seiner Zeitgenossen, sondern vorallem Simmel hat in der Tat in
Goethe’s Anschauungskraft ein dem Kantischen Erkenntnis-
prinzip zwar entgegengesetztes, aber nicht minder berechtigtes
erkennen wolllen.
Sein und Werden sind nun wie für Plato auch für ihn die
beiden Pole, um die sein Bemühen, die Phänomene zu beschreiben,
schwankt. Wie sich Plato im „Parmenides“ zu der Erkenntnis
2) Daß Kant die Versuche einer historischen Ableitung der Organismen von-
einander als „gewagtes Abenteuer der Vernunft“ bezeichnet und Goethe sich
trotzdem zum Bestehen dieses Abenteuers entschlossen habe, ist eine Annahme, die
auf irrtümlicher Deutung der Stelle bei Kant (17908 80) beruht. Sie und Goethe's
Aufsatz (XI, 55) sind so zu verstehen wie oben angegeben.
38. Band, 27
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374 . W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cnvier ete,
durchringt, daß das „Sein“ der Eleaten nur bei gleichzeitiger Gel-
tung des Begriffes der Vielheit denkbar ist, so findet Goethe das
gewaltige Wort: „Alles muß in Nichts zerfallen, wenn es im Sein
beharren will“ (XI. 266) und mit der „geprägten Form die lebend
sich entwickelt“ sind, wie Simmel sehr richtig betont, die beiden
großen Gegensätze dicht aneinander gebracht, obwohl Goethe als
Naturforscher zwischen beiden Gegensätzen eigentlich eine un-
überbrückbare Kluft hätte sehen müssen (Simmel).
Die Gedanken über das „Sein“ bilden den Inhalt seiner „Ur-
formen“- oder Typenlehre; die Gedanken über das „Werden“ enthält die
Metamorphosenlehre; beide stehen in untrennbarer Verbindung, der
Typus ist ohne die Metamorphose, die Metamorphose ohne etwas
Typisches, dasmetamorphosiert wird, nichtzu denken. Die Wissenschaft
dieser Einheit von Sein und Werden aber, wodurch die Organismen als
Phänomene, als Seiendes und Werdendes also zugleich bezeichnet
werden können, nennt Goethe „Gestaltenlehre“* (Morphologie).
Was den „Typus“ anbelangt, so ıst es nun für Goethe ungemein
bezeichnend, daß es ıhm nicht genügte, ihn rein abstrakt zu fassen.
Wohl ist auch in abstraktem Sinn davon vielfach die Rede und, da
er Phänomene sieht, wo andere Fakta sehen; da ihm die Erschei-
nungen nicht weiter erklärungsbedürftig, sondern selbst bereits
„die Lehre‘ sınd — so mag zwischen seiner Ausdrucksweise und
der wissenschaftlich allein zulässigen eine Disharmonie bestehen.
Was ihm „anschaulich“ dünkte und was er glaubte auch anderen
als anschaulich begreiflich machen zu können — das war und ist
für andere unter Umständen doch nur ein leeres Wort. Er sieht die
Tierwelt oder eine Gruppe von Tieren oder ein einzelnes Tier als
ein „Erscheinendes“, ein lebendiges, wirkendes, in Tätigkeit und
Leiden sich offenbarendes Etwas, das in innigen Beziehungen zur
Umwelt steht. In diesen Gestalten, in ihren Proportionen, in der
Länge der Gliedmaßen, in der Ausdehnung des Schwanzes offen-
bart sich eine Ökonomie; dies alles läßt sich nur im Kampfe mit
der Sprache selbst wiedergeben; und er setzt sich schließlich dem
Tadel des Mystizismus aus, wie ıhn Kohlbrugge grade ange-
sichts solcher Stellen nicht unterdrückt. Die Zusammenstellung
solcher Äußerungen (VI. 226, VIII. 136, VII. 224/25, VIII. 136,
XIII. 230, VIII. 15, VIII. 240, VII. 228), ist aber wichtig, weil sie
sich vom Jahre 1790 bis 1829, wo die „Spiraltendenz der Vegetation“
entstand, hinerstrecken; es besteht also kein Anlaß, zu behaupten
(Kohlbrugge p.38 u. a.), Goethe sei erst später mehr und mehr
in den „Mystizismus‘ hineingekommen. Was dem gemeinen Sinn als
Mystizismus erscheint, ist eben nur die Inkommensurabilität zwischen
dem Sein an sich und dem sprachlichen Ausdruck dafür. Nicht
vom Horn des Ochsen, das ın Krümmungen ausläuft, nicht von den
grenzenlos wachsenden Krallen des Faultiers, nicht von dem eine
W.Tubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 375
Unendlichkeit andeutenden Schwanz ıst an den bekannten Stellen
eigentlich die Rede, sondern von einem lebendigen Etwas, das
sich unter der Gegenwirkung von Hemmungen den Weg zur
Erscheinung erkämpft. In Schopenhauer’s Sprache wäre das
verständlicher und systematischer auszudrücken gewesen, wie
dieser ja auch in seiner Kritik Lamarck’s sagt (Werke Reclam
Bd. III, S. 244. Lamarck hätte konsequenterweise ein Ur-
tier, ohne alle Gestalt und Organe annehmen müssen — dies
Urtier sei aber der Wille zum Leben, ‚jedoch ist er als solcher ein
Metaphysisches, kein Physisches“. — Das wußte oder fühlte Goethe.
Es ist das meiner Überzeugung nach auch der Hauptgrund dafür,
daß ıhm die platt rationalistische Verquickung zwischen einem meta.
physischen und einem physiologischen Prinzip, wie se Lamarck’s
Naturphilosophie so ganz besonders kraß darbot, keinen Anlaß zu
freudiger Teilnahme gewährte, nicht aber, wie Kohlbrugge meint,
daß er sich von den seiner Typuslehre ungünstigen Theorien La-
marck’s unkritisch und parteiisch abgewendet habe. Wenn aber nun
andererseits viele seiner Zeitgenossen das, was er selbst aussprach,
nicht als Versuch, etwas Irrationales in Worte zu fassen ansahen,
sondern es für Naturgesetze ansahen und damit Wissenschaft trieben,
so darf man ihn für diese Mißverständnisse nicht, wie es z.B.
Sachs undKohlbrugge tun, verantwortlich machen. Wann wäre
es je dıe Pflicht des Genius gewesen, die Mitwelt in ihren törichten
Mißverständnissen zu korrigieren!
Ohne hier auf die Geschichte der „Urform‘“ bei Goethe ein-
zugehen, sei was den Typus anlangt, zunächst grade der mehr
allgemeinen Vorstellungen gedacht, die gemäß dem Ausgeführten
bei Goethe darüber bestanden. Zwischen seinen Vorstellungen vom
Typus und denen, zu welchen er schließlich: in betreff des „Ur-
tiers‘‘ ins Reine gekommen war (,„das Urtier — daß heißt denn
doch die Idee des Tieres“) — besteht kein wesentlicher Unter-
schied mehr. Der Typus ist ein „allgemeines Bild“ der Säugetiere;
er ıst der Natur von der ewigen Notwendigkeit vorgeschrieben
(nahezu wörtlich so, wie im Platonischen Timaeus Kapitel 48).
„Der Typus muß für eine ganze Klasse so festgesetzt werden, daß
er auf jedes Geschlecht und jede Gattung passe.“ Nirgends offenbart
sich der unüberbrückbare Gegensatz zwischen Goethe’s „Urform“
und der modernen „Stammform“ klarer. Die „Stammform‘“ soll
zu nichts „passen“, sondern den zeitlichen Ausgang eines Umbil-
dungsprozesses bilden; bei der „Urform“ kommt hinwiederum kein
„Ausgang“ in Betracht, sondern jedes Geschlecht und jede Gattung
ist in ihr bereits da; die Stammform ist Glied einer epigenetisch-
transformistischen Reihe, die Urform ist präformistisch-universell
gedacht. Die Stammform steht auf der Stufe der Indifferenz gegen-
über differenteren Epigonen; die Urform ist in schärfster Differen-
97%
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376 W. Lubossh, Der Akademiestreit zwischen Geoffrov St.-Hilaire u. Cuvier ete.
zierung gedacht, die sich wohl noch metamorphosieren, aber nicht
weiter differenzieren kann. Dies alles ıst ganz ähnlich, wie wir es oben
bei der Darstellung des Geoffroy’schen Standpunktes schildern
konnten. Die Uberemstimmung ging aber noch weiter, insofern
Goethe — wie ın all diesem seltsamerweise 1795 und 1806
ganz unabhängig von Geoffroy und lange vor dessen Hauptwerk
(1818)— das Gesetz des inneren Gleichgewichts ausgesprochen hat
(1795). Er spricht von den „Rubriken des Etats“, „den Bilanzen“
der Natur, wonach es der Natur unmöglich sei, das innere Gesetz
der Gestaltung zu durchrechen. *
Von größter Bedeutung aber ıst es nun, daß Goethe trotz alle-
dem soweit Realist war, daß er seiner Typenlehre eine praktisch-
anatomische Fassung gegeben hat. Hierauf haben wir oben
bereits hingewiesen, als wir sagten, es sei bisher nicht gelungen,
seine Bedeutung für die Vergleichende Anatomie mit kurzem, ein-
deutigem Worte zu charakterisieren. Wir versuchen dies, indem
wir sagen: Er hat den metaphysischen Inhalt ın ein Schema,
eine Form gebracht, die es einerseits gestattet, jenen Inhalt
unmittelbar sinnlich anzuschauen, andererseits aber erlaubt, ihn
der empirischen Forschung dienstbar zu machen. Dies „Schema“
hat denn auch der Forschung nicht nur gedient, sondern dient
ihr bis auf den heutigen Tag. Grade in der Einfachheit, ja
Einfalt dieses Schemas liegt Goethe’s ganze Größe, und daß
die Vergleichende Anatomie ın diesem Schema die erste und
wichtigste Grundlage für ihre Methodik empfangen hat, das
möchte ich als Vergleichender Anatom einschränkungslos und vor-
behaltlos aussprechen. Denn da dieses Schema schon 1790 auf-
gestellt worden ist, so kann auch von Vorgängern nicht die Rede
sein, so weit auch Vicq d’Azyr schen ın der Homologisierung
der Organe vorgedrungen war (1787). Goethe’s Gedanke war aus
dem eigenen Bedürfnisse erwachsen, einer planlosen Vergleichung
enthoben zu sein; so ordnete er die Knochen als senkrechte, die
Tiere als horizontale Kolumne an und verlangte sorgfältige Durch-
arbeitung beider Kolumnen, um nichts zu vergessen und Verstecktes
zu finden. Da solch ein Schema nur gewonnen werden konnte,
wenn man zunächst einmal viele Tiere kannte, und da das am meisten
studierte Tier schon damals der Mensch war, bei dem aber wieder-
um zahlreiche Elemente durch Verwachsungen ıhre Selbständigkeit be-
reits eingebüßt hatten, so erklären sich leicht die beiden, so oft fälsch-
licherweise verallgemeinerten Grundsätze, die er (VIII. 73) bei
der Erläuterung dieses Schemas ausspricht 1. daß das Einzelne nicht
Muster des Ganzen sein könne und 2. daß der Mensch grade seiner
Vollkommenheit wegen nicht als Muster der unvollkommenen Tiere
aufgestellt werden dürfe (VIII. 10). Wie tief mußte die Über-
zeugung von der Einheit der Organisation ın ıhm sein, wenn er
>
W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 377
dies Schema gradezu zum wichtigsten Bestandteil seiner Morpho-
logie machte! Neben diesem Schema zur praktischen Anwendung
tritt das Übersinnlich-Metaphysische fast ganz zurück. Immer wieder
prägt er dem Leser ein, daß es ihm nur um Tabellen, Schemata
zu tun seı (VIII. 17, VIII. 134, VIII. 226, VIII. 134). Bei deren
Benutzung sehe man ‚‚die Gestalten ohne Beschwerde vor der Ein-
bildungskraft“ wechseln. Diese‘ Überzeugung von der Einheit der
Organisation ist nirgends tiefsinniger ausgesprochen als in den
Worten „könnte man sich nur einen Augenblick denken,
daß der Tränenknochen bei einem Tier fehle, so hieße das eben-
soviel, als: der Stirnknochen könne sich mit dem Jochbein, das
Jochbein mit dem Nasenbein verbinden und wirklich unmittelbar
aneinandergrenzen, wodurch alle Begriffe von übereinstimmender
Bildung aufgehoben würden“ (VIII. 274). Hierin liegt das Gesetz
der Konnexionen und der Analogien Geoffroy’s ganz deutlich ausge-
sprochen, und es ist zu beachten, daß Goethe jenen Satz schon
ım Jahre 1790 geschrieben hat. Er also und kein anderer ist
der Begründer der Homologielehre, wenn auch erst später Owen
unter ausdrücklichem Hinweis auf ıhn das Wort für sie geschaffen
und ıhre wissenschaftliche Durchbildung begonnen hat. Wie es
möglich ist, angesichts dieser Leistung Goethe jede wissenschaft-
liche Bedeutung abzusprechen, bleibt neben vielem anderen in
Kohlbrugge’s Arbeit unbegreiflich. Wo die Grenze für seine
wissenschaftliche Leistung lag, werden wir sogleich noch anzudeuten
haben.
Über die Metamorphosenlehre hier zu sprechen würde zu weit
führen; es ıst auch infofern weniger nötig, als über ihre Be-
deutung bei Goethe keine wesentlichen Unklarheiten bestehen.
Nur gegen die Auffassung muß Einspruch erhoben werden, daß,
wie Kohlbrugge anzudeuten scheint, Goethe zwischen der Meta-
morphose innerhalb eines Organismus (simultane fortschreitende) und
der, der Tiere ineinander (sımultane generelle, vergleichende-ana-
tomische) überhaupt nicht unterschieden habe. Über die schwankende
Anwendung des W‘ortes, das bald eine reale Umwandlung, bald
eine Stellvertretung bezeichnet, ıst oft und gründlich geschrieben
worden (vgl. vor allem Kirchhoff und Bliedner). Was die ver-
gleichend-anatomische Metamorphose anbelangt, so hat sie Goethe
wie seine ganze Zeit, stets ım ıdealistisch-evolutionistischen Sinne
aufgefaßt.
Wie nun schon oben bei Erörterung von Geoffroy’s Ideen
des Hineinragens eines echt transformistischen Elementes zu ge-
denken war, so muß dies auch. jetzt bei Goethe geschehen,
Während sıch aber Geoffroy, wie wir zu zeigen versucht haben.
in systematischer Weise um die Verschmelzung beider hetero-
gener Elemente — nicht zum Besten seines Systems — bemüht
378 W.lLubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc.
y
hat, hat Goethe sie unvermittelt nebeneinderbestehen lassen. Die
Annahme freilich, daß Goethe phylogenetischen Vorstellungen ge-
huldigt habe, muß nach abermaliger eingehender Sichtung des ganzen
Materiales, die ich mir habe angelegen sein lassen, als gänzlich
falsch und hinfällig bezeichnet werden. Dagegen hat Goethe die
Frage nach der Veränderlichkeit der Organismen, wenn er sie auch nur
auf Rassenbildung wirken ließ und an mehreren Stellen dıe Konstanz
der Arten ausdrücklich anerkannte, doch nicht nur in diesem be-
grenzten Sinne der Rassenbildung aufgefaßt. Was ıhm klar war, war
Jas Eine, daß hier ein ungeheures Problem verborgen lag. Er hat es
nicht lösen können, hat es vielleicht auch für unlösbar gehalten.
Manche Stellen seiner Werke, vor allem die Varianten, die sich ın
den verschiedenen Redaktionen der „Geschichte seines botanischen
Studiums“ finden, sprechen dafür, daß er der Artenkonstanz inner-
lich sehr skeptisch gegenüberstand.. Warum aber gerade für ıhn
diese Frage nicht brennend war, warum insbesondere für ıhn nie
ein Anlaß vorlag, den Versuch zu machen, Heterogenes systematisch
wie Geoffroy zu vereinigen, das liegt in seinem Verhältnis zur
exakten Wissenschaft begründet, auf das gleich einzugehen sein wird.
Unser Urteil über die Literatur besteht also, wie hier rück-
schauend bemerkt sein mag, zu recht. Wohl ist er wie Viele seiner
Zeit idealgenetisch-evolutionistisch gesonnen — aber die real-for-
male Bedeutung, die er der Typuslehre gab, wie die kritische
Haltung die er dem Problem des Transformismus gegenüber ein-
nahm, kommt bei dieser Auffassung nicht zum Ausdruck; wohl
hatte er als Künstler der Natur gegenüber einen besonderen Sınn
— aber er vermochte doch, die Wissenschaft befruchtend wie Wenige,
auch eine große Tat des Geistes für die Vergleichende Anatomie zu
vollbringen, eben jene Konzeption des Homologieschemas. Wohl ist
er kein echter Darwinist — aber „ein Dogmatiker der Spezies-
frage* ist er ebenfalls gewiß nicht gewesen (Haeckel bei
Schmidt 1871). Wohl hat man Spuren einer Umbildung
seiner Anschauung mit gelegentlicher Hinneigung zu deszendenz-
theoretischen Auffassungen bei ihm gefunden: — aber diese
vermeintlichen Schwankungen sind — wenn wir von dem Einfluß
Schiller’s absehen — nicht der Ausdruck einer fortschreiten-
den Vertiefung; denn er hat mindestens im Jahre 1790 seine
Hauptwerke in der Morphologie geschrieben; sie sind mehr
das Zeichen für die ihn in verschiedener Stärke beeinflussenden
wissenschaftlichen Zeitströmungen. Auch daß er künftige Ideen
„vorgeahnt“ habe, ist richtig; doch lehrt die neueste Wendung in
der Entwicklungstheorie, daß Goethe’s Vorahnungen auch weit
über die Zeit des Darwinismus hinausreichten, und wenn wir auch
schließlich die Bedeutung seiner Homologielehre nicht hoch genug
für die praktische Arbeit der Morphologen einschätzen können, so
W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc. 379
haben doch zweifellos diejenigen Recht, die ihm die eigentliche
Fähigkeit zu exakter und vide dicker Forschung absprechen.
Weil er hierin nicht nur in Gegensatz zu Geoffroy St.-Hilaire
tritt, sondern auch, weil die richtige Einsichlh in Goethe’s Art morpho-
logisch zu denken und zu schaffen erst durch Verständnis dieses Punktes
gewonnen werden kann, sei darauf abschließend kurz eingegangen.
Es bedurfte wahrlich nicht erst noch des Buches von Kohlbrugge, um
ee ausführlich zu begründen, was sehr scharf schon früher
©. E. v. Baer und Dubois-Reymond, feiner und vielleicht rich-
tiger Vi cehow und Helmholtz ausgesprochen hatten. Ihnen allen
a hatte Goethe ja selbst vorgearbeitet, insofern er klar von
sich aussprach. worin er seine Aufgabe sah und wo sie für ıhn
aufhörte. Da er genau zwischen Phänomenen und Problemen
unterscheidet (XL 111), so wendet er sich nur jenen zu. Nur
‘nach ihnen hat man sich zu erkundigen, die Probleme aber „ruhig
liegen zu lassen“. Demgemäß le das Gesetz der Kausalität
für die Phänomene jeden Sinn. Sie sind ıhm „Folgen ohne Grund,
Wirkung ohne Ursache“ (XI. 103—105). Wie er die Frage nach
der Ursache ablehnt, so auch den Begriff einer „Entwicklung“ in
unserem Sinn und den einer Selbständigkeit der Teile. Somit gibt
es bei ihm gar keine Frage danach, wie etwas entsteht und woraus
es entsteht. Es ist dies schon das Leitmotiv seiner ersten natur-
philosophischen Schrift über die Natur (1780). In späteren Jahren
nehmen seine Vorstellungen darüber gradezu präformistischen
Charakter an. „Was nicht mehr entsteht, können wir uns als ent-
stehend nicht denken. Das Entstandene begreifen wir nicht (XI.
137). Nichts entspringt, als was schon angekündigt ist (XI. 147)
und endlich: Der Begriff vom Entstehen ist uns ganz und gar ver-
sagt. Daher, wenn wir etwas werden sehen, denken, daß es schon
dagewesen sei. Deshalb kommt das System der Einschachtelung
uns begreiflich vor (XI. 132). Durch diese dynamische Natur-
auffassung, wie er sie im Gegensatz zur atomistischen nemnt,
ist er nun, ohne daß es noch irgend welcher weiteren „Beweise“
bedarf, von jeder exakten Ursachenforschung, die neben der
Beschreibung der Tatsachen jede Wissenschaft erst begründet, durch
eine unüberbrückbare Tiefe geschieden. Das hat mit ‚„Unwissen-
schaftlichkeit““ im weiteren Sinne gar nichts zu tun. Den Nach-
weis, daß er die „Literatur“ gekannt habe, um seine Gedanken
aussprechen zu können, hat er gewiß nicht immer erbracht. Daß
er aber die großen, die Welt der Wissenschaft bewegenden Leit-
gedanken kannte, ist trotz Kohlbrugge’s Versicherung des Gegen-
teils als sicher anzunehmen. Wenn man z.B. den Schönen Brief von
Martius (vom 18. Mai 1825 bei Bratranek) an Goethe liest, in dem
die Artenkonstanz in unzweideutiger Weise abgelehnt wird, so wird
man an Goethe’s Kenntnis all dessen, was für ein klares Urteil
NE? FE IE N ae
ER " RFUER
380 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. .Cuvier etc.
erforderlich ist, nicht zweifeln. Man kannte die Dinge, sie irrten
aber nicht den Blick des Genius.
Kein Zufall nun ıst es, daß Goethe grade in der Morpho-
logie so ausgezeichnete Wirkungen hervorzubringen vermocht hat;
darauf wird, da es das Hauptthema des. großen Akademiestreites
bildet, hier notwendig noch hinzuweisen sein. Die Vergleichende
Anatomie hat sich seit ihrer ersten Entstehung, die wir bei Bonnet
und Buffon suchen wollen, nach zwei Seiten hın entfaltet. Die
Beschreibung der Tatsachen und deren Anordnung in Reihen bildete
die eine Seite: die Kombination der Tatsachen und die Beurteilung
der unbegreiflichen Übereinstimmungen der Organisationen nebst
der ın allen sich offenbarenden Zweckmäßigkeit die andere. Nun
ist, wie wir bereits eingangs betonen mußten, die Feststellung der
Tatsachen, der Scharfblick bei der Beobachtung, die Feinheit bei
der Unterscheidung an sich nicht das, was einer Wissenschaft den
Charakter der „Exaktheit“ verleiht; denn eine unexakte Beobach-
tung ist überhaupt keine. Der Begriff der „Exaktheit“ ıst vielmehr
gebunden an die Beurteilung der Beziehungen. Nur wo sie, wie
bei Experimentalwissenschaften, in Gestalt von Gesetzen festgestellt
werden können, haben wir eine exakte Wissenschaft vor uns. Daher
ıst diePhysiologie, wie sie sich seit dem Anfang des vorigen Jahr-
hunderts entwickelt hat, die eigentlich „exakte“ Wissenschaft vom
Leben. Die Kombination der Tatsachen aber, wıe sie die Vergleichende
Anatomie erfordert, war weder ın ıhren Anfängen, noch später
unter der Herrschaft des Darwinismus im wahren Sinne „exakt“,
denn die Umbildung einer Art in eine andere ıst niemals Gegen-
stand der Beobachtung, geschweige denn gesetzmäßiger Beurteilung
gewesen. Erst dadurch, daß Entwicklungsmechanik, Kreuzungs-
versuche und Erblichkeitsforschung ın die Lösung der phylogene-
tischen Fragen eingegriffen haben, ist die Möglichkeit einer exakten
Behandlung auch ihrer Probleme von ferne aufgetreten. So ist bis-
her nur eine ganz kleine Gruppe exakter Schlüsse in der Morpho-
logie möglich gewesen und die alte Zweiteilung der Wissenschaften
vom Leben in Morphologie und Ätiologie besteht eigentlich
immer noch zu recht.
Trotzdem ist die Vergleichende Anatomie seit ihrer Begründung
durch Vieq d’Azyr u. a. immer ein Lieblingsgebiet der: Natur-
forschung gewesen; sie ist unter der Herrschaft des ıidealistischen,
dann unter der des darwinistischen Prinzips zu einem immer vol-
lendeteren Bau emporgewachsen und wird auch unter dem Einfluß
des Prinzips der Genetik nicht verkümmern. Sie muß also ihre
eigene Gesetzmäßigkeit in sich haben, muß sich auf einer
besonderen Form der Exaktheit aufbauen. Diese liegt nun
in nichts anderem als ın dem wissenschaftlichen Prinzip der
Vergleichung. Hier handelte es sich darum, nicht nur zwei
er
N ee a ae „ z 1
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Quvier etc. 31
oder wenige Wesen zu vergleichen, sondern alle Formen mit
allen; und neben ausgebreiteter Kenntnis war ein Blick, alles
zugleich zu umfassen, erforderlich, wie er ohne Phantasie nıcht
vorhanden sein kann. Die ästhetische Betrachtungsweise des Künst-
lers, wie die mathematische, die die Evidenz an sich ohne weitere
Beweise anschaulich wahrnimmt, befähigten und befähigen besonders
auch dazu, die Gleichheiten der organischen Gestalten zu erfassen.
Aber diese Phantasie muß durch die Kritik, ob und inwieweit
Vergleichung zulässig sei, gezügelt werden. Es galt also, ein
Prinzip für diese Kritik zu finden, das völlig unabhängig von
den jeweils herrschenden Theorien des Zusammenhangs der
Organismen sein mußte. Einen einzigen Begriff gibt es nur,
der von der idealistischen Epoche in die Darwinistische hinüber-
getreten ist und auch in späteren Epochen die Grundlage der
kritischen Bestrebungen bleiben wird, ein einziges objektives krıti-
sches Prinzip: es ist der Begriff der Homologie. Die Neigung,
das funktionell Gleichwertige zu vergleichen lag so tief in der
menschlichen Natur, daß der methologische Schritt zur Vergleichung
des funktionell Ungleichwertigen als der wissenschaftlich bedeut-
samste in unserer Wissenschaft bezeichnet werden muß. Seitdem
erst ist sie eine „exakte“ Wissenschaft. Mit dem Besitz des Homo-
logiebegriffes war die Methode der Vergleichenden Anatomie
gewonnen. Seine Geschichte und die Stellung, die die Kritik zu
ihm einnahm, seine Umbildungen zu. dem der Homogenie und Ho-
moplasie u. s. w. spiegeln zugleich die Geschichte der Vergleichen-
den Anatomie wieder.
So ist es erklärlich, daß Goethe kraft der ihm eigentüm-
lichen Anschauungskraft grade in der Vergleichenden Anatomie Großes
leisten koennte. Grade in der Begründung der vergleichend-anato-
mischen Methode liegt denn auch seine Hauptbeziehung zu Geoffroy
St.-Hilaire. Denn der -vergleichend-anatomischen Me-
thode, d.h. demnach der Vergleichenden Anatomie selbst
als Wissenschaftihr Recht zu erkämpfen, darum handelte
es sich letzten Endes in dem Akademiestreit des Jahres
1830.
Il. Der Verlauf des Streites und seine Beurteilung.
ai |
Wer historisch den Eintritt und Verlauf eines Ereignisses be-
schreiben will, muß die in der Vorgeschichte begründete Ursache von
seinem Anlaß unterscheiden. Zumeist verlaufen die Dinge so, daß
der Anlaß im Laufe eines .Konfliktes ganz ın den Hintergrund
tritt, und die Kräfte, die gegeneinander ringen, aus elementaren
Ursachen bis zur Entscheidung tätıg bleiben. Selten ist solche
Entscheidung definitiv; desto weniger, je gewaltiger die (regensätze
389 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
ursprünglich sind. Namentlich in Geisteskämpfen ist, wie die Ge-
schichte der Wissenschaften lehrt, fast nie von dem Unterliegen
einer „Partei* die Rede. Immer wieder erhebt sich der Konflikt,
wie er seit jeher bestanden hat.
So sehr sich diese Überlegungen von selbst verstehen, so
wenig scheint der neueste Historiker des Akademiestreites sie als
wesentlich zu erachten. Wenn er uns auch mit getreuen Daten
in die Vorgeschichte des Streites einführt, so hält er doch mit un-
gemeiner Starrheit daran fest, daß es sich in ihm im wesentlichen
darum gehandelt habe, ob man die Tunikaten als zusammengefaltete
Wirbeltiere betrachten dürfe. Da sich nun bereits zu Anfang des
Streites zeigte, daß das unzulässig war, so ıst nach Kohlbrugge
seine Fortsetzung ım wesentlichen einer Rechthaberei Geoffroy’s
zuzuschreiben, der alle möglichen Seitensprünge machte, um seine
Theorie zu retten; und Goethe hätte, anstatt seine beiden unsach-
lichen Abhandlungen zu schreiben, sich vor allem darüber zu äußern
gehabt, ob die Tunikaten gefaltete Wirbeltiere seien oder nicht.
Auch über den Ausgang denkt Kohlbrugge sehr einfach: Cuvier
hatte nachgewiesen, daß die Tunikaten keine zusammengefalteten
Wirbeltiere seien; die weiteren Behauptungen Geoffroy’s hat er
widerlegt und hat schließlich das letzte, siegreiche Wort behalten.
Damit habe er aber auch für dıe Nachwelt sein Recht nachgewiesen,
denn an Geoffroy’s Lehren glaube heute kein Mensch mehr.
Dem möchten wir nun entgegenhalten: zunächst, daß die Ver-
gleichung von Tunikaten und Wirbeltieren nur der letzte Anstoß ge-
wesen ist, der zur Erörterung der Gegensätze geführt hat, wie sie sich
mehr und mehr in der Denkweise Geoffroy’s und Cuvier’s aus-
gebildet hatten, daß also eine Besprechung dieser Gegensätze
den Hauptinhalt bildete und daß Goethe durchaus berechtigt war,
von der Erörterung jener Gelegenheitsursache abzusehen. Sodann,
daß am Ende Cuvier nur scheinbar Sieger geblieben ıst, und daß
die Nachwelt verpflichtet ist, Geoffroy das gute Recht wenigstens
zur Verteidigung seiner Methode zuzugestehen.
12
Daß dem eigentlichen Streite eine lange Vorgeschichte vor-
aufgegangen ist, weiß Kohlbrugge genau; ja es ist das verdienst-
vollste Kapitel seiner Abhandlung, diese Vorgeschichte quellen-
mäßig zum ersten Male geschildert zu haben. Es ist gerade auch
hiergegen am wenigsten einzuwenden, zumal eine Anzahl aus der
Hinterlassenschaft Cu vier’s entnommener Argumente ihm zugänglich
gewesen sind. Ich kann mich daher in diesem Teil kurz fassen, um
nur einige Korrekturen an K.’s Darstellung anzubringen. Man weiß
aus den Biographien beider Männer, daß Geoffroy, drei Jahre jünger
als Cuvier, im Alter von 19 Jahren bereits an das Naturgeschich t-
RER
Pa
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc. 383
liche Kabinet berufen wurde, um dort als Abteilungsvorsteher
Lacepede zu ersetzen. Zwei Jahre danach wirkte er selbst an der
Berufung des damals 25jährigen Cuvier an das gleiche Institut mit,
wo beide in gemeinsamer Arbeit und als Freunde verbunden neben-
einander, oft auch gemeinschaftlich publizierend, tätig waren. Im
Jahre 1818, als Geoffroy seine Philosophie anatomique veröffentlichte,
war er 46, Cuvier 49 Jahre alt. Geoffroy war 1807 im Alter
von 35 Jahren Mitglied des „Instituts“, 1809 Professor der Zoo-
logie und vergleichenden Anatomie an der Pariser Universität,
Cuvier 1800 Sekretär, 1802, 33 Jahre alt, ständiger Sekretär der
Akademie geworden; 1800-1805 hat er seine Lecons d’Anatomie
comparede, 1812 die Ossements fossiles, 1817 das Regne anımal
veröffentlicht; Geoffroy hatte bis zum Jahre 1812 zahlreiche
Arbeiten zur Systematik und vergleichenden Anatomie der Wirbel-
tiere herausgegeben. Er hatte die elektrischen Fische Malapterurus
und Torpedo beschrieben und das Faultier, die Affen, Fledermäuse,
Monotremen, Marsupialier, Edentaten, systematisch und deskriptiv
behandelt. Seine bis dahin wichtigsten Veröffentlichungen betrafen
den von ihm entdeckten Polypterus (eine Entdeckung, die Öuvier
wertvoller dünkte, als Geoffroy’s ganze Reise nach Ägypten),
ferner die von ihm erkannten Zahnanlagen bei Walfisch- und
Vogelfoeten. In den Jahren 1802—1807 begann er die großen
vergleichend-anatomischen Arbeiten, die ihn unsterblich gemacht
haben: Die Vergleichung der Fischflossen mit den Extremitäten der
Wirbeltiere und der Teile des knöchernen Kopfes in den einzelnen
Klassen der Wirbeltiere. Hier nimmt die allerdings unglückliche
Vergleichung des Operkulums mit dem Amboß, des Interoperkulum
mit dem Hammer, des Sub- und Präoperkulum mit Steigbügel und
Tympanieum einen historisch bedeutsamen Rang ein. Hier finden
sich auch die ersten Keime seiner späteren Theorien; bereits hier
spricht er von einer „neuen Wissenschaft“ und daß man da Ana-
logien sehen müsse, wo bisher nur Verschiedenheiten gesehen worden
waren. :
Im Jahre 1818 erschien nun sein großes Werk, die Philo-
sophie anatomique mit ihrem Discours preliminaire, an dessen
Spitze die Frage steht: L’organisation des vertebres peut-elle etre ra-
mende ä& une type uniforme? Unter Erwähnung Newtons, der
dieses Gesetz geahnt habe, bejaht er die Frage und bezeichnet die
Aufgabe der vergleichenden Anatomie als die der „geistreichen
Kunst, die es gestattet, die Ähnlichkeit einer großen Zahl von
Arten als nahezu vollständig zu betrachten und ihnen dann ihre
Sonderstellung nur durch leichte charakteristische Züge anzuweisen
(p. XVII. Die beschreibende und klassifizierende Zoologie hätte
notgedrungen den „Ariadenfaden“ fallen lassen müssen (p. X VIII), weil
die Verschiedenheit der Formen uns zuerst und mit zwingender
384 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
Gewalt überall entgegentrete. Besonders bei Er ersten Bekannt-
schaft mit der Anatomie der Tierarten (z. B. in der Veterinär-
anatomie) sei es erklärlich gewesen, wenn man z. B. von „Kanon-
knochen“ „Klauen“, „Hufen“ gesprochen habe, anstatt vom Meta-
carpus und Digiti. Es gebe zwei Wege der De der eine
führe au ame Beben zu studieren, zu dem ein
Teil, z. B. ein Fuß diene (als Flosse, Flügel, Spring-, Sch Lauf-
fuß u. s. w.), der andere ıhn in seinen verschiedenen Meta-
morphosen zu verfolgen. So gelange man nicht zur Absteckung
von Grenzen, sondern zur Ermittlung von Beziehungen. Eine
solche Übereinstimmung der funktionell mannigfachsten Teile in
ihrem Bau könne nicht zufällig sein; da die angestellten Vergleiche
stets fruchtbar seien, müsse irgend ein konstantes Prinzip der
Sache zugrunde liegen. Dies Prinzip zu ermitteln, sieht er als
Aufgabe der „Philosophie anatomique“ an (p. XXV). Der einzige
Allgemeinbegriff, der ın der Organisation der Spezies anwendbar
sei, sei der der konstanten Lagerung der Teile zueinander, der Be-
ziehungen zu- und der Abhängigkeiten voneinander. Dies wird als
„Gesetz der Konnexionen“ bezeichnet (XXV). Als zweites
Fundamentalgesetz sieht er das an, „daß man ım jeder Familie alle
Teile antreffen wird (tous les materiaux organiques), die man in
einer anderen antrıfit“. Dies ıst sein „Gesetz der Analogien“
(p- XXAII). Hinsichtlich eines Hauptabschnittes des großen Werkes,
der auch ın seinem späteren Streit mit Cuvier eine Rolle Spiel,
des Respirationssystems der Fische, sagt er hier, daß die Theorie
der Analogien zu der Vermutung führen müsse, es gebe keine be-
sondere und ausschließliche Schöpfung, die grade diese Organe her-
vorgebracht habe; sie wären vielmehr denen anderer Wirbeltiere
zu vergleichen (p. XXXV). Den Menschen weist er, hinsichtlich
seiner Organisation aus seiner bevorzugten Stellung; nicht von ıhm
habe man auszugehen; sondern stets von solchen Zuständen, wo
irgend ein Organ auf der Höhe seiner Ausbildung sei; von
hier aus habe man es dann durch alle Zustände hindurch bis dahin wo
es nicht mehr vorhanden sei, zu verfolgen“. Er tritt (p. XXXVD.
unmittelbar an die auffälligsten Abweichungen heran, um sie durch
einen einzigen geistigen Akt (une m&me pensee) zusammenzu-
fassen und zu begreifen, daß es keine Sonderschöpfungen seien,
sondern differente Äste eines gleichen Stammes („aboutissent A un
trone commun et n’en sont que des rameaux plus au moins dil-
förens“). So werden der Forschung keine Zwischenglieder fehlen,
wenn man sich nicht etwa absichtlich in den Beispielen der Ver-
gleichung beschränke; je größer man aber im Beginn der ver-
gleichenden Arbeit die Abstände der verglichenen Formen wähle,
desto größer der Erfolg (XXXVI]).
(Fortsetzung folgt.)
ne
”
W.v.Buddenbrock, Binige Bemerk. zu Demoll’s Buch: Die Sinnesorgane ete. 385
Einige Bemerkungen zu Demoll’s Buch: Die Sinnes-
organe der Arthropoden, ihr Bau und ihre Funktion.
Von W. v. Buddenbrock, Heidelberg.
Die zoologische Literatur ıst unlängst durch das obengenannte
Buch von R. Demoll bereichert worden, das im Jahre 1917 im
Verlage von Vieweg u. Sohn erschienen ıst. Über dasselbe hat be-
reits E.E Weinland im Biol. Zentralblatt Bd. 35 Nr. 3 ein kriti-
sches Referat veröffentlicht, so daß es überflüssig erscheinen könnte,
daß ıch nochmals über den gleichen Gegenstand berichte.
Ich tue es, weil mir eine Ergänzung des Weinlan d’schen
Referats in einer gewissen Richtung nicht unnütz erscheint und
bitte das Nachfolgende ın diesem Sinne zu betrachten. Wein-
land hat den wesentlichen Inhalt des Demoll’schen Buchs in
kurzgedrängter Form zusammengestellt und kritisch beleuchtet.
Ich möchte dieser Darstellung ein verschärftes Relief durch Be-
tonung gerade dessen geben, was Demoll in seinem Buche nicht
bringt. Im Vorwort äußert der durch viele Untersuchungen gerade
auf dem Gebiete der Sinnesphysiologie bestens bekannte Verfasser,
daß es sich um eine „systematische Darstellung“ handle, auch
begrüßt er die Gelegenheit, sein Interesse „sämtlichen Teil-
und Spezialproblemen, die dieses Gebiet umschließt,
zuwenden zu müssen“, so daß man folgerichtig eine Übersicht
alles Wesentlichen erwartet, was zurzeit von den Sinnesorganen
der Arthropoden bekannt ist.
Das Buch hält aber leider nicht ganz, was das Vorwort ver-
spricht. Man kann dem Verfasser den Vorwurf nicht ersparen, daß er
in einer, wie mir scheint, durchaus willkürlichen Weise eine ganze
Reihe wichtiger Probleme und gut erforschter Tatsachen überhaupt
nicht erwähnt. Der Leser, der sich an der Hand dieses Buches
in das vorliegende Gebiet einarbeiten will, bekommt dadurch einen
keineswegs zutreffenden Eindruck von unseren derzeitigen Kennt-
nissen, um so mehr als Demoll im Vorwort betont, daß er „Auf-
fassungen und Beobachtungen, die sich als irrig erwiesen
haben“, vollständig beiseite gelassen habe. Hierdurch wird dem
Nichterwähnten von vornherein der Stempel des Unzuverlässigen
und Fehlerhaften aufgedrückt.
Gegen diese etwas eigentümliche und wohl neue Methode in
der Behandlung fachgenössischer Arbeiten sehe ich mich genötigt,
ım Interesse einer objektiven Forschung Stellung zu nehmen.
Die kritische Besprechung, die in den folgenden Zeilen ge-
geben wird, bezieht sich nur auf die physiologischen Abschnitte des
Demoll’schen Buches. Auch hier greife ich nur einige Punkte
heraus, die mir beim Durchlesen besonders aufgefallen sind. Sie
werden, denke ich, genügen, um die Unvollständigkeit der Dem oll’-
schen Darstellung zu erweisen.
Hinsichtlich der niederen Sinnesorgane hat der Verfasser im Vor-
CE N UNTER Ma ra a a!
. 3 ER ” >
386 W. v. Buddenbrock, Einige Bemerk. zu Demoll’s Buch: Die Sinnesorgane ete.
wort mit Recht betont, wie undankbar die Aufgabe ihrer Schilderung
sei, infolge unserer sehr dürftigen Kenntnisse. Ich möchte immerhin
betonen, daß man doch etwas mehr weiß, als Demoll bringt. So
ist beim Tastsınn die sehr wichtige und verbreitete Erscheinung
des Thigmotropismus ganz unerwähnt geblieben, obgleich auch bei
den Arthropoden viele Tastorgane vornehmlich diesem Zwecke dienen.
Die tonuserregende Wirkung mancher Tastsinnesorgane, über welche
Matula eine sehr bedeutende Arbeit geschrieben hat, die sich auf
Libellenlarven bezieht, bleibt ebenfalls unerwähnt, die reflex-hem-
mende Wirkung des Tastsinnes findet erst in späteren Kapiteln nur
beiläufig eine gewisse Würdigung. Es ist schwer zu begreifen, was
Demoll unter ‚Funktion der Sinnesorgane“ versteht, wenn er dies
Alles zu bringen für überflüssig erachtet.
Gehen wir zu den Chordotonalorganen über, so finden wir eine
sehr merkwürdige Behandlung des Halterenproblems. Diese Sinnes-
organe sind in Winterstein’s Handbuch der vergleichenden Phy-
siologie, das vor einigen Jahren erschien, leider gar nicht be-
sprochen worden, eine Folge der Einteilung des Stoffes in scharf
umgrenzte Gebiete, die keinem der Einzelbearbeiter eine Aufnahme
der Halteren in sein Arbeitsfeld ermöglichte. Umso dankenswerter
wäre eine sorgsame Darstellung in diesem neuen Buche gewesen,
aber leider ist davon keine Rede.
Die zurzeit herrschende Auffassung vom Wesen der Halteren als
Steuer- und Gleichgewichtsorgane wird, wie auch Weinland mit Recht
hervorhebt, kaum oder gar nicht erwähnt. Immerhin könnte man
darüber nochhinwegsehen, da diese Auffassung bekanntermaßen nicht
bewiesen ist. Erstaunlicher ist es, daß auch die feststehenden Grund-
tatsachen keine Erwähnung finden. Ich schicke voraus, daß sich
zurzeit unsere ganze Kenntnis von der Funktion der Halteren auf
zwei schon sehr lange bekannten Versuchen aufbaut. 1. Können
die Dipteren nach Herausreißen der Halteren nicht mehr oder nur '
sehr schlecht fliegen und 2. tritt der gleiche Effekt ein, wenn man
die Halteren festklebt. Jede zukünftige Behandlung dieses Problems
muß notwendigerweise von diesen zwei Grundversuchen ausgehen.
Trotzdem steht in Demoll’s Buch kein Wort von ihnen, sei es,
daß er sie für bekannt voraus setzt oder aus sonst einem mir uner-
findlichem Grunde. Statt über das tatsächlich Beobachtete belehrt
zu werden, erfährt der Leser von der Funktion der Halteren nur
einige vom histologischen Bau der "Sinneszellen abgeleitete Ver-
mutungen über die Art ihrer normalen Reizung, sowie die folgende
rein theoretisch abgeleitete Formulierung, die durch keinen Versuch
gestützt ist: „Die Chordotonalorgane (der Halteren v. B.) hätten
danach Kontrolle zu üben, ob die Zahl der Schwinguhgen die nor-
male Höhe einhält, die Sinneskuppeln dagegen messen die durch
die Bewegungen verursachten Chitinspannungen.‘
Ich wende mich nunmehr den Statocysten der Krebse zu.
Demoll hat seiner Darstellung der Physiologie dieser Organe die
schöne Arbeit von Kühn über die Statocysten des Flußkrebses zu-
grunde gelegt, welche die letzte Neuerscheinung auf diesem Ge-
Ür
W.v. Buddenbrock, Einige Bemerk. zu Demoll’s Buch: Die Sinnesorgane ete, 387
biete vor dem Kriege war. Dies wäre sehr angebracht, hätte er
darüber nicht die Besprechung der schwimmenden Krebse, die seit
den 80er Jahren fast ausschießlich und fortgesetzt Gegenstand der
Statoceystenforschung gewesen sind, fast völlig vernachlässigt.
Vor allem ist dem Verfasser dabei die w wichtigste Entdeckung
auf diesem Gebiet, welche die letzten Jahre brachten, nahezu aus
en Händen geglitten. Sıe betrifft die Tatsache, daß es zwei
Srundverschiedene Typen dieser Organe bei den Krebsen
gıbt, die sich durch ihre Innervation unterscheiden: Die Statocysten
des Flußkrebses (und vermutlich der übrigen nicht schwimmenden
Bodenformen) arbeiten, wie Demoll ganz richtig angibt, gegen-
einander, zur Erhaltung des Gleichgewichts ist die gemeinsame
Tätigkeit beider Organe nötig.
Bei den Statocysten der Natantia ıst dagegen die
eine Statocyste allein zur Aufrechterhaltung der nor-
malen Schwimmlage ausreichend. Beide Organe arbeiten in
den meisten vorkommenden Körperlagen miteinander, ım selben
Drehsinne. Der Statocystenapparat der Natantia repräsentiert
also einen höheren Typus. Diese wichtige Tatsache wird nur in
dem folgenden knappen Satze gestreift: ” Bei den schwimmenden
Dekapoden sollen (? v. B.) nach Beobachtungen, die schon von
Delage gemacht wurden und nach solchen neueren Datums beide
Statocysten in jeder Körperlage genau gleiche Reflexe auslösen.“
Ich bezweifle, daß dieser äußerst kurze Hinweis von irgend jemanden
verstanden wird, der nicht bereits nähere Kentnisse auf diesem Ge-
biete besitzt.
Über das Wort „sollen“ ın dem soeben zitierten Satze möchte
ich mir noch eine kleine Bemerkung erlauben. Die hier von De-
moll anscheinend angezweifelte Tatsache ist seit 1887 von sämt-
lichen Autoren, die sich experimentell mit den Statocysten der
Natantia beschäftigt haben, ın übereinstimmender Weise festgestellt
worden. Da es wirklich nicht sehr schwer ist festzustellen, ob ein ein-
seitig entstateter Krebs normal schwimmt, oder sich um seine Achse
dreht, wäre es allmählich an der Zeit, diese stets wiederholte Be-
obachtung als einen gesicherten Bestandteil unseres Wissens an-
zusehen,
Die fundamentale Tatsache, daß die Statocysten zum Balan-
zieren nicht nur um die Längsachse, sondern auch um die horizon-
tale Querachse dienen, wird “dem Leser ebensowenig mitgeteilt wie
die gleichfalls nicht unwichtige, daß bei den schwimmenden Deka-
poden dıe Abdominalfüße die wichtigsten Erfolgsorgane der Stato-
cysten darstellen.
Daß es bei den Krebsen statische Reflexe gibt, die nicht an
Statocysten gebunden sind, wird m ganz willkürlicher Weise nur
für die Stomatopoden angegeben, obgleich diese Reflexe auch bei
den Krebsen mit Statocysten (Palaemon, Mysis) neben diesen Organen
in einwandfreier Weise nachgewiesen sind.
Erfreulich ist ein neues Experiment über die dynamische Funk-
tion der Statoeysten des Flußkrebses (Reaktion auf beschleunigte
ee Sg dir a A A REIT FU
Pe A I DA Er cn
ae E U N N
2 ' : PERS TER
‘> ha,"
388 WW. v. Buddenbrock, Einige Bemerk. zu Demoll's Buch“ Die Sinnesorgane etc.
oder verzögerte Bewegungen). Anscheinend hat Demoll diesen
wichtigen Versuch bisher nirgendswo anders veröffentlicht. Gerade
darum wäre es aber dringend wünschenswert gewesen, wenn er
nicht nur das Benehmen des normalen Tieres, sondern, als Kontroll-
versuch, auch das des entstateten beschrieben hätte. Wie sıch
letzteres benimmt, kann man nur zwischen den Zeilen lesen.
Wenn der Verfasser aber von den „sicher vorhandenen dyna-
mischen Funktionen“ der Statocysten der Mysideen spricht, So
hätte er immerhin dazusetzen müssen, daß sich diese „Sicherheit“
bisher nur auf theoretische Erwägungen und nicht auf irgend einen
Versuch stützt.
Gehen wir nun zu dem über, was der Verfasser über die
Funktion der Augen zu sagen weiß. Auch hier finden wir das
Gleiche wie bei den früheren Kapiteln: Während einige Teilgebiete
entsprechend dem persönlichen Interesse des Autors sehr breit
angelegt sind, ıst anderes, wie mir scheint gleich Wichtiges, einfach
weggelassen worden.
Mir unverständlich ıst es z.B., warum Demoll den Phototro-
pismus der Arthropoden, diese so sehr auffällige Erscheinung nur
ganz beiläufig erwähnt ohne ihr einen eigenen Abschnitt zu wid-
men, wodurch unter anderem auch die bedeutende Unter-
suchung von Radl über diesen Gegenstand unter den Tisch
fällt. Da sich im Phototropismus die "Äußerung des Lichtsinnes
vieler Arthropoden nahezu erschöpft, ıst es nıcht zu begreifen, wie
eine Schilderung dieses sehr wichtigen Phänomens ın einem Buche
fehlen kann, das von der Funktion der Sinnesorgane handelt.
Hätte sich Demoll ein wenig näher mit Radl’s gehaltvollem
Werk beschäftigt, so wäre ihm auch vermutlich das Versehen nicht
unterlaufen, daß er einen Versuch als neu beschreibt (S. 74 An-
merkung), den Radl bereits vor 15 Jahren gebracht hat. Es
handelt sich um einen Drehscheibenversuch mit einem Laufkäfer,
der, wie seit langem von den Insekten bekannt ist, auf jede Drehung
durch eine Gegendrehung reagiert. Demoll will mit ihm be-
weisen, daß die in den Fühlern sitzenden Johnston’schen Organe
nicht die Ursache dieser Gegendrehung sind, da die Gegendrehung
auch nach Abschneiden der Fühler bestehen bleibt. Radl hat be-
reits 1903 die rein optische Ursache dieser Erscheinung exakt be-
wiesen.
Ebensowenig Gnade wie Radl hat auch Ü.v. Heß vor den Augen
des Verfassers gefunden, wovon wir uns im Kapitel über das Farben-
sehen hinreichend überzeugen können. Demoll stellt es so dar,
als ob das einzige Resultat von Heß dies eine wäre, „daß die
Helligkeitskurve der verschiedenen Lichter bei den wirbellosen
Tieren zusammenfällt mit der Helligkeitskurve des total farben-
blinden Menschen“. Den hieraus von Heß gezogenen Schluß, daß
auch bei den wirbellosen Tieren totale Farbenblindheit vorliege,
erkennt Demoll nicht als zwingend an, und mit dieser rein nega-
tiven Feststellung ist die ganze große Arbeit von Heß für ihn er-
ledigt. Es erscheint mir nötig, den sehr verdienstvollen Münchner
RN MN ed 7
W. v. Buddenbrock, Einige Bemerk. zu Demoll’s Buch: Die Sinnesorgane etc. 389
Forscher gegen diese nicht ganz korrekte Art der Beurteilung ein
wenig in Schutz zu nehmen.
Heß hat in zahlreichen Untersuchungen den einwandfreien
Nachweis geführt, daß sich die Lichtreaktionen der wirbellosen Tiere
fast ausnahmslos ohne die Annahme eines Farbensinnes erklären
lassen. Dieses Verdienst kann von keinem Sachverständigen ge-
leugnet werden. Wenn einzelne hochentwickelte Insekten wie die
Biene nach Frisch einen Farbensinn besitzen, so ändert dies gar
nichts an der Richtigkeit der Heß’schen Auffassung, daß die große
Überzahl der Arthropoden wie die übrigen Wirbellosen ın ihren
erkennbaren Reaktionen sich völlig wie farbenblind verhalten.
Gänzlich weggelassen im Widerspruch zu der im Vorwort be-
haupteten Behandlung sämtlicher Teil- und Spezialprobleme ist
schließlich die sehr interessante Beziehung zwischen den optischen
durch die Augen vermittelten Reizen und dem Kontraktionszustand
der Chromatophoren bei manchen Krebsen (Hrippolyte, Idothea).
Auch für diese Unterlassung ist ein logischer Grund in keiner Weise
ersichtlich.
Obgleich ich noch mancherlei Derartiges zu erwähnen hätte,
-will ich die Kritik des Buches, soweit sie seine allgemeine Anlage
betrifft, hier abbrechen.
Jeder Leser der vorangegangenen Zeilen wird zugeben, daß
das Demoll’sche Buch auch bei schonendster Beurteilung nicht als
eine „systematische Darstellung der Sinnesorgane der
Arthropoden‘ mit Berücksichtigung „sämtlicher Teil- und
Spezialprobleme‘ gelten kann.
Bei einer solchen zusammenfassenden Darstellung, die doch
dem Leser als Wegweiser durch das ganze Gebiet dienen soll, ist
Vollständigkeit das oberste und erste Erfordernis so gut
wie bei einem Fahrplan, der wertlos wird, wenn er nicht alle Züge
enthält. Diese Vollständigkeit läßt Demoll vermissen. Wenn er
sein Werk trotzdem unter dem Titel einer systematischen Dar-
stellung erscheinen läßt, so darf er es nicht übel nehmen, wenn
andere ‚sein Publikum darauf aufmerksam machen, daß er nicht nur
„irrige Auffassungen und Beobachtungen“, sondern auch
sehr viele richtige und wichtige, ja sogar ganze zusammenhängende
Gebiete von seiner Darstellung ausgeschlossen hat.
Die Physiologie der Sinnesorgane der niederen Tiere steht auf
einem wesentlich höheren Niveau, als es dem Demoll’schen Buche
nach scheint. Ich halte es im Interesse dieser jungen Wissenschaft
für notwendig mit Nachdruck darauf hinzuweisen.
Zum Schluß will ich mich jetzt noch der Besprechung eines
von Demoll behandelten Spezialproblems zuwenden. Ich meine
die Bedeutung der Ocellen der Insekten-Imagines.
Demoll hat zusammen mit Scheuring bereits vor einer Reihe
von Jahren eine ausführliche Arbeit über diesen Gegenstand veröffent-
licht, deren Hauptresultat er in sein neues Buch aufgenommen hat.
Während er sich aber in der Originalarbeit einigermaßen vorsichtig
ausdrückt, ist er nunmehr der Auffassung, daß die Richtigkeit seiner
38. Band 28
390 W.v. Buddenbrock, Einige Bemerk. zu Demoll’s Buch: Die Sinnesorgane ete.
Hypothese als „gesichert betrachtet werden‘ müsse. Dem kann ich
mich nicht anschließen, vielmehr habe ich einen sehr gewichtigen
Einwand gegen die Demoll- Scheuring’sche Auffassung von der
Funktion der Ocellen zu erheben.
Die Verfasser sehen in den Ocellen ein Mittel für die binoku-
lare Entfernungslokalisation der Insekten. Ebenso wie man an-
nehmen kann, daß ein binokulares Entfernungsschätzen durch die
Facettenaugen beider Seiten ermöglicht wird, da notwendigerweise
ein jedes Objekt je nach seiner Entfernung vom Auge verschiedene
Rezeptorengruppen in beiden Augen erregt, ebenso kann natürlich
an ein Entfernungsmessen durch ein Facettenauge und den ihm zu-
geordneten Ocellus gedacht werden. Auch hier muß das gegebene
Objekt bei seiner Annäherung oder Entfernung vom Tiere mindestens
in einem Auge eine Verschiebung der gereizten Retinastelle zur Folge
haben. Einem jeden im Raum gegebenen Lichtpunkt entsprechen
in Facettenauge und Ocellus zwei zueinander gehörige Partieen der
Retina, die durch das Licht, das von ıhm ausstrahlt, getroffen werden.
Folglich giebt gleichzeitige Reizung dieser beiden Stellen Gewißheit
über die Entfernung des betreffenden Punktes.
Gegen diese ganze Deduktion ist der folgende Einwand zu
machen:
Das binokulare Entfernungsmessen hat in erster Linie die Kon-
gruenz der Bilder zur Voraussetzung, die durch beide Augen dem
Gehirn vermittelt werden. In unserem Falle existiert eine solche
Kongruenz nicht, vielmehr muß bei dem grundverschiedenen Bau
von Ocellus und Facettenauge von vornherein angenommen werden,
daß jedes Objekt ın beiden Organen zwei ganz verschiedene Bilder
entwirft. Hieran knüpft sich die Frage: Woher weiß das Insekt,
daß das Bild a ım Ocellus und das total verschiedene Bild A ım
Facettenauge zu einem und demselben Gegenstande gehören?
An dieser Überlegung scheitert die Demoll-Scheuring’sche
Auffassung der Ocellen vollständig.
Die Verfasser haben sich die Sache viel zu leicht gemacht,
indem sie auf ihrer Zeichnung immer nur einen isolierten Objekt-
punkt annehmen. Dann allerdings liegt die Sache einfach genug.
In der Natur aber empfangen beide Augen stets zahlreiche Ein-
drücke zugleich, und das Tier muß entscheiden können, muß aus-
wählen, welcher Eindruck des einen Auges zu dem des anderen
und mithin zum gleichen Objekt gehört.
Dies ist bei einer Verschiedenheit der entworfenen Bilder völlig
unmöglich.
Die Verfasser haben die Richtigkeit ihrer Hypothese an einigen
morphologischen Einzelheiten nachprüfen wollen, deren Ergründung
unbedingt sehr nützlich war. Sie finden als Wichtigstes, daß das
gesamte Sehfeld der Ocellen stets innerhalb des Sehfeldes der Fa-
cettenaugen liegt, und daß sich dementsprechend die Anordnung
der Ocellen nach der Ausdehnung des Sehfeldes der Facettenaugen
richtet. Sie finden ferner, „daß die Verknüpfung der Erregungen
der Ocellen und der Facettenaugen auch im Verlauf der Nerven-
fasern ım Gehirn zum Ausdruck kommt“,
en = 0% E a r
hr
Schmidt, Report on the Danish Oceanographical Expeditions 1908-1910. 391
Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß diese Dinge die notwendige
Voraussetzung für die vorgetragene Hypothese sind, aber sie sind
kein Beweis für dieselbe.
All das beweist vielmehr nur, daß Facettenaugen und Ocellen
zusammen arbeiten und der Ocellus nur das prüft, was das Fa-
cettenauge sieht. Näheres läßt sich vorläufig darüber nicht sagen,
mit der Entfernungslokalisation aber haben die Ocellen allem An-
schein nach nichts zu tun, und wır müssen das interessante Problem
von neuem zur Diskussion stellen.
Referate.
Report on the Danish Oceanographical Expeditions
Igo8—-IgIO
to the Mediterranean and Adjacent Seas under the Superintendance of Johs.
Schmidt, Ph.D., Direktor of the Carlsberg Physiological Laboratory Copenhagen,
Member of the Danish Committee for the Study of the Sea, Leader of the Ex-
peditions (Copenh. A. F. Hast & Sen).
Nachdem die Zahl der fertiggestellten Lieferungen dieses groß
angelegten Expeditionswerkes neuerdings auf fünf angewachsen ist,
erscheint es wohl angezeigt, wiederholt auf dasselbe aufmerksam
zu machen, dabei auf den reichen Inhalt der vorliegenden Bände
zu verweisen und rühmend derjenigen zu gedenken, die um das
Zustandekommen der großen Arbeit sich verdient gemacht haben.
Das in diesem Werke bearbeitete Material wurde im wesent-
lichen auf den zahlreichen Untersuchungsfahrten gesammelt, die der
dänische Forschungsdampfer Thor im vorigen Jahrzehnt, hauptsächlich
1908—1910, im Bereich des Atlantischen Ozeans und des Mittel-
meeres unter der persönlichen Leitung des Herausgebers, Dr. Johs.
Schmidt, ausgeführt hat, und zwar auf Kosten teils der dänischen
Regierung, teils von Privatleuten und teils des Carlsbergfonds, jener
bekannten wissenschaftlichen Stiftung, die sich auch über Dänemark
hinaus außerordentliche Verdienste um die Förderung der Wissen-
schaften erworben hat. Ergänzt wurde das auf diesen Fahrten ge-
sammelte, ungemein reichhaltige Material durch Sammlungen, die ge-
legentlich ihrer regelmäßigen Fahrten von einigen Liniendampfern
gemacht wurden, in ähnlicher Weise, wie das schon früher wiederholt
und erfolgreich versucht wurde.
Während die Untersuchungen ım Atlantischen Ozean haupt-
sächlich im Rahmen des dänischen Anteils an der Internationalen
Meeresforschung erfolgten und auf Grund des dänischen Programmes
ihren Schwerpunkt bei Island und Färöer hatten, waren im Mittel-
meer die Aufgaben allgemeiner gefaßt, insofern es die Absıcht war,
das Mittelmeer zum Zwecke eingehender biologischer und hydro-
graphischer Untersuchungen ın seiner ganzen Ausdehnung zu durch-
kreuzen und dabei die durch die Internationale Meeresforschung so
sehr vervollkommneten modernen Methoden und Geräte zu ver-
28*
“ N (a; Tr a N In. | Arne
f En is f} Ü B Er RR
392 Schmidt, Report on the Danish Oceanographical Expiditions 1908-1910.
wenden, die sich in den nordischen Meeren bei der Untersuchung
aller Wasserschichten von der Oberfläche bis zu den größten Tiefen
so sehr bewährt haben.
