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Blicke in die EeligionsgescMchte.
J.A ^
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zu Anfang
des zweiten cMstliclieii Jahrlmnderts.
I. Der Talmud und die griechische Sprache
nebst zwei Excursen
a. Aristobul, der sogenannte Peripatetiker. b. Die Gnosis.
Von
Du M. Joel
Rabbiner der israelitischen Gemeinde zu Breslau.
BRESLAll.
Druck und Verlag von S. Scliottlaender.
1880.
Einleitung.
Die Zeit, in welcher das Jadenthum aus seinem
Schosse die Keligion entliess, welche heute die Welt-
herrschaft hat, wird niemals aufhören, im hohem Grade
die Theilnahme des Forschers herauszufordern. So
unübersehlich selbst die guten Bücher schon sind,
welche diese Zeit schildern, der Ergänzung und Be-
richtigung durch irgend eine kleine, bis dahin noch
unbeachtete Quelle werden sie immer noch bedürfen.
Namentlich gilt das von dem aus der Erwägung der
einschlägigen Talmudstellen zu Gewinnenden. Directe
zeitgenössische Nachrichten über die Entstehung des
Christenthums haben wir im Talmud bekanntlich so gut
wie keine. Das, was in den Gemaren über den Stifter des
Christenthums und seine Jünger vorkommt, ist nicht
blos unbedeutend, sondern verräth zugleich seinen
späteren Ursprung durch die chronologischen Irr-
thümer, die dabei unterlaufen. Jesus wird in eine
enge Beziehung zu Josua ben Perachiah gebracht,
einem Lehrer, der länger als hundert Jahre vor Chr.
n
Geburt geblüht hat. Es war eben eine ungeschicht-
liche Zeit, wo man Forschungen über den Ursprung
einer Sache nicht anstellte, sondern mit einer Er-
scheinung erst dann sich beschäftigte, wenn sie Theil-
nahme oder Sorge bereitete. Wie Justinus Mai'tyr
um 130 n. Chr. ruhig erzählt, dass Ptolemäus, der
Begründer der alexandrinischen Bibliothek, einen Ge-
sandten an den jüdischen König Herodes geschickt
hätte (1. Apologie c. 31), so wissen die späteren
Talmudisten nichts Genaues über die Vorgänge bei
den Anfängen des Christenthums.
Dagegen wird der Talmud zu einer Geschichts-
queUe, die wichtiger ist, als manche directe Erzählung,
die ja leicht gefärbt sein kann, wo er ohne Neben-
absicht in Massregeln, in Einrichtungen, in Ge-
sprächen oder in Auslegungen das, was die Lehrer
jener Zeit bewegt und beschäftigt hat, wie in einem
treuen Spiegel reflectirt.
Folgen wir blos talmudischen Quellen, so kommen
wir zu folgendem Eesultat: Bis zur Zeit Trajans
suchen wir vergebens nach einer charakteristischen
Notiznahme von der neuen Erscheinung auf Seiten
der Lehrer Israels. Es ist, als ob bis dahin in Pa-
lästina das Christenthum durchaus nicht als aus dem
Rahmen des Judenthums getreten erkannt worden
wäre. Ton da ab wird es anders. Religionsgespräche
mit ILinäern, bald harmloser, bald beissender Art,
III
werden mitgetheilt , Einrichtungen werden getroffen
mit dem Bewusstsein, dass dem Judenthum eine Ge-
fahr drohe, Verbote gegen ketzerische Bücher werden
erlassen, eine Methode der Schriftauslegung kommt
auf oder wird wenigstens vervollkommnet, welche der
angegriffenen Tradition zur neuen Stütze werden soU.
Dafür den geschichtlichen Hintergrund in kleinen
Specialuntersuchungen deutlicher zu machen, ist, wenn
auch nicht die ursprüngliche Tendenz dieser Schrift —
das war vielmehr einfach das Streben nach Klarheit
über gewisse dunkle Stellen und über gewisse exege-
tische Eigenthümlichkeiten des Talmud — aber doch
ein, um mit Aristoteles zu reden, nicht zu ver-
schmähendes „£7iLY^Tv6[j.£vov zbXoc,'^.
Der Eleiss und der Scharfsinn christlicher Ge-
lehrten hat ja längst die Betrachtung des Judenthums,
wie es in jener Zeit sich gestaltet hatte, für das Yer-
ständniss des damals neu entstehenden Christenthums
zu verwerthen gesucht, Aber bei den Massen, welche
diese Forscher ohnehin zu umspannen haben, ist eine
selbstständige Durcharbeitung des Talmud und der
Midraschim ihnen nicht zuzumuthen. Hier müssen
Diejenigen eintreten, welche an der Beschäftigung mit
dem Talmud kein blos gelegentliches Interesse nehmen.
Unbefangene Wahrheitsforscher werden ja die Berich-
tigung mancher aus Mangel an tieferer Erkenntnis s
des Talmudismus herrschenden falschen Urtheile sich
lY
gern gefallen lassen. Befangene brauchen überhaupt
keine neuen Bücher.
Wie schwer es ist, selbst für den begabten
Forscher, bei blos gelegentlicher Benutzung der Tal-
mudtexte das Richtige zu sagen, möchte ich an einem
der genialsten zeigen, dem Franzosen Ernest Renan.
Er ist ehrlich genug, sich als Jünger der deutschen
Wissenschaft in seinen Leistungen zu bekennen. Das
ihn persönlich Auszeichnende aber — von dem Glänze
seiner Darstellung abgesehen — namentlich selbst der
tübinger Schule gegenüber, der er offenbar das Meiste
verdankt, ist einmal die Yermeidung philosophischer
Construction bei einer wesentlich historischen Auf-
gabe — ein Hauptfehler des sonst so erstaunlich
geistesmächtigen Baur — , dann eine eingehendere
Benutzung des Talmud. Aber selbst wo er Zutreffen-
des über den Talmud sagt, mischt er doch Wahres
und Falsches und spricht wie ein in die Sache nicht
ganz Eingedrungener. Ich gebe ein Beispiel aus der
autorisirten deutschen Ausgabe seines Paulus (S. 1 03) :
„Hierin zeigte sich die grosse Dualität im Juden-
thum. Der Geist des Gesetzes, das wesentlich ein-
schränken, Yon andern absondern sollte, war durchaus
verschieden von dem der Propheten, die in ihrem
weiteren Gesichtskreise an die Bekehrung der Welt
dachten. Zwei der talmudischen Sprache entlehnte
Worte drücken den eben bezeichneten Unterschied
gut aus. Die Hagada, gegenüberstehend der Halacha,
bezeichnet die Yolksthümliche Predigt, die sich die
Bekehrung der Heiden zum Ziel setzt, während im
Gegentheil die gelehrte Casuistik nur an strenge
Ausübung des Gresetzes c'enkt ohne die Absicht, Je-
mand zu bekehren. Die Evangelien sind nach der
Sprache des Talmud blosse Hagadas, der Talmud da-
gegen ist der letzte Ausdruck der Halacha. Die Ha-
gada hat die Welt erobert und das Christenthum ge-
schaffen, die Halacha ist die Quelle des orthodoxen
Judenthums, das noch besteht, ohne den Wunsch sich
auszubreiten ; die Hagada ist hauptsächlich galiläischen,
die Halacha hauptsächlich jerusalemischen Ursprungs;
Jesus, Hillel, die Yerfasser der Apokalypsen und Apo-
kryphen, sind Haggadisten , Schüler der Propheten,
Erben ihrer unbegrenzten Bestrebungen. Sammai,
die Talmudis ?n, die Juden nach der Zerstörung
Jerusalems sind Halachisten, Anhänger des Gesetzes
und seiner strengen Beobachtung. Wir werden sehen,
wie der Gese esfanatismus bis zu der äussersten
Krise des Jahres 70 jeden Tag wächst, und am Yor-
abend des Yerhängnisses des ganzen Yolkes durch
eine Art Keaction gegen die paulinischen Lehren
zu jenen „achtzehn Kegeln" führt, die von da an jeden
Yerkehr zwischen Juden und Mchtjuden unmöglich
machten" u. s. w.
YI
Die Worte enthalten ja manches Treffende. Aber
ist das ein richtiger G-egensatz zwischen Hillel und
Sammai, dass Hillel Haggadist gewesen und Sammai
Haiachist? Woher hat Kenan, dass Galiläa haupt-
sächlich das Yaterland der Haggadah, Jerusalem die
Taterstadt der Halachah gewesen sei? Gesetzt, es
wäre wahr, dass die Hillel'sche Kichtung die hagga-
dische gewesen, so stammt ja doch Hillel aus Baby-
lonien, hört in Jerusalem bei Schemajah und Abtalion
und hat eine besondere Beziehung zu Galiläa nicht.
Aber Hillel kann sogar umgekehrt durch seine Auf-
stellung der sieben Deutungsregeln, wenn nicht als
Begründer, doch als eine der Säulen der Halachah
bezeichnet werden. Dass Hillel weitherziger gewesen
als sein schrofferer College Sammai, hat mit seiner
Richtung auf Halachah und Haggadah nichts zu thun.
Gibt es denn keine weitherzige Halachah und keine
exclusive Haggadah? Yon den ,,18 Anordnungen"
lässt sich sagen : ä la guerre comme ä la guerre. Es
sind Kriegsmassregeln gegen das andringende Rom.
Aber trotz dieser Ungenauigkeiten zeigt Renan auch
hierbei seinen grossen Blick. Eine solche Dualität,
wie er sagt, herrscht wirklich im Judenthum nur
nicht blos jener Zeit: Exclusivität und Weitherzigkeit.
In einer monotheistischen Religion kann
man ja auf die Länge keinen Menschen von
Gott ausschliessen. Darum hat das Judenthum
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schon von Jesaias her seinen auch die Heidenwelt
mit einbegreifenden Zug. Im Talmudismns spricht
sich das halachisch aus in den Liebespflichten
gegen die das noachische (allgemein menschliche) Ge-
setz befolgenden Mchtjuden und in der zur normirten
Halachah gewordenen Meinung: „Die Frommen aus
den Yölkern der Welt haben Antheil an der zukünfti-
gen Welt". Aber man will darum nicht in das
Heidenthum aufgehen, und das ist die jüdische Ex-
clusivität. Wenn demnach Eenan auch nicht gerade
gut exemplificirt, so bedarf doch das, was er sagt, nur
des Zurechtrücken s, um wahr zu sein. Aber eben
dieses Zarechtrücken ist Sache Derer, die den Talmud
nicht blos ad hoc nachschlagen.
Wenn meine Untersuchungen die bedeutenden
Leistungen jüdischer Gelehrten im letzten halben
Jahrhundert nach dieser Richtung hin auch nur ein
wenig ergänzen, hie und da auch berichtigen, so haben
sie ihren Zweck erreicht.
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Eine verstümmelte und eine nicht genügend
gewürdigte Stelle.
Ich beginne meine Untersuchung, indem ich zAvei
einander schnurstracks Avidersprechende rabbinische
Stellen erörtere, deren eine dem nachtalmudischen
Tractate „Sopherim" i), deren andere dem jerusalemischen
Talmud entnommen ist.
Dass der Berieht über eine zweimalige griechische
Pentateuch-Uebersetzung, wie er in dem Tractat Sophe-
rim gegeben, von einem über die Vergangenheit- un-
klaren Keferenten ausgegangen und wohl auch in
1) „Sopherim" (Schreiber) ist der dritte der sogenanuteu
„kleinen Tractate'S die zu Ende der vierten Ordnung (Nesikin)
des babylonischen Talmud abgedruckt sind. Nähere Belehrung
über diesen Tractat, der „Regeln für Schreibung der Gesetzesrollen
und Synagogenritual'' enthält, bei Zunz, Gottesdienstl. Yorti-äge
S. 95 ff. Vor kurzem ist „Sopherim" nach Handschriften be-
sonders edii-t und mit einem Commentar versehen worden von
Dr. Joel Müller. Für unser Urtheil über die beiden Berichte
sind die Varianten, welche die Handschriften zu unserer Stelle
bieten, von keinem Belang.
1
seinem ersten Theile yerstümmelt ist, hat schon Asa-
riah de Eossi i) gesehen nnd in der Hauptsache auch
richtig gedeutet. Während nämlich der Tractat die
Erzählung von den 72 Alten, die der König Ptole-
mäus in 72 Häuser (Zimmer) brachte, ohne ihnen
den Zweck ihrer Berufung anzugeben, bis auf einige
IJngenauigkeiten wörtlich dem babylonischen Talmud -^)
entnimmt — der Bericht kommt viel nüchterner
auch in der halachisch-haggadischen Erklärung des
zweiten Buches Mosis, der sogenannten Mechiltha^)
und im jerusalemischen Talmud^) vor — , schickt er
eine ihm eigenthümliche Relation voran, welche fol-
gendermaassen lautet : „Einst übersetzten fünf Alte dem
Könige Ptolemäus die Thora ins Griechische, und es
war der Tag der Uebersetzung hart für Israel wie der
Tag, an welchem das goldene Kalb gemacht worden
war, denn die Thora hatte nicht genügend
übersetzt werden können". Nach diesen Worten
setzt er eben die Erzählung von den 72 Alten als
einen zweiten Yorgang gleichfalls unter Ptolemäus ^).
1) Der beiühmte Mantuaner Asariah de Rossi (1511 — 1578)
urtheilt über ucsere Stelle in seinem Meor Enajim (Imi-e binah
c. 8 ed. Cassel S. 136 ff.)
2) MegiUa 9a.
3) Zu Exodus 12, 40.
4) MegiUa Cap. I- S. 71 col. 4.
5) Sopherim I., 8 u. 9: "öbnb isn^tr D^2p7 ntt'önn ntrrö
ii iirrir DVD bKitt^''b ntrp orn im« rrm n^or minn nx "i^ön
Darüber, dass der Redacteur des Tractats Sophe-
rim seine Nachrichten und Personen verwirrt hat, ist
kein Wort zu verlieren. Nicht blos die moderne Kritik,
sondern schon das Mittelalter ist diesem Tractat gegen-
über vorsichtig. So sagt R. Ascher ij: „der jerusale-
mische Talmud ist massgebend, wo er dem Tractat
Sopherim entgegen ist, denn dieser Tractat ist erst in
späterer Zeit verfasst worden, so dass von seinen Wor-
ten im Talmud nichts angeführt wird". Das hindert
aber nicht, dass wir das Wahre, welches dem Falschen
beigemischt ist, zu eruiren suchen.
