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Full text of "Bismarcks Erbe"

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Bismards Erbe 


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Hans Delbrüd 


Verlag Ullſtein & Co, Berlin / Wien 


as Erbe Bismarcks das iſt das Werk Bismarcks 

unter dem Geſichtspunkt ſeiner Fortführung. 
Man kann ein Werk nicht fortführen, ohne es zu 
kennen. Ich will Bismarcks Werk alſo unterſuchen, 
beſchreiben und darſtellen, aber nicht wie es etwa die 
Aufgabe eines Biographen iſt, oder die eines Hiſto⸗ 
rikers der unter Bismarcks Führung ſtehenden Ge⸗ 
ſchichtsperiode, ſondern unter dem Geſichtspunkt, 
inwiefern dieſe Periode die Vorſtufe bildet für die 
nächſtfolgende, die unſerige. Denn die Weltge⸗ 
ſchichte ſteht nicht ſtill; jedes Ereignis hat ſeine 
Folgen, die bald früher, bald ſpäter hervortreten, 
und nur mit einer gewiſſen Willkür ſetzen wir an 
dem Ufer des ununterbrochen dahinrauſchenden 
Stromes Merkzeichen, mehr um uns an ihnen zu 
orientieren, als daß die Abſchnitte wirklich ſcharf 
doneinander geſchieden wären. Damit eine hiſto⸗ 


riſche Darſtellung befriedige, wird fie den Ab⸗ 
ſchnitt, den ſie behandelt, möglichſt als etwas in 
ſich Abgeſchloſſenes betrachten und nur mit mehr 
oder weniger angedeuteten Ausblicken über die 
ſelbſtgewählten Grenzen hinausführen. Was ich 
mir hier vorgenommen habe, ſoll gerade die Be⸗ 
ſchäftigung mit dieſen Ausblicken ſein, für die uns 
das Werk Bismarcks das Piedeſtal gibt, man kann 
auch ſagen, die Anlage, die durch ihre eigenen inneren 
Konſequenzen über ſich ſelbſt hinausgetrieben wird. 
Wir gehen zu dieſem Zweck auf die Kämpfe zurück, 
die Bismarck durchzufechten gehabt hat, um an den 
Widerſtänden, die ihm geleiſtet wurden, nicht nur 
die Größe ſeiner Taten zu ermeſſen, ſondern auch 
erkennen zu laſſen, wie dieſe Zeit mit ihren Gegen⸗ 
ſätzen erſt überwunden ſein mußte, ehe die neue 
Zeit, die unſere, das Erbe im wahren Sinne, das 
heißt durch Aufpfropfung neuer ſchöpferiſcher Ge⸗ 
danken antreten konnte. 

Bismarcks Werk iſt die Erfüllung der deutſchen 
Sehnſucht, die Herſtellung des deutſchen National- 
ſtaats vermöge der militäriſch⸗politiſchen Kraft 
des Preußiſchen Staats, die Verſchmelzung des 
preußiſchen Gedankens mit dem deutſchen. 


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Preußen ſelber aber ebenſo wie Deutſchland war 
nichts Einheitliches. 

Preußen war ein aus ſehr verſchiedenen, ja ent⸗ 
gegengeſetzten Elementen zuſammengeſchweißtes 
Gebilde, während der deutſche Nationalgedanke 
trotz derſelben Sehnſucht doch für ſeine Verwirk⸗ 
lichung nach den allerverſchiedenſten Richtungen 
auseinanderſtrebte. Der Grundſtock des Preußi⸗ 
ſchen Staates iſt der Staat Friedrich Wilhelms J. 
und der Ruhm Friedrichs des Großen, abſolutiſtiſch 
mit feudalem Einſchlag, dem durch den Aufruf 
„An mein Volk“, die allgemeine Wehrpflicht und 
die Freiheitskriege Gedanken zugeführt waren, die 
zur Demokratie und zum freien Volksſtaat hin⸗ 
leiteten. Die innere Geſchichte Preußens ſeit 1807 
iſt durch den Kampf zwiſchen dieſen entgegen⸗ 
geſetzten Elementen in mannigfachen Abſchattie⸗ 
rungen ausgefüllt. Der deutſche Gedanke wiederum 
ſuchte ſich zu geſtalten bald in republikaniſchen Idea⸗ 
len, bald in romantiſchen, die den Anſchluß an 
Oſterreich ſuchten, bald ſuchte er Zuflucht eben 
bei Preußen, und begegnete ſich da mit Ten⸗ 
denzen, die in Preußen ſelber bereits lebendig 
waren. 


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Seit 1848 war der Gedanke, den deutſchen Na⸗ 
tionalſtaat unter der Führung Preußens Fleiſch 
werden zu laſſen, lebendig und weit verbreitet. 
Die Aufgabe lag in der Durchführung, dieſe aber 
erforderte einen Heros, nicht nur, weil die wider⸗ 
ſtrebenden Kräfte außerordentlich ſtark waren, 
ſondern auch namentlich, weil die Elemente ſelber, 
die berufen waren, ſich zu dem neuen Organismus 
zuſammenzufinden, untereinander widerſtrebten 
und ſich nicht zuſammenfügen laſſen wollten. 

Der Verſuch, den das Frankfurter Parlament 
im Jahre 1849 machte, ein Deutſches Reich mit 
preußiſcher Spitze zu ſchaffen, mißglückte. Man 
hat dieſem Parlament vorgeworfen, daß es ſich 
von Doktrinen habe leiten laſſen und nicht realpoli⸗ 
tiſch gedacht habe. Soweit dieſer Vorwurf berech⸗ 
tigt iſt, wird er jedenfalls ſehr gemildert durch die 
Erſcheinung, daß auf dem entgegengeſetzten Ende, 
da, wo man am allermeiſten verpflichtet geweſen 
wäre, Realpolitik zu treiben, nämlich in Preußen, 
noch viel weniger davon zu finden war. Ver⸗ 
gleicht man, ſo iſt das Profeſſorenparlament in 
Frankfurt ohne Zweifel ſehr viel klarer, zielſtre⸗ 
biger und ſtaatsmänniſcher geweſen als König 


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Friedrich Wilhelm IV. Jenes Parlament verkannte 
in ſeiner Majorität durchaus nicht ganz die Be⸗ 
deutung des Preußiſchen Staates und der Preußi⸗ 
ſchen Krone und ſuchte unter möglichſter Aus⸗ 
ſchaltung der abſtrakten Theorien über Volksſouve⸗ 
ränität und Legitimität den König von Preußen 
für die deutſche Kaiſerkrone zu gewinnen. Dieſer 
ſelbſt hatte zwar, was ihm niemand ſtreitig machen 
kann, ein deutſches oder, wie er es ſelbſt ſchrieb, ein 
teutſches Herz, gelangte aber nie zu einer klaren 
Vorſtellung von der Miſſion ſeines Königtums für 
Deutſchland. Kein Wunder daher, daß das Frank⸗ 
furter Parlament die Bedeutung des preußiſchen 
Königtums wohl erkannte, aber doch, wie die Folge 
gezeigt hat, nicht hoch genug einſchätzte. Liegt hier 
der eine Fehler, den man der ehrenwerten Ver⸗ 
ſammlung machen darf, ſo liegt der andere auf 
der entgegengeſetzten Seite, daß man die Macht 
und Berechtigung der demokratiſchen Tendenz in 
unſerer Zeit nur unwillig und ungenügend aner⸗ 
kannte. Am liebſten hätte man ein Staatsweſen 
geſchaffen, in dem der Mittelſtand ein parlamenta⸗ 
riſches Regiment führte, auf der einen Seite dem 
preußiſchen König zwar als Kaiſer eine gewiſſe 


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Stellung gab, den Preußiſchen Staat als ſolchen 
aber möglichſt unterdrückte, auf der anderen die 
breiten Volksmaſſen möglichſt von der Teilnahme 
an der Regierung fernhielt. Unter dem Geſichts⸗ 
punkt des ſpäter Gewordenen ſcheinen dieſe beiden 
Fehler allerdings fundamental; trotzdem reichen ſie 
nicht aus, die Arbeit dieſes Parlaments im ganzen 
zu verdammen: die Hauptſachen, die preußiſche 
Spitze, das Erbkaiſertum, die Erhaltung der Einzel⸗ 
ſtaaten, der Ausſchluß Oſterreichs aus dem Reich, 
aber ein dauerndes deutſch⸗öſterreichiſches Bünd⸗ 
nis ſind doch ſchon damals richtig erkannt und er⸗ 
ſtrebt worden. Daß ſchließlich nichts erreicht wurde, 
daß man zu dem elenden alten Bundestag noch 
auf ein halbes Menſchenalter zurückkehren mußte, 
lag nicht an den Fehlern jener Verfaſſung, ſondern 
an dem Mangel eines wirklichen Staatsmannes 
in Berlin und noch mehr an der internationalen 
europäiſchen Konſtellation, der Feindſeligkeit, 
mit der neben Oſterreich auch Rußland, England 
und Frankreich die deutſchen Beſtrebungen be⸗ 
trachteten und einen Widerſpruch ankündigten, 
den zu beſtehen man vielleicht nicht ſtark genug 
geweſen wäre. 


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Als Mann zwiſchen dreißig und vierzig hat Bis⸗ 
marck an dieſen Kämpfen teilgenommen und die 
verſchiedenen Kräfte und Beſtrebungen, mit denen 
er ſich auseinanderzuſetzen, mit denen er zu ar⸗ 
beiten hatte, kennen gelernt. 

Als den feſten Punkt, an dem die Revolution 
von 1848 geſcheitert war, wenn es auch ſelber noch 
keine bewußte Politik zu machen verſtand, hat er 
das preußiſche Königtum erkannt. Den König, 
den Kriegsherrn der Armee für ſeine Ideen zu ge⸗ 
winnen, darauf kam es an. Nie wird man Bis⸗ 
marcks Politik richtig verſtehen, wenn man nicht 
die Orientierung nach der Perſönlichkeit und dem 
Charakter König Wilhelms in allererſter Linie ins 
Auge faßt. 

Man hat mir viele gute Eigenſchaften nachge⸗ 
rühmt, hat Bismarck einmal mit feiner Selbſtironie 
von ſich geſagt, aber eine hat man ſtets vergeſſen: 
daß ich ein Hofmann bin. 

Der König war gleich im Beginn ſeiner Regierung 
in einen Konflikt mit dem Abgeordnetenhaus wegen 
der Reorganiſation der Armee mit der dreijährigen 
Dienſtzeit geraten. Nachdem nunmehr der Reichs⸗ 
kanzler Caprivi die zweijährige Dienſtzeit zuge⸗ 


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ſtanden und dieſe ſich in dem jetzigen Kriege ſo glän- 
zend bewährt hat, könnte man meinen, daß es nichts 
als das Vorurteil des ganz im Soldatiſchen aufge⸗ 
henden Königs geweſen ſei, das den Konflikt ver⸗ 
ſchuldete, und daß man ſchon damals ebenſogut zu 
einem friedlichen Ausgleich hätte kommen können, 
wie dreißig Jahre ſpäter. Aber das wäre eine 
unrichtige Auffaſſung, wie ſchon die einfache Er⸗ 
innerung zeigt, daß es auch dem Reichskanzler 
Caprivi keineswegs leicht geworden iſt, dieſe 
Reform durchzuſetzen, und daß es im weſentlichen 
dieſelben Elemente waren, die ihm im Reichs⸗ 
tag dabei Oppoſition machten wie diejenigen, die 
ſich der Reorganiſation von 1860 widerſetzten. 
Caprivi mußte den Reichstag erſt auflöſen und ver⸗ 
mochte auch dann ſeine Vorlage nur mit ganz ge⸗ 
ringer Majorität mit Hilfe der polniſchen Stimmen 
durchzuſetzen, die er durch ſeine geſchickte Taktik zu 
gewinnen wußte. Die deutſch⸗freiſinnige Partei 
aber unter Führung Eugen Richters widerſprach, 
weil die zweijährige Dienſtzeit nicht, wie man ge⸗ 
hofft hatte, eine Erſparung, ſondern ſogar wegen 
der damit verbundenen verſtärkten Aushebung und 
des intenſiveren Dienſtbetriebes eine Erhöhung 


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der Koſten brachte. Es laſſen ſich auch wohl innere 
Gründe dafür anführen, die es 1860 ratſam er⸗ 
ſcheinen ließen, daß Preußen die dreijährige Dienſt⸗ 
zeit beibehielt, während das Deutſche Reich ſie 
nach ſeiner vollſtändigen Konſolidierung fallen 
laſſen konnte. Aber wie dem auch ſei, ſelbſt wenn 
man annehmen will, daß König Wilhelm auf dieſem 
Punkt ſehr wohl hätte nachgeben können, um den 
Verfaſſungskonflikt wäre man doch nicht herum⸗ 
gekommen, da in dem damaligen Liberalismus 
noch durchaus die Vorſtellungen des engliſchen Par⸗ 
lamentarismus lebten, dem König Wilhelm und 
das ganze Altpreußentum unter keinen Umſtänden 
ſich zu unterwerfen entſchloſſen waren. Daß der 
Kampf ſich gerade um die dreijährige Dienſtzeit 
entzündete, war ein mehr zufälliges Moment; 
dem Miniſterpräſidenten von Bismarck ſelbſt lag 
daran wenig; er hätte ſich auch mit zwei Jahren, 
verſtärkt durch eine Anzahl Kapitulanten, begnügt, 
aber auch für eine zehnjährige Dienſtzeit, ſchrieb er 
ſpäter, wäre er eingetreten, wenn der König ſie 
gewollt hätte, denn dies war ihm das entſcheidende 
Mittel für die Durchſetzung ſeiner Politik. Indem 
er den Kampf an dieſer Stelle aufnahm, verband 


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er ſich nicht nur aufs allerengſte den König ſelbſt, 
ſondern hatte auch die ſtärkſte Potenz in Preußen, 
den Geiſt der Armee, das Offizierkorps hinter ſich. 
Welche Wege er auch in der Politik einſchlug, auf 
dieſem Boden ſtand er ſo feſt, daß er nicht ſo leicht 
zu verdrängen oder zu ſtürzen war, ſelbſt wenn 
er noch ſo viel Unzufriedenheit erregte und der 
König ſelbſt in Zweifel und Bedenken geriet. 
Daß das aber geſchehen würde, darüber kann 
ſich Bismarck von Anfang an keiner Täuſchung hin⸗ 
gegeben haben. Nur ſehr ungern hatte der König 
ihn überhaupt berufen; die Bismarckſchen Ideen 
erſchienen ihm zu extravagant und gefährlich. Er 
berief ihn endlich auf den Rat des Kriegsminiſters 
von Roon, als der Verfaſſungskonflikt auf einen 
Punkt gediehen war, der nur noch Abdankung oder 
Unterwerfung übrigzulaſſen ſchien, und Roon 
erklärte, daß Bismarck der Mann und der einzige 
Mann ſei, der die Fähigkeit habe, den Kampf fort⸗ 
zuführen. Roon ſelber war eine ſtarke und be⸗ 
deutende Perſönlichkeit und hat um die preußiſche 
Armee und um den Preußiſchen Staat unvergeß⸗ 
liche Verdienſte, aber ein weitblickender Staats⸗ 
mann war er keineswegs. Ihm gebührt der Ruhm, 


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Bismarck an die entſcheidende welthiſtoriſche Stelle 
gebracht zu haben, aber auch er ſah in ihm nur den 
Mann, der die Reorganiſation der Armee politiſch 
durchzukämpfen hatte. Die weiteren politiſchen 
Ideen des neuen Miniſters waren ihm fremd und 
unſympathiſch. Als Bismarck in der erſten Sitzung 
der Budgetkommiſſion des Abgeordnetenhauſes 
einige Andeutungen über ſeine politiſchen Ziele 
und Hoffnungen machte, da brummte auch Roon 
beim Nachhauſegehen ſchon etwas von „geiſtreichen 
Exkurſen“, „die der konſervativen Sache nur 
Schaden brächten“, und nun gar die Abgeordneten 
wußten ſchlechterdings nicht, was ſie von dem 
neuen Miniſterpräſidenten und ſeinen wunder⸗ 
ſamen Redewendungen halten ſollten. Was half 
es Bismarck da, daß er ihnen ſymboliſch andeutete, 
daß er den Frieden mit ihnen wolle, indem er 
ihnen einen Olzweig, den er aus Frankreich mitge⸗ 
bracht habe, hinlegte, und ſie mit der äußerſten Höf⸗ 
lichkeit behandelte — ſie verſtanden ihn eben nicht, 
oder aber, wie der treffliche ſpätere Reichstagspräſi⸗ 
dent Simſon ſagte, wenn ſie ſich ſeiner Führung an⸗ 
vertrauen wollten, ſo würden ſie Offiziere ohne Sol⸗ 
daten ſein, denn das Volk würde ihnen nicht folgen. 


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Nur auf den König geſtützt und mit Hilfe des 
Königs konnte der Miniſter ſeine Politik machen. 
Wie war das aber wieder möglich, da der König 
ſeinerſeits durchaus nicht das wollte, ja es verab⸗ 
ſcheute, in jeder Beziehung verabſcheute, was der 
Miniſter wollte? Jeder gemeine Sterbliche hätte 
bei dieſer Sachlage an dem Gelingen verzwei⸗ 
felt. Bismarck nicht; frohgemut und völlig ſicher 
über das Ziel wie über die Methode ging er an die 
Arbeit. | 

Bei der erſten großen Unterredung auf dem 
Spaziergang im Park von Babelsberg am 22. Sep⸗ 
tember 1862 hatte der König den Minifter feſtlegen 
wollen, indem er ihm ein Programm vorlegte, auf 
das er ſich verpflichten ſollte. Bismarck wies das 
ab als unnötig. Er werde die Regierung führen 
nach dem Befehl des Königs; ſollte er anderer 
Meinung ſein als ſein Herr, ſo werde er das ſo 
pflichtſchuldigſt wie freimütig ausſprechen, ſich 
aber, wenn er den König nicht überzeugen könne, 
unterwerfen; denn in Preußen regiere der König. 

Sich beim König feſtzuſetzen, nahm Bismarck 
den Kampf mit dem Abgeordnetenhaus nicht nur 
auf, ſondern verſchärfte ihn noch. An die Stelle 


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der urſprünglichen Höflichkeit trat abſichtliche 
Brüskierung und Herausforderung, wie z. B. 
daß er auf ſeinen Platz am Regierungstiſch trat, 
indem er eine große Rauchwolke von der Zigarre, 
die er in dem hinterliegenden Miniſterzimmer 
geraucht hatte, vor ſich herblies. Wer waren 
die Männer, denen er bald in dieſer ſpöttiſchen 
Weiſe ſeine Mißachtung kundgab, bald mit den 
ſchärfſten, auch perſönlich verletzenden Worten, 
feindſelig entgegentrat? Es waren die Tweſten, 
Forckenbeck, Gneiſt, Sybel, Unruh, Simſon, 
dieſelben, von denen er wußte und erſehnte, 
daß ſie einmal ſeine Freunde und Bundesge⸗ 
noſſen werden ſollten. Er hatte es ihnen ja 
ſchon kundgetan — weshalb dieſe Veränderung 
des Tons? Weil er wußte, daß er zunächſt mit 
ihnen doch noch nichts machen könnte, ſich aber 
auf der anderen Seite um ſo mehr ſicherte. Welche 
innere Sicherheit, welch ein Glaube an ſeinen 
Erfolg gehörte dazu, in dieſer Art ſozuſagen mit 
den Menſchen zu ſpielen und darauf zu vertrauen, 
daß ſie ſich unter den Ereigniſſen, wie er ſie herbei⸗ 
zuführen dachte, wandeln würden! 

Nicht bloß in Preußen, auch im übrigen Deutſch⸗ 


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land ſchien Bismarck durch den Kampf mit dem 
Abgeordnetenhaus, der ſich bis zum Verfaſſungs⸗ 
konflikt und dem Vorwurf des Verfaſſungsbruchs 
ſteigerte, ſeinem Ziel direkt entgegenzuarbeiten, 
die Erlangung unmöglich zu machen. Was er 
wollte, war die Überführung der preußiſchen Poli⸗ 
tik in die deutſche, die Einigung Deutſchlands unter 
der Führung Preußens. Für dieſes Ziel gab es 
auch außer Preußen eine erhebliche Partei, die⸗ 
ſelbe, die im Frankfurter Parlament ſchließlich 
ſogar die Majorität erlangt und Friedrich Wil⸗ 
helm IV. die Kaiſerkrone angeboten hatte. Auch 
nach Zuſammenbruch ihrer Hoffnungen, auch in der 
ſchrecklichen Reaktionsperiode bis 1858 war ſie 
nicht erſtorben, ſondern hatte ſich 1859 im National⸗ 
verein unter dem Hannoveraner Rudolf v. Ben⸗ 
nigſen eine kräftige Organiſation gegeben und 
wollte nun faſt verzweifeln, daß Preußen durch 
ſeine innere Politik das moraliſche Anſehen, das es 
im übrigen Deutſchland beſaß, mutwillig zerſtörte 
und das Arbeiten zu ſeinen Gunſten ſelber ver⸗ 
hinderte und unmöglich machte. 

Alles das wurde mit realpolitiſchem Blick ge⸗ 
opfert, um das eine Unentbehrliche in die Hand zu 


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bekommen, die Gunſt des Königs und die Kraft 
der preußiſchen Armee. . 

Denn, wie Bismarck auch ſchon in jener denk⸗ 
würdigen Kommiſſionsſitzung des Abgeordneten⸗ 
hauſes hatte fallen laſſen, die deutſche Frage war 
nur zu löſen durch Blut und Eiſen, durch einen 
Krieg. Zwar in der Sehnſucht nach einem Deutſchen 
Reich, an Stelle des Deutſchen Bundestages, darin 
war ſich das deutſche Volk ſo ziemlich einig, ſoweit 
es überhaupt politiſch dachte und ſich ein poli⸗ 
tiſches Ziel ſetzte, aber in welcher Art und auf 
welchem Wege dieſes Ziel zu erreichen ſei, darüber 
ſtanden ſich die Auffaſſungen und Wünſche dia⸗ 
metral gegenüber. Der Brennpunkt aller gegen⸗ 
einander ſtrebenden Willeleien aber war das Ver⸗ 
hältnis zu Oſterreich: ſollte dieſer Staat, der mit 
ſeiner deutſchſlawiſchen Hälfte dem deutſchen 
Bunde angehörte, auch dem zukünftigen deutſchen 
Reichsorganismus angehören oder nicht? Schon 
das Frankfurter Parlament hatte darauf die 
theoretiſch richtige Antwort gegeben, die da hieß: 
Ausſcheiden aus dem Reich, aber internationales, 
dauerndes Bündnis — aber Oſterreich ſelber wider⸗ 
ſprach, und zur Löſung konnte man daher nur 


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gelangen, wenn man entſchloſſen war, es auch auf 
einen Krieg deshalb ankommen zu laſſen. 

Bismarck faßt ihn von Anfang an ins Auge, 
nicht gerade als ein unmittelbares Ziel — denn 
was mochte an unberechenbaren Zwiſchenfällen 
ſich noch dazwiſchen legen? Was konnten ſich noch 
für Übergangsſtufen auf dem Wege zeigen, auf 
denen ausgeruht werden mußte? Gerade der 
praktiſche Staatsmann iſt am wenigſten ein Pro⸗ 
phet. Aber indem er vorwärts ging, rechnete er 
fortwährend mit der Möglichkeit des Krieges und 
ſcheute ſie nicht. Nur allmählich, Schritt für Schritt 
kam er vorwärts. Der Zufall, daß König Fried⸗ 
rich VII. von Dänemark ſtarb (15. November 1863) 
und damit die Schleswig⸗Holſteinſche Erbfrage auf⸗ 
ging, hielt ihn auf, ſchaffte ihm aber mittelbar ge⸗ 
rade das, was er wünſchte, den poſitiven Streit⸗ 
gegenſtand mit Habsburg. Wie er die Liberalen in 
Deutſchland vor den Kopf ſtieß, die er doch als 
die zukünftigen Freunde in Ausſicht nahm, ſo 
ſchloß er umgekehrt mit Oſterreich das Bündnis 
gegen Dänemark, um daraus die Gegnerſchaft zu 
entwickeln. 

Aber je näher man dem Punkt kam, wo es Biegen 


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oder Brechen galt, deſto ſchwerer bewegte fich der 
Wagen, deſto ungeheuerlicher erſchien das Unter⸗ 
nehmen. | 

Preußen mit ſeinen 18 Millionen Einwohnern 
ſollte es mit Oſterreich aufnehmen, das allein 
doppelt ſoviel Seelen zählte, und dem die ſämt⸗ 
lichen deutſchen Mittelſtaaten, die ſich nicht unter 
die preußiſche Hegemonie beugen wollten, bei⸗ 
traten. Dabei war in Preußen ſelbſt tiefer Zwie⸗ 
ſpalt zwiſchen König und Volk wegen des Ver⸗ 
faſſungskonflikts. Der Landtag konnte um eine An⸗ 
leihe für dieſen Krieg nicht einmal angegangen 
werden. Zur Seite aber ſtand das lauernde 
Frankreich unter Napoleon III., der Erbfeind, der 
die Gelegenheit, daß die deutſchen Mächte ſich 
untereinander zerfleiſchten, ſich zunutze zu machen 
beſtrebt ſein mußte. Das ganze deutſche Volk 
wollte von dem Bruderkrieg nichts wiſſen; ſelbſt 
die preußiſche Armee ging nicht gern in ihn hinein. 
Der natürliche Feind war ihr doch der Franzoſe. 
Kaiſer Franz Joſeph ſchrieb an König Wilhelm einen 
Brief, worin er ihn an den Bund ſeines Vaters 
mit Kaiſer Franz und das treue Zuſammenhalten 
von 1813 erinnerte. Die Gemahlin des Königs, 


25 


die Königin Auguſta ebenſo wie jein einziger Sohn 
und Erbe, der Kronprinz, beſtürmten ihn, von dem 
unſeligen Menſchen, dem Bismarck, und der Politik, 
die notwendig ins Verderben führen müſſe, zu 
laſſen. Die Bundesgenoſſen, die Bismarck für 
ſeine Politik zu gewinnen verſuchte, verſagten. Er 
bot Bayern als dem zweitgrößten Staat in dem 
zukünftigen Bunde eine ſehr bevorzugte Stellung 
— Bayern ließ ſich auf nichts ein, ſondern blieb 
bei Oſterreich. Er zeigte dem deutſchen Volk, wo⸗ 
hin er es führen werde, indem er ein Bundes parla⸗ 
ment mit allgemeinem Wahlrecht vorſchlug (April 
1866). Die Antwort gab ihm der Kladderadatſch, 
indem er ankündigte, er werde ſein Geſchäft als 
Witzblatt aufgeben; dieſer Konkurenz ſei er nicht 
gewachſen; das Miniſterium Bismarck appelliere 
an die deutſche Nation und wolle ſich aufs Volk 
ſtützen! Ebenſo tönte es aus Süddeutſchland: wenn 
der Teufel ins Weihwaſſer falle, mache er wunder⸗ 
liche Sprünge, aber poſſierlicher als dieſer Ver⸗ 
zweiflungsſprung des edlen Grafen Bismarck ſei 
nie etwas geweſen. Sogar Rudolf v. Bennigſen 
hatte kein Vertrauen und wies das Angebot, das 
ein Abgeſandter Bismarcks ihm machte, zurück: 


26 


man glaube weder an den Ernſt ſeiner Vor⸗ 
ſchläge noch an ſeinen Ernſt zum Kriege; er 
könne den Krieg gar nicht führen, da er 
die öffentliche Meinung zu ſehr gegen ſich 
habe. 

Es gelang Bismarck zwar, in dem Bündnis mit 
Italien die Ergänzung der phyſiſchen Kraft, ohne 
die Preußen den Kampf nicht beſtehen konnte, zu 
ſchaffen, aber Italien ſtand ganz unter dem Ein⸗ 
fluß Napoleons, war ſelbſt voller Mißtrauen, und 
es war ſehr fraglich, wie weit ihm zu trauen ſei. 
Wenn es nun im letzten Augenblick ſich von Oſter⸗ 
reich mit Venetien abfinden und Preußen allein 
ließ? Wie konnte Bismarck unter ſolchen Gefahren, 
gegen ſolche moraliſche Widerſtände hoffen, dem 
König den Entſchluß zum Kriege zu entreißen? 
Die ganze Politik beruhte ſchließlich auf Bismarcks 
Perſon, und gegen ihn hatte der Volkshaß einen 
ſolchen Grad erreicht, daß mitten in der Kriſis 
(7. Mai 1866) in Berlin Unter den Linden ein 
Attentat gegen ihn verſucht wurde, von dem ſchwer 
zu begreifen iſt, wie es mißglücken konnte; das Volk 
aber bedauerte nur, daß der große Böſewicht das 
Leben behalten habe. 


27 


Nur ganz allmählich wurde die Mobilmachung 
und dann der Aufmarſch ins Werk geſetzt; mehr 
als 2½ ͤ Monate dauerte es von den erſten Maß⸗ 
regeln bis zum Kriegsbeginn, und mittlerweile 
wurden immer wieder neue Verhandlungen an⸗ 
geknüpft und neue Verſuche gemacht, den Soeben 
zu erhalten. 

Wie es endlich zum Kriegsentſchluß gekommen 
iſt, darüber will ich hier eine Erzählung einfügen, 
von der ich glaube, daß ſie bisher nicht in die 
Offentlichkeit gekommen iſt. Graf Lehndorff, der 
damals als Rittmeiſter der Garde du Corps Flügel⸗ 
adjutant des Königs war, hat ſie einem Herrn 
erzählt, aus deſſen Munde wiederum ich ſie gehört 
habe. An einem Tage, erzählte Lehndorff, habe 
er den Dienſt gehabt und nacheinander Roon, 
Moltke und Bismarck beim König zu melden ge⸗ 
habt zum Vortrag über die zur Entſcheidung drän⸗ 
gende ſtrategiſche Lage. Zuerſt kam Roon (der ja 
der eigentliche Vertrauensmann des Königs war) 
und kam unverrichteter Dinge heraus. Dann kam 
Moltke und trug dem König vor, jetzt habe Preußen 
noch im Verhältnis von innerer und äußerer Linie 
den Vorteil, der aber in Nachteil umſchlagen müſſe, 


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wenn man den Oſterreichern noch Zeit Yajje*). 
Der König antwortete, das habe alles keine Be⸗ 
deutung, da er den Krieg nicht wolle und Friede 
bleiben werde. | 

Nun kam als dritter Bismarck. Nach einiger 
Zeit hörte Lehndorff, daß das Geſpräch ſo heftig 
und laut wurde, daß er Vorſorge traf, daß niemand 
weiter ins Vorzimmer käme und auch die Lakaien 
entfernte. Endlich kam Bismarck heraus, blieb 
eine ganze Zeitlang wie verſtört ſtehen und ſagte 
endlich: ‚Sehen Sie hinein und melden Sie mich 
noch einmal.“ Lehndorff ging hinein, kam aber 
wieder heraus mit dem Beſcheid, die Sache ſei ent⸗ 
ſchieden und der König wolle nicht weiter darüber 
ſprechen. Da packte Bismarck Lehndorff, der ſelber 
ein über ſechs Fuß großer, ſtarker Mann war, warf 
ihn beiſeite, riß die Tür auf und ging hinein. 
Von neuen erhob ſich drinnen die immer heftiger 
und lauter werdende Diskuſſion. In einer Art 
von Verzweiflung, was er tun ſolle, ſtand Lehn⸗ 


*) Ich gebe dieſen Satz ſo wieder, wie ich ihn gehört und 
gleich nach dem Geſpräch niedergeſchrieben habe. Ob er 
ganz dem entſpricht, was Moltke wirklich geſagt hat, und 
wie er dann zu interpretieren iſt, bleibe dahingeſtellt. 


29 


dorff vor der Tür. Bismarck hatte ihm beim 
Herauskommen durch ſein verſtörtes Weſen den 
Eindruck gemacht, als ſei er verrückt geworden. 
Jetzt malte er ſich aus, wie der Wahnſinnige drin 
gegen den Herrn gewalttätig werde. Sollte er 
als getreuer Flügeladjutant, der doch den Lärm 
hörte, draußen untätig bleiben? 

Plötzlich wurde die Tür aufgeriſſen, Bismarck 
ſtürzte heraus, warf ſich halbtot auf die im Vor⸗ 
zimmer ſtehende Couchette und ſagte: „Laſſen 
Sie mich möglichſt lebendig nach Hauſe RN: 
der Krieg iſt erklärt.“ 

Ehre dem König, der ſich dem deutſchen Bru⸗ 
derkrieg, dem Krieg gegen den Freund und 
Verbündeten, bis aufs äußerſte widerſetzte. Ehre 
aber auch dem Staatsmann, der die bittere Not⸗ 
wendigkeit als ſolche erkannt hatte und endlich 
durchriß. 

Die Schlacht bei Königgrätz wurde geſchlagen, 
und am Abend ſagte Roon zu ſeinem Freunde: 
„Na Bismarck, diesmal hat der brave pommerſche 
Musketier Sie noch einmal herausgehauen.“ 

Die politiſche Arbeit aber fing für ihn darum 
erſt recht an. 


30 


Der brave Musketier und die geniale Strategie 

Moltkes hatten den Krieg gewonnen, aber ſie 
hätten ihn nicht gewinnen können, ohne die 
Reorganiſation der Armee von 1860, die der 
König mit Recht als ſein eigenſtes Werk anſah. 
Die Armee alſo und ihr Haupt, der König, wollte 
jetzt auch das Ziel des Krieges beſtimmen. In 
die feindliche Hauptſtadt einziehen und ſich Grenz⸗ 
länder abtreten zu laſſen, ſchien das natür⸗ 
liche Ergebnis des herrlichen Sieges ſein zu 
müſſen. 

Ganz anderes wollte der Miniſter: er wollte 
Oſterreich ſchonen, ihm außer Venetien keine Ab⸗ 
tretung auferlegen, verlangte nichts, als daß es 
aus dem deutſchen Bunde ausſcheide, und wollte 
Norddeutſchland unter Preußens Führung zu 
einem reformierten Bunde vereinigen. Dieſer 
Bund aber ſollte nicht bloß ein Bund der Re⸗ 
gierungen ſein, ſondern durch einen aus allge⸗ 
meinem gleichen Stimmrecht hervorgehenden 
Reichstag zuſammengehalten und der Verfaſſungs⸗ 
konflikt in Preußen gleichzeitig beigelegt werden, 
indem die Regierung um Indemnität für die ver⸗ 
faſſungswidrig ausgegebenen Gelder einkam. 


31 


Der König war außer ſich über dieſe Zumutungen, 
die eine nach der andern an ihn herantraten. 
Dem neuen Bunde maß er wenig Wert bei; 
die „Indemnität“ erſchien ihm eine Demütigung; 
der Hauptkampf aber entbrannte gleich zuerſt 
um den Frieden mit Oſterreich vor dem Einzug 
in Wien und ohne Landabtretung. “| 

Der König dachte an die Erwerbung von Oſter⸗ 
reichiſch⸗Schleſien und einem Teil von Böhmen; 
Prinz Friedrich Karl empfahl dazu das Deutſch⸗ 
Böhmiſche, das ſich am Erzgebirge entlangzieht. 
Der König wollte außerdem einen Teil von Sachſen 
und von Bayern die hohenzollernſchen Stamm⸗ 
lande Ansbach⸗Bayreuth. 

Die Schlacht, die hier geſchlagen wurde, Er 
einer Entſcheidung nicht weniger groß und wichtig 
als die Schlacht bei Königgrätz ſelber. Es han⸗ 
delte ſich darum, ob Preußen nichts weiter bleiben 
ſollte als Preußen, oder ob Preußen mit neuem 
Lebensblut erfüllt, verjüngt, erneuert und er⸗ 
weitert zugleich werden ſollte durch den deutſchen 
Gedanken, die Idee des zukünftigen Deutſchen Reichs. 

Landabtretungen, damals Oſterreich auferlegt, 
hätten jede zukünftige Ausſöhnung mit dem habs⸗ 


32 


burgiſchen Kaiſerſtaat unmöglich gemacht; auch 
die Integrität Sachſens machte Oſterreich zur 
unerläßlichen Bedingung, und die Abtretung von 
Ansbach und Bayreuth hätte in Bayern eine 
ſolche Feindſeligkeit erweckt, daß jeder deutſch⸗ 
nationalen Politik die Bahn verſperrt geweſen 
wäre. | 

Der König beſtand darauf, daß Oſterreich als 
der Hauptſchuldige an dem Kriege beſtraft werde. 
Bismarck erwiderte ihm: Wir hätten nicht eines 
Richteramts zu walten, ſondern deutſche Politik zu 
treiben. Oſterreichs Rivalitätskampf ſei nicht ſtraf⸗ 
barer als der unfrige gegen Oſterreich; unſere Auf- 
gabe ſei Herſtellung oder Anbahnung der deutſch⸗ 
nationalen Einheit unter Leitung des Königs 
von Preußen. Aber dieſe Argumente machten 
auf den König keinen Eindruck, und ſeine Auf⸗ 
faſſung war nicht nur ſeine perſönliche, ſondern 
auch die ſeiner militäriſchen Umgebung und der 
Generalität überhaupt, als deren Sprecher haupt⸗ 
ſächlich ſein Bruder, Prinz Karl, auftrat. Es wurde 
ein Kriegsrat zuſammenberufen, in dem Bismarck, 
nach ſeiner eigenen Erzählung, der einzige Ziviliſt 
in Uniform war, und er blieb mit ſeinem Friedens⸗ 


2 Delbrück, Bismarcks Erbe 33 


vorſchlag allein. Alſo auch Moltke und Roon 
müſſen ſich gegen ihn gewandt oder ihn wenigſtens 
nicht unterſtützt haben. Schließlich verſagten ſeine 
Nerven; er ſtand ſchweigend auf, ging in das an⸗ 
ſtoßende Zimmer und wurde von einem heftigen 
Weinkrampf befallen. Er ſetzte eine Denkſchrift 
auf zur Verteidigung ſeiner Auffaſſung, aber er 
richtete nichts aus; namentlich die Unterbrechung 
des Siegeslaufs der Armee erſchien dem König 
unerträglich. Als der Miniſter in ſein Zimmer 
zurückgekehrt war, erzählt er uns, ſei ihm der 
Gedanke nahegetreten, ob es nicht am beſten 
ſei, ſich aus dem vier Stock hohen Fenſter hinaus⸗ 
zuſtürzen. Jeden Augenblick konnte die Nachricht 
eintreffen, daß die Franzoſen mobilgemacht 
hätten und an den Rhein marſchierten. Dabei 
wütete im preußiſchen Heer in Böhmen und 
Mähren die Cholera. 

Wenn aber die deutſche Idee, deren ſolange 
verborgene Fahne er jetzt aufziehen wollte, wirk⸗ 
lich die innere Kraft hatte, die Bismarck ihr zu⸗ 
traute, und eine Weſenheit war, mußte ſie jetzt 
nicht ihrerſeits ihm entgegenkommen und ihm 
helfen? 


34 


Eine Idee muß, um wirkſam zu werden, Ritter 
finden, die ſie vertreten, und dieſer Ritter kam in 
der Perſon des preußiſchen Kronprinzen. 

Was jetzt folgt, weiß man aus den „Gedanken 
und Erinnerungen“, aber ich bin in der Lage, 
dieſe Erzählung durch Mitteilung von der anderen 
Seite zu ergänzen. 

Kaiſer Friedrich hat es mir als Kronprinz ſelbſt 
erzählt. „Als ich in Nikolsburg einmal den ſteilen 
Schloßberg hinaufging,“ lauteten ſeine Worte, 
„begegnete mir auf der halben Höhe der General 
von Moltke, der mir ſagte: ‚Sie finden oben alles 
in der ſchlimmſten Bagarre, der König und Bis⸗ 
marck ſehen ſich nicht. Der Kaiſer von Oſterreich 
hat durch die Vermittlung des Kaiſers Napoleon 
Frieden angeboten, aber die Integrität Sachſens 
zur Bedingung geſtellt, das will der König nicht 
zugeben.“ Als ich hinaufkam, fand ich es wirklich 
ſo; der König und Bismarck hatten ſich eingeſchloſſen 
und keiner wollte zum anderen. Ich machte nun 
den Vermittler.“ 

Als Bismarck noch in ſeiner Verzweiflung beim 
offenen Fenſter ſtand, hörte er, wie jemand ein⸗ 
trat, er ahnte, daß es der Kronprinz war, drehte 


2* 35 


ſich aber nicht um. Da legte ihm diejer die Hand 
auf die Schulter und ſagte: „Sie wiſſen, daß ich 
gegen den Krieg geweſen bin; Sie haben ihn für 
notwendig gehalten, nun tragen Sie die Verant⸗ 
wortlichkeit dafür. Wenn Sie überzeugt find, 
daß der Zweck erreicht iſt und der Friede geſchloſſen 
werden muß, ſo bin ich bereit, Ihnen beizuſtehen 
und Ihre Meinung bei meinem Vater zu ver⸗ 
treten.“ 

Nach Bismarcks Erzählung iſt der Kronprinz 
zum König hinübergegangen und nach einer kleinen 
halben Stunde zurückgekehrt. „Es hat ſehr ſchwer 
gehalten, aber mein Vater hat zugeſtimmt.“ Nach 
des Kronprinzen Erzählung iſt das nicht in einer 
Unterredung unter vier Augen geſchehen, ſondern 
der König hat von neuem einen Kriegsrat berufen 
und da zu ſeinem Sohn geſagt: „Sprich du im 
Namen der Zukunft,“ und damit war die Schlacht 
gewonnen. 