Ein fischereilich besonders interessierender Sonderzweck dieser
Untersuchungsfahrten lag darin, die Naturgeschichte und namentlich
die Entstehungsgeschichte und Herkunft des Flußaals und die
Wanderungen seiner Larvenstadien näher zu erforschen. Gestützt
auf die außerordentlichen Erfolge, die Johs. Schmidt auf diesem
Gebiet im Atlantischen Ozean gehabt hatte und angesichts der
Schwierigkeit, mit einem so kleinen Fahrzeug, wie der Thor ist, zur
Klärung der Frage weiter in den Ozean hinaus vorzudringen, glaubte
Schmidt, daß seine Hilfsmittel ausreichen würden, das "Rätsel
der Herkunft des Flußaals wenigstens im Bereich des Mittelmeeres
zu lösen. Das Ergebnis dieser besonderen Bestrebungen war, wie
inzwischen bekannt ; geworden ist, insofern ein negatives, als Schmidt
den bestimmten und höchst interessanten, weil unerwarteten Nach-
weis erbrachte, daß im Mittelmeer keine Eier und keine jugend-
lichen Larven des Flußaals zu finden seien, daß es also doch uner-
läßlich sei, die Lösung der Frage im Atlantischen Ozean weiter zu
verfolgen, was ja inzwischen mit erfreulichen Ergebnissen von seiner
Seite in Angriff genommen wurde.
Das ungemein reichhaltige Material an Entwicklungsformen der
Muränidenfamilie, welches auf den Fahrten gesammelt wurde, ist
inzwischen an verschiedenen Stellen außerhalb des hier in Rede
stehenden Expeditionswerkes, namentlich ın den „Meddelelser fra
Kommissionen for Havunders/gelser“ veröffentlicht worden; aber
der mit großer Bestimmtheit erbrachte Nachweis, daß der Fluß-
aal im Bereich des Mittelmeeres nicht geboren wird, ist, trotzdem
er negativer Art ıst, besonders geeignet die Bedeutung dieser Unter-
suchungsfahrten ın das richtige Licht zu setzen.
Bei der auffallend geringen Zahl von wissenschaftlichen Unter-
suchungsfahrten, die im Mittelmeer bisher gemacht sind, und bei
dem Mangel an Fahrten, die das ganze Gebiet erschöpfend zu er-
fassen suchten, war man bezüglich der Beurteilung hydrographischer
und biologischer Zusammenhänge ın diesen Gewässern bisher
wesentlich auf die Beobachtungen an den zahlreich vorhandenen
festen Stationen wie Neapel, Messina, Palermo, Marseille, Banyuls
s. m., Triest u.a. angewiesen, die das auf Expeditionen gesammelte
Beobachtungsmaterial jedoch niemals ersetzen können.
Hierin lag der stärkste Grund dafür, daß der bekannte italıe-
nische Forscher Grassi, der Schmidt gegenüber nach wie vor
behauptete, daß der Flußaal seinen Lebenskreislauf im Bereich des
Mittelmeeres vollende, mit seiner Gegnerschaft sich nicht durch-
zusetzen vermochte, weil ıhım die breite Beobachtungsgrundlage
lage fehlte, auf die Schmidt sich im Hinblick auf sein Expeditions-
material stützen konnte. Gegenwärtig dürfte es ın der Tat kaum
noch sachverständige Beurteiler geben, die sich der Stärke der
Schmidt’schen Argumentierung in der Mittelmeeraalfrage ver-
schließen.
Sehmidt, Report on the Danish Oceanographical Expeditions 1908—1910. 395
Aber wie mit dem Aal, der bisher immer im Vordergrund der
Schmidt’schen Untersuchungen gestanden hat, so ist es auch mit
zahlreichen sonstigen Fischarten und Vertretern anderer niederer
Tierfamilien. Die modernen Methoden und Geräte, unter denen das
sogen. Petersen’sche Jungfischnetz („Yngeltrawl“) die vornehmste
Stelle einnimmt, da es in unübertroffener Weise größere pelagische
Organismen, also z. B. Fischbrut u. dgl. fängt, haben ein so unge-
mein reichhaltiges Material geliefert, daß die Bearbeitung desselben
bisher ungekannte Einblicke ın die Verbreitung der einzelnen
Formen, das Vorkommen und die Gruppierung ihrer Entwick-
lungsstufen wie auch überhaupt in die Gestaltung des Tierlebens
ım offenen Mittelmeere ın allen seinen Tiefenschichten gestattete,
und zwar in einer Vollkommenheit, wie das dıe Beobachtungen auf
den zoologischen Stationen an den Mittelmeerküsten niemals er-
möglichen konnten.
Der erste Band des Expeditionswerkes, welcher bereits seit
1912 abgeschlossen vorliegt, enthält eine eingehende Beschreibung
des Schiffes, der Ausrüstung und der Arbeitsmethoden sowie eine
Schilderung. der Reise und einen Überblick über das auf den Ex-
peditionen gesammelte und später noch ergänzte Material aus der
Feder von Dr. Schmidt selbst, sodann aber auch eine Reihe aus-
führlicher Abhandlungen über die Hydrographie der befahrenen
Gewässer. Als die wichtigsten Teile dieses letzteren Abschnittes
sind zu nennen die Arbeiten von J.N. Nielsen, „Hydrography of
the Mediterranean and adjacent waters“ und J. B. Jacobsen,
„Amount of oxygen in the water of the Mediterranean“. Die
außerordentlich wertvollen Ergebnisse dieser Arbeiten haben unter
Heranziehung aller früheren und neueren Beobachtungen auf diesen
(Gebiet von dem Ozeanographen der Deutschen Seewarte, Prof. Dr.
Gerh. Schott, in den Annalen der Hydrographie (1915, Band 43,
Heft I und Il)') eine sehr eingehende Würdigung erfahren, wobei
auf den großen Wert der neuzeitlichen Messungen hingewiesen
wurde, die alle die einzelnen Becken des Mittelmeeres gleichmäßig
und nach einheitlichem Plane berücksichtigen und dabei zu über-
raschend neuen und zugleich übersichtlichen Resultaten gelangen.
Unter den im 2. Band des Werkes zusammengefaßten biolo-
gischen Arbeiten erschien als erste (in der 2. Lieferung) eine sehr
umfangreiche und gründliche Bearbeitung des gesammelten Materials
an Plattfischen von Dr. H.M. Kyle, einem ausgezeichneten briti-
schen Ichthyologen und früheren Mitarbeiter bei der Internationalen
Meeresforschung. Die Erkennung und Gruppierung einer außer-
ordentlichen Fülle und Mannigfaltigkeit von Entwicklungsformen
dieser wichtigen Fischfamilie ist dem Fleiße des genannten Be-
arbeiters in überraschender Weise gelungen, so daß eine äußerst
wertvolle Vermehrung unserer Kenntnisse auf diesem Gebiete vor-
liegt, und zwar in Form einer in ihrem wissenschaftlichen Werte
vorbildlichen und klassischen Arbeit.
a, G. Schott, „Die Gewässer des Mittelmeeres, vorzugsweise nach den Ar-
beiten des dänischen Forschungsdampfers ‚Thor‘ 1908-1910“.
ET a a AT N
«
394 Schmidt, Report on the Danish Oceanegraphical Expeditions 1908—1910.
In den neuerdings erschienenen 3., 4. und 5. Lieferungen des
Werkes stoßen wir auf eine ganze Anzahl von Bearbeitungen
einzelner kleiner Fischgruppen, die außer Dr. Schmidt selbst,
einer Reihe von jüngeren dänischen Zoologen — P. Jespersen,
A. Strubberg, A. Vedel Täning und Vilh. Ege — und dem
französischen Forscher L. Fage von der Station Banyuls s. m. zu
verdanken sind, und die sich in ihrer Mustergültigkeit der erst
genannten Arbeit von Kyle würdig anschließen.
Die höchst eingehende Behandlung der in kleinste Gruppen
gesonderten Fischfamilien läßt erkennen, wie ungemein reichhaltig
die heimgebrachten Sammlungen an Jungfischen und Fischlarven
sind, so daß diese in früheren Ausbeuten, wenigstens aus dem Mittel-
meer, nicht ihresgleichen haben und voraussichtlich das wert-
vollste Material für die wissenschaftliche Bearbeitung der Samm-
lungen darstellen werden. Namentlich über die Häufigkeit und
Verbreitung einer Reihe von Tiefseeformen und ihrer Entwicklungs-
stadien, Vertreter aus den Familien der Stomiatiden, Salmoniden,
Scopeliden, Trichiuriden, Bramiden u. a. m., erhalten wir wichtige
Aufklärungen; und es ist schon jetzt zweifellos, daß die Bearbei-
tung der Fischsammlungen aus den dänischen Expeditionen eine
unschätzbare Ergänzung und Fortsetzung der großen grundlegenden
Arbeit von A. Brauer über die Tiefseefische der Valdivia Expe-
dition bilden wird, namentlich nach der Seite einer genaueren
Kenntnis der Jugend- und Entwicklungsformen hin.
Von gewissen Fischfamilien, die wie diejenige der Scopeliden
ihre Hauptverbreitung in den offenen Meeresräumen und über den
großen Tiefen haben, sind dank der Anwendung des für ihren Fang
besonders geeigneten Jungfischtrawls so ungeheure Mengen ge-
fangen worden — der Bearbeiter A.V. Täaning beziffert die Zahl
der Scopeliden auf 21679 erwachsene und Larven —, daß keine
frühere Expedition dem ähnliches an die Seite stellen kann, und
daß das Material eine zuverlässige Identifizierung der Larvenformen
sowie eine früher nicht mögliche Beurteilung über die Häufigkeit
und Verbreitung zahlreicher verschiedener Glieder dieser Fisch-
familie, ja sogar Angaben über bathymetrische Wanderungen ge-
stattet, die von den Jahreszeiten und auch von dem Stadium der
Entwicklung abhängig erscheinen.
Aber nicht bloß die vorwiegend pelagisch und in offener See
lebenden Fischformen sind es, über deren Leben und Entwicklungs-
formen uns die Schmidt’schen Expeditionen eine Fülle von neuem
Beobachtungsmaterial bringen, sondern, wie der umfangreiche Bei-
trag von L. Fage über die Küstenfische beweist, selbst solche Arten,
die sich in erwachsenem Zustande vorwiegend in Küstennähe auf-
halten und dort vielfach auch Gegenstand der Fischerei sind. Der-
artige Formen sind durch die älteren Arbeiten von Raffaele,
Holt u.a. in ihren Eiern und den jüngsten Entwicklungsformen wohl
einigermaßen bekannt, aber ın der Beschreibung der sogenannten
pöstlarvalen Stadien, die vielfach vorwiegend oder auch ausschließ-
lich ın offener See vorkommen, waren noch große Lücken auszu-
E. Gutzeit, Die Bakterien im Haushalte der Natur und des Menschen. 395
füllen, und die Arbeit von L. Fage läßt erkennen, wie viel neue
wertvolle Beobachtungen auf diesem Gebiet gemacht, und wie .da-
mit das von Lo Bianco begonnene aber leider nicht vollendete
Werk der Beschreibung und Abbildung solcher Formen weiter ge-
führt werden konnte.
Besondere Erwähnung verdient die mehrfach bestätigte Tat-
sache, auf die Schmidt und auch Fage schon in früheren Ver-
öffentlichungen hingewiesen haben, daß gewisse Tiefenformen des
Atlantiks und des Mittelmeers, die man früher als identisch ansah,
bei näherer Prüfung an der Hand des vermehrten Beobachtungs-
materials sich vielfach als zwar nahe verwandt aber doch zwei
deutlich erkennbaren verschiedenen Arten zugehörig erweisen, ein
Umstand der seine natürliche Erklärung darin findet, daß die beiden
großen Meeresbecken an der Meerenge von Gibraltar durch eine bis
400 m unter der Oberfläche aufsteigende Schwelle getrennt sınd,
die den glatten Austausch des Tiefenwassers zwischen beiden Becken
sehr stark hemmt, wenn nicht verhindert, und eine spezifische Ver-
schiedenheit der Lebensverhältnisse ın ıhnen bedingt.
Von Wirbellosen finden sich unter den bereits veröffentlichten
Gruppen eine Anzahl von Krebsfamilien bearbeitet von K. Ste-
phensen, nämlich Isopoden, Amphipoden und Cumaceen, von
Pflanzen die Gruppe der Algen nebst Kalkalgen und die Seegräser,
welche letztere von einem Teilnehmer an den Expeditionsreisen,
dem Professor an der Kopenhagener Tierarznei- und Ackerbau-
Hochschule Dr. ©. H. Ostenfeld bearbeitet sınd.
Den Direktoren der Oarlsbergstiftung gebührt besonderer Dank da-
für, daß sie, dem Expeditionsleiter in seinen Vorschlägen folgend, in
einsichtigster Weise bestrebt gewesen sınd, dem großen Unternehmen
die erhofften Erfolge zu sichern, und daß sie auch in lıberalster
Weise die bedeutenden Mittel bereit gestellt haben, um eine Ver-
öffentlichung der wertvollen Ergebnisse der Expeditionen in würdiger
Form zu ermöglichen. Somit ıst es nicht nur der Herausgeber und
seine Mitarbeiter, sondern auch der Aufsichtsrat des Carlsbergfonds,
den wir zu den bisher erzielten bewundernswürdigen Leistungen
aufrichtig beglückwünschen. Dabei darf zugleich der Hoffnung
Ausdruck gegeben werden, daß alle Beteiligten bestrebt sein werden,
die Fortsetzung in gleich mustergültiger Weise erfolgen zu lassen,
wie bei den vorliegenden fünf ersten Lieferungen des großen Ex-
peditionswerkes. Ehrenbaum.
E. Gutzeit. Die Bakterien im Haushalte der Natur
und des Menschen.
II. Aufl. (Aus Natur und Geisteswelt. Leipzig-Berlin. B. G. Teubner.)
Sehr fesselnd geschriebene für den gebildeten Laien bestimmte
Übersicht über dieses allgemein interessierende Gebiet.
Nach einer geschichtlichen Einleitung über die Ent-
wicklung der Lehre von den Kleinlebewesen folgen Kapitel über
die Gestaltenlehre und Züchtung der Spaltpilze.
EN Ber
396 Cornel Schmitt, Erlebte Naturgeschichte (Schüler als Tierbeobachter).
Sodann ein ganz ausgezeichnet anschaulich geschriebener Ab-
schnitt über die Zerlegung der abgestorbenen Körper durch
die Spaltpilze. In dieser und in der folgenden Darstellung über die
Gewinnung der Lebensenergie durch Tiere und Spalt-
pilze, sowie in dem 5. Kapitel über Kreislauf des Stickstoffes
wird die chemische Seite des Bakterienlebens in vorbildlicher
klarer Weise erörtert. An einer anschaulichen Abbildung wird der
Kreislauf des Stoffes illustriert.
Die Kapitel über Selbstreinigung der Flüsse, über die
Hauptprinzipien der Bodenbakteriologie u. a. sind sehr
fesselnd abgefaßt. Das Wissenswerte über land wirtschaftliche
Gewerbe und die Bakterien, über die geistige Gärung und
über Küchenbakteriologie füllt die folgenden Abschnitte.
In allen diesen Kapiteln wird die Rolle der Bakterien anschau-
lich geschildert. Das kleine Büchlein kann demnach jedem Ge-
bildeten, der dieser Wissenschaft ferner steht und doch das Bedürfnis
empfindet auf diesen praktisch-wichtigen Gebieten unterrichtet zu
sein, angelegentlichst empfohlen werden.
W. Weichardt.
Cornel Schmitt, Erlebte Naturgeschichte (Schüler als
Tierbeobachter).
Leipzig 1918, B. G. Teubner, geb. Mk. 4.— und 30°], Teuerungszuschlag.
Das Büchlein enthält 82 Berichte von Schülern der Präparanden-
schule in Lohr a. Main über: selbstangestellte Tierbeobachtungen
und Versuche. Einige Überschriften mögen den Inhalt der Berichte
andeuten: „Farbenempfinden des grünen Süßwasserpolypen?“ „Wie
groß ist die Muskelkraft einer Weinbergschnecke?* „Kopula und
Eiablage der Libelle“*“ „Sechs Stunden am Wespennest.* „haub-
vogelmahl.“ „Kampf zwischen Fuchs und Reh.“ „Mutterliebe einer
Maus.“ Die jungen Naturforscher haben mit so viel ehrlichem
Eifer und auch großem Geschick manchen interessanten Einzelzug
beobachtet, daß jeder Biologe an ihren Berichten seine Freude
haben wird. Der. Verfasser will mit seinem Büchlein Lehrer und
Schüler auffordern, selbsterlebte Beobachtungen und Versuche in
möglichst weitem Umfange zur Grundlage des Unterrichts zu machen.
So berechtigt diese Forderung ist, so schwierig ist sie an Groß-
stadtschulen vielfach durchzuführen. Sicher aber wird jeder auf-
geweckte Junge beim Lesen der Erlebnisse seiner Lohrer Kameraden
mächtig zur Nacheiferung angeregt werden und man kann es nur
aufs lebhafteste bedauern, daß infolge der Ungunst der Verhältnisse
nur wenige Großstadtjungens zur Vollkommenheit ihrer ländlichen
Genossen gelangen werden.
Bremerhaven. 0. Stocker.
Verlag. von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer
Hof- und Umiv.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
DESK. Gocbel un Dr. R. Hertwip
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
38. Band Oktober 1918 Nr. 10
ausgegeben am 30. Oktober
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 26 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und l’ostanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die 3eiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschiehte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-liilaire und Cuvier im Jahre 1830
und seine leitenden Gedanken (Schluß. S. #97.
Nachtrag zu: E. Wasmann, Zur Lebensweise von Pseudacteon formivcarum. S. 456.
Berichtigung zu der Abhandlung: Wirkungen des Lichts auf die Pflanze. Von San.-Rat
Dr. Fritz Schanz, Angenarzt in Dresden. >. 456.
Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire und
Cuvier im Jahre 1830 und seine leitenden Gedanken.
Von Dr. Wilhelm Lubosch, ao. Professor der Anatomie in Würzburg.
(Schluß.)
Er behandelt nun ın fünf Abhandlungen den Operkularapparat,
das Brustbein, den Zungenbeinapparat, die Skelettelemente der
Visceralbögen, des Kehlkopfes, der Trachea und schließlich des
Schultergürtels. Als bedeutsam heben wir nur den ersten Ver-
such hervor, die Gehörknöchelchen der Säugetiere auf Skeletteile
des Visceralskeletts der Fische zurückzuführen, der allerdings ver-
unglückt, doch zum ersten Male den Weg gewiesen hat, auf dem
später Carus, Meckel und Reichert zu ihren unsterblichen Ent-
deckungen geführt worden sind.
Ouvier hat in seinen Jahresberichten diese Abhandlungen
mehrfach besprochen. Zunächst (1834, p. 289) im Jahresbericht
für 1812, worin er auffällig und bedeutsam genug, eigene Versuche,
sich der Geoffray’schen Methode zu bedienen erwähnt; sodann
»8. Band 29
398 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc.
(l. ce. p. 367 u. 391) in den Berichten für 1817 und 1818. Hier
äußert sich Cuvier nicht nur rein referierend, sondern auch teils
lobend, teils unter Hervorhebung der Schwierigkeiten solcher Ver-
gleiche, skeptisch. Geoffroy’s Ansicht über das Operkulum
nennt er „tres hardıe* und lediglich auf dem Wege der Ver-
gleichung „le plus difficıle d’attaquer*. Auch Geoffroy’s Homo-
logisierung von Teilen des Sternalapparates der terrestrischen Tiere
mit Teilen des Kiemengerüstes (Hyoidbogen) der Fische beurteilt
er mit Recht (p. 374) als sehr bedenklich, lobt aber die Sorgfalt
des ganzen Werkes und die geistvollen Betrachtungen über die
Mechanik der Skelettverbindungen und er wünscht (p. 378) Geof-
froy’s Werk weite Verbreitung unter den Naturforschern. Von
der gleichen Objektivität ist auch das spätere Referat über die
„Philosophie anatomique“ beseelt (p. 391ff.), Zu einem Konflikt war
bei dieser Sachlage kein Anlaß. Selbst die entscheidende Wen-
dung bei Geoffroy, als er die Theorie der Analogien auch
auf „Wirbellose“ ausdehnte und Insekten mit Wirbeltieren verglich
(1820), hat bei Cuvier anfangs zu keiner öffentlichen Kritik geführt;
wenn auch sein Referat über Geoffroy’s Abhandlung (l. ec. p. 436 ff.)
schon von vielsagender Kürze ist, so schließt er doch ım Zusammen-
hang mit einem Referat über ein ähnliches Thema Latreille’s
(p- 439), daß die besonders in Deutschland beliebte naturphilo-
sophische Betrachtungweise auch ihr Gutes habe. Selbst wenn die
Insektenglieder und die Wirbel zweierlei seien, hätte man doch
durch die Vergleiche beide gründlicher kennen gelernt. Sei der
Weg der Naturphilosophie auch abenteuerlich, so gelinge es doch,
auf ihm zu wertvollen Beobachtungen zu kommen und feine Be-
zıehungen anzuspinnen.
Ungeklärt dabei ist nun aber die für die Beurteilung der persön-
lichen Beziehungen beider Männer zueinander wichtige Frage, ob sich
Cu vier nicht gleichzeitig doch mündlich über G eoffr oy’s Theorie ab-
fällig geäußert hat. Denn ganz unstreitig ist der starke Ausfall der sich
bei Geoffroy (1820, p. 77) findet, entweder, wieKohlbrugge meint,
auf eine Art Größenwahn oder Verfolgungswahn des Autors zurückzu-
führen, oder es lag wirklich ein uns unbekannter Anlaß dazu vor;
spricht aber denn nun wirklich irgend etwas Zwingendes dafür, bei
Geoffroy solche Wehe anzunehmen? Wäre es
andererseits mit Cuvier’s Objektivität, seiner stets durchaus
ritterlichen Haltung in seiner öffentlichen Besprechung der
Insektentheorie nicht trotzdem vereinbar, wenn er im Kreise der
Freunde und Schüler die Theorie von der Wirbelsäule der In-
sekten gespächsweise so beurteilt hätte, wie es ıhm natürlich war
-und wie sie es verdiente? Jedenfalls war Geoffroy schor damals
der Ansicht, daß Cuvier sich mündlich abfällig geäußert habe und
gab dem in jenem Zitat auch schroffen Ausdruck: „Mißbilligende
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 399
allgemeine Ausdrücke, an Orten wo ich mich nicht einfinden kann,
verbreitet, sind keine Beweise und gewiß will ein Freund ch
nicht beleidigen. Möge?) also Herr Cuvier sich bald erklären!
Die Richtung, welche seine Werke der philosophischen Anatomie
gegeben haben, die Stütze, welche er fortdauernd einer Wissen-
schaft schuldig ist die ıhm so viel Ruhm gab, die Erwartung des
ganzen gelehrten Europa — alles macht es ihm zur Pflicht“. Es
ist natürlich zu viel gesagt, wenn Kohlbrugge aus diesen. Worten
herausliest, daßGeoffroy nur mit dem von „der konkreten Schule*
zusammengebrachten Tatsachenmaterial operierte. Das Tatsachen-
material war gewiß auch von Cuvier gesammelt worden; doch
hatte, wie wir gesehen haben, auch Geoffroy seinen reichlichen
Anteil darangehabt und wohl nur Oourtoisie hieß ihn Cuvier diese
Huldigung darbringen, während es doch damals und heute ganz all-
gemein üblich und erlaubt war und ist, die Befunde anderer,
Srdnunesscnae zitiert, zu verwerten.
Die Folge zeigte, daß nach und nach Cuvier zu einer stärker
kritischen Selle gedrängt wurde. Schuld daran trug zweifellos
Geoffroy, ne er, ım Gefuhle des Besitzes seiner neuen Theorie,
eine Fülle neuer Abhandlungen veröffentlichte, in denen nun die
allergewagtesten Vergleiche aufgestellt wurden. Sie zogen sich
durch die Jahre 1522 bıs 1826 hin und es fanden diese Abhand-
lungen regelmäßig eine Besprechung in Cuvier’s Jahresberichten®),
so 1821 und 22 die Abhandlungen über die Monstrositäten, - die
einen 2. Teil der „Philosophie anatomıque* einleiteten, und auch neue
Vergleiche zwischen der Wirbelsäule und dem Hautskelett der Insekten
brachten, 1823 eine Vergleichung der Geschlechtsorgane bei ovi-
paren und viviparen Tieren, 1824 die Wirbeltheorie des Schädels,
1825 eine Fortsetzung dieser Arbeiten und weitere Vergleiche des
Operkularapparates und des Visceralskelettes. Schon das Referat
im Jahre 1821 war nicht ohne Schärfe; ım Jahre 1823 äußerte
er sich an einer Stelle deutlich ironisch über Geoffroy’s Behaup-
tung, die Huftiere besäßen keinen Kanonknochen, sondern zwei
Metakarpalien oder Metatarsalien; ım Jahre 1824 findet sich eine
scharf ablehnende Bemerkung gegen die in Deutschland blühende
Naturphilosophie; er hebt dann die starken Divergenzen ‚zwischen
seinen und Geoffroy’s Deutungen gewisser Teile des Krokodil-
3) Kohlbruggei p- 68) zitiert diese Stelle erst von hier an. Der vorher-
gehende Satz erscheint mir aber als nicht unwichtig für die Beurteilung des ganzen
Sachverhalts.
4) Ich kann leider nicht beurteilen, ob diese erst vom Jahre 1834 datierten
Berichte schon damals erschienen sind, oder ob es sich um hinterlassene Schriften
Cuvier's handelt. Da Kohlbrugg e erklärt, Cuvier habe damals beharrlich ge-
schwiegen, so möchte ich mit meinem Urteil vorsichtig sein. Aber selbst wenn
Cuvier die Referate damals nicht veröffentlicht hat, geben sie doch einen guten
Einblick in die sich Jahr für Jahr steigende Abneigung Cuvier's gegen Geoffroy’s
Studien.
29*
RE TE SEN NE RA EH RT
Zi EN
400 W. sh Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St. laren u. Ouvier SR
schädels hervor. Im folgenden Jahre wird die Sprache deutlich
ungeduldig gegenüber dem dauernden Wechsel, dem Geoffroy’s
Ansichten über die Homologien der Schädelknochen in völlig will-
kürlicher Weise unterzogen wurden. Hier wird auch ohne weiteren
kritischen Zusatz (p.166) Geoffroy’s Annahme einer Abstammung
der Krokodile von fossilen Formen erwähnt (p. 166).
Man sieht, daß bereits vier Jahre vor dem öffentlichen Ent-
brennen des Akademiestreites die Stimmung zwischen beiden Män-
nern nicht mehr die alte war. Kohlbrugge (p. 98 Anm. 14) weist
aus Cuvier’s Korrespondenz nach, daß bereits ım Jahre 1824 „die
Entzweiung der alten Freunde“ bestanden hat. Er verfolgt dann
die letzte Entwicklung des Verhältnisses bis zu zwei Vorfällen der
Jahre 1828 und 1829, wo Cuvier (1828) sich gegen die Natur-
philosophie wandte und Geoffroy ın einer Rede in der Akademie
erwiderte. Im Jahre 1829 fand dann ein heftigerer Zusammenstoß
statt, über den Kohlbrugge nicht im Haupttext, sondern nur in der
Ahmerkune berichtet: „Im Jahre 1829 sprach Cuvier dann noch-
mals kritisch über die Naturphilosophie in einer Sitzung der Aka-
demie. Geoffroy behauptete, er habe ıhn dabei scharf angesehen,
und dies war dem reizbaren Manne ein neuer Anlaß, um einen
Artikel zu seiner Verteidigung loszulassen.“ Wir geben die Episode
nun nach Geoffroy’s eigenen Worten (1830, p. 188) folgendermaßen
wieder: „Cuvier legte am 12. Oktober 1829 einen Bericht über
einen parasitischen an vor mit der Bemerkung, gewisse andere
Leute würden daraus gewiß ein System errichtet Ban und mit er-
hobener Stimme und den Blick auf Geoffroy richtend fuhr er fort:
„Ich habe mich seit langem an die Wiedergabe von Tatsachen gehalten
und beschränke mich auf eine Beschreibung.“ Am 19. Oktober ant-
wortete dannGeoffroy be: Vorlegung einer Abhandlung über sıame-
sische Zwillinge: „Hier liegt kein leeres Hirngespinst vor, sondern
ein Kernpunkt wissenschaftlicher Geschehnisse und Aufgaben, eine
Art Erläuterung der Bedürfnisse der Zeit, die ım rechten Moment
kommt und durch den Fortschritt des menschlichen Geistes erzeugt
wird. Und um recht deutlich zu werden, so will ich bemerken,
daß nach der Schilderung positiver Tatsachen ıhre wisseuschaftlichen
Konsequenzen kommen müssen, so wie nach dem Behauen der Steine
ihre Verwendung. Was nützten denn sonst die Materialien? Wenn
man sie nicht vereinigt und bei einem Bau benutzt, sınd sie un-
nütz ... Die Anatomie war lange beschreibend und sondernd. Nichts
wird sie mehr aufhalten auf ıhrem Wege, allgemein und philosophisch
zu werden.“
Ob der Angriff Cuvier’s nun nur, wie Kohlbrugge dar-
tun will, ın Geoffroy’s Wahnidee existierte, lassen wir dahin-
gestellt; Kohlbrugge’s Sache wäre es unseres Erachtens, dies zu
beweisen.
W. Lubosch, Der Kkadeiniestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc. 401
2.
So kam esam 15. Februar 1830 zu dem Zusammenstoß zwischen
den beiden großen Gegnern; Geoffroy war 58, Cuvier 61 Jahre
alt; beide standen also in einem Lebensalter, in Kat eine Änderung
wissenschaftlicher Grundanschauungen nicht mehr wahrscheinlich
ist. Die Aussprache konnte also nur den Sinn haben, die eigenen
Ideen zu rechtfertigen, nicht aber, den Gegner zu überzeugen. Der
unmittelbare Anlaß bestand darin, daß Geoffroy die Arbeit
zweier Zoologen, Meyranx und Laurencet lobend vorlegte, in
der die Wirbeltiere und Tintenfische verglichen wurden, derart, daß
die Organisation der Tintenfische im Grund als die der Wirbeltiere anzu-
sehen sei, sobald man sich vorstelle, daß ein Wirbeltier über den Rücken
hin zusammengefaltet würde. Cuvier erhob, besonders verletzt
durch gewisse Bemerkungen Geoffroy’s, Einspruch gegen jene
Vergleichung und widerlegte in der folgenden Sitzung die Arbeit
der beiden von Geoffroy empfohlenen Forscher. Er ging bereits ın
dieser Sitzung auf das allgemeine Gebiet über, auf das ihm G eoffroy
folgte. Es entspann sich dann eine eingehende Verhandlung, in
der das Für und Wider der Geoffroy’schen Lehren erörtert wurde.
Sie zog sich bis zum 15. April hin, woGeoffroy einen zusammen-
fassenden Bericht im Druck erscheinen ließ (die sogen. „Philosophie
Zoologique“). Die Debatte flammte am 12. Juli wieder auf und
führte dann namentlich im Oktober nochmals zu grundsätzlichen.
Erörterungen, die am 25. Oktober einschliefen. Durch das ganze
Jahr 1531 und den Anfang des Jahres 1832 zogen sich dann Streitig-
keiten zwischen beiden Gelehrten hin, die erst mit Cuvier’s Tode
zu Ende kamen.
Da Kohlbrugge sehr ausführlich über den Gang der Ver-
handlungen berichtet hat und die zeitgenössische Literatur (Tages-
zeitungen und Wissenschaftliche Zeitschriften) genau zitiert, er-
blicken wir, wie schon in der Einleitung bemerkt, unsere Aufgabe
vor allem in einer ausführlichen Wiedergabe dessen, wasGeoffroy
selbst über den ersten Teil der Erörterungen sakt. Die Urteile
Kohlbrugge’s setze ich zur Orientierung ik: Lesers ın der ersten
Kolumne dazu
Die Erwiderungen Cuvier’s habe ich nach dem Journal des‘
Debats gegeben. Die Originalaufsätze Cuvier’s die diesen Aus-
zügen zugrunde liegen, habe ich verglichen (Revue eneyclopedique
Bd. 46 und Annales des sciences nat. Bd. 19) und die Ab-
weichungen für unsere. Zwecke im Gegensatz zu Kohlbrugge’s
Meinung doch als ganz unwesentlich befunden,
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W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc. 491
Bis hierher sei die Berichterstattung über den Gang der Ver-
handlungen geführt. Die späteren bei Kohlbrugge wiedergegebenen
Verhandlungen, die sich im Jahre 1831 und 1832 bis kurz vor
Cuvier’s Tode anschlossen, haben mit dem Thema jenes Streites
nur teilweis zu tun, weshalb ich auf eine ähnlich genaue Wieder-
gabe verzichte. Immerhin erscheint mir aber auch diese Fort-
setzung erwähnenswert, weil sie eine außerordentlich bedeutsame
Umbildung der Geoffroy’schen Theorie zeigt. In der Polemik
gegen eine recht unklare und verwirrte Schrift von Duges (Gaz.
medic. vom 29. Okt. 1831) bekämpft Geoffroy den Versuch, seine
„unite de composition organique* in eine „Lonformite organique dans
l’echelle anımale* umzudeuten zu lassen mit der Begründung, daß die
„Formen* (Einzelerscheinungen) weniger der Gegenstand seiner
Theorie seien, als die „Gestalten“ (Formen ım transzendentalen
Sinne, Ideen) und versucht dann, die „Einheit“ als dynamisch-
atomistisches Prinzip, als eine die Materie beherrschende, ihre Ge-
staltungen regelnde, ıhr innewohnende Kraft zu bestimmen. Das
ist eine eingreifende Änderung des vorher mehr morphologisch-
methodologischen Prinzips, womit er Wege beschreitet, die auch
vor und nach ihm die Naturphilosophie gegangen ist. So steht er mit
seiner Annahme von der Beseelung der Kristalle und chemischen
Lösungen dem ganz nahe, was ın allerjüngster Zeit E. Haeckel
(1917) gelehrt hat und in der Deutung gewisser gesetzmäßig zu er-
zeugender Bewegungen in Flüssigkeiten steht er den entwicklungs-
mechanischen Gedanken Roux’s nicht fern. So zeigt sich schon in
diesem merkwürdigen Aufsatze Geoffroy’s seine wenige Jahre
später veröffentlichte Lehre vom „Loi de soı pour soi“ (Lehre von
den gesetzmäßigen Affinitäten zwischen den Elementen des Orga-
nismus und denen der Umwelt, und von dem bestimmenden Ein-
fluß der Umwelt auf die Organismen vermittels Nutrition und Re-
spiration), es zeigt sich diese Lehre hier in statu nascendi. Ganz
konsequent hatte er daher auch zu Beginn des Jahres 1831 eine
Gelegenheit benutzt, sich öffentlich für die Einheit der Natur aus-
zusprechen (Gaz. med. vom 8. Jan. 1831), nicht im streng materia-
listischen Sinne, insofern er die Materie als beseelt ansieht — aber
im antivitalistischen Sinne, da er nur eine einzige Gesetzmäßig-
keit anerkennen, dabei lediglich die Bewegung und ihren Ursprung als
„iıgnotum“ ansehen möchte. Auch hier spielt schon die Beziehung
zwischen den Organismen und den Elementen ihrer Nährstoffe
eine Rolle.
Ich kann also diesen Aufsatz Geoffroy’s keineswegs mit Kohlbrugge
(p- S3ff.) als einen unmotivierten Seitensprung aufs antivitalistische Gebiet be-
trachten, den er alsbald, möglicherweise beeinflußt durch den Klerus (p. 83),
wieder zurück tat, sondern als ersten Schritt auf einem fürderhin konsequent weiter
beschrittenen Wege, der ihn von der Unit& de plan“ zum „Loi de soi pour soi“
führte. Ich kann auch im Gegensatz zu Kohlbrugge weder finden, daß die
RR RT N
422 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
vitalistischen Argumente eines Gegners (Virey, Gaz. med. vom 22, Jan.) sehr
zwingend, noch Geoffroy’s Antwort (Gaz. med. vom 12. Febr.) „nichtssagend“
gewesen sei. Diese Antwort zieht vielmehr äußerst geschickt und fein die Grenze
zwischen der allein der Forschung zugänglichen Physik der Natur und ihrer der
Philosophie zugewiesenen Metaphysik, die Vereinbarkeit beider Betrachtungsweisen
nicht für immer, wohl aber zur Zeit ausschließend. Was die spätere Schrift Duges
betrifft, so hat Geoffroy, wie sich aus den Berichten klar ergibt, das Referat darüber
in der Akademie nicht etwa deshalb abgelehnt, weil er Partei war (Kohlbrugge),
sondern weil er ja dadurch die „Verbesserung“ seiner Theorie durch Duge£s hätte
gutheißen müssen; er hat auch nicht, nach seiner Ablehnung des mündlichen
Referates illoyal ein öffentliches Referat gegeben (Kohlbrugge), sondern hat, da
die Öffentlichkeit von seiner Weigerung, das Referat zu übernehmen Kenntnis be-
kommen hatte, den Grund dieser Weigerung aufgedeckt, indem er seine eigenen An-
sichten gegen die Verschlimmbesserungen Dug£&s verteidigte und gleichzeitig seine
eigene Theorie, wie oben gezeigt, umbildete. Dieser Sachverhalt kommt bei Kohl-
brugge (p. 86) nicht deutlich zum Ausdruck; insbesondere lehrt erst der Ein-
blick in die Schrift Dug®s (Gaz. med. 29. Okt.), daß es in der Tat darauf abge-
sehen war, Geoffroy’s System zu „verbessern“.
11.
b.
Wenden wir uns nun zu einer Beurteilung des Streitfalles, so
seien einige allgemeine Bemerkungen vorausgeschickt. Wie die
Lektüre der obigen Auszüge lehrt, ist Geoffroy in der engeren
Frage, die am 15. Februar den Anstoß zu der Debatte ge-
geben hatte, zweifellos unterlegen; ebenso zweifellos aber hat
er am 5. April die Debatte nicht abgebrochen, weil er sich außer-
stande fühlte, sich weiter zu verteidigen, sondern weil ihm eine
weitere Diskussion mit seinem Gegner nunmehr aussichtslos erschien.
Derjenige, der von der speziellen Frage der Salpen aus zuerst auf
das gefährliche Gebiet der Unite-Frage im allgemeinen hinüber-
ging, war zweifellos Cuvier (am 22. Februar), wenngleich Geof-
froy in seiner Besprechung von Meyranx und Laurencet natür-
lich diese Frage, soweit sie für die Vergleichung der Salpen ın
Betracht kam, gestreift hatte (15. Febr.). Im weiteren Verlauf der
Debatte werden wir dann Hörer von sechs großen Reden (Cuvier
vom 22. Febr., 22. März, 5. April — Geoffroy vom 1. März, 22. März,
29. März). In diesen Reden drückt sich eine Steigerung nur aus,
insoweit Geoffroy m Frage kommt. Denn während Cuvier eigent-
lich nur dreimal dasselbe bespricht, nämlich die Zweckmäßigkeit
als wahres Prinzip der Vergleichung, den Wert und die Bedeutung
der Systematik und die Unklarheit der Geoffroy’schen Termino-
logie, findet sich bei Geoffroy in der ersten Rede die Abgren-
zung seiner Lehre gegen die Arıstotelisch-Cuvier’sche, in der
zweiten die Verurteilung des systematischen Prinzipes als eines
für die Vergleichung wesentlichen, in der dritten Rede endlich die
Abgrenzung und Erläuterung seiner Methode. Der Höhepunkt des
ganzen Streites liegt in der Mitte der zweiten Rede G eoffroy’s,
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy S.-Hilaire u. Cuvier etc. 423
wo er sich gegen die Ansicht wendet, daß die Klassenverschieden-
heiten auch "Verschiedenheiten ım komparativen und genetischen
Sinne seien und dies mit den Worten vor seinem Hörerkreise ver-
tritt: „Or une telle specialite, je la conteste formellement. Je vais
plus loin, je la tiens pour impossible“ (p. 124). Damit ist er der
erkunden einer Gesetzmäßigkeit geworden, die später und heute
mehr denn je anerkannt wird; um so merkwürdiger ist es, daß
Kohlbrugge es für zwecklos hält, auf die „Philosophie Zoolo-
gique* heute noch näher einzugehen, da Geoffroy’s Standpunkt
ja von niemand mehr geteilt werde.
%
Was nun die Charaktere der beiden Männer anlangt, so ge-
winnen wir keinesfalls mit Kohlbrugge die Ansicht, daß Cuvier
die Debatte in olympischer Gelassenheit und verbindlichem Gleich-
mut geführt habe, G eoffroy dagegen aufbrausend, jähzcrnig, eitel
und schlau. Vortrefflich ist im Gegenteil die Folgerichtigkeit,
mit derGeoffroy, durch Cuvier’s Angriffe bewogen, in der Ent-
wicklung seiner Theorie allmählich zu weiten Ausblicken gelangt
und befremdend bei einem Geist wie Cuvier, daß er sıch stets
(wie auch Kohlbrugge S. Sı, allerdings lobend, erwähnt) bei dem-
selben Einwande hielt, stets an dem einen Punkte bohrte, Geof-
froy solle erklären, was nicht exakt erklärt werden, solle demon-
strieren, was nicht demonstriert werden konnte und daß er die
- heuristische, methodologische Bedeutsamkeit der Ansichten seines
Gegners nicht erkennen wollte, die er in früheren Jahren doch
immerhin anerkannt hatte. Er behandelte die Frage vielfach
ironisch (ich habe höflich, wie es einem wohlerzogenem Menschen
geziemt, gesprochen — will meine Ansichten mit der gleichen Höf-
lichkeit wie Geoffroy verteidigen — Geoffroy hätte den Kro-
kodilschädel aus der anatomischen Sammlung kennen müssen u. Ss. w.).
Demgegenüber hat Geoffroy zwar den Unterschied zwischen „Zoo-
logie* und „Zootomie*, zw ischen Natur, „beschreibung“ und Natur-
em ‚ zwischen Materials sammlung und Tatsachenverwertung
mehrfach betont, ıst aber dabei stets le Achtung für Cuvier’s
Arbeiten geblieben, deren große Bedeutung er mehrfach erwähnt
und die er ausdrücklich von den lediglich „zählenden, messenden und
wägenden“ Arbeiten sondert (29. März). Wo er konnte, hat er ver-
mittelt (12. Juli). Richtig ist, daß ein stolzes Selbstbewußtsein ın
seiner Haltung zutage trat, das aber auch danicht verletzend wurde,
wo ıhn Aussprüche Cuvier’s gereizt hatten, wie etwa jener, daß
ın Geoffroy’s Theorie das Richtige alt und das Neue falsch sei.
Man gewinnt, wenn man Geoffroy’s Reden liest, immer wieder
den Eindruck, daß es ıhn schmerzt, seinem großen Kollegen op-
ponieren zu müssen, daß er es in den mildesten und feinsten Wen-
424 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
dungen zu tun sich bestrebt, und daß er auch heftigeren Vorstößen
Cuvier’s ausweicht, weil er nieht für seine Person, sondern eine
Idee kämpft. Die Art wie er dies ausdrückt, seine Lobrede auf
die intuitiv das Wahre erkennende Anschauungskraft des Genius
und seine prophetischen Worte über die Zukunft der vergleichen-
den Anatomie konnten wohl subjektiv für Cuvier kränkend sein,
objektiv aber keinesfalls.
Es möchte vielleicht daran zu denken erlaubt sein, daß sich
ım Verhalten beider mehr als persönliches Temperament ausdrückte,
daß vielmehr der ganze Charakter ihrer Rassen darin offenbar wurde.
War doch das Impulsive und Romantische grade in Geoffroy’s
Leben mehrfach hervorgetreten, seine schwärmerische Hingabe an
eine Idee, dabei die echt französische Neigung. den Gedanken in
eine Fülle prunkvoller Worte und Metaphern zu kleiden, während
wir ın Öuvier’s kühler Festigkeit und trotzigen Steifheit unschwer
den Germanen erkennen, in dessen Adern das Blut eines refor-
mierten Geschlechtes floß. Dabei ıst es merkwürdig, daß in der
Deutung der Befunde grade Keoffroy der Exaktere von beiden
war, der soweit er überhaupt eine Erklärung der Umbildungen gab,
damals und später nur natürliche Ursachen als wırksam annahm,
während Cuvier ausschließlich teleologische Prinzipien gelten ließ.
Es muß auch, wie schon Kohlbrugge es sehr richtig tut, darauf
aufmerksam gemacht werden, daß zur Zeit jenes Streites die
materialistische Mode Lamettrie’s und der Rationaliısmus des
Holbach’schen Systeme de la nature spurlos vergangen war, so
daß alle Naturforscher jener Zeit, Cuvier wie Geoffroy, La-
marck wie Erasmus Darwın, von Gott als höchstem und letztem
Urheber der Dinge sprechen.
2.
Wesentlicher als diese Streiflichter auf die Personen sind uns
nun die Fragen nach dem Sinn des ganzen Vorganges. Um was
ging der Streit? Ging er lediglich um die Frage, ob die Salpen
zusammengefaltete Wirbeltiere seien? Ging er um die Unite de plan
oder unit& de composition? Drehte er sich um deszendenztheore-
tische Fragen? Wir haben nur nötig, den Inhalt der obigen Be-
richte zusammenzustellen, um auf diese Fragen eine ebenso präzise,
wie unerwartete Antwort zu erhalten.
Außerordentlich einfach, durch seine Nüchternheit und die
Klarheit, die in der Sache selbst lag, alle Zuhörer — Gelehrte und
Laien — überzeugend war das, was Cuvier vertrat. Zunächst hatte
er es sehr leicht, auf die gänzlich unklare Terminologie seines
Gegners hinzuweisen. „Was heißt composition“? — Was heißt
plan?, was unite de plan? — fragt er am 22. Februar. — Was
sind Elemente? Was analogies universelles? am 22. März. Er
W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 495
kann sich vorstellen, daß Häuser dieselbe „composition“ haben (aus
gleichviel Stockwerken bestehen) und den gleichen „plan“ (überein-
stimmende Anordnung der Zimmer in verschiedenen Häusern). Aber
für die lebendige Natur verwirft er einen solchen Plan, muß ıhn
verwerfen, da er ihn nicht sieht; und nun gar Einheit eines solchen
Planes! Vergebens setzt ıhm Geoffroy am 1. März entgegen,
daß unite de plan nur eine, gewiß irreführende Abkürzung sei
für: „Einheit des Systems in der Zusammensetzung und Anord.
nung der Bestandteile der Organe“; vergebens erklärt er, daß „unite
universelle“ ein von ıhm niemals gebrauchtes, baaren Unsinn aus-
drückendes Wort sei. Umsonst. Cuvier war den Tatsachen nach
im Recht und zog mit schneidender Schärfe die Folgerungen aus
ihnen. Am 22. Februar ın seiner ersten großen Entgegnung weist
er nach, daß zwischen Mollusken und Wirbeltieren keine Spur eines
gemeinsamen Planes bestehe. Nicht einmal innerhalb der Klassen
gebe es solche Gemeinsamkeit. Am 22. März erweitert er die Kluft
mit der ironischen Frage, wo denn zwischen Medusen und Giraffe,
Seestern und Elefant diese Einheit sei! Er konstatiert die tiefe
Kluft zwischen Säugetieren und Vögeln, was speziell das Zungen-
bein anlange. Grade ın seiner Besprechung der Theorie Geoffroy’s
in Anwendung auf das Zungenbein kommt er dann zu noch schärferen
Sonderungen. Das durch Luftsäcke aufgeblähte Hyoid des Brüll-
affen ist ein Skelettelement völlig sui generis, das mit anderen
Zungenbeinen garnichtsgemein habe und ein processus styloides komme
lediglich dem Menschen zu; falsch seı es, diesen Knochenfortsatz
bei anderen Tieren wiederfinden zu wollen (22. März). Es befriedigt
ihn, festzustellen, daß das Zungenbein bald aus drei, bald aus vier,
in anderen Fällen aus mehr, bis zu 17 Stücken zusammengesetzt
sei. Ähnlich verfährt er bei der Beurteilung des Brustbeins am
5. April. Seine Aufgabe als Vergleichender Anatom glaubt er da-
durch im wesentlichen gelöst, daß er die Mannigfaltigkeit der
Organisationen durch die Zweckmäßigkeit der jedesmaligen Leistung
erklärt (22. März). Diese entscheide, ob drei, vier oder mehr Stücke
am Zungenbein nötig seien, und das einzige Gesetz der Natur sei
(5. April), die Formen gemäß der Existenzbedingungen zu variieren.
Hieraus ergibt sich sein methodologisches Prinzip, das er ın jeder
seiner Erwiderungen hervorhebt. So sagt er am 22. Februar, der
Naturforscher habe nur zu prüfen, inwieweit Ähnlichkeiten tatsäch-
lich nachweisbar seien; wo das nicht mehr der Fall sei, habe die
Sache ihr Ende. Am 22. März erläutert er diese Aufgabe dahin,
daß er sagt: „Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten bilden die Tiere,
wie sie nun einmal sind; weitere Verallgemeinerungen werden nur
von Ignoranten für baare Münze genommen.“ Und am 5. April er-
klärt er, dem Forscher erwachse lediglich die Aufgabe, die Tiere
nach Klassen-, Ördnungs-, Familien- u.s.w. charakteren zu klassifizieren,
426 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
Es ist klar, wie ıhn diese Auffassung in Ermangelung eines anderen
Prinzips der unverhüllten Teleologie ın den Arm treiben muß. So
führt er am 22. Februar aus, maßgebend sei für die Organisation
die Rolle, die ein Tier ın der Natur spielen müsse. An diesem
„rationellen Prinzip“, wie er es nennt, müsse das Geoffroy’sche
Prinzip seine Grenze finden. Und am 5. April vermag er: der Natur
gar so tief in ıhre Geheimnisse zu blicken, daß er ausruft, sie habe es
nicht nötig, Anleihen bei anderen Organen zu machen, wenn sie
ein es aniah Organ zweckentsprechend umändern all Was
sie wolle, könne sie auch. So muß er zu einer völligen Verurtei-
lung der Methode seines Gegners gelangen. Er habe eben in
seinem Bestreben, neue Ähnlichkeiten zu entdecken, nur die alte
Arıstotelische Methode erweitert (22. Februar), aber habe eben grade
darin geirrt und grade dadurch Unheil gestiftet. Es gebe eben
Ähnlichkeiten nur in ganz beschränktem Maße; sie darüber hinaus
feststellen zu wollen har die Natur ın Sklavenkeiten legen (22. März)
und alle Forschung zu Unfr uchtbarkeit verdammen hend)
Geoffroy hatte demgegenüber einen äußerst schweren Stand.
Daß die Laien, die dem beiwohnten, Cuvier Beifall klatschten,
wenn er ihn immer und ımmer wieder aufforderte doch nur zu
sagen, was er eigentlich meine, oder wenn er unter behaglicher
nenne. der Laienhörer in aller Öffentlichkeit nachwies, daß
das Zungenbein des Brüllaffen gänzlich anders aussehe, als
das der Vögel — das störte ıhn wenig. Aber die Stunde war
für ıhn gekommen, wo er das, was ihm vorschwebte, wirklich
präzise demonstrieren sollte; wo das, was hisher den Gregen-
stand seiner einsamen Studien gebildet hatte, eigentlich wider seinen
Willen in voller Öffentlichkeit vor profanen ara: verhandelt werden
mußte. Dem Gang seiner Verteidigung müssen wır warme Bewun-
derung zollen. Er konnte seinen Standpunkt natürlich nur so wählen,
daß er Cuvier gegenüber das verteidigte, was schlechthin unan-
greifbar war. Dies Unangreifbare waren nıcht die Ergebnisse, zu
denen er gelangt war, nıcht die Formulierung, die er seinen „Ge-
setzen“ gegeben hatte, sondern es war die Methode der Ver-
gleichung, das neue, exakte Prinzip, das er bei der vergleichenden
Beurteilung organıscher Formen angewandt sehen sollte, Damit
trat er Cuvier nun sofort entgegen. „Wann kann und darf man über-
haupt vergleichen?“ ıst die Frage, die ıhn vor allem leitet (22. März).
Er beantwortet die Frage anders. als Cuvier, der nur da vergleichen
will, wo er die Ähnlichkeiten findet. Ich will auch da vergleichen,
wo ich Verschiedenheiten finde, erklärt er, ja grade da. Diealte
aristotelische Zweiteilung der Tierwelt ın Blutlose, und Bluttiere,
durch Lamarck’s ebenso schädliche in Wirbellose und Wirbeltiere
erneuert und verewigt (22. März) dünkt ihn unerträglich und so
will er den „ressemblances philosophiques“ möglichst weite Grenzen
la nn FREE RER
M Bm,
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W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 427
setzen, nicht wie sein Gegner möglichst enge (22. März). Schon
am 1. März hatte er das als die grundlegende Frage bezeichnet, als
die entscheidende und für die weitere Forschung maßgebende. Er
formuliert sie so, daß er sagt, er sehe Ähnlichkeiten dort, wo man
bisher nur Unterschiede gesehen habe.
Freilich türmt sich hierbei nun sofort die wunübersteigliche
Schranke auf; daß diese Ähnlichkeit zunächst nur in seiner subjek-
tiven Überzeugung besteht, und daß sie für die Wissenschaft erst
objektiv gültig wird, wenn sie exakt nachgewiesen werden kann.
Auch er ist der Überzeugung, daß die Natur mit vorhandenem
Material die Anpassung an die Umwelt produziere (22. März); aber
er verwirft Cuvier’s Meinung, daß sie dabei willkürlich, also ledig-
lich nach vorbestimmten Zwecken schaffe. Er kennt keın Tier,
das wie Cuvier gemeint hatte „eine Rolle spielen müsse“,
sondern nur Tiere, die eine Rolle spielen können kraft ge-
gebener und ein für alle Mal vorhandener Möglichkeiten dazu.
Die Vögel sind nicht zum Fluge erschaffen, sondern sie können
fliegen, weil sie eine dazu geeignete Organisation haben, sagt
er an anderer Stelle, also ganz ähnlich wie Goethe in dem
bekannten Wort, der Ochse habe nicht Hörner um zu stoßen,
sondern weil er Hörner habe, könne er stoßen. So ıst es
die Organisation, die ihm als das ein für alle Mal Gegebene vor-
schwebt. Sie ist es, die ihm schon bei der Betrachtung seiner
osteologischen Sondungen als das unenträtselbare „Etwas“ ent-
gegentrat (1. März); und auch am 22. März kann er seinen Zu-
hörern nichts anderes als eben dies rätselhafte „Etwas“ als das
primär Gegebene, das sıch ım Medium ändere, "vorführen. Dies
ist es, was eran jenem Tage, wie schon in seinen früheren Schriften
das „Element anatomique“ nennt.
Wie aber diesem „Element“ praktisch beizukommen sei, das
ist sein Problem gewesen, das er in seinen Arbeiten seit dem Jahre
1802 zu lösen versucht hatte. Daß es praktisch irdendwie lösbar
sein mußte, ergab sich ihm eben aus allgemeinen Überlegungen
als Postulat. Jetzt, vor der Öffentlichkeit aufgerufen, findet er
tatsächlich die Worte, um klar zu machen, was ihm dabei das
Wesentliche erscheint.: Gleich am 1. März ist sein leitender Ge-
danke „die praktische Brauchbarkeit“ seines Prinzipes, d. h. sein
Wert als Methode. Nur von diesem Standpunkt aus bezeichnet
er seine Methode am gleichen Tage als „neue Wissenschaft“ und
als „Lebensfrage der Philosophie“. Am 22. März spricht er gleich-
falls von der „Reform der Anatomie“ und wendet sich gegen
Cuvier’s Darstellung, es seien die klassifikatorischen Finteilungen
das „Prinzip“ der vergleichenden Anatomie. Nein, sagt er, die
‚Systematik ist kein „Prinzip“, sondern ein „Resultat“ der Ver-
gleichung — ein Satz, damals neu und bekämpft, heute uns allen
428 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
geläufig. Es ıst ein Unterschied, sagte er, zwischen Prinzipien und
Resultaten (22. März), und was GCuvier und mich trennt, sind eben
weniger dıe Resultate, als der Weg auf dem sıe gewonnen werden
(29. März). Er konnte dies sagen, da er ja mit Cuvier völlig über
den Wert dieser Resultate selbst, den Wunderbau der Systematik,
einig war. Hatte doch auch er wichtige Beiträge zur Systematik
der Wirbeltiere geliefert. Daß aber auch ın dem, was die Klassen
trennt, etwas (Gemeinsames existiere, das ıst es, was er „philo-
sophie“ nennt; denn wenn auch „philosophie“ im Sinne eines über-
geordneten Prinzipes in allen Wissenschaften eine Rolle spielt
(Rechts-, Geschichts-, Sprachphilosophie u. s. w.) —, so scheint grade
die „philosophie“ anatomique und zoologique jener Zeit einen etwas
engeren und präziseren Sinn zu haben. Wır können, ohnean
den Beziehungen etwas zu ändern, „philosophie“ gradezu
mit „Methode“ übersetzen. Gebraucht doch Geoffroy
selbst am 29. März (p.167) beide Worte als gleichwertig,
indem er fragt: „En quoı done consiste cette difference
ou de methode ou de philosophie?*
Es kommt ıhm also darauf an, zusagen, daß eine wissenschaft-
liche Vergleichung neu begründet werden müsse; daß dieser Grund
nur durch eine neue Methode der Vergleichung gelegt werden
könne, und daß diese neue Methode ıhre Prinzipien nicht ın der
Systematik finde, sondern in der Gesamtorganisation, sowohl dessen,
was bei verschiedenen Tieren ähnlich, als dessen, was unähnlich seı.
So lehnt er die Vermittlungsversuche ab, es möge doch jeder auf
seinem Wege weitergehen, Cuvier, indem er die Ähnlichkeiten, er
selbst, indem er die Verschiedenheiten untersuche (29. März). Das
sei nicht seine Meinung. Es gebe darin keine Vermittlung, es gebe
nicht zwei Seiten des Problems; das Problem sei eines; Ähnlich-
keiten und Verschiedenheiten seien am gleichen Organismus zu be-
urteilen.
Wirkennenausder eingangs gegebenen Einleitung in die Geschichte
des Akademiestreites den Weg, auf dem Geoffroy das ıhm vor-
schwebende Ziel zu erreichen hoffte. Es war der Vergleich —
nicht, wie wir es heute zu tun pflegen zwischen möglichst „nahe
verwandten“ Formen —, sondern zunächst zwischen zwei möglichst
weit voneinander getrennten Organisationen. Z.B. führe ich die
Abhandlung über das Sternum an, wo er mit der Gegen-
überstellung der Fische und Vögel beginnt, um erst weiterhin durch
Reptilien, Frösche und Säugetiere die „anneaux intermediaires“
einzufügen. Hierbei geht er von der Voraussetzung aus, daß jeder
anatomische Baustein überall vorhanden sei, entweder real oder
virtuell wenigstens seinem Platze nach; sodann aber, daß man diese
Bausteine wiedererkennen könne lediglich aus ihren im ausgebildeten
Zustande vorhandenen Beziehungen zu Nachbarteilen. In der Dis-
"W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Uuvier ete. 499
kussion mit Cuvier geht er auf diese Grundfragen seiner Methode
nur wenig ein. Er mußte voraussetzen, daß diese Grundfragen
seinem Gegner und der wissenschaftlichen Corona bekannt seien.
Er stellt daher mehr die Technik der Vergleichung und das, was
sie von bisherigen Versuchen unterscheidet, in den Vordergrund.
Es sind das zwei Punkte, nämlich erstlich der völlige Verzicht auf
alle Vergleichung der Funktionen. Hierin wurde er von Ouvier
mißverstanden, der ihm vorhielt, daß ja er beim Bestimmen dessen,
was überhaupt „Sternum“ sei, eine funktionelle Definition gegeben
habe, Stütze und Umhüllung nämlich für die respiratorischen Ein-
geweide. Gewiß war es Geoffroy’s Meinung sowenig, wie die
späterer Morphologen, die Organe und Systeme "losgelöst von jeder
Funktion zu vergleichen. Aber sie mußte aufhören, das beherr-
schende Prinzip zu sein, vor allem im negativem Sinne, daß Dinge,
die verschiedene Leistungen hätten, auch ihrer morphologischen Be-
deutung nach verschieden seien. So begründete Geoffroy die später
so wichtig gewordene Lehre vom Funktionswechsel (29. März,
p. 178). Ein zweiter Punkt ist der, daß er nicht das Organ in
seiner Gesamtheit, sondern die Bestandteile des Organes („mate-
riaux“) vergleichen will, also nicht das „Zungenbein“, sondern seine
Komponenten, die einzelnen Stücke deren Umbildungen er bei den
einzelnen Formen verfolgen will (1. März u. 29. März). Durch zwei
indirekte Beweisführungen versucht er seinen Hörern die Sachlage
klar zu machen. Am 22. März geht er auf die Atemorgane der
Fische ein und fragt, ob denn etwa die Natur diese als Sonderschöpfung
hervorgebracht habe, oder ob die Elemente, die bei den Fischen
im Dienste der Respiration stehen, bei Luftatmern nicht trotzdem
zu anderer Verwendung gelangten. Fast schiene ihm die Termino-
logie der Ichthyologen für jene seltsame Auffassung zu sprechen
(1. März). Darum will er die spezielle Fischterminologie (Operku-
lum, Präoperkulum u. s. w.) lieber durch solche Namen ersetzen, die
für alle Tiere gültig seien, so, wie er Flügel, Flosse, Hand, Klaue
u. s. w. ersetzen will durch die Bezeichnung „Endglied der vorderen
Extremität“, Kanonknochen durch Metatarsalia u. s.w. In all dem
hat ihm die spätere Morphologie Punkt für Punkt Recht gegeben,
ganz im Gegensatz zuKohlbrugge’s Versicherung, daß Geoffroy’s
Standpunkt von niemandem mehr geteilt werde (p. 75). Geoffroy
kommt dann am 29. März nochmals auf die Frage zurück und meint,
seine Gedanken popularisierend, wenn niemand daran zweifele, daß
die Augen aller Wirbeltiere trotz großer Verschiedenheiten iden-
tische Orzane seien, da eben hier m Ähnlichkeiten überwögen —
warum solle man Bedenken tragen, dies für das een an-
zunehmen, bei dem sich nun die Verschiedenheiten in den Vorder-
grund drängten ?
38. Band 31
En
430 W. Iubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc.
Grade das Auge ist übrigens eines der wenigen Beispiele, die auch heute noch
zum Problem der unit& de plan zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen
(Tunicaten) hinführen. Es wird ja in mannigfacher Weise von Zoologen und ver-
gleichenden Anatomen erörtert.