Richtig in dem Bericht ist I. die Nachricht von
einer zweimaligen Uebersetzung des Pentateuch, aller-
dings in ganz verschiedenen Zeiten, nämlich zur Zeit
der sogenannten 70 und wiederum zur trajanisch-
hadrianischen Zeit. Richtig ist 11. dass die zweite
Uebersetzung veranstaltet \\n.irde in Tagen, wo man in
der ersten eine Gefahr für Israel sah, wie einst in dem
goldenen Kalbe. Diese Bezeichnung für einen die
mtr :n2i2i b^ Dnnnb nbi^^ nmnn nn^'^ ihü b:un nx S^ntr^
D^nn cni?) 'un Di^^trim a'ipt (n"U) ü'v^^ osatr -['^ön ^öbnn ntrrü
nnb nöK an« nnKi nn« b^ b:ii< 0222 dd33 hö hv nnb umn n^i
iö^3cni nnxi nnx Sa abn n:iv nypn jn: Dann nr» nmn ^b inna
'121 ,in irtr nm O"^ n^xi; '':sn nninn n« ib innai 'hk ni?nb
1) Bekannt unter dem Namen Eosch, starb 1327. Rosch
spricM sein im Text angegebenes Urtheil über den Tractat Sophe-
rim in den Halachoth ketanoth, Hilchoth Sifre Thora (abgedruckt
hinter den „kleinen Tractaten") aus.
1*
Keligion gefährdenden Yorgang in Israel hat übrigens
einen sprichwörtlichen Charakter, da sie auch sonst
wiederkehrt, z. B. bei dem Streite der schammaitischen
und hillelschen Schule über die sogenannten 18 Yer-
ordnungen i). Kichtig kann selbst sein III. die Nach-
richt von den fünf Alten, bei denen ich an die fünf
bekannten Jünger K. Jochanan ben Saccai's denke,
unter denen die berühmtesten und hervorragendsten ß.
Elieser und K. Josua als diejenigen im Talmud auftreten,
auf deren Geh ei SS und unter deren Anspielen Aquila seine
griechische Uebersetzung zu Stande gebracht hat-).
Aber selbst wenn man mit de Kossi darin eine un-
genaue Erinnerung an die anderen Uebersetzer
Aquila, Symmachus, Theodotion sieht, würde die Zahl
fünf insofern eine Art Erklärung finden, als es ja, wie
aus den Octaplis des Origines zu ersehen, mrklich
ausser den 70 noch fünf griechische Uebersetzer gab,
so dass der Kedacteur des Ti'actats Sopherim etwas
von fünf Uebersetzern gehört haben könnte. Falsch
angewendet dagegen und aus späterer Anschauung
1) Jer. Tahnud, Sab> ath, Cap. I, S. 3 col. 3 zu : mD'^HÖ ibx
,Tn Dvn imK 'la npnb i'^uuo jn; p .Tp^n p .T:;n n-'^bun r.bxü
2) Jer. Talmud Megilla, cap. I., S. 71 col. 3. Die Pai-allel-
stelle in b. Talmud Megi la 3a gibt zu dem IiTthum Anlass, als
handle es sieb um unser aramäisches Targum, wogegen die Sache
nach dem jerusalemischen nicht miss verstanden werden kann.
5
heraus verschlimmbessert sind die Worte des Berichts
„weil die Thora (griechisch) nicht genügend übersetzt
werden konnte". Genau das Umgekehrte lehrt der
jerusalemische Talmud. Dort heisst es^): „Nach ein-
gehender Untersuchung fand man, dass die
Thora nach ihrem vollen Bedarf in keiner
anderen Sprache wiedergegeben werden könne
als in der griechischen". Man wird zugeben,
dass diese Worte zunächst überraschend klingen, aber
wir werden darthun, dass sie strengstens und nicht
etwa hyperbolisch gemeint sind. Sie bieten den
Schlüssel für Manches, was uns im Talmud seltsam
erscheint. Um jedoch die Worte in ihrer vollen Trag-
weite zu erkennen, müssen wir zunächst das je nach
den verschiedenen Zeitläuften wechselnde Yerhalten
der Talmudlehrer gegenüber der griechischen Sprache
so gedrängt wie möglich darlegen.
1) Jer. Talmud 1. 1.: ^2 Dnnnb nbis" nmnn pi<u^ iK2iöi ipnn
Das wechselnde Verhalten der Talmudlehrer
gegenüber der griechischen Sprache.
Längst bevor die diuTh die Yerhältnisse erklär-
bare Scheu der Lehrer, neben den kanonischen
24 Büchern der heiligen Schrift ein anderes auf die
Religion bezügliches Buch, und sei das auch eine
Uebersetzung der Schrift, in jüdischen Kreisen gelten
zu lassen, die Bestimmung hervorgerufen, dass man
weder Halachot (Gesetzesbestimmungen) noch Hagga-
doth (erbauliche Auslegungen), weder Uebersetzungen
der Schrift, noch Segenssprüche aufschreiben dürfet),
bestand eine griechische Bibelübersetzung als fait
accompli. Zur Zeit ihrer Entstehung und noch lange
Zeit nachher war kein Grund vorhanden, in ihrem
Bestehen etwas Beklagenswerthes zu sehen. Dass die
^elt auf drei Tage sich verfinsterte zur Zeit als die
Uebersetzung der 70 gemacht worden, und dass darum
der 8. Tebet ein Fasttag ist, wie es in dem späteren
i) B. Tabnud, Sabbatli 116 a und b. Gittin 60b und öfter.
Zusatz der Fastenrolle heisst und wie es von da in die
Ritualcodices gekommen (Orach Chajim 580), ist Aus-
druck einer sehr viel später entstandenen Ueberzeu-
gung von der verhängni ssvollen Bedeutung der griechi-
schen Bibelübersetzung.
Den Gang unserer Darstellung einen Augenblick
unterbrechend, mache ich die Bemerkung, wie ähnlich
der Talmud und die Kirchenlehrer den Antheil der
physischen Welt der Dinge an den moralischen und
geschichtlichen Yorgängen construiren. Bekanntlich
verfinsterte sich die Sonne auf drei Stunden beim
Tode Jesu (Matth. 15, 33). Ebenso hat das Zerreissen
des Tempelvorhanges (Luc. 23, 45) sein Gegenbild in
dem Zerreissen des Yorhangs bei der Tempelzerstörung
(b. Talmud, Gittin, 56b), wenn es auch an Ort und
Stelle den Anschein hat, als habe das Wunder nicht
im Zerreissen, sondern darin bestanden, dass der
Yorhang von Blut troff. Aber die ursprüngliche
jüdische Sage scheint auf ein wunderbares Zerreissen zu
gehen, da der Midrasch zu den Klageliedern 2, 17 die
Worte „er hat seine Yerheissung vollbracht" geradezu
übersetzt: „er hat seinen Purpur (Yorhang) zerrissen" i).
Wollte ich die Frage aufwerfen, was von solchen Wun-
dern zu halten sei, so würde ein nüchterner Forscher
lächeln. Aber ich will an einer merkwürdigen Parallele
1) Siehe Dr. Michael Sachs, Beiträge zur Sprach- u. Alter-
thumsforschung I., S. 29.
8
zeigen, in welcher "Weise bisweilen der Canon: Wo
Wunder erzählt werden, da haben ^^ir es mit nichts
Thatsächlichem zu thun i), modificirt werden müsse.
„Als R. Abbahu (im Zeitalter des Diocletian) starb —
so erzählt der Talmud 2) — da vergossen die Säulen
von Cäsarea Thränen". Ein richtiges rabbinisches
Märchen, wird man sagen. Aber siehe da, Eusebius,
der Bischof von Cäsarea, erzählt für dieselbe Zeit, in
der R. Abbahu lebte, nachdem er über christliche Mär-
tyrer in Cäsarea berichtet hatte. Folgendes 3): „Wäh-
rend dieses (nämlich die grausame Behandlung der
Märtyrer) mehrere Tage hindurch geschah, ereignete
1) Siehe Th. Nöldecke's geistvolle Aufsätze: die alttesta-
mentliche Literatur, S. 7 ff.
2) P. Talmud, Moed katon, S. 25 b. in2K nn nx-23 TO -5
3) Eusebius in der zweiten Zugabe zum 8. Buche seiner
Kirchengeschichto, welche übersclirieben ist: rizpi toüv ev IlaXa:-
cTir/j fiapTopyjcdvTwv c. 9. Ich gebe seine eigenen Worte: ecp'
oiq irXe'.ccalg Tj|iEpats £7r'.T£XrOO{Ji£votg, toioütov Tt Ttapaoo^ov oujxßaLvs::
alO-pia Y^v xai Xa|j.7tpÖ5 ö ä-rjp xaJ xoö Tzzp'Ayovzoq xaid-xa-ig
EüO'.iutdrr/ sha dö-poiu^ tüjv dva Tr,v zoX-.v xioviuv ol t«^ or^iiosiag
uTTfips'.oov GToas, oaxputuv T'.vd xpoTCov ol uXsious oTaXaY|J-oug cctt-
sotaCov ayopai -es xai ^Xaista'., jj-y^Ssjaiäg '^sxdoog l| dspog Y^Y'^^'^^i"
[isvr^S oi)x olo' 6:r69'ev uSav. pavTiaO-staai xaö-UYpatvovro (Lg aoxLxa
otaö-püXXriO-rjvat clg «dvxag Saxpüsai ttjV y^^ ^??'^{^V Xoy«), rrjv xcüv
TOTE TTpayO-sv-ccuv avoc'.oupYiav [a-r] 'fspou-av sie sXsYy&v ts cpüaswc;
dxsYxxo'j xai a.zo\i-a^oöc, dvö-ptu-tuv, XiO'oo^ xac tyjV a'i/uyov oXyjV
KKxXaücai Tols Y^f'^'^/I^^^^'S* ^""^IP^S ^^cug xai tiöö-oj sü o'.S' Sx:
Solsisv slvai xö pTj|ia lolc, (Jls^' Tj[Jiäg* dXX' ohy ohTisp 6 xaipog xtjv
dX-fjO-siav iTC'.oxcjucaxo.
sicli folgendes Seltsame. Die Luft war rein und
hell und der Himmel wunderbar heiter. Da begannen
plötzlich die meisten Säulen, welche die öffentlichen
städtischen Hallen (in Cäsarea) stützten, wie eine Art
Thränenti'opfen zu vergiessen. Auch die Marktplätze
und Strassen wurden, während kein Tröpfchen aus der
Luft kam, ich weiss nicht woher, vom Wasser nass
und feucht. So dass alsbald alle Leute sagten, die
Erde weine in unsagbarer Weise, weil sie die Frevel-
haftigkeit des damals Yollbrachten nicht tragen könne.
Zar Beschämung der harten und lieblosen Natur der
Menschen hätten die Steine und die leblose Materie
über das Geschehene geweint. Als Geschwätz und
Fabel, weiss ich wohl, wird späteren Menschen das
Gesagte erscheinen, nicht so denen, denen der Zeit-
punkt selbst die Wahrheit der Sache bekräftigt hat".
Das Factum ist also nicht einfach erfunden, aber in
der Deutung des Factums unterscheiden sich die
Zeiten und die Menschen.
Doch kehren wir zu unserem Gegenstande zurück.
In der Mischnah und in den Gemaren herrscht bald
ein überaus freundliches Yerhältniss zur griechischen
Sprache, bald ein feindliches, selbstverständlich je nach
der geschichtlichen Situation. Aus dem Yorhanden-
sein einer griechischen Uebersetzung entsteht die
Halachah, dass die Bücher der heiligen Schrift in jeder
Sprache ritual gültig geschrieben werden dürfen. Aber
10
R. Simon ben Gamaliel schränkt die Halachah auf
den Fall ein. Auch bei den Büchern der heiligen
Schrift, meint er, haben sie (die Lehrer) nur den Ge-
brauch der griechischen Sprache gestattet. (Mischnah
Megilla I. 8.) Die Gremara, nachdem sie selbst die
Entstehung der Halachah aus dem Factum erklärt,
motivirt zugleich hinterdrein in haggadischer Weise
den der griechischen Sprache eingeräumten Vorzug
mit dem Bibelverse (Genesis 9, 27): „Weit mache es
Gott dem Japhet, und wohne (so dass er wohne) in
den Zelten des Sem'', bei welcher Gelegenheit die
Schönheit der griechischen Sprache gepriesen und in's
Schriftwort hineingelesen wird^). Die Stelle ferner,
in welcher das Griechische sogar als das einzig
brauchbare Organon für die Yerdolmetschung der Lehre
bezeichnet ^^ird, haben wir bereits beigebracht, andere
hierher gehörige Stellen werden uns noch begegnen.
Dagegen heisst es in der Mischnah (Solah 9, 14):
„Im Kriege des Quietus'' — T\de es bekanntlich nach
der unzweifelhaften, durch den Zusammenhang der
1) B. Talmud MegiUa, S. 9: irman n'nnt': ^K min^ n nisK
K':m ibön •abm n r i: ö d i t' ö i n-iin necn ahi^ n"nn ih n^:ir
'in DrStr ']b^n ■'ö'^nr nrrü Nachdem mm die Geschichte von
den 72 in bekannter Weise gegeben, folgt eben die im Texte
besprochene Deutung DtT ^bnKS ptt" ns^ btr ime'S'' „Die Schön-
heit des Japhet wohne in den Zelten Sems''. Aus dem Tractat
Sopherim ist zu ersehen, dass mau später das Gi'iechische in
ritualer Beziehung nicht mehr bevorzugte. (Sopherim I, 7.)
11
stelle selbst gebotenen und auch textuell nicht un-
bezeugten Conjectur von Graetz statt Titus heissen
muss — „wurde bestimmt, dass Niemand seinen Sohn
Griechisch lernen lasse". Es ist wahr, dass die baby-
lonische Gemara wegen des Widerspruchs, in welchem
diese Bestimmung zu der selbst die Halachah beein-
flussenden Gunst steht, die sonst der griechischen
Sprache zugewendet wird, die Mischnah dahin erklärt,
dass nicht die griechische Sprache, sondern die
griechische Weisheit, nach Einigen eine Art Zeiclien-
sprache gemeint sei. Aber abgesehen von der gänz-
lich un geschichtlichen Haltung der den Widerspruch
ausgleichenden Stelle i) ist aus dem jerusalemischen
1) Als Motiv für das Verbot des Griechischen, das im
Polemos sckel Kitos 116 n. Chr. gegeben wurde, wird (babil.
Talmud, Sotah Ende) die sowohl von Josephus (Alterthümer XIV,
2, 2) als auch vom jerusalemischen Talmud (Berachoth Cap. IV.)
wenn auch nicht in allen Zügen bestätigte Geschichte vorge-
bracht, nach welcher der von den HjTcanisten belagerte Aristo-
bul (64 V. Chr.) anfangs für schweres Geld die nothwendigen
Opferthiere von den Belagerern geliefert erhielt, dann aber auf
den Eath eines in griechischer "Weisheit gewandten Alten
ohne Opferthiere belassen wurde, ja zum Hohn ein Schwein er-
hielt. Dass diese Motivirung nicht passt, folgt so sehr aus
chronologischen Gründen, dass weitere Inconvenienzen aufzu-
suchen überflüssig ist. Bei der Gelegenheit bemerkt Graetz
(Gesch. der Juden, 3. Band, 2. Auflage, S. 480), dass das Erd-
beben, von welchem der Talmud als von einer Folge des sacri-
legischen Verhaltens der Hyrcanisten redet, von Bio Cassius
gleichfalls erwähnt wird. Es würde das zu meiner im Texte ge-
12
Talmud der Sachverhalt ganz klar zu entnehmen. Dort
wird nämlich das Verbot richtig auf das Erlernen der
griechischen Sprache bezogen, ein Yerbot, das freilich
nicht durchdrang und nicht mehr durchdringen konnte,
dem vielmehr, wie wir sehen werden, eine positive und
wirksamere Maassregel folgte. Warum das Yerbot für
jene Zeit schwer befolgbar war. könnte man schon
aus den Worten entnehmen, in denen das Verbot
referirt ist. Es erinnert nämlich an das Geschicht-
chen, das man, von Ovid glaube ich, erzählt, den
nämlich seine Mutter, als er noch Knabe war, bestraft
hätte, weil er beständig Verse gemacht. Gezüchtigt
sprach er: ,,Jam, jam non faciam versus, carissima
mater'. Aehnlich registrirt die Mischna das Verbot,
Griechisch zu lernen, mit den Worten: In dem
Polemos des Quitos verboten sie das Griechisch. So
in die Sprechweise eingedrungen ist das Griechische,
dass man griechisch auch dann redet, wenn man es
perhorrescirt. Daher sagt auch trotz des Verbotes der
Mischnah -Redacteui', R. Jehuda Hannasi: Was hat
machten Bemerkung vou dem bisweilen faetischen Hintergründe
der Wimder voiti-efflieh passen. Allein es darf nicht verschwie-
gen werden, dass das Wunder des Erdbebens im Talmud auch
sonst als Folge eines verhängnissvollen Ereignisses vorkommt.
So bebt Palästina gleichfalls über seine 400 Quadrat-Parasangen
hin, als Jonathan bei Usiel das Prophetentarg am enthüllt. (Me-
gilla 3a). Bekanntlich geschieht nach Matth. 27, 5 dasselbe beim
Tode Jesu.
13
das Syrische in Palästina zu thun? (Nach Palästina
gehört nur hin) entweder hebräisch oder griechisch
(b. Talmud, Solah zu Ende). Ebenso meint R. Abbahu,
von dem wir schon oben zu sprechen Gelegenheit ^
hatten : „Es ist gestattet (d. h. trotz des in der Mischnah
erwähnten Yerbots), seine Töchter Griechisch lernen
zu lassen, da es ein Schmuck für sie ist (jer. Talmud
Solah, Ende). Eine eigenthümliche Charakteristik der
griechischen Sprache begegnet uns in folgender Stelle :
„Vier Sprachen sind angemessen, dass sich die Welt
derselben bediene : die griechische — das „Laas" ist hier
so zu verstehen — zum Lied (Poesie), die römische
zum Krieg, die syrische zur Klage, die hebräische
zur Rede" (jer. Talmud Sotah c. 7, halachah 3 und
Megillah c. I. halachah 9). Treffender freilich ist die
Charakteristik in Midrasch Thillim, wo nur von drei
Sprachen die Rede ist und gesagt wird, das Römische
eigne sich zum Ejriege, das Griechische zur Rede,
das Assyrische (das hier hebräisch sein soll und
Aschurith genannt wird) zum Gebet i).
In jedem Falle aber war zu Anfange des zweiten
christlichen Jahrhunderts ein energischer, aber erfolg-
loser Yersuch gemacht worden, das Griechische aus
jüdischen Kreisen zu verdrängen, und es fragt sich,
aus welchem Grunde? Der jerusalemische Talmud
^) Siehe Lightfooth, horae hebraicae in ev. Matth. S. 257.
14
gibt als Grund an „wegen der Angeber"^). Im Talmud aber
sind wir gewohnt, Angeber und Minäer (Minim) nament-
lich für die Zeit, in der wir stehen, fast als Wechsel-
begriffe auftreten zu sehen. Es ist demnach die Be-
ziehung aufzufinden, in welchem die Angeber, resp.
die Minäer sowohl zum „Polemos schel Kitos" als
auch zur griechischen Sprache standen.
Bekanntlich erhoben sich fast alle von Juden be-
wohnten Länder ums Jahr 116 gegen Trajan. Lassen
wir die Frage unerörtert, ob Palästina selbst sich am Auf-
stande betheiligte. Genug, wir wissen wohl, dass die Juden
in Aegypten, Cyrene, Lybien, Cypern zur selben Zeit
aufstanden, zu welcher auch ihre Brüder in Babylonien
kämpften, wir lesen von einer beispiellosen Erbitterung
der Juden, wir erfahren aber nicht die eigentliche
Ursache. Es wäre naiv zu glauben, dass wir das zu-
fällig nicht erfahren. Die Quellen, die uns entzogen
sind, sind nicht der Unbill der Zeiten zum Opfer
gefallen, wir müssen uns des Ausdrucks erinnern,
den Yalesius auf den Yerlust des Hegesipp anwendet,
er sei „seiner Irrthümer wegen" verloren gegangen.
Eusebius' Wort wenigstens, dass die Juden „wie von
einem schlimmen Aufruhrsdämon ergriffen worden
seien" 2) ist schwerlich eine geschichtliche Erklärung.
1) Jer. Talmud, Solali 1. 1. nmcöH ^:BÖ
2) Eusebius. h. e. lY., 2 „ujoTtsp ötzo Ttvsüiiaxog Seivoü xac
oxaoKuSoug avappiTttO'O^vxes".
15
Wir sprechen vielmehr folgende Sätze aus, die ^^dr nach
einander zu erörtern haben werden: a) Trajan hatte
den Tempelbau gestattet, so dass ein Freudentag „Jom
Trajanus" in die Fastenrolle eingetragen wurde,
b) Damals zuerst war es für den Theil der Christen,
der antinational dachte und der durch Exegese des
griechischen alten Testaments — zur Zeit auch für
sie noch die alleinige heilige Schrift — die anti-
nationale und antinomistische Auffassung der Lehre
Mosis begründete, eine Frage von Sein oder Nicht-
sein, ob der Tempel in Jerusalem aufs neue erstehe
oder nicht, c) Sie setzten den Befehl zur Sistirung
des Tempelbaues durch, und die Rebellion brach aus,
obwohl gerade in Palästina selbst aus Gründen,
die uns noch begegnen werden, nicht so offen wie
in den übrigen von Juden bewohnten Ländern, d) Der
Freudentag wurde abgeschafft, als Quietus in Palglstina
wüthete und den Pappus und Lollianus, die Haupt-
factoren des ganzen Unternehmens des Tempelbaues,
getödtet hatte. Da erst erkannte man die Grefahren,
welche eine Schriftdeutung, die nicht auf den Urtext
zurückging, mit sich brachte. Man verbot das
Griechische wegen der antinationalen Richtung, welche
in den auf Grund der griechischen Bibel entstandenen
Schriften vertreten war.
Erörtern wir diese Sätze nach einander. Da
Graetz, Jost, Dernburg, Yolkmar und Andere die im
16
Midrasch i) erwähnte Erlaiibniss der Kömer , den
Tempel zu bauen, auf Hadrian im Anfange seiner
Eegierungszeit beziehen, wohl um diese midraschische
Xachricht mit externen Quellen, deren Bedeutung hier
aber gleich Null ist, zu harmonisiren , so geben wir
die Midraschstelle, um zu sehen, was sie aussagt.
Sie lautet : , Jn den Tagen des R. Josua ben Chananiah
befahl die frevelhafte Herrschaft (Rom), dass der
Tempel gebaut würde. Da setzten Pappus und Lol-
lianus AYechslertische von Acco bis Antiochia und
lieferten den aus der Fremde (Golah) Hinaufziehenden
ihren Bedarf an Silber, Gold und Sonstigem. Da
gingen jene Cuthäer und sagten: „Kundgethan sei
dem Könige, dass, wenn diese Stadt gebaut und die
Mauern vollendet sein werden, sie Steuer, Schoss
und Wegegeld nicht geben werde". Er aber sagte
ihnen: ,,Was sollen mr thun, ich habe einmal den
Befehl (die Erlaubniss) gegeben". „Lass ihnen sagen",
riethen sie, „sie sollen ihn (den Tempel) entweder auf
einen anderen Platz stellen oder um fünf Ellen ver-
kleinern oder vergrössern, und sie werden von selbst
zurücktreten". Das Volk war dicht versammelt in
der Ebene von Beth-Rimon. Als nun die (chicanösen)
Briefe kamen, brach es in Thränen aus und wollte
sich empören. Da sagten sie (nämlich die Leiter oder
1) Genesis Eabbah c. 64.
17
Lehrer) ; „es komme doch ein Weiser, der das Volk zu
beruhigen versteht". Es wird nun des Weiteren be-
richtet, dass es E. Josua ben Chananiah gelang, das
Yolk durch eine Fabel zu beschwichtigen.
Kaum gesagt zu werden braucht, dass mit der
Wendung: „da gingen jene Cuthäer" u. s. w. nicht
etwa wirkliche Samaritaner als Denuncianten bezeich-
net werden sollen, sondern dass die Denuncianten
jener Zeit nur als vergleichbar hingestellt werden jenen
Cuthäern, die zur Perserzeit (522 v. Chr.) den Tempel-
bau gehindert hatten mit den Worten Esra 4, 13,
welche auch den neuen Feinden in den Mund gelegt
worden. Wer aber war der Kaiser, der die Erlaub-
niss gegeben? Graetz sieht ein, dass Pappus und
Lollianus in den talmudischen Quellen und zunächst
an unserer Stelle eine zu grosse KoUe beim Tempel-
bau spielen, als dass man an Hadrian denken könnte,
so lange die Meinung existirt, dass Pappus und Lollianus
bereits vor dem Kegierungsantritt des Hadrian durch
Quietus ums Leben gekommen seien. Er bemüht sich also
um den Nachweis, dass die Quellen, die von der Fest-
nehmung des Pappus und Lollianus durch Quietus
reden, nicht sowohl besagen wollen, dass sie getödtet,
als vielmehr, dass sie gerettet worden seien. Aber
thatsächlich ist ihm dieser Beweis missglückt.
Der jerusalemische Talmud sagt ausdrücklich:
Der Trajanstag ist abgeschafft worden an dem Tage,
2
18
an welchem Lollianus und Pappns getödtet wor-
den 1). Der babylonische bestätigt das Factum.
Sowohl beginnt er die Erzählung mit den Worten:
,.Als Trajan den LoUianus und seinen Bruder Pappus
in Laodicäa getödtet hatte'', als auch schliesst er, dass
er trotz ihrer Vorstellungen ihnen das Leben nahm 2).
Wenn er wenige Zeilen vorher den Tod des Schme-
maja und Achija gleichfalls auf den Trajanstag verlegt,
so ist es wohl keine grosse Combination, wenn wir mit
Dernburg und den Alten darin nur die hebräischen Namen
für Pappus und Lollianus sehen. Ebenso klar ist es,
dass unsere Stelle wohl weiss, dass der Trajanstag
als Freudentag aufgehoben worden wegen des Todes
von Schemaja und Achija (Lollianus und Pappus),
dass er aber die Motivirung für den Trajanstag
selbst nicht mehr weiss. Wie natüiiich! Es war
eine kurze Freude, so dass man mit Aufhebung des
Trajanstages nicht wartete, bis die Fastenrolle über-
haupt aufgehoben würde, sondern ihn an dem
Tage als Freudentag abschaffte, an dem er durch
Tödtung der eigentlichen Motoren des Tempelbaues
inhaltlos geworden war. Von unserer Talmudstelle
aus kam auch die unpassende Motivirung für den
1) Jer. Megillah c. I. Halachah 4, Taanit II. Hai. 1 jnnr
•n nn;r ar pnss dv bts:: 2pL" nn xnK n -iöki pnt: ar rra -iri:
2) Bab. Talmud, Taanit 18b.
19
Trajanstag in das Scholion zur Fastenrolle. Gleich-
falls der Tractat Semachoti) spricht von dem Tode
des LoUianiis und Pappus mit dem allerdings klar
als Ausschmückung erkennbaren Zusätze, dass ihre
Drohung, falls sie getödtet würden, so seien sie doch
vom Geschlechte der Chananiah, Mschael und Asariah,
d. h. so würde Gott ihren Tod rächen, sich sofort
erfüllt hätte, indem sie, noch sterbend sahen, wie ihm
(dem Quietus) die Augen ausgebohrt wurden. Yon
Tödtung und nicht von blosser Gefangennehmung
spricht auch der Midrasch zu Koheleth 9, 10. Wo
steht denn eigentlich, dass sie nicht getödtet wurden?
Man höre: Im Sifra^) und im Scholion zur Fasten-
rolle 3) wird gesagt: Als Trajan (Quietus) Lollianus
und Pappus ergriff, da sagte er zu ihnen: Wenn
Ihr vom Yolke des Chananiah, Mischael und Asariah
seid, so möge Euer Gott Euch durch ein Wunder
retten, wie er jene aus der Hand Nebukadnezar's ge-
rettet. Sie aber entgegneten: „Jene waren unsträf-
liche Leute und Nebukadnezar ein König, der es
werth war, dass durch ihn ein Wunder geschehe. Du
1) Einer der kleiuen Tractate, die sich in den Ausgaben des
babylonischen Talmud am Sclilusse der vierten Ordnung befinden,
auch Ebel Eabbathi genannt. Siehe Zunz, Gottesdienstliche Vor-
träge S. 89 u. 90. Unsere Erzählung findet sich c. 8. (S. 37 c. 3.)
2) Halachischer Midrasch zum 3. Buche Mosis, Unsere Er-
zählung ist zu lesen Abschnitt Emor, Cap. 9.
3) FastenroUe zur Stelle.
20
aber bist als frevelhafter König eines Wunders nicht
werth, und wir mögen wohl Gott gegenüber den Tod
verdient haben. Verschonst Du uns, so fehlt es Gott
weder an Bären, noch an Tigern, noch an Schlangen,
noch an Scorpionen, die uns treffen. Zuletzt aber
wird Gott unser Blut von Dir fordern. Man erzählt,
dass er (Quietus) von dort noch nicht aufgebrochen
war, als eine Staatsschrift von Kom kam, auf Grund
deren man ihm das Gehirn spaltete.
Ich erkläre, dass, wer diese Erzählung aufmerk-
sam liest, durch sie weit stärker überzeugt wird, dass
Lollianus und Pappus getödtet Avorden seien, als durch
die directen Berichte, die ja allenfalls falsch sein
könnten. Hier nämlich soll nicht sowohl für Quietus
als fÜL' naiv fi'omme Gemüther die iiTC machende
Schwierigkeit gelöst werden, warum Gott für so wür-
dige Leute wie Lollianus und Pappus nicht ein
Wunder gethan, so gut wie für Chananiah, Mischael
und Asaiiah. Dass das in der That der Fall gewesen,
kann nicht gesagt werden, da das Factum der Tödtung
feststand. Es wird darum distinguirt zT^ischen hier
und dort, aber doch wenigstens auf eine nachträgliche
wunderbare Fügung aufmerksam gemacht, nämlich
auf die zur Strafe für den Frevel an Quietus voll-
zogene Execution. Wie unkritisch es wäre, in der
Unterhaltung zwischen Quietus und dem Brüderpaar
Lollianus und Pappus statt den Versuch einer Theo-
Jl
dicee etwas Historisches zu sehen, geht aus der That-
sache hervor, dass der Mdrasch zu Echa 1, 16 wort-
getreu dieselbe Unterhaltung vorbringt, wo er die
bekannte Erzählung von den sieben Söhnen einer
Mutter, die als Glaubensmärtyrer gefallen, und auf
deren Wanderung und Wandlung aus der antiochischen
Zeit in die römische wir noch zurückzukommen Ge-
legenheit haben werden, in seiner Weise variirt. An
der Tödtung des Pappus und LoUianus ist somit
nicht zu zweifeln.
Auch sehe ich keinen Grund, in ihnen nicht zu-
gleich mit dem Midrasch zu Koheleth 9, 10 die „Er-
schlagenen von Lydda" zu sehen, denen eine, Anderen
fast unerreichbare Stufe der Seligkeit zugeschrieben
wird. Wie leicht konnte eine Yerwechselung zwischen
Lydda und Laodicäa (TlS und ^^plh) in einem Text
vorkommen, der auch sonst von Namenverderbniss nicht
frei ist'.i) Die Legenden über „die Erschlagenen von
Lydda" stehen ja damit nicht in Widerspruch. Denn
wenn auch das wahre Motiv für die Hinrichtung des
Pappus und Lollianus ihre Arbeit für den Tempelbau
gewesen, so hindert doch nichts, dass man die Ge-
legenheit zu ihrer Hinrichtung auf Grund einer anderen
1) Die älteste Stelle, dass Lollianus und Pappus in Laodicäa
getödtet worden seien, ist wohl die im Sifra, von da kam sie in
den Tahrnid. Aber der Sifra schreibt auch für Dimis Dima
22
Beschuldigung nahm, i) Flu' ganz charakteristisch
halte ich die Nachricht, -) dass Pappus und Lollianus,
um sich zu retten, nicht einmal den Schein einer
Gresetzesübertretung auf sich laden wollten, da es
Grundsatz bei den Eömern war, diejenigen zu par-
donniren, die sich nicht hartnäckig zeigten. Sie
fürchteten nur die Gesinnungsstarken. So wurde unter
Trajan kein Christ hingerichtet, der für den Augen-
blick zur Verleugnung bereit war. Merkwürdig sind
die Worte Tertullian's in dieser Beziehung: „Man
zmngt ihn, (den Christen) zu leugnen, um ihn
dann frei zu sprechen, ihn, den man nicht wird fi-ei
sprechen können, ausser wenn er geleugnet hat . . .
Man will also, dass er seine Schuld leugne, um ihn
schuldlos zu machen''. 3) Die politischen Kömer hatten
keine Furcht vor Menschen, denen in der Stunde der
Gefahr der Muth ausging.
1) Yergl. babh Tahnud, Baba Batlira 10b. woselbst Easchi
die Beschuldigung gibt, auch keinen Anstand nimmt, Lollianus
und Pappus für die ..Erschlagenen von Lydda'" zu erklären.
2) Jer. Schebiit c. IT, lial. II. Die SteUe lautet: .,AVo es
sich um eine öffentliche Verletzung eines Gebotes handelt, soll man
selbst für ein kleines Gebot Mäi-tjTer werden, ^^ie Lollianus und
sein Bruder Pappus, denen man ^^asser in einem farbigen Glase
gab und die es (wohl um des Scheines willen, als sei es Götzen-
wein) refüsirten". ji:= 'h v^'C" i<h rhp nr^^ ^h'Zü c-rnn SnK
3) Tertulhan. Apolog. c. 2.
23
Doch wie dem immer sei, ob man Lollianus und
Pappiis mit den „Erschlagenen von Lydda" identificirt
oder nicht, Thatsache ist es, dass jene vor dem Ke-
gierungsantritte des Hadrian den Tod fanden, That-
sache somit, dass die Erlaubniss zum Tempelbau unter
Trajan war gegeben worden. Wie konnte man denn
aber auch den Inhalt des Trajanstages darin sehen,
dass man die Hinrichtung des Trajanus-Quietus an ihm
feierte? Die Fastenrolle war ja ausnahmsweise auf-
geschrieben. Die Zeitgenossen konnten in Trajan nur
Trajan selbst sehen. Es hätte sich also die Feier nur
auf den Tod des Trajan beziehen können. Aber wie
würden die Juden gewagt haben, ein Halbfest nach
einem dem Kaiser zugestossenen Unglücke zu be-
nennen und schriftlich zu fixiren? Sie hätten das
sicherlich gerade so vermieden, wie sie die Benennung
Caligulatag vermieden haben i). Wahrlich, da würae
die Kaiserin Plotina mehr Grund gehabt haben, über
die Juden sich zu beklagen, als zur Zeit, wo sie sich
darüber beschwerte, dass zufällig ein Trauerfest und
ein Freudenfest der Juden so unglücklich gefallen
1) Der urspmngliche Text der Fastenrolle lautet: „Am
22. Schebat wurde das AVerk unterbrochen, das der Feind in den
Tempel zu bringen befohlen hatte'*. Man feierte wohl den Tod
des Caligula, weil man durch ihn von dem Schrecklichsten be-
freit wurde, das Israel bedrohte. Aber man hütete sich w^ohl die
Füier Caligulatag zu nennen. Die Feier galt der Befreiung, nicht
dem Tode des Kaisers.
24
war, dass die Juden trauerten zur Zeit, wo sie (Plo-
tina) Anlass zur Freude hatte und umgekehrt i).
Der Trajanstag muss an etwas erinnert haben, was
den Juden zur Freude, dem Trajan selbst aber zur
Ehre gereicht hatte, eine Freude und eine Ehre, die
vergessen wurde, weil sie, kaum aufgeblüht, schon
welkte. Am 12. Adar langte die Erlaubniss an, den
Tempel zu bauen. Man setzte den Trajanstag fest.
Man liess nur die drei Halbfesttage yerstreichen, den
Nikanortag und die beiden Purimtage und schon am
16. Adar begann man den Bau und gab für diesen
Tag gleichfalls das Verbot des Fastens. 3)
Die Erlaubniss des Kaisers Trajan scheint aber
durch directe Eeisen R. Josua's nach Rom erwirkt
worden zu sein. Reisen, von denen in den talmudischen
und midraschischen Quellen oft die Rede ist. -) Dass
diese Romreisen R. Josua's nicht erst unter Hadrian,
sondern früher fielen, beweist die liebliche Erzählung,
1) Jer. Succa cap. Y. hal. a. Graetz, Gesch. d. Juden lY.
S. 126.
2) Die Beziehung der "Worte in der Fastenrolle: „Am
Iß. fing man den Bau der Mauer von Jerusalem an*', auf unsere
Zeit wird nahe gelegt durch den jerusalemischen Talmud, der
folgende Zusammenstellung hat (jer. Megillah c. I. hal. 6: piDS
ab'iTTi^ nvr ü,:::f2b jnir n"n nin;
3) Gittin 58. Deut. Rabbah 2. Echa ßabbah 1.
25
wie er den R. Ismael, der zu Hadrian's Zeit bereits ein
berühmter Lehrer war, in Rom im Gefängniss ais begabten
Jüngling entdeckt und für hohes Geld auslöst, i)
Ebenso scheint er dort bei einer Audienz, die ihm
der Kaiser gewährte, für den Augenblick seinen poli-
tischen Gegner, einen Minäer, überwunden zu haben'^).
Der Ruhm, den sich R. Josua als Berather Israel's
erworben, so dass man nach seinem Tode sagte:
„Wer wird uns jetzt gegen die Minäer helfen?" 3) und
„Mit R. Josua ist guter Rathschlag geschwunden" -i)
einen Ruhm, den er zur Zeit seiner oben erwähnten
Beschwichtigungsrede schon gehabt haben muss, scheint
sich auf eine durch Klugheit erzielte, bedeutende
politische Errungenschaft zu beziehen, und das war
eben die Erlaubniss, den Tempel zu bauen. Gerade
darum war aber auch R. Josua der Einzige, der die
drohende Rebellion hindern konnte.
Nach Klarlegung des unter a) über den „Jörn
Trajanus" Gesagten erörtern wir das unter b) c) d)
Aufgestellte.
Das Christenthum, entstanden als Verwirklichung
gerade der nationalen Hoffnungen, die damals
ij Gittin 1. 1.
2j Cbagiga 5.
3) Ibid. Statt pcmp^BK ist nach DnsiD 'p^^p"^ von Eabbi-
nowitsch p-Ö zu lesen.
4) Sotah 49.
26
Israel hegte, war in seinem Ursprünge national und
heidenfeindlich platth. 15, 26). Ebenso stand es wie
Jesus selbst in einem affirmativen Yerhältniss nicht
bloss zum Gesetze Mosis, sondern selbst ziu' Tradition.
Die heutigen Evangelien reflectiren diese Thatsache
noch ganz deutlich, ebenso deutlich freilich auch das
Gegentheil. Sie reflectiren eben geschichtlich zwei ziem-
lich weit von einander getrennte Zeiten. Was Irenäus i)
von den Ebioniten sagt: „Sie lassen sich beschneiden
und beharren bei den gesetzlichen Bräuchen und der
jüdischen Lebensweise, so dass sie auch Jerusalem
verehren als die Wohnstätte Gottes" (Hiero-
solymam adorant quasi domus sit Dei) passt auf das
ganze palästinische Christenthum bis in die Trajanische
Zeit hinein. So bezeugen es im Grunde auch Euse-
bius2) und Sulpicius Severus^), wenn sie auch ihre
IN'achrichten vom Standpunkte ihi^er Zeit aus gestalten.
Der antinomistische und antinationale Standpunkt des
Paulus hat in Palästina allen Anzeichen nach lange
Zeit keinen Yerti^eter. Xicht blos die Ebioniten nennen
ihn, wie Irenäus sagt^) einen Apostaten, oder be-
schuldigen ihn unter dem Xamen des Magier Simon,
1) Irenaeus, contra haer. 1, 26.
2) Eusebius, bist. ecci. IT.. c. Y.
3) Sulpicius Severus IL, 31. ..Paene omnes Christum Deurn
sub legis observatione credebant".
*) Siehe Irenaeus, 1. 1.
27
dass er „Jerusalem leugne und den Berg Gerisim
aufrichten wolle'' ^), also dass er antinational sei, auch
die kirchlich recipirte Apokalypse kann keinen anderen
meinen, wenn sie dem Engel der Gemeinde von Ephesus
nachrühmt, dass er diejenigen entlarvt, die sich für
Apostel ausgeben, ohne es zu sein 2). Die Stellung
des Paulus in Kleinasien bis auf die Tage Marcion's
hat überhaupt etwas Eäthselhaftes. Ist es schon schwer
zu sagen, warum Papias über ihn schweigt an einer
Stelle, wo er ihn erwähnen musste, wenn er ihn über-
haupt anerkannt hätte 3), so ist vollends das Schweigen
Justin des Märtyrers über ihn noch von Memanden
»befriedigend erklärt -t). Doch würde uns ein Eingehen
1) 1. 1. Siehe das Citat aus den Clementinischen Homihen 2, 22
bei Baur, das Christenthiiin und die clu'istliche Kirche S. 92.
2) Apokalypse 2, 2, besprochen bei Baui- 1. 1. S. 81.
3) Eusebius h. e. III, 40.
*) Die Schwierigkeit der Frage liegt darin: Da Justin es
als eine seiner Hauptaufgaben betrachtete, die mosaische Gesetz-
gebung als nicht mehr verbindlich nachzuweisen, so konnte er
einen l3esseren Gewährsmann als den Apostel Paulus nicht haben.
Dennoch führt er ihn nirgends an. Die Distinctionen, die man
macht zwischen seinem Standpunkte und dem des Apostels,
zwischen alexandrin ischer und pauünischer Schriftauslegung, sind
schwerlich dem Justin selbst zu Eewusstsein gekommen. Die
Meinung Semisch' s, Justin habe, um auf die Juden und Juden-
christen zu wirken, geflisscnthch und aus Klugheitsrücksichten
den Namen des Paulus nicht mit ins Gefecht geführt (Semisch,
Justin der Märtyrer, zweiter Theil S. 239), eine Meinung, der
28
auf diesen Paukt von unserem Gegenstande abführen.
XWir constatiren nur die Thatsache, dass die anti-
nomistische und antinationale Richtung des Christen-
thums nicht im Centrum des jüdischen Lebens, in
als Grundlage dient der besondere Hass, den die Juden und Juden-
christen gegen Paulus hatten — der besondere Hass der Juden-
christen gegen ihn ist historisch, ob und welche Notiz die Juden
von Paulus nahmen, nicht erweislich — ist insofern schwer zu
veiireten, als nicht abzusehen ist, worin denn Justin, der anti-
aomistisch ujid judenfeindhch ist, ich will nicht sagen den Juden,
aber selbst den Judenchiisten weniger Anstoss gegeben haben
könnte, als Apostel. Dass Justin nicht zu den Rigoristen
gehört, die denjenigen Christgläubigen, die das Gesetz Mosis be-
folgen, den Antheil am Christenthum absprechen, ist schwerlich
unpaiüinisch. entspricht Yielmehi- den eigenen Aeussemngen wie
der Haltung des Apostels.
Selbstverständlich wird aus diesem Schweigen Justin's über
Paulus kein Mensch an dem Vorhandensein der Biiefe desselben
um 130 n. Chr. zweifeln, nur wird man den Einfluss derselben
auf Kleinasien füi- jene Zeit nicht allzuhoch anschlagen und
annehmen, dass sie erst durch Mai'cion zu grösserer Bedeutung
gekommen sind.
Verwerfen wir aber für diesen Punkt das argumentum
a silentio, so folgen wir darum noch nicht dem Valkenaer, der auch
auch aus Justin's Schweigen über Aristobul, den sogenannten
jüdischen Peripatetiker, nichts über die ünächtheit der von Cle-
mens dem Alexandriner und Eusebius von demselben mitgetheilten
Eragmente gefolgert wissen will. Valkenaer hätte Recht, wenn
Hody wirklich nur aus Justin's Schweigen die Ünächtheit des
Aiistobul erschlossen, wie er demselben fälschlich imputirt. Weil
aber die Aiistobulfrage uns von imserem Thema abführen würde,
behandeln wh sie in der Kürze in einem Anhange zu dieser
Schrift.
29
Palästina, entstanden ist, sondern unter den helle-
nistischen Juden, unter denen dieser Antinomismus
ja sogar unbeeinflusst vom Christenthume schon in
.den Tagen Philo's principielle Yertreter hatte i).
Daraus erklärt sich, warum ^dr in den Talmuden vor
den Zeiten Trajan's auf keine Polemik gegen das
Christenthum stossen, während sie da auf einmal
sowohl in Disputationen, als auch in Einrichtungen
und Bestimmungen sich erkennen lässt. K. Jochanan
1) Die interessante Stelle in Philo de migrationc Abrahami,
aus der deutHch. zu ersehen, wie die allegorische Auslegung in
Alexandria längst zum Antinomismus geführt hat, lautet: „Denn
es giebt Leute, welche, weil sie den "Wortausdruck der Gesetze
für ein Symbol geistiger Gegenstände halten, sich auf die Deu-
tung dieser vorzüglich legen, jene aber gering schätzen. Ich
möchte ihnen Leichtsinn zur Last legen; denn man muss sich
um Beides kümmern, sowohl um die genauere Untersuchung
dessen, was verborgen ist, als auch um eine treue Beobachtung
dessen, was offen vorliegt. Sie nun aber betragen sich, als lebten
sie allein in einer Wüste, oder als wären sie körperlose Seelen
und wüssten von keiner Stadt, keinem Dorfe, keinem Hause oder
überhaupt von keinem Umgange mit Menschen, setzen sich über
alles hinweg, was der Mehrheit wohl gefällig ist und suchen die reine
Wahi'heit, wie sie an und für sich ist, zu erstreben. Dergleichen
Männer nun lehrt die heilige Schrift den guten Ruf nicht zu
gering zu achten und nichts von den Gebräuchen aufzuheben,
die heilige und grössere Männer festgesetzt haben, als jetzt unter
uns sind. So wollen wir also nicht etwa die gesetzlichen Ge-
bräuche des Sabbat aufheben, im Lande arbeiten, Klagen an-
stellen. Recht sprechen. Geliehenes zurückfordern oder etwas
anderes thun, was an anderen nicht festlichen Zeiten verstattet
30
ben Saccai, der wohl bis 80 n. Chr. an der Spitze
der palästinischen Judenheit stand, hat häufige Dis-
putationen mit Sadducäern (Jadaim TY, 6. Baba
bathra 114), mit Boethusäern (Menachot 65), mit
Heiden (Chulin 27, Bechoroth 8, Midrasch Kabbah,
Numeri c. 19), aber nicht mit Christen. Das ändert
sich auf einmal in den Tagen der Jünger K. Jocha-
nan's, des Josua ben Chananiah, des Elieser und des
Gamaliel II. Man fängt an, zwischen Christgläubigen
und Christgläubigen zu unterscheiden, man verkehrt
freundlich mit den Einen, man nennt die Anderen
Minim und Denuncianten , man trifft Einrichtungen
gegen sie wie gegen eine innere Gefahr, man disputirt
und verordnet. Was war geschehen ? Welches Ereig-
niss hatte den jüdischen Lehrern ihr verändertes
Yerhalten vorgeschrieben? [N'un, eben die Vereitelung
des projectirten und von Trajan erlaubten Tempel-
baues. Das ist näher zu erörtern. Bekanntlich
war für die antinomistische Richtung im Christen-
thum die Zerstörung des Tempels das mchtigste Ar-
gument gegen die weitere Yerbindlichkeit des jüdischen
ist, weil wir etwa wissen, dass die Siebenzahl uns die schöpfe-
rische Kraft des Unerzeugten und die natürliche Unthätigkeit
alles Erzeugten lehren solle. Auch wollen wir keineswegs die
jährhchen festlichen Zusammenkünfte abstellen, weil sie Bild
geistiger Freude und Daakes gegen Gott sind". Aus dem weiteren
Verlaufe der Worte Philo's scheint sogar eine Laxheit in Uebung
der Circumcision bei den Allegoristen sich eingestellt zu haben.
31
Ceremonialgesetzes. Was in späteren Jahrhunderten
Chrysostomus triumphirend ausruft, dass die Juden
durch ihren dreimaligen vergeblichen Versuch, den
Tempel aufzurichten, wie in den olympischen Spielen
der dreimal Geschlagene, der Kirche den Siegerkranz
aufgesetzt hätten i), das war in der Zeit, in der wir
stehen, für die Antinomisten, die damals noch lange
nicht die Kirche als solche waren, erst noch ein
Wunsch und eine Frage und zwar eine Frage um
Sein oder Nichtsein. Bekannt sind die tempelfeind-
lichen Auslassungen in dem sogenannten Barnabas-
briefe'-). Ebenso sagt Justinus Martj^r, dass Gott
durch Zerstörung des Tempels, in Folge deren so
viele Ceremonialgesetze in Wegfall gekommen, selbst
zu erkennen gegeben habe, dass er sein Gesetz nicht
mehr befolgt wissen wollet). Bekannt sind ebenso
1) Chiysostomus fünfte Rede gegen die Juden (opp. ed.
Montfaucon Vol. la. p. 783 sq.). üeber die Stelle handelt VoLkmar,
Handbuch der Einleitung in die Apokryphen I. Theil S. 131.
Bemerk enswerth füi' unseren Zweck sind folgende Woi-te: „Den
Christen lag daran, dass das "Wort der Evangelisten in Kraft
bleibe, Jerusalem solle zertreten bleiben bis zur Erfüllung der
Zeiten'^ Warum übrigens Chrysostomus wohl von einem Ver-
suche unter Hadrian, unter Constantin und endlich unter Julian,
nicht aber von einem solchen unter Trajan weiss, erklärt Volk-
mar ganz richtig.
2) Barnabasbrief c. 16.
3) Justin, dialogus cum Tryphone Judaeo c. 40 p. 137 (p. 259)
beginnt mit den Worten: xal ox: Tcpooxa-.pos (auf Zeit) yjv xai aüTYj
32
die Antitempeliana im neuea Testament, denen gegen-
über wieder Stellen stehen, AYelche in Jerusalem die
,4ieilige Stadt" und im Tempel den „heiligen Ort"
sehen. Man denke sich nnn den Eindruck, den die
Erlaubniss des Kaisers auf alle diejenigen machen
musste, denen mit dem Wiederaufbau des Tempels
geradezu der Boden entzogen wurde, auf dem sie standen.
Sie mussten Alles daran setzen, diese Erlauboiss rück-
gängig zu machen, und ihi'e Anstrengungen hatten
Erfolg. So erklärt sich die furchtbare Erbitterung
der Juden gegen die Hellenisten, so erklärt sich, warnm
der Aufstand mehr in den hellenistischen Ländern als
in Palästina selbst zum Ausbruch kam, so erklärt sich,
warum das Judenchristenthum damals so gut seine
Märtyrer hatte wie das Judenthum i), weil sie näm-
Tj hr.oKT^, oüTcog äroosi'y.vuij.'.", den Nachweis, Gott habe sowohl für
das Passahlamm, als auch für die anderen Opfer, namenthch für
die Ziegenböcke am Yersöhniingstage nur danim die Vorschrift
gegeben, dass sie nirgends anders dargebracht werden dürften,
als in dem von ihm ei-wählten Heüigthume, weil er wusste, dass
nach Christi Passion die Zeit kommen würde, wo JeiTisalem den
Feinden Preis gegeben und die Opfer aufhören TNÜrden. Er habe
eben das Aufhören des Opferdienstes gewoUt, und damit auch
den "\\''egfaU des übrigen Ceremonialgesetzes.
1 ) In meinem Vortrage : „Die Angriffe des Heidenthums gegen
Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten der römischen
Cäsaren" habe ich bereits gezeigt, wie gewaltsam es ist, unter den
Ketzern, die Hegesipp bei Eusebius h. e. III. 32 als Denuncianten
des nationalgesinnten Vorstehers der christlichen Gemeinde,
33
lieh als national gesinnt denselben Beschuldigungen
ausgesetzt waren, so erklären sich die auf einmal auf-
tauchenden Verordnungen der Lehrer gegen die Minim
und Denuntianten. Haben wir eine talmudische Stelle,
welche beweist, dass gerade die Vereitelung des
Tempelbaues es war, was gegen die Minim erbitterte?
Allerdings. Im babylonischen Talmud wird nämlich
Folgendes vorgetragen (Roch haschanah 17): „Die
Frevler aus Israel und die Frevler aus den Heiden,
sie gehen hinab in's Gehinnom (Hölle) und werden
daselbst zwölf Monate gerichtet Aber die
Minim und die Denuntianten .... sie werden ge-
richtet durch alle Geschlechter". Mit Verwendung
der "Worte des Jesaias {66, 24): „Ihr Wurm wird
nicht sterben und ihr Feuer nicht verlöschen", wird
Simon Clopha, angibt, Andere zu sehen, als eben antinomistische
und antinationale Christen, die im Sinne des Judonchristen Hege-
sipp ja wirklich Ketzer waren. Simon Clopha theilte wie alle
Judenchristen damals noch die nationalen Hoffnungen der Juden,
und das Jahi- seiner Hinrichtung 116 ist ja eben bezeichnend
genug. Die damals noch bestehende und eben erst sich lockerade
Verbindung zwischen Juden und paLästinischen Christen erklärt
es auch, wie es möglich war, dass die römische Obrigkeit den
beinahe hervorragendsten jüdischen Lehrer jener Zeit, R, Elieser,
Sohn des Hyrcanus, für einen Christen halten und zur Verant-
wortung ziehen konnte. Die Worte Aboda Sarah 16 b ceniiTD
mrüb nii;''':>K ^i"i heissen nämhch nicht, wie Dr. Ferdinand
Christian Ewald übersetzt: „Als einst E. Elieser von den Heiden
gefänglich eingezogen wurde, damit er sich vor den Götzen beuge'S
sondern: „Als einst R. EUeser unter Anklage des Christenthums
3
34
gesagt: „Das Gehinnom hört auf, sie aber nicht" (ihre
Strafe dauert). Warum aber, fragt der Talmud, trifft
sie ein so schweres Gericht ? „Weil sie ihre Hand
gegen den Tempel ausgestreckt" i). Aber auch
sonst bildet in den Tagen Gamaliers IL und Josua's,
Sohn des Chananiah, die Frage der nationalen Wieder-
geburt Israels den Streitpunkt zwischen diesen und
den Minäern. So wird erzählt (Hagiga 5): „E. Josua
hatte eine Audienz beim Kaiser. Da gab ihm ein
Minäer {er scheint geradezu zur Confrontation mit
jenem eingeladen zu sein) ein Zeichen, welches be-
deutete : „Ein Yolk, von dem sein Herr das Angesicht
abgewendet". E. Josua erwiderte mit einem anderen
Yon den Heiden eingezogen wurde". Die noch nicht vollzogene
Trennung zwischen Juden und Christgläubigen beweist auch die
Halachah: KIH fö KISt:' p'Z"'n im« pb^Ö OTÖH ns^cn nrtö (Bera-
choth 29a) und ähnhche: Mischnah Berachoth Y. 3. Talmud
Berachoth 34a, Megilla 25a.
1) b')-'- üTl^T 'lÄti'eiT "Sib. Interessant ist, dass wir noch in
der Lage sind, zu beweisen, wie nur die Erbittening, nicht aber
ihr Standpunkt den Talmudisten diese Ali von Eschatologie in
den Mund gelegt. Im jerusalemischen Talmud (Berachoth c. IX,
hal. I. S. 13b) wird nämlich an den Yers (Koheleth 9, 4): „Denn wer
h-gend noch verbunden ist mit den Lebendigen, hat Hoffnung'',
die Lehre geknüpft: „Selbst die ihre Hand gegen den Tempel
ausgestreckt, haben noch Aussicht''. Dort wird aber an jSIebu-
kadnezar und ähnhche gedacht. Der sonst so kimdige Ligthfooth
hat in seiner Inhaltsangabe des jerusalemischen Talmud die
lächerliche Uebersetzung (Index aliqualis Talmudis Hierosolymi-
tani S. 36): „De iis qui manus suas in stercore (i. e. in Idolo-
35
Zeichen, dessen Sinn war: „Noch ist seine Hand aus-
gestreckt^' (soll heissen, um Israel zu schützen). Es
ist gleichgültig, dass dann hinzugefügt wird, der Kaiser
habe den Minäer bestrafen lassen, weil er, während
K. Josua sein Zeichen sofort verstand, nicht die gleiche
Geistesschärfe im Yerstehen der Zeichensprache hatte.
Genug, es reflectirt sich in solchen Geschichten der
in jenen Tagen sich erhebende Kampf um den Fort-
bestand der jüdischen Nationalität. Ein ähnliches
Geschichtchen ist von Josua's Genossen, Gamaliel,
zu lesen. Talmud babli Jebamoth 102 mrd nämlich
ein Wortgefecht zwischen Gamaliel und einem Minäer
mitgetheilt, die mit Bibelversen einander za beweisen
suchen, der Eine, dass Gott Israel nicht den Abschied
gegeben, der Andere, dass dies geschehen seil).
Damals zuerst wurde in's Gebet die Bitte ein-
geschoben, dass Gott die Verleumdungen der Minäer
wirkungslos machen solle 2), woraus die gehässige An-
schuldigung des Justin und Anderer geflossen, dass
die Juden die Christen in ihren Synagogen verfluchten.
lati-ia) expandemnt, tarnen est spes''. Er nahm blST im stercus
statt für templum. Hätte er an die AVoite des babylonischen
Talmud gedacht ^np» h'?« h^^' 1"«^ oder hätte er den Zusammen-
hang des hiesigen Stelle gut überschaut, so konnte er sich nicht irren.
1) '131 rr^:» nnö .Tb yhm i^^v ynh Kra xmn r\^h nöK
2) Jer. Talmud, berachoth c. IV. S. 8a: 1U2p n::2 ü^rö h^
r\::r^ D^Ö2n. babli Tahnud, berachoth S. 29b.
36
Damals traf man auch sonst cultuelle Einrichtungen
wegen der Einreden der Minäeri), worunter recht
charakteristische. Man schaffte das früher üblich
gewesene Kecitiren des Dekalogs bei der täglichen
Andacht ab „wegen der Einreden der Minäer"2).
Wir wissen aber aus Irenäus (contra haer. lY,
c. 16)] und Anderen, dass man christlicherseits
den Dekalog als wahrhaft von Gott gesprochen
und verbindlich im Gegensatze zum übrigen Gesetze
fasste. Umgekehrt scheint die Einrichtung, dass der
Abschnitt über Schaufäden, 4. B. M. 15, 37—41,
Morgens und Abends recitirt werden solle, gleichfalls
getroffen worden zu sein, damit man täglich zwei
Mal „das Joch der Gesetze" auf sich nehme. Wenig-
stens finden die Alten darin Anti-Minäisches 3).
Damals zuerst ging aber auch den jüdischen
Lehrern die Gefahr auf, welche in der alleinigen
Benutzung der griechischen Bibelübersetzung und
in den in griechischer Sprache erschienenen Aus-
legungen lag.
Was könnte ich Starkes über einen Theil dieser
Auslegungen sagen, das nicht stärker schon von Seiten
christlicher Theologen gesagt Avorden? Aber in den
Eindruck, den die Kenntnissnahme von der damaligen
1) D^r^nn a^nn ^:2x:
2) Beraclioth 12a.
3) Ibid. 12b. Damit steht die sonstige Begiündung nicht
in ^Widerspruch.
37
hellenistischen Exegese auf die palästinischen Lehrer
nothwendig machen niusste, versetzt man sich doch
nicht lebendig genng. Yon Seiten bedeutender Forscher
wird die Meinung gehegt, dass die Form, in welcher
Paulus die Abrogation des Ceremonialgesetzes durch-
setzen wollte, schroffer war als die alexandrinische
Weise der typisch allegorischen Auslegung des alten
Gesetzes. Pfleidereri) sagt: Man könnte freilich
denken, durch eine consequente Durchführung dieser
typisch -allegorischen Deutung hätte Paulus die Ab-
rogation des Ceremonialgesetzes, um welche sich der
Kampf mit den Judaisten zunächst drehte, auf ein-
fachere und mildere Weise durchsetzen können als
durch die schroffe und künstliche Art, wie er das
(doch selbst auch für göttlich geoffenbart gehaltene)
Gesetz in rein negative Beziehung zu der Heilsöko-
nomie stellte. Und wirklich sehen wir auch, dass der
alexandrinisch gefärbte Paulinismus des Hebräer- und
des Barnabasbriefes jenen ersteren Weg eingeschlagen
hat, und zwar mit viel Beifall seitens der alten Kirche,
welcher diese Auffassungsweise des Verhältnisses
zwischen Gesetz und Evangelium viel geläufiger war
als die specifisch paulinische". Aber wenn man als
1) Pf leider er, Der PauUnismiis, ein Beitrag ziu' Geschichte
der urchristHchen Theologie, Leipzig 1873, S. 72. Eine belehrende
Besprechung der Schrift ist in Hilgenfeld's Zeitschrift für
wissenschaftliche Theologie, Jahrgang 1874, vonS. 161 ab zu finden.
38
Repräsentanten jener zweiten Form der Bekämpfung
den Barnabasbrief nimmt, der ja et^va in die Zeit
fällt, die uns hier beschäftigt, und ebenso den
Justin, der, wenn er auch später schreibt, doch wohl
paradigmatisch auch für diese Zeit verwendet werden
kann, so kann der Erfolg dieses Schriftenthums auf
Lehrer, die auf Grund des hebräischen Originals forsch-
ten, kaum ein besserer gewesen sein. Man vergesse
nicht, dass die nicht wörtliche, sondern allego-
rische Auslegung der Schrift kein palästinisches
Product war und dass die palästinischen Lehrer vom
Alexandrinismus zwar nicht unbeeinflusst waren, aber
diesem doch nur zu erbaulichen Zwecken Zugang ver-
statteten, dagegen kein Ohr für denselben hatten, wo
es sich um Yerflüchtigung der Gfesetze zu blossen
Gedankensymbolen handelte. Gewiss charakteristisch
in der Beziehung ist die talmudische Angabe, dass,
als R. Ismael, Zeitgenosse Akiba's, von sämmtlichen
pentateu einsehen Gesetzesstellen nur drei als Maschal
(uneigentlich) erklärte, seine Collegen ihm zwei con-
cedirten, eine aber noch abzogen, weil gleichfalls
eigentlich gemeint i). Will man daher für die
halachische Exegese jener Talmudlehrer eine Analogie,
so ist sie nicht in der alexandrinischen Art, die Texte
1) Mecbiltha, Mischpatim 13. Yergl. die Dai'stellung der
32 Middoth (Deutungsregeln) im ersten Foliobande unserer Talnmd-
exemplare. Seite 100, col. 4, Stichwort ..maschal".
39
zu behandeln, zu finden, sondern weit eher in der
Art, wie die römischen Rechtslehrer dem Zwölftafel-
gesetze gegenüber procedirten i). Ueberhaupt verfährt
man in Beurtheilung der rabbinischen Exegese
anachronistisch. Ein so bedeutender Forscher wie
Zeller sagt einmal von Philo: „Und so unbedingt
ist seine Yerehrung gegen sie, dass er, wie ein
echter Rabbine, aus jeder ihrer AVortformen der
alexandrinischen Uebersetzung die tiefsten Lehren
ableitet'. Aber Philo ist hierbei nicht in altjüdischen
Gleisen gegangen, sondern umgekehrt, der spätere
Rabbinismus hat für gewisse Z^vecke und in einer
gewissen Einschränkung, die wir im Verlaufe noch
kennen lernen werden, die alexandrinische Methode
sich gesagt sein lassen. Der Satz, den Zeller anführt :
1) Selbstverständlich ist der Vergleich cum grano salis auf-
zufassen, weil die Ehi'fui'cht vor dem Zwölftafelgesetze, so gross
sie auch bei den Römern war (Cicero, de legibus II, 23; de
oratore 1, 23 ff.), dennoch nicht der Ehifurcht gleichkam und
gleichkommen konnte, welche die Juden der Bibel gegenüber zu
allen Zeiten empfanden. Aber seihst die Römer bemühten sich,
ein neues Gesetz als implicite in den 12 Tafeln schon enthalten
nachzuweisen. Yergl. Gaii institutionum lib. I., 165: Ex eadem
lege duodecim tabulamm libei-torum et libertanmi tutela ad patronos
Hberosque eorum pertinet. quae et ipsa legitima tutela vocatur,
non quia nominatim ea lege de hac tutela cavetur, sed
quiaperinde accepta est per interpretationem atque si
verbis legis introducta esset. Xun folgt ein Herleiten aus
der Analogie, die ganz an nitt^ mv: (Analogieschluss) erinnert.
^
„An jedem Häckchen der Schrift hängen Berge von
-^ Gesetzen", ist 100 Jahre jünger als Philo. Philo's
überschwängliche Auffassung des AYesens der Pro-
phetie, nach welcher der Prophet als Person erlischt
und nur Werkzeug ist, ist nicht auf jüdischem Boden
gewachsen, sondern entspricht der platonischen Auf-
fassung von der Mantik. Xach den Talmudisten hat
der Prophet eine ziemliche Selbstständigkeit, sie
nehmen nicht Anstand, zu sagen, Jesaias spreche von
Gott wie ein Grossstädter, Ezechiel wie ein Dorf-
bewohner. Dagegen ist Philo's Inspirationsbegriff voll
und ganz vertreten im Justin und später im Mon-
\tanisnius 1). Aber auch Origines sagt 2): „Ich, glaubend
den Worten meines Herrn (Jesu), bin der Meinung,
dass im Gesetze und in den Propheten nicht ein
Jota oder ein Häckchen frei ist von Geheimnissen".
Hier hat man den rabbinischen Satz, nur mit dem
Unterschiede, dass die Rabbinen bei minutiöser
Deutung des Einzelnen doch immerhin einen correcten
Originaltext vor sich und in ihrer AufPassung des
Gesetzes in seiner Eigentlichkeit doch offenbar die
exegetische "Wahrheit für sich hatten.
1) Da ich über diesen Punkt einen Aufsatz geschrieben, so
begnüge ich, mit dem Hinweis darauf, Lessing -^klendelssohn
Gedenkbuch, S. 243 ff.
2) In Exodum homihae 1, 4 Tom. IL p. 131.
41
Will man den Männern, die um 116 n. Chr.
das Griechisch verboten, gerecht werden, so muss man
folgendes ins Ange fassen : I. die Thatsache, dass die
Septuaginta nicht blos Missverständnisse enthielt, son-
dern um jene Zeit bereits gefälscht war. Bei aller
Leichtgläubigkeit nämlich, an der Justin laborirti),
werden wir ihm doch nicht die Dreistigkeit zutrauen,
die Juden zu beschuldigen, sie hätten gewisse Stellen
aus der h. Schrift weggelassen, wenn diese Stellen
nicht schon vor seiner Zeit in den griechischen Bibeln
gelesen worden wären. IL Die Thatsache, dass gegen
eine Gnosis, wie sie im Barnabasbriefe vertreten, im
alten Testamente keinen Stein auf dem anderen Hess,
ein Disput eigentlich nicht möglich war. III. Dass
allen Spuren nach die eigentlich sogenannte Gnosis,
die ursprünglich durch Exegese des 1. Capitels der
Genesis und des 1. Capitels des Ezechiel ihre aus dem
Timäus des Plato und^aus den neupythagoräischen Auf-
stellungen geschöpften Lehren mit dem Judenthum in
Einklang za bringen gewusst hatte, in jener Zeit
1) Justin hat mit Augen die 70 Zellen gesehen, in denen
auf der Insel Pharos die 70 Dolmetscher gearbeitet, worüber
schon Valkenaer lacht. Justin hat ferner in Rom die Bildsäule
des nach der wahrscheinlichen Yermuthung Baui''s nie existent
gewesenen Simon Magus gesehen. Just. Mai-t., 1 Apol., Cap. 26.
Justin glaubt allen Ernstes, dass Platon's Bild von der Welt-
seele, die er in Form eines griechischen X durch alle Theile der
Welt ausgebreitet sein lässt (Timäus c. 36), dem Moses ent-
42
bereits anfing, eine dem Judenthum feindliche Wen-
dung zu nehmen 1). lY., und das ist die Hauptsache,
die politischen Consequenzen, ^Yelche die hellenistische
Auffassung des alten Testaments in jener Zeit in so
empfindlicher Weise hatte. Das Verbot des Griechischen
ist somit genügend motivirt. Klar aber ist, dass ein
solches Verbot in jener Zeit weder eine bedeutende
Wirkung haben, noch den Lehrern selbst auf die Länge
recht sein konnte. Bald sahen sie umgekehrt im
Griechischen ein auserwähltes Eüstzeug für ihre Zwecke.
Diese letztere Behauptung, für die wir ja schon gleich
im Eingange den classischen Beleg gegeben, hängt
mit einer so eigenartigen Zeit Vorstellung über das
Wesen der Schrift zusammen, dass wir ihren Sinn
nur verstehen können im Zusammenhange mit eben
dieser Zeitvorstellung.
nommen, und zwar einer Stelle, wo nur ein Ausleger wie Justin
ein Kreuz wahrnehmen konnte (1 Apol. o. 60).
1) Ueher die Gnosis siehe den zweiten Excui'S.
Die Meinung von dem Schriftworte
in den Tagen des R. Elieser, des R. Josua
ben Chananiah und des R. Akiba (in den
ersten Decennien des zweiten christlichen
Jahrhunderts).
Zur negativen Abwehr trat die positive. Unter
den Anspielen des E. Elieser und K. Josua übersetzte
der Proselyt Aquila die Schrift, und sie priesen ihn
und sagten zu ihm: „Schön bist Du vor Menschen-
kindern, Anmuth ist gegossen auf deine Lippen i).
Wie nicht gesagt zu werden braucht, kann die Freude
nicht gegolten haben der schönen Form der Aquila-
schen Uebersetzung , die in ihrer sklavischen "Wört-
lichkeit keinen Kaum für litterarisch-ästhetische Rück-
1) Jer. Talmud Megillah Cap. L hal. 9 S. 70 c. 3. Dass ich das
„Anmuth ist gegossen auf deine Lippen" ergänze, wird jeder Kun-
dige verstehen, wissend, dass in Talmud und Midrasch oft nur
der Anfang eines Verses citirt wird, selbst wenn der Nachdruck
auf dem Schlüsse des Verses ruht.
44
sichten liess. Wir müssen nns yielmehr jetzt auf
den öfters angeführten Satz besinnen, der an unserer
Talmudstelle zu lesen ist: „Nach sorgfältiger Unter-
suchung fand man, dass die Thora nach ihrem vollen
Bedürfnisse in keiner anderen als in der griechischen
Sprache übersetzt werden könne".
Um diesen Satz in seiner Tragweite zu erkennen,
müssen vrir ein wenig ausholen. Man hat in der
talmudischen Exegese Erscheinungen constatijt, die
auffallend sind, ohne dass man sie zu erklären auch
nur versucht hätte. Worin, fragen wir, lag füi^ die
Talmudisten das Plus, das eine Uebersetzung in
griechischer Sprache mehr leistete als eine andere,
etwa die aramäische? Die Antwort darauf ist folgende:
Es war das die Zeit, wo die von den jüdischen
Lehrern geltend gemachte Ergänzung der Lehre durch
die sogenannte „mündliche", die Ueberlieferung, wie
einst von den Sadducäern, so jetzt von den Christen
lebhaft bestritten wurde. Eine der wichtigsten Auf-
gaben der Lehrer nach R. Jochanan ben Saccai, des
R. Josua, R. Elieser, R. Akiba und Anderer, bestand
daher in dem Nachweise, dass die Ueberlieferung in
dem Schriftworte selbst angedeutet sei. Charakteristisch
füi' dieses Bestreben ist, um ein Beispiel anzuführen,
die Mischnah Sotah Y, 2, woselbst Akiba eine Be-
stimmung der Schrift, dass ein irdenes Gefäss die
eigene levitische Unreinheit Allem mittheilt, was in
45
ihm sich befindet, an das Schriftwort ,jitma" knüpft,
er nämlich den nicht piinciirten Text benutzt, um je
nach der Lesart ,öitma'' oder ,,jtamme" sowohl das
Unreinsein wie das TJnreinmachen herauszulesen.
Dazu bemerkt E. Josua: „Wer doch den Staub von
deinen Augen nehmen könnte, R. Josua ben Saccai
(wer dich doch lebendig machen könnte). Du meintest,
es werde ein späteres Geschlecht in Bezug auf levi-
tische Unreinheit nicht bis zum dritten Brote gehen,
weil kein Bibelvers existirt, der die Unreinheit bis
dahin führt, aber dein Schüler Akiba bringt eine Be-
weisstelle aus dem Gesetze". Es war also eine Methode
aufgekommen, welche die mündliche Lehre wo möglich
ganz und gar aus der schriftlichen herausdeducirte.
Man beachte aber, wie viel eine griechische Ueber-
setzung, namentlich eine solche von dem Charakter
* der Aquila'schen, nach dieser Richtung hin versprach.
Kein Mensch z. B., der blos an den hebräischen
Originaltext dachte, hätte aus der für die griechische
Sprache allerdings pleonastischen Yoraussendung des
Infinitivs vor das verbum finitum Schlüsse gemacht
und Gesetzesbestimmungen gezogen. Aber schon
Philo benutzt Pleonasmen, wie „mit Tod werdet Ihr
sterben" (^avdio) aTiO'ö'avsraö's) oder ßpcbasi '^av^j (Gene-
sis 2, 16 u. 17) und ähnliche, um daraus Lehren zu
ziehen. Im Talmud sind nun, wie bekannt, alle diese
erst durch das Griechische als Pleonasmen sich kund-
46
gebenden Wendungen aufs reichlichste ausgenutzt.
Dass aber eine solche ausgiebige Benutzung der Pleo-
nasmen erst in der Zeit, von der wir reden, ihren
Anfang genommen, beweist der Widerspruch, der von
anderen Lehrern jener Zeit erhoben wird, indem sie
sagen: (Aus dieser Yerdoppelung folge nichts) die
Schrift spreche eben wie alle Menschen (sie entfernt
sich ja damit nicht vom hebräischen Sprachgebrauche) ^).
Ich kann hier nur andeuten. Die Yerlegenheit, welche
spätere Erklärer über dieses Hin- und Herwogen von
Berücksichtigung und Mchtberücksichtigung der Pleo-
nasmen empfinden, ersehe man aus der interessanten
Stelle der Tosaphot (Zusätze)-) zu Sotah 24a.
Aber nicht blos duich ihren die Pleonasmen ver-
deutlichenden Charakter war die griechische Ueber-
setzung geschätzt, sie erzeugte in ihrer Wörtlichkeit
auch Gelegenheit zu Deutungen und Lehren, auf die
man durch das hebräische Original naturwüchsig nicht
gekommen wäre. Denken wir uns einen nur hebräisch
und aramäisch redenden Juden, der im hebräischen
Original die Worte (2. B. Mos. L, 12) las: „Aber je
mehr sie das Volk drückten, desto mehrte es sich und
1) Yergl. Talmud, Baba Mezia S. 84b ifh nöKl |Köb KH":.*!
X2^K ^Kö '121 nnin nnsi rtb k^k d-ik ^:n jitrb^ nnin msn pniaK
-lö^ö'p. Ebenso Sanhedrin 85b.
2) Sotah 24a Tosaphot mit den Anfangsworten : "'«n piT n^
n-'b r2v ^Kö tr^K ^r^x
47
breitete es sich aus". Konnte er von selbst auf die Idee
kommen, dass die Worte : , jirbe und jifroz", weil sie
auch die Futurbedeutung haben, hier, wo sie un-
zweifelhaft diese Bedeutung nicht haben, dennoch auch
nach dieser Seite hin von einer Prägnanz seien, die
eine Lehre ergiebt? Aber man denke sich Aquila
wörtlich übertragend statt ToaoDTt.) TcXeiou; Iyiyvovto
— ToaoüTcj) ttXsiod^ '^ZYffiov'Z'xi^ und der Midrasch ist
fertig, welcher sagt : „Mcht sie vermehrten sich, heisse
es, sondern sie werden sich vermehren. Das ist die
Botschaft des heiligen Geistes: sie werden sich ver-
mehren" 1). Man missverstehe nicht. Ich meine nicht,
man habe die griechische Uebersetzung ausgelegt,
sondern an der Uebersetzung in ein nicht wie das
aramäische sprachverwandtes Idiom erkannte man die
Deutungsfähigkeit des Textes und überzeugte auch
das die Aquila'sche Uebersetzung lesende Yolk, dass
die Deutungen dem Texte entsprechen.
Hier scheint aber als Anstoss sich in den Weg
zu stellen die Frage nach der bona fides, an der bei
Männern wie R. Josua, R. Elieser, R. Akiba nur der-
1) Exodus Eabbah L: p FnB" pT nnn^ p imN i:!?" nrN21
^^ph p jiuöü n "löN .i^ns^ pi nun-' p n^n "iün: n^ na pi inn
pne^ p1 nnn^ \D '^rrWZll i:npn nn. Diese Fomi der Deutung ist
häufig und alt. So in der Mecliiltha, wo sogar eine Andeutung
für Unsterblichkeit gefunden wird in vh^ "löX: xb "itt^ :« 'T^' TK
'T^ TX
48
jenige zweifeln kann, dem der Ernst und die sittliche
Bedeutung der Männer nicht aufgegangen. Könnten
wir ganz dem Maimonides folgen, so wäre freilich die
ganze Frage nicht drückend. Die Gesetzespraxis (Ha-
lachah), so löst Maimonides die Schwierigkeit, war
feststehend und überkommen , der Yers nur ein
mnemotechnisches Hilfsmittel, um die Halachah behalt-
licher zu machen. Es lässt sich nicht läugnen, dass
diese Lösung vielfach zutreffend ist, wie bei dem
oben angeführten Beispiele einer schon von R Jocha-
nan ben Saccai gekannten Halachah, die Akiba nur
an das Bibel wort lehnt, ja es ist richtig, dass der
Talmud selbst häufig diese Lösung giebti), bisweilen
sogar eine Ableitung ä la rigueur nimmt, dann aus
der Discussion sich überzeugt, dass sie nur ,.Stütze''
(Asmachtha) ist-). Noch mehr, diese Lösung des
Maimonides hat sogar einen anderen mittelalterlichen
Gelehrten auf die eigenthümliche Idee gebracht, die
Halacha's ganz unabhängig vom Talmud aus den
Schriftstellen abzuleiten, die ihm passten, weil er die
1) So Kidduschin 9a : 'i^ipb j:2l in3^2ÖDKl mr: Xn^bn u.
a. a. 0.
2) Vgl. Tosaphot zu Berachoth 35a s. v. K\-l K-i::D xbx, wo
ausgefülirt -wird, dass die Gemara den zur Stütze angeführten
Bibelvers streng nahm und sich dann erst überzeugte, dass die
Bestimmung, ohne Bibelvers auf Grund ihrer eigenen Selbst-
verständüchkeit entstanden, dann nur an den Yers gelehnt wor-
den war.
49
Verbindung von Halachah und Bibelvers, wie sie im
Talmud vorkommt, nur für eine zufällige hielt i).
Trotzdem reicht sie keineswegs für alle Fälle aus
und Nachmanides' Polemik gegen diesen Canon des
Maimonides -), seine Behauptung, dass die Deutungen
nicht blos ernst gemeint, sondern häufig allererst die
Erzeuger der Halachoth sind, erscheint unwiderleglich.
Indess das Correctiv für subjective Einfälle lag in
dem Umstände, dass eine Halachah nur entweder
durch Ueberlieferung oder durch Majoritätsbeschlüsse
festgestellt werden konnte, dass sie nicht schriftlich
fixirt, sondern in mündlicher Discussion sich an den
widerstrebenden Meinungen der anderen Lehrer zu
reiben und zu berichtigen hatte •'5). Für haggadische
Auslegungen dagegen, obwohl man sie später gleich-
falls auf Eegeln brachte 'i), glaubte man mit Kecht
kein Correctiv nöthig zu haben, da man aus ihnen
1) Ygl. meine Schrift, Lewi ben Gersoii (Gersonides) S. 89.
Dort ist aucli erörtert, dass L. nui- das von Maimonides im Jad
Hacliasaka gegebene Beispiel allgemein diirclifülirt mid auf Frankel
Monatsschi'ift 9. Jahrgang S. 381 ff. verwiesen.
2) Ygl. Maimonides' Sefer Hamizwoth, Grundsatz II. und
die Polemik des Nachmanides zur Stelle. Ygl. auch Frankel,
Parke Hamischnah S. 17.
3) Solche interessante Discussionen liefert die Misclmah in
Hülle und Fülle. Ygl. z. B. Mischnah Jadaim lY., 3 und 4.
4) Die bekannten 32 Regeln des R. Elieser, Sohn R. Jose's
des Galiläers.
4
50
keine Schlüsse mit Gesetzeskraft zog und sie mehr
als Erzeugnisse des Augenblicks zu erbaulichen
Zwecken benutzte.
Dennoch ist die Sache damit keineswegs erledigt
und von beiden grossen Lehrern ßl. und N.) ein
Punkt nicht in's Auge gefasst, auf den unsere mehr
geschichtliche Betrachtung der Sache uns führt. Die
Ansicht von der Schrift war damals eine andere, und,
wenn Akiba für eine alte Halachah auch nur das,
was wir eine blosse Anlehnung an die Schrift nennen,
gefunden, so war er nicht etwa der Meinung, es sei
das eine willkürliche Anlehnung, sondern er glaubte
in der That, die Schrift habe das andeuten wollen.
Ich gebe also Maimonides zu, dass die Halachah
häufig auch ohne Yers feststand, gebe aber nicht zu,
dass man dann die Anlehnung als ein blos subjectives
Spiel erkannte. Zur Klarlegung dieses subtilen Punktes
bringe ich eine andere Schwierigkeit bei, die zur
Entscheidung drängt.
Es gibt exegetische Eigenthümlichkeiten der tal-
mudischen Literatur, die jeder Kundige kennt, ohne
sie doch sich erklären zu können. Zu den merk-
würdigsten und frappirendsten gehören offenbar die
bekannten Eälle, wo das hebräische Bibelwort, wenn
sein Klang im Griechischen einen Sinn gibt, griechisch
gedeutet wird. Das Material ist in Sachs' vortrefP-
51
liehen Beiträgen reichlich aufgehäuft i). Aber die
Frage: „War es Spielerei, war es Ernst, und, wenn
Ernst, wie ist es zu verstehen, bleibt noch zu lösen.
Es mag ja eine hübsche vSentenz ergeben, wenn das
Hebräische '^^Hi^Ö aufgelöst wird in [iv] "^^Hi^, aber
wie kann man glauben, dass die Schrift griechisch
redet? Oder was soll man sagen, wenn das hebräische
Wort nty = Lamm als as = Dich gedeutet wird,
oder das hebräische p = siehe für sv = Eins?
Und gesetzt: wir sagen, es seien das unschuldige, im
Geschmacke jener Zeit zur Erbauung vorgebrachte
Spielereien, klingt es nicht schon ernster, wenn Kabbi
Ismael die überlieferte Halachah, dass das Phylacterion
(die Gebetkapsel, die am Kopfe getragen wird) aus
vier Gehäusen zu bestehen habe, aus der verschiedenen
Schreibung des Wortes „Totaphoth" herleitet, und Akiba
dazu sagt: Diese Ableitung sei gar nicht nöthig, da
die vier schon im Worte stecke, denn „Tot" heisse in
„Kathphi" (?) zwei und „photh" heisse in Africa zwei 2). Es
1) Sachs, Beiträge zui" Sprach- und Alterthumsforschung
I. Theil, S. 19 ff. Daselbst sind auch unsere im Text gegebenen
Beispiele zu finden.
2) Frankel, Darke Hamischnah, S. 113, Note 3, bezeichnet
es als seltsam, wie eine solche Deutung dem Akiba soweit gefallen
konnte, dass er seinem Collegen Ismael zurufen konnte T'ISC 13"K,
versucht aber nicht, die Seltsamkeit zu erklären.
Die bei Sachs und Frankel gleichfalls angeführten Stellen,
sind entnommen : das
4.*
b2
gibt hier, so scheint es, nur eine Auskunft, Akiba
habe nämlich gerade die seltsamste Anlehnung für die
Halachah vorgezogen, weil sie desto leichter behalten
wird.
Aber wüixlen sich Akiba und die anderen Lehrer
bei ihrer Ehrfurcht vor der Schi'ift solche^ Spielereien
erlaubt haben, wenn nicht jene Zeit eine Ansicht von
der Schrift beheiTscht hätte, die all diesem Thun ein
viel ernsteres Gepräge gab? So ist es denn auch in
der That. Obwohl die palästinischen Lehrer niemals
bis zu dem Missverständnisse des Bibelwortes herab-
sinken konnten, Tsde die hellenistischen Juden, so
hatte doch die eigenthümliche Venera tion des Schrift-
wortes, wie sie in Alexandiia und bei den griechisch
redenden Juden aufgekommen war, auch der palästi-
nischen Sphäre sich mitgetheilt. Hatte es dort als
dürftig gegolten, dass die göttliche Schrift nur einen
Sinn haben sollte, so fand man es auch in Palästina bald
nicht sonderbar, dass die Schrift, unbeschadet
des Umstandes, dass sie Hebräisch sprach,
doch auch zugleich in allen Sprachen einen
Sinn abwarf, oder anders ausgedrückt, man heimste
neben dem Sinne, den dasWort im Hebräischen
{JLT, "I"nx dem Tanchuma zu 2. B. Mosis 22, 24. Pas T^ = zi
der Pesikta der. Kah. XL, das iv = jH häufig, siehe Aruch, die
Deutung von Totaphoth Sanhedi'in 4b,
53
ergab und den man sehr wohl kannte, auch
den Sinn mit ein, den der zufällige Klang
des Wortes in einer fremden Sprache hatte,
weil man es eben nicht für zufällig hielt.
Akiba z. B. kannte die Halachah von den vier Ge-
häusen, kannte ebenso den Wortsinn von Totaphoth,
hielt aber darum den Umstand, dass in zwei fremden
Sprachen der Klang der einzelnen Silben des Wortes
je zwei bedeutete, für nicht zufällig, sondern von der
Schrift beabsichtigt. Man glaubte eben nicht gross
genug von Gottes Wort denken zu können. Wir
suchen diese Behauptung näher zu belegen.
Anknüpfend an einen Satz in dem die sinaitische
Offenbarung besingenden Psalm 68, nämlich an den
12. Yers: „Gott giebt ein Wort, der gute Botschaft
Bringenden ist eine grosse Zahl" lehrt der Talmud:
„Jedes Wort, das aus dem Munde Gottes kam, spaltete
sich in 70 Zungen"^). Es lässt sich das ja recht
geistreich homiletisch verwenden, indem man es auf
die Bestimmung des Gottesgesetzes für alle Völker der
Erde bezieht. Diese Ansicht ist auch an vielen
Stellen und in sehr eigenthümlicher Weise in der
Mischnah ausgesprochen. Dort wird nämlich gesagt '-),
dass Israel auf die Steine, von denen Deuteron. 27, G
1) Talmud, Sabbath 88b.
2) Sotak VII, 5.
54
die Kede ist, die Worte der Lehre in 70 Sprachen
schrieb, offenbar weil sich die Lehrer von der Frage
bedrückt fühlten, wie denn Gott die übrigen Yölker
ohne den beseligenden Inhalt der Lehre lassen konnte.
Aber dennoch ist es rathsam, das Sich-Spalten des
Gotteswortes in 70 Zungen eigentlich zu fassen.
Diese Fassung Avird durch so manche Spur empfohlen.
Einmal erklären sich so am besten die 70 Gesichter
oder Weisen, me die Schrift ausgelegt werden könne i).
Ebenso warum die Hauptausleger der Schrift, die Syn-
hedristen, 70 Zungen verstehen müssen 2). Auch das
dem Mardechai gespendete Lob wird verständlich. Er
heisse auch Pethachia, denn er habe seine Auslegungen
in 70 Zungen eröffnet, er heisse Baischan, weil er in
der Exegese die Sprache durcheinander gemischt 3).
Nicht uninteressant dürfte bei der Gelegenheit
die Parallele sein, dass der Talmud dieses „In Ziingen-
reden'^ bei Besprechung des jüdischen Pfingstfestes
und der sinaitischen Offenbarung hat, und dass das
schwierige „In Zungenreden" der Apostel am Pfingsten
vielleicht dadurch seine Erläuterung erhält.
1) Die 70 ^"eisen (D':E) der Auslegung kommen allerdings
mehr in naclitalmudisclien Schriften vor.
2) Talmud, Sanhedrin 17a ]^^h 'V '17nv S^K I'-nn:D2 j^n^iriö j^K
3) Menachotli 65b : ["^^h 'un 'irnm nnistr .Tnns Knps ^snnö
^:^'b b''2, nm \^b2
55
Scheint aber eine solche Ansicht von dem Ueber-
reichthum der Schrift, der Glaube an die Berechtigung,
jede Andeutung der Schrift zu benutzen, exegetisch
verhängnissvoll werden zu müssen, so gab es eine
grosse Zahl von Correctiven, welche die palästinen-
sischen Lehrer vor Yerirrungen schützte. Einmal
vergesse man nicht, dass sie zur Sprache der Schrift
immer noch ein unmittelbares, unreflectirtes Yerhält-
niss hatten, das sich vom Yerhältniss zur Mutter-
sprache kaum unterschied. Jene Lehrer hatten, wie
aus der präcisen, geistreichen, in ihrer Weise klassi-
schen Sprache der Mischnah einerseits, andererseits
wiederum aus der schlichten, gemüthvoUen Sprache
der aus der talmudischen Zeit stammenden Gebete
hervorgeht, die Fähigkeit sowohl des wissenschaftlichen
wie des künstlerischen Gebrauchs der hebräischen
Sprache noch in hohem Grade. Schon dadurch standen
sie im wahren Yerständniss der Bibel hoch über ihren
Zeitgenossen, welche, was ihnen die griechische Ueber-
setzung an Erkenntnissmöglichkeit der Schrift noch
übrig gelassen, durch das ewige Allegorisiren ein-
büssteni). Dazu kommt, dass nicht alle uns seltsam
vorkommenden exegetischen Eruirungen der Tal-
1) Vgl. den oben schon angeführten Aufsatz : Ein AVort
gegen Lessing zu Ehren Lessing's in dem vom Israelitischen
Gemeindebunde herausgegebenen Lessing - Mendelssohn'schon
Gedenkbuche.
56
mudisten so seltsam sind als sie aussehen. Wie
Kroclimal i) nämlich nachgewiesen, hatten die Sopherim
die zu tradirenden Halachoth bisweilen durch die
Orthographie der Schrift angedeutet, so dass die Tal-
mudisten berechtigt waren, aus einem fehlenden oder
voll hingeschriebenen Waw z. B. Schlüsse zu machen.
Wenn wir heute das Wort „sie" bald plene Dmx,
bald defect DflS lesen, oder das Wort „Hütten" bald
rilDD und bald n^D und die Talmudisten daraus Ha-
lachoth herleiteten, so lag die Berechtigung dafür
darin, dass sie nur herauslasen, was die Sopherim
durch ihre Orthographie absichtsvoll hineingelegt.
Endlich aber schützte man sich vor "TOllkür
durch das rigoristische Verbot jeder persönlichen
Schriftstellerei, so weit es das Religionsgesetz tangirt,
durch Aufstellung des Canon, Beschränkung desselben
auf 24 Bücher und Avilirung der anderen als „Chi-
zonim" (draussenstehende, profane), durch Yerwandlung
der ganzen Tradition in eine „mündliche Lehre", deren
Geltung im einzelnen auf Majoritätsbeschlüssen des
grossen Synedriums zu Jerusalem oder der später sie
vertretenden Gerichtshöfe beruhte. Das führt uns
denn auf die Erwägung, me man zu dem Begriffe
einer „mündlichen Lehre" gekommen war.
1) In seinem klassischen Buche : jÖH ^2123 nmö Pforte 13
nniDÜ^ DK
Die mündliche Lefire.
Der Ausdruck „mündliche Lehre" wird gemein-
hin als Wechselbegriff für die jüdische „Tradition"
genommen. Dennoch sind beide Ausdrücke nicht
identisch. Es lag ursprünglich keineswegs im Wesen
der Tradition un aufgeschrieben zu sein. Der Talmud
selbst kennt eine aufgeschriebene Tradition vor der
Zeit, in welcher das Aufschreiben des zu Tradirenden
verpönt wurde. Er nennt nämlich die gesetzlichen
Bestimmungen, die nicht in der Thora (Pentateuch),
sondern in den Propheten enthalten sind, „Worte der
Tradition", unbeschadet des Umstandes, dass sie in
den prophetischen Büchern durch die Schrift fixirt
sindi). Der Ausdruck „mündliche Lehre" für alles
1) So sagt, um nur aus den zaliheichen Beispielen einige
anzuführen, die Mischnah (Taanit IL, 1) : Und in der „Tradition',
heisst es: „Und zerreisset Euer Herz und nicht Eure Kleider'^
und bezeichnet somit die Schriftworte (Joel 2, 13) als r\bzp
„Tradition". So heisst es Rosch Haschanah 7a: „Diese Sache
lernen wir nicht aus der Lehre imseres Lehrers Mosis, sondern
aus den Worten der „Tradition", und nun mrd ein Wort aus
dem hagiogi-aphischen Buche Esther angeführt.
58
Mcht-Pentateuchische kann erst spät geprägt worden
sein, zur Zeit, wo geschichtliche Umstände das Ver-
bot veranlassten, sei es die Erklärungen und Erwei-
terungen der Schrift aufzuschreiben, sei es selbstän-
dige Bücher niit der Prätension abzufassen, sie den
vorhandenen biblischen Büchern als ebenbürtig anzu-
reihen, ü^och nicht bestanden hat das Yerbot im
Zeitalter des jüngeren Sirach. Aus Palästina nach
Alexandria kommend, sagt er ganz harmlos, sein Gross-
vater habe, Schrift, Propheten und die späteren natio-
nalen Bücher eifrig studirend, in Folge der Förderung,
die er dadurch erfahren, beschlossen, auch selbst Aehn-
liches zu leisten. Ja, man kann noch streiten, ob er
nicht auch sagen will, damit auch andere Lernbegie-
rige ihrerseits dadurch angeregt würden, neue ähn-
liche Bücher hinzuzufügen (eTiiTipoG-ö-wai) i).
Die erste Büchercensur kam wohl im Streite mit
den Sadducäern vor. Zur Kegierungszeit der Salome
Alexandra (79 — 70 v. Chr.) unter dem Synedrial-
haupte Simon ben Schetach gelang es nicht nur, das
Synedrium mit lauter pharisäischen Elementen zu
besetzen, sondern auch den geschriebenen harten
sadducäischen Strafcodex abzuschaffen 2). Seit jener
1) Prolog zuni giiechisclien Sirach.
2) In der Fastem-olle heisst es: „Am 14. Tammus wui'de
das Buch der Entscheidungen abgeschafft, daiuiu soll an ihm
59^
Zeit verbot man wohl Halachoth aufzuschreiben. Das
Synedrium in seinen Majoritätsbeschlüssen sollte allein
die gültige Auslegung repräsentiren, und so volks-
thünilich und moralisch mächtig war die pharisäische
Handhabung des Gesetzes, dass nach dem Zeugnisse
des Josephus die Sadducäer fortan nur theoretisch,
nicht aber als practische Functionäre gegen die phari-
säische Lehre aufzutreten wagten. Theoretisch da-
gegen zu disputiren hielten sie für verdienstlich i).
Wir werden daher von den Sadducäern wohl
nicht eigentlich sagen können, dass sie die Tradition
leugneten — sie hatten ja selbst welche, sogar auf-
geschriebene — , sondern die mündliche Lehre, welche
ihrem eigentlichen Begriffe nach eine Institution, eine
Behörde war 2). Gerade weil sie die Autorität dieser
Institution theoretisch wenigstens nicht anerkannten.
nicht gefastet werden^'. Der Scholiast bezieht es, offenbar richtig,
auf das geschriebene Strafgesetzbuch der Sadducäer. Vgl. Graetz,
Geschichte der Juden, Band 3, Note 1 die Ueberschrift : anti-
sadducäische Gedenktage. Dernburg, essai sur l'histoire e. c. t.
S. 103. Antidatirt im Schohasten ist nui-, dass er das Verbot
derlei aufzuschreiben in jener Zeit als schon längst ergangen
ansieht.
1) Joseph, ant. Jud. XVIII., 1, 4. Das von Dernburg S. 104
daselbst besprochene ok «otojv muss in ctTz auxÄv verwandelt
werden, wie manche Ausgaben haben. Nur letzteres kann
heissen „nach ihren Ansichten",
'-i) MaimoDides, Hilchoth Mamrim zu Anfange: SnJH i^ ^'-
na bunu? n-nn np^u on o'^u^in^nt:?
60
sagte man von ihnen, sie leugneten die mündliche Lehre,
eine Bezeichnung, die erst im Streite mit ihnen auf-
gekommen war, als man es zum "Wesen der Tradition
gehörig erklärte, eben nicht aufgeschrieben zu sein.
Es liegt nun im Geiste des Talmudismus, dass
man für den neuen Xamen „mündliche Lehre" eine
Stütze in der Schrift suchte und auch fand. So be-
merkt denn der exegetische ^üLidrasch Sifra zu dem
Terse Leviticus 26, 46: „Dies sind die Satzungen
und die Rechte und die Thoroth (Lehren), die Gott
zwischen Sich und die Eander Israels durch Moses
gesetzt^'. Folgendes: „Und die Thoroth im Plural heisst
es ; das lehrt, dass zwei Thoroth ihnen (den Israeliten)
gegeben worden, eine schriftliche und eine mündliche".
Merkwürdig, dass der nun folgende Sprecher im
Sifra, R. Akiba, mit dieser Erklärung nicht einver-
standen zu sein scheint. Eine dasselbe besagende
Stelle findet sich auch in Sifre 351 zu den "Worten
Deuter. 32, 10: „Sie soUen lehren deine Rechte, Jakob,
und deine Thora (Sifi'e Liest aber Plural), Israel".
Das lehi't, glossirt Sifre, dass zwei Thoroth Israel
gegeben worden, eine mündlich, die andere schriftlich.
Es fragte der Hegemon Agenetos (?) den R. Gamaüel:
Wieviel Thoroth sind Israel gegeben worden? Zwei,
antvvortete er ihm, eine mündüche und eine schrift-
liche. Im Talmud kommt der Ausdruck „mündliche
61
Lehre" schon im Munde Hillel's vor. Weiss i) hält
das für eine Antedatirung, was sehr möglich ist.
Die Vermiithung ist wohl gestattet, dass der
Ausdruck dem römischen Rechte entnommen, welches
gleichfalls neben dem Zwölftafelgesetz ein Civilrecht
kennt, das, nicht schriftlich fixirt, lediglich in der
Auslegung der Rechtsverständigen besteht (quod sine
Scripte in sola prudentum interpretatione consistit).
Uebrigens erstreckte sich das im Kampfe mit den
Sadducäern entstandene Yerbot ursprünglich gewiss
nicht weiter als der Anlass es gebot, ich meine, be-
zog sich zunächst nur auf das Aufschreiben der
Halachoth. Und siehe da, dieses Yerbot hatte zur
Folge nicht etwa eine Stabilität der Halachoth, sondern
einen gewissen Fluss derselben. Natürlich! Während
die Sadducäer für ihre Rechtsentscheidungen ihre
Bücher hervorgelangt hatten, war jetzt der mündlichen
Discussion und Schriftforschung freie Bahn geöffnet.
Dieser geschichtliche Fluss der Halachoth ist oft
höchst interessant, ja kann sogar zu chronologischen
Winken benutzt werden. Ich Avill ein Paar Beispiele
anführen.
Josesphus (ant. jud. XYH, 6, 2) