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Bismards Erbe
bon
Hans Delbrüd
Verlag Ullſtein & Co, Berlin / Wien
as Erbe Bismarcks das iſt das Werk Bismarcks
unter dem Geſichtspunkt ſeiner Fortführung.
Man kann ein Werk nicht fortführen, ohne es zu
kennen. Ich will Bismarcks Werk alſo unterſuchen,
beſchreiben und darſtellen, aber nicht wie es etwa die
Aufgabe eines Biographen iſt, oder die eines Hiſto⸗
rikers der unter Bismarcks Führung ſtehenden Ge⸗
ſchichtsperiode, ſondern unter dem Geſichtspunkt,
inwiefern dieſe Periode die Vorſtufe bildet für die
nächſtfolgende, die unſerige. Denn die Weltge⸗
ſchichte ſteht nicht ſtill; jedes Ereignis hat ſeine
Folgen, die bald früher, bald ſpäter hervortreten,
und nur mit einer gewiſſen Willkür ſetzen wir an
dem Ufer des ununterbrochen dahinrauſchenden
Stromes Merkzeichen, mehr um uns an ihnen zu
orientieren, als daß die Abſchnitte wirklich ſcharf
doneinander geſchieden wären. Damit eine hiſto⸗
riſche Darſtellung befriedige, wird fie den Ab⸗
ſchnitt, den ſie behandelt, möglichſt als etwas in
ſich Abgeſchloſſenes betrachten und nur mit mehr
oder weniger angedeuteten Ausblicken über die
ſelbſtgewählten Grenzen hinausführen. Was ich
mir hier vorgenommen habe, ſoll gerade die Be⸗
ſchäftigung mit dieſen Ausblicken ſein, für die uns
das Werk Bismarcks das Piedeſtal gibt, man kann
auch ſagen, die Anlage, die durch ihre eigenen inneren
Konſequenzen über ſich ſelbſt hinausgetrieben wird.
Wir gehen zu dieſem Zweck auf die Kämpfe zurück,
die Bismarck durchzufechten gehabt hat, um an den
Widerſtänden, die ihm geleiſtet wurden, nicht nur
die Größe ſeiner Taten zu ermeſſen, ſondern auch
erkennen zu laſſen, wie dieſe Zeit mit ihren Gegen⸗
ſätzen erſt überwunden ſein mußte, ehe die neue
Zeit, die unſere, das Erbe im wahren Sinne, das
heißt durch Aufpfropfung neuer ſchöpferiſcher Ge⸗
danken antreten konnte.
Bismarcks Werk iſt die Erfüllung der deutſchen
Sehnſucht, die Herſtellung des deutſchen National-
ſtaats vermöge der militäriſch⸗politiſchen Kraft
des Preußiſchen Staats, die Verſchmelzung des
preußiſchen Gedankens mit dem deutſchen.
10
Preußen ſelber aber ebenſo wie Deutſchland war
nichts Einheitliches.
Preußen war ein aus ſehr verſchiedenen, ja ent⸗
gegengeſetzten Elementen zuſammengeſchweißtes
Gebilde, während der deutſche Nationalgedanke
trotz derſelben Sehnſucht doch für ſeine Verwirk⸗
lichung nach den allerverſchiedenſten Richtungen
auseinanderſtrebte. Der Grundſtock des Preußi⸗
ſchen Staates iſt der Staat Friedrich Wilhelms J.
und der Ruhm Friedrichs des Großen, abſolutiſtiſch
mit feudalem Einſchlag, dem durch den Aufruf
„An mein Volk“, die allgemeine Wehrpflicht und
die Freiheitskriege Gedanken zugeführt waren, die
zur Demokratie und zum freien Volksſtaat hin⸗
leiteten. Die innere Geſchichte Preußens ſeit 1807
iſt durch den Kampf zwiſchen dieſen entgegen⸗
geſetzten Elementen in mannigfachen Abſchattie⸗
rungen ausgefüllt. Der deutſche Gedanke wiederum
ſuchte ſich zu geſtalten bald in republikaniſchen Idea⸗
len, bald in romantiſchen, die den Anſchluß an
Oſterreich ſuchten, bald ſuchte er Zuflucht eben
bei Preußen, und begegnete ſich da mit Ten⸗
denzen, die in Preußen ſelber bereits lebendig
waren.
11
Seit 1848 war der Gedanke, den deutſchen Na⸗
tionalſtaat unter der Führung Preußens Fleiſch
werden zu laſſen, lebendig und weit verbreitet.
Die Aufgabe lag in der Durchführung, dieſe aber
erforderte einen Heros, nicht nur, weil die wider⸗
ſtrebenden Kräfte außerordentlich ſtark waren,
ſondern auch namentlich, weil die Elemente ſelber,
die berufen waren, ſich zu dem neuen Organismus
zuſammenzufinden, untereinander widerſtrebten
und ſich nicht zuſammenfügen laſſen wollten.
Der Verſuch, den das Frankfurter Parlament
im Jahre 1849 machte, ein Deutſches Reich mit
preußiſcher Spitze zu ſchaffen, mißglückte. Man
hat dieſem Parlament vorgeworfen, daß es ſich
von Doktrinen habe leiten laſſen und nicht realpoli⸗
tiſch gedacht habe. Soweit dieſer Vorwurf berech⸗
tigt iſt, wird er jedenfalls ſehr gemildert durch die
Erſcheinung, daß auf dem entgegengeſetzten Ende,
da, wo man am allermeiſten verpflichtet geweſen
wäre, Realpolitik zu treiben, nämlich in Preußen,
noch viel weniger davon zu finden war. Ver⸗
gleicht man, ſo iſt das Profeſſorenparlament in
Frankfurt ohne Zweifel ſehr viel klarer, zielſtre⸗
biger und ſtaatsmänniſcher geweſen als König
12
Friedrich Wilhelm IV. Jenes Parlament verkannte
in ſeiner Majorität durchaus nicht ganz die Be⸗
deutung des Preußiſchen Staates und der Preußi⸗
ſchen Krone und ſuchte unter möglichſter Aus⸗
ſchaltung der abſtrakten Theorien über Volksſouve⸗
ränität und Legitimität den König von Preußen
für die deutſche Kaiſerkrone zu gewinnen. Dieſer
ſelbſt hatte zwar, was ihm niemand ſtreitig machen
kann, ein deutſches oder, wie er es ſelbſt ſchrieb, ein
teutſches Herz, gelangte aber nie zu einer klaren
Vorſtellung von der Miſſion ſeines Königtums für
Deutſchland. Kein Wunder daher, daß das Frank⸗
furter Parlament die Bedeutung des preußiſchen
Königtums wohl erkannte, aber doch, wie die Folge
gezeigt hat, nicht hoch genug einſchätzte. Liegt hier
der eine Fehler, den man der ehrenwerten Ver⸗
ſammlung machen darf, ſo liegt der andere auf
der entgegengeſetzten Seite, daß man die Macht
und Berechtigung der demokratiſchen Tendenz in
unſerer Zeit nur unwillig und ungenügend aner⸗
kannte. Am liebſten hätte man ein Staatsweſen
geſchaffen, in dem der Mittelſtand ein parlamenta⸗
riſches Regiment führte, auf der einen Seite dem
preußiſchen König zwar als Kaiſer eine gewiſſe
13
Stellung gab, den Preußiſchen Staat als ſolchen
aber möglichſt unterdrückte, auf der anderen die
breiten Volksmaſſen möglichſt von der Teilnahme
an der Regierung fernhielt. Unter dem Geſichts⸗
punkt des ſpäter Gewordenen ſcheinen dieſe beiden
Fehler allerdings fundamental; trotzdem reichen ſie
nicht aus, die Arbeit dieſes Parlaments im ganzen
zu verdammen: die Hauptſachen, die preußiſche
Spitze, das Erbkaiſertum, die Erhaltung der Einzel⸗
ſtaaten, der Ausſchluß Oſterreichs aus dem Reich,
aber ein dauerndes deutſch⸗öſterreichiſches Bünd⸗
nis ſind doch ſchon damals richtig erkannt und er⸗
ſtrebt worden. Daß ſchließlich nichts erreicht wurde,
daß man zu dem elenden alten Bundestag noch
auf ein halbes Menſchenalter zurückkehren mußte,
lag nicht an den Fehlern jener Verfaſſung, ſondern
an dem Mangel eines wirklichen Staatsmannes
in Berlin und noch mehr an der internationalen
europäiſchen Konſtellation, der Feindſeligkeit,
mit der neben Oſterreich auch Rußland, England
und Frankreich die deutſchen Beſtrebungen be⸗
trachteten und einen Widerſpruch ankündigten,
den zu beſtehen man vielleicht nicht ſtark genug
geweſen wäre.
14
Als Mann zwiſchen dreißig und vierzig hat Bis⸗
marck an dieſen Kämpfen teilgenommen und die
verſchiedenen Kräfte und Beſtrebungen, mit denen
er ſich auseinanderzuſetzen, mit denen er zu ar⸗
beiten hatte, kennen gelernt.
Als den feſten Punkt, an dem die Revolution
von 1848 geſcheitert war, wenn es auch ſelber noch
keine bewußte Politik zu machen verſtand, hat er
das preußiſche Königtum erkannt. Den König,
den Kriegsherrn der Armee für ſeine Ideen zu ge⸗
winnen, darauf kam es an. Nie wird man Bis⸗
marcks Politik richtig verſtehen, wenn man nicht
die Orientierung nach der Perſönlichkeit und dem
Charakter König Wilhelms in allererſter Linie ins
Auge faßt.
Man hat mir viele gute Eigenſchaften nachge⸗
rühmt, hat Bismarck einmal mit feiner Selbſtironie
von ſich geſagt, aber eine hat man ſtets vergeſſen:
daß ich ein Hofmann bin.
Der König war gleich im Beginn ſeiner Regierung
in einen Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus wegen
der Reorganiſation der Armee mit der dreijährigen
Dienſtzeit geraten. Nachdem nunmehr der Reichs⸗
kanzler Caprivi die zweijährige Dienſtzeit zuge⸗
15
ſtanden und dieſe ſich in dem jetzigen Kriege ſo glän-
zend bewährt hat, könnte man meinen, daß es nichts
als das Vorurteil des ganz im Soldatiſchen aufge⸗
henden Königs geweſen ſei, das den Konflikt ver⸗
ſchuldete, und daß man ſchon damals ebenſogut zu
einem friedlichen Ausgleich hätte kommen können,
wie dreißig Jahre ſpäter. Aber das wäre eine
unrichtige Auffaſſung, wie ſchon die einfache Er⸗
innerung zeigt, daß es auch dem Reichskanzler
Caprivi keineswegs leicht geworden iſt, dieſe
Reform durchzuſetzen, und daß es im weſentlichen
dieſelben Elemente waren, die ihm im Reichs⸗
tag dabei Oppoſition machten wie diejenigen, die
ſich der Reorganiſation von 1860 widerſetzten.
Caprivi mußte den Reichstag erſt auflöſen und ver⸗
mochte auch dann ſeine Vorlage nur mit ganz ge⸗
ringer Majorität mit Hilfe der polniſchen Stimmen
durchzuſetzen, die er durch ſeine geſchickte Taktik zu
gewinnen wußte. Die deutſch⸗freiſinnige Partei
aber unter Führung Eugen Richters widerſprach,
weil die zweijährige Dienſtzeit nicht, wie man ge⸗
hofft hatte, eine Erſparung, ſondern ſogar wegen
der damit verbundenen verſtärkten Aushebung und
des intenſiveren Dienſtbetriebes eine Erhöhung
16
der Koſten brachte. Es laſſen ſich auch wohl innere
Gründe dafür anführen, die es 1860 ratſam er⸗
ſcheinen ließen, daß Preußen die dreijährige Dienſt⸗
zeit beibehielt, während das Deutſche Reich ſie
nach ſeiner vollſtändigen Konſolidierung fallen
laſſen konnte. Aber wie dem auch ſei, ſelbſt wenn
man annehmen will, daß König Wilhelm auf dieſem
Punkt ſehr wohl hätte nachgeben können, um den
Verfaſſungskonflikt wäre man doch nicht herum⸗
gekommen, da in dem damaligen Liberalismus
noch durchaus die Vorſtellungen des engliſchen Par⸗
lamentarismus lebten, dem König Wilhelm und
das ganze Altpreußentum unter keinen Umſtänden
ſich zu unterwerfen entſchloſſen waren. Daß der
Kampf ſich gerade um die dreijährige Dienſtzeit
entzündete, war ein mehr zufälliges Moment;
dem Miniſterpräſidenten von Bismarck ſelbſt lag
daran wenig; er hätte ſich auch mit zwei Jahren,
verſtärkt durch eine Anzahl Kapitulanten, begnügt,
aber auch für eine zehnjährige Dienſtzeit, ſchrieb er
ſpäter, wäre er eingetreten, wenn der König ſie
gewollt hätte, denn dies war ihm das entſcheidende
Mittel für die Durchſetzung ſeiner Politik. Indem
er den Kampf an dieſer Stelle aufnahm, verband
17
er ſich nicht nur aufs allerengſte den König ſelbſt,
ſondern hatte auch die ſtärkſte Potenz in Preußen,
den Geiſt der Armee, das Offizierkorps hinter ſich.
Welche Wege er auch in der Politik einſchlug, auf
dieſem Boden ſtand er ſo feſt, daß er nicht ſo leicht
zu verdrängen oder zu ſtürzen war, ſelbſt wenn
er noch ſo viel Unzufriedenheit erregte und der
König ſelbſt in Zweifel und Bedenken geriet.
Daß das aber geſchehen würde, darüber kann
ſich Bismarck von Anfang an keiner Täuſchung hin⸗
gegeben haben. Nur ſehr ungern hatte der König
ihn überhaupt berufen; die Bismarckſchen Ideen
erſchienen ihm zu extravagant und gefährlich. Er
berief ihn endlich auf den Rat des Kriegsminiſters
von Roon, als der Verfaſſungskonflikt auf einen
Punkt gediehen war, der nur noch Abdankung oder
Unterwerfung übrigzulaſſen ſchien, und Roon
erklärte, daß Bismarck der Mann und der einzige
Mann ſei, der die Fähigkeit habe, den Kampf fort⸗
zuführen. Roon ſelber war eine ſtarke und be⸗
deutende Perſönlichkeit und hat um die preußiſche
Armee und um den Preußiſchen Staat unvergeß⸗
liche Verdienſte, aber ein weitblickender Staats⸗
mann war er keineswegs. Ihm gebührt der Ruhm,
18
Bismarck an die entſcheidende welthiſtoriſche Stelle
gebracht zu haben, aber auch er ſah in ihm nur den
Mann, der die Reorganiſation der Armee politiſch
durchzukämpfen hatte. Die weiteren politiſchen
Ideen des neuen Miniſters waren ihm fremd und
unſympathiſch. Als Bismarck in der erſten Sitzung
der Budgetkommiſſion des Abgeordnetenhauſes
einige Andeutungen über ſeine politiſchen Ziele
und Hoffnungen machte, da brummte auch Roon
beim Nachhauſegehen ſchon etwas von „geiſtreichen
Exkurſen“, „die der konſervativen Sache nur
Schaden brächten“, und nun gar die Abgeordneten
wußten ſchlechterdings nicht, was ſie von dem
neuen Miniſterpräſidenten und ſeinen wunder⸗
ſamen Redewendungen halten ſollten. Was half
es Bismarck da, daß er ihnen ſymboliſch andeutete,
daß er den Frieden mit ihnen wolle, indem er
ihnen einen Olzweig, den er aus Frankreich mitge⸗
bracht habe, hinlegte, und ſie mit der äußerſten Höf⸗
lichkeit behandelte — ſie verſtanden ihn eben nicht,
oder aber, wie der treffliche ſpätere Reichstagspräſi⸗
dent Simſon ſagte, wenn ſie ſich ſeiner Führung an⸗
vertrauen wollten, ſo würden ſie Offiziere ohne Sol⸗
daten ſein, denn das Volk würde ihnen nicht folgen.
19
Nur auf den König geſtützt und mit Hilfe des
Königs konnte der Miniſter ſeine Politik machen.
Wie war das aber wieder möglich, da der König
ſeinerſeits durchaus nicht das wollte, ja es verab⸗
ſcheute, in jeder Beziehung verabſcheute, was der
Miniſter wollte? Jeder gemeine Sterbliche hätte
bei dieſer Sachlage an dem Gelingen verzwei⸗
felt. Bismarck nicht; frohgemut und völlig ſicher
über das Ziel wie über die Methode ging er an die
Arbeit. |
Bei der erſten großen Unterredung auf dem
Spaziergang im Park von Babelsberg am 22. Sep⸗
tember 1862 hatte der König den Minifter feſtlegen
wollen, indem er ihm ein Programm vorlegte, auf
das er ſich verpflichten ſollte. Bismarck wies das
ab als unnötig. Er werde die Regierung führen
nach dem Befehl des Königs; ſollte er anderer
Meinung ſein als ſein Herr, ſo werde er das ſo
pflichtſchuldigſt wie freimütig ausſprechen, ſich
aber, wenn er den König nicht überzeugen könne,
unterwerfen; denn in Preußen regiere der König.
Sich beim König feſtzuſetzen, nahm Bismarck
den Kampf mit dem Abgeordnetenhaus nicht nur
auf, ſondern verſchärfte ihn noch. An die Stelle
20
der urſprünglichen Höflichkeit trat abſichtliche
Brüskierung und Herausforderung, wie z. B.
daß er auf ſeinen Platz am Regierungstiſch trat,
indem er eine große Rauchwolke von der Zigarre,
die er in dem hinterliegenden Miniſterzimmer
geraucht hatte, vor ſich herblies. Wer waren
die Männer, denen er bald in dieſer ſpöttiſchen
Weiſe ſeine Mißachtung kundgab, bald mit den
ſchärfſten, auch perſönlich verletzenden Worten,
feindſelig entgegentrat? Es waren die Tweſten,
Forckenbeck, Gneiſt, Sybel, Unruh, Simſon,
dieſelben, von denen er wußte und erſehnte,
daß ſie einmal ſeine Freunde und Bundesge⸗
noſſen werden ſollten. Er hatte es ihnen ja
ſchon kundgetan — weshalb dieſe Veränderung
des Tons? Weil er wußte, daß er zunächſt mit
ihnen doch noch nichts machen könnte, ſich aber
auf der anderen Seite um ſo mehr ſicherte. Welche
innere Sicherheit, welch ein Glaube an ſeinen
Erfolg gehörte dazu, in dieſer Art ſozuſagen mit
den Menſchen zu ſpielen und darauf zu vertrauen,
daß ſie ſich unter den Ereigniſſen, wie er ſie herbei⸗
zuführen dachte, wandeln würden!
Nicht bloß in Preußen, auch im übrigen Deutſch⸗
21
land ſchien Bismarck durch den Kampf mit dem
Abgeordnetenhaus, der ſich bis zum Verfaſſungs⸗
konflikt und dem Vorwurf des Verfaſſungsbruchs
ſteigerte, ſeinem Ziel direkt entgegenzuarbeiten,
die Erlangung unmöglich zu machen. Was er
wollte, war die Überführung der preußiſchen Poli⸗
tik in die deutſche, die Einigung Deutſchlands unter
der Führung Preußens. Für dieſes Ziel gab es
auch außer Preußen eine erhebliche Partei, die⸗
ſelbe, die im Frankfurter Parlament ſchließlich
ſogar die Majorität erlangt und Friedrich Wil⸗
helm IV. die Kaiſerkrone angeboten hatte. Auch
nach Zuſammenbruch ihrer Hoffnungen, auch in der
ſchrecklichen Reaktionsperiode bis 1858 war ſie
nicht erſtorben, ſondern hatte ſich 1859 im National⸗
verein unter dem Hannoveraner Rudolf v. Ben⸗
nigſen eine kräftige Organiſation gegeben und
wollte nun faſt verzweifeln, daß Preußen durch
ſeine innere Politik das moraliſche Anſehen, das es
im übrigen Deutſchland beſaß, mutwillig zerſtörte
und das Arbeiten zu ſeinen Gunſten ſelber ver⸗
hinderte und unmöglich machte.
Alles das wurde mit realpolitiſchem Blick ge⸗
opfert, um das eine Unentbehrliche in die Hand zu
22
bekommen, die Gunſt des Königs und die Kraft
der preußiſchen Armee. .
Denn, wie Bismarck auch ſchon in jener denk⸗
würdigen Kommiſſionsſitzung des Abgeordneten⸗
hauſes hatte fallen laſſen, die deutſche Frage war
nur zu löſen durch Blut und Eiſen, durch einen
Krieg. Zwar in der Sehnſucht nach einem Deutſchen
Reich, an Stelle des Deutſchen Bundestages, darin
war ſich das deutſche Volk ſo ziemlich einig, ſoweit
es überhaupt politiſch dachte und ſich ein poli⸗
tiſches Ziel ſetzte, aber in welcher Art und auf
welchem Wege dieſes Ziel zu erreichen ſei, darüber
ſtanden ſich die Auffaſſungen und Wünſche dia⸗
metral gegenüber. Der Brennpunkt aller gegen⸗
einander ſtrebenden Willeleien aber war das Ver⸗
hältnis zu Oſterreich: ſollte dieſer Staat, der mit
ſeiner deutſchſlawiſchen Hälfte dem deutſchen
Bunde angehörte, auch dem zukünftigen deutſchen
Reichsorganismus angehören oder nicht? Schon
das Frankfurter Parlament hatte darauf die
theoretiſch richtige Antwort gegeben, die da hieß:
Ausſcheiden aus dem Reich, aber internationales,
dauerndes Bündnis — aber Oſterreich ſelber wider⸗
ſprach, und zur Löſung konnte man daher nur
23
gelangen, wenn man entſchloſſen war, es auch auf
einen Krieg deshalb ankommen zu laſſen.
Bismarck faßt ihn von Anfang an ins Auge,
nicht gerade als ein unmittelbares Ziel — denn
was mochte an unberechenbaren Zwiſchenfällen
ſich noch dazwiſchen legen? Was konnten ſich noch
für Übergangsſtufen auf dem Wege zeigen, auf
denen ausgeruht werden mußte? Gerade der
praktiſche Staatsmann iſt am wenigſten ein Pro⸗
phet. Aber indem er vorwärts ging, rechnete er
fortwährend mit der Möglichkeit des Krieges und
ſcheute ſie nicht. Nur allmählich, Schritt für Schritt
kam er vorwärts. Der Zufall, daß König Fried⸗
rich VII. von Dänemark ſtarb (15. November 1863)
und damit die Schleswig⸗Holſteinſche Erbfrage auf⸗
ging, hielt ihn auf, ſchaffte ihm aber mittelbar ge⸗
rade das, was er wünſchte, den poſitiven Streit⸗
gegenſtand mit Habsburg. Wie er die Liberalen in
Deutſchland vor den Kopf ſtieß, die er doch als
die zukünftigen Freunde in Ausſicht nahm, ſo
ſchloß er umgekehrt mit Oſterreich das Bündnis
gegen Dänemark, um daraus die Gegnerſchaft zu
entwickeln.
Aber je näher man dem Punkt kam, wo es Biegen
24
oder Brechen galt, deſto ſchwerer bewegte fich der
Wagen, deſto ungeheuerlicher erſchien das Unter⸗
nehmen. |
Preußen mit ſeinen 18 Millionen Einwohnern
ſollte es mit Oſterreich aufnehmen, das allein
doppelt ſoviel Seelen zählte, und dem die ſämt⸗
lichen deutſchen Mittelſtaaten, die ſich nicht unter
die preußiſche Hegemonie beugen wollten, bei⸗
traten. Dabei war in Preußen ſelbſt tiefer Zwie⸗
ſpalt zwiſchen König und Volk wegen des Ver⸗
faſſungskonflikts. Der Landtag konnte um eine An⸗
leihe für dieſen Krieg nicht einmal angegangen
werden. Zur Seite aber ſtand das lauernde
Frankreich unter Napoleon III., der Erbfeind, der
die Gelegenheit, daß die deutſchen Mächte ſich
untereinander zerfleiſchten, ſich zunutze zu machen
beſtrebt ſein mußte. Das ganze deutſche Volk
wollte von dem Bruderkrieg nichts wiſſen; ſelbſt
die preußiſche Armee ging nicht gern in ihn hinein.
Der natürliche Feind war ihr doch der Franzoſe.
Kaiſer Franz Joſeph ſchrieb an König Wilhelm einen
Brief, worin er ihn an den Bund ſeines Vaters
mit Kaiſer Franz und das treue Zuſammenhalten
von 1813 erinnerte. Die Gemahlin des Königs,
25
die Königin Auguſta ebenſo wie jein einziger Sohn
und Erbe, der Kronprinz, beſtürmten ihn, von dem
unſeligen Menſchen, dem Bismarck, und der Politik,
die notwendig ins Verderben führen müſſe, zu
laſſen. Die Bundesgenoſſen, die Bismarck für
ſeine Politik zu gewinnen verſuchte, verſagten. Er
bot Bayern als dem zweitgrößten Staat in dem
zukünftigen Bunde eine ſehr bevorzugte Stellung
— Bayern ließ ſich auf nichts ein, ſondern blieb
bei Oſterreich. Er zeigte dem deutſchen Volk, wo⸗
hin er es führen werde, indem er ein Bundes parla⸗
ment mit allgemeinem Wahlrecht vorſchlug (April
1866). Die Antwort gab ihm der Kladderadatſch,
indem er ankündigte, er werde ſein Geſchäft als
Witzblatt aufgeben; dieſer Konkurenz ſei er nicht
gewachſen; das Miniſterium Bismarck appelliere
an die deutſche Nation und wolle ſich aufs Volk
ſtützen! Ebenſo tönte es aus Süddeutſchland: wenn
der Teufel ins Weihwaſſer falle, mache er wunder⸗
liche Sprünge, aber poſſierlicher als dieſer Ver⸗
zweiflungsſprung des edlen Grafen Bismarck ſei
nie etwas geweſen. Sogar Rudolf v. Bennigſen
hatte kein Vertrauen und wies das Angebot, das
ein Abgeſandter Bismarcks ihm machte, zurück:
26
man glaube weder an den Ernſt ſeiner Vor⸗
ſchläge noch an ſeinen Ernſt zum Kriege; er
könne den Krieg gar nicht führen, da er
die öffentliche Meinung zu ſehr gegen ſich
habe.
Es gelang Bismarck zwar, in dem Bündnis mit
Italien die Ergänzung der phyſiſchen Kraft, ohne
die Preußen den Kampf nicht beſtehen konnte, zu
ſchaffen, aber Italien ſtand ganz unter dem Ein⸗
fluß Napoleons, war ſelbſt voller Mißtrauen, und
es war ſehr fraglich, wie weit ihm zu trauen ſei.
Wenn es nun im letzten Augenblick ſich von Oſter⸗
reich mit Venetien abfinden und Preußen allein
ließ? Wie konnte Bismarck unter ſolchen Gefahren,
gegen ſolche moraliſche Widerſtände hoffen, dem
König den Entſchluß zum Kriege zu entreißen?
Die ganze Politik beruhte ſchließlich auf Bismarcks
Perſon, und gegen ihn hatte der Volkshaß einen
ſolchen Grad erreicht, daß mitten in der Kriſis
(7. Mai 1866) in Berlin Unter den Linden ein
Attentat gegen ihn verſucht wurde, von dem ſchwer
zu begreifen iſt, wie es mißglücken konnte; das Volk
aber bedauerte nur, daß der große Böſewicht das
Leben behalten habe.
27
Nur ganz allmählich wurde die Mobilmachung
und dann der Aufmarſch ins Werk geſetzt; mehr
als 2½ ͤ Monate dauerte es von den erſten Maß⸗
regeln bis zum Kriegsbeginn, und mittlerweile
wurden immer wieder neue Verhandlungen an⸗
geknüpft und neue Verſuche gemacht, den Soeben
zu erhalten.
Wie es endlich zum Kriegsentſchluß gekommen
iſt, darüber will ich hier eine Erzählung einfügen,
von der ich glaube, daß ſie bisher nicht in die
Offentlichkeit gekommen iſt. Graf Lehndorff, der
damals als Rittmeiſter der Garde du Corps Flügel⸗
adjutant des Königs war, hat ſie einem Herrn
erzählt, aus deſſen Munde wiederum ich ſie gehört
habe. An einem Tage, erzählte Lehndorff, habe
er den Dienſt gehabt und nacheinander Roon,
Moltke und Bismarck beim König zu melden ge⸗
habt zum Vortrag über die zur Entſcheidung drän⸗
gende ſtrategiſche Lage. Zuerſt kam Roon (der ja
der eigentliche Vertrauensmann des Königs war)
und kam unverrichteter Dinge heraus. Dann kam
Moltke und trug dem König vor, jetzt habe Preußen
noch im Verhältnis von innerer und äußerer Linie
den Vorteil, der aber in Nachteil umſchlagen müſſe,
28
wenn man den Oſterreichern noch Zeit Yajje*).
Der König antwortete, das habe alles keine Be⸗
deutung, da er den Krieg nicht wolle und Friede
bleiben werde. |
Nun kam als dritter Bismarck. Nach einiger
Zeit hörte Lehndorff, daß das Geſpräch ſo heftig
und laut wurde, daß er Vorſorge traf, daß niemand
weiter ins Vorzimmer käme und auch die Lakaien
entfernte. Endlich kam Bismarck heraus, blieb
eine ganze Zeitlang wie verſtört ſtehen und ſagte
endlich: ‚Sehen Sie hinein und melden Sie mich
noch einmal.“ Lehndorff ging hinein, kam aber
wieder heraus mit dem Beſcheid, die Sache ſei ent⸗
ſchieden und der König wolle nicht weiter darüber
ſprechen. Da packte Bismarck Lehndorff, der ſelber
ein über ſechs Fuß großer, ſtarker Mann war, warf
ihn beiſeite, riß die Tür auf und ging hinein.
Von neuen erhob ſich drinnen die immer heftiger
und lauter werdende Diskuſſion. In einer Art
von Verzweiflung, was er tun ſolle, ſtand Lehn⸗
*) Ich gebe dieſen Satz ſo wieder, wie ich ihn gehört und
gleich nach dem Geſpräch niedergeſchrieben habe. Ob er
ganz dem entſpricht, was Moltke wirklich geſagt hat, und
wie er dann zu interpretieren iſt, bleibe dahingeſtellt.
29
dorff vor der Tür. Bismarck hatte ihm beim
Herauskommen durch ſein verſtörtes Weſen den
Eindruck gemacht, als ſei er verrückt geworden.
Jetzt malte er ſich aus, wie der Wahnſinnige drin
gegen den Herrn gewalttätig werde. Sollte er
als getreuer Flügeladjutant, der doch den Lärm
hörte, draußen untätig bleiben?
Plötzlich wurde die Tür aufgeriſſen, Bismarck
ſtürzte heraus, warf ſich halbtot auf die im Vor⸗
zimmer ſtehende Couchette und ſagte: „Laſſen
Sie mich möglichſt lebendig nach Hauſe RN:
der Krieg iſt erklärt.“
Ehre dem König, der ſich dem deutſchen Bru⸗
derkrieg, dem Krieg gegen den Freund und
Verbündeten, bis aufs äußerſte widerſetzte. Ehre
aber auch dem Staatsmann, der die bittere Not⸗
wendigkeit als ſolche erkannt hatte und endlich
durchriß.
Die Schlacht bei Königgrätz wurde geſchlagen,
und am Abend ſagte Roon zu ſeinem Freunde:
„Na Bismarck, diesmal hat der brave pommerſche
Musketier Sie noch einmal herausgehauen.“
Die politiſche Arbeit aber fing für ihn darum
erſt recht an.
30
Der brave Musketier und die geniale Strategie
Moltkes hatten den Krieg gewonnen, aber ſie
hätten ihn nicht gewinnen können, ohne die
Reorganiſation der Armee von 1860, die der
König mit Recht als ſein eigenſtes Werk anſah.
Die Armee alſo und ihr Haupt, der König, wollte
jetzt auch das Ziel des Krieges beſtimmen. In
die feindliche Hauptſtadt einziehen und ſich Grenz⸗
länder abtreten zu laſſen, ſchien das natür⸗
liche Ergebnis des herrlichen Sieges ſein zu
müſſen.
Ganz anderes wollte der Miniſter: er wollte
Oſterreich ſchonen, ihm außer Venetien keine Ab⸗
tretung auferlegen, verlangte nichts, als daß es
aus dem deutſchen Bunde ausſcheide, und wollte
Norddeutſchland unter Preußens Führung zu
einem reformierten Bunde vereinigen. Dieſer
Bund aber ſollte nicht bloß ein Bund der Re⸗
gierungen ſein, ſondern durch einen aus allge⸗
meinem gleichen Stimmrecht hervorgehenden
Reichstag zuſammengehalten und der Verfaſſungs⸗
konflikt in Preußen gleichzeitig beigelegt werden,
indem die Regierung um Indemnität für die ver⸗
faſſungswidrig ausgegebenen Gelder einkam.
31
Der König war außer ſich über dieſe Zumutungen,
die eine nach der andern an ihn herantraten.
Dem neuen Bunde maß er wenig Wert bei;
die „Indemnität“ erſchien ihm eine Demütigung;
der Hauptkampf aber entbrannte gleich zuerſt
um den Frieden mit Oſterreich vor dem Einzug
in Wien und ohne Landabtretung. “|
Der König dachte an die Erwerbung von Oſter⸗
reichiſch⸗Schleſien und einem Teil von Böhmen;
Prinz Friedrich Karl empfahl dazu das Deutſch⸗
Böhmiſche, das ſich am Erzgebirge entlangzieht.
Der König wollte außerdem einen Teil von Sachſen
und von Bayern die hohenzollernſchen Stamm⸗
lande Ansbach⸗Bayreuth.
Die Schlacht, die hier geſchlagen wurde, Er
einer Entſcheidung nicht weniger groß und wichtig
als die Schlacht bei Königgrätz ſelber. Es han⸗
delte ſich darum, ob Preußen nichts weiter bleiben
ſollte als Preußen, oder ob Preußen mit neuem
Lebensblut erfüllt, verjüngt, erneuert und er⸗
weitert zugleich werden ſollte durch den deutſchen
Gedanken, die Idee des zukünftigen Deutſchen Reichs.
Landabtretungen, damals Oſterreich auferlegt,
hätten jede zukünftige Ausſöhnung mit dem habs⸗
32
burgiſchen Kaiſerſtaat unmöglich gemacht; auch
die Integrität Sachſens machte Oſterreich zur
unerläßlichen Bedingung, und die Abtretung von
Ansbach und Bayreuth hätte in Bayern eine
ſolche Feindſeligkeit erweckt, daß jeder deutſch⸗
nationalen Politik die Bahn verſperrt geweſen
wäre. |
Der König beſtand darauf, daß Oſterreich als
der Hauptſchuldige an dem Kriege beſtraft werde.
Bismarck erwiderte ihm: Wir hätten nicht eines
Richteramts zu walten, ſondern deutſche Politik zu
treiben. Oſterreichs Rivalitätskampf ſei nicht ſtraf⸗
barer als der unfrige gegen Oſterreich; unſere Auf-
gabe ſei Herſtellung oder Anbahnung der deutſch⸗
nationalen Einheit unter Leitung des Königs
von Preußen. Aber dieſe Argumente machten
auf den König keinen Eindruck, und ſeine Auf⸗
faſſung war nicht nur ſeine perſönliche, ſondern
auch die ſeiner militäriſchen Umgebung und der
Generalität überhaupt, als deren Sprecher haupt⸗
ſächlich ſein Bruder, Prinz Karl, auftrat. Es wurde
ein Kriegsrat zuſammenberufen, in dem Bismarck,
nach ſeiner eigenen Erzählung, der einzige Ziviliſt
in Uniform war, und er blieb mit ſeinem Friedens⸗
2 Delbrück, Bismarcks Erbe 33
vorſchlag allein. Alſo auch Moltke und Roon
müſſen ſich gegen ihn gewandt oder ihn wenigſtens
nicht unterſtützt haben. Schließlich verſagten ſeine
Nerven; er ſtand ſchweigend auf, ging in das an⸗
ſtoßende Zimmer und wurde von einem heftigen
Weinkrampf befallen. Er ſetzte eine Denkſchrift
auf zur Verteidigung ſeiner Auffaſſung, aber er
richtete nichts aus; namentlich die Unterbrechung
des Siegeslaufs der Armee erſchien dem König
unerträglich. Als der Miniſter in ſein Zimmer
zurückgekehrt war, erzählt er uns, ſei ihm der
Gedanke nahegetreten, ob es nicht am beſten
ſei, ſich aus dem vier Stock hohen Fenſter hinaus⸗
zuſtürzen. Jeden Augenblick konnte die Nachricht
eintreffen, daß die Franzoſen mobilgemacht
hätten und an den Rhein marſchierten. Dabei
wütete im preußiſchen Heer in Böhmen und
Mähren die Cholera.
Wenn aber die deutſche Idee, deren ſolange
verborgene Fahne er jetzt aufziehen wollte, wirk⸗
lich die innere Kraft hatte, die Bismarck ihr zu⸗
traute, und eine Weſenheit war, mußte ſie jetzt
nicht ihrerſeits ihm entgegenkommen und ihm
helfen?
34
Eine Idee muß, um wirkſam zu werden, Ritter
finden, die ſie vertreten, und dieſer Ritter kam in
der Perſon des preußiſchen Kronprinzen.
Was jetzt folgt, weiß man aus den „Gedanken
und Erinnerungen“, aber ich bin in der Lage,
dieſe Erzählung durch Mitteilung von der anderen
Seite zu ergänzen.
Kaiſer Friedrich hat es mir als Kronprinz ſelbſt
erzählt. „Als ich in Nikolsburg einmal den ſteilen
Schloßberg hinaufging,“ lauteten ſeine Worte,
„begegnete mir auf der halben Höhe der General
von Moltke, der mir ſagte: ‚Sie finden oben alles
in der ſchlimmſten Bagarre, der König und Bis⸗
marck ſehen ſich nicht. Der Kaiſer von Oſterreich
hat durch die Vermittlung des Kaiſers Napoleon
Frieden angeboten, aber die Integrität Sachſens
zur Bedingung geſtellt, das will der König nicht
zugeben.“ Als ich hinaufkam, fand ich es wirklich
ſo; der König und Bismarck hatten ſich eingeſchloſſen
und keiner wollte zum anderen. Ich machte nun
den Vermittler.“
Als Bismarck noch in ſeiner Verzweiflung beim
offenen Fenſter ſtand, hörte er, wie jemand ein⸗
trat, er ahnte, daß es der Kronprinz war, drehte
2* 35
ſich aber nicht um. Da legte ihm diejer die Hand
auf die Schulter und ſagte: „Sie wiſſen, daß ich
gegen den Krieg geweſen bin; Sie haben ihn für
notwendig gehalten, nun tragen Sie die Verant⸗
wortlichkeit dafür. Wenn Sie überzeugt find,
daß der Zweck erreicht iſt und der Friede geſchloſſen
werden muß, ſo bin ich bereit, Ihnen beizuſtehen
und Ihre Meinung bei meinem Vater zu ver⸗
treten.“
Nach Bismarcks Erzählung iſt der Kronprinz
zum König hinübergegangen und nach einer kleinen
halben Stunde zurückgekehrt. „Es hat ſehr ſchwer
gehalten, aber mein Vater hat zugeſtimmt.“ Nach
des Kronprinzen Erzählung iſt das nicht in einer
Unterredung unter vier Augen geſchehen, ſondern
der König hat von neuem einen Kriegsrat berufen
und da zu ſeinem Sohn geſagt: „Sprich du im
Namen der Zukunft,“ und damit war die Schlacht
gewonnen.
Ich will nicht ſagen, daß der Vorgang ſich
genau ſo abgeſpielt hat, wie ich ihn hier eben
unter Zuſammenziehung der beiden Erzählungen
der Beteiligten gegeben habe. Es ſcheint ſicher,
daß ſich ſowohl bei Bismarck wie beim Kronprinzen
36
Ereigniſſe, die ſich auf mehrere Tage verteilten,
in der Erinnerung vermiſcht haben. Da ziehen
ſich leicht länger ausgeſponnene Vorgänge, wo
mancherlei Punkte einzeln zu behandeln ſind
und einer nach dem andern durchgekämpft wird,
zu einer dramatiſchen Szene zuſammen. Das
Entſcheidende, von beiden Seiten gleichmäßig Be⸗
zeugte iſt, daß auch Bismarck dem Vorwurf, die
Feder des Diplomaten wolle wieder verderben,
was das Schwert des Soldaten gewonnen, nicht
entgangen iſt. Man verſpottete ihn als den
„Queſtenberg“ im Lager, zürnte über den „faulen“
oder gar „ſchmachvollen Frieden“, die Generale
ſpuckten vor ihm aus, um ihm ihre Verachtung
zu bezeigen, wie er ſelber ſpäter erzählt hat,
und er ſiegte endlich dennoch, indem der Erbe
der Krone auf ſeine Seite trat.“)
*) Aus der umfangreichen Literatur über den Nikols⸗
burger Frieden nenne ich den Aufſatz von W. Buſch,
Hiſtor. Zeitſchr. Bd. 92 (1904). Wenn ich oben ſeinen
Feſtſtellungen nicht genau gefolgt bin, ſo geſchah es nicht,
weil ich ſie verwerfe, ſondern nur um der Kürze, der ge⸗
drängten Darſtellung willen. Nur in einem weſentlichen
Punkte weiche ich wirklich ab. Buſch meint, Roon und
Moltke könnten unmöglich zu den Widerſachern Bismarcks
gehört haben. Aber hätte Bismarck wirklich ſo verzweifelt
37
Die Annexion von Schleswig⸗Holſtein, Hanno⸗
ver, Kurheſſen, Naſſau und Frankfurt verletzte
zwar den Legitimitätsgedanken, befriedigte aber
das ſpezifiſche Preußentum; die Einbringung der
Indemnität beim Preußiſchen Landtag und die
Schaffung des Norddeutſchen Bundes mit einer
Verfaſſung, die hervorging aus der Verein⸗
barung mit einer Volksvertretung, gewählt nach
dem allgemeinen Stimmrecht, bedeutete die Ver⸗
ſöhnung mit den Liberalen und die Aufnahme
des Grundgedankens der Demokratie in das
werdende neue Staatsweſen.
Elemente, die ſich bisher aufs tödlichſte gehaßt,
Gegenſätze, die ſich bisher wie Gut und Böſe,
Himmel und Hölle einander gegenüber geſtanden
hatten, ſollten ſich jetzt zu einer organiſchen Ein⸗
heit verſchmelzen. Aber nicht im Frieden voll⸗
ziehen ſich ſolche geſchichtlichen Verſchmelzungen.
Bismarck wünſchte den Liberalen entgegen⸗
zukommen, ſeine konſervativen Miniſterkollegen
kämpfen müſſen, wenn er Roon und Moltke auf ſeiner
Seite gehabt hätte? Mir ſcheint, ein Grund, ſeine Er⸗
zählung gerade in dem Punkt, daß er alle in geblieben
ſei, zu verwerfen, liegt nicht vor.
38
aber taten das Gegenteil, und der König wollte
ſich von dieſen, die ihm in der ſchweren Konflikts⸗
zeit treu zur Seite geſtanden hätten, nicht trennen.
Einer der bedeutendſten Träger des Gedankens
der Aussöhnung mit Bismarck und Begründung
der nationalliberalen Partei, der Abgeordnete
Tweſten, war im Jahre 1865 wegen eines
heftigen Angriffs auf den Juſtizminiſter im Ab⸗
geordnetenhauſe in Anklage verſetzt. Der Prozeß
war von um ſo größerer Wichtigkeit, als es ſich
nicht bloß um die Perſon Tweſtens, ſondern um
das Prinzip der parlamentariſchen Redefreiheit
handelte. Man ſollte meinen, daß mit dem Ein⸗
ſetzen der neuen Politik ein ſolcher Zwiſchenfall
ohne weiteres ins Meer der Vergeſſenheit verſenkt
worden wäre. Statt deſſen legte die Staats⸗
anwaltſchaft noch im Februar 1867 wegen eines
freiſprechenden Urteils Nichtigkeitsbeſchwerde ein,
und im November 1867 wurde Tweſten zu zwei
Jahren Gefängnis verurteilt. Gleich darauf hatte
er ſelbſt in der Budgetkommiſſion einen überaus
heftigen Zuſammenſtoß mit Bismarck, dem er
Vertrauensbruch vorwarf, was dieſer als perſön⸗
liche Beleidigung aufnahm, ſo daß er ſich weigerte,
39
weiter zu verhandeln. Durch die Vermittlung
von Bennigſen und Forckenbeck wurde dieſer Zwiſt
noch beigelegt, und endlich gelang es auch jetzt,
den ſehr üblen Juſtizminiſter Grafen Lippe zu
beſeitigen und den Hannoveraner Leonhard an
deſſen Stelle zu bringen, der ſich nicht nur als |
Juriſt glänzend bewährte, ſondern auch die neuen
Provinzen im Staatsminiſterium vertrat.
Der Miniſter des Innern aber, Graf Fritz
Eulenburg, der freilich ein ſehr begabter und auch
politiſch aufgeklärter Mann war, und der Kultus⸗
miniſter v. Mühler blieben, und namentlich der
letztere verwaltete ſein Reſſort in ſcharfreaktio⸗
närem Geiſte. So gingen in derſelben Regierung
die entgegengeſetzten Richtungen nebeneinander
her. Alle Waſſer wirbelten trübe durcheinander.
Alle die alten Parteien gerieten in Verwirrung
und löſten ſich auf. Aus Teilen der alten Fort⸗
ſchrittspartei und den gemäßigten Liberalen bildete
ſich die neue nationalliberale Partei, die immer
noch Oppoſitionspartei blieb, aber den Prinzipien⸗
kampf zurückſtellte und durch Kompromiß von Fall
zu Fall erſt die neue Verfaſſung ſchaffen half und
dann in einem Geſetz nach dem anderen für ihre
40
P
Anſchauungen Raum gewann. Wieder war es
hier der Kronprinz, der durch perſönliche Ein⸗
wirkung, beſonders auf den Abgeordneten Tweſten,
verſöhnend und vermittelnd forthalf. Ein erheb⸗
licher Teil der Fortſchrittspartei aber blieb grollend
beiſeite ſtehen und konnte ſich nicht genugtun in
Verdammung der Charakterloſigkeit der „National⸗
miſerablen“, die ihre Grundſätze verleugneten und
zwiſchen der zweiten und dritten Leſung ihre An⸗
ſichten änderten. Umgekehrt, je mehr die National⸗
liberalen auf dieſem Wege erreichten, deſto ſtärker
erhob ſich der Groll der Konſervativen gegen den
Miniſterpräſidenten, der ſich von den altkonſer⸗
vativen Anſichten mehr und mehr entfernte. Eine
Gruppe von hochſtehenden, aufgeklärten Kon⸗
ſervativen kamen ihm zwar ſo weit entgegen,
daß ſie eine neue parlamentariſche Partei, die
freikonſervative, gründeten, die alten Freunde aber,
mit denen er vom Vereinigten Landtag 1847 bis
1866 Schulter an Schulter gefochten, die Kleiſt⸗
Retzow, Blankenburg, Gerlach, wandten ſich von
ihm ab.
Auch die Vollendung des nationalen Einigungs⸗
werkes ſchritt nicht in der Weiſe fort, wie die
41
nationalen Kreiſe und Bismarck ſelbſt erhofften.
Die ſüddeutſchen Staaten waren mit dem Nord⸗
deutſchen Bunde zuſammengeſchloſſen durch den
Zollverein und durch die militäriſchen Schutz⸗ und
Trutzbündniſſe, die Bismarck insgeheim den Frie⸗
densſchlüſſen von 1866 beigefügt hatte. Für den
Zollverein wurde ein eigenes Zollparlament ge⸗
ſchaffen, in dem in Süddeutſchland gewählte Ab⸗
geordnete dem Norddeutſchen Reichstage beitraten.
Man hätte meinen ſollen, daß auf dieſem Wege
ganz von ſelbſt durch die innere Logik der Dinge
und die Kraft des nationalen Gedankens ein
deutſcher Reichstag und ein deutſches Reich hätten
entſtehen müſſen. Aber ſo war es keineswegs; die
große Mehrheit der Süddeutſchen, die Demo⸗
kraten auf der einen, die Klerikalen auf der anderen
Seite, waren einig darin, dem Deutſchen Bunde,
der unter Führung des abſolutiſtiſch⸗ reaktionären
Preußen ſtand, nicht beitreten zu wollen, und die
Ergebniſſe des Zollparlaments waren dürftig.
Nun brach der franzöſiſche Krieg herein. Ein
Hauptgrund, weshalb die beſten Preußen und
Deutſchen den Krieg gegen Oſterreich 1866 nicht
gewollt hatten, war die Beſorgnis, daß Frank⸗
42
reich die Gelegenheit benutzen und ſich deutſche
Gebiete aneignen könnte. Die Schnelligkeit, mit
der Bismarck den Nikolsburger Frieden abſchloß,
zuſammen mit der mangelnden Bereitſchaft Frank⸗
reichs und der Unentſchloſſenheit des Kaiſers, hatten
damals den Ausbruch des Krieges verhindert. Als
Napoleon dazu kam, ſeine Forderung eines Stückes
des linken Rheinufers zu ſtellen, war der Friede
mit Oſterreich bereits geſchloſſen und Bismarck
konnte die franzöſiſche Forderung ſchroff zurück⸗
weiſen.
Aber der Anſpruch Frankreichs auf eine Kom⸗
penſation war geblieben; kein Zweifel, daß Bis⸗
marck in ſeinen vielfältigen Verhandlungen mit
Napoleon, zu denen er wiederholt hingereiſt war,
ihm vor dem Kriege allerhand Ausſichten gemacht
hatte. Es brauchte ja nicht deutſches Gebiet zu
ſein, was ihn abfand; aber auf Belgien und Luxem⸗
burg hatte er ſein Auge geworfen und wollte zu⸗
nächſt Luxemburg ſeinem damaligen Souverän,
dem König von Holland, abkaufen. Luxemburg
zu opfern, wäre Bismarck im Jahre 1867 bereit
geweſen, und nahm es nicht in den Norddeutſchen
Bund auf. Aber als die öffentliche Meinung in
43
Deutſchland heftig aufwallte, und Bennigſen im
Reichstag eine machtvolle, mit Beifallſtürmen be⸗
gleitete Rede gegen die Auslieferung dieſes deutſch⸗
ſprechenden Landes an Frankreich hielt, da mußte
ſich Napoleon mit dem Kompromiß begnügen,
daß das Land ſelbſtändig blieb und nur der neue
Deutſche Bund auf das Beſatzungsrecht, das der
alte in Luxemburg beſeſſen hatte, verzichtete.
Dem franzöſiſchen Nationalſtolz genügte das
nicht, und er blieb aufs tiefſte gekränkt, daß ſich
hier an ſeiner Grenze eine neue nationale Groß⸗
macht erhob, die den Franzoſen den Rang, die
„Große Nation“ zu ſein, ſtreitig machte. Der
preußiſche Geſandte, Graf Goltz, berichtete ſchon
im Herbſt 1866 aus Paris, Napoleon rechne dar⸗
auf, daß Bismarck die Verſprechungen, die er
ihm gemacht habe, erfülle. Er könne ſonſt vor
ſeiner Nation nicht beſtehen und ſeinen Thron
nicht behaupten; er müſſe jetzt entweder ein
Bündnis mit Preußen ſchließen oder eine Koalition
gegen Preußen zuſtandezubringen ſuchen, wozu
die Elemente weder in Petersburg noch in Wien
fehlen würden. Mit anderen Worten, Napoleon
verlangte, daß Preußen ihm helfe, Belgien zu
44
erwerben. Hätte Bismarck Belgien preisgegeben, jo
hätte er den Krieg mit Frankreich vermeiden können.
Merkwürdig genug klingt es heute, daß um der
Erhaltung Belgiens willen im letzten Grunde
Deutſchland damals gegen Frankreich in den Krieg
gegangen iſt. Freilich kann man dazu ſagen, und
das mag man ſich auch damals geſagt haben, daß
trotz der Opferung Belgiens der Krieg nicht der⸗
mieden worden wäre. Die Eiferſucht der Fran⸗
zoſen war viel zu ſtark; die Einverleibung Bel⸗
giens wäre nur der Auftakt geweſen für das Auf⸗
leben des alten Begehrens des ganzen linken
Rheinufers. Wie dem auch ſei, Bismarck bewies
den Franzoſen von jetzt an kein weiteres Ent⸗
gegenkommen, und Napoleon knüpfte ſtatt deſſen
mit Oſterreich und Italien an. Allem Anſchein
nach hat er aber den großen Krieg gegen Deutſch⸗
land, deſſen militäriſche Kraft er kannte, zu ver⸗
meiden gewünſcht; er brachte das öſterreichiſch⸗
italieniſche Bündnis deshalb formell nicht zum
Abſchluß, ſondern wünſchte es nur ſo weit zu be⸗
nutzen, um Preußen einzuſchüchtern, um im letzten
Augenblick, nachdem ſchon mobil gemacht ſei, oder
sogar noch nach der erſten Schlacht, ſich mit ihm
45
zu vertragen, unter der Bedingung, daß Preußen
mit Süddeutſchland tue, was ihm gut ſcheine, und
ihm dafür Belgien überlaſſe. Als die preußiſchen
Diplomaten Paris verließen, reichte der Miniſter
des Auswärtigen, Herzog d. Gramont, einem von
ihnen die Hand mit den Worten: „Ich hoffe, daß
nach einigen ritterlichen Schlachten unſere Sou⸗
veräne ſich die Hand reichen werden, ſo wie wir
es jetzt tun.“ Als der Marſchall Mac Mahon, der
bis dahin Gouverneur von Algier geweſen war,
ſich bei Napoleon meldete, um ſein Armeekommando
zu übernehmen, ſprach dieſer kaum mit ihm über
den Feldzugsplan, ſondern ſagte ihm, daß er ſehr
bald nach Algier zurückkehren werde und nur einen
zeitweiligen Stellvertreter brauche.
Endlich als die franzöſiſche Armee an der Grenze
aufmarſchierte, wurde ſie in Hinblick auf dieſen
Plan nicht vollſtändig verſammelt, ſondern ein
Armeekorps (CCanrobert) blieb bei Chalons zurück,
von wo es ſich nötigenfalls ſofort nach Belgien
hätte wenden können.“)
*) Vgl. hierüber meine Unterſuchung „Das Geheimnis der
Napoleoniſchen Politik i. J. 1870“ in meinen „Erinnerungen,
Aufſätzen und Reden“ mit dem Zuſatz in der 3. Auflage.
46
Die ſpaniſche Thronkandidatur ift in dieſem
größeren Zuſammenhang nur ein Zwiſchenſpiel.
Sie war nicht der Grund des Krieges, ſondern gab
nur die Veranlaſſung zum Ausbruch des Krieges.
So intereſſant ſie an ſich und im beſonderen auch
für uns in einer Bismard-Biographie iſt, hier
können wir ſie übergehen.
Der Plan Napoleons ſcheiterte im Grunde ganz
auf dieſelbe Weiſe, wie er 1866 geſcheitert war.
Damals hatte Napoleon den Krieg geſchürt und
Italien dem preußiſchen Bündnis zugeführt, m
der Berechnung, daß der Kampf ihm Gelegenheit
geben werde, ſeinen Vorteil wahrzunehmen. Aber
die Schnelligkeit des preußiſchen Sieges und des
darauf folgenden Friedensſchluſſes beraubte ihn
dieſer Gelegenheit. 1870 rechnete er, daß wenn
die Preußen ſich auf das Geſchäft mit Belgien
nicht einließen, er Oſterreich und Italien für ſich
in Bewegung ſetzen könne, — aber gleich beim
erſten Zuſammenprall wurden die Franzoſen ſo
vollſtändig über den Haufen geworfen, daß Oſter⸗
reich und Italien die Luſt zur Einmiſchung derging.
Daß der Krieg dem deutſchen Volke die Einheit,
das Reich und den Kaiſer bringen mußte, ſcheint
47
uns Nachlebenden heute ſelbſtverſtändlich. Um jo
nötiger iſt es für uns, wieder zu prüfen, welche
Schwierigkeiten Bismarck dabei zu überwinden
hatte. Wenn die Leidenſchaften auch nicht mit
ſo elementarer Wucht aufeinanderprallten wie
1866 in Nikolsburg, ſo fehlt doch nicht ſo gar viel
daran, zugleich aber war das Werk jetzt ſehr viel
komplizierter. Damals war der Gegenſatz im
Grunde einfach: hier preußiſch⸗militäriſch, dort
deutſch⸗politiſch. 1870 aber bei der Erweiterung
und Erhöhung des Norddeutſchen Bundes zum
Deutſchen Reiche galt es eine ganze Reihe ſich
kreuzender und gegeneinander ſtrebender Kräfte
ſchließlich zu einem Werk zuſammenzubringen,
und wenn dort vor allem die Charakterkraft Bis⸗
marcks imponiert, ſo iſt es hier die diplomatiſche
Geſchicklichkeit, mit der er immer einen gegen den
andern ausſpielte, um ſchließlich alle zum richtigen
Ziele hinter ſich herzuziehen.
Vor dem Kriege war die große Mehrheit der
ſüddeutſchen Bevölkerung im Einklang mit den
Monarchen in München, Stuttgart und Darm⸗
ſtadt gegen den Eintritt in den Norddeutſchen
Bund. Der Krieg brachte den Umſchwung, und
48
®
man möchte vielleicht erwarten, daß Bismarck
die günſtige Stimmung nun benützt und mit
ſanfter Gewalt die ſüddeutſchen Regierungen zum
Eintritt genötigt hätte. Er tat das gerade Gegen⸗
teil: er hielt ſich völlig zurück, ſo daß der treffliche
badiſche Miniſter Jolly, der mit ſeinem Groß⸗
herzog zuſammen mit aller Kraft für die nationale
Einheit wirkte, ſchon fürchtete, Bismarck wünſche
wirklich nicht den Anſchluß der Süddeutſchen.
Ganz ebenſo war auch der Kronprinz mit der an⸗
ſcheinenden Lauheit des Bundeskanzlers im höch⸗
ſten Grade unzufrieden. Bismarck aber wartete
ab und ſagte ſich, daß er in viel vorteilhafterer
Lage ſein werde, wenn die anderen ihm, wie
er ſagte, kommen müßten. Es exiſtierte eine
Stelle, die von der Natur berufen war, den Stein
ins Rollen zu bringen, nämlich Sachſen, das ſich
als einzige Mittelmacht im Norddeutſchen Bunde
vereinſamt fühlte und von dem Eintritt der ſüd⸗
deutſchen Königreiche eine Stärkung des födera⸗
tiven Elementes im Bunde erhoffen durfte.
Schon drei Tage nach der Schlacht bei Grave⸗
lotte hatte der Kronprinz Albert von Sachſen
mit Bismarck eine Unterredung, worin dieſer den
49
Gedanken ausſprach, daß das im Frieden von
Frankreich zu fordernde Elſaß⸗Lothringen nicht
einem einzelnen Staate angegliedert, ſondern im
Beſitz von Geſamtdeutſchland verbleiben und da⸗
durch eine Verbindung zwiſchen Nord⸗ und Süd⸗
deutſchland herſtellen werde: eine meiſterhafte
diplomatiſche Wendung, die von vornherein das
Werk der Einigung ſelbſt mit ihrem Lohn verknüpfte.
Am liebſten hätte Bismarck eine Zuſammenkunft
aller deutſchen Fürſten, vielleicht ſogar zugleich
mit dem Reichstag, in Frankreich veranſtaltet, um
die neue Reichsverfaſſung feſtzuſtellen. Aber die
ſüddeutſchen Fürſten ſahen voraus, daß ſie ſich
dann dem einfachen Eintritt in den Norddeutſchen
Bund nicht hätten entziehen können, und entſchieden
ſich für Einzelverhandlungen. Hierbei gab es nun
noch ſehr merkwürdige Phaſen zu überwinden. Daß
etwas geſchehen müſſe, ſahen alle, aber „ob dieſe Not⸗
wendigkeit eine traurige, eine erträgliche oder eine
erfreuliche ſei“, darüber gingen ſie, wie der Unter⸗
händler Bismarcks, Rudolph Delbrück, ſchalkhaft
bemerkte, auseinander. Eigentlich hätten die
Bayern gewünſcht, daß ſie nicht in den Bund
einträten, ſondern nur mit dem Bunde einen Bund
50
ſchlöſſen, oder ſie ſtellten ſich vor, daß das Kaiſer⸗
tum zwiſchen Preußen und Bayern alterniere, oder
ſie verlangten einen beſonderen Territorialgewinn
für Bayern, oder ſie wollten zur deutſchen Flotte
keinen Beitrag leiſten. Mehrfach kam es ſo weit,
daß man ſchon glaubte, den Bund ohne Bayern
abſchließen zu müſſen, oder man ſchon gar beſorgte,
daß die bayeriſchen Truppen aus dem Kriege ab⸗
berufen werden könnten.
Auf der anderen Seite verlangte der Nord⸗
deutſche Reichstag immer noch ſchärfere Zentrali⸗
ſation; die Fortſchrittspartei ganz doktrinär ſogar
einen neuen konſtituierenden Reichstag. Auf der
unitariſchen Seite aber, und inſofern gegen Bis⸗
marck, ſtand diesmal gefährlicherweiſe der Kron⸗
prinz, der ſogar vor Gewalt gegen die Süddeut⸗
ſchen nicht zurückſcheuen wollte, um dem anzu⸗
ſtrebenden Kaiſertum einen wirklichen Inhalt zu
geben. König Wilhelm aber, der die neue Kaiſer⸗
krone tragen ſollte, wollte von ihr überhaupt nichts
wiſſen und wäre am liebſten bei ſeinem preußi⸗
ſchen Königtum geblieben. „Ich habe die größte
Angſt,“ ſagte Bismarck unter dieſem Druck von
allen Seiten, „wir balancieren auf der Spitze
51
eines Blitzableiters; verlieren wir das Gleich⸗
gewicht, das ich mit Mühe herausgebracht habe, jo
liegen wir unten.“
Er drückte nun immer mit einem auf den andern.
Die Anſprüche Bayerns reizten den zornigen
Widerſpruch von Württemberg und Baden, und
um nicht iſoliert zu werden, mußte wieder Bayern
endlich entgegenkommen. Trat es einmal in den
Bund, ſo mußte es auch für die Kaiſerwürde ein⸗
treten, ja ſie ſelber beantragen, da Bismarck dar⸗
auf hinwies, daß ſonſt der Reichstag dem König
von Preußen dieſe Würde antragen werde. So
kam man nicht eigentlich Schritt für Schritt,
ſondern ſtoßweiſe vorwärts, indem Bismarck
immer an dem Grundſatz feſthielt, nicht zu zwin⸗
gen, ſondern die Natur der Dinge wirken zu laſſen,
und zugleich da, wo er es konnte, mit Konzeſſionen
entgegenzukommen. Er ließ den Mittelſtaaten
das Recht, eigene Geſandte zu halten, denn wenn
man Sonderbeziehungen zum Auslande ſuche, ſo
gäbe es dagegen ohnehin „keinen waſſerdichten
Verſchluß“; man ſchone aber mit dem Zugeſtänd⸗
nis die dynaſtiſche Empfindlichkeit. Ein eigener
„Ausſchuß für auswärtige Angelegenheiten“ im
52
Bundesrat wurde geſchaffen, vermöge deſſen die
Mittelſtaaten die auswärtige Politik des Reichs⸗
kanzlers glaubten kontrollieren zu können, der
aber, wie Bismarck vorausſah, nie praktiſch wer⸗
den konnte. Vor allem wurde die Armee nicht
einheitlich kaiſerlich, ſondern die verjchiedenen Kon⸗
tingente wurden nebeneinander gruppiert oder
durch Einzelkonventionen mit der preußiſchen ver⸗
ſchmolzen. Noch heute iſt nur die Marine, aber
nicht die Armee kaiſerlich. Bayern erhielt eine
Reihe von beſonderen Reſervatrechten.
Trotz alledem mußte die württembergiſche Kam⸗
mer erſt aufgelöſt werden, um die nötige Zwei⸗
drittel⸗Majorität für die Annahme der Verträge
zu ſchaffen, und in Bayern gelang es nur gerade
mit einer Majorität von zwei Stimmen über die
zwei Drittel, das Werk zum Abſchluß zu bringen.
„Das kunſtvoll gefertigte Chaos,“ nannte ſchließlich
der Kronprinz die neue Reichsverfaſſung, aber als,
nachdem König Ludwig von Bayern endlich
den Kaiſerantrag geſtellt hatte, er mit Bis⸗
marck zuſammen das Zimmer König Wilhelms
verließ, da reichten ſie ſich beide die Hand, „mit
dem heutigen Tage ſind Kaiſer und Reich un⸗
53
widerruflich hergeſtellt,“ und der Kronprinz ſetzte
dann ſeinen ganzen Einfluß bei den national⸗
liberalen Abgeordneten ein, damit der Nord⸗
deutſche Reichstag die neue Verfaſſung trotz aller
bayeriſchen Reſervatrechte annehme.
Bismarck ſelbſt aber ſagte am Abend zu ſeiner
Umgebung: „Die Zeitungen werden nicht zu⸗
frieden ſein, und wer einmal in der gewöhnlichen
Art Geſchichte ſchreibt, kann unſer Abkommen
tadeln. Er kann ſagen, der dumme Kerl hätte
mehr fordern ſollen; er hätte es erlangt, ſie hätten
gemußt, und er kann recht haben mit dem Müſſen.
Mir aber lag mehr daran, daß die Leute mit
der Sache innerlich zufrieden waren — was ſind
Verträge, wenn man muß? — und ich weiß,
daß ſie vergnügt fortgegangen ſind. Ich wollte
ſie nicht preſſen, die Situation nicht ausnutzen.
Der Vertrag hat ſeine Mängel, aber er iſt ſo
feſter. Was fehlt, mag die Zukunft ſchaffen. Auch
der König war mit der Sache nicht zufrieden;
er meinte, ein ſolcher Vertrag ſei nicht viel wert.
Ich aber bin anderer Anſicht. Ich rechne ihn
zu dem Wichtigſten, was wir in dieſen Jahren
erreicht haben.“
54
Noch im letzten Augenblick vor der feierlichen
Kaiſerproklamation am 18. Januar 1871 im
Schloſſe von Verſailles kam es zu einem ſo hef⸗
tigen Zuſammenſtoß zwiſchen dem König und
dem Kanzler, daß dieſer kein Wort des Dankes
erhielt, ja der neuproklamierte Kaiſer ſogar ver⸗
mied, den Kanzler anzusprechen.
Während das deutſche Volk mit hoher nationaler
Begeiſterung die Kaiſerproklamation von Ver⸗
ſailles und das neue Deutſche Reich begrüßte und
den alten Barbaroſſa auferſtanden ſah, herrſchte
unter den Werkmeiſtern ſelbſt beim Abſchluß eine
mürriſche, unbefriedigte Stimmung hüben wie
drüben. Ich hebe das ſo ſehr hervor, weil dieſer
Gegenſatz nach vielen Seiten ſo unendlich lehr⸗
reich iſt. Erſt in einem gewiſſen Abſtand gewinnt
man den richtigen Maßſtab für die großen hiſto⸗
riſchen Ereigniſſe, der deshalb den Teilnehmern
ſelbſt häufig fehlt. Noch vieles Beſondere iſt aus
dieſer Erzählung zu lernen: wo das wahre Weſen
der Staatskunſt zu ſuchen iſt, oder daß die Summe
der verſchiedenen Parteien und Richtungen keines⸗
wegs gleichzuſetzen iſt mit dem Volk als Ganzem.
Die Parteien waren mit dem geſchaffenen Werk
55
ſamt und ſonders unzufrieden: die Demokraten
verſchrien die neue Verfaſſung mit ihrem all⸗
gemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht als das
bloße Feigenblatt des nackten Abſolutismus; die
Nationalliberalen vermißten die rechte nationale
Einheit; die Klerikalen betrauerten das Aus⸗
ſcheiden Oſterreichs und die Unterdrückung der
Selbſtändigkeit der deutſchen Stämme; die Kon⸗
ſervativen ſahen das wahre, alte Preußen, den
Hort der Legitimität und der Welt gegen die Re⸗
volution, dahinſchwinden, und faſt am aller⸗
unzufriedenſten war der neue Kaiſer ſelbſt — und
wie glänzend hat das Werk ſich bewährt!
Die gereizte Stimmung, in der dieſe Verhand⸗
lungen ſich abſpielten, und die ſich vom November
bis zum 18. Januar hinzog, ſteigerte ſich nun
gegenſeitig mit einem neuen Zwieſpalt im Haupt-
quartier, der dieſen Wochen trotz des ſo überaus
glücklichen Ausganges einen tragiſchen Zug ver⸗
leiht, und den wir hier nicht übergehen dürfen.
Bis zu dieſem Augenblick iſt uns Bismarck als der
Mann erſchienen, der mit unfehlbarer Sicherheit des
Urteils erkennt, was die Zeit verlangt und erlaubt
und was für die Zukunft heilſam iſt, und der dies
56
richtig Erkannte mit einer ungeheuren Kraft des
Willens, geſchmeidigen Wendungen und immer
neuen Gedanken und Auskünften endlich zum Ziel
führt. Wenn nun aber ein ſolcher Mann ſich auch
einmal irrt und nun dieſelbe Kraft und Klugheit
daran ſetzt, das Falſche durchzuſetzen? Auch das
muß ertragen werden; man hat einen Heros nicht
umſonſt, aber man darf es nicht verſchweigen,
um ſo weniger, als es noch bis auf den heutigen
Tag unheilvoll nachwirkt.
In dem Bewußtſein ſeiner ungeheuren geiſtigen
Überlegenheit und ſeines ſicheren praktiſchen
Blickes hat Bismarck ſich verleiten laſſen, auch auf
ein Gebiet überzugreifen, das er nicht beherrſchte,
nämlich auf die Strategie. Nun iſt die Strategie
keine Geheimlehre, in die ſich nicht auch ein Mann
von ſo klarem und ſicherem Verſtande wie Bis⸗
marck, auch ohne ſpezielle Detailkenntniſſe, hätte
hineinarbeiten können. Wenn er ſich was zugute
darauf tat, daß er 1866 vor Wien den Linksabmarſch
auf Preßburg angeraten habe, ſo war dabei freilich
etwas Illuſion, da Moltke dieſe Bewegung auch
ohne ſeinen Rat ausgeführt haben würde — immer⸗
hin hat er hier einen richtigen Blick gezeigt. Aber
57
an anderen Stellen hat er vorbeigegriffen in einer
Weiſe, die auch dem Außenſtehenden zeigt, daß er hier
nicht zu Hauſe war. Schon bei der Mobilmachung
und beim Aufmarſch 1866 hatte er deshalb gewiſſe
Reibungen mit Moltke. Nach den Geſetzen der
neueren Strategie ſeit Napoleon kommt alles
darauf an, auf dem entſcheidenden Punkt das
Übergewicht zu gewinnen und die Hauptmacht
des Feindes zu zerſtören, auf alle Nebenzwecke
und Nebenkriegsſchauplätze aber nur das Aller⸗
unentbehrlichſte zu verwenden. Gemäß dieſem
Grundſatz hatte Moltke beſchloſſen, für die Ent⸗
ſcheidung in Böhmen alle neun preußiſchen Armee⸗
korps zuſammenzuziehen, gegen die anderen deut⸗
ſchen Staaten nur drei Diviſionen zu beſtimmen
und auch die Rheinlande gegen etwaige Gelüſte
Frankreichs nicht beſonders zu decken, ſondern ſich
darauf zu verlaſſen, daß nach dem Siege in Böh⸗
men die deutſchen Eiſenbahnen ſchnell genug
Truppen wieder an den Rhein transportieren
würden. Moltke hat deshalb auch das rheiniſche
Armeekorps ſelber nach Böhmen gezogen und auf
dieſe Weiſe den unbedingt ſicheren Sieg, der end⸗
lich bei Königgrätz erfochten wurde, ermöglicht.
58
F
Nachdem ſchon der Aufmarſch in dieſer Weile
geordnet war, erfuhr er aber, daß auf Betrieb des
Miniſterpräſidenten das rheiniſche Armeekorps be⸗
ſtimmt worden ſei, zur Deckung der weſtlichen
Grenze zurückzubleiben. Moltke ſetzte durch, daß
ſeine urſprüngliche Anordnung wieder hergeſtellt
wurde.
Für den Feldzug in Weſtdeutſchland hatte
Moltke auch ins Auge gefaßt, daß zunächſt das
ſtärkſte Element in der gegneriſchen Koalition,
nämlich die bayeriſche Armee, geſchlagen werden
müſſe. Bismarck aber gab direkt an Falckenſtein
eine Art von Direktive, die dieſen in die Richtung
auf Frankfurt verwies, was für Falckenſtein gleich
im Beginn Veranlaſſung zu einem Fehler in
bezug auf die hannöverſche Armee wurde. Erſt
das direkte Eingreifen Moltkes brachte auch hier
die Sache wieder in Ordnung.
Als man in Frankreich eingerückt war, bei Metz
geſiegt hatte und von dem Marſch auf Paris
plötzlich die große Schwenkung nach Norden
machte, die ſchließlich nach Sedan führte, ſtieß
dieſe Wendung vielfach auf geringes Verſtändnis.
Nach der Erzählung von Louis Schneider, der
59
es wiſſen konnte, ſoll auch Bismarck ſich dagegen
ausgeſprochen haben.
Mag dieſes Zeugnis vielleicht nicht völlig durch⸗
ſchlagend ſein, ſo iſt doch ſicher, daß nach dem
Siege von Sedan ſich Bismarck wiederholt dahin
geäußert hat, man ſolle nunmehr ſtehenbleiben,
nicht auf Paris vorgehen, ſondern nur die öſtlichen
Departements Frankreichs beſetzen, ſich dort häus⸗
lich einrichten, ſie mit Kontributionen belegen und
das Weitere abwarten. Man ſieht nicht, wie man
bei einer derartigen Strategie Frankreich jemals
hätte bezwingen können, da die Bildung der neuen
Gambettaſchen Armeen um den Kern der Pariſer
Beſatzung herum ſich viel leichter, beſſer und
ſtärker hätte vollziehen müſſen, als es nachher ge⸗
ſchehen iſt. Aber ſelbſt als wir ſchon vor Paris
ſtanden, iſt Bismarck noch öfter auf jenen Gedanken
zurückgekommen und hat den Generalen einen
Vorwurf daraus gemacht, daß ſie die Armee nach
Paris geführt hätten. In der Tat beruhte ja die
Einſchließung von Paris auf einer Vorſtellung,
die ſich nachher als unzutreffend erwies. Moltke
glaubte, daß die franzöſiſche Hauptſtadt im aller⸗
höchſten Fall ſich etwa zehn Wochen lang halten
60
würde und dann aus Mangel an Lebensmitteln
würde kapitulieren müſſen. Eigentlich hoffte er,
ſchon Ende Oktober wieder „in Creiſau Haſen
ſchießen“ zu können. Dieſer Schätzungsfehler iſt um
jo mehr verzeihlich, da, wie wir jetzt wiſſen, der Kom⸗
mandant von Paris ſelbſt, General Trochu, glaubte,
daß in Paris nur für 60 Tage Lebensmittel vor⸗
handen ſeien. In Wirklichkeit aber haben die
Lebensmittel für faſt viereinhalb Monate aus⸗
gereicht. Gerade in dieſem Augenblick, wo Eng⸗
land den Plan betreibt, uns aushungern zu wollen,
wird man ſich nicht ungern daran erinnern, wie
ſehr die ſtatiſtiſchen Aufſtellungen über Lebens⸗
mittelvorräte hinter der Wirklichkeit zurückbleiben
können. Die Folge damals aber war, daß die
Belagerungsarmee vor Paris von einer ſteigenden,
nervöſen Ungeduld ergriffen wurde, weil die Ein⸗
ſchließung nicht zum Ziele zu führen ſchien. Mit der
Armee wurde auch Bismarck unruhig, weil er fürch⸗
tete, daß die längere Dauer des Krieges eine Ein⸗
miſchung der Neutralen herbeiführen könne. Er
forderte alſo ſtärkere Mittel, um die Kraft der Pari⸗
ſer zu brechen, und hier entwickelte ſich nun zwiſchen
ihm und dem leitenden Strategen der Konflikt.
61
Was ich vorher von verfehlten militäriſchen Auf⸗
faſſungen Bismarcks geſagt habe, hat keine weſent⸗
lichen Folgen gehabt und dient nur als Beweis, daß
er wirklich auf dieſem Gebiet nicht beſchlagen war.
Jetzt aber ſetzte er die ganze Gewalt ſeines Willens
dahinter, um Moltke zu zwingen, ſich ſeinen An⸗
ſichten zu unterwerfen.“)
Auch Moltke hat zuweilen daran gedacht, daß,
wenn die Aushungerung nicht zum Ziele führte,
man zur Belagerung ſchreiten könne und ſchon auf
dem Marſche von Sedan nach Paris Anordnungen
erlaſſen, um ſchwere Geſchütze herbeizuführen. Aber
allmählich war ihm klar geworden, daß er damit in
einen inneren Widerſpruch geraten jei. Wenn man
überhaupt belagern und bombardieren wollte, ſo
mußte man es von Anfang an tun, ſobald es irgend
erreichbar war. Je länger aber die Einſchließung
dauerte, deſto näher mußte man naturgemäß dem
Termine kommen, wo die Aushungerung ihr Ziel
erreichte, deſto überflüſſiger alſo wurde das Schie⸗
*) Die letzte abſchließende Arbeit über dieſe Frage dürfte
ſein: „Roon und Moltke vor Paris“ von Emil Da⸗
niels, Preuß. Jahrb. Bd. 121 (1905) auf Grund des Buches
von Guſtaf Lehmann „Die Mobilmachung von 1870“.
62
Ben. Es war aber nicht nur überflüſſig, ſondern
auch in hohem Grade ſchädlich. Nicht nur, weil es
uns eine Menge braver Offiziere und Soldaten
koſtete, den Artilleriſten furchtbare Strapazen in
den mit Eiswaſſer gefüllten Gräben auferlegte,
ſondern namentlich auch die Verbindungsbahn
mit Deutſchland und die Transportmittel ſo in
Anſpruch nahm, daß der allgemeine Kriegszweck
darunter litt. Moltke befeſtigte ſich alſo immer mehr
in dem Gedanken, ſich vor Paris auf die reine Ein⸗
ſchließung zu beſchränken, um gegen die franzöſiſchen
Feldarmeen, die Gambetta mittlerweile auf die
Beine gebracht hatte, um ſo kräftigere Schläge
führen zu können. Wenn er zuweilen auch wieder
entgegengeſetzte Außerungen gemacht hat, ſo
braucht das noch keine innere Unſicherheit zu be⸗
deuten, ſondern iſt eine Art Abwehr überflüſſiger
Diskuſſionen in der beſtimmten Erwartung, daß
der Fortgang der Ereigniſſe ſchneller ſein und Paris
bald genug fallen würde. Er war hierin mit allen
an der Leitung beteiligten Militärs im Großen
Hauptquartier durchaus einig. Die drei Quartier⸗
meiſter Bronſart, Verdy, Brandenſtein, nicht anders
als der Chef der Artillerie Hinderſin und der Chef
63
des Ingenieurweſens Kleiſt, beſonders aber Blu⸗
menthal, der Chef des Generalſtabes des Kron⸗
prinzen, ſtimmten ihm durchaus zu. Dieſer hat
ſogar den kühnen Gedanken gehabt, den übrigens
auch, was nicht unerwähnt bleiben ſoll, als Zeug⸗
nis ſeines ideenreichen Genius, Bismarck ſelbſt
einmal ausgeſprochen hat, daß die Einſchlie⸗
ßungsarmee noch um zwei weitere Korps ge⸗
ſchwächt werden ſolle, um ſofort (noch vor dem
Fall von Metz) eine ſtarke Feldarmee zu bilden, die
die franzöſiſchen Neuformationen nicht bloß abge⸗
wehrt, ſondern ſie zerſtreut hätte, ehe ſie fertig
waren. In einer vorzüglichen Denkſchrift ent⸗
wickelte Blumenthal, daß theoretiſch das einzig
Mögliche neben der Aushungerung die förmliche
Belagerung ſei, daß zu dieſer aber, nachdem nicht
gleich von Anfang an dafür geſorgt war, die Mittel
fehlten, und daß ein Bombardement des Stadt⸗
inneren, das überhaupt nur kleinere Teile von
Paris erreichen könne, völlig wirkungslos bleiben
müſſe. Er wies auf Grund ſeiner eigenen Erfah⸗
rungen und der Kriegsgeſchichte nach, daß was
den „Schießern“ als eine beſonders ſchneidige
Maßregel erſchiene, in Wirklichkeit eine klägliche
64
Halbheit war — eine Verwechſelung übrigens, die
in Politik und Kriegführung ungemein häufig
auftritt.
Roon hatte, ſoweit als möglich, in der Heimat
rechtzeitig für die Bereitſtellung von Geſchütz,
Munition und Transportmitteln geſorgt. Moltke
aber iſt es geweſen, der die Heranführung verhin⸗
derte, weil er eben den artilleriſtiſchen Angriff
ebenſo wie das Bombardement für unnötig hielt,
die poſitive Aktion allein bei den Feldarmeen
ſuchte und deshalb auch die Eiſenbahnen für dieſe
und ihre Bedürfniſſe reſervierte. Vor allem aber
war ihm die Belagerungsaktion aus dem höheren
ſtrategiſchen Geſichtspunkt ungelegen, weil ſie die
Einſchließungsarmee feſtlegte und die Freiheit
ihrer Bewegungen aufhob. Es war doch nicht
unmöglich, daß eine der Gambettaſchen Armeen
einmal bis nahe vor Paris herankam; in dieſem
Fall hatte der deutſche Feldherr ſich vorgenommen,
die Einſchließung auf einige Tage zu unterbrechen,
um die feindliche Feldarmee mit geſammelter
Kraft anzufallen und möglichſt vernichtend zu
ſchlagen. Hatte man nun vor Paris ſchon Hun⸗
derte von ſchweren Geſchützen aufgefahren, ſo
B Delbrück, Bismarcks Erbe 65
war das nicht mehr ausführbar, oder man hätte
dieſe Geſchütze alle opfern müſſen.
Als der Hauptſchuldige an dem Ausbruch des
Konflikts iſt inſofern Roon zu betrachten, als er,
als ein hervorragender General, die Einſicht hätte
haben müſſen, daß Moltke im Recht war, und
wenn er dann in dieſem Sinne auf Bismarck
eingewirkt hätte, ſo würde dieſer ſich wohl be⸗
4 ˙ WERE ET
ruhigt haben. Statt deſſen finden wir, daß ge⸗
rade Roon es iſt, der Bismarck aufgereizt und ſich
mit ihm ſozuſagen wechſelſeitig in die äußerſte
Leidenſchaft geſteigert hat. Von militäriſcher Seite
hat man zu ſeiner Entſchuldigung anführen wollen,
daß er damals krank und körperlich ſehr herunter
geweſen ſei. Ohne das beſtreiten zu wollen,
glaube ich doch, daß die Erklärung pfychologiſch an
einer anderen Stelle zu ſuchen iſt. Roon war ſeit
der Konfliktszeit der eigentliche militäriſche Ver⸗
traute des Königs. Noch beim Aufmarſch 1866
waren die Dispoſitionen Moltkes nur durch Ver⸗
mittlung Roons vor den König gebracht und in
Befehle verwandelt worden. Erſt in dieſer Zeit
erhielt Moltke den unmittelbaren Vortrag beim
König und gewann durch den Erfolg von 1866 die
66
unerſchütterliche Autorität. Damit aber war Roon
im Hauptquartier ſozuſagen funktionslos. Der
Kriegsminiſter, hat Moltke ſpäter einmal geſchrie⸗
ben, gehöre überhaupt nicht ins Hauptquartier,
ſondern müſſe von ſeinem Miniſterium aus in
Berlin das Adminiſtrative der Armee dirigieren.
Ein hervorragender Mann aber im Hauptquartier,
der ſelber keine Verantwortung hat, wird natur⸗
gemäß zum Kritiker, um ſo mehr, als die Kritik
ja wohl auch nicht ſelten recht behalten wird. Roon
aber war, ſo genial er ſich als militäriſcher Organi⸗
ſator und parlamentariſcher Vertreter bewährte,
überhaupt kein Stratege. Er hat noch gegen Ende
des Krieges 1870, als Moltke für einen letzten Druck
weitere Verſtärkungen verlangte, ihm den Grund⸗
ſatz entgegengehalten, die Strategie müſſe beſchei⸗
dener ſein und ſich nach den vorhandenen Mitteln
richten. Er ſpottete darüber, daß man wohl gar
bis an die Pyrenäen wolle, und erklärte ſich außer⸗
ſtande, weitere Truppenteile aufzuſtellen, ſo daß
der Generalſtab ihm entgegenhalten mußte, wie
doch Gambetta ganze Armeen aus der Erde
ſtampfe. Dabei verlangte Moltke nichts, als daß
die Landwehrbataillone, die in Deutſchland zur
3* | 67
Bewachung der Gefangenen gebraucht wurden,
nach Frankreich gezogen und durch Landſturm⸗
formationen erſetzt würden. Moltkes Idee, die
Einſchließung von Paris auf den geringſtmög⸗
lichen Kraftaufwand zu beſchränken, um die fran⸗
zöſiſche Feldarmee um ſo ſtärker zu treffen, ver⸗
ſtand Roon ſo wenig, daß er ſich mit Bismarck zu⸗
ſammen in den Verdacht verbohrte, es müßten hier
irgendwelche unlautere Motive dahinterſtecken. |
Dieſer Verdacht verdichtet ſich endlich zu der
Vorſtellung, daß der König ſich durch eine falſch
angebrachte Humanität beſtimmen laſſe, für die
er wieder die Königin Auguſta verantwortlich
machte, und wenn der Kronprinz in dieſem Punkt
mit ſeinem Vater übereinſtimmte, ſo ſollte die
ee
a ee r
Kronprinzeſſin Viktoria daran ſchuld fein. Da nun
mit ſachlichen Gründen gegen die Autorität
Moltkes beim König nichts auszurichten war, jo
ſcheute ſich Bismarck nicht, ſeinen Verdacht als
poſitive Behauptung in die deutſche Preſſe bringen
zu laſſen, und erregte damit natürlich im Volk wie
in der Armee einen ungeheuren Sturm gegen die
weiblichen Einflüſſe, die das „Mekka der Zivili⸗
ſation“ auf Koſten des Blutes deutſcher Soldaten
68
ſchonen wollten. Freilich Moltkes Autorität
war damals ſchon ſo groß, daß ſie mit ſolchen
Mitteln nicht wohl zu untergraben war, und Bis⸗
marck war deshalb klug genug, den Namen Molt⸗
kes nicht direkt hineinzuziehen, ſondern lenkte den
Volkshaß zunächſt auf den General Blumenthal,
der zufällig auch mit einer Engländerin verheiratet
war, und Worte Bismarcks haben naturgemäß
eine ſolche Kraft, daß noch heute in weiten Kreiſen
unſeres Volkes das Andenken Kaiſer Wilhelms
und Kaiſer Friedrichs, ebenſo wie das der beiden
großen Strategen Moltke und Blumenthal mit
dem Vorwurf einer unmännlichen Weiberknecht⸗
ſchaft und eines charakterloſen Byzantinismus be⸗
fleckt iſt. Hat ſich doch ſogar ein Hiſtoriker gefunden,
der den Schluß gemacht hat, daß, da Männer wie
Bismarck und Roon einen derartigen Verdacht
gehabt, bewahrt und ausgeſprochen, es ausge⸗
ſchloſſen ſei, daß er rein aus der Luft gegriffen
worden. Von Moltke und Blumenthal aber meint
derſelbe Hiſtoriker, man könne es kaum glauben,
daß man hier dieſelben Männer vor ſich habe, deren
Geiſt und Kühnheit ſich 1866 und 1870 ſonſt ſo
glänzend bewährte. Noch am Schluß des Feld⸗
69
zuges hat, wie man weiß, Moltke in den unerhört
kühnen Anweiſungen an Werder und Manteuffel
ſeinen ſtrategiſchen Genius ſo großartig wie je
offenbart: derſelbe Hiſtoriker weiß ſich ſeine Stra⸗
tegie vor Paris nicht anders als durch eine
„Ebbe im Wollen“ zu erklären. Erholen wir uns
von einer ſolchen Degradierung unſeres Feld⸗
herrn mit ſeinem eigenen kräftigen Wort, das
uns der Kabinettsrat v. Wilmowski in ſeinen Brie⸗
fen berichtet (22./11.), „es jei der dümmſte Streich
in dieſem Kriege, daß man überhaupt Belagerungs⸗
geſchütze nach Paris habe transportieren laſſen“.
Bismarck und Roon haben ſchließlich ihren Willen
beim König durchgeſetzt, Moltke hat nachgeben
müſſen, hat es getan, weil man, wie er ſagte, vor
Europa engagiert ſei, und wohl auch in der Vor⸗
ſtellung, daß ſchließlich der innere Friede im Haupt⸗
quartier auch eine ſehr wichtige Rückſicht jei. Aber
Blutvergießen und Anſtrengungen ſind vergeblich
geweſen. Die franzöſiſchen Außenforts hat man
niedergekämpft, aber die eigentliche Befeſtigung,
die Stadtumwallung hatte man kaum berührt, das
Bombardement hat fo gut wie keine Wirkung ge⸗
habt, und nicht um eine Stunde früher hat Paris
70
deshalb kapituliert, ſondern iſt ausſchließlich dem
Hunger erlegen.
Eine unerhörte Gunſt des Schickſals hat Preußen
damals gleichzeitig den genialen Staatsmann und
den genialen Strategen beſchieden und dazu den
König, der ſich ſtets über dieſen ſeinen beiden
Dienern in ſeiner königlichen Würde zu behaup⸗
ten wußte. Man verdunkelt nicht nur die Wahrheit,
ſondern nimmt der Epoche auch ein Stück ihrer
Größe, wenn man die Grenzen zwiſchen den drei
Perſönlichkeiten verwiſcht und möglichſt alle Eigen⸗
ſchaften allen dreien zuteilt. Es genügt deshalb
nicht zu ſagen, Bismarck war der Staatsmann,
Moltke war der Stratege, ſondern man vertieft
die Umriſſe der hiſtoriſchen Geſtalten, indem man
hinzufügt: Bismarck war kein Stratege und Moltke
war kein Politiker“); König Wilhelm brauchte
keins von beidem zu ſein, er war und blieb der
König. Freilich ergibt ſich nun daraus, daß ſie
nicht nur nebeneinander, ſondern auch häufig gegen⸗
einander kämpften. Das iſt die Tragik der Welt⸗
) Vgl. den ſchönen Aufſatz von Rudolf Peſchke,
„Moltke als Politiker“, Preuß. Jahrb. Bd. 158, S. 16
(Okt. 1914).
71
geſchichte. Mit der preußiſchen Armee hat Bis-
marck ſeine großen idealen Ziele erreicht, und ohne
ſie hätte er ſie nicht erreichen können. Die ganzen
„Gedanken und Erinnerungen“ aber ſind erfüllt
von unfreundlichen, zuweilen geradezu feindſeligen
Außerungen über „die Militärs“. Umgekehrt finden
wir z. B. auch von Manteuffel aus dem Jahre
1870 eine Außerung zu Stoſch über Bismarck, „es
ſei eine Schande, daß ein ſolcher Politiker mehr
Einfluß habe als die Heerführer und Generale“,
und auch zwiſchen Bismarck und Moltke iſt ein
freundſchaftliches Verhältnis nie wiederhergeſtellt
worden. Wie könnte es auch anders ſein? Noch
in feinen „Gedanken und Erinnerungen“ hat Bis⸗
marck geſchrieben: „Es iſt nicht anzunehmen, daß
die übrigen Generale von rein militäriſchem Stand⸗
punkt anderer Meinung als Roon ſein konnten“
Wie könnte man jemandem, den man ſolcher Sünde
anklagt, jemals wieder freundlich geſinnt ſein, und
wie könnte jemand, dem ein ſolcher Vorwurf ge⸗
macht iſt, ihn jemals verzeihen?
Als Bismarck im Reichstag die ſchmerzbewegte
Anſprache über das Ableben Kaiſer Wilhelms ge⸗
halten hatte, reichte ihm Moltke die Hand, aber
72
irgendein freundlich anerkennendes Wort aus feinem
Munde über den großen Genoſſen iſt nicht erhalten,
und in der Geſchichte des franzöſiſchen Krieges aus
Moltkes Feder kommt der Name Bismarcknicht vor“).
*) Ich freue mich, daß auch Erich Marcks in ſeinem
Lebensbild „Otto v. Bismarck“, S. 127 den Verdacht der
unſachlichen weiblich⸗engliſchen Einflüſſe mit Entſchieden⸗
heit abweiſt. Wenn er trotzdem Bismarck in der mili⸗
täriſchen Frage recht geben will, ſo kann er ſich darauf
berufen, daß auch viele Militärs heute noch ſo urteilen.
Wenn er aber den Grund für das Verſagen Moltkes und
Blumenthals in dieſer Frage darin findet, daß ſie keine
Artilleriſten geweſen ſeien, jo hat er ſich wohl nicht klarge⸗
macht, daß das techniſche Moment bei dem Streit kaum eine
Rolle ſpielte, und daß es heißt, unſere Feldherren ſehr ge⸗
ring einſchätzen, wenn ſie nicht imſtande geweſen ſein
ſollten, ſich über die artilleriſtiſchen Fragen bei ihren Fach⸗
beratern genügend zu orientieren. Das wird nicht nur
von jedem Diviſionskommandeur, ſondern ſchon von jedem
Fähnrich auf der Kriegsſchule verlangt. Zu dem allen dachte
der erſte Artilleriſt der Zeit, General v. Hinderſin, ganz
ähnlich wie Moltke, meinte ſchon am 9. November, „der
Hunger werde wohl mit den erſten Schüſſen zuſammenfallen“,
und bekämpfte in dem großen Kriegsrat am 17. Dezember
„die Anſicht des Kriegsminiſters, ſchon aus den jetzigen
Batterien auf ſo weite Entfernungen Paris zu bombardieren
und nannte dies einen bloßen Bombardementskitzel, mit
dem man ſich der Lächerlichkeit ausſetze“. Auch der Chef
der Artillerie der III. Armee, Generalleutnant Herkt, war
gegen das Bombardement. Die Leitung des artilleriſtiſchen
Angriffs übernahm ſchließlich ein junger Generalmajor,
Prinz Kraft Hohenlohe.
73
Die Kanzlerſchaft Bismarcks nach dem Kriege
zerfällt in zwei ſehr verſchiedene Abſchnitte. Der
eine wird beſtimmt durch den Kulturkampf, der
andere durch den Schutzzoll, das Sozialiſtengeſetz
und die Sozialreform. f
Den Anlaß zum Kulturkampf gab die Bildung |
der Zentrumspartei im Jahre 1870. Es war die ö
Fortſetzung der alten katholiſchen Partei, die ſchon
in der Konfliktszeit eine weſentliche Rolle geſpielt
hatte, und auch wieder nicht. Zwar bildete der
Katholizismus und die Maſſe des katholiſchen Teils
der Staatsbürger das Gros der neuen Partei;
nichtsdeſtoweniger lehnte ſie es ab, eine prinzipiell
katholiſche Partei zu ſein, und ſtellte als ihr eigent⸗
liches Weſen die Verteidigung des Föderalismus
gegen die unitariſchen Tendenzen des neuen Reichs
hin. Das hätte nun Bismarck an ſich nicht zuwider
zu ſein brauchen, denn auch er war ja keineswegs
ein Unitarier. Dennoch ſah er in der neuen Grün⸗
dung einen Akt der Reichsfeindlichkeit, denn in
der neuen Partei fand ſich alles zuſammen, was
der Reichgründung widerſtrebt hatte, die Parti⸗
kulariſten, die die Wiederherſtellung Hannovers
forderten, die Großdeutſchen, die den Ausſchluß
74
Oſterreichs nicht wollten, die Katholiken, die in
Preußen den Proteſtantismus bekämpften, Reak⸗
tionäre, Demokraten, Altliberale und Ariſtokraten.
Das Verhältnis der katholiſchen Kirche zum Preu⸗
ßiſchen Staat hat alle möglichen Wandlungen
durchgemacht: Feindſeligkeit, gegenſeitige Dul⸗
dung, Freundlichkeit, letztere namentlich unter
König Friedrich Wilhelm IV. Bismarck aber ſah
es ſchon früh unter dem Geſichtspunkt der prinzi⸗
piellen Feindſeligkeit. Schon als Bundestags⸗
geſandter in Frankfurt ſchrieb er an ſeinen Freund
Gerlach: „Ich betrachte dieſe ecclesia militans als
unzweifelhaften Feind, der Preußen bis auf die
Exiſtenz ſelbſt als ketzeriſchen Mißbrauch bekämpft“,
und in einem weiteren Brief (20. Januar 1854):
„Es iſt nicht ein chriſtliches Bekenntnis, ſondern
ein heuchleriſcher, götzendieneriſcher Papismus,
voll Haß und Hinterliſt, der hier im praktiſchen Le⸗
ben von den Kabinetten der Fürſten und ihrer
Miniſter bis in die bettfederigen Myſterien des
Eheſtandes hinab einen unverſöhnlichen, mit den
infamſten Waffen geführten Kampf gegen die
proteſtantiſchen Regierungen und beſonders Preu⸗
ßen als die weltlichen Bollwerke des Evangeliums
75
unterhält.“ „Wir betrachten mit Recht die ultra⸗
montane Partei als unſeren unverſöhnlichſten und
als einen unſerer gefährlichſten Gegner.“
In die Verhandlungen des Konzils einzugreifen,
das 1870 in Rom tagte, um die Infallibilität des
Papſtes zu beſchließen, lehnte er nichtsdeſtoweniger
ab, ſpielte, als die Italiener Rom beſetzt hatten,
ſogar mit dem Gedanken, dem Papſt eine Zuflucht
in Deutſchland anzubieten, und verhandelte in
Verſailles mit dem Erzbiſchof Ledochowski. Aber
als nun in demſelben Augenblick, wo das Deutſche
Reich geſchaffen wurde, die Zentrumspartei ſich
bildete, erkannte Bismarck in ihr den alten Gegner,
nur noch durch andere reichsfeindliche Elemente
verſtärkt, und ging ſeiner Art nach ſchnell zum An⸗
griff über.
An die Stelle des reaktionären Kultusminiſters
von Mühler trat der liberale Falk, und es erfolgte
eine Reihe von Geſetzen, die den katholiſchen
Klerus und die katholiſche Erziehung in ſtrengere
Abhängigkeit von der Staatsregierung bringen und
mit deutſchnationaler Bildung erfüllen ſollten.
Die Katholiken erblickten darin, und wie wir jetzt
nicht mehr anſtehen dürfen zu ſagen, mit Recht
76
eine Vergewaltigung. Bismarck hat ſpäter die
Verantwortung für dieſe Art den Kampf zu führen
von ſich abzuwälzen und auf die Räte des Kultus⸗
miniſteriums zu ſchieben geſucht. Aber ohne jede
Berechtigung; gewiß hat er ſich nicht um jede
Einzelheit der Geſetzgebung gekümmert, aber der
Geiſt, der ſie erfüllte, ging von ihm aus, wie der
Oberhofprediger Kögel es ausdrückte, „Bismarck
ſoufflierte und Falk deklamierte, Bismarck ver⸗
ſchrieb die Pulver und Falk drehte die Pillen.“
Wo er einmal kämpfte, kämpfte er ſcharf, ganz wie
in der Konfliktszeit, und gerade er iſt es geweſen,
der im Kultusminiſterium immer von neuem zu
den äußerſten Maßnahmen drängte und ſie for⸗
derte.“
Trotzdem iſt es ſehr wohl möglich, daß er von
Anfang an die Kampfgeſetzgebung nicht als etwas
Dauerndes, ſondern eben nur als ein Kampfmittel
angeſehen hat, beſtimmt, irgendwie und irgendwann
einmal einen annehmbaren Frieden herbeizu⸗
führen. Schon im Jahre 1874 beauftragte er den
*) Das iſt bekannt bei denen, die noch eine Erinnerung
an dieſe Zeit haben und ausdrücklich bezeugt bei Tiedemann,
„Sechs Jahre“, S. 477.
77
ſächſiſchen Geſandten v. Frieſen, feinem, wie man
weiß, katholiſchen König zu ſagen, er ſei ganz un⸗
ſchuldig an den Maigeſetzen; er habe die Entwürfe
unterzeichnet, ohne ſie geleſen zu haben. Wir
haben denſelben Mann und dieſelbe Methode, wie
er einſt den Liberalismus bekämpft. Bei dieſen
wußte er, daß er nicht nur einmal mit ihnen Frie⸗
den ſchließen werde, ſondern daß ſie ſogar ſeine
Freunde werden ſollten. Trotzdem ſchlug er ſich
mit ihnen bis aufs Blut. Gegen das Zentrum hatte
er einen wirklichen innerlichen Haß. Wenn er an
einen zukünftigen Friedensſchluß dachte, ſo ſtellte
er ſich dieſen doch nur als einen Waffenſtillſtand
vor. Nicht nur die Politik, ſondern auch den evan⸗
geliſchen Glauben rief er auf zum Kampf, und es
ſchien nicht anders, als ob ein Religionskrieg das
ſchließliche Ende ſein werde.
Die deutſchen Katholiken, meiſterhaft ka
von dem ehemaligen hannoverſchen Miniſter
Windthorſt und einer ganzen Reihe ſehr bedeuten⸗
der Perſönlichkeiten, wehrten ſich auf das ſtand⸗
hafteſte. Die Gemeinden beſteuerten ſich ſelbſt,
um die Geiſtlichen, denen die Einkünfte geſperrt
waren, zu erhalten. Zahlreiche Geistliche wurden
78
abgeſetzt, mußten ihre Gemeinden verlaſſen, die
nun verwaiſten. Gegen viele andere wurde mit
Geld⸗ und Gefängnisſtrafen vorgegangen, ebenſo
gegen die Zeitungsredakteure. Auch die Biſchöfe
wurden für abgeſetzt erklärt und mit Gefängnis⸗
ſtrafen belegt: der Biſchof Brinkmann von Münſter
hat 40 Tage, Erzbiſchof Melchers von Köln über
6 Monate, Eberhard von Trier faſt 7 Monate,
Martin von Paderborn 8 Monate, Erzbiſchof
Ledochowski von Poſen volle 2 Jahre im Ge⸗
fängnis zubringen müſſen. An vielen Orten konn⸗
ten den Katholiken nicht mehr die Sakramente ge⸗
ſpendet werden; ſie konnten ihre Toten nicht mehr
kirchlich begraben.
Der Zuſtand wurde allmählich unerträglich. Bis⸗
marck hatte im Beginn des Kampfes nicht nur die⸗
jenigen Liberalen als Bundesgenoſſen gehabt, die
in jeder Kirche und im beſonderen in der katho⸗
liſchen nichts als ein großes Syſtem des Aber⸗
glaubens ſahen, ſondern auch ſehr ernſthaft reli⸗
giöſe Kreiſe, die in der 1870 erfolgten Proklamation
der päpſtlichen Infallibilität einen Angriff ſowohl
auf die Souveränität des Staates wie auf den
innerlichen chriſtlichen Charakter des Katholizis⸗
79
mus ſelber erblickten und den deutſchen Katholiken
dagegen zu Hilfe zu kommen meinten; daneben
auch umgekehrt eifrige Proteſtanten, die das
Auflodern des alten Papſthaſſes in ſich ſpürten.
Aber es gab doch auch ſeit den Zeiten der Romantik
evangeliſch⸗gläubige Kreiſe, die mehr die chriſtliche
Gemeinſchaft mit den Katholiken als die Gegner⸗
ſchaft empfanden, ſich jedenfalls ihnen viel näher
verwandt fühlten als den gottloſen Liberalen und
den Juden, die ſich eifrig am Kampfe beteiligten.
Je länger der Kulturkampf dauerte, deſto mehr
wandten ſich die Konſervativen, die ſich ja ſchon
ſeit 1866 durch Bismarcks Konzeſſionen nach links
beunruhigt fühlten, von ihm ab. Selbſt Roon hatte
ſchon bei Abſchluß des Friedens mit Frankreich ge⸗
ſchrieben (6. Februar 1871), er könne ſich in dem
auf⸗ aber noch nicht ausgebauten kaiſerlichen Schau⸗
ſpielhauſe nicht zurechtfinden; die alten Heilig⸗
tümer würden zerſtört und ein neuer Tempel ge⸗
baut, deſſen Oberprieſter ſelbſt den alten Kultus
aufzuopfern trachte; er vermiſſe den Boden, auf
dem eine konſervative Partei der Zukunft ſich auf⸗
bauen lönne; die alte patriarchaliſch⸗konſervative
Staatsidee gehe zugrunde. Roon zog ſich endlich
80
zurück und nahm den Abſchied. Von der äußerſten
Rechten ging man vor zu den gehäſſigſten perſönlichen
Angriffen gegen den Reichskanzler, und Ludwig
v. Gerlach ſprach gegen die Umwandlung des
Zeughauſes in eine Ruhmeshalle, weil man nicht
in einer Zeit des Ruhmes, ſondern der „nationalen
Trauer und Buße“ lebe.
Bismarck wurde dadurch nur noch mehr nach
links gedrängt und wünſchte, nachdem er die
Nationalliberalen gewonnen, ſich auch mit der Fort⸗
ſchrittspartei auszuſöhnen (1874). Mehrfach ſetzte
er ſich im Reichstag demonſtrativ zu ihnen auf ihre
Bänke und begann freundliche Unterhaltungen,
beſonders mit Franz Duncker. Er klagte über die
Friktionen bei Hofe; das Reich müſſe beſſer kon⸗
ſolidiert werden; ohne ſie ſei eine verſtändige Mehr⸗
heit nicht zu erzielen. Aber das Liebeswerben war
umſonſt. Der Abgeordnete Freiherr v. Hoverbeck
warnte ſeine jüngeren Fraktionsgenoſſen ausdrück⸗
lich, jemals etwas auf die Schmeichelreden des
Meiſters in jeder Verſtellungskunſt zu geben.
Nichtsdeſtoweniger trat Bismarck im Jahre 1877
noch näher an die Liberalen heran und bot Bennig⸗
ſen einen Sitz im Miniſterium an. Aber ſofort zeigte
81
ſich, daß ſoweit der Reichskanzler ſich auch von den
Konſervativen entfernt hatte, ihn von den Liberalen
doch immer noch ein breiter Graben trennte. Auf
der einen Seite verlangte Bennigſen, daß mit ihm
die beiden anderen Führer der Nationalliberalen,
Forckenbeck und Stauffenberg, in die Regierung
berufen würden, auf der anderen ging der Miniſter
Graf Eulenburg direkt an den Kaiſer, um ihn vor
einer derartigen völligen Liberaliſierung der Re⸗
gierung zu warnen und zu behüten. Es wäre ſo
etwas wie der Übergang in das parlamentariſche
Regierungsſyſtem geworden, und wie lange hätte
Bismarck ſelber das ertragen? Preußen vor der
parlamentariſchen Regierung zu bewahren, hatte
er ja 1862 in allen Wettern und Wirbeln das
Staatsruder ergriffen. Denn die Nationallibe⸗
ralen, obgleich ſie ſeit 1866 um des Vaterlandes
willen Kompromiß auf Kompromiß mit ihm ge⸗
ſchloſſen hatten, grundſätzlich hielten ſie doch noch an
den Idealen des parlamentariſchen Majoritäts⸗
regimentes feſt und ſuchten vermöge des Geld⸗
und Steuerbewilligungsrechts die Macht in die
Hand zu bekommen. Nach liberaler Tradition war
die Haupttugend eines Volksvertreters, zu ſparen
82
und an dem von der Regierung vorgelegten Etat,
beſonders an dem Militäretat, zu ſtreichen. Steuern
wollte man nicht bewilligen, nicht nur, um es mit
den Wählern nicht zu verderben, ſondern auch
um die Regierung in Abhängigkeit zu erhalten.
Bennigſen brachte einmal einen Antrag, einen
Kaffeezoll zwar zu bewilligen, ihn aber beweglich
zu machen, ſo daß es jedes Jahr in der Hand der
Reichstagsmajorität gelegen hätte, die Höhe zu
beſtimmen.
Obgleich die Geſetzgebungsarbeit im Reich rüſtig
fortſchritt, z. B. die großen Juſtizgeſetze jetzt
zur Verabſchiedung gelangten, ſo fühlte ſich Bis⸗
marck doch in einer großen Bedrängnis zwiſchen
den Liberalen mit ihren unerfüllbaren Anſprüchen
auf der einen und dem Zentrum mit ſeiner
Todfeindſchaft auf der anderen. Die Wirkung
zeigte ſich beſonders an den Finanzen des Reiches,
die ohne neue Steuern nicht in Ordnung zu halten
waren. Etwa zwei Jahre lang ſuchte und taſtete
der Kanzler, wie er ſich und ſeine Politik vor dem
Reichstag retten könne. Schon im Herbſt 1876
meldete Blankenburg an Roon: Bismarck will los
von den Liberalen, aber bis in das Jahr 1878
83
hinein zogen ſich ſeine wiederholt aufgenommenen
Verhandlungen mit Bennigſen. Endlich zeigten
ſich dem weitausſchauendem Blicke des Staats⸗
manns in den Verſchiebungen der Weltverhält⸗
niſſe wie des Volkslebens die Möglichkeiten neuer
Kombinationen.
Seit dem Jahre 1874 laſtete ziemlich auf der
ganzen Kulturwelt eine Wirtſchaftskriſis, über
deren Urſachen die Wirtſchaftsforſcher auch heute
noch nicht einig ſind. Man wird wohl annehmen
dürfen, daß mehrere Umſtände zuſammengewirkt
haben, die Kriſis ſo außerordentlich langwierig
und hartnäckig zu machen. In erſter Linie dürfte
es eine Währungskriſis geweſen ſein. Die fran⸗
zöſiſche Regierung hatte den Krieg von 1870 zum
großen Teil mit Papierzeichen bezahlt und da⸗
durch die Umlaufsmittel ſehr vermehrt, die nun
allmählich wieder eingezogen wurden. Gleichzeitig
gingen unter dem Vorantritt Deutſchlands die
Staaten allmählich von der Doppelwährung oder
Silberwährung zur reinen Goldwährung über,
demonetiſierten das Silber und ſchränkten dadurch
die Umlaufsmittel noch weiter ein. Schließlich
nahm die Goldproduktion fortwährend ab und
84
ſank bis auf etwa 400 Millionen Mark jährlich
(jetzt nach Entdeckung der neuen Goldbergwerke
beträgt ſie etwa zwei Milliarden). Durch die ver⸗
ſchiedenſten Arten von Kreditmitteln und Geld⸗
ſurrogaten kann man nun freilich den Gebrauch
des baren Geldes ſehr einſchränken, aber die Ein⸗
führung ſolcher Hilfsmittel muß ſich immer erſt
den Volksgewohnheiten anpaſſen und erfordert
eine gewiſſe Zeit. Der Mangel an genügenden
Umlaufsmitteln dürfte daher den erſten Anſtoß zur
Kriſis von 1874 gegeben haben. Es kam aber
hinzu, daß gleichzeitig im Laufe der ſiebziger Jahre
in Amerika immer neue, ungeheure Gebiete der
Landwirtſchaft erſchloſſen wurden und der fort⸗
ſchreitende Handel und die fortſchreitende Tech⸗
nik die Frachtkoſten ſehr verbilligten, ſo daß
die europäiſchen Landwirte die Preiſe, die allen
Gutskäufen, Übernahmen und Pachtungen zu⸗
grundegelegt zu werden pflegten, nicht mehr
zu erzielen vermochten. Ein allgemeiner Preis⸗
druck ſetzte ein, ſo groß, daß ſchließlich auch
die Konſumenten darunter litten, weil eine
allgemeine Stockung die Arbeitsmöglichkeiten
unterband.
85
Indem Bismarck in feiner Varziner Einſamkeit
erwog, wie das deutſche Wirtſchaftsleben wieder
zu heben und künftighin vor ſolchen Schädigungen
zu bewahren ſei, gelangte er zu dem ehedem ſo viel
angewandten Mittel des Schutzzolles. Die preu⸗
ßiſchen Konſervativen waren bis dahin durchaus
freihändleriſch geſinnt, da Preußen noch vor⸗
wiegend Agrarſtaat und auf den Export ſeines über⸗
ſchüſſigen Getreides angewieſen war. Etwa um
die Mitte der ſiebziger Jahre hörte das auf. Es
war alſo möglich, auch der Landwirtſchaft mit
einem Schutzzoll beizuſpringen.
Hier fand die ſchöpferiſche Kraft des Bismarck⸗
ſchen Geiſtes ihr Feld. Eine aus Agrariern und
Induſtriellen formierte ſchutzzöllneriſche Bewegung
mußte das ganze bisherige Parteiweſen erſchüttern
und umwerfen.
Hätte es ſich freilich darum gehandelt, den Grund⸗
beſitzern durch Verteuerung des Brotes auf Koſten
der großen Maſſen einen Vorteil zuzuwenden, ſo
hätte dieſe Politik ſchwerlich Erfolg haben können,
aber was zu erzielen war, war ja nur die Bewah⸗
rung des Standes der Grundbeſitzer vor einem
Schaden, den ihnen eine Weltkonjunktur zuzu⸗
86
fügen drohte, und dafür ließen ſich nicht nur die
Induſtriellen auf Grund der Gegenleiſtung, ſondern
auch die Menge der Nichtintereſſierten gewinnen“).
Hier ergab ſich auch die Möglichkeit eines prak⸗
tiſchen Zuſammenwirkens und damit eine Annähe⸗
rung an das Zentrum, das ſeine Wählermaſſen
bei weitem zum größten Teile in agrariſchen Kreiſen
hat. Der Zufall wollte, daß eben um dieſe Zeit
(8. Februar 1878) Pius IX. ſtarb, und ſein Nach⸗
folger, Leo XIII. ſofort bemerkbar machte, daß er
bereit ſei, über die Beilegung des Kulturkampfs
in Deutſchland mit ſich verhandeln zu laſſen.
Langſam, langſam unter fortwährendem Drängen,
Kämpfen, Zanken und Feilſchen gingen die Ver⸗
*) In den Jahren 1851 bis 1880 war der Durchſchnitt
des Weizenpreiſes 209,6 für die Tonne. Dieſer Preis iſt
trotz der Zölle nur 1891 (mit 224,2) und 1909 (mit 233,09)
überſchritten worden; im Jahre 1913 war der Jahresdurch⸗
ſchnittspreis 199; im Juli 1914 209. Der Roggen koſtete
im Durchſchnitt 1851 bis 1880 163,7, hat dieſen Durchſchnitt
bis 1909 ſechsmal überſchritten, iſt aber auch 1896 trotz Zoll
bis auf 118,8 geſunken. 1913 betrug der Jahresdurchſchnitts⸗
preis 164,3; 1914 im Juli 174. Der Konſum von Roggen
iſt ſeit 1878 pro Kopf der Bevölkerung etwa derſelbe ge⸗
blieben; gleichzeitig aber der Verbrauch von Weizen ganz
gewaltig geſtiegen, die Geſamternährung durch Brotfrüchte
alſo ungeheuer verbeſſert.
87
handlungen voran; bald ſpielte Bismarck den Papſt
gegen das Zentrum, bald das Zentrum gegen den
Papſt aus. Bald verſicherte er, daß er zu dem
Papſt und ſeiner Perſönlichkeit volles Vertrauen
habe; oder erklärte, daß das Papſttum als eine
univerſale Inſtitution doch inſofern auch zu den
deutſchen Inſtitutionen gehöre, als ſo viele
Deutſche ſich zu Angehörigen der katholiſchen
Kirche bekennten; bald ſprach er den Wunſch aus:
„das Gefühl, daß wir alle Deutſche und Lands⸗
leute ſind, höher und ſtärker in uns lebendig zu
machen, als das Gefühl, daß wir verſchiedenen
Konfeſſionen angehören,“ und unterſchied die ein⸗
zelnen, beſſer geſinnten Mitglieder des Zentrums
von den Tendenzen der Fraktion. Der König
wünſche mit ſeinen katholiſchen Untertanen in
Frieden zu leben und ſie zufriedenzuſtellen.
Zu einer Verſöhnung kam man nicht, aber die
für die katholiſche Kirche unannehmbaren Beſtim⸗
mungen der Kulturkampf⸗Geſetze wurden all⸗
mählich aufgegeben und abgebrochen, und indem
das Zentrum für die Schutzzölle eintrat, verſah
es auch das Reich mit neuen Mitteln, freilich unter
Bedingungen, über die noch zu reden ſein wird.
88
Neben Schutzzoll und Kompromiß mit dem Zen⸗
trum erſchien nun aber noch ein drittes Moment,
die Parteiverhältniſſe umzuwandeln. Die Sozial⸗
demokratie, die ſeit Anfang der ſechziger Jahre
angefangen hatte, ſich parteipolitiſch zu organiſieren,
nahm einen ganz ungeahnten Aufſchwung, und in
pſychologiſchem oder, wenn man will, pfycho⸗
pathiſchem Zuſammenhang mit ihrer wilden Agi⸗
tation erfolgten dicht hintereinander zwei Atten⸗
tate auf den ehrwürdigen Kaiſer Wilhelm. Schon
nach dem erſten Attentat legte Bismarck dem Reichs⸗
tag ein Geſetz vor, das die ſozialdemokratiſche Be⸗
wegung mit ſcharfem polizeilichen Zugriff feſſeln
ſollte. Die Nationalliberalen und die erdrückende
Mehrheit des Reichstags lehnten es ab. Nach
dem zweiten Attentat, bei dem der Kaiſer
ſchwer verwundet wurde und das das ganze Volk
mit einer ungeheuren Erbitterung erfüllte, löſte
Bismarck den Reichstag auf. Die Auflöſung wäre
nicht nötig geweſen, denn die Nationalliberalen
waren jetzt ohnehin bereit, ſich auf ein Ausnahme⸗
geſetz einzulaſſen, und auch nach den Neuwahlen,
die ihnen etwa 50 Sitze koſteten, die den Konſer⸗
vativen und Freikonſervativen zufielen, blieb die
89
Entſcheidung bei ihnen, aber für die allgemeine
Lage des Reichstags war die Verſchiebung zu⸗
gunſten der Rechten von höchſter Bedeutung.
Denn während es bisher ohne die Nationallibe⸗
ralen (faſt 150 Stimmen) überhaupt keine Majori⸗
tät für die Regierung gegeben hatte, ſo konnte
jetzt auch eine Majorität aus den beiden konſer⸗
vativen Parteien und dem Zentrum gebildet
werden. Damit war allen Gelüſten nach einem
parlamentariſchen Regiment vorläufig ein Ende
gemacht. Die Regierung blieb der führende, maß⸗
gebende Faktor im Reichsregiment, indem ſie ſich
bald auf dieſem, bald auf jenem Wege vermöge
eines entſprechenden Entgegenkommens eine Ma⸗
jorität verſchaffte. |
Zunächſt wurde nun ein Ausnahmegeſetz ge⸗
ſchaffen, das der Polizei gegenüber den Sozial⸗
demokraten weitgehende Vollmachten gewährte.
Vereine, Verſammlungen und Zeitungen, in
welchen ſozialdemokratiſche, ſozialiſtiſche oder kom⸗
muniſtiſche, auf den Umſturz der beſtehenden
Staats⸗ oder Geſellſchaftsordnung gerichtete Be⸗
ſtrebungen in einer den öffentlichen Frieden ge⸗
fährdenden Weiſe zutage traten, konnten danach
90
verboten und unterdrückt werden; für gemiffe
Orte und Gegenden konnte ferner der ſog. kleine
Belagerungszuſtand erklärt werden, der u. a. die
Möglichkeit gewährte, Agitatoren auszuweiſen.
Als Bürgſchaft gegen den Mißbrauch ſolcher Voll⸗
machten wurde das Geſetz zunächſt auf 2½ Jahre
beſchränkt und dann periodiſch bis zum 30. Sep⸗
tember 1890 verlängett.
Während Deutſchland bis dahin den Eindruck
eines in wilden Wogen aufſchäumenden Meeres
geboten hatte, trat mit einem Schlage Ruhe ein,
und das erregte Meer wurde glatt und ſtill.
Aber dieſer vorteilhafte Zuſtand währte nur
kurze Zeit. Die Vorſtellung, daß der Schutzzoll
eine ungerechte Bevorzugung gewiſſer Gewerbe
und eine Benachteiligung der Konſumenten, der
Freihandel das allein gerechte und zugleich wirt⸗
ſchaftlich produktivſte Wirtſchaftsſyſtem darſtelle,
war in Deutſchland zu tief eingewurzelt und zu⸗
gleich von zu ſtarken Intereſſen getragen, als daß
ſie ſo ſchnell hätte überwunden werden können.
Die nationalliberale Partei ſpaltete ſich darüber.
Etwa die Hälfte und darunter, mit Ausnahme von
Bennigſen und Miquel, gerade die hervorragende⸗
9¹
ren und bedeutenderen Perſönlichkeiten, ſchie⸗
den aus und gründeten eine neue liberale Vereini⸗
gung, und die nächſten Wahlen (1881) brachten
der Fortſchrittspartei auf Koſten der Konſervativen
und Freikonſervativen einen ſo großen Stimmen⸗
zuwachs, daß jetzt ohne das Zentrum überhaupt
keine Majorität mehr zu beſchaffen war. Auch die
nächſten Wahlen (1884) änderten daran nur wenig,
obgleich ſie den Konſervativen einigen Zuwachs
verſchafften.
Bismarck war alſo 6 Jahre lang, von 1881 bis
1887, darauf angewieſen, durch fortwährendes
Paktieren mit dem Zentrum die Reichsmaſchine,
ſozuſagen, in Gang zu halten. Die Situation iſt
keineswegs etwa gleichzuſtellen ſeinem Paktieren
mit den Nationalliberalen in dem Jahrzehnt von
1866 bis 1876, denn ſo ſehr auch hier das Zuſam⸗
menwirken auf Kompromiß und gegenſeitiger Nach⸗
giebigkeit beruhte, ſo entſprang es doch aus einer
tiefen gemeinſamen Idee, der Herſtellung eines
Deutſchen Reichs unter preußiſcher Führung. Das
Zuſammenwirken mit dem Zentrum aber war ein
rein äußerliches, durch die parlamentariſchen Macht⸗
verhältniſſe erzwungenes. Die Nationalliberalen
92
hatte es ſeinerzeit mit tiefſter fachlicher Befriedi⸗
gung erfüllt, wenn ſie mit dem leitenden Staats⸗
mann zu einer Einigung gelangten. Das Zentrum
unter der klugen und zähen Führung des ehe⸗
maligen hannoverſchen Miniſters Windthorſt hatte
ſeine Befriedigung in dem Gefühl, den gewaltigen
Gegner zu bezwingen und ihn ſeinem Willen zu
unterwerfen, und alles wurde unter dieſen tak⸗
tiſchen Geſichtspunkt geſtellt. Neben der ſachlichen
Prüfung der Forderungen in den von der Regie⸗
rung vorgelegten Etats blieb immer der taktiſche
Grundſatz, der Regierung zu zeigen, daß man die
Macht habe, und Streichungen vorzunehmen, bloß
um wieder daran zu erinnern, daß das Zentrum
in der Lage ſei ſich zu rächen, wenn die Verwaltung
ihr nicht genügend entgegenkomme. Man arbeitete
nicht ohne Erfolg mit an der Geſetzgebung — die
erſten ſozialen Geſetze, das Krankenkaſſengeſetz
und das Unfallverſicherungsgeſetz wurden in dieſer
Periode geſchaffen —, ſah aber jedes Geſetz darauf
an, ob nicht die Reichs⸗ und Staatsgewalt dadurch
geſtärkt würde, was man verhindern wollte.
Eine Zulage von, ſage und ſchreibe, 2700 Mk. für
die überlaſteten Subalternbeamten des Auswär⸗
93
tigen Amtes durchzuſetzen, mußte der Reichskanzler
perſönlich erſcheinen, reden, kämpfen und zerren.
Die geſteigerten Geſchäfte des Auswärtigen Amtes
verlangten einen neuen Miniſterialdirektor: der
Reichstag lehnte ihn glatt ab, bis ein Sturm in der
öffentlichen Meinung ſich erhob und 19 Mitglieder
der Freiſinnigen Partei bewog, ihre Haltung zu
ändern und der Regierung eine kleine Majorität
zu verſchaffen (4. März 1885).
Sehr ſchwere Schädigungen aber erfuhr das
Deutſche Reich in der zwar nicht ganz verſagenden,
aber doch immer ungenügend bleibenden Fürſorge
auf dem Gebiet ſeiner Finanzen. Die Majorität
des Reichstages, das Zentrum mit ſeinen Annexen
an Welfen, Elſäſſern und Polen, die Freiſinnigen
und die Sozialdemokraten bildeten eine geſchloſſene
Majorität, die zu keiner Steuerbewilligung zu be⸗
wegen war, und es begann der unerhörte Zuſtand,
der ſich progreſſiv bis zum Jahre 1913 fortgeſetzt
und geſteigert hat, daß mitten im Frieden Anleihen
aufgenommen wurden, um laufende Ausgaben zu
decken. Im Jahre 1876 noch war das Reich ſchul⸗
denfrei; bis zum Abgang Bismarcks 1890 waren ſie
ſchon auf über eine Milliarde, bis zum Ausbruch
94
des jetzigen Krieges auf faſt 5 Milliarden geſtiegen.
Der Nationalökonom Schanz berechnete im Jahre
1909, daß wenn der Reichstag im Jahre 1877 nur
70 Millionen Mark bewilligt hätte (etwa die Bier⸗
ſteuer, wie ſie ſeit dem Jahre 1909 ohne Nachteil
eingeführt worden iſt), das Reich ſchuldenfrei ſein
würde. Nun ſchien ein Zufall Hilfe zu bringen.
Bei dem erſten Schutzzolltarif von 1879 war das
Brotgetreide mit einer Mark für den Doppel⸗
zentner belaſtet worden; da nun aber der Welt⸗
marktspreis immer weiter ſank, wurde der Zoll
im Jahre 1885 auf drei Mark erhöht, was bei der
großen Einfuhr auch der Reichskaſſe aufgeholfen
hätte. Das Zentrum wollte den Schutzzoll, aber
nicht die finanzielle Stärkung des Reiches. Schon
bei dem erſten Schutzzolltarif war die eigentüm⸗
liche Franckenſteinſche Klauſel zugefügt worden,
wonach das Reich von den neuen Einnahmen nur
130 Millionen Mark behalten, ben Überſchuß aber
an die Einzelſtaaten verteilen mußte. Das war
aber mehr eine ſtaatsrechtliche, als eine finanzielle
Beſtimmung, denn in der Form der Matrikular⸗
beiträge konnte das Reich jene Verteilung wieder
zurücknehmen. Die Franckenſteinſche Klauſel be⸗
95
deutete aljo nur die Wahrung des Budgetrechts
des Reichstages, und die Nationalliberalen hatten
darin ſogar noch weitergehen wollen als das Zen⸗
trum. Dieſes Budgetrecht des Reichstages aber
wurde allmählich mehr und mehr als eine bloße
Doktrin erkannt, eine Waffe, die in dem Macht⸗
ſtreit zwiſchen Regierung und Parlament, wie er
ſich in Deutſchland geſtaltet hatte, praktiſch keine
Anwendung mehr finden konnte. Das Entſchei⸗
dende war, ob tatſächlich Geld in den Kaſſen war
oder nicht. Wenn nicht, ſo blieb die Regierung
unter dem ſteten Druck des Reichstages, d. h. in
unſerem Falle des Zentrums. Das Zentrum be⸗
ſchloß alſo die Bewilligung, die es mit der einen
Hand machte, mit der anderen wieder zu nehmen,
indem es das Reich zwang, nicht nur die neuen
Überſchüſſe an die Einzelſtaaten zu verteilen, ſon⸗
dern auch durch ein beſonderes Geſetz in Preußen
(lex Huene) den Staat zwang, ſeinen Anteil an
die Kreiſe weiterzuverteilen. Durch eine groteske
Multiplikation von Einwohnern und Quadrat⸗
meilen wurde für dieſe Verteilung ein Maßſtab
geſchaffen. Die Kreiſe brauchten zum Teil dieſe
Zuſchüſſe gar nicht, ſondern bauten luxuriöſe
96
Amtswohnungen für ihre Landräte davon — der
Zweck des Zentrums aber, das Reich arm zu er⸗
halten, damit es der Fraktion dienſtbar ſei, war
erfüllt. Dabei gibt es Leute, die behaupten, daß
in Deutſchland der Reichstag nichts zu ſagen habe
— eher dürfte man es als eine Schmach empfinden,
daß ſelbſt ein Bismarck ſich ſolchen Bedingungen
des Reichstags hat unterwerfen müſſen.
Wenn ſelbſt das Geld aus den Zöllen, das ſchon
in den Reichskaſſen war, ihnen wieder entzogen
wurde, ſo war es nur natürlich, daß andere Mittel
erſt recht nicht bewilligt wurden. Bismarck hielt
Monopole für eine beſonders geeignete Methode,
die Staatseinnahmen zu erhöhen, ohne die Volks⸗
wirtſchaft empfindlich zu belaſten. Aber ſowohl
das Tabaksmonopol, wie nachher das Branntwein⸗
monopol lehnte der Reichstag, weſentlich unter
dem Geſichtspunkt, daß die Macht der Regierung
vermöge des großen neuen Beamtenapparats
geſtärkt werde, ab.
Schon erwies ſich auch das Sozialiſtengeſetz als
nicht ſo wirkſam, wie man erwartet hatte. Nur den
erſten Augenblick hat der Schlag eine betäubende _
Wirkung gehabt, und die Agitation ſetzte in neuen,
4 Delbrück, Bismarcks Erbe 97
borjichtigeren Formen bald wieder ein. Die
Mandate, die von 12 auf 9 im Jahre 1878 zurück⸗
gegangen waren, ſtiegen im Jahre 1884 wieder auf
24, und die Zahl der Stimmen von 312 000 (im
Jahre 1881) auf 550 000.
Schon im Jahre 1878 hatte Bismarck Bedenken
gehabt, ob mit dem beſtehenden Reichstagswahl⸗
recht auf die Dauer auszukommen ſei.“) Jetzt
finden wir die erſte Spur einer praktiſchen Vor⸗
bereitung für eine gewaltſame Anderung. Die
preußiſche Regierung erließ eine Erklärung (4. April
1884), die dann vom Bundesrat gutgeheißen wurde,
daß das Reich auf einem Vertrage der Einzelſtaaten
beruhe — woraus ſich alſo folgern ließ, daß es auf
demſelben Wege wieder aufgelöſt und mit einer
anderen Verfaſſung von neuem errichtet werden
könne.
Das Schickſal aller Vorlagen, erklärte der Kanzler
im Reichstag gleich nach den Neuwahlen von 1884,
ſei ja ganz klar vorauszuſehen. Aus taktiſchen,
nicht aus ſachlichen Gründen, um der Macht willen,
lehnten Zentrum und Deutſchfreiſinnige die Vor⸗
„) Brief an Tiedemann vom 15. Aug. 1878. Ged. u.
Erinn. II, S. 190.
98
lagen der Regierung ab, und indem die fremd⸗
ländiſchen Elemente, die Polen, die franzoſen⸗
freundlichen Elſäſſer und die Welfen ihnen beiträten,
die alle das Reich überhaupt nicht wollten, ſei ſtets
eine Majorität gegen die Regierung gegeben.
„Aber“, fügte er hinzu, „ich laſſe mir von der Majo⸗
rität des Reichstages nicht imponieren. Nein, meine
Herren, in keiner Weiſe, dazu ſind Sie gar nicht
die Männer. Ich habe mir ja von ganz Europa
nicht imponieren laſſen. Sie werden nicht die
erſten ſein.“ „Sie wollen uns mürbe machen,
indem Sie Oppoſition machen; Sie kriegen uns
nicht mürbe, es wird etwas anderes mürbe, das
iſt: der gemeinſame Boden, auf dem wir
uns begegnen“ (das heißt alſo: die Verfaſſung).
„Ich halte den Papſt“, rief er dem Zentrum zu
(12. April 1886), „für deutſchfreundlicher als das
Zentrum. Der Bapit iſt eben ein weiſer, gemäßig⸗
ter und friedliebender Herr. Ob man das von
allen Mitgliedern der Reichstagsmajorität ſagen
kann, laſſe ich dahingeſtellt ſein. Der Papſt iſt
außerdem kein Welfe, er iſt nicht Pole und er iſt
auch nicht deutſchfreiſinnig. Er hat auch keine
Anlehnung mit der Sozialdemokratie.“
4 gg
Man wäge ſolche Sätze, die damals mit Heiter-
keit aufgenommen wurden! In welcher Stim⸗
mung muß ein deutſcher Reichskanzler ſein, der
den Papſt, einen italieniſchen Prälaten, für deutſch⸗
freundlicher als die Mehrheit der deutſchen Volks⸗
vertretung erklärt!
Noch einmal fand das Bismarckſche Genie einen
Ausweg. Das Hauptagitationsmittel der Libe⸗
ralen ſeit Beginn des Verfaſſungslebens war die
Oppoſition gegen die Militärausgaben geweſen.
Allmählich aber war der Staatsgedanke in den
Maſſen erſtarkt und damit auch das Verſtändnis
für die Notwendigkeit des Heeresaufwandes ge⸗
wachſen. Bismarck erkannte, daß der Moment
gekommen ſei, wo man den Spieß umdrehen könne.
Der Zufall wollte, daß in dem Auf und Ab der
Spannungen mit Frankreich die Revancheidee ein⸗
mal wieder nach oben gekommen und in einem
jorſchen General namens Boulanger einen unter-
nehmungsluſtigen Vertreter gefunden hatte. Wenn
auch noch kein formelles Bündnis mit Rußland
beſtand, ſo war die Annäherung doch ſo weit ge⸗
diehen, daß die Franzoſen ſicher darauf rechneten,
in einem Kriege mit Deutſchland von den Ruſſen
100
nicht im Stich gelajjen zu werden. In Deutſch⸗
land hatte man angeſichts der ungünſtigen Reichs⸗
finanzen die Heeresſtärke erheblich unter den her⸗
kömmlichen Satz von 1% der Bevölkerung ſinken
laſſen; jetzt beantragte die Regierung im Hinblick
auf die drohende Kriegsgefahr die Herſtellung
dieſer Verhältniszahl durch Vergrößerung der
Armee um 41 000 Mann (von 427000 auf 468 000).
Nicht nur wegen der unverkennbaren äußeren
Gefahr, ſondern auch innerlich waren die beiden
Oppoſitionsparteien, das Zentrum und die Deutſch⸗
freiſinnigen, geneigt, der Regierung entgegenzu⸗
kommen. Die Taktik des Abgeordneten Windt⸗
horſt war es ja ſchon lange, ſich gleichzeitig der
Regierung unentbehrlich zu machen und ſie unter
Druck zu halten und ihr Konzeſſionen abzupreſſen.
Die deutſchfreiſinnige Partei hatte ſich im Jahre
1884 aus der alten Fortſchrittspartei und den
nationalliberalen Sezeſſioniſten neu gebildet mit
dem unausgeſprochenen Programm, einmal bei
einem Regierungswechſel ſich dem neuen Kaiſer
zur Verfügung zu ſtellen und Bismarck zu erſetzen.
Da nun kein deutſcher Kaiſer je in Armeefragen
mit ſich ſpaßen laſſen wird, ſo mußte ſie ſehr vor⸗
101
ſichtig ſein. Auf der anderen Seite aber hatte
ſie und nicht weniger das Zentrum vor ihren
Wählern von je über die Militärlaſten geklagt und
im beſonderen die jährliche Bewilligung durch
den Reichstag gefordert, um der parlamentariſchen
Macht willen. Selbſt die Nationalliberalen hatten
ſich ja im Jahre 1874 nur mit Mühe zu einer
Bewilligung auf ſieben Jahre beſtimmen laſſen.
Bismarck forderte deshalb die um 41 000 Mann
verſtärkte Armee aufs neue auf ſieben Jahre. um
dieſen Zeitraum, um das Septennat, entbrannte
der Kampf. Heute wiſſen wir, wie wenig das zu
bedeuten hat, da kein Reichstag mehr notwendige
Heeresausgaben verſagen und es auf eine Macht⸗
probe ankommen laſſen wird. Damals aber er⸗
ſchien es als der Mittelpunkt des konſtitutionellen
Lebens. Schritt für Schritt kamen die Parteien
der Regierung entgegen und boten endlich die
ganze Forderung auf drei Jahre. Das ſachlich
Notwendige wäre damit gegeben geweſen, aber
wenn die Parteien für ihre Bewilligungen nicht
nur praktiſche, ſondern auch taktiſche Geſichtspunkte
in Betracht zogen, ſo verſtand Bismarck dieſe
Kunſt nicht minder. Er ſah ſeinen Vorteil. Keinen
102
Zoll gab er nach. Die Parteien aber hätten ihre
ganze Vergangenheit verleugnet, wenn ſie das
Septennat ohne jeden Abſtrich hätten annehmen
wollen. So mancher Anhänger Bismarcks zwei⸗
felte, ob die Frage Triennat oder Septennat
geeignet ſei, eine Wahlparole für eine Auflöſung
abzugeben; der Unterſchied ſei zu fein, die Maſſen
würden ihn nicht verſtehen. Aber Bismarck kannte
die Volksſeele beſſer: was ſchert den gemeinen
Mann Triennat oder Septennat, wenn er zur Wahl⸗
urne gerufen wurde? Er empfand nur: für oder
gegen die Armee.
Seit ihrer Spaltung im Jahre 1880 hatte die
nationalliberale Partei ein unerfreuliches Daſein
gefriſtet, ſie war auf einige 40 Stimmen im Reichs⸗
tag zuſammengeſchmolzen, die keine poſitive Be⸗
deutung hatten. Hatte die Regierung die Rechte
und das Zentrum für ſich, jo bedurfte fie der
Nationalliberalen nicht; hatte ſie das Zentrum
gegen ſich, ſo konnten ihr die Nationalliberalen
nichts helfen. Verzweifelnd an einer erſprießlichen
Tätigkeit, hatten die beiden Führer Miquel und
Bennigſen auf ihre Mandate verzichtet und ſich
aus dem politiſchen Leben zurückgezogen. Jetzt
103
holte Bismarck fie mwiever heran. Auf der fon-
ſervativen Seite hatte ſich im Beginn der acht⸗
ziger Jahre eine demokratiſch⸗demagogiſche Rich⸗
tung unter Führung des Hofprediger Stöcker ent⸗
wickelt, die hauptſächlich mit den antiſemitiſchen
Empfindungen im Volke arbeitete. Bismarck ſetzte
es nunmehr durch, daß Stöcker mit ſeinem Anhang
in den Hintergrund geſchoben wurde und die Kon⸗
ſervativen, Freikonſervativen und Nationallibe⸗
ralen ein Bündnis zu gegenſeitiger Unterſtützung,
ein Kartell, ſchloſſen.
Das Aufwerfen der Armeefrage und das
Kartell gaben ihm bei den Wahlen (21. Februar
1887) einen glänzenden Sieg. Die Kartellpar⸗
teien gewannen etwa 70 Sitze und damit 20
Stimmen über die abſolute Majorität. Die
Nationalliberalen verdoppelten ſich geradezu und
7
g
kamen auf faſt 100 Stimmen; den Haupt⸗ |
verluſt hatten die Deutſchfreiſinnigen und neben
ihnen die Sozialdemokraten, die von 25 Eigen
auf 11 reduziert wurden, und die Welfen, die von
i
|
0
i
|
Ä
11 Sitzen ſechs verloren.
104
Der neue Reichstag bewilligte das Septennat, |
ein großes Extraordinarium für die Armee und eine
4
‘
„
neue Branntweinſteuer, die hundert Millionen
einbrachte. Dieſer Reichstag ſchuf weiter das
Hauptſtück der Sozialreform, die Invaliditätsver⸗
ſicherung. Aber das Kartell der Parteien, auf
das er gegründet war, hielt nicht vor. Schon im
Herbſt des Jahres 1887 war der Abgeordnete
Windthorſt wieder in einer großen Frage der
Führer des Hauſes. Die Weltmarktpreiſe der
Agrarprodukte blieben in ſtändigem Rückgang, ſo
daß die Regierung abermals eine Erhöhung der
Getreidezölle von 3 auf 6 Mark vorſchlug. Dafür
war die nationalliberale Fraktion nicht zu haben,
und das Zentrum gab ſchließlich die Entſcheidung,
indem es den Zoll auf 5 Mark feſtſetzte.
Alle bisherigen politiſchen Kombinationen ſchie⸗
nen in Frage geſtellt, als nun das Jahr 1888 den
doppelten Thronwechſel brachte. Aber Hoffnungen
oder Befürchtungen hüben wie drüben wurden
enttäuſcht. Kaiſer Friedrich behielt den Fürſten
Bismarck als Reichskanzler und Kaiſer Wilhelm II.
ließ kundgeben, daß er die Kartellpolitik billige.
In der ergreifenden Rede, in der Bismarck dem
Reichstag das Ableben Kaiſer Wilhelms berichtete,
teilte er mit, welch ein Troſt es für den Sterben⸗
10⁵
den geweſen jei, aus der einmütigen Bewilligung,
mit welcher der Reichstag große, außerordentliche
Mittel für das Heer zur Verfügung geſtellt hatte,
den Beweis der Einheit der geſamten deutſchen
Nation zu entnehmen. Nach außen ſollte aber
nicht nur niemand durch dieſe geſchloſſene Macht
des Deutſchtums bedroht werden, ſondern Bis⸗
marck wünſchte ſogar den Franzoſen, um ſie von
ihren Revanchegedanken abzulenken, große kolo⸗
niale Erwerbungen, um ihnen Erſatz für Elſaß⸗
Lothringen zu verſchaffen. Nicht nur, ohne von
Deutſchland darin behindert zu werden, ſondern
ſogar mit einer gewiſſen Unterſtützung Deutſch⸗
lands gewannen die Franzoſen als die Beſiegten
von Sedan das große Kolonialreich, nach dem ſie
als „grande nation“ ſo lange vergeblich geeifert
hatten. Halfen ſolche Wohltaten nicht, ſo griff
der große Zauberer zu Drohung und Einſchüchte⸗
rung. Mitten in dieſer aber zeigte er wieder ſach⸗
liches Entgegenkommen. Im Januar 1887 ſtellte
er den Franzoſen das saigner à blanc in Ausſicht,
wenn ſie uns angreifen ſollten; als aber im April
wegen der Verhaftung eines franzöſiſchen Spions,
namens Schnäbele, unmittelbar an der Grenze,
106
ein Lärm in der franzöſiſchen Preſſe entſtand, der
zum Kriege hätte führen können, ließ Bismarck
den Mann unter einem ritterlichen Vorwande
frei, und als im Herbſt desſelben Jahres ein deut⸗
ſcher Grenzſoldat einen franzöſiſchen Forſtwärter
erſchoß, den er auf deutſchem Gebiet betroffen
und für einen Wilderer gehalten hatte, da löſchte
Bismarck abermals durch Entgegenkommen den
Funken, der den Brand entzünden konnte: die
franzöſiſche Preſſe forderte mit lauten Drohun⸗
gen 40 000 Francs für die Witwe als Entſchädi⸗
gung: Bismarck ſandte durch den deutſchen Bot⸗
ſchafter 50 000 Mark, ehe noch die franzöſiſche Re⸗
gierung ſo weit gekommen war, eine Forderung
aufzuſtellen. Gleich darauf erſuchte die deutſche
Regierung den Reichstag um eine Verlängerung
der Landwehrpflicht, die Aufſtellung von 700 000
Triariern: die Rede, in der Bismarck die Forde⸗
rung begründete, brachte jenes Wort: „Wir
Deutſche fürchten Gott und ſonſt nichts in der Welt“
und entfachte einen Sturm der Begeiſterung in
Deutſchland, dem Inhalt nach aber war es eine
Friedensrede, fand Entſchuldigungs⸗ und Er⸗
klärungsgründe für die drohenden Truppenver⸗
107
ſchiebungen der Ruſſen an unſerer Grenze und
enthielt ſich ſo ſehr jeder Drohung, daß ſie ſogar
die aktuelle Kriegsgefahr direkt ableugnete.
Die erfolgreiche Friedenspolitik nach außen, die
fruchtbare Geſetzgebung im Innern ſchienen dem
Reichskanzler eine ebenſo grandioſe wie uner⸗
ſchütterliche Stellung zu geben.
Trotzdem fühlte er ſich immer b
Von allen Seiten drängte man mit Forderun⸗
gen an ihn heran, die, ſeiner Politik an ſich nicht
widerſprechend, ihr ſogar konform, doch ſeiner
Individualität widerſtrebten, ſeiner ſubjektiven
Auffaſſung nicht zuſagten und denen er ſich mit
einem gewiſſen Alterseigenſinn widerſetzte. Die
preußiſche Klaſſen⸗ und Einkommenſteuer be⸗
durfte dringend einer Neuordnung; die preußi⸗
ſche Landgemeindeordnung zeigte unerträgliche
Mißbräuche. Die Sozialreform bedurfte einer
Ergänzung durch ein Arbeiterſchutz⸗Geſetz ſo ſehr,
daß der Reichstag es in einſtimmigen Reſolutionen
forderte. Bismarck wollte von alledem nichts wiſſen.
Rings um ſich herum aber glaubte er Intrigen zu
bemerken, die auf ſeinen Sturz ausgingen oder ſich
wenigſtens ſchon darauf rüſteten, ihn zu beerben.
108
Der Hauptanſtoß ging von der äußerſten Rechten
aus, geführt von dem Hofprediger Stöcker und
dem Chefredakteur der Kreuz⸗Zeitung, Freiherrn
v. Hammerſtein. „Das Gold altpreußiſch⸗konſer⸗
vativer Prinzipien ſolle keine Legierung erfahren
mit unedlem Metall aus der Schatzkammer des
Liberalismus, verkündete die Kreuzzeitung und
griff immer von neuem das Kartell an, weil es
die Politik in liberale Bahnen führe. Im Ab⸗
geordnetenhauſe arbeiteten die Konſervativen ein
Geſetz über die Aufhebung des Schulgeldes in den
Volksſchulen um, in Gemeinſchaft mit dem Zen⸗
trum, ſo daß ſelbſt das Herrenhaus ſich dagegen
auflehnte und die Vorlage wieder im Sinne der
Regierung und der Mittelparteien zurückrevidierte.
Als geheimes Haupt der konſervativen Fronde
gegen den Reichskanzler galt der Chef des Großen
Generalſtabes, der Nachfolger Moltkes, General
Graf Walderſee, — man weiß nicht, wie weit
mit Recht. Sicher bezeugt iſt nur durch ſpätere
Enthüllungen, daß Stöcker und Hammerſtein an
Bismarcks Sturz arbeiteten.
Aber wenn die Konſervativen, wenigſtens zum
Teil, wieder unzufrieden waren mit Bismarck
109
wegen ſeines Liberaliſierens, ſo waren auch die
Nationalliberalen keineswegs mit ihm zufrieden
oder er mit ihnen. Im Januar 1888 brachte die
Regierung ein neues, ſehr verſchärftes Sozialiſten⸗
geſetz ein für die Dauer von fünf Jahren. Unter
Führung der Nationalliberalen lehnte der Reichs⸗
tag es ab und verlängerte nur das beſtehende
Geſetz noch auf weitere zwei Jahre. Im Februar
1889 brachten die „Hamburger Nachrichten“ einen
offenbar inſpirierten Artikel, der die National⸗
liberalen anklagte, auf das Ableben Bismarcks
zu ſpekulieren, ſeitdem er in einer Reichstags⸗
ſitzung den Eindruck gemacht habe, daß er im Be⸗
griff ſtehe, dem Greiſenalter ſeinen Tribut zu
zollen. Selbſt unter den treueſten Anhängern des
Kanzlers erwuchs eine ſtarke Mißſtimmung wegen
überaus gehäſſiger Angriffe auf das Andenken
Kaiſer Friedrichs. Man beſchuldigte ihn der Unter⸗
grabung der monarchiſchen Geſinnung, und das
Zentrumsblatt, die „Germania“, brachte einen
höhniſchen Artikel mit der Überſchrift: „Es gelingt
nichts mehr.“
Es war vorauszuſehen, daß bei den Reichstags⸗
wahlen, die Anfang 1890 ſtottfinden mußten,
110
die Kartellmajorität in die Brüche gehen würde.
Der Zufall, daß nach Erhöhung der Getreidezölle
die Weltmarktpreiſe ſtark in die Höhe gingen, ließ
dieſe Zölle als agrariſche Ausbeutung erſcheinen,
und die hohe neue Branntweinſteuer, die ſo kon⸗
ſtruiert war, daß den Brennereien dabei eine ſehr
reichliche Entſchädigung für die Laſten des Geſetzes
zufiel, bot ebenfalls ein ſehr aufreizendes Agita⸗
tionsmittel für die Maſſen.
Das Kartell verlor über 70 Stimmen; die So⸗
zialdemokraten ſtiegen von 11 auf 35, das Zentrum
erreichte mit 106 Stimmen ſein Maximum, die
Freiſinnigen ſtiegen von 32 auf 67.
Ein derartiges Ergebnis wurde von jedermann
erwartet, und in Bismarcks Gedanken muß die
Frage, wie er ſich zu einem ſolchen Reichstag
ſtellen werde, längſt hin und her geprüft worden ſein.
Ahnlich zuſammengeſetzte Reichstage hatte er
ja auch 1881-1887 gehabt und ſchwer genug mit
ihnen gekämpft. Jetzt war die Lage noch viel un⸗
günſtiger. Damals hatte er die große Gabe der
Schutzzölle zu vergeben gehabt und hatte die Außen⸗
werke der Kulturkampfgeſetzgebung geopfert und
vielleicht ſchon etwas mehr. Was der Kartell⸗
111
reichstag an Heeresbewilligungen und Steuern
gebracht hatte, war viel, aber doch immer noch
nicht genug. Die drohende ruſſiſch⸗franzöſiſche
Gefahr, die ſchon bis zu ruſſiſchen Truppenverſchie⸗
bungen an die deutſche Grenze gediehen war,
machte neue Heeresverſtärkungen unabweislich,
und ſchon meldete ſich auch die Forderung der
Schaffung einer Marine an. Welche Bedingungen
würde das Zentrum für ſolche Bewilligungen
ſtellen? Und wenn es Steuern zu bewilligen ſich
bereiterklärte, welche Steuern? Bismarck ver⸗
langte Monopole, die große Mehrheit des Abge⸗
ordnetenhauſes Reform der Einkommenſteuer mit
Progreſſion, was er verabſcheute. Im Jahre 1889
hatte man ihn einmal dahin gebracht, einem Ent⸗
wurf in dieſem Sinne zuzuſtimmen, aber in dem
Augenblick, als das Abgeordnetenhaus in die Be⸗
ratung eintreten wollte, ließ Bismarck die Seſſion
in brüsker Weiſe unter einem Vorwand ſchließen
(30. April 1889). Endlich drohten alle die anderen
Forderungen, im beſonderen die Gewerbe⸗ und Ar⸗
beiterſchutzgeſetzgebung, die ihm als einem Mann
des praktiſchen Lebens zu unerträglichen Eingriffen
der Bureaukratie zu führen ſchienen, wo er ſich
112
zu widerſetzen entſchloſſen war, jo ſehr ihm
auch ſein nächſter Mitarbeiter, der Staatsſekretär
d. Boetticher, zuredete, dem einmütigen Wunſch des
Reichstages, dem auch der junge Kaiſer zuſtimmte,
entgegenzukommen.
Die Lage ſchien hoffnungslos und ſie wurde es
um ſo mehr, als Bismarck ſich von Berlin fernhielt,
ſich in der Einſamkeit von Friedrichsruh vergrub
(vom Mai 1889 bis Januar 1890) und gegen alle,
die mit ihm zu tun hatten, ſeinen eigenen Sohn
nicht ausgenommen, ausfallend und heftig wurde.
Man raunte ſich in dieſen Kreiſen zu, der Alte wiſſe
nicht mehr, was er wolle, er ſei nicht mehr richtig
im Kopf.
In einer Staatsminiſterialſitzung vom 7. Fe⸗
bruar 1890 gab Bismarck eine Erklärung ab, daß er,
wie die einen es verſtanden, ſeine preußiſchen Inter
abgeben und ſich auf die Reichspolitik zurückziehen
wolle, wie die anderen es verſtanden, daß er nur
die Auswärtige Politik behalten wolle. Auf einen
Wink Maybachs ergriff darauf Boetticher das Wort
und ſprach ſein Bedauern aus, daß der Fürſt aus
dieſem Kreiſe ausſcheiden wolle, und die Hoff⸗
nung, daß man dennoch ſeines weiſen Rats ver⸗
113
möge des Zuſammenhangs von Reich und Preußen
nicht entbehren werde. Am Abend traten die
Miniſter ohne Bismarck noch einmal zuſammen,
um zu beraten, wie ſie ſich verhalten ſollten. Der
Finanzminiſter Scholz riet, man ſolle formell
alles beim Alten laſſen und den Fürſten nur Ur⸗
fehde ſchwören laſſen, daß er ſich um das Innere
nicht mehr bekümmern und dem Staatsſekretär
freie Hand laſſen wolle. Damit der Rücktritt
auf die Wahlen keinen ungünſtigen Einfluß aus⸗
übe und auch nicht als Folge der veränderten
Majorität erſcheine, ſolle er am Abend des Wahl⸗
tages ſelbſt, am 20. Februar erfolgen.
Der Plan dieſes teilweiſen Rücktritts zeigte ſich
bei näherer Betrachtung als unausführbar. Der
bayriſche Bundesbevollmächtigte Graf Lerchenfeld
erklärte dem Kanzler, der Kitt des Reiches ſei deshalb
ſo feſt, weil ſtets die Gewißheit beſtehe, daß was der
Reichskanzler wolle, auch Preußen wolle; was ſollte
werden, wenn neben dem Kanzler im Bundesrate
der Vertreter Preußens ſitze und nachdem jener
geſprochen, erkläre, daß er anderer Anſicht ſei?
Aber der alte Löwe war noch nicht ſo kraft⸗ und
entſchlußlos, wie man ringsum meinte. Er hatte
114
noch einen anderen Plan im Hintergrund, und die
Ausführung hatte bereits begonnen.
Bismarck hatte das Deutſche Reich errichtet,
nicht bloß indem die bisher gewonnenen Einzel⸗
ſtaaten ſich vertragsmäßig zu einem neuen Staats⸗
weſen vereinigten, ſondern indem eine von allen
erwachſenen Männern gewählte Verſammlung
darüber beriet, die Regierungen die Verfaſſung mit
ihr vereinbarten und ſie von ihr in jeder einzelnen
Beſtimmung gutheißen ließen. Vorſichtigerweiſe
hatte Bismarck dieſen neuen Bund vorläufig nur
für Norddeutſchland geſchaffen und die ſüddeut⸗
ſchen Staaten erſt 1871 eintreten laſſen, da er mit
einem aus ganz Deutſchland gewählten Reichstag
möglicherweiſe nicht imſtande geweſen wäre, ſich
über eine Verfaſſung zu einigen. Je länger, je
mehr hatte ſich ihm nun gezeigt, wie ſchwer es ſei,
das Reich mit einer ſolchen Verſammlung zu re⸗
gieren. Bei weitem die Mehrheit des deutſchen
Volkes hatte ja im Grunde dieſes Reich mit dieſer
Verfaſſung nicht gewollt: die einen, weil ſie eine
Republik oder wenigſtens den reinen Parlamentaris⸗
mus anſtrebten, die anderen, weil ſie die preußiſche
Führung verwarfen und einen mehr lockeren Bund
115
mit Einſchluß Oſterreichs anſtrebten. In Momen⸗
ten hoher nationaler Erregung hatte dann doch
dieſe mehr rote oder mehr ſchwarze oder auch
ſchwarz⸗weiße Oppoſition ſich gefügt und mitge⸗
arbeitet, brach aber immer wieder hervor und er⸗
ſchwerte die erſprießliche Regierung des Reiches
aufs äußerſte. Schon im Jahre 1884 hatte Bis⸗
marck deshalb den Bundesrat jenen Beſchluß
faſſen laſſen, wonach die Regierungen befugt
geweſen wären, den Bund wieder aufzulöſen
und auf anderer Grundlage einen neuen zu
ſchließen.
Wie leicht es für den erfinderiſchen Geiſt Bis⸗
marcks geweſen wäre, den Verfaſſungskonflikt her⸗
aufzubeſchwören, wenn er ihn wünſchte, zeigen
einige Außerungen, die er einem Journaliſten gegen⸗
über noch ſpäter getan hat. Die deutſche Reichs⸗
verfaſſung enthielt die Beſtimmung, daß die Abge⸗
ordneten als ſolche keine Diäten beziehen dürften;
als die Verfaſſung erlaſſen wurde, hatte Bismarck
ſelber erklärt, auf Privatabmachungen beziehe ſich
dieſe Beſtimmung nicht, und die Sozialdemokratie,
die ja vielfach vermögensloſe Mitglieder in ihren
Reihen zählte, gab dieſen Parteidiäten. Auf Grund
116
des Wortlauts der Verfaſſung hatte Bismarck
ſpäter Anklage erheben laſſen, und das Reichsgericht
hatte in der Tat ſolche Diäten für ungeſetzlich er⸗
Härt und ſie für die Staatskaſſe einziehen laſſen.
Der Erfolg war natürlich nur, daß die Partei eine
andere Form für die Unterſtützung der für ſie
unentbehrlichen Vertreter wählte. Bismarck er⸗
klärte nunmehr: die Diätenloſigkeit ſei bei Herſtel⸗
lung der Verfaſſung das Aquivalent für das all⸗
gemeine und geheime Wahlrecht geweſen; wenn
dieſes Aquivalent reichstagsſeitig nicht gegeben
wäre, ſo würde eben auf die Unterlagen des da⸗
maligen Kompromiſſes wieder zurückgegriffen
werden müſſen. Es frage ſich, ob ein Reichstag,
der ſich der Verfaſſung nicht füge (wie es durch die
Geſtattung der Teilnahme der Empfänger von
Parteidiäten an Verhandlungen des Hauſes ge⸗
ſchehe), berechtigt ſei, die Reichstagsfunktion aus⸗
zuüben. Dem Kaiſer ſtehe das Recht der Über⸗
wachung der Reichsgeſetze zu, und man könne fra⸗
gen, ob es nicht angezeigt wäre, daß der Kaiſer
eine Botſchaft an den Reichstag richte, in der
dieſer zu ſtrikter Ausführung der Verfaſſung an
ſeinem Teile aufgefordert würde.
117
Man braucht ſich dieſen Vorgang nur zu Ende
zu denken, und der offene Kampf iſt da: der Reichs⸗
tag lehnt die Botſchaft natürlich ab, und der Kaiſer
muß entweder nachgeben oder erklären, daß nach⸗
dem der Reichstag die Verfaſſung gebrochen, er
ſeinerſeits ſie auch beiſeite ſetzen müſſe.
Vorübergehend erwog der Kanzler den Gedan⸗
ken, den Reichstag ganz wieder zu beſeitigen und
wieder zu den Formen des alten deutſchen Bundes
zurückzukehren. Aber ſofort verwarf er das wieder
und ſuchte nach einer Modifikation des Wahl⸗
rechts, vermöge welcher beſſere Mehrheiten er⸗
zielt werden konnten. Er fand ſie in dem ſeiner
älteſten Amtsſtellung als Deichhauptmann ent⸗
nommenen Satz „Was nicht will mit deichen, das
muß weichen.“ War es nicht ein Widerſinn,
Leute, die ſich in ihren eigenen Programmen als
Feinde des Deutſchen Reiches bekannten und deſſen
Zerſtörung anſtrebten, als Vertreter eben dieſes
Reiches zu beſtellen? Bismarck dachte ſich alſo ein
Wahlrecht, das zwar wie bisher prinzipiell all⸗
gemein und gleich, doch notoriſche Sozialdemo⸗
kraten (worüber eine Behörde entſcheiden konnte)
ausſchloß; zu dieſem Zweck ſollte ſtatt der gehei⸗
118
men Abſtimmung, wie Bismarck ſchon 1867 ge⸗
wünſcht hatte, die öffentliche eingeführt werden.
Freilich konnte das nur mit einem Gewaltſtreich
durchgeführt werden. Kein Reichstag hätte ſich
ſelber in dieſer Weiſe entmannt; ſelbſt die Einfüh⸗
rung der öffentlichen Abſtimmung wäre mit dem
Reichstag niemals durchzuführen geweſen. Sogar
im Kartellreichstag wäre ſo wenig Ausſicht auf Er⸗
folg geweſen, daß Bismarck nicht einmal den Antrag
darauf zu ſtellen wagte; wieviel weniger hätte
ein ſpäterer Reichstag ſich dazu hergegeben. Bis⸗
marck aber ſtellte ſich vor, daß die ſozialdemokra⸗
tiſche Bewegung ihrer Natur nach notwendig in
einer revolutionären Eruption enden müſſe.
Durch abſichtliche Reizung konnte man dieſe Erup⸗
tion vielleicht beſchleunigen, zu einem vorzeitigen
Ausbruch verleiten, ſie niederſchlagen und den
ſtarren Schreck, der das Bürgertum während des
Kampfes lähmen werde, benutzen, um den Staats⸗
ſtreich auszuführen. Der König von Preußen hätte
eine Proklamation erlaſſen, daß er die Verantwor⸗
tung nicht länger tragen könne, und die Kaiſer⸗
krone niedergelegt, zugleich aber ſeine Mitfürſten
aufgefordert, das Reich mit einer modifizierten
119
Verfaſſung neu zu errichten und dieſe Neuſchöpfung
als Fortſetzung des alten Reiches anzuſehen.
Das alles ſtand noch nicht feſt in ſeinen Einzel⸗
heiten, war ein Entwurf, der noch vielfach hätte
gewandelt werden können —, aber als Entwurf
iſt der Plan durchaus genügend bezeugt, und auch
die Ausführung hatte bereits eingeſetzt.
Um ſie einzuleiten, mußte zunächſt das beſtehende
Sozialiſtengeſetz aus dem Wege geräumt werden.
Der Kartellreichstag hatte es noch einmal bis zum
30. September 1890 verlängert und bot nun ſtatt
des Ausnahmegeſetzes ein allgemeines, dauerndes
Geſetz an, das der Polizei ſehr weitgehende Be⸗
fugniſſe einräumte. Dieſe von den Nationallibe⸗
ralen ausgehende Prozedur war von ſehr zweifel⸗
haftem Wert, denn wenn auf der einen Seite das
Gehäſſige eines Ausnahmegeſetzes wegfiel, ſo war
es doch für das Volk in ſeiner Geſamtheit eine
harte Zumutung, ſich Polizeivollmachten zu unter⸗
werfen, die eigentlich nur die Sozialdemokraten
treffen ſollten. Aber man war bereit, dieſes Opfer
zu bringen. Nur eine weſentliche Beſtimmung der
neuen Geſetzesvorlage lehnten die Mittelparteien,
auch die Freikonſervativen ab, die Befugnis der
120
Regierung, Agitatoren unter gewiſſen Umſtänden
aus ihren Wohnſitzen ausweiſen zu können. Man
wollte dieſe Beſtimmung nicht, in der Erwägung,
daß ſie zwar einzelne Sozialdemokraten hart treffen
konnte, nach der zwölfjährigen Erfahrung aber,
die man nun gemacht hatte, der Partei viel mehr
nützte als ſchadete. Denn die aus Berlin und ande⸗
ren Großſtädten ausgewieſenen Agitatoren waren
es geweſen, die recht eigentlich die Bewegung ins
Land getragen und ihr zu immer größerer Verbrei⸗
tung verholfen hatten. Auch der dem Fürſten Bis⸗
marck beſonders naheſtehende Abgeordnete v. Kar
dorff vertrat dieſen Standpunkt.
Bismarck legte nun entweder wirklich auf dieſe
Beſtimmung großen Wert oder benutzte ſie als
taktiſchen Vorwand, um dem Führer der Konſer⸗
vativen, v. Helldoff, der deshalb in Friedrichsruh
bei ihm anfragte, zwar nicht direkt zu ſagen, aber
ihn doch merken zu laſſen, daß ihm die Ablehnung
des Geſetzes nicht unlieb ſein würde. Die Konſer⸗
vativen erklärten nunmehr, daß ſie nur in dem
Falle für das Geſetz ſtimmen würden, wenn die
Regierung vorher erklären würde, daß ihr das
recht ſei. Ob dieſe Erklärung gegeben werden
121
würde oder nicht, darauf kam es an. Es fand
noch ein Kronrat ſtatt, in dem der Kaiſer per⸗
ſönlich dringend dafür eintrat, daß man das
Geſetz annehme, wie es geboten würde, aber Bis⸗
marck, dem ſich die übrigen Miniſter, wohl alle
gegen ihre Überzeugung, anſchloſſen, blieb feſt;
die gewünſchte Erklärung vom Regierungstiſch
wurde nicht gegeben; Bismarck ſelbſt erſchien in der
entſcheidenden Reichstagsſitzung überhaupt nicht;
die Konſervativen ſtimmten gegen das Geſetz, und
es fiel. Mit dem 30. September des Jahres ſollten die
außerordentlichen Vollmachten der Polizei gegen⸗
über der Sozialdemokratie, nachdem ſie zwölf Jahre
beſtanden hatten, erlöſchen.
Nunmehr trug der Kanzler dem Kaiſer ſeine
weiteren Pläne vor. Er beabſichtigte, dem jetzt neu
zu wählenden Reichstag ſofort ein neues, noch
ſchärferes Sozialiſtengeſetz vorzulegen. Weder
dieſer noch ein etwaiger Nachfolger würde es an⸗
genommen haben, und der Konflikt, zu dem ja noch
manches Scheit hinzugetragen werden konnte, war
da. Der Kaiſer aber lehnte ab. Sein Großvater
auf der Höhe ſeiner Erfolge und ſeiner Autorität
hätte vielleicht auf dieſe Weiſe eine Verfaſſungs⸗
122
änderung durchführen können; er jelber aber
könne und wolle ſeine Regierung nicht damit be⸗
ginnen, daß er auf ſeine Untertanen ſchießen laſſe.
Der Kaiſer wollte etwas ganz anderes, das ge⸗
rade Entgegengeſetzte. Er wollte die lange ge⸗
forderte Arbeiterſchutzgeſetzgebung (Sonntags⸗
ruhe, Einſchränkung der Frauen⸗ und Kinderarbeit,
Fabrikauſſicht) ernſthaft und ſogar auf inter⸗
nationaler Grundlage in Angriff genommen ſehen.
Noch am 7. Januar, als der Miniſter v. Boetticher
den Reichskanzler in Friedrichsruh beſuchte, hatte
dieſer ganz ſicher geglaubt, daß er dem Kaiſer ſolche
Gedanken ausreden werde. Jetzt war er nicht nur
mit den Parteien des Reichstages, ſondern auch
mit dem Monarchen in einem unlöslichen Wider⸗
ſpruch.
Es bedarf heute keines Beweiſes mehr, daß die
Bahn, die Bismarck einſchlagen wollte, ins Ver⸗
derben geführt haben würde. Obgleich die Wahlen
von 1890 noch unter der Herrſchaft des Sozialiſten⸗
geſetzes ſtattfanden, ſo hatte ſich die Zahl der ſo⸗
zialdemokratiſchen Stimmen doch in den drei
Jahren ſeit 1887 etwa verdoppelt und war auf
1½ Millionen geſtiegen. Daß durch Auflöſung
123
oder auch wiederholte Auflöſungen ſich eine andere
Reichstagsmehrheit erzielen ließ, wie 1887, war
völlig ausgeſchloſſen. Das Kartell, nicht einmal in
ſich einig, war unkräftig gegenüber dem Zuſammen⸗
halten aller Oppoſitionsparteien, des Zentrums,
der Freiſinnigen, der Sozialdemokraten und Polen.
Die Anwendung der Gewalt, die Bismarck in
Ausſicht genommen hatte, mußte alſo ſehr bald
kommen, und da er einmal, wie er zu dem Führer
der Konſervativen im Reichstag, Herrn v. Hell⸗
dorff ſagte, ſich vorgenommen hatte, den größten
Fehler ſeines Lebens (das allgemeine Stimmrecht)
wieder gutzumachen, ſo entſprach es weder ſeiner
Natur noch ſeinem Alter, noch lange zu fackeln.
Wie ſehr ſetzen doch die Hiſtoriker ihren Helden
herab und verflachen die Tragik ſeiner Laufbahn,
die noch heute zweifelnd fragen: war ſeine Schöp⸗
ferkraft erloſchen? Seine Kraft war keineswegs
erloſchen, und diejenigen, die verbreiteten, er wiſſe
nicht mehr, was er wolle, oder er ſei nicht mehr rich⸗
tig im Kopf, waren nicht weiſer als die, die im
Jahre 1862 gefragt hatten, ob dieſer Junker denn
jemals einen politiſchen Gedanken gehabt habe.
Nicht den Strohtod des einſchlafenden Alters iſt er
124
u — cc nn a En u
geftorben, um mit den alten Germanen zu reden,
ſondern den Tod des Kämpfers, den die Walküren
hinauftragen nach Walhall. Unterlegen aber iſt
er eben den Mächten, die er ſelber geſchaffen oder
zur höchſten Kraft emporgeführt, dem Reichstag und
der Monarchie. Immer wieder hatte er verkündet,
in Preußen müſſe der König regieren, und hatte
don der Fülle dieſes Königtums auch in das deutſche
Kaiſertum hinübergeleitet, ſoviel der föderative
Charakter des Reiches erlaubte; nach dem Willen
des Königs zu regieren, hatte er Wilhelm I. ge-
lobt, als er die Geſchäfte übernahm: jetzt mußte
er die Kraft dieſes Geſetzes an ſich ſelber erfahren
— und es war Deutſchland zum Heil. Es iſt das
Schicksal der Sterblichen, daß jede Individualität,
auch die größeſte, ihre Grenzen hat. Die echte
Schöpfung erweiſt ihre Größe darin, daß fie nicht
nur den Schöpfer überlebt, ſondern auch Früchte
und Folgerungen treibt über das hinaus, was er
ſelber gewollt und beabſichtigt hat. Bismarck fiel,
weil die Kämpfe, in denen er ſein Werk vollendet,
ihm Feindſeligkeiten geſchaffen, deren er nicht
mehr Herr zu werden vermochte, weil er die
Konſequenzen ſeines eigenen Werkes nicht mehr
12⁵
mitmachen wollte und deshalb zum Kampf in
eine Richtung gedrängt wurde, wo die innere
Logik der Dinge nicht mehr für, ſondern gegen ihn
war und er notwendig unterliegen mußte. Aber
er fiel im Kampf.
Hat man ſich erſt die ganze Größe der Gegenſätze
klargemacht, die hier miteinander rangen, ſo iſt
es nicht nötig, ſich in die einzelnen Zerrereien zu
vertiefen über eine vergilbte Kabinettsordre,
einen Konſulatsbericht aus Rußland, Differenzen in
der auswärtigen Politik u. dgl., was die letzten
Wochen erfüllte. Bis zuletzt ſuchte Bismarck ſeine
Stellung zu verteidigen. Von ſeinem Privat⸗
bankier Bleichröder eingeführt, erſchien der Ab-
geordnete Windthorſt bei Bismarck, und dieſer
ſtellte ihm die Frage, unter welcher Bedingung er
ihm ſeine parlamentariſche Unterſtützung leihen
werde. Windthorſt erwiderte: völlige Zurück⸗
nahme der Kulturkampfgeſetzgebung. Bismarck
erklärte das für unmöglich, worauf Windthorſt
erwiderte: ſeine Unterſtützung ohne ſolche Gegen⸗
konzeſſion zu verlangen, ſei ſo viel, als wenn ihm
zugemutet würde, ſich vor der Front zu er⸗
ſchießen. Nichtsdeſtoweniger brachte noch zwei
126
Tage darauf (12. März) die „Norddeutſche Allg.
Zeitung“ einen Artikel, die Vorſtellung, daß die
Konſervativen ſich niemals mit dem Zentrum ver⸗
ſtändigen könnten, beweiſe nur, daß der Freiſinn
nicht den Mut beſitze, der Wahrheit ins Auge zu
ſehen, und eine Berechnung aufmachte, daß auf
dieſe Weiſe eine Majorität zu erzielen ſei.
Die Konſervativen aber oder wenigſtens ihre
Führer wollten damals von dieſem Bündnis nichts
wiſſen und proteſtierten dagegen. Einige Zeit ſpäter
ſaß einmal Windthorſt mit dem Führer der Kon⸗
ſervativen im Abgeordnetenhauſe v. Rauchhaupt
und einem anderen Abgeordneten im Foyer zu⸗
ſammen, als Rauchhaupt zu Windthorſt ſagte:
„Einmal bin ich doch klüger geweſen als Euer
Exzellenz, ich bin auch zu Bismarck berufen worden,
aber ich wußte ſchon, daß es mit ihm zu Ende ſei,
und bin nicht hingegangen.“
In Ländern mit parlamentariſcher Verfaſſung
iſt es ein natürlicher und ſelbſtverſtändlicher Vor
gang, daß ein Miniſter, der die Majorität der Volks⸗
vertretung gegen ſich hat, den Abſchied nimmt.
In Deutſchland ſchenkte man dieſem Zuſammen
hang zwiſchen dem Ergebnis der Wahlen vom
127
20. Februar und dem Rücktritt des Kanzlers vom
20. März kaum irgendwelche Beachtung und
fragte und ſinnierte über nichts als über ſein Ver⸗
hältnis zu dem vor zwei Jahren auf den Thron
gekommenen neuen Herrſcher.
Anmerkung.
Indem ich dieſe Blätter in die Druckerei ſenden
will, geht mir ein Artikel von Friedr. Thimme
aus den „Süddeutſchen Monatsheften“ (April) „Der
Fall des Sozialiſtengeſetzes und Bismarcks Staats⸗
ſtreichplan“ und der 3. Band des Werkes „Fürſt Bis⸗
marck 1890—1898“ von Hermann Hof mann zu, die
den Bismarckſchen Staatsſtreichplan wieder in das
Reich der Fabeln zu verweiſen ſuchen. Die Be⸗
weisführung iſt jedoch völlig verunglückt. ;
Beide berufen ſich darauf, daß Bismarck jelber
den angeblichen Plan ſpäter abgeleugnet habe, und
Thimme im beſonderen bringt einen bisher un⸗
bekannten Brief an den Abgeordneten von Kardorff
bei, worin in den ſtärkſten Ausdrücken die Verant⸗
wortung für das Scheitern des Sozialiſtengeſetzes ab⸗
gelehnt und auf Helldorff geſchoben wird. Da jedoch
Bismarck in ähnlicher Weiſe die Verantwortung für
den Kulturkampf auf andere hat abladen wollen und
auch ſonſt mehrfach in dieſer Weiſe bei ſpäter als
falſch erkannten Maßregeln andere vorzuſchieben ge⸗
ſucht hat, ſo muß der kritiſche Hiſtoriker hier eine
128
Schwäche des Alten anerkennen, die jein Zeugnis
nicht ohne weiteres anzunehmen erlaubt. Vgl. Buſch,
Tagebuchblätter III, 330. Ferner II, 418—426 ver⸗
glichen mit Chr. v. Tiedemann, „Sechs Jahre Chef
der Reichskanzlei“, S. 148. Weiter die Erzählung von
Tiedemann und Lasker in der „Frankfurter Zeitung“
v. 1. Aug. l. J. Erſtes Morgenbl. 2. Seite, 2. Spalte.
Eine ähnliche Erzählung bei Ludwig von Gerlach, Auf⸗
zeichnungen II, 233, 276, 289. Preuß. Jahrb. Bd. 96
(1899), S. 461ff.
Weshalb hat Bismarck, wenn er denn wünſchte,
daß das Sozialiſtengeſetz angenommen werde, dieſen
Wunſch dem Abgeordneten v. Helldorff, der noch
zwiſchen der zweiten und dritten Leſung, am Abend
vor der entſcheidenden Abſtimmung, eingehend mit
ihm darüber geſprochen hat, nicht zu erkennen ge⸗
geben? Früher wurde von einem Mißverſtändnis
geſprochen. Thimmes Verdienſt iſt, daß er die Mög⸗
lichkeit eines derartigen Mißverſtändniſſes zwiſchen
zwei Männern, die ſich ſo genau kannten, energiſch
beiſeite geſchoben hat. Er nimmt die Inſinuation
Bismarcks auf, daß Helldorff mit vollem Bewußtſein,
im Einverſtändnis mit der Hofclique, die Bismarck
ſtürzen wollte, ihn wie die Fraktion verraten und dieſe
abſichtlich irregeführt habe. Es leben ja noch genug
Perſonen, die Herrn v. Helldorff gekannt haben; ich
glaube nicht, daß ſich darunter jemand finden wird,
der Thimme die Mär von dieſer dunklen Verſchwörung
5 Delbrück, Bismarcks Erbe 129
glaubt. Auch die „Deutſche Tageszeitung“ hat die
ungeheuerliche Behauptung doch nicht nachzuſprechen
gewagt, ſondern ſie in ihrem Bericht über den
Thimmeſchen Aufſatz mit vielſagendem Stillſchweigen
übergangen (7. April 15) und ſich wieder auf das
„Mißverſtändnis“ zurückgezogen. Ich ſchrieb darüber
noch an Herrn v. Maltzahn⸗Gültz, der bis Ende 1888
neben Herrn v. Helldorff Führer der konſervativen
Fraktion im Reichstag war, und erhielt die Antwort:
„daß Helldorff ſeiner Fraktion abſichtlich eine falſche
Auskunft darüber, was der Kanzler ihm als ſeinen
Wunſch mitgeteilt hätte, gegeben haben ſollte, iſt
natürlich vollſtändig ausgeſchloſſen.“
Thimme findet den Beweis darin, daß, nach Hell⸗
dorffs eigener Ausſage, Bismarck ſeine Inſtruktion
in die Worte zuſammengefaßt habe: „Mir liegt mehr
an der Erhaltung der Kartellpolitik als an dem ganzen
Sozialiſtengeſetz.“ Dieſe Antwort ſei vollkommen
klar und eindeutig geweſen, denn Kartellpolitik be⸗
deutete Zuſammengehen mit den Freikonſervativen
und Nationalliberalen, und da dieſe mit dem ab⸗
geſchwächten Sozialiſtengeſetz zufrieden waren, ſo
hätten es auch die Konſervativen ſein müſſen.
Wenn aber Bismarck wirklich eine ſo klare und ein⸗
deutige Antwort geben wollte, weshalb hat er dann
nicht einfach geſagt: „Nehmt das Geſetz an, ich
wünſche es“? Warum die merkwürdige Umſchrei⸗
bung: „Mir liegt mehr an der Erhaltung der Kartell⸗
130
politik als an dem ganzen Sozialiſtengeſetz?“ Man
erinnere ſich an die Situation. Die Wahlen ſtanden
vor der Tür, und es war ſicher, daß das Kartell da⸗
bei die Mehrheit nicht behaupten würde. Das Kartell
konnte erſt unter ganz neuen Bedingungen wieder
brauchbar werden. Helldorff konnte alſo jenes angeb⸗
lich eindeutige Wort ganz umgekehrt dahin auslegen,
daß dem Fürſten an dem jetzigen Sozialiſtengeſetz
nichts liege, daß man aber für eine zukünftige Wieder⸗
belebung der Kartellpolitik zunächſt einmal durch eine
Kriſis hindurchgehen müſſe. Vielleicht findet jemand
auch noch andere Interpretationen jenes dunklen
Satzes. Gerade indem Thimme jenen Satz als
richtig überliefert akzeptiert, beſtätigt er, daß Bis⸗
marck es an einer „klaren und eindeutigen Antwort“
hat fehlen laſſen — und der Fürſt wußte, daß
das die Ablehnung des Geſetzes herbeiführen werde.
Er war eben der echte Diplomat: er ſagte nicht dem
um eine Entſcheidung bittenden Abgeordneten „lehnt
das Geſetz ab“ — denn dann hätte die Verantwortung
auf ihm gelegen, ſondern er umging die direkte
Antwort und ſchob damit die Verantwortung der
Fraktion zu, wußte aber, daß ſie nun ſo ſtimmen
würde, wie er ſich wünſchte.
Um der konſervativen Fraktion, in der viele kon⸗
fliktslüſterne Heißſporne waren, den Rückzug zu er⸗
leichtern, verlangte Helldorff, daß die Regierung noch
zwiſchen der zweiten und dritten Leſung die Er⸗
5 131
klärung abgebe, fie fei mit dem Sozialiſtengeſetz, wie
es der Reichstag geſtaltet, zufrieden; genau genommen
verlangte er nicht einmal das, ſondern er verlangte
nur, daß die Regierung ſage, „wir legen Wert darauf,
uns zu überlegen, ob wir ein abgeſchwächtes Geſetz
annehmen können, wir wünſchen alſo, daß uns nicht
die Entſcheidung darüber unmöglich gemacht wird.“
Die Regierung tat es nicht. Bismarck erſchien bei
dieſer grundſtürzenden Entſcheidung nicht einmal
ſelbſt im Reichstag. Er ſtellte den Satz auf, er habe
ſtets daran feſtgehalten, daß die verbündeten Re⸗
gierungen ſich wohl vor Reichstagsvoten, nicht aber
vor Kommiſſionsbeſchlüſſen beugen könnten. Thimme
und andere Hiſtoriker haben dieſen Grundſatz un⸗
beſehen gelten laſſen, ohne ſich klar zu machen, daß
es ſich jetzt gar nicht mehr um einen Kommiſſions⸗
beſchluß, ſondern um die Beſchlüſſe des Reichstages
ſelbſt in der zweiten Leſung handelte, und Thimme
fügt hinzu, daß, wenn die Regierung freiwillig auf
die Ausweiſungsbefugnis verzichtet hätte, ſie ſich
ſelbſt damit die Möglichkeit genommen hätte, die ver⸗
ſtümmelte Vorlage von einem neuen Reichstag gleich⸗
ſam komplettieren zu laſſen. Er beweiſt damit, daß
ihm weder die damalige Lage noch die parlamen⸗
tariſche Praxis des Fürſten Bismarck genügend be⸗
kannt iſt. Einen Reichstag, bereit, das Sozialiſten⸗
geſetz zu komplettieren, erwartete niemand mehr,
und die Erfahrung, die wir ſeitdem gemacht haben,
132
ſpricht darüber deutlich genug. Der angeblich ftet3
feſtgehaltene Grundſatz, erſt den Reichstag in dritter
Leſung abſtimmen zu laſſen und ſich dann erſt vom
Regierungstiſch zu erklären, hat wohl in der Form
exiſtiert, daß Bismarck bei Geſetzen, die ſicher ab⸗
gelehnt wurden, doch, wie er es ausdrückte, die
Quittung verlangte, im übrigen iſt aber das gerade
Gegenteil ſeine ſtändige Praxis geweſen. Thimme
möge einmal das Zuſtandekommen des erſten So⸗
zialiſtengeſetzes nachleſen. Schon in der Kommiſſion
(1. und 2. Oktober 1878) gab Graf Eulenburg die
Erklärung ab, wie weit die Regierung den gefaßten
Beſchlüſſen zuſtimmen könne oder nicht, und vor der
dritten Leſung hielt ſogar der Bundesrat eine eigene
Sitzung, um zu erklären, daß er auf das von den
Fraktionen (nicht vom Reichstag) geſchloſſene Kom⸗
promiß eingehe. Bismarck ſelbſt aber erklärte (9. Ok⸗
tober 1878) gleich im Beginn der zweiten Leſung,
daß er zwar das nach den Wünſchen des Reichstages
geſtaltete Geſetz für durchaus ungenügend halte, es
trotzdem aber annehme, um gemäß den gemachten
Erfahrungen ſpäter Ergänzungen vorzuſchlagen. Das
iſt alſo das gerade Gegenteil der Taktik von 1890,
und der Unterſchied iſt nicht ſchwer zu erklären: 1878
wünſchte er, daß das Geſetz angenommen würde,
und 1890 wünſchte er, daß es zu Falle käme.
Nun haben wir auch eine Erklärung für den völ⸗
lig rätjelhaften Vorgang, den Herr v. Maltzahn⸗
133
Gültz in den jüngſt erſchienenen „Erinnerungen an
Bismarck“, Geſammelt von A. v. Brauer und
anderen, S. 115ff. berichtet. Bismarck beſtand im
Winter 1889/90 auf jenem angeblichen Grundſatz,
ſich erſt zu Beſchlüſſen dritter Leſung des Reichstages
zu äußern, auch in Etatsfragen, obgleich man damit
in einen völligen Widerſinn geriet. Die Staats⸗
ſekretäre des Innern und des Reichsſchatzamtes waren
in Verzweiflung, wußten ſich das Verhalten des
Kanzlers nicht zu erklären und handelten endlich auf
eigene Fauſt. Wir aber erkennen nunmehr von neuem,
von wie weither der Kanzler ſeine Gänge anlegte,
alles vorbedacht war und alles ineinandergriff.
Nein, ſeine geiſtige Kraft war wirklich noch nicht
zu Ende.
Daß Bismarck nach Thimme im Miniſterrat
am 24. Januar keinen Zweifel darüber gelaſſen
haben ſoll, daß auch das abgeſchwächte Geſetz
nach den Beſchlüſſen des Reichstages anzunehmen
ſein würde, ſteht mit der von mir gegebenen
Darſtellung nicht etwa in Widerſpruch: Bismarck
wußte ja, daß wenn er nichts Poſitives dafür
tue, das Geſetz nicht zuſtandekommen würde. In⸗
dem der Miniſterrat es nach Bismarcks Wunſch
ablehnte, die gewünſchte Erklärung im Reichs⸗
tag abzugeben, votierte er tatſächlich für die Ab⸗
lehnung, entgegen dem Wunſch und Vorſchlag
des Kaiſers, der nachher ſagte: „Das ſind ja
134
nicht meine, das find ja des Fürſten Bismarck
Miniſter.“
Thimmes Artikel iſt übrigens ein intereſſantes Bei⸗
ſpiel, wie ſchnell die direkte Tradition abſtirbt. Jeder,
der die Zeit noch politiſch denkend erlebt hat, weiß,
wie die Politik in dem Zwieſpalt zwiſchen Bismarck
und den ſämtlichen Parteien zu einer Art Stillſtand
gekommen war. Es war unmöglich, noch irgend
etwas Poſitives zuſtande zu bringen oder auch nur
in Angriff zu nehmen. Die Konſervativen erließen
ein Wahlprogramm, das der „Kladderadatſch“ nicht
ſo übel verſpottete, indem er unter der Überſchrift
einen weißen Fleck brachte. Thimme aber ſchreibt
heute ganz wohlgemut: „Man glaube doch nicht, daß
Bismarck im Februar 1890 durch die Ausſicht auf
einen renitenten Reichstag irgendwie geſchreckt oder
auch nur irritiert worden wäre.“
Die nähere Begründung meiner Darſtellung iſt
zu finden Preuß. Jahrb. Bd. 147, S. 1, S. 341;
Bd. 153, S. 121. Regierung und Volkswille S. 61.
Als neue Zeugen für die Richtigkeit meiner Dar⸗
ſtellung ſind mir ſeitdem die Miniſter Miquel und
Hobrecht und der Botſchafter v. Keudell bekannt ge⸗
worden, die Anderen den Zuſammenhang ſchon früher
genau ſo wie ich hier erzählt haben. Das Neue, wo⸗
mit ich in dieſer Schrift meine früheren Mitteilungen
ergänzt habe, geht zurück zum Teil auf eigene Er⸗
innerung, zum Teil auf die Miniſter v. Boetticher
135
und Boſſe und Mitteilungen aus der nächſten Um⸗
gebung Windthorſts. Boetticher war übrigens eben⸗
ſowenig wie Rottenburg in den Plan Bismarcks
eingeweiht.
Bismarck nahm den Abſchied — und Deutſchland
blieb ſtumm. Solange er an der Spitze der Ge⸗
ſchäfte ſtand, war ihm von der Oppoſition immer
wieder der Vorwurf entgegengeſchleudert worden,
er habe die Verfaſſung des Reiches allein auf ſeine
Perſon zugeſchnitten; ohne ihn würde ſie ſich als
unhaltbar erweiſen. Sie hat ſich gehalten und be⸗
währt bis auf den heutigen Tag und ertrug auch
ſeinen eigenen Abgang ohne die geringſte Erſchütte⸗
rung. Weder im Reichstag noch im Landtag wurde
ein Wort darüber geſprochen, und auch in der dem
Scheidenden freundlichen Preſſe hatte man wohl
Worte inniger Dankbarkeit, aber kein Wort der Ent⸗
rüſtung oder die Forderung, daß er bleibe. In allen
führenden Kreiſen der Parlamente wie der Preſſe
wußte man, daß der Abgang nichts mit irgend⸗
welchen perſönlichen Verſtimmungen zwiſchen ihm
und dem Kaiſer zu tun habe, ſondern innerlich
notwendig geweſen ſei, und da die Führer ſchwie⸗
gen, ſchwieg auch das Volk. Im Herzen aber
136
eee
r rr
empfand es anders. Ich weiß nicht, ob in der
Weltgeſchichte noch ein zweites Beiſpiel dafür zu
finden iſt wie hier von dem Unterſchied zwiſchen
der Menge und ihren Rednern, zwiſchen dem Volk
und den gewählten Volksvertretern.“) Es iſt keine
Frage, daß die ungeheure Mehrheit nicht bloß
der alten Anhängerſchaft Bismarcks, ſondern bis
tief in die Reihen ſeiner Gegner hinein in der Art
der Entlaſſung eine ſchnöde Undankbarkeit und
ein unſagbares Unglück erblickten. Aber erſt ganz
allmählich im Laufe der nächſten Jahre fand dieſe
Stimmung Vertreter und Gelegenheiten, ſich zum
Ausdruck zu bringen. In den politiſchen Kreiſen
wurde der Nachfolger mit einem allſeitigen Ver⸗
trauen und Wohlwollen aufgenommen, ſo daß ich
damals in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ einen Ge⸗
ſandtſchaftsbericht aus England vom Jahre 1742, auf
den Sturz Walpoles bezüglich, als Analogie anführen
konnte, der als zutreffend durch alle Zeitungen ging:
„Was in 28 Jahren nicht geſehen, nicht gehört,
nicht geglaubt worden, das hat ſich nunmehr er⸗
*) Daß es eine reine Fiktion iſt, in den Parlamenten
die Verkörperung des Volkswillens zu ſehen, habe ich ein⸗
gehend dargelegt in der gedruckten Vorleſung „Regierung
und Volkswille“. Berlin 1914.
137
geben; Whigs und Tories, Patrioten und wie ſie
alle hießen, ſeien einig miteinander und wett⸗
eiferten miteinander, ihre Königstreue und Vater⸗
landsliebe zu betätigen. Whigs und Tories wurden
bei Hofe geſehen und gnädig empfangen; weder im
Ober⸗ noch im Unterhauſe gäbe es eine Oppoſition;
was der König vom Parlament fordern möge,
alles werde ihm bewilligt.“
Ingrimmig und verbittert verließ der Mann des
Jahrhunderts Berlin und zog ſich in ſeinen Sachſen⸗
wald zurück. Wie hätte er auch ſelber dafür Ver⸗
ſtändnis haben können, daß eine unſchätzbare Gunſt
des Himmels ihm zu allem ſeinem Ruhm auch noch
den Heiligenſchein des Martyriums verlieh? Was
hätte er an der Spitze des Staates noch weiter er⸗
reichen können? Auf der Bahn, die er bisher ver⸗
folgt, war es unmöglich, noch höher zu ſteigen,
aber die Vorſtellung, die ſich nunmehr bildete, daß
er, der Schöpfer unſerer Größe, der Vater des
Vaterlandes, von tückiſchen Intriganten zu Falle
gebracht, mit ſchwarzem Undank gelohnt, ſeine Tage
in Ungnade und Untätigkeit verbringen müſſe, ließ
alle Herzen, bis in die Reihen ſeiner Gegner hin⸗
ein, um ſo höher für ihn ſchlagen und machte aus
138
Friedrichsruh einen nationalen Wallfahrtsort. Er
ſelber konnte die Dinge nicht ſo anſehen, und ſo
haben wir das ſonderbare Schaufpiel, daß während
der acht Jahre, die ihm noch zu leben vergönnt
war, er umwogt wurde von einer ſich bis zur
Andacht ſteigernden Verehrung und Dankbarkeit,
er aber gleichzeitig ſeine „Gedanken und Erinne⸗
rungen“ aufzeichnen ließ und ſonſt Kundgebungen
in die Welt hinausſandte, die nicht nur ſeine alten
Feinde, die Deutſch⸗Freiſinnigen, das Zentrum,
die Sozialdemokraten, ſondern auch faſt nicht
weniger ſeine alten Freunde und Stützen, ſeine
Miniſterkollegen, die Konſervativen, die Junker,
die Militärs, die Beamten mit immer erneuten
Anklagen und Anſchuldigungen belegen und ver⸗
folgen. Sie hatten nach ſeiner Vorſtellung eben
bei ſeinem Sturze alle entweder zuſammengewirkt,
oder ihm wenigſtens nicht genügend ſekundiert und
trafen ſich dann in der einmütigen hoffnungsvollen
Begrüßung des Nachfolgers.
* *
*
Wir haben Bismarcks Laufbahn bis zu ſeinem
Abgang verfolgt weſentlich unter dem Geſichts⸗
139
punkt der Widerſtände, die er zu überwinden hatte,
der erſchütternden Kämpfe, die er beſtehen mußte,
um das Ziel zu erreichen. Auch mit der Errichtung
des Reiches und der Proklamation des Kaiſertums
am 18. Januar 1871 war das nationale Staats⸗
weſen, das er begründen wollte, noch keineswegs
vollendet. Ein ganzes Syſtem von Neuorganiſa⸗
tionen, eine unabſehbare Geſetzgebung gehörte
dazu, um die äußere Einigung durchwachſen zu
laſſen zu der inneren, erſt wahrhaft unauflöslichen.
Schutthaufen von feudaliſtiſchen und partikulari⸗
ſtiſchen Inſtitutionen, die noch an vielen Stellen
herumlagen, mußten weggeräumt und neue natio⸗
nale und ſtaatsbürgerliche Einrichtungen geſchaffen
werden. Alles das vollzog ſich nur in immer er⸗
neuten Kämpfen, aus denen wir nur die beſonders
charakteriſtiſchen herausgehoben haben. Es ließe
ſich noch viel erzählen; von der neuen Kreisordnung
in Preußen, die nur mit einem Pairſchub im
Herrenhaus durchzubringen war, oder von den
Reichsjuſtizgeſetzen, oder von der ſanften Gewalt,
mit der Hamburg genötigt werden mußte, in
den Zollverein einzutreten, aber es ſei genug
damit.
140
Wir wollen Bismarcks Werk ja nicht als ſolches,
ſondern wir wollen es betrachten unter dem Ge⸗
ſichtspunkt des Erbes, das er uns hinterlaſſen hat,
und da iſt es vor allem wichtig, ſich klar zu machen,
wie ſehr Bismarck durch den inneren Ausbau des
Reiches bis zum Schluß in Anſpruch genommen war
und wie ein ſo wichtiges Stück wie die geregelte
Finanzgebarung, das Gleichgewicht von Ausgaben
und Einnahmen ihm bis zu ſeinem Abgang noch
nicht geglückt war, unter Dach zu bringen.
Der Fortgang unſerer Betrachtung wird ſich
darauf zu richten haben, inwieweit unter ſeinem
Nachfolger das begonnene Werk weitergeführt,
inwieweit das Erbe als neue, aus dem Überliefer⸗
ten erwachſene Aufgabe betrachtet worden iſt.
Denn, wie Conſtantin Rößler beim Abgang Bis⸗
marcks in den Preußiſchen Jahrbüchern ſchrieb:
Das iſt überhaupt der Erfolg der hiſtoriſchen Men⸗
ſchen, daß ſie nicht ruhigen Beſitz, ſondern größere
Probleme zurücklaſſen.
Der Kaiſer ſelbſt verkündete, trotz des Perſonen⸗
wechſels an der leitenden Stelle bleibe der Kurs
der alte. Die vorwaltende Meinung iſt wohl eher
die umgekehrte: daß man den Kurs Bismarcks
141
verlaſſen, in vielem das Gegenteil getan von dem,
was er wollte und anſtrebte, und, wie weiter nicht
Wenige glauben oder glaubten, daß ſeitdem alles im
Reiche ſchlecht geworden und Deutſchland immer
weiter heruntergekommen ſei.
Daß Deutſchland im Gegenteil in dieſen 25 Jah⸗
ren einen unerhörten Aufſchwung genommen hat,
und daß gerade die Furcht der Nachbarn vor ſeiner
ſchwellenden und ſtrotzenden Kraft einer der
weſentlichſten Gründe des Weltkrieges gewor⸗
den iſt, braucht heute nicht mehr bewieſen zu
werden. Jener unendlich oft wiederholte und
immer von neuem variierte Satz, daß Bismarcks
Erbe in der unverantwortlichſten Weiſe ver⸗
ſchleudert worden ſei, wird den böſen Mäulern,
die ihn verbreiteten, nicht mehr geglaubt und
wurde ihnen ſchon vor dem Kriege nicht mehr
geglaubt.
Auch die im Eifer des Parteikampfes von
einem großen Gelehrten 1881 herausgeſchleuderte
Frage: „gibt es noch die Krone der Hohenzollern?
Unſere Kinder werden die Antwort darauf zu
geben haben“ hat mittlerweile ihre Antwort ge⸗
funden, und die einſt landläufige Behauptung, die
142
ee
Reichsverfaſſung ſei allein auf die Perſon Bismarcks
zugeſchnitten, iſt verſchollen.
Die Frage aber, ob in dieſem Vierteljahrhundert
im weſentlichen nach dem Kurſe Bismarcks weiter
geſteuert oder was erreicht wurde, gerade vermöge
eines anderen Kurſes erreicht worden iſt, bedarf
einer näheren Unterſuchung.
Die Konfliktspolitik freilich ließ man fallen,
aber darüber, daß das kein verderbliches Abweichen
von der echten Bismarckpolitik war, darüber wird
man jetzt einig ſein: die einen, weil ſie an die
Konfliktsabſichten überhaupt nicht glauben, die
anderen, weil ſie in dem Aufgeben ſolcher Pläne
nichts Verderbliches ſehen.
Das Sozialiſtengeſetz ſelber hat nach der jetzt
wohl ziemlich allgemein angenommenen Meinung
ſeinen Zweck verfehlt. Nach dem erſten Zuſammen⸗
zucken erholte ſich die Sozialdemokratie, ertrug
mit bewunderungswürdiger Charakterfeſtigkeit alle
Martyrien und wuchs von einer Wahl zur andern
an Stimmen wie an Mandaten. Die Nebenwir⸗
kungen aber, die das Geſetz gehabt hat, ſind, wie
ich aufs ſtärkſte betonen möchte, für Deutſchland
höchſt ſegensreich geweſen. Vor allem: es hat die
143
Sozialdemokratie jelber erzogen. Vor 1878 hatte
ſie einen Zug ins Anarchiſtiſch⸗Pöbelhafte. Hier und
da iſt dieſer Zug auch ſpäter noch aufgetaucht, aber
die Partei im ganzen hat ſich in die ſtrengſte Diſzi⸗
plin genommen und ihre eigenen Anhänger ſo ſehr
an dieſe Disziplin gewöhnt, daß ſie für fie ein-
ſtehen kann. Ohne das Sozialiſtengeſetz hätten
wir in Deutſchland vermutlich eine Periode von
ſozialen Unruhen durchzumachen gehabt, die ohne
Blutvergießen nicht zu Ende gekommen wären.
Jetzt haben wir es ſchon vor dem Kriege erlebt,
daß die Polizei mit den ſozialdemokratiſchen Ord⸗
nern zuſammen für die Erhaltung der Ordnung
auf den Straßen geſorgt hat. Die berauſchende
Idee der proletariſchen Revolution, des Straßen⸗
kampfes und der Barrikaden verlor ihre Kraft und
wurde zur ſchalen Phraſe.
Noch höher aber dürfte der Wert des Sozialiſten⸗
geſetzes für den poſitiven ſozialen Fortſchritt ſelbſt
anzuſchlagen ſein. Jede ſoziale Geſetzgebung leidet
unter der ungeheuren Schwierigkeit, daß die
Klaſſen, denen ſie zugute kommen ſoll, ihr oppo⸗
nieren, weil ſie nicht genug bringe und ſie ſich das
ideale Ziel nicht durch kleine Abſchlagszahlungen
144
verderben laſſen wollen; umgekehrt aber, die
Klaſſen, die geben ſollen, finden die Gaben ſchon
zu groß und fürchten weitere Konſequenzen.
Bismarck ſetzte es durch, daß die beſitzenden Klaſſen
die Laſten der Kranken⸗, Unfall- und Invaliditäts⸗
verſorgung, mit mäßigen Beiträgen von den
Arbeitern ſelbſt, auf ſich nahmen, weil er ihnen
gleichzeitig durch das Sozialiſtengeſetz die Siche⸗
rung gegen die ſoziale Revolution zu geben ſchien.
Nur indem der Kanzler ſeine ganze, durch die aus⸗
wärtige Politik und die Gründung des Reiches
gewonnene Autorität gleichzeitig für das Sozia⸗
liſtengeſetz gegen die Proletarier und für die
ſozialen Geſetze für die Proletarier einſetzte,
konnte er in ſchweren, jahrelangen Kämpfen,
namentlich gegen den Doktrinarismus der Liberalen,
die ſoziale Reform unter Dach bringen. Auch die
Schutzzollgeſetzgebung muß man hier noch einmal
heranziehen. Ohne die Sicherung des inneren Mark⸗
tes und der überlieferten Preiſe vermöge der Grenz⸗
zölle würden Induſtrie und Landwirtſchaft ihm auf
dem Wege der Sozialgeſetzgebung nicht gefolgt ſein.
Im Jahre 1890 hatte das Sozialiſtengeſetz dieſe
ſeine beſſeren Wirkungen ſo ziemlich erſchöpft, die
145
Furcht vor der roten Revolution war in weiten
Kreiſen des Bürgertums ebenſo verblaßt, wie der
Wille dazu in den Kreiſen der Genoſſen verraucht,
und die Erfahrung eines Vierteljahrhunderts
zeigt, wie das deutſche Volk ſich in voller Freiheit
günſtig entwickeln konnte.
Beginnen wir mit der inneren Politik, ſo bedarf
zunächſt einer beſonderen Betrachtung das Polen⸗
problem. Nach der verbreitetſten Anſchauung hat
Caprivi die Polenpolitik Bismarcks fallen laſſen,
ſeine Nachfolger aber haben ſie wieder aufgenom⸗
men und ſie mit den größten Mitteln weitergeführt.
Dieſe Auffaſſung iſt eine grundverkehrte. Vor
allem Bismarck war zwar äußerlich der Schöpfer,
innerlich aber ein Gegner der deutſchen bäuerlichen
Koloniſation in den Oſtmarken. Immer von neuem
hat er öffentlich erklärt, daß er dieſe Politik nicht
billige, und daß ſie dem, was er gewollt habe, nicht
entſpreche.
Am 16. September 1894 hielt er eine Anſprache
an die Deutſchen aus der Provinz Poſen, in der er
wörtlich ſagte, zunächſt in einer Erinnerung an
1848: „Ich bemerke dabei, daß der Kampf auch
damals nicht mit dem polniſchen Volke im großen
146
und ganzen, ſondern mit feinem Adel und jener
Gefolgſchaft geführt wurde.“ Ferner: „Ich glaube,
viele von Ihnen werden polniſch ſprechende
Arbeiter und Knechte haben und dabei den Ein⸗
druck haben, daß die Gefahr nicht von dieſen unte⸗
ren Schichten der Bevölkerung ausgeht.“
„Mit denen iſt zu leben, und von denen geht eine
Unruheſtiftung niemals aus. Sie ſind keine För⸗
derer einer uns feindlichen Bewegung, abgeſehen
davon, daß ſie vielleicht anderen Stammes ſind
als der Adel, deſſen Einwanderung in die ſlawiſchen
Gaue ſich im Dunkel der Vorzeit verliert. Um die
ganze große Zahl der arbeitenden und bäuerlichen
Volksklaſſe vermindert ſich alſo die ſtatiſtiſche Zahl
der Gegner eines friedlichen Zuſammen⸗
arbeitens beider Stämme. Die Maſſen der
unteren Schichten ſind zufrieden mit der preußi⸗
ſchen Verwaltung, die vielleicht nicht immer voll⸗
kommen ſein mag, die aber in jedem Falle beſſer
und gerechter ſie behandelt, als ſie es in den Zeiten
der polniſchen Adelsrepublik gewohnt waren. Und
damit ſind ſie zufrieden. Es iſt nicht mein Pro⸗
gramm geweſen, daß bei der Anſiedlungskommiſ⸗
ſion vorzugsweiſe auf die Anſiedlung kleiner Leute
147
deutſcher Zunge Bedacht genommen würde. Die
polniſchen Bauern ſind nicht gefährlich, und es iſt
nicht entſcheidend, ob die Arbeiter polniſch oder
deutſch ſind. Die Hauptſache war, daß der große
Grundbeſitz Domäne wurde unter einem Pächter,
auf den der Staat fortdauernd Einfluß behält. Das
Bedürfnis, raſch zu verkaufen und zu koloniſieren,
iſt von anderer kompetenter Stelle ausgegangen,
aber nicht von mir. Ich habe dieſe Maßregeln nicht
ſo überwachen, nur anregen können.“
Etwas anders gewandt, aber faſt noch ſtärker
gegen die deutſche Koloniſation gerichtet und ſogar
eine polniſche indirekt befürwortend, äußerte ſich
der Fürſt am 23. September desſelben Jahres
zu einer weſtpreußiſchen Deputation —; hier heißt
es: „Wir ſind, wie ich glaube, etwas zu eilig in
der Sache vorgegangen. Mit der Zeit, auf dem
Wege der Rentengüter, fand es ſich ja wohl, daß
man in Ruhe eine, wenn nicht deutſche, ſo doch
deutſchtreue Bevölkerung allmählich herſtellen
konnte.“
Ganz ebenſo hat der Fürſt ſchon im Jahre 1872,
als er zuerſt mit ſcharfen Erlaſſen den Miniſter
des Innern, Grafen Eulenburg, darauf verwies,
148
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daß er mehr Obacht auf die polnische Agitation
haben müſſe, den polniſchen Bauernſtand aus⸗
drücklich ausgenommen und nach Mitteln verlangt,
wie man jenen zahlreichen und an ſich der Regie⸗
rung zugeneigten Stand von dem Einfluß des pol⸗
niſchen Adels möglichſt emanzipieren könne. Auch
als er das Geſetz über den Ankauf polniſcher Güter
im Abgeordnetenhauſe einbrachte, hütete er ſich
wohl, von Bauernanſiedlungen zu ſprechen, ſon⸗
dern ſprach nur von Deutſchen, die auf den pol⸗
niſchen Gütern angeſiedelt werden ſollten, was
alſo auch deutſche Großgrundbeſitzer oder Pächter
ſein konnten.
Wie war es denn aber möglich, daß er überhaupt
das polniſche Anſiedlungsgeſetz, das doch bäuer⸗
liche Koloniſation vorſieht, hat einbringen können?
Wir haben darüber eine ganz authentiſche Auskunft.
Zu den nächſten parlamentariſchen Vertrauten
des Reichskanzlers gehörte in jener Zeit der frei⸗
konſervative Abgeordnete von Kardorff. Dieſer
beſaß Scharfblick genug, um zu erkennen, daß, wie
er ſich ausdrückte, die Sache nicht marſchieren werde,
ging zum Fürſten und trug ihm ſeine Bedenken
vor. Er empfahl, ſich auf den gelegentlichen An⸗
149
kauf polnischen Großgrundbeſitzes und die Ein-
ſetzung deutſcher Domänenpächter zu beſchränken.
In der Aufzeichnung über das Geſpräch, die Kar⸗
dorff hinterlaſſen hat, fährt er nun weiter fort:
„Der Fürſt hat meine Ausführungen, ohne mich
zu unterbrechen, angehört, um mir nun folgendes zu
erwidern: ‚Dieje von Ihnen empfohlene Art des
Vorgehens entſprach meiner eigenen Anſchauung,
aber ſie wird mir unmöglich gemacht durch die
Haltung der nationalliberalen Partei, welche eine
deutſche bäuerliche Anſiedlung als eine Vorbe⸗
dingung für ihre Zuſtimmung zu der Etatsforde⸗
rung hingeſtellt hat und mich dadurch nötigt, ihr
nachzugeben. Ihre Bedenken gegen die geplanten
bäuerlichen Anſiedlungen ſcheinen aber doch auch
von Kennern der polniſchen Verhältniſſe, z. B.
dem Oberpräſidenten Graf Zedlitz nicht für ſo
ſchwerwiegende gehalten zu werden, als ſie er⸗
ſcheinen, und ich kann Sie nur bitten, nicht über⸗
ſehen zu wollen, daß es ſich hier um eine Frage
handelt, welche in unſere auswärtige Politik hinein⸗
greift. Die Niederlage, welche Polen, Zentrum und
Linke in den polniſchen Fragen der Reichsregierung
im Reichstag bereitet haben, haben im Auslande
150
1 q ⁵˙xͤT% r —⁰wQ: —r¹Üdl!,. ˙ mV] 2 al *
Aufſehen erregt und unſere Beziehungen zu mancher
der auswärtigen Mächte (Rußland?) weſentlich
erſchwert. Für dieſe Niederlage bedarf ich einer
glänzenden Genugtuung, wie ſie mir nur eine
ſtarke Majorität des preußiſchen Abgeordneten⸗
hauſes zu verſchaffen vermag, und dieſe ſtarke
Majorität kann ich ohne Beihilfe der National⸗
liberalen nicht haben.““
Das Vorgehen Bismarcks gegen die Polen im
Jahre 1886 iſt hiernach zunächſt einzureihen in die
Geſamtſituation des damaligen parlamentariſchen
Kampfes, wo die feindliche Reichstagsmajorität
dem Kanzler einen Stich nach dem anderen ver⸗
ſetzte und er in der Aufnahme des Polenkampfes
einen günſtigen Boden fand, national-deutjche
Empfindungen anzurufen und im Abgeordneten⸗
hauſe die Stütze zu finden, die ihm der Reichstag
verſagte. Die letzte Wurzel iſt aber in der aus⸗
wärtigen Politik zu finden. Bismarck war keines⸗
wegs, wie auch ſchon die obigen Außerungen
zeigen, ein prinzipieller Polenfeind. Niemals hat
er etwa argumentiert: das Deutſche Reich iſt deutſch
und nicht polniſch, und deshalb müſſen wir ſehen,
dieſen Fremdkörper möglichſt auszumerzen oder ihn
151
zu unterdrücken ſuchen. Ein derartiger Doktrinaris⸗
mus, wie wir ihn in den letzten Jahrzehnten oft
haben vortragen hören, war ſeinem politiſchen
Denken durchaus fremd.
Wie jeder Doktrinarismus ſo lag ihm auch
der Nationalismus fern. „Sein Geſichtskreis“,
ſchreibt ſein ihm ſo naheſtehender Kabinettschef
Tiedemann“), „ging weit über die Grenzen ſeines
engeren Vaterlandes hinaus und er war völlig
frei von dem Chauvinismus der vulgären Vater⸗
landsliebe; er nannte ſich ſelbſt wiederholt einen
Europäer“. Obgleich Ehrenmitglied des Allge⸗
meinen deutſchen Sprachvereins, liebte er es, ſeinen
Reden durch den Gebrauch von Fremdwörtern und
Zitaten aus fremden Sprachen nicht bloß Präziſion,
ſondern auch Fülle, Eleganz und Buntheit zu
verleihen.“)
Überbliden wir fein Verhalten zu den Polen
ſeine ganze Laufbahn hindurch, ſo ſehen wir, daß
es ſich immer rein praktiſch nach den Umſtänden
*) Perſönliche Erinnerungen an den Fürſten Bismarck
von Chriſtoph v. Tiedemann, S. 42. Leipzig, S. Hirzel.
*) Vgl. meine Schrift „Die Sprachreinigung, Fürſt
Bismarck und Heinrich v. Treitſchke. Verlag Georg Stilke.
152
gerichtet hat. In der Revolutionszeit, wo die
Polen voran auf allen Barrikaden kämpften, war
er ſtark antipolniſch. In der erſten Periode ſeiner
Miniſterſchaft, wo es ihm darauf ankam, mit Ruß⸗
land Freundſchaft zu pflegen, half er mittelbar
1863 den ruſſiſch⸗polniſchen Aufſtand unter⸗
drücken, hielt ſich aber zu den preußiſchen Polen
neutral. 1870 verhandelte er mit Erzbiſchof Ledo⸗
chowski in Verſailles perſönlich und verlangte von
dem Kronprinzen, wie er ſelbſt verſchiedentlich
erzählt hat und ich aus dem Munde der Kaiſerin
Friedrich beſtätigen kann, ganz ernſtlich, daß er
ſeine Söhne polniſch lernen laſſe. Der Kultur⸗
kampf wurde dann beſonders ſtark gegen die pol⸗
niſche Geiſtlichkeit geführt; aber den eigentlichen
Nationalitätenkampf nahm er doch erſt gegen Ende
ſeiner Laufbahn im Jahre 1886 auf, jedenfalls
wieder, neben den ſchon erwähnten parlamen⸗
tariſchen Momenten, im Zuſammenhang mit der
auswärtigen Politik. Es war die Zeit, wo er alle
ſeine Kraft daran ſetzte, das ruſſiſch⸗franzöſiſche
Bündnis hintanzuhalten und wieder ein leidliches
Verhältnis zu Rußland zu gewinnen. Da konnte
es kein beſſeres Mittel geben, als die Polen zu
153
preſſen. Eine deutſche Regierung, die einen Krieg
mit Rußland erwartet oder ihn ſogar vorbereitet,
wird vor allem ſuchen, ſich die Polen freundlich
zu ſtimmen, und man kann es als den ſtärkſten
Beweis, daß Deutſchland den jetzigen Weltkrieg
nicht gewollt hat, anſehen, daß es härtere und
immer härtere Maßregeln bis zum Enteignungs⸗
geſetz gegen die Polen ergriffen hat. Ein Beweis
klugen politiſchen Vorausſehens war das gewiß
ebenſowenig wie die Bedrückungen der Serben,
Kroaten und Rumänen durch die Magyaren. Viele
glauben, daß der Krieg im Oſten für uns erheblich
günſtiger verlaufen wäre, wenn die ruſſiſchen Polen
anſtatt abzuwarten, wie ihre beiden Feinde ſich
gegenſeitig niederkämpften, von Anfang an auf
unſere Seite getreten wären. Aber wie dem auch
ſei, Bismarck iſt jedenfalls an dieſem vielleicht
ſchwerſten Fehler der preußiſch⸗deutſchen Politik
in den letzten Jahrzehnten unſchuldig, und es war
eine grobe Irreführung der deutſchen öffentlichen
Meinung, wenn die Fortſetzung dieſer Politik ihr
immer wieder aufgeredet wurde mit der Begrün⸗
dung, daß es ſich um eine Ausführung Bismarck⸗
ſcher Gedanken handle. Die nationalen Leiden⸗
154
ſchaften waren nun einmal fo erregt, daß
auch ſeine eigenen Warnungen das Fortſchrei⸗
ten auf der verderblichen Bahn nicht mehr
haben aufhalten können.
Man mag ſich ja damit tröſten, daß mit
einem Aufwand von einer Milliarde in den
vielen Anſiedlungsdörfern immerhin ein erheb⸗
liches Kulturwerk errichtet worden ſei. Aber
auf der anderen Seite iſt es Tatſache, daß
vermöge der nicht gewollten indirekten Folgen
unſerer Polenpolitik die Oſtmarken, namentlich
die Städte, mehr poloniſiert als germaniſiert
worden find. Wer Bismarcks Erbe nach Abſchluß
der jetzigen Kriſis recht verwalten will, wird ſich
nicht an einzelne ſeiner Ausſprüche aus dieſer
oder jener Periode ſeiner politiſchen Laufbahn
halten dürfen, ſondern das unter allen Umſtänden
ſehr ſchwierige Problem in ſeinem Geiſt, das heißt,
nicht doktrinär, ſondern realpolitiſch und praktiſch
zu löſen ſuchen. Zwiſchen dem einen Extrem, daß
man don den Prinzen des Königlichen Hauſes
verlangt, daß ſie polniſch lernen ſollen, und dem
anderen, daß man Lehrer ſtrafverſetzt, die denun⸗
ziert worden ſind, weil ſie mit irgend jemand
155
polniſch geſprochen haben, 5 es mancherlei
Mittelwege.“)
Auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens
muß man ziemlich ſtark durchgreifen, um die Frage
der Nachfolge Bismarcks von Fabeln und Legenden
zu ſäubern und ihr auf den Grund zu kommen.
Aber wer guten Willen hat, vermag ſchließlich die
Wahrheit ohne große Schwierigkeiten zu erkennen.
Fahren wir fort mit der inneren Politik, ſo
ſehen wir, wie unter Caprivi eine höchſt fruchtbare
Geſetzgebung einſetzt. Der Miniſter von Berlepſch
ſchuf die Arbeiterſchutzgeſetzgebung, der Bismarck
ſich ſo lange widerſetzt hatte; der Finanzminiſter
von Miquel reformierte in genialer Weiſe in
Preußen das Syſtem der direkten Steuern. Der
Miniſter Herfurth brachte eine neue Landgemeinde⸗
ordnung durch, die den Klagen auf dieſem Gebiet
ein Ende machte. Der Reichskanzler Caprivi ſelbſt
nahm ſich der Armeereform an und ermöglichte
durch Einführung der zweijährigen Dienſtzeit und
entſprechende Vermehrung der Rekrutenzahl die
Ausbildung jener Maſſen von Reſerviſten, vermöge
*) Näheres in meinem Buche „Regierung und Volks⸗
wille“ S. 157 fl.
156
deren wir jetzt imſtande geweſen find, mit der
Ausſicht auf den Erfolg in den Weltkrieg zu gehen.
Alles das ſind Dinge, die Bismarck tatſächlich nicht
wollte, oder auch nicht konnte, da er ſich zu ſehr
dagegen feſtgelegt hatte. Sehen wir aber auf die
Grundideen der Bismarckſchen Staatskunſt, ſo
müſſen wir geſtehen, daß ein innerer Grund, wes⸗
halb er alle dieſe Geſetze nicht hätte gutheißen
können, nicht vorliegt, im Gegenteil, man darf ſie
ſogar als natürliche und notwendige Konſequenzen
ſeiner eigenen Politik anſprechen, und wenn er
ſelbſt dieſe Konſequenzen nicht gezogen hat, ſo lag
das an gewiſſen, man möchte ſagen Zufälligkeiten
ſeiner Individualiät, die er als alter Mann nicht
mehr überwinden konnte und wollte, oder wie bei
der dreijährigen Dienſtzeit, die ihm, wie wir geſehen
haben, unweſentlich war, an hiſtoriſchen Bindun⸗
gen, die er nicht mehr ſo leicht loswerden konnte.
Man muß alſo ſozuſagen einen idealen Bismarck
und einen Bismarck in Fleiſch und Blut unter⸗
ſcheiden; von dieſem letzteren hat ſich der neue
Kurs tatſächlich entfernt und freigemacht, mit
jenem aber hat er ſich dadurch keineswegs in Wider⸗
ſpruch geſetzt, ſondern ihn ſogar erfüllt.
157
Nicht viel anders ſteht es mit der auswärtigen
Politik. Bismarck ſelbſt iſt der Anſicht geweſen,
daß ſein Nachfolger unſer gutes Verhältnis zu
Rußland, das er immer noch aufrecht gehalten
habe, zerſtört habe. Andere glauben, daß um⸗
gekehrt unter Caprivi das Verhältnis Deutſch⸗
lands zu Rußland beſſer geworden ſei, als es
zuletzt unter Bismarck geweſen. Richtig iſt, daß
Caprivi gleich bei ſeinem Amtsantritt den ſoge⸗
nannten geheimen Rückverſicherungsvertrag mit
Rußland, der abgelaufen war, nicht erneuerte.
Der Grund dieſer Nichterneuerung lag aber nicht
in einer ſtärkeren Feindſeligkeit gegen Rußland
oder in einer Annäherung an England, vielmehr
wurde in der Beratung, die darüber ſtattfand,
von einem der Teilnehmer, ich vermute, daß
es Herr von Holſtein geweſen iſt, geltend gemacht,
daß wenn der Vertrag bekannt würde, er in Oſter⸗
reich eine ſehr ſtarke und gefährliche Verſtimmung
hervorrufen könne, man aber nicht ſicher ſei, ob
nicht der Altreichskanzler bei ſeinem Temperament
das Geheimnis einmal herauslaſſe. Dieſe Er⸗ |
wägung gab den Ausſchlag und daß fie nicht un⸗
berechtigt war, hat ja die Folgezeit bewieſen, als
158
P
Bismarck tatſächlich, aus welchem Grunde auch
immer, den Vertrag kundbar gemacht hat.
Die Frage, wie man ſich diplomatiſch am beſten
zu Rußland geſtellt hätte und ob dieſe oder jene
Maßregel richtig oder fehlerhaft war, hat heute
ſehr an Intereſſe verloren, da niemand mehr be⸗
zweifelt, daß die wilde Flut des Panſlawismus
ſich durch keinerlei diplomatiſche Mittel auf die
Dauer hätte eindämmen laſſen.
In den erſten Jahren der Regierung Nikolaus' II.
war, wie jüngſt ein Hiſtoriker bemerkt hat“), das
Verhältnis zwiſchen Berlin und Petersburg zeit⸗
weilig ſehr viel herzlicher als in den letzten Jahren
Bismarcks. Aber was hat es genützt? Wir konnten
nichts anderes tun, als die Bismarckſche Politik
fortſetzen, die eingeſtellt war auf den Zaren und
ſeine Ratgeber, aber die alte ruſſiſche Autokratie
iſt allmählich dahingeſchwunden; der Zar und
ſeine Ratgeber haben ſich mehr und mehr vom
Steuerruder verdrängen laſſen müſſen, und die
fanatiſchen Inſtinkte der Panſlawiſten, der ruſſiſchen
Intelligenz, die die ungeheuren moskowitiſchen
) Luckwaldt, „Bismarcks Erbſchaft und der Krieg“,
„Das neue Deutſchland“, Bismarck⸗Nummer, S. 183.
159
Maſſen hinter fich herzieht, regieren das Reich
und drängen fort und fort zu immer größeren
Eroberungen. Wie wir die Dinge jetzt ſehen, iſt
es nicht erſtaunlich, daß wir im Jahre 1914 in den
Krieg geraten ſind, ſondern nur, daß er ſich ſeit
dem Jahre 1879, wo uns Rußland zum erſten
Male damit bedrohte, bis zu dieſem Jahre hat
hintanhalten laſſen können.
Richtig iſt, daß mit dem Einſetzen einer aktiven
deutſchen Orientpolitik und der Anknüpfung näherer
Beziehungen zur Türkei, auf deren innere Natur
noch zurückzukommen ſein wird, der neue Kurs
mittelbar eine ſchärfere Stellung gegen Rußland
nahm und inſofern von dem alten abgewichen iſt.
Bismarck ſelber hat ſich darüber noch öfter tadelnd
geäußert. Aber die Abweichung wird wieder
geringer als ſie ſcheint, wenn man herausarbeitet,
wie ſehr ſie ſchon unter Bismarck ſelbſt angelegt
war. Freilich hat er erklärt (1887), „wir werden
uns wegen dieſer Frage (der orientaliſchen) von
niemand (d. h. von Oſterreich⸗Ungarn) das Leitſeil
um den Hals werfen laſſen“, und alle jene Fragen
berührten die deutſchen Intereſſen nur inſoweit,
als das Deutſche Reich mit Oſterreich in ein ſoli⸗
160
dariſches Haftverhältnis trete. Aber eben dieſes
ſolidariſche Haftverhältnis hat er ja nicht nur ge⸗
ſchaffen, ſondern ſogar gewünſcht, das internationale
Bündnis zu einem in beiden Reichen verfaſſungs⸗
mäßig unauflöslichen zu machen, und ſchon im
Sommer 1880 befürwortete er die Entſendung einer
Militärmiſſion nach der Türkei mit der Erwägung:
„Wenn in Rußland der Chauvinismus, der Pan⸗
ſlawismus und die antideutſchen Elemente uns an⸗
greifen ſollten, ſo wären die Haltung und die Wehr⸗
haftigkeit der Türkei für uns nicht gleichgültig.
Gefährlich könnte ſie uns niemals werden, wohl
aber könnten unter Umſtänden ihre Feinde auch
unſere werden.“ Immerhin bleibt ein weſentlicher
Unterſchied zwiſchen dieſen Maßregeln und der
Politik des neuen Kurſes, und der tiefere Grund
dieſer Abweichung wird noch in einem allgemeinen
Zusammenhang zu erörtern fein.
Daß gerade der General von Caprivi Bismarcks
Nachfolger wurde, iſt wohl einigermaßen auf ihn
ſelbſt zurückzuführen; ſchon als er ihn als jungen
General kennen lernte, hat er zu ſeinem Kabinetts⸗
chef geäußert: „in dieſem Mann ſtecke ein zukünfti⸗
ger Kanzler“. Nachdem er ihn dann als ſeinen
6 Delbrück, Bismarcks Erbe 161
unmittelbaren Untergebenen (Staatsſekretär des
Reichsmarineamts 1883-1888) genauer kennen
gelernt hatte, da nahm er ihn, als er ſeine letzte
Idee der gewaltſamen Niederſchlagung der Sozial⸗
demokratie ins Auge faßte, für dieſen Kampf als
Miniſterpräſidenten in Ausſicht; nicht wegen ſeiner
politiſchen Anſichten, wie er es ſpäter erklärt hat,
ſondern wegen ſeiner hervorragenden Charakter⸗
eigenſchaften — freilich eine Unterſcheidung, die
praktiſch nicht ſtandhält, denn wie hätte er einen
Miniſterpräſidenten neben ſich ſtellen können,
von dem er nicht vorausſetzte, daß er ſehr ähnliche
politiſche Anſchauungen habe wie er ſelber?
Fragen wir, wie Caprivi es zuſtande gebracht
hat, mit dem Reichstag auszukommen, da doch ein
Bismarck an dieſer Möglichkeit bereits verzweifelt
hatte, ſo iſt wieder der Grund nicht in abweichenden
Prinzipien zu ſuchen, ſondern in der Tatſache, daß
der Nachfolger perſönlich von gewiſſen hiſtoriſchen
Bindungen, von denen ſich Bismarck nicht mehr zu
löſen vermochte, frei war. Zwiſchen dem Zentrum
und Bismarck und noch mehr zwiſchen der deutſch⸗
freiſinnigen Partei und Bismarck hatten die jahr⸗
zehntelangen Kämpfe einen Abgrund des Haſſes
162
„ ˙ m » —ůùu⁰
ausgehöhlt, der nicht mehr zu überbrücken war.
Mit Bismarck hätte das Zentrum nur unter unan⸗
nehmbaren Bedingungen, die deutſch⸗freiſinnige
Partei überhaupt nicht verhandelt. Caprivi waren
die beiden Oppoſitionsparteien bereit, entgegenzu⸗
kommen, und auch er kam ihnen entgegen, nament⸗
lich mit der zweijährigen Dienſtzeit. Bismarck, der
eine dreijährige Dienſtzeit feſthalten wollte, hätte
mit ihr die große Armeevermehrung im Reichstag
niemals durchgebracht.
Er verſtand in Friedrichsruh die beſſeren Be⸗
ziehungen zwiſchen den beiden Faktoren der Ge⸗
ſetzgebung ſo wenig, daß er glaubte, der Reichs⸗
tag getraue ſich nicht mehr ſolche Oppoſition zu
machen, wie einſt ihm, gerade weil es den Männern
des neuen Kurſes ſo gänzlich an Autorität und Er⸗
fahrung mangele, und warf dem Reichstag des⸗
halb geradezu Nachgiebigkeit, Schwäche und Leiſe⸗
treterei vor.“) So leicht iſt es Caprivi auf die
Dauer freilich doch nicht geworden. Auch er ſtieß
auf die alte antimilitariſtiſche Oppoſition, aber mit
der Gabe der zweijährigen Dienſtzeit in der Hand
) H. Hoffmann, Fürſt Bismarck 1890—98. Bd. III,
S. 59, 104.
67 163
konnte er es endlich wagen, den Reichstag aufzu-
löſen, ſprengte damit die deutſch⸗freiſinnige Partei
in zwei Teile, lockte auch die Polen an ſich und ge⸗
wann ſo die Majorität.
- Auf demſelben Wege ſetzte er auch die Bewil⸗
ligungen für die Flotte durch, auf die noch im Zu⸗
ſammenhange mit der deutſchen Weltpolitik und der
Erwerbung Helgolands zurückzukommen ſein wird.
Trotz aller ſeiner Erfolge iſt das Andenken
Caprivis in der Erinnerung des deutſchen Volkes
ſchwer belaſtet. Zunächſt durch zwei anſcheinende
oder wirkliche legislatoriſche Mißgriffe: eine
Gruppe von Handelsverträgen und das Volks⸗
ſchulgeſetz des Grafen Zedlitz. Die Handelsver⸗
träge haben der deutſchen Volkswirtſchaft un⸗
zweifelhaft den größten Nutzen geſchaffen, aber ſie
beruhten in einem Punkt auf einem Irrtum. Der
ſchlechte Ausfall der Wahlen im Jahre 1890 war,
wie wir geſehen haben, zum Teil darauf zurückzu⸗
führen, daß die Weltmarktpreiſe für Getreide an⸗
gezogen hatten und der im Jahre 1887 erhöhte
Kornzoll infolgedeſſen als Brotwucher erſchien.
Die Handelsverträge ſetzten deshalb den Kornzoll,
zwar nicht ſehr, aber doch um einiges, von 5,5 Mark
164
auf 3,5 Mark herab, wofür der Landwirtſchaft, zu⸗
mal der oſtdeutſchen, eine Kompenſation, vielleicht
ſogar eine Überkompenſation durch Aufhebung des
Identitätsnachweiſes beim Export von Getreide
gewährt wurde. Unmittelbar darauf begannen
aber die Weltmarktpreiſe aufs neue rapid zu
ſinken, was niemand vorausgeſehen hatte. Kein
Wunder, daß, als die deutſche Landwirtſchaft nun
in große Not geriet, ſie die Schuld bei den Handels⸗
verträgen ſuchte und eine gewaltige Agitation gegen
Caprivi in Szene ſetzte. Man mag zugeben, daß
Bismarck viel zu ſehr Agrarier geweſen wäre, um
jene Herabſetzung der Zölle zu dulden, und daß
hier wirklich eine Abweichung von ſeinem Kurſe
vorliegt. Aber auf der anderen Seite iſt nicht zu
vergeſſen, daß ohne die Milderung dieſer Zölle
und ohne die Handelsverträge dem leitenden
Staatsmann die Sprengung der deutſch⸗frei⸗
ſinnigen Partei ſchwerlich gelungen wäre.
Dem Zedlitz ſchen Volksſchulgeſetz wurde der
Vorwurf gemacht, daß es die Klerikaliſierung der
Volksschule bedeute. Mir ſcheint, daß das doch
nur in wenigen Punkten der Fall war, über die
eine Vereinigung mit den Nationalliberalen wohl
165
zu erzielen geweſen wäre, und daß weniger durch
die Fehler in der Sache ſelbſt, als durch einige par⸗
lamentariſch⸗taktiſche Fehler des Kultusminiſters
und Caprivis ſelbſt das Geſetz zu Falle gekommen
iſt. Einen Gegenſatz zur Bismarckſchen Politik darf
man daraus aber kaum konſtruieren, wenn man
ſich an deſſen letzte Verhandlungen mit Windthorſt
erinnert und nachlieſt, daß er in jenen Tagen
verkünden ließ, die Vorſtellung, daß die Konſer⸗
vativen ſich niemals mit dem Zentrum verſtän⸗
digen könnten, beweiſe nur, daß der Freiſinn nicht
den Mut beſitze, der Wahrheit ins Auge zu ſehen.
Der wirkliche und letzte Grund, weshalb Caprivi
in der Erinnerung des deutſchen Volkes heute noch
mit einer Art von Haß verfolgt wird, iſt kein anderer,
als daß er eben der Nachfolger Bismarcks geweſen
iſt und mit dieſem dann in die peinlichſten perſön⸗
lichſten Reibereien geriet. Bismarck hatte daran
nicht weniger Schuld als Caprivi — aber wie
konnte ſich dieſer überhaupt auf ſolchen Kampf
einlaſſen? Die große Maſſe des Volkes glaubte
ohnehin, daß die Entlaſſung Bismarcks nichts als
eine Sache der Laune und der Intrige geweſen
ſei. Nun wurde der Held ſogar noch perſönlich ver⸗
166
unglimpft und gemißhandelt. Selbſt diejenigen,
die ſchon damals die innere Notwendigkeit von
Bismarcks Abgang erkannten, verlangten dennoch,
daß der Vater des Vaterlandes, was er ſich auch
ſelber zuſchulden kommen laſſe, doch ſtets mit der
Ehrerbietung behandelt werde, die ſeinem Ver⸗
dienſt gebührte und die die einfache Dankbarkeit
verlangte.
Dieſer Fehler hat es verſchuldet, daß das frucht⸗
bare und, wie wir geſehen haben, in der Tiefe
dem Geiſte Bismarcks ſehr verwandte Wirken
Caprivis ihm doch keinerlei Anerkennung im Den⸗
ken und Empfinden des deutſchen Volkes einge⸗
bracht hat.
Ein ſehr erfahrener und ſehr eingeweihter Par⸗
lamentarier ſagte mir einmal, eigentlich habe
Graf Walderſee auf die Reichskanzlerſchaft ſpeku⸗
liert, ſich aber zuletzt doch geſagt: Nachfolger
Bismarcks? Das iſt unter allen Umſtänden ein
ſehr ſchlechtes Geſchäft — Nachfolger ſeines Nach⸗
folgers aber würde er gern geworden ſein.
Was von Caprivi gilt, gilt nun im weſentlichen
auch von ſeinen Nachfolgern. Sie haben, von
Kaiſer Wilhelm berufen, die deutſche Politik als
167
Erbe Bismarcks zu verwalten geſucht. Einmal
fand noch, an den Namen des Miniſters von Köller
anknüpfend, ein böſer Rückſchlag in den falſchen
Bismarckianismus ſtatt, der eine ſo große Be⸗
wegung wie die Sozialdemokratie glaubte mit
Polizeimaßregeln niederhalten zu können, aber
bald bog man von dieſem falſchen Kurſe wieder ab,
um nun endlich zu jener wahren Verwaltung
eines großen Erbes überzulenken, die nicht bloß
auf Erhaltung, ſondern auf Mehrung und Steige⸗
rung des Ererbten bedacht iſt.
Als Bismarck am 18. Januar 1871 im Kaiſer⸗
ſaale des Verſailler Schloſſes die Kaiſerproklama⸗
tion verlas, da ſoll auch ihn, den Eiſernen, die
innere Erregung faſt überwältigt haben. Der
Kanzler ſprach, wie ein Augenzeuge berichtet,
anfangs mit einer vor Erregung keuchenden Bruſt,
bleichem Antlitz und ſo blutleeren Ohren, daß ſie
faſt durchſichtig waren. Mit Mühe rangen ſich die
erſten Sätze aus der Bruſt, aber allmählich wurde
die Stimme klar und durchdrang den Saal, be⸗
ſonders bei den Schlußworten „Wir übernehmen die
kaiſerliche Würde in dem Bewußtſein der Pflicht,
in deutſcher Treue die Rechte des Reiches und
168
jeiner Glieder zu ſchützen, den Frieden zu wahren,
die Unabhängigkeit Deutſchlands, geſtützt auf die
geeinte Kraft ſeines Volkes, zu verteidigen. Wir
nehmen ſie an, in der Hoffnung, daß es dem deut⸗
ſchen Volke vergönnt ſein wird, den Lohn ſeiner
heißen und opfermütigen Kämpfe in dauerndem
Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen,
welche dem Vaterlande die ſeit Jahrhunderten
entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe
Frankreichs gewähren. Uns aber und unſeren
Nachfolgern an der Kaiſerkrone wolle Gott ver⸗
leihen, allzeit Mehrer des Deutſchen Reiches zu
ſein, nicht an kriegeriſchen Eroberungen, ſondern
an den Gütern und Gaben des Friedens auf
dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und
Geſittung.“
Alle die zwanzig Jahre, die es Bismarck noch
vergönnt war, am Steuerruder des Staates zu
ſitzen, hat er im Sinne dieſer Worte ſeines Amtes
gewaltet. Deutſchland war nach ſeinem Ausdruck
„ſaturiert“; nach keiner Richtung bedurfte es einer
Erweiterung. Jedem Gedanken, einmal fremd⸗
ſprachiges Gebiet für Deutſchland zu erwerben,
war er nicht nur abhold, ſondern direkt feindlich,
169
ſo daß er im Verſailler Frieden ſelbſt Metz nur ſehr
ungern auf das Andringen Moltkes genommen hat.
Das neue Reich wollte nichts, als ſich ſelbſt ſchützen
und den Frieden, und die fruchtbare Geſetzgebung,
die dieſe beiden Jahrzehnte erfüllt, gaben auch
dem deutſchen Geiſte und ſeinem Streben vollauf
Beſchäftigung und Genugtuung. Nicht gerade
häufig, aber doch zuweilen, ſind Völkern ſolche
Perioden einer gewiſſen Ruhe vergönnt geweſen.
Wir wiſſen, daß dieſe Ruhe auch nur eine ſehr
relative war, daß man wohl auch gerade umgekehrt
ſagen kann, es iſt eine Zeit heftiger innerer Kämpfe
und Spannungen geweſen; Ruhe war es nur in⸗
ſofern, als man nach außen im Frieden lebte und
im Innern, wenn man die auf Bismarcks Abgang
folgenden beiden Dezennien hinzunimmt, ſich die
überlieferten Probleme allmählich löſten, die be⸗
ſtehenden Formen ſich befeſtigten.
Die Weltgeſchichte aber ſteht nicht ſtill und ein
Volk auch nicht, oder wenn es ſtill ſtehen ſollte,
ſo würde es erſtarren, ſeine geiſtigen Kräfte nicht
nur nicht ausbilden, ſondern ſie allmählich ver⸗
lieren. Die materiellen Güter, das Streben nach
ihnen, der Genuß und die materialiſtiſche Geſin⸗
170
nung gewinnen dann nach und nach die Ober-
hand.
Die Deutſchen konnten, nachdem ſie ihre natio⸗
nale Einheit nach außen und innen erkämpft,
ſich nicht für immer damit begnügen, eine euro⸗
päiſche Kontinentalmacht zu ſein, den Frieden zu
wahren und den anderen Kulturvölkern zu über⸗
laſſen, die Meere zu beherrſchen und die Kon⸗
tinente unter ſich zu verteilen. In Europa freilich
konnten ſie ſich für „ſaturiert“ erklären, aber die
Zeit mußte kommen, wo ſie ſich von der Kontinen⸗
talmacht zur Weltmacht erheben, Weltpolitik
treiben und ein Kolonialvolk werden mußten.“)
*) Meine eigene Auffaſſung vom Weſen der Kolonial⸗
politik habe ich niedergelegt in dem Aufſatz „Über die
Ziele unſerer Kolonialpolitik“ in den „Preußiſchen Jahrb.“
Bd. 147 S. 503 (1912), der in der engliſchen Militär⸗Zeit⸗
ſchrift „Journal of the United Service Institution“ über-
ſetzt wurde und jetzt von der Atlantie Monthly in Boſton, von
mir mit einer auf die Gegenwart bezüglichen Einleitung ver⸗
ſehen, für das amerikaniſche Publikum neugedruckt worden
iſt. Für das Nachfolgende habe ich noch weſentlich die eben
erſchienene höchſt wertvolle „Geſchichte der deutſchen Ko⸗
lonialpolitik“ von Dr. Alfred Zimmermann (Berlin,
E. S. Mittler) und die ſehr exakt gearbeitete Schrift „Vor⸗
ausſetzungen und Veranlaſſungen für Bismarcks Eintritt
in die Weltpolitik“ von Maximilian v. Hagen (Verlag
171
Jedes wahrhaft große Volk iſt ein Koloniſations⸗
volk. Das heutige deutſche Volkstum iſt geſchaffen
worden durch gewaltige Koloniſation. Das Reich,
das einſt Ludwig der Deutſche aus dem Erbe
Karls des Großen übernahm, reichte im Oſten nur
bis an die Ens, an den Böhmerwald, das Fichtel⸗
gebirge, an die Saale und Elbe. Der Überſchuß
der germaniſchen Volkskraft hat faſt das ganze
heutige Deutſch⸗Oſterreich, Sachſen, Schleſien,
Brandenburg, Mecklenburg, Oſtholſtein, Preußen
und große Teile von Poſen und Weſtpreußen im
Laufe von einigen Jahrhunderten dem Deutſch⸗
tum gewonnen, auch Kurland, Livland, Eſt⸗
land in den Oberſchichten germaniſiert. Die welt⸗
geſchichtliche Nachwirkung Friedrich Barbaroſſas
iſt vor allem, daß er durch ſeine maßvolle Politik
im Innern eine Stellung über den Parteien ge⸗
wann und dadurch die Ausdehnung des deutſchen
Gebiets nach Oſten über die Oder hinaus von
der Grenzboten 1914) herangezogen und mich in der
Weiterführung meiner Auffaſſung in erſter Linie beſtim⸗
men laſſen durch die ganz ausgezeichnete Schrift von Prof.
Kurt Wiedenfeld „Der Sinn des deutſchen Kolonial-
beſitzes“ (A. Markus und E. Weber, Bonn), aus der ich
manche Sätze wörtlich übernommen habe.
172
Schleſien bis nach Pommern ermöglichte. Im
14. Jahrhundert kamen dieſe Erwerbungen ins
Stocken, und als die neuen Weltteile entdeckt und
in den europäiſchen Verkehr und Machtbereich
gezogen wurden, da war Deutſchland nicht fähig,
ſich an den Koloniſationen, die nun hier begonnen
wurden, zu beteiligen. Die Spanier, Portugieſen,
Franzoſen, Niederländer und Engländer und nach
anderer Richtung die Ruſſen teilten ſich in die Welt.
Sollte das kraftſtrotzende deutſche Volk auf immer
hiervon ausgeſchloſſen ſein?
Es iſt ein Irrtum, wenn man ſich vorſtellt, daß,
als das Deutſche Reich gegründet wurde und damit
unſer Volk in die Reihe der großen Nationalſtaaten
eintrat, die außereuropäiſche Welt bereits vergeben
geweſen ſei. Das Innere von Afrika, eines ganzen
Weltteiles, war nicht nur noch nicht vergeben,
ſondern noch nicht einmal bekannt. Erſt nach der
Mitte der ſiebziger Jahre durchquerte Stanley
als erſter Weißer das afrikaniſche Zentralgebiet,
und welche Maſſe von ſonſtigen großen und frucht⸗
baren Landſchaften ſind ſeitdem noch unter die
Herrſchaft europäiſcher Völker getreten! Die
Engländer, Franzoſen und Italiener haben große
173
Stücke des Türkiſchen Reiches, Agypten, Tunis und
Tripolis abgegliedert und unter ihre Obhut ge⸗
nommen. An Agypten hat England den zukunfts⸗
reichen Sudan angeſchloſſen. Die Engländer
haben ihr vorderindiſches Reich noch fortwährend
ausgedehnt, Belutſchiſtan hinzugefügt und waren
in den letzten Jahren im Begriffe, ſich mit Rußland
in Perſien zu teilen. Schritt für Schritt iſt ihnen
Rußland von Norden her in der Richtung auf
Indien entgegengerückt. In Hinterindien haben
neben den Engländern die Franzoſen ein gewaltiges
Kolonialreich in Beſitz genommen. Ob China ein
ſelbſtändiger Staat bleiben oder ähnlich wie Indien
unter England, ſo unter die Herrſchaft Japans
kommen wird, oder etwa zwiſchen Japan, England
und Rußland verteilt wird, iſt heute noch nicht ab⸗
zuſehen. Das Hauptgebiet der eigentlichen Kolo⸗
nialerwerbungen aber iſt Afrika geblieben. Die
Franzoſen haben ſich von Algier bis zum Kongo
ausgedehnt, ſich im Nordweſten Marokkos be⸗
mächtigt, im Südoſten der Inſel Madagaskar.
Englands Beſitzung in Kapland dehnte ſich immer
weiter nach Norden aus und hat endlich auch die
beiden Burenrepubliken verſchlungen. In Zentral⸗
174
afrika gründete König Leopold II. von Belgien
das eigentümliche Gebilde des Kongoſtaates,
nicht als eine Kolonie des Königreiches Belgien,
ſondern als eine Art internationaler Unternehmung
mit dem König von Belgien an der Spitze. Wenn
alle dieſe Verſchiebungen und Erweiterungen ſich
noch nach der Gründung des Deutſchen Reiches
haben vollziehen können, weshalb hat das Deutſche
Reich nicht von Anfang an, indem es ſeine neu⸗
gewonnene Macht einſetzte, ſich an dieſer Erwerbs⸗
politik beteiligt?
Schon früh ſind im 19. Jahrhundert vereinzelte
Stimmen laut geworden, die deutſche Kolonien
verlangten und im Jahre 1867, zwiſchen den beiden
großen Kriegen, veröffentlichte Lothar Bucher in
dem offiziöſen Organ der Regierung, der „Nord⸗
deutſchen Allgemeinen Zeitung“, eine Reihe von
Artikeln in dieſem Sinne. Auch beim Friedens⸗
ſchluß 1871 haben ſich einige Stimmen erhoben,
die darauf hinwieſen, daß Deutſchland von Frank⸗
reich auch Kolonien erwerben könne. Aber ſie
blieben ganz vereinzelt. Erſt im Beginn der
achtziger Jahre dürfen wir wirklich von Anfängen
einer deutſchen Kolonialbewegung ſprechen. Aber
175
jie ging nicht von der Regierung aus und ebenſo⸗
wenig von der öffentlichen Meinung, im Sinne
einer Bewegung großer Maſſen. Einzelne Perſön⸗
lichkeiten waren es, hanſeatiſche Kaufleute, wie
Woermann in Hamburg, Lüderitz in Bremen,
Großkaufleute wie Colin und Hanſemann, Welt⸗
reiſende wie Claus v. d. Decken, Brenner, Kerſten,
Rohlfs, v. Weber, Schweinfurth, Nachtigal, v.
Maltzan, Miſſionare wie Fabri und junge Aben⸗
teurer oder Idealiſten, Karl Peters, Jühlke, Graf
Joachim Pfeil, Gebrüder Denhardt, die mit pro⸗
phetiſchem Blick ein neues Zukunftsdeutſchland zu
ſchauen glaubten oder auf eigene Hand hinaus⸗
fuhren, um es zu verwirklichen.
Es iſt höchſt merkwürdig, wie der leitende Staats⸗
mann ſich zu dieſen neuen Ideen ſtellte. Zunächſt
lehnte er ſie trotz Bucher prinzipiell ab, da das
Reich ſelbſt noch nicht fertig ſei, oder wie er es
in ſeiner bilderreichen Sprache draſtiſch ausdrückte,
„dieſes Kolonialgeſchäft wäre für uns genau ſo,
wie der ſeidene Zobelpelz in polniſchen Adels⸗
familien, die keine Hemden haben“. Ende der
ſiebziger Jahre ſchrieb er „ich bin nicht ohne Sorge,
daß wir durch faktiſches Vorgehen der Marine
176
„ ²˙ͤ;ͤ5t ⅛Z:X ]¶˙ w-w-ml,‚ k ˙m.t »-m -̃ .
in eine Gründung hineingeraten, die einer kaiſer⸗
lich deutſchen Kolonie nicht unähnlich ſieht“. Er
ſei von Haus aus kein Kolonialmenſch. Als Kom⸗
merzienrat Baare in Bochum wieder einmal
den Erwerb Formoſas empfahl, bemerkte Bis⸗
marck (1883): „Zu Kolonien gehört ein Mutter⸗
land, in dem das Nationalgefühl ſtärker iſt als der
Parteigeiſt.“ „Mit dieſem Reichstag iſt es ſchon
ſchwer genug, dem Reiche zu erhalten, was es
hat, ſogar das Heer im Inlande. Solange das
Reich finanziell nicht konſolidiert iſt, dürfen wir an
ſo teure Unternehmungen nicht denken.“
Aber bei dieſer reinen Negation konnte er nicht
bleiben. Der Inſtinkt ſeines Genius ſagte ihm,
daß er unmöglich eine ſolche Bewegung einfach
ablehnen, ſich einer derartigen Zukunftspolitik
völlig verſagen könne. Dazu kamen wiederholte
Beſchwerden von deutſchen Kaufleuten, die an der
Küſte von Afrika oder in der Südſee Handel trieben
und weder bei den wilden Häuptlingen noch den
Engländern einen Rechtsſchutz fanden. Dem
konnte der Deutſche in dem neuen Reiche nicht
mehr ausgeſetzt bleiben. Aber unmöglich war es
auch wiederum, daß der Kanzler die Aufgabe etwa
177
in demſelben Stil der Großartigkeit angriff, wie
er einſt den deutſchen Nationalſtaat ins Auge ge⸗
faßt hatte, oder die Grundlinien für die neue
Sozialpolitik zog. Er ſuchte nach einem Mittelweg.
Das franzöſiſche Syſtem, wie er es nannte, mili⸗
täriſche Beſitzergreifung und Errichtung einer ſtaat⸗
lichen Verwaltung, verwarf er. Statt deſſen kam
er auf einen öfter von England angewandten Modus,
nämlich die Erteilung von kaiſerlichen Schutz⸗
briefen für Private, die auf eigene Koſten, Gewinn
und Gefahr ein Gebiet erwerben und verwalten
wollten. Fürſtliche Kaufleute oder Geſellſchaften
konnten auf dieſem Wege Kolonialpolitik treiben,
ohne das Reich finanziell zu belaſten und es poli⸗
tiſch gleich unwiderruflich zu engagieren. Das
koloniale Programm ſollte ſein: Schutz den deut⸗
ſchen Pionieren, nicht ſtaatlicher Kolonialbeſitz.
Nach dieſem Grundſatz wurde ſeit Anfang der
achtziger Jahre verfahren. Aber der erſte Wider⸗
ſacher, auf den er dabei ſtieß, war die deutſche
Volksvertretung. Zwar erklärten ſchon im März
1885 ſämtliche Parteien (mit Ausnahme der Polen
und Sozialdemokraten) ihre Zuſtimmung zu der
Kolonialpolitik nach dem vom Kanzler entwickelten
178
Programm. Die Redner des Zentrums verſicher⸗
ten, „daß die Majorität des Reichstags niemals
fehlen würde, wo es ſich darum handelt, das An⸗
ſehen und die Ehre des Deutſchen Reiches zu
wahren“, und daß das Zentrum voll und ganz
dabei ſei, wenn es ſich darum handele, eine ge⸗
ſunde, nicht abenteuerliche Kolonialpolitik ins
Werk zu ſetzen. Der Abg. Frhr. v. Stauffenberg
erklärte namens der Freiſinnigen, „daß wir, wie
wir es ſchon früher getan haben, die Politik, die
der Herr Reichskanzler in der bekannten Sitzung
des vorigen Jahres ausführlich entwickelt hat, voll⸗
ſtändig billigen und bereit ſind, ſie in dieſem Um⸗
fang zu unterſtützen“. Aber das ging über die
Theorie nicht weit hinaus, da ja der Kanzler ſelbſt
eigentlich nichts forderte. Kamen wirkliche For⸗
derungen, ſo ging die Maſchine ſehr ſchwer. Bis⸗
marck mußte deshalb (18. März 1886) dem Kolo⸗
nialverein in Halle ſchreiben: „Bei der Zurück⸗
haltung, mit welcher die Mehrheit des Reichstages
unſeren kolonialen Beſtrebungen bisher gegenüber⸗
ſteht, vermag ich dem deutſchen Unternehmungs⸗
geiſte in anderen Weltteilen nicht das Maß von
Unterſtützung zuzuwenden, welches dem nationalen
179
Intereſſe entſprechen würde“; und (amd. Juni 1889)
dem Miſſionsinſpektor Fabri: „Was die koloniale
Frage im allgemeinen betrifft, ſo iſt zu bedauern,
daß dieſelbe in Deutſchland von Hauſe aus als
Parteiſache aufgefaßt wurde, und daß im Reichstag
Geldbewilligungen für koloniale Zwecke immer noch
widerſtrebend und mehr aus Gefälligkeit für die
Regierung oder unter Bedingungen eine Mehrheit
r
ä e ² e ee
finden. Die Kaiſerliche Regierung kann über ihr
urſprüngliches Programm bei Unterſtützung über⸗
ſeeiſcher Unternehmungen nicht aus eigenem An⸗
triebe hinausgehen und kann nicht die Verantwor⸗
tung für Einrichtung und Bezahlung eigener Ver⸗
waltungen mit einem größeren Beamtenperſonal
und einer Militärtruppe übernehmen, ſolange die
Stimmung im Reichstage ihr nicht helfend und
treibend zur Seite ſteht und ſolange nicht die
nationale Bedeutung überſeeiſcher Kolonien all⸗
ſeitig ausreichend gewürdigt wird und durch
Kapital und kaufmänniſchen Unternehmungsgeiſt
. . . Förderung findet.“
Die mangelnde Triebkraft in der Volksvertre⸗
tung erzeugte doppelte Vorſicht dem Auslande
gegenüber.
180
Nicht nur engliſche, ſondern auch franzöſiſche
Intereſſen, wurde den Unternehmern eingeſchärft,
müßten ſorgſam geſchont werden. Das Wort
„Englands Freundſchaft iſt uns wichtiger als
Zanzibar und ganz Oſtafrika“, mag in dieſer Form
nicht gefallen ſein, immerhin liegen Außerungen
Bismarcks vor, die dasſelbe ſagen.
Im Reichstag ſelbſt erklärte er (26. Januar
1889): „Ich betrachte England als den alten tra⸗
ditionellen Bundesgenoſſen, mit dem wir keine
ſtreitigen Intereſſen haben; — wenn ich ſage
„Bundesgenoſſen', jo iſt das nicht in diplomatiſchem
Sinne zu faſſen; wir haben keine Verträge mit
England — aber ich wünſche die Fühlung, die wir
ſeit nun mindeſtens 150 Jahren mit England ge⸗
habt haben, feſtzuhalten, auch in den kolonialen
Fragen. Und wenn mir nachgewieſen würde,
daß wir die verlieren, ſo würde ich vorſichtig werden
und den Verluſt zu verhüten ſuchen.“
Als Peters ein halbes Jahr ſpäter ſeinen Zug
über Witu ins Innere Afrikas antrat, erklärte die
Regierung in der „Norddeutſchen Allgemeinen
Zeitung“, daß, falls das Komitee ſie befragt haben
würde, ſie von dem Unternehmen dringend abge⸗
181
raten haben würde. „Die beſtehende Freundſchaft
mit England iſt für uns von größerem Werte als
alles, was die Expedition am oberen Nil im gün⸗
ſtigſten Falle erreichen könnte.“ Einige Tage
ſpäter wurde ſogar erklärt, man beſorge nur die
Geſchäfte unſerer europäiſchen Gegner, wenn
man Deutſchland mit ſeinen Freunden (den Eng⸗
ländern) verhetze. „In Oſtafrika überſchreitet die
Ausdehnung unſerer Gebiete ſchon jetzt die zu
ihrer Ausnützung verfügbaren und bereiten Kräfte.“
Ganz im Einklang damit wurde im Oktober an Hol⸗
ſtein die Inſtruktion gegeben, die Erhaltung von
Lord Salisbury als leitender Miniſter habe für
Bismarck mehr Wert als ganz Witu.
So iſt Oſtafrika eigentlich von Karl Peters gegen
den Willen Bismarcks für Deutſchland erworben
worden.
In Bismarck und Bismarcks Politik iſt alles
einheitlich.
Sein höchſtes Ziel war, den Frieden zu erhalten.
In dieſem Beſtreben verhinderte er im Jahre 1878
den Krieg, den damals Oſterreich und England
gegen Rußland führen wollten, und übernahm auf
dem Berliner Kongreß die undankbare Rolle des
182
Friedensvermittlers. Im Winter 1884/85 verhin⸗
derte er den ſtündlich erwarteten Krieg zwiſchen
Rußland und England um Afghaniſtans willen. Um
des Friedens willen wandte er mit der Zeit allen
Mächten Vorteile zu, England Agypten, Frankreich
ſein ganzes neues Kolonialreich, Oſterreich Bosnien
und die Herzegowina; Italien hätte er Albanien,
Rußland Bulgarien gegönnt. Was er für Deutſch⸗
land gewann, war verhältnismäßig wenig und
geringwertig. Aber Deutſchlands Lage war ein⸗
mal ſo; auch ein Bismarck konnte das nicht ändern.“)
Seine nächſten Nachfolger, denen nicht ſeine Welt⸗
autorität innewohnte, noch weniger.
Sie wollten und konnten zunächſt nichts weiter
tun, als die Bismarckſche Politik mit allmählicher
Steigerung der öffentlichen Mittel fortſetzen.
Die Sentenz, die Caprivi nachgeſagt wird:
„Je weniger Afrika, deſto beſſer,“ finde ich nirgends
bezeugt, immerhin ſagte er, „daß wir Gott danken
könnten, wenn uns nicht jemand ganz Afrika
ſchenkte“ (17. Februar 1894). Er hielt es für
eine Ehrenpflicht, Gebiete, über denen nun ein⸗
mal die deutſche Flagge geweht habe, auch feſt⸗
) Vgl. Luckwaldt a. a. O.
183
zuhalten, betont auch gleich in feiner erſten Rede
(12. Mai 1890), daß nicht bloß wirtſchaftliche,
ſondern auch nationale Intereſſen und Empfin⸗
dungen in Betracht kämen, ſein Blick aber war ge⸗
bannt durch die Gefahr des ruſſiſch⸗franzöſiſchen
Krieges. Während Bismarck zwar auch in erſter
Linie dieſer Sorge nachhing, dabei aber doch immer
noch an der Hoffnung feſthielt, daß man ihr ſchließ⸗
lich entgehen werde, rechnete Caprivi ſchon damit,
wie ich mich noch erinnere, aus ſeinem eigenen
Munde gehört zu haben, daß dieſer Krieg früher
oder ſpäter unvermeidlich ſei.
Die Vorſicht und Zurückhaltung, mit der die
Bismarck⸗Capriviſche Kolonialpolitik betrieben
wurde, verſchaffte Deutſchland wenigſtens indirekt
einen großen Erfolg: Caprivi erwarb bei der Ab⸗
grenzung der engliſchen und deutſchen Gebiete
in Afrika Helgoland im Austauſch für das kleine
Königreich Witu (nicht Zanzibar, wie man zu
ſagen pflegt, wo wir weder Anſprüche noch Aus⸗
ſichten hatten), und von welchem unſchätzbaren
Werte dieſe Erwerbung für uns geweſen iſt, er⸗
kennt die allgemeine Meinung eigentlich erſt jetzt.
Damals zweifelte ſelbſt die Marine daran, ob Hel⸗
184
FF
goland ihr einen ſtrategiſchen Nutzen ſchaffe, und
der kommandierende Admiral ſelber äußerte dar⸗
über in ebenſo freimütiger, wie wenig weit⸗
blickender Weiſe dem Kaiſer ſeine Bedenken.
Auch Bismarck, der ſich ſchon ſeit längerer Zeit
bei den Engländern um Helgoland bemüht hatte,
drückte ſich doch in Friedrichsruh recht zweifelnd
über ſeinen Wert aus, ja er wies dieſe Erwerbung
geradezu zurück, eben weil ſeine Politik noch ganz
und gar auf die Abwehr des ruſſiſch⸗franzöſiſchen
Angriffs eingeſtellt war und er dabei darauf rech⸗
nete, daß England zu uns halten werde. Er legte
immer den höchſten Wert darauf, England nicht
etwa auf die franzöſiſche Seite hinüberzutreiben.
Im Gegenteil, England hat ihm ſogar helfen
müſſen, was heute merkwürdig genug klingt,
Italien dem öſterreichiſch⸗deutſchen Bündniſſe zu⸗
zuführen.
In Helgoland aber ſah er, wenn es deutſch
wurde und England neutral blieb, den Stützpunkt
für den zukünftigen franzöſiſchen Angriff auf unſere
Nordſeeküſte. Daß wir einmal eine der franzö⸗
ſiſchen gewachſene deutſche Flotte haben würden,
ſah er noch nicht.
185
Die Erwerbung von Helgoland war der einzige
wirkliche Nutzen, den die deutſche Kolonialpolitik
dem Reiche in den beiden erſten Jahrzehnten ge⸗
bracht hat. Im übrigen endete das Syſtem, das
Bismarck, wie es ſchien, ſo wohl durchdacht und
mit immerhin erheblichem Landgewinn aufgebaut
und ſeine Nachfolger fortgeſetzt hatten, und für das
allein der Reichstag ſich hatte ſtark machen wollen,
mit einem, rund herausgeſagt, völligen Banferott.*)
Die Kräfte, auf die man gerechnet hatte, ver⸗
ſagten ſo gut wie vollſtändig.
Als die erſten „Kaiſerlichen Schutzbriefe“ ver⸗
liehen wurden, hatte Heinrich v. Treitſchke jubelnd
in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ (Bd. 54) ver⸗
kündigt, jedermann wiſſe, „daß ſie nicht, wie einſt
jener Anſiedlungsverſuch Kurbrandenburgs, dem
kühnen Einfall eines großen Kopfes entſtammten,
ſondern daß eine ganze Nation ſie mit einem freu⸗
digen ‚endlich, endlich“ begrüßte.“ Aber der Jubel
war verfrüht geweſen. Die Volksbewegung war
wohl da, aber bei weitem nicht ſtark genug.
Die „fürſtlichen Kaufleute“, die große Kapita⸗
lien in eine Kolonie hineinſtecken konnten und
) Zimmermann S. 192.
186
P
wollten, um die nächſte Generation die Früchte
ernten zu laſſen, fanden ſich nicht. Die Geſell⸗
ſchaften, die halb aus Idealismus, halb aus Ge⸗
ſchäftsſinn gegründet wurden, hatten ihre Mittel
ſchnell verbraucht. Die Perſönlichkeiten, die ent⸗
weder auf eigene Hand hinausgingen oder hinaus⸗
geſandt wurden, erwieſen ſich meiſt als ungeeignet,
verſtanden weder politiſch noch wirtſchaftlich noch
ſozial das Richtige zu tun und ſich richtig zu halten,
zankten ſich untereinander, waren brutal gegen die
Eingeborenen undreiztenſie zu Aufſtänden. Gar nicht
abreißende Kolonialſkandale zeigten den deutſchen
Nationalcharakter im ungünſtigſten Licht. Zwar iſt
die Kolonialgeſchichte aller Völker vom Stand⸗
punkt der Humanität aus ſehr häufig unerquicklich
zu leſen, aber in Deutſchland hatte man gehofft,
daß die aus Idealismus geborene Bewegung von
ſolchen Greueln unbefleckt bleiben werde. Der
letzte und der eigentliche Fehler aber war, daß
man das Koloniſieren unternommen hatte, nicht
als einen großen politiſchen Akt, ſondern teils
aus einem unklaren nationalen Tätigkeitsdrang,
teils in der Vorſtellung, es handle ſich um einen
rein wirtſchaftlichen Akt, um ein Geſchäft.
187
Es hat in der Tat zuweilen Kolonien gegeben,
die, als rein wirtſchaftliche Unternehmungen in
Szene geſetzt, ſich rentiert haben. Aber das iſt
nur geſchehen, wo beſonders günſtige Umſtände
vorlagen und zuſammentrafen. Gerade indem in
Deutſchland die erſten Gedanken auftauchten, daß
auch unſer Volk an der transozeaniſchen Koloni⸗
ſation beteiligt werden müſſe, hatte man in Eng⸗
land die Rechnung aufgemacht, daß Koloniſation
keineswegs ein beſonders rentables, ſondern ſogar
ein verluſtbringendes Geſchäft ſei, und darüber
das tiefere theoretiſche Verſtändnis für das eigene
Tun, ſelbſt hier im Mutterlande der modernen
großen Koloniſationen, ſo gut wie verloren.
Das 19. Jahrhundert, ſo reich es an idealiſtiſchen
Gedanken und Taten geweſen iſt, iſt doch in hohem
Maße erfüllt mit materialiſtiſchen Vorſtellungen.
Auf dieſem Boden des materiellen Intereſſes,
das das Leben der Völker beſtimmt, iſt ja die ſo⸗
genannte materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung er⸗
wachſen, die wiederum ein weſentliches Element
der ſozialdemokratiſchen Bewegung geworden iſt.
Kolonien, lehrte man in den fünfziger und ſech⸗
ziger Jahren in England, ſeien wirtſchaftliche
188
r ˙’˙˙—wÄü] ͤͤ-—n , gß˙ ! . ˙·—ůiůñ ¼ũÜö . Lu 2 m u.
Unternehmungen und danach zu beurteilen, ob jie
als ſolche ein gutes Geſchäft darſtellten oder nicht.
Der große Freihändler Cobden war zu dem Er⸗
gebnis gekommen, daß ſchließlich die Bilanz ein
ſchlechtes Ergebnis aufweiſe, und in vollem Ernſt
hatte man in England die Frage erörtert, ob es
nicht am beſten ſei, ſich der Kolonien auf gute
Manier zu entledigen. Selbſt der leitende engliſche
Miniſter Gladſtone ſtand dieſen Auffaſſungen nicht
fern, und bis auf dieſen Tag iſt ja auch in Deutſch⸗
land noch die Meinung ganz vorherrſchend, daß
unſere Kolonialpolitik um wirtſchaftlichen Ge⸗
winnes willen inſzeniert worden ſei und betrieben
werden müſſe. Man wollte die Rohſtoffe aus
eigenen Kolonien beziehen und Waren dahin
abſetzen. Leicht war da die Antwort gegeben,
daß doch auch die fremden, namentlich die eng⸗
liſchen Kolonien dem deutſchen Handel durchaus
nicht verſchloſſen ſeien, und daß es wirtſchaftlich ſo⸗
gar viel vorteilhafter ſei, den fremden Nationen die
Laſt der Kolonialverwaltung zu überlaſſen, ſelber
aber an den wirtſchaftlichen Vorteilen vermöge
kaufmänniſcher Tatkraft und induſtrieller Leiſtungs⸗
fähigkeit ſo viel zu gewinnen wie möglich. Wandte
189
man dagegen ein, daß ein ſolches Arbeiten und
Ernten auf fremdem Gebiet doch immer von dem
guten Willen der Fremden abhängig ſei und eines
Tages abgeſchnitten werden könne, ſo ſchlug auch
das nicht eigentlich durch, denn im Verhältnis zum
überſeeiſchen deutſchen Geſamthandel konnte der
Handel der eigenen deutſchen Kolonien immer nur
einen ſehr geringfügigen Satz ausmachen.
Im Jahre 1913 belief ſich die geſamte Einfuhr
in Deutſchland aus ſeinen Schutzgebieten auf
53 Millionen Mark, während die Geſamteinfuhr
10,8 Milliarden Mark betrug; von der Geſamt⸗
ausfuhr von 10,1 Milliarden Mark nahmen unſere
Kolonien nicht mehr als 57 Millionen bei ſich auf.
Aus der Fremde führten wir Olfrüchte für 300
Millionen ein, aus dem eigenen Machtbereich für
7 Millionen, ähnlich bei den anderen Rohſtoffen:
Kautſchuk, Kakao, Baumwolle, Schafwolle, Hanf,
Kupfer. Das iſt wirtſchaftlich nicht ſchlecht vom
Geſichspunkt der Kolonien aus, wenn man be⸗
denkt, wie kurze Zeit ſie erſt nach Sammlung der
nötigen Erfahrung und Überwindung der Kinder⸗
krankheiten ernſtlich im Betrieb ſind; vom Geſichts⸗
punkt des deutſchen Wirtſchaftslebens aus kommt
190
es kaum in Betracht. Es handelt ſich um ½ %
unſeres geſamten Außenhandels.
Lehrt denn wirklich aber die Kolonialgeſchichte
der Welt, daß das Okonomiſche ihr Weſen ausmacht?
Wie klägliche Gebilde wären die Staaten und
Völker, wenn dem ſo wäre. Wer ſo rechnet, der
hat ſelber jenen Krämergeiſt, den wir ſo oft den
Engländern zum Vorwurf machen. Gibt es ja
bei uns ſogar Leute, die den heutigen Weltkrieg
aus wirtſchaftlichen Urſachen ableiten und ſich und
uns einreden wollen, daß um irdiſcher Schätze
willen unſere Jungen draußen bluten. Das
Wirtſchaftliche iſt zwar immer die Grundlage des
Daſeins, aber nicht ſein Zweck, ſondern nur Mittel
zum Zweck. So iſt auch der letzte Zweck der Ko⸗
lonialpolitik nicht im Wirtſchaftlichen, ſondern im
Nationalen und Politiſchen zu ſuchen.
Sehr verſchiedene Arten von Koloniſierung
weiſt die Weltgeſchichte auf. Die Griechen kolo⸗
niſierten einſt durch Anlegung zahlloſer Handels⸗
ſtätten auf barbariſchen Gebieten vom Schwarzen
Meer bis nach Spanien. Mit dieſer ihrer Kolo⸗
niſation haben ſie ſchließlich den ganzen Orient
helleniſiert. Die Römer haben in Italien Kolonien
191
angelegt, die einen halb bäuerlichen Charakter
trugen und vielleicht am beſten als Ackerbürger⸗
ſtädte bezeichnet werden können. Mit ihrer Hilfe
haben ſie Italien latiniſiert, den übrigen Okzident
aber weſentlich durch die Verwaltung, durch ariſto⸗
kratiſche und ſtädtiſche Kultur. England hat Nord⸗
amerika teils durch ariſtokratiſche, teils durch bäuer⸗
liche, teils durch ſtädtiſche Anſiedlungen angliſiert,
und ähnlich iſt im Mittelalter der heutige deutſche
Oſten germaniſiert worden. Das bäuerliche Ele⸗
ment war darin das wenigſt bedeutende, jedenfalls
nicht das entſcheidende; dieſes Entſcheidende gaben
die überquellenden oberen Schichten. Das waren
damals Ritterſchaft, Kirche und Kaufmannſchaft.
Die Kaufmannſchaft, die mit dem Handwerker⸗
tum noch eng verbunden war, gründete die Städte,
alle zuſammen verbunden mit der Kirche germani⸗
ſierten die unterworfenen Slawen und Preußen.
Welcher Art der Koloniſation bedarf heute das
deutſche Volk? Die ſicherſte aller Koloniſationen
iſt die Bauernkolonie, die ein ſo kompaktes Volks⸗
tum ſchafft, daß es nicht entnationaliſiert werden
kann und die Kolonie ſich fühlt, als ob ſie ein Stück
des Mutterlandes ſelbſt wäre. An eine ſolche
192
Bauernkoloniſation können wir heute nicht denken,
aus dem einfachen Grunde, weil wir keine über⸗
zähligen Bauern mehr haben. Unſere ganze über⸗
ſeeiſche Auswanderung iſt ſchon ſeit Mitte der neun⸗
ziger Jahre auf 20—30 000 Seelen im Jahr ge⸗
ſunken, während wir gleichzeitig an eine Million
ausländiſcher Arbeiter, Ruſſen, Polen, Ruthenen,
Slovaken, Italiener, Skandinavier in Deutſchland
beſchäftigen. Deutſchland iſt fein Auswanderungs⸗,
ſondern Einwanderungsland. Die Bauern und
landwirtſchaftlichen Arbeiter, die ſich anſiedeln
laſſen möchten, brauchen wir aufs dringendſte
in der Heimat und haben wenig oder nichts über
See abzugeben. Was unſere Kolonien füllen und
ihnen das Gepräge geben muß, iſt die Oberſchicht,
die Tauſende mittleren und höheren Bildungs⸗
ſtandes, die unſer reiches Schulweſen unausgeſetzt
produziert und für die wir im Vaterlande keine
genügende Verwendung haben. Die Männer um
die Dreißig, die in der Blüte ihrer Kraft ſtehen,
und ſich alle Kenntniſſe und Fertigkeiten ange⸗
eignet haben zur Erfüllung eines größeren Wir⸗
kungskreiſes, ſitzen ja bei uns häufig müßig oder
halbmüßig herum und warten auf eine Anſtellung
7 Delbrück, Bismarcks Erbe 193
mit kärglichem Gehalt. Dieſe müſſen wir als
Techniker, Kaufleute, Pflanzer, Arzte, Aufſeher,
Offiziere und Beamte ausſchicken, damit ſie die
großen Maſſen der niederen Raſſen regieren, wie
die Engländer Indien. Es kann nun aber nicht
genügen, hier und da in einigen größeren und
kleineren Landſchaften ſolche Oberſchichten aus⸗
zubreiten, ſondern einen dauernden und geſicherten
nationalen Gewinn erzielt man nur vermöge der
Schaffung eines ſo großen zuſammenhängenden
Gebietes, daß die verſchieden gearteten Land⸗
ſchaften ſich gegenſeitig ergänzen, dadurch ſich
ſtützen und feſthalten. Ein ſehr großes zuſammen⸗
hängendes Gebiet, das einheitlich verwaltet wird,
gewinnt auch eine gewiſſe politiſche Konſiſtenz; das
einheitliche Zollgebiet ſchafft Verbindungen und
Intereſſen, die nicht ſo leicht zu zerſtören ſind.
Städte mit größerer weißer Bevölkerung und
eigenem kommunalen Leben verlangen ein ſehr
großes Hinterland. Ganz feſt aber werden wir
ein ſolches Kolonialreich an das Mutterland
knüpfen, wenn wenigſtens einige Teile des Ge⸗
bietes ſo beſchaffen ſind, daß ſich über den Einge⸗
borenen nicht bloß ein wechſelndes, ſondern ein
194
bodenſtändiges, hier und da vielleicht auch ein bäuer⸗
liches Deutſchtum behaupten und fortpflanzen kann.
Dieſe letzte Betrachtung habe ich im Jahre 1912
niedergeſchrieben. Die heutigen Kriegsläufte haben
das Bild beſtätigt und vertieft. Ein ſehr großer
Teil der höheren und mittleren Intelligenzen,
die im Vaterlande kein ihren Fähigkeiten ent⸗
ſprechendes Arbeitsfeld fanden, ſuchten bisher ihr
Brot in der Fremde. Während in Deutſchland außer
einigen Jockeys, Tanzlehrern und Köchen weſentlich
nur Sprachlehrer und Bonnen fremder Zunge
ihre Bildung verwerten, haben wir Rußland
Arzte, Apotheker, Lehrer, Ingenieure, Chemiker,
Techniker, Brauer, theoretiſch gebildete Landwirte,
Kaufleute, Vorarbeiter, höhere Handwerker uſw.
geliefert, die nun ins Elend geraten, ihres Berufes
verluſtig, nach dem Kriege in die Heimat zurück⸗
ſtrömen werden, ſo weit ſie nicht gar von den
Ruſſen nach Sibirien transportiert, in Hunger und
Froſt umgekommen ſind. Auch in England waren
ganze Kolonien von Deutſchen des höheren und
kleineren Mittelſtandes und nicht viel weniger in
Frankreich. Wo ſoll ihnen allen eine neue Stätte
an Stelle der zerſtörten errichtet werden?
a 195
Eine Gegend, wo wir fie hätten hinſenden
können, um ſich mit einem bildſamen Volk niederer
Kulturſtufe zu vermiſchen und dieſes zum Deutſch⸗
tum emporzuziehen, wie im Mittelalter unſere
öſtlichen Nachbarn, gibt es heute nicht mehr.
Wie aber, wenn wir dieſe Kulturſchicht über einer
niederen Raſſe als Erzieher⸗ und Herrenſtand an⸗
ſiedeln, ein überſeeiſches Deutſchland ſchaffen,
und die jetzt vergeudete Volkskraft für uns zu⸗
ſammenhalten und dem nationalen Tätigkeitsdrang
ein unabſehbares neues Arbeitsfeld bieten?
Dazu aber gehört Weltpolitik, Seepolitik und
Flotte. |
Von dieſer neuen Aufgabe, die die Idee einer
deutſchen Kolonialpolitik dem deutſchen Weſen
ſtellte, hatte Bismarck und Bismarcks Zeit noch
keine Vorſtellung und konnte ſie noch nicht haben.
Grundſätzlich verzichtete der Staat damals
darauf, ſich die Kinder des Volkes, die die Heima
verlaſſen hatten, feſtzuhalten. „Gibt es ein zweites
Volk auf der Welt,“ ſchreibt Paul Rohrbach“),
„deſſen Regierung es über ſich gebracht hätte,
Hunderttauſenden von Volksgenoſſen im Ausland
*) Der deutſche Gedanke in der Welt, S. 60.
196
ihre Zugehörigkeit zur Nation abhanden kommen
zu laſſen, bloß weil ſie ſo lange keine Formel
finden konnte, nach der dieſe Deutſchen ihren
nationalen Verpflichtungen genügen ſollten? War
es nicht für den Deutſchen eine Schande, die zum
Himmel ſchrie, daß ſein endlich einig gewordenes
Vaterland es nicht mehr für der Mühe wert hielt,
ſich um ihn zu kümmern, ſobald er zehn Jahre
lang nach Verlaſſen der Heimat dem Heiligtum
konſulariſchen Aktenpapieres fernblieb?“ Aber
der Vorwurf für die Regierung wird gemildert,
weil die breiteſten Schichten des Volkes in allen
Ständen und Klaſſen nicht anders dachten.
Wir finden Spuren, wie der Begründer des
Nationalſtaates mit dem Scharfblick des ſtaats⸗
männiſchen Genius die Tragweite der neuen
Gedanken erkannte und ſie auch wieder ſozuſagen
vor ſich ſelber verbarg, als er ſich dem Vorgehen
nicht mehr entziehen konnte.
Noch im Jahre 1881 äußerte er zu einem Ab⸗
geordneten: „Solange ich Reichskanzler bin, trei⸗
ben wir keine Kolonialpolitik. Wir haben eine
Flotte, die nicht fahren kann; und wir dürfen keine
verwundbaren Punkte in anderen Weltteilen
197
haben, die den Franzoſen als Beute zufallen,
ſobald es losgeht““). Als er nun aber die erſten
Erwerbungen vor dem Reichstag vertrat und ihm
entgegengehalten wurde, daß das Reich ja gar nicht
in der Lage ſei, dieſen Gebieten ſeinen Schutz zu
gewähren, da erwiderte er: „Die Kolonien laſſen
ſich verteidigen vor den Toren von Metz.“ Iſt
das wirklich zutreffend? Ja — aber in noch viel
höherem Maße nein. Jene Drohung „vor den
Toren von Metz“ bedeutet eine Drohung mit dem
Weltkrieg. Konnte man wegen jeder kleinen
kolonialen Streitigkeit dieſe Herkuleskeule in die
Hand nehmen? Konnte man Frankreich be⸗
drohen, wenn man mit England, Portugal, Japan
oder China etwas auszumachen hatte?
Hier iſt der Punkt, wo ſich die nachbismarckſche
Epoche von der bismarckiſchen ſcheidet: „Unſere
Zukunft liegt auf dem Waſſer.“ Unſere innere
Kraft wuchs und wuchs und wir blieben neben den
Rieſenweltreichen die beſcheidene europäiſche Kon⸗
tinentalmacht. War es wirklich unſere letzte Beſtim⸗
mung, den heimiſchen Herd zu pflegen, unſere
) Zimmermann S. 64, nach Poſchinger, Fürſt Bis⸗
marck und die Parlamentarier III, 54
198
Jugend auszubilden, damit ſie anderen Völkern
ihr Können zutrage, unſere Polen und Dänen zu
ſchikanieren und mit weißen, gelben und ſchwarzen
Menſchen Geſchäfte zu machen?
Daß Bismarck in der Tat, wie wir oben ſchon
geſehen haben, die Kolonialpolitik nur als etwas
Beiläufiges, Außerliches, man möchte faſt ſagen,
als eine dem Gemüt wohltuende Dekoration an
den eigentlichen Mauern ſeiner nationalen Poli⸗
tik anſah, erkennt man noch nicht ſo ſehr an
der zögernden und vorſichtigen Form ihrer Ein⸗
leitung, als an der Tatſache, daß er die Augen noch
vollſtändig verſchloß vor der Flottenfrage. Im
Jahre 1874 hatte man drei Panzerſchiffe gebaut,
dann ſtellte man den Bau von Schlachtſchiffen bis
zum Jahre 1888 wieder ein; ein einziges, noch
dazu in der Konſtruktion völlig verfehltes kleines
Panzerſchiff „Oldenburg“ lief 1883 vom Stapel,
außerdem im ganzen fünf ungepanzerte Kreuzer
und Patrouillenſchiffe. Die Aufgabe der deutſchen
Seemacht, ſtellte man ſich vor, ſei eine rein defen⸗
five, die am beſten mit dem jüngſt erfundenen
und ausgebildeten Torpedoboot geleiſtet würde.
Von Hochſeeaufgaben für deutſche Kriegsſchiffe
199
wollte man nichts wiſſen. Kein Zweifel, daß
Caprivi hierin im Herzen ebenſo dachte wie Bis⸗
marck, und wenn nichtsdeſtoweniger er es geweſen
iſt, der die Grundlage für unſere heutige Flotte
gelegt und mit ſeiner außerordentlich geſchickten
parlamentariſchen Taktik, indem er, wie bei der
Heeresvorlage, auch die polniſchen Stimmen heran⸗
zog, die Majorität des Reichstages dafür gewonnen
hat, ſo iſt der Grund nicht in einer tieferen poli⸗
tiſchen Einſicht zu ſuchen, ſondern war nichts als
Entgegenkommen gegen den Willen eines Höheren,
des Kaiſers: ganz wie Bismarck einſt ſich für die
dreijährige Dienſtzeit eingeſetzt hatte, nicht ſowohl,
weil er ſie ſelbſt für unerläßlich hielt, ſondern weil
er den Willen König Wilhelms dadurch erfüllte. So
iſt die Gründung der deutſchen Flotte ausſchließlich
das Werk und der Wille Kaiſer Wilhelms II. geweſen,
und Caprivis Verdienſt, freilich kein geringes, war
die parlamentariſche Ausführung, auf welcher
Grundlage dann der Admiral Tirpitz nach langer,
ebenſo kunſtvoller, wie erfolgreicher Bearbeitung
der öffentlichen Meinung das Werk hochgebracht hat.
An dieſer Stelle, und man kann ſagen allein
an dieſer Stelle liegt die wirklich große und
200.
durchgreifende Abweichung von der Bismard-
tradition, der Unterſchied zwiſchen dem alten und
dem neuen Kurſe.
Es iſt richtig, daß ſchon Bismarck unſere haupt⸗
ſächlichſten kolonialen Erwerbungen gemacht hat,
aber in einem Geiſt und unter Vorausſetzungen,
die das Gedeihen von vornherein unmöglich mach⸗
ten. Schon er ſelbſt und in ſteigendem Maße ſeine
Nachfolger mußten zu dem urſprünglich allgemein
perhorreſzierten franzöſiſchen Syſtem übergehen
und Reichsmittel für die Kolonien flüſſig machen.
1885 hatte er auf die Frage Bambergers, ob im
Falle des Mißerfolges der kolonialen Geſellſchaften
das Reich für ſie eintreten werde, erwidert: „Wie
kann man das von mir annehmen, daß ich dann
mit der den Deutſchen eigentümlichen Schwer⸗
fälligkeit eine ſolche mißglückte Frage als eine
nationale erkläre; wenn Sie jemals einen ſolchen
Reichskanzler hätten, müßten Sie ihn fortjagen.“
Aber ſchon von 1889 an mußte der Reichstag um
Bewilligungen angegangen werden, die im Jahre
1913 auf faſt 100 Millionen geſtiegen ſind.
So alt der Satz iſt, daß man nicht ernten kann,
was man nicht geſät hat, ſo ſcheint es, müſſen ihn
201
doch die Völker auf neuen Gebieten immer erſt von
neuem lernen. Frankreich hat ſich in der Generation
ſeit 1870 nicht nur durch den Revanchegedanken,
ſondern auch durch ſeine großartige und erfolgreiche
Kolonialpolitik aufrecht erhalten und verjüngt. Das
deutſche Kolonialweſen ſtand lange in dem Ruf,
daß nur verkrachte Exiſtenzen und bodenloſe Aben⸗
teurer ſich darin tummelten und wohlfühlten “).
Die erſte und wichtigſte aller nationalen For⸗
derungen, die wir bei dem zukünftigen Friedens⸗
ſchluß zu erheben haben, wird die eines ſehr großen
Kolonialreiches ſein müſſen, eines deutſchen Indien.
Das Reich muß ſo groß ſein, daß es ſich im Kriegs⸗
fall ſelbſt zu verteidigen fähig iſt. Ein ſehr großes
Gebiet kann kein Feind vollſtändig beſetzen. Ein
ſehr großes Gebiet ernährt eigene Truppen und
birgt zahlreiche Reſerviſten und Landwehrmänner.
Indem Eiſenbahnen die Hauptpunkte verbinden,
ſind die verſchiedenen Gegenden in der Lage, ſich
wechſelſeitig zu unterſtützen. Ein ſehr großes Ge⸗
biet kann eigene Munitions⸗ und Waffenfabriken
haben. Ein ſehr großes Gebiet hat auch Häfen und
Kohlenſtationen.
) Wiedenfeld S. 8.
202
Indem ein ſolches Kolonial⸗Deutſchland uns
zur Weltmacht erhebt, bringt es uns zugleich
die Löſung der ſchwerſten aller ſozialen Fragen,
die Schaffung einer befriedigenden Tätigkeit für
die aufſteigenden Söhne des Volkes, den Über⸗
ſchuß in der Intelligenz, der zu Hauſe keinen
Arbeitsplatz findet. Haben wir nicht jetzt ſchon zu
viel Abiturienten? Zu Viele, die über den Stand
des Vaters heraufzukommen bemüht ſind in ehr⸗
lichem Vorwärtsſtreben und dann nicht wiſſen,
wo ſie bleiben ſollen? Geht nicht der allgemeine
Wunſch dahin, daß nach dem Frieden für die be⸗
gabteren Kinder aller Klaſſen die höheren Bildungs⸗
ſtufen zugänglich gemacht werden ſollen? Erſt dann
aber wird der Zweck voll erreicht, wenn für die
gute Ausbildung auch eine gute Verwertung ge⸗
funden wird, und das kann nur geſchehen über
Land und See. Geſchieht es aber, ſo ſchafft man
damit zugleich eine Verbreiterung und Bereiche⸗
rung unſeres Volkstums, die durch ihre Rückwirkung
die ſtockenden Säfte in dem eingeengten Europa⸗
Deutſchland in Bewegung erhält.
Der Koloniſt, der ſich ſelber fein Schickſal ſchafft,
bildet ein anderes Selbſtgefühl aus, als wer im
203
gewohnten Trott zu Haufe feinen Weg läuft.
Das Sprichwort „Bleibe im Lande und nähre
dich redlich“, iſt ebenſo philiſterhaft wie es brav
iſt. Der Blick weitet ſich auf der See und
der Wille ſtählt ſich. Der Überſeedeutſche iſt
ein anderer Deutſcher als der Heimdeutſche,
und beide zuſammen werden das größere und
höhere Deutſchtum des 20. Jahrhunderts her⸗
vorbringen, die Vermehrung ſeiner ideellen
und materiellen Kraftfülle und Lebensbetätigung
(Rohrbach). | |
Wir haben eine derartige Ergänzung des heim-
deutſchen Volkstums um ſo dringender nötig, als
unſere Entwicklung auf eine immer ſtärkere Sozia⸗
liſierung unſeres Wirtſchaftslebens hinweiſt. Alle
Erfahrungen des Krieges dienen dazu, die ſchon
längſt vorhandene Tendenz mit einem Rieſendruck
zu verſtärken, und man darf das, um dem Aus⸗
wachſen des Kapitalismus zum Mammonismus
entgegenzuwirken, nur gern und freudig will⸗
kommen heißen. Aber dieſe Entwicklung hat auch
eine Schattenſeite, vor der wir die Augen nicht
verſchließen dürfen. Die Sozialiſierung des Wirt⸗
ſchaftslebens oder der Staatsſozialismus, wie man
204
es auch genannt hat, die Monopole, die Ver⸗
waltung ganzer Wirtſchaftszweige durch Staats⸗
beamte oder rieſige Geſellſchaften und ihre Direk⸗
toren verringert die Zahl der ſelbſtänd igen
Perſönlichkeiten, die, um ſich ſelbſt auf eigene
Gefahr und Verantwortung vorwärts zu bringen,
zugleich dem Wachstum des Ganzen dienen.
Pflichttreue und gewiſſenhafte Beamten ſind
etwas Gutes, aber der unternehmende, wage⸗
mutige Geſchäftsmann und Kaufmann ebenſo,
und jedenfalls für eine geſunde, fortſchreitende
Nation und einen kräftigen Nationalcharakter
unentbehrlich. Die Kolonien, die See und
das Arbeiten im Ausland überhaupt, wo der
Mann allein auf ſich ſelbſt geſtellt iſt, ſollen uns
wiedergeben, was wir zu Hauſe vielleicht um
eines höheren Zweckes willen teilweiſe opfern
müſſen.
Iſt aber Zentralafrika, das man dafür zunächſt
ins Auge faſſen möchte, auch wenn man es noch
ſo ſehr ausdehnt, imſtande, ſolche Laſt zu tragen?
Iſt der Boden geeignet? Iſt er, nicht bloß im na⸗
türlichen Sinne, ſondern auch ganz allgemein ge⸗
ſprochen, fruchtbar genug? Tragkräftig genug?
205
Sit etwa ſtatt deſſen oder daneben Hinterindien,
Cochinchina in Ausſicht zu nehmen?
Darüber haben wir hier nicht zu handeln. 8c
ſchreibe nicht über Kriegsziele, ſondern will feſt⸗
ſtellen, was heute unſere nationale Aufgabe iſt,
in derſelben Weiſe wie im Jahre 1862, als Bis⸗
marck ans Steuer berufen wurde, die Einigung
die nationale Aufgabe war. Es iſt die Schaffung
eines größeren Deutſchland vermöge neuer weiter
Arbeitsgebiete, auf denen das Deutſchtum der
Auswanderer ſich zu erhalten vermag und ſich
ſelbſt und damit auch Altdeutſchland mit neuen
Kräften und Anregungen bereichert.
Genügt Afrika, oder welches exotiſches Gebiet
es ſei, dafür nicht“), ſo gibt es zu unſerem Heil
*) Um Mißverſtändniſſe zu vermeiden, möchte ich aus⸗
drücklich hinzufügen, daß etwa der belgiſche und franzö⸗
ſiſche Kongo allein das deutſche Indien, das wir anſtreben
müſſen und nach unſerem Kriegserfolge beanſpruchen
dürfen, nicht fein könnten. Zwar kann dieſes Aquatorial⸗
land der ſpäteren Zukunft Schätze bieten, die man heute
kaum ahnt, aber für die nächſte Generation wird es wegen
ſeiner außerordentlich dünnen Bevölkerung noch unergiebig
bleiben und bringt nicht nur nichts, ſondern koſtet. Erſt
wenn die ringsherum liegenden, jetzt in engliſcher Hand
befindlichen reichen Gebiete hinzugefügt werden, ſind hier
ſofort die realen Vorbedingungen für ein deutſches Indien
in ausreichendem Maße gegeben.
206
1 5
noch eine andere Art der Koloniſation und ein
anderes Kolonialfeld, das uns gleichzeitig dieſer
Krieg öffnet und ſchon jetzt mit Sicherheit zur Ver⸗
fügung hält. Die Türkei, die noch immer in Europa,
in Kleinaſien, in Syrien, in Meſopotamien die
älteſten und ergiebigſten Kulturgebiete der Menſch⸗
heit beſitzt, ſucht den Anſchluß an die europäiſche
Kultur und kann, wenn ſie dieſen Krieg ſiegreich
überſteht, von dieſer Bahn nicht mehr zurück. Sie
bedarf dazu der europäiſchen Lehrmeiſter, und kann
ſie nirgendwo anders mehr ſuchen, als bei den
Deutſchen. Man hat früher von der Anſiedelung
deutſcher Bauern in Kleinaſien oder Meſopotamien
geſprochen: es kann keinen verkehrteren Gedanken
geben; die Türken ſelbſt würden es ſich verbitten.
Deutſche Lehrmeiſter aber und deutſches Kapital,
um ein neu⸗türkiſches Staatsweſen zu gründen
und das älteſte Kulturland vom wirtſchaftlichen
Tode zu erwecken, das ergäbe eine Gemeinſam⸗
keit des Wirkens und der Intereſſen, die durch
keine politiſchen Intrigen wieder zerriſſen wer⸗
den könnte. Mit den Reiſen des Kaiſers nach Kon⸗
ſtantinopel und Jeruſalem und mit dem Bau der
Bagdad⸗Bahn durch deutſche Ingenieure und mit
207
deutſchem Kapital hat dieſe Politik einſt eingeſetzt.
Eine dauernde enge wirtſchaftliche, wie pädago⸗
giſche, wie politiſche Verbindung ſoll uns jetzt die
Epoche nach Abſchluß dieſes Krieges bringen. Paul
Rohrbach hat das ſchon vor dem Kriege ſehr ſchön aus⸗
gedrückt“): „Nicht die politiſche oder ökonomiſche
oder koloniſatoriſche Germaniſierung der Türkei oder
dieſes oder jenes Stückes von ihr iſt es, was wir wol⸗
len, ſondern die Hineinleitung deutſchen Geiſtes in
den großen nationalen Erneuerungsprozeß, der das⸗
jenige Volk des Orients erfaßt hat, dem die Zukunft
und die politiſche Herrſchaft zwiſchen dem Perſiſchen
Golf und dem Mittelmeer gehört und gehören wird!“
Wir ſind wieder angelangt bei dem Punkt, wo
wir die erſte große poſitive Abweichung des neuen
Kurſes von der Bismarckſchen Tradition feſtſtellten,
der deutſchen Orientpolitik. Auch hier iſt ein Stück
unſerer Seepolitik: unſere Schiffe und unſere
Matroſen kämpfen heute im Schwarzen Meer
und an den Dardanellen. Unſere Schlachtflotte
feſſelt die meiſten, ſtärkſten und beſten Schiffe
Englands in der Nordſee und hindert ſie an den
Meerengen den Todesſtoß zu führen, dem die
) Der deutſche Gedanke in der Welt, S. 238.
208
r
Teilung des osmaniſchen Reiches folgen würde.
Bismarck hat noch ganz ernſthaft den Gedanken,
daß wir den Ruſſen Konſtantinopel laſſen könnten,
erwogen. Heute wiſſen wir, daß unſer Volk da⸗
mit abgeſägt wäre von dem vielleicht wichtigſten
Arbeitsgebiet ſeiner Zukunft. Schon Friedrich Liſt
und Leopold Ranke haben es vorausgeſagt, der
geniale öſterreichiſche Miniſter Bruck hatte bereits
vor 60 Jahren die Umriſſe für praktiſche Pläne
entworfen, die Gegenwart führt uns auf Adlers
Fittichen dem Ziele zu. |
Von der Nord⸗ und Oſtſee bis zum Perſiſchen und
Roten Meer wird ſich zwar kein deutſches Herr⸗
ſchaftsgebiet, aber ein Arbeitsgebiet für den deut⸗
ſchen Geiſt, das deutſche Organiſationstalent und
die deutſche Wirtſchaftskraft erſtrecken, das wir
einſt im Frieden uns zu gewinnen trachteten, nun
aber, da wir es vor den Geiergriffen der anderen
mit dem Schwerte haben ſchützen müſſen, durch
die Bande der Kriegskameradſchaft und der Dank⸗
barkeit auf immer uns verbunden haben. Babylon
und Ninive ſind heute Trümmerſtätten, aber das
Land, das einſt dieſe Prachtreſidenzen ernährte, be⸗
darf nur einer geordneten, zielbewußten Regierung,
209
um ſich von neuem mit der alten Fruchtbarkeit
zu bedecken. Wenn Deutſchland die Hand reicht,
wird die Erſtarrung, die jetzt über jenen Gefilden
liegt, ſich löſen. Konſtantinopel, Damaskus, Je⸗
ruſalem, Mekka, Moſſul, Bagdad — das Reich des
Sultans iſt groß: es bedarf unſer zu ſeiner Er⸗
hebung; wir bedürfen ſeiner, weil wir eine Auf⸗
gabe haben müſſen. Die Aufgabe iſt keineswegs
leicht. Der Iſlam und die europäiſche Kultur ſind
einander in ihren Grunderſcheinungen ſo ſchroff
entgegengeſetzt, daß man theoretiſch an einem Aus⸗
gleich faſt verzweifeln möchte. Wäre der Muſel⸗
mann bloß rückſtändig dem Europäer gegenüber,
ſo könnte man hoffen, ihn mit einigem Schieben
vorwärts zu bringen. Er iſt aber nicht bloß rück⸗
ſtändig, ſondern er iſt zugleich dem Europäer,
nicht bloß dem Levantiner, ſondern auch dem
wirklichen Europäer in mancherlei Tugenden über⸗
legen“). Dieſe Tugenden machen ihn uns ſym⸗
pathiſch, ſie erwecken die Hoffnung, daß ein ſo
tüchtiger Kern, ſo tapfere, ehrliche, würdige
Männer mit den Ideen Europas in Berührung
*) Jäckh, Der aufſteigende Halbmond. „ Deut⸗
ſche Verlagsanſtalt.
gebracht nur um jo mehr müßten leiſten können.
Aber es gilt, ihnen dieſe Ideen nahezubringen,
ohne ſie die Tugenden ihrer Überlieferung und
ihrer Religion darüber verlieren zu laſſen. Der
Krieg ſelbſt hat uns jetzt ſo feſt aneinandergeſchmie⸗
det, daß wir getroſt die Hand ans Werk legen
dürfen. Wie gern hätten unſere Feinde die Türken
in dieſem Kriege neutral bleiben ſehen! Wie
ſänftiglich gingen ſie mit ihnen um — um ſie,
nachdem fie uns niedergeworfen, freundſchaftlich
unter ſich zu verteilen. Die Türken hatten po⸗
litiſchen Scharfblick genug, das zu erkennen, und
haben ihrerſeits zur Waffe gegriffen, ehe es zu
ſpät war. Nicht bloß wir ſind ihnen, auch ſie ſind
uns zu Hilfe gekommen, und ein ſolcher Bund hat
Zukunft. Mag dieſer Krieg noch die Engländer
aus Agypten vertreiben oder nicht — was iſt die
engliſche Herrſchaft am Nil, wenn die Türkei ſich
jetzt behauptet, ſich militäriſch und wirtſchaftlich
verjüngt und aufrafft und ihr Eiſenbahnſyſtem ſo
ausbaut, daß es große Armeen mit allem Zubehör
bis an die ägyptiſche Grenze befördern kann? Mit
6000 Mann europäiſcher Beſatzung hat bisher Eng⸗
land in Friedenszeiten das Pharaonenland zu
211
behaupten vermocht. Wie auch immer die zu⸗
künftigen Friedensbedingungen lauten mögen,
mit dieſem Idyll der engliſchen Weltherrſchaft iſt
es vorbei.
Bismarcks Erbe. Auf allen anderen Gebieten
iſt, wie wir uns überzeugt haben, ſein Erbe ver⸗
waltet worden in ſeinem Sinne. Nicht ſo, daß
die Einzelheiten der Ausführung dem entſprochen
hätten, wie er es ſich gedacht hat. Im Gegenteil,
wir haben geſehen, daß auf vielen und wichtigen
Gebieten die Fortbildung geſchah in einer Weiſe,
der er ſelber heftigen Widerſpruch entgegengeſetzt
hat oder ſicherlich entgegengeſetzt haben würde.
Er hat auch in Friedrichsruh noch ſelbſt genug
gemurrt über das, was ſeine Nachfolger anſtellten.
Nichtsdeſtoweniger läßt ſich mit Fug behaupten,
daß die Fortbildung in ſeinem Geiſte geſchehen
iſt. Ja, hinſichtlich der auswärtigen Politik ſind
neuerdings ſogar Behauptungen aufgetaucht, daß
man ſich nur zu ſehr an ſeine Überlieferungen
gehalten habe. Sein Beſtreben, unter allen Um⸗
ſtänden den Frieden zu wahren und ſeine Lehre,
unter keinen Umſtänden einen Präventivkrieg zu
führen, ſei nur zu ſtrikt befolgt worden. Man kann
212
PN) a u *
„ / e
dieſer Auffaſſung nicht entſchieden genug wider⸗
ſprechen. Kein Satz aus dem Nachlaß Bismarcks
ſteht höher als die Verwerfung des Präventiv⸗
krieges, und nichts iſt mehr zu preiſen, als daß wir
dieſem ſeinem Geſetze treu geblieben ſind. Ihm
verdanken wir nicht bloß das gute Gewiſſen, mit
dem wir jetzt in den Kampf gegangen ſind, ſondern
auch die überwältigende Erſcheinung der Einmütig⸗
keit unſeres Volkes, wie unſere zweitauſendjährige
Geſchichte ſie noch niemals aufzuweiſen vermocht hat.
Hinausgegangen aber iſt unſere Epoche über
Bismarck vermöge unſeres Übergangs von der
Kontinental⸗ zur Weltpolitik. Sie hat ſich damit von
Bismarck entfernt, hat ſie ſich aber damit auch in
Widerſpruch zu ihm geſetzt? Das deutſche Volk wird
heute einmütig antworten: es iſt kein Widerſpruch,
es iſt die Erfüllung. Ein Widerſpruch wäre erſt da,
wenn man den nationalen Boden ſeiner Politik
aufgeben, wenn man aus Deutſchland einen Na⸗
tionalitätenſtaat machen oder in irgendeiner Form
eine deutſche Welthegemonie anſtreben wollte.
Das iſt es, wovor er ſtets gewarnt, was er immer
wieder abgelehnt hat. So ſchon bei der Kaiſer⸗
proklamation in Verſailles. So in der großen
213
Reichstagsrede, in der er den Berliner Kongreß an-
kündigte (19. Februar 1878), wo er erklärte, „ich bin
nicht der Meinung, daß wir den napoleoniſchen
Weg zu gehen hätten, wenn auch nicht der Schieds⸗
richter, gewiſſermaßen auch nur der Schulmeiſter in
Europa ſein zu wollen“. Ahnlich in der erſten An⸗
ſprache, die er nach ſeinem Rücktritt an eine Abord⸗
nung der Techniſchen Hochſchulen Deutſchlands
hielt (22. März 1890): „Das größte Glück für Deutſch⸗
land iſt der Friede; ich glaube nicht, daß je ein
deutſcher Kaiſer mit einem Blick auf die Landkarte
napoleoniſche Eroberungsgelüſte hegen wird“.
Das Erbe Bismarcks iſt bewahrt worden, indem
man auch nach ſeinem Abgang noch 24 Jahre lang
den Frieden gehütet. Es iſt aber erſt recht erfüllt
worden, als man, da nun der Friede ſich nicht
länger wahren ließ, ſo hochgemut und zuverſicht⸗
lich wie nur je er ſelber in den Kampf eingetreten
iſt, zunächſt um unſer Daſein zu verteidigen, dann
aber weiter, um neben den anderen Weltmächten
ſelber Weltmacht zu ſein.
Geſchrieben im März — April 1915.
RUF
r
Regiſter“
Abgeordnetenhaus, preußiſches 15,
20, 112.
Agypten 174, 183, 211.
Afghaniſtan 183.
Afrika 178 ff.
Agrarier 86.
Albanien 183.
Albert, König v. Sachſen 49.
Ansbach⸗Bayreuth 32f.
Anſiedlungskommiſſion 146.
Arbeiterſchutzgeſetz 108, 123.
Attentate 27, 89.
Auguſta, Kaiſerin 26, 68.
Baare, Kommerzienrat 177.
Babelsberg, Unterredung in 20
Baden 52.
Bagdad 210.
Bagdadbahn 209.
Bamberger, Ludwig 201.
Bayern 26, 50, 51 ff., 175.
Belgien 43—45.
Bennigſen, Rud. v., 23, 26, 40, 81,
84, 91, 103.
Berlepſch, v., Miniſter 156.
Berliner Kongreß 182f.
Blankenburg, Moriz v. 41, 83.
Bleichröder 126.
Blumenthal 64.
Böhmen 32.
Bosnien 183
Boſſe, Miniſter 136.
Bötticher, v., Staatsſekretär 118,
128, 135 f.
Brandenſtein, v., General 63.
Branntweinmonopol 97.
Branntweinſteuer 111.
Brenner, Weltreiſender 176.
Brinkmann, Biſchof 79.
Bronſart v. Schellendorf 68.
) Die am häufigſten vorkommenden Namen, wie Bis march,
Wilhelm I. uſw., ſind nicht als Stichworte aufgenommen.
217
Bruck, öſterr. Miniſter 209.
Bucher, Lothar 175.
Bulgarien 183.
Bundestag, deutſcher 23.
Burenrepubliken 174.
Canrobert 46.
Caprivi 15, 16, 146, 156, 158,
161 f., 165 f.
Centrum ſ. Zentrum.
Chalons 46.
China 174, 198.
Cobden 189.
Colin, Großkaufmann 176.
Dänemark 24.
Decken, v. d., Klaus 176.
Delbrück, Rudolph 50.
Denhardt, Gebrüder 176.
Deutſche im Ausland 195.
Diäten 116f.
Dienſtzeit, drei⸗ und zweijährige
15—17.
Duncker, Franz 81.
Eberhard, Biſchof 79.
Elſaß⸗ Lothringen 50, 106,
Elſäſſer, Partei 93, 99.
England 14, 158, 181, 183, 188,
191, 198.
Eulenburg, Graf Fritz 40, 82, 148.
„Europäer“, Bismarck als 152.
Fabri, Miſſionsinſpektor 176, 180.
Falckenſtein 59.
Falk, Kultusminiſter 76.
Flotte 51, 199f.
Forckenbeck, Max v. 21, 40.
Formoſa 177.
218
Fortſchrittspartei 40f., 51, 81, 9,
Frankenſteinſche Klauſel 95. [101,
Frankfurt 38.
Frankfurter Parlament 12 f., 28.
Frankreich 14, 25, 34, 42, 58 f.,
100, 106, 183, 198.
Franz Joſeph, Kaiſer 25.
Freikonſervative Partei 41, 89.
Freiſinnige Partei 16, 94, 99, 101,
111, 124, 127, 139, 162 f., 179.
Friedrich der Große 11.
Friedrich III., Kaiſer 26, 35 f., 41,
49, 51, 68f., 110, 153
Friedrich VII. von Dänemark 24.
Friedrich Karl, Prinz 32.
Friedrich Wilhelm I. 11.
Friedrich Wilhelm IV. 13, 22, 75.
Friedrichsruh 113, 123, 139, 168,
Frieſen, v., Geſandter 78. (212.
Gambetta 60, 63, 65.
„Gedanten und Erinnerungen“ 35,
Germania 110. ˖ 1139.
Gerlach, Ludwig v. 41, 75, 81.
Getreidezölle 105, 164
Gladſtone 189.
Gneiſt, Rudolf v 21.
Goltz, Graf Robert 44.
Gramont, Herzog v. 46.
Großdeutſche 74.
Hagen, M. v. 171.
Hamburg 140, 176.
Hamburger Nachrichten 110.
Hammerſtein, v., Chefredakteur
Handelsverträge 164. 1109.
Hannover 38, 74.
Hanſemann 176.
Helgoland 164, 184 ff.
Helldorf⸗Bedra, v. 121, 124, 129.
Horrmann, H. 128, 168.
Hohenlohe, Prinz 78.
Holland 43.
Holſtem, v. 158.
Hoverhed, Freiherr v. 81.
Huene, lex 96.
Indemnität 31.
Indien 174. |
— ein deutſches 202.
Snfallibilität, päpſtliche 76, 79
Invaliditätsverſicherung 105, 145.
Iſlam 208.
Italien 27, 45, 47, 76, 188.
Jäckh, Ernſt 210.
Japan 174, 198.
Jeruſalem 207. 210.
Jolly, Miniſter 49.
Jühlke, Afrikareiſender 176.
Juſttzgeſetze 83.
Kaffeezoll 83.
Kaiſerproklamation 212.
Kardorff 129. 149.
Karl, Prinz 33.
Kartell 104 ff. 111, 124.
Katholiſche Kirche 75.
Kerſten, Weltreiſender 176.
Keudell, n., Botſchafter 135
Kladderadatſch 26, 135.
Kleinaſien 207.
Kleiſt, Chef des Ingenieurweſens
64.
Kleiſt⸗Retzow, Hans v. 41.
Klerikale 42, 56, 74.
Kögel, Oberhofprediger 76.
Köller, v., Miniſter 168.
Kolonialpolitik 171—210.
Kolonialſkandale 187.
Koloniyation, ältere 172, 191 ff.
Kongoſtaat 175.
Königgrätz 30, 32.
Konſtantmopei 207, 210.
Kontinental politik 171, 213,
Konſervative Partei 41, 82, 92,
127. 139.
Krankenkaſſengeſetz 92, 145.
Kreisordnung in Preußen 140.
Kreuzzeitung 109.
Kroaten 154.
Kronrat 122.
Kulturkampf 74, 87, 111.
Kurheſſen 38.
Landgemeindeordnung 156.
Ledochowsti, Kardinal 76, 79,
153.
Lehndorff, Graf, Flügeladiutant
Leo XIII. 87. 128—30.
Leonhard, Juſtizminiſter 40.
Leovold II. von Beigien 175.
Lerchenfeld Graf 114
Lippe, Graf 40.
Lift, Friedrich 209.
Luckwaldt, Friedrich 159.
Lüderitz 176.
Ludwig, Konig von Bayern 53,
Luxemburg 43.
Mac Mahon 46.
Magyaren 154.
Maigeſetze 78.
219
Maltzahn, v., Weltreiſender 178.
Maltzahn⸗Gült, v., Führer der
Konſervativen Partei 130, 133.
Maybach, Miniſter 113.
Manteuffel, v., Feldmarſchall 70.
Marcks, Erich 73.
Martin, Biſchof 79.
Matrikularbeiträge 95.
Mekka 210.
Melchers, Erzbiſchof 79.
Meſopotamien 207.
Metz 170, 198.
Militärvorlage 101 ff., 107.
Miquel 91, 103, 135.
Mittelſtaaten 25, 52f.
Moltke 28, 29, 31, 85, 37f., 57,
66 ff., 71.
Monopole 97, 112.
Moſſul 210.
Mühler, v., Kultus miniſter 40, 76.
Nachtigal 176.
Napoleon I 214.
Napoleon III. 25, 27, 35, 43 ff.
Naſſau 38.
Nationalliberale 39 ff., 81, 89 ff.,
96, 102, 110, 165
Nationalverein 22.
Nikolaus II. 159.
Nikolsburg 35, 43 48
Norddeutſche Allgemeine Zeitung
127, 175.
Norddeutſcher Bund 38, 42, 48f.
Oldenburg, Panzerschiff 199.
Orientpolitik, deutſche 160 208 f.
Oſtafrita 181f.
Oſterreich 11, 14, 23, 27, 32, 33,
35, 45, 47, 56, 116, 158, 182.
220
Öfterreichiich-Schleften 82.
Oſtſeeprovinzen 172.
Panſlawismus 150 ff
Papſt 88, 99.
Paris 59f.
Perſien 174.
Peters, Karl 176, 181.
Petersburg 44, 159.
Pfeil, Graf Joachim 176.
Pius IX. 86.
Polen 94, 99, 124, 150, 164, 178.
Polniſche Frage 16, 146—156.
Portugal 198.
Poſchinger, E. v. 198.
Präventivkrieg 213.
Ranke, Leopold v. 209.
Rauchhaupt, v. 127.
Reichsgericht 117.
Reorganiſation der Armee 15, 19,
Richter, Eugen 16. 938
Roggenpreiſe 87. N
Rohlfs 176.
Rohrbach, Paul 196, 204, 208.
Rom, Konzil zu 76.
Roon, Albrecht v., 18, 28, 30, 37f.,
62, 66, 80.
Rößler, Konſtantin 141.
Rottenburg 136.
Rumänen 154.
Rußland 14, 44, 100, 108, 112,
126, 151, 153, 159ff., 182f
Sachſen 32 f., 35, 49.
Schanz, Nationalökonom 95.
Schleswig⸗Holſtein 24, 38.
Schnäbele 106.
Schneider, Hans 159.
Scholz, Finanzminiſter 114.
Schutzgebiete, Ein⸗ und Ausfuhr
Schutzzölle 86, 95, 111. 1190.
Schweinfurth. Georg 176.
Sedan 60.
Septennat 103.
Serben 154.
Simſon, Eduard v. 19, 21.
Sozialdemokraten, Sozialdemo⸗
kratie 89, 98, 111, 116, 124, 139,
168, 178.
Sozialiſtengeſetz 74, 89 ff., 97, 110,
120, 122, 130 f., 143f.
Sozialreform 74, 105, 108.
Spaniſche Thronkandidatur 47.
Sprachverein 152.
Stanley 173.
Stauffenberg, Freiherr von 179.
Stöcker, Hofprediger 104, 109.
Stoſch, v., General 72.
Süddeutſche Staaten 42, 48 f., 115.
Sybel, Heinrich v. 21.
Syrien 207
Tabaks monopol 97.
Thimme, Fr., Hiſtoriker 128—136.
Tiedemann, v., Chef der Reichs⸗
kanzlei 129 152.
Tirpitz. Admiral 200.
Treitſchke, Heinrich v. 152, 186.
Tripolis 174.
Trochu, General 61.
Tunis 174.
Türfei 161, 174, 207f.
Tweſten, Karl 21, 39, 41.
Unfallverſicherungsgeſetz 93, 145.
Unruh, Hans v. 21.
Varzin 86.
Venetien 27.
Verdy du Vernois 63.
Verfaſſungskonflikt in Preußen 15,
18, 22, 25.
— im Reich 116 ff., 143.
Verſailles. Kaiſerproklamation 55,
140, 213.
Viktoria, Kaiſerin 68, 153.
Wahlrecht 26, 31, 117ff.
Walderſee, Graf, General 109,
167.
Walpole, engliſcher Miniſter 137.
Weber, von, Weltreiſender 176.
Weizenpreiſe 87.
Welfen 94, 99.
Welthegemonie 213.
Weltpolitik 171, 213.
Werder, v., General 70.
Wiedenfeld, Kurt 172, 202.
Wien 32, 44. s
Wilmowski, v., Kabinettsrat 70.
Windthorſt 92, 105, 126, 136.
Wirtſchafts kriſis 84 ff.
Witu 181. 184.
Woermann 176.
Württemberg 52.
Zanzibar 181, 184.
Zedlitz, Graf, Oberpräſident 150,
Zentralafrika 205. [164f.
Zentrum 76, 88, 92ff., 96, 98f.,
139, 150, 162, 179.
Zimmermann, A. 171, 186, 198.
Bollparlament 42.
Zollverein 42.
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