Das wäre das Wesentliche, was über den Inhalt des Streites
zu sagen wäre. Man würde vergeblich mehr suchen, vergeblich
nach allgemeineren Erörterungen über den Zusammenhang der
Formen, oder nach Gesetzen der Bildung und Umbildung. Vor
allem werden die genetischen Fragen nur ın aller Kürze gestreift
und zwar so, daß man nicht den Eindruck hat, als ob sie Geoffroy
irgendwie als wesentlich erschienen. Zudem springt ein Gegensatz
in die Augen, den Geoffroy nicht überbrücken kann oder will.
Am 22. März finden sich die bekannten Hindeutungen auf des-
zendenz-theoretische Gedanken, von dem Verhältnis des Sprosses
zum Zweig, der Rebe zum traubentragenden Stock, in dem niedere
und höhere Form zueinander stehen; von der Leiter der Wesen,
die Entwicklungsstufen miteinander verbände, ähnlich denen von
Ei, Kaulquappe, Frosch. Er spricht grade an diesem Tage auch
von den „Anneaux intermediaires“ und Cuvier tritt am 5. April
diesen genetischen Gedanken entgegen. Es handelt sich dabei also
offenbar um echten, realen Transformismus. Gleichwohl lehnt
er am 29. März Lamarck’s Lehren ausdrücklich (p. 184) ab und findet
in der Redaktion der Gesamtschrift (vom 5. April) Anlaß, in einer
Fußnote zum 22. Februar ausdrücklich zu betonen, daß man sich
die Ähnlichkeiten lediglich intellektuell vorzustellen habe und
nicht glauben dürfe, sie stellten eine echte Reihe dar, so wenig, wie
der Typus „Haus“ erfordere, daß dasselbe Königsschloß vorher eine
Hütte, dann ein Wohnhaus, dann ein Palast gewesen sei. — Daß
dieser Widerspruch im Geoffroy’schen System da ist, und wie
wir ihn erklären können, haben wır ja oben eingehend erörtert.
Ein Widerschein dieses Konfliktes fällt eben auch in den Akademie-
streit hinein.
Fragen wir nun, wie sich der Erfolg der großen Aussprache
darstellte, so gelangen wir zu einem Resultat, das sich nach dem
Gesagten voraussehen ließ. Cuvier behielt Recht in jeder Einzel-
frage, denn er konnte nachweisen, daß Mollusken und Wirbeltiere
nicht in so einfacher Weise aufeinander bezogen werden können,
wie es sein Gegner wenigstens mittelbar durch Empfehlung der
Arbeit von Laurencet und Meyranx gemeint hatte; er konnte
ihm ferner gröbere Fehler im Vergleich der Zungenbeine und des
Sternums nachweisen. Cuvier hatte aber in unseren Augen Un-
recht, da er sich nicht fähig zeigte, trotz dieser Fehler die un-
geheuere Tragweite des Geoffroy’schen, rein morphologischen,
vom Funktionellen gänzlich absehenden Prinzipes zu erkennen und
statt dessen in Äußerlichkeiten der Terminologie und Begriffsdefi-
W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 431
nition stecken blieb. Er hatte auch darin unrecht, daß er einer
teleologischen Naturerklärung zugewandt blieb und sich von
einer Vergleichung nach Funktionen nicht lösen konnte oder
wollte.
Geoffroy hingegen hat für die Nachwelt Recht behalten durch
den Sieg, den seine Theorie schon bald nach seinem Tode feiern
konnte. Er hat aber damals Unrecht gehabt, weil es ihm nach
dem damaligen Stande der Kenntnisse nicht möglich war, mit seiner
Methode zu anderen als unvollkommenen Ergebnissen zu gelangen.
Denn wenn irgendwo, so erweist sich hier die Wahrheit des
Gegenbaur’schen Wortes, daß sich der Wert einer Methode allein
nach ihren Ergebnissen beurteilen lasse und daß es bei mangeln-
dem Erfolge ein schlechter Trost sei, die Methode sei wenigstens
gut gewesen. Wie die Dinge damals lagen, konnte Geoffroy nicht
anders, als — sagen wir es ungeschminkt — herumraten, welches
Skelettelement etwa einem anderen entsprechen möge. Darin
stimme ich mit Kohlbrugge (p. 65) überein. Nun ıst aber raten
und raten ein Unterschied, und grade das intuitive Erfassen der
Zusammenhänge durch ein geniales Auge ist ein Erraten höherer,
besonderer Art. So konnte @eoffroy Vieles glücken, z. B. die
Einsicht in die Bedeutung des Processus styloides und die Ver-
folgung dieses Elementes und seiner Verbindung mit dem Körper
des Zungenbeins bei den Säugetieren oder die Homologisierung der
Tuba Eustachii mit der Schlundöffnung der ersten Visceralspalte
bei Fischen. Der Fehler aber lag darin, daß die Analogien und
Konnexionen nicht vom erwachsenen Tier allein hergenommen
werden durften, sondern vom Embryo und daß die Entwick-
lungsgeschichte ıhm erst die Möglichkeit gegeben haben
würde, seine Vergleiche wirklich exakt zu begründen. Cuvier
selbst war auf diesem Gebiete tätıg und widerlegte z.B.ım Jahre 1831
wesentliche Punkte des Geoffroy’schen Vergleichs des Brustbeins
der Vögel, indem er zeigte, wie die Löcher in diesem Knochen
entstanden, daß demnach die benachbarten Knochenspangen nicht
besondere Knochen (den Radıen der Membrana branchiostega ver-
gleichbar), sondern nur besonders verdünnte Teile des Brustbeins
selber seien. In ähnlicher Weise wurde dann ım Jahre 1837 die
„Metamorphose der Visceralbögen“ durch Reichert untersucht, und
es ist klar, daß die Homologie des Steigbügels mit dem oberen Ende
des Zungenbeinbogens, des Hanımers und Ambosses mit dem Quadrat-
bein und Gelenkteil des Kieferbogens Geoffroy’s erratene Homo-
logisierung zwischen den Gehörknöchelchen und dem Operkulum,
dem Quadratum und der Gehörkapsel ersetzen mußte. Hätte aber
denn etwa Ouvier, wenn er dies Jahr 1837 erlebt hätte, nun seine
Darlegungen des Jahres 1830 aufrecht erhalten können? Und hätte
31%
EEE LU EEE HER. EN iu
432 W. Lubosch, Der a zwischen Geoffroy St. Hilaire u. Cuvier ete.
Geoffroy an seiner Methode wesentliche Punkte zu ändern An-
laß gehabt? Das gibt uns zu denken.
Die Entwicklungsgeschichte der Wirbeltiere fehlte für Geof-
fray zur Verwertung seiner Theorie. Das sei für die Frage
des Sternums kurz nachgewiesen. Wir wissen heute, daß das
Brustbein sich unter dem Einfluß von vier Faktoren entwickelt.
Es sind dies: 1. die Rippen, 2. die oberen Extremitäten
vermittels des Schultergürtels, 3. ein Hautknochenapparat, die
sogenannte UOlavicula, und endlich 4. das sogenannte „Proster-
num“ eine Bildung unbekannten Wertes, möglicherweise auf
Halsrippen zurückzuführen. Geoffroy hatte in bewunderungs-
würdigem Tiefblick das Prosternum (das er „Episternum“ nannte)
herausgesondert, dies aber auf Teile der Kiemenbögen, copulae,
bei Fischen bezogen. Er hatte ferner die Beziehungen zum Coracoid
des Schultergürtels, desgleichen die Gestaltung des Knochens bei
Säugetieren in Beziehung auf das Schlüsselbein richtig beurteilt. Falsch
wurde seine Vergleichung aber dadurch, daß er die Beziehungen zu den
Rippen falsch auffaßte, die er teilweis auf die Radıen der Branchio-
stegalmembran bezog, und daß er die Bedeutung der Glaviculae
verkannte, so daß er z. B. (wie übrigens auch Cuvier) das ganze
Plastron der Schildkröten dem Sternum der übrigen Reptilien ver-
glich. Wäre die Entwicklungsgeschichte der Rippen, des Visceral-
bogensystems der Fische und des Dermalskelettes bekannt gewesen,
so hätte Geoffroy keinesfalls das „Prosternum“* (sein Episternum)
auf den Kiemenbogenapparat bezogen und hätte dadurch den Fehler
vermieden, auch die Branchiostegalmembran mit einem Teil des Vogel-
sternums, die Radien jener Membran mit Sternalrippen zu, ver-
gleichen, was nach der damaligen Sachlage wenigstens konsequent
war. Er hätte ferner die Bedeutung der Olavicula nicht verkannt,
die ja nur einen Teil des Schildkrötenplastrons ausmacht, während
die übrigen Teile des Brustbeins, wie bei den Schlangen, fehlen.
Aber auch das heute als „Episternum“ bezeichnete Skelettelement,
das in Beziehung zur „Olavicula“ steht, hat er gutabgegrenzt, wenn-
gleich er seine Schicksale bei den Amnioten nicht kennt.
Dies alles zeigt uns die Vorzüge und Schwächen des Geof-
froy’schen Prinzips ın klarer Weise. Gewiß aber ist allein schon
die Tatsache, daß er das Sternum zum Problem wählte, ein
Zeugnis für seine Art, in die Dinge hineinzusehen. Ist doch bis auf
den heutigen Tag dieser Skeletteil der, bei dem sich das Prinzip
Geoffroy’s haar unverändert abaen läßt (Gegenbaur
1898 Bd. I 8. 484ff;). Sodann hat er in meisterhafter Weise
vieles Wichtige, z. B. die Beziehungen zur Extremitätengürtelmusku-
latur, bereits erörtert. Drittens endlich sehen wir, woran es ge-
fehlt hat und das macht uns um so bescheidener, als auch wir
W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u, Cuvier etc. 433
noch über die Bedeutung des Halssternums (Prosternum) das
Schicksal des Episternums und des sogen. Cleithrums gänzlich im
Dunkeln sind. Die Entwicklungsgeschichte hat uns hier im Stich
gelassen und Geoffroy’s Prinzip der Konnexionen und Analogien
möchte vielleicht für solche verzweifelten Fälle doch noch als über-
geordnetes Prinzip winken. Sollten wirklich der Kopularapparat
der Visceralbögen und der Kopularapparat der Rippen zwei völlig
voneinander ihrem letzten Wesen nach verschiedene Teile sein? ?
IN. Der Streit bei Mit- und Nachwelt.
Die geschilderten Ereignisse haben bei denen, die ıhnen un-
mittelbar beiwohnten und bei den Zeitgenossen nicht mindere Teil-
nahme hervorgerufen, als bei der Nachwelt. Einen großen Teil
der Literatur findet der Leser in Kohlbrugge’s Abhandlung zitiert.
Es ist nicht mein Wunsch, ausführlich darüber zu berichten, son-
‘ dern nur einige wenige, wichtige Zeugnisse dafür beizubringen, wie
sich das Urteil über die damaligen Vorgänge nach und nach ge-
bildet hat.
Über den Gegenstand des Streites zwischen Geoffroy St.-
Hilaire und Cuvier bestand, wie Kohlbrugge sehr richtig betont,
in den ersten Jahrzehnten danach keinerlei Zweifel oder Irrtum,
wenngleich. natürlich die Tragweite der Geoffroy’schen Ge-
danken selbst von einem Manne wie Johannes Müller nicht
ermessen werden konnte, eben, weil die systematische Durchbildung
des Homologiebegriffes erst einer späteren Zeit vorbehalten blieb.
Owen knüpfte darin bewußtermaßen an Geoffroy an. Die des-
zendenztheoretischen Argumente wurden damals von niemandem als
wesentlich beachtet. Grade auf sie richtete dann aber E. Haeckel
die Aufmerksamkeit der Naturforscher, und bis auf den heutigen
Tag ist seine Ansicht über den eigentlichen Gegenstand des großen
Streites herrschend geblieben. r
Uns zum Einzelnen wendend, so verdient hervorgehoben zu
werden, daß die „Savants confröres“ der Akademie selbst Geof-
froy’s Auftreten keinesfalls so abfällig beürteilt haben, wie es nach
Kohlbrugge’s Darstellung der Fall zu sein scheinen möchte. Wenn
man ıhn auch zwei Jahre später nicht zum Nachfolger Cu vier’s wählte,
so wurde er doch zu Beginn des Jahres 1831 mit großer Majorität
zum Vizepräsidenten gewählt. Die Tageszeitungen standen mit
ihrer Berichterstattung teils auf Cuvier’s (Journal des debats) teils
auf Geoffroy’s Seite (Temps, National). Würdig und unparteiisch
war die Berichterstattung in der Gazette medical de Paris und der
Revue encyclopedique. Merkwürdig ist, daß Ouvier selbst in
seinem Referat über die Arbeiten der Akademie während des Jahres
1530 auch von dem Streite selbst berichten mußte '(Annales des
+
434 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc.
sciences naturelles Bd. XXIV, p. 202ff. „Traveaux de Mm. Meyranx
et Laurencet. Polemique entre MM. Cuvier et Geoffroy). Kohl-
brugge hat Recht, wenn er die objektive und versöhnliche Fas-
sung dieses Berichtes betont (p. 88). Aber den Gegenstand des
Streites hebt Cuvier hier ebensowenig richtig hervor, wie er ihn
in den akademischen Erörterungen erfaßt hatte.
Zweifellos die berühmteste und weitaus wichtigste Besprechung
des ungewöhnlichen Geschehnisses ist die, die Goethe in den
Jahren 1830 und 1832 verfaßt hat. Sie ist abgedruckt im VII. Bande
der II. Abteilung der Weimarer Ausgabe S. 165 ff. Kein Deutscher
und insbesondere kein deutscher Naturforscher kann diese Berichte
ohne Ergriffenheit lesen und ohne daß sein Herz höher schlägt.
Einer der größten deutschen Naturforscher ist es auch gewesen, der
das rechte Wort fand zum Preise dieses wundervollen Testamentes
Goethe’s. RudolfVirchow urteilte: „Geoffroy’s Streit war Goethe’s
Streit. Denn der berühmte Verfasser der Philosophie anatomique
hatte es übernommen, die Methode*) des deutschen Dichters in
Frankreich zur Geltung zu bringen“ (1861, p. 64). So ist Virchow
der erste Gelehrte, der nicht nur erkannt, sondern auch aus-
gesprochen hat, welches der eigentliche Kern des Streites
gewesen ist. Wenn er auch darin irrt, daß Geoffroy nie die Ab-
sicht gehabt hatte, Goethe’s Methode, die er damals gar nicht
kannte, zu propagieren. Es wäre unrecht, dem Leser die Worte vor-
zuenthalten, mit denen Virchow Goethe’s Schrift charakterisiert
(l. c. p. 65/66).
„Da hielt es den alten Helden nicht länger. Noch einmal faßte er den
Griffel und schrieb mit sicherer Hand das Urteil über die Prinzipien der Philo-
sophie des Tierlebens. Galt es doch, den philosophischen Denker gegen die herbe
Kritik des strengen Forschers zu schirmen. Und noch ein zweites Mal — es ver-
gingen dazwischen zwei Jahre — setzte er an und entrollte ein Gemälde von dem
Entwicklungsgange der wissenschaftlichen Zoologie, wie er selbst ihn mitgemacht
hatte. Seine großen Zeitgenossen, die nun alle dahingegangen waren, die Führer
in Anatomie und Zoologie ließ er, wie ein Feldherr, vor dem Auge seines Geistes
vorüberziehen. Da kam der edle Graf Buffon, dessen Naturgeschichte in demselben
Jahr erschienen war, da Goeshe geboren ward. Da kam Daubenton, dessen
Forscherblick zuerst die Verbindung des Schädels mit der Wirbelsäule schärfer er-
faßte. Da kam Petrus Canıper, der würdige Holländer, der den Gesichtswinkel
entdeckte. Da erschienen die Freunde, Thomas Soemmering und Merck, die treuesten
Helfer in den Tagen der Jugend. Die Heerschau ging zu Ende. Der lorbeer-
geschmückte Feldherr durfte sich den hohen Verblichenen ebenbürtig erachten.
Und so schrieb er das Datum unter die Schrift:
Weimar, im März 1832.
Darnach schrieb er nichts mehr. Am 22. März schaute sein Auge dieses Licht
zum letztenmal. Und sein letztes Wort war: Mehr Licht!
Kaum zu glauben ist es nun, daß Kohlbrugge in der Be-
+4) Im Original nicht gesperrt.
Ne Le
„ k
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W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 435
urteilung der Stellung Goethe’s zu dem Ergebnis gelangt (p. 95):
„Seine Parteinahme hat Goethe also keine Ehre eingebracht.“
Sehen wir, worauf er dies Urteil stützt. Dabei ist zweierlei aus-
einanderzuhalten. Das Erste, worin wir nach allem oben Gesagten
Kohlbrugge natürlich beistimmen, ıst das, daß „Goethe’s Freude
nicht etwa prädarwinistischen Gedanken wie Variabilität oder Des-
cendenz galt“.
Zwar ist es nicht richtig, wenn Kohlbrugge erklärt, bis zum 15. April, dem Tage
woGeoffroy sein Buch abschloß, seinur über die „Unite de composition‘ gestritten
worden. Denn schon am 22. März fielen die Worte (Geoffroy's über Descendenz,
und in der Sitzung vom 5. April trat Cuvier diesen Gedanken entgegen. Aber
richtig ist, daß, wie schon oben nachgewiesen, diese Frage eine ganz untergeordnete
Rolle gespielt und daß Goethe gleichfalls davon keine Notiz genommen hat.
Eben darum dürfen wir aber auch Goethe keinen Vorwurf daraus machen, wie es
Kohlbrugge tut, daß er Geoffroy’s spätere Abhandlung von der Abstammung
der Krododile in der Gazette medicale (2. April 1831), sowie die erste Anzeige
dieses Vortrages (Gaz. medic. vom 16. Oktober 1330) übersah ‚oder nicht zu be-
achten wünschte“. Denn wer Goethe’s Stellung‘ zu diesen Fragen, wie wir sie
auch eingangs gekennzeichnet haben, kennt, weiß, daß er bis in sein hohes Alter
hinein vermieden hatte, das Verhältnis der Tiere zu einander real-genetisch zu er-
fassen, und daß der S1-Jährige selbst besser begründeten Folgerungen gegenüber
schwerlich mehr in der Lage gewesen wäre, seine Art, die Natur zu betrachten,
umzuwandeln. Aber auch Geoffroy’s Aufsatz über den Einfluß der Außenwelt
auf die Gestalt der Tiere, in dem eben jene descendenztheoretischen Gedanken
enthalten sind, beabsichtigt ja sowenig diese Gedanken im Sinne des späteren
Darwinismus als grundlegend zu betrachten, daß er im Gegenteil mit ihnen die
älteren Ideen der Philosophie anatomique und zoologique für völlig vereinbar hält.
Wir müssen unbedingt annehmen, daß Goethe, selbst wenn er diesen Aufsatz
gelesen hätte (das Gegenteil steht keineswegs fest), grade darin keinen Anlaß ge-
funden haben würde, zum Descendenztheoretiker zu werden.
In diesem ersten Punkte stimmen wır Kohlbrugge also natürlich
bei. Davon zu unterscheiden ist aber, worin er die Mängel in G o ethe’s
Parteinahme erblickt. Goethe sei, so sagt dar Kritiker, niemals
auf die Details oder auf Cuvier’s Einwände eingegangen. Goethe
sei stets „wie ein theologischer Dogmatiker, der seine Dogmen
über alles stellt“, von dem „seiner Meinung nach unumstößlichen
Grundsatz“ ausgegangen, daß die „Unit&e de Composition“ richtig
sein müsse. Goethe habe erst im Jahre 1530 bemerkt, daß Geof-
froy sein Alluerter sei. Er habe (bei Eckermann) „gejubelt über
den endlich erlebten Sieg einer Sache“, während doch von einem
Siege gar nicht die Rede sein konnte. Seine Betrachtungen zeigten,
daß ihm „der Standpunkt Cuvier’s ganz dunkel geblieben war“.
„Er scheint sich auch nicht die geringste Mühe gegeben zu haben,
um Cuvier zu begreifen, indem er seine Werke studierte. Er be-
herrschte also den Gegenstand nicht und knüpfte seine Betrach-
tungen an eine durchaus einseitige Streitschrift.*
Weiter wird Goethe nahegelegt, er hätte in seinen beiden
Referaten doch erklären müssen, ob man Kopffüßer und Wirbel-
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436 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
tiere vergleichen dürfe; es sei ihm hinsichtlich der Geoffroy’schen
Theorie verschlossen ‚geblieben, daß sie nur für ein beschränktes
Gebiet gelte. Er habe endlich die spätere Entwicklung nament-
lich Geoffroy’s Kampf gegen den Vitalısmus nicht beachtet, der
ihm — selbst Vitalisten — hätte peinlich sein müssen.
All diese Argumente, die beweisen sollen, daß Goethe seine
Parteinahme keine Ehre gebracht habe — ım einzelnen zu wider-
legen, ist nach dem Standpunkt, der hier bisher in der Darstellung
des Streites eingenommen worden ist, überflüssig. Es geht zur
Genüge aus ihr hervor, daß Goethe in dem speziellen Anlaß nicht
das Wesentliche des bedeutsamen Vorganges sehen konnte, und
daß eine Widerlegung Cuvier’s, selbst wenn sie damals schon
möglich gewesen wäre, Goethe gar nicht als Aufgabe gelten
lassen konnte, da er ausdrücklich die Tatsachen gar nicht als
Problem bezeichnet, sondern eben die Methode der Vergleichung.
Darin— wie es schon R. Virchow erkannt hat und wie es Kohl-
brugge dauernd übersieht — liegt das, was Goetheund Geoffroy
eint. Darum verschlägt es auch gar nichts, daß Goethe auf die
Frage des Vitalismus sowenig, wie auf die der Descendenz eingeht.
Beide Fragen betreffen die Naturerklärung, die Goethe niemals
getrieben hat; für ihn, dem Beschreiben der Beziehungsverhältnisse
und bis zum Anschauen der lebendigen Gestalt Hindurchdringen
alleinige Aufgabe war, spielten die Kräfte, die den een
zugrunde lagen, überhaupt keine Rolle. Überdies gehörte die Dis-
kussion zwischen Geoffroy und Virey über "den Vitalismus
gar nicht mehr in den Kampf zwischen Geoffroy und Cuvier
hinein.
Heben wir nun einige uns besonders wichtig erscheinende Stellen
der Goethe’schen Berichte hervor, so ıst zunächst zu bemerken,
daß seine Bemerkung über den 19. Juli, die uns in dem Ge-
spräch mit Soret überrascht, doch ihre guten Gründe hat.
Wenn er in dem berühmten Gespräch grade dieses Datum her-
vorhebt, so könnte das angesichts des Gegenstandes jener Ver-
handlungen auffallen. In der Tat sagt Kohlbrugge (S. 102
Anm. 45) auch, es sei unbegreiflich, warum Goethe die ans des
19. Juli so wichtig gefunden habe. Es liege wohl ein Irrtum im
Datum vor. In Wirklichkeit liegt die Sache aber ganz klar und
zeigt, wie tief Goethe in den Seelen der Menschen las. Goethe
hatte die Geoffroy’sche Schrift am 20. Juli erhalten und sie dem-
nach wohl bis Ende des Monats gelesen. So stand ihm das Bild der
Verhältnisse vor Augen, als er im Journal des Debats vom 20. Juli, das
inzwischen nach Weimar gekommen war, von Uuvier’s Beschwerde
am 19. Juli las. Konnte er anders, als in Cuvier’s Protest gegen
Arago einen Nachhall der Erregung erblicken? Erbliekt nicht
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc. 457
grade Kohlbrugge in Geoffroy’s Einspruch gegen Cuvier’s
Protest am 12. Juli ein Symptom der Gereiztheit Geoffroy’s?
Goethe aber wendet die Sache ins allgemeine, indem er sagt (l. c.
p.211): „Wenn wir den Weltlauf mit Sorgfalt betrachten, so erfahren
wir, daß alle öffentlichen Verhandlungen, sie mögen religiös, politisch
oder wissenschaftlich sein, früber oder später durchaus formell werden.“
Er erblickt also in derGeschäftsordnungsdebatte am 19. Juli den Beweis
dafür, daß die Kluft zwischen den zwei gelehrten Parteien so tief,
das Feuer des Kampfes so heiß geworden war, daß nun auch die
alt geheiligten formalen Traditionen der Akademie nicht mehr
standhielten. Cuvier’s Gereiztheit entging Goethe ebenfalls nicht.
Denn er hebt hervor, daß Cuvier sich über die Unvollständigkeit
des eben vorgetragenen Resum6s beklagt habe. Die Berechtigung
dieser Darstellung liegt auf der Hand. Denn wenn Cuvier dar-
über klagt, daß man binnen 8 Tagen keinen erschöpfenden Bericht
über einen Vortrag liefern könne, so spricht er durchaus pro domo;
war doch eben grade er der Vortragende der vorhergehenden Sitzung
gewesen.
Sehr klar übersieht Goethe die Inkommensurabilität zwischen
dem Anlaß und der späteren Wendung des Streites. Er sieht
darin „ein merkwürdiges Beispiel, welchen großen Schaden es
bringe, wenn der Streit um höhere Ansichten bei Einzelheiten zur
Sprache kommt“ (p. 218). Vorher (p. 175) sagt er, der erste Anlaß
zu dem Streit sei unglücklicherweise ganz spezieller Art gewesen
und habe die Angelegenheit auf Wege geleitet, wo sie von einer
grenzenlosen Verwirrung bedroht werde, indem die wissenschaft-
lichen Punkte, die zur Sprache kommen, an und für sich weder
ein bedeutendes Interesse erregen, noch dem größten Teil des
Publikums klar werden können; daher es denn wohl verdienstlich
sein müßte, den Streit auf seine ersten Elemente zurückzuführen.
Goethe hebt ferner die beiden Verdienste Geoffroy’s ganz
klar hervor, daß er nämlich durch sein „Gesetz der Konnexionen*
verborgene Teile zu entdecken in der Lage sei (l. c. p. 205) und daß
ihm das „Gesetz der Kompensationen“ einen klaren Einblick in Ab-
weichungen und Ähnlichkeiten der Organismen gewähre. Ebenso
ist sich Goethe aber auch über das Unvermögen der französischen
Sprache klar, diese tiefen Gedanken deutlich in Worte zu fassen, da
„materiaux“, „composition“, „embranchement‘, „plan“ Worte seien,
die nur handwerksmäßige Deutung zuließen, während es sich doch um
Geistiges handele, dem jene Worte durchaus widerstrebten (p. 208,
209). Goethe hält sie für eine Erbschaft „jener Epoche, wo die
Nation dem Sensualism hingegeben war, gewohnt, sich materieller,
mechanischer, atomistischer Ausdrücke zu bedienen; da denn der
forterbende Sprachgebrauch zwar im gemeinen Dialog hinreicht, so-
438 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.
bald aber die Unterhaltung sich ins Geistige erhebt, den höheren
Ansichten vorzüglicher Männer offenbar widerstrebt“ (vgl. auch bei
Eckermann III. Teil, Gespräch vom 20. Juni 1831: „Geoffroy
deSt.-Hilaire ıst ein Mensch, der wirklich in das geistige Walten
und Schaffen der Natur eine hohe Einsicht hat; allein seine franzö-
sische Sprache, insofern er sich herkömmlicher Ausdrücke zu be-
dienen gezwungen ist, läßt ıhn durchaus im Stich‘).
Am bedeutsamsten aber ist es, was Goethe über den tief-
innersten Anlaß des ganzen Vorganges sagt und, so bekannt seine Worte
auch geworden sind, so erwünscht ist es, sie sich doch an dieser
Stelle wieder zu vergegenwärtigen, weil sie nicht nur die damaligen
(Geschehnisse eigentlich ursächlich erklären, sondern auch auf das
Wesen späterer, ähnlicher Verwicklungen helles Licht werfen. „Hier
sind, sagt er (p. 169), zwei verschiedene Denkweisen ım Spiel,
welche sich ım menschlichen Geschlecht meistens getrennt und
dergestalt verteilt finden, daß sie wie überall, so auch im Wissen-
schaftlichen schwer zusammen verbunden angetroffen werden und,
wie sie getrennt sind, sich nicht wohl vereinigen mögen. Ja es
geht so weit, daß wenn ein Teil von dem andern auch etwas nutzen
kann, er es doch gewissermaßen widerwilligaufnimmt. Haben wir die
Geschichte der Wissenschaften und eine eigene lange Erfahrung vor
Augen, so möchte man befürchten, die menschliche Natur werde
sich von diesem Zwiespalt kaum jemals retten können“. Und weiter
(p. 171): „Schon oft ist in.der Wissenschaft dieser Antagonismus
hervorgetreten, und es muß sich das Phänomen immer wieder er-
neuern, da, wie wir eben gesehen, die Elemente hiezu sich immer
getrennt nebeneinander fortbilden und, wo sie sich berühren, jeder-
zeit eine Explosion verursachen.“
Es wäre zuviel gesagt, wenn wir behaupten wollten, daß Go ethe
ausschließlich auf Geoffroy’schem Standpunkte stand. Gar wohl
hatGoethe auch arıstoteliseh, nicht nur platonısch gedacht.
Schon Schütz hatte Goethe neben Aristoteles und Plato ge-
stellt (Abt. II Bd. VI, S. 211/212). Er selbst nennt (Bd.XI, S. 151)
Plato und Aristoteles als diejenigen, denen sich geistig anzu-
nähern am freudigsten empfunden werde. Und während alle Welt
die beiden griechischen Philosophen nur als Gegensätze betrachten
konnte, hegte Goethe für beider Leistungen, beider Gedankenwelt
Teilnahme, weil seine Denkungsart platonisch und aristotelisch zu-
gleich ist (XI, 151). Aber wir werden nicht irren, wenn wir eine
tiefe Sympathie für Geoffroy bei ihm annehmen, die sich grade
beim Studium der „Philosophie zoologique* hell entzünden mußte.
Fand er doch darin, ganz abgesehen von der, auch von ihm selbst
gepflegten Methode, zahlreiche Einzelheiten, die ihm aus der Seele
gesprochen waren. So p. 91 „par ce qu’en decide la susceptibilite
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 439
des qualites naturelles des esprits, dont les uns s’appliquent de
preference A l’&tendue superficielle des choses („und gewinnt sich
eine Herrschaft über eine unermeßliche Breite“ 1. c. p. 168) et les
autres A les connaitre en profondeur. Es ist gewiß der Anlaß zu
seiner eigenen Darstellung auf S. 168/69 gewesen, die wie eine Aus-
führung jenes Gedankens erscheint. Ebenso, wenn Geoffroy
(S. 105) von den „Augen des Geistes“ spricht (ceci n’est pas seule-
ment un point de theorie sensible a la vue de l’esprit .. .) oder
wenn er (p. 115ff.) sich auf die Rose und die Umbildungen eines
Elementes in Blumenblätter oder Staubfäden bezieht, mußte er auf
nahe verwandte Anschauungen bei Go ethe treffen. Soviel über
Goethe’s Urteil in dem Streitfall. Neben dem seinigen fällt das
Johannes Müller’s ins Gewicht(1834, p. 2ff.).
Sein Standpunkt ist höchst merkwüdig und unterscheidet sich eben-
so sehr von dem, Geoffroy’s Methode allein würdigenden Goethe’s,
wie von dem Geoffroy’s phantastische Ideen einseitig verurteilenden
K. Ernst v. Baers. Joh. Müller tadelt an Geoffroy (den er als
„den berühmten‘ mit. Recht bezeichnet), .‚daß er trotz allem Talent,
Geist und Verdienste, sich oft und stark geirrt hat“. Und dasdeswegen,
weil „die Analyse der Fakta von einer beständigen exakten, logi-
schen Operation des Geistes abhängt“, die Cuvier geübt, Geof-
froy vernachlässigt habe. Gleichwohl warnt er davor anzunehmen,
daß Cuvier’s Kritik der Geoffroy’schen Methode mehr bedeute
als eine Kritik des Mißbrauchs dieser Methodik, die tatsächlich
„in Deutschland und Frankreich oft unfruchtbare Spekulationen
hervorgebracht‘‘ habe. Offenbar ringt in Joh. Müller’s großem
Geiste das Streben nach Vereinheitlichung der Mannigfaltigkeit in
der Organisation nach Klarheit, einer Klarheit, die er damals nur
ahnen konnte. Wir könnten das aus seiner Besprechung des
Akademiestreites entnehmen, selbst wenn wir nicht ein weiteres,
allerdings aus späterer Zeit stammendes Zeugnis darüber hätten.
Gegenbaur erzählt nämlich (Erlebtes und Erstrebtes), daß
er bei seinem Besuche ım Jahre 1851 Johannes Müller mit
Problemen beschäftigt gefunden habe, ‚die ıhn sogar peinigten“.
Sie kamen, sagt Gegenbaur, aus derselben Quelle, wie später die
Entstehung der Arten aus dem Kampfe des Daseins“. Aus R. Vir-
chow’s Gedächtnisrede auf Joh. Müller wissen wir auch, daß sıch
Gegenbaur’s Bemerkung auf Joh. Müller’s Studien über den
Generationswechsel und die von ihm vermutete „Generatio spon-
tanea in utero heterogeneo‘' beziehen muß. Jedenfalls smd es die
ihm schon im Jahre 1834 vorliegenden Beobachtungen über die
Entwicklungsgeschichte und vergleichende Anatomie, die ihn davor
bewahren, Geoffroy’s Methode selbst kurzerhand zu verurteilen.
Ja er sagt, daß es eigentlich gar nicht nötig sei, eine solche
v2 K Eu‘ SET TONER 1 Area Va Be BE za Is Be:
x RS HER 4 en
440 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.- -Hilaire, u. Quvier etc.
„Theorie der Anatomie‘ überhaupt noch zu erfinden; werde sie
doch durch die Tatsachen der Entwicklungsgeschichte unmittelbar
an die Hand gegeben.
„Diese Richtung, welche Einige auch die philosophische Methode genannt haben,
war nach so großen Entdeckungen in der Entwicklungsgeschichte unausbleiblich.
Denn, da uns diese die naturgemäße Formation der Organe aus einer mit produk-
tiven Kräften versehenen Materie, oder die beständige Entwicklung des Besondern
aus einem Ganzen zeigt, welches die besonderen Teile nicht präformiert, sondern
nur die Kraft zu ihrer Erzeugung enthält, so ist gleichsam die Theorie der Ana-
tomie gefunden, welche in unfruchtbaren Spekulationen nicht erst gesucht zu werden
braucht. Verdienstvolle Männer, welche dem philosophierenden Geiste die Fähig-
keit absprachen, in die Geheimnisse der Natur einzudringen, müssen zuletzt im
Stillen gewahren, daß die Natur selbst in der ‚Entwicklungsgeschichte den
Plan ihrer gedankenreichen Operationen an den Tag legt und daß die Fortschritte
der Beobachtung in diesen Fällen selbst zum Teil eine Arbeit des
denkenden Geistes sind.“
Enthalten diese letzten Worte tatsächlich eine Verurteilung
alles planlosen, rein deskriptiven Verfahrens, indem sie besagen,
daß auch neue wertvolle Beobachtungen vorzugsweise durch konse-
quentes Denken vorbereitet würden, so richten sich weitere Aus-
führungen deutlich genug gegen Cuvier selbst. „Es ist gewiß
nicht zu leugnen, daß die Natur bei jeder großen Abteilung des
Tierreiches von einem gewissen Plane der Schöpfung und Zu-
sammensetzung aus teils verschiedenen, teils analogen Teilen nicht
abweicht, daß dieser Plan allen Wirbeltieren zugrunde liegt, daß
sie sich Reduktionen und Erweiterungen der Zahl nur nach der
individuellen Natur der einzelnen Geschöpfe ausnahmsweise erlaubt.“
Zwar dehnt Müller seine Annahme nicht auf Wirbeltiere und
Wirbellose aus und scheinen könnte es demnach, als sei von den
„Bauplänen“ die Rede, die auch Cuvier gelten ließ. Aber grade
das Wesentliche, daß diese „Pläne‘‘ mehr sind, als eine Summe
fester systematischer Merkmale, daß es sich um die Wiederkehr
der gleichen anatomischen Elemente unter verschiedener Verwen-
vs und Modifikation handele, die der Hauptsache nach konstante
Zahl der Elemente, kurz das morphologische, nicht funktionelle
Vergleichen — das alles hatte Cuvier in den Akademiedebatten
gradeswegs geleugnet, ja durch Proklamation des Prinzipes, die
Natur könne alles, entsprechend den Bedürfnissen der Geschöpfe
beliebig produzieren und sei nicht in Fesseln eines „Planes“ ge-
schlagen, gradezu völlig abgewiesen. |
So hätte Geoffroy wohl gegen Joh. Müller’s Kritik schwer-
lich etwas Wesentliches einzuwenden haben können, während Ou-
vier nicht in allen Stücken seinen Standpunkt darin anerkannt
gesehen haben würde. Wie Johannes Müller, so trat schließ-
lich noch ein anderer großer Morphologe für Geoffroy ein.
RichardÖOwen (1848) ist ja der erste, der den Begriff der Homo-
7
m 2 IE Ben f ’
F . Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 441
logie festgelegt hat. Hierin knüpft er (p. 5) ausdrücklich an Geof-
fro’y St.-Hilaire an, obwohl er auch ıhm vorwirft, die beiden
Arten der Ähnlichkeit (Similitudo und Identitas), nicht streng ge-
schieden zu haben. Wie Geoffroy legt auch Owen (p. 5) auf
„forms, proportions, functions“ und “substance“* der Teile keinen Wert,
ebensowenig auf gleiche oder ähnliche Entwicklung. Vielmehr ist
ihm, wie Geoffroy, das Entscheidende die „relative position and
connection of the parts, ... independently of form, proportion,
substance, function and similarıty of development“. Owen wendet
gegen ÖOuvier’s Betrachtungsweise der Respirationsorgane ein, man
wisse bei ıhm nicht, ob er das Kiemenskelett der Fische nur funk-
tionell den Knorpeln der Respirationswege der luftatmenden Tiere
vergleiche, oder auch anatomisch ın beiden Modifikationen des
gleichen Elementes erblicke. Letzteres ist seine (Öwen’s) Ansicht
und er bezieht sich dabei auf Geoffroy, den er hier den „deeper
thinking‘ nennt, und seine „Philosophie anatomique“, wo (p. 205) die
Entscheidung klar im Sinne rein anatomischer Vergleichbarkeit ge-
troffen sei. Auch an späterer Stelle (p. 72/73) stellte er sich aus-
drücklich auf Geoffroy’s und Goethe’s Seite, gegen alle die, ein-
schließlich Cuvier’s, polemisierend, die die Gleichheit oder Ähn-
lichkeit der Elemente teleologisch zu erklären sich bestrebten.
Unter diesen Umständen ist es mir auch hierin nicht möglich, den
Standpunkt Kohlbrugge’s als berechtigt anzusehen, ja ıhn hier
auch nur zu verstehen, wenn er S. 111 Anm. 116 Owen den Fort-
setzer und Vollender der Uuvier’schen Typenlehre nennt. Er sagt:
„Zwar schwankten denn noch die Meinungen, bis Cuvier’s Schüler
Owen die Sache seines Meisters zum endgültigen Siege führte. Er
knüpfte ausdrücklich an den berühmten Streit an und gab seine
Lehre der Analogien und Homologien, die heute noch eben so fest
dasteht, als die Typenlehre Cuvier’s.“ — Als Quellen führt Kohl-
brugge Owen’s Hunterion Lectures vom Jahre 1843 und eine
spätere (1855) Ausgabe Umarbeitung oder Erweiterung des mir
vorliegenden „On the Archetype and Homologies of the vertebrate
Skeleton* vom Jahre 1848 an. Beide waren mir leider nicht zu-
gänglich, doch erscheint es ganz unmöglich, daß Owen 1843 und
1855 so grundsätzlich anders, als 1348 geurteilt haben sollte. Tat-
sache ist, daß er 1548 nicht auf Öuvier’s sondern auf Goethes,
Oken’s und Geoffroy’s Standpunkt stand, und daß er grade die
von Cuvier verpönten Studien der Vergleichung zwischen Schädel-
knochen und Wirbelbestandteilen betrieb. Schon das Wort „Arche-
type“ fehlt im Sprachschatze Cuvier’s überhaupt und gar die
zeichnerische Rekonstruktion dieses „Urwirbeltierskelettes“ hätte
auf Beifall bei Cuvier nicht zu rechnen gehabt. Die Behauptung,
daß Owen’s Homologielehre heute ebenso fest dastehe, wie Cuvier’s
442 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Unvier ete.
Typenlehre ist in zwiefacher Hinsicht anfechtbar; denn einmal
steht Owen’s Homologielehre heute — leider! — keineswegs mehr
offiziell fest, seitdem man sich gewöhnt hat, die Homologien auf
gleiche Abstammung, nicht aber auf gleiche Lagebeziehung zu
begründen; sodann aber steht Uuvier’s Typenlehre doch nur in-
sofern fest, als sie ın der Systematik Ausdruck gefunden hat,
während grade über ıhn und seine Vorstellungen hinaus die Verein-
heitlichung auch größerer Tierstämme angestrebt und auch mit
Erfolg gefunden wird. — So werden Wirbeltieren und Tunikaten
durchaus im Gegensatz zu UOuvier Grundzüge eines gemeinsamen
Planes zuerkannt, nicht nur ın der Ohordaanlage, sondern auch m
Anlage des Gehirnauges und der Hypobronchialrinne. Entfernte
Übereinstimmungen verbinden hier in der Tat Wirbeltiere und
Wirbellose, undzwar, wenn man auch auf Segmentierung und Üeo-
lombildung eingehen wollte, in sehr ausgedehntem Maße. So hat
weder Cuvier noch v. Baer ın diesem Stücke Recht behalten und
die Geschichte wird gerde dem damals scheinbar „besiegten“ Geof-
fray zuerkennen müssen, daß er „auf der rechten Spur“ ge-
wesen sei.
Von den bei Kohlbrugge erwähnten Schriften über den Aka-
demiestreit (p. 109) hätte ich gern die von Flourens (1865) und
Huxley (1354) kennengelernt, doch war es mir nicht möglich, sie
zu erhalten.
Ähnlich wie in der Beurteilung Goethe’s bis zum Jahre 1866
die Descendenzlehre keine Rolle gespielt hat, so auch hier. Auch
hier hat keiner der zahlreichen Beurteiler gefunden, daß es sich in
dem Streit um Fragen der Descendenztheorie gehandelt habe. Erst
Haeckel hat dann in seiner generellen Morphologie nicht nur ın
Goethe den Verfechter darwinistischer Prinzipien erblickt, sondern
auch in diesen selben Prinzipien den Gegenstand des Akademie-
streites gesehen. Beides geht insofern Hand ın Hand, als grade
in Goethe’s Parteinahme für Geoffroy der Beweis für seine,
der Descendenztheorie günstige wıssenschaftliche Überzeugung ge-
sehen wird (vgl. u. a. Anthropog. 6. Aufl. 1. Bd. S. 92). Haeckel’s
Darstellung ist seitdem maßgebend geblieben und ist in alle histori-
schen Abschnitte, Einleitungen u. s. w. unserer Lehrbücher und po-
pulären Schriften übergegangen (z. B. Weismann, R. Hertwig,
Dacque u.v.a.). Auch in den mündlichen Einleitungen zu Vor-
lesungen über die Descendenzlehre gilt der Akademiestreit als einer
der Wendepunkte in der Geschichte der Naturwissenschaft, an dem
zum ersten Male ein fernes Ziel undeutlich auftaucht. Wir haben
nun gezeigt, daß der Gegenstand des Streites nicht die Descendenz-
theorie, sondern die Methodik der vergleichenden Anatomie ge-
wesen ist. Insofern wird jene Auffassung den Tatsachen nicht
W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 443
ganz gerecht. Wenn Haeckel (1874, p. 78) schreibt: „Geoffroy
... vertrat die natürliche Entwicklungstheorie und die einheitliche
(monistische) Naturauffassung. Er behauptete die Veränderlichkeit
der organischen Spezies, die gemeinschaftliche Abstammung der
einzelnen Arten von, gemeinsamen Stammformen und die Einheit
der Organisation, oder die Einheit des Bauplanes, wie man sich
damals ausdrückte“ ... so ıst klar, daß selbst die nıcht im
Akademiestreit vorgetragene, erst ım Jahre 1831 publizierte Ab-
handlung Geoffroy’s auch nieht im Entferntesten so weit geht,
wie Haeckel es aus Geoffroy’s Auftreten ım Jahre 1830 ent-
nommen hat. Aber selbst wenn wir das zugeben wollten, könnten
wir nicht dahin gelangen, Geoffroy als Verteidiger der später von
Darwin gelehrten monophyletischen Descendenz anzusehen,
wie es überhaupt mißlich ıst, die Gedanken einer späteren Zeit
in die Weltanschauung früherer Geschlechter hineinzuinterpretieren.
Das im ersten Abschnitt dieser Untersuchung Ausgeführte und die
im zweiten Abschnitt gegebenen Zitate der Verhandlungen selbst
werden dartun, daß es sich empfiehlt, die Bedeutung des großen
Konfliktes nicht vorzugsweis auf descendenztheoretischem Gebiete
zu suchen.
Das schließt nun nicht aus, daß, sich auch ın der darwinisti-
schen Nachwelt, wie es &oethe prophezeit hat, „das Phänomen
immer wieder erneuert“. Da die Elemente zu diesem in der Wissen-
schaft hervortretenden Antagonismus „sich immer getrennt neben-
einander fortbilden und wo sie sich berühren, jederzeit eine Ex-
plosion verursachen‘ — da ferner der Darwinismus geistig und
praktisch das Erbe der idealıstisch-formalen Periode angetreten hat
— so sind ohne weiteres manche Wiederholungen jenes Streites
zu erwarten. Streit ist aber der Vater des Fortschrittes auch in
der Wissenschaft und insofern ıst der Akademiestreit mehr als ein
historisches Faktum: er ist das Morgenleuchten eines neuen Tages
der Wissenschaft überhaupt, der erste einer ganzen Reihe schwer-
wiegender und im Grunde unauflösbarer Konflikte, die aber grade
dadurch, daß sie existieren, die ganze Fülle der- Wissenschaft, die
ganze Tiefe ihrer Probleme enthüllen. Wir glauben uns durchaus
im Rahmen unseres Themas zu halten, wenn wir diesen Fragen zum
Schluß noch nachgehen, gleichsam als Exkurs zu dem Leitgedanken:
Akademiestreit und Nachwelt.
Hier wird nun zunächst auf ein Verhältnis hinzuweisen sein,
das auffälligerweise viel zu wenig beachtet worden ist und wird.
Das, wasneu am Darwinismus war, hatte sich zwar zu Anfang des Jahr-
hundertsin Lamarck angedeutet; dıe Frage nach der Veränderlichkeit
der Arten brannte zwar den größten Geistern, aber immer nur als
Problem, in der Seele, wurde von vielen als gesicherte Tatsache,
444 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete..
von andern als Vermutung betrachtet. Die spätere, unerwartete
Lösung war aber trotzdem nicht vorbereitet. Daß mit einem Schlage
nun die Genese und der Transformismus das leitende Prinzip
der vergleichenden Anatomie wurde, war ın der Tat etwas unvor-
bereitet Neues. Während es für Geoffrey nur darauf angekommen
war, die Ähnlichkeiten festzustellen, wollte der Darwinismus sie ur-
sächlich erklären; und während Geoffroy die Ähnlichkeiten für
alle Organe feststellen wollte, mußte sich der Darwinismus darauf
beschränken, sie für Hauptorgane anzunehmen. Trotz dieser, viel-
leicht aber auch gerade wegen dieser unerhörten Neuheit, hat
nun bei der Mehrzahl der Morphologen diese neue Betrachtungsweise
die alte nicht völlig verdrängt und wenn wir die Probleme
der vergleichenden Anatomie und ihre Behandlung während der
letzten 50 Jahre betrachten, so gewahren wir mit Erstaunen, wie
hier gleichsam eine ältere geologische Schicht nur durch dünne
alluviale Bedeckungen verhüllt ist. Das darwinistisch-epigenetisch-
transformistische Element wäre das „Alluvium“ dieses Vergleiches.
Alle wirklich großen, das Leben und die Weiterbildung der Mor-
phologie berührenden Probleme sind nicht auf Darwinisti-
schem sondern — sit venia verbo — Geoffroy’schem Boden ge-
wachsen. Daß sie transformistisch gefaßt wurden, hat ihnen eher
geschadet, sie jedenfalls nicht wesentlich vertieft; und der Wider-
stand gegen die Lösung, die sie erfahren haben, ging nicht vom
Widerstande gegen den Transformismus selbst aus.
Daß auch dieser natürlich Gegenstand heftiger wıssenschaft-
licher Feu.len gewesen ist, braucht nicht besonders hervorgehoben
zu werden. Ist ja grade heute der Transformismus umstrittener
als je, seitdem unter der Wirkung der Erfahrungen, die wir durch
das Studium der Mendel’schen Regeln gemacht haben, die beiden
Grundfragen: ändern sich die Arten überhaupt? und falls ja — wo-
durch? einer experimentellen Behandlung zugänglich geworden sind.
So könnte es kommen, daß die Wissenschaft sich wieder anders
wendete, daß die sogenannte „Genetik“ uns zwänge, die darwi-
nistischen nen einzuschränken. Der Kampf für
und wider den Darwinismus, besser Transformismus, ist mit jenem
Akademiestreit daher nicht ohne weiteres zu vergleichen. Politische,
ethische, soziale, religiöse Fragen haben sich mit ihm verbunden
und haben die reine Frage nach der wissenschaftlichen Methode
getrübt. So soll auch von einem der größten Konflikte hier nur
durch eben diese Andeutung die Rede sein, wenngleich die Mün-
chener Tagung der Naturforscher und Ärzte, auf der im Jahre 1877
ErnstHaeckel und Rudolf Virchow einander gegenübertraten,
weder in der Zusammensetzung des Hörerkreises, noch im Üharakter
der beiden sich einander gegenüberstehenden großen Männer, noch
W.Imbosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 445
auch in der Wirkung des Vorganges mit den Ereignissen des Jahres
1831 zu vergleichen ist.
Die Konflikte, von denen hier die Rede sein soll, sind viel-
mehr grade solche, die, nachdem einmal die Methode der Homo-
logienforschung erörtert worden war, stets wieder ausbrechen
mußten, je nachdem der kombinierende, phantasiemächtige Forscher
auf die Kritik des Sondernden, Scheidenden trifft. Auch in Werken
der Wissenschaft gibt es wie in Werken der Kunst, eine Abhängig-
keit „von Zeit und Raum“) infofern ewige Gedanken ın der Art
ihrer Einkleidung dem Geschmack und den Denkformen der Zeit
in der sie erscheinen angepaßt sind und sein müssen. Sie treten
in der vordarwinistischen Zeit als formale, in der darwinistischen
als genetische Probleme auf und werden zweifellos in späteren
Epochen bei unseren Nachkommen wieder in anderer Gestalt er-
scheinen. Wenn wir ihrer hier Erwähnung tun, so geschieht es,
um die Lehren der Vergangenheit für unsere eigene Einsicht zu
nutzen; um das Inkommensurable der sich an ihnen offenbarenden
Lehren und Kritiken zu demonstrieren, mithin das Unfruchtbare
eines Streites, wenn man von ihm mehr als bloße Klärung, wenn
man eine Entscheidung erwartet.
In erster Linie ist es die wundervolle, ehrfurchtgebietende
Gestalt des Mannes, der eigentlich der unsterbliche Schöpfer unserer
vergleichenden Anatomie ist, Carl Gegenbaurs, auf den wir da-
bei unseren Blick zu richten haben. Für Gegenbaur hatte der
Darwinismus nicht den Wert einer neuen Lehre. Er war (Erlebtes
und Erstrebtes p. 97) davon nicht überrascht und hatte selbst schon
lange, bevor Darwin’s Werk erschienen war, den Gedanken des Trans-
formismus ausgesprochen. Seine geistige Entwicklung war bereits
im wesentlichen abgeschlossen, als er im Alter von 34 Jahren Dar-
win’s Werk kennen lernte. Diese Entwicklung schloß aber, wie, sich
an vielen Stellen seiner Werke zeigen läßt (man vergleiche z.B.
die in allen 7 Auflagen stehen gebliebene seltsame Stelle in seinem
Lehrbuch der Anatomie, 7. Aufl. $ 14 8. 35/36), die Überzeugung von
der grundsätzlichen Bedeutung der Geoffroy’schen Methodik ın
sich. So ist er der wahre Fortsetzer dieser Methodik geworden,
die er durch Erweiterung ıhrer Anwendung auf die embryonalen Zu-
stände erst zur vollen Leistungsfähigkeit gebracht hat.
Wie hierdurch das alte Schädelproblem gelöst worden ist,
ist bekannt. Ein wesentlicher Widerstand gegen die Lösung hat
sich nicht geltend gemacht, wohl deshalb, weil in ihr ın ganz un-
‚vergleichlicher Weise beide Richtungen, die sich bekämpften, ıhr
5) Vgl. die tiefsinnige Schrift Richard Wagner’s, Das Publikum in Zeit
und Raum. — Ges. Werke Bd. X.
38. Band 32
446 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete,
Recht fanden, die, die im Schädel Wirbel vorfand, und die, die
Schädelwirbel leugnen zu müssen glaubte. Oken und Goethe,
Geoffroy und Owen hätten ihre „Gesichtswirbel“ nicht aufrecht-
erhalten können, Cuvier seine Bedenken gegen Schädelwirbel über-
haupt aufgeben müssen.
Anders steht es mit der zweiten großen Theorie, die als Archi-
pterygium-Theorie die Gleichwertigkeit von Extremitätengürteln
und Visceralbögen behauptet und die Urflossen als umgebildete
Radıen distaler Kiemenbögen auffaßt. Die (seschichte dieser Theorie
zeigt manche Ähnlichkeiten mit der Geschichte der älteren Schädel-
theorien, wenngleich sie nicht „tumultuarisch ins Publikum drang“,
wie es Goethe von jener älteren Theorie erwähnt. Acht Jahre
dauerte es, bis Gegenbaur ım Anschluß an einen Fall von erb-
lichem Mangel der pars acromialis claviculae (1864) durch mehr
und mehr umfassende Untersuchungen dazu gelangte, im Jahre
1872 seine Theorie auszusprechen. Dann aber mußte sie mehrfach
modifiziert werden. Jede neue Entdeckung legte die Notwendigkeit
nahe, sie anders zu fassen. Von der Vorstellung einer einreihigen
Urflosse ging sie aus; die Entdeckung der Ceratodusflosse führte
zur Vorstellung des doppeltstrahligen Archipterygiums, die Kennt-
nis der Crossopterygierflossen hob überhaupt jede engere
(Klaatsch) genetische Beziehung auf (vgl. auch meine eigene Unter-
stellung 1910). Dabei blieb die „Entstehung“ der fünffingerigen
Extremität gänzlich unerklärt und die Existenz der Beckenglied-
maße bildete eine nicht geringe Schwierigkeit für die Vorstellung
eines distalwärts verlagerten Visceralbogens. Die Theorie teilte
denn auch das Schicksal Geoffroy’scher Theorien, obwohl sie,
was die Exaktheit der Beweisführung anlangt, ihnen weit über-
legen war. i
Zu einem mündlichen Zusammenstoß hat dieser Konflikt nicht
geführt und konnte es nach Gegenbaurs ganzer Natur nicht
führen. Er betrachtete die Gegnerschaft als ,‚daslegitime Zeichen einer
mächtigen Idee“, schuf in der Stille und mied öffentliche Kontro-
versen. Um so mehr richtete sich gegen seine Theorie die lite-
rarische Bekämpfung. Grade das, was an ihr schwach und unbe-
weisbar war, wurde als Gegenargument benutzt. Öarl Rabl war es vor
allem, der hier gleichsam Cuvier’s Rolle spielte und besonders die
Strahlentheorie dadurch widerlegen wollte, daß er schematisch
Gegenbaur’s Bild von dem Achsenstrahl, der durch den Humerus,
die Ulna und den kleinen Finger lief, durch zahlreiche ähnliche Sche-
mata mit willkürlich gezogenen Radien varlierte. So ist die Theorie
heute kaum in allgemeinerer Gültigkeit und die Zukunft erst wird
ihren Wert unter Umständen, die wir nicht übersehen können, er-
weisen müssen. Was wiraber heute schon sagen können, das ist,
Br.
w. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen ‚Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc. 447:
daß es sıch bei ihrer Konzeption nicht um ein Hirngespinnst, noch
weniger um ein Ergebnis descendenz-theoretischer Spekula-
tionen gehandelt hat. Die ersten Keime der Theorie liegen vielmehr
schon in Owen’s „Archetype“, der in einer schematischen Figur
seines Urskeletts den Humerus und das Femur als Radien auf
distalen Bögen darstellt; sie liegen sogar schon in Äußerungen K.E.
v. Baer’s (1828, p. 184—192) und wollte man die Literatur der
ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts daraufhin durchforschen,
so würde man außer den genannten Quellen vielleicht noch andere
finden ®). Aber jene zeigen bereits, daß sie aus denselben Vorstel-
lungen von der Analogie und Konnexion geboren ist, wie die Geof-
froy’schen Theorien. Gegenbaur geht von dem Gedanken aus und
verleiht ihm auch oft nachdrücklich Ausdruck, daß die Extremitäten
weder etwas dem Körper ursprünglich Fremdes gewesen, noch ihm
zur Befriedigung eines Bedürfnisses, etwa aus Seitenfalten, hinzu-
gewachsen seien, und daß sie bereits in seinen anfänglichen und
typischen Elementen, wenn auch unter anderer Funktion, gegeben
gewesen sein müßten. Auch die Beweisführung im einzelnen erfolgt
im Geiste der Geoffroy’schen Methodik. Die Beziehungen des
M. Trapezius zum Schultergürtel, die Lage der Radien zum Achsen-
strahl, die Annahme, daß die Verbindung aller Teile gewahrt werde,
aber durch Wachstum und Verschiebung ein anderes Verhältnis
von Achsenstrahl zu Radien herbeigeführt werde, das alles hat mit
dem Darwinismus so wenig zu tun, daß wir gradezu die Verknüp-
fung der Theorie mit den Aminen als das bezeichnen
müssen, was ihre Schwäche bildet.
Nicht anders ist es einer anderen Theorie ergangen, die wir
hinsichtlich der Kühnheit ihrer Konzeption mit Fug und Recht
neben jene stellen können, wenn sie auch ein weniger umfassendes
Problem als das der Homologie der Extremitäten zu erklären ver-
sucht. Es ist die Ableitung des Haarkleides der Säugetiere
von Hautsinnesorganen der Amphibien. Fr. Maurer wird
das Verdienst behalten, diese gedankenreiche Erklärung der Organi-
sation des Haares zuerst ausgesprochen zu haben. Grade das Neu-
artige an ihr, die Tatsache, daß sie ein Problem da sah, wo andere
keines erblickten, daß Maren wie Geoffroy St. late „die
Ähnlichkeiten möglichst weit ausdehnen“ wollte, macht seine Theorie
) Sehr wichtig ist, was K.E. v. Baer Il. c. p. 192 sagt: „Die Theorie der
Kieferbildung würde uns mehr fern liegen, wenn sie nicht auf die Ansicht von der
Bildung der Extremitäten zurückwirkte. Daß nämlich Kiefern und Extremitäten
Modifikationen eines Grundtypus sind, ist augenscheinlich und es dürfte wohl jetzt
nach Oken von den meisten Naturforschern anerkannt sein, welche nicht überhaupt
die Grundlage eines allgemeeinn Typus, aus welchem dje Mannigfaltigkeit des Baues
entwickelt ist, leugnen“,
39:
448 W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier etc.
so bedeutsam. Es gibt schlechterdings keine andere Erklärung, die
wie diese, alle Teile des Haares, Mark, Rinde, innere Wurzelscheide,
äußere Wurzelscheide, Nervenverlauf, kurz den ganzen, an sich so
unbegreiflichen Aufbau des Haares mit seinen Scheiden, aber auch
die Anordnung und Stellung der Haare innerhalb des Haarkleides,
seinen periodischen Wechsel verständlich macht. Auch hier sehen
wir, daß der Kern der Theorie nicht der darwinistische Gedanke
ist, daß vielmehr unbewußt die ältere Vorstellung von der kon-
stanten Lage und der — hier auf die mikroskopischen Anatomie
übertragenen — Analogie der Teile das Wesentliche ist. Grade wie
Geoffroy an die unähnlichsten Organismen herantritt, sie ver-
gleicht und dann nach Verbindungen sucht, — so werden hier
Hautsinnesorgane der Tritonen und junge Haaranlagen der
Säugetiere verglichen, die Ähnlichkeiten werden festgestellt, und
hiernach der Vergleich ausgesprochen. Erst durch die Vorstellung
des Transformismus empfängt die Frage ihre großen und kaum zu
überwindenden Schwierigkeiten.
Der Widerstand, den die Theorie gefunden hat, ging aber von
diesen Schwierigkeiten, wenn sie natürlich auch eine Rolle dabeı
spielte, nicht aus, sondern auch wıeder von der entgegengesetzten
wissenschaftlichen Grundüberzeugung, daß es der Natur möglich
sei, für bestimmte Zwecke eine neue Organisation zu schaffen
und daß es nicht erforderlich sei, von etwas Vorhandenem, Ge-
gebenem auszugehen. So wird das Haarkleid ohne Anschlüsse an
andere Organisationen aufgefaßt als eine der möglichen Modifi-
kationen der verhornten Epidermis luftatmender Tiere, die als
gleichwertig neben der Schuppen- oder Federnbildung stehe.
Ein außerordentlich lehrreiches Beispiel für dıe Konstanz des
Problems bei veränderteräußerer Lage ist sodann die Geschichte der
sogenannten Reichert’schen Theorie. Auch hier ist Geoffroy der
Erste gewesen, der erklärte, die Gehörknöchelchen der Säugetiere seien
nichts sui generis, sondern seien bereits in anderen Skelettelementen
des Kopfes gegeben. In der Homologisierung (mit den Knochen
des Operkularapparates) irrte er zwar, aber der Gedanke war richtig
und Carus (1818) und Meckel (1821) konnten die wahre Bedeu-
tung von Amboß (Carus) und Hammer (Meckel) dartun. Erst ım
Jahre 1837 wurde dann durch Reichert die ganze Sachlage ge-
klärt und die Entstehung auch des Squamoso-dentalgelenkes fest-
gestellt. Hiermit war, lange vor Darwin, die ganze Frage ein
für allemal entschieden; Reichert und seine Zeit waren weit ent-
fernt, daran zu glauben eine „Theorie‘ zu besitzen, die etwa die „Ent-
stehung des Kiefergelenkes vor dem Quadrotoartikulargelenk“ er-
klären sollte. Reichert hatte ja nichts anderes getan, als im Ge of-
froy’schen Sinne verglichen, freilich unter Ausdehnung dieser
or
er7-
7
y
w
-_ W.Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 449
‘Methode auf den Embryo. Dagegen war nun wenig zu sagen. Selbst ein
Cuvier hätte diese Tatsache, die seinen Lehren schnurstracks zuwider
lief, anerkennen müssen. In allen Lehrbüchern fand Reichert’s
Darstellung Aufnahme; sie wurde Allgemeinbesitz. Wer präparieren
konnte, konnte sich überzeugen. Erst viel später trat Widerspruch
auf, der aber nun ganz anders zu beurteilen ist, als die Konflikte
in den beiden vorher erwähnten Fällen. Zwar gab es Forscher, die
die Ansicht von Carus für irrig hielten und nach wie vor das Qua-
dratum in Teilen des Schläfenbeins wieder zu finden glaubten. Der
Hauptwiderstand erhob sich aber erst, als man die Sachlage genetisch-
transformistisch wendete und nach Theorien suchte, das an sich
unbestrittene Verhältnis darwinistisch zu erklären. Nun tauchten
die Fragen nach der funktionellen Möglichkeit auf, ob Tiere gleich-
zeitig mit zwei Gelenken kauen könnten und wie das denkbar wäre?
Die mannigfachsten Mechanismen wurden erdacht. Anderen galten
diese Fragen für so wenig lösbar, daß sie die von Reichert ge-
gebenen anatomischen Grundlagen für! unrichtig erklärten und, wie
man dann sagte, caenogenetisch, umdeuteten.
Nun zeigte sich das äußerst merkwürdige Verhältnis, daß —
während der Widerstand gegen den darwinistischen Teil der
Theorie mehr und mehr zunahm, die Verteidigung den älteren
Geoffroy-Reichert’schen Teil stärker und stärker sicherte und
daß er schließlich gegen jeden Angriff gewappnet war. Das Gesetz der
Analogien und Konnexionen, verkörpert in den umwandelbar streng
gesetzmäßigen Lagebeziehungen der Knochen, Muskeln, Sehnen,
Gefäße und Nerven erwies sich auch lange nach dem Akademie-
streit als durchaus zwingend. ‚Ja, man ging weiter und versuchte, den
knöchernen Ring des Paukenfells auf Bestandteile des Unterkiefer-
skeletts — durchaus mit Erfolg(van Kampen) — zurückzuführen. Ge-
wıß müssen solche Theorien auch genetischen Fassungen standhalten.
Aber abgesehen von der prinzipiellen Frage, ob einstämmige oder
vielstämmige Genese, liegt das Tadelnswerte in der voreiligen
Verknüpfung, ehe -die Homologien bis ins Letzte fest-
gestellt sind. So wie die Dinge bisher lagen, türmten sich ın
der Kieferfrage beı jeder Verknüpfung unübersteigliche Schwierig-
keiten auf, und daß noch manche Punkte durch exakte Vergleichung
der Klärung bedurftern, daß hierdurch erst die genetische Verknüp-
fung in richtige Bahnen verwiesen wird, anstatt daß sie, bis dahin
wie ein Prokrustesbett die Homologien nach sich zu formen ver-
sucht hat, — das haben Untersuchungen der jüngsten Zeit er-
geben, also auch hier die Überlegenheit der älteren Methode nach-
gewiesen.
Zu früh vorgenommene Verknüpfung muß bei genetischer Auf-
fassung unbedingt in vielen Fällen zur Annahme einer Neubil-
RI U RAR Bay Na) ENG SEN: Lori,
a
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450 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffray St.-Hilaire u. Ouvier ete.
dung führen, wo in Wirklichkeit nur eine Umbildung vorliegt.
Die große Frage, ob Umbildung oder Neubildung die Organisation
beherrscht, ist aber die entscheidende, wo die Wege weit auseinander-
gehen. Auf dem einen sehen wir Goethe, Geoffroy und ihre
Zeit, auf dem anderen Cuvier; während von Späteren Gegen-
baur jenes Erbteil älterer naturphilosophischer Vorstellungen mehr
als die meisten bewahrt hat. Auch Rudolf Virchow, dessen Satz
omnis cellula e cellula jede Spekulation über die Urzeugung abschnitt,
gehört hierher und grade in der Frage der Urzeugung trat Gegen-
baur, wie eine bedeutsame Stelle seiner vergleichenden Anatomie
Be (Bd. 1 S. 590), auf Virchow’s Seite. Wir wollen mit der
Erörterung des sich hier anschließenden wichtigen Verhältnisses
zum Schlusse der in Aussicht genommenen Darstellung überhaupt
gelangen, indem wir den Blick des Lesers in die dämmerige Tiefe
schauen lassen, in der das Erkennbare versinkt, in der Forschung
und Hypothese ununterscheidbar werden, aus der aber Fragen
und Probleme auftauchen, um zu gegebener Zeit die Männer zu
finden, die sie mit geeigneten Methoden herausheben und in das
klare Tocht des Tages stellen.
Die Frage de Urzeugung als Theorie hat GERADE nie
und ar ‚behandelt. Sie scheint ıhm als wissenschaftliche
Frage nicht gegolten zu haben. Aber ihre Auswirkungen in der
Histologie und Histogenese hat er verfolgt und hat den An-
sichten von der „freien Entstehung“ spezifischer Gewebselemente
gegenüber seine Meinung, daß, wie Zelle nur von Zelle, so auch
spezifisches Gewebe nur von spezifischem Gewebe entstehen könne,
niemals unterdrückt. Die Ansicht, daß nicht alles da, wo es liege und
sichtbar werde, auch entstanden seı, galt ihm als die vorallem wissen-
schaftliche und hierin ist er und andere, die seine Überzeugungen teilten,
heftigen wıssenschaftichen Angriffen ausgesetzt gewesen; ja es haben
hierin die literarischen und mündlichen Kämpfe oft eine ganz ungewöhn-
liche Schärfe angenommen. Es waren vor allem die Elemente des pri-
mären Skelettsystems, d.h. des Knorpelgewebes, für das Gegen-
baur diese spezifische Herkunft betonte, Daß Knorpelgewebe, wenn es
einmal da sei, die Matrix alles weiterhin entstehenden Knorpelgewebes
sein müsse, galt ihm als Konsequenz der so überaus spezifischen Lei-
stung und Einrichtung dieses Gewebes, und wir erkennen unschwer,
wie der alte Gedanke vom Gesetz der Analogie und Verbindung auch
hier, aber im neuen Gewande der Histologie und Es auf-
tritt. Die weitere Konsequenz dieser Überzeugung war die An-
nahme einer ‚Wanderung‘ der zytologischen Elemente des Knorpel-
gewebes während der Entwicklung der Gewebe, und nur so konnte
die Einheit der Vergleichung im Geoffroy’schen Sinne erhalten
bleiben. Denn nur so konnten Skelettelemente wissenschaftlich
_W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete. 451
\
auf andere bezogen werden, während mangels solcher Kontinuität
und bei der Annahme, daß Knorpel überall, wo es die Funktion
erfordere, entstehen könne, die Vergleichung der Skelettelemente
vielfach überhaupt unmöglich gemacht wird.
Diese entgegengesetzte Annahme, die im Grunde also doch das
Auftreten des Knorpels von dem Zwecke abhängig macht, somit
ganz ım Sinne Cu vier’s konzipiert ist, trat nun der Gegenbaur"-
schen entgegen und wiederum sehen wir die alten Gegner des
Akademiestreites, sich mit ungleichen Waffen einander messend,
gegenüber stehen. Denn darüber kann kein Zweifel bestehen: der
Augenschein, das entwicklungsgeschichtliche Präparat zeigt nichts
von einer solchen ‚Wanderung‘ der Knorpelanlagen, wenngleich
die Präformation des Knorpelgewebes dennoch in sehr viel größerem
Maße nachweisbar geworden ıst, als man geglaubt hat (Braus). So
hat die Histologie und Embryologie die Tatsachen für sich, die
Überzeugung von der Kontinuität des Knorpelgewebes dagegen nur
die Triftigkeitihrer Gründe. Mit dieser kann aber heute so wenig
zum Siege gelangt werden, wie es @eoffroy ım Jahre 1830 konnte.
Das vergessen die Anhänger auf beiden Seiten: die einen, daß ihnen
weniger die Versicherung der Triftigkeit ihrer Überzeugungen, als
vielmehr der Nachweis der ontogenetischen Präformation desKnorpel-
gewebes obliegt — die Gegner aber, daß sie eingedenk des Akademie-
streites und seiner Geschichte, die Gründe des Gegners zu würdigen
versuchen und darauf gefaßt sein müssen, durch feinere Methoden
und Beobachtungen auch ıhre Überzeugungen ins Wanken gebracht
zu sehen.
Verwandt mit diesem Streite für und wider die Kontinuität
des Knorpelgewebes sind dann die Diskussionen über die sogenannte
„Herkunft der Skleroblasten“. _ Da die ältesten Hartsub-
stanzen bei Wirbeltieren im Integument liegen, entstand die Vor-
stellung, daß Schmelz und Knochen unmöglich zwei grundverschiedene
Substanzen sein könnten und daß daher nicht nur die schmelz-
bildenden, sondern auch die knochenbildenden Zellen (Osteoblasten)
dem Ectoderm entstammten. Auch hier klingt das Geoffroy’sche
Thema an, wenngleich nicht ganz unverändert. Denn die Vorstellung,
daß der Knochen dicht unter der Epidermis entstehen und der Schmelz
von der Epidermis auf den jungen Knochen abgelagert werden
könne, widerstreitet: Geoffroy’schen Prinzipien an sich nicht. Aber
die weitere Tatsache, daß der Knochen des Exoskeletts älter als der
des Endoskeletts ist, führte dann auch hier zu der Vorstellung, daß
die Osteoblasten an der Stelle, wo sie ihre osteoplastische Tätig-
keit beginnen, nicht entstanden seien, sondern ihren Weg dahin
durch Wanderungen gefunden hätten. Natürlich zeigt die Histo-
logie nnd Histogenese stets nur Bindegewebszellen, die Knochen
452 W. Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete.-
zu bilden beginnen, niemals eine „Wanderung“, geschweige denn
eine Ablösung aus dem Eetoderm. Ganz ähnlich liegen die Dinge
für das Iymphoide Gewebe der Darmschleimhaut, das einige Forscher,
überzeugt von der Einheit aller Iymphoiden Bildungen in der Wand
des Verdauungskanales, ganz vom Darmepithel ableiten möchten, so
wie die Thymus vom "Epithel des Vorderarms entsteht. Auch hier
aber zeigt die Histologie nur Bindegewebszellen, die sich in Lymph-
zellen umbilden, wie sie auch eh anders en als den Fettzellen
reinen Bindegewebscharakter zuschreiben.
Würdigen wır das alles zusammenfassend, so erkennen wir den
leitenden Gedanken der bei Gegenbaur und den in seinem Geiste
Forschenden, aller Überzeugung zum Grunde liegt. Es ist der von der
unverbrüchlichen Gesetzmäßigkeit und Kontinuität auch des embryo-
logischen und histogenetischen Geschehens. Was Geoffroy für den
ausgebildeten Organismus als richtig zu erkennen glaubte, das soll
auch für den Embryo und seine frühesten Stadien gelten, es soll Gültig-
keit haben auch ım Reiche des Mikroskopischen. Die große Fortbil-
dung, die der Homologiegedanke schon unmittelbar nach G eoffroy’s
Tode durch Reichert empfing, und die dann noch 1848 Owen
ablehnte, daß nämlich neben Lage und Konnexion der Teile auch
die gleiche Entwicklung für die Beurteilung der Homologie in
Betracht komme, spielt hier mit hinem, ohne daß etwa sie allein
nun das Charakteristische wäre.a Es scheint im Gegenteil, daß
diese Vorstellungen den Hauptwert auf die Kontinuität legen,
die Erhaltung einer bestimmten mikroskopischen Lage-
beziehung, daß also ein Teil, wenn er auch distinkt und verlagert auf-
tritt, dennoch in Wirklichkeit den Zusammenhang mit dem Mutter-
boden nicht verloren hat, ıhn jedenfalls durch Erblichkeit immer wieder
erlangt. Der alte Geoffroy’ sche Satz, daß ein Teil eher zerstört, als
verlagert wird, hat ın der Erkenntnis von der Kontinuität von Nerv
und Muskel eine weittragende Bestätigung erhalten und die Durch-
brechung, die der Satz durch die „Wanderungen“ der Elemente des
Skelett-, Fett- und Iymphoiden Gewebes erleiden würde, wäre inso-
fern nur/scheinbar, als man sich ja vorstellt, daß Spuren des Weges,
den die Elemente zurücklegen, erhalten bleiben, und es sıch bei der
„Wanderung“ weniger um eine „Lokomotion“ als eine allmähliche Ver-
schiebung aller Elementarbestandteile des Körpers gegeneinander
handeln soll.
Uns aber möge das, was uns die historische Betrachtung gelehrt
hat, auch für die eigene Arbeit nutzbringend sein. Nicht in der
Wiederholung des Vergangenen erschöpft sich die Gegenwart. Jede
Zeit hat ihre eigenen wissenschaftlichen Kämpfe zu bestehen. Der Kern
der Probleme bleibt, ihre Erscheinung wechselt; die Charaktere der
WE Lubosch, Der Akademiestreit zwischen Geoffroy St.-Hilaire u. Cuvier ete, 453
Forscher bleiben zwar, die Verhältnisse aber wechseln, an die sie
herantreten. Alle Einzelheiten tragen zum Wachstum des Ganzen bei.
Ohne Cuvier’s Lebenswerk wäre auch das Geoffroy’s nicht mög-
lich gewesen, ohne Geoffroy’s Irrtümer wiederum wäre Gegen-
baur’s Methode der Vergleichung nicht entstanden. Die Ver-
gleichende Anatomie erfordert beiderlei Forschungsrichtungen. Keine
ist absolut falsch, keine absolut richtig, und niemand kann etwas
über den Ausgang heute herrschender methodologischer Kontro-
versen aussagen. Das entscheidet die Zukunft.
Würzburg, 9. Junı 1918.
Literatur.
1828. v. Baer, ©. E., Über Entwicklungsgeschichte der Tiere, Beobachtung und
Reflexion. I. Teil. Königsberg 1828.
1897. —, Lebensgeschichte Cuvier’s. Herausg. v. L. Stieda. Archiv f. Anthro-
pol. Bd. 24.
? Bardeleben, Goethe als Anatom. Nord und Süd. Bd. 74. Heft 220.
1849. Berthold, Am 28. August d. J. 100 nach der Geburt Goethes u.s. w. über
seine Anatomia comparata vorgetragen. Göttingen, Vonderhoeck und
Ruprecht.
1910. Bielschowsky, A., Goethe. Sein Leben und seine Werke. 20.—28. Aufl.
München, ©. H. Beck’sche Verlh. 1910—14.
1901. Bliedner, Goethe und die Urpflanze. Frankfurt.
1815. Blumenbach, Handbuch der Vergleichenden Anatomie. 2. verb u. verm. -
Aufl. Göttingen.
1766. Bonnet, Ch., Betrachtungen über die Natur. Deutsch von Titius. Leipzig.
1749. Buffon, Oevres completes. Nouvelle @dition. Paris 1325. — Die Ausgabe
von 1749-1788, nach der meist zitiert wird, habe ich nicht erhalten
können.
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18317. —, Le regne animal distribu& d’apres son organisation. Tome I. Paris.
1821. -—, Recherche sur les ossements fossiles. Bd. I. Discour preliminaire.
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3
1830. Annales des sciences naturelles. Bd. 19.
456 E. Wasmann, Nachtrag. — Berichtigung.-
Nachtrag zu: E. Wasmann, Zur Lebensweise von
Pseudacteon formicarum
(Nr. 8, S. 317-329).
Nachdem meine Abhandlung bereits gedruckt war, erhielt ich
von P. Herm. Schmitz dessen Arbeit „Die Phoriden von
Holländisch Limburg“ (Jaarb. Natuurhist. Genootsch. Limburg 1917,
p- 79—150) zugesandt. Auf S. 124 erwähnt er das häufige Vor-
kommen dieser Phoride in Limburg. Es sei hier bemerkt, daß er
sie später ebenfalls daselbst fand, nachdem er durch mich auf ihr
Vorkommen aufmerksam gemacht worden war.
Berichtigung
zu der Abhandlung: Wirkungen des Lichts auf die Pflanze. Von San.-Rat Dr. Fritz
Schanz, Augenarzt in Dresden.
(Nr. 7 dieses Bandes Seite 283—296)
sind folgende Fehler zu berichtigen:
I. Seite 286 u. 287 sind die Abbildungen in Fig. 2 u. 3 zu vertauschen, die
Fußnoten sind richtig.
Die auf Seite 287 erwähnte Fig. 4 fehlt. Eine solche Abbildung findet sich
ID
in Schanz, Lichtreaktion der Eiweißkörper (Pflüger’s Arch. Bd. 164. Taf. XV.
Aufn. I).
3. In den auf Seite 288 als Fig. 4 bezeichneten Spektren liegen diejenigen der
(uarzlampe in Abb. 2 verkehrt.
4. Auf Seite 259 ist mehrmals statt Struma „Stroma“ zu setzen,
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der kgl. bayer.
Hof- und Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
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Biologisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. EE Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
es von Georg Thieme in Leipzig
38. Band November 1918 Nr. 1
ausgegeben am = November
Der anne Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus va ‚Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwickelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: Up) Buchner, Über totale, Reg eneration bei Eiloamen Bıyosoe n. 8. 457.
x. Tischler, Das lleterostylie-Problem, S. 461. N
E. Boecker, Die geschlechtliche Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. S. 47).
%. Braun, Nochmals die wissenschattlichen Grundlagen der Ameisenpsychologie. S. 499.
Über totale Regeneration bei chilostomen Bryozoen.
Von Paul Buchner, München.
(Mit 5 Figuren.)
Bei den Bryozoen offenbart sich ein weitgehendes Regenerations-
vermögen in der verschiedensten Weise. Schon lange kennt man
die ie Neubildung des gesamten Polpidh, die eintritt,
nachdem der ale bis auf einen Ka Rest rückgebildet wurde.
Die Ursachen dieser Einschmelzung, die entweder wie eine mächtige
Welle über große Teile der Kolonie hingeht oder einzelne Indi-
viduen betrifft, liegen allerdings noch völlig ım unklaren. Auch
über die Art und Weise, wie der Rückstand des alten Polypids
nach Bildung des neuen entfernt wird, herrscht keine Einstim-
migkeit. i
Totale Regeneration ıst uns vor allem von den entoprokten
Bryozoen bekannt. Die Köpfchen der Pedizellinen fallen nicht
selten ab und das Stielende liefert alsbald ein Regenerat. Ein ganz
ähnlicher Vorgang ist recht häufig bei den Kolonien der Kteno-
stomen, deren einzelne Individuen vielfach sehr hinfällig sind und
vom Stolo aus ersetzt werden können. Bei chilostomen Bryozoen
»S. Band
Y)
.ı)ı)
ADS P. Buchner, Über totale Regeneration bei chilostomen Bryozoen.
mit mehr oder weniger stark verkalkten Skeletten stößt die totale
Regeneration dagegen auf Schwierigkeiten, denn diese bleiben ja
auch nach dem Tode des betreffenden Individuums noch erhalten.
Erst Levinsen!) hat 1907 darauf aufmerksam gemacht, daß
auch hier eine totale Regeneration einsetzen kann und gezeigt,
daß das neue Individuum dann ım Skelett des alten — notge-
drungen in etwas kleinerem Maßstab — auftritt. Am günstigsten
liegen die Bedingungen für eine solche Regeneration offenbar bei
den Formen, deren Oberfläche nur in geringem Maße verkalkt
ist, vor allem bei Membranipora. Hier konnte Levinsen bei einer
ganzen Reihe fast ausschließlich fossiler Formen den Vorgang nach-
weisen. Mit wenigen Ausnahmen waren die Regenerate im gleichen
Sinne orientiert, wie das abgestorbene Individuum. Nur zweimal
fand sich das Zoözium im umgekehrten Sinne in das alte ein-
gebettet. Dies ist so zu erklären, daß ım allgemeinen das hinten
a hrebende Tier zur Nenbildung schreitet hin die von ıhm aus-
gehende Knospe ın der Weise Sn polar differenziert ist, wie
sie es auch beim gewöhnlichen Wachstum der Kolonie in der
Regel bekundet. Übernimmt ein anderes Nachbartier die Regene-
ration (es pflegte jedes Individuum von sechs anderen begrenzt zu
sein und mit ihnen durch Poren in Verbindung zu stehen), so wird
das neue Tier je nach der Orientierung der Knospe ım umgekehrten
Sinne, quer oder schräg zu liegen kommen müssen, da durch die
Längsachse der Knospe auch die des jungen Tieres bereits fest-
gelegt ist. |
Levinsen hat weiterhin schon die Beobachtung gemacht,
daß nicht nur gewöhnliche Zoözien wieder Zoözien regenerieren
können, sondern auch Avicularien ıhresgleichen und daß ferner
heterogene Regenerationen vorkommen, bei denen in einem alten
Zoözium ein Avicularıum auftritt oder sogar — der seltenste Fall
— das umgekehrte verwirklicht wird. Die Bildung von Avicularien
ze ist nicht allzu auffällig, wenn man berücksichtigt, daß
es sich in den beobachteten Fällen stets um Arten handelt, die
. sogenannte vikariierende Avicularien besitzen, welche also in der
Architektur der Kolonie ohnedies die Stelle eines gewöhnlichen
Zoöziums einnehmen und deshalb auch beim Wachstum der Kolonie
in gleicher Weise von den seitlichen Wänden eines solchen gebildet
werden. Auch daß Avicularien Zoözien durch Knospung hervor-
bringen, kommt vielfach typischerweise vor, so bei den Flustren.
Nur darf man hierbei nicht an so hochentwickelee Avicularien
denken, wie sie etwa Bagala besitzt, die keiner weiteren Vermehrung
fähig sind.
1) Sur la regendration total des Bryozoaires. Bull. Acad. roy. Se. et lettres
de Danemark. Annee 1907, Nr. 4
N DEN a
E3 3
P. Buchner, Über totale Regeneration bei chilostomen Bryozoen. 459
Unter Umständen kann doppelte Regeneration vorkommen,
Levinsen fand einmal drei Avicularienskelette ineinander ge-
schachtelt, und ein anderes Mal folgten zweı Zoözien und ein Avi-
cularıum aufeinander.
Bei der Bearbeitung japanischer Bryozoen der Sammlung
Doflein sind mir ähnliche Regenerationsweisen, wie sie Levinsen
beschrieben, wiederholt begegnet. Ein typisches Bild der Neubil-
dung eines Zoöziums ım Skelett eines anderen gibt die Fig. 1 von
einer Membranipora; zur nicht verkalkten Frontalseite des linken
Zoöziums schaut das entsprechend verkleinerte neue Tier heraus.
Canda tenwis Macgill. zeigt, wie neben einfacher Regeneration
auch eine zweimalige sıch finden kann (Fig. 2, rechts oben). Außer
solchen bestätigenden Befunden sind aber auch solche zu verzeichnen,
“ Figur 1.
die die Levinsen’schen wesentlich ergänzen. Sie beziehen sich
auf ein Objekt, dessen Vorderseite völlig verkalkt ist. In den beiden
Fällen, die Levinsen unter gleichen Bedingungen fand, sah zur
alten Öffnung eine neue verkleinerte heraus (Cribrilina labiata Lev.,
Hippothoa spec.), die Regeneration war also von dem hinten angrenzen-
den Individuum ausgegangen. Bei der in der Sagamıbaı sehr häufigen
Schixoporella ceciii Aud. aber fand ich neben analogen Bildern
(Fig. 3) auch solche, bei denen an Stelle des typischen Zoö-
zıums ein Kenozoözium regeneriert wurde Darunter ver-
steht man Individuen, die von Anfang an keinen Polypid besitzen
und deshalb auch die Bildung einer Öffnung im Skelett und eines
Operkulums unterlassen. Solche Kenozoözien sind sehr verbreitet und
können in der verschiedensten Weise im Aufbau der Kolonie ver-
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i N a a! IRRE): tn, EN ke BU Rare, er Ya yethin NHR,
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460 P. Buchner, Über totale Regeneration bei chilostomen Bryozoen.
wendet werden (als Stielglieder, Wurzelglieder, Schaltstücke, Rand-
befestigung u. dergl.) oder auch infolge einer Hemmungserscheinung
auftreten (z. B. bei Platzmangel). Die alte Mundöffnung ist dann
durch eine darunterliegende, in typischer Weise durchbohrte Platte
verschlossen; sie kann völlig intakt sein oder etwas verletzt, wo-
bei dann deutlich zu erkennen ist, daß dieses zweite Skelett sich
überall unter dem ersten ausbreitet (Fig. 4).
Die Erklärung dieses gar nicht seltenen Vorkommens ist eine
sehr einfache. Nur bei mangelhafter Verkalkung der Vorderseite
findet bei seitlich oder vorne einsetzender Neubildung die für die
Anlage des Polypids festgelegte Knospenregion genügend Raum
zur Entfaltung. Bei völliger Verkalkung derselben aber muß es
notwendig zu einer «Entwicklungshemmung kommen, zur Regene-
Figur 3. Figur 4. Figur 5.
ration eines Kenozoöziums. Daß diese Deutung richtig ist, be-
weisen andere Bilder. Es ist von vorneherein klar, daß auch bei
solchen ungünstigen Regenerationsrichtungen ein typisches Zoözium
dann gebildet werden kann, wenn das alte Skelett an der zur
Entfaltung nötigen Stelle gewaltsam zerstört wurde; dann treten
ja Bedingungen ein, die denen einer Membranipora analog sind.
Tatsächlich fand sich das mehrfach verwirklicht und stets war dann
an der Stellung der Mundöffnung deutlich zu erkennen, daß die
Regeneration von der Seite oder von vorne ausgegangen war. Die
alte Mundöffnung ist dann natürlich stets verschlossen (Fig. 5).
Wahrscheinlich ist die Verletzung des Skelettes in diesen Fällen
überhaupt die Todesursache des alten Tieres gewesen.
Die Levinsen’sche Auffassung wird also durch diese neuen
Beobachtungen auf das schönste bestätigt. Die Regeneration toter
Individuen liegt zweifellos im Interesse der Kolonie, die damit eine
mögliche Einfallspforte schädigender Einflüsse verschließt; und diesem
RR
Vgl
RN
}
Gt. Tischler, Das Heterostylie-Problem. 461
Bedürfnis genügt auch die Neubildung eines Kenozoöziums. Immer-
hin stellt es einen gewissen Grad von Unzweckmäßigkeit dar, daß
die Wachstumsrichtung der Knospen so starr festgelegt ıst, daß
diese nicht in der Lage sind, eine zur Polypidbildung geeignete Stelle
aufzusuchen und deshalb statt eines Nährtieres ein Individuum er-
zıelen, das von der Kolonie ernährt ‘werden muß.
Histologische Untersuchungen über die totale Regeneration
anzustellen, genügte mein Material nicht; es dürfte aber kaum auf
sehr große Schwierigkeiten stoßen, es auf experimentellem Wege
zu erzielen, wenn man einzelne Individuen der Kolonie zu ver-
schiedenen Zeitpunkten mit einer feinen Nadel abtötet.
Mehrfach kommt es bei den Chilostomen vor, daß alte Tiere
den Polypid rückbilden und die Öffnung mit einer Kalklamelle
verschließen. Wir sind über diesen Vorgang, der eigentümlicher-
weise mit erneuter Knospungstätigkeit an diesen Stellen Hand in Hand
gehen kann, noch sehr ungenügend unterrichtet, mit dem Verschluß
durch Regeneration eines Kenozoöziums ist er aber unmöglich zu
verwechseln.
Schtxoporella ceeilii bildet übrigens hie und da auch von An-
fang an Kenozoözien, ohne daß die Ursache sich immer ermitteln
ließe. Manchmal sind es sicher Kontaktreize, die beim Aufein-
anderstoßen zweier Wachstumsrichtungen ın einer Kolonie oder
der Berührung zweier benachbarter Kolonien auf die noch unvoll-
kommen entwickelten Knospen hemmend wirken, obwohl der zur Ver-
fügung stehende Raum genügend wäre ein normales Tier zu bilden,
manchmal lediglich Raummangel. Zusammenhänge, die sich ja auch an
anderen Objekten beobachten lassen. Daneben aber kommen Fälle vor,
wo solche Erklärungen versagen und man zu inneren Ursachen Zuflucht
nehmen muß. Ich habe gefunden, daß eine solche Hemmung der Zoözien-
bildung am Rande einer Kolonie sich in verschiedenen Abstufungen
neben einander finden kann. Es kamen da typische Kenozoözien neben
solchen vor, die noch ein Rudiment des Sinus besaßen, ohne daß zu
erkennen gewesen wäre, daß der übrige Teil der Mundöffnung erst
sekundär verschlossen worden wäre und einem Individuum, das
seine Öffnung durch eine dünne porentragende Platte nachträglich
verschlossen hatte und nur den Sinus noch unverkalkt besaß.
Solche Unterschiede werden sich dadurch erklären lassen, daß die
hemmenden Reize auf verschieden weit entwickelte Zoözien ge-
wirkt haben.
Das Heterostylie-Problem.
Von 6. Tischler. F
Durch die experimentellen Untersuchungen Darwin'’s (1862,
1365, 1877), Hildebrand's (1864, 1867) und anderer Forscher,
wie durch die vergleichenden Studien über die Bestäubung ento-
462 Tischler, Das Heterostylie- Problem.
mophiler Gewächse (H. Müller 1875, 1881, Knuth 1898—1905)
war seit den 60iger und 70iger Jahren des vorigen Jahrhunderts
die Erscheinung der Heterostylie so allgemein bekannt geworden
und sie galt Deszendenztheoretikern Ser als ein so schönes
Beispiel En allmähliche Entstehung eines Ökologismus, daß sie in alle
Lehrbücher, vor allem freilich. ın der deutschen Literatur, über-
gegangen ıst. Durch Kny’s (1880) Wandtafeln, welche den Blüten-
Dimorphismus von Primula und den - Trimorphismus von ZLythrum
so schön illustrierten, wurden diese beiden Gattungen zudem ein
eiserner Bestand des Demonstrationsmaterials für alle einleitenden
botanischen und allgemein-biologischen Vorlesungen. Darwinistisch
wie Lamarckistisch orientierte Forscher zogen die eben genannten
Pflanzen zur Stütze ihrer Theorien heran; die Darwinisten waren
sich zunächst freilich noch durchaus bewußt, daß das Auftreten der
Varianten selbst als unerklärt hinzunehmen sei und daß die Selek-
tion höchstens den Grad der Heterostylie gesteigert haben könne,
während die Lamarckisten von Anfang an die di- resp. trimorphe
Ausbildung der Blüten ın Beziehung zu zweckmäßig gerichteten
Tendenzen seitens des Organısmus brachten.
Kein Geringerer als v. Nägeli sagte (1854, p. 155): „Die be-
sinnende Abneigung gegen Selbstbefruchtung bewirkte ın den Idio-
plasmareihen eine Scheidung in zwei Anlagen und infolge der gegen-
seitigen Abstoßung eine Entfernung dieser Anlagen voneinander
oder wenigstens eine Entfernung der entfalteten Organe.*
Über die korrelative Zusammengehörigkeit der Filament-Ver-
längerung und der Griffel-Verkürzung wie über den umgekehrten
Fall der Filament-Verkürzung und der Griffel-Verlängerung waren
sich aber. alle Deszendenztheoretiker einig, ja sie pflegten auch
einige für Prima und Lythrum beschriebenen Sondererscheinungen
entweder für alle Heterostylen zu verallgemeinern oder doch we-
nigstens in ihnen einen besonders hohen Grad von morphologischer
„Anpassung“ zu sehen; einer Vergrößerung der Pollenkörner sollte
in derselben Blütenform eine Verkleinerung der Narbenpapillen wie
einer Verkleinerung der Pollenkörner eine Vergrößerung der Narben-
papillen entsprechen. Zwar hatte schon Correns(1889)gewarnt, diese
Äußerlichkeit als etwas wesentliches zu betrachten, aber die führen-
den Blütenbiologen nahmen kaum davon Notiz, zum mindesten
ließen sie sich nicht auf die daraus zu ziehenden Konsequenzen
ein. Und ein Forscher wie Gaston Bonnier (1878, 1884), der
in allerdings zum Teil übertriebener Skepsis sich zu den morpho-
logischen Anpassungen überhaupt kritisch stellte, wurde meist gar
nicht mehr erwähnt.
Dazu käm noch, daß man seit dem Einsetzen der experimen-
tellen Erblichkeitsforschung Prönula und Lythrum auch auf ihre
genotypische Zusammensetzung hin prüfte und dabei feststellte,
un
-
z ee,
+. Tischler, Das Heterostylie-Problem. 465
daß die sogenannte „langgrifflige“ Form homozygotisch, die soge-
nannten „kurz- und mittelgrifiligen“ Formen homo- und heterozy-
gotisch sind, somit ıdioplasmatisch bedingte Differenzen aufweisen
(Bateson und Gregory 1905, Barlow 1913).
Gaston Bonnier hatte aber bereits darauf aufmerksam ge-
macht, und eingehende varıationsstatistische Analysen von Gain
(1906, 1907) zeigten dann neuerdings, daß der Grad der Hetero-
stylie durchaus nichts genotypisch Bedingtes se. Gain wies
nämlich nach, daß bei Primula die zuletzt sich öffnenden kurz-
griffligen Blüten im allgemeinen die Tendenz haben, ihre Hetero-
stylie herabzusetzen, während sie bei den langgriffligen wesentlich
verstärkt zu sein pflegt. Er fand für Prömula acaulis brevistyl die
Variationsbreite der Distanzen von.Narbenkopf zur Anthere zwischen
2—11'/, mm (mit dem arıthmetischen Mittel 6,96). Für Primula
acaulis longistyl zwischen 1—8!/, mm (mit dem arıthmetischen Mittel
5,07), für Primula officinalis brevistyl 3—11 mm (arıthmetisches
Mittel 7,22), longistyl 0-10 mm (arithmetisches Mittel 4,64).
Eigene Untersuchungen zeigten dann (Tischler 1918 b)!), wie
auch während der Entwicklung der Blüte sich die Entfernung von
der Narbe zum Antherenende, und damit der Grad der Hetero-
stylie, sehr weitgehend verschiebt, und zwar auch während der
Dauer des Stäubens, also zu der Zeit, in der der Pollen von einer
Blüte auf eine andere übertragen werden kann. So waren z. B.
ın einem und demselben Blütenstand folgende Distanzunterschiede
beı den stäubenden Blüten zu finden: (Die Pflanzen stammten von
Wiesen unweit von Hohenheim.)
Für Primula elatior kurzgrifflig:
Inder 1222/58 3,4,.4, 42/5. mm.
Inder 112521,.,6.15, 27,77, 7,.8, 8’mm,
Ind Bl 35.525.752, 7... mm.
Für Primula elatior langgrifflie:
Ind.1083315.14, 4, A! mm.
Ind. 7117270, A454, All mm.
Ind. IE 42415, 42, 6; 7-mm.
Für Primula offieinalis kurzgrifflig:
Ind.2# 2793 B2: 539, 5, 542 52,2:52] mm,
Ind. 7.2, 029211,3, 4, 6 mm.
Ind SIE Ua 32 mın®
Für Primula offieinalis langgrifflig:
Ind, 11210852, 21mm.
Ind >1l. -4,.5,°52/,,26'mm.
Ind. 111.4, 5, 54, 6.mm.
1) Siehe auch die von uns (Tischler 191Sb) eingehender besprochene Arbeit
von Breitenbach (1880), sowie die kurzen hierher gehörigen Angaben bei Errera
(1905), auf die Herr College Bally mich noch freundlichst aufmerksam machte,
464 G. Tischler, Das Heterostylie-Problem. &
Kausalmechanisch sind diese starken Differenzen auf die Tat-
sache zurückzuführen, daß die Anlagen der Staub- und Kronblätter,
wie wir seit Duchartre (1844) wissen, überall eng miteinander
verknüpft sind. Betrachtet man die Frage rein onto- und nicht
auch phylogenetischh so könnte man mit Pfeffer (1869) die
Corollarlappen selbst als Auswüchse der Staminalhöcker ansehen.
Alle Faktoren, die auf die Längenausdehnung des Corollartubus
unterhalb der Insertion des Stamina von Einfluß sınd, müssen dem-
gemäß auch auf deren Orientierungshöhe entscheidend einwirken.
Die Blütenökologen betonten aber stets bei der Zweckmäßig-
keitsbeurteilung der Blüteneinrichtung, daß gerade ein und die-
selbe Stelle des Insektenkörpers mit dem Pollen der einen Form
gepudert und von der entsprechenden Narbe einer anderen Form
berührt werden müßte.
Für Zythrum Salicaria waren dıe Abstände bei gerade gestreckten
Filamenten zwischen dem Staubblattende und der Narbe viel regel-
mäßiger innerhalb einer Blüte als bei Primula. Das ist verständ-
lich, da hier die Staubblätter von dem Wachsen der Blumenkron-
röhre unabhängig sind. Aber hier wieder ist durch mannigfache
Krümmungen zur Zeit der Anthese in keiner Weise eine gleiche
Höhe aller zu einem Kreise gehörigen Stamina erreicht. v, Kirchner
(1911 p. 149) hat das ganz richtig gezeichnet, während die Figur
von H. Müller (1873, p. 191, Fig. 64) mir die Sachlage für die
Mehrzahl der Blüten zu schematisch erscheinen läßt. Dazu kommt
noch die ungleiche Krümmung des Griffels, durch welche die Narbe
in verschiedener Stärke herabgebeugt wird. Die Blütenökologen
hätten bei der nach ihrer Meinung besonders fortgeschrittenen und
künstlichen Anpassung der Blüten an blumenbesuchende Insekten
eigentlich in Analogie zu sonstigen „Gesetzmäßigkeiten“ voraus-
setzen müssen, daß alleın ganz bestimmte wenige Tiere eine regel-
mäßige und legitime Bestäubung veranlassen. Aber die Besucher-
listen (etwa beiKnuth II 1, p. 414—416) zeigen das gerade Gegen-
teil. Eine große Zahl von Käfern, Dipteren, Hemipteren, Hymeno-
pteren und Schmetterlingen finden sich als regelmäßige Besucher
ein. H. Müller und Knuth müssen zugeben, daß manche von .
ihnen nur zwei oder eine von den drei legitimen Bestäubungsweisen
möglich machen. (Viele wahrscheinlich auch gar keine!) Tiere der ver-
schiedensten Größenverhältnisse kommen dabei in Frage. An welche
hat sich in zweckmäßiger „Gegenseitigkeit“ Lythrum nun angepaßt ?
Etwa gar an die, die nur einen Teil der Bestäubungen richtig aus-
führen ?. Eine Bienenart, die H. Müller in erster Linie als recht-
mäßigen Besucher in Anspruch nehmen möchte, sah wieder Knuth
„merkwürdigerweise niemals, ... trotzdem ich ... zu sehr wieder-
holten Malen und unter sehr günstigen Bedingungen (Windstille
und Sonnenschein) beobachtete“. Ich meine vielmehr, daß die
G. Tischler, Das Heterostylie-Problem. : 465
„Heranzüchtung“ der Blumenform im „Kampfe ums Dasein“ oder
die von der Pflanze „angestrebte“ Anpassung an das Insekt beide
gerade bei Zythrum gleich unwahrscheinlich sind.
Im folgenden wollen wir noch wie für Primula eine Anzahl
von Messungen geben, die über den Grad der Variationen im Bau
der Blüte einige Auskunft bringen könnten (vgl. auch Gaston
Bonnier 1884). Dabei sind die zufälligen Krümmungen, die im
Moment des Messens vorhanden waren, natürlich voll und ganz
berücksichtigt.
Was zunächst die langgriffligen Formen angeht, so betrug
der Abstand vom Narbenkopfe bis zur obersten Anthere der
„mittleren“ Staubblätter bei je 7 willkürlich herausgegriffenen Blüten
von 5 untersuchten Blütenständen zur Zeit des Stäubens für
Um sel, 222, DU "all, 32mm.
Ind 12772,23,.3,, 49, 5:X5-mm.
Ind 32, :3,.4,°4):2. ar OT:
Für die aleriffligen Formen sınd die beiden schon
in der Farbe unterschiedenen Sorten des Pollens getrennt zu be-
rücksichtigen. Der Abstand der Narbe von den „größten“ Antheren
(mit grünem Pollen) betrug, wenn ich wieder nur die nächststehen-
den Staubblätter ins Auge faßte, für
Ends sl 1..1.%42:,9.2.73, 3 mm:
Ing» "IL 0:21. 181.02,:2,:3 mm:
Id, LITT 121272..303.03,4. 2: Kamm:
Desgleichen für die höchststehenden der „kleinsten“ Stamina
(mit gelbem Pollen) für
Ind. »1..2..3,:3,3, 3.5, 5:mm.
Ind. > 13, 4975, 2 9,,0%6 mm.
Ind. III. Lm2; 3, 3, 4 mm.
Endlich für ie En ee Formen waren die Distanzen
für die „größten“ Antheren (mit grünem Pollen) bis zur Narbe bei
Ind = Bol 20 17.8. nme
Ind 12855: % 6, 6, 18 Km.
Ind. IM. er DA) ARTEN
Und für die Antheren (mit gelbem’ Pollen) maßen
die Entfernungen bis zur Narbe hei
Ind. at. ni IE 2142 134 934,5 m.
Ind. I. 2202 ,27=35 3:.mm:
Ind. IH. “ 23,>3, 4, um.
Der A, he er der Heterostylie war also auch hier inner-
halb der gleichzeitig stäubenden Blüten einer Infloreszenz ein ver-
schiedener, wenn die Differenzen auch anders zustande gekommen
sind wie bei Primala. Die Pflanzen stammten vom Rande eines
kleinen Wassertümpels unweit Hohenheims, nur das lang sgrifflige
+66 (+. Tischler, Das Heterostylie-Problem.
Individuum unter I aus dem Hohenheimer botanischen Garten. wo
die Pflanze auf völlig trockenem Boden nicht besonders „optimal“
wuchs.
Planmäßige Experimente über den Festheitsgrad der Hetero-
stylie standen noch völlig aus. Zu diesem Zwecke habe ich mit
der leicht zu kultivierenden Gattung Primula experimentiert. Gut
entwickelte Exemplare von Pr. sinensis, obeonica, elatior und off-
einalis wurden nach Anlegung der Blütenstände völlig entblättert,
auch etwaige schon weiter entwickelte Blüten entfernt und in
einem völlig dunkeln Verschlag dem Etiolement ausgesetzt?). (Das
folgende ausführlich bei Tischler 1918b). Es zeigte sich ganz klar,
daß durchweg in den kurzgriffligen Formen der Grad der Heterostylie
beträchtlich zurückgegangen war, ja ganz verschwunden sein konnte,
während in den langgriffligen die Entfernung der Narbe von dem
Antherenende aufs äußerste gesteigert war. Oft konnte dabei der
Narbenkopf weit aus der Blütenöffnung herausragen, auch war mit-
unter seine Form weitergehend verändert. Hier in unserm Ex-
periment war unbedingt Nahrungsmangel als Grund der so selt-
samen Phänotypen zu erkennen. Wie wir seit v. Vöchting (1893)
wissen, kann besonders die Blumenkrone in ihrer Entwicklung
unter dem Nahrungsmangel leiden’). Da aber bei Pröümula, die die
gleiche Hemmung aufweist, die Staubblätter an dem Tubus der
Corolle festgewachsen sind, wird nun in der kurzgriffligen Form bei
schwächer entwickelter Corollarröhre und gut ausgebildetem Griffel
dieser bis nahe oder bis ganz zur Insertiousstelle der Stamina her-
anwachsen können, während in den langgriffligen Formen aus dem
gleichen Grunde die Fntfernung noch wesentlich verstärkt wird.
Aber festhalten wollen wir daran, daß die genotypische Kon-
stitution trotz dieser so verschiedenen Phänotypen doch eindeutig
bestimmt, ob die Antheren oder die Narbe in der Blüte höher
reichen. Eine willkürliche Umkehr gelang in diesem Falle nicht,
gelegentliche Funde, besonders oft z. B. bei Primula obcomica, bei
der auch genotypisch langgrifflige Formen kurzgrifflige Blüten auf-
2) Molisch ‚1918, p. 264) gibt an, daß blühende Individuen von Pr. sinensis
und obeonica, wenn sie aus vollem Sonnenlicht ins diffuse gebracht werden, niemals
ihre schon entwickelten Blütenknospen sich mehr öffnen lassen. In unseren Ver-
suchen gelang, wie im Text näher ausgeführt ist, das Öffnen der Knospen sogar
in völliger Dunkelheit, wenn sämtliche geöffneten Blüten entfernt waren. (Anm. b.
d. Korrektur.)
3) Herr Geheimrat v. Goebel hatte die Freundlichkeit mich darauf auf-
merksam zu machen, daß v. Vöchting selbst allerdings bei der von ihm nach-
gewiesenen Reduktion der Blumenkrone unter dem Einfluß der unzulänglichen
Lichtmengen weniger an rein trophische Ursachen, als vielmehr wohl noch an
kompliziertere Reizwirkungen gedacht hat. Sagt er doch ausdrücklich (p. 202)
„Aller Wahrscheinlichkeit nach handelt es sich hier noch um andere Dinge, als um
die Zufuhr bestimmter Nährstoffe“. (Anm, b. d. Korrektur.)
G. Tischler, Das Heterostylie-Problem. 467
wiesen, ließen meist eine stattgehabte sekundäre Entwieklungsstörung
der Fruchtblätter als Ursache erkennen (vgl. auch für unsere wild-
wachsenden Primeln besonders Breitenbach 1880).
Weit bedeutender noch war die Umgestaltung der Narben-
papillen. Anatomische Betrachtung hatte mir schon für Promudla
wie für Zythrum (Tischler 1918a u.b) gezeigt, daß die Papillen
als Endzellen von besonderen Reihen langgestreckter Zellen aus-
gebildet sind, die besonders für die Leitung von Nährstoffen in
Betracht kommen. Die Form der Epidermis ist hier offenbar osmo-
morphotisch bedingt (Küster 1916). Und speziell bei Zythrum
konnten wir feststellen. daß auch gewissen Epidermiszellen, die
ökologisch ganz ohne Bedeutung sind, ähnliche Papillenformen bei
starkem Nährstoffzufluß aufgezwungen wurden.
In den bei Lichtabschluß hungernden Individuen von Primula
fand sich nun, daß die Papillenlänge sich beträchtlich unterhalb
der normalen Größe entwickeln konnte. Trotzdem waren die Narben
‘offenbar befruchtungsfähig, wie das gelegentliche Hineinwachsen
von Pollenschläuchen bewies. Ich nahm zahlreiche Messungen von
Papillenlängen vor (immer je 25 aus einer Blüte) und stellte so
die Variationsbreite fest. Sie war bei den hungernden Individuen
weitgehend nach der Minusseite, ja im Extren selbst bei den lang-
griffligen unter die Variationskurve der normalen kurzgriffligen
hin, verschoben. Ich führe von meinen Messungen z. B. an
für Primula sinensis langgrifflig:
56, 60, 64, 64. 66, 66, 66, 67, 68, 69, 71, 75, 77, 78, 81,
82182, 83,.,91,.87,:90,,90,.95,101,-104.u;
für Primula sinensis kurzgrifflig:
34, 35, 35, 35, 39, 40, 41, 41, 41, 42, 42, 44, 44, 44, 45,
45, 4b, 45, 45, 47, 48, 53, 54, 54, 55 u.
Etiolierte langgrifflige P. sinensis hatte z. B. (bei stäuben-
dem Pollen), um einen extremen Fall herauszugreifen, in einer
Narbe Papillenlängen von
22. 23, 25 29.27, 29.30, 30,30, 30, 30, 30,31, 32, 83,
33, 34, 35, 35, 36, 36, 37, 38, 39, 40 u.
Noch ausgeprägter ist bei normalem Wachstum die Papillen-
(resp. „Haar“)-Differenz lang- und kurzgriffliger Formen für Primada
elatior; z. B. für ein langgriffliges Exemplar waren die Masse:
96, 120, 129, 135, 141, 150, 156, 162, 162, 165, 168, 171.
171, 174, 174, 174, 174, 177, 180, 180, 1*9, 189, 192, 210
(2zellig), 219 (2zellig) u.
Desgleichen für ein kurzgriffliges Exemplar:
33, 35, 35, 36, 36, 36, 37, 38, 38, 38, 38, 38, 40, 42, 48,
44, 44, 45, 45, 45, 47, 47, 47, 50, Bi u.
ker
sp
(02)
G. Tischler, Das Heterostylie-Problem.
In kleistopetal gebliebenen Blüten der langgriffligen Form,
die trotzdem schon stäubenden Pollen aufwiesen, ergab sich wieder
im Extrem z. B. die folgende Kurve:
27, 27, 28, 29, 30, 30, 31, 32, 32, 33, 33, 33, 33, 34, 34,
34, 35, 35, 36, 36, 36, 37, 38, 38, 38 u.
Kurzgrifflige Individuen, welche etioliert gehalten wurden,
hatten fast die gleiche Variationsbreite. Der Unterschied, der sonst
hier so sehr hervortrat, war also fast ganz verwischt; z. B.
27, 28, 29, 30, 30, 30, 32, 32, 32, 33, 33, 33, 33, 34, 34,
34, 34, 35, 35, 36, 37, 37, 38, 38, 39 u.
Im Prinzip gleiches zeigten auch die andern Primeln, die ich
auf das Verhalten der lang- und kurzgviffligen Formen hin ver-
gleichend untersuchte: die kurzgriffligen wurden weniger stark als
die langgriffligen in ihrer Papillenverkleinerung beeinflußt.
Also das von den Blütenökologen für Primula als charakte-
vistisch angesehene und anscheinend genotypisch bedingte Merkmal
des Unterschiedes in den Papillenlängen ist nur phänotypisch.
Für Lythrum kann man das feststellen, ohne besondere Ex-
perimente anzusetzen (Tischler 1918a): wir brauchen nur eine
genügende Anzahl von lang-, mittel- und kurzgriffligen Blüten auf
ihre Narbenpapillenlängen zu messen und wir sehen, daß der seit
H. Müller (1873) postulierte konstante Größenunterschied gar
nicht existiert. Es gibt kurzgrifflige Individuen, die aus der freien
Natur geholt, durchweg viel längere Papillen haben als manche
langgrifflige. An anderer Stelle (1918a, p. 183) gab ich nach
Material, das ich in Ostpreußen untersucht hatte, eine Tabelle, aus
der dies klar hervorging. Zählte ich die Summen der gemessenen
Papillen,aus allen 3 Formen zusammen, erhielt ich die folgende
Kurve, wobei jede Größenklasse um 2 „Teilstriche* von der vorher-
gehenden sich unterschied:
3, 27, 35, 43, 78, 50, 54, 28, 21,16, 5,
somit eine der binomialen ähnliche mit einem Hauptgipfel. Der
Nebengipfel von 54 tritt gegenüber der 7S stark zurück. Die Pa-
pillenlängen variierten dabei von 12-33 Teilstrichen, deren je zwei
7,15 «u voneinander entfernt waren.
Gar nicht mit der Narbenpapillenlänge ist ferner die Pollen-
korngröße korrelativ verknüpft. Der Unterschied der Pollenkörner
ist bei den beiden Formen von Primula, wie das schon die ersten
Untersucher sahen, sehr ausgeprägt. Für Pr. sinensis maß ich als
mittlere Durchmesser an lebendem Material 20—25 resp. 33—41 u,
für Pr. obconica desgleichen ca. 18 resp. 26 u, für die einheimischen
Primeln: Pr. elatior, offieinalis und acaulis 20—26 resp. 30—37 u.
Ein Versuch, diese Größenunterschiede ökologisch zu verwerten,
ging von Delpino aus (1867). Er glaubte, daß die größeren Körner
der langgriffligen Form auch wegen ihres größeren Zellinhalts
G. Tischler, Das Heterostylie-Problem. 469
längere Schläuche bilden könnten als die kleineren der kurzgrifi-
lıger und so besser an die längeren Griffel „angepaßt“ wären. Die
Hypothese vermochte aber nicht zu erklären, wieso denn auch die
größeren Pollenkörner auf den Narben der kürzeren Griffel weniger
gut auskeimten als die kleineren. Correns (1889) bewies ferner,
daß überhaupt das Tatsächliche an Delpino’s Hypothese falsch
war, weil beide Pollenformen in gleicher Zeit ungefähr gleich lange
Schläuche trieben, nur waren die aus den größeren Körnern her-
vorgehenden dicker als die aus den kleineren. -Jüngst hat auch
Dahlgren (1916) bei Nachuntersuchung der Correns’schen Resul-
tate ebenfalls die verschiedene Dicke der Pollenschläuche als ein-
zıgen Unterschied beobachtet.
Die Größendifferenzen der Pollenkörner werden ofienbar ent-
gegen denen der Narbenpapillen auch unter veränderten Außen-
bedingungen sehr weitgehend festgehalten. Wenigstens blieben sie
es unter der sehr extremen Nahrungsveränderung unserer Ver-
dunkelungsversuche. Außer tauben Körnern, für die die Nährstoffe
nicht mehr gereicht hatten, fand sich nämlich stets eine größere
Zahl von vollkommen normalen vor, welche ın ıhren charakteristı-
schen Größenunterschieden von denen der unbeeinflußt gewachsenen
Blüten in keiner Weise differierten. Wo wesentliche Störungen
von der Norm auftraten, da hatte der Pollen offenbar eine erst
noch genauer cytologisch zu prüfende Sonderentwicklung gehabt.
Denn wir sahen, vor allem bei Pr. sinensis, Riesenzellen, die gegen-
über einem durchschnittlichen normalen Durchmesser der langgrifi-
ligen Form von 20—25 u bis auf 43 oder 53 u angestiegen waren.
Irgend ein Parallelismus zwischen dieser Größenzunahme und der
gleichzeitigen Größenabnahme sämtlicher Narbenpapillen existierte
indes absolut nicht.
Aber ein anderes Problem fällt uns bei der morphologischen
Betrachtung der Pollenkörner von Prönaula noch auf. Wenn wir
etwa Dahlgren’s (1916) schöne cytologische Bilder von den
beiden Pollenkorntypen der Pr. officinalis miteinander vergleichen,
so sehen wir, daß der Pollen der langgriffligen Form deutlich
kleinere Kerne als der der kurzgriffligen hat. Sollte wirklich der
genotypische Unterschied dieser beiden Formen auch hier kon-
stante morphologische Differenzen bedingen? Dahlgren hat seine
Zeichnungen beı einer Vergrößerung von 1450 resp. 1300 ausge-
führt. Berücksichtigen wır das, so erhalten wir bei Nachmessungen
an den Figuren für
den größten Pollen: den kleinsten Pollen:
Gesamtdurchmesser 26,9 u (sesamtdurchmesser 16,5 u
vegetativ. Kerndurchmesser 6,9. vegetativ. Kerndurchmesser 3,1 u
generativ. Kerndurchmesser 3,3 «u generativ. Kerndurchmesser 2,7 u.
470 G. Tischler, Das Heterostylie-Problem.
Der vegetative Kern hat also das eine Mal mehr als doppelt
so großen Diameter als das andere Mal. Darum betonte ich (1918a
p. 169) die Notwendigkeit einer Nachuntersuchung, um so mehr als
Dahlgren seine Bilder ohne Rücksicht auf diese Frage gezeichnet hat.
Aber ich kann jetzt die Richtigkeit der Figuren des schwedischen
Autors nur bestätigen, wie z. B. folgende Messungen bei meinem
Material von Primula elatior ergeben:
Bei dem größten Pollen: Bei dem kleinsten Pollen:
Gesamtdurchmesser 26,4 u. Gesamtdurchmesser 15,4 u.
vegetativ. Kerndurchmesser 5,1 u. vegetativ. Kerndurchmesser 2,8 u.
generativ. Kerndurchmesser 3,6 «. generativ. Kerndurchmesser 2,4 u.
Und doch sind hierbei zufällig nur Extremvarianten gewählt.
In ganz demselben Material von stäubendem Pollen, der auf den
Narben ausgeschüttet war, konnte ich z. B. auch folgende Zahlen
finden:
Bei dem größten Pollen: Bei dem kleinsten Pollen:
(Gesamtdurchmesser 25,5 u. (Gesamtdurchmesser 16,6 u.
vegetativ. Kerndurchmesser 6,5 a. vegetativ. Kerndurchmesser 5,3 u.
generativ. Kerndurchmesser 3,4 u. generativ. Kerndurchmesser 2,7 u.
Das bedeutet aber, daß bei dem kleineren Pollen der vegeta-
tive Kern genau dieselbe Größe haben kann als anderswo bei dem
größeren. Auch für den generativen habe ıch noch Zahlenwerte
gesehen (hier waren gerade die zugehörigen vegetativen Kerne
offenbar nicht im größten Durchmesser getroffen), die auf 3—3,5 u
kamen, also denen des größten Pollens entsprachen*®).
Es wäre müßig, lange Zahlenreihen zu geben und die Varia-
tionsbreite exakt zu bestimmen. Die Hauptsache ıst ja für uns, daß
wir schon nach kurzem Suchen Zahlen bekommen, die aufs klarste
beweisen, daß die Kerngrößen zwischen den verschiedenen Pollen-
kornsorten nicht spezifische Unterschiede haben, also etwa nicht
alle größeren Pollenkörner immer größere Kerne besitzen als alle
kleineren. So aber sind wir berechtigt, von trophischen Unter-
schieden zu sprechen, ebenso wie das schon Dahlgren (1916)
wollte und Stevens (1912) für andere Heterostyle (Fagopyrum,
Houstonia) an Chromoscmengrößen ausführte. Bei Nicht-Hetero-
stylen sind manchmal die Pollenkörner einer einzigen Anthere
4) Merkwürdig ist, daß sowohl Dahlgren’s wie meine Messungen an fixiertem
Material für den stäubenden Primula-Pollen soviel kleinere Werte geben als wir
und andere an lebendem in Wasser liegendem Pollen maßen. Die Fixierungs-
flüssigkeit muß offenbar stark kontrahierend gewirkt haben. Ferner ist noch zu
unseren Messungen zu bemerken, daß die Zahlenwerte darum recht anfechtbar sind,
weil ich als idealen Durchmesser die halbe Summe von zwei aufeinander senk-
rechten Durchmessern wählte und die Kerne sich hier recht oft beträchtlich von
Kugeln entfernten. Die Zahlen dürfen also von vornherein nur als Annäherungs-
werte betrachtet werden.
G. Tischler, Das Heterostylie-Problem. 4
weit stärker in ihren Größenverhältnissen unterschieden. Das sah
ich sehr ausgesprochen s. Zt. bei Musa (Tischler 1910), aber auch
z. B. bei der Leguminosengattung Cassia.
Anders als Primula verhält sich Zythrum insofern, als hier ja
immer an einem und demselben Individuum zwei Sätze verschie-
dener Pollenkörner sich vorfinden (Tischler 1917 b). Dabei inter-
essieren die mittel- und kurzgriffligen Formen besonders, weil ın
ihnen sich die beiderlei Pollenkornsorten auch ın der Farbe und
chemischen Zusammensetzung ihrer Reservestoffe unterscheiden.
Die größten sind nämlich grün und führen dauernd, also bis zur
Reife, Stärke als Reservestoff, die mittelgroßen resp. kleinen sind
gelb gefärbt und besitzen die Stärke nur vorübergehend, um sie
dann zu einfachen Kohlehydraten abzubauen und ın Fett überzu-
führen. Ich wies diese bisher völlig unbekannt gebliebene Tatsache
ausnahmslos an Individuen ganz entfernter Standorte ın Braun-
schweig, Ostpreußen und Württemberg nach.
Die gelben Pollenkörner sind gegenüber den grünen als durch
„Hemmungsbildung“ entstanden aufzufassen, etwa im gleichen
Sinne, wie auch ın kleistogamen Blüten (v. Goebel 1904) einzelne
Teile gehemmt sind und doch ın mancher Beziehung „vorgeschritten*
erscheinen. Denn die chemische Umsetzung der Stärke ın Fett ıst
verglichen mit dem Beharren auf dem Stärkestadium eine ent-
schiedene Stoffwechselförderung. Es ließ sich zeigen, daß die
sroßen das Stärkestadium festhaltenden Pollenkörner eine besonders
starke Nährstoffzufuhr besitzen, denn gegenüber den Zufuhrwegen
zu dem Fettpollen sind die Leitungsbahnen in den Filamenten hier
erheblich stärker ausgebildet und speziell die Zahl der Gefäße
resp. Tracheiden ıst auf das 3—4fache erhöht. Daß es sich um
einfache Modifikationen des Pollens handelt, zeigt auch wieder die
Betrachtung der 24 haploiden Chromosomen resp. der Kerne. Diese
sind nämlich ın beiden Pollenkornsorten von ziemlich gleicher
Größe, wie folgende willkürlich herausgegriffene Beipiele beweisen
mögen (Tischler 1918a, p. 165): Es handelt sich im nachfolgenden
um Pollen einer mittelgriffligen Form.
Bei den größten Stamina:
I. Durchmesser des Pollens 34 u.
Durchmesser des vegetativen
Kerns 5,5 «.
Durchmesser des generativen
fe)
Kerns 4,5 u.
II. Durchmesser des Pollens 33,2 u.
Durchmesser des vegetativen
Kerns 6,2 u.
Durchmesser des generativen
Kerns 4,9 u.
Beı den kleinsten Stamina:
Durchmesser des Pollens 18,5 u.
Durchmesser des vegetativen
Kerns 5,4 u.
Durchmesser des generativen
Kerns 3,9 u.
Durchmesser des Pollens 18 u.
Durchmesser des vegetativen
Kerns 6,3 u.
Durchmesser des generativen
Kerns 4,5 u.
472 G. Tisehler, Das Heterostylie-Probleni.
Ill. Durchmesser d. Pollens 32,8 u. Durchmesser des Pollens 17,5 u.
Durchmesser des vegetativen Durchmesser des vegetativen
Kerns 5,4 u. Kerns 4,5 u.
Durchmesser des generativen Durchmesser des generativen
Kerns 4,1 u. Kerns 3,3 u.
Die Massenzunahme der größeren Pollenkörner ist also ım
wesentlichen auf den Zellinhalt außerhalb der Kernsubstanz zurück-
zuführen. Aber wir sehen doch auch wieder zwischen den Kernen
Unterschiede von 3,3—4,9 u für die generativen, von 4,5—6,3 u für
die vegetativen Kerne.
So eigenartig also auch die Sonderung des Lythrum-Pollens sein
mag, mit dem Heterostylieproblem direkt hat sie nichts zu tun.
Insbesondere darf auch die Tatsache, daß der Stärkepollen bei
Lythrum in etwas höherer optimaler Zuckerkonzentration keimt als
der Fettpollen (Pfundt 1910), nicht mit’der „legitimen“ oder „illegi-
timen“ Bestäubung und ihrer Folgen in direkten Zusammenhang
gebracht werden. Denn gleich bei Prömula fehlen derartige Unter-
schiede ganz. Auch die nahe verwandte Gattung ZLagerstroemia
zeigt ebenfalls eine Differenzierung in verschieden gefärbten Pollen
innerhalb einer und derselben Blüte und dabei keine Heterostylie.
Zudem können bei einzelnen ihrer Spezies wie bei ZL. indica, bei
der das schon Darwin (1865, p. 177) sah, an Stelle der normalen
fünf langen Staubblätter, deren Antheren grünen Pollen besitzen,
und der 19—-20 kürzeren mit gelbem Pollen, auch nur 1-4 lange
Stamina dasein, und in ihnen kann der grüne Pollen ganz oder
'zam Teil durch gelben ersetzt werden. „One anther offered the
singular case of half, or one cell being filled with bright green,
and the other cell with bright yellow pollen.“ Und Harris (1909)
fand bei einer Untersuchung nach variationsstatistischen Methoden
in den einzelnen Jahren größere Differenzen, was auch auf Ab-
hängigkeit von äußeren Einflüssen hindeutet.
Die Heterantherie von Zythrum und Lagerstroemia ist somit
eher der bei der Capparidacee (leome zu vergleichen, die ich im
Südarabien zu untersuchen Gelegenheit hatte, oder der der Legu-
minose Crssia, die ich in Java und Ostafrika studierte (Tischler1917b).
Die mannigfachen Abstufungen auch in der Tauglichkeit des Pollens
für die Befruchtung, die wir kausal aufzuhellen uns bemühten und
die mit der Heterantherie speziell bei Cassia verknüpft sind, haben
manche ökologische Deutung erfahren, aber mit unserem zur Dis-
kussion stehenden Problem hängen sie sicher nicht zusammen’).
5) In diesem Zusammenhange darf ich vielleicht noch besonders auf die Be-
funde vonBurck (1902) hinweisen, wonach bei der „didynamen“ Torenia Fournieri
die kleinen Staubblätter normal geschlossen bleiben und bei der Reife einen Pollen
enthalten, der wasserreicher ist, als der aus den sich öffnenden Antheren der langen
G. Tischler, Das Heterostylie-Problem. 473
So wäre denn auch Zythrum mit Primula direkt vergleichbar
und die genotypischen Unterschiede der verschiedenen Blüten-
formen sind äußerlich nicht mit der Differenzierung in zweierlei
Pollensorten in Zusammenhang zu bringen.
Es mußte eigentlich schon stutzig machen, daß immer nur von
Größenunterschieden der Pollenkörner bei den verschiedenen Formen
der Heterostylen gesprochen und daß in den Fruchtblättern nur
auf die Narbenpapillen Bezug genommen wurde. Man hätte von
vornherein erwarten können, daß auch die Samenanlagen resp. die
Embryosäcke entsprechende Unterschiede zeigen müßten. Diese
Frage ist von Dahlgren (1916) noch speziell für Primula, von
mir (1917a) für Zythrum verfolgt worden mit dem Resultat, daß
hier sehr weitgehende Größendifferenzen innerhalb eines einzigen
Fruchtknotens, nicht aber zwischen den verschiedenen Formen vor-
handen sind. Hier trıtt der trophische Charakter des Ganzen ohne
weiteres zutage.
Wie die anderen Heterostylen sich verhalten, muß noch näher
untersucht werden. Schon Darwın (1877) wies darauf hin, daß
hier die für Primula und Lythrum gegebenen Beziehungen zwischen
Pollenkorn- und Narbenpapillengröße nicht zuzutreffen pflegen.
So hat Linum grandiflorum (p. 71) ın beiden Blütenformen gleich
große Pollenkörner und eine sehr ausgesprochene Variabilität der
Papillenlänge’ (p. 220). So hat Linum perenne (p. 79) keine Diffe-
renzen in der Größe der Narbenpapillen, dagegen variiert der
Pollen sehr an Größe; auch bei Polygonum Fagopyrum (p. 97) oder
Pulmonaria officinalis (p. 98) sind die Narben beider Formen an-
nähernd gleich beschaffen. (Siehe auch die Zusammenstellung bei
Darwin p. 216.)
Entwicklungsgeschichtlich ist ın Hinsicht auf das Heterostylie-
Problem in neuester Zeit wohl nur Pulmonaria kurz untersucht
worden. Herr Kollege Bally-Basel schreibt mir nämlich, daß er
diese Pflanze vor einigen Jahren studiert und seine Resultate in
einem Resume (1909) eines s. Z. gehaltenen Vortrages niedergelegt
habe. Die wichtigste von ıhm gefundene Tatsache ist folgende:
„Die kurzgrifflige Form ist in jugendlichen Zuständen langgrıfflig
Staubblätter. Diese Differenz im Wassergehalt ist nun für die seismonastisch reiz-
baren Narbenlappen insofern von Wichtigkeit, als der trocknere Pollen der größeren
Staubblätter den Zellen so viel Wasser bei der Bestäubung zu entziehen vermag,
daß das normal sonst bald eintretende Wiederöffnen der Narbe dauernd verhindert
wird. Wird der Pollen aus den größeren Staubblättern vorher befeuchtet, so ver-
hält er sich wie der aus den kleineren, und die Narbe kann sich nach Belegen
mit ihnen bald wieder öffnen. Läßt man umgekehrt den Pollen aus den kleineren
Staubblättern an der Luft trocknen, so hat er die nämlichen Wirkungen wie sonst
der aus den größeren. Ein Unterschied bezüglich der Betruchtungstüchtigkeit be-
steht aber zwischen den beiden Pollensorten nicht. (Vgl. auch die allerdings etwas
zu kurze Darstellung bei Jost 1908, p. 617.)
38. Band 34
414 G. Tischler, Das Heterostylie-Problem.
und die Kurzgriffligkeit kommt nicht durch ein Zurückbleiben im
Wachstum des Pistills, sondern durch ein stärkeres Wachstum der
Krone und der weiter oben an der Krone inserierten Stamina. zu-
stande.“®) Wir sehen somit ähnlich, wie wir das bei Primula fanden,
daß das Blumenkronwachstum für den Grad der Heterostylie der
wichtigste Faktor sein kann. Eine experimentelle Beeinflussung
des Phänotypus ist damit auch hier durchaus wahrscheinlich ge-
worden, genau wie wır das bei Primula erreichten.
Was bleibt nun noch von dem Heterostylie-Problem übrig,
nachdem wir die morphologischen Daten als relativ unwesentlich
erkannt haben? Sehen wir doch den Grad der Heterostylie ebenso
leicht “modifikabel wie die Länge der Narbenpapillen, wenn auch
nicht damit in korrelativer Verknüpfung ım Sinne der Blütenöko-
logen, und sehen wir doch auch, wie die Pollenkörner ein von
beiden ganz unabhängiges Verhalten zeigen. Es bleibt einmal
neben der Tatsache, daß überhaupt unter gleichen äußeren Faktoren
genotypisch bedingte ungleich große Filamente resp. Pollenkörner
und Griffel bei den verschiedenen Formen existieren (obgleich dies
ökologisch überschätzt wurde), das Faktum, daß der Pollen bei
Kreuzbefruchtung besser keimt als bei Autogamie, und es bleiben
die bereits von Darwin erkannten Funde, daß bei eventueller
Selbstbefruchtung die Nachkommen schwächlicher sind als bei
Kreuzbefruchtung’).
Aber beides kennen wir auch von Nichtheterostylen, also
„brauchte“ eigentlich eine Heterostylie nicht vorhanden zu sein.
Durch die partielle Selbststerilität wäre der von der Natur „ange-
strebte Zweck“ (im Sinne der Teleologen gedacht) ja schon ge-
nügend gewährleistet gewesen. Der unter normalen Außenfaktoren
so scharf ausgeprägte phänotypische Dimorphismus ist also wie
wohl die meisten anderen Blütenanpassungen nur als „Luxus-
anpassung“ zu bewerten und kann darum kaum selektionistisch,
auch nicht im Sinne der neueren Homomerie-Erklärung (Plate 1913,
p. 169, Ziegler 1918) herangezüchtet sein. Wir erfahren schon
von Darwin, daß bei Zythrum die beiderlei Pollenkornsorten einer
und derselben Blüte nicht in gleicher Weise für die Selbstbefruch-
tung unwirksam sind. Und wir dürfen daraus schließen, daß in
6) Auch für Oxalis floribunda machte sich nach Bally der tristyle Charakter
erst kurze Zeit vor dem Aufblühen bemerkbar, also genau wie das nach Breiten-
bach’s (1880) und unseren Funden (Tischler 1918b) bei Primicla und nach seinen
eigenen Daten bei P’ulmonaria zu beobachten ist.
7) In der Übersetzung von Carus findet sich (p. 133) hierbei ein sinn-
störender Druckfehler; es muß beiIV „illegitime Verbindungen“ heißen: „15 Blüten
mit den längsten Staubfäden der kurzgriffligen Form befruchtet“. Dafür steht
„mittelgriffligen“. Ich erwähne das besonders, weil Kny (1880, p. 155) diesen
Druckfehler in die Erklärung zu seinen Wandtafeln mit übernommen hat.
”
@. Tischler, Das Heterostylie-Problem. 475
ihnen ein in verschiedenem Grade ausgebildeter Chemismus ent-
standen ist, der einer erfolgreichen Selbstbefruchtung entgegen-
wirkt. Mit anderen Worten, diese Chemismen bei Zythrum sind
nur als Modifikationen und somit nicht in gleichem Sinne wie bei
Correns’ (1912) selbststerilen Cardamine-Individuen zu denken,
wo sie für die Pollenkörner aller Antheren eines homozygoten
Individuums gelten. Eher würde hiermit schon der monomorphe
Primula-Pollen übereinstimmen können. Für ZLythrum würde
Jost’s (1907) Hypothese bis auf weiteres zur Erklärung des Illlegi-
timitätsproblems genügen, daß in den verschiedenen Griffelformen
nur verschiedene Konzentrationen eines und desselben Stoffes vor-
handen wären. Sie könnten ja z. B. in ähnlicher Weise durch die
verschiedene Wasserversorgung mit beeinflußt sein wie die Ver-
sorgung des Pollens mit Reservestoffen bei Zythrums Und würde
in diesem Sinne ein Verständnis für letztere Gattung erreicht werden;
so wäre nach Analogie zu erwarten, daß auch bei den heterostylen
Individuen mit monomorphem Pollen ähnliche Quantitätsdifferenzen
zwischen den Körnern der verschiedenen Formen vorhanden wären,
um so mehr als bei manchen von ihnen, wie gerade bei Primula,
der Grad der Fertilität bei Autogamie noch ein beträchtlich höherer
ist als bei Zythrum. Sehr interessant und vielleicht mit unserem
Falle vergleichbar sind die Angaben Baur’s (1917, p. 301), daß ge-
wisse Sippen von Antirrhinum latifolium, A. tortwosum u. a. ım
ersten Lebensjahr selbststeril, im zweiten selbstfertil sein können.
Untersucht sind aber nach Baur diese Dinge noch sehr wenig.
Die Betrachtung des Heterostylie-Problems kann uns ein be-
sonders instruktives Beispiel dafür sem, daß morphologisch kon-
struierte Ökologismen nur für ganz zufällige Außenbedingungen
zu gelten brauchen. Für die Entstehung der Ökologismen, für
welche Reinke (1915) ın seinen programmatischen Forderungen
neuerdings experimentelle Klarlegung verlangt, muß in jedem
einzelnen Falle festgestellt werden, ob bei Veränderung der
Außenbedingungen ein Erhaltenbleiben des ypostulierten nütz-
lichen Zusammenwirkens der Organe besteht oder nicht. Nur so-
fern dies tatsächlich zu beobachten ist, und sofern der Nutzen des
Ökologismus experimentell beweisbar erscheint, dürfen wir von
primären Zweckmäßigkeiten reden. Solche primären Ökologis-
men sehe ich z. B. in dem genotypisch bedingten Auftreten ge-
wisser physiologisch-chemischer Schutzmittel, wie sie Stahl (1888)
zuerst experimentell feststellte (s. a. die neuesten daran anknüpfen-
den Forschungen von Benecke 1918), solche kann man auch un-
bedenklich annehmen, wenn das Variieren der Struktur ın einer
Weise konform den Außenbedingungen geht, daß wieder eine neue
/Jweckmäßigkeit entsteht. Auch hier verdanken wir Stahl-(1885)z. B.
bei der Aufhellung der Modifizierbarkeit der Struktur der Laub-
38
476
blätter in verschiedenen Sonnen- und Schattenformen mit die ersten
experimentellen Daten.
Ich bin aber schon jetzt der Überzeugung, daß speziell die
meisten der von den Blütenbiologen aufgefundenen Ökologismen
primäre nicht darstellen. Für die kleistogamen Blüten hat es be-
kanntlich als erster v. Goebel (1904) gezeigt. Hier handelt es
sich um reine Hemmungsbildungen, welche sich experimentell her-
vorrufen lassen. Und v. Goebel’s Schülerin Helene Ritzerow
(1908) hat uns noch manche wertvollen Einzelheiten über den Bau
und die Befruchtung solcher Blüten geschildert. Von einem
„gegenseitigen Anpassen“ zwischen Blume und Tier dürfte man
eigentlich auch nicht sprechen‘) oder doch höchstens in dem Falle
der Selektion bei der hier erst noch zu beweisenden Homomerie
(Plate 1913, Ziegler 1918), wenn eine gewisse Organisationshöhe
einmal erreicht war. Nur hier könnten die Insekten als „unbe-
wußte Blumenzüchter“ betrachtet werden, während die ganze Ent-
wicklungsrichtung der Blüte, die schon bis zu dieser Höhe einge-
schlagen war, wohl sicherlich nicht vom Tier abhing. Vielmehr
haben sich aller Wahrscheinlichkeit nach die Blüten unabhängig
von den Bestäubern entwickelt wie es ıhr Idioplasma, ihre spezi-
fische Struktur (Klebs) und die auf sie einwirkenden klimatischen
Außenfaktoren forderten. Die Insekten suchten darauf, was sie
erreichen und verwerten konnten, zur Nahrung zu nehmen. Genau
wie wir nicht mehr von einer Anpassung der Pflanzen an Ameisen
(bei Cecropea, Hydnophytum ete.) sprechen, genau so, wie wir nicht
sagen, unsere Kulturpflanzen haben sich an den Menschen angepaßt
(höchstens könnte man hier gewisse Sekundärerscheinungen, wie
Schwächung des Fortpflanzungsvermögens oder ähnliches ın diesem
Sinne deuten), so auch bei den Blüten und Insekten. Und nur so
darf wohl Primula als Typus einer „Hymenopteren-Blume“ angesehen
werden, während Zythrum dagegen sich noch auf einer „niederen
Anpassungstufe“ befindet und als eine Blume mit „vollständig ge-
borgenem Nektar“ von zahlreichen Insekten aus den verschiedensten
Klassen bestäubt wird (v. Kirchner 1911). Freilich eın Unter-
schied wäre noch der, daß bei dem Verhalten zwischen Pflanze
und Ameise sowie zwischen Pflanze und Mensch den Pflanzen kein
direkter Nutzen erwächst, dagegen durch die Bestäubung für sie
ein solcher in der Tat vorliegt. Aber selbst hier könnte man ebenso-
gut von unzweckmäßiger Ausbildung der Blüte wie von zweck-
mäßiger sprechen, wenn durch die immer komplizierter werdende
Form der Blütengestaltung eine mehr oder weniger große Kon-
8) Man vergleiche auch die interessanten erst vor Kurzem in dieser Zeitschrift
veröffentlichten Ausführungen von Schanz (1918, p. 290), der in den Blütenfarben
Sensibilisatoren sieht, die auf den Chemismus der Blüte entscheidende Einwirkung
haben. (Anm. b. d. Korrektur.)
re
EEE ENTER NIE ENT)
Er:
& Tischler, Das Heterostylie-Problem. 477
kurrenz von Bestäubern ausgeschlossen und dadurch der Kreis der
möglichen Blütenbesucher immer mehr verringert wurde. Denn die
Chancen der Befruchtung wurden so immer mehr und mehr auf
eine einzige Besucherspezies gestellt und das würde den Artentod
bedeuten können, wenn dieses einzige besuchende Tier aus der
Gegend verschwände.
So könnte, ganz nüchtern angeschaut, wie es schon Gaston
Bonnier (1878, 1884) tat, sich die Blütenökologie von einer den
Lamarckismus herausfordernden Betrachtungsweise zu einer moder-
nen Disziplin entwickeln, welche auch die für gewöhnlich nicht
berücksichtigten Entfaltungspotenzen in Rechnung zieht.
Valentin Häcker (1918). hat vor kurzem ın seiner „Phäno-
genetik* gefordert, die einzelnen phänotypisch sich zeigenden Merk-
male rückwärts auf ihre Entstehung hin zu verfolgen. Das müßte
speziell für die Blütenmerkmale unter Variation der Außenfaktoren
geschehen, wie wir das oben für Primula begannen. Außer den
bekannten älteren Autoren wie v.Sachs, v. Vöchting, v. Goebel
und Klebs hat namentlich Gün'thart (s. 1917; hier auch die histo-
rische Übersicht p. 159ff.) in letzter Zeit einige Vorarbeit in dieser
Richtung geleistet. Durch solche Studien erst wird die Blüten-
biologie aus ihrer zumeist einseitig betriebenen teleologischen Frage-
stellung heraus und einer Kausalanalyse zugeführt werden.
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Die geschlechtliche Fortpflanzung der deutschen
Süfswasserpolypen.
I. Beobachtungen an natürlichen Populationen.
Von Eduard Boecker, Treptow-Berlin.
Unsere Kenntnisse von Auslösung und Verlauf der Geschlechts-
perioden der deutschen Süßwasserpolypen sind durch die von
1906 bis 1911 aus dem Münchener Zoologischen Institut veröffent-
TEEN ETRGEN
480 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen 'Süßwasserpolypen.
lichten Arbeiten vonR Hertwig(1), Krapfenbauer (2), Frisch-
holz (3), und Koch (5) wesentlich bereichert worden. Für die von
den genannten Autoren untersuchte Aydra fusca L. konnte mit
Sicherheit nachgewiesen werden, daß sie nur bei niedrigen Wasser-
temperaturen, wie sie sich ım Freien bei uns gewöhnlich im Ok-
tober oder November einstellen — nach Frischh olz bei ca. 10°C: —
geschlechtsreif wurde. Von extremen Hungerzuständen abgesehen
ist der Eintritt der Geschlechtsreife in bei geeigneter Temperatur
gehaltenen Kulturen von dem Maße der Fütterung unabhängig. Der
Ernährungszustand erwies sich nur insofern von Bedeutung, als in
einer reichlich mit Futtertieren versehenen Zucht ein größerer
Prozentsatz der Individuen geschlechtsreif wurde, und auch die
durchschnittliche Anzahl der gebildeten Hoden oder Eier größer
war als ın mäßig oder gar nicht gefütterten. Hungerzustände oder
Schwankungen in der Ernährung allein waren dagegen ungeeignet,
die Entstehung von Geschlechtsprodukten hervorzurufen. Außer-
dem verhielt sich Hydra fusca, soweit sie gezüchtet wurde, streng
gonochoristisch, sowohl an den einzelnen Individuen als auch hin-
sichtlich der gesamten Knospungsnachkommenschaft eines zur Er-
zielung einer Kultur isolierten Stammtieres. Frischholz (3) fand
ferner, daß die von ihm beobachtete Hydra grisea L. nur bei
warmer, sommerlicher Wassertemperatur geschlechtsreif wurde und
sich somit auch biologisch von der H. fusca L. unterschied. Im
‚übrigen waren hier die Untersuchungsergebnisse aber nicht so auf-
klärend wie bei der fusca, so daß sich Koch (5) mit der Schluß-
folgerung begnügte: „wahrscheinlich werden weibliche grisea selbst
nie wieder männlıch.“
Frischholz (4) hat bereits dargetan, daß die meisten älteren
Autoren H. fusca bei kühler Wassertemperatur oderim Herbst und
Winter, grisea dagegen bei warmer oder ım Sommer geschlechts-
reif werden sehen. Die wenigen hiervon abweichenden Mitteilungen
dürften auf die lange Zeit unsichere Nomenklatur der Hydren oder
auf irrtümliche Artdiagnosen zurückzuführen sein; nicht selten fehlt
übrigens die Angabe, ob die Beobachtung im Zimmeraquarıum oder
an ım Freien frisch erbeutetem Material geschah. Auffallend ist,
daß Hanel (6) berichtet, im Juli während der heißesten Jahreszeit
geschlechtsreife fusca gefunden zu haben. Hierbei dürfte es be-
langlos sein, ob die Beobachtung an frisch im Freien gefangenen oder
an im Aquarium gezüchteten Exemplaren stattfand, da in beiden
Fällen wohl kaum die niedrige Temperatur, wie sie in den Münchener
Versuchen erforderlich war, vorgelegen haben kann. — M. Nuß-
baum (7) kommt 1909 auf Grund von umfangreichen Kulturver-
suchen zu dem Schluß, daß die Geschlechtsperioden der Hydren
durch Schwankungen in der Ernährung hervorgerufen werden; den
Temperaturverhältnissen wird nur sekundäre Bedeutung zugesprochen.
2
E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 481
Wie aber schon von anderer Seite betont wurde, ist diese Arbeit
Nußbaum'’s durchaus nicht geeignet, die im Münchener Zoologi-
schen Institut gewonnenen Resultate zu beeinträchtigen; seine un-
übersichtliche Darstellungsweise und eigenartige Versuchsanordnung
— es wurden zeitweise verschiedene Aydra-Arten 'gleichzeitig ın
einem gemeinsamen Aquarium beobachtet — wirken wenig über-
zeugend.
Scheinen wir nun so über die auslösende Ursache der Ge-
schlechtsperioden bei den nicht grünen Hydren zur Genüge unter-
richtet zu sein — und das Gleiche ließe sich auf Grund der Arbeiten
von Laurent(8), Brauer(9) u. a. von dem Verlauf der Geschlechts-
perioden sagen — so bieten sich der näheren Betrachtung doch
nicht wenige Gesichtspunkte, die eine weitere Bearbeitung des vor-
liegenden Themas wünschenswert erscheinen lassen. So bedarf
z. B. die Frage, ob und inwieweit unbeschadet der Erforderlichkeit
einer bestimmten Temperatur noch andere Zustände und Bedingungen
an dem Zustandekommen der Geschlechtsreife mitwirken, der Auf-
klärung. Was wir hierüber wissen, beschränkt sich im Grunde auf
die Beobachtung, daß in gut gefütterten Kulturen ein größerer
Prozensatz der Hydren Hoden oder Eier produziert als in mäßig
oder gar nicht mit Futtertieren versehenen, und daß auch die durch-
schnittliche Menge der erzeugten Geschlechtsprodukte pro Indivi-
duum in ersterem Fall größer ist. Fast stets bleibt aber — und
das verdient Beachtung — ein Teil der unter völlig gleichartige
Bedingungen gesetzten Polypen geschlechtlich durchaus steril. In
kleineren Kulturen, die aus nur wenigen, erst kurz vorher durch
Knospung aus dem gleichen isolierten Stammtier entstandenen, eng
miteinander verwandten und darum wohl gleichartiger reagierenden
Individuen bestehen — und solche Kulturen wurden bei den bis-
herigen Versuchen meist benutzt —, erreicht der Prozentsatz der
geschlechtsreif werdenden Hydren bisweilen eine Höhe, die dem
im Freien beobachteten Verhältnis (s. w. u.) nicht entspricht. Koch (5)
hat vermutet, daß die trotz geeigneter Temperatur geschlechtlich
steril bleibenden Polypen unter einer latenten Depression ständen,
also wohl, wenn auch nicht äußerlich sichtbar, kränklich wären. Es
wäre aber ebenso gut denkbar, daß das individuelle Alter (seit der Los-
lösung des Individuums vom Muttertier) oder die Anzahl der Kno-
spungsahnen von dem aus dem befruchteten Ei entstandenen Stamm-
tier her oder andere bisher unbekannte Umstände hierbei eine Rolle
spielen könnten. Man kann m. E. schwer umhin, ın dem sogenannten
Depressionszuständen etwas anderes als die Folgen der unnatür-
lichen Beschränkung der Polypen aufdie Enge des Kulturglases (Be-
einträchtigung durch eigene Stoffwechselprodukte und dergleichen)
oder von Kunstfehlern (zu starke Belichtung, schroffer Temperatur-
wechsel u. s. w.) zu erblicken. Frisch erbeutete Hydıren weisen zwar
are an N ee a E En MLN San ine DE Sa
DE Bar u Te
> 5 ö g Fer ie ’
“
482 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen.
auch nicht selten Veränderungen auf, die wie Depressionserschei-
nungen imponieren; man findet in Zerfall begriffene und verkürzte,
an den Enden leicht verdickte Tentakel u. s. w. Eine genaue Be-
obachtung lehrt jedoch, daß es sich in solchen Fällen lediglich um
Ramponierung oder Verwundung beim Fang handeln kann, deren
Folgen bald wieder repariert werden, wenn die Tiere den in den
Fanggläsern meist vorliegenden biologischen Mißständen, die natür-
lich nachträglich eine Depression hervorzurufen vermögen, recht-
zeitig entzogen werden. Und so spricht der Umstand, daß auch
im Freien in einer geschlechtsreifen Population stets nur ein Teil
der Individuen Geschlechtsprodukte aufweist, nicht eben dafür, die
Ursache dieser Erscheinung allgemein ın jenen krankhaften Zu-
ständen zu suchen. Krankhafte Hemmungen scheinen mir eher
in jenen Fällen vorzuliegen, wo ganze Kulturen trotz entsprechen-
der Behandlung ın der Hervorbringung von Geschlechtsprodukten
versagen.
Nußbaum (7) hat in seiner schon erwähnten Arbeit die Be-
hauptung aufgestellt, daß männliche Hydren durch äußere Einwir-
kung zu weiblichen umgewandelt werden könnten und umgekehrt;
ferner beobachtete er in seinen Aquarien, die anfangs Zwitter ent-
hielten, bei reichlicher Ernährung nur Eibildung: bei schwächerer
Fütterung traten ausschließlich Individuen mit Hoden auf. Auch
diese auf unzulängliche Versuchsanordnung zurückzuführenden An-
gaben sind nicht unwidersprochen geblieben, neuerdings noch von
seiten Schulze’s (10). Nach den verdienstvollen Untersuchungen
des letzteren ist anzunehmen, daß sich die alte Streitfrage der ver-
meintlichen Umwandlung hermaphroditer Hydren ın gonochoristische
— von durch extreme Lebensbedingungen, z. B. Hungerzustände,
hervorgerufenen Sonderfällen abgesehen — nach künftiger gründlicher
Durcharbeitung und systematischer Festlegung der Hydren vom
Habitus der yrisea erledigen wird. Die Verwendung eines beobachteten
Hermaphroditismus oder Gonochorismus als Artmerkmal ist vor-
läufig nicht gerechtfertigt. Seitdem R. Hertwig (1) betonte, daß
wir hierfür noch zu wenig wüßten, ob die eine oder die andere
Geschlechtsform zu den ımmanenten Artcharakteren gehört oder
ob nicht vielleicht jede von ihnen je nach den Lebensbedingungen
bei einer und derselben Art vorkommen kann, hat sich wenig ge-
ändert. Eine gewisse Ausnahme davon macht höchstens die viel
bearbeitete FH. fusca L. Daß diese Art sich am Individuum und
hinsichtlich der Gesamtheit der Knospungsnachkommenschaft eines
selbst durch Knospung entstandenen Stammtieres streng gono-
choristisch verhält, kann ich, wie vorweggenommen sei, auf Grund
von Funden und Kulturversuchen bestätigen. Damit ist aber noch
nicht gesagt, daß auch in der gesamten Nachkommenschaft einer
aus dem Ei entstandenen H. fusca nur ein Geschlecht vertreten
ar EN 5 0 m, EEE N FABE aa
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E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 485
sei. Versuche, die hierüber Aufklärung schaffen würden — Züch-
tung vom Ei her bis zur Geschlechtsreife der Nachkommen unter
Erhaltung möglichst aller Individuen — liegen bisher nicht vor.
Ausgesprochen ungenügend sind unsre derzeitigen Kenntnisse
von dem biologischen Bedingungskomplex der Geschlechtsperioden
bei der grünen Hydra. Die einzige vorliegende Arbeit bezieht sich
auf eine nordamerikanische Form, und ob die Arten des neuen
Kontinents, wie es bisher so oft geschehen ist, so ohne weiteres
mit unsern einheimischen identifiziert werden können, erscheint
sehr fraglich.
Wenn ich nun die Mitteilung meiner Untersuchungen zu dem
vorliegenden Thema im folgenden zunächst mit Beobachtungen
an frisch im Freien erbeuteten Hydren einleite, so bin ich mir
wohl darüber klar, daß dieser Teil nicht viel Neues bringt. Aber
einerseits wird über Befunde von wilden geschlechtsreifen Hydren
in der Literatur meist nur nebenher und gelegentlich berichtet,
wobei dann vielfach die Angabe, ob in einer Kultur oder ım Freien
beobachtet, an Genauigkeit zu wünschen übrig läßt, und anderer-
seits fehlen ausführlichere Mitteilungen über fortlaufende Beobach-
tungen an einer und derselben Population noch ganz. Bei den
vielen unkontrollierbaren Einflüssen, denen eine im engen Glas ge-
züchtete Hydrenkulturtrotz Beachtungaller Erfahrungen der Aquarien-
praxis unterliegt — Einflüssen, die unter natürlichen Verhältnissen
nicht im gleichen Maße oder überhaupt nicht einwirken mögen, er-
scheint eine eingehende Berücksichtigung des Auftretens und des
Verlaufes der Geschlechtsperioden ın der freien Natur zur Erzielung
eines einwandfreien Endergebnisses unbedingt geboten. Das Er-
gebnis der Untersuchung eines komplizierten biologischen Vorganges
wie des in Frage stehenden kann im übrigen nur dann befriedigen,
wenn es sich auf möglichst viele, sei es auch unscheinbare, Einzel-
beobachtungen stützt.
Unter dem Einfluß des als feststehend betrachteten Dogmas,
daß es nur drei oder vier Aydra-Arten gäbe, hat man sich bisher
ım allgemeinen damit. begnügt, unter gelegentlicher Kontrollierung
der Nesselkapseln nicht grüne Hydren, die keinen scharf gesonderten
und histologisch differenzierten Stiel besaßen und einen bestimmten
Entstehungsmodus für Knospen und deren Tentakel aufwiesen, auf
Grund dieser Merkmale als Hydra grisea L. oder vulgaris P. zu
diagnostizieren. Nachdem nun Schulze (10) wahrscheinlich gemacht
hat, daß mehrere verschiedene Arten vom allgemeinen Verhalten
und Aussehen dieses Typus existieren, besteht die bedenkliche Mög-
lichkeit, daß ein großer Teil der bisher von der anscheinend ein-
heitlichen Hydra grisea = vulgaris mitgeteilten Beobachtungen sich
in Wirklichkeit auf ein als solches unerkannt gebliebenes Gemisch
von verschiedenen Arten bezieht und darum nur bedingte Gültig-
a bi RN i
484 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Sabrasernalyren:
keit besitzt. Aus diesem Grunde möchte ich von der Veröffent-
lichung meiner älteren H. grisea-Funde Abstand nehmen und mich
auf die Mitteilung eines unter Benutzung aller zur Verfügung stehen-
der Merkmale sichergestellten Falles beschränken. Bei dem H.
fusca-oligactis-Material bestanden derartige Bedenken nicht, da ich
diese Art sehr häufig auf ihre Nesselkapselverhältnisse untersucht
habe, und zudem ein großer Teil der erbeuteten Populationen zu
genau beobachten Zählkulturen verwendet wurde. Die Brauer’-
sche H. polypus habe ich bisher nicht gesehn.
Im übrigen werde ich mich künftig an Stelle der bisher mit
Rücksicht auf die besprochene Literatur benutzten ‚älteren Nomen-
klatur der von Schulze (10) neu eingeführten Gattungsnamen be-
dienen. Daß die drei Gruppen Hydra, Pelmatohydra “und Ohloro-
hydra echte, wohl zu unterscheidende Gattungen vorstellen, scheint
mir nicht zweifelhaft zu sein; ebensowenig, daß sich die beiden
ersteren aus mehreren, bezw. zwei Arten zusammensetzen. Ob die
Arten der Gattung Hydra so, wie sie jetzt von Schulze umschrieben
wurden, beizubehalten Sind. ob etwa noch neue hinzukommen,
wird sich künftig ergeben. Vorläufig erscheint mir das von der
Hydra oxyenida P. Sch. 14 vorliegende Material zu dürftig, als daß
es die Aufstellung einer Deonderi Art rechtfertigte. Über die
Weite der Grenzen, innerhalb derer Form und Größe der Nessel-
kapseln variieren, darüber, wie weit diese unter Einwirkung äußerer
Umstände in bestimmtem Sinn, z. B. zunehmende Polabspitzung,
vorübergehend abzuändern vermögen, wissen wir noch nichts. Bei
der Bedeutung, die den Nesselkapseln für die systematische Unter-
scheidung zukommt, ist es unbedingt erforderlich, daß für jede neu
aufgefundene Form durch Kulturversuche festgestellt wird, ob sie
etwas Dauerndes, Spezifisches vorstellt. Solange dieses nicht ge-
schehn ist, läßt sich höchstens von der Wahrscheinlichkeit einer
neuen Art sprechen. Für die H. oxyenida trifft das aber zu. Die
fünf Exemplare, die der Schulze’schen Untersuchung zugrunde-
lagen, nahmen in der Gefangenschaft kein Futter an und blieben
pur kurze Zeit am Leben. Daß ihnen die Volventen fehlten, hält
Schulze selbst für ein anormales Verhalten. Wenn auch keine
Depressionserscheinungen beobachtet wurden, so hat man doch den
Eindruck, daß die Polypen krank waren, und es läßt sich so die
Möglichkeit, daß lediglich eine durch irgendwelche krankhaften
Prozesse veränderte Hydra vulgaris oder attenuata ya haben
könnte, vorläufig nicht ausschheßen.
Das im folgenden mitgeteilte Fundmaterial wurde in allen
Fällen dadurch gewonnen, daß Büschel und Triebe von Wasser-
pflanzen, deren Menge von der Gunst oder Ungunst der Jahreszeit
und des Wasserstandes abhing, vom Ufer der betreffenden Gewässer
her mit einem Stock aufgefischt und in ein mit dem Originalwasser
E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 485
gefülltes Gefäß, das zugleich als Beobachtungsglas diente, gebracht
wurden. Bei dieser Methode hängt die Anzahl der jeweils er-
beuteten Hydren hatürlicherweise sehr von Zufälligkeiten ab und
gestattet darum nur einen bedingten Rückschluß auf die numeri-
sche Ausdehnung der betreffenden Population. In besonderem Maße
gilt das für die Wintermonate, wo es bekanntlich vielfach schwer
hält, selbst aus Gewässern, die noch im Spätherbst reich bevölkert
waren, eine hinreichende Anzahl von Polypen zusammenzubekommen.
In solchen Fällen könnte man geneigt sein, ein fast vollständiges
Aussterben der Tiere anzunehmen. Zufällig gemachte Funde von
oft überraschend vielen Polypen an auf den Boden gesunkenen ver-
modernden Schilfstücken u. dergl. lassen jedoch gelegentlich er-
kennen, daß die zu Beginn der kalten Jahreszeit eintretende Dezi-
mierung der Populationen nicht immer derartige Grade erreicht,
wie es bei flüchtiger Durchsuchung der Gewässer den Anschein
haben könnte. — Fast sämtliche Pflanzenproben wurden, nachdem
die Gläser zuhause einige Stunden ruhig gestanden hatten, noch am
gleichen Tage genau mit der Lupe durchgesehen; nur bei einigen
wenigen ließ sich die Untersuchung erst am nächstfolgenden Tag
vornehmen. Soweit darüber Notizen vorliegen, ıst ım folgenden
die Anzahl der jeweils festgestellten Knospen, die ja einen, aller-
dings bedingten Rückschluß auf die Ernährungsverhältnisse und die
Vermehrung der Population zuläßt, mitangegeben. Wo eine solche
Angabe fehlt, besagt das nicht, daß keine Knospen vorhanden waren.
Die Abkürzung „o. G.“ (ohne Geschlechtsprodukte) bedeutet, daß
am Fangtage weder Eier noch Hoden, noch Entwicklungsstadien
von solchen, von der ersten Ektodermverdickung an gerechnet,
vorhanden waren. Die Angabe „x Tage beobachtet“ besagt, daß
entweder der ganze Fang weitergepflegt oder einzelne Individuen
desselben zur Erzielung von Nachzucht benutzt wurden, und daß
die auf eine dieser beiden Arten gewonnenen Kulturen während
des angegebenen Zeitraums fortgeführt und beobachtet wurden.
Die Temperaturangaben (Celsius) beziehen sich auf die Wassertem-
peratur (Feststellung mit Schwimmthermometer).
1. Pelmatohydra oligactis (Pallas 1766) = Hydra fusca L.
1767.
Verzeichnis der Funde:
1 Langer See südöstl. Berlin, Maı 1913: ca. 25 Individuen
0. G.; 310 Tage beobachtet. — 2. Ebendort, Juli 13: 17 Ind. mit
insgesamt 13 Kospen, 0. G@. — 3. Ebendort, Juli 13: 12 Ind. 0.G.
— 4. Ebendort, September 13: nicht mehr bekannte Anzahl o. G.—
5. Ebendort, 20. 10. 13: 32 Ind. mit insgesamt 13 Knospen, o. G.;
66 Tage beobachtet. — 6. Ebendort, Juni 14: viele Ind. 0.G.: pro
1 Ind. 0.831 Knospen; 8 Tage beobachtet. — 7. Große Krampe
486 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen.
südöstl, Berlin, Juli 13: mehrere Ind. 0. G. — 8. Heidekamp-
graben bei Treptow, 28..2. 14: nicht mehr bekannte Anzahl 0. G. —
9. Ebendort, März 14: wie Nr. 8 — 10. Ebendort, Ende März 14:
wie Nr. 8.—-11. Ebendort, Mai 14: zahlreiche Ind. o. G.; pro 1 Ind.
1.4 Knospen; 35 Tage beobachtet. — 12. Ebendort, Ende Mai 14:
viele Ind. 0.G. — 13. Elbe bei Wittenberg, April 14: 5 Ind. ohne
Knospen, 0. G.; 23 Tage beobachtet. — 14. Wiesengraben bei
Berlin, Mai 14: 1 Ind. ohne Knospe, 0.G. — 15. Ebendort, Juni 14:
viele Ind. 0. @. — 16. Ebendort, Juli14: 2 Ind. 0.G. — 17. Sumter
See bei Berlin, Juni 14: 10 Ind. mit Knospen, 0. G.; 14 Tage be-
obachtet. — 18. Katharınensee bei Berlin, Juni 14: 20 Ind. mit
insgesamt 20 Knospen, 0. G.; 30 Tage beobachtet. — 19. Wiesen-
graben bei Konflans (Französisch-Lothringen), 5. 4. 15: 1 Ind. ohne
Knospe, 0. G. — 20. Ebendort, August 15: YInd.; bei einem
1 Knospe: 0.G. — 21. Ebendort, September 15: 6 Ind. ohne Kno-
spen, 0. G.; 80 Tage beobachtet. — 22. Weiher bei Wittenberg,
August 15: viele Ind. 0.G.; mehrere Tage beobachtet. — 23. Eben-
dort, August 15: vieleInd. 0. G.; pro 1 Ind. 0,85 Knospen; mehrere
Tage beobachtet. — 24. Ebendort, August 15: 2 Ind mit insge-
samt 2 Knospen, 0. G. — 25. Ebendort, August 16: 1 Ind. ohne
Knospe, 0.G. — 26. Waldweiher bei Konflans, Juli 16: wie Nr. 25.
Nr. 27—62 beziehen sich sämtlich auf eine und dieselbe kurze
Uferstrecke der Orne bei Konflans — 27. 11.10. 15: 15° C.; mehr als
8 Ind.; pro 11nd. 0.38 Knospen ; 0.G.; 8 Tage beobachtet. — 28. 14.10.
15: 14.5°%; 20—30 Ind. mit wenigen Knospen, 0.G.; — 21 Tage
beobachtet. — 29. 20.10.15: 10.5°; 20—30 Ind. mit Knospen;
1 Ind. mit Hodenanlagen, die übrigen 0. G. — 30. 22. 10. 15: 11°;
36 Ind. mit insgesamt 16 Knospen, 0.G.; 7 Tage beobachtet. —
31. 27.10.15: 8°; 25 Ind. mit Knospen; bei 3 Ind. Hohenanlagen,
die übrigen 22 0.G.; 9 Tage beobachtet. — 32. 30.10. 15: 9°;
20 Ind. mit Knospen; 1 Ind. mit Hodenanlagen, 1 mit Hoden, die
übrigen 18 0. G.; 3 Tage beobachtet. — 33. 4. 11. 15.:. 8.5°; 29 Ind.
mit insgesamt 7 Knospen; 3 Ind. mit Hodenanlagen, 1 mit Hoden,
1 mit 1 Ei, dieübrigen 24 Ind. 0. G.; 3 Tage beobachtet. — 34. 7.11.
15: 6.5°%; 15 Ind. mit insgesamt 11 Knospen, 0. G.; 6 Tage be-
obachtet. — 35. 10.11. 15: 7.9°; 3 Ind. mit insgesamt 2 Knospen,
0.G.; 3 Tage beobachtet. — 36. 12.11. 15: 7°; 6 Ind. mit insge-
samt 6 Knospen, 0.G. — 37. 13.11.15: 7°; 29 Ind. mit insge-
samt 17 Knospen, o. G.; 5 Tage beobachtet. — 38. 15.11. 15: 5°;
9 Ind. mit insgesamt 8 Knospen, o. G.; 7 Tage beobachtet. —
39. 20.11. 15: 3°; 11 Ind. mit imsgesamt 4 Knospen, 0. G. —
40. 26. 11.15: 2°; 8 Ind. mit insgesamt 5-.Knospen, 0.G. —
41.. 2. 12.-15: 4°; 3 Ind. mit insgesamt. 1 Knospe, 0.G..—
42. ‚19, 12.15: .2.5°; 1: Ind. ohneYKnospe, :0.1&) _—.43.728712.16:
7°; 4 Ind., davon 1 mit 4 Knospen, o. G.; 22 Tage beobachtet. —
E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 487
44. 6.4.16: 15°; 1 Ind. mit 2 Knospen, o. G.; 26 Tage beobachtet.
— 45.2. 5.102 16.50; 1 Ind. mik 2 Knospen, 0. .G.-.46. 14,5:
16: 2 Ind. mit insgesamt 2 Knospen, 0.G. — 47. 21.5. 16: 21°;
zahlreiche Ind. 0. G.; pro I Ind. 1.3 Knospen; 11 Tage beobachtet.
— 48. 20.6. 16: 11 Ind. mit insgesamt 2 Knospen, o. G.; 8 Tage
beobachtet. — 49. 26. 6. 16: 6 Ind. mit insgesamt 2 Knospen, 0. G.;
8 Tage beobachtet. — 50. 5. 7. 16: S Ind. mit insgesamt 2 Knospen,
0G. 51. 10.7. 16: 11 Ind. mit insgesamt 8 Knospen, o. G;;
5 Tage beobachtet. — 52. 22. 7.16: 16 Ind. 0.G. — 53. 24. 7.16:
3 Ind. ohne Knopsen, 0. G. — 54. 29. 7. 16: 5 Ind. mit insgesamt
3 Knospen, 0. G. — 55. 15. 9 16: 8 Ind. 0.G.; 12 Tage beobachtet.
— 56. 28. 9.16: 15°; 6 Ind. mit insgesamt 3 Knospen, 0.G. —
57. 2. 10.16: 12.5°; 6Ind. mit insgesamt 2 Knospen, 0. G.; 9 Tage
beobachtet. — 58. 14. 10. 16; 14°; 6 Ind. mit insgesamt 2 Knospen;
1 Ind. mit Hodenanlagen, die übrigen 5 0. @.; lange beobachtet.
— 59. 17. 10.16: 10.4°: 7 Ind. mit insgesamt 3 Knospen, 0. G. —
60. 22. 10.16: 5°; 1 Ind. ohne Knospe, 0.G. — 61. 25. 10. 16: 7°;
2 Ind. ohne Knospe, 0. @. — 62. 2. 11. 16: 3 Ind. ohne Knospe,
9:
Leider ließ sich die auf die Orne bezügliche Beobachtungs-
reihe vom Dezember 15 ab infolge verschiedener ungünstiger Um-
stände nicht mehr mit einem gleich großen Fundmaterial wie an-
fangs fortsetzen. Das lag weniger an der winterlichen Dezimierung
der Population — auch im Sommer 16 war die Ausbeute durch-
weg dürftig — als an Veränderungen im Wasserhaushalt des Flusses.
Derselbe hatte nach dem trockenen Sommer 15 bei niedrigstem
Wasserstand ın seinen Uferbuchten ein fast weiherartig reiches
Tier- und Pflanzenleben entstehen lassen, das von der sanften Strö-
mung kaum beeinträchtigt wurde. Infolge der Niederschläge des
Winters und des regenreichen Sommers 16 waren vom Dezember 15
ab die Verhältnisse wesentlich anders geworden, der Wasserstand
höher, die Strömung stark und die Wasserpflanzen heftig umfließend.
Dazu kamen noch einige Hochwasser. So hielt es geradezu schwer,
auch nur einige wenige Polypen zu finden, indem zahlreiche Proben
von Pflanzen sie gänzlich vermissen ließen. Immerhin gelang es
aber, am 14. 10.16 wenigstens eine oligactis mit Hodenanlagen und
somit den Schluß des vom Herbst 15 her verfolgten Jahreszyklus
festzustellen.
Auch die Nummern 63—70 geben eine fortlaufende Reihe von
Beobachtungen an einer Pelmatohydra oligactis-Population wieder. Die
acht Funde stammen alle von einer und derselben kurzen Ufer-
strecke eines weiherartig veränderten Altwassers des Rupt de Mad
in Franz.-Lothringen. — 63. 21. 8. 17: 13 Ind., davon 1 mit 1 Kno-
spe, alle o. G. — 64. 28. 9.17: 15°; 10 Ind. mit insgesamt 3 Kno-
spen, alle 0.G.— 65. 3. 10. 17: 48 Ind. mit insgesamt 5 Knospen,
NS
ve FLAT u OLSEN
ASS E. Boecker, Die Be, ee der uch a
Bei 1 Ind. war das Ektoderm an einer, bei einem anderen an
mehreren Stellen des Magenteils kuppenförmig leicht verdickt; ein
drittes Ind. wies an der Stielkörpergrenze eine umschriebene Ek-
todermverdiekung auf. Also 3 Ind. mit Hodenanlagen; die übrigen
45 0. G. —- 66. 7.10.17:9°; 26 Ind. mitinsgesamt 2 Knospen. Beil Ind.
ist das Ektoderm etwas oralwärts der Stielkörpergrenze an zwei Stellen
flachbucklig verdickt; bei einem anderen weist der Magenteil an
seinen kaudalen zwei Dritteln mehrere flachbucklige ineinander kon-
fluierende glatte Ektodermverdiekungen auf. Also 2Ind. mit Hoden-
anlagen; die übrigen 24 0. G. — 67. 17. 10.17: 7°; 16 Ind. ohne
Knospen. Bei 3 Ind. leichte bucklige, in der Kontur wellenförmige
Verdiekung des Ektoderms in den kaudalen zwei Dritteln bezw.
der Hälfte des Magenteils; bei einem anderen kaudale zwei Drittel
des Magenektoderms leicht diffus geschwollen (= a); : bei ‚einem
fünften Ind. Ektoderm im Bereich ‚der kaudalen zwei Drittel des
Magenteils in vier übereinander liegenden Etagen bucklig verdickt
(= Y, s. w.u.). Also 4 Ind. mit Hodenanlagen und 1 mit beginnen-
der Eibildung (letzteres —= a); die übrigen 11 0. @. — 68. 25.10.
17: 31 Ind. mit insgesamt 13 Knospen. Bei 2 Ind. Magenektoderm
nahe der Stielkörpergrenze, bezw. in den kaudalen fünf Siebenteln
des Magens verdickt; bei 3 Ind. kaudale zwei Drittel des Magen-
teiles durch Ektodermwucherung kolbig verdickt; bei einem anderen
desgleichen, außerdem aber auf dem polsterartig verdiekten Ekto-
derm 2 runde Eier von ca. 0.4 mm Durchmesser; bei einem dem
vorhergehenden ähnlichen Ind. mehrere kleine zerfließende Bier;
bei einem achten ebensolehen 4 Eier von 0.45—0.55 mm Durch-
messer (=X, s. w.u.). Also 8 geschlechtsreife Weibchen in ver-
schiedenen Stadien der Eibildung; die übrigen 23 Ind. 0. G@. —
69. 12. und 15. 11. 17: 7°; zusammen 20 Ind. mit insgesamt
10 Knospen. Beı 1 Ind. nahe der Stielkörpergrenze, um die Magen-
mitte und an der Grenze des oralen Drittels je eine kleine ziem-
lich flache bucklige Ektodermwucherung. Also 1 Ind. mit Hoden,
die wahrscheinlich in Rückbildung begriffen sind; die übrigen
19 Ind. 0. G. — 70. 19.11.17: 35 Ind. mit insgesamt 8 Knospen.
Bei 1 Ind. Ektoderm der kaudalen Hälfte des Magenteils stark ver-
dickt; desgleichen bei einem anderen, das 2 sich ungefähr gegen-
über stehende Eier von 0.4 bezw. 0.5 mm Durchmesser aufweist.
Zwei andere Weibchen mit 2 (= Z, s. w.u.), bezw. 4 Eiern sınd
im Begriff, diese anzukleben, von bauchig-flaschenförmiger Gestalt.
Ein ae Ind. ıst langgestreckt, schlauchförmig, von grauer Fär-
bung; Tentakelkurz, kümmerlich. Über das ganze Tier verteilt einzelne
zarte Höckerchen auf dem sonst nicht verdickten Ektoderm. Also
ı Männchen mit in Rückbildung begriffenen Hoden und 4 geschlechts-
reife Weibchen; die übrigen 30 Ind. o. G.
Über einige Funde aus der (71) Spree bei Treptow (Sommer-
er
E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 489
monate 1913) und, dem (72) Heidekamgraben (Februar—Juli 14),
die nur Ind. o. G. aufwiesen, liegen keine Notizen mehr vor.
Wie die Übersicht erkennen läßt, wurde Pelmatohydra oligactis
mit Hoden oder Eiern oder Entwicklungsstadien von solchen selten,
und in Übereinstimmung mit den Resultaten der Münchener Ver-
suche nur bei kühler Wassertemperatur gefunden. In der Orne
wurde 1915 das erste geschlechtsreife Exemplar festgestellt, als die
Temperatur des Wassers auf i0.5° herabgesunken war. Die relativ
hohe Temperatur von 14° bei Eintritt der Geschlechtsperiode im
‘Jahre 1916 bedeutete nur eine vorübergehende Erwärmung des
Wassers, da bereits 12 Tage vorher 12.5° und 5 Tage später 10.4°
gemessen wurde Vom ersten Auftreten geschlechtsreifer oligactxis
im Altwasser des Mad 1917 fehlt leider die Angabe der zugehörigen
Wassertemperatur; da diese aber 5 Tage vorher 15° und 4 Tage
später 9° betrug, darf mit Sicherheit angenommen werden, daß sie
zu jenem Zeitpunkt den in den beiden Vorjahren in der Orne bei
Beginn der Geschlechtsperiode festgestellten Temperaturverhält-
nissen entsprach. Die niedrigste Temperatur, bei der geschlechtsreife
Exemplare gefunden wurden, betrug hier 7°; in der Orne wurden
sie vermißt, nachdem die Temperatur unter 8.5° gesunken war. Die
obere und untere Grenze der für die Bildung von Hoden und Eiern
bei oligaectis erforderlichen Temperatur, die von Frischholz (3) mit
ca. 10° ©. angegeben wurde, unterliegt gewissen Schwankungen.
So berichtet Schulze (10) von männlichen oligactis, die im Zimmer-
aquarıum ohne besondere Abkühlung schon bei 11° ım Wasser,
20° in der Luft geschlechtsreif wurden.
Erwähnt sei, daß nicht selten neben geschlechtsreifen oligactis
im gleichen Fang Polypen vom Habitus der grisea-vulgaris, die
dann stets ohne Geschlechtsprodukte waren, gefunden wurden, und
umgekehrt; letzteres war z. B. bei Nr. 18 der Fall. Gleichzeitige
Geschlechtsreife bei beiden Formen wurde niemals festgestellt.
Da die für die Bildung von Geschlechtsprodukten erforderlichen
Temperaturgrade außer im Herbst bei Eintritt der Kälte auch ge-
legentlich der Frühjahrserwärmung der Gewässer, also zweimal ın
einem Jahreszyklus passiert werden, scheint mir die Tatsache, daß
Hoden und Eier und deren Vorstufen nur in unmittelbarem zeit-
lichen Anschluß an das Eintreten kühlerer Wassertemperaturen im
Herbst beobachtet wurden, nicht unwichtig zu sein. Leider war es
mir aus den schon angeführten Gründen trotz vieler Bemühungen
nicht möglich, im Frühjahr 16 aus der Orne hinreichendes oligactis-
Material zu erlangen. Die Ausgang Winter und im Frühjahr im
Heidekampgraben |(Nr. 8—10, 72) gefundenen Exemplare waren
sämtlich steril. Sollte sich diese Beobachtung — in der Literatur
liegen keine sicheren gegenteiligen Angaben vor als allgemein-
gültig herausstellen. sollte also, wie es den Anschein hat, Pelmato-
38. Band 35
490 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen.
hydra oligactis ım Freien bei uns nur im Herbst und Anfang Winter,
nicht dagegen auch im. Frühjahr geschlechtsreif werden, so hätten
wir hierin einen beachtenswerten Hinweis darauf zu erblicken, daß
der Bedingungskomplex für das Auftreten von Geschlechtsprodukten
mit dem einfachen Vorhandensein einer bestimmten Temperatur-
lage noch nicht gegeben ıst. Welche sonstigen Bedingungen er-
füllt sein müssen, ist, da entsprechende Versuche bisher nicht vor-
liegen, schwer zu sagen. Ich gedenke später auf diese Frage
zurückzukommen. — Daß die Geschlechtsreife — etwa ın Nach-
wirkung eines historischen Momentes — absolut an eine bestimmte
Jahreszeit, eben den Herbst, gebunden wäre, ist nicht anzunehmen.
Koch (5) erzielte auch ım März, April und Mai bei der von ihm
gezüchteten oligaetis Geschlechtsprodukte. Wenn Weltner (11)
berichtet, daß sie bei seiner Hydra monoecia (= oligactis) erst im
Herbst, vor dieser Zeit ım Aquarıum jedoch weder beı starker
Fütterung noch bei Abkühlung des Wassers auf 4°C. und weniger
aufgetreten seien, so lag diese scheinbare Sterilität während der
Sommermonate wohl in der reichlich niedrigen Temperatur be-
gründet. Auch Downing (12) ıst der Ansicht, daß die Geschlechts-
reife der Hydren an eine bestimmte Jahreszeit gebunden sei; merk-
würdigerweise scheint er damit aber den Frühling zu meinen. Alle
vier Arten sollen gleichzeitig Geschlechtsprodukte erzeugen. Schon
oben wurde auf die Bedenklicheit einer nicht Auf gründliche ana-
tomische und biologische Untersuchungen basierenden Identifizie-
rung der amerikanischen Aydra-Arten mit den einheimischen hin-
gewiesen.
Da ım Freien im allgemeinen gleichzeitig mit dem Sinken der
Wassertemperatur eine starke Abnahme der für die Ernährung der
Hydren wichtigen Beutetiere einsetzt, können Beobachtungen wie
die vorliegenden zur Entscheidung der übrigens kaum mehr strit-
tigen Frage, ob außer der kühlen Temperatur auch Schwankungen
in der Nahrungsaufnahme oder diese alleın als auslösende Ursache
der Geschlechtsreife ın Betracht kommen, nicht beitragen. Im
übrigen würden einer derartigen Untersuchung auch rein technische
Schwierigkeiten entgegenstehen. Die herbstliche Abnahme der
Kladozeren, die gewiß für den Stoffhaushalt der Hydren von großer
Bedeutung sind, läßt sich zwar numerisch erfassen. Den im Pflanzen-
gewirr sitzenden Hydren steht jedoch außer diesen noch eine un-
kontrollierbare und im Herbst jedenfalls kaum abnehmende Menge
von anderen Kleintieren (Stylarien, Mückenlarven, Kopepoden u.a.)
zu Gebote. Das tatsächliche Maß der Nahrungsaufnahme ım Herbst
und Winter ist schwer zu beurteilen. Wenn man die relativ hohe
Knospenzahl pro Individuum, die man selbst ım kalten Winter
gar nicht so selten feststellen kann, in Erwägung zieht, sollte man
glauben, daß die Ernährungsverhältnisse nicht so schlecht seien,
wie es bei oberflächlicher Betrachtung der Gewässer zunächst den
f
E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 461
Anschein hat. Aber die Anzahl der Knospen, die bei kühler Tem-
peratur länger auf dem Muttertier verbleiben, kann für derartige
Schlußfolgerungen nicht ohne weiteres benutzt werden. Nimmt
man z. B. an, daß ın einer Population im Sommer bei guter Er-
nährung und warmer Temperatur jedes selbständige Individuum
alle 2 Tage eine Knospe bildete, die sich nach je 4 Tagen ablöste
und darauf nach 2 Tagen ihrerseits die erste Knospe entstehen
ließe, so braucht sich das jeweils festzustellende Verhältnis der ge-
samten Anzahl der Knospen zu derjenigen der Individuen nicht zu
ändern, wenn im Herbst bei schlechteren Ernährungsverhältnissen
nur jeden vierten Tag eine Knospe produziert würde, die sich
infolge der kühleren Temperatur erst nach 8 Tagen ablöste. Wie
eine Berechnung zeigt, könnte die ın einem solchen Fall, dessen wirk-
liches Vorkommen wohl denkbar wäre, jeweils festgestellte Knospen-
rate trotz euormer Unterschiede, die ım Gesamtstoffwechsel der
Population und ın der Anzahl der neu gebildeten Individuen hier
und dort beständen, nur in engsten Grenzen schwanken.
Wie die Übersicht ferner erkennen läßt, waren sämtliche ge-
schlechtsreifen oligactis, die gefunden wurden, gonochoristisch; auch
in den von einem Teil der Fänge angelegten Kulturen wurden nie-
mals hermaphrodite Exemplare beobachtet. Bemerkenswert scheint
mir die Tatsache, daß sowohl 1915 ın der Orne als auch 1917 im
Altwasser des Mad ‚die männlichen oligactis früher als die weib-
lichen geschlechtsreif wurden, d. h. die Hodenentwicklung bei den
Männchen setzte zu einem früheren Termin ein als die Eibildung
bei den Weibchen. Der zeitliche Unterschied zwischen den erst-
maligen Feststellungen der beiden gereiften Geschlechter betrug
hier wie dort 14 Tage. Für die Orne leisten die kurzen Zwischen-
räume zwischen den einzelnen Fängen vom 11.10.15 bis 4. 11. 15
wie auch die Anzahl der erbeuteten Hydren genügende Gewähr,
daß nicht schon vor dem 4. 11. geschlechtsreife Weibehen vorhanden
waren, die durch Zufall der Beobachtung entgingen. Weibchen
sind in den Fängen vor dem 4. 11. jedenfalls vorhanden gewesen;
sie waren nur noch nicht geschlechtsreif. Bezeichnend ist in dieser
Hinsicht, daß m dem als Kultur bei kühler Temperatur gehaltenen
Fang vom 22. 10. (Nr. 30), der aus dem rein „männlichen“ ersten
Teil der ganzen Geschlechtsperiode stammte, nach 7 Tagen bei
einem Individuum Eibildung eintrat. In dem Altwasser des Mad
nahm die Geschlechtsperiode einen gleichen Verlauf, doch sind die
an dieser Population gemachten Feststellungen wegen der größeren
Zeitabstände zwischen den Fängen nicht so überzeugend wie dort.
Daß am 3.10.17 und 7.10. 17 noch keine geschlechtsreifen Weib-
chen in dem Gewässer vorhanden waren, kann in Anbetracht deı
Anzahl der gefangenen Hydren wohl angenommen werden. Es
wäre sonst ein eigenartiger Zufall gewesen, wenn sich unter den
74 Individuen der Fänge vom 3. und 7. 10. kein geschlechtsreifes
35
99 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen.
Weibchen gefunden hätte, wo doch ın den späteren Fängen unter
102 Individuen deren 13 festgestellt wurden. Bezeichnend sind
auch die numerischen Verhältnisse: am 3. 10. sind 6.25%, geschlechts-
reife Männchen vorhander , am 7.10. 7.7°/,; am 17.10. 25°/, Männ-
chen und 6.25°/, geschlechtsreife Weibchen; am 25. 10. kein ge-
schlechtsreifes Männchen, aber 25.5°/, geschlechtsreife Weibchen.
Auch Schulze (10) berichtet von einer geinischten Kultur, in der
bei 10° C. zunächst Hodenbildung und erst 8 Tage später Eibil-
dung einsetzte. Somit dürfte wohl feststehen, daß in einer Popu-
lation von Pelmatohydra oligactis die Männchen früher geschlechts-
reif werden als die Weibchen.
Krapfenbauer (2), Frischholz (3) und Koch (5) machten
bei ihren Versuchen die Erfahrung, daß bei weitem häufiger Männ-
chen als Weibchen vorkommen. Ich glaube diese Beobachtung auf
Grund meiner Funde und Kulturversuche bestätigen zu können.
In dem ÖOrnematerial wie in den von ıhm hergeleiteten Kulturen
war der numerische Unterschied zwischen den Vertretern der beiden
Geschlechter sehr deutlich. Daß ım Altwasser des Mad auf die 13
beobachteten Weibchen nur 11 Männchen kamen, lag womöglich
daran, daß die ausschlaggebenden 8 Weibchen vom 25. 10.17 (Nr. 68)
vielleicht zufällig von derselben Pflanzengruppe erbeutet wurden
und als Knospen von einem gemeinsamen Muttertier stammten.
Womöglich spielt auch der Umstand eine Rolle, daß das Fund-
material von der zweiten Hälfte der Geschlechtsperiode, nach dem
Auftreten des ersten geschlechtsreifen Weibcehens, verhältnismäßig
größer als dasjenige von der ersten rein „männlichen“ Hälfte war.
In der schon erwähnten Kultur von Schulze (10) waren dıe Männ-
chen ebenfalls in der Überzahl.
Bereits eingangs wurde der Tatsache, daß ın Kulturen stets
nur ein Teil der Individuen geschlechtsreif wird, wie auch einiger
möglicher Ursachen dieser Erscheinung, Erwähnung getan. Der
Prozentsatz der jeweils geschlechtsreif angetroffenen oligactis (Männ-
chen — Weibchen) betrug in der Orne 4—17.3°/, und im Altwasser
des Mad 5—51°/,. Wenn nun auch in Betracht gezogen werden
muß, daß sich unter den. geschlechtlich sterilen Individuen der
ersten Fänge aus emer Geschlechtsperiode solche befinden können,
die erst später geschlechtsreif geworden wären, und in den letzten
Fängen solche, deren Hoden wieder verschwunden sein mögen, so
behält man doch den deutlichen Eindruck, daß ım Freien der
größte Teil einer Poputation geschlechtlich steril bleibt. . Die Ur-
sache dieser Erscheinung kann wohl nur experimentell festgestellt
werden. Wenn die prozentuale Anzahl der geschlechtsreif ge-
wordenen Individuen in der Orne und im Altwasser des Mad stark
differiert, so findet nach den Münchener Erfahrungen an Futter-
und Hungerkulturen dieser Umstand in dem so verschiedenen biolo-
gischen Milieu der beiden Fundplätze seine Erklärung: hier das
Bi -
BE. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 493
weiherartige stille Gewässer mit bedeutender Kladozerenentwick-
lung im August und September — dort ein, wenn auch damals
träge fließender Fluß, an dessen Ufern den Hydren außer spär-
lichen Sömocephalus vetulus nur Kopepoden, Stylarien und Insekten-
larven zur Verfügung standen.
Meine Mitteilungen über den Ablauf der Geschlechtsperiode
am einzelnen Individuum möchte ich vorläufig auf folgendes be-
schränken: die Hoden stellten bei den Männchen aus dem Alt-
wasser des Mad im ausgebildeten Zustand Kugelsegmente dar, er-
reichten in einzelnen Fällen aber auch Halbkugelgröße. Eine
eigentliche Zitze fehlte stets; doch hob sich an der prominentesten
Stelle bisweilen ein kleines sehr flaches Bläschen ab. Bei dem
Männchen Y vom Fang Nr. 67, das vom 17. 10 bis 2. 11. beobachtet
wurde, nahm die Zahl der Hoden allmählich zu, indem sowohl —
und zwar hier zunächst — nach dem Kopfende zu bis kurz unter-
halb der Tentakel als auch am aboralen. Körperende, sich an die
schon vorhandenen dicht anschließend, ständig neue Hoden auf-
traten und allmählich zur vollen Größe heranwuchsen, indes die
älteren kleiner wurden und mit der Zeit abflachten. Am 24. 10.
waren 15 Hoden vorhanden. Mit der Zunahme der Hoden am
aboralen Ende verschwand allmählich der charakteristische oligaetıs-
Stiel; am 30 10. stellte der Polyp einen fast zylindrischen dünnen
Schlauch vor, dessen braunes Entoderm bis zur Fußplatte reichte.
Das Tier war damals bis auf ein kurzes Stück unterhalb der Ten-
takel gleichmäßig mit einer großen Anzahl von Hoden besetzt,
deren tiefster bis fast an die Fußplatte reichte. Bei den von
Schulze (10) beobachteten Männchen blieb dagegen der Stiel
erhalten und frei. Ich möchte deshalb betonen, daß ıch obiges
Verhalten auch an einer aus der Orne erbeuteten oligactis festge-
stellt habe.
Die größte Anzahl der an einem Weibchen beobachteten Eier
betrug 5. Sie waren stets kugelrund, ım ausgebildeten. Zustand
(befruchtet?) von blasser bräunlicher Hornfarbe und höckriger Ober-
fläche. Die charakteristische Eiablage wurde an Exemplaren aus
der Orne und dem Altwasser des Mad beobachtet. Bei dem am
25. 10. erbeuteten Weibchen x mit 4 Eiern war der am Fangtage
noch unveränderte Stiel am 28. 10. deutlich verkürzt und verdickt.
Zugleich bestand eine weiterhin noch ständig zunehmende erheb-
liche Verdiekung der unteren Hälfte bis zwei Drittel des Magen-
teils, dessen Ektoderm gleichmäßig stark geschwollen war. Am
31. 10. hatte das Tier bei unveränderter oraler Körperhälfte die
Gestalt einer dickbauchigen Flasche angenommen, die mit breiter
Basis der Unterlage (Potamogetonblatt) aufsaß. Der Stiel war
gänzlich verschwunden. Auf diesem Blatt blieb es vom 29. 10.
bis 2. 11., wo die Beobachtung wegen Zerfalls der Eier abge-
brochen werden mußte, sitzen, nachdem es in den vorhergehenden
TE
494 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen.
Tagen unruhig umhergewandert war. Dieses Umherwandern, das
den Eindruck eines Suchens nach einem zur Eiablage geeigneten
Platz hervorruft, wurde auch an einem Weibchen aus der Orne be-
obachtet. — Bei allen ım „Wochenbett* befindlichen Weibchen
fiel eine dunkle, schwärzliche Verfärbung des Entoderms der unteren
Magenhälfte im Stadium der flaschenförmigen Verdickung auf. Ob
diese wieder vorübergehende Umfärbung durch Vermehrung oder
Verfärbung der braunen Entodermschollen zustandekommt, — ob
die Verdickung des unteren Magenteils eine Auftreibung seines
Hohlraumes oder Wucherung des Entoderms bedeutet, konnte ich
nicht feststellen. ‚Jedenfalls habe ich den Eindruck gewonnen, daß
es sich bei der flaschenförmigen Umgestaltung nicht um eine ein-
fache Kontraktion des Muttertieres, wie sie Laurent (8) und
Brauer (9) annahmen, handeln kann. Etwa die orale Hälfte des
Polypen bleibt im ganzen unverändert; nur werden die Tentakel
dünner und kürzer. — Das Ektoderm hat anscheinend nicht stets,
wie beim Weibchen x, an der Auftreibung der unteren Magenhälfte
Anteil; bei Z vom Fang Nr. 69 war es jedenfalls überall normal
dick. Z befand sich, als es am 19. 11. gefangen wurde, bereits im
Stadium der flaschenförmigen Umgestaltung. Es blieb bis zum
30. 11., wo es sein Wochenbett unter Hinterlassung vom zwei an-
geklebten Eiern verlassen hatte, stets auf der gleichen Blattstelle
sitzen. Vom 23. 11. ab hellte sich die schwärzliche Färbung des’unteren
Magenentoderms allmählich auf. Die zunächst sehr zarten und
kurzen Tentakel hatten vor Beendigung der Eiablage wieder an
Länge und Dicke zugenommen. Leider hieß sich das fortgewanderte
Tier im Pflanzengewirr des Glases nicht wiederfinden. Die beiden
angeklebten Eier waren übrigens verschieden groß; ihre Durch-
messer verhielten sich etwa wie 7:9.
1. Hydra attenuata (Pallas 1766).
|Im Sinne von Schulze (10), nicht von Toppe (18)|.
Aus den bereits angeführten Gründen möchte ich mich bezüglich
meiner bisherigen Beobachtungen an geschlechtsreifen Hydren vom
grisea L.- vulgaris P.-Typus auf die Mitteilung folgender Beobachtungs-
reihe beschränken. Die betreffenden Tiere entsprachen in ihrem
anatomischen und biologischen Verhalten der von Schulze (10)
neu umgrenzten Art Hydra attenuata P. Der genannte Autor hatte
die Freundlichkeit einige ıhm eingesandte Exemplare zu unter-
suchen; er bestätigte ihre Zugehörigkeit zu der genannten Art. Ob
die Unterscheidung der attenuata P. im Sinne von Schulze als
eigener Art von der vulgarisP. berechtigt ist — ob also Gonochoris-
mus, mammaförmiger Hoden, kurzgabelstachliges Eı hier, Herma-
phroditismus, glockenförmiger Hoden, langgabelstachliges Ei dort
u.s. w. wirklich immanente Artcharaktere sind und nicht etwa je nach
den ‘äußeren Lebensbedingungen verschiedene Erscheinungsformen
E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 495
einer und derselben Art vorstellen, bedarf noch der Klärung. Man
muß jedoch zugestehen, daßman auf Grund der sorgfältigen Unter-
suchungen Schulze’s den Eindruck des tatsächlichen Bestehens
zweier Arten gewinnt.
ÖOrne bei Konflans, 1916. 73. August: 15 Individuen mit ins-
gesamt 13 Knospen. 74. September: 4 Ind. mit insgesamt 1 Knospe.
75. wieNr. 74: vieleIlnd. 76. wie Nr. 74: 18 Ind. 77. wie Nr. 74:
2 Ind. 78. Oktober: 3Ind. 79. wie Nr.78: 3 Ind. 80. wieNr.78:
3 Ind. mit insgesamt 2 Knospen. 81, wie Nr. 78: 2 Ind. 82. No-
vember: 1 Ind. — Sämtliche Individuen in den Fängen 73—82
waren 0. G.
Von den am 24.8. 16 erbeuteten 15 Individuen wurde eins
isoliert und bei Zimmertemperatur in einem Glase, das stets reich-
liche Mengen von Simocephalus enthielt, zur Erzielung von Nach-
zucht weitergepflegt. — 9. 9. 16: 4 Ind. vorhanden. Beim Stamm-
tier vor einigen Tagen bedeutende Verdickung des Ektoderms,
heute 1 fertiges Ei. — 21. 9.: 5 Ind., von denen 2 entfent werden.
Das Ei ist inzwischen zerflossen. — 23. 9.: 4 Ind. vorhanden. —
5. 10.: Bei einem Ind. mächtige Ektodermwucherung um die Kör-
permitte. — 9. 10.: Bei obigem Ind. 1 fertiges Ei. — 12. 10: Ei
zerflossen. — 22. 10.: 4 Ind. Hoden bisher nicht beobachtet.
Die vorliegenden wenigen Beobachtungen sollen lediglich einen
Beitrag zur Biologie der attenata liefern. Die kleine Kultur, in der
zwei geschlechtsreife Weibchen auftraten, war stets mit reichlichen
Mengen Futter versehen, das auch gut aufgenommen wurde. Die beı-
den Geschlechtstiere waren gonochoristisch und die Kultur verhielt
sich ebenso als reine Linie betrachtet. Ein gleiches Verhalten
stellte Koch (5) bei seinen grisea-Kulturen fest. Mit Recht be-
schränkt er sich aber auf die schon zitierte Schlußfolgerung. Denn
ob eine aus gonochoristischen Individuen bestehende Knospungsnach-
kommenschaft als Ganzes zusammengefaßt ihrerseits auch stets nur
eine Geschlechtsart aufweist, bleibt fraglich. Auf Nußbaums (7)
Arbeit wurde eingangs hingewiesen. Hanel (6) beobachtete neben
gonochoristischen Individuen aus gonochoristischen, d. h. nur ein
Geschlecht vertretenden, reinen Linien, auch hermephrodite reine
Linien.
Das anatomische und biologische Verhalten war bei den frisch
sefangenen und den kultivierten Tieren das gleiche. Die Färbung
wechselte von Hellgrau über Gelblich-Orange bıs Dunkelbraun, wo-
bei das aborale Ende, besonders an Exemplaren, die Knospen er-
zeugt hatten, wesentlich heller als der übrige Körper war. Nur
gelegentlich konnte die von Schulze (10) als für attenuata charak-
teristisch angegebene Verdiekung und schwache hakenförmige Krüm-
mung des aboralen Körperendes festgestellt werden? Im übrigen
war die Körperform sehr wechselnd; bisweilen fand sich dicht
unterhalb der Knospungszone eine Verjüngung des Körpers mit
496 F. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen.
Absetzung gegen das Fußende zu, wie sie in stärkerer Ausbildung
bei der oligactis die Regel bildet. Die Tentakel waren von auf-
fallender Dehnbarkeit, gelegentlich wie diejenigen von oligactis von
den fast unmerklichen Strömungen ım Wasser weit mit fortgezogen
und geschlängelt oder gekräuselt. Die Eipolster waren in beiden
erwähnten Fällen sehr groß. Die Maße der überlebenden Pene-
trantes betrugen ım Mittel 15.2 « für die Länge und 12.8 « für die
größte Breite — der Volventes 8.5 bezw. 6.2 u. Die großen Glu-
tinantes waren ausgesprochen zylindrisch, 12.7 u lang, 5.7 u breit
und ließen in ihrem Inneren nahe dem freien Polende 4—-4!/, Quer-
windungen, in den übrigen drei Fünfteln ein Knäuel erkennen. Die
Nesselbatterien auf den Tentakeln setzten sich aus einer meist
zentral gelegenen Penetrans — seltener 2 oderd — und 6—12 sie
kranzförmig umgebenden Volventes zusammen. Zwischen die letzteren
war für gewöhnlich nur eine große Glutinans eingefügt. Kleine
habe ich nicht mit Sicherheit feststellen können.
III. Ohloronydara viridissima (Pallas 1766).
Verzeichnis der Funde: 83. Chlorohydra viridissima wurde an
Pflanzen aus einem Wiesengraben nördlich Berlin im August 13 in
einigen und 84. Ende Mai 14 in mehreren hier wie dort recht
kleinen Exemplaren, die sämtlich o. G. waren, festgestellt. Von
Nr. 84 besaßen einige Individuen Knospen. — 85. Unter etwa 20
ebendort im Juni 14 erbeuteten reichlich mit Knospen versehenen
Individuen wiesen zwei Hoden auf; die übrigen waren 0. G@. Eier
wurden auch bei weiterer Beobachtung dieses Fanges zuhause nicht
beobachtet. 86.—- 90. An fünf Pflanzenproben, die von Mitte Mai bis
Ende Juni 16 einem kleinen moosdurchwucherten sumpfigen Wald-
tümpel ım Franz.-Lothringen entnommen wurden, fanden sich ins-
gesamt 33 viridissima mit zusammen 4 Knospen. Hiervon wiesen
12 Individuen nur Hoden, 3 Hoden und je eine Eianlage, 3 Hoden
und je ein fertiges Eı auf; die übrigen 15 waren 0.G. Die An-
zahl der auf das orale Drittel bis zwei Fünftel beschränkten Hoden
betrug 2—4, meistens 4; sie waren im ausgebildeten Zustand über
halbkugelgroß und mammaartig mit einer Zitze versehen — 91. Schilf-
durchwachsene grabenartige Vertiefung eines Sumpfes ın Franz.-
Lothringen, nach 2 Monaten strengster Kälte auftauend; an abge-
storbenen Schilfstückchen in mehreren vom 6.— 14. 3.17 entnom-
menen Proben zusammen 17 Individuen mit insgesamt 13 Knospen;
alle o. G. — Nr. 92—95 beziehen sich auf eine und dieselbe etwa
1 qm große Stelle eines kleinen zum Überschwemmungsgebiet des
Altwassers der Mad gehörenden, während der Beobachtungszeit all-
mählich austrocknenden Tümpels. 92. In mehreren Fängen vom
13. 5.— 21. 5.18 zusammen 13. Ind. mit imsgesamt 13 Knospen;
alle 0.G. — 93. 27. 5. 18: 32 Ind. mit insgesamt 28 Knospen. Bei
5 Ind. in Entwicklung begriffene oder fertige Hoden; die übrigen
ee . 2
€ r\
17
b
E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen. 497
0.G@. — 94. 30.5. 18: 45 Ind. mit insgesamt 32 Knospen. Bei
5 Ind. ın Entwicklung begriffene oder fertige Hoden; die übrigen
0. G.— 95. 9. 6. 18: 53 Ind. mit insgesamt 29 Knospen. Bei 2 Ind.
Hoden; die übrigen 0.G. — Wegen vollständiger Eintrocknung
des Tümpels konnte die Beobachtungsreihe nicht fortgesetzt werden.
Die vorliegenden Befunde — Eintritt der Geschlechtsreife der
grünen Hydren in der warmen Jahreszeit — stimmen mit den An-
gaben der Mehrzahl der Autoren überein. Nur Leidy (13, 14),
Thomson (15) und Günther (16) berichten über ım Herbst oder
Winter eingetretene Geschlechtsperioden. Im ersten Fall handelt
es sich aber um Hydren aus der Umgebung von Philadelphia, deren
Identität mit der europäischen Chlorohydra viridissima nicht sicher
feststeht, und die beiden anderen Mitteilungen beziehen sich mög-
licherweise auf Kulturen ım Zimmeraquarium. Withney (17)
kommt 1907 auf Grund von umfangreichen Untersuchungen an
einer „Aydra viridis* aus den Fischteichen von Cold Spring Harbor
(Kolumbia), die er gleichzeitig im Freien und in Kulturen beobachtete,
zu folgenden Resultaten: Wird H. vwridis genügend lange Zeit
einer niedrigen Temperatur ausgesetzt, worauf eine Periode mit
höherer Temperatur und Hunger folgt, so werden Hoden und Eier
gebildet. Solche Hydren, die vorher nicht niedriger Temperatur
unterworfen wurden, entwickeln während der Nahrungsentziehung
keine Reproduktionsorgane. Nach Jängerer Einwirkung von nie-
driger Temperatur entstehen Eier und Hoden, nach kürzerer nur
die letzteren. Nahrungsüberfluß nach Kälteperioden unterdrückt
die Bildung von Hoden und Eiern. Große Individuen bringen so-
wohl Hoden wie Eier hervor, kleinere nur Hoden.
Mit diesen Ergebnissen Withney’s läßt sich das, was wir von
der Biologie unserer heimischen grünen Hydra wissen, schwer in Ein-
klang bringen. Vor allem sollte manannehmen, daß bei uns gerade
während der in den Beginn der warmen Jahreszeit fallenden Ge-
schlechtsperiode die; Ernährungsverhältnisse sehr günstige sind.
In den fünf angeführten Fängen aus dem Waldweiher (Nr. 86-90)
fanden sich reichliche Mengen von Rädertieren, Gastrotrichen, Harpak-
tiziden, Ostracoden u. a. Der kleine Tümpel, dem die Fänge Nr. 92
bis 95 entstammten, wies eine überaus reiche Entwicklung von
Kladozeren (Daphnia longispina, Simocephalus vetulus, Scaphol. beris
mucronala, EKurycercus u. a,) auf, deren Dichte, wohl unter Mitwir-
kung der langsamen Eintrocknung, vom 13.5. bis zum 27. 5., wo
zum erstenmal Hoden beobachtet wurden, noch stark zugenonmen
hatte. Daß die kleineren Formen und Jungtiere der Kladozeren
auch wirklich aufgenommen wurden, wurde beobachtet; es ergibt
sich auch aus der starken Vermehrung der Hydren. Während die
13 Exemplare von Nr. 92 mühsam in 4 Fängen zusammengesucht
werden mußten, fanden sich die 32 von Nr. 93, die 45 von Nr. 94
und die 53 von Nr. 95 ın je einer einzigen Probe. Dabei stammten
498 E. Boecker, Die geschlechtl. Fortpflanzung der deutschen Süßwasserpolypen.
alle diese Proben von ein und derselben eng begrenzten Stelle des
Tümpels.. So scheint die Frage nach den biologischen Bedingungen
der Hoden- und Eibildung bei der Chlorohydra viridissima durch-
aus noch nicht geklärt zu sein.
Bei den geschlechtsreifen grünen Hydren war das Ektoderm
bis auf die Hoden stets völlig unverändert. Die im Entwicklung
begriffenen Hoden stellten kleine flache weißliche transparente
Kugelsegmente dar; die fertigen waren bis halbkugelgroß und mit
einer verhältnismäßig großen Zitze versehen. Die Anzahl der je-
weils vorhandenen Hoden betrug bei den 12 geschlechtsreifen Indi-
viduen von Nr. 93—95 fünfmal 2 und siebenmal 1; sie saßen stets
auf der oralen Hälfte des Tieres, meistens an der Grenze des
oralen Viertels oder Drittels. Bei 10 von diesen Exemplaren
waren außer den Hoden auch Knospen vorhanden, die stets ohne
Hoden waren. EN:
Der gleichzeitige Befund von Hermaphroditen und rein männ-
lichen wiridissima in einer Population ıst von mehreren Autoren
mitgeteilt worden. : Bei Withney (17) waren die Hermaphroditen
sämtlich proterandrisch bis auf einen Fall, wo die Knospe einer
proterandirschen Mutter Zuerst ein Ei und daun Hoden produzierte.
Bekanntlich stellt Downing (12) im Gegensatz zu der Mehrzahl der
Autoren die Proterogynie als Regel für die Geschlechtsfolge der
hermaphroditen Hydren auf und vermutet sogar, daß Marshall,
der bei seinen vörids im Mai Hoden und erst Ende September
Eier beobachtete, nur Ende und Beginn von zwei Geschlechts-
perioden gesehen haben könnte. Meine Erfahrungen beschränken
sich auf folgendes: Am 21.5. 16 wurden einige von den am 18. 5.
erbeuteten viridissima isoliert, die reife Hoden mit Zitzen entweder
allein oder außerdem um die Körpermitte noch eine flache Ekto-
dermwucherung aufwiesen. Am 24.5. ließ sich eme deutliche Zu-
nahme.dieser Anschwellungen bemerken, und am 27.5 lagen vor:
1 Individuum mit Hoden und 1 reifen Ki, 1 mit Hoden und 1 fast
fertigen Ei, 2 mit Hoden und diekem Ektodermwulst ın der Körper-
mitte und 1 nur mit Hoden. Die Beobachtung wurde dann aus-
gesetzt. -— Auffallend ist, daß in der Population aus dem Tümpel
neben dem Altwässer der Mad bis zum 9. 6. 18, nachdem also
die Geschlechtsperiode bereits mindestens 14 Tage vorher einge-
treten war, immer noch keine Individuen mit Eiern oder Bildungs-
stadien von solchen gefunden wurden. Die Anzahl der gefundenen
Hydren dürfte eine genügende Gewähr bieten, daß nicht schon
eiertragende Exemplare vorhanden waren, die der Beobachtung zu-
fällig entgangen wären. Leider setzte die schon erwähnte Eintrock-
nung des Tümpels der Beobachtung ein Ende.
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Knidarier. Teil1. Zoolog. Jahrb. Anat. 29, 1910.
or a
Herrn Professor August Forel zu seinem 70. Geburtstag
verehrungsvoll gewidmet.
Nochmals die wissenschaftlichen Grundlagen
der Ameisenpsychologie.
Von Dr. med. R. Brun,
Assistent an der neurologischen Universitätspoliklinik und Spezialarzt für
Nervenkrankheiten in Zürich.
Vor mehr als Jahresfrist übte ich ın diesem Zentralblatte ')
scharfe Kritik an gewissen Ansichten, welche neuerdings von fach-
psychologischer Seite, nämlich von dem Privatdozenten Dr. Hans
Henning?) in Frankfurt über das psychische Leben der Ameisen
1) Brun, Die moderne Ameisenpsychologie — ein anthropomorphistischer Irr-
tum? — Dieses Zentralblatt Bd. 37, Nr. 7, 1917.
2) Henning, H., Der Geruch. — Leipzig 1916. Anhang 1: Künstliche Ge-
ruchsfährte und Reaktionsstruktur der Ameise. S. 455 —496.
500 R. Brun. Nochmals die wissenschaftlichen Grundlagen der Ameisenpsychologie.
geäußert wurden. In der diesjährigen Maimummer des Biologischen
Zentralblattes®) holt nun Herr Henning zu einer temperament-
vollen Entgegnung gegen mich aus, in welcher er mich beschuldigt,
seine Ansichten infolge oberflächlicher Lektüre seiner Arbeiten teils
mißverstanden, teils gröblich entstellt bezw. verdreht zu haben, und
außerdem auch mich als Ignoranten in psychologischen Fragen hin-
zustellen sucht. Als langjährigem Mitarbeiter dieses Blattes, sowie
im Interesse der Sache sei es mir gestattet, dem hier in sachlicher
Weise zu begegnen und dabei zugleich den Kernpunkt meiner da-
maligen Kritik nochmals klarzustellen.
Eine solche Klarstellung ist nämlich um so mehr vonnöten, als
Herr Henning in seiner Replik besagten Kernpunkt durch eine werd-
Baoıs eis äAko yEvos einigermaßen verschiebt. Er stellt die Sache so dar,
als hätte ich ihn hauptsächlich deshalb angegriffen, weil ich in ıhm
einen Läugner des tierischen Bewußtseins erblickt habe. Nichts konnte
mir ferner liegen als das! Hätte Henning beispielsweise die große
terminologische Anmerkung auf S. 25/26 meiner Monographie über
die Raumorientierung der Ameisen gelesen, so hätte er erfahren, daß
für mich die Bewußtseinsfrage bei der Beurteilung der Reaktionen
niederer Tiere, wie Ameisen, überhaupt vollkommen gegenstandslos
ist) (dementsprechend berühre ich denn auch in meinem polemischen
Aufsatz di®e Frage mit keinem Wort!). Mit der großen Mehrzahl
der modernen Biologen beschränke ich mich darauf, das Verhalten
dieser Geschöpfe mit Hilfe exakter experimenteller Methoden nach
allen Komponenten zu analysieren und an Hand einer neutralen
Terminologie in objektiver Weise zu schildern. Auf die, Begriffe
der introspektiven Psychologie (deren Anwendung in der Tier-
psychologie von jeher nur Mißverständnisse und Verwirrung ange-
richtet hat), kann ich dabei um so eher verzichten, als ja glück-
licherweise gerade die integrative Funktion des Psychischen,
die Mneme, einer objektiven (physiologischen) Analyse unbedingt
zugänglich ist: Die Frage, ob bei einer bestimmten tierischen Re-
aktion nur erblich vorgebildete Strukturautomatismen (Reflexe, In-
stinkte), oder auch, bezw. vorwiegend, im individuellen Dasein
erworbene („embiontische“) Engrammekphorien (Gedächtnisresiduen,
Erfahrungselemente) im Spiele sind, — diese Frage kann heute
wohl in den meisten Fällen mit einem hohen Grade von Wahr-
scheinlichkeit durch das „mnemische Experiment“ entschieden werden.
Ob dagegen solche objektiv erweisbaren „plastischen“ Reaktionen
bei niederen Tieren auch von Bewußtseinsphänomenen ähnlich den
unsrigen begleitet sind, — diese Frage ist ihrem ganzen Inhalt
3) Henning, H., Zur Ameisenpsychologie. — Eine kritische Erörterung über
die Grundlagen der Tierpsychologie. — Dieses Zentralblatt Bd. 38, Nr. 5, 1918.
4) Ich befinde mich darin in voller Übereinstimmung mit Forel (Methoden
und Sinn der vergleichenden Psychologie, im ‚Journ. f. Physiol. u. Neurol. Bd. 20,
1913, Ergänzungsheft 2).
R. Brun, Nochmals die wissenschaftlichen Grundlagen der Ameisenpsychologie. 501
nach transzendentaler Natur und kann daher meines Erachtens
überhaupt nicht Gegenstand naturwissenschaftlicher Forschung sein.
Streng genommen könnten wir daher eigentlich überhaupt nicht
von einer „Tierpsychologie“ sprechen, sofern wir unter Psychologie,
der philosophischen Definition zufolge, ausschließlich die Lehre
von den (nur durch Introspektion erforschbaren) Bewußtseinsphä-
nomenen verstehen’). Da nun aber, wıe bereits angedeutet, das
beim Tiere objektiv erfaßbare Individualgedächtnis nach unserer
introspektiven Erfahrung höchstwahrscheinlich zugleich auch die
integrative Funktion und somit die notwendige Vorbedingung aller
derjenigen höchsten Gehirnleistungen darstellt, die bei uns mit
Bewußtsein verknüpft sind, so sind wir meines Erachtens prak-
tisch berechtigt (ohne uns philosophisch allzuviel zu vergeben),
auch beim Tiere überall da von „psychischen* Reaktionen zu
sprechen, wo wir individuell erworbene (embiontische) Engramm-
ekphorien nachzuweisen imstande sind. M.-a. W.: Es erscheint
im Interesse einer wirklich wiıssenschaftlichen Tier-
psychologie nicht alleın zweckmäßig, sondern nachge-
rade dringend geboten, die Annahme eigentlich „psy-
chischer“ Qualitäten bei niederen Tieren fortan aus-
schließlich an den strikten Nachweis eines Indivıdual-
gedächtnisses zu knüpfen. Denn allein auf dem Boden dieser
Definition erscheint die Tierpsychologie ihres früher oft so proble-
matischen Charakters enthoben und ein- für allemal auf die Basıs
einer exakten biologischen Wissenschaft, einer experimentellen
Physiologie der embiontischen Mneme, gestellt.
Praktisch ist denn auch die Tierpsychologie, soweit sie über-
haupt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben kann, längst diesen
Weg gegangen: Die gesamte moderne „Behavior*-Psychologie, auf
deren Studium mich Henning verweisen zu müssen glaubt (die ich
aber schon aus dem Grusde ganz genau kenne, weil ich selbst sie seit
Jahren praktisch betreibe!), — ferner die ganze sog. „Residuenlehre“
der mit tierpsychologischen Studien beschäftigten Fachpsychologen
läuft ja, wie schon ıhr Name andeutet, auf nichts anderes als auf den
experimentellen Nachweis indıvidualmnemischer Residuen hinaus.
Ich weiß also nicht, wasHenning mit seiner künstlichen Gegenüber-
stellung meiner Forschungsmethoden gegen diejenigen der eben ge-
nannten „Richtungen“ eigentlich besagen will! Daß ich mich einer
etwas abweichenden Terminologie bediene, macht doch sachlich
keinen Unterschied, denn ob ich nun anstatt „Residuen“ oder
„Remanenzerscheinungen* den Ausdruck „individuell erworbene En-
gramme* (bezw. Ekphorien) gebrauche, wird doch wohl ın sachlicher
5) Über ‚die Unhaltbarkeit einer solchen Definition der wissenschaftlichen
Psychologie vgl. auch die treffenden Ausführungen Forel’s in: Über unser mensch-
liches Erkennungsvermögen. Beitrag zur wissenschaftlichen deterministischen Psycho-
logie. — Journ. f. Psychol. u. Neur. Bd. 20, 1915.
502 R. Brun, Nochmals die wissenschaftlichen Grundlagen der Ameisenpsychologie.
Hinsicht gleichgültig sein! Für mich und andere aber bedeutet die
Anwendung der Semon’schen Terminologie den großen theore-
tischen Fortschritt, daß wir damit in der Lage sind, den Reak-
tionsablauf sämtlicher organischen Reproduktionsphänomene in
seiner durchgehenden Gesetzmäßigkeit zu erfassen und zu schildern.
Daß wir dabei nicht, wie Henning zu befürchten scheint, Gefahr
laufen, die individuell erworbenen mit den hereditär-mnemischen
Ekphorien zusammenzuwerfen, dafür ist ja eben durch das gar nicht
mißzuverstehende Beiwort „individuell erworben“ jeweilen genügend
gesorgt. Damit erledigt sich auch Henning’s Exkurs in die
Botanik und die angeblich von uns postulierte „Pflanzenseele“. Be-
vor Henning uns derart naiven Anthropomorphismus zuschrieb,
hätte er sich doch bemühen sollen, einigermaßen in den Sinn
unserer Terminologie einzudringen. Wasmann, der — aus andern
Gründen — die Semon’sche Mnemelehre ebenfalls ablehnen zu
müssen glaubt, hat sich wenigstens dieser letzteren Pflicht unter-
zogen und es daher vermieden, uns, bloß aus Unkenntnis unserer
Ausdrucksweise, sachlich mißzuverstehen. —
Soviel über die wissenschaftlichen Grundlagen der modernen
Tierpsychologie, wie ich sie mit der großen Mehrzahl der Biologen
verstehe. Wie steht es nun demgegenüber mit den wissenschatt-
lichen Grundlagen der Henning’schen Tier- und Ameisenpsycho-
logie? Die Antwort auf diese Frage ergibt sich nach dem eben
Gesagten wie folgt: Henning leugnet dieMneme der Ameisen,
d. h. „die ım Gedächtnis zurückbleibenden Spuren oder Residuen
unserer Erlebnisse, die uns später zum Erkennen, Wiedererkennen
und Erinnern verhelfen“ (Biol. Zentralbl. 1918, S. 217), — also
unter allen psychischen Fähigkeiten gerade diejenige, die
allein auch beim Tiere objektiv erweisbar ist! Trotzdem
gelangt er aber „speziell für die Ameisen... zu dem Enndergebnis,
daß ‚psychische Komplexe‘ vorhanden sind“ (Biol. Zentralbl. 1918,
S. 212) —, Komplexe, die indessen nach Henning weder aus
„Empfindungen mit Gefühlstönen“, noch aus „Wahrnehmungen“, son-
dern im wesentlichen aus „peripheren Reizkomplexen“ aufgebaut
sind (S. 495 seines Geruchsbuches), Und dabei wundert sich nun
Henning... wenn ich finde, diese „periphere Psychologie“ laufe,
bei Licht besehen, ungefähr auf dasselbe wie die Beth e’sche Reflex-
theorie hinaus!®) Ich soll die Bedeutung des Henning’schen
Ausdruckes „peripher* mißverstanden haben, indem ich mir den-
selben einfach mit „reflektorisch“ übersetzte, bezw. mir darunter
die physiologischen Erregungsvorgänge in den Sinnesorganen und
den primären Sınneszentren dachte. Ja, aber was bleibt denn
eigentlich noch anderes übrig, nachdem man die „zentralen Fak-
toren“ („die Residualkomponenten des Sinneserlebnisses“ — En-
6) Daß Henning dabei manche Einzelergebnisse Bethe's verwirft bezw.
anders deutet, ändert an der grundsätzlichen Übereinstimmung seiner Haupt-
schlußfolgerungen mit denjenigen Bet he's nichts.
1% \ - a x
NA * " ’
R. Brun, Nochmals die wissenschaftlichen Grundlagen der Ämeisenpsychologie. 503
grammekphorien) geleugnet hat? Henning möge uns doch
demonstrieren, wie aus bloß „peripheren, d.h. „durch
Reizung der peripheren Sinnesorgane ausgelösten Er-
lebnisteilen“ (8.209) ohne ein Hinzutreten zentraler „Resi-
dualkomponenten“ eine Psyche sich ‚aufbauen kann! Für
mich und jeden Biologen bleiben da eben nur Reflexe und ererbte
Komplexekphorien (Instinktmechanismen) übrig. Mit der bloßen Be-
hauptung, daß solche physiologischen Vorgänge auch „psychisch“ seien,
vermag ich keinen wissenschaftlichen Sinn zu verbinden, nachdem
die wissenschaftliche Tierpsychologie sich längst als oberste Richt-
schnur den Satz zu eigen gemacht hat, daß man nicht berechtigt
sei, ein bestimmtes tierisches Verhalten durch die willkürliche An-
nahme „psychischer“ Fähigkeiten zu erklären, sofern man dabei schon
mit einfacheren, rein physiologischen Erklärungsprinzipien auskommt.
Vollends unverständlich aber ıst es mir, wieso Henning genaue
Angaben über die Beschaffenheit subjektiver Bewußtseinszu-
stände von Tieren machen kann, denen er nicht einmal zentrale
Residuen zuerkennt, so, wenn er beispielsweise auf S. 208 allen
Ernstes behauptet, „daß das niederste tierische Bewußtsein mit
einem dämmerhaften, wenig gegliederten Bewußtseinskomplex an-
hebt“, und solche „Wissenschaft“ gar als die „gesicherten“ Ergeb-
nisse „der neueren Experimente“ (sie!) ausgibt. Demnach wäre
also Henning in der Lage, nicht allein die Existenz des Bewußt-
seins bei niederen Tieren experimentell zu erweisen, sondern dieses
Bewußtsein überdies auch noch eingehend zu analysieren!
Dies meine Antwort auf Herrn Henning's Frage, wieso seine
Ameisenpsychologie keine Psychologie se. Was nun die sach-
lichen Argumente gegen diese Psychologie anbelangt, so will ich
hier /nicht nochmals auf Einzelheiten meiner damaligen Beweis-
führung zurückkommen; ıch kann nur nochmals wiederholen, daß
die Existenz des Individualgedächtnisses (der individuell
erworbenen Mneme) beı den Ameisen durch die überein-
stimmenden Ergebnisse einer mehr als hundertjährigen
Forschung über jeden Zweifel erwiesen ist und daß somit
die gegenteilige Behauptung Henning’s sich meines Erachtens
nur aus seinem ungenügenden Eindringen ın die äußerst ver-
wickelte Biologie der Ameisen, sowie in die ameisenpsychologische
Literatur erklären läßt. Diesen Eindruck teile ich, soweit ich aus
mir zugekommenen Briefen beurteilen kann, mit allen führenden
Ameisenforschern der &egenwart. Auch die neuen Argumente, die
Henning in seiner Replik vorbringt, verraten durchweg wieder
seine mangelhafte Kenntnis der Ameisenbiologie, so zum Beispiel
— um nur eines hervorzuheben — seine Berufung auf die Tat-
sache, daß die Ameisen manche sogenannten „Ameisengäste* sofort
feindlich verfolgen, sobald sie dieselben mit den Augen wahr-
nehmen. Henning hat hier übersehen, daß es sich in diesen Fällen
504 R. Brun, Nochmals die wissenschaftlichen Grundlagen der Ameisenpsychologie.
nicht um echte Ameisengäste (Symphilen), sondern um feindliche
Einmieter, sogenannte Synechthren handelt. Das von mir erwähnte
Experiment Wasmann's, der Ameisen an fremde Gäste (echte Sym-
philen, die aber normalerweise bei der betreffenden Art nicht vor-
kommen) gewöhnen konnte, hat mit diesem Verhalten der Ameisen
gegen Synechthren gar nichts zu tun; —- dieses ist eine normale
rein instinktive Abwehrreaktion, jener Versuch Wasmann’s da-
gegen beweist unter tausend andern die plastische Anpassungs-
fähigkeit der Ameisen, ihr Vermögen, auf Grund neuer gün-
stiger Erfahrungen ihr instinktives Verhalten zu ändern, mit einem
Worte: aus Erfahrung zu lernen.
Ähnliche Irrtümer laufen Henning bei fast allen von ihm
herangezogenen Tatbeständen unter, ganz besonders aber auf dem
Gebiete der räumlichen Orientierung der Ameisen; nahezu alles,
was er zu diesem Thema vorbringt — so gerade ‘wieder seine
jüngsten, zum Teil ironisch gehaltenen Bemerkungen über die
Lichtorientierung, das Phänomen der virtuellen Orientierung und
das Wegfinden auf Geruchsspuren —, zeigt, wie wenig tief er in
die hier vorliegenden schwierigen Probleme eingedrungen ist: Er hat
tatsächlich nirgendswo auch nur die betreffenden Fragestellungen
richtig erfaßt ’). — Die bloße (einmalige!) Namenserwähnung
eines Autors, wie z. B. Cornetz’, genügt natürlich nicht, um
den Verfasser von dem Vorwurfe mangelhafter Sach- und
Literaturkenntnis freizusprechen, solange er dabei die For-
schungsergebnisse dieses Autors übergeht. Und wenn
schließlich Henning meinen Vorwurf mangelhafter Literaturkenntnis
auf mich zurückzuwenden versucht, indem er mir seinerseits vor-
wirft, in meiner Kritik seine übrigen Arbeiten, sowie die „neuere
psychologische Literatur“ nicht berücksichtigt zu haben, so bemerke
ich dagegen, daß es nicht meine Aufgabe war, ein Kompendium der
Tierpsychologie oder gar der Psychologie überhaupt zu schreiben,
sondern seine gänzlich unzulänglichen Anschauungen
über das psychische Verhalten der Ameisen kritisch zu
betrachten. Wohl aber wäre es an Herrn Henning gewesen, sich
zunächst gründlich über die Biologie der Ameisen und die umfangreiche
myrmekologische Literatur zu orientieren, bevor er auf diesem nicht
einfachen Gebiet miteigenen Forschungenhervortratundüber Probleme
urteilte, die mit zu den schwierigsten der Tierpsychologie gehören.
Damit möchte ich meinerseits die Diskussion schließen.
Zürich, im Juli 1918.
7) Daher sind ‚denn auch seine Versuchsanordnungen meist ganz unzuläng-
lich, weil von falschen Fragestellungen diktiert. So ist es z. B. für die Frage
des Nachweises mnemischer Residuen bei der Geruchsorientierung vollständig be-
langlos, zu wissen, welche chemischen Substanzen „die Spur sperren“, d. h. den
spezifischen Spurgeruch in einer für die Ameisen differenten Weise überlagern oder
verdecken:; diese ganze Untersuchung gehört überhaupt nicht ins Gebiet der Psycho-
logie, sondern in dasjenige der Sinnesphysiologie.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Hof- und
Univ.-Buchdr. von Junge & Sohn in Erlangen.
Amar
oSisches Zentralblatt
Begründet von J. Rosenthal
Unter Mitwirkung von
Dr. K. Goebel und Dr. R. Hertwig
Professor der Botanik Professor der Zoologie
in München
herausgegeben von
Dr. E. Weinland
Professor der Physiologie in Erlangen
Verlag von Georg Thieme in Leipzig
38. Band | Dezember 1918 Nr. 12
ausgegeben am 23. Januar 1919
Der jährliche Abonnementspreis (12 Hefte) beträgt 20 Mark
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen und Postanstalten
Die Herren Mitarbeiter werden ersucht, die Beiträge aus dem Gesamtgebiete der Botanik an
Herrn Prof. Dr. Goebel, München, Menzingerstr. 15, Beiträge aus dem Gebiete der Zoologie,
vgl. Anatomie und Entwiekelungsgeschichte an Herrn Prof. Dr. R. Hertwig, München,
alte Akademie, alle übrigen an Herrn Prof. Dr. E. Weinland, Erlangen, Physiolog. Institut,
einsenden zu wollen.
Inhalt: Fr. J. Mayer, Der Generationswechsel bei Pilanzen und Tieren als Wechsel verschiedener
Morphoden. S. 505.
J. Greiner, Cytologische Untersuchungen bei der Gametenbildung und Befruchtung des
Coceids Adelea ovata 8. 522.
Fr. Eckstein, Die Uberwinterung unserer Stechmücken. S. 530
Register. S. 537.
Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren als
Wechsel verschiedener Morphoden.
Von Dr. Fritz Jürgen Meyer,
1. Assistent am Botanischen Institut Marburg (Lahn).
In letzter Zeit sind verschiedene Arbeiten veröffentlicht worden,
welche sich mit dem Generationswechsel bei den Pflanzen und bei
den Tieren beschäftigen:
Buder, Zur Frage des Generationswechsels im Pflanzenreich. Berichte der Deut-
schen Botanischen Gesellschaft 1916
—, Der Generationswechsel der Pflanzen. Monatshefte für den naturwissen-
schaftlichen Unterricht 1916.
Kylin, Die Entwicklungsgeschichte und die systematische Stellung von Bonne-
maisonia asparayoides nebst einigen Worten über den Generationswechsel der
Algen. Zeitschrift für Botanik 1916.
Renner, Zur Terminologie des pflanzlichen Generationswechsels. Biologisches
Zentralblatt 1916.
Hartmann. Der Generationswechsel der Protisten und sein Zusammenhang mit
dem Reduktions- und Befruchtungsproblem. Verhandlungen der Deutschen
Zoologischen Gesellschaft (Freiburg) 1914.
»8. Band 36
506 Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete.
Goeldi, E. A. und Ed. Fischer, Der Generationswechsel im Tier- und Pflanzen-
reich, mit Vorschlägen zu einer einheitlichen biologischen Auffassung und
Benennungsweise. (Mitteilungen der Naturf.-Gesellsch. Bern 1916.)
Auch in einigen neu erschienenen Werken allgemeinen Inhaltes
finden sich in ähnlicher Weise Erörterungen über den Generations-
wechsel.
Zur Klärung dieser Fragen kann wohl eine Anschauung wesentlich
beitragen, die Herr Prof. Arthur Meyer in seiner Vorlesung über
allgemeine Botanik seit längeren Jahren vertreten hat. Er be-
trachtet den Generationswechsel, dessen typisches Beispiel
für den Botaniker bei den Farnen vorliegt, als einen Spezial-
fall der im Pflanzen- und Tierreich sehr häufig vor-
kommenden Differenzierung der Spezies ın mehrere Mor-
phoden, d. h. ın Individuen, welche unter allen Verhält-
nissen nach Morphologie und Leistung verschieden sind.
Prof. Meyer macht in seiner Vorlesung besonders darauf aufmerk-
sam, daß diese Differenzierung der Spezies in Morphoden verschie-
dener biologischer Leistung ganz analog der Differenzierung der
Individuen in Organe verschiedener Funktion und der Differen-
zierung der Zellen eines Individuums in verschiedene Zellarten ist.
Die ım Pflanzenreiche vorkommende Ausbildung verschiedener Mor-
phoden ist entweder dadurch von Vorteil, daß sıe Fremdbestäubung
erzwingt (Diöcie) oder begünstigt (Heterostylie)“ oder daß eine
Arbeitsteilung eintreten kann, wie z. B. bei den Farnen. Der
Generationswechsel ist nun die Form dieser Differen-
zierung, bei welcher wenigstens zwei verschiedene Mor-
phoden immer inregelmäßigem Wechsel auseinander her-
vorgehen.
Es wird vielleicht nicht ohne Interesse sein, wenn ich diese
Gedanken an einigen Beispielen genauer ausführe. Da ın den oben
zitierten Arbeiten schon mehrfach alle Fälle des Generations-
wechsels behandelt worden sind. so werde ich mich hier darauf be-
schränken, nur einzelne zu besprechen, welche besonders durch-
sichtig sınd und zur Klärung der allgemeinen Erörterungen bei-
tragen können. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht bildet die Be-
handlung der Florideen. Deren Entwicklungsgeschichte ist erst ın
den letzten Jahren gründlich studiert, und unsere Kenntnisse weisen
auch noch manche Lücken auf. Da jedoch der „Generations-
wechsel‘‘ der Florideen gerade anläßlich der letzten Arbeiten über
Florideenentwicklung oft besprochen ist, so halte ich es für vor-
teilhaft, ihn auch von unserem Standpunkte aus zu beleuchten.
Dagegen werden (besonders im Tierreich) solche Fälle, welche Über-
gänge zwischen zwei Typen darstellen, entweder ganz außer acht
gelassen oder nur kurz erwähnt.
N. Ve
ar
Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren etc. 507
I. Differenzierung der Spezies im allgemeinen.
Der bekannteste Fall der Differenzierung der Spezies in zwei
Morphoden ist in der Botanik die Ausbildung einer männlichen
und einer weiblichen Morphode bei den höheren Pflanzen. Bei den
Angiospermen hat man diese Differenzierung als Diöcie bezeichnet, und
dieser Name istdann auch auf ähnliche Verhältnisse bei den Gymno-
spermen, Pteridophyten, Bryophyten und Thallophyten übertragen
worden.
Die typische Diöcie bei den Angiospermen besteht darın, daß
ein Teil der Individuen nur männliche Blüten, der andere Teil nur
weibliche Blüten trägt. Neben dieser Diöcie im engeren Sinne gibt
es bei den Angiospermen noch eine Androdiöcie (z. B. bei Dryas
octopetala), d.h. einzelne Individuen tragen zwitterige Blüten, andere
rein männliche, Somle eineGynodiöcie(z. B. bei Myosotis, on,
Salvia pratensis), d.h. die Individuen besitzen entweder zwitterige
Blüten oder nur rein weibliche, und schließlich eine Triöcie (z.B.
hei Fraxinus excelsior, Halianthus peploides) mit männlichen und
weiblichen Individuen und drittens solchen mit zwitterigen Blüten!).
Die gleichen -Verhältnisse finden sich bei den zweihäusigen
Gymnospermen, bei denen Mikro- und Makrosporophylistände auf
verschiedenen Individuen vorkommen. Bei den heterosporen Pteri-
dophyten und den Equiseten ist das Prothallium in zwei Mor-
phoden differenziert, von welchen die eine Antheridien, die an-
dere Archegonien trägt. Analoge Verhältnisse zeigen die zwei-
häusigen Bryophyten, bei denen die männlichen Pflanzen ın einigen
Fällen besonders klein bleiben (Zwergmännchen), so daß die Dif-
ferenzierung besonders augenscheinlich wird, die zweihäusigen Cha-
raceen, die zweihäusigen Fucaceen und die Dietyotaceen, bei denen
auf der einen Marihode die Antheridien, auf der anderen die Arche-
gonien bezw. Vogonien sitzen.
Schließlich Be; den Pilzen dürfen wır wohl die + und — Rassen
der Mucorineen als zwei geschlechtlich differenzierte Morphoden
auffassen.
Ein anderer Fall der Differenzierung einer Spezies in zwei oder
drei Morphoden ist die Heterostylie. Sie kann ın verschiedenen
Formen auftreten. Am bekanntesten ist die dimorphe Hetero-
stylie der Prömula. Andere Angiospermen (z.B. Lythrum salicaria
und Colchicum autumnale) besitzen sogar drei Morphoden mit ver-
schiedener Länge des Griffels (Tristylie).
Als nicht hierher gehörig ist dagegen der sogenannte Saisondimorphismus
und Saisontrimorphismus bei Gentiana, Euphrasia und anderen Pflanzen zu
betrachten. Der unglücklich gewählte Name Saisondimorphismus regt leicht zu
1) Weitere Beispiele sowie andere seltenere Arten der Diöcie siehe bei Correns
(Handwörterbuch der Naturwissenschaften, Bd. III, p. 978).
36*
a A EN RL SR
508 Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflauzen und Tieren ete.
der Vermutung an, daß es sich bei Gentiana und den übrigen „saisondimorphen‘“
Pflanzen um eine Differenzierung in zwei Morphoden einer Spezies handele; in der
Tat liegt die Sache aber so, daß sich aus einer Spezies zwei bezw. drei neue Spezies
entwickelt haben, da aus den Samen jedes Individuums nur Nachkommen mit genau
den gleichen Eigenschaften hervorgehen (Wettstein, Berichte der Deutschen Botanischen
Gesellschaft 1895, p. 307).
Im Tierreich haben wir entsprechend der Diöcie der Pflanzen
bekanntlich zahlreiche Fälle der Differenzierung in eine männ-
liche und eine weibliche Morphode. Es seı außerdem auf
einige Beispiele für andersartige Differenzierung in geschlechtlich
verschiedene Morphoden hingewiesen. Erstens ıst in dieser Be-
ziehung die Differenzierung in eine hermaphrodite und eine männ-
liche Morphode (Zwergmännchen) bei einigen Oirripedien, sowie das
Vorkommen von Männchen, Weibchen und Zwergmännchen bei
anderen Cirripedien zu erwähnen; diesen Beispielen sind dann die
Fälle anzureihen, in denen nicht mehr alle Morphoden funktions-
fähıge Geschlechtsorgane besitzen; am bekanntesten ist in dieser
Beziehung der Trimorphismus der Bienen, weitergehende Differen-
zierung zeigen die Ameisen (Männchen, ‚Weibchen und rudımentäre
Weibchen von verschiedener Form und Größe) und vor allem die
Termiten, bei denen außer den Geschlechtstieren noch Arbeiter,
Soldaten und Nasuti je von männlichem und weiblichem Geschlecht
und überdies in verschiedenen Größenkategorien, insgesamt also
acht oder sogar noch mehr Morphoden vorkommen.
Nicht hierher gehörig ist dagegen z.B. der sogenannte Polymorphismus der
Siphoneen, da es sich bei diesen nicht in dem oben definierten Sinne um verschie-
dene Morphoden handelt, sondern um verschieden differenzierte Zweige eines Selb-
lings. Auch der Saisondimorphismus der Schmetterlinge und anderer Tiere ist nur
eine Bildung von verschiedenen Modifikationen der gleichen Spezies infolge äußerer
Einflüsse.
II. Der Generationswechsel im Pflanzenreich.
Wie schon oben gesagt wurde, soll der Generationswechsel als
eine spezielle Form der Differenzierung der Spezies in zwei oder
mehrere Morphoden aufgefaßt werden und zwar als ‚diejenige Form,
bei welcher wenigstens zwei Morphoden in regelmäßigem Wechsel
aus einander hervorgehen. In diesem Sinne ist das klarste und
durchsichtigste Beispiel das der Pteridophyten. Gamophyt und
Sporophyt sind bei ihnen in ihrer Morphologie und in ihren Lei-
stungen sehr wesentlich verschiedene Morphoden:
Pteridophyten mit zwitterigem Prothallium (homo-
spore Pteridophyten ausschließlich der Equiseten)
Gamophyt: 1. Morphode 1. Generation
Sporophyt: 2. Morphode 2. Generation.
Pteridophyten mit eingeschlechtlichem Prothallium
(heterospore Pteridophyten und Equiseten):
LS, N Br z > 4
\ ’
Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren etc. 509
männlicher Gamophyt: 1. Morphode x
weiblicher Gamophyt: 2. Morphode { 1. Generation
. Sporophyt: 3. Morphode 2. Generation.
Die gleichen Verhältnisse scheinen bei den Laminarien vorzu-
liegen. Bisher war bei diesen nur der Sporophyt bekannt. Neueren
Untersuchungen von Sauvageau, Kylin und Kuckuck ver-
danken wir jedoch auch die Kenntnis einer mikroskopisch kleinen
(seschlechtsgeneration (Kuckuck, Berichte der Deutschen Gesell-
schaft 1917, p. 557 ff.). Es fehlt freilich einstweilen noch die Be-
obachtung der Befruchtung der Eizellen der weiblichen Gamo-
phyten. Schematisch lassen sich die Verhältnisse genau so dar-
stellen, wie bei den heterosporen Pteridophyten?).
Vollkommen geklärt sind dagegen die Fortpflanzungsvorgänge
bei den Dietyotaceen. Bei ihnen liegt Differenzierung in drei
Morphoden vor, welche sich nur durch die Fortpflanzungsorgane
unterscheiden, während die vegetativen Teile des Thallus voll-
kommen gleich sind (abgesehen von den cytologischen Verhält-
nissen). Die eine Morphode bildet Tetrasporen, sie repräsentiert
die ungeschlechtliche Generation, die beiden anderen Morphoden
tragen männliche und weibliche Geschlechtsorgane, sie zusammen
repräsentieren die geschlechtliche Generation. Im Gegensatz zu
den Generationen der Pteridophyten sind die Morphoden der Dic-
tyotaceen selbst anfangs räumlich getrennt:
Dietyotaceen:
Tetrasporenpflanze: 1. Morphode 1. Generation
männliche Geschlechtspflanze: 2. Morphode
weibliche Geschlechtspflanze: 3. Morphode ‘2. Generation.
Ähnliche Verhältnisse liegen vielleicht bei einigen Cutleriaceen
vor. Nach Yamanouchi wechseln bei Zanardinia zwei ın der Mor-
phologie der vegetativen Organe gleiche Morphoden mit geschlecht-
licher und ungeschlechtlicher Fortpflanzung (Zoosporen) ab, bei
Cutleria zwei auch ın dem Bau der vegetativen Teile verschiedene
Generationen. Kuckuck nnd Sauvageau haben dagegen bei
Outleria Fälle ohne regelmäßigen Wechsel der Morphoden be-
obachtet.
2) Während des Lesens der 2. Korrektur wurde mir die soeben. erschienene
Arbeit von Pascher „Über diploide Zwerggenerationen bei Phaeophyceen (Laminaria
sacharina)“ (Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft 1918 Heft 5) bekannt.
Pascher fand Zwerggenerationen des Sporophyten, die schon in einem wenig-
zelligen (bis zweizelligen) Stadium zur Sporenbildung schritten; zuweilen fungierte
sogar schon die befruchtete Eizelle selbst als Sporangium, so daß die ungeschlecht-
liche Morphode nur durch die Schwärmsporen repräsentiert wurde. Es kann also
hier unter Umständen der Sporophyte in ähnlichem Grade einfach werden, wie der
weibliche Gamophyt der Angiospermen,
\
540 Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete.
Die Fortpflanzung der Florideen ist ın letzter Zeit wieder-
holt untersucht, und dabeı hat sich die Auffassung von ihrem Gene-
rationswechsel mehrfach geändert.
Ehe man den ganzen Verlauf der Entwicklung verfolgt hatte,
galt die zuerst von Schmitz und später besonders von Oltmanns
vertretene Annahme als die richtige. Oltmanns (Botan. Zeitung
1898, p. 138) schreibt: „Wir unterscheiden bei den Florideen den
Gamophyten°®), d.h. den Träger der Sexualorgane, und den Sporo-
phyten, den Träger und Bildner der Sporen. Die Tetrasporen werden
angesehen als brutknospen-gleiche Nebenfruchtformen.“
Durch eytologische Untersuchungen an Polysiphonia wiolacea
wurde später Yamanouchi (Botan. Gazette 42, 1907) zu der Ver-
mutung geführt, daß aus den Carposporen tetrasporentragende, aus
den Tetrasporen carposporenerzeugende Individuen hervorgingen.
Yamanouchi fand nämlich, daß die tetrasporenbildenden Individuen
40, die geschlechtlichen 20 Chromosomen besitzen und daß erstens
bei der Befruchtung der Eizelle durch das Spermatium ein Kern
mit 40 Chromosomen entsteht und zweitens bei der Bildung der
Tetrasporen (Tetradenteilung) Reduktion der Chromosomenzall statt-
findet.
Die gleichen Ergebnisse zeitigten die cytologischen Arbeiten
von Lewis über Gröffithsia Bornetiana (Annals of Botany 23, 1909)
und von = yarlelins „Über den Generationswechsel von De ia
sanguinea“ (Svensk Bot. Tidskrift 5, 1911). Yamanouchi’s An-
nahme von dem regelmäßigen Wechsel tetrasporentragender und
geschlechtlicher Individuen wurde überdies wahrscheinlich gemacht
durch die Beobachtungen Kylin’s an Harveyella mirabilis (Studien
über die Algenflora der schwedischen Westküste 1907) und Rosen-
vinge’s an Ohantransia efflorescens(The Marine Algae of Denmark
I, 85). Beide Autoren stellten fest, daß Tetrasporenpflanzen und
Geschlechtsindividuen der genannten Algen zeitlich getrennt auf-
treten, bei Harveyella ım Frühling Tetrasporenindividuen und zu Ende
des Jahres Geschlechtsindividuen, bei Chantransia umgekehrt.
Den experimentellen Nachweis für die Richtigkeit der Yama-
nouchi’schen Annahme brachte bald darauf Lewis (Botanical Ga-
zette 53, 1912), der ın Kulturen den Entwicklungsverlauf von
Polysiphonia violacea, Griffithsia Bornetiana, Dasya elegans ver-
folgte.
Die Tatsachen waren damit für diese Florideen, die sogenannten
diplobiontischen, richtig erkannt; aber die genannten Autoren
wurden bei ihrer Darstellung durch cytologische Gesichtspunkte
geleitet: sie bezeichneten den haploiden Lebensabschnitt, der bei
der Tetraspore beginnt und mit der Befruchtung der Eizelle endet,
3) Diese Nomenklatur wurde, wie Oltmanns an anderer Stelle (Algen I,
682) sagt, wegen der „Ähnlichkeit mit den Moosen“ angewandt,
>
Fr. J Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren etc. 511
als Gamophyten und den diploiden Abschnitt, also sporogene Fäden
und tetrasporentragende Pflanze, als Sporophyten.
Diese Auffassung war nur vom rein cytologischen Standtpunkt
gewonnen. Kylin hat daher eine andere Darstellung gegeben und
‚kommt damit unserer Auffassung schon näher. Er unterscheidet
arei Generationen: den Gamophyten, den Carposporophyten und
den Tetrasporophyten,
In gleicher Weise stellen auch Buder und Renner die Ent-
wicklung der diplobiontischen Florideen dar.
Damit haben sie die sie störende Betrachtungsweise, welche
die sporogenen Fäden und die aus deren Sporen hervorgehenden
Tetrasporenpflanzen zu einer Generation rechnete, abgelehnt. Da-
gegen haben sie den Einschnitt, der von den Cytologen zwischen
dem „Gamophyten“ und den sporogenen Fäden wegen der dort
stattfindenden Befruchtung gemacht wurde, beibehalten.
Halten wir uns an unsere oben gegebene Definition des Gene-
rationswechsels, so.können wir einstweilen nicht entscheiden, ob
wir der Buder-Kylin-Renner’schen Darstellung beistimmen
sollen oder nicht. Es bieten sich nämlich bei den Florideen große
Schwierigkeiten, weil Zweifel herrschen können, was hier als Mor-
phode zu bezeichnen ist.
Um die Klärung der Verhältnisse zu erleichtern, möchte. ich
daher den Begriff derMorphode noch dadurch präzisieren,
daß ich ın der Definition an Stelle des Begriffs Indivi-
duum den schärferen Begriff Selbling einführe. Ein Selb-
ling ist nach Arthur Meyer’s Definition (Botanische Zeitung
1902, I, 144) „ein in sich geschlossener Teil des Speziesprotoplasten“.
Im allgemeinen werden Individuen Selblinge sein; es gibt jedoch
auch Individuen, welche aus mehreren Selblingen bestehen, z. B.
die Flechten-Individuen, die aus zahlreichen Selblingen zusammen-
gesetzt sind, und die Vertebraten-Individuen, ın denen die Blut-
körperchen Selblinge sind, welche mit den übrigen Geweben des
Individuums nicht in protoplasmatischer Verbindung stehen.
- In der Botanik wird diese präzisierte Definition der Morphode
vorteilhaft sein, weil im allgemeinen die Untersuchungen über die
Plasmaverbindungen schon jetzt genügend weit gefördert sind, um
zu entscheiden, ob ein Individuum ein Selbling ist oder nicht. In
dem klassischen Beispiel des Generationswechsels, bei den Farnen,
steht z. B. durch die Untersuchungen von Kienitz-Gerloff (Be-
richte der Deutschen Botanischen Gesellschaft 1892) fest, daß
zwischen der Eizelle und den Zellen des Archegoniumbauches keine
Plasmaverbindungen verbleiben; Gamophyt und Sporophyt sind
also in der Tat Selblinge, und somit ist die Auffassung, daß sie
zwei Morphoden sind, auch vom plasmologischen Standpunkte ge-
rechtfertigt. Bei den übrigen bisher besprochenen Beispielen sind
512 Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete.
die Generationen räumlich getrennt: die Frage nach Plasmaverbin-
dungen fällt also fort.
Wenden wir nun die präzisierte Definition der Morphode auf
die Florideen an, so stoßen wir auf Schwierigkeiten, weil die bis
jetzt vorliegenden Arbeiten über Plasmaverbindungen bei diesen
Algen noch nicht ausreichen; vor allem ist die für uns hier ın
Betracht kommende Stelle niemals einer besonderen Prüfung unter-
zogen. Lotsy schreibt zwar in seiner Stammesgeschichte (Bd. I,
p- 314): „Die 2x-Generation wird hier von der x-Generation mittels
Plasmaverbindungen zwischen der hypogynen Zelle der 2x-Gene-
ration und den darunter gelegenen Zellen der x-Generation er-
nährt‘“‘; diese Aussage stützt sich aber wohl — Lotsy macht keine
genaue Literaturangaben — nur auf die Feststellung Wille’s (Nova
Acta d. Ksl. Leop -Carol. Deutschen Akad. d. Naturforscher, Halle
Bd. 52, Nr. 2, 1887), daß alle Zellen durch „Poren‘‘ miteinander
in Zusammenhang stehen, und auf die Angaben von Wolfe (Annals
of Botany XVIII, p. 610): „The contents of adjacent cells are united
by means of the characteristic protoplasmatie connexions usually
conspicuous in these plants.“ Beide Autoren haben aber sicher-
lich nur Tüpfel mit Tüpfelfüllungen gesehen. Wolfe’s Zeichnungen
(1. c.. Tafel XL, Fig. 1, 18, 19, 20, 21) lassen wenigstens nichts an-
deres erkennen.
Abgeschen davon, daß der Zusammenhang zwischen Tragzelle
und Eizelle nie besonders beachtet ist, sind aber die Untersuchungen
über Plasmaverbindungen bei den Florideen überhaupt nur sehr
dürftig und wegen der technischen Schwierigkeiten wenig zuver-
lässig. Ich verweise wegen dieser Fragen noch auf das Kapitel
über Plasmaverbindungen in dem demnächst erscheinenden Buche
von Arthur Meyer ‚Morphologische und physiologische Analyse
der pflanzlichen und tierischen Zelle“.
Wir müssen uns also einstweilen damit begnügen, die beiden
bestehenden Möglichkeiten nebeneinander zu stellen. Sind Gamophyt
und sporogene Fäden durch Plasmaverbindungen zwischen der Eı-
zelle und deren Tragzelle dauernd (bis zur Reife der Uarposporen)
in protoplasmatischem Zusammenhang, d.h. sind sie ein Selbling,
so sind sie eine Morphode, also für uns eine Generation. Wenn
dagegen an der besagten Stelle keine Plasmaverbindungen ver-
bleiben, so würden der Gamophyt und die Gesamtheit der sporo-
genen Fäden je ein Selbling sein und somit als je eine Morphode
aufgefaßt werden müssen.
Da die bis jetzt als diplobiontisch erkannten Spezies mit wenigen
Ausnahmen die Geschlechtsorgane auf verschiedenen Individuen her-
vorbringen, so sind also die folgenden beiden Fälle möglich:
Diplobiontische Florideen mit diöcischem Gamo-
phyten;
Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete., 513
I. Plasmaverbindungen zwischen Eizelle und Tragzelle vor-
handen:
Tetrasporentragende Pflanze 1. Morphode 1. Generation
männlicher Gamophyt 2. Morphode |
weiblicher Gamophyt u. sporogene 2. Generation.
Fäden 3. Morphode |
ll. Plasmaverbindungen zwischen Eizelle und Tragzelle fehlen:
Tetrasporentragende Pflanze 1. Morphode 1. Generation
männlicher Gamophyt 2. Morphode |
weiblicher Gamophyt (bis zur 2. Generation
Oospore) 3. Morphode
sporogene Fäden 4. Morphode 3. Generation.
Bei den diplobiontischen Floriden mit monöcischem Gamo-
phyten liegt anstelle der 2. und 3. Morphode nur eine Morphode
vor, welche allein die 2. Generation repräsentiert.
Wie gesagt, sind beide Fälle denkbar; jedoch möchte ich es
als wahrscheinlich annehmen, daß die erste der beiden Voraus-
setzungen erfüllt ist, denn es liegt kein Grund für die Auflösung
der Plasmaverbindungen zwischen Eizelle und Tragzelle vor wie
bei den Pteridophyten und Bryophyten: bei diesen wächst die Eı-
zelle zu einer Pflanze mit breiter Basıs aus, so daß aus rein mecha-
nischen Gründen ein Zerreißen der Plasmaverbindungen nach den
Archegoniumbauchzellen wahrschemlich ist. Bei den Florideen da-
gegen gehen die sporogenen Fäden durch seitliche Sproßung aus
der Eizelle hervor, ohne daß dabei die Eizelle selbst wächst, ıhr
Zusammenhang mit der Tragzelle also nıcht gestört wird.
Die zweite Gruppe von Florideen (die sogen. haplobion-
tischen Florideen von Svedelius) besitzt keine Tetrasporen.
Ihre genaue Kenntnis verdanken wir einer erst vor einigen Jahren
erschienenen Arbeit von Svedelius über Scinaia (Nova Acta Reg.
Soc. Scient. Upsal. Ser. IV, Vol. 4, Nr. 4, 1915) sowie den Unter-
suchungen K ylın’s an Bonnemaisonia (Zeitschrift für Botanik 1916).
Am gründlichsten untersucht ist Scinaia. Aus ihren Carpo-
sporen geht direkt wieder eine Geschlechtspflanze hervor und zwar
eine monöcische. Da dieser Florideentypus früher nicht genügend
bekannt war, so finden sich in der älteren Literatur keine Be-
sprechungen seines Entwicklungsverlaufes. Svedelius, der ja die
Florideen vom cytologischen Gesichtspunkte aus betrachtet, faßt
nun — da die Reduktionsteilung unmittelbar nach der Befruchtung
eintritt — die befruchtete Eizelle als Sporophyten auf und spo-
rogene Fäden und Geschlechtspflanzen bis zur Oospore als Gamo-
phyten.
Kylin und mit ihm Buder und Renner lehnen diese Auf-
fassung ab und geben eine Darstellung, die ohne Rücksicht auf die
514 Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete.
eytologischen Verhältnisse die alteSchmitz-Oltmanns’sche Theorie
auch auf diese haplobiontischen Florideen anwendet: sie betrachten
die Geschlechtspflanze bis zur Oospore als Gamopbyten, die spo-
rogenen Fäden als Sporophyten.
Diese Auffassung können wir nach unserer Definition des Ge-
nerationswechsels als Morphodenwechel teilen, falls zwischen der
Eizelle und ihrer Tragzelle keine Plasmaverbindungen bestehen
bleiben. Im entgegengesetzten Falle sind jedoch der „‚Gamophyt“ und
die sporogenen Fäden eın Selbling, also müssen sie von uns als
eine Morphode und somit als eine Generation angesehen werden.
Wir stellen daher wieder die beiden folgenden Möglichkeiten neben-
einander:
Haplobiontische Florideen:
I. Plasmaverbindungen zwischen Eizelle und Tragzelle vor-
handen:
Geschlechtspflanze (von der Carpo- kein
spore bis zur Oospore) u. eine Morphode Generations-
sporogene Fäden wechsel.
II. Plasmaverbindungen zwischen Eizelle und Tragzelle fehlen:
Geschlechtspflanze (von der Öarpo-
spore bis zur Oospore) 1. Morphode 1. Generation
sporogene Fäden 2. Morphode 2. Generation.
Aus den schon oben besprochenen Gründen liegt auch -hier
wahrscheinlich der erste Fall vor.
Zum Schluß sei bei den Florideen noch der Monosporen ge-
dacht. Wie es nach den bisherigen Befunden scheint, kommen sie be-
sonders da vor, wo keine Tetrasporen gebildet werden, also bei den
haplobiontischen Formen (Nemalionales). In seltenen Ausnahmefällen
finden sich Monosporen auch an Geschlechtspflanzen diplobiontischer
Spezies, so z.B. bei Nitophyllum punctatum (Svedelius. Berichte
der Deutschen Botan. Gesellsch. 1914). Da sie an Pflanzen sitzen,
welche später Geschlechtsorgane tragen und auch ebensolche Indi-
viduen erzeugen, so sind sie als eine Nebensporenform aufzulassen,
welche mit dem Generationswechsel nichts zu tun hat.
In den bis jetzt erörterten Beispielen sind die geschlechtliche
und ungeschlechtliche Generation insofern einander gleichwertig,
als sie beide autotrophe und daher selbständige Pflanzen sind.
Bei Moosen, Gymnospermen und Angiospermen ist dagegen eine
Generation abhängig von der anderen. Am geringsten ist diese
ernährungsphysiologische Abhängigkeit bei den Bryophyten; bei
ihnen stehen übrigens Gamophyt und Sporophyt nicht, wie man an-
nehmen könnte, durch Plasmaverbindungen in Zusammenhang, sondern
sind Selblinge (Kienitz-Gerloff, Berichte der Deutschen Botan.
Gesellsch. 1892; Piskernik, Österr. botan. Zeitschrift 1914, p. 107 ff.).
St rg
Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete. 515
Wenn wir Gymnospermen und Angiospermen gegenüber
den Pteridophyten als reduzierte Formen auffassen, bei denen der
weibliche Gamophyt als selbständige Morphode verloren gegangen
ist und mit dem ihn tragenden Sporophyten zu einer Morphode
geworden ist, so können wir die bei ihnen vorliegenden Verhältnisse
folgendermaßen darstellen:
Monöcische Gymnospermen und monöcische und
zwitterige Angiospermen:
Sporophyt und reduzierter weiblicher
Gamophyt 1. Morphode
männlicher Gamophyt 2. Morphode.
DiöcischeGymnospermenunddiöcischeAngiospermen:
männlicher Sporophyt 1. Morphode
weiblicher Sporophyt und reduzierter
weiblicher Gamophyt 2. Morphode
männlicher Gamophyt 3. Morphode.
Die Zahl der Morphoden ist also durch die Reduktion ver-
mindert, und Generationswechsel (Morphodenwechsel) liegt wegen
der Reduktion des weiblichen Gamophyten nicht mehr vor.
Auch wenn wir die Morphoden mit Hilfe der Selblinge defi-
nieren, kommen wir zu dieser Auffassung, da es wahrscheinlich ist,
daß das reduzierte weibliche Prothallium bei den Gymnospermen
ebenso wie der Embyrosack der Angiospermen mit den umgeben-
den Geweben des Sporophyten in protoplasmatischer Verbindung
steht.
III. Der Generationsweechsel im Tierreich.
Zur weiteren Klärung der oben gegebenen Auffassung vom Gene-
ratıionswechsel seien noch kurz einige zoologische Beispiele besprochen.
Allgemein unterscheiden die Zoologen zwei Arten von „Generations-
wechsel“, die Metagenesis und die Heterogenesis. Unter Metagenesis
verstehen sie den regelmäßigen Wechsel von geschlechtlichen und
ungeschlechtlichen Generationen, wie er auch ın allen besprochenen
botanischen Beispielen vorliegt. Die Heterogonie umfaßt dagegen
alle übrigen Fälle von abwechselndem Auftreten verschiedener Gene-
rationen, besonders rein geschlechtlicher und parthenogenesierender,
also nur Fälle, welche ım Pflanzenreich nicht vorkommen).
Diese Einteilung besitzt, wie schon Korschelt (Handwörter-
buch der Naturwissenschaften IV, p. 328) betont, den Mangel, daß
unter Heterogonie die verschiedensten Typen zusammengefaßt sind.
Korschelt hält es daher für erwünscht, den Namen Heterogonie
auf die Fälle zu beschränken, in denen rein geschlechtliche (ge-
4) Unter den Pflanzen gibt es zwar Spezies, welche befruchtungsbedürftige
und parthenogenesierende Morphoden ausbilden; aber dann kommen diese Morphoden
' stets nebeneinander, nie in regelmäßigem Wechsel vor.
>16 Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete.
trennt-geschlechtliche oder hermaphrodite) mit ungeschleehtlichen
(Generationen regelmäßig abwechseln.
Für den Wechsel von nach Morphologie und Leistung ver-
schiedenen Morphoden, bei welchen allen die Fortpflanzung ver-
mittels befruchteter Eizellen stattfindet, aber ein Unterschied darın
besteht, daß die eine (Generation hermaphrodit, die andere ge-
trenntgeschlechtlich ist, schlage ich nun den Namen Homoio-
genesis vor.
Wir haben demnach folgende Fälle des Generationswechsels
(Morphodenwechsels) zu unterscheiden:
1. Metagenesis (eine hermaphrodite Morphode bezw. zwei
getrenntgeschlechtliche folgen auf eine mit ungeschlechtlicher
Fortpflanzung),
2. Heterogenesis (eine Morphode mit parthenogenesieren-
den und eine solche mit befruchtungsbedürftigen Eiern
wechseln regelmäßig ab),
3. Homoiogenesis (hermaphrodite und getrenntgeschlecht-
liche Morphoden, also zwei im Vergleich zu denen der Meta-
genesis und der Heterogenesis einander sehr ähnliche Arten
der Fortpflanzung wechseln regelmäßig).
In den im folgenden besprochenen Beispielen ist besonders darauf
zu achten, daß die Differenzierung in zwei oder mehrere Morphoden
unter allen Verhältnissen geschieht; eine Ausbildung mehrerer Mo-
difikationen infolge verschiedener Ernährung (im weitesten Sinne,
also einschließlich Lichtgenuß, Wärmegenuß u. s. w.) hat mit der
oben definierten Morphodenbildung nichts zu tun, und demgemäß
rechnet man zweckmäßigerweise nach unserer Definition diejenigen
Fälle, welche zwar im allgemeinen als „Generationswechsel“ be-
zeichnet worden sind, aber nur Wechsel von Ernährungsmodifi-
kationen darstellen, nicht mit zu dem hier behandelten Morphoden-
wechsel; sie sollen aber weiter unten noch besprochen werden.
Bei Protozoen hat Hartmann (Verhandlungen der Deutschen Zoologischen
Gesellschaft 1914) eine ähnliche Scheidung wie die nach unserer Definition ein-
tretende versucht. Er unterscheidet zwischen fakultativrem und obligatorischem
Generationswechsel. Der fakultative Generationswechsel besteht darin, daß ver-
schiedene Arten der Fortpflanzung miteinander wechseln können, nämlich dann,
wenn die äußeren Verhältnisse sich ändern, aber nicht miteinander zu wechseln
brauchen, wenn die äußeren Verhältnisse die gleichen bleiben. Obligatorischer
Generationswechsel liegt stets dann vor, wenn in der Natur ein regelmäßiger Wechsel
stattfindet. Ob dieser Wechsel aber unter allen Verhältnissen erfolgt oder infolge
äußerer Einflüsse, die in der Natur regelmäßig wechseln, ist Hartmann ziemlich
gleichgültig; er berücksichtigt diesen Punkt erst in zweiter Linie, indem er von
obligatorischem Generationswechsel, der sich experimentell in einen fakultativen
verwandeln läßt, und von einem streng obligatorischen spricht. Im ersten Falle
läge das Obligatorische also in den äußeren Verhältnissen, nicht in der betreffenden
Spezies.
Pe
war
ll Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren etc. 517
1. Metagenesis.
Eins der bekanntesten und zugleich typischsten Beispiele für
die Metagenesis bei den Protozoen ist der Entwicklungszyklus
der Trichosphärien. Es wechseln bei ihnen regelmäßig zwei
Morphoden, von denen die eine, die „Agamonten“ sich auf unge-
schlechtlichem Wege, durch Agametenbildung, fortpflanzt, die andere,
die „Gamonten“, Isogameten erzeugen, deren Kopulation wieder
Agamonten hefert:
Tricehosphärium:
Agamonten 1. Morphode 1. Generation
(samonten 2. Morphode 2. Generation.
Daß sowohl die Individuen der geschlechtlichen wie die der
ungeschlechtlichen Morphode sich vegetativ durch Zweiteilung ver-
mehren können, ist für das Wesen dieses Morphodenwechsels be-
langlos. .
Ähnliche Fälle finden sich auch in anderen Klassen der Protozoen. Freilich
wird häufig der regelmäßige Wechsel der Morphoden gestört, so s.B. bei den
Coccidien, deren „Schizonten* entweder zu Makro- und Mikrogameten liefernden
Gametocyten werden können oder zu neuen Coceidien heranwachsen; nur im ersten
Falle liegt typische Metagenesis vor, im. zweiten Falle haben wir einen Wechsel
von drei Morphoden, von denen überdies die eine (im folgenden die erste) mehrmals
hintereinander auftreten kann: Das Coceidium (1. Morphode) zerfällt in Schizonten,
aus den Schizonten entstehen neue‘ Coceidien (2. Morphode); deren Schizonten
liefern Makro- und Mikrogameten, durch deren Verschmelzung eine Oocyste (3. Mor-
phode) entsteht; diese bilden Sporocysten und darin Sporozoiten; die Sporozoiten
werden wieder zu ÜCoceidien.
Auch bei Polystomella, deren „Generationswechsel“ in einem Wechsel der
makrosphärischen und mikrosphärischen Morphode besteht, können durch die Art
der Fortpflanzung der makrosphärischen Morphode Abweichungen von der typischen
Metagenesis bedingt werden.
Bei den Metazoen ist die Metagenesis der Salpen und der
Cölenteraten am bekanntesten.
Cölenteraten mit getrenntgeschlechtlichen Medusen:
Polyp - 1. Morphode 1. Generation
männliche Meduse 2. Morphode | R
weibliche Meduse 3. Morphode ( Generation.
Cölenteraten mit hermaphroditen Medusen:
Polyp 1. Morphode 1. Generation
Meduse 2. Morphode 2.,„Generation.
Salpen:
solitäre Salpe 1. Morphode 1. Generation
Kettensalpe 2. Morphode 2. Generation.
Für einige Anneliden, die Sylliden, wird Metagenesis angegeben; je-
doch liegt bei diesen kein regelmäßiger Wechsel rein geschlechtlich und rein unge-
schlechtlich (durch Knospung) sich vermehrender Individuen, also kein Morphoden-
wechsel vor, sondern die Stammtiere einer durch Knospung entstandenen Kette
können sich auch geschlechtlich. fortpflanzen, so daß also geschlechtliche und un-
geschlechtliche Vermehrung nicht immer wechselnd, sondern auch neben einander
vorkommen.
ae I 8), Be
518 Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren etc.
2. Heterogenesis.
Als Heterogenesis soll hier — wie schon gesagt wurde — nur
der Wechsel von parthenogenesierenden und rein geschlechtlichen
Morphoden bezeichnet werden; die parthenogenesierenden können
freilich auch pädogenesierend sein.
Ein typisches Beispiel hierfür liefern uns einige Distomeen.
Aus ihren Eiern gehen Miracıdıumlarven hervor, die sich einkapseln
und zu Sporocysten werden In einer Sporocyste entstehen dann
aus parthenogenesierenden Eiern (wie neuerdings nachgewiesen ist,
nicht durch innere Knospung) direkt Done oder Larven von
Distomeen, die Öercarien. Es wechselt also eine parthenogene-
sierende und zwar pädogenesierende und eine rein geschlechtliche
Morphode miteinander ab:
Distomeen-Typus 1:
Miracidiumlarve — Sporocyste t. Morphode 1. Generation
(Cercarie —) Distomum 2. Morphode 2. Generation.
Bei anderen Distomeen tritt dadurch eine weitere Komplikation
ein, daß aus den Sporocysten Redien hervorgehen und erst aus
deren parthenogenesierenden Eiern Cercarien. Es wechseln hier zwei
morphologisch verschiedene parthenogenesierende (pädogenesierende)
und eine rein geschlechtliche Morphode ab.
Distomeen-Typus 2:
Miracidiumlarve — Sporocyste 1. Morphode 1. Generation
Redie 2. Morphode 2. Generation
Gercarie — Distomum 3. Morphode 3. Generation.
Allgemein wird auch der Fortpflanzungszyklus der Gall-
wespen als Heterogenesis beschrieben: z. B. bei Neuroterus lenti-
cuwlaris liegen dıe Verhältnisse wahrscheinlich folgendermaßen:
Neuroterus:
„Weibcehenbestimmerin“ (partheno-
genesierend) 1. Morphode en
„Männchenbestimmerin“ (partheno- Ag
genesierend) 2. Morphode
befruchtungsbedürftiges Weibchen 3. Morphode | SE
Männchen A 4. Morphode |
Es wäre zwar möglıch, daß die „Weibchenbestimmerinnen“
und die „Männchenbestimmerinnen“ eine Morphode sind und daß
die einzelnen Individuen nur durch äußere Einflüsse teils veranlaßt
würden, (diploide) weibchenerzeugende Eier, teils (haploide) männchen-
erzeugende Eier hervorzubringen; das würde aber nicht von prin-
zıpieller Bedeutung sein.
Manche andere als Heterogenesis beschriebene Fälle (z. Be Chermiden mit
5 „Generationen“ in ae ieigom Zyklus) urı wohl nicht zu der Heterogenesis
im oben definierten Sinne.
Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete. 519
3. Homoiogenesis.
Als Homoiogenesis soll — wie gesagt — der Wechsel von
getrenntgeschlechtlichen und hermaphroditen Morphoden bezeichnet
werden.
Als typisches Beispiel hierfür seien die Anguilluliden ange-
führt. Ihre eine Morphode (1. Generation) ist hermaphrodit prot-
andrisch, die beiden anderen (2. Generation) getrenntgeschlecht-
lich; überdies ist die hermaphrodite Morphode endoparasitisch, die
getrenntgeschlechtlichen sind freilebend. Beide Generationen wech-
seln regelmäßig miteinander ab.
Anguilluliden:
endoparasitische Anguillulide 1. Morphode 1. Generation
männliche freilebende Anguillulide 2. Morphode
)
N a se 2. (seneration.
weibliche freilebende Anguillulide 3. Morphode | Fr
IV. Der Ernährungsmodifikationswechsel.
. Im Tierreich gibt es eine große Menge von Beispielen, welche
zur Heterogenesis gerechnet werden, aber nicht zu dem Genera-
rationswechsel in unserem Sinne gehören, weiles sich bei ihnen nicht
um den Wechsel zweier oder mehrerer unter allen Verhältnissen
verschiedener Morphoden handelt, sondern um den Wechsel von
mehreren aus ernährungsphysiologischen Gründen ver-
schiedenen Modifikationen einer Spezies. Die Beeinflus-
sung der Morphologie durch äußere Faktoren ist in einigen Fällen
experimentell nachgewiesen. Bei denjenigen Spezies, für welche
eine experimentelle Prüfung der Verhältnisse noch fehlt, müssen
wir die Frage, ob Morphodenwechsel oder Ernährungsmodifikations-
wechsel vorliegt, einstweilen offen lassen.
In der Natur wechseln die äußeren Faktoren, welche die Mor-
phologie der Individuen beeinflussen, infolge der Periodizität der
Jahreszeiten regelmäßig ab, und daher gewinnt der damit zusammen-
hängende Ernrährungsmodifikationswechsel in bezug auf die Erschei-
nungen große Ähnlichkeit mit einem Morphodenwechsel; verschieden
ist eben nur der Grund der Erscheinungen, in dem einen Falle
Beeinflussung der Morphologie durch äußere Faktoren, in dem an-
deren die Fähigkeit der Individuen, unabhängig von der Wirkung
der äußeren Verhältnisse stets eine bestimmte Morphologie zu er-
zeugen.
Mit Sicherheit steht die Ausbildung verschiedener Ernährungs-
modifikationen für einige Lepidopteren (Vanessa) und Daph-
nıden fest.
V. Allgemeine Bemerkungen über die Bedeutung des @enerations-
weehsels (Morphodenwechsels) und seine Beziehungen zur
Chromosomenzahl.
Es ist des öfteren in der Botanik der Versuch gemacht, ge-
stützt auf den „Generationswechsel“ phylogenetische Spekulationen
anzustellen. Es wurde bei Pflanzen der „Generationswechsel‘“
als ein Kennzeichen der Verwandtschaft betrachtet, eine Annahme,
die aber wohl nicht mit Recht bestehen kann, wie aus Arthur
Meyer’s Auseinandersetzungen in seiner Arbeit über die Vorvege-
tation (Berichte der Deutschen Botanischen Gesellschaft 1910) her-
vorgeht. Beispielsweise wird ganz besonders häufig der Genera-
tionswechsel der Bryophyten und Pteridophyten als ein Merkmal
für enge Verwandtschaft hingestellt. Daß es jedoch keineswegs
wahrscheinlich ist, daß sich die Pteridophyten von den Bryophyten
ableiten, geht aus anderen Tatsachen hervor; es müssen daher nach
Ansicht von Bower, Goebel, ArthurMeyer, Potonie (Lite-
raturangaben bei A. Meyer 1. c.) vielmehr Bryophyten und Pteri-
dophyten als zwei parallele Entwicklungsreihen mit vielleicht gleichem
Ausgangspunkte angesehen werden. Noch viel weniger werden
natürlich z. B. die Generationswechsel der einzelnen Phäophyceen-
familien mit dem der Florideen und Archegoniaten etwas zu tun
haben.
Es muß demnach, wie auch schon Buder (Berichte p. 569)
hervorhebt, der Generationswechel im Laufe der Phylogenie an
verschiedenen Stellen im Pflanzenreiche entstanden sein. Dabei
werden wohl in den einzelnen Fällen die äußeren Verhältnisse das
Zustandekommen dieses Morphodenwechsels veranlaßt und die Art
seiner Ausbildung veranlaßt haben.
Was die Beziehungen zwischen Generationswechsel und Chro-
mosomenreduktion anbelangt, so ist wohl die Zahl derer, welche
die Meinung vertreten, daß diese Vorgänge nichts mit einander zu
schaffen haben, jetzt schon größer als die der Anhänger der entgegen-
gesetzten Ansicht. Durch eine ansehnliche Menge von Arbeiten
ist gezeigt, daß die Gestalt des Individuums von der Chromosomen-
zahl unabhängig sein kann. Die Züchtung von Moosgamophyten
mit diploiden Kernen und von Moossporophyten mit tetraploiden
Kernen, die Entstehung von Farnsporophyten mit haploiden Kernen,
die Bildung von Oenothera-Mutationen, welche z.B. 27 statt 28
Chromosomen besitzen, sind Erscheinungen, welche von keinen
merklichen Änderungen der Morphologie begleitet werden. Auch
ım Tierreich sind derartige Fälle gefunden worden; am bekanntesten
ist wohl Ascaris megalocephala, die in die beiden nur cytologisch
verschiedenen, morphologisch nicht zu unterscheidenden Varietäten
univalens und bivalens gespalten ist. Auffällig ıst auch die ex-
Fr. J. Meyer, Der Generationswechsel bei Pflanzen und Tieren ete. 591
perimentell hervorgerufene parthenogenetische Entstehung von di-
ploiden und haploiden Artemia-Individuen (vgl. Korschelt-Heider,
Entwicklungsgeschichte).
Die Identifizierung des Generationswechsels mit dem Wechsel
haploider und diploider Lebensabschnitte war durch die botanischen
Cytologen vorgenommen und wird jetzt besonders durch Bonnet
(Progressus rei botanicae 1914), Claussen (Kultur der Gegenwart
III, IV, 1), Lotsy (Stammesgeschichte) u.a. verteidigt.
Demgegenüber haben vor allem Goebel, Kuckuck, Olt-
manns den cytologischen Standpunkt abgelehnt. Buder, Kylin
und Renner haben in ihren neuesten Arbeiten über den Genera-
tionswechsel das gleiche getan, und, um auch in ihrer Nomen-
klatur ihre Auffassung zum Ausdruck zu bringen, haben sie — un-
abhängig voneinander — für den Wechsel zwischen haploıdem und
diploıdem Lebensabschnitt den Namen „Phasen wechsel“ eingeführt°).
Vielleicht hilft diese Bezeichnung, die an sich ja eigentlich ganz
überflüssig ıst, da dem Phasenwechsel keine Bedeutung zukommt,
auch die Oytologen von ihrer cytologischen Auffassung des Gene-
rationswechsels abzubringen und wieder zur morphologischen Auf-
fassung zurückzuführen.
Kylın hat freilich die eytologischen Momente aus seiner Defi-
nition des Generationswechsels noch nicht ganz eliminiert; seine
Betrachtungen gipfeln in dem Satze: „Ist dagegen die neue Gene-
ration der sporenbildenden morphologisch oder eytologisch®)
ungleich, so entsteht ein Generationswechsel.“
Buder und Renner trennen dagegen den Phasenwechsel und
(senerationswechsel scharf. Renner schreibt: „Generationswechsel
und Kernphasenwechsel bedingen einander keineswegs notwendig“,
und den Generationswechsel definiert er folgendermaßen: „Ein
Generationswechsel ist da vorhanden, wo außer der Zygote mindestens
eine obligate Keimzellform, eine echte Sporenform, vorhanden ist,
die nicht unmittelbar bei der Keimung der Zygote entsteht. Eine
Generation ist ein von zwei verschiedenen obligaten Keimzell-
formen eingefaßter Entwicklungsausschnitt, der einigermaßen ansehn-
liches Wachstum zeigt.“
Diese Definition ıst von vornherein bei den Pflanzen allein
brauchbar. Allgemeiner definiert Buder; auch er trennt Phasen-
wechsel und Generationswechsel scharf von einander, überdies spricht
er noch von einem dritten Rhythmus, dem Gestaltwechsel. Dieser
ist aber grundsätzlich verschieden von dem oben definierten Mor-
phodenwechsel, da auch ein einzelnes Individuum im Laufe seiner
Entwicklung mehrere „Gestalten“ annehmen kann, wie z. B. der
5) Auch Fischer hat diese Bezeichnung anstelle des Ausdrucks „antithetischer
Generationswechsel“ vorgeschlagen (Goeldi und Fischer, 1916 p. 46).
6) Von mir gesperrt.
38. Band, 37
599 J. Greiner, Cytologische Untersuchungen ete.
Moosgamophyt zwei Abschnitte des „Gestaltwechsels‘‘ umfaßt, Pro-
tonema und geschlechtsreife Mo»spflanze. In derartigen Fällen,
wo es sich um verschiedene Gestalt eines Individuums handelt, ist
es aber wohl besser, die alten Namen Jugendform und Altersform
beizubehalten und den Namen „Gestaltwechsel“ ın dem obigen
Sinne ganz aus dem Spiele zu lassen. Immerhin ist Buder’s
Trennung von Phasenwechsel und Generationswechsel ein Schritt,
welcher schon wesentlich zur Klärung des Begriffs des Generations-
wechsels beitragen konnte. Buder definiert unter vollkommener
Abstraktion von den Chromosomenverhältnissen: „Der Generations-
wechsel ist dadurch charakterisiert, daß in bestimmter Folge ver-
schiedenartige Generationen miteinander abwechseln.“
Im übrigen besteht, wie Prof. Arth.Meyer in seinen Vorlesungen
stets besonders betonte, eine Beziehung zwischen Generationswechsel
(Morphodenwechsel) und Chromosomenreduktion nur dadurch, daß es
offensichtlich vorteilhaft sein muß, wenn diejenige Morphode, welche
die Geschlechtszellen produziert, haploid ist, weil dann jede Zelle des
Individuums ohne Vorbereitung (durch Reduktionsteilung) zur Ge-
schlechtszelle werden kann. In der Tat findet man eine derartige
Lage der Reduktionsteilung bei allen Bryophyten, Pteridophyten,
Gymnospermen und bei den Florideen und Dietyotaceen. Bei den
hier in Betracht kommenden Phäosporeen sind die cytologischen
Verhältnisse noch nicht hinreichend bekannt. — Im übrigen ist die
Lage der Reduktionsteilung prinzipiell gleichgültig.
Cytologische Untersuchungen bei der Gametenbildung
und Befruchtung des Coccids Adelea ovata.
Yon Johanna Greiner, Freiburg i. Br.
(Vorläufige Mitteilung.)
Im Januar 1918 vollendete ich im zoologischen Institut der _
Universität Freiburg ı. Br. eine ausführliche Arbeit unter obigem
Titel, die ich auf Anregung von Prof. Dr. Doflein unternommen
hatte. Da die Kriegsverhältnisse den Druck ausführlicher Arbeiten
verhindern oder doch sehr verzögern, so seien an dieser Stelle die
wichtigsten Resultate meiner Untersuchung kurz zusammengefaßt.
Ausführliche Nachweise können in diesem Zusammenhang nicht
gegeben werden, ferner muß ich vorläufig auf eine Darstellung der
natürlichen und künstlichen Reininfektion mit Adelea ovata, auf
genaue Angaben über die angewandten Techniken und die Wieder-
gabe der zahlreichen Abbildungen der verschiedenen Stadien ver-
J. Greiner, Oytologische Untersuchungen etc. 593
zichten. Zur Übersicht über den gesamten Entwicklungskreis von
Adelea ovata ist das Schema, Fig. A'), beigefügt.
Schellack und Reichenow (1913) entdeckten bei ihrer Nach-
untersuchung der Coceidien aus Lithobius forficatus als viertes
18 13 20 a 22 13
Fig A. Schema der Entwicklung von Adelea ovata.
1—5 ungeschlechtl. Fortpfl (Schizogonie). 1 Merozoit (oder Sporozoit), 2, 3 viel-
kernige Schizonten, 4, 5 Merozoitenbildung. 6 23 geschlechtl. Fortpfl. 6 junger
Makrogamet, 7 herangewachsener Makrogamet, 8 Anheftung eines Mikrogametozyten,
9—12 Mikrogametenbildung, 13 Befruchtung, 14-16 Ausbildung des Längsnetzes,
17 Rückzug des Längsnetzes, 18 Chromosomenbildung, 19-21 sporogoniale
Teilungen, 22, 23 Sporenbildung.
1) Das Schema der Entwicklung von Adelea ovata ist nach eigenen Präparaten
gezeichnet. Was die Schizogonie anbetrifft, bedarf es wohl späterer Ergänzung.
Bis jetzt stimmen meine Beobachtungen über Schizogoniestadien mit denen Schel-
lack’s und Reichenow’s überein.
7%
Di
Fe
en A EAN 1 rg
594 J. Greiner, Cytologische Untersuchungen etc.
no
Coceid dieses Tausendfüßlers Barrouzia schneideri, dessen Stadien
von früheren Untersuchern in den Eintwiekluneskreis der drei andern
Lithobius-Öoceidien
Adelea ovata,
Eimeria lacaxei und
Eimeria schubergi
hineingedeutet worden waren.
Die angekündigte Nachuntersuchung der andern Lithobius-
Coceidien durch Schellack und Reichenow ist offenbar infolge
der Kriegsereignisse nicht erschienen. Über Adelea ovata und
Eimeria lacazei liegen nur kurze Mitteilungen ohne Abbildungen
von ihnen vor. Obwohl ich nun ihre Hauptresultate über das Vor-
kommen von vier ZLithobius-Öoccidien und den Entwicklungskreis
von Adelea ovata nur bestätigen kann, veranlassen mich besondere
Beobachtungen, meine Ergebnisse zu veröffentlichen. Einige meiner
Den weichen auch von ihren Angaben ab.
ne Kernbilder, welche in meinen Präparaten | nach-
weisbar waren, veranlaßten Prof. Doflein, mich besonders auf die
Beobachtung der eytologischen Grundlagen der geschlechtlichen
Vorgänge nn Adelea hinzuweisen. Die Bilder, die Si beobachten
konnte, weichen ın vielen Punkten vollkommen von allem ab, was
bisher bei Coceidien beschrieben und hinreichend genau abgebildet
wurde.
Ich konnte die Angaben Schellack’s und Reichenow’s in
bezug auf Adelea ovata
1. daß ein geschlechtlicher Dimorphismus der Schizonten nicht
vorliegt,
2. daß nl Kernteilungen nicht vorkommen,
3. daß Reifinesersch mans a in der von Mühen Autoren 'be-
schriebenen Weise nicht zu. beobachten sind,
vollkommen bestätigen.
Inwiefern meine Befunde vor ıhren Angaben und vor allem
von denen früherer Untersucher abweichen, soll hier kurz darge-
stellt werden. |
Die Entwicklung der Makrogameten von Adelea a
bis zur Befruchtung fand ich ähnlich wie Schellack und Reiche-
now. Während des Heranwachsens verteilt sich die chromatische
Substanz immer feiner auf dem Gerüst des Kernes. Letzterer wird
bläschenförmig und erscheint schließlich chromatinarm. Der Binnen-
körper ıst vakuolisiert, ohne weitere Struktur. Er wird vor der
Befruchtung nicht ausgestoßen, sondern langsam aufgelöst. Nach
meinen Präparaten ıst sein klein gewordener Rest noch während
der Befruchtung sichtbar (Fig. 4 u. 5), um bald darauf ganz zu
verschwinden. Verschieden von früberen Beobachtungen traten bei
meinen Bildern im Zellplasma der Makrogameten Granula auf,
J. Greiner, ytologische Untersuchungen etc. 525
deren Zahl bis zur Befruchtung zu (Fig. 4 u. 5) und nach ıhr ab-
nahm (Fig. 7). (Bei Fig. A nicht angedeutet.) Sie sind mit Eisen-
hämatoxylın und Bordeaux-Rot braunschwarz gefärbt, von kugel-
förmiger oder unregelmäßiger Gestalt. Sıe scheinen zum Aufbau
der Cystenmembran zu dienen, die nach der Befruchtung gebildet
wird, da sie auf den der Befruchtung folgenden Bildern nahezu
oder ganz verschwunden sind.
Die Mikrogametenentwicklung stellte sich nach meinen
Präparaten abweichend von den Untersuchungen aller früheren
Autoren heraus. Die Anhaftung eines Merozoiten an einen der
Längsachsenpole der weiblichen Zelle, wodurch er zum Mikro-
gametocyten wird, erfolgt, wenn der Makrogametenkern an die
Oberfläche eines der genannten Pole gewandert ist. Der von dem
weiblichen Kern eingenommene Pol wird zum Befruchtungspol. Der
eben angeheftete Mikrogametocyt rundet sich ab; sein Kern ent-
hält einen exzentrisch gelegenen Binnenkörper. Dieser wird im
Laufe der ersten Kernteilung im Mikrogametocyten aus dem Kern
ausgestoßen, ist noch außerhalb desselben im Plasma sichtbar und
verschwindet dann auf den folgenden Entwicklungsstadien.
Der Kern schickt sich zur ersten Teilung an, indem er sich in
die Länge streckt. Figuren, die fortgeschrittene Teilungsphasen
darstellen und nach meinen Präparaten hier anzuschließen sind,
zeigen den längsgestreckten Kern von Gerüstfäden durchzogen, die
mit stark färbbaren Körnern von verschiedener Größe ER sind
(Fig. 1). Es sind zum Teil parallel verlaufende, zum Teil sich
kreuzende Fäden. Diese Figuren können aber auch als Telophasen
angesehen werden, wenn mir dazwischenliegende Teilungsbilder trotz
der Untersuchung reichlichen Materials entgangen sind. Es bleibt
deshalb diese Frage noch offen.
Die Fäden sammeln sich an den zwei Polen der Teilungsfigur,
und dort rücken die dunkeln Körner diehter zusammen. Die Ver-
bindung der neugebildeten Tochterkerne zerreißt, sie werden von-
einander getrennt und runden sich zu zwei Ruhekernen ab. In
ihrem Innern verlaufen die mit dunkeln Körnern besetzten Gerüst-
fäden. An das Zweikern-Stadium schließt sich die zweite Teilung
im Mikrogametocyten. Nach meinen Bildern ist sie der ersten
ähnlich. Auch hier können noch Zwischenstufen der Teilung liegen,
die ich noch nicht beobachtete.
Doch ist das Ergebnis dieser zweiten Teilung von dem der
ersten verschieden.
Bei der Bildung der echlerkerne rücken die dunkel gefärbten
Körner dicht zusammen zu kompakten Stäbchen mit keulenförmig
verdickten Enden. Sie treten in allen vier Kernen mit offenbar
konstanter Zahl zu 4—5 auf; es sind deutliche Chromosomen
(Fig. 2). Ihr unvermitteltes Erscheinen an dieser Stelle ist noch
526 J. Greiner, Cytologische Untersuchungen etc.
nicht geklärt, da sie während der Teilungen selbst nicht beobachtet
wurden. Nach Verfolgung ihrer Schicksale bei der Teilung und
nach ihr sind wir berechtigt, die dunkel gefärbten Körner auf den
Gerüstfäden als chromatische Substanz anzusprechen.
Jeder der vier neugebildeten Tochterkerne ist von einem hellen
Hof umgeben. In jedem verschmelzen nun die Uhromosomen zu
einem annähernd kreisförmig gebogenen Strang, der in seiner Mitte
eine helle Zone umschließt und an dem meist jetzt schon ein mehr
spitzes und ein mehr abgerundetes Ende unterscheidbar ist. Diese
ringförmigen Gebilde strecken sich zu einem mehr oder weniger
schmalen Oval in die Länge und knicken dann innerhalb ihres hellen
Kernraumes um (Fig. 3). Vor oder bei dem Ablösen dieser nahezu
fertig ausgebildeten Mikrogameten schlagen die Enden sich aus-
einander, und an dem spitzen Ende wird eine Geißel gebildet. In
wenigen Fällen glaubte ich noch eine zweite Geißel zu beobachten,
was ich aber nicht mit Sicherheit festlegen möchte.
Pıg.ll Fig. 2. Figir3:
Mikrogametocyten in verschiedenen Stadien der Mikrogametenbildung.
(Fig. 1u.2 Vergr.: 2200; Fig. 3 Vergr.: 1800.)
Diese Beobachtungen stehen im Gegensatz zu denen Sied-
lecki’s (1899), denen sich auch Schellack und Reichenow an-
schließen und denen Dobell’s. Siedleckı hält die erste Teilung
im Mikrogametocyten für eine Karyokinese und glaubt, daß bei der
zweiten eine Reduktion der Chromosomenzahl stattfindet. Seine
Erörterungen sind aber nicht eingehend genug zum Beweise dieser
Meinung und seinen diesbezüglichen Abbildungen fehlen eytologische
Einzelheiten. Es ist wohl sehr naheliegend hier eine Reduktion
zu vermuten. Da ich aber die Zahl der Chromosomen vor den
Teilungen und ihr Verhalten während derselben nicht feststellen
konnte, sondern nur ihr unvermitteltes Auftreten am Ende der
zweiten Teilung, so kann ich diesen Vorgang noch nicht mit Sicher-
heit als Reduktion bezeichnen. Letzteres scheint aber die wahr-
scheinlichste Deutung zu sein.
Dobell’s abweichende Ergebnisse beruhen, wie seine Abbil-
dungen zu zeigen scheinen, auf ungenügender Fixierung des Ma-
terials. In meinen Präparaten waren den seinen ähnliche Figuren
nicht zu beobachten, |
J. Greiner, Öytologische Untersuchungen ete. 527
Auch die Befruchtung stellt sich nach meinen Bildern ver-
schieden von den früheren Beschreibungen dar. Einer der vier
ausgebildeten Mikrogameten dringt an dem Befruchtungspol in den
Makrogametenkern ein. Seine chromatische Substanz verbreitet
sich ın Form von feinen und gröberen Körnern kegelförmig von
der Eintrittsstelle aus im das Innere des weiblichen Kernes (Fig. 4
u. 5). Der Rest des eingedrungenen Mikrogameten ist meist als
rundes „stark- färbbares Körperchen“ an der Oberfläche der Ein-
trittsstelle gelegen, und von ıhm aus beginnt die Spitze des Kegels
(Fig. 5). Bei einem Befruchtungsbild war aus der Anordnung zu
erschließen, wie die chromatische Substanz von diesem „Körperchen“
aus auf feinen Strahlen in den Makrogametenkern eindringt. Der
weibliche Kern enthält zu dieser Zeit außer dem kleinen Rest des
Binnenkörpers noch mehrere stark gefärbte Brocken von unregel-
mäßiger Gestalt.
Fig. 4,
Befruchtung von Adelea ovata. (Fig. 4 Vergr.: 2200, Fig. 5 Vergr.: 1200.)
Was über eine vor der Befruchtung stattfindende Reifung am
Makrogametenkern zu sagen ist, soll später besprochen werden.
Das Synkaryon wandert nach der Befruchtung gegen die
Mitte der weiblichen Zelle, zieht sich in Richtung der Längsachse
in zwei Spitzen aus, in die seine Gerüstfäden hineinverlaufen. Es
streckt sich so lange bis die zwei zugespitzten, Enden die Zell-
oberfläche berühren. Auf langen, oft verschlungenen Fäden, die
von Pol zu Pol durch die ganze Zelle ziehen, sind in verschiedener
Dichte stark färbbare Körner gereiht (Fig. 6).
In der Coeceidien-Literatur ist dieses Kernstadium als „Be-
fruchtungsspindel“ bekannt. Um die hier falsche Vorstellung
einer Teilungsspindel auszuschließen, nannten wir diese Figur
„Längsnetz des Synkaryons“. Denn vor der ersten Kern-
teilung in der Zygote zieht es sich ganz an den dem Befruchtungs-
pol entgegengesetzten Pol zurück (vergl. Kunze 1907, Archeobius
528 J. Greiner, Cytologische Untersuchungen ete.
herpobdellae). An dem letztgenannten Pol sammeln sich alle Fäden
des Längsnetzes in einem hellen abgeschlossenen Kernraum. Es
gehen aus ihnen kürzere, dickere Stäbchen hervor, die 1. sich mit
Eisenhämatoxylin schwarz färben, 2. stets an dieser bestimmten
Stelle des Entwicklungskreises auftreten, 3. offenbar ın konstanter
Zahl zu 8—10 vorhanden sind, 4. sich längsspalten in 16—20. So-
mit sind sie als Chromosomen charakterisiert (Fig. 7 u. 8).
L
ne
Fig. 6. FiE.RT. Fig. 8.
Längsnetz des Synkaryons. Zygote. Im Kern Ausbildung von 8-10 Chromo-
(„Befruchtungsspindel.“) somen, die sich spalten.
(Vergr.: 1700.) (Fig. 7 Vergr.: 1500; Fig. 8 Vergr.: 2200.)
Die weitere Umbildung dieser Chromosomen bei der nun folgen-
den ersten Sporenteilung ist mir noch nicht bekannt. Es treten
während der ganzen Sporenbildung deutliche Chromosomen in den
Kernen auf, deren Zahl ich noch nicht festlegen konnte.
Die Befruchtung mit den ihr folgenden Stadien ist auch von
Siedlecki, Schellack und Reichenow und Debaisieux (1911)
beschrieben. Letzterer fand ebenfalls eine langsame Auflösung des
Binnenkörpers vor der Befruchtung. Er ist der Meinung, daß das
Chromatin des „Karyosoms“ sich auf dem Kernnetz verteilt, welches
dadurch wieder in die Erscheinung tritt. Es ist aber heute noch
nicht entschieden, ob die im Kern von Coccidien vorhandenen
Binnenkörper überhaupt Chromatin enthalten. Nach dem Ver-
schwinden des Binnenkörpers beschreibt Debaisieux die aus langen
Chromatinfäden bestehende Längsspindel im Makrogameten; die
Verschmelzung der beiden Geschlechtskerne ist ihm unbekannt. Der
befruchtete Kern rückt an die Oberfläche und erleidet dort seine
erste sporogoniale Teilung. Über diese Vorgänge gibt Debaisieux
nur sehr wenige und ungenügende Abbildungen.
a
J. Greiner, Cvtologische Untersuchungen ete. 529
Sıedleck1's Beschreibung der mit der Befruchtung zusammen-
hängenden Stadien verdient noch besonderes Interesse, da wir hier-
mit auf das Problem der Reifung stoßen. Die Reihenfolge bei
und nach der Befruchtung beschreibt er von meinen Ergebnissen
verschieden und auch ohne näher einzugehen auf die Umbildungen
der chromatischen Substanz. Vor der Befruchtung beobachtete er
Vorgänge am Makrogametenkern, die er für Anzeichen einer Rei-
fung hält. Das Karyosom (Binnenkörper) bläht sich auf, bildet
Knospen, die sich nach seiner Beschreibung auflösen und das Chro-
matinnetz verstärken. Der Kern wandert an die Oberfläche der
Zelle und „une partie de la chromatine nucleaire s’&chappe & la
surface de la coccidie“. Er nennt diesen Vorgang „epuration
nucleaire*. Alle späteren Autoren beobachteten nichts dergleichen.
So ist wohl die auf seiner Fig. 21 abgebildete ausgestoßene Kern-
substanz, die dem Makrogameten anliegt und den Reifungskörper
-darstellen soll, ein Kunstprodukt oder etwas zufällig Angelagertes.
Jo!los (1909) beschreibt folgendes als Reifung am weiblichen
Kern. Karyosom und Kern strecken sich in die Länge, rücken an
die Zelloberfläche, halbieren sich, worauf eine Hälfte nach außen
abgegeben wird. An schlecht fixierten Stellen weniger Präparate
war mir manchmal ein in die Breite gedrückter Kern mit Binnen-
körper begegnet, was mich veranlaßt, die Funde von Jollos auf
ungenügend fixiertes Material oder durch den Präparatausstrich
gepreßte Makrogameten zurückzuführen.
Trotzdem ich nun bis jetzt keinen Reifungsvorgang an dem
weiblichen Kern vor der Befruchtung finden konnte, so läßt doch
der Vergleich der relativen Chromosomenzahlen darauf schließen,
daß an imgendeiner Stelle des Entwicklungskreises von Adelea ovata,
vielleicht erst nach der Befruchtung, doch Reifungserscheinungen
auftreten. Denn die Mikrogametenkerne enthalten vor der Be-
fruchtung etwa die halbe Chromosomenzahl wie der weibliche Kern
nach der Befruchtung. Im Anschluß an die letztere tritt Spaltung
der Chromosomen auf, deren Nachweis in der ausführlichen Arbeit
genau gegeben werden wird.
So scheint mir der Weg, auf dem es sicher möglich sein wird,
das Problem der Reifung für Adelea orata zu lösen, gegeben durch
die Zählung der Chromosomen in den Kernen der zwei- bis viel-
kernigen Sporencysten, der Sporoblasten und Sporozoiten und ferner
der vielkernigen Schizogoniestadien. Dabei wird erkannt werden,
wann einfache und wann doppelte Chromosomenzahl vorliegt und
an welcher Stelle die Reduktion stattfinden muß. Allerdings ist
dıe Zählung der Chromosomen mit großen Schwierigkeiten ver-
bunden infolge der Kleinheit der betreffenden Kerne und der oft
. dicht übereinander liegenden Chromosomen. Nur ein reichliches
Material kann hierbei Sicherheit gewähren.
330 Fritz Eckstein, Die Überwinterung unserer Stechmücken.
Die Überwinterung unserer Stechmücken.
(III. Mitteilung der Beiträge zur Kenntnis der Lebensweise unserer Stechmücken,
herausgegeben von E. Bresslau)').
Von Dr. Fritz Eckstein, z. Z. Feldhilfsarzt, Strassburg (Els.).
Trotz vieler in den letzten Jahren angestellten Beobachtungen
ist die Frage, wie unsere Stechmücken den Winter überdauern,
noch immer nicht ganz entschieden. Für manche Arten finden
sich bei den einzelnen Autoren recht verschiedene Angaben. Bei
der Wichtigkeit der Frage für die Stechmückenbekämpfung erscheint
es deshalb wohl nicht überflüssig, das, was wir bis heute darüber
wissen, kurz zusammenzufassen und durch weitere Beobachtungen
zu vervollständigen.
Alle Beobachter stimmen darin überein, daß die Männchen
im Herbst ausnahmslos zugrunde. gehen, «ie Puppen dagegen in
den letzten Herbsttagen ausschlüpfen. "Die übrigen Stände, also
die Eier, Larven und Weibchen vermögen zu überwintern; in
welchem Zustande die Überwinterung stattfindet, darin bestehen
jedoch bei den einzelnen Arten Verschiedenheiten; eine jede scheint
im allgemeinen nur in einer für sie charakteristischen Entwick-
lungsform den Winter zu überdauern. Allerdings sind, günstige
Verhältnisse vorausgesetzt, Ausnahmen hiervon nicht ausgeschlossen.
So überwintert, um gleich ein Beispiel anzuführen, Oulex
pipiens im allgemeinen als Imago. Allein schon im Winter 1916/17
wie auch im Winter 1917/18 haben wir in Straßburg während
des ganzen Winters in einem geheizten Keller Larven, Puppen,
Weibehen und sogar Männchen gefunden. Letztere verschwanden
allerdings immer wieder sehr bald nach dem Ausschlüpfen, sie
gingen wohl zugrunde.
Nach Schneider (Beitr. z. Kenntnis d. Öuliciden ın d. Um-
gebung v. Bonn, Verh. Nat. Verein preuß. Rheinl. und Westfalens
Bd. 70, 1913) überwintern als Imagines Anopheles maculipennis,
Ouliseta (Theobaldia) annulata, Culex pipiens und Culex territans ;
bei Culicada verans nimmt er die Überwinterung im Imaginal-
zustand für wahrscheinlich an. Als Larven überwintern Anopheles
bifurcatus und nigripes (letztere Art nach Galli-Valerio zitiert), als
Eier endlich Aödes einereus, Oulicada cantans, morsitans und nemo-
rosa, für Oulicada annulipes, lateralis, ornata und stietica finden sich
keine Angaben.
Nach den viele Jahre fortgesetzten Untersuchungen von Gallı-
Valerio und Rochaz de Jongh?) überwintern als Imagines Culex
pipiens und Cnuliseta anmulata, Anopheles maculipennis, bifurcatus
und niyripes, sowie Oulicada vexans. Larvenüberwinterung wird
für Oulicada nemorosa und Anopheles bifurcatus angegeben.
1). und I. Mitteilung, s. diese Zeitschr. 37, 1917, 8. 507—532.
2) Centralblatt f. Bakt. u. Parasitenkunde 32, 38, 43, 46, 48, 49, 51, 72, 76, 78.
- - ?
Fritz Eckstein, Die Uberwinterung unserer Stechmücken. 931
Bei den ın den letzten Jahren in Straßburg und Umgebung
durchgeführten Arbeiten zur Stechmückenbekämpfung ließ sich für
die einzelnen Arten folgendes feststellen:
Anopheles maculipennis Meig. Im allgemeinen wurden nur
überwinternde Imagines angetroffen. Männchen waren nie zu finden,
dagegen habe ıch einige Male im Spätherbst (Mitte November) noch
vereinzelte mittelgroße Larven gefunden, die, soweit ich sie zuhause
ın Aquarien im ungeheizten Zimmer hielt, alle zugrunde gingen.
Später waren bis jetzt keine Larven nachzuweisen, doch erscheint
es ımmerhin nicht ganz ausgeschlossen, daß auch sie sich, ähnlich
wie Oulex pipiens, unter günstigen Verhältnissen über den Winter
zu erhalten vermögen.
In der Wahl der Örtlichkeiten zur Überwinterung ist das
Weibehen nicht sehr wählerischh nur müssen zwei Bedingungen
unbedingt erfüllt sein. Der Platz, an dem es sıch festsetzt, muß
ganz trocken und vor jedem stärkeren Luftzug geschützt sein. Wir
werden es also nur an trockenen, windgeschützten Stellen zu suchen
haben, an feuchten fehlt es vollständig. Beı Straßburg ıst es über-
all sehr häufig, ın Kellern, Schuppen, Festungswerken, oft sozu-
sagen im Freien, in den Nischen und Mauerwinkeln neben Toren.
Gegen große Kälte ist es also sehr resistent.
Das Licht scheint für die Wahl des Platzes keine ausschlag-
. gebende Bedeutung zu haben, wenigstens fand ich die Tierchen
ebenso an hellen wie an dunklen Stellen gleich häufig an.
Mehrfach angestellte Versuche ergaben, daß die überwintern-
den Weibchen schon im Februar stachen — die Stechmücken-
weibehen stechen im allgemeinen während der Überwinterung
nicht —, sowie sie einige Stunden im warmen Zimmer gehalten
worden waren. Nach dem Verlassen der Winterquartiere suchen
die Weibchen mit Vorliebe Ställe auf, um sich vor der Eiablage mit
Blut anzufüllen.
Anopheles bifurcatus L. Von Anopheles bifurcatus waren
bıs jetzt nie überwinternde Weibchen nachzuweisen. Die Art über-
wintert wohl ausnahmslos als Larve, wenigstens unter den gewöhn-
lichen Verhältnissen.
Während der Wintermonate traf ich die kleinen Larven in
den meisten der in unseren Auwäldern so häufigen Grundwasser-
löcher an, ebenso an den Rändern größerer Sümpfe, nicht aber
in herumstehenden’ Wasserbehältern. Man fand sie allerdings nicht
an der Oberfläche des Wassers, wie in der wärmeren Jahreszeit,
sondern meist am Grunde der Löcher zwischen abgefallenem Laub.
Auch in teilweise mit Eis bedeckten Tümpeln fand ich sie wieder-
holt, einmal bei einer Wassertemperatur von 3,5° ©. Auch Galli-
Valerio°) fand sie so, sogar zwischen zwei Eisschichten. Die über-
; 3) Centr. f Bakt. u. Parasitenkunde Bd. 32.
532 Fritz Eckstein, Die Überwinterung unserer Stechmücken.
winternde Larve erscheint dunkler als die, welche man während
des Sommers findet, sie ist viel weniger lebhaft, ihre Bewegungen
sind viel langsamer.
Während die Larve ın den Monaten Mai bis Juli überall häufig
zu finden ist, findet man sie in den Wintermonaten mehr vereinzelt.
Dementsprechend wird man im Frühjahr verhältnismäßig wenig
Imagines finden. Diese liefern aber eine große Zahl von Larven,
aus denen dann die zweite Generation des Jahres hervorgeht, die
infolgedessen zahlreicher auftritt. In. der Tat findet man in den
Monaten September bis Oktober die meisten Imagines. Auch Prell®)
(1917) hat beobachtet, daß die Imagines in den Herbstmonaten
häufiger sind’).
Anopheles nigripes Staeger (Ooelodiazesis plum bea). Mit
der eigentümlichen Lebensweise dieser Art, welche sie noch mit Oxdi-
cada ornata teilt, hängt es zusammen, daß hier die Art der Über-
winterung nicht so einfach festzustellen ist. Wie zuerst Martini
(1915) nachgewiesen hat, lebt die Larve von nigripes zusammen
mit der von ornata, ausschließlich in den kleinen Wassermengen,
die man häufig in hohlen Bäumen findet und die oft so voll Mulm
stecken, daß man bei oberflächlicher Betrachtung kein Wasser sieht.
Wie überwintert nun wohl diese Stechmückenart? Wohl kaum
als Larve. Denn während des Winters sind diese Wasserstellen
entweder ganz trocken oder aber bis an den Grund zugefroren.
Mir ist es aus diesen Gründen bis jetzt nicht möglich gewesen, über-
winternde Larven zu finden, trotzdem ich wiederholt in den mir
als Brutplätze bekannten hohlen Bäumen während der Winter-
monate nachschaute und von dem Mulm unter Wasser setzte.
Ob sie als Ei überwintert, wie die nachher zu besprechende Cul-
cada ornata, ist ungewiß, wenigstens konnte ich bisher keine über-
winternden Eiee finden. Sie wird also wohl als Imago den Winter
überdauern, wie Galli-Valerio und Rochaz de Jongh angeben‘).
Culex pipiens und Culiseta annulata Meig. Für diese
beiden Arten steht allgemein fest, daß sie im Imaginalzustande über-
wintern, und zwar in Kellern, Schuppen, Höhlen, Festungswerken, wo
man sie oft zu Hunderttausenden eng nebeneinandersitzend beobachten
4) Biologische Beobachtungen an Anopheles in Württemberg. Zeitschr. f. wiss.
Insektenbiologie XIII, 1917.
5) Auch die bifurcatus-Weibchen suchen hier, oft in sehr großer Zahl, die
Viehställe auf, besonders in den Ortschafteu am Breuschkanal.
6) Centralblatt f. Bakt. u. Parasitenkunde Bd. 32. Wenn die beiden Forscher
in Bd. 43, 1907 Biol. Zeitschrift angeben, daß sie mit den Larven von bafurcatus
auch solche von nigripes überwinternd angetroffen haben, so mag das daher rühren,
daß sie die richtige nigripes-Larve, die nur in hohlen Bäumen lebt, damals noch
nicht gefuuden hatten. Die Notiz in Bd. 48, 1918, nach der Larveu von nzgripes
aus Mulm und feuchten Blättern aus einem hohlen Baum gezüchtet wurden, ließen
immerhin die Möglichkeit offen, daß die Eier dort überwintert hätten, sie können
aber ebensowohl gerade von einem überwinternden Weibchen abgelegt sein.
x
Fritz Eckstein, Die Überwinterung unserer Stechmücken. 533
kann. Die Stellen, die sie sich heraussuchen, müssen windgeschützt
und feucht sein. Wir haben oben gesehen, daß Anopheles maculi-
pennis unbedingte Trockenheit verlangt. Dementsprechend werden
wir ın den zu untersuchenden Räumen trotz gemeinsamen Vor-
kommens Anopheles maculipennis von Culex pipiens und Culiseta
annulata räumlich getrennt finden, Anopheles an den trockenen
Stellen, die beiden anderen an den feuchten. Auch sie stechen
gerne, schon in: Januar, wenn sie einige Zeit im Warmen gehalten
wurden.
Ouliseta glaphyroptera Schiner. Diese anscheinend seltenere
Art: überwintert als Weibchen. Ich fand sie ım Winter 1916/17
in einem alten, leeren Höhlenkeller bei Mutzig U.-E. zusammen
mit Oulex pipiens und Ouliseta annulata ın ganz vereinzelten Exem-
plaren, die in etwa 1m Höhe über dem Boden an der Felswand
(Sandstein) saßen.
Ontex territans Walk. Von Oulex territans überwintert eben-
falls die Imago. Ich fand die Weibchen überwinternd ın einem
Festungswerk beı Straßburg zusammen mit denen von Oulex pipiens,
sehr vereinzelt, wie ja auch die Art hier nicht eben häufig ist.
Oulicella morsitans Theob. Während Schneider angegeben
hatte, daß Cndicella morsitans sicher nicht als Larve überwintert, muß
ich auf Grund der folgenden Beobachtungen annehmen, daß dies,
wenigstens in den Wäldern um Straßburg ı. E. doch der Fall ist.
Im Sommer 1916 (Juli bis Oktober) wurden keine Larven hier
gefunden. Wären solche vorhanden gewesen, so hätten sie mir
unbedingt auffallen müssen; wurden doch alle Wasserstellen in
den Wäldern um Straßburg von unseren Mannschaften, die mir
immer Proben der vorhandenen Brut mitbrachten, unter Kontrolle
gehalten, außerdem auch von mir immer abgefischt. Ebenso waren
1917 von Mai bis Mitte Oktober nirgends Larven zu finden. Ich
entdeckte dieselben zuerst im Walde von Straßburg-Neuhof am
24. November 1916 ın einem kleineren Tümpel, dessen Boden mit
abgefallenem Laub bedeckt war, unter einer leichten Eisdecke. Sie
befanden sich alle am Grunde des Tümpels unter dem Laub ver-
steckt und konnten erst nach Aufrühren desselben einzeln gefangen
werden.
Einige Zeit darauf, am 12. Dezember 1916, wurden Larven der-
selben Art im Walde von Straßburg-Ruprechtsau aufgefunden. Auch
hier ın einem kleineren, aber tiefen Tümpel, dessen Boden mit
einer dicken Schicht abgefallenen Laubes bedeckt war und dessen
Oberfläche teilweise eine Eisdecke trug. Die Wassertemperatur
betrug 8°. Wie ım oben angeführten Tümpel waren auch hier
die Larven unter dem Laub versteckt und kamen erst nach dem
Aufrühren desselben mit langsamen, trägen Bewegungen an die
Oberfläche des Wassers. Beide Male handelte es sich um kleinere,
2) ! „ Ay er ee Ai
534 Fritz Eckstein, Die Über winterung unserer Stechmücken.
etwa halb ausgewachsene Exemplare, von denen ein Teil heraus-
gefangen wurde.
Zuhause wurden die Tierchen ın ein Aquarium gesetzt, dessen
Boden ebenso mit abgefallenem, modrigen Laub bedeckt wurde,
wie ich es an der Fundstelle beobachtet hatte. Sie hielten sich
nun ebenso wie draußen andauernd unter dem Laub versteckt und
kamen nur selten und dann immer nur für kurze Zeit an die
Wasseroberfläche zur Atmung. Dies blieb so während des ganzen
Winters, trotzdem die Tierchen sich im geheizten Raum befanden.
Als nun draußen, Anfang Februar 1917, ein großer Witterungs-
umschlag plötzlich eintrat und die Temperatur ziemlich in die Höhe
ging, fanden sich alle Larven an der Oberfläche des Wassers ein
und waren im Gegensatz zu ihrer seitherigen Ruhe sehr beweglich.
Von diesem Zeitpunkt ab sah man sie häufiger an der Oberfläche
des Wassers. Als es am 28. Februar nach einer kühleren Wetter-
periode wieder verhältnismäßig warm war, waren sie fast immer
oben. Danach trieben sie sich fast immer wieder in dem Laub am
Boden der Aquarien herum, bis sie sich Anfang Mai verpuppten.
So haben sie also den Winter ım Larvenstadium überdauert.
Daß sie aber nicht nur im warmen Zimmer die kalte Jahres-
zeit überstehen, beweist die folgende Beobachtung:
Zu Beginn des Jahres 1917 fand ich die morsitans-Larven in dem-
selben Tümpel im Rheinwald bei Ruprechtsau bei einer Wasser-
temperatur von 3,5° ©. Diese Larven waren ebenso groß wie die
im Zimmer ‘gehaltenen. Auch sie hielten sich unter dem Laub am
Boden des Tümpels auf und konnten ın größerer Zahl erst nach
Aufrühren der oberflächlichen Laubschicht gefangen werden. Am
18. März desselben Jahres fing ich dann die Larven in Gesellschaft
solcher von eben ausgeschlüpften cantans- und nemorosa-Larven in
einem Waldgraben bei Brumath und dann in einem kleineren
Tümpel am 19. März bei Lingolsheim in Gesellschaft von Cul-
cella Theobaldi-Larven, zusammen mit Dranchipus stagnalis. Auch
diese Larven waren fast ganz erwachsen.
Während des ganzen Frühjahrs und Sommers 1917 waren
keine Larven von Cubeella morsitans zu finden. Erst ım Herbst
des Jahres fand ich wieder ganz kleine Larven in den Tümpeln
des Ruprechtsauer Waldes. Sie waren auch während des Winters
draußen zu finden, zusammen mit denen von Anopheles bifurcatus.
Im Frühjahr 1918, am 14. März, fand ich die Larven, fast er-
wachsen, wieder in den Tümpeln des Brumather Waldes, in denen
ich sie schon früher gefunden hatte, dagegen wurden im Ruprechts-
auer Wald keine gefangen”).
7) Infolge des niedrigen Wasserstandes lagen alle Tümpel trocken.
Fritz Eckstein, Die Überwinterung unserer Stechmücken. 535
Die Art bildet also wohl nur eine Generation im Jahr und
überwintert als Larve°).
Mansonia Richiardii Ficalb. Auch Mansonia Rechiardii
weicht in mancher Beziehung sehr von den übrigen Stechmücken ab
und zeigt besonders in ihrer Lebensweise einlsik Merkwürdig-
keiten. Man findet die Imagines ganz vereinzelt an verschiedenen
Stellen der Wälder, in der sahne von Straßburg, immer in
der Nähe großer, tiefer Altwasser, von Juli bis Oktober. Wie ich
beobachten konnte, legt das Weibchen seine Eier ın Gelegen von
Schiffehenform auf die Oberfläche eben dieser tiefen Gewässer.
Die ausschlüpfenden Larven setzen sich — ganz anders als die
übrigen Stechmückenlarven — in der Tiefe des Wassers, im Schlamm,
an Pflanzenwurzeln fest und suchen niemals zur Atmung die Ober-
fläche des Wassers auf. Ebenso verhalten sich die Puppen. Auf
eine Beschreibung im einzelnen kann ich hier nicht eingehen, sie
würde zu weit führen; ich behalte mir dieselbe für eine spätere
Mitteilung vor.
Von Mansonia Richiardii überwintern die Larven am Grunde
der tiefen Altwasser, in denen sie leben.
Aedines. Die im folgenden zu besprechenden Arten über-
wintern alle als Ei. Es sind dies: Aödes rinereus Meig., Oulicada
nemorosa Meig., nigrina n. sp., diversa Theob., lateralis Meig.,
ornata Meig., Br salis Meig., vexans Meig. und cantans Meig., die
sämtlich hier in der Umgebung von Straßburg von mir nachge-
wiesen werden konnten.
Setzt man Rasenstücke, bezw. Walderde, von Brutstellen unter
Wasser, so wird man jederzeit, auch im Winter, junge Larven der
an der betreffenden Stelle vorkommenden Schnakenarten erhalten.
Alle meine dahingehenden Versuche zu besprechen würde zu weit
führen, nur einige Daten seien hier genannt.
Am 13. Dezember 1916 nahm ich aus dem Wald von Ru-
prechtsau von einer während des Sommers Grundwasser führenden
Bodensenkung die oberflächliche Erdschicht mit nach Hause und
setzte sie am 18. Dezember unter Wasser. Am 25. Dezember zeigten
sich die ersten Larven, die, im geheizten Zimmer gehalten, rasch
heranwuchsen, und ich schließlich am 2. Januar 1917 verpuppten.
Ei aus den Puppen am 10. Januar, ausschlüpfenden Imagines,
2 Männchen, waren solche von Cı ılicada nemorosa.
Am 16. Dezember 1916 wurden von einer anderen Stelle aus
demselben Wald Stücke der Laubdecke, die sich aus dem ım Herbst
desselben Jahres gefallenen Laub gebildet hatte, abgehoben und
S) Von Culicella theobaldi Meijere (Tijdschrift vor Entomologie Deel 54,
1911) fand ich nur wenige erwachsene Exemplare im März 1917 zusammen mit
morsitans-Larven.
N ELENA et RR SEE
. \ + BAfe,
536 Fritz Eckstein, Die Überwinterung unserer Stechmücken.
unter Wasser gesetzt. Am 23. Dezember zeigte sich die erste junge
Larve und am 26. und 27. Dezember je zwei weitere kleine Larven,
die alle gut gediehen und sich am 4. Januar 1917 zum dritten Male
häuteten. Sie verpuppten sich um den 16. Januar 1917 und er-
gaben drei Exemplare von Culicada cantans.
Endlich noch ein Beispiel aus den Vorfrühlingstagen: Am
18. März 1917 fand ich in einem Tümpel im Walde bei Brumath
neben erwachsenen Larven von Onlicella morsitans kleine von (u-
licada cantans, nemorosa und diversa, sowie vom Aödes cinereus, die
erst vor wenigen Tagen ausgeschlüpft waren und sich um den
4. April verpuppten. Etwa acht Tage später, am 28. März, war der
Tümpel durch Ansteigen des Grundwassers bedeutend verbreitert,
und es waren wieder frisch ausgeschlüpfte Larven der vorhin ge-
nannten Arten nachzuweisen, Sie hatten sich offenbar aus den
auf der oberflächlichen Erdschicht des Ufers zwischen dem Moos‘
u.s.w. liegenden Eiern entwickelt, denn Schnaken waren zu dieser
Jahreszeit noch nirgends zu sehen.
Auch für Cl. vexans, nigrina, dorsalis, Aedes einereus und
die anderen Arten ließen sich entsprechende Belege anführen, zu-
mal da ich bei manchen derselben viele Hunderte von Larven zu-
gleich erhielt.
Überall, wo wir es mit temporären Tümpeln im Sinne Bress-
lau’s zu tun haben, die während des Sommers Stechmücken her-
vorbringen, werden wir in den ersten Frühjahrstagen nach dem
Steigen des Grundwassers die entsprechenden frisch ausgeschlüpften
Larven finden, ja, man kann, einige Übung vorausgesetzt, unter
Umständen die kleinen schwarzen Eier in dem Mulm ganz leicht _
finden, wie dies Bresslau in dem ersten dieser Beiträge zur Lebens-
weise unserer Stechmücken genauer beschrieben hat.
Damit will ich meine Ausführungen schließen. Sie zeigen, daß
die Winterbekämpfung der Stechmücken in der zur Zeit üblichen
Weise, bei der man nur die überwinternden Weibchen zu ver-
nichten sucht, auch bei sorgfältigster Durchführung nur einen
kleinen Teil unserer Schnaken treffen kann.
Verlag von Georg Thieme in Leipzig, Antonstraße 15. — Druck der Universitäts-
Buchdruckerei von Junge & Sohn in Erlangen.
N EEE TER
BE
Alphabetisches Namenregister.
Abel, O. 6. 34. 109.
Adlerz, G. 160.
Alfken, J. D. 187.
d’Alton 368.
Ambronn 273.
Andre 161.
Apathy 50.
Arago 416.
Aristoteles 364. 403. 438.
Arisz, W. H. 237. 253.
Armand-Delille, M. P. 157.
Arrhenius 96.
Asher 47.
d’Auberton 407.
Auer 237.
Aurivillius 186.
Baar 223.
Babäk 135.
Babkin 60. 62. 64. 66. 67.
Ne or
28. 80: 94.497.,98:799.
100.
Baer, K. E. v. 358. 439.
447. 453.
Baird 258.
Bally 463. 473. 477.
Balzer 145.
Barber, T. C. 129.
Bardeleben, v. 371. 453.
Barlow 463. 477.
Bateson, W. 330. 463. 477.
Bauer, G. 144. 159.
Baur, H. 20. 34. 253. 475.
AarT.
Bautzmann, G. 146.
Bayliss 84.
Becher, E. 98. 315.
Bechstein, W. 251. 253.
Bela Farkas 50.
Beneke 475. 477.
Bengen 70.
Berg, v. 304.
Bergmiller 106.
Bergson 310.
Bernhard 283.
Bernoulli 335.
Berthold 371. 453.
Bethe, A. 118. 127. 133.
211. 350. 502.
Biedermann 51. 135.
Bielschowsky, A. 453.
Bilfinger 144.
Blaauw, A. H. 237. 253.
Blainville 416.
38. Band
Blaringhem, L. 7. 34.
Blegvad 201.
Bliedner 371. 377. 453.
Bloch, L. 246. 253.
Blum 295.
Blumenbach 361. 453.
Boecker, E. 479.
Boldyreff 81.
Boller 148.
Bönner, W. 123.
Bonnet, Ch. 234.
380. 453. 521.
Bonnier, J. 237. 253.
Bonnier, G. 462. 477.
Botazzi 47.
Bovie, .W. T. 232. 253.
Bower 520.
Boysen Jensen P. 199.
Brauer,
499.
Braun, A. 9. 34.
Braus 451.
Bravais, L. 28, 34.
253.
Breitenbach 463. 467. 474.
AN.
Breßlau, E. 530.
Bretscher, K. 296.
Brun ars liege als
211. 349. 355. 499.
Buchenau 14. 34.
Buchner, Paul 457.
Buddenbrock, W. v? 385.
Buder,. I. 237... 2322,25
505. 511. 520.
Buffon 363.
453.
Bunsen 223.
Burck, W. 472. 477.
Burian 135.
Burkill 11. 35.
Buttel-Reepen, v. 185. 290.
Camper, Petrus 407. 434.
„ Duges 421.
Candolle, de 2. 35.
234. 253.
Candolle, M. A..P. de 253.
Capteyn, J. ©. 340.
Carus, J. V. 397. 448. 474.
478.
Celakovsky, L. J. 24. 35.
Chatellier, H. 277. 283.
Chishin 64. 65.
Clark 238.
Claussen 521.
Cockerell 11. 35.
364.
A. 394. 481. 494.
126.
380. 413. 434.
Cohnheim 76.
Collin, J. E. 318. 328.
Coquillet 319.
Cornetz 128. 212. 504.
Correns, C. 462. 469. 475.
AT. 502.
Courtin 403.
Crawley 113.
Cuenot, L. 50.
Cuvier 357. 382. 397. 453.
Czuber, E. 334.
Dacque 372. 442.
Daday 258.
Dahl 177.
Dahleren, K. V. ©. 16. 35.
469. 473. 478.
Dangers, P. 253.
Darwin, Charles 5. 35.
443. 461. 472. 478.
Darwin, Erasmus 367. 424.
453.
Daubenton 434.
Deherrain 253.
Delage 387.
Delpino, F. 126. 468. 478.
Demoll 385.
Detmer, W. 222. :
Dieffenbach 198.
Diembrowski 144.
Dobell 526.
367.
Doflein, F. 159. 459. 524.
Donisthorpe, H. 123. 318,
322. 328.
Dorno, C. 224. 254.
Dorsey 21. 35.
Downing, Elliot R. 490.
498. 499.
Driesch, H. 43. 84. 85. 90.
316.
Dubois-Reymond 372. 453.
Duchartre, P. 464. 479.
Dufour, Leon 327.
Duhamel, M. 234. 254.
Dumeril 417.
Hbbinghaus 218.
Eckstein, Fritz 530.
Edinger 214.
Ege, Wilh. 394.
Ehrenbaum 391.
Eichler 10. 35.
Eisner 143.
Ellenberger 45. 46. 47. 49.
87. 91. 96.
38
5
Emery 118. 124. 163. 175.
3al.
Emmelius 111.
Engelmann 25. 83. 289.
Errera, L. 463. 478.
Escherich, K. 116. 162.
Esmarch, v. 224,
Euler, H. v. 249. 254.
Kage, L. 394.
Falck 15. 35.
Falta, K. 143. 160.
Famintzin, A. 223, 254.
Fechner 212.
Ferni 158.
Ferrant, V. 171.
Findel, H. 155. 159.
Finsen 283.
Fischer, Ed. 506. 521.
Flourens 442,
Horel Ar ler.
501.
Fries, Th. 16.
Friese, H. 187.
Frisch, Karl v., 183. 389.
Frischeisen-Köhler 43.
Frischholz, E. 480. 489. 492.
499.
Fröhlich 89. 95.
Fröschel, P. 236. 254.
Fuchs-Wolfering 144.
@ain, E. 463. 478.
Gais 15.
Galli-Valerio 530.
Galton 12.
Gaßner, G. 237. 254.
Gaud, F. 236. 254.
Gauß 335.
Gegenbaur, Carl 46. 431.
445. 454,
Gejer 16. 35.
Geoffroy, Isidore 9. 55.
Geoffroy, St. Hilaire 357.
382.397. 453.
Gertz O0 m1H33%
Godoletz. L. 283.
Goebel, K. v. 6. 35. 466.
471. 476. 478. 520.
Goeldi, E. A. 106. 506.
Goethart, J. W. C. 15. 3
Goethe, Wolfgang 1. 35
371. 434. 454.
Gonder 154.
Gould 168.
Gräbner 257.
Grassi 392.
Green, J. R. 237. 254.
Gregory 463. 477.
Greim 148.
Greiner, Johann 522.
Gruber, B. G. 143. 159.
Guerin-Meneville 258.
128. 160.
208, 345. 355. 499. 500.
-1 O1
hf Adern
N an
Alphabetisches Namenregistet. |
Günthart, A. 477. 478.
Günther, K. 497. 499.
Gurwitsch 45. 47. 48. 83.
Guttenberg 237.
Guttenberg, H. v. 254.
Gutzeit, E. 39.
Haane 70.
Haeckel, Ernst 358. 371.
421. 442. 454.
Haecker, Valentin 43. 44.
477. 478.
Halbertsma, N. A. 246. 254.
Hancock 180.
Hanel, E. 480. 495. 499.
Hann, 3..251..254:313.
Harder, R, 238. 254.
Handlirsch, A. 344.
Handmann, R. 318.
Harpf 372. 454.
Hlareıs,ı 21. Ay 23527330:
330 NAT ATS
Hartmann 505. 516.
Hartmann, Eduard v.
Hausmann 289.
Hegyfoky 310.
Heiberg, H. 277. 283.
Heidel 362. 454.
Heidenhain 98.
Heidenhain, H. 44. 64.
Heidenhain, Martin 45. 47.
48. 50. 83.
Heidenhain, R. 61. 62. 63.
66. 68. 69. 72. 73. 7A.
7.5..2X..80..96..09,
Heider 521.
Heilbronn, A. 237. 254.
Heinrich, v. 144. 160.
Heinricher 16. 35.
Helmholtz 212. 371. 454.
Henning, Hans 118. 127.
208. 355. 499.
Henze 199.
Hering, Ewald 127.
Hertel 232.
Herve-Mangon 236.
Hertwig, R.v. 85. 86.
316. 442, 480, 482.
Hescheler, Carl 103.
Heß, ©. 290. 388.
Hetsch, H. 160.
Heyden 247.
Heyer 11.
Heymann, Paul 279.
Hildebrand, F. 31. 36.
478.
Hirsch, Gottwalt Christian
41. 45. 45. 46. 48. 49.
54. 55. 58. 93. 96.
Hoeber 86. 95.
Hoernes 109.
Hofmeister 4. 36.
Holbach 362. 424.
209.
100.
498.
283
46
mc
‚ Jost,
Holt 394.
Huber 168.
Hürthle 83.
Huxley 442.
Ahering, v. 126.
Jacobi, H. 254.
Jacobsen, J. B. 393.
Jacoby 237.
Jaeger 3. 36.
Janet, Charles 160.
Jastrowitz, H. 144. 160.
Jensen 15. 36.
Jespersen, P. 394.
Johannsen, W. 8. 20. 36.
330.
Jollos 529.
Jones 20. 36.
Jordan 51.
Jordan, Hermann 46. 51.
85. 86. 96. 133.
Jordan, K. H. Chr. 120.
Jordan, R. 50.
Ludwig 6. 20. 36.
254. 289. 473. 475. 478.
Jussieu 2.
Mk alischer 372. 454.
Kamper, 361. 364. 449,
Kant 373. 454.
Karny 180.
Karsten, G. 237. 254.
Keeble 20. 36.
Keller, C. 125.
Kerb 199.
Kerner von Marilaun 315.
Ketscher 65.
Kienitz-Gerloff 511.
Kirchhoff 377.
Kirchner, v. 464. 476. 478.
Kirschbaum 145. 160.
Kirschleger 3. 36.
Kißkalt 144.
Kißling 224.
Klaatsch 446.
Klebs, G. 7. 36. 85. 86. 90.
223. 254. 476.
Klene, Heinrich 130.
Kluyver, A. J. 232. 255.
Kniep, H. 93. 224. 255.
Knörrich 199.
Knuth, P. 462. 464. 478.
Kny, L. 462. 474. 478.
Kobelt 108.
Koch, V. 480. 481. 490. 4
492. 495. 499. „
Kohlbrugge 358. 454.
Köhler 273.
Kolkwitz, R. 237. 255.
Kolle, W. 160.
Kölliker 139. N
König. W. 160.
Korschelt 121. 515. 521.
Koßmann, R. 371. 454.
KuBe Eat
HAN
Kotte, Walter 43.
Kraft 7. 36.
Krapfenbauer, A. 480,
499.
Krogh 155.
Krones, F. G. 238. 241
2bD.
Krüger, Felix 200.
Krukenberg 136.
Krüß, H. 255.
Kuckuck 509.
Kuhn 386.
Kühne 72. 74.
Kunze 527.
Küster, E. 89. 90. 95. :
467. 478.
Kutter, Heinrich 110.
Kutz, L. 143. 160.
Kyle, H. M. 393.
Kylin 505. 509. 513.
Waacepede 383.
Lagerberg 158.
Lakon 90.
Lamarck 363.
443. 454.
Lamettrie 362. 424.
Lampert 305.
Lang, A. 330.
Langley 231.
Latreille 398.
Laurencet 401.
Laurent, L. 2.
499.
Laveran 157.
Lea 72. 74.
Leclere du Sablon 176.
Ledue 95.
Lee, Alice 19. 36.
Lehmann, E. 1.
251. 255.
Leibnitz 364. 406.
Leidy, J. 497. 499.
Lenz, F, 144. 160.
Levinsen 458.
Levrant 403.
Lewes 371. 454.
Lewis 510.
Leydig 271.
Liebenthal, E.
255.
Liebermann 144.
Linke, F. 160.
Linne, Carl 1. 36. 369.
Lipschütz, Alexander 196.
List 145.
Lobassow 64, 65.
Lo Bianco 395.
Loeb 84. 135. 232.
Loeb, L. 255.
Loeb, Jacques 262.
Lohmann 197.
Lönnberg 106.
367.
481.
240.
BET ERROR DENE,
391.
413.
494.
36. 226.
- Alphabetisches Namenregister.
Losch 14. 15. 36.
Lotsy 20. 36. 180. 512. 521.
. Lotze 85.
Lubbock, J. 317, 329.
Lubimenko, M. 223. 255.
. Lubosch, Wilhelm 357. 397.
454.
Lueiani 83.
Ludwig 11. 36. 98.
Lumbao 158.
Lydekker 106.
NRHacallum 47.
Mae Leod 11. 36.
5, Magnin 32. 36.
Magnus 372. 455.
Malme 15. 36.
Mann 119.
Maquenne, L. 253.
Marshall 498.
Martenson 103.
Martini 532.
Martius 379.
Masters 6, 37.
Mathew, Albert 72.
Matula 386.
Maurer 303, 311.
Maurer, Fr. 447.
Maxikow, M. A.
Meckel 363. 367.
Meißner 3.
Meinhold, Th. 224. 255.
Mendel 20, 329. 444,
Merck 434.
Metzner 45, 60, 83.
Meyen 235.
Meyer, Arthur 506. 512.
Meyer, F. J. M. 255.
Meyer, Fritz Jürgen 505.
Meyer, R. M. 371.
Meyer, Richard 455.
Meyranx 401.
Michaud 363.
Milne-Edwards 415.
Miescher 198.
Minder 224. 255.
Mink 144.
Möbius 455.
Mohl v., Hugo 3, 37.
23 23D.
397. 448.
,„ Molisch, H. 466. 478.
Molliard 7, 37.
Monasch 240.
Moquin-Tandon 2.
Morgenroth 153.
Mosse 145. 181.
Mräzek, A. 123.
Mühlens 143, 160.
Müller 10, 37.
Müller, G. E. 212.
Müller, H. 462.464. 468.479.
Müller, Johann 85.
Müller, Johannes 358. 367.
433. 439. 455.
939
Müller, Robert T. 257.
Munk 89. 90. 100.
Murbeck 7.
Murray 198.
Nabour 180.
Nägeli 7. 37.
Nägeli, ©. v. 462. 479.
Nathanson 237.
Naumann, Einar 198.
Neger 294.
Nehring 106.
Nemee 191.
Nernst 237.
Newell, Wilm.
Newton 362.
Nicols 248.
Nielsen, J. N.
Nienburg 237.
Nienburg, W. 255.
Noak, K. 237. 255.
Noll 44. 46. 47. 48. 60. 61.
63.69.3722 83.
Nussbaum, M. 480. 482.
495, 499.
@bhms 218.
Ohno, N. 255.
Oken 446.
Oker-Blom, M. 232. 255.
Olpp 160.
Oltmanns, F. 236. 255. 509.
Oppenheimer 96.
Ostenfeld, C. H. 395.
Öttenwälder, A. 238.
Overton 192.
Owen, Richard
408. 440. 455.
Pander 363.
Pascher 509.
Pawlow 67.
Pearson 11.
Pearson, K. 330.
Peckolt 187.
Pellew 20. 36.
Penzig 26. 37.
Petersen, G. J.
Peyritsch 5. 37.
Pfeffer, W. 22.
255. 464. 479.
Pfundt, M. 472. 479.
Pieron 128. 215.
Pirquet v. 158.
Piskernik 514.
Plate, L. 180.
474. 479.
Platon 364.
Pledge 11, 37.
Pohlig, Hans 104.
Precht 236.
Precht, J. 255.
Prell 532.
Prilleux, G. M. 256.
Pringsheim, E. 237. 256.
38*
129.
393.
308.
940
Punnett, R. ©. 330.
Puriewitsch, N. 233. 256,
Pütter, August 46. 196.
Beabl, Carl 446.
Raben 199.
Radl 262. 388.
Raffaele 394.
Ramme 180.
Ranvier 48.
Rathke 367.
Ratzeburg 18.
Rauther, M. 360. 455.
Reibisch 198.
Reichenau v. 145.
Reichenbach, H. 240. 250.
256.
Reichenow 523.
Reichensperger, Aug. 114.
119.
Reichert 367. 397. 448.
Reinke, J. 316. 475, 479.
Reinöhl 12, 37.
Reisinger 133.
Reitsma, J. F. 31. 37.
Rengel, ©. 53.
Renner 505. 511.
Rettig 126.
Richter, ©. 236. 238. 256.
Riebesell, P. 329.
Bitter, 'G.'19, 37.
Ritzerow, Helene 476, 479.
tochaz de Jongh 530.
xodenwald 154,
Roeper, J. 32. 37.
Rollier 283.
Romanes, J. T. 178.
Rood, ©. N. 251. 256
Rörig 106.
Roscoe 223.
Rosenvinge 510.
Ross 315.
Rothert, W. 236. 256.
Roux 85. 421.
Rowlee, W. W. 237. 256.
Rubaschkin 78.
Rübel, E. 224. 256.
Rüschkamp, F. 124.
Rütimeyer 106.
Sachs 4. 37, 232. 256. 371.
455. 477.
Sachse 198.
Sack 145.
Samek, M. 224. 256.
Santschi 118. 128,
Saunders 332.
Sauvageau 509.
Sawitsch 78.
Schädel, Albert 143.
Schäff 106.
Schanz, Fritz 283. 456. 476.
479.
Schaudinn 153.
Alphabetisches Namenregister.
Schauer 2.
Scheffer 271.
Schellak 523.
Schelling 364. 455.
Scheunert 45.
87. 91. 96.
Scheuring 389.
Schiefferdecker, Paul 276.
283.
Schilling, ©. 160.
Schimmer 52.
Schimper 126, 224.
Schimper, A. F. W. :
Schimper, Carl 11. 34.
Schmidt A., 224. 256.
Schmidt, Joh. 391.
Schmidt, O. 360. 408.
Schmidt, W. J. 269.
Schmidtgen 145.
Schmitt, Cornel 396.
Schmitz, Hermann 319. 329.
456. 509.
Schmitz, P. 318.
Schneider 371.
533.
455.
Schopenhauer 100. 316. 373.
Schott, Gerh. 393.
Schübeler 236.
Schulze, J. 232, 256. 295
Schulze, P. 482, 484. 489,
492. 494. 499,
Schupp, Ambros
Schürhoff, P. N.
Schwab, F. 224.
Schwendener 22.
Seemann 16. 37.
Semon 127. 217. 502.
Shibata 195.
Shull, G. H. 330.
Sieber 144,
Siedentopf 270.
Siedlecki 526.
Siemens, C. William 236.
Sierp, Hermann 221.
Silatschek, K. 143, 160.
Silvestri 119.
Simmel 371. 455.
Sirks 2, 37.
Sokoloff 61. 63. 69.
Sokolowsky, Alex. 101.
Solms 21. 37.
324,
188.
256.
Sömmering, Thomas 361.
434.
Soret 436.
Spemann 360. 408. 455.
Sperlich, A. 238. 256.
Spinoza 364.
Spiro 47.
Stadelmann 145.
Staeger, R. 346.
Stahl, E. 475. 479,
Stamati 136.
46. 47. 49.
455.
Stameroff, K. 237. 256.
Stark 15. 37.
Starling 84.
Steentrup 224.
Steiner 371. 455.
Steinmann 109.
Stempell 137.
Stenger E. 236. 355.
Stenzel 5. 37.
Stephensen, K. 395.
Steudel 51.
Stevens, N. E. 470. 479.
. Stieda 358.
Stöhr 46.
Stocker, O. 396.
Stoppel, R. 237. 256.
Strasburger 7. 190.
Strobl, Gabriel 318. 329.
Strohl 135.
Strubberg, A. 394.
Studer 106.
Stuhr, J. 250. 256.
Stumper, Robert 160. 345.
Sturm 12. 37.
“ Svedelius 510. 513.
Szymanski, J. S. 340.
Tahara 19.
Tammes, T. 12. 37.
Taning, Vedel A. 394.
Tappeiner v., H. 284. 289.
Teichmüller, J. 240. 256.
Thaller von Draga, L. 144.
160.
Thelen, O. 237. 240. 256,
Thiele 232.
Thomson, A. 497. 499.
Thunberg 135.
Timiriazeff 289.
Tischler, G. 461. 479.
Toppe, ©. 494. 499.
Trabert, W. 231. 257.
Treub 126.
Treviranus 363. 369. 455.
Tröndle, A. 238. 257.
Fschermak 90. \
Unna, P. G. 276. 283.
Uexküll, v. 135.
Welenovsky 5. 37.
Verhoeff 186.
Verschaffelt 12. 37.
Verrall 318. 329.
Verworn 63. 80. 84. 85. 86.
89. 90. 92. 93. 94. 9.
Vieq d’Azyr 360. 407. 455.
Viehmeyer, H. 112. 117.
129. 351.
Virchow, R. 358. 371. 434.
444. 455.
Virey 422. 436.
Vöchting. H. v. 6. 37. 223.
257. 466. 477. 479. :
Alphabetisches Sachregister. 541
Voege, W. 237. 247. 257.
Vogel, R. 130.
Vogler 32. 37. 386.
Vogt, E. 232. 237. 257. 369.
Vogt, I. G. 257.
Voigt, F. S. 455.
Volkelt, Hans 220.
Vosseler 181.
Vranek, I. 249. 257.
Vries de, H. 7. 38.
Vrolik 19.
Vuillemin 17. 38.
Warburg, O. 125.
Warming, Eugen 224. 257.
Wasielewski v. 371. 455.
Wasmann, E. 112. 116. 130.
160. 165 ff. 216. 317. 351.
456. 502. 504.
Watelet 12. 38.
Weber, L. 106. 257. 4».
Wigand 5.
Wille 512.
Weichardt, H. 395.
Weinland 39. 139. 142.385. Wohlgemuth 74.
Weismann 442.
Weldon 31. 38.
.Weltner, W. 490. 499.
Werber, H. 160.
Werner 150.
Westwood, J. ©. 318, 329.
Wettstein 6. 508.
Wheeler, W. M. 113. 118.
160. 180. 351.
Wiesner, I. 223. 257.
Wilschke, A. 238. 257.
Winkler, Hans 22. 38. 190.
Wislicenus 20.
Withney, D. D. 497. 498.
Witte 16. 38.
Wolfe 512.
Wolff 199.
Wolf, H. Fr. 232. 363.
Woltereck 198.
Wood, J. H. 318. 329.
Wundt 212.
Wunne 247.
Wurtz 157.
Wynnes 247.
Wamanouchi 509.
Yano, M. 124.
Zuacher, Fr. 180.
Ziegler, J. 160.
Ziegler, Kurt 159. 160.
Ziegler, E H. 474. 479.
Ziemann 143. 160.
Zimmer, Carl 180.
Zittel 417. /
Alphabetisches Sachregister.
Aalmonte 198.
Aal, Nahrung 203.
Abarten 4.
Abax, Verhalten zum Wasser 342.
Abnormität 6.
Abra alba, Nahrung 201.
Abstammung, monophyletische 443.
Abstammungslehre 360.
Abutilon 10.
Acer Pseudoplatanus 11.
Adelea ovata 522.
Adoption (bei Ameisen) 351.
Adoxa moschatellina 12.
Adoxa moschatellina, Griffelkanal 188.
Aödes 530, 535.
Affen, Auslösung v. Malariarezidiven 154.
Agrimonia Eupatorium 18.
Akademiestreit 357. 397.
Aktinometer, nach Heyden, nach Wunne
247.
Algen 3%.
Alterseinflüsse bei Phyllopoden 263.
Altersstar 285.
Ameisenbekämpfung 129.
Ameisenbiologie 110, ]16.
Ameisen, dulotische 163.
Ameisengäste 111. 118. 168. 216. 319.
Ameisenhaufen 169.
Ameisen, Makrogynen 164.
Ameisen, myrmekophile 163.
Ameisen, parasitische 169.
Ameisen u. Pflanzen 125.
Ameisenpsychologie 126. 208. 499.
Ameisenschutztheorie 126.
Ameisen, Sinne 128.
Ameisen, soziale, Symbiose 123.
Ameisenspiele 168.
Amikalselektion 122.
Amitose 194.
Amphipoden 395.
Androdiöcie 507.
Anemone nemorosa 14.
Anergates 176.
Angiospermen 507. 515.
Anguilluliden 519.
Anomalie 6.
Anoncodina austriaca (Verhalten zum
Wasser) 341.
Anopheles bifurcatus L. 145. 531.
Anopheles maculipennis Mg. 145. 531.
Anopheles nigripes 532.
Antheridien 507.
Anthropomorphismus 208. 355.
Antirrhinum 17.
Antirrhinum latifolium 475.
Antirrhinum tortuosum 475.
Arbeit u. Ruhe 42.
Arbeitsrhythmus 41.
Archegonien 507.
Archeobius herpobdellae 527.
Archespor 188.
Archipterygiumtheorie 358. 446.
Arenscola marina 203.
Argandbrenner 234.
Art 4.
Artbegriff 180.
Artemia 521.
Arthropoden, Sinnesorgane 385.
Ascaris megalocephala univalens, bi-
valens 520.
942
Assimilationsprozeß der Pflanze 289.
Astacus, Verdauungsdrüsen 50.
Asterias, Nahrung 201.
Asterias rubens 203.
Atemeles 111. 120. 123. 171.
Atriplex, Lichteinfluß 234.
Auerlicht 236.
Austrocknen von Phyllopodeneiern 267.
Autonomie 90.
Autonome Rhythmen 89.
Avicularien 458.
Bachstelze, weiße 297.
Bachstelze, Zugszeit 309.
Bagala 458.
Bakterien 395.
Barrouxia schneideri 524.
Basalkanälchen der Nasenschleimhaut277.
Baumwanzen, Schwimmen 344.
Belone vulgaris, Nahrung 204.
Benthos 202.
Berberis 16.
Bewölkungskurven 151. ’
Bewußtsein 208. 500.
Bewußtsein, tierisches 220.
Biene 508.
Biene, Farbensinn 389.
Bienen, solitäre 183.
Bienen, soziale 185.
Biogenetisches Gesetz 407.
Blattbewegungen 234.
Blätter, Schlafbewegung 234.
Blaukehlchen, Zugzeit 299.
Blauviolette Strahlung der Sonne 232.
Blumenvarietäten im Norden 16.
Blütenanomalien 6.
Blütenfarben 476.
Blütenfarben, Bedeutung 290.
Blütenfarben und Insekten 290.
Blütenmorphologie 1.
Blütenphyllome 12.
Blütenvariationen 9.
Blutlose Tiere (Aristoteles) 411.
Bluttiere (Aristoteles) 411.
Bodenschichten der Gewässer 200.
Bogenlicht 236.
Bolometer 231.
Bombylius 327.
Bonnemaisonia 50.
Borragineen 26.
Braconiden 319.
Bramiden 394.
Branchipus 258.
Braun-Schimper’sche Reihe 22.
Bryophyten 507.
Bryozoen 457.
Buceinum, Nahrung 201.
Buche 223.
Caltha palustris 11.
Calycanthus floridus 23.
Campanulaceen 26.
Alphabetisches Sachregister.
. Cardiocondyla 175.
BI SE RR SE IE ae,
Campanula glomerata 15.
Campanula patula 26.
Campanula persicaefolia 26.
Campanula rapunculoides 26.
Campanula rotundifolia 16. 26.
Camponotus (schwimmend) 341. 343.
Camponotus truncatus 346.
Canda tenuis Macgill. 459.
Cantharis (Verhalten zum Wasser) 341.
Capsella Viguieri 21.
Carabus (schwimmend) 342.
(ardamine 475.
Cassia 470. 472.
(ecropia 126. 476.
Celosia eristata 5.
Ceratodus 446.
Oercarien 518.
Cervus euryceros 101. y
Cetonia aurata, Verhalten zum Wasser
341, 342.
Cetonia floricola 162.
Chantransia efflorescens 510.
Characeen 507.
Chermiden 518.
Chinin 144.
Chirocephalus 258.
COhlorohydra 484.
Chlorohydra viridissima. 496.
Chlorophyll! 287. ‘
Chlorophylibildung 224.
Chondrogenese 358.
Chromatophoren 389.
Chromosomen 510. 520.
Chrysomela, Verhalten im Wasser 343.
Cirripedien 508.
Cleome 472.
Clupea harengus, Nahrung 204.
Coceidien 517. 522.
Cölenteraten, Generationswechsel 517.
Colehieum autumnale 5. 507.
Comarum 12.
Gompositen 10.
Copepoden, pelagische, als Nahrung 203.
Correlationen der Blütenvariationen 21.
Cottus scorpius, Nahrung 203.
Crabronidenlarven, Gänge 347.
Crassulaceen 10, 27.
Crataegus 11.
Oribrilina labiata Lev. 459.
Crossopterygier 446.
Cruciferen 10. 26.
Oulex pipiens 532.
Culex territans 530. 539.
Oulicella morsitans 539.
Culicella Theobalai 534.
Calicella vexans 530.
(uliseta annulata 532.
Culiseta glaphyroptera 533.
Cumaceen 395.
Curare 99.
Cutleriaceen 509.
Oyclops strenuus Fischer 257.
Cyperaceen 10.
Üypris virens Jurine 257.
Damhirsch 103.
Daphniden 519.
Darmsaft, periodische Sekretion 82.
Dasya elegans 510.
Dauereier 258.
Debaisieux 528.
Deckglasdicke 269.
Delesseria sanguwinea 510.
Descendenztheorie 442.
Detritusfresser 201.
Detritus als Nahrung 201.
Dictyotaceen 507. 509.
Digitalis purpurea peloria 20.
Diöcie 506.
Dionaea 9%.
Distoma 518.
Dodo 416.
Dolichoderus quadripunctatus 346.
Dominanten (Reinke) 316.
Drosera 96.
Drummond’sches Licht 236.
Drüsensekretion, hemmende Reize 99.
Dryas octopetala 507.
Dysdera, Verhalten zum Wasser 342.
Dysteleologische Einrichtungen 316.
Edelhirsch 101.
Eimeria lacazei 524.
Eimeria Schubergi 524.
Eiweißkörper, Lichtreaktion der 284.
Ekkrine Drüsen 282.
elan vital 316.
Elasmosoma luxemburgense 319.
Elch 103.
Eleatismus 364.
Elektrische Lampen, Altern 246. 250.
Elektrisches Licht 236.
Elektrische Ophthalmie 284. 2
Endonome Rhythmen 90.
Engramm 217.
Entelechie 316.
Entfernungsschätzung 390.
Entwicklung 364.
Eosin 284.
Epistasie 339.
Equisetaceen 507.
Erbfaktoren 329.
Erdbeere, einblättrig 5.
Erfahrungsfaktoren, zentrale,
209.
Ericaceen 10.
Ernährung und Blütenvarianten 17.
Ernährungseinflüsse bei Pflanzen 13.
Ernährungsmodifikationswechsel 519.
Erythrosin 284.
Euphrasia 507.
Evonymus 9.
Exonome Rhythmen 89.
Waktor, zentraler 213.
Faktorenkoppelung 339.
periphere
Alphabetisches Sachregister. 543
Faktor, peripherer 213.
Fagopyrum 470. 473.
Farb»toffeiweiße 287.
Farne 506.
Feldlerche, Zugzeit 298, 309.
Ferngeruch 214. “
Fermentkraft im Magensaft, Anderung 60.
Fermentsekretion 44.
Ficaria ranuneoloides 12. 31.
Ficaria verna 19.
Fische, Mageninhalt 207.
Fische, Nahrung 203.
Fische, pelagische, Nahrung 204.
Fitislaubsänger, Zugzeit 300.
Fleischfresser 201.
Fliegen, Geruchssinn 320.
Fliegen, Gesichtssinn 320.
Fliege (Verhalten am Wasser) 341,
Flimmerphotometer 252.
Flohtheater 217.
Florideen 506, 510.
Fluoresein 286.
Fluoreszierende Stoffe 284.
Flußaal, Larve 392. S
Flüsse, Selbstreinigung 396.
Flustra 458.
Formica fusca 113. N
Formica fusca, Schwimmen 344.
Formica glebaria 168.
Formica pratensis de Geer 161. 354.
Formica rufa 111. i
Formica rufa-fusca, Mischkolonien 114.
Formica rufa L. 161. 213. 324. 353.
Formica rufibarbis 171. 319.
Formica sanguinea 119. 318.
Formica truncieola 161.
Formicoxenus 345. 354. L
Formicoxenus, ergatogyne Übergangs-
formen 164.
Formicoxenus, Mikrogynen 164.
Formicoxzenus nitidulus Nyl 160.
Formicoxenus, Stammesentwicklung 174.
Frauenhofer’s Linien 231.
Fraxınus excelsior 507.
Fucaceen 507.
Fuchsia 25.
Funktionswechsel 429.
Fusus, Nahrung 201.
Gadus, Nahrung 203.
Galanthus niwalıs 5.
Galle, periodische Entleerung 82.
Galleruca Tanaceti, Verhalten zum
Wasser 342.
Gallwespen 518.
Gametenbildung 329.
Gametoeyten 153.
Gammariden, Nahrung 201.
Ganglienzelle, Entladungen 84.
Ganglienzelltätigkeit 92.
Gartenrötel, Zugzeit 300, 309.
Gastameisen 161.
Gasterosteus, Nahrung 203.
544
Gastropoden, Mitteldarmdrüse 54.
Gedächtnis 500.
Gehörknöchelchen 448.
Gehörknöchelchen, Entwicklung 397:
Gelegenheitsfresser 198.
Generationswechsel der Pflanzen 505.
Gentiana 507.
Gentiana campestris 15.
Gentiana lutea 26.
Geotropismus 260.
Geotrupes, Verhalten zum Wasser 342.
Geradflügler 180.
Geruchsorientierung 355.
Geruchsprisma 216.
Gesetz der Konnexionen 384.
Geweihbildung 102.
Gletscherbrand 294.
Gobiidae, Nahrung 203.
Gobius paganellus, Nahrungsbedarf 206.
Goldkäfer, Verhalten zum Wasser 342.
Granula in der Fermentzelle 42.
Griffelkanal 188.
Griffithsia Bornetiana 510.
Grünrüßler, Verhalten zum Wasser 342.
Gymnospermen 507. 515.
Gynodiöcie 507.
Haarkleid, Entstehung des 358.
Haarkleid der Säugetiere, Abstammung
447.
Haematoporphyrin 286.
Halianthus peploides 507.
Halietus 183.
Halictus longulus 186.
Halietus quadricinetus 186.
Halterensinne 386.
Haplobiontische Florideen 513.
Harnkanälchen und Sauerstoff 277.
Harpagoxenus 176.
Harpalus (schwimmend) 342.
Harveyella mirabilis 510.
Hausgeruch 349.
Hausrötel 297.
Hausrötel, Zugszeit 298.
Hautdrüsen 280.
Haut, Lichtreaktion 294.
Helligkeitsstrahlung der Sonne 232.
Helligkeitswerte im Hochgebirg 227.
Helligkeitswerte, in verschiedenen Höhen
über dem Meer 227.
Henle’sche Schleife 277.
Herztätigkeitsphasen 83.
Heterogenesis 513.
Heterostylie 461. 506.
Hippolyte 389.
Hippothoa 459.
Histogenese 450.
Hochgebirgsvegetation 294.
Holargidium 21.
Homalomya canicularis L. 130.
Homoeusa 319.
Homoiogenesis 516.
Homologie 360. 366. 381. 440.
Alphabetisches Sachregister.
Homologiebegriff 357.
Homomerie 474.
Houstonia 470.
Hummeln 185.
Hund, Magenhauptzellen 60.
Hungerformen 113.
Hungerzustände 198.
Hydnophytum 476.
Hydra attenuata Pallas 484. 494.
Hydra fusca L. 480. 484. 485.
Hydra, Geschlechtsperioden 481.
Hydra grisea L. 480. 483. 490. 494.
Hydra, Knospenbildung 491.
Hydra monoecia 4%.
Hydra oxyenida P. Sch. 484.
Hydra polypus Brauer 484.
Hydra, Sterilität 492.
Hydra viridis 483.
Hydra vulgaris 2.
Hydra vulgaris P. 483. 484. 494.
Hydra, Zeit der Geschlechtsreife 489. 491.
Hydrangea hortensis 12.
Hydrophilus, periodische Darmepithel-
abstoßung 53.
Hymenopteren,
Kälte 181.
Hyoidbogen 398.
HIyperlasion Wasmanni 325.
Hypostasie 339.
Flügellosigkeit durch
Ichneumoniden, Schwimmen 344.
Ideenlehre 364.
Idothea 389.
Individuum 511.
Insektenblut, Druck 131.
Insekten, Farbensinn 290.
Insekten, Mitteldarmzellen,
rhythmus 51.
Insekten, Schwimmen 343.
Instinkte 126.
Instinkte, soziale 183.
Inzucht 175.
Iris pallida 16. 20.
Iris pseudacorus 5.
Isopoden 395.
Tätigkeits-
Jahreszeiten und Blütenvariation 19.
Jasminaceen 10.
Jasminum offieinale 25.
Johnston’sche Organe 388.
Juneus 14.
Ekalkalgen 395.
Karyokinese, Phasen 83.
Keimschicht der Epidermis 276.
Kern und Sauerstoff 276.
Kerzenlicht 234.
Kleinzirpe (Verhalten am Wasser) 341.
Knorpelgewebe 450.
Kohlenfadenlampe 243.
Kohlensäureassimilation 224.
Königininstinkt 219.
Kontraktmimikry 181.
Krokodile, Schädel 417.
Ktenostomen 457.
Kuckuck, Zugszeit 300. .303. 305. 306.
308.
Künstliche Lichtquellen 233.
Küstenfische (Mittelmeer) 393.
Labiaten 26.
Labridae, Nahrung 203. /
Lagerstroemia 472.
Lamarckismus 315.
Laminaria 509.
Landinsekten im Wasser 340.
Lasius 350.
Lasius flavus 318. 322,
Lasius fuliginosus 318.
Lasius n’ger 317.
Labius umbratus 318.
Laufkäfer (schwimmend) 342.
Leonurus Cardiaca 16.
Lepidium ruderale 26.
Leptacinus 168.
Leptothorax 345.
Leptothorax Emersoni Wheel.
Leptothora@ Nylanderi 346.
Leptothorax tuberum 346.
Leptothorax acervorum 170.
Leuchtgas 236.
Levkoyenrassen 332.
Licht und Blütenvariation 14.
Licht, Heilwirkungen 283.
Lichtintensitäten 222.
Lichtorientierung 215.
Licht und Pflanzen 221.
Lichtquellen 221.
a spektrale Zusammensetzung
47.
Lichtwirkungen auf die Pflanze 283. 289.
Lilium eandidum 192.
Lilium Martagon, Griffelkanal 188.
162. 173.
Lina populi (Verhalten. zum Wasser)
342.
Linaria spuria 5.
Linaria vulgaris 2. 11.
Linse (Verhalten gegen ultraviolettes
Licht) 284.
Linum grandiflorum 473.
Linum perenne 473.
Lithobius forficatus 523.
Littorina littorea, Nahrung 201. 203.
Lomechusa 111. 120. 123. 166. 171.
Lucaniden 110. |
Lufttemperatur u. Vogelzug 296.
Lycopodium 23.
Lycosa chelata (Verhalten zum Wasser)
342.
Lythrum 9.
Lythrum, Blütentrimorphismus 462.
Lythrum salicaria 507.
Macoma calcarea, Nahrung 202.
Mactra 60.
Magen, Hauptzellen 60.
a BE eb Seen Eon a 0 a
\ ya, NIE pi " Pan be See 2 SE LEE Di
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'
Alphabetisches Sachregister.
Magensaftsekretion 97.
Maikäferfühler 130.
Malachius (Verhalten zum Wasser) 341.
Malariaparasiten, agamer Vermehrungs-
prozeß 154.
Malariaplasmodien 153.
Malariarezidive 143.
Malaria, Temperatureinflüsse 147.
Malaria tertiana 145.
Malaria tropica 145.
Malariaverbreitung 143.
Malwa erispa 15.
Malva vulgaris 12.
Männchen, ergatoide, bei Formicowenus
161. 164.
Mansonia Richiardii 555.
Marienkäfer, Verhalten zum Wasser 342.
Mastzellen 276.
Mauersegler, Zugszeit 299.
Megaceros hibernieus Ow. 101.
Mehlschwalbe, Zugzeit 300. 303.
Melolontha vulgaris 130.
Membranipora 458.
Mendel’sche Regeln 329.
Menyanthes trifoliata 16.
Mercurialis 11.
Metagenesis 515.
Metamorphose der Pflanzen 1.
Metamorphosenlehre 374.
Meternormalkerze 226.
Mißbildung 3. 4.
Miracidium-Larven 518.
Mittlerer Fehler 330.
Mneme 216. 500.
Mnemetheorie 127.
Monomorium 169.
Monophyletische Entwicklung 124.
Monstrositäten 2.
Monstrum 1.
Moorkarpfen, O,-bedarf 206.
Monadenlehre 364.
Morphoden 506.
Morus indica 191.
Moschustier 102.
Muntjak 102.
Muraeniden-Larven 392.
Murex 96.
Musa 470.
Mya 203.
Mykorrhiza 191.
Myrmeeodia 126.
Myrmecophilie 119. 165.
Myrmecophilen 317.
Mwyrmecophila, Darmepithel 52.
Myrmica 163.
Myrmica brevinodis 162. 175.
Myrmica lobicornis 318.
Myrmica, Schwimmen 344.
Myosotis 507.
Mytilus edulis, Nahrung 201. 203.
Nachtigal, Zugzeit 303.
Nahgeruch 214,
Nahrungsreiz 96.
Nannoplankton 198.
Natica 96.
Naturphilosophie 361.
Nauphrla 258.
Nemertinen, Nahrung 202.
Nernstlampe 243.
Nestgeruch (der Ameisen) 349.
Neuroterus lenticularts 518.
Nigella damascena 18.
Nitophyllum punctatum 514.
Notothecta 168.
Nußbaum, Ameisenfauna 346.
®berhaut 280.
Objektive mit Korrektionsfassung 269.
Oceanographische Expeditionen, Dänische
301:
Ocellen (bei Insektenimago) 389.
Oenothera 520.
Oenothera Lamarckiana 11.
Ookineten 328.
Ophioglypha albida 201.
Orina, Verhalten zum Wasser 342.
Orthopteren 180.
Os intermaxillare 361,
Oxalis floris bunda 474.
%
872.
Pankreasdes Hundes, Ferinentbildung
Pankreassaftsekretion 97.
Pankreassekretion u. Nerven 74.
Pankreassekretion, Perioden 81.
Pantopoden, Nahrung 202.
Papaver Rhoeas 13.
Papaver somniferum 12.
Paris quadrifolia 5. 32.
Parnassia palustris 16. 32.
Paussidae 121.
Pelmatohydra oligactis Pallas 484. 485.
487. 489. 492.
Pelorie 2.
Pentatoma, Schwimmen 344.
Pentosan 200.
Perioden über Zelltätigkeit 86.
Periodische Blütenvariationen 16.
Petalenzahl 10.
Petroleumlampe 235.
Pfahlbauzeit 106.
Pferdeserum 144.
Pflanzen unter Euphosglas 291.
Pflanzenfresser 201.
Pflanzengallen 315.
Phaeota 163.
Phaeophyceen 509.
Philodromus aureolos,
Wasser 342.
Philosophie anatomique 383.
Philosophia botanica 1.
Philosophie zoologique 363.
Phlox ovata 18.
Phlox subulata 17.
Phoridae 317.
Photodynamische Stoffe 284.
Verhalten zum
Alphabetisches Sachregister.
ra sh Ir RER 5 < : KT
Photokatalysatoren 288.
Photometer 223. 247.
Photometer nach Weber 224.
Photometer nach Wynnes 247.
Photometrischer Körper 240.
Photometrische Kurve 240.
Phototaxis 258. |
Phototropismus 261. 388.
Phyllobius, Verhalten zum Wasser 342. |
Phyllopoden 257.
Phyllopoden, spec. Gew. 259.
Phytoplankton 207.
Pilze 507.
Pirol, Zugszeit 306.
Pirus 11.
Planarien, Nahrung 202.
Plankton 196.
Plasmahaut, Permeabilität 241.
Plasmodium 327.
Plasmodium immaculatum 157.
Plasmodium Kochii 158.
Plasmodium vivax 157.
Piastophora 319.
Plastophora solenopsidis 324.
Plastophora Wasmanni 324.
Platanthera bifolia 191.
Plattfische 393.
Pleurobranchaea 61.
Pleurobranchaea, Mitteldarmdrüse 43 54.
Pockenlymphe 144.
Polyergus 168.
Polyphyletische Descendenz 358.
Polyphyletische Entwicklung 124.
Polysiphonia violacea 510.
Polystomella 517.
Ponera 175.
Potonie 520.
Potentilla 11.
Potentilla anserina 1.
Primula 507.
Primula, Blütendimorphismus 462,
Primulaceen 10.
Prionus, Verhalten zum Wasser 342.
Proboscidier 110.
Proteasebildung 61.
Protease bei Gastropoden 56.
Prothallium 507.
Protoplasma und Sauerstoff 276.
Protozoen, Generationswechsel 516.
Pseudacteon, Eier 327.
Pseudacteon formicarum 317. 456.
Pseudogynen 111.
Pteridophyten 507.
Pterostychus (schwimmend) 342,
Pterotrachea, Sekretion des Verdauungs-
saftes 96.
Pulmonaria offieinalis 473.
Punktaugen der Insekten 389.
Quecksilberdampflampe 249.
Ranunculus arvensis 11. 12. 31.
Ranunculus bulbosus 13.
7 Ve Pe
ER
ir
Y
Raphanus raphanistrum 12.
Rauchschwalbe, Zugzeit 299. 303. 305.
306. 308.
Raumwahrnehmung 214.
Raupenfliegen 322.
Redie 518.
Reduktionsorte in verschiedenen Organen
276.
Refraktärstadium 93.
Regeneration bei Bryozoen 479.
Reichert’s Theorie 358. 448.
Reize für die Drüsenzellen 95.
Relative Feuchtigkeit, Kurven 152.
Renntier 102.
Residuen 217.
Rheinlachs 198.
Riesenhirsch 101.
Rosaceen 10.
Roßameise. Verhalten am Wasser 342.
Rotblindheit (bei Fliegen) 130.
Rotkehlchen, Zugzeit 299.
Rubiaceen 10. 26.
Rubus 9.
Rubus caesius 11.
Ruderbewegungen bei Phyllopoden 263.
Ruta graveolens 16.
Saftspalten 277.
Saisondimorphismus 507.
Saisontrimorphismus 507.
Salmoniden 394.
Salpen, Generationswechsel 517.
Salvarsan 144.
Salvia pratensis 507.
Sambucus, Griffelkanal 198.
Sarcophaga (Verhalten zum Wasser) 341.
a in verschiedenen Organen
276.
Sauerstoff im Epithel 276.
Saugmaul der Insekten 415.
Schädelentwicklung 407.
Schädelproblem 445. #
Schmetterlinge, Saisondimorphismus 508.
Schimpanse 158.
Schizoporella ceeilii Aud. 459.
Schneeblindheit 284. 294.
Scholle 198.
Schwarzkopfgrasmücke, Zugzeit 299.
Schwein, Magenhauptzellen 60.
Schweiß 28. .
Schweißdrüsen 277.
= 2 nunkibesem mung bei Phyllopoden
259.
Schwimmreflexe der Insekten 343.
Schwinger 386.
Sciariden 325.
Seinaia 513.
Scomber scomber, Nahrung 204,
Sceopeliden 394.
Sekretion 45.
Sekretionsphasen in den Magendrüsen 61.
Sedum spectabile 14. 27.
Seegräser 395.
Alphabetisches Sachregister.
947
Seewasser, Gehalt an gelösten organischen
Verbindungen 197,
Selbling 511.
Selbstbefruchtung 462.
Selbststeuerung des Stoffwechsels 9.
Selektionstheorie 121. 315.
Seleranthus annuus 26.
Sempervivum Funkii 14. 27.
Sensibilisatoren 287.
Sifolina 163.
Singdrossel, Zugzeit 298. 303.
Sinneserlebnis 209.
Siphoneen 508.
Sklaverei (bei Ameisen) 351.
Skleroblasten, Herkunft der 451.
Smilaceen 10.
Solanaceen 26.
Solarkonstante 231.
Solenopsis fugax 170.
Solenopsis geminuta 324.
Sonnenlichtspektrum 293.
Species 4.
Speicheldrüsensekretion 97.
Spektrum 230.
Spezifische Energie 85.
Spinachia, Nahrung 203.
Spur, gleichförmige 215.
Star, Zugzeit 303. 3
Statische Reflexe (Krebse) 337.
Statistik (der Blütenvariationen) 10.
Statoeysten (der Krebse) 386.
Stechmücken, Überwinterung 530.
Stellaria 12.
Stenamma Westwoodi Westw. 161.
Atenus 162.
Sternum 414. 432.
Stirling’sche Formel 334.
Stoffwechselprodukte im Sommer 148.
Stomiatiden 394.
Storch, Zugszeit 306. 308.
Strahlung einer Lichtquelle 240.
Süßwasserpolypen, deutsche, geschlecht-
liche Fortpflanzung 479,
Sylliden 517.
Symmyrmica 163. 175.
Symphilie (bei Ameisen) 120.
Syngnathidae, Nahrung 203.
Synoeken 164.
Syromastes, Schwimmen 374.
Tachina 322.
Tageslicht 222.
Tanymastix lacunae Guer. 257.
Tantallampe 243.
Tapetenzellen des Griffelkanals 189.
Tapinoma erraticum 318.
Tastsinn 386.
Temperaturkoöffizient bei
264.
Temperaturkurven 149.
Temperatur u. Lebenserscheinungen 258.
Tenebrio molitor- Larven, Darmzellen-
sekretion 51.
Phyllopoden
548
Termiten 508.
Testplatte von Abbe 272.
Tetrapedia 187.
Tetrapoma 21.
Thermotropismus 261.
Thiasophila 162. 168.
Thigmotropismus 386.
Thymus 507.
Tierpsychologie 208.
Tintenfische und Wirbeltiere 401.
Torenia Fournieri 472.
Transformismus 444.
Trichiuriden 394.
Trichosphaerien 517.
Iriecphora, Verhalten am Wasser 341.
Trientalis 9.
Trioecie 507.
Tristylie 507.
Trollius europaeus 11.
Tropismen bei Phyllopoden
Tuberkulin 144.
Tubuslänge des Mikroskops :
Tulpe 25.
Typuslehre 357.
6)
en
=
DD
[er
oo
Uberentwicklung 177.
UÜberindividuelles Seelisches 316.
Ultraviolettes Licht u. Pflanzen 291.
Ultraviolette Strahlen 284. 291.
Ultraviolette Strahlung des Sonnenlichts
232.
Umbelliferen 10.
Unbewußte, das 316.
Ursprung 295.
Urwille 316.
Vanessa 519.
Vanessa levana-prorsa 178.
Van t’Hoff’sche Regel 266.
Variabilität 1 181.
Varietäten 4.
Variationsrechnung 7.
Verdauungsdrüsen 41.
Alphabetisches Sachregister.
Vererbungslehre 330.
Vergessen 218.
Vergleichende Anatomie 357. 380. 383,
Verkettung von Phasen 84.
Viscaria vulgaris 18.
Viskosität des Wassers 264.
Vogelfrühjahrszug 298.
Vogelherbstzug 309.
Vogeltypus 406.
Vogelzug u. Depressionen 310.
Vogelzug u. Witterung 296.
Vogelzug u. Zeit 302.
Woachtel, Zugszeit 306.
Wahrscheinlichkeitslehre 329.
Wahrscheinlichkeitsformel 8.
Waldschnepfe, Zugszeit 306.
Wärmestrahlung der Sonne 232.
Wassertiere, Ernährung 196.
Weidenlaubsänger, Zugszeit 298.
Wergelia amabihs 11.
Weltseele 364.
Wendehals, Zugszeit 299.
Wiesenschmätzer, Zugszeit 300.
Wikstroemia indica 190.
Wolframlampe 243.
Z,ähigkeitsfaktor 264.
Zanardinia 509.
Zellregeneration im Mehlwurmdarm 51.
Zelltätigkeit, Rhythmus 42,
Zellteilung 44.
Ziege, Magenhauptzelle 60.
Zoarces, Nahrung 203.
Zoophysiologie 133.
Zoözien 458.
Zostera 200.
Zungenbein 407. 425.
Zweckmäßigkeit, artdien\iche 315.
Zweckmäßigkeit, fremddienliche 315.
Zwergmännchen 507. 508.
Zygoten 329.
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