Ich will nicht ſagen, daß der Vorgang ſich 
genau ſo abgeſpielt hat, wie ich ihn hier eben 
unter Zuſammenziehung der beiden Erzählungen 
der Beteiligten gegeben habe. Es ſcheint ſicher, 
daß ſich ſowohl bei Bismarck wie beim Kronprinzen 


36 


Ereigniſſe, die ſich auf mehrere Tage verteilten, 
in der Erinnerung vermiſcht haben. Da ziehen 
ſich leicht länger ausgeſponnene Vorgänge, wo 
mancherlei Punkte einzeln zu behandeln ſind 
und einer nach dem andern durchgekämpft wird, 
zu einer dramatiſchen Szene zuſammen. Das 
Entſcheidende, von beiden Seiten gleichmäßig Be⸗ 
zeugte iſt, daß auch Bismarck dem Vorwurf, die 
Feder des Diplomaten wolle wieder verderben, 
was das Schwert des Soldaten gewonnen, nicht 
entgangen iſt. Man verſpottete ihn als den 
„Queſtenberg“ im Lager, zürnte über den „faulen“ 
oder gar „ſchmachvollen Frieden“, die Generale 
ſpuckten vor ihm aus, um ihm ihre Verachtung 
zu bezeigen, wie er ſelber ſpäter erzählt hat, 
und er ſiegte endlich dennoch, indem der Erbe 
der Krone auf ſeine Seite trat.“) 


*) Aus der umfangreichen Literatur über den Nikols⸗ 
burger Frieden nenne ich den Aufſatz von W. Buſch, 
Hiſtor. Zeitſchr. Bd. 92 (1904). Wenn ich oben ſeinen 
Feſtſtellungen nicht genau gefolgt bin, ſo geſchah es nicht, 
weil ich ſie verwerfe, ſondern nur um der Kürze, der ge⸗ 
drängten Darſtellung willen. Nur in einem weſentlichen 
Punkte weiche ich wirklich ab. Buſch meint, Roon und 
Moltke könnten unmöglich zu den Widerſachern Bismarcks 
gehört haben. Aber hätte Bismarck wirklich ſo verzweifelt 


37 


Die Annexion von Schleswig⸗Holſtein, Hanno⸗ 
ver, Kurheſſen, Naſſau und Frankfurt verletzte 
zwar den Legitimitätsgedanken, befriedigte aber 
das ſpezifiſche Preußentum; die Einbringung der 
Indemnität beim Preußiſchen Landtag und die 
Schaffung des Norddeutſchen Bundes mit einer 
Verfaſſung, die hervorging aus der Verein⸗ 
barung mit einer Volksvertretung, gewählt nach 
dem allgemeinen Stimmrecht, bedeutete die Ver⸗ 
ſöhnung mit den Liberalen und die Aufnahme 
des Grundgedankens der Demokratie in das 
werdende neue Staatsweſen. 

Elemente, die ſich bisher aufs tödlichſte gehaßt, 
Gegenſätze, die ſich bisher wie Gut und Böſe, 
Himmel und Hölle einander gegenüber geſtanden 
hatten, ſollten ſich jetzt zu einer organiſchen Ein⸗ 
heit verſchmelzen. Aber nicht im Frieden voll⸗ 
ziehen ſich ſolche geſchichtlichen Verſchmelzungen. 

Bismarck wünſchte den Liberalen entgegen⸗ 
zukommen, ſeine konſervativen Miniſterkollegen 


kämpfen müſſen, wenn er Roon und Moltke auf ſeiner 
Seite gehabt hätte? Mir ſcheint, ein Grund, ſeine Er⸗ 
zählung gerade in dem Punkt, daß er alle in geblieben 
ſei, zu verwerfen, liegt nicht vor. 


38 


aber taten das Gegenteil, und der König wollte 
ſich von dieſen, die ihm in der ſchweren Konflikts⸗ 
zeit treu zur Seite geſtanden hätten, nicht trennen. 

Einer der bedeutendſten Träger des Gedankens 
der Aussöhnung mit Bismarck und Begründung 
der nationalliberalen Partei, der Abgeordnete 
Tweſten, war im Jahre 1865 wegen eines 
heftigen Angriffs auf den Juſtizminiſter im Ab⸗ 
geordnetenhauſe in Anklage verſetzt. Der Prozeß 
war von um ſo größerer Wichtigkeit, als es ſich 
nicht bloß um die Perſon Tweſtens, ſondern um 
das Prinzip der parlamentariſchen Redefreiheit 
handelte. Man ſollte meinen, daß mit dem Ein⸗ 
ſetzen der neuen Politik ein ſolcher Zwiſchenfall 
ohne weiteres ins Meer der Vergeſſenheit verſenkt 
worden wäre. Statt deſſen legte die Staats⸗ 
anwaltſchaft noch im Februar 1867 wegen eines 
freiſprechenden Urteils Nichtigkeitsbeſchwerde ein, 
und im November 1867 wurde Tweſten zu zwei 
Jahren Gefängnis verurteilt. Gleich darauf hatte 
er ſelbſt in der Budgetkommiſſion einen überaus 
heftigen Zuſammenſtoß mit Bismarck, dem er 
Vertrauensbruch vorwarf, was dieſer als perſön⸗ 
liche Beleidigung aufnahm, ſo daß er ſich weigerte, 


39 


weiter zu verhandeln. Durch die Vermittlung 
von Bennigſen und Forckenbeck wurde dieſer Zwiſt 
noch beigelegt, und endlich gelang es auch jetzt, 
den ſehr üblen Juſtizminiſter Grafen Lippe zu 
beſeitigen und den Hannoveraner Leonhard an 


deſſen Stelle zu bringen, der ſich nicht nur als | 


Juriſt glänzend bewährte, ſondern auch die neuen 
Provinzen im Staatsminiſterium vertrat. 

Der Miniſter des Innern aber, Graf Fritz 
Eulenburg, der freilich ein ſehr begabter und auch 
politiſch aufgeklärter Mann war, und der Kultus⸗ 
miniſter v. Mühler blieben, und namentlich der 
letztere verwaltete ſein Reſſort in ſcharfreaktio⸗ 
närem Geiſte. So gingen in derſelben Regierung 
die entgegengeſetzten Richtungen nebeneinander 
her. Alle Waſſer wirbelten trübe durcheinander. 
Alle die alten Parteien gerieten in Verwirrung 
und löſten ſich auf. Aus Teilen der alten Fort⸗ 
ſchrittspartei und den gemäßigten Liberalen bildete 
ſich die neue nationalliberale Partei, die immer 
noch Oppoſitionspartei blieb, aber den Prinzipien⸗ 
kampf zurückſtellte und durch Kompromiß von Fall 
zu Fall erſt die neue Verfaſſung ſchaffen half und 
dann in einem Geſetz nach dem anderen für ihre 


40 


P 


Anſchauungen Raum gewann. Wieder war es 
hier der Kronprinz, der durch perſönliche Ein⸗ 
wirkung, beſonders auf den Abgeordneten Tweſten, 
verſöhnend und vermittelnd forthalf. Ein erheb⸗ 
licher Teil der Fortſchrittspartei aber blieb grollend 
beiſeite ſtehen und konnte ſich nicht genugtun in 
Verdammung der Charakterloſigkeit der „National⸗ 
miſerablen“, die ihre Grundſätze verleugneten und 
zwiſchen der zweiten und dritten Leſung ihre An⸗ 
ſichten änderten. Umgekehrt, je mehr die National⸗ 
liberalen auf dieſem Wege erreichten, deſto ſtärker 
erhob ſich der Groll der Konſervativen gegen den 
Miniſterpräſidenten, der ſich von den altkonſer⸗ 
vativen Anſichten mehr und mehr entfernte. Eine 
Gruppe von hochſtehenden, aufgeklärten Kon⸗ 
ſervativen kamen ihm zwar ſo weit entgegen, 
daß ſie eine neue parlamentariſche Partei, die 
freikonſervative, gründeten, die alten Freunde aber, 
mit denen er vom Vereinigten Landtag 1847 bis 
1866 Schulter an Schulter gefochten, die Kleiſt⸗ 
Retzow, Blankenburg, Gerlach, wandten ſich von 
ihm ab. 

Auch die Vollendung des nationalen Einigungs⸗ 
werkes ſchritt nicht in der Weiſe fort, wie die 


41 


nationalen Kreiſe und Bismarck ſelbſt erhofften. 
Die ſüddeutſchen Staaten waren mit dem Nord⸗ 
deutſchen Bunde zuſammengeſchloſſen durch den 
Zollverein und durch die militäriſchen Schutz⸗ und 
Trutzbündniſſe, die Bismarck insgeheim den Frie⸗ 
densſchlüſſen von 1866 beigefügt hatte. Für den 
Zollverein wurde ein eigenes Zollparlament ge⸗ 
ſchaffen, in dem in Süddeutſchland gewählte Ab⸗ 
geordnete dem Norddeutſchen Reichstage beitraten. 
Man hätte meinen ſollen, daß auf dieſem Wege 
ganz von ſelbſt durch die innere Logik der Dinge 
und die Kraft des nationalen Gedankens ein 
deutſcher Reichstag und ein deutſches Reich hätten 
entſtehen müſſen. Aber ſo war es keineswegs; die 
große Mehrheit der Süddeutſchen, die Demo⸗ 
kraten auf der einen, die Klerikalen auf der anderen 
Seite, waren einig darin, dem Deutſchen Bunde, 
der unter Führung des abſolutiſtiſch⸗ reaktionären 
Preußen ſtand, nicht beitreten zu wollen, und die 
Ergebniſſe des Zollparlaments waren dürftig. 
Nun brach der franzöſiſche Krieg herein. Ein 
Hauptgrund, weshalb die beſten Preußen und 
Deutſchen den Krieg gegen Oſterreich 1866 nicht 
gewollt hatten, war die Beſorgnis, daß Frank⸗ 


42 


reich die Gelegenheit benutzen und ſich deutſche 
Gebiete aneignen könnte. Die Schnelligkeit, mit 
der Bismarck den Nikolsburger Frieden abſchloß, 
zuſammen mit der mangelnden Bereitſchaft Frank⸗ 
reichs und der Unentſchloſſenheit des Kaiſers, hatten 
damals den Ausbruch des Krieges verhindert. Als 
Napoleon dazu kam, ſeine Forderung eines Stückes 
des linken Rheinufers zu ſtellen, war der Friede 
mit Oſterreich bereits geſchloſſen und Bismarck 
konnte die franzöſiſche Forderung ſchroff zurück⸗ 
weiſen. 

Aber der Anſpruch Frankreichs auf eine Kom⸗ 
penſation war geblieben; kein Zweifel, daß Bis⸗ 
marck in ſeinen vielfältigen Verhandlungen mit 
Napoleon, zu denen er wiederholt hingereiſt war, 
ihm vor dem Kriege allerhand Ausſichten gemacht 
hatte. Es brauchte ja nicht deutſches Gebiet zu 
ſein, was ihn abfand; aber auf Belgien und Luxem⸗ 
burg hatte er ſein Auge geworfen und wollte zu⸗ 
nächſt Luxemburg ſeinem damaligen Souverän, 
dem König von Holland, abkaufen. Luxemburg 
zu opfern, wäre Bismarck im Jahre 1867 bereit 
geweſen, und nahm es nicht in den Norddeutſchen 
Bund auf. Aber als die öffentliche Meinung in 


43 


Deutſchland heftig aufwallte, und Bennigſen im 
Reichstag eine machtvolle, mit Beifallſtürmen be⸗ 
gleitete Rede gegen die Auslieferung dieſes deutſch⸗ 
ſprechenden Landes an Frankreich hielt, da mußte 
ſich Napoleon mit dem Kompromiß begnügen, 
daß das Land ſelbſtändig blieb und nur der neue 
Deutſche Bund auf das Beſatzungsrecht, das der 
alte in Luxemburg beſeſſen hatte, verzichtete. 
Dem franzöſiſchen Nationalſtolz genügte das 
nicht, und er blieb aufs tiefſte gekränkt, daß ſich 
hier an ſeiner Grenze eine neue nationale Groß⸗ 
macht erhob, die den Franzoſen den Rang, die 
„Große Nation“ zu ſein, ſtreitig machte. Der 
preußiſche Geſandte, Graf Goltz, berichtete ſchon 
im Herbſt 1866 aus Paris, Napoleon rechne dar⸗ 
auf, daß Bismarck die Verſprechungen, die er 
ihm gemacht habe, erfülle. Er könne ſonſt vor 
ſeiner Nation nicht beſtehen und ſeinen Thron 
nicht behaupten; er müſſe jetzt entweder ein 
Bündnis mit Preußen ſchließen oder eine Koalition 
gegen Preußen zuſtandezubringen ſuchen, wozu 
die Elemente weder in Petersburg noch in Wien 
fehlen würden. Mit anderen Worten, Napoleon 
verlangte, daß Preußen ihm helfe, Belgien zu 


44 


erwerben. Hätte Bismarck Belgien preisgegeben, jo 
hätte er den Krieg mit Frankreich vermeiden können. 

Merkwürdig genug klingt es heute, daß um der 
Erhaltung Belgiens willen im letzten Grunde 
Deutſchland damals gegen Frankreich in den Krieg 
gegangen iſt. Freilich kann man dazu ſagen, und 
das mag man ſich auch damals geſagt haben, daß 
trotz der Opferung Belgiens der Krieg nicht der⸗ 
mieden worden wäre. Die Eiferſucht der Fran⸗ 
zoſen war viel zu ſtark; die Einverleibung Bel⸗ 
giens wäre nur der Auftakt geweſen für das Auf⸗ 
leben des alten Begehrens des ganzen linken 
Rheinufers. Wie dem auch ſei, Bismarck bewies 
den Franzoſen von jetzt an kein weiteres Ent⸗ 
gegenkommen, und Napoleon knüpfte ſtatt deſſen 
mit Oſterreich und Italien an. Allem Anſchein 
nach hat er aber den großen Krieg gegen Deutſch⸗ 
land, deſſen militäriſche Kraft er kannte, zu ver⸗ 
meiden gewünſcht; er brachte das öſterreichiſch⸗ 
italieniſche Bündnis deshalb formell nicht zum 
Abſchluß, ſondern wünſchte es nur ſo weit zu be⸗ 
nutzen, um Preußen einzuſchüchtern, um im letzten 
Augenblick, nachdem ſchon mobil gemacht ſei, oder 
sogar noch nach der erſten Schlacht, ſich mit ihm 


45 


zu vertragen, unter der Bedingung, daß Preußen 
mit Süddeutſchland tue, was ihm gut ſcheine, und 
ihm dafür Belgien überlaſſe. Als die preußiſchen 
Diplomaten Paris verließen, reichte der Miniſter 
des Auswärtigen, Herzog d. Gramont, einem von 
ihnen die Hand mit den Worten: „Ich hoffe, daß 
nach einigen ritterlichen Schlachten unſere Sou⸗ 
veräne ſich die Hand reichen werden, ſo wie wir 
es jetzt tun.“ Als der Marſchall Mac Mahon, der 
bis dahin Gouverneur von Algier geweſen war, 
ſich bei Napoleon meldete, um ſein Armeekommando 
zu übernehmen, ſprach dieſer kaum mit ihm über 
den Feldzugsplan, ſondern ſagte ihm, daß er ſehr 
bald nach Algier zurückkehren werde und nur einen 
zeitweiligen Stellvertreter brauche. 

Endlich als die franzöſiſche Armee an der Grenze 
aufmarſchierte, wurde ſie in Hinblick auf dieſen 
Plan nicht vollſtändig verſammelt, ſondern ein 
Armeekorps (CCanrobert) blieb bei Chalons zurück, 
von wo es ſich nötigenfalls ſofort nach Belgien 
hätte wenden können.“) 


*) Vgl. hierüber meine Unterſuchung „Das Geheimnis der 
Napoleoniſchen Politik i. J. 1870“ in meinen „Erinnerungen, 
Aufſätzen und Reden“ mit dem Zuſatz in der 3. Auflage. 


46 


Die ſpaniſche Thronkandidatur ift in dieſem 
größeren Zuſammenhang nur ein Zwiſchenſpiel. 
Sie war nicht der Grund des Krieges, ſondern gab 
nur die Veranlaſſung zum Ausbruch des Krieges. 
So intereſſant ſie an ſich und im beſonderen auch 
für uns in einer Bismard-Biographie iſt, hier 
können wir ſie übergehen. 

Der Plan Napoleons ſcheiterte im Grunde ganz 
auf dieſelbe Weiſe, wie er 1866 geſcheitert war. 
Damals hatte Napoleon den Krieg geſchürt und 
Italien dem preußiſchen Bündnis zugeführt, m 
der Berechnung, daß der Kampf ihm Gelegenheit 
geben werde, ſeinen Vorteil wahrzunehmen. Aber 
die Schnelligkeit des preußiſchen Sieges und des 
darauf folgenden Friedensſchluſſes beraubte ihn 
dieſer Gelegenheit. 1870 rechnete er, daß wenn 
die Preußen ſich auf das Geſchäft mit Belgien 
nicht einließen, er Oſterreich und Italien für ſich 
in Bewegung ſetzen könne, — aber gleich beim 
erſten Zuſammenprall wurden die Franzoſen ſo 
vollſtändig über den Haufen geworfen, daß Oſter⸗ 
reich und Italien die Luſt zur Einmiſchung derging. 

Daß der Krieg dem deutſchen Volke die Einheit, 
das Reich und den Kaiſer bringen mußte, ſcheint 


47 


uns Nachlebenden heute ſelbſtverſtändlich. Um jo 
nötiger iſt es für uns, wieder zu prüfen, welche 
Schwierigkeiten Bismarck dabei zu überwinden 
hatte. Wenn die Leidenſchaften auch nicht mit 
ſo elementarer Wucht aufeinanderprallten wie 
1866 in Nikolsburg, ſo fehlt doch nicht ſo gar viel 
daran, zugleich aber war das Werk jetzt ſehr viel 
komplizierter. Damals war der Gegenſatz im 
Grunde einfach: hier preußiſch⸗militäriſch, dort 
deutſch⸗politiſch. 1870 aber bei der Erweiterung 
und Erhöhung des Norddeutſchen Bundes zum 
Deutſchen Reiche galt es eine ganze Reihe ſich 
kreuzender und gegeneinander ſtrebender Kräfte 
ſchließlich zu einem Werk zuſammenzubringen, 
und wenn dort vor allem die Charakterkraft Bis⸗ 
marcks imponiert, ſo iſt es hier die diplomatiſche 
Geſchicklichkeit, mit der er immer einen gegen den 
andern ausſpielte, um ſchließlich alle zum richtigen 
Ziele hinter ſich herzuziehen. 

Vor dem Kriege war die große Mehrheit der 
ſüddeutſchen Bevölkerung im Einklang mit den 
Monarchen in München, Stuttgart und Darm⸗ 
ſtadt gegen den Eintritt in den Norddeutſchen 
Bund. Der Krieg brachte den Umſchwung, und 


48 


® 


man möchte vielleicht erwarten, daß Bismarck 
die günſtige Stimmung nun benützt und mit 
ſanfter Gewalt die ſüddeutſchen Regierungen zum 
Eintritt genötigt hätte. Er tat das gerade Gegen⸗ 
teil: er hielt ſich völlig zurück, ſo daß der treffliche 
badiſche Miniſter Jolly, der mit ſeinem Groß⸗ 
herzog zuſammen mit aller Kraft für die nationale 
Einheit wirkte, ſchon fürchtete, Bismarck wünſche 
wirklich nicht den Anſchluß der Süddeutſchen. 
Ganz ebenſo war auch der Kronprinz mit der an⸗ 
ſcheinenden Lauheit des Bundeskanzlers im höch⸗ 
ſten Grade unzufrieden. Bismarck aber wartete 
ab und ſagte ſich, daß er in viel vorteilhafterer 
Lage ſein werde, wenn die anderen ihm, wie 
er ſagte, kommen müßten. Es exiſtierte eine 
Stelle, die von der Natur berufen war, den Stein 
ins Rollen zu bringen, nämlich Sachſen, das ſich 
als einzige Mittelmacht im Norddeutſchen Bunde 
vereinſamt fühlte und von dem Eintritt der ſüd⸗ 
deutſchen Königreiche eine Stärkung des födera⸗ 
tiven Elementes im Bunde erhoffen durfte. 
Schon drei Tage nach der Schlacht bei Grave⸗ 
lotte hatte der Kronprinz Albert von Sachſen 
mit Bismarck eine Unterredung, worin dieſer den 


49 


Gedanken ausſprach, daß das im Frieden von 
Frankreich zu fordernde Elſaß⸗Lothringen nicht 
einem einzelnen Staate angegliedert, ſondern im 
Beſitz von Geſamtdeutſchland verbleiben und da⸗ 
durch eine Verbindung zwiſchen Nord⸗ und Süd⸗ 
deutſchland herſtellen werde: eine meiſterhafte 
diplomatiſche Wendung, die von vornherein das 
Werk der Einigung ſelbſt mit ihrem Lohn verknüpfte. 
Am liebſten hätte Bismarck eine Zuſammenkunft 
aller deutſchen Fürſten, vielleicht ſogar zugleich 
mit dem Reichstag, in Frankreich veranſtaltet, um 
die neue Reichsverfaſſung feſtzuſtellen. Aber die 
ſüddeutſchen Fürſten ſahen voraus, daß ſie ſich 
dann dem einfachen Eintritt in den Norddeutſchen 
Bund nicht hätten entziehen können, und entſchieden 
ſich für Einzelverhandlungen. Hierbei gab es nun 
noch ſehr merkwürdige Phaſen zu überwinden. Daß 
etwas geſchehen müſſe, ſahen alle, aber „ob dieſe Not⸗ 
wendigkeit eine traurige, eine erträgliche oder eine 
erfreuliche ſei“, darüber gingen ſie, wie der Unter⸗ 
händler Bismarcks, Rudolph Delbrück, ſchalkhaft 
bemerkte, auseinander. Eigentlich hätten die 
Bayern gewünſcht, daß ſie nicht in den Bund 
einträten, ſondern nur mit dem Bunde einen Bund 


50 


ſchlöſſen, oder ſie ſtellten ſich vor, daß das Kaiſer⸗ 
tum zwiſchen Preußen und Bayern alterniere, oder 
ſie verlangten einen beſonderen Territorialgewinn 
für Bayern, oder ſie wollten zur deutſchen Flotte 
keinen Beitrag leiſten. Mehrfach kam es ſo weit, 
daß man ſchon glaubte, den Bund ohne Bayern 
abſchließen zu müſſen, oder man ſchon gar beſorgte, 
daß die bayeriſchen Truppen aus dem Kriege ab⸗ 
berufen werden könnten. 

Auf der anderen Seite verlangte der Nord⸗ 
deutſche Reichstag immer noch ſchärfere Zentrali⸗ 
ſation; die Fortſchrittspartei ganz doktrinär ſogar 
einen neuen konſtituierenden Reichstag. Auf der 
unitariſchen Seite aber, und inſofern gegen Bis⸗ 
marck, ſtand diesmal gefährlicherweiſe der Kron⸗ 
prinz, der ſogar vor Gewalt gegen die Süddeut⸗ 
ſchen nicht zurückſcheuen wollte, um dem anzu⸗ 
ſtrebenden Kaiſertum einen wirklichen Inhalt zu 
geben. König Wilhelm aber, der die neue Kaiſer⸗ 
krone tragen ſollte, wollte von ihr überhaupt nichts 
wiſſen und wäre am liebſten bei ſeinem preußi⸗ 
ſchen Königtum geblieben. „Ich habe die größte 
Angſt,“ ſagte Bismarck unter dieſem Druck von 
allen Seiten, „wir balancieren auf der Spitze 


51 


eines Blitzableiters; verlieren wir das Gleich⸗ 
gewicht, das ich mit Mühe herausgebracht habe, jo 
liegen wir unten.“ 

Er drückte nun immer mit einem auf den andern. 
Die Anſprüche Bayerns reizten den zornigen 
Widerſpruch von Württemberg und Baden, und 
um nicht iſoliert zu werden, mußte wieder Bayern 
endlich entgegenkommen. Trat es einmal in den 
Bund, ſo mußte es auch für die Kaiſerwürde ein⸗ 
treten, ja ſie ſelber beantragen, da Bismarck dar⸗ 
auf hinwies, daß ſonſt der Reichstag dem König 
von Preußen dieſe Würde antragen werde. So 
kam man nicht eigentlich Schritt für Schritt, 
ſondern ſtoßweiſe vorwärts, indem Bismarck 
immer an dem Grundſatz feſthielt, nicht zu zwin⸗ 
gen, ſondern die Natur der Dinge wirken zu laſſen, 
und zugleich da, wo er es konnte, mit Konzeſſionen 
entgegenzukommen. Er ließ den Mittelſtaaten 
das Recht, eigene Geſandte zu halten, denn wenn 
man Sonderbeziehungen zum Auslande ſuche, ſo 
gäbe es dagegen ohnehin „keinen waſſerdichten 
Verſchluß“; man ſchone aber mit dem Zugeſtänd⸗ 
nis die dynaſtiſche Empfindlichkeit. Ein eigener 
„Ausſchuß für auswärtige Angelegenheiten“ im 


52 


Bundesrat wurde geſchaffen, vermöge deſſen die 
Mittelſtaaten die auswärtige Politik des Reichs⸗ 
kanzlers glaubten kontrollieren zu können, der 
aber, wie Bismarck vorausſah, nie praktiſch wer⸗ 
den konnte. Vor allem wurde die Armee nicht 
einheitlich kaiſerlich, ſondern die verjchiedenen Kon⸗ 
tingente wurden nebeneinander gruppiert oder 
durch Einzelkonventionen mit der preußiſchen ver⸗ 
ſchmolzen. Noch heute iſt nur die Marine, aber 
nicht die Armee kaiſerlich. Bayern erhielt eine 
Reihe von beſonderen Reſervatrechten. 

Trotz alledem mußte die württembergiſche Kam⸗ 
mer erſt aufgelöſt werden, um die nötige Zwei⸗ 
drittel⸗Majorität für die Annahme der Verträge 
zu ſchaffen, und in Bayern gelang es nur gerade 
mit einer Majorität von zwei Stimmen über die 
zwei Drittel, das Werk zum Abſchluß zu bringen. 
„Das kunſtvoll gefertigte Chaos,“ nannte ſchließlich 
der Kronprinz die neue Reichsverfaſſung, aber als, 
nachdem König Ludwig von Bayern endlich 
den Kaiſerantrag geſtellt hatte, er mit Bis⸗ 
marck zuſammen das Zimmer König Wilhelms 
verließ, da reichten ſie ſich beide die Hand, „mit 
dem heutigen Tage ſind Kaiſer und Reich un⸗ 


53 


widerruflich hergeſtellt,“ und der Kronprinz ſetzte 
dann ſeinen ganzen Einfluß bei den national⸗ 
liberalen Abgeordneten ein, damit der Nord⸗ 
deutſche Reichstag die neue Verfaſſung trotz aller 
bayeriſchen Reſervatrechte annehme. 

Bismarck ſelbſt aber ſagte am Abend zu ſeiner 
Umgebung: „Die Zeitungen werden nicht zu⸗ 
frieden ſein, und wer einmal in der gewöhnlichen 
Art Geſchichte ſchreibt, kann unſer Abkommen 
tadeln. Er kann ſagen, der dumme Kerl hätte 
mehr fordern ſollen; er hätte es erlangt, ſie hätten 
gemußt, und er kann recht haben mit dem Müſſen. 
Mir aber lag mehr daran, daß die Leute mit 
der Sache innerlich zufrieden waren — was ſind 
Verträge, wenn man muß? — und ich weiß, 
daß ſie vergnügt fortgegangen ſind. Ich wollte 
ſie nicht preſſen, die Situation nicht ausnutzen. 
Der Vertrag hat ſeine Mängel, aber er iſt ſo 
feſter. Was fehlt, mag die Zukunft ſchaffen. Auch 
der König war mit der Sache nicht zufrieden; 
er meinte, ein ſolcher Vertrag ſei nicht viel wert. 
Ich aber bin anderer Anſicht. Ich rechne ihn 
zu dem Wichtigſten, was wir in dieſen Jahren 
erreicht haben.“ 


54 


Noch im letzten Augenblick vor der feierlichen 
Kaiſerproklamation am 18. Januar 1871 im 
Schloſſe von Verſailles kam es zu einem ſo hef⸗ 
tigen Zuſammenſtoß zwiſchen dem König und 
dem Kanzler, daß dieſer kein Wort des Dankes 
erhielt, ja der neuproklamierte Kaiſer ſogar ver⸗ 
mied, den Kanzler anzusprechen. 

Während das deutſche Volk mit hoher nationaler 
Begeiſterung die Kaiſerproklamation von Ver⸗ 
ſailles und das neue Deutſche Reich begrüßte und 
den alten Barbaroſſa auferſtanden ſah, herrſchte 
unter den Werkmeiſtern ſelbſt beim Abſchluß eine 
mürriſche, unbefriedigte Stimmung hüben wie 
drüben. Ich hebe das ſo ſehr hervor, weil dieſer 
Gegenſatz nach vielen Seiten ſo unendlich lehr⸗ 
reich iſt. Erſt in einem gewiſſen Abſtand gewinnt 
man den richtigen Maßſtab für die großen hiſto⸗ 
riſchen Ereigniſſe, der deshalb den Teilnehmern 
ſelbſt häufig fehlt. Noch vieles Beſondere iſt aus 
dieſer Erzählung zu lernen: wo das wahre Weſen 
der Staatskunſt zu ſuchen iſt, oder daß die Summe 
der verſchiedenen Parteien und Richtungen keines⸗ 
wegs gleichzuſetzen iſt mit dem Volk als Ganzem. 
Die Parteien waren mit dem geſchaffenen Werk 


55 


ſamt und ſonders unzufrieden: die Demokraten 
verſchrien die neue Verfaſſung mit ihrem all⸗ 
gemeinen, gleichen, geheimen Wahlrecht als das 
bloße Feigenblatt des nackten Abſolutismus; die 
Nationalliberalen vermißten die rechte nationale 
Einheit; die Klerikalen betrauerten das Aus⸗ 
ſcheiden Oſterreichs und die Unterdrückung der 
Selbſtändigkeit der deutſchen Stämme; die Kon⸗ 
ſervativen ſahen das wahre, alte Preußen, den 
Hort der Legitimität und der Welt gegen die Re⸗ 
volution, dahinſchwinden, und faſt am aller⸗ 
unzufriedenſten war der neue Kaiſer ſelbſt — und 
wie glänzend hat das Werk ſich bewährt! 

Die gereizte Stimmung, in der dieſe Verhand⸗ 
lungen ſich abſpielten, und die ſich vom November 
bis zum 18. Januar hinzog, ſteigerte ſich nun 
gegenſeitig mit einem neuen Zwieſpalt im Haupt- 
quartier, der dieſen Wochen trotz des ſo überaus 
glücklichen Ausganges einen tragiſchen Zug ver⸗ 
leiht, und den wir hier nicht übergehen dürfen. 
Bis zu dieſem Augenblick iſt uns Bismarck als der 
Mann erſchienen, der mit unfehlbarer Sicherheit des 
Urteils erkennt, was die Zeit verlangt und erlaubt 
und was für die Zukunft heilſam iſt, und der dies 


56 


richtig Erkannte mit einer ungeheuren Kraft des 
Willens, geſchmeidigen Wendungen und immer 
neuen Gedanken und Auskünften endlich zum Ziel 
führt. Wenn nun aber ein ſolcher Mann ſich auch 
einmal irrt und nun dieſelbe Kraft und Klugheit 
daran ſetzt, das Falſche durchzuſetzen? Auch das 
muß ertragen werden; man hat einen Heros nicht 
umſonſt, aber man darf es nicht verſchweigen, 
um ſo weniger, als es noch bis auf den heutigen 
Tag unheilvoll nachwirkt. 

In dem Bewußtſein ſeiner ungeheuren geiſtigen 
Überlegenheit und ſeines ſicheren praktiſchen 
Blickes hat Bismarck ſich verleiten laſſen, auch auf 
ein Gebiet überzugreifen, das er nicht beherrſchte, 
nämlich auf die Strategie. Nun iſt die Strategie 
keine Geheimlehre, in die ſich nicht auch ein Mann 
von ſo klarem und ſicherem Verſtande wie Bis⸗ 
marck, auch ohne ſpezielle Detailkenntniſſe, hätte 
hineinarbeiten können. Wenn er ſich was zugute 
darauf tat, daß er 1866 vor Wien den Linksabmarſch 
auf Preßburg angeraten habe, ſo war dabei freilich 
etwas Illuſion, da Moltke dieſe Bewegung auch 
ohne ſeinen Rat ausgeführt haben würde — immer⸗ 
hin hat er hier einen richtigen Blick gezeigt. Aber 


57 


an anderen Stellen hat er vorbeigegriffen in einer 
Weiſe, die auch dem Außenſtehenden zeigt, daß er hier 
nicht zu Hauſe war. Schon bei der Mobilmachung 
und beim Aufmarſch 1866 hatte er deshalb gewiſſe 
Reibungen mit Moltke. Nach den Geſetzen der 
neueren Strategie ſeit Napoleon kommt alles 
darauf an, auf dem entſcheidenden Punkt das 


Übergewicht zu gewinnen und die Hauptmacht 


des Feindes zu zerſtören, auf alle Nebenzwecke 
und Nebenkriegsſchauplätze aber nur das Aller⸗ 
unentbehrlichſte zu verwenden. Gemäß dieſem 
Grundſatz hatte Moltke beſchloſſen, für die Ent⸗ 
ſcheidung in Böhmen alle neun preußiſchen Armee⸗ 
korps zuſammenzuziehen, gegen die anderen deut⸗ 
ſchen Staaten nur drei Diviſionen zu beſtimmen 
und auch die Rheinlande gegen etwaige Gelüſte 
Frankreichs nicht beſonders zu decken, ſondern ſich 
darauf zu verlaſſen, daß nach dem Siege in Böh⸗ 
men die deutſchen Eiſenbahnen ſchnell genug 
Truppen wieder an den Rhein transportieren 
würden. Moltke hat deshalb auch das rheiniſche 
Armeekorps ſelber nach Böhmen gezogen und auf 
dieſe Weiſe den unbedingt ſicheren Sieg, der end⸗ 
lich bei Königgrätz erfochten wurde, ermöglicht. 


58 


F 


Nachdem ſchon der Aufmarſch in dieſer Weile 
geordnet war, erfuhr er aber, daß auf Betrieb des 
Miniſterpräſidenten das rheiniſche Armeekorps be⸗ 
ſtimmt worden ſei, zur Deckung der weſtlichen 
Grenze zurückzubleiben. Moltke ſetzte durch, daß 
ſeine urſprüngliche Anordnung wieder hergeſtellt 
wurde. 

Für den Feldzug in Weſtdeutſchland hatte 
Moltke auch ins Auge gefaßt, daß zunächſt das 
ſtärkſte Element in der gegneriſchen Koalition, 
nämlich die bayeriſche Armee, geſchlagen werden 
müſſe. Bismarck aber gab direkt an Falckenſtein 
eine Art von Direktive, die dieſen in die Richtung 
auf Frankfurt verwies, was für Falckenſtein gleich 
im Beginn Veranlaſſung zu einem Fehler in 
bezug auf die hannöverſche Armee wurde. Erſt 
das direkte Eingreifen Moltkes brachte auch hier 
die Sache wieder in Ordnung. 

Als man in Frankreich eingerückt war, bei Metz 
geſiegt hatte und von dem Marſch auf Paris 
plötzlich die große Schwenkung nach Norden 
machte, die ſchließlich nach Sedan führte, ſtieß 
dieſe Wendung vielfach auf geringes Verſtändnis. 
Nach der Erzählung von Louis Schneider, der 


59 


es wiſſen konnte, ſoll auch Bismarck ſich dagegen 
ausgeſprochen haben. 

Mag dieſes Zeugnis vielleicht nicht völlig durch⸗ 
ſchlagend ſein, ſo iſt doch ſicher, daß nach dem 
Siege von Sedan ſich Bismarck wiederholt dahin 
geäußert hat, man ſolle nunmehr ſtehenbleiben, 
nicht auf Paris vorgehen, ſondern nur die öſtlichen 
Departements Frankreichs beſetzen, ſich dort häus⸗ 
lich einrichten, ſie mit Kontributionen belegen und 
das Weitere abwarten. Man ſieht nicht, wie man 
bei einer derartigen Strategie Frankreich jemals 
hätte bezwingen können, da die Bildung der neuen 
Gambettaſchen Armeen um den Kern der Pariſer 
Beſatzung herum ſich viel leichter, beſſer und 
ſtärker hätte vollziehen müſſen, als es nachher ge⸗ 
ſchehen iſt. Aber ſelbſt als wir ſchon vor Paris 
ſtanden, iſt Bismarck noch öfter auf jenen Gedanken 
zurückgekommen und hat den Generalen einen 
Vorwurf daraus gemacht, daß ſie die Armee nach 
Paris geführt hätten. In der Tat beruhte ja die 
Einſchließung von Paris auf einer Vorſtellung, 
die ſich nachher als unzutreffend erwies. Moltke 
glaubte, daß die franzöſiſche Hauptſtadt im aller⸗ 
höchſten Fall ſich etwa zehn Wochen lang halten 


60 


würde und dann aus Mangel an Lebensmitteln 
würde kapitulieren müſſen. Eigentlich hoffte er, 
ſchon Ende Oktober wieder „in Creiſau Haſen 
ſchießen“ zu können. Dieſer Schätzungsfehler iſt um 
jo mehr verzeihlich, da, wie wir jetzt wiſſen, der Kom⸗ 
mandant von Paris ſelbſt, General Trochu, glaubte, 
daß in Paris nur für 60 Tage Lebensmittel vor⸗ 
handen ſeien. In Wirklichkeit aber haben die 
Lebensmittel für faſt viereinhalb Monate aus⸗ 
gereicht. Gerade in dieſem Augenblick, wo Eng⸗ 
land den Plan betreibt, uns aushungern zu wollen, 
wird man ſich nicht ungern daran erinnern, wie 
ſehr die ſtatiſtiſchen Aufſtellungen über Lebens⸗ 
mittelvorräte hinter der Wirklichkeit zurückbleiben 
können. Die Folge damals aber war, daß die 
Belagerungsarmee vor Paris von einer ſteigenden, 
nervöſen Ungeduld ergriffen wurde, weil die Ein⸗ 
ſchließung nicht zum Ziele zu führen ſchien. Mit der 
Armee wurde auch Bismarck unruhig, weil er fürch⸗ 
tete, daß die längere Dauer des Krieges eine Ein⸗ 
miſchung der Neutralen herbeiführen könne. Er 
forderte alſo ſtärkere Mittel, um die Kraft der Pari⸗ 
ſer zu brechen, und hier entwickelte ſich nun zwiſchen 
ihm und dem leitenden Strategen der Konflikt. 


61 


Was ich vorher von verfehlten militäriſchen Auf⸗ 
faſſungen Bismarcks geſagt habe, hat keine weſent⸗ 
lichen Folgen gehabt und dient nur als Beweis, daß 
er wirklich auf dieſem Gebiet nicht beſchlagen war. 
Jetzt aber ſetzte er die ganze Gewalt ſeines Willens 
dahinter, um Moltke zu zwingen, ſich ſeinen An⸗ 
ſichten zu unterwerfen.“) 

Auch Moltke hat zuweilen daran gedacht, daß, 
wenn die Aushungerung nicht zum Ziele führte, 
man zur Belagerung ſchreiten könne und ſchon auf 
dem Marſche von Sedan nach Paris Anordnungen 
erlaſſen, um ſchwere Geſchütze herbeizuführen. Aber 
allmählich war ihm klar geworden, daß er damit in 
einen inneren Widerſpruch geraten jei. Wenn man 
überhaupt belagern und bombardieren wollte, ſo 
mußte man es von Anfang an tun, ſobald es irgend 
erreichbar war. Je länger aber die Einſchließung 
dauerte, deſto näher mußte man naturgemäß dem 
Termine kommen, wo die Aushungerung ihr Ziel 
erreichte, deſto überflüſſiger alſo wurde das Schie⸗ 


*) Die letzte abſchließende Arbeit über dieſe Frage dürfte 
ſein: „Roon und Moltke vor Paris“ von Emil Da⸗ 
niels, Preuß. Jahrb. Bd. 121 (1905) auf Grund des Buches 
von Guſtaf Lehmann „Die Mobilmachung von 1870“. 


62 


Ben. Es war aber nicht nur überflüſſig, ſondern 
auch in hohem Grade ſchädlich. Nicht nur, weil es 
uns eine Menge braver Offiziere und Soldaten 
koſtete, den Artilleriſten furchtbare Strapazen in 
den mit Eiswaſſer gefüllten Gräben auferlegte, 
ſondern namentlich auch die Verbindungsbahn 
mit Deutſchland und die Transportmittel ſo in 
Anſpruch nahm, daß der allgemeine Kriegszweck 
darunter litt. Moltke befeſtigte ſich alſo immer mehr 
in dem Gedanken, ſich vor Paris auf die reine Ein⸗ 
ſchließung zu beſchränken, um gegen die franzöſiſchen 
Feldarmeen, die Gambetta mittlerweile auf die 
Beine gebracht hatte, um ſo kräftigere Schläge 
führen zu können. Wenn er zuweilen auch wieder 
entgegengeſetzte Außerungen gemacht hat, ſo 
braucht das noch keine innere Unſicherheit zu be⸗ 
deuten, ſondern iſt eine Art Abwehr überflüſſiger 
Diskuſſionen in der beſtimmten Erwartung, daß 
der Fortgang der Ereigniſſe ſchneller ſein und Paris 
bald genug fallen würde. Er war hierin mit allen 
an der Leitung beteiligten Militärs im Großen 
Hauptquartier durchaus einig. Die drei Quartier⸗ 
meiſter Bronſart, Verdy, Brandenſtein, nicht anders 
als der Chef der Artillerie Hinderſin und der Chef 


63 


des Ingenieurweſens Kleiſt, beſonders aber Blu⸗ 
menthal, der Chef des Generalſtabes des Kron⸗ 
prinzen, ſtimmten ihm durchaus zu. Dieſer hat 
ſogar den kühnen Gedanken gehabt, den übrigens 
auch, was nicht unerwähnt bleiben ſoll, als Zeug⸗ 
nis ſeines ideenreichen Genius, Bismarck ſelbſt 
einmal ausgeſprochen hat, daß die Einſchlie⸗ 
ßungsarmee noch um zwei weitere Korps ge⸗ 
ſchwächt werden ſolle, um ſofort (noch vor dem 
Fall von Metz) eine ſtarke Feldarmee zu bilden, die 
die franzöſiſchen Neuformationen nicht bloß abge⸗ 
wehrt, ſondern ſie zerſtreut hätte, ehe ſie fertig 
waren. In einer vorzüglichen Denkſchrift ent⸗ 
wickelte Blumenthal, daß theoretiſch das einzig 
Mögliche neben der Aushungerung die förmliche 
Belagerung ſei, daß zu dieſer aber, nachdem nicht 
gleich von Anfang an dafür geſorgt war, die Mittel 
fehlten, und daß ein Bombardement des Stadt⸗ 
inneren, das überhaupt nur kleinere Teile von 
Paris erreichen könne, völlig wirkungslos bleiben 
müſſe. Er wies auf Grund ſeiner eigenen Erfah⸗ 
rungen und der Kriegsgeſchichte nach, daß was 
den „Schießern“ als eine beſonders ſchneidige 
Maßregel erſchiene, in Wirklichkeit eine klägliche 


64 


Halbheit war — eine Verwechſelung übrigens, die 
in Politik und Kriegführung ungemein häufig 
auftritt. 

Roon hatte, ſoweit als möglich, in der Heimat 
rechtzeitig für die Bereitſtellung von Geſchütz, 
Munition und Transportmitteln geſorgt. Moltke 
aber iſt es geweſen, der die Heranführung verhin⸗ 
derte, weil er eben den artilleriſtiſchen Angriff 
ebenſo wie das Bombardement für unnötig hielt, 
die poſitive Aktion allein bei den Feldarmeen 
ſuchte und deshalb auch die Eiſenbahnen für dieſe 
und ihre Bedürfniſſe reſervierte. Vor allem aber 
war ihm die Belagerungsaktion aus dem höheren 
ſtrategiſchen Geſichtspunkt ungelegen, weil ſie die 
Einſchließungsarmee feſtlegte und die Freiheit 
ihrer Bewegungen aufhob. Es war doch nicht 
unmöglich, daß eine der Gambettaſchen Armeen 
einmal bis nahe vor Paris herankam; in dieſem 
Fall hatte der deutſche Feldherr ſich vorgenommen, 
die Einſchließung auf einige Tage zu unterbrechen, 
um die feindliche Feldarmee mit geſammelter 
Kraft anzufallen und möglichſt vernichtend zu 
ſchlagen. Hatte man nun vor Paris ſchon Hun⸗ 
derte von ſchweren Geſchützen aufgefahren, ſo 


B Delbrück, Bismarcks Erbe 65 


war das nicht mehr ausführbar, oder man hätte 


dieſe Geſchütze alle opfern müſſen. 


Als der Hauptſchuldige an dem Ausbruch des 


Konflikts iſt inſofern Roon zu betrachten, als er, 
als ein hervorragender General, die Einſicht hätte 
haben müſſen, daß Moltke im Recht war, und 
wenn er dann in dieſem Sinne auf Bismarck 
eingewirkt hätte, ſo würde dieſer ſich wohl be⸗ 


4 ˙ WERE ET 


ruhigt haben. Statt deſſen finden wir, daß ge⸗ 
rade Roon es iſt, der Bismarck aufgereizt und ſich 


mit ihm ſozuſagen wechſelſeitig in die äußerſte 
Leidenſchaft geſteigert hat. Von militäriſcher Seite 
hat man zu ſeiner Entſchuldigung anführen wollen, 
daß er damals krank und körperlich ſehr herunter 
geweſen ſei. Ohne das beſtreiten zu wollen, 
glaube ich doch, daß die Erklärung pfychologiſch an 
einer anderen Stelle zu ſuchen iſt. Roon war ſeit 
der Konfliktszeit der eigentliche militäriſche Ver⸗ 
traute des Königs. Noch beim Aufmarſch 1866 
waren die Dispoſitionen Moltkes nur durch Ver⸗ 
mittlung Roons vor den König gebracht und in 
Befehle verwandelt worden. Erſt in dieſer Zeit 


erhielt Moltke den unmittelbaren Vortrag beim 


König und gewann durch den Erfolg von 1866 die 


66 


unerſchütterliche Autorität. Damit aber war Roon 
im Hauptquartier ſozuſagen funktionslos. Der 
Kriegsminiſter, hat Moltke ſpäter einmal geſchrie⸗ 
ben, gehöre überhaupt nicht ins Hauptquartier, 
ſondern müſſe von ſeinem Miniſterium aus in 
Berlin das Adminiſtrative der Armee dirigieren. 
Ein hervorragender Mann aber im Hauptquartier, 
der ſelber keine Verantwortung hat, wird natur⸗ 
gemäß zum Kritiker, um ſo mehr, als die Kritik 
ja wohl auch nicht ſelten recht behalten wird. Roon 
aber war, ſo genial er ſich als militäriſcher Organi⸗ 
ſator und parlamentariſcher Vertreter bewährte, 
überhaupt kein Stratege. Er hat noch gegen Ende 
des Krieges 1870, als Moltke für einen letzten Druck 
weitere Verſtärkungen verlangte, ihm den Grund⸗ 
ſatz entgegengehalten, die Strategie müſſe beſchei⸗ 
dener ſein und ſich nach den vorhandenen Mitteln 
richten. Er ſpottete darüber, daß man wohl gar 
bis an die Pyrenäen wolle, und erklärte ſich außer⸗ 
ſtande, weitere Truppenteile aufzuſtellen, ſo daß 
der Generalſtab ihm entgegenhalten mußte, wie 
doch Gambetta ganze Armeen aus der Erde 
ſtampfe. Dabei verlangte Moltke nichts, als daß 
die Landwehrbataillone, die in Deutſchland zur 


3* | 67 


Bewachung der Gefangenen gebraucht wurden, 
nach Frankreich gezogen und durch Landſturm⸗ 
formationen erſetzt würden. Moltkes Idee, die 
Einſchließung von Paris auf den geringſtmög⸗ 


lichen Kraftaufwand zu beſchränken, um die fran⸗ 


zöſiſche Feldarmee um ſo ſtärker zu treffen, ver⸗ 
ſtand Roon ſo wenig, daß er ſich mit Bismarck zu⸗ 


ſammen in den Verdacht verbohrte, es müßten hier 


irgendwelche unlautere Motive dahinterſtecken. | 


Dieſer Verdacht verdichtet ſich endlich zu der 
Vorſtellung, daß der König ſich durch eine falſch 
angebrachte Humanität beſtimmen laſſe, für die 
er wieder die Königin Auguſta verantwortlich 
machte, und wenn der Kronprinz in dieſem Punkt 
mit ſeinem Vater übereinſtimmte, ſo ſollte die 


ee 


a ee r 


Kronprinzeſſin Viktoria daran ſchuld fein. Da nun 
mit ſachlichen Gründen gegen die Autorität 
Moltkes beim König nichts auszurichten war, jo 
ſcheute ſich Bismarck nicht, ſeinen Verdacht als 
poſitive Behauptung in die deutſche Preſſe bringen 
zu laſſen, und erregte damit natürlich im Volk wie 
in der Armee einen ungeheuren Sturm gegen die 


weiblichen Einflüſſe, die das „Mekka der Zivili⸗ 


ſation“ auf Koſten des Blutes deutſcher Soldaten 


68 


ſchonen wollten. Freilich Moltkes Autorität 
war damals ſchon ſo groß, daß ſie mit ſolchen 
Mitteln nicht wohl zu untergraben war, und Bis⸗ 
marck war deshalb klug genug, den Namen Molt⸗ 
kes nicht direkt hineinzuziehen, ſondern lenkte den 
Volkshaß zunächſt auf den General Blumenthal, 
der zufällig auch mit einer Engländerin verheiratet 
war, und Worte Bismarcks haben naturgemäß 
eine ſolche Kraft, daß noch heute in weiten Kreiſen 
unſeres Volkes das Andenken Kaiſer Wilhelms 
und Kaiſer Friedrichs, ebenſo wie das der beiden 
großen Strategen Moltke und Blumenthal mit 
dem Vorwurf einer unmännlichen Weiberknecht⸗ 
ſchaft und eines charakterloſen Byzantinismus be⸗ 
fleckt iſt. Hat ſich doch ſogar ein Hiſtoriker gefunden, 
der den Schluß gemacht hat, daß, da Männer wie 
Bismarck und Roon einen derartigen Verdacht 
gehabt, bewahrt und ausgeſprochen, es ausge⸗ 
ſchloſſen ſei, daß er rein aus der Luft gegriffen 
worden. Von Moltke und Blumenthal aber meint 
derſelbe Hiſtoriker, man könne es kaum glauben, 
daß man hier dieſelben Männer vor ſich habe, deren 
Geiſt und Kühnheit ſich 1866 und 1870 ſonſt ſo 
glänzend bewährte. Noch am Schluß des Feld⸗ 


69 


zuges hat, wie man weiß, Moltke in den unerhört 
kühnen Anweiſungen an Werder und Manteuffel 
ſeinen ſtrategiſchen Genius ſo großartig wie je 
offenbart: derſelbe Hiſtoriker weiß ſich ſeine Stra⸗ 
tegie vor Paris nicht anders als durch eine 
„Ebbe im Wollen“ zu erklären. Erholen wir uns 
von einer ſolchen Degradierung unſeres Feld⸗ 
herrn mit ſeinem eigenen kräftigen Wort, das 
uns der Kabinettsrat v. Wilmowski in ſeinen Brie⸗ 
fen berichtet (22./11.), „es jei der dümmſte Streich 
in dieſem Kriege, daß man überhaupt Belagerungs⸗ 
geſchütze nach Paris habe transportieren laſſen“. 

Bismarck und Roon haben ſchließlich ihren Willen 
beim König durchgeſetzt, Moltke hat nachgeben 
müſſen, hat es getan, weil man, wie er ſagte, vor 
Europa engagiert ſei, und wohl auch in der Vor⸗ 
ſtellung, daß ſchließlich der innere Friede im Haupt⸗ 
quartier auch eine ſehr wichtige Rückſicht jei. Aber 
Blutvergießen und Anſtrengungen ſind vergeblich 
geweſen. Die franzöſiſchen Außenforts hat man 
niedergekämpft, aber die eigentliche Befeſtigung, 
die Stadtumwallung hatte man kaum berührt, das 
Bombardement hat fo gut wie keine Wirkung ge⸗ 
habt, und nicht um eine Stunde früher hat Paris 


70 


deshalb kapituliert, ſondern iſt ausſchließlich dem 
Hunger erlegen. 

Eine unerhörte Gunſt des Schickſals hat Preußen 
damals gleichzeitig den genialen Staatsmann und 
den genialen Strategen beſchieden und dazu den 
König, der ſich ſtets über dieſen ſeinen beiden 
Dienern in ſeiner königlichen Würde zu behaup⸗ 
ten wußte. Man verdunkelt nicht nur die Wahrheit, 
ſondern nimmt der Epoche auch ein Stück ihrer 
Größe, wenn man die Grenzen zwiſchen den drei 
Perſönlichkeiten verwiſcht und möglichſt alle Eigen⸗ 
ſchaften allen dreien zuteilt. Es genügt deshalb 
nicht zu ſagen, Bismarck war der Staatsmann, 
Moltke war der Stratege, ſondern man vertieft 
die Umriſſe der hiſtoriſchen Geſtalten, indem man 
hinzufügt: Bismarck war kein Stratege und Moltke 
war kein Politiker“); König Wilhelm brauchte 
keins von beidem zu ſein, er war und blieb der 
König. Freilich ergibt ſich nun daraus, daß ſie 
nicht nur nebeneinander, ſondern auch häufig gegen⸗ 
einander kämpften. Das iſt die Tragik der Welt⸗ 


) Vgl. den ſchönen Aufſatz von Rudolf Peſchke, 
„Moltke als Politiker“, Preuß. Jahrb. Bd. 158, S. 16 
(Okt. 1914). 


71 


geſchichte. Mit der preußiſchen Armee hat Bis- 
marck ſeine großen idealen Ziele erreicht, und ohne 
ſie hätte er ſie nicht erreichen können. Die ganzen 
„Gedanken und Erinnerungen“ aber ſind erfüllt 
von unfreundlichen, zuweilen geradezu feindſeligen 
Außerungen über „die Militärs“. Umgekehrt finden 
wir z. B. auch von Manteuffel aus dem Jahre 
1870 eine Außerung zu Stoſch über Bismarck, „es 
ſei eine Schande, daß ein ſolcher Politiker mehr 
Einfluß habe als die Heerführer und Generale“, 
und auch zwiſchen Bismarck und Moltke iſt ein 
freundſchaftliches Verhältnis nie wiederhergeſtellt 
worden. Wie könnte es auch anders ſein? Noch 
in feinen „Gedanken und Erinnerungen“ hat Bis⸗ 
marck geſchrieben: „Es iſt nicht anzunehmen, daß 
die übrigen Generale von rein militäriſchem Stand⸗ 
punkt anderer Meinung als Roon ſein konnten“ 
Wie könnte man jemandem, den man ſolcher Sünde 
anklagt, jemals wieder freundlich geſinnt ſein, und 
wie könnte jemand, dem ein ſolcher Vorwurf ge⸗ 
macht iſt, ihn jemals verzeihen? 

Als Bismarck im Reichstag die ſchmerzbewegte 
Anſprache über das Ableben Kaiſer Wilhelms ge⸗ 
halten hatte, reichte ihm Moltke die Hand, aber 


72 


irgendein freundlich anerkennendes Wort aus feinem 
Munde über den großen Genoſſen iſt nicht erhalten, 
und in der Geſchichte des franzöſiſchen Krieges aus 
Moltkes Feder kommt der Name Bismarcknicht vor“). 


*) Ich freue mich, daß auch Erich Marcks in ſeinem 
Lebensbild „Otto v. Bismarck“, S. 127 den Verdacht der 
unſachlichen weiblich⸗engliſchen Einflüſſe mit Entſchieden⸗ 
heit abweiſt. Wenn er trotzdem Bismarck in der mili⸗ 
täriſchen Frage recht geben will, ſo kann er ſich darauf 
berufen, daß auch viele Militärs heute noch ſo urteilen. 
Wenn er aber den Grund für das Verſagen Moltkes und 
Blumenthals in dieſer Frage darin findet, daß ſie keine 
Artilleriſten geweſen ſeien, jo hat er ſich wohl nicht klarge⸗ 
macht, daß das techniſche Moment bei dem Streit kaum eine 
Rolle ſpielte, und daß es heißt, unſere Feldherren ſehr ge⸗ 
ring einſchätzen, wenn ſie nicht imſtande geweſen ſein 
ſollten, ſich über die artilleriſtiſchen Fragen bei ihren Fach⸗ 
beratern genügend zu orientieren. Das wird nicht nur 
von jedem Diviſionskommandeur, ſondern ſchon von jedem 
Fähnrich auf der Kriegsſchule verlangt. Zu dem allen dachte 
der erſte Artilleriſt der Zeit, General v. Hinderſin, ganz 
ähnlich wie Moltke, meinte ſchon am 9. November, „der 
Hunger werde wohl mit den erſten Schüſſen zuſammenfallen“, 
und bekämpfte in dem großen Kriegsrat am 17. Dezember 
„die Anſicht des Kriegsminiſters, ſchon aus den jetzigen 
Batterien auf ſo weite Entfernungen Paris zu bombardieren 
und nannte dies einen bloßen Bombardementskitzel, mit 
dem man ſich der Lächerlichkeit ausſetze“. Auch der Chef 
der Artillerie der III. Armee, Generalleutnant Herkt, war 
gegen das Bombardement. Die Leitung des artilleriſtiſchen 
Angriffs übernahm ſchließlich ein junger Generalmajor, 
Prinz Kraft Hohenlohe. 


73 


Die Kanzlerſchaft Bismarcks nach dem Kriege 
zerfällt in zwei ſehr verſchiedene Abſchnitte. Der 
eine wird beſtimmt durch den Kulturkampf, der 
andere durch den Schutzzoll, das Sozialiſtengeſetz 
und die Sozialreform. f 

Den Anlaß zum Kulturkampf gab die Bildung | 
der Zentrumspartei im Jahre 1870. Es war die ö 
Fortſetzung der alten katholiſchen Partei, die ſchon 
in der Konfliktszeit eine weſentliche Rolle geſpielt 
hatte, und auch wieder nicht. Zwar bildete der 
Katholizismus und die Maſſe des katholiſchen Teils 
der Staatsbürger das Gros der neuen Partei; 
nichtsdeſtoweniger lehnte ſie es ab, eine prinzipiell 
katholiſche Partei zu ſein, und ſtellte als ihr eigent⸗ 
liches Weſen die Verteidigung des Föderalismus 
gegen die unitariſchen Tendenzen des neuen Reichs 
hin. Das hätte nun Bismarck an ſich nicht zuwider 
zu ſein brauchen, denn auch er war ja keineswegs 
ein Unitarier. Dennoch ſah er in der neuen Grün⸗ 
dung einen Akt der Reichsfeindlichkeit, denn in 
der neuen Partei fand ſich alles zuſammen, was 
der Reichgründung widerſtrebt hatte, die Parti⸗ 
kulariſten, die die Wiederherſtellung Hannovers 
forderten, die Großdeutſchen, die den Ausſchluß 


74 


Oſterreichs nicht wollten, die Katholiken, die in 
Preußen den Proteſtantismus bekämpften, Reak⸗ 
tionäre, Demokraten, Altliberale und Ariſtokraten. 

Das Verhältnis der katholiſchen Kirche zum Preu⸗ 
ßiſchen Staat hat alle möglichen Wandlungen 
durchgemacht: Feindſeligkeit, gegenſeitige Dul⸗ 
dung, Freundlichkeit, letztere namentlich unter 
König Friedrich Wilhelm IV. Bismarck aber ſah 
es ſchon früh unter dem Geſichtspunkt der prinzi⸗ 
piellen Feindſeligkeit. Schon als Bundestags⸗ 
geſandter in Frankfurt ſchrieb er an ſeinen Freund 
Gerlach: „Ich betrachte dieſe ecclesia militans als 
unzweifelhaften Feind, der Preußen bis auf die 
Exiſtenz ſelbſt als ketzeriſchen Mißbrauch bekämpft“, 
und in einem weiteren Brief (20. Januar 1854): 
„Es iſt nicht ein chriſtliches Bekenntnis, ſondern 
ein heuchleriſcher, götzendieneriſcher Papismus, 
voll Haß und Hinterliſt, der hier im praktiſchen Le⸗ 
ben von den Kabinetten der Fürſten und ihrer 
Miniſter bis in die bettfederigen Myſterien des 
Eheſtandes hinab einen unverſöhnlichen, mit den 
infamſten Waffen geführten Kampf gegen die 
proteſtantiſchen Regierungen und beſonders Preu⸗ 
ßen als die weltlichen Bollwerke des Evangeliums 


75 


unterhält.“ „Wir betrachten mit Recht die ultra⸗ 
montane Partei als unſeren unverſöhnlichſten und 
als einen unſerer gefährlichſten Gegner.“ 

In die Verhandlungen des Konzils einzugreifen, 
das 1870 in Rom tagte, um die Infallibilität des 
Papſtes zu beſchließen, lehnte er nichtsdeſtoweniger 
ab, ſpielte, als die Italiener Rom beſetzt hatten, 
ſogar mit dem Gedanken, dem Papſt eine Zuflucht 
in Deutſchland anzubieten, und verhandelte in 
Verſailles mit dem Erzbiſchof Ledochowski. Aber 
als nun in demſelben Augenblick, wo das Deutſche 
Reich geſchaffen wurde, die Zentrumspartei ſich 
bildete, erkannte Bismarck in ihr den alten Gegner, 
nur noch durch andere reichsfeindliche Elemente 
verſtärkt, und ging ſeiner Art nach ſchnell zum An⸗ 
griff über. 

An die Stelle des reaktionären Kultusminiſters 
von Mühler trat der liberale Falk, und es erfolgte 
eine Reihe von Geſetzen, die den katholiſchen 
Klerus und die katholiſche Erziehung in ſtrengere 
Abhängigkeit von der Staatsregierung bringen und 
mit deutſchnationaler Bildung erfüllen ſollten. 
Die Katholiken erblickten darin, und wie wir jetzt 
nicht mehr anſtehen dürfen zu ſagen, mit Recht 


76 


eine Vergewaltigung. Bismarck hat ſpäter die 
Verantwortung für dieſe Art den Kampf zu führen 
von ſich abzuwälzen und auf die Räte des Kultus⸗ 
miniſteriums zu ſchieben geſucht. Aber ohne jede 
Berechtigung; gewiß hat er ſich nicht um jede 
Einzelheit der Geſetzgebung gekümmert, aber der 
Geiſt, der ſie erfüllte, ging von ihm aus, wie der 
Oberhofprediger Kögel es ausdrückte, „Bismarck 
ſoufflierte und Falk deklamierte, Bismarck ver⸗ 
ſchrieb die Pulver und Falk drehte die Pillen.“ 
Wo er einmal kämpfte, kämpfte er ſcharf, ganz wie 
in der Konfliktszeit, und gerade er iſt es geweſen, 
der im Kultusminiſterium immer von neuem zu 
den äußerſten Maßnahmen drängte und ſie for⸗ 
derte.“ 

Trotzdem iſt es ſehr wohl möglich, daß er von 
Anfang an die Kampfgeſetzgebung nicht als etwas 
Dauerndes, ſondern eben nur als ein Kampfmittel 
angeſehen hat, beſtimmt, irgendwie und irgendwann 
einmal einen annehmbaren Frieden herbeizu⸗ 
führen. Schon im Jahre 1874 beauftragte er den 


*) Das iſt bekannt bei denen, die noch eine Erinnerung 
an dieſe Zeit haben und ausdrücklich bezeugt bei Tiedemann, 
„Sechs Jahre“, S. 477. 


77 


ſächſiſchen Geſandten v. Frieſen, feinem, wie man 


weiß, katholiſchen König zu ſagen, er ſei ganz un⸗ 
ſchuldig an den Maigeſetzen; er habe die Entwürfe 
unterzeichnet, ohne ſie geleſen zu haben. Wir 
haben denſelben Mann und dieſelbe Methode, wie 


er einſt den Liberalismus bekämpft. Bei dieſen 


wußte er, daß er nicht nur einmal mit ihnen Frie⸗ 
den ſchließen werde, ſondern daß ſie ſogar ſeine 
Freunde werden ſollten. Trotzdem ſchlug er ſich 
mit ihnen bis aufs Blut. Gegen das Zentrum hatte 
er einen wirklichen innerlichen Haß. Wenn er an 
einen zukünftigen Friedensſchluß dachte, ſo ſtellte 
er ſich dieſen doch nur als einen Waffenſtillſtand 
vor. Nicht nur die Politik, ſondern auch den evan⸗ 
geliſchen Glauben rief er auf zum Kampf, und es 
ſchien nicht anders, als ob ein Religionskrieg das 
ſchließliche Ende ſein werde. 

Die deutſchen Katholiken, meiſterhaft ka 


von dem ehemaligen hannoverſchen Miniſter 


Windthorſt und einer ganzen Reihe ſehr bedeuten⸗ 
der Perſönlichkeiten, wehrten ſich auf das ſtand⸗ 
hafteſte. Die Gemeinden beſteuerten ſich ſelbſt, 
um die Geiſtlichen, denen die Einkünfte geſperrt 


waren, zu erhalten. Zahlreiche Geistliche wurden 


78 


abgeſetzt, mußten ihre Gemeinden verlaſſen, die 
nun verwaiſten. Gegen viele andere wurde mit 
Geld⸗ und Gefängnisſtrafen vorgegangen, ebenſo 
gegen die Zeitungsredakteure. Auch die Biſchöfe 
wurden für abgeſetzt erklärt und mit Gefängnis⸗ 
ſtrafen belegt: der Biſchof Brinkmann von Münſter 
hat 40 Tage, Erzbiſchof Melchers von Köln über 
6 Monate, Eberhard von Trier faſt 7 Monate, 
Martin von Paderborn 8 Monate, Erzbiſchof 
Ledochowski von Poſen volle 2 Jahre im Ge⸗ 
fängnis zubringen müſſen. An vielen Orten konn⸗ 
ten den Katholiken nicht mehr die Sakramente ge⸗ 
ſpendet werden; ſie konnten ihre Toten nicht mehr 
kirchlich begraben. 

Der Zuſtand wurde allmählich unerträglich. Bis⸗ 
marck hatte im Beginn des Kampfes nicht nur die⸗ 
jenigen Liberalen als Bundesgenoſſen gehabt, die 
in jeder Kirche und im beſonderen in der katho⸗ 
liſchen nichts als ein großes Syſtem des Aber⸗ 
glaubens ſahen, ſondern auch ſehr ernſthaft reli⸗ 
giöſe Kreiſe, die in der 1870 erfolgten Proklamation 
der päpſtlichen Infallibilität einen Angriff ſowohl 
auf die Souveränität des Staates wie auf den 
innerlichen chriſtlichen Charakter des Katholizis⸗ 


79 


mus ſelber erblickten und den deutſchen Katholiken 
dagegen zu Hilfe zu kommen meinten; daneben 
auch umgekehrt eifrige Proteſtanten, die das 
Auflodern des alten Papſthaſſes in ſich ſpürten. 
Aber es gab doch auch ſeit den Zeiten der Romantik 
evangeliſch⸗gläubige Kreiſe, die mehr die chriſtliche 

Gemeinſchaft mit den Katholiken als die Gegner⸗ 
ſchaft empfanden, ſich jedenfalls ihnen viel näher 
verwandt fühlten als den gottloſen Liberalen und 
den Juden, die ſich eifrig am Kampfe beteiligten. 
Je länger der Kulturkampf dauerte, deſto mehr 
wandten ſich die Konſervativen, die ſich ja ſchon 
ſeit 1866 durch Bismarcks Konzeſſionen nach links 
beunruhigt fühlten, von ihm ab. Selbſt Roon hatte 
ſchon bei Abſchluß des Friedens mit Frankreich ge⸗ 
ſchrieben (6. Februar 1871), er könne ſich in dem 
auf⸗ aber noch nicht ausgebauten kaiſerlichen Schau⸗ 
ſpielhauſe nicht zurechtfinden; die alten Heilig⸗ 
tümer würden zerſtört und ein neuer Tempel ge⸗ 
baut, deſſen Oberprieſter ſelbſt den alten Kultus 
aufzuopfern trachte; er vermiſſe den Boden, auf 
dem eine konſervative Partei der Zukunft ſich auf⸗ 
bauen lönne; die alte patriarchaliſch⸗konſervative 
Staatsidee gehe zugrunde. Roon zog ſich endlich 


80 


zurück und nahm den Abſchied. Von der äußerſten 
Rechten ging man vor zu den gehäſſigſten perſönlichen 
Angriffen gegen den Reichskanzler, und Ludwig 
v. Gerlach ſprach gegen die Umwandlung des 
Zeughauſes in eine Ruhmeshalle, weil man nicht 
in einer Zeit des Ruhmes, ſondern der „nationalen 
Trauer und Buße“ lebe. 

Bismarck wurde dadurch nur noch mehr nach 
links gedrängt und wünſchte, nachdem er die 
Nationalliberalen gewonnen, ſich auch mit der Fort⸗ 
ſchrittspartei auszuſöhnen (1874). Mehrfach ſetzte 
er ſich im Reichstag demonſtrativ zu ihnen auf ihre 
Bänke und begann freundliche Unterhaltungen, 
beſonders mit Franz Duncker. Er klagte über die 
Friktionen bei Hofe; das Reich müſſe beſſer kon⸗ 
ſolidiert werden; ohne ſie ſei eine verſtändige Mehr⸗ 
heit nicht zu erzielen. Aber das Liebeswerben war 
umſonſt. Der Abgeordnete Freiherr v. Hoverbeck 
warnte ſeine jüngeren Fraktionsgenoſſen ausdrück⸗ 
lich, jemals etwas auf die Schmeichelreden des 
Meiſters in jeder Verſtellungskunſt zu geben. 

Nichtsdeſtoweniger trat Bismarck im Jahre 1877 
noch näher an die Liberalen heran und bot Bennig⸗ 
ſen einen Sitz im Miniſterium an. Aber ſofort zeigte 


81 


ſich, daß ſoweit der Reichskanzler ſich auch von den 
Konſervativen entfernt hatte, ihn von den Liberalen 
doch immer noch ein breiter Graben trennte. Auf 
der einen Seite verlangte Bennigſen, daß mit ihm 
die beiden anderen Führer der Nationalliberalen, 
Forckenbeck und Stauffenberg, in die Regierung 
berufen würden, auf der anderen ging der Miniſter 
Graf Eulenburg direkt an den Kaiſer, um ihn vor 
einer derartigen völligen Liberaliſierung der Re⸗ 
gierung zu warnen und zu behüten. Es wäre ſo 
etwas wie der Übergang in das parlamentariſche 
Regierungsſyſtem geworden, und wie lange hätte 
Bismarck ſelber das ertragen? Preußen vor der 
parlamentariſchen Regierung zu bewahren, hatte 
er ja 1862 in allen Wettern und Wirbeln das 
Staatsruder ergriffen. Denn die Nationallibe⸗ 
ralen, obgleich ſie ſeit 1866 um des Vaterlandes 
willen Kompromiß auf Kompromiß mit ihm ge⸗ 
ſchloſſen hatten, grundſätzlich hielten ſie doch noch an 
den Idealen des parlamentariſchen Majoritäts⸗ 
regimentes feſt und ſuchten vermöge des Geld⸗ 
und Steuerbewilligungsrechts die Macht in die 
Hand zu bekommen. Nach liberaler Tradition war 
die Haupttugend eines Volksvertreters, zu ſparen 


82 


und an dem von der Regierung vorgelegten Etat, 
beſonders an dem Militäretat, zu ſtreichen. Steuern 
wollte man nicht bewilligen, nicht nur, um es mit 
den Wählern nicht zu verderben, ſondern auch 
um die Regierung in Abhängigkeit zu erhalten. 
Bennigſen brachte einmal einen Antrag, einen 
Kaffeezoll zwar zu bewilligen, ihn aber beweglich 
zu machen, ſo daß es jedes Jahr in der Hand der 
Reichstagsmajorität gelegen hätte, die Höhe zu 
beſtimmen. 

Obgleich die Geſetzgebungsarbeit im Reich rüſtig 
fortſchritt, z. B. die großen Juſtizgeſetze jetzt 
zur Verabſchiedung gelangten, ſo fühlte ſich Bis⸗ 
marck doch in einer großen Bedrängnis zwiſchen 
den Liberalen mit ihren unerfüllbaren Anſprüchen 
auf der einen und dem Zentrum mit ſeiner 
Todfeindſchaft auf der anderen. Die Wirkung 
zeigte ſich beſonders an den Finanzen des Reiches, 
die ohne neue Steuern nicht in Ordnung zu halten 
waren. Etwa zwei Jahre lang ſuchte und taſtete 
der Kanzler, wie er ſich und ſeine Politik vor dem 
Reichstag retten könne. Schon im Herbſt 1876 
meldete Blankenburg an Roon: Bismarck will los 
von den Liberalen, aber bis in das Jahr 1878 


83 


hinein zogen ſich ſeine wiederholt aufgenommenen 
Verhandlungen mit Bennigſen. Endlich zeigten 
ſich dem weitausſchauendem Blicke des Staats⸗ 
manns in den Verſchiebungen der Weltverhält⸗ 
niſſe wie des Volkslebens die Möglichkeiten neuer 
Kombinationen. 

Seit dem Jahre 1874 laſtete ziemlich auf der 
ganzen Kulturwelt eine Wirtſchaftskriſis, über 
deren Urſachen die Wirtſchaftsforſcher auch heute 
noch nicht einig ſind. Man wird wohl annehmen 
dürfen, daß mehrere Umſtände zuſammengewirkt 
haben, die Kriſis ſo außerordentlich langwierig 
und hartnäckig zu machen. In erſter Linie dürfte 
es eine Währungskriſis geweſen ſein. Die fran⸗ 
zöſiſche Regierung hatte den Krieg von 1870 zum 
großen Teil mit Papierzeichen bezahlt und da⸗ 
durch die Umlaufsmittel ſehr vermehrt, die nun 
allmählich wieder eingezogen wurden. Gleichzeitig 
gingen unter dem Vorantritt Deutſchlands die 
Staaten allmählich von der Doppelwährung oder 
Silberwährung zur reinen Goldwährung über, 
demonetiſierten das Silber und ſchränkten dadurch 
die Umlaufsmittel noch weiter ein. Schließlich 
nahm die Goldproduktion fortwährend ab und 


84 


ſank bis auf etwa 400 Millionen Mark jährlich 
(jetzt nach Entdeckung der neuen Goldbergwerke 
beträgt ſie etwa zwei Milliarden). Durch die ver⸗ 
ſchiedenſten Arten von Kreditmitteln und Geld⸗ 
ſurrogaten kann man nun freilich den Gebrauch 
des baren Geldes ſehr einſchränken, aber die Ein⸗ 
führung ſolcher Hilfsmittel muß ſich immer erſt 
den Volksgewohnheiten anpaſſen und erfordert 
eine gewiſſe Zeit. Der Mangel an genügenden 
Umlaufsmitteln dürfte daher den erſten Anſtoß zur 
Kriſis von 1874 gegeben haben. Es kam aber 
hinzu, daß gleichzeitig im Laufe der ſiebziger Jahre 
in Amerika immer neue, ungeheure Gebiete der 
Landwirtſchaft erſchloſſen wurden und der fort⸗ 
ſchreitende Handel und die fortſchreitende Tech⸗ 
nik die Frachtkoſten ſehr verbilligten, ſo daß 
die europäiſchen Landwirte die Preiſe, die allen 
Gutskäufen, Übernahmen und Pachtungen zu⸗ 
grundegelegt zu werden pflegten, nicht mehr 
zu erzielen vermochten. Ein allgemeiner Preis⸗ 
druck ſetzte ein, ſo groß, daß ſchließlich auch 
die Konſumenten darunter litten, weil eine 
allgemeine Stockung die Arbeitsmöglichkeiten 
unterband. 


85 


Indem Bismarck in feiner Varziner Einſamkeit 
erwog, wie das deutſche Wirtſchaftsleben wieder 
zu heben und künftighin vor ſolchen Schädigungen 
zu bewahren ſei, gelangte er zu dem ehedem ſo viel 
angewandten Mittel des Schutzzolles. Die preu⸗ 
ßiſchen Konſervativen waren bis dahin durchaus 
freihändleriſch geſinnt, da Preußen noch vor⸗ 
wiegend Agrarſtaat und auf den Export ſeines über⸗ 
ſchüſſigen Getreides angewieſen war. Etwa um 
die Mitte der ſiebziger Jahre hörte das auf. Es 
war alſo möglich, auch der Landwirtſchaft mit 
einem Schutzzoll beizuſpringen. 

Hier fand die ſchöpferiſche Kraft des Bismarck⸗ 
ſchen Geiſtes ihr Feld. Eine aus Agrariern und 
Induſtriellen formierte ſchutzzöllneriſche Bewegung 
mußte das ganze bisherige Parteiweſen erſchüttern 
und umwerfen. 

Hätte es ſich freilich darum gehandelt, den Grund⸗ 
beſitzern durch Verteuerung des Brotes auf Koſten 
der großen Maſſen einen Vorteil zuzuwenden, ſo 
hätte dieſe Politik ſchwerlich Erfolg haben können, 
aber was zu erzielen war, war ja nur die Bewah⸗ 
rung des Standes der Grundbeſitzer vor einem 
Schaden, den ihnen eine Weltkonjunktur zuzu⸗ 


86 


fügen drohte, und dafür ließen ſich nicht nur die 
Induſtriellen auf Grund der Gegenleiſtung, ſondern 
auch die Menge der Nichtintereſſierten gewinnen“). 
Hier ergab ſich auch die Möglichkeit eines prak⸗ 
tiſchen Zuſammenwirkens und damit eine Annähe⸗ 
rung an das Zentrum, das ſeine Wählermaſſen 
bei weitem zum größten Teile in agrariſchen Kreiſen 
hat. Der Zufall wollte, daß eben um dieſe Zeit 
(8. Februar 1878) Pius IX. ſtarb, und ſein Nach⸗ 
folger, Leo XIII. ſofort bemerkbar machte, daß er 
bereit ſei, über die Beilegung des Kulturkampfs 
in Deutſchland mit ſich verhandeln zu laſſen. 
Langſam, langſam unter fortwährendem Drängen, 
Kämpfen, Zanken und Feilſchen gingen die Ver⸗ 


*) In den Jahren 1851 bis 1880 war der Durchſchnitt 
des Weizenpreiſes 209,6 für die Tonne. Dieſer Preis iſt 
trotz der Zölle nur 1891 (mit 224,2) und 1909 (mit 233,09) 
überſchritten worden; im Jahre 1913 war der Jahresdurch⸗ 
ſchnittspreis 199; im Juli 1914 209. Der Roggen koſtete 
im Durchſchnitt 1851 bis 1880 163,7, hat dieſen Durchſchnitt 
bis 1909 ſechsmal überſchritten, iſt aber auch 1896 trotz Zoll 
bis auf 118,8 geſunken. 1913 betrug der Jahresdurchſchnitts⸗ 
preis 164,3; 1914 im Juli 174. Der Konſum von Roggen 
iſt ſeit 1878 pro Kopf der Bevölkerung etwa derſelbe ge⸗ 
blieben; gleichzeitig aber der Verbrauch von Weizen ganz 
gewaltig geſtiegen, die Geſamternährung durch Brotfrüchte 
alſo ungeheuer verbeſſert. 


87 


handlungen voran; bald ſpielte Bismarck den Papſt 
gegen das Zentrum, bald das Zentrum gegen den 
Papſt aus. Bald verſicherte er, daß er zu dem 
Papſt und ſeiner Perſönlichkeit volles Vertrauen 
habe; oder erklärte, daß das Papſttum als eine 
univerſale Inſtitution doch inſofern auch zu den 
deutſchen Inſtitutionen gehöre, als ſo viele 
Deutſche ſich zu Angehörigen der katholiſchen 
Kirche bekennten; bald ſprach er den Wunſch aus: 
„das Gefühl, daß wir alle Deutſche und Lands⸗ 
leute ſind, höher und ſtärker in uns lebendig zu 
machen, als das Gefühl, daß wir verſchiedenen 
Konfeſſionen angehören,“ und unterſchied die ein⸗ 
zelnen, beſſer geſinnten Mitglieder des Zentrums 
von den Tendenzen der Fraktion. Der König 
wünſche mit ſeinen katholiſchen Untertanen in 
Frieden zu leben und ſie zufriedenzuſtellen. 

Zu einer Verſöhnung kam man nicht, aber die 
für die katholiſche Kirche unannehmbaren Beſtim⸗ 
mungen der Kulturkampf⸗Geſetze wurden all⸗ 
mählich aufgegeben und abgebrochen, und indem 
das Zentrum für die Schutzzölle eintrat, verſah 
es auch das Reich mit neuen Mitteln, freilich unter 
Bedingungen, über die noch zu reden ſein wird. 


88 


Neben Schutzzoll und Kompromiß mit dem Zen⸗ 
trum erſchien nun aber noch ein drittes Moment, 
die Parteiverhältniſſe umzuwandeln. Die Sozial⸗ 
demokratie, die ſeit Anfang der ſechziger Jahre 
angefangen hatte, ſich parteipolitiſch zu organiſieren, 
nahm einen ganz ungeahnten Aufſchwung, und in 
pſychologiſchem oder, wenn man will, pfycho⸗ 
pathiſchem Zuſammenhang mit ihrer wilden Agi⸗ 
tation erfolgten dicht hintereinander zwei Atten⸗ 
tate auf den ehrwürdigen Kaiſer Wilhelm. Schon 
nach dem erſten Attentat legte Bismarck dem Reichs⸗ 
tag ein Geſetz vor, das die ſozialdemokratiſche Be⸗ 
wegung mit ſcharfem polizeilichen Zugriff feſſeln 
ſollte. Die Nationalliberalen und die erdrückende 
Mehrheit des Reichstags lehnten es ab. Nach 
dem zweiten Attentat, bei dem der Kaiſer 
ſchwer verwundet wurde und das das ganze Volk 
mit einer ungeheuren Erbitterung erfüllte, löſte 
Bismarck den Reichstag auf. Die Auflöſung wäre 
nicht nötig geweſen, denn die Nationalliberalen 
waren jetzt ohnehin bereit, ſich auf ein Ausnahme⸗ 
geſetz einzulaſſen, und auch nach den Neuwahlen, 
die ihnen etwa 50 Sitze koſteten, die den Konſer⸗ 
vativen und Freikonſervativen zufielen, blieb die 


89 


Entſcheidung bei ihnen, aber für die allgemeine 
Lage des Reichstags war die Verſchiebung zu⸗ 
gunſten der Rechten von höchſter Bedeutung. 
Denn während es bisher ohne die Nationallibe⸗ 
ralen (faſt 150 Stimmen) überhaupt keine Majori⸗ 
tät für die Regierung gegeben hatte, ſo konnte 
jetzt auch eine Majorität aus den beiden konſer⸗ 
vativen Parteien und dem Zentrum gebildet 
werden. Damit war allen Gelüſten nach einem 
parlamentariſchen Regiment vorläufig ein Ende 
gemacht. Die Regierung blieb der führende, maß⸗ 
gebende Faktor im Reichsregiment, indem ſie ſich 
bald auf dieſem, bald auf jenem Wege vermöge 
eines entſprechenden Entgegenkommens eine Ma⸗ 
jorität verſchaffte. | 
Zunächſt wurde nun ein Ausnahmegeſetz ge⸗ 
ſchaffen, das der Polizei gegenüber den Sozial⸗ 
demokraten weitgehende Vollmachten gewährte. 
Vereine, Verſammlungen und Zeitungen, in 
welchen ſozialdemokratiſche, ſozialiſtiſche oder kom⸗ 
muniſtiſche, auf den Umſturz der beſtehenden 
Staats⸗ oder Geſellſchaftsordnung gerichtete Be⸗ 
ſtrebungen in einer den öffentlichen Frieden ge⸗ 
fährdenden Weiſe zutage traten, konnten danach 


90 


verboten und unterdrückt werden; für gemiffe 
Orte und Gegenden konnte ferner der ſog. kleine 
Belagerungszuſtand erklärt werden, der u. a. die 
Möglichkeit gewährte, Agitatoren auszuweiſen. 
Als Bürgſchaft gegen den Mißbrauch ſolcher Voll⸗ 
machten wurde das Geſetz zunächſt auf 2½ Jahre 
beſchränkt und dann periodiſch bis zum 30. Sep⸗ 
tember 1890 verlängett. 

Während Deutſchland bis dahin den Eindruck 
eines in wilden Wogen aufſchäumenden Meeres 
geboten hatte, trat mit einem Schlage Ruhe ein, 
und das erregte Meer wurde glatt und ſtill. 

Aber dieſer vorteilhafte Zuſtand währte nur 
kurze Zeit. Die Vorſtellung, daß der Schutzzoll 
eine ungerechte Bevorzugung gewiſſer Gewerbe 
und eine Benachteiligung der Konſumenten, der 
Freihandel das allein gerechte und zugleich wirt⸗ 
ſchaftlich produktivſte Wirtſchaftsſyſtem darſtelle, 
war in Deutſchland zu tief eingewurzelt und zu⸗ 
gleich von zu ſtarken Intereſſen getragen, als daß 
ſie ſo ſchnell hätte überwunden werden können. 
Die nationalliberale Partei ſpaltete ſich darüber. 
Etwa die Hälfte und darunter, mit Ausnahme von 
Bennigſen und Miquel, gerade die hervorragende⸗ 


9¹ 


ren und bedeutenderen Perſönlichkeiten, ſchie⸗ 
den aus und gründeten eine neue liberale Vereini⸗ 
gung, und die nächſten Wahlen (1881) brachten 
der Fortſchrittspartei auf Koſten der Konſervativen 
und Freikonſervativen einen ſo großen Stimmen⸗ 
zuwachs, daß jetzt ohne das Zentrum überhaupt 
keine Majorität mehr zu beſchaffen war. Auch die 
nächſten Wahlen (1884) änderten daran nur wenig, 
obgleich ſie den Konſervativen einigen Zuwachs 
verſchafften. 

Bismarck war alſo 6 Jahre lang, von 1881 bis 
1887, darauf angewieſen, durch fortwährendes 
Paktieren mit dem Zentrum die Reichsmaſchine, 
ſozuſagen, in Gang zu halten. Die Situation iſt 
keineswegs etwa gleichzuſtellen ſeinem Paktieren 
mit den Nationalliberalen in dem Jahrzehnt von 
1866 bis 1876, denn ſo ſehr auch hier das Zuſam⸗ 
menwirken auf Kompromiß und gegenſeitiger Nach⸗ 
giebigkeit beruhte, ſo entſprang es doch aus einer 
tiefen gemeinſamen Idee, der Herſtellung eines 
Deutſchen Reichs unter preußiſcher Führung. Das 
Zuſammenwirken mit dem Zentrum aber war ein 
rein äußerliches, durch die parlamentariſchen Macht⸗ 
verhältniſſe erzwungenes. Die Nationalliberalen 


92 


hatte es ſeinerzeit mit tiefſter fachlicher Befriedi⸗ 
gung erfüllt, wenn ſie mit dem leitenden Staats⸗ 
mann zu einer Einigung gelangten. Das Zentrum 
unter der klugen und zähen Führung des ehe⸗ 
maligen hannoverſchen Miniſters Windthorſt hatte 
ſeine Befriedigung in dem Gefühl, den gewaltigen 
Gegner zu bezwingen und ihn ſeinem Willen zu 
unterwerfen, und alles wurde unter dieſen tak⸗ 
tiſchen Geſichtspunkt geſtellt. Neben der ſachlichen 
Prüfung der Forderungen in den von der Regie⸗ 
rung vorgelegten Etats blieb immer der taktiſche 
Grundſatz, der Regierung zu zeigen, daß man die 
Macht habe, und Streichungen vorzunehmen, bloß 
um wieder daran zu erinnern, daß das Zentrum 
in der Lage ſei ſich zu rächen, wenn die Verwaltung 
ihr nicht genügend entgegenkomme. Man arbeitete 
nicht ohne Erfolg mit an der Geſetzgebung — die 
erſten ſozialen Geſetze, das Krankenkaſſengeſetz 
und das Unfallverſicherungsgeſetz wurden in dieſer 
Periode geſchaffen —, ſah aber jedes Geſetz darauf 
an, ob nicht die Reichs⸗ und Staatsgewalt dadurch 
geſtärkt würde, was man verhindern wollte. 
Eine Zulage von, ſage und ſchreibe, 2700 Mk. für 
die überlaſteten Subalternbeamten des Auswär⸗ 


93 


tigen Amtes durchzuſetzen, mußte der Reichskanzler 
perſönlich erſcheinen, reden, kämpfen und zerren. 
Die geſteigerten Geſchäfte des Auswärtigen Amtes 
verlangten einen neuen Miniſterialdirektor: der 
Reichstag lehnte ihn glatt ab, bis ein Sturm in der 
öffentlichen Meinung ſich erhob und 19 Mitglieder 
der Freiſinnigen Partei bewog, ihre Haltung zu 
ändern und der Regierung eine kleine Majorität 
zu verſchaffen (4. März 1885). 

Sehr ſchwere Schädigungen aber erfuhr das 
Deutſche Reich in der zwar nicht ganz verſagenden, 
aber doch immer ungenügend bleibenden Fürſorge 
auf dem Gebiet ſeiner Finanzen. Die Majorität 
des Reichstages, das Zentrum mit ſeinen Annexen 
an Welfen, Elſäſſern und Polen, die Freiſinnigen 
und die Sozialdemokraten bildeten eine geſchloſſene 
Majorität, die zu keiner Steuerbewilligung zu be⸗ 
wegen war, und es begann der unerhörte Zuſtand, 
der ſich progreſſiv bis zum Jahre 1913 fortgeſetzt 
und geſteigert hat, daß mitten im Frieden Anleihen 
aufgenommen wurden, um laufende Ausgaben zu 
decken. Im Jahre 1876 noch war das Reich ſchul⸗ 
denfrei; bis zum Abgang Bismarcks 1890 waren ſie 
ſchon auf über eine Milliarde, bis zum Ausbruch 


94 


des jetzigen Krieges auf faſt 5 Milliarden geſtiegen. 
Der Nationalökonom Schanz berechnete im Jahre 
1909, daß wenn der Reichstag im Jahre 1877 nur 
70 Millionen Mark bewilligt hätte (etwa die Bier⸗ 
ſteuer, wie ſie ſeit dem Jahre 1909 ohne Nachteil 
eingeführt worden iſt), das Reich ſchuldenfrei ſein 
würde. Nun ſchien ein Zufall Hilfe zu bringen. 
Bei dem erſten Schutzzolltarif von 1879 war das 
Brotgetreide mit einer Mark für den Doppel⸗ 
zentner belaſtet worden; da nun aber der Welt⸗ 
marktspreis immer weiter ſank, wurde der Zoll 
im Jahre 1885 auf drei Mark erhöht, was bei der 
großen Einfuhr auch der Reichskaſſe aufgeholfen 
hätte. Das Zentrum wollte den Schutzzoll, aber 
nicht die finanzielle Stärkung des Reiches. Schon 
bei dem erſten Schutzzolltarif war die eigentüm⸗ 
liche Franckenſteinſche Klauſel zugefügt worden, 
wonach das Reich von den neuen Einnahmen nur 
130 Millionen Mark behalten, ben Überſchuß aber 
an die Einzelſtaaten verteilen mußte. Das war 
aber mehr eine ſtaatsrechtliche, als eine finanzielle 
Beſtimmung, denn in der Form der Matrikular⸗ 
beiträge konnte das Reich jene Verteilung wieder 
zurücknehmen. Die Franckenſteinſche Klauſel be⸗ 


95 


deutete aljo nur die Wahrung des Budgetrechts 
des Reichstages, und die Nationalliberalen hatten 
darin ſogar noch weitergehen wollen als das Zen⸗ 
trum. Dieſes Budgetrecht des Reichstages aber 
wurde allmählich mehr und mehr als eine bloße 
Doktrin erkannt, eine Waffe, die in dem Macht⸗ 
ſtreit zwiſchen Regierung und Parlament, wie er 
ſich in Deutſchland geſtaltet hatte, praktiſch keine 
Anwendung mehr finden konnte. Das Entſchei⸗ 
dende war, ob tatſächlich Geld in den Kaſſen war 
oder nicht. Wenn nicht, ſo blieb die Regierung 
unter dem ſteten Druck des Reichstages, d. h. in 
unſerem Falle des Zentrums. Das Zentrum be⸗ 
ſchloß alſo die Bewilligung, die es mit der einen 
Hand machte, mit der anderen wieder zu nehmen, 
indem es das Reich zwang, nicht nur die neuen 
Überſchüſſe an die Einzelſtaaten zu verteilen, ſon⸗ 
dern auch durch ein beſonderes Geſetz in Preußen 
(lex Huene) den Staat zwang, ſeinen Anteil an 
die Kreiſe weiterzuverteilen. Durch eine groteske 
Multiplikation von Einwohnern und Quadrat⸗ 
meilen wurde für dieſe Verteilung ein Maßſtab 
geſchaffen. Die Kreiſe brauchten zum Teil dieſe 
Zuſchüſſe gar nicht, ſondern bauten luxuriöſe 


96 


Amtswohnungen für ihre Landräte davon — der 

Zweck des Zentrums aber, das Reich arm zu er⸗ 
halten, damit es der Fraktion dienſtbar ſei, war 
erfüllt. Dabei gibt es Leute, die behaupten, daß 
in Deutſchland der Reichstag nichts zu ſagen habe 
— eher dürfte man es als eine Schmach empfinden, 
daß ſelbſt ein Bismarck ſich ſolchen Bedingungen 
des Reichstags hat unterwerfen müſſen. 

Wenn ſelbſt das Geld aus den Zöllen, das ſchon 
in den Reichskaſſen war, ihnen wieder entzogen 
wurde, ſo war es nur natürlich, daß andere Mittel 
erſt recht nicht bewilligt wurden. Bismarck hielt 
Monopole für eine beſonders geeignete Methode, 
die Staatseinnahmen zu erhöhen, ohne die Volks⸗ 
wirtſchaft empfindlich zu belaſten. Aber ſowohl 
das Tabaksmonopol, wie nachher das Branntwein⸗ 
monopol lehnte der Reichstag, weſentlich unter 
dem Geſichtspunkt, daß die Macht der Regierung 
vermöge des großen neuen Beamtenapparats 
geſtärkt werde, ab. 

Schon erwies ſich auch das Sozialiſtengeſetz als 
nicht ſo wirkſam, wie man erwartet hatte. Nur den 
erſten Augenblick hat der Schlag eine betäubende _ 
Wirkung gehabt, und die Agitation ſetzte in neuen, 


4 Delbrück, Bismarcks Erbe 97 


borjichtigeren Formen bald wieder ein. Die 
Mandate, die von 12 auf 9 im Jahre 1878 zurück⸗ 
gegangen waren, ſtiegen im Jahre 1884 wieder auf 
24, und die Zahl der Stimmen von 312 000 (im 
Jahre 1881) auf 550 000. 

Schon im Jahre 1878 hatte Bismarck Bedenken 
gehabt, ob mit dem beſtehenden Reichstagswahl⸗ 
recht auf die Dauer auszukommen ſei.“) Jetzt 
finden wir die erſte Spur einer praktiſchen Vor⸗ 
bereitung für eine gewaltſame Anderung. Die 
preußiſche Regierung erließ eine Erklärung (4. April 
1884), die dann vom Bundesrat gutgeheißen wurde, 
daß das Reich auf einem Vertrage der Einzelſtaaten 
beruhe — woraus ſich alſo folgern ließ, daß es auf 
demſelben Wege wieder aufgelöſt und mit einer 
anderen Verfaſſung von neuem errichtet werden 
könne. 

Das Schickſal aller Vorlagen, erklärte der Kanzler 
im Reichstag gleich nach den Neuwahlen von 1884, 
ſei ja ganz klar vorauszuſehen. Aus taktiſchen, 
nicht aus ſachlichen Gründen, um der Macht willen, 
lehnten Zentrum und Deutſchfreiſinnige die Vor⸗ 


„) Brief an Tiedemann vom 15. Aug. 1878. Ged. u. 
Erinn. II, S. 190. 


98 


lagen der Regierung ab, und indem die fremd⸗ 
ländiſchen Elemente, die Polen, die franzoſen⸗ 
freundlichen Elſäſſer und die Welfen ihnen beiträten, 
die alle das Reich überhaupt nicht wollten, ſei ſtets 
eine Majorität gegen die Regierung gegeben. 
„Aber“, fügte er hinzu, „ich laſſe mir von der Majo⸗ 
rität des Reichstages nicht imponieren. Nein, meine 
Herren, in keiner Weiſe, dazu ſind Sie gar nicht 
die Männer. Ich habe mir ja von ganz Europa 
nicht imponieren laſſen. Sie werden nicht die 
erſten ſein.“ „Sie wollen uns mürbe machen, 
indem Sie Oppoſition machen; Sie kriegen uns 
nicht mürbe, es wird etwas anderes mürbe, das 
iſt: der gemeinſame Boden, auf dem wir 
uns begegnen“ (das heißt alſo: die Verfaſſung). 
„Ich halte den Papſt“, rief er dem Zentrum zu 
(12. April 1886), „für deutſchfreundlicher als das 
Zentrum. Der Bapit iſt eben ein weiſer, gemäßig⸗ 
ter und friedliebender Herr. Ob man das von 
allen Mitgliedern der Reichstagsmajorität ſagen 
kann, laſſe ich dahingeſtellt ſein. Der Papſt iſt 
außerdem kein Welfe, er iſt nicht Pole und er iſt 
auch nicht deutſchfreiſinnig. Er hat auch keine 
Anlehnung mit der Sozialdemokratie.“ 


4 gg 


Man wäge ſolche Sätze, die damals mit Heiter- 
keit aufgenommen wurden! In welcher Stim⸗ 
mung muß ein deutſcher Reichskanzler ſein, der 
den Papſt, einen italieniſchen Prälaten, für deutſch⸗ 
freundlicher als die Mehrheit der deutſchen Volks⸗ 
vertretung erklärt! 

Noch einmal fand das Bismarckſche Genie einen 
Ausweg. Das Hauptagitationsmittel der Libe⸗ 
ralen ſeit Beginn des Verfaſſungslebens war die 
Oppoſition gegen die Militärausgaben geweſen. 


Allmählich aber war der Staatsgedanke in den 


Maſſen erſtarkt und damit auch das Verſtändnis 
für die Notwendigkeit des Heeresaufwandes ge⸗ 
wachſen. Bismarck erkannte, daß der Moment 
gekommen ſei, wo man den Spieß umdrehen könne. 
Der Zufall wollte, daß in dem Auf und Ab der 
Spannungen mit Frankreich die Revancheidee ein⸗ 
mal wieder nach oben gekommen und in einem 
jorſchen General namens Boulanger einen unter- 
nehmungsluſtigen Vertreter gefunden hatte. Wenn 
auch noch kein formelles Bündnis mit Rußland 
beſtand, ſo war die Annäherung doch ſo weit ge⸗ 
diehen, daß die Franzoſen ſicher darauf rechneten, 
in einem Kriege mit Deutſchland von den Ruſſen 


100 


nicht im Stich gelajjen zu werden. In Deutſch⸗ 
land hatte man angeſichts der ungünſtigen Reichs⸗ 
finanzen die Heeresſtärke erheblich unter den her⸗ 
kömmlichen Satz von 1% der Bevölkerung ſinken 
laſſen; jetzt beantragte die Regierung im Hinblick 
auf die drohende Kriegsgefahr die Herſtellung 
dieſer Verhältniszahl durch Vergrößerung der 
Armee um 41 000 Mann (von 427000 auf 468 000). 
Nicht nur wegen der unverkennbaren äußeren 
Gefahr, ſondern auch innerlich waren die beiden 
Oppoſitionsparteien, das Zentrum und die Deutſch⸗ 
freiſinnigen, geneigt, der Regierung entgegenzu⸗ 
kommen. Die Taktik des Abgeordneten Windt⸗ 
horſt war es ja ſchon lange, ſich gleichzeitig der 
Regierung unentbehrlich zu machen und ſie unter 
Druck zu halten und ihr Konzeſſionen abzupreſſen. 
Die deutſchfreiſinnige Partei hatte ſich im Jahre 
1884 aus der alten Fortſchrittspartei und den 
nationalliberalen Sezeſſioniſten neu gebildet mit 
dem unausgeſprochenen Programm, einmal bei 
einem Regierungswechſel ſich dem neuen Kaiſer 
zur Verfügung zu ſtellen und Bismarck zu erſetzen. 
Da nun kein deutſcher Kaiſer je in Armeefragen 
mit ſich ſpaßen laſſen wird, ſo mußte ſie ſehr vor⸗ 


101 


ſichtig ſein. Auf der anderen Seite aber hatte 
ſie und nicht weniger das Zentrum vor ihren 
Wählern von je über die Militärlaſten geklagt und 
im beſonderen die jährliche Bewilligung durch 
den Reichstag gefordert, um der parlamentariſchen 
Macht willen. Selbſt die Nationalliberalen hatten 
ſich ja im Jahre 1874 nur mit Mühe zu einer 
Bewilligung auf ſieben Jahre beſtimmen laſſen. 
Bismarck forderte deshalb die um 41 000 Mann 
verſtärkte Armee aufs neue auf ſieben Jahre. um 
dieſen Zeitraum, um das Septennat, entbrannte 
der Kampf. Heute wiſſen wir, wie wenig das zu 
bedeuten hat, da kein Reichstag mehr notwendige 
Heeresausgaben verſagen und es auf eine Macht⸗ 
probe ankommen laſſen wird. Damals aber er⸗ 
ſchien es als der Mittelpunkt des konſtitutionellen 
Lebens. Schritt für Schritt kamen die Parteien 
der Regierung entgegen und boten endlich die 
ganze Forderung auf drei Jahre. Das ſachlich 
Notwendige wäre damit gegeben geweſen, aber 
wenn die Parteien für ihre Bewilligungen nicht 
nur praktiſche, ſondern auch taktiſche Geſichtspunkte 
in Betracht zogen, ſo verſtand Bismarck dieſe 
Kunſt nicht minder. Er ſah ſeinen Vorteil. Keinen 


102 


Zoll gab er nach. Die Parteien aber hätten ihre 
ganze Vergangenheit verleugnet, wenn ſie das 
Septennat ohne jeden Abſtrich hätten annehmen 
wollen. So mancher Anhänger Bismarcks zwei⸗ 
felte, ob die Frage Triennat oder Septennat 
geeignet ſei, eine Wahlparole für eine Auflöſung 
abzugeben; der Unterſchied ſei zu fein, die Maſſen 
würden ihn nicht verſtehen. Aber Bismarck kannte 
die Volksſeele beſſer: was ſchert den gemeinen 
Mann Triennat oder Septennat, wenn er zur Wahl⸗ 
urne gerufen wurde? Er empfand nur: für oder 
gegen die Armee. 

Seit ihrer Spaltung im Jahre 1880 hatte die 
nationalliberale Partei ein unerfreuliches Daſein 
gefriſtet, ſie war auf einige 40 Stimmen im Reichs⸗ 
tag zuſammengeſchmolzen, die keine poſitive Be⸗ 
deutung hatten. Hatte die Regierung die Rechte 
und das Zentrum für ſich, jo bedurfte fie der 

Nationalliberalen nicht; hatte ſie das Zentrum 
gegen ſich, ſo konnten ihr die Nationalliberalen 
nichts helfen. Verzweifelnd an einer erſprießlichen 
Tätigkeit, hatten die beiden Führer Miquel und 
Bennigſen auf ihre Mandate verzichtet und ſich 
aus dem politiſchen Leben zurückgezogen. Jetzt 


103 


holte Bismarck fie mwiever heran. Auf der fon- 
ſervativen Seite hatte ſich im Beginn der acht⸗ 
ziger Jahre eine demokratiſch⸗demagogiſche Rich⸗ 
tung unter Führung des Hofprediger Stöcker ent⸗ 
wickelt, die hauptſächlich mit den antiſemitiſchen 


Empfindungen im Volke arbeitete. Bismarck ſetzte 


es nunmehr durch, daß Stöcker mit ſeinem Anhang 
in den Hintergrund geſchoben wurde und die Kon⸗ 
ſervativen, Freikonſervativen und Nationallibe⸗ 
ralen ein Bündnis zu gegenſeitiger Unterſtützung, 


ein Kartell, ſchloſſen. 


Das Aufwerfen der Armeefrage und das 


Kartell gaben ihm bei den Wahlen (21. Februar 
1887) einen glänzenden Sieg. Die Kartellpar⸗ 
teien gewannen etwa 70 Sitze und damit 20 


Stimmen über die abſolute Majorität. Die 
Nationalliberalen verdoppelten ſich geradezu und 


7 
g 


kamen auf faſt 100 Stimmen; den Haupt⸗ | 
verluſt hatten die Deutſchfreiſinnigen und neben 


ihnen die Sozialdemokraten, die von 25 Eigen 
auf 11 reduziert wurden, und die Welfen, die von 


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11 Sitzen ſechs verloren. 


104 


Der neue Reichstag bewilligte das Septennat, | 
ein großes Extraordinarium für die Armee und eine 


4 


‘ 


„ 


neue Branntweinſteuer, die hundert Millionen 
einbrachte. Dieſer Reichstag ſchuf weiter das 
Hauptſtück der Sozialreform, die Invaliditätsver⸗ 
ſicherung. Aber das Kartell der Parteien, auf 
das er gegründet war, hielt nicht vor. Schon im 
Herbſt des Jahres 1887 war der Abgeordnete 
Windthorſt wieder in einer großen Frage der 
Führer des Hauſes. Die Weltmarktpreiſe der 
Agrarprodukte blieben in ſtändigem Rückgang, ſo 
daß die Regierung abermals eine Erhöhung der 
Getreidezölle von 3 auf 6 Mark vorſchlug. Dafür 
war die nationalliberale Fraktion nicht zu haben, 
und das Zentrum gab ſchließlich die Entſcheidung, 
indem es den Zoll auf 5 Mark feſtſetzte. 

Alle bisherigen politiſchen Kombinationen ſchie⸗ 
nen in Frage geſtellt, als nun das Jahr 1888 den 
doppelten Thronwechſel brachte. Aber Hoffnungen 
oder Befürchtungen hüben wie drüben wurden 
enttäuſcht. Kaiſer Friedrich behielt den Fürſten 
Bismarck als Reichskanzler und Kaiſer Wilhelm II. 
ließ kundgeben, daß er die Kartellpolitik billige. 
In der ergreifenden Rede, in der Bismarck dem 
Reichstag das Ableben Kaiſer Wilhelms berichtete, 
teilte er mit, welch ein Troſt es für den Sterben⸗ 


10⁵ 


den geweſen jei, aus der einmütigen Bewilligung, 
mit welcher der Reichstag große, außerordentliche 
Mittel für das Heer zur Verfügung geſtellt hatte, 
den Beweis der Einheit der geſamten deutſchen 
Nation zu entnehmen. Nach außen ſollte aber 
nicht nur niemand durch dieſe geſchloſſene Macht 
des Deutſchtums bedroht werden, ſondern Bis⸗ 
marck wünſchte ſogar den Franzoſen, um ſie von 
ihren Revanchegedanken abzulenken, große kolo⸗ 
niale Erwerbungen, um ihnen Erſatz für Elſaß⸗ 
Lothringen zu verſchaffen. Nicht nur, ohne von 
Deutſchland darin behindert zu werden, ſondern 
ſogar mit einer gewiſſen Unterſtützung Deutſch⸗ 
lands gewannen die Franzoſen als die Beſiegten 
von Sedan das große Kolonialreich, nach dem ſie 
als „grande nation“ ſo lange vergeblich geeifert 
hatten. Halfen ſolche Wohltaten nicht, ſo griff 
der große Zauberer zu Drohung und Einſchüchte⸗ 
rung. Mitten in dieſer aber zeigte er wieder ſach⸗ 
liches Entgegenkommen. Im Januar 1887 ſtellte 
er den Franzoſen das saigner à blanc in Ausſicht, 
wenn ſie uns angreifen ſollten; als aber im April 
wegen der Verhaftung eines franzöſiſchen Spions, 
namens Schnäbele, unmittelbar an der Grenze, 


106 


ein Lärm in der franzöſiſchen Preſſe entſtand, der 
zum Kriege hätte führen können, ließ Bismarck 
den Mann unter einem ritterlichen Vorwande 
frei, und als im Herbſt desſelben Jahres ein deut⸗ 
ſcher Grenzſoldat einen franzöſiſchen Forſtwärter 
erſchoß, den er auf deutſchem Gebiet betroffen 
und für einen Wilderer gehalten hatte, da löſchte 
Bismarck abermals durch Entgegenkommen den 
Funken, der den Brand entzünden konnte: die 
franzöſiſche Preſſe forderte mit lauten Drohun⸗ 
gen 40 000 Francs für die Witwe als Entſchädi⸗ 
gung: Bismarck ſandte durch den deutſchen Bot⸗ 
ſchafter 50 000 Mark, ehe noch die franzöſiſche Re⸗ 
gierung ſo weit gekommen war, eine Forderung 
aufzuſtellen. Gleich darauf erſuchte die deutſche 
Regierung den Reichstag um eine Verlängerung 
der Landwehrpflicht, die Aufſtellung von 700 000 
Triariern: die Rede, in der Bismarck die Forde⸗ 
rung begründete, brachte jenes Wort: „Wir 
Deutſche fürchten Gott und ſonſt nichts in der Welt“ 
und entfachte einen Sturm der Begeiſterung in 
Deutſchland, dem Inhalt nach aber war es eine 
Friedensrede, fand Entſchuldigungs⸗ und Er⸗ 
klärungsgründe für die drohenden Truppenver⸗ 


107 


ſchiebungen der Ruſſen an unſerer Grenze und 
enthielt ſich ſo ſehr jeder Drohung, daß ſie ſogar 
die aktuelle Kriegsgefahr direkt ableugnete. 

Die erfolgreiche Friedenspolitik nach außen, die 
fruchtbare Geſetzgebung im Innern ſchienen dem 
Reichskanzler eine ebenſo grandioſe wie uner⸗ 
ſchütterliche Stellung zu geben. 

Trotzdem fühlte er ſich immer b 

Von allen Seiten drängte man mit Forderun⸗ 
gen an ihn heran, die, ſeiner Politik an ſich nicht 
widerſprechend, ihr ſogar konform, doch ſeiner 
Individualität widerſtrebten, ſeiner ſubjektiven 
Auffaſſung nicht zuſagten und denen er ſich mit 
einem gewiſſen Alterseigenſinn widerſetzte. Die 
preußiſche Klaſſen⸗ und Einkommenſteuer be⸗ 
durfte dringend einer Neuordnung; die preußi⸗ 
ſche Landgemeindeordnung zeigte unerträgliche 
Mißbräuche. Die Sozialreform bedurfte einer 
Ergänzung durch ein Arbeiterſchutz⸗Geſetz ſo ſehr, 
daß der Reichstag es in einſtimmigen Reſolutionen 
forderte. Bismarck wollte von alledem nichts wiſſen. 
Rings um ſich herum aber glaubte er Intrigen zu 
bemerken, die auf ſeinen Sturz ausgingen oder ſich 
wenigſtens ſchon darauf rüſteten, ihn zu beerben. 


108 


Der Hauptanſtoß ging von der äußerſten Rechten 
aus, geführt von dem Hofprediger Stöcker und 
dem Chefredakteur der Kreuz⸗Zeitung, Freiherrn 
v. Hammerſtein. „Das Gold altpreußiſch⸗konſer⸗ 
vativer Prinzipien ſolle keine Legierung erfahren 
mit unedlem Metall aus der Schatzkammer des 
Liberalismus, verkündete die Kreuzzeitung und 
griff immer von neuem das Kartell an, weil es 
die Politik in liberale Bahnen führe. Im Ab⸗ 
geordnetenhauſe arbeiteten die Konſervativen ein 
Geſetz über die Aufhebung des Schulgeldes in den 
Volksſchulen um, in Gemeinſchaft mit dem Zen⸗ 
trum, ſo daß ſelbſt das Herrenhaus ſich dagegen 
auflehnte und die Vorlage wieder im Sinne der 
Regierung und der Mittelparteien zurückrevidierte. 
Als geheimes Haupt der konſervativen Fronde 
gegen den Reichskanzler galt der Chef des Großen 
Generalſtabes, der Nachfolger Moltkes, General 
Graf Walderſee, — man weiß nicht, wie weit 
mit Recht. Sicher bezeugt iſt nur durch ſpätere 
Enthüllungen, daß Stöcker und Hammerſtein an 
Bismarcks Sturz arbeiteten. 

Aber wenn die Konſervativen, wenigſtens zum 
Teil, wieder unzufrieden waren mit Bismarck 


109 


wegen ſeines Liberaliſierens, ſo waren auch die 
Nationalliberalen keineswegs mit ihm zufrieden 
oder er mit ihnen. Im Januar 1888 brachte die 
Regierung ein neues, ſehr verſchärftes Sozialiſten⸗ 
geſetz ein für die Dauer von fünf Jahren. Unter 
Führung der Nationalliberalen lehnte der Reichs⸗ 
tag es ab und verlängerte nur das beſtehende 
Geſetz noch auf weitere zwei Jahre. Im Februar 
1889 brachten die „Hamburger Nachrichten“ einen 
offenbar inſpirierten Artikel, der die National⸗ 
liberalen anklagte, auf das Ableben Bismarcks 
zu ſpekulieren, ſeitdem er in einer Reichstags⸗ 
ſitzung den Eindruck gemacht habe, daß er im Be⸗ 
griff ſtehe, dem Greiſenalter ſeinen Tribut zu 
zollen. Selbſt unter den treueſten Anhängern des 
Kanzlers erwuchs eine ſtarke Mißſtimmung wegen 
überaus gehäſſiger Angriffe auf das Andenken 
Kaiſer Friedrichs. Man beſchuldigte ihn der Unter⸗ 
grabung der monarchiſchen Geſinnung, und das 
Zentrumsblatt, die „Germania“, brachte einen 
höhniſchen Artikel mit der Überſchrift: „Es gelingt 
nichts mehr.“ 
Es war vorauszuſehen, daß bei den Reichstags⸗ 
wahlen, die Anfang 1890 ſtottfinden mußten, 


110 


die Kartellmajorität in die Brüche gehen würde. 
Der Zufall, daß nach Erhöhung der Getreidezölle 
die Weltmarktpreiſe ſtark in die Höhe gingen, ließ 
dieſe Zölle als agrariſche Ausbeutung erſcheinen, 
und die hohe neue Branntweinſteuer, die ſo kon⸗ 
ſtruiert war, daß den Brennereien dabei eine ſehr 
reichliche Entſchädigung für die Laſten des Geſetzes 
zufiel, bot ebenfalls ein ſehr aufreizendes Agita⸗ 
tionsmittel für die Maſſen. 

Das Kartell verlor über 70 Stimmen; die So⸗ 
zialdemokraten ſtiegen von 11 auf 35, das Zentrum 
erreichte mit 106 Stimmen ſein Maximum, die 
Freiſinnigen ſtiegen von 32 auf 67. 

Ein derartiges Ergebnis wurde von jedermann 
erwartet, und in Bismarcks Gedanken muß die 
Frage, wie er ſich zu einem ſolchen Reichstag 
ſtellen werde, längſt hin und her geprüft worden ſein. 

Ahnlich zuſammengeſetzte Reichstage hatte er 
ja auch 1881-1887 gehabt und ſchwer genug mit 
ihnen gekämpft. Jetzt war die Lage noch viel un⸗ 
günſtiger. Damals hatte er die große Gabe der 
Schutzzölle zu vergeben gehabt und hatte die Außen⸗ 
werke der Kulturkampfgeſetzgebung geopfert und 
vielleicht ſchon etwas mehr. Was der Kartell⸗ 


111 


reichstag an Heeresbewilligungen und Steuern 
gebracht hatte, war viel, aber doch immer noch 
nicht genug. Die drohende ruſſiſch⸗franzöſiſche 
Gefahr, die ſchon bis zu ruſſiſchen Truppenverſchie⸗ 
bungen an die deutſche Grenze gediehen war, 
machte neue Heeresverſtärkungen unabweislich, 
und ſchon meldete ſich auch die Forderung der 
Schaffung einer Marine an. Welche Bedingungen 
würde das Zentrum für ſolche Bewilligungen 
ſtellen? Und wenn es Steuern zu bewilligen ſich 
bereiterklärte, welche Steuern? Bismarck ver⸗ 
langte Monopole, die große Mehrheit des Abge⸗ 
ordnetenhauſes Reform der Einkommenſteuer mit 
Progreſſion, was er verabſcheute. Im Jahre 1889 
hatte man ihn einmal dahin gebracht, einem Ent⸗ 
wurf in dieſem Sinne zuzuſtimmen, aber in dem 
Augenblick, als das Abgeordnetenhaus in die Be⸗ 
ratung eintreten wollte, ließ Bismarck die Seſſion 
in brüsker Weiſe unter einem Vorwand ſchließen 
(30. April 1889). Endlich drohten alle die anderen 
Forderungen, im beſonderen die Gewerbe⸗ und Ar⸗ 
beiterſchutzgeſetzgebung, die ihm als einem Mann 
des praktiſchen Lebens zu unerträglichen Eingriffen 
der Bureaukratie zu führen ſchienen, wo er ſich 


112 


zu widerſetzen entſchloſſen war, jo ſehr ihm 
auch ſein nächſter Mitarbeiter, der Staatsſekretär 
d. Boetticher, zuredete, dem einmütigen Wunſch des 
Reichstages, dem auch der junge Kaiſer zuſtimmte, 
entgegenzukommen. 

Die Lage ſchien hoffnungslos und ſie wurde es 
um ſo mehr, als Bismarck ſich von Berlin fernhielt, 
ſich in der Einſamkeit von Friedrichsruh vergrub 
(vom Mai 1889 bis Januar 1890) und gegen alle, 
die mit ihm zu tun hatten, ſeinen eigenen Sohn 
nicht ausgenommen, ausfallend und heftig wurde. 
Man raunte ſich in dieſen Kreiſen zu, der Alte wiſſe 
nicht mehr, was er wolle, er ſei nicht mehr richtig 
im Kopf. 

In einer Staatsminiſterialſitzung vom 7. Fe⸗ 
bruar 1890 gab Bismarck eine Erklärung ab, daß er, 
wie die einen es verſtanden, ſeine preußiſchen Inter 
abgeben und ſich auf die Reichspolitik zurückziehen 
wolle, wie die anderen es verſtanden, daß er nur 
die Auswärtige Politik behalten wolle. Auf einen 
Wink Maybachs ergriff darauf Boetticher das Wort 
und ſprach ſein Bedauern aus, daß der Fürſt aus 
dieſem Kreiſe ausſcheiden wolle, und die Hoff⸗ 
nung, daß man dennoch ſeines weiſen Rats ver⸗ 


113 


möge des Zuſammenhangs von Reich und Preußen 
nicht entbehren werde. Am Abend traten die 
Miniſter ohne Bismarck noch einmal zuſammen, 
um zu beraten, wie ſie ſich verhalten ſollten. Der 
Finanzminiſter Scholz riet, man ſolle formell 
alles beim Alten laſſen und den Fürſten nur Ur⸗ 
fehde ſchwören laſſen, daß er ſich um das Innere 
nicht mehr bekümmern und dem Staatsſekretär 
freie Hand laſſen wolle. Damit der Rücktritt 
auf die Wahlen keinen ungünſtigen Einfluß aus⸗ 
übe und auch nicht als Folge der veränderten 
Majorität erſcheine, ſolle er am Abend des Wahl⸗ 
tages ſelbſt, am 20. Februar erfolgen. 

Der Plan dieſes teilweiſen Rücktritts zeigte ſich 
bei näherer Betrachtung als unausführbar. Der 
bayriſche Bundesbevollmächtigte Graf Lerchenfeld 
erklärte dem Kanzler, der Kitt des Reiches ſei deshalb 
ſo feſt, weil ſtets die Gewißheit beſtehe, daß was der 
Reichskanzler wolle, auch Preußen wolle; was ſollte 
werden, wenn neben dem Kanzler im Bundesrate 
der Vertreter Preußens ſitze und nachdem jener 
geſprochen, erkläre, daß er anderer Anſicht ſei? 

Aber der alte Löwe war noch nicht ſo kraft⸗ und 
entſchlußlos, wie man ringsum meinte. Er hatte 


114 


noch einen anderen Plan im Hintergrund, und die 
Ausführung hatte bereits begonnen. 

Bismarck hatte das Deutſche Reich errichtet, 
nicht bloß indem die bisher gewonnenen Einzel⸗ 
ſtaaten ſich vertragsmäßig zu einem neuen Staats⸗ 
weſen vereinigten, ſondern indem eine von allen 
erwachſenen Männern gewählte Verſammlung 
darüber beriet, die Regierungen die Verfaſſung mit 
ihr vereinbarten und ſie von ihr in jeder einzelnen 
Beſtimmung gutheißen ließen. Vorſichtigerweiſe 
hatte Bismarck dieſen neuen Bund vorläufig nur 
für Norddeutſchland geſchaffen und die ſüddeut⸗ 
ſchen Staaten erſt 1871 eintreten laſſen, da er mit 
einem aus ganz Deutſchland gewählten Reichstag 
möglicherweiſe nicht imſtande geweſen wäre, ſich 
über eine Verfaſſung zu einigen. Je länger, je 
mehr hatte ſich ihm nun gezeigt, wie ſchwer es ſei, 
das Reich mit einer ſolchen Verſammlung zu re⸗ 
gieren. Bei weitem die Mehrheit des deutſchen 
Volkes hatte ja im Grunde dieſes Reich mit dieſer 
Verfaſſung nicht gewollt: die einen, weil ſie eine 
Republik oder wenigſtens den reinen Parlamentaris⸗ 
mus anſtrebten, die anderen, weil ſie die preußiſche 
Führung verwarfen und einen mehr lockeren Bund 


115 


mit Einſchluß Oſterreichs anſtrebten. In Momen⸗ 
ten hoher nationaler Erregung hatte dann doch 
dieſe mehr rote oder mehr ſchwarze oder auch 
ſchwarz⸗weiße Oppoſition ſich gefügt und mitge⸗ 
arbeitet, brach aber immer wieder hervor und er⸗ 
ſchwerte die erſprießliche Regierung des Reiches 
aufs äußerſte. Schon im Jahre 1884 hatte Bis⸗ 
marck deshalb den Bundesrat jenen Beſchluß 
faſſen laſſen, wonach die Regierungen befugt 
geweſen wären, den Bund wieder aufzulöſen 
und auf anderer Grundlage einen neuen zu 
ſchließen. 

Wie leicht es für den erfinderiſchen Geiſt Bis⸗ 
marcks geweſen wäre, den Verfaſſungskonflikt her⸗ 
aufzubeſchwören, wenn er ihn wünſchte, zeigen 
einige Außerungen, die er einem Journaliſten gegen⸗ 
über noch ſpäter getan hat. Die deutſche Reichs⸗ 
verfaſſung enthielt die Beſtimmung, daß die Abge⸗ 
ordneten als ſolche keine Diäten beziehen dürften; 
als die Verfaſſung erlaſſen wurde, hatte Bismarck 
ſelber erklärt, auf Privatabmachungen beziehe ſich 
dieſe Beſtimmung nicht, und die Sozialdemokratie, 
die ja vielfach vermögensloſe Mitglieder in ihren 
Reihen zählte, gab dieſen Parteidiäten. Auf Grund 


116 


des Wortlauts der Verfaſſung hatte Bismarck 
ſpäter Anklage erheben laſſen, und das Reichsgericht 
hatte in der Tat ſolche Diäten für ungeſetzlich er⸗ 
Härt und ſie für die Staatskaſſe einziehen laſſen. 
Der Erfolg war natürlich nur, daß die Partei eine 
andere Form für die Unterſtützung der für ſie 
unentbehrlichen Vertreter wählte. Bismarck er⸗ 
klärte nunmehr: die Diätenloſigkeit ſei bei Herſtel⸗ 
lung der Verfaſſung das Aquivalent für das all⸗ 
gemeine und geheime Wahlrecht geweſen; wenn 
dieſes Aquivalent reichstagsſeitig nicht gegeben 
wäre, ſo würde eben auf die Unterlagen des da⸗ 
maligen Kompromiſſes wieder zurückgegriffen 
werden müſſen. Es frage ſich, ob ein Reichstag, 
der ſich der Verfaſſung nicht füge (wie es durch die 
Geſtattung der Teilnahme der Empfänger von 
Parteidiäten an Verhandlungen des Hauſes ge⸗ 
ſchehe), berechtigt ſei, die Reichstagsfunktion aus⸗ 
zuüben. Dem Kaiſer ſtehe das Recht der Über⸗ 
wachung der Reichsgeſetze zu, und man könne fra⸗ 
gen, ob es nicht angezeigt wäre, daß der Kaiſer 
eine Botſchaft an den Reichstag richte, in der 
dieſer zu ſtrikter Ausführung der Verfaſſung an 
ſeinem Teile aufgefordert würde. 


117 


Man braucht ſich dieſen Vorgang nur zu Ende 
zu denken, und der offene Kampf iſt da: der Reichs⸗ 
tag lehnt die Botſchaft natürlich ab, und der Kaiſer 
muß entweder nachgeben oder erklären, daß nach⸗ 
dem der Reichstag die Verfaſſung gebrochen, er 
ſeinerſeits ſie auch beiſeite ſetzen müſſe. 

Vorübergehend erwog der Kanzler den Gedan⸗ 
ken, den Reichstag ganz wieder zu beſeitigen und 
wieder zu den Formen des alten deutſchen Bundes 
zurückzukehren. Aber ſofort verwarf er das wieder 
und ſuchte nach einer Modifikation des Wahl⸗ 
rechts, vermöge welcher beſſere Mehrheiten er⸗ 
zielt werden konnten. Er fand ſie in dem ſeiner 
älteſten Amtsſtellung als Deichhauptmann ent⸗ 
nommenen Satz „Was nicht will mit deichen, das 
muß weichen.“ War es nicht ein Widerſinn, 
Leute, die ſich in ihren eigenen Programmen als 
Feinde des Deutſchen Reiches bekannten und deſſen 
Zerſtörung anſtrebten, als Vertreter eben dieſes 
Reiches zu beſtellen? Bismarck dachte ſich alſo ein 
Wahlrecht, das zwar wie bisher prinzipiell all⸗ 
gemein und gleich, doch notoriſche Sozialdemo⸗ 
kraten (worüber eine Behörde entſcheiden konnte) 
ausſchloß; zu dieſem Zweck ſollte ſtatt der gehei⸗ 


118 


men Abſtimmung, wie Bismarck ſchon 1867 ge⸗ 
wünſcht hatte, die öffentliche eingeführt werden. 

Freilich konnte das nur mit einem Gewaltſtreich 
durchgeführt werden. Kein Reichstag hätte ſich 
ſelber in dieſer Weiſe entmannt; ſelbſt die Einfüh⸗ 
rung der öffentlichen Abſtimmung wäre mit dem 
Reichstag niemals durchzuführen geweſen. Sogar 
im Kartellreichstag wäre ſo wenig Ausſicht auf Er⸗ 
folg geweſen, daß Bismarck nicht einmal den Antrag 
darauf zu ſtellen wagte; wieviel weniger hätte 
ein ſpäterer Reichstag ſich dazu hergegeben. Bis⸗ 
marck aber ſtellte ſich vor, daß die ſozialdemokra⸗ 
tiſche Bewegung ihrer Natur nach notwendig in 
einer revolutionären Eruption enden müſſe. 
Durch abſichtliche Reizung konnte man dieſe Erup⸗ 
tion vielleicht beſchleunigen, zu einem vorzeitigen 
Ausbruch verleiten, ſie niederſchlagen und den 
ſtarren Schreck, der das Bürgertum während des 
Kampfes lähmen werde, benutzen, um den Staats⸗ 
ſtreich auszuführen. Der König von Preußen hätte 
eine Proklamation erlaſſen, daß er die Verantwor⸗ 
tung nicht länger tragen könne, und die Kaiſer⸗ 
krone niedergelegt, zugleich aber ſeine Mitfürſten 
aufgefordert, das Reich mit einer modifizierten 


119 


Verfaſſung neu zu errichten und dieſe Neuſchöpfung 
als Fortſetzung des alten Reiches anzuſehen. 

Das alles ſtand noch nicht feſt in ſeinen Einzel⸗ 
heiten, war ein Entwurf, der noch vielfach hätte 
gewandelt werden können —, aber als Entwurf 
iſt der Plan durchaus genügend bezeugt, und auch 
die Ausführung hatte bereits eingeſetzt. 

Um ſie einzuleiten, mußte zunächſt das beſtehende 
Sozialiſtengeſetz aus dem Wege geräumt werden. 
Der Kartellreichstag hatte es noch einmal bis zum 
30. September 1890 verlängert und bot nun ſtatt 
des Ausnahmegeſetzes ein allgemeines, dauerndes 
Geſetz an, das der Polizei ſehr weitgehende Be⸗ 
fugniſſe einräumte. Dieſe von den Nationallibe⸗ 
ralen ausgehende Prozedur war von ſehr zweifel⸗ 
haftem Wert, denn wenn auf der einen Seite das 
Gehäſſige eines Ausnahmegeſetzes wegfiel, ſo war 
es doch für das Volk in ſeiner Geſamtheit eine 
harte Zumutung, ſich Polizeivollmachten zu unter⸗ 
werfen, die eigentlich nur die Sozialdemokraten 
treffen ſollten. Aber man war bereit, dieſes Opfer 
zu bringen. Nur eine weſentliche Beſtimmung der 
neuen Geſetzesvorlage lehnten die Mittelparteien, 
auch die Freikonſervativen ab, die Befugnis der 


120 


Regierung, Agitatoren unter gewiſſen Umſtänden 
aus ihren Wohnſitzen ausweiſen zu können. Man 
wollte dieſe Beſtimmung nicht, in der Erwägung, 
daß ſie zwar einzelne Sozialdemokraten hart treffen 
konnte, nach der zwölfjährigen Erfahrung aber, 
die man nun gemacht hatte, der Partei viel mehr 
nützte als ſchadete. Denn die aus Berlin und ande⸗ 
ren Großſtädten ausgewieſenen Agitatoren waren 
es geweſen, die recht eigentlich die Bewegung ins 
Land getragen und ihr zu immer größerer Verbrei⸗ 
tung verholfen hatten. Auch der dem Fürſten Bis⸗ 
marck beſonders naheſtehende Abgeordnete v. Kar 
dorff vertrat dieſen Standpunkt. 

Bismarck legte nun entweder wirklich auf dieſe 
Beſtimmung großen Wert oder benutzte ſie als 
taktiſchen Vorwand, um dem Führer der Konſer⸗ 
vativen, v. Helldoff, der deshalb in Friedrichsruh 
bei ihm anfragte, zwar nicht direkt zu ſagen, aber 
ihn doch merken zu laſſen, daß ihm die Ablehnung 
des Geſetzes nicht unlieb ſein würde. Die Konſer⸗ 
vativen erklärten nunmehr, daß ſie nur in dem 
Falle für das Geſetz ſtimmen würden, wenn die 
Regierung vorher erklären würde, daß ihr das 
recht ſei. Ob dieſe Erklärung gegeben werden 


121 


würde oder nicht, darauf kam es an. Es fand 
noch ein Kronrat ſtatt, in dem der Kaiſer per⸗ 
ſönlich dringend dafür eintrat, daß man das 
Geſetz annehme, wie es geboten würde, aber Bis⸗ 
marck, dem ſich die übrigen Miniſter, wohl alle 
gegen ihre Überzeugung, anſchloſſen, blieb feſt; 
die gewünſchte Erklärung vom Regierungstiſch 
wurde nicht gegeben; Bismarck ſelbſt erſchien in der 
entſcheidenden Reichstagsſitzung überhaupt nicht; 
die Konſervativen ſtimmten gegen das Geſetz, und 
es fiel. Mit dem 30. September des Jahres ſollten die 
außerordentlichen Vollmachten der Polizei gegen⸗ 
über der Sozialdemokratie, nachdem ſie zwölf Jahre 
beſtanden hatten, erlöſchen. 

Nunmehr trug der Kanzler dem Kaiſer ſeine 
weiteren Pläne vor. Er beabſichtigte, dem jetzt neu 
zu wählenden Reichstag ſofort ein neues, noch 
ſchärferes Sozialiſtengeſetz vorzulegen. Weder 
dieſer noch ein etwaiger Nachfolger würde es an⸗ 
genommen haben, und der Konflikt, zu dem ja noch 
manches Scheit hinzugetragen werden konnte, war 
da. Der Kaiſer aber lehnte ab. Sein Großvater 
auf der Höhe ſeiner Erfolge und ſeiner Autorität 
hätte vielleicht auf dieſe Weiſe eine Verfaſſungs⸗ 


122 


änderung durchführen können; er jelber aber 
könne und wolle ſeine Regierung nicht damit be⸗ 
ginnen, daß er auf ſeine Untertanen ſchießen laſſe. 

Der Kaiſer wollte etwas ganz anderes, das ge⸗ 
rade Entgegengeſetzte. Er wollte die lange ge⸗ 
forderte Arbeiterſchutzgeſetzgebung (Sonntags⸗ 
ruhe, Einſchränkung der Frauen⸗ und Kinderarbeit, 
Fabrikauſſicht) ernſthaft und ſogar auf inter⸗ 
nationaler Grundlage in Angriff genommen ſehen. 
Noch am 7. Januar, als der Miniſter v. Boetticher 

den Reichskanzler in Friedrichsruh beſuchte, hatte 
dieſer ganz ſicher geglaubt, daß er dem Kaiſer ſolche 
Gedanken ausreden werde. Jetzt war er nicht nur 
mit den Parteien des Reichstages, ſondern auch 
mit dem Monarchen in einem unlöslichen Wider⸗ 
ſpruch. 

Es bedarf heute keines Beweiſes mehr, daß die 
Bahn, die Bismarck einſchlagen wollte, ins Ver⸗ 
derben geführt haben würde. Obgleich die Wahlen 
von 1890 noch unter der Herrſchaft des Sozialiſten⸗ 
geſetzes ſtattfanden, ſo hatte ſich die Zahl der ſo⸗ 
zialdemokratiſchen Stimmen doch in den drei 
Jahren ſeit 1887 etwa verdoppelt und war auf 
1½ Millionen geſtiegen. Daß durch Auflöſung 


123 


oder auch wiederholte Auflöſungen ſich eine andere 
Reichstagsmehrheit erzielen ließ, wie 1887, war 
völlig ausgeſchloſſen. Das Kartell, nicht einmal in 
ſich einig, war unkräftig gegenüber dem Zuſammen⸗ 
halten aller Oppoſitionsparteien, des Zentrums, 
der Freiſinnigen, der Sozialdemokraten und Polen. 
Die Anwendung der Gewalt, die Bismarck in 
Ausſicht genommen hatte, mußte alſo ſehr bald 
kommen, und da er einmal, wie er zu dem Führer 
der Konſervativen im Reichstag, Herrn v. Hell⸗ 
dorff ſagte, ſich vorgenommen hatte, den größten 
Fehler ſeines Lebens (das allgemeine Stimmrecht) 
wieder gutzumachen, ſo entſprach es weder ſeiner 
Natur noch ſeinem Alter, noch lange zu fackeln. 
Wie ſehr ſetzen doch die Hiſtoriker ihren Helden 
herab und verflachen die Tragik ſeiner Laufbahn, 


die noch heute zweifelnd fragen: war ſeine Schöp⸗ 


ferkraft erloſchen? Seine Kraft war keineswegs 
erloſchen, und diejenigen, die verbreiteten, er wiſſe 
nicht mehr, was er wolle, oder er ſei nicht mehr rich⸗ 
tig im Kopf, waren nicht weiſer als die, die im 
Jahre 1862 gefragt hatten, ob dieſer Junker denn 
jemals einen politiſchen Gedanken gehabt habe. 
Nicht den Strohtod des einſchlafenden Alters iſt er 


124 


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geftorben, um mit den alten Germanen zu reden, 
ſondern den Tod des Kämpfers, den die Walküren 
hinauftragen nach Walhall. Unterlegen aber iſt 
er eben den Mächten, die er ſelber geſchaffen oder 
zur höchſten Kraft emporgeführt, dem Reichstag und 
der Monarchie. Immer wieder hatte er verkündet, 
in Preußen müſſe der König regieren, und hatte 
don der Fülle dieſes Königtums auch in das deutſche 
Kaiſertum hinübergeleitet, ſoviel der föderative 
Charakter des Reiches erlaubte; nach dem Willen 
des Königs zu regieren, hatte er Wilhelm I. ge- 
lobt, als er die Geſchäfte übernahm: jetzt mußte 
er die Kraft dieſes Geſetzes an ſich ſelber erfahren 
— und es war Deutſchland zum Heil. Es iſt das 
Schicksal der Sterblichen, daß jede Individualität, 
auch die größeſte, ihre Grenzen hat. Die echte 
Schöpfung erweiſt ihre Größe darin, daß fie nicht 
nur den Schöpfer überlebt, ſondern auch Früchte 
und Folgerungen treibt über das hinaus, was er 
ſelber gewollt und beabſichtigt hat. Bismarck fiel, 
weil die Kämpfe, in denen er ſein Werk vollendet, 
ihm Feindſeligkeiten geſchaffen, deren er nicht 
mehr Herr zu werden vermochte, weil er die 
Konſequenzen ſeines eigenen Werkes nicht mehr 


12⁵ 


mitmachen wollte und deshalb zum Kampf in 


eine Richtung gedrängt wurde, wo die innere 
Logik der Dinge nicht mehr für, ſondern gegen ihn 
war und er notwendig unterliegen mußte. Aber 
er fiel im Kampf. 

Hat man ſich erſt die ganze Größe der Gegenſätze 
klargemacht, die hier miteinander rangen, ſo iſt 


es nicht nötig, ſich in die einzelnen Zerrereien zu 


vertiefen über eine vergilbte Kabinettsordre, 


einen Konſulatsbericht aus Rußland, Differenzen in 
der auswärtigen Politik u. dgl., was die letzten 
Wochen erfüllte. Bis zuletzt ſuchte Bismarck ſeine 


Stellung zu verteidigen. Von ſeinem Privat⸗ 


bankier Bleichröder eingeführt, erſchien der Ab- 
geordnete Windthorſt bei Bismarck, und dieſer 
ſtellte ihm die Frage, unter welcher Bedingung er 
ihm ſeine parlamentariſche Unterſtützung leihen 
werde. Windthorſt erwiderte: völlige Zurück⸗ 
nahme der Kulturkampfgeſetzgebung. Bismarck 
erklärte das für unmöglich, worauf Windthorſt 
erwiderte: ſeine Unterſtützung ohne ſolche Gegen⸗ 
konzeſſion zu verlangen, ſei ſo viel, als wenn ihm 
zugemutet würde, ſich vor der Front zu er⸗ 
ſchießen. Nichtsdeſtoweniger brachte noch zwei 


126 


Tage darauf (12. März) die „Norddeutſche Allg. 
Zeitung“ einen Artikel, die Vorſtellung, daß die 
Konſervativen ſich niemals mit dem Zentrum ver⸗ 
ſtändigen könnten, beweiſe nur, daß der Freiſinn 
nicht den Mut beſitze, der Wahrheit ins Auge zu 
ſehen, und eine Berechnung aufmachte, daß auf 
dieſe Weiſe eine Majorität zu erzielen ſei. 

Die Konſervativen aber oder wenigſtens ihre 
Führer wollten damals von dieſem Bündnis nichts 
wiſſen und proteſtierten dagegen. Einige Zeit ſpäter 
ſaß einmal Windthorſt mit dem Führer der Kon⸗ 
ſervativen im Abgeordnetenhauſe v. Rauchhaupt 
und einem anderen Abgeordneten im Foyer zu⸗ 
ſammen, als Rauchhaupt zu Windthorſt ſagte: 
„Einmal bin ich doch klüger geweſen als Euer 
Exzellenz, ich bin auch zu Bismarck berufen worden, 
aber ich wußte ſchon, daß es mit ihm zu Ende ſei, 
und bin nicht hingegangen.“ 

In Ländern mit parlamentariſcher Verfaſſung 
iſt es ein natürlicher und ſelbſtverſtändlicher Vor 
gang, daß ein Miniſter, der die Majorität der Volks⸗ 
vertretung gegen ſich hat, den Abſchied nimmt. 
In Deutſchland ſchenkte man dieſem Zuſammen 
hang zwiſchen dem Ergebnis der Wahlen vom 


127 


20. Februar und dem Rücktritt des Kanzlers vom 
20. März kaum irgendwelche Beachtung und 
fragte und ſinnierte über nichts als über ſein Ver⸗ 
hältnis zu dem vor zwei Jahren auf den Thron 
gekommenen neuen Herrſcher. 


Anmerkung. 

Indem ich dieſe Blätter in die Druckerei ſenden 
will, geht mir ein Artikel von Friedr. Thimme 
aus den „Süddeutſchen Monatsheften“ (April) „Der 
Fall des Sozialiſtengeſetzes und Bismarcks Staats⸗ 
ſtreichplan“ und der 3. Band des Werkes „Fürſt Bis⸗ 
marck 1890—1898“ von Hermann Hof mann zu, die 
den Bismarckſchen Staatsſtreichplan wieder in das 
Reich der Fabeln zu verweiſen ſuchen. Die Be⸗ 
weisführung iſt jedoch völlig verunglückt. ; 

Beide berufen ſich darauf, daß Bismarck jelber 
den angeblichen Plan ſpäter abgeleugnet habe, und 
Thimme im beſonderen bringt einen bisher un⸗ 
bekannten Brief an den Abgeordneten von Kardorff 
bei, worin in den ſtärkſten Ausdrücken die Verant⸗ 
wortung für das Scheitern des Sozialiſtengeſetzes ab⸗ 
gelehnt und auf Helldorff geſchoben wird. Da jedoch 
Bismarck in ähnlicher Weiſe die Verantwortung für 
den Kulturkampf auf andere hat abladen wollen und 
auch ſonſt mehrfach in dieſer Weiſe bei ſpäter als 
falſch erkannten Maßregeln andere vorzuſchieben ge⸗ 
ſucht hat, ſo muß der kritiſche Hiſtoriker hier eine 


128 


Schwäche des Alten anerkennen, die jein Zeugnis 
nicht ohne weiteres anzunehmen erlaubt. Vgl. Buſch, 
Tagebuchblätter III, 330. Ferner II, 418—426 ver⸗ 
glichen mit Chr. v. Tiedemann, „Sechs Jahre Chef 
der Reichskanzlei“, S. 148. Weiter die Erzählung von 
Tiedemann und Lasker in der „Frankfurter Zeitung“ 
v. 1. Aug. l. J. Erſtes Morgenbl. 2. Seite, 2. Spalte. 
Eine ähnliche Erzählung bei Ludwig von Gerlach, Auf⸗ 
zeichnungen II, 233, 276, 289. Preuß. Jahrb. Bd. 96 
(1899), S. 461ff. 


Weshalb hat Bismarck, wenn er denn wünſchte, 
daß das Sozialiſtengeſetz angenommen werde, dieſen 
Wunſch dem Abgeordneten v. Helldorff, der noch 
zwiſchen der zweiten und dritten Leſung, am Abend 
vor der entſcheidenden Abſtimmung, eingehend mit 
ihm darüber geſprochen hat, nicht zu erkennen ge⸗ 
geben? Früher wurde von einem Mißverſtändnis 
geſprochen. Thimmes Verdienſt iſt, daß er die Mög⸗ 
lichkeit eines derartigen Mißverſtändniſſes zwiſchen 
zwei Männern, die ſich ſo genau kannten, energiſch 
beiſeite geſchoben hat. Er nimmt die Inſinuation 
Bismarcks auf, daß Helldorff mit vollem Bewußtſein, 
im Einverſtändnis mit der Hofclique, die Bismarck 
ſtürzen wollte, ihn wie die Fraktion verraten und dieſe 
abſichtlich irregeführt habe. Es leben ja noch genug 
Perſonen, die Herrn v. Helldorff gekannt haben; ich 
glaube nicht, daß ſich darunter jemand finden wird, 
der Thimme die Mär von dieſer dunklen Verſchwörung 


5 Delbrück, Bismarcks Erbe 129 


glaubt. Auch die „Deutſche Tageszeitung“ hat die 
ungeheuerliche Behauptung doch nicht nachzuſprechen 
gewagt, ſondern ſie in ihrem Bericht über den 
Thimmeſchen Aufſatz mit vielſagendem Stillſchweigen 
übergangen (7. April 15) und ſich wieder auf das 
„Mißverſtändnis“ zurückgezogen. Ich ſchrieb darüber 
noch an Herrn v. Maltzahn⸗Gültz, der bis Ende 1888 
neben Herrn v. Helldorff Führer der konſervativen 
Fraktion im Reichstag war, und erhielt die Antwort: 
„daß Helldorff ſeiner Fraktion abſichtlich eine falſche 
Auskunft darüber, was der Kanzler ihm als ſeinen 
Wunſch mitgeteilt hätte, gegeben haben ſollte, iſt 
natürlich vollſtändig ausgeſchloſſen.“ 

Thimme findet den Beweis darin, daß, nach Hell⸗ 
dorffs eigener Ausſage, Bismarck ſeine Inſtruktion 
in die Worte zuſammengefaßt habe: „Mir liegt mehr 
an der Erhaltung der Kartellpolitik als an dem ganzen 
Sozialiſtengeſetz.“ Dieſe Antwort ſei vollkommen 
klar und eindeutig geweſen, denn Kartellpolitik be⸗ 
deutete Zuſammengehen mit den Freikonſervativen 
und Nationalliberalen, und da dieſe mit dem ab⸗ 
geſchwächten Sozialiſtengeſetz zufrieden waren, ſo 
hätten es auch die Konſervativen ſein müſſen. 

Wenn aber Bismarck wirklich eine ſo klare und ein⸗ 
deutige Antwort geben wollte, weshalb hat er dann 
nicht einfach geſagt: „Nehmt das Geſetz an, ich 
wünſche es“? Warum die merkwürdige Umſchrei⸗ 
bung: „Mir liegt mehr an der Erhaltung der Kartell⸗ 


130 


politik als an dem ganzen Sozialiſtengeſetz?“ Man 
erinnere ſich an die Situation. Die Wahlen ſtanden 
vor der Tür, und es war ſicher, daß das Kartell da⸗ 
bei die Mehrheit nicht behaupten würde. Das Kartell 
konnte erſt unter ganz neuen Bedingungen wieder 
brauchbar werden. Helldorff konnte alſo jenes angeb⸗ 
lich eindeutige Wort ganz umgekehrt dahin auslegen, 
daß dem Fürſten an dem jetzigen Sozialiſtengeſetz 
nichts liege, daß man aber für eine zukünftige Wieder⸗ 
belebung der Kartellpolitik zunächſt einmal durch eine 
Kriſis hindurchgehen müſſe. Vielleicht findet jemand 
auch noch andere Interpretationen jenes dunklen 
Satzes. Gerade indem Thimme jenen Satz als 
richtig überliefert akzeptiert, beſtätigt er, daß Bis⸗ 
marck es an einer „klaren und eindeutigen Antwort“ 
hat fehlen laſſen — und der Fürſt wußte, daß 
das die Ablehnung des Geſetzes herbeiführen werde. 
Er war eben der echte Diplomat: er ſagte nicht dem 
um eine Entſcheidung bittenden Abgeordneten „lehnt 
das Geſetz ab“ — denn dann hätte die Verantwortung 
auf ihm gelegen, ſondern er umging die direkte 
Antwort und ſchob damit die Verantwortung der 
Fraktion zu, wußte aber, daß ſie nun ſo ſtimmen 
würde, wie er ſich wünſchte. 

Um der konſervativen Fraktion, in der viele kon⸗ 
fliktslüſterne Heißſporne waren, den Rückzug zu er⸗ 
leichtern, verlangte Helldorff, daß die Regierung noch 
zwiſchen der zweiten und dritten Leſung die Er⸗ 


5 131 


klärung abgebe, fie fei mit dem Sozialiſtengeſetz, wie 


es der Reichstag geſtaltet, zufrieden; genau genommen 
verlangte er nicht einmal das, ſondern er verlangte 
nur, daß die Regierung ſage, „wir legen Wert darauf, 
uns zu überlegen, ob wir ein abgeſchwächtes Geſetz 
annehmen können, wir wünſchen alſo, daß uns nicht 
die Entſcheidung darüber unmöglich gemacht wird.“ 
Die Regierung tat es nicht. Bismarck erſchien bei 
dieſer grundſtürzenden Entſcheidung nicht einmal 
ſelbſt im Reichstag. Er ſtellte den Satz auf, er habe 
ſtets daran feſtgehalten, daß die verbündeten Re⸗ 
gierungen ſich wohl vor Reichstagsvoten, nicht aber 
vor Kommiſſionsbeſchlüſſen beugen könnten. Thimme 
und andere Hiſtoriker haben dieſen Grundſatz un⸗ 
beſehen gelten laſſen, ohne ſich klar zu machen, daß 
es ſich jetzt gar nicht mehr um einen Kommiſſions⸗ 
beſchluß, ſondern um die Beſchlüſſe des Reichstages 
ſelbſt in der zweiten Leſung handelte, und Thimme 
fügt hinzu, daß, wenn die Regierung freiwillig auf 
die Ausweiſungsbefugnis verzichtet hätte, ſie ſich 
ſelbſt damit die Möglichkeit genommen hätte, die ver⸗ 
ſtümmelte Vorlage von einem neuen Reichstag gleich⸗ 
ſam komplettieren zu laſſen. Er beweiſt damit, daß 
ihm weder die damalige Lage noch die parlamen⸗ 
tariſche Praxis des Fürſten Bismarck genügend be⸗ 
kannt iſt. Einen Reichstag, bereit, das Sozialiſten⸗ 
geſetz zu komplettieren, erwartete niemand mehr, 
und die Erfahrung, die wir ſeitdem gemacht haben, 


132 


ſpricht darüber deutlich genug. Der angeblich ftet3 
feſtgehaltene Grundſatz, erſt den Reichstag in dritter 
Leſung abſtimmen zu laſſen und ſich dann erſt vom 
Regierungstiſch zu erklären, hat wohl in der Form 
exiſtiert, daß Bismarck bei Geſetzen, die ſicher ab⸗ 
gelehnt wurden, doch, wie er es ausdrückte, die 
Quittung verlangte, im übrigen iſt aber das gerade 
Gegenteil ſeine ſtändige Praxis geweſen. Thimme 
möge einmal das Zuſtandekommen des erſten So⸗ 
zialiſtengeſetzes nachleſen. Schon in der Kommiſſion 
(1. und 2. Oktober 1878) gab Graf Eulenburg die 
Erklärung ab, wie weit die Regierung den gefaßten 
Beſchlüſſen zuſtimmen könne oder nicht, und vor der 
dritten Leſung hielt ſogar der Bundesrat eine eigene 
Sitzung, um zu erklären, daß er auf das von den 
Fraktionen (nicht vom Reichstag) geſchloſſene Kom⸗ 
promiß eingehe. Bismarck ſelbſt aber erklärte (9. Ok⸗ 
tober 1878) gleich im Beginn der zweiten Leſung, 
daß er zwar das nach den Wünſchen des Reichstages 
geſtaltete Geſetz für durchaus ungenügend halte, es 
trotzdem aber annehme, um gemäß den gemachten 
Erfahrungen ſpäter Ergänzungen vorzuſchlagen. Das 
iſt alſo das gerade Gegenteil der Taktik von 1890, 
und der Unterſchied iſt nicht ſchwer zu erklären: 1878 
wünſchte er, daß das Geſetz angenommen würde, 
und 1890 wünſchte er, daß es zu Falle käme. 


Nun haben wir auch eine Erklärung für den völ⸗ 
lig rätjelhaften Vorgang, den Herr v. Maltzahn⸗ 


133 


Gültz in den jüngſt erſchienenen „Erinnerungen an 
Bismarck“, Geſammelt von A. v. Brauer und 
anderen, S. 115ff. berichtet. Bismarck beſtand im 
Winter 1889/90 auf jenem angeblichen Grundſatz, 
ſich erſt zu Beſchlüſſen dritter Leſung des Reichstages 
zu äußern, auch in Etatsfragen, obgleich man damit 
in einen völligen Widerſinn geriet. Die Staats⸗ 
ſekretäre des Innern und des Reichsſchatzamtes waren 
in Verzweiflung, wußten ſich das Verhalten des 
Kanzlers nicht zu erklären und handelten endlich auf 
eigene Fauſt. Wir aber erkennen nunmehr von neuem, 
von wie weither der Kanzler ſeine Gänge anlegte, 
alles vorbedacht war und alles ineinandergriff. 
Nein, ſeine geiſtige Kraft war wirklich noch nicht 
zu Ende. 

Daß Bismarck nach Thimme im Miniſterrat 
am 24. Januar keinen Zweifel darüber gelaſſen 
haben ſoll, daß auch das abgeſchwächte Geſetz 
nach den Beſchlüſſen des Reichstages anzunehmen 
ſein würde, ſteht mit der von mir gegebenen 
Darſtellung nicht etwa in Widerſpruch: Bismarck 
wußte ja, daß wenn er nichts Poſitives dafür 
tue, das Geſetz nicht zuſtandekommen würde. In⸗ 
dem der Miniſterrat es nach Bismarcks Wunſch 
ablehnte, die gewünſchte Erklärung im Reichs⸗ 
tag abzugeben, votierte er tatſächlich für die Ab⸗ 
lehnung, entgegen dem Wunſch und Vorſchlag 
des Kaiſers, der nachher ſagte: „Das ſind ja 


134 


nicht meine, das find ja des Fürſten Bismarck 
Miniſter.“ 

Thimmes Artikel iſt übrigens ein intereſſantes Bei⸗ 
ſpiel, wie ſchnell die direkte Tradition abſtirbt. Jeder, 
der die Zeit noch politiſch denkend erlebt hat, weiß, 
wie die Politik in dem Zwieſpalt zwiſchen Bismarck 
und den ſämtlichen Parteien zu einer Art Stillſtand 
gekommen war. Es war unmöglich, noch irgend 
etwas Poſitives zuſtande zu bringen oder auch nur 
in Angriff zu nehmen. Die Konſervativen erließen 
ein Wahlprogramm, das der „Kladderadatſch“ nicht 
ſo übel verſpottete, indem er unter der Überſchrift 
einen weißen Fleck brachte. Thimme aber ſchreibt 
heute ganz wohlgemut: „Man glaube doch nicht, daß 
Bismarck im Februar 1890 durch die Ausſicht auf 
einen renitenten Reichstag irgendwie geſchreckt oder 
auch nur irritiert worden wäre.“ 


Die nähere Begründung meiner Darſtellung iſt 
zu finden Preuß. Jahrb. Bd. 147, S. 1, S. 341; 
Bd. 153, S. 121. Regierung und Volkswille S. 61. 
Als neue Zeugen für die Richtigkeit meiner Dar⸗ 
ſtellung ſind mir ſeitdem die Miniſter Miquel und 
Hobrecht und der Botſchafter v. Keudell bekannt ge⸗ 
worden, die Anderen den Zuſammenhang ſchon früher 
genau ſo wie ich hier erzählt haben. Das Neue, wo⸗ 
mit ich in dieſer Schrift meine früheren Mitteilungen 
ergänzt habe, geht zurück zum Teil auf eigene Er⸗ 
innerung, zum Teil auf die Miniſter v. Boetticher 


135 


und Boſſe und Mitteilungen aus der nächſten Um⸗ 
gebung Windthorſts. Boetticher war übrigens eben⸗ 
ſowenig wie Rottenburg in den Plan Bismarcks 
eingeweiht. 


Bismarck nahm den Abſchied — und Deutſchland 
blieb ſtumm. Solange er an der Spitze der Ge⸗ 
ſchäfte ſtand, war ihm von der Oppoſition immer 
wieder der Vorwurf entgegengeſchleudert worden, 
er habe die Verfaſſung des Reiches allein auf ſeine 
Perſon zugeſchnitten; ohne ihn würde ſie ſich als 
unhaltbar erweiſen. Sie hat ſich gehalten und be⸗ 
währt bis auf den heutigen Tag und ertrug auch 
ſeinen eigenen Abgang ohne die geringſte Erſchütte⸗ 
rung. Weder im Reichstag noch im Landtag wurde 
ein Wort darüber geſprochen, und auch in der dem 
Scheidenden freundlichen Preſſe hatte man wohl 
Worte inniger Dankbarkeit, aber kein Wort der Ent⸗ 
rüſtung oder die Forderung, daß er bleibe. In allen 
führenden Kreiſen der Parlamente wie der Preſſe 
wußte man, daß der Abgang nichts mit irgend⸗ 
welchen perſönlichen Verſtimmungen zwiſchen ihm 
und dem Kaiſer zu tun habe, ſondern innerlich 
notwendig geweſen ſei, und da die Führer ſchwie⸗ 
gen, ſchwieg auch das Volk. Im Herzen aber 


136 


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empfand es anders. Ich weiß nicht, ob in der 
Weltgeſchichte noch ein zweites Beiſpiel dafür zu 
finden iſt wie hier von dem Unterſchied zwiſchen 
der Menge und ihren Rednern, zwiſchen dem Volk 
und den gewählten Volksvertretern.“) Es iſt keine 
Frage, daß die ungeheure Mehrheit nicht bloß 
der alten Anhängerſchaft Bismarcks, ſondern bis 
tief in die Reihen ſeiner Gegner hinein in der Art 
der Entlaſſung eine ſchnöde Undankbarkeit und 
ein unſagbares Unglück erblickten. Aber erſt ganz 
allmählich im Laufe der nächſten Jahre fand dieſe 
Stimmung Vertreter und Gelegenheiten, ſich zum 
Ausdruck zu bringen. In den politiſchen Kreiſen 
wurde der Nachfolger mit einem allſeitigen Ver⸗ 
trauen und Wohlwollen aufgenommen, ſo daß ich 
damals in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ einen Ge⸗ 
ſandtſchaftsbericht aus England vom Jahre 1742, auf 
den Sturz Walpoles bezüglich, als Analogie anführen 
konnte, der als zutreffend durch alle Zeitungen ging: 

„Was in 28 Jahren nicht geſehen, nicht gehört, 
nicht geglaubt worden, das hat ſich nunmehr er⸗ 


*) Daß es eine reine Fiktion iſt, in den Parlamenten 
die Verkörperung des Volkswillens zu ſehen, habe ich ein⸗ 
gehend dargelegt in der gedruckten Vorleſung „Regierung 
und Volkswille“. Berlin 1914. 


137 


geben; Whigs und Tories, Patrioten und wie ſie 
alle hießen, ſeien einig miteinander und wett⸗ 
eiferten miteinander, ihre Königstreue und Vater⸗ 
landsliebe zu betätigen. Whigs und Tories wurden 
bei Hofe geſehen und gnädig empfangen; weder im 
Ober⸗ noch im Unterhauſe gäbe es eine Oppoſition; 
was der König vom Parlament fordern möge, 
alles werde ihm bewilligt.“ 

Ingrimmig und verbittert verließ der Mann des 
Jahrhunderts Berlin und zog ſich in ſeinen Sachſen⸗ 
wald zurück. Wie hätte er auch ſelber dafür Ver⸗ 
ſtändnis haben können, daß eine unſchätzbare Gunſt 
des Himmels ihm zu allem ſeinem Ruhm auch noch 
den Heiligenſchein des Martyriums verlieh? Was 
hätte er an der Spitze des Staates noch weiter er⸗ 
reichen können? Auf der Bahn, die er bisher ver⸗ 
folgt, war es unmöglich, noch höher zu ſteigen, 
aber die Vorſtellung, die ſich nunmehr bildete, daß 
er, der Schöpfer unſerer Größe, der Vater des 
Vaterlandes, von tückiſchen Intriganten zu Falle 
gebracht, mit ſchwarzem Undank gelohnt, ſeine Tage 
in Ungnade und Untätigkeit verbringen müſſe, ließ 
alle Herzen, bis in die Reihen ſeiner Gegner hin⸗ 
ein, um ſo höher für ihn ſchlagen und machte aus 


138 


Friedrichsruh einen nationalen Wallfahrtsort. Er 
ſelber konnte die Dinge nicht ſo anſehen, und ſo 
haben wir das ſonderbare Schaufpiel, daß während 
der acht Jahre, die ihm noch zu leben vergönnt 
war, er umwogt wurde von einer ſich bis zur 
Andacht ſteigernden Verehrung und Dankbarkeit, 
er aber gleichzeitig ſeine „Gedanken und Erinne⸗ 
rungen“ aufzeichnen ließ und ſonſt Kundgebungen 
in die Welt hinausſandte, die nicht nur ſeine alten 
Feinde, die Deutſch⸗Freiſinnigen, das Zentrum, 
die Sozialdemokraten, ſondern auch faſt nicht 
weniger ſeine alten Freunde und Stützen, ſeine 
Miniſterkollegen, die Konſervativen, die Junker, 
die Militärs, die Beamten mit immer erneuten 
Anklagen und Anſchuldigungen belegen und ver⸗ 
folgen. Sie hatten nach ſeiner Vorſtellung eben 
bei ſeinem Sturze alle entweder zuſammengewirkt, 
oder ihm wenigſtens nicht genügend ſekundiert und 
trafen ſich dann in der einmütigen hoffnungsvollen 
Begrüßung des Nachfolgers. 


* * 
* 


Wir haben Bismarcks Laufbahn bis zu ſeinem 
Abgang verfolgt weſentlich unter dem Geſichts⸗ 


139 


punkt der Widerſtände, die er zu überwinden hatte, 
der erſchütternden Kämpfe, die er beſtehen mußte, 
um das Ziel zu erreichen. Auch mit der Errichtung 
des Reiches und der Proklamation des Kaiſertums 
am 18. Januar 1871 war das nationale Staats⸗ 
weſen, das er begründen wollte, noch keineswegs 
vollendet. Ein ganzes Syſtem von Neuorganiſa⸗ 
tionen, eine unabſehbare Geſetzgebung gehörte 
dazu, um die äußere Einigung durchwachſen zu 
laſſen zu der inneren, erſt wahrhaft unauflöslichen. 
Schutthaufen von feudaliſtiſchen und partikulari⸗ 
ſtiſchen Inſtitutionen, die noch an vielen Stellen 
herumlagen, mußten weggeräumt und neue natio⸗ 
nale und ſtaatsbürgerliche Einrichtungen geſchaffen 
werden. Alles das vollzog ſich nur in immer er⸗ 
neuten Kämpfen, aus denen wir nur die beſonders 
charakteriſtiſchen herausgehoben haben. Es ließe 
ſich noch viel erzählen; von der neuen Kreisordnung 
in Preußen, die nur mit einem Pairſchub im 
Herrenhaus durchzubringen war, oder von den 
Reichsjuſtizgeſetzen, oder von der ſanften Gewalt, 
mit der Hamburg genötigt werden mußte, in 


den Zollverein einzutreten, aber es ſei genug 


damit. 


140 


Wir wollen Bismarcks Werk ja nicht als ſolches, 
ſondern wir wollen es betrachten unter dem Ge⸗ 
ſichtspunkt des Erbes, das er uns hinterlaſſen hat, 
und da iſt es vor allem wichtig, ſich klar zu machen, 
wie ſehr Bismarck durch den inneren Ausbau des 
Reiches bis zum Schluß in Anſpruch genommen war 
und wie ein ſo wichtiges Stück wie die geregelte 
Finanzgebarung, das Gleichgewicht von Ausgaben 
und Einnahmen ihm bis zu ſeinem Abgang noch 
nicht geglückt war, unter Dach zu bringen. 

Der Fortgang unſerer Betrachtung wird ſich 
darauf zu richten haben, inwieweit unter ſeinem 
Nachfolger das begonnene Werk weitergeführt, 
inwieweit das Erbe als neue, aus dem Überliefer⸗ 
ten erwachſene Aufgabe betrachtet worden iſt. 
Denn, wie Conſtantin Rößler beim Abgang Bis⸗ 
marcks in den Preußiſchen Jahrbüchern ſchrieb: 
Das iſt überhaupt der Erfolg der hiſtoriſchen Men⸗ 
ſchen, daß ſie nicht ruhigen Beſitz, ſondern größere 
Probleme zurücklaſſen. 

Der Kaiſer ſelbſt verkündete, trotz des Perſonen⸗ 
wechſels an der leitenden Stelle bleibe der Kurs 
der alte. Die vorwaltende Meinung iſt wohl eher 
die umgekehrte: daß man den Kurs Bismarcks 


141 


verlaſſen, in vielem das Gegenteil getan von dem, 
was er wollte und anſtrebte, und, wie weiter nicht 
Wenige glauben oder glaubten, daß ſeitdem alles im 
Reiche ſchlecht geworden und Deutſchland immer 
weiter heruntergekommen ſei. 

Daß Deutſchland im Gegenteil in dieſen 25 Jah⸗ 
ren einen unerhörten Aufſchwung genommen hat, 
und daß gerade die Furcht der Nachbarn vor ſeiner 
ſchwellenden und ſtrotzenden Kraft einer der 
weſentlichſten Gründe des Weltkrieges gewor⸗ 
den iſt, braucht heute nicht mehr bewieſen zu 
werden. Jener unendlich oft wiederholte und 
immer von neuem variierte Satz, daß Bismarcks 
Erbe in der unverantwortlichſten Weiſe ver⸗ 
ſchleudert worden ſei, wird den böſen Mäulern, 
die ihn verbreiteten, nicht mehr geglaubt und 
wurde ihnen ſchon vor dem Kriege nicht mehr 
geglaubt. 

Auch die im Eifer des Parteikampfes von 
einem großen Gelehrten 1881 herausgeſchleuderte 
Frage: „gibt es noch die Krone der Hohenzollern? 
Unſere Kinder werden die Antwort darauf zu 
geben haben“ hat mittlerweile ihre Antwort ge⸗ 
funden, und die einſt landläufige Behauptung, die 


142 


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Reichsverfaſſung ſei allein auf die Perſon Bismarcks 
zugeſchnitten, iſt verſchollen. 

Die Frage aber, ob in dieſem Vierteljahrhundert 
im weſentlichen nach dem Kurſe Bismarcks weiter 
geſteuert oder was erreicht wurde, gerade vermöge 
eines anderen Kurſes erreicht worden iſt, bedarf 
einer näheren Unterſuchung. 

Die Konfliktspolitik freilich ließ man fallen, 
aber darüber, daß das kein verderbliches Abweichen 
von der echten Bismarckpolitik war, darüber wird 
man jetzt einig ſein: die einen, weil ſie an die 
Konfliktsabſichten überhaupt nicht glauben, die 
anderen, weil ſie in dem Aufgeben ſolcher Pläne 
nichts Verderbliches ſehen. 

Das Sozialiſtengeſetz ſelber hat nach der jetzt 
wohl ziemlich allgemein angenommenen Meinung 
ſeinen Zweck verfehlt. Nach dem erſten Zuſammen⸗ 
zucken erholte ſich die Sozialdemokratie, ertrug 
mit bewunderungswürdiger Charakterfeſtigkeit alle 
Martyrien und wuchs von einer Wahl zur andern 
an Stimmen wie an Mandaten. Die Nebenwir⸗ 
kungen aber, die das Geſetz gehabt hat, ſind, wie 
ich aufs ſtärkſte betonen möchte, für Deutſchland 
höchſt ſegensreich geweſen. Vor allem: es hat die 


143 


Sozialdemokratie jelber erzogen. Vor 1878 hatte 
ſie einen Zug ins Anarchiſtiſch⸗Pöbelhafte. Hier und 
da iſt dieſer Zug auch ſpäter noch aufgetaucht, aber 
die Partei im ganzen hat ſich in die ſtrengſte Diſzi⸗ 
plin genommen und ihre eigenen Anhänger ſo ſehr 
an dieſe Disziplin gewöhnt, daß ſie für fie ein- 
ſtehen kann. Ohne das Sozialiſtengeſetz hätten 
wir in Deutſchland vermutlich eine Periode von 
ſozialen Unruhen durchzumachen gehabt, die ohne 
Blutvergießen nicht zu Ende gekommen wären. 
Jetzt haben wir es ſchon vor dem Kriege erlebt, 
daß die Polizei mit den ſozialdemokratiſchen Ord⸗ 
nern zuſammen für die Erhaltung der Ordnung 
auf den Straßen geſorgt hat. Die berauſchende 
Idee der proletariſchen Revolution, des Straßen⸗ 
kampfes und der Barrikaden verlor ihre Kraft und 
wurde zur ſchalen Phraſe. 

Noch höher aber dürfte der Wert des Sozialiſten⸗ 
geſetzes für den poſitiven ſozialen Fortſchritt ſelbſt 
anzuſchlagen ſein. Jede ſoziale Geſetzgebung leidet 
unter der ungeheuren Schwierigkeit, daß die 
Klaſſen, denen ſie zugute kommen ſoll, ihr oppo⸗ 
nieren, weil ſie nicht genug bringe und ſie ſich das 
ideale Ziel nicht durch kleine Abſchlagszahlungen 


144 


verderben laſſen wollen; umgekehrt aber, die 
Klaſſen, die geben ſollen, finden die Gaben ſchon 
zu groß und fürchten weitere Konſequenzen. 
Bismarck ſetzte es durch, daß die beſitzenden Klaſſen 
die Laſten der Kranken⸗, Unfall- und Invaliditäts⸗ 
verſorgung, mit mäßigen Beiträgen von den 
Arbeitern ſelbſt, auf ſich nahmen, weil er ihnen 
gleichzeitig durch das Sozialiſtengeſetz die Siche⸗ 
rung gegen die ſoziale Revolution zu geben ſchien. 
Nur indem der Kanzler ſeine ganze, durch die aus⸗ 
wärtige Politik und die Gründung des Reiches 
gewonnene Autorität gleichzeitig für das Sozia⸗ 
liſtengeſetz gegen die Proletarier und für die 
ſozialen Geſetze für die Proletarier einſetzte, 
konnte er in ſchweren, jahrelangen Kämpfen, 
namentlich gegen den Doktrinarismus der Liberalen, 
die ſoziale Reform unter Dach bringen. Auch die 
Schutzzollgeſetzgebung muß man hier noch einmal 
heranziehen. Ohne die Sicherung des inneren Mark⸗ 
tes und der überlieferten Preiſe vermöge der Grenz⸗ 
zölle würden Induſtrie und Landwirtſchaft ihm auf 
dem Wege der Sozialgeſetzgebung nicht gefolgt ſein. 

Im Jahre 1890 hatte das Sozialiſtengeſetz dieſe 
ſeine beſſeren Wirkungen ſo ziemlich erſchöpft, die 


145 


Furcht vor der roten Revolution war in weiten 
Kreiſen des Bürgertums ebenſo verblaßt, wie der 
Wille dazu in den Kreiſen der Genoſſen verraucht, 
und die Erfahrung eines Vierteljahrhunderts 
zeigt, wie das deutſche Volk ſich in voller Freiheit 
günſtig entwickeln konnte. 

Beginnen wir mit der inneren Politik, ſo bedarf 
zunächſt einer beſonderen Betrachtung das Polen⸗ 
problem. Nach der verbreitetſten Anſchauung hat 
Caprivi die Polenpolitik Bismarcks fallen laſſen, 
ſeine Nachfolger aber haben ſie wieder aufgenom⸗ 
men und ſie mit den größten Mitteln weitergeführt. 

Dieſe Auffaſſung iſt eine grundverkehrte. Vor 
allem Bismarck war zwar äußerlich der Schöpfer, 
innerlich aber ein Gegner der deutſchen bäuerlichen 
Koloniſation in den Oſtmarken. Immer von neuem 
hat er öffentlich erklärt, daß er dieſe Politik nicht 
billige, und daß ſie dem, was er gewollt habe, nicht 
entſpreche. 

Am 16. September 1894 hielt er eine Anſprache 
an die Deutſchen aus der Provinz Poſen, in der er 
wörtlich ſagte, zunächſt in einer Erinnerung an 
1848: „Ich bemerke dabei, daß der Kampf auch 
damals nicht mit dem polniſchen Volke im großen 


146 


und ganzen, ſondern mit feinem Adel und jener 
Gefolgſchaft geführt wurde.“ Ferner: „Ich glaube, 
viele von Ihnen werden polniſch ſprechende 
Arbeiter und Knechte haben und dabei den Ein⸗ 
druck haben, daß die Gefahr nicht von dieſen unte⸗ 
ren Schichten der Bevölkerung ausgeht.“ 

„Mit denen iſt zu leben, und von denen geht eine 
Unruheſtiftung niemals aus. Sie ſind keine För⸗ 
derer einer uns feindlichen Bewegung, abgeſehen 
davon, daß ſie vielleicht anderen Stammes ſind 
als der Adel, deſſen Einwanderung in die ſlawiſchen 
Gaue ſich im Dunkel der Vorzeit verliert. Um die 
ganze große Zahl der arbeitenden und bäuerlichen 
Volksklaſſe vermindert ſich alſo die ſtatiſtiſche Zahl 
der Gegner eines friedlichen Zuſammen⸗ 
arbeitens beider Stämme. Die Maſſen der 
unteren Schichten ſind zufrieden mit der preußi⸗ 
ſchen Verwaltung, die vielleicht nicht immer voll⸗ 
kommen ſein mag, die aber in jedem Falle beſſer 
und gerechter ſie behandelt, als ſie es in den Zeiten 
der polniſchen Adelsrepublik gewohnt waren. Und 
damit ſind ſie zufrieden. Es iſt nicht mein Pro⸗ 
gramm geweſen, daß bei der Anſiedlungskommiſ⸗ 
ſion vorzugsweiſe auf die Anſiedlung kleiner Leute 


147 


deutſcher Zunge Bedacht genommen würde. Die 
polniſchen Bauern ſind nicht gefährlich, und es iſt 
nicht entſcheidend, ob die Arbeiter polniſch oder 
deutſch ſind. Die Hauptſache war, daß der große 
Grundbeſitz Domäne wurde unter einem Pächter, 
auf den der Staat fortdauernd Einfluß behält. Das 
Bedürfnis, raſch zu verkaufen und zu koloniſieren, 
iſt von anderer kompetenter Stelle ausgegangen, 
aber nicht von mir. Ich habe dieſe Maßregeln nicht 
ſo überwachen, nur anregen können.“ 

Etwas anders gewandt, aber faſt noch ſtärker 
gegen die deutſche Koloniſation gerichtet und ſogar 
eine polniſche indirekt befürwortend, äußerte ſich 
der Fürſt am 23. September desſelben Jahres 
zu einer weſtpreußiſchen Deputation —; hier heißt 
es: „Wir ſind, wie ich glaube, etwas zu eilig in 
der Sache vorgegangen. Mit der Zeit, auf dem 
Wege der Rentengüter, fand es ſich ja wohl, daß 
man in Ruhe eine, wenn nicht deutſche, ſo doch 
deutſchtreue Bevölkerung allmählich herſtellen 
konnte.“ 

Ganz ebenſo hat der Fürſt ſchon im Jahre 1872, 
als er zuerſt mit ſcharfen Erlaſſen den Miniſter 
des Innern, Grafen Eulenburg, darauf verwies, 


148 


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daß er mehr Obacht auf die polnische Agitation 
haben müſſe, den polniſchen Bauernſtand aus⸗ 

drücklich ausgenommen und nach Mitteln verlangt, 
wie man jenen zahlreichen und an ſich der Regie⸗ 
rung zugeneigten Stand von dem Einfluß des pol⸗ 
niſchen Adels möglichſt emanzipieren könne. Auch 
als er das Geſetz über den Ankauf polniſcher Güter 
im Abgeordnetenhauſe einbrachte, hütete er ſich 
wohl, von Bauernanſiedlungen zu ſprechen, ſon⸗ 
dern ſprach nur von Deutſchen, die auf den pol⸗ 
niſchen Gütern angeſiedelt werden ſollten, was 
alſo auch deutſche Großgrundbeſitzer oder Pächter 
ſein konnten. 

Wie war es denn aber möglich, daß er überhaupt 
das polniſche Anſiedlungsgeſetz, das doch bäuer⸗ 
liche Koloniſation vorſieht, hat einbringen können? 
Wir haben darüber eine ganz authentiſche Auskunft. 
Zu den nächſten parlamentariſchen Vertrauten 
des Reichskanzlers gehörte in jener Zeit der frei⸗ 
konſervative Abgeordnete von Kardorff. Dieſer 
beſaß Scharfblick genug, um zu erkennen, daß, wie 
er ſich ausdrückte, die Sache nicht marſchieren werde, 
ging zum Fürſten und trug ihm ſeine Bedenken 
vor. Er empfahl, ſich auf den gelegentlichen An⸗ 


149 


kauf polnischen Großgrundbeſitzes und die Ein- 
ſetzung deutſcher Domänenpächter zu beſchränken. 
In der Aufzeichnung über das Geſpräch, die Kar⸗ 
dorff hinterlaſſen hat, fährt er nun weiter fort: 
„Der Fürſt hat meine Ausführungen, ohne mich 
zu unterbrechen, angehört, um mir nun folgendes zu 
erwidern: ‚Dieje von Ihnen empfohlene Art des 
Vorgehens entſprach meiner eigenen Anſchauung, 
aber ſie wird mir unmöglich gemacht durch die 
Haltung der nationalliberalen Partei, welche eine 
deutſche bäuerliche Anſiedlung als eine Vorbe⸗ 
dingung für ihre Zuſtimmung zu der Etatsforde⸗ 
rung hingeſtellt hat und mich dadurch nötigt, ihr 
nachzugeben. Ihre Bedenken gegen die geplanten 
bäuerlichen Anſiedlungen ſcheinen aber doch auch 
von Kennern der polniſchen Verhältniſſe, z. B. 
dem Oberpräſidenten Graf Zedlitz nicht für ſo 
ſchwerwiegende gehalten zu werden, als ſie er⸗ 
ſcheinen, und ich kann Sie nur bitten, nicht über⸗ 
ſehen zu wollen, daß es ſich hier um eine Frage 
handelt, welche in unſere auswärtige Politik hinein⸗ 
greift. Die Niederlage, welche Polen, Zentrum und 
Linke in den polniſchen Fragen der Reichsregierung 
im Reichstag bereitet haben, haben im Auslande 


150 


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Aufſehen erregt und unſere Beziehungen zu mancher 
der auswärtigen Mächte (Rußland?) weſentlich 
erſchwert. Für dieſe Niederlage bedarf ich einer 
glänzenden Genugtuung, wie ſie mir nur eine 
ſtarke Majorität des preußiſchen Abgeordneten⸗ 
hauſes zu verſchaffen vermag, und dieſe ſtarke 
Majorität kann ich ohne Beihilfe der National⸗ 
liberalen nicht haben.““ 

Das Vorgehen Bismarcks gegen die Polen im 
Jahre 1886 iſt hiernach zunächſt einzureihen in die 
Geſamtſituation des damaligen parlamentariſchen 
Kampfes, wo die feindliche Reichstagsmajorität 
dem Kanzler einen Stich nach dem anderen ver⸗ 
ſetzte und er in der Aufnahme des Polenkampfes 
einen günſtigen Boden fand, national-deutjche 
Empfindungen anzurufen und im Abgeordneten⸗ 
hauſe die Stütze zu finden, die ihm der Reichstag 
verſagte. Die letzte Wurzel iſt aber in der aus⸗ 
wärtigen Politik zu finden. Bismarck war keines⸗ 
wegs, wie auch ſchon die obigen Außerungen 
zeigen, ein prinzipieller Polenfeind. Niemals hat 
er etwa argumentiert: das Deutſche Reich iſt deutſch 
und nicht polniſch, und deshalb müſſen wir ſehen, 
dieſen Fremdkörper möglichſt auszumerzen oder ihn 


151 


zu unterdrücken ſuchen. Ein derartiger Doktrinaris⸗ 
mus, wie wir ihn in den letzten Jahrzehnten oft 
haben vortragen hören, war ſeinem politiſchen 
Denken durchaus fremd. 


Wie jeder Doktrinarismus ſo lag ihm auch 


der Nationalismus fern. „Sein Geſichtskreis“, 
ſchreibt ſein ihm ſo naheſtehender Kabinettschef 
Tiedemann“), „ging weit über die Grenzen ſeines 


engeren Vaterlandes hinaus und er war völlig 


frei von dem Chauvinismus der vulgären Vater⸗ 
landsliebe; er nannte ſich ſelbſt wiederholt einen 
Europäer“. Obgleich Ehrenmitglied des Allge⸗ 
meinen deutſchen Sprachvereins, liebte er es, ſeinen 
Reden durch den Gebrauch von Fremdwörtern und 
Zitaten aus fremden Sprachen nicht bloß Präziſion, 
ſondern auch Fülle, Eleganz und Buntheit zu 
verleihen.“) 

Überbliden wir fein Verhalten zu den Polen 
ſeine ganze Laufbahn hindurch, ſo ſehen wir, daß 
es ſich immer rein praktiſch nach den Umſtänden 


*) Perſönliche Erinnerungen an den Fürſten Bismarck 
von Chriſtoph v. Tiedemann, S. 42. Leipzig, S. Hirzel. 
*) Vgl. meine Schrift „Die Sprachreinigung, Fürſt 


Bismarck und Heinrich v. Treitſchke. Verlag Georg Stilke. 


152 


gerichtet hat. In der Revolutionszeit, wo die 
Polen voran auf allen Barrikaden kämpften, war 
er ſtark antipolniſch. In der erſten Periode ſeiner 
Miniſterſchaft, wo es ihm darauf ankam, mit Ruß⸗ 
land Freundſchaft zu pflegen, half er mittelbar 
1863 den ruſſiſch⸗polniſchen Aufſtand unter⸗ 
drücken, hielt ſich aber zu den preußiſchen Polen 
neutral. 1870 verhandelte er mit Erzbiſchof Ledo⸗ 
chowski in Verſailles perſönlich und verlangte von 
dem Kronprinzen, wie er ſelbſt verſchiedentlich 
erzählt hat und ich aus dem Munde der Kaiſerin 
Friedrich beſtätigen kann, ganz ernſtlich, daß er 
ſeine Söhne polniſch lernen laſſe. Der Kultur⸗ 
kampf wurde dann beſonders ſtark gegen die pol⸗ 
niſche Geiſtlichkeit geführt; aber den eigentlichen 
Nationalitätenkampf nahm er doch erſt gegen Ende 
ſeiner Laufbahn im Jahre 1886 auf, jedenfalls 
wieder, neben den ſchon erwähnten parlamen⸗ 
tariſchen Momenten, im Zuſammenhang mit der 
auswärtigen Politik. Es war die Zeit, wo er alle 
ſeine Kraft daran ſetzte, das ruſſiſch⸗franzöſiſche 
Bündnis hintanzuhalten und wieder ein leidliches 
Verhältnis zu Rußland zu gewinnen. Da konnte 
es kein beſſeres Mittel geben, als die Polen zu 


153 


preſſen. Eine deutſche Regierung, die einen Krieg 
mit Rußland erwartet oder ihn ſogar vorbereitet, 
wird vor allem ſuchen, ſich die Polen freundlich 
zu ſtimmen, und man kann es als den ſtärkſten 
Beweis, daß Deutſchland den jetzigen Weltkrieg 
nicht gewollt hat, anſehen, daß es härtere und 
immer härtere Maßregeln bis zum Enteignungs⸗ 
geſetz gegen die Polen ergriffen hat. Ein Beweis 
klugen politiſchen Vorausſehens war das gewiß 
ebenſowenig wie die Bedrückungen der Serben, 
Kroaten und Rumänen durch die Magyaren. Viele 
glauben, daß der Krieg im Oſten für uns erheblich 
günſtiger verlaufen wäre, wenn die ruſſiſchen Polen 
anſtatt abzuwarten, wie ihre beiden Feinde ſich 
gegenſeitig niederkämpften, von Anfang an auf 
unſere Seite getreten wären. Aber wie dem auch 
ſei, Bismarck iſt jedenfalls an dieſem vielleicht 
ſchwerſten Fehler der preußiſch⸗deutſchen Politik 
in den letzten Jahrzehnten unſchuldig, und es war 
eine grobe Irreführung der deutſchen öffentlichen 
Meinung, wenn die Fortſetzung dieſer Politik ihr 
immer wieder aufgeredet wurde mit der Begrün⸗ 
dung, daß es ſich um eine Ausführung Bismarck⸗ 
ſcher Gedanken handle. Die nationalen Leiden⸗ 


154 


ſchaften waren nun einmal fo erregt, daß 
auch ſeine eigenen Warnungen das Fortſchrei⸗ 
ten auf der verderblichen Bahn nicht mehr 
haben aufhalten können. 

Man mag ſich ja damit tröſten, daß mit 
einem Aufwand von einer Milliarde in den 
vielen Anſiedlungsdörfern immerhin ein erheb⸗ 
liches Kulturwerk errichtet worden ſei. Aber 
auf der anderen Seite iſt es Tatſache, daß 
vermöge der nicht gewollten indirekten Folgen 
unſerer Polenpolitik die Oſtmarken, namentlich 
die Städte, mehr poloniſiert als germaniſiert 
worden find. Wer Bismarcks Erbe nach Abſchluß 
der jetzigen Kriſis recht verwalten will, wird ſich 
nicht an einzelne ſeiner Ausſprüche aus dieſer 
oder jener Periode ſeiner politiſchen Laufbahn 
halten dürfen, ſondern das unter allen Umſtänden 
ſehr ſchwierige Problem in ſeinem Geiſt, das heißt, 
nicht doktrinär, ſondern realpolitiſch und praktiſch 
zu löſen ſuchen. Zwiſchen dem einen Extrem, daß 
man don den Prinzen des Königlichen Hauſes 
verlangt, daß ſie polniſch lernen ſollen, und dem 
anderen, daß man Lehrer ſtrafverſetzt, die denun⸗ 
ziert worden ſind, weil ſie mit irgend jemand 


155 


polniſch geſprochen haben, 5 es mancherlei 
Mittelwege.“) 


Auch auf anderen Gebieten des öffentlichen Lebens 
muß man ziemlich ſtark durchgreifen, um die Frage 
der Nachfolge Bismarcks von Fabeln und Legenden 
zu ſäubern und ihr auf den Grund zu kommen. 
Aber wer guten Willen hat, vermag ſchließlich die 
Wahrheit ohne große Schwierigkeiten zu erkennen. 

Fahren wir fort mit der inneren Politik, ſo 
ſehen wir, wie unter Caprivi eine höchſt fruchtbare 
Geſetzgebung einſetzt. Der Miniſter von Berlepſch 
ſchuf die Arbeiterſchutzgeſetzgebung, der Bismarck 
ſich ſo lange widerſetzt hatte; der Finanzminiſter 
von Miquel reformierte in genialer Weiſe in 
Preußen das Syſtem der direkten Steuern. Der 
Miniſter Herfurth brachte eine neue Landgemeinde⸗ 
ordnung durch, die den Klagen auf dieſem Gebiet 
ein Ende machte. Der Reichskanzler Caprivi ſelbſt 
nahm ſich der Armeereform an und ermöglichte 
durch Einführung der zweijährigen Dienſtzeit und 
entſprechende Vermehrung der Rekrutenzahl die 
Ausbildung jener Maſſen von Reſerviſten, vermöge 


*) Näheres in meinem Buche „Regierung und Volks⸗ 
wille“ S. 157 fl. 


156 


deren wir jetzt imſtande geweſen find, mit der 
Ausſicht auf den Erfolg in den Weltkrieg zu gehen. 
Alles das ſind Dinge, die Bismarck tatſächlich nicht 
wollte, oder auch nicht konnte, da er ſich zu ſehr 
dagegen feſtgelegt hatte. Sehen wir aber auf die 
Grundideen der Bismarckſchen Staatskunſt, ſo 
müſſen wir geſtehen, daß ein innerer Grund, wes⸗ 
halb er alle dieſe Geſetze nicht hätte gutheißen 
können, nicht vorliegt, im Gegenteil, man darf ſie 
ſogar als natürliche und notwendige Konſequenzen 
ſeiner eigenen Politik anſprechen, und wenn er 
ſelbſt dieſe Konſequenzen nicht gezogen hat, ſo lag 
das an gewiſſen, man möchte ſagen Zufälligkeiten 
ſeiner Individualiät, die er als alter Mann nicht 
mehr überwinden konnte und wollte, oder wie bei 
der dreijährigen Dienſtzeit, die ihm, wie wir geſehen 
haben, unweſentlich war, an hiſtoriſchen Bindun⸗ 
gen, die er nicht mehr ſo leicht loswerden konnte. 
Man muß alſo ſozuſagen einen idealen Bismarck 
und einen Bismarck in Fleiſch und Blut unter⸗ 
ſcheiden; von dieſem letzteren hat ſich der neue 
Kurs tatſächlich entfernt und freigemacht, mit 
jenem aber hat er ſich dadurch keineswegs in Wider⸗ 
ſpruch geſetzt, ſondern ihn ſogar erfüllt. 


157 


Nicht viel anders ſteht es mit der auswärtigen 
Politik. Bismarck ſelbſt iſt der Anſicht geweſen, 
daß ſein Nachfolger unſer gutes Verhältnis zu 
Rußland, das er immer noch aufrecht gehalten 
habe, zerſtört habe. Andere glauben, daß um⸗ 
gekehrt unter Caprivi das Verhältnis Deutſch⸗ 
lands zu Rußland beſſer geworden ſei, als es 
zuletzt unter Bismarck geweſen. Richtig iſt, daß 
Caprivi gleich bei ſeinem Amtsantritt den ſoge⸗ 
nannten geheimen Rückverſicherungsvertrag mit 
Rußland, der abgelaufen war, nicht erneuerte. 
Der Grund dieſer Nichterneuerung lag aber nicht 
in einer ſtärkeren Feindſeligkeit gegen Rußland 
oder in einer Annäherung an England, vielmehr 
wurde in der Beratung, die darüber ſtattfand, 
von einem der Teilnehmer, ich vermute, daß 
es Herr von Holſtein geweſen iſt, geltend gemacht, 
daß wenn der Vertrag bekannt würde, er in Oſter⸗ 
reich eine ſehr ſtarke und gefährliche Verſtimmung 
hervorrufen könne, man aber nicht ſicher ſei, ob 
nicht der Altreichskanzler bei ſeinem Temperament 


das Geheimnis einmal herauslaſſe. Dieſe Er⸗ | 


wägung gab den Ausſchlag und daß fie nicht un⸗ 
berechtigt war, hat ja die Folgezeit bewieſen, als 


158 


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Bismarck tatſächlich, aus welchem Grunde auch 
immer, den Vertrag kundbar gemacht hat. 

Die Frage, wie man ſich diplomatiſch am beſten 
zu Rußland geſtellt hätte und ob dieſe oder jene 
Maßregel richtig oder fehlerhaft war, hat heute 
ſehr an Intereſſe verloren, da niemand mehr be⸗ 
zweifelt, daß die wilde Flut des Panſlawismus 
ſich durch keinerlei diplomatiſche Mittel auf die 
Dauer hätte eindämmen laſſen. 

In den erſten Jahren der Regierung Nikolaus' II. 
war, wie jüngſt ein Hiſtoriker bemerkt hat“), das 
Verhältnis zwiſchen Berlin und Petersburg zeit⸗ 
weilig ſehr viel herzlicher als in den letzten Jahren 
Bismarcks. Aber was hat es genützt? Wir konnten 
nichts anderes tun, als die Bismarckſche Politik 
fortſetzen, die eingeſtellt war auf den Zaren und 
ſeine Ratgeber, aber die alte ruſſiſche Autokratie 
iſt allmählich dahingeſchwunden; der Zar und 
ſeine Ratgeber haben ſich mehr und mehr vom 
Steuerruder verdrängen laſſen müſſen, und die 
fanatiſchen Inſtinkte der Panſlawiſten, der ruſſiſchen 
Intelligenz, die die ungeheuren moskowitiſchen 


) Luckwaldt, „Bismarcks Erbſchaft und der Krieg“, 
„Das neue Deutſchland“, Bismarck⸗Nummer, S. 183. 


159 


Maſſen hinter fich herzieht, regieren das Reich 
und drängen fort und fort zu immer größeren 
Eroberungen. Wie wir die Dinge jetzt ſehen, iſt 
es nicht erſtaunlich, daß wir im Jahre 1914 in den 
Krieg geraten ſind, ſondern nur, daß er ſich ſeit 
dem Jahre 1879, wo uns Rußland zum erſten 
Male damit bedrohte, bis zu dieſem Jahre hat 
hintanhalten laſſen können. 

Richtig iſt, daß mit dem Einſetzen einer aktiven 
deutſchen Orientpolitik und der Anknüpfung näherer 
Beziehungen zur Türkei, auf deren innere Natur 
noch zurückzukommen ſein wird, der neue Kurs 
mittelbar eine ſchärfere Stellung gegen Rußland 
nahm und inſofern von dem alten abgewichen iſt. 
Bismarck ſelber hat ſich darüber noch öfter tadelnd 
geäußert. Aber die Abweichung wird wieder 
geringer als ſie ſcheint, wenn man herausarbeitet, 
wie ſehr ſie ſchon unter Bismarck ſelbſt angelegt 
war. Freilich hat er erklärt (1887), „wir werden 
uns wegen dieſer Frage (der orientaliſchen) von 
niemand (d. h. von Oſterreich⸗Ungarn) das Leitſeil 
um den Hals werfen laſſen“, und alle jene Fragen 
berührten die deutſchen Intereſſen nur inſoweit, 
als das Deutſche Reich mit Oſterreich in ein ſoli⸗ 


160 


dariſches Haftverhältnis trete. Aber eben dieſes 
ſolidariſche Haftverhältnis hat er ja nicht nur ge⸗ 
ſchaffen, ſondern ſogar gewünſcht, das internationale 
Bündnis zu einem in beiden Reichen verfaſſungs⸗ 
mäßig unauflöslichen zu machen, und ſchon im 
Sommer 1880 befürwortete er die Entſendung einer 
Militärmiſſion nach der Türkei mit der Erwägung: 
„Wenn in Rußland der Chauvinismus, der Pan⸗ 
ſlawismus und die antideutſchen Elemente uns an⸗ 
greifen ſollten, ſo wären die Haltung und die Wehr⸗ 
haftigkeit der Türkei für uns nicht gleichgültig. 
Gefährlich könnte ſie uns niemals werden, wohl 
aber könnten unter Umſtänden ihre Feinde auch 
unſere werden.“ Immerhin bleibt ein weſentlicher 
Unterſchied zwiſchen dieſen Maßregeln und der 
Politik des neuen Kurſes, und der tiefere Grund 
dieſer Abweichung wird noch in einem allgemeinen 
Zusammenhang zu erörtern fein. 
Daß gerade der General von Caprivi Bismarcks 
Nachfolger wurde, iſt wohl einigermaßen auf ihn 
ſelbſt zurückzuführen; ſchon als er ihn als jungen 
General kennen lernte, hat er zu ſeinem Kabinetts⸗ 
chef geäußert: „in dieſem Mann ſtecke ein zukünfti⸗ 
ger Kanzler“. Nachdem er ihn dann als ſeinen 


6 Delbrück, Bismarcks Erbe 161 


unmittelbaren Untergebenen (Staatsſekretär des 
Reichsmarineamts 1883-1888) genauer kennen 
gelernt hatte, da nahm er ihn, als er ſeine letzte 
Idee der gewaltſamen Niederſchlagung der Sozial⸗ 
demokratie ins Auge faßte, für dieſen Kampf als 
Miniſterpräſidenten in Ausſicht; nicht wegen ſeiner 
politiſchen Anſichten, wie er es ſpäter erklärt hat, 
ſondern wegen ſeiner hervorragenden Charakter⸗ 
eigenſchaften — freilich eine Unterſcheidung, die 
praktiſch nicht ſtandhält, denn wie hätte er einen 
Miniſterpräſidenten neben ſich ſtellen können, 
von dem er nicht vorausſetzte, daß er ſehr ähnliche 
politiſche Anſchauungen habe wie er ſelber? 
Fragen wir, wie Caprivi es zuſtande gebracht 
hat, mit dem Reichstag auszukommen, da doch ein 
Bismarck an dieſer Möglichkeit bereits verzweifelt 
hatte, ſo iſt wieder der Grund nicht in abweichenden 
Prinzipien zu ſuchen, ſondern in der Tatſache, daß 
der Nachfolger perſönlich von gewiſſen hiſtoriſchen 
Bindungen, von denen ſich Bismarck nicht mehr zu 
löſen vermochte, frei war. Zwiſchen dem Zentrum 
und Bismarck und noch mehr zwiſchen der deutſch⸗ 
freiſinnigen Partei und Bismarck hatten die jahr⸗ 
zehntelangen Kämpfe einen Abgrund des Haſſes 


162 


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ausgehöhlt, der nicht mehr zu überbrücken war. 
Mit Bismarck hätte das Zentrum nur unter unan⸗ 
nehmbaren Bedingungen, die deutſch⸗freiſinnige 
Partei überhaupt nicht verhandelt. Caprivi waren 
die beiden Oppoſitionsparteien bereit, entgegenzu⸗ 
kommen, und auch er kam ihnen entgegen, nament⸗ 
lich mit der zweijährigen Dienſtzeit. Bismarck, der 
eine dreijährige Dienſtzeit feſthalten wollte, hätte 
mit ihr die große Armeevermehrung im Reichstag 
niemals durchgebracht. 

Er verſtand in Friedrichsruh die beſſeren Be⸗ 
ziehungen zwiſchen den beiden Faktoren der Ge⸗ 
ſetzgebung ſo wenig, daß er glaubte, der Reichs⸗ 
tag getraue ſich nicht mehr ſolche Oppoſition zu 
machen, wie einſt ihm, gerade weil es den Männern 
des neuen Kurſes ſo gänzlich an Autorität und Er⸗ 
fahrung mangele, und warf dem Reichstag des⸗ 
halb geradezu Nachgiebigkeit, Schwäche und Leiſe⸗ 
treterei vor.“) So leicht iſt es Caprivi auf die 
Dauer freilich doch nicht geworden. Auch er ſtieß 
auf die alte antimilitariſtiſche Oppoſition, aber mit 
der Gabe der zweijährigen Dienſtzeit in der Hand 


) H. Hoffmann, Fürſt Bismarck 1890—98. Bd. III, 
S. 59, 104. 


67 163 


konnte er es endlich wagen, den Reichstag aufzu- 
löſen, ſprengte damit die deutſch⸗freiſinnige Partei 
in zwei Teile, lockte auch die Polen an ſich und ge⸗ 
wann ſo die Majorität. 

- Auf demſelben Wege ſetzte er auch die Bewil⸗ 
ligungen für die Flotte durch, auf die noch im Zu⸗ 
ſammenhange mit der deutſchen Weltpolitik und der 
Erwerbung Helgolands zurückzukommen ſein wird. 

Trotz aller ſeiner Erfolge iſt das Andenken 
Caprivis in der Erinnerung des deutſchen Volkes 
ſchwer belaſtet. Zunächſt durch zwei anſcheinende 
oder wirkliche legislatoriſche Mißgriffe: eine 
Gruppe von Handelsverträgen und das Volks⸗ 
ſchulgeſetz des Grafen Zedlitz. Die Handelsver⸗ 
träge haben der deutſchen Volkswirtſchaft un⸗ 
zweifelhaft den größten Nutzen geſchaffen, aber ſie 
beruhten in einem Punkt auf einem Irrtum. Der 
ſchlechte Ausfall der Wahlen im Jahre 1890 war, 
wie wir geſehen haben, zum Teil darauf zurückzu⸗ 
führen, daß die Weltmarktpreiſe für Getreide an⸗ 
gezogen hatten und der im Jahre 1887 erhöhte 
Kornzoll infolgedeſſen als Brotwucher erſchien. 
Die Handelsverträge ſetzten deshalb den Kornzoll, 
zwar nicht ſehr, aber doch um einiges, von 5,5 Mark 


164 


auf 3,5 Mark herab, wofür der Landwirtſchaft, zu⸗ 
mal der oſtdeutſchen, eine Kompenſation, vielleicht 
ſogar eine Überkompenſation durch Aufhebung des 
Identitätsnachweiſes beim Export von Getreide 
gewährt wurde. Unmittelbar darauf begannen 
aber die Weltmarktpreiſe aufs neue rapid zu 
ſinken, was niemand vorausgeſehen hatte. Kein 
Wunder, daß, als die deutſche Landwirtſchaft nun 
in große Not geriet, ſie die Schuld bei den Handels⸗ 
verträgen ſuchte und eine gewaltige Agitation gegen 
Caprivi in Szene ſetzte. Man mag zugeben, daß 
Bismarck viel zu ſehr Agrarier geweſen wäre, um 
jene Herabſetzung der Zölle zu dulden, und daß 
hier wirklich eine Abweichung von ſeinem Kurſe 
vorliegt. Aber auf der anderen Seite iſt nicht zu 
vergeſſen, daß ohne die Milderung dieſer Zölle 
und ohne die Handelsverträge dem leitenden 
Staatsmann die Sprengung der deutſch⸗frei⸗ 
ſinnigen Partei ſchwerlich gelungen wäre. 

Dem Zedlitz ſchen Volksſchulgeſetz wurde der 
Vorwurf gemacht, daß es die Klerikaliſierung der 
Volksschule bedeute. Mir ſcheint, daß das doch 
nur in wenigen Punkten der Fall war, über die 
eine Vereinigung mit den Nationalliberalen wohl 


165 


zu erzielen geweſen wäre, und daß weniger durch 
die Fehler in der Sache ſelbſt, als durch einige par⸗ 
lamentariſch⸗taktiſche Fehler des Kultusminiſters 
und Caprivis ſelbſt das Geſetz zu Falle gekommen 
iſt. Einen Gegenſatz zur Bismarckſchen Politik darf 
man daraus aber kaum konſtruieren, wenn man 
ſich an deſſen letzte Verhandlungen mit Windthorſt 
erinnert und nachlieſt, daß er in jenen Tagen 
verkünden ließ, die Vorſtellung, daß die Konſer⸗ 
vativen ſich niemals mit dem Zentrum verſtän⸗ 
digen könnten, beweiſe nur, daß der Freiſinn nicht 
den Mut beſitze, der Wahrheit ins Auge zu ſehen. 

Der wirkliche und letzte Grund, weshalb Caprivi 
in der Erinnerung des deutſchen Volkes heute noch 
mit einer Art von Haß verfolgt wird, iſt kein anderer, 
als daß er eben der Nachfolger Bismarcks geweſen 
iſt und mit dieſem dann in die peinlichſten perſön⸗ 
lichſten Reibereien geriet. Bismarck hatte daran 
nicht weniger Schuld als Caprivi — aber wie 
konnte ſich dieſer überhaupt auf ſolchen Kampf 
einlaſſen? Die große Maſſe des Volkes glaubte 
ohnehin, daß die Entlaſſung Bismarcks nichts als 
eine Sache der Laune und der Intrige geweſen 
ſei. Nun wurde der Held ſogar noch perſönlich ver⸗ 


166 


unglimpft und gemißhandelt. Selbſt diejenigen, 
die ſchon damals die innere Notwendigkeit von 
Bismarcks Abgang erkannten, verlangten dennoch, 
daß der Vater des Vaterlandes, was er ſich auch 
ſelber zuſchulden kommen laſſe, doch ſtets mit der 
Ehrerbietung behandelt werde, die ſeinem Ver⸗ 
dienſt gebührte und die die einfache Dankbarkeit 
verlangte. 

Dieſer Fehler hat es verſchuldet, daß das frucht⸗ 
bare und, wie wir geſehen haben, in der Tiefe 
dem Geiſte Bismarcks ſehr verwandte Wirken 
Caprivis ihm doch keinerlei Anerkennung im Den⸗ 
ken und Empfinden des deutſchen Volkes einge⸗ 
bracht hat. 

Ein ſehr erfahrener und ſehr eingeweihter Par⸗ 
lamentarier ſagte mir einmal, eigentlich habe 
Graf Walderſee auf die Reichskanzlerſchaft ſpeku⸗ 
liert, ſich aber zuletzt doch geſagt: Nachfolger 
Bismarcks? Das iſt unter allen Umſtänden ein 
ſehr ſchlechtes Geſchäft — Nachfolger ſeines Nach⸗ 
folgers aber würde er gern geworden ſein. 

Was von Caprivi gilt, gilt nun im weſentlichen 
auch von ſeinen Nachfolgern. Sie haben, von 
Kaiſer Wilhelm berufen, die deutſche Politik als 


167 


Erbe Bismarcks zu verwalten geſucht. Einmal 


fand noch, an den Namen des Miniſters von Köller 
anknüpfend, ein böſer Rückſchlag in den falſchen 
Bismarckianismus ſtatt, der eine ſo große Be⸗ 
wegung wie die Sozialdemokratie glaubte mit 
Polizeimaßregeln niederhalten zu können, aber 
bald bog man von dieſem falſchen Kurſe wieder ab, 
um nun endlich zu jener wahren Verwaltung 
eines großen Erbes überzulenken, die nicht bloß 
auf Erhaltung, ſondern auf Mehrung und Steige⸗ 
rung des Ererbten bedacht iſt. 

Als Bismarck am 18. Januar 1871 im Kaiſer⸗ 
ſaale des Verſailler Schloſſes die Kaiſerproklama⸗ 
tion verlas, da ſoll auch ihn, den Eiſernen, die 
innere Erregung faſt überwältigt haben. Der 
Kanzler ſprach, wie ein Augenzeuge berichtet, 
anfangs mit einer vor Erregung keuchenden Bruſt, 
bleichem Antlitz und ſo blutleeren Ohren, daß ſie 
faſt durchſichtig waren. Mit Mühe rangen ſich die 
erſten Sätze aus der Bruſt, aber allmählich wurde 
die Stimme klar und durchdrang den Saal, be⸗ 
ſonders bei den Schlußworten „Wir übernehmen die 
kaiſerliche Würde in dem Bewußtſein der Pflicht, 
in deutſcher Treue die Rechte des Reiches und 


168 


jeiner Glieder zu ſchützen, den Frieden zu wahren, 
die Unabhängigkeit Deutſchlands, geſtützt auf die 
geeinte Kraft ſeines Volkes, zu verteidigen. Wir 
nehmen ſie an, in der Hoffnung, daß es dem deut⸗ 
ſchen Volke vergönnt ſein wird, den Lohn ſeiner 
heißen und opfermütigen Kämpfe in dauerndem 
Frieden und innerhalb der Grenzen zu genießen, 
welche dem Vaterlande die ſeit Jahrhunderten 
entbehrte Sicherung gegen erneute Angriffe 
Frankreichs gewähren. Uns aber und unſeren 
Nachfolgern an der Kaiſerkrone wolle Gott ver⸗ 
leihen, allzeit Mehrer des Deutſchen Reiches zu 
ſein, nicht an kriegeriſchen Eroberungen, ſondern 
an den Gütern und Gaben des Friedens auf 
dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und 
Geſittung.“ 

Alle die zwanzig Jahre, die es Bismarck noch 
vergönnt war, am Steuerruder des Staates zu 
ſitzen, hat er im Sinne dieſer Worte ſeines Amtes 
gewaltet. Deutſchland war nach ſeinem Ausdruck 
„ſaturiert“; nach keiner Richtung bedurfte es einer 
Erweiterung. Jedem Gedanken, einmal fremd⸗ 
ſprachiges Gebiet für Deutſchland zu erwerben, 
war er nicht nur abhold, ſondern direkt feindlich, 


169 


ſo daß er im Verſailler Frieden ſelbſt Metz nur ſehr 
ungern auf das Andringen Moltkes genommen hat. 
Das neue Reich wollte nichts, als ſich ſelbſt ſchützen 
und den Frieden, und die fruchtbare Geſetzgebung, 
die dieſe beiden Jahrzehnte erfüllt, gaben auch 
dem deutſchen Geiſte und ſeinem Streben vollauf 
Beſchäftigung und Genugtuung. Nicht gerade 
häufig, aber doch zuweilen, ſind Völkern ſolche 
Perioden einer gewiſſen Ruhe vergönnt geweſen. 
Wir wiſſen, daß dieſe Ruhe auch nur eine ſehr 
relative war, daß man wohl auch gerade umgekehrt 
ſagen kann, es iſt eine Zeit heftiger innerer Kämpfe 
und Spannungen geweſen; Ruhe war es nur in⸗ 
ſofern, als man nach außen im Frieden lebte und 
im Innern, wenn man die auf Bismarcks Abgang 
folgenden beiden Dezennien hinzunimmt, ſich die 


überlieferten Probleme allmählich löſten, die be⸗ 


ſtehenden Formen ſich befeſtigten. 

Die Weltgeſchichte aber ſteht nicht ſtill und ein 
Volk auch nicht, oder wenn es ſtill ſtehen ſollte, 
ſo würde es erſtarren, ſeine geiſtigen Kräfte nicht 
nur nicht ausbilden, ſondern ſie allmählich ver⸗ 
lieren. Die materiellen Güter, das Streben nach 
ihnen, der Genuß und die materialiſtiſche Geſin⸗ 


170 


nung gewinnen dann nach und nach die Ober- 
hand. 

Die Deutſchen konnten, nachdem ſie ihre natio⸗ 
nale Einheit nach außen und innen erkämpft, 
ſich nicht für immer damit begnügen, eine euro⸗ 
päiſche Kontinentalmacht zu ſein, den Frieden zu 
wahren und den anderen Kulturvölkern zu über⸗ 
laſſen, die Meere zu beherrſchen und die Kon⸗ 
tinente unter ſich zu verteilen. In Europa freilich 
konnten ſie ſich für „ſaturiert“ erklären, aber die 
Zeit mußte kommen, wo ſie ſich von der Kontinen⸗ 
talmacht zur Weltmacht erheben, Weltpolitik 
treiben und ein Kolonialvolk werden mußten.“) 

*) Meine eigene Auffaſſung vom Weſen der Kolonial⸗ 
politik habe ich niedergelegt in dem Aufſatz „Über die 
Ziele unſerer Kolonialpolitik“ in den „Preußiſchen Jahrb.“ 
Bd. 147 S. 503 (1912), der in der engliſchen Militär⸗Zeit⸗ 
ſchrift „Journal of the United Service Institution“ über- 
ſetzt wurde und jetzt von der Atlantie Monthly in Boſton, von 
mir mit einer auf die Gegenwart bezüglichen Einleitung ver⸗ 
ſehen, für das amerikaniſche Publikum neugedruckt worden 
iſt. Für das Nachfolgende habe ich noch weſentlich die eben 
erſchienene höchſt wertvolle „Geſchichte der deutſchen Ko⸗ 
lonialpolitik“ von Dr. Alfred Zimmermann (Berlin, 
E. S. Mittler) und die ſehr exakt gearbeitete Schrift „Vor⸗ 
ausſetzungen und Veranlaſſungen für Bismarcks Eintritt 
in die Weltpolitik“ von Maximilian v. Hagen (Verlag 


171 


Jedes wahrhaft große Volk iſt ein Koloniſations⸗ 
volk. Das heutige deutſche Volkstum iſt geſchaffen 
worden durch gewaltige Koloniſation. Das Reich, 
das einſt Ludwig der Deutſche aus dem Erbe 
Karls des Großen übernahm, reichte im Oſten nur 
bis an die Ens, an den Böhmerwald, das Fichtel⸗ 
gebirge, an die Saale und Elbe. Der Überſchuß 
der germaniſchen Volkskraft hat faſt das ganze 
heutige Deutſch⸗Oſterreich, Sachſen, Schleſien, 
Brandenburg, Mecklenburg, Oſtholſtein, Preußen 
und große Teile von Poſen und Weſtpreußen im 
Laufe von einigen Jahrhunderten dem Deutſch⸗ 
tum gewonnen, auch Kurland, Livland, Eſt⸗ 
land in den Oberſchichten germaniſiert. Die welt⸗ 
geſchichtliche Nachwirkung Friedrich Barbaroſſas 
iſt vor allem, daß er durch ſeine maßvolle Politik 
im Innern eine Stellung über den Parteien ge⸗ 
wann und dadurch die Ausdehnung des deutſchen 
Gebiets nach Oſten über die Oder hinaus von 
der Grenzboten 1914) herangezogen und mich in der 
Weiterführung meiner Auffaſſung in erſter Linie beſtim⸗ 
men laſſen durch die ganz ausgezeichnete Schrift von Prof. 
Kurt Wiedenfeld „Der Sinn des deutſchen Kolonial- 


beſitzes“ (A. Markus und E. Weber, Bonn), aus der ich 
manche Sätze wörtlich übernommen habe. 


172 


Schleſien bis nach Pommern ermöglichte. Im 
14. Jahrhundert kamen dieſe Erwerbungen ins 
Stocken, und als die neuen Weltteile entdeckt und 
in den europäiſchen Verkehr und Machtbereich 
gezogen wurden, da war Deutſchland nicht fähig, 
ſich an den Koloniſationen, die nun hier begonnen 
wurden, zu beteiligen. Die Spanier, Portugieſen, 
Franzoſen, Niederländer und Engländer und nach 
anderer Richtung die Ruſſen teilten ſich in die Welt. 
Sollte das kraftſtrotzende deutſche Volk auf immer 
hiervon ausgeſchloſſen ſein? 

Es iſt ein Irrtum, wenn man ſich vorſtellt, daß, 
als das Deutſche Reich gegründet wurde und damit 
unſer Volk in die Reihe der großen Nationalſtaaten 
eintrat, die außereuropäiſche Welt bereits vergeben 
geweſen ſei. Das Innere von Afrika, eines ganzen 
Weltteiles, war nicht nur noch nicht vergeben, 
ſondern noch nicht einmal bekannt. Erſt nach der 
Mitte der ſiebziger Jahre durchquerte Stanley 
als erſter Weißer das afrikaniſche Zentralgebiet, 
und welche Maſſe von ſonſtigen großen und frucht⸗ 
baren Landſchaften ſind ſeitdem noch unter die 
Herrſchaft europäiſcher Völker getreten! Die 
Engländer, Franzoſen und Italiener haben große 


173 


Stücke des Türkiſchen Reiches, Agypten, Tunis und 
Tripolis abgegliedert und unter ihre Obhut ge⸗ 
nommen. An Agypten hat England den zukunfts⸗ 
reichen Sudan angeſchloſſen. Die Engländer 
haben ihr vorderindiſches Reich noch fortwährend 
ausgedehnt, Belutſchiſtan hinzugefügt und waren 
in den letzten Jahren im Begriffe, ſich mit Rußland 
in Perſien zu teilen. Schritt für Schritt iſt ihnen 
Rußland von Norden her in der Richtung auf 
Indien entgegengerückt. In Hinterindien haben 
neben den Engländern die Franzoſen ein gewaltiges 
Kolonialreich in Beſitz genommen. Ob China ein 
ſelbſtändiger Staat bleiben oder ähnlich wie Indien 
unter England, ſo unter die Herrſchaft Japans 
kommen wird, oder etwa zwiſchen Japan, England 
und Rußland verteilt wird, iſt heute noch nicht ab⸗ 
zuſehen. Das Hauptgebiet der eigentlichen Kolo⸗ 
nialerwerbungen aber iſt Afrika geblieben. Die 
Franzoſen haben ſich von Algier bis zum Kongo 
ausgedehnt, ſich im Nordweſten Marokkos be⸗ 
mächtigt, im Südoſten der Inſel Madagaskar. 
Englands Beſitzung in Kapland dehnte ſich immer 
weiter nach Norden aus und hat endlich auch die 
beiden Burenrepubliken verſchlungen. In Zentral⸗ 


174 


afrika gründete König Leopold II. von Belgien 
das eigentümliche Gebilde des Kongoſtaates, 
nicht als eine Kolonie des Königreiches Belgien, 
ſondern als eine Art internationaler Unternehmung 
mit dem König von Belgien an der Spitze. Wenn 
alle dieſe Verſchiebungen und Erweiterungen ſich 
noch nach der Gründung des Deutſchen Reiches 
haben vollziehen können, weshalb hat das Deutſche 
Reich nicht von Anfang an, indem es ſeine neu⸗ 
gewonnene Macht einſetzte, ſich an dieſer Erwerbs⸗ 
politik beteiligt? 

Schon früh ſind im 19. Jahrhundert vereinzelte 
Stimmen laut geworden, die deutſche Kolonien 
verlangten und im Jahre 1867, zwiſchen den beiden 
großen Kriegen, veröffentlichte Lothar Bucher in 
dem offiziöſen Organ der Regierung, der „Nord⸗ 
deutſchen Allgemeinen Zeitung“, eine Reihe von 
Artikeln in dieſem Sinne. Auch beim Friedens⸗ 
ſchluß 1871 haben ſich einige Stimmen erhoben, 
die darauf hinwieſen, daß Deutſchland von Frank⸗ 
reich auch Kolonien erwerben könne. Aber ſie 
blieben ganz vereinzelt. Erſt im Beginn der 
achtziger Jahre dürfen wir wirklich von Anfängen 
einer deutſchen Kolonialbewegung ſprechen. Aber 


175 


jie ging nicht von der Regierung aus und ebenſo⸗ 
wenig von der öffentlichen Meinung, im Sinne 
einer Bewegung großer Maſſen. Einzelne Perſön⸗ 
lichkeiten waren es, hanſeatiſche Kaufleute, wie 
Woermann in Hamburg, Lüderitz in Bremen, 
Großkaufleute wie Colin und Hanſemann, Welt⸗ 
reiſende wie Claus v. d. Decken, Brenner, Kerſten, 
Rohlfs, v. Weber, Schweinfurth, Nachtigal, v. 
Maltzan, Miſſionare wie Fabri und junge Aben⸗ 
teurer oder Idealiſten, Karl Peters, Jühlke, Graf 
Joachim Pfeil, Gebrüder Denhardt, die mit pro⸗ 
phetiſchem Blick ein neues Zukunftsdeutſchland zu 
ſchauen glaubten oder auf eigene Hand hinaus⸗ 
fuhren, um es zu verwirklichen. 

Es iſt höchſt merkwürdig, wie der leitende Staats⸗ 
mann ſich zu dieſen neuen Ideen ſtellte. Zunächſt 
lehnte er ſie trotz Bucher prinzipiell ab, da das 
Reich ſelbſt noch nicht fertig ſei, oder wie er es 
in ſeiner bilderreichen Sprache draſtiſch ausdrückte, 
„dieſes Kolonialgeſchäft wäre für uns genau ſo, 
wie der ſeidene Zobelpelz in polniſchen Adels⸗ 
familien, die keine Hemden haben“. Ende der 
ſiebziger Jahre ſchrieb er „ich bin nicht ohne Sorge, 
daß wir durch faktiſches Vorgehen der Marine 


176 


„ ²˙ͤ;ͤ5t ⅛Z:X ]¶˙ w-w-ml,‚ k ˙m.t »-m -̃ . 


in eine Gründung hineingeraten, die einer kaiſer⸗ 
lich deutſchen Kolonie nicht unähnlich ſieht“. Er 
ſei von Haus aus kein Kolonialmenſch. Als Kom⸗ 
merzienrat Baare in Bochum wieder einmal 
den Erwerb Formoſas empfahl, bemerkte Bis⸗ 
marck (1883): „Zu Kolonien gehört ein Mutter⸗ 
land, in dem das Nationalgefühl ſtärker iſt als der 
Parteigeiſt.“ „Mit dieſem Reichstag iſt es ſchon 
ſchwer genug, dem Reiche zu erhalten, was es 
hat, ſogar das Heer im Inlande. Solange das 
Reich finanziell nicht konſolidiert iſt, dürfen wir an 
ſo teure Unternehmungen nicht denken.“ 

Aber bei dieſer reinen Negation konnte er nicht 
bleiben. Der Inſtinkt ſeines Genius ſagte ihm, 
daß er unmöglich eine ſolche Bewegung einfach 
ablehnen, ſich einer derartigen Zukunftspolitik 
völlig verſagen könne. Dazu kamen wiederholte 
Beſchwerden von deutſchen Kaufleuten, die an der 
Küſte von Afrika oder in der Südſee Handel trieben 
und weder bei den wilden Häuptlingen noch den 
Engländern einen Rechtsſchutz fanden. Dem 
konnte der Deutſche in dem neuen Reiche nicht 
mehr ausgeſetzt bleiben. Aber unmöglich war es 
auch wiederum, daß der Kanzler die Aufgabe etwa 


177 


in demſelben Stil der Großartigkeit angriff, wie 
er einſt den deutſchen Nationalſtaat ins Auge ge⸗ 
faßt hatte, oder die Grundlinien für die neue 
Sozialpolitik zog. Er ſuchte nach einem Mittelweg. 
Das franzöſiſche Syſtem, wie er es nannte, mili⸗ 
täriſche Beſitzergreifung und Errichtung einer ſtaat⸗ 
lichen Verwaltung, verwarf er. Statt deſſen kam 
er auf einen öfter von England angewandten Modus, 
nämlich die Erteilung von kaiſerlichen Schutz⸗ 
briefen für Private, die auf eigene Koſten, Gewinn 
und Gefahr ein Gebiet erwerben und verwalten 
wollten. Fürſtliche Kaufleute oder Geſellſchaften 
konnten auf dieſem Wege Kolonialpolitik treiben, 
ohne das Reich finanziell zu belaſten und es poli⸗ 
tiſch gleich unwiderruflich zu engagieren. Das 
koloniale Programm ſollte ſein: Schutz den deut⸗ 
ſchen Pionieren, nicht ſtaatlicher Kolonialbeſitz. 
Nach dieſem Grundſatz wurde ſeit Anfang der 
achtziger Jahre verfahren. Aber der erſte Wider⸗ 
ſacher, auf den er dabei ſtieß, war die deutſche 
Volksvertretung. Zwar erklärten ſchon im März 
1885 ſämtliche Parteien (mit Ausnahme der Polen 
und Sozialdemokraten) ihre Zuſtimmung zu der 
Kolonialpolitik nach dem vom Kanzler entwickelten 


178 


Programm. Die Redner des Zentrums verſicher⸗ 
ten, „daß die Majorität des Reichstags niemals 
fehlen würde, wo es ſich darum handelt, das An⸗ 
ſehen und die Ehre des Deutſchen Reiches zu 
wahren“, und daß das Zentrum voll und ganz 
dabei ſei, wenn es ſich darum handele, eine ge⸗ 
ſunde, nicht abenteuerliche Kolonialpolitik ins 
Werk zu ſetzen. Der Abg. Frhr. v. Stauffenberg 
erklärte namens der Freiſinnigen, „daß wir, wie 
wir es ſchon früher getan haben, die Politik, die 
der Herr Reichskanzler in der bekannten Sitzung 
des vorigen Jahres ausführlich entwickelt hat, voll⸗ 
ſtändig billigen und bereit ſind, ſie in dieſem Um⸗ 
fang zu unterſtützen“. Aber das ging über die 
Theorie nicht weit hinaus, da ja der Kanzler ſelbſt 
eigentlich nichts forderte. Kamen wirkliche For⸗ 
derungen, ſo ging die Maſchine ſehr ſchwer. Bis⸗ 
marck mußte deshalb (18. März 1886) dem Kolo⸗ 
nialverein in Halle ſchreiben: „Bei der Zurück⸗ 
haltung, mit welcher die Mehrheit des Reichstages 
unſeren kolonialen Beſtrebungen bisher gegenüber⸗ 
ſteht, vermag ich dem deutſchen Unternehmungs⸗ 
geiſte in anderen Weltteilen nicht das Maß von 
Unterſtützung zuzuwenden, welches dem nationalen 


179 


Intereſſe entſprechen würde“; und (amd. Juni 1889) 
dem Miſſionsinſpektor Fabri: „Was die koloniale 
Frage im allgemeinen betrifft, ſo iſt zu bedauern, 
daß dieſelbe in Deutſchland von Hauſe aus als 
Parteiſache aufgefaßt wurde, und daß im Reichstag 
Geldbewilligungen für koloniale Zwecke immer noch 
widerſtrebend und mehr aus Gefälligkeit für die 
Regierung oder unter Bedingungen eine Mehrheit 


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finden. Die Kaiſerliche Regierung kann über ihr 


urſprüngliches Programm bei Unterſtützung über⸗ 
ſeeiſcher Unternehmungen nicht aus eigenem An⸗ 
triebe hinausgehen und kann nicht die Verantwor⸗ 
tung für Einrichtung und Bezahlung eigener Ver⸗ 
waltungen mit einem größeren Beamtenperſonal 
und einer Militärtruppe übernehmen, ſolange die 
Stimmung im Reichstage ihr nicht helfend und 
treibend zur Seite ſteht und ſolange nicht die 
nationale Bedeutung überſeeiſcher Kolonien all⸗ 
ſeitig ausreichend gewürdigt wird und durch 
Kapital und kaufmänniſchen Unternehmungsgeiſt 
. . . Förderung findet.“ 

Die mangelnde Triebkraft in der Volksvertre⸗ 
tung erzeugte doppelte Vorſicht dem Auslande 
gegenüber. 


180 


Nicht nur engliſche, ſondern auch franzöſiſche 
Intereſſen, wurde den Unternehmern eingeſchärft, 
müßten ſorgſam geſchont werden. Das Wort 
„Englands Freundſchaft iſt uns wichtiger als 
Zanzibar und ganz Oſtafrika“, mag in dieſer Form 
nicht gefallen ſein, immerhin liegen Außerungen 
Bismarcks vor, die dasſelbe ſagen. 

Im Reichstag ſelbſt erklärte er (26. Januar 
1889): „Ich betrachte England als den alten tra⸗ 
ditionellen Bundesgenoſſen, mit dem wir keine 
ſtreitigen Intereſſen haben; — wenn ich ſage 
„Bundesgenoſſen', jo iſt das nicht in diplomatiſchem 
Sinne zu faſſen; wir haben keine Verträge mit 
England — aber ich wünſche die Fühlung, die wir 
ſeit nun mindeſtens 150 Jahren mit England ge⸗ 
habt haben, feſtzuhalten, auch in den kolonialen 
Fragen. Und wenn mir nachgewieſen würde, 
daß wir die verlieren, ſo würde ich vorſichtig werden 
und den Verluſt zu verhüten ſuchen.“ 

Als Peters ein halbes Jahr ſpäter ſeinen Zug 
über Witu ins Innere Afrikas antrat, erklärte die 
Regierung in der „Norddeutſchen Allgemeinen 
Zeitung“, daß, falls das Komitee ſie befragt haben 
würde, ſie von dem Unternehmen dringend abge⸗ 


181 


raten haben würde. „Die beſtehende Freundſchaft 
mit England iſt für uns von größerem Werte als 
alles, was die Expedition am oberen Nil im gün⸗ 
ſtigſten Falle erreichen könnte.“ Einige Tage 
ſpäter wurde ſogar erklärt, man beſorge nur die 
Geſchäfte unſerer europäiſchen Gegner, wenn 
man Deutſchland mit ſeinen Freunden (den Eng⸗ 
ländern) verhetze. „In Oſtafrika überſchreitet die 


Ausdehnung unſerer Gebiete ſchon jetzt die zu 


ihrer Ausnützung verfügbaren und bereiten Kräfte.“ 
Ganz im Einklang damit wurde im Oktober an Hol⸗ 
ſtein die Inſtruktion gegeben, die Erhaltung von 
Lord Salisbury als leitender Miniſter habe für 
Bismarck mehr Wert als ganz Witu. 

So iſt Oſtafrika eigentlich von Karl Peters gegen 
den Willen Bismarcks für Deutſchland erworben 
worden. 

In Bismarck und Bismarcks Politik iſt alles 
einheitlich. 

Sein höchſtes Ziel war, den Frieden zu erhalten. 
In dieſem Beſtreben verhinderte er im Jahre 1878 
den Krieg, den damals Oſterreich und England 
gegen Rußland führen wollten, und übernahm auf 
dem Berliner Kongreß die undankbare Rolle des 


182 


Friedensvermittlers. Im Winter 1884/85 verhin⸗ 
derte er den ſtündlich erwarteten Krieg zwiſchen 
Rußland und England um Afghaniſtans willen. Um 
des Friedens willen wandte er mit der Zeit allen 
Mächten Vorteile zu, England Agypten, Frankreich 
ſein ganzes neues Kolonialreich, Oſterreich Bosnien 
und die Herzegowina; Italien hätte er Albanien, 
Rußland Bulgarien gegönnt. Was er für Deutſch⸗ 
land gewann, war verhältnismäßig wenig und 
geringwertig. Aber Deutſchlands Lage war ein⸗ 
mal ſo; auch ein Bismarck konnte das nicht ändern.“) 
Seine nächſten Nachfolger, denen nicht ſeine Welt⸗ 
autorität innewohnte, noch weniger. 

Sie wollten und konnten zunächſt nichts weiter 
tun, als die Bismarckſche Politik mit allmählicher 
Steigerung der öffentlichen Mittel fortſetzen. 

Die Sentenz, die Caprivi nachgeſagt wird: 
„Je weniger Afrika, deſto beſſer,“ finde ich nirgends 
bezeugt, immerhin ſagte er, „daß wir Gott danken 
könnten, wenn uns nicht jemand ganz Afrika 
ſchenkte“ (17. Februar 1894). Er hielt es für 
eine Ehrenpflicht, Gebiete, über denen nun ein⸗ 
mal die deutſche Flagge geweht habe, auch feſt⸗ 

) Vgl. Luckwaldt a. a. O. 


183 


zuhalten, betont auch gleich in feiner erſten Rede 
(12. Mai 1890), daß nicht bloß wirtſchaftliche, 
ſondern auch nationale Intereſſen und Empfin⸗ 
dungen in Betracht kämen, ſein Blick aber war ge⸗ 
bannt durch die Gefahr des ruſſiſch⸗franzöſiſchen 
Krieges. Während Bismarck zwar auch in erſter 
Linie dieſer Sorge nachhing, dabei aber doch immer 
noch an der Hoffnung feſthielt, daß man ihr ſchließ⸗ 
lich entgehen werde, rechnete Caprivi ſchon damit, 
wie ich mich noch erinnere, aus ſeinem eigenen 
Munde gehört zu haben, daß dieſer Krieg früher 
oder ſpäter unvermeidlich ſei. 

Die Vorſicht und Zurückhaltung, mit der die 
Bismarck⸗Capriviſche Kolonialpolitik betrieben 
wurde, verſchaffte Deutſchland wenigſtens indirekt 
einen großen Erfolg: Caprivi erwarb bei der Ab⸗ 
grenzung der engliſchen und deutſchen Gebiete 
in Afrika Helgoland im Austauſch für das kleine 
Königreich Witu (nicht Zanzibar, wie man zu 
ſagen pflegt, wo wir weder Anſprüche noch Aus⸗ 
ſichten hatten), und von welchem unſchätzbaren 
Werte dieſe Erwerbung für uns geweſen iſt, er⸗ 
kennt die allgemeine Meinung eigentlich erſt jetzt. 
Damals zweifelte ſelbſt die Marine daran, ob Hel⸗ 


184 


FF 


goland ihr einen ſtrategiſchen Nutzen ſchaffe, und 
der kommandierende Admiral ſelber äußerte dar⸗ 
über in ebenſo freimütiger, wie wenig weit⸗ 
blickender Weiſe dem Kaiſer ſeine Bedenken. 
Auch Bismarck, der ſich ſchon ſeit längerer Zeit 
bei den Engländern um Helgoland bemüht hatte, 
drückte ſich doch in Friedrichsruh recht zweifelnd 
über ſeinen Wert aus, ja er wies dieſe Erwerbung 
geradezu zurück, eben weil ſeine Politik noch ganz 
und gar auf die Abwehr des ruſſiſch⸗franzöſiſchen 
Angriffs eingeſtellt war und er dabei darauf rech⸗ 
nete, daß England zu uns halten werde. Er legte 
immer den höchſten Wert darauf, England nicht 
etwa auf die franzöſiſche Seite hinüberzutreiben. 
Im Gegenteil, England hat ihm ſogar helfen 
müſſen, was heute merkwürdig genug klingt, 
Italien dem öſterreichiſch⸗deutſchen Bündniſſe zu⸗ 
zuführen. 

In Helgoland aber ſah er, wenn es deutſch 
wurde und England neutral blieb, den Stützpunkt 
für den zukünftigen franzöſiſchen Angriff auf unſere 
Nordſeeküſte. Daß wir einmal eine der franzö⸗ 
ſiſchen gewachſene deutſche Flotte haben würden, 


ſah er noch nicht. 


185 


Die Erwerbung von Helgoland war der einzige 
wirkliche Nutzen, den die deutſche Kolonialpolitik 
dem Reiche in den beiden erſten Jahrzehnten ge⸗ 
bracht hat. Im übrigen endete das Syſtem, das 
Bismarck, wie es ſchien, ſo wohl durchdacht und 
mit immerhin erheblichem Landgewinn aufgebaut 
und ſeine Nachfolger fortgeſetzt hatten, und für das 
allein der Reichstag ſich hatte ſtark machen wollen, 
mit einem, rund herausgeſagt, völligen Banferott.*) 

Die Kräfte, auf die man gerechnet hatte, ver⸗ 
ſagten ſo gut wie vollſtändig. 

Als die erſten „Kaiſerlichen Schutzbriefe“ ver⸗ 
liehen wurden, hatte Heinrich v. Treitſchke jubelnd 
in den „Preußiſchen Jahrbüchern“ (Bd. 54) ver⸗ 
kündigt, jedermann wiſſe, „daß ſie nicht, wie einſt 
jener Anſiedlungsverſuch Kurbrandenburgs, dem 
kühnen Einfall eines großen Kopfes entſtammten, 
ſondern daß eine ganze Nation ſie mit einem freu⸗ 
digen ‚endlich, endlich“ begrüßte.“ Aber der Jubel 
war verfrüht geweſen. Die Volksbewegung war 
wohl da, aber bei weitem nicht ſtark genug. 

Die „fürſtlichen Kaufleute“, die große Kapita⸗ 
lien in eine Kolonie hineinſtecken konnten und 

) Zimmermann S. 192. 


186 


P 


wollten, um die nächſte Generation die Früchte 
ernten zu laſſen, fanden ſich nicht. Die Geſell⸗ 
ſchaften, die halb aus Idealismus, halb aus Ge⸗ 
ſchäftsſinn gegründet wurden, hatten ihre Mittel 
ſchnell verbraucht. Die Perſönlichkeiten, die ent⸗ 
weder auf eigene Hand hinausgingen oder hinaus⸗ 
geſandt wurden, erwieſen ſich meiſt als ungeeignet, 
verſtanden weder politiſch noch wirtſchaftlich noch 
ſozial das Richtige zu tun und ſich richtig zu halten, 
zankten ſich untereinander, waren brutal gegen die 
Eingeborenen undreiztenſie zu Aufſtänden. Gar nicht 
abreißende Kolonialſkandale zeigten den deutſchen 
Nationalcharakter im ungünſtigſten Licht. Zwar iſt 
die Kolonialgeſchichte aller Völker vom Stand⸗ 
punkt der Humanität aus ſehr häufig unerquicklich 
zu leſen, aber in Deutſchland hatte man gehofft, 
daß die aus Idealismus geborene Bewegung von 
ſolchen Greueln unbefleckt bleiben werde. Der 
letzte und der eigentliche Fehler aber war, daß 
man das Koloniſieren unternommen hatte, nicht 
als einen großen politiſchen Akt, ſondern teils 
aus einem unklaren nationalen Tätigkeitsdrang, 
teils in der Vorſtellung, es handle ſich um einen 
rein wirtſchaftlichen Akt, um ein Geſchäft. 


187 


Es hat in der Tat zuweilen Kolonien gegeben, 
die, als rein wirtſchaftliche Unternehmungen in 
Szene geſetzt, ſich rentiert haben. Aber das iſt 
nur geſchehen, wo beſonders günſtige Umſtände 
vorlagen und zuſammentrafen. Gerade indem in 
Deutſchland die erſten Gedanken auftauchten, daß 
auch unſer Volk an der transozeaniſchen Koloni⸗ 
ſation beteiligt werden müſſe, hatte man in Eng⸗ 
land die Rechnung aufgemacht, daß Koloniſation 
keineswegs ein beſonders rentables, ſondern ſogar 
ein verluſtbringendes Geſchäft ſei, und darüber 
das tiefere theoretiſche Verſtändnis für das eigene 
Tun, ſelbſt hier im Mutterlande der modernen 
großen Koloniſationen, ſo gut wie verloren. 

Das 19. Jahrhundert, ſo reich es an idealiſtiſchen 
Gedanken und Taten geweſen iſt, iſt doch in hohem 
Maße erfüllt mit materialiſtiſchen Vorſtellungen. 
Auf dieſem Boden des materiellen Intereſſes, 
das das Leben der Völker beſtimmt, iſt ja die ſo⸗ 
genannte materialiſtiſche Geſchichtsauffaſſung er⸗ 
wachſen, die wiederum ein weſentliches Element 
der ſozialdemokratiſchen Bewegung geworden iſt. 
Kolonien, lehrte man in den fünfziger und ſech⸗ 
ziger Jahren in England, ſeien wirtſchaftliche 


188 


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Unternehmungen und danach zu beurteilen, ob jie 
als ſolche ein gutes Geſchäft darſtellten oder nicht. 
Der große Freihändler Cobden war zu dem Er⸗ 
gebnis gekommen, daß ſchließlich die Bilanz ein 
ſchlechtes Ergebnis aufweiſe, und in vollem Ernſt 
hatte man in England die Frage erörtert, ob es 
nicht am beſten ſei, ſich der Kolonien auf gute 
Manier zu entledigen. Selbſt der leitende engliſche 
Miniſter Gladſtone ſtand dieſen Auffaſſungen nicht 
fern, und bis auf dieſen Tag iſt ja auch in Deutſch⸗ 
land noch die Meinung ganz vorherrſchend, daß 
unſere Kolonialpolitik um wirtſchaftlichen Ge⸗ 
winnes willen inſzeniert worden ſei und betrieben 
werden müſſe. Man wollte die Rohſtoffe aus 
eigenen Kolonien beziehen und Waren dahin 
abſetzen. Leicht war da die Antwort gegeben, 
daß doch auch die fremden, namentlich die eng⸗ 
liſchen Kolonien dem deutſchen Handel durchaus 
nicht verſchloſſen ſeien, und daß es wirtſchaftlich ſo⸗ 
gar viel vorteilhafter ſei, den fremden Nationen die 
Laſt der Kolonialverwaltung zu überlaſſen, ſelber 
aber an den wirtſchaftlichen Vorteilen vermöge 
kaufmänniſcher Tatkraft und induſtrieller Leiſtungs⸗ 
fähigkeit ſo viel zu gewinnen wie möglich. Wandte 


189 


man dagegen ein, daß ein ſolches Arbeiten und 
Ernten auf fremdem Gebiet doch immer von dem 
guten Willen der Fremden abhängig ſei und eines 
Tages abgeſchnitten werden könne, ſo ſchlug auch 
das nicht eigentlich durch, denn im Verhältnis zum 
überſeeiſchen deutſchen Geſamthandel konnte der 
Handel der eigenen deutſchen Kolonien immer nur 
einen ſehr geringfügigen Satz ausmachen. 

Im Jahre 1913 belief ſich die geſamte Einfuhr 
in Deutſchland aus ſeinen Schutzgebieten auf 
53 Millionen Mark, während die Geſamteinfuhr 
10,8 Milliarden Mark betrug; von der Geſamt⸗ 
ausfuhr von 10,1 Milliarden Mark nahmen unſere 
Kolonien nicht mehr als 57 Millionen bei ſich auf. 
Aus der Fremde führten wir Olfrüchte für 300 
Millionen ein, aus dem eigenen Machtbereich für 
7 Millionen, ähnlich bei den anderen Rohſtoffen: 
Kautſchuk, Kakao, Baumwolle, Schafwolle, Hanf, 
Kupfer. Das iſt wirtſchaftlich nicht ſchlecht vom 
Geſichspunkt der Kolonien aus, wenn man be⸗ 
denkt, wie kurze Zeit ſie erſt nach Sammlung der 
nötigen Erfahrung und Überwindung der Kinder⸗ 
krankheiten ernſtlich im Betrieb ſind; vom Geſichts⸗ 
punkt des deutſchen Wirtſchaftslebens aus kommt 


190 


es kaum in Betracht. Es handelt ſich um ½ % 
unſeres geſamten Außenhandels. 

Lehrt denn wirklich aber die Kolonialgeſchichte 
der Welt, daß das Okonomiſche ihr Weſen ausmacht? 
Wie klägliche Gebilde wären die Staaten und 
Völker, wenn dem ſo wäre. Wer ſo rechnet, der 
hat ſelber jenen Krämergeiſt, den wir ſo oft den 
Engländern zum Vorwurf machen. Gibt es ja 
bei uns ſogar Leute, die den heutigen Weltkrieg 
aus wirtſchaftlichen Urſachen ableiten und ſich und 
uns einreden wollen, daß um irdiſcher Schätze 
willen unſere Jungen draußen bluten. Das 
Wirtſchaftliche iſt zwar immer die Grundlage des 
Daſeins, aber nicht ſein Zweck, ſondern nur Mittel 
zum Zweck. So iſt auch der letzte Zweck der Ko⸗ 
lonialpolitik nicht im Wirtſchaftlichen, ſondern im 
Nationalen und Politiſchen zu ſuchen. 

Sehr verſchiedene Arten von Koloniſierung 
weiſt die Weltgeſchichte auf. Die Griechen kolo⸗ 
niſierten einſt durch Anlegung zahlloſer Handels⸗ 
ſtätten auf barbariſchen Gebieten vom Schwarzen 
Meer bis nach Spanien. Mit dieſer ihrer Kolo⸗ 
niſation haben ſie ſchließlich den ganzen Orient 
helleniſiert. Die Römer haben in Italien Kolonien 


191 


angelegt, die einen halb bäuerlichen Charakter 
trugen und vielleicht am beſten als Ackerbürger⸗ 
ſtädte bezeichnet werden können. Mit ihrer Hilfe 
haben ſie Italien latiniſiert, den übrigen Okzident 
aber weſentlich durch die Verwaltung, durch ariſto⸗ 
kratiſche und ſtädtiſche Kultur. England hat Nord⸗ 
amerika teils durch ariſtokratiſche, teils durch bäuer⸗ 
liche, teils durch ſtädtiſche Anſiedlungen angliſiert, 
und ähnlich iſt im Mittelalter der heutige deutſche 
Oſten germaniſiert worden. Das bäuerliche Ele⸗ 
ment war darin das wenigſt bedeutende, jedenfalls 
nicht das entſcheidende; dieſes Entſcheidende gaben 
die überquellenden oberen Schichten. Das waren 
damals Ritterſchaft, Kirche und Kaufmannſchaft. 
Die Kaufmannſchaft, die mit dem Handwerker⸗ 
tum noch eng verbunden war, gründete die Städte, 
alle zuſammen verbunden mit der Kirche germani⸗ 
ſierten die unterworfenen Slawen und Preußen. 
Welcher Art der Koloniſation bedarf heute das 
deutſche Volk? Die ſicherſte aller Koloniſationen 
iſt die Bauernkolonie, die ein ſo kompaktes Volks⸗ 
tum ſchafft, daß es nicht entnationaliſiert werden 
kann und die Kolonie ſich fühlt, als ob ſie ein Stück 
des Mutterlandes ſelbſt wäre. An eine ſolche 


192 


Bauernkoloniſation können wir heute nicht denken, 
aus dem einfachen Grunde, weil wir keine über⸗ 
zähligen Bauern mehr haben. Unſere ganze über⸗ 
ſeeiſche Auswanderung iſt ſchon ſeit Mitte der neun⸗ 
ziger Jahre auf 20—30 000 Seelen im Jahr ge⸗ 
ſunken, während wir gleichzeitig an eine Million 
ausländiſcher Arbeiter, Ruſſen, Polen, Ruthenen, 
Slovaken, Italiener, Skandinavier in Deutſchland 
beſchäftigen. Deutſchland iſt fein Auswanderungs⸗, 
ſondern Einwanderungsland. Die Bauern und 
landwirtſchaftlichen Arbeiter, die ſich anſiedeln 
laſſen möchten, brauchen wir aufs dringendſte 
in der Heimat und haben wenig oder nichts über 
See abzugeben. Was unſere Kolonien füllen und 
ihnen das Gepräge geben muß, iſt die Oberſchicht, 
die Tauſende mittleren und höheren Bildungs⸗ 
ſtandes, die unſer reiches Schulweſen unausgeſetzt 
produziert und für die wir im Vaterlande keine 
genügende Verwendung haben. Die Männer um 
die Dreißig, die in der Blüte ihrer Kraft ſtehen, 
und ſich alle Kenntniſſe und Fertigkeiten ange⸗ 
eignet haben zur Erfüllung eines größeren Wir⸗ 
kungskreiſes, ſitzen ja bei uns häufig müßig oder 
halbmüßig herum und warten auf eine Anſtellung 


7 Delbrück, Bismarcks Erbe 193 


mit kärglichem Gehalt. Dieſe müſſen wir als 
Techniker, Kaufleute, Pflanzer, Arzte, Aufſeher, 
Offiziere und Beamte ausſchicken, damit ſie die 
großen Maſſen der niederen Raſſen regieren, wie 
die Engländer Indien. Es kann nun aber nicht 
genügen, hier und da in einigen größeren und 
kleineren Landſchaften ſolche Oberſchichten aus⸗ 
zubreiten, ſondern einen dauernden und geſicherten 
nationalen Gewinn erzielt man nur vermöge der 
Schaffung eines ſo großen zuſammenhängenden 
Gebietes, daß die verſchieden gearteten Land⸗ 
ſchaften ſich gegenſeitig ergänzen, dadurch ſich 
ſtützen und feſthalten. Ein ſehr großes zuſammen⸗ 
hängendes Gebiet, das einheitlich verwaltet wird, 
gewinnt auch eine gewiſſe politiſche Konſiſtenz; das 
einheitliche Zollgebiet ſchafft Verbindungen und 
Intereſſen, die nicht ſo leicht zu zerſtören ſind. 
Städte mit größerer weißer Bevölkerung und 
eigenem kommunalen Leben verlangen ein ſehr 
großes Hinterland. Ganz feſt aber werden wir 
ein ſolches Kolonialreich an das Mutterland 
knüpfen, wenn wenigſtens einige Teile des Ge⸗ 
bietes ſo beſchaffen ſind, daß ſich über den Einge⸗ 
borenen nicht bloß ein wechſelndes, ſondern ein 


194 


bodenſtändiges, hier und da vielleicht auch ein bäuer⸗ 
liches Deutſchtum behaupten und fortpflanzen kann. 

Dieſe letzte Betrachtung habe ich im Jahre 1912 
niedergeſchrieben. Die heutigen Kriegsläufte haben 
das Bild beſtätigt und vertieft. Ein ſehr großer 
Teil der höheren und mittleren Intelligenzen, 
die im Vaterlande kein ihren Fähigkeiten ent⸗ 
ſprechendes Arbeitsfeld fanden, ſuchten bisher ihr 
Brot in der Fremde. Während in Deutſchland außer 
einigen Jockeys, Tanzlehrern und Köchen weſentlich 
nur Sprachlehrer und Bonnen fremder Zunge 
ihre Bildung verwerten, haben wir Rußland 
Arzte, Apotheker, Lehrer, Ingenieure, Chemiker, 
Techniker, Brauer, theoretiſch gebildete Landwirte, 
Kaufleute, Vorarbeiter, höhere Handwerker uſw. 
geliefert, die nun ins Elend geraten, ihres Berufes 
verluſtig, nach dem Kriege in die Heimat zurück⸗ 
ſtrömen werden, ſo weit ſie nicht gar von den 
Ruſſen nach Sibirien transportiert, in Hunger und 
Froſt umgekommen ſind. Auch in England waren 
ganze Kolonien von Deutſchen des höheren und 
kleineren Mittelſtandes und nicht viel weniger in 
Frankreich. Wo ſoll ihnen allen eine neue Stätte 
an Stelle der zerſtörten errichtet werden? 


a 195 


Eine Gegend, wo wir fie hätten hinſenden 
können, um ſich mit einem bildſamen Volk niederer 
Kulturſtufe zu vermiſchen und dieſes zum Deutſch⸗ 
tum emporzuziehen, wie im Mittelalter unſere 
öſtlichen Nachbarn, gibt es heute nicht mehr. 
Wie aber, wenn wir dieſe Kulturſchicht über einer 
niederen Raſſe als Erzieher⸗ und Herrenſtand an⸗ 
ſiedeln, ein überſeeiſches Deutſchland ſchaffen, 
und die jetzt vergeudete Volkskraft für uns zu⸗ 
ſammenhalten und dem nationalen Tätigkeitsdrang 
ein unabſehbares neues Arbeitsfeld bieten? 

Dazu aber gehört Weltpolitik, Seepolitik und 
Flotte. | 

Von dieſer neuen Aufgabe, die die Idee einer 
deutſchen Kolonialpolitik dem deutſchen Weſen 
ſtellte, hatte Bismarck und Bismarcks Zeit noch 
keine Vorſtellung und konnte ſie noch nicht haben. 

Grundſätzlich verzichtete der Staat damals 
darauf, ſich die Kinder des Volkes, die die Heima 
verlaſſen hatten, feſtzuhalten. „Gibt es ein zweites 
Volk auf der Welt,“ ſchreibt Paul Rohrbach“), 
„deſſen Regierung es über ſich gebracht hätte, 
Hunderttauſenden von Volksgenoſſen im Ausland 

*) Der deutſche Gedanke in der Welt, S. 60. 


196 


ihre Zugehörigkeit zur Nation abhanden kommen 
zu laſſen, bloß weil ſie ſo lange keine Formel 
finden konnte, nach der dieſe Deutſchen ihren 
nationalen Verpflichtungen genügen ſollten? War 
es nicht für den Deutſchen eine Schande, die zum 
Himmel ſchrie, daß ſein endlich einig gewordenes 
Vaterland es nicht mehr für der Mühe wert hielt, 
ſich um ihn zu kümmern, ſobald er zehn Jahre 
lang nach Verlaſſen der Heimat dem Heiligtum 
konſulariſchen Aktenpapieres fernblieb?“ Aber 
der Vorwurf für die Regierung wird gemildert, 
weil die breiteſten Schichten des Volkes in allen 
Ständen und Klaſſen nicht anders dachten. 

Wir finden Spuren, wie der Begründer des 
Nationalſtaates mit dem Scharfblick des ſtaats⸗ 
männiſchen Genius die Tragweite der neuen 
Gedanken erkannte und ſie auch wieder ſozuſagen 
vor ſich ſelber verbarg, als er ſich dem Vorgehen 

nicht mehr entziehen konnte. 

Noch im Jahre 1881 äußerte er zu einem Ab⸗ 
geordneten: „Solange ich Reichskanzler bin, trei⸗ 
ben wir keine Kolonialpolitik. Wir haben eine 
Flotte, die nicht fahren kann; und wir dürfen keine 
verwundbaren Punkte in anderen Weltteilen 


197 


haben, die den Franzoſen als Beute zufallen, 
ſobald es losgeht““). Als er nun aber die erſten 
Erwerbungen vor dem Reichstag vertrat und ihm 
entgegengehalten wurde, daß das Reich ja gar nicht 
in der Lage ſei, dieſen Gebieten ſeinen Schutz zu 
gewähren, da erwiderte er: „Die Kolonien laſſen 
ſich verteidigen vor den Toren von Metz.“ Iſt 
das wirklich zutreffend? Ja — aber in noch viel 
höherem Maße nein. Jene Drohung „vor den 
Toren von Metz“ bedeutet eine Drohung mit dem 
Weltkrieg. Konnte man wegen jeder kleinen 
kolonialen Streitigkeit dieſe Herkuleskeule in die 
Hand nehmen? Konnte man Frankreich be⸗ 
drohen, wenn man mit England, Portugal, Japan 
oder China etwas auszumachen hatte? 

Hier iſt der Punkt, wo ſich die nachbismarckſche 
Epoche von der bismarckiſchen ſcheidet: „Unſere 
Zukunft liegt auf dem Waſſer.“ Unſere innere 
Kraft wuchs und wuchs und wir blieben neben den 
Rieſenweltreichen die beſcheidene europäiſche Kon⸗ 
tinentalmacht. War es wirklich unſere letzte Beſtim⸗ 
mung, den heimiſchen Herd zu pflegen, unſere 


) Zimmermann S. 64, nach Poſchinger, Fürſt Bis⸗ 
marck und die Parlamentarier III, 54 


198 


Jugend auszubilden, damit ſie anderen Völkern 
ihr Können zutrage, unſere Polen und Dänen zu 
ſchikanieren und mit weißen, gelben und ſchwarzen 
Menſchen Geſchäfte zu machen? 

Daß Bismarck in der Tat, wie wir oben ſchon 
geſehen haben, die Kolonialpolitik nur als etwas 
Beiläufiges, Außerliches, man möchte faſt ſagen, 
als eine dem Gemüt wohltuende Dekoration an 
den eigentlichen Mauern ſeiner nationalen Poli⸗ 
tik anſah, erkennt man noch nicht ſo ſehr an 
der zögernden und vorſichtigen Form ihrer Ein⸗ 
leitung, als an der Tatſache, daß er die Augen noch 
vollſtändig verſchloß vor der Flottenfrage. Im 
Jahre 1874 hatte man drei Panzerſchiffe gebaut, 
dann ſtellte man den Bau von Schlachtſchiffen bis 
zum Jahre 1888 wieder ein; ein einziges, noch 
dazu in der Konſtruktion völlig verfehltes kleines 
Panzerſchiff „Oldenburg“ lief 1883 vom Stapel, 
außerdem im ganzen fünf ungepanzerte Kreuzer 
und Patrouillenſchiffe. Die Aufgabe der deutſchen 
Seemacht, ſtellte man ſich vor, ſei eine rein defen⸗ 
five, die am beſten mit dem jüngſt erfundenen 
und ausgebildeten Torpedoboot geleiſtet würde. 
Von Hochſeeaufgaben für deutſche Kriegsſchiffe 


199 


wollte man nichts wiſſen. Kein Zweifel, daß 
Caprivi hierin im Herzen ebenſo dachte wie Bis⸗ 
marck, und wenn nichtsdeſtoweniger er es geweſen 
iſt, der die Grundlage für unſere heutige Flotte 
gelegt und mit ſeiner außerordentlich geſchickten 
parlamentariſchen Taktik, indem er, wie bei der 
Heeresvorlage, auch die polniſchen Stimmen heran⸗ 
zog, die Majorität des Reichstages dafür gewonnen 
hat, ſo iſt der Grund nicht in einer tieferen poli⸗ 
tiſchen Einſicht zu ſuchen, ſondern war nichts als 
Entgegenkommen gegen den Willen eines Höheren, 
des Kaiſers: ganz wie Bismarck einſt ſich für die 
dreijährige Dienſtzeit eingeſetzt hatte, nicht ſowohl, 
weil er ſie ſelbſt für unerläßlich hielt, ſondern weil 
er den Willen König Wilhelms dadurch erfüllte. So 
iſt die Gründung der deutſchen Flotte ausſchließlich 
das Werk und der Wille Kaiſer Wilhelms II. geweſen, 
und Caprivis Verdienſt, freilich kein geringes, war 
die parlamentariſche Ausführung, auf welcher 
Grundlage dann der Admiral Tirpitz nach langer, 
ebenſo kunſtvoller, wie erfolgreicher Bearbeitung 
der öffentlichen Meinung das Werk hochgebracht hat. 

An dieſer Stelle, und man kann ſagen allein 
an dieſer Stelle liegt die wirklich große und 


200. 


durchgreifende Abweichung von der Bismard- 
tradition, der Unterſchied zwiſchen dem alten und 
dem neuen Kurſe. 

Es iſt richtig, daß ſchon Bismarck unſere haupt⸗ 
ſächlichſten kolonialen Erwerbungen gemacht hat, 
aber in einem Geiſt und unter Vorausſetzungen, 
die das Gedeihen von vornherein unmöglich mach⸗ 
ten. Schon er ſelbſt und in ſteigendem Maße ſeine 
Nachfolger mußten zu dem urſprünglich allgemein 
perhorreſzierten franzöſiſchen Syſtem übergehen 
und Reichsmittel für die Kolonien flüſſig machen. 
1885 hatte er auf die Frage Bambergers, ob im 
Falle des Mißerfolges der kolonialen Geſellſchaften 
das Reich für ſie eintreten werde, erwidert: „Wie 
kann man das von mir annehmen, daß ich dann 
mit der den Deutſchen eigentümlichen Schwer⸗ 
fälligkeit eine ſolche mißglückte Frage als eine 
nationale erkläre; wenn Sie jemals einen ſolchen 
Reichskanzler hätten, müßten Sie ihn fortjagen.“ 
Aber ſchon von 1889 an mußte der Reichstag um 
Bewilligungen angegangen werden, die im Jahre 
1913 auf faſt 100 Millionen geſtiegen ſind. 

So alt der Satz iſt, daß man nicht ernten kann, 
was man nicht geſät hat, ſo ſcheint es, müſſen ihn 


201 


doch die Völker auf neuen Gebieten immer erſt von 
neuem lernen. Frankreich hat ſich in der Generation 
ſeit 1870 nicht nur durch den Revanchegedanken, 
ſondern auch durch ſeine großartige und erfolgreiche 
Kolonialpolitik aufrecht erhalten und verjüngt. Das 
deutſche Kolonialweſen ſtand lange in dem Ruf, 
daß nur verkrachte Exiſtenzen und bodenloſe Aben⸗ 
teurer ſich darin tummelten und wohlfühlten “). 

Die erſte und wichtigſte aller nationalen For⸗ 
derungen, die wir bei dem zukünftigen Friedens⸗ 
ſchluß zu erheben haben, wird die eines ſehr großen 
Kolonialreiches ſein müſſen, eines deutſchen Indien. 
Das Reich muß ſo groß ſein, daß es ſich im Kriegs⸗ 
fall ſelbſt zu verteidigen fähig iſt. Ein ſehr großes 
Gebiet kann kein Feind vollſtändig beſetzen. Ein 
ſehr großes Gebiet ernährt eigene Truppen und 
birgt zahlreiche Reſerviſten und Landwehrmänner. 
Indem Eiſenbahnen die Hauptpunkte verbinden, 
ſind die verſchiedenen Gegenden in der Lage, ſich 
wechſelſeitig zu unterſtützen. Ein ſehr großes Ge⸗ 
biet kann eigene Munitions⸗ und Waffenfabriken 
haben. Ein ſehr großes Gebiet hat auch Häfen und 
Kohlenſtationen. 

) Wiedenfeld S. 8. 


202 


Indem ein ſolches Kolonial⸗Deutſchland uns 
zur Weltmacht erhebt, bringt es uns zugleich 
die Löſung der ſchwerſten aller ſozialen Fragen, 
die Schaffung einer befriedigenden Tätigkeit für 
die aufſteigenden Söhne des Volkes, den Über⸗ 
ſchuß in der Intelligenz, der zu Hauſe keinen 
Arbeitsplatz findet. Haben wir nicht jetzt ſchon zu 
viel Abiturienten? Zu Viele, die über den Stand 
des Vaters heraufzukommen bemüht ſind in ehr⸗ 
lichem Vorwärtsſtreben und dann nicht wiſſen, 
wo ſie bleiben ſollen? Geht nicht der allgemeine 
Wunſch dahin, daß nach dem Frieden für die be⸗ 
gabteren Kinder aller Klaſſen die höheren Bildungs⸗ 
ſtufen zugänglich gemacht werden ſollen? Erſt dann 
aber wird der Zweck voll erreicht, wenn für die 
gute Ausbildung auch eine gute Verwertung ge⸗ 
funden wird, und das kann nur geſchehen über 
Land und See. Geſchieht es aber, ſo ſchafft man 
damit zugleich eine Verbreiterung und Bereiche⸗ 
rung unſeres Volkstums, die durch ihre Rückwirkung 
die ſtockenden Säfte in dem eingeengten Europa⸗ 
Deutſchland in Bewegung erhält. 

Der Koloniſt, der ſich ſelber fein Schickſal ſchafft, 
bildet ein anderes Selbſtgefühl aus, als wer im 


203 


gewohnten Trott zu Haufe feinen Weg läuft. 
Das Sprichwort „Bleibe im Lande und nähre 
dich redlich“, iſt ebenſo philiſterhaft wie es brav 
iſt. Der Blick weitet ſich auf der See und 
der Wille ſtählt ſich. Der Überſeedeutſche iſt 
ein anderer Deutſcher als der Heimdeutſche, 
und beide zuſammen werden das größere und 
höhere Deutſchtum des 20. Jahrhunderts her⸗ 
vorbringen, die Vermehrung ſeiner ideellen 
und materiellen Kraftfülle und Lebensbetätigung 
(Rohrbach). | | 

Wir haben eine derartige Ergänzung des heim- 
deutſchen Volkstums um ſo dringender nötig, als 
unſere Entwicklung auf eine immer ſtärkere Sozia⸗ 
liſierung unſeres Wirtſchaftslebens hinweiſt. Alle 
Erfahrungen des Krieges dienen dazu, die ſchon 
längſt vorhandene Tendenz mit einem Rieſendruck 
zu verſtärken, und man darf das, um dem Aus⸗ 
wachſen des Kapitalismus zum Mammonismus 
entgegenzuwirken, nur gern und freudig will⸗ 
kommen heißen. Aber dieſe Entwicklung hat auch 
eine Schattenſeite, vor der wir die Augen nicht 
verſchließen dürfen. Die Sozialiſierung des Wirt⸗ 
ſchaftslebens oder der Staatsſozialismus, wie man 


204 


es auch genannt hat, die Monopole, die Ver⸗ 
waltung ganzer Wirtſchaftszweige durch Staats⸗ 
beamte oder rieſige Geſellſchaften und ihre Direk⸗ 
toren verringert die Zahl der ſelbſtänd igen 
Perſönlichkeiten, die, um ſich ſelbſt auf eigene 
Gefahr und Verantwortung vorwärts zu bringen, 
zugleich dem Wachstum des Ganzen dienen. 
Pflichttreue und gewiſſenhafte Beamten ſind 
etwas Gutes, aber der unternehmende, wage⸗ 
mutige Geſchäftsmann und Kaufmann ebenſo, 
und jedenfalls für eine geſunde, fortſchreitende 
Nation und einen kräftigen Nationalcharakter 
unentbehrlich. Die Kolonien, die See und 
das Arbeiten im Ausland überhaupt, wo der 
Mann allein auf ſich ſelbſt geſtellt iſt, ſollen uns 
wiedergeben, was wir zu Hauſe vielleicht um 
eines höheren Zweckes willen teilweiſe opfern 
müſſen. 

Iſt aber Zentralafrika, das man dafür zunächſt 
ins Auge faſſen möchte, auch wenn man es noch 
ſo ſehr ausdehnt, imſtande, ſolche Laſt zu tragen? 
Iſt der Boden geeignet? Iſt er, nicht bloß im na⸗ 
türlichen Sinne, ſondern auch ganz allgemein ge⸗ 
ſprochen, fruchtbar genug? Tragkräftig genug? 


205 


Sit etwa ſtatt deſſen oder daneben Hinterindien, 
Cochinchina in Ausſicht zu nehmen? 

Darüber haben wir hier nicht zu handeln. 8c 
ſchreibe nicht über Kriegsziele, ſondern will feſt⸗ 
ſtellen, was heute unſere nationale Aufgabe iſt, 
in derſelben Weiſe wie im Jahre 1862, als Bis⸗ 
marck ans Steuer berufen wurde, die Einigung 
die nationale Aufgabe war. Es iſt die Schaffung 
eines größeren Deutſchland vermöge neuer weiter 
Arbeitsgebiete, auf denen das Deutſchtum der 
Auswanderer ſich zu erhalten vermag und ſich 
ſelbſt und damit auch Altdeutſchland mit neuen 
Kräften und Anregungen bereichert. 

Genügt Afrika, oder welches exotiſches Gebiet 
es ſei, dafür nicht“), ſo gibt es zu unſerem Heil 


*) Um Mißverſtändniſſe zu vermeiden, möchte ich aus⸗ 
drücklich hinzufügen, daß etwa der belgiſche und franzö⸗ 
ſiſche Kongo allein das deutſche Indien, das wir anſtreben 
müſſen und nach unſerem Kriegserfolge beanſpruchen 
dürfen, nicht fein könnten. Zwar kann dieſes Aquatorial⸗ 
land der ſpäteren Zukunft Schätze bieten, die man heute 
kaum ahnt, aber für die nächſte Generation wird es wegen 
ſeiner außerordentlich dünnen Bevölkerung noch unergiebig 
bleiben und bringt nicht nur nichts, ſondern koſtet. Erſt 
wenn die ringsherum liegenden, jetzt in engliſcher Hand 
befindlichen reichen Gebiete hinzugefügt werden, ſind hier 
ſofort die realen Vorbedingungen für ein deutſches Indien 
in ausreichendem Maße gegeben. 


206 


1 5 


noch eine andere Art der Koloniſation und ein 
anderes Kolonialfeld, das uns gleichzeitig dieſer 
Krieg öffnet und ſchon jetzt mit Sicherheit zur Ver⸗ 
fügung hält. Die Türkei, die noch immer in Europa, 
in Kleinaſien, in Syrien, in Meſopotamien die 
älteſten und ergiebigſten Kulturgebiete der Menſch⸗ 
heit beſitzt, ſucht den Anſchluß an die europäiſche 
Kultur und kann, wenn ſie dieſen Krieg ſiegreich 
überſteht, von dieſer Bahn nicht mehr zurück. Sie 
bedarf dazu der europäiſchen Lehrmeiſter, und kann 
ſie nirgendwo anders mehr ſuchen, als bei den 
Deutſchen. Man hat früher von der Anſiedelung 
deutſcher Bauern in Kleinaſien oder Meſopotamien 
geſprochen: es kann keinen verkehrteren Gedanken 
geben; die Türken ſelbſt würden es ſich verbitten. 
Deutſche Lehrmeiſter aber und deutſches Kapital, 
um ein neu⸗türkiſches Staatsweſen zu gründen 
und das älteſte Kulturland vom wirtſchaftlichen 
Tode zu erwecken, das ergäbe eine Gemeinſam⸗ 
keit des Wirkens und der Intereſſen, die durch 
keine politiſchen Intrigen wieder zerriſſen wer⸗ 
den könnte. Mit den Reiſen des Kaiſers nach Kon⸗ 
ſtantinopel und Jeruſalem und mit dem Bau der 
Bagdad⸗Bahn durch deutſche Ingenieure und mit 


207 


deutſchem Kapital hat dieſe Politik einſt eingeſetzt. 
Eine dauernde enge wirtſchaftliche, wie pädago⸗ 
giſche, wie politiſche Verbindung ſoll uns jetzt die 
Epoche nach Abſchluß dieſes Krieges bringen. Paul 
Rohrbach hat das ſchon vor dem Kriege ſehr ſchön aus⸗ 
gedrückt“): „Nicht die politiſche oder ökonomiſche 
oder koloniſatoriſche Germaniſierung der Türkei oder 
dieſes oder jenes Stückes von ihr iſt es, was wir wol⸗ 
len, ſondern die Hineinleitung deutſchen Geiſtes in 
den großen nationalen Erneuerungsprozeß, der das⸗ 
jenige Volk des Orients erfaßt hat, dem die Zukunft 
und die politiſche Herrſchaft zwiſchen dem Perſiſchen 
Golf und dem Mittelmeer gehört und gehören wird!“ 

Wir ſind wieder angelangt bei dem Punkt, wo 
wir die erſte große poſitive Abweichung des neuen 
Kurſes von der Bismarckſchen Tradition feſtſtellten, 
der deutſchen Orientpolitik. Auch hier iſt ein Stück 
unſerer Seepolitik: unſere Schiffe und unſere 
Matroſen kämpfen heute im Schwarzen Meer 
und an den Dardanellen. Unſere Schlachtflotte 
feſſelt die meiſten, ſtärkſten und beſten Schiffe 
Englands in der Nordſee und hindert ſie an den 
Meerengen den Todesſtoß zu führen, dem die 

) Der deutſche Gedanke in der Welt, S. 238. 


208 


r 


Teilung des osmaniſchen Reiches folgen würde. 
Bismarck hat noch ganz ernſthaft den Gedanken, 
daß wir den Ruſſen Konſtantinopel laſſen könnten, 
erwogen. Heute wiſſen wir, daß unſer Volk da⸗ 
mit abgeſägt wäre von dem vielleicht wichtigſten 
Arbeitsgebiet ſeiner Zukunft. Schon Friedrich Liſt 
und Leopold Ranke haben es vorausgeſagt, der 
geniale öſterreichiſche Miniſter Bruck hatte bereits 
vor 60 Jahren die Umriſſe für praktiſche Pläne 
entworfen, die Gegenwart führt uns auf Adlers 
Fittichen dem Ziele zu. | 

Von der Nord⸗ und Oſtſee bis zum Perſiſchen und 
Roten Meer wird ſich zwar kein deutſches Herr⸗ 
ſchaftsgebiet, aber ein Arbeitsgebiet für den deut⸗ 
ſchen Geiſt, das deutſche Organiſationstalent und 
die deutſche Wirtſchaftskraft erſtrecken, das wir 
einſt im Frieden uns zu gewinnen trachteten, nun 
aber, da wir es vor den Geiergriffen der anderen 
mit dem Schwerte haben ſchützen müſſen, durch 
die Bande der Kriegskameradſchaft und der Dank⸗ 
barkeit auf immer uns verbunden haben. Babylon 
und Ninive ſind heute Trümmerſtätten, aber das 
Land, das einſt dieſe Prachtreſidenzen ernährte, be⸗ 
darf nur einer geordneten, zielbewußten Regierung, 


209 


um ſich von neuem mit der alten Fruchtbarkeit 
zu bedecken. Wenn Deutſchland die Hand reicht, 
wird die Erſtarrung, die jetzt über jenen Gefilden 
liegt, ſich löſen. Konſtantinopel, Damaskus, Je⸗ 
ruſalem, Mekka, Moſſul, Bagdad — das Reich des 
Sultans iſt groß: es bedarf unſer zu ſeiner Er⸗ 
hebung; wir bedürfen ſeiner, weil wir eine Auf⸗ 
gabe haben müſſen. Die Aufgabe iſt keineswegs 
leicht. Der Iſlam und die europäiſche Kultur ſind 
einander in ihren Grunderſcheinungen ſo ſchroff 
entgegengeſetzt, daß man theoretiſch an einem Aus⸗ 
gleich faſt verzweifeln möchte. Wäre der Muſel⸗ 
mann bloß rückſtändig dem Europäer gegenüber, 
ſo könnte man hoffen, ihn mit einigem Schieben 
vorwärts zu bringen. Er iſt aber nicht bloß rück⸗ 
ſtändig, ſondern er iſt zugleich dem Europäer, 
nicht bloß dem Levantiner, ſondern auch dem 
wirklichen Europäer in mancherlei Tugenden über⸗ 
legen“). Dieſe Tugenden machen ihn uns ſym⸗ 
pathiſch, ſie erwecken die Hoffnung, daß ein ſo 
tüchtiger Kern, ſo tapfere, ehrliche, würdige 
Männer mit den Ideen Europas in Berührung 


*) Jäckh, Der aufſteigende Halbmond. „ Deut⸗ 
ſche Verlagsanſtalt. 


gebracht nur um jo mehr müßten leiſten können. 
Aber es gilt, ihnen dieſe Ideen nahezubringen, 
ohne ſie die Tugenden ihrer Überlieferung und 
ihrer Religion darüber verlieren zu laſſen. Der 
Krieg ſelbſt hat uns jetzt ſo feſt aneinandergeſchmie⸗ 
det, daß wir getroſt die Hand ans Werk legen 
dürfen. Wie gern hätten unſere Feinde die Türken 
in dieſem Kriege neutral bleiben ſehen! Wie 
ſänftiglich gingen ſie mit ihnen um — um ſie, 
nachdem fie uns niedergeworfen, freundſchaftlich 
unter ſich zu verteilen. Die Türken hatten po⸗ 
litiſchen Scharfblick genug, das zu erkennen, und 
haben ihrerſeits zur Waffe gegriffen, ehe es zu 
ſpät war. Nicht bloß wir ſind ihnen, auch ſie ſind 
uns zu Hilfe gekommen, und ein ſolcher Bund hat 
Zukunft. Mag dieſer Krieg noch die Engländer 
aus Agypten vertreiben oder nicht — was iſt die 
engliſche Herrſchaft am Nil, wenn die Türkei ſich 
jetzt behauptet, ſich militäriſch und wirtſchaftlich 
verjüngt und aufrafft und ihr Eiſenbahnſyſtem ſo 
ausbaut, daß es große Armeen mit allem Zubehör 
bis an die ägyptiſche Grenze befördern kann? Mit 
6000 Mann europäiſcher Beſatzung hat bisher Eng⸗ 
land in Friedenszeiten das Pharaonenland zu 


211 


behaupten vermocht. Wie auch immer die zu⸗ 
künftigen Friedensbedingungen lauten mögen, 
mit dieſem Idyll der engliſchen Weltherrſchaft iſt 
es vorbei. 

Bismarcks Erbe. Auf allen anderen Gebieten 
iſt, wie wir uns überzeugt haben, ſein Erbe ver⸗ 
waltet worden in ſeinem Sinne. Nicht ſo, daß 
die Einzelheiten der Ausführung dem entſprochen 
hätten, wie er es ſich gedacht hat. Im Gegenteil, 
wir haben geſehen, daß auf vielen und wichtigen 
Gebieten die Fortbildung geſchah in einer Weiſe, 
der er ſelber heftigen Widerſpruch entgegengeſetzt 
hat oder ſicherlich entgegengeſetzt haben würde. 
Er hat auch in Friedrichsruh noch ſelbſt genug 
gemurrt über das, was ſeine Nachfolger anſtellten. 
Nichtsdeſtoweniger läßt ſich mit Fug behaupten, 
daß die Fortbildung in ſeinem Geiſte geſchehen 
iſt. Ja, hinſichtlich der auswärtigen Politik ſind 
neuerdings ſogar Behauptungen aufgetaucht, daß 
man ſich nur zu ſehr an ſeine Überlieferungen 
gehalten habe. Sein Beſtreben, unter allen Um⸗ 
ſtänden den Frieden zu wahren und ſeine Lehre, 
unter keinen Umſtänden einen Präventivkrieg zu 
führen, ſei nur zu ſtrikt befolgt worden. Man kann 


212 


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dieſer Auffaſſung nicht entſchieden genug wider⸗ 
ſprechen. Kein Satz aus dem Nachlaß Bismarcks 
ſteht höher als die Verwerfung des Präventiv⸗ 
krieges, und nichts iſt mehr zu preiſen, als daß wir 
dieſem ſeinem Geſetze treu geblieben ſind. Ihm 
verdanken wir nicht bloß das gute Gewiſſen, mit 
dem wir jetzt in den Kampf gegangen ſind, ſondern 
auch die überwältigende Erſcheinung der Einmütig⸗ 
keit unſeres Volkes, wie unſere zweitauſendjährige 
Geſchichte ſie noch niemals aufzuweiſen vermocht hat. 

Hinausgegangen aber iſt unſere Epoche über 
Bismarck vermöge unſeres Übergangs von der 
Kontinental⸗ zur Weltpolitik. Sie hat ſich damit von 
Bismarck entfernt, hat ſie ſich aber damit auch in 
Widerſpruch zu ihm geſetzt? Das deutſche Volk wird 
heute einmütig antworten: es iſt kein Widerſpruch, 
es iſt die Erfüllung. Ein Widerſpruch wäre erſt da, 
wenn man den nationalen Boden ſeiner Politik 
aufgeben, wenn man aus Deutſchland einen Na⸗ 
tionalitätenſtaat machen oder in irgendeiner Form 
eine deutſche Welthegemonie anſtreben wollte. 
Das iſt es, wovor er ſtets gewarnt, was er immer 
wieder abgelehnt hat. So ſchon bei der Kaiſer⸗ 
proklamation in Verſailles. So in der großen 


213 


Reichstagsrede, in der er den Berliner Kongreß an- 
kündigte (19. Februar 1878), wo er erklärte, „ich bin 
nicht der Meinung, daß wir den napoleoniſchen 
Weg zu gehen hätten, wenn auch nicht der Schieds⸗ 
richter, gewiſſermaßen auch nur der Schulmeiſter in 
Europa ſein zu wollen“. Ahnlich in der erſten An⸗ 
ſprache, die er nach ſeinem Rücktritt an eine Abord⸗ 
nung der Techniſchen Hochſchulen Deutſchlands 
hielt (22. März 1890): „Das größte Glück für Deutſch⸗ 
land iſt der Friede; ich glaube nicht, daß je ein 
deutſcher Kaiſer mit einem Blick auf die Landkarte 
napoleoniſche Eroberungsgelüſte hegen wird“. 

Das Erbe Bismarcks iſt bewahrt worden, indem 
man auch nach ſeinem Abgang noch 24 Jahre lang 
den Frieden gehütet. Es iſt aber erſt recht erfüllt 
worden, als man, da nun der Friede ſich nicht 
länger wahren ließ, ſo hochgemut und zuverſicht⸗ 
lich wie nur je er ſelber in den Kampf eingetreten 
iſt, zunächſt um unſer Daſein zu verteidigen, dann 
aber weiter, um neben den anderen Weltmächten 
ſelber Weltmacht zu ſein. 


Geſchrieben im März — April 1915. 


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Regiſter“ 


Abgeordnetenhaus, preußiſches 15, 
20, 112. 

Agypten 174, 183, 211. 

Afghaniſtan 183. 

Afrika 178 ff. 

Agrarier 86. 

Albanien 183. 

Albert, König v. Sachſen 49. 

Ansbach⸗Bayreuth 32f. 

Anſiedlungskommiſſion 146. 

Arbeiterſchutzgeſetz 108, 123. 

Attentate 27, 89. 

Auguſta, Kaiſerin 26, 68. 


Baare, Kommerzienrat 177. 
Babelsberg, Unterredung in 20 
Baden 52. 

Bagdad 210. 

Bagdadbahn 209. 
Bamberger, Ludwig 201. 


Bayern 26, 50, 51 ff., 175. 

Belgien 43—45. 

Bennigſen, Rud. v., 23, 26, 40, 81, 
84, 91, 103. 

Berlepſch, v., Miniſter 156. 

Berliner Kongreß 182f. 

Blankenburg, Moriz v. 41, 83. 

Bleichröder 126. 

Blumenthal 64. 

Böhmen 32. 

Bosnien 183 

Boſſe, Miniſter 136. 

Bötticher, v., Staatsſekretär 118, 
128, 135 f. 

Brandenſtein, v., General 63. 

Branntweinmonopol 97. 

Branntweinſteuer 111. 

Brenner, Weltreiſender 176. 

Brinkmann, Biſchof 79. 

Bronſart v. Schellendorf 68. 


) Die am häufigſten vorkommenden Namen, wie Bis march, 
Wilhelm I. uſw., ſind nicht als Stichworte aufgenommen. 


217 


Bruck, öſterr. Miniſter 209. 
Bucher, Lothar 175. 
Bulgarien 183. 

Bundestag, deutſcher 23. 
Burenrepubliken 174. 


Canrobert 46. 

Caprivi 15, 16, 146, 156, 158, 
161 f., 165 f. 

Centrum ſ. Zentrum. 

Chalons 46. 

China 174, 198. 

Cobden 189. 

Colin, Großkaufmann 176. 


Dänemark 24. 

Decken, v. d., Klaus 176. 

Delbrück, Rudolph 50. 

Denhardt, Gebrüder 176. 

Deutſche im Ausland 195. 

Diäten 116f. 

Dienſtzeit, drei⸗ und zweijährige 
15—17. 

Duncker, Franz 81. 


Eberhard, Biſchof 79. 

Elſaß⸗ Lothringen 50, 106, 

Elſäſſer, Partei 93, 99. 

England 14, 158, 181, 183, 188, 
191, 198. 

Eulenburg, Graf Fritz 40, 82, 148. 

„Europäer“, Bismarck als 152. 


Fabri, Miſſionsinſpektor 176, 180. 
Falckenſtein 59. 

Falk, Kultusminiſter 76. 

Flotte 51, 199f. 

Forckenbeck, Max v. 21, 40. 
Formoſa 177. 


218 


Fortſchrittspartei 40f., 51, 81, 9, 

Frankenſteinſche Klauſel 95. [101, 

Frankfurt 38. 

Frankfurter Parlament 12 f., 28. 

Frankreich 14, 25, 34, 42, 58 f., 
100, 106, 183, 198. 

Franz Joſeph, Kaiſer 25. 

Freikonſervative Partei 41, 89. 

Freiſinnige Partei 16, 94, 99, 101, 
111, 124, 127, 139, 162 f., 179. 


Friedrich der Große 11. 
Friedrich III., Kaiſer 26, 35 f., 41, 


49, 51, 68f., 110, 153 
Friedrich VII. von Dänemark 24. 
Friedrich Karl, Prinz 32. 
Friedrich Wilhelm I. 11. 
Friedrich Wilhelm IV. 13, 22, 75. 
Friedrichsruh 113, 123, 139, 168, 
Frieſen, v., Geſandter 78. (212. 


Gambetta 60, 63, 65. 
„Gedanten und Erinnerungen“ 35, 
Germania 110. ˖ 1139. 
Gerlach, Ludwig v. 41, 75, 81. 
Getreidezölle 105, 164 

Gladſtone 189. 

Gneiſt, Rudolf v 21. 

Goltz, Graf Robert 44. 

Gramont, Herzog v. 46. 
Großdeutſche 74. 


Hagen, M. v. 171. 
Hamburg 140, 176. 
Hamburger Nachrichten 110. 


Hammerſtein, v., Chefredakteur 
Handelsverträge 164. 1109. 
Hannover 38, 74. 
Hanſemann 176. 


Helgoland 164, 184 ff. 


Helldorf⸗Bedra, v. 121, 124, 129. 


Horrmann, H. 128, 168. 
Hohenlohe, Prinz 78. 
Holland 43. 

Holſtem, v. 158. 
Hoverhed, Freiherr v. 81. 
Huene, lex 96. 


Indemnität 31. 

Indien 174. | 

— ein deutſches 202. 
Snfallibilität, päpſtliche 76, 79 
Invaliditätsverſicherung 105, 145. 
Iſlam 208. 

Italien 27, 45, 47, 76, 188. 
Jäckh, Ernſt 210. 

Japan 174, 198. 

Jeruſalem 207. 210. 

Jolly, Miniſter 49. 

Jühlke, Afrikareiſender 176. 
Juſttzgeſetze 83. 


Kaffeezoll 83. 

Kaiſerproklamation 212. 

Kardorff 129. 149. 

Karl, Prinz 33. 

Kartell 104 ff. 111, 124. 

Katholiſche Kirche 75. 

Kerſten, Weltreiſender 176. 

Keudell, n., Botſchafter 135 

Kladderadatſch 26, 135. 

Kleinaſien 207. 

Kleiſt, Chef des Ingenieurweſens 
64. 


Kleiſt⸗Retzow, Hans v. 41. 

Klerikale 42, 56, 74. 

Kögel, Oberhofprediger 76. 

Köller, v., Miniſter 168. 

Kolonialpolitik 171—210. 

Kolonialſkandale 187. 

Koloniyation, ältere 172, 191 ff. 

Kongoſtaat 175. 

Königgrätz 30, 32. 

Konſtantmopei 207, 210. 

Kontinental politik 171, 213, 

Konſervative Partei 41, 82, 92, 
127. 139. 

Krankenkaſſengeſetz 92, 145. 

Kreisordnung in Preußen 140. 

Kreuzzeitung 109. 

Kroaten 154. 

Kronrat 122. 

Kulturkampf 74, 87, 111. 

Kurheſſen 38. 


Landgemeindeordnung 156. 

Ledochowsti, Kardinal 76, 79, 
153. 

Lehndorff, Graf, Flügeladiutant 

Leo XIII. 87. 128—30. 

Leonhard, Juſtizminiſter 40. 

Leovold II. von Beigien 175. 

Lerchenfeld Graf 114 

Lippe, Graf 40. 

Lift, Friedrich 209. 

Luckwaldt, Friedrich 159. 

Lüderitz 176. 

Ludwig, Konig von Bayern 53, 

Luxemburg 43. 


Mac Mahon 46. 


Magyaren 154. 
Maigeſetze 78. 


219 


Maltzahn, v., Weltreiſender 178. 

Maltzahn⸗Gült, v., Führer der 
Konſervativen Partei 130, 133. 

Maybach, Miniſter 113. 

Manteuffel, v., Feldmarſchall 70. 

Marcks, Erich 73. 

Martin, Biſchof 79. 

Matrikularbeiträge 95. 

Mekka 210. 

Melchers, Erzbiſchof 79. 

Meſopotamien 207. 

Metz 170, 198. 

Militärvorlage 101 ff., 107. 

Miquel 91, 103, 135. 

Mittelſtaaten 25, 52f. 

Moltke 28, 29, 31, 85, 37f., 57, 
66 ff., 71. 

Monopole 97, 112. 

Moſſul 210. 

Mühler, v., Kultus miniſter 40, 76. 


Nachtigal 176. 

Napoleon I 214. 

Napoleon III. 25, 27, 35, 43 ff. 

Naſſau 38. 

Nationalliberale 39 ff., 81, 89 ff., 
96, 102, 110, 165 

Nationalverein 22. 

Nikolaus II. 159. 

Nikolsburg 35, 43 48 

Norddeutſche Allgemeine Zeitung 
127, 175. 

Norddeutſcher Bund 38, 42, 48f. 


Oldenburg, Panzerschiff 199. 

Orientpolitik, deutſche 160 208 f. 

Oſtafrita 181f. 

Oſterreich 11, 14, 23, 27, 32, 33, 
35, 45, 47, 56, 116, 158, 182. 


220 


Öfterreichiich-Schleften 82. 
Oſtſeeprovinzen 172. 


Panſlawismus 150 ff 

Papſt 88, 99. 

Paris 59f. 

Perſien 174. 

Peters, Karl 176, 181. 
Petersburg 44, 159. 

Pfeil, Graf Joachim 176. 

Pius IX. 86. 

Polen 94, 99, 124, 150, 164, 178. 
Polniſche Frage 16, 146—156. 
Portugal 198. 

Poſchinger, E. v. 198. 
Präventivkrieg 213. 


Ranke, Leopold v. 209. 

Rauchhaupt, v. 127. 

Reichsgericht 117. 

Reorganiſation der Armee 15, 19, 

Richter, Eugen 16. 938 

Roggenpreiſe 87. N 

Rohlfs 176. 

Rohrbach, Paul 196, 204, 208. 

Rom, Konzil zu 76. 

Roon, Albrecht v., 18, 28, 30, 37f., 
62, 66, 80. 

Rößler, Konſtantin 141. 

Rottenburg 136. 

Rumänen 154. 

Rußland 14, 44, 100, 108, 112, 
126, 151, 153, 159ff., 182f 


Sachſen 32 f., 35, 49. 
Schanz, Nationalökonom 95. 
Schleswig⸗Holſtein 24, 38. 
Schnäbele 106. 

Schneider, Hans 159. 


Scholz, Finanzminiſter 114. 

Schutzgebiete, Ein⸗ und Ausfuhr 

Schutzzölle 86, 95, 111. 1190. 

Schweinfurth. Georg 176. 

Sedan 60. 

Septennat 103. 

Serben 154. 

Simſon, Eduard v. 19, 21. 

Sozialdemokraten, Sozialdemo⸗ 
kratie 89, 98, 111, 116, 124, 139, 
168, 178. 

Sozialiſtengeſetz 74, 89 ff., 97, 110, 
120, 122, 130 f., 143f. 

Sozialreform 74, 105, 108. 

Spaniſche Thronkandidatur 47. 

Sprachverein 152. 

Stanley 173. 

Stauffenberg, Freiherr von 179. 

Stöcker, Hofprediger 104, 109. 

Stoſch, v., General 72. 

Süddeutſche Staaten 42, 48 f., 115. 

Sybel, Heinrich v. 21. 

Syrien 207 


Tabaks monopol 97. 

Thimme, Fr., Hiſtoriker 128—136. 

Tiedemann, v., Chef der Reichs⸗ 
kanzlei 129 152. 

Tirpitz. Admiral 200. 

Treitſchke, Heinrich v. 152, 186. 

Tripolis 174. 

Trochu, General 61. 

Tunis 174. 

Türfei 161, 174, 207f. 

Tweſten, Karl 21, 39, 41. 


Unfallverſicherungsgeſetz 93, 145. 
Unruh, Hans v. 21. 


Varzin 86. 

Venetien 27. 

Verdy du Vernois 63. 

Verfaſſungskonflikt in Preußen 15, 
18, 22, 25. 

— im Reich 116 ff., 143. 

Verſailles. Kaiſerproklamation 55, 
140, 213. 

Viktoria, Kaiſerin 68, 153. 


Wahlrecht 26, 31, 117ff. 

Walderſee, Graf, General 109, 
167. 

Walpole, engliſcher Miniſter 137. 

Weber, von, Weltreiſender 176. 

Weizenpreiſe 87. 

Welfen 94, 99. 

Welthegemonie 213. 

Weltpolitik 171, 213. 

Werder, v., General 70. 

Wiedenfeld, Kurt 172, 202. 

Wien 32, 44. s 

Wilmowski, v., Kabinettsrat 70. 

Windthorſt 92, 105, 126, 136. 

Wirtſchafts kriſis 84 ff. 

Witu 181. 184. 

Woermann 176. 

Württemberg 52. 


Zanzibar 181, 184. 

Zedlitz, Graf, Oberpräſident 150, 
Zentralafrika 205. [164f. 
Zentrum 76, 88, 92ff., 96, 98f., 

139, 150, 162, 179. 

Zimmermann, A. 171, 186, 198. 
Bollparlament 42. 

Zollverein 42. 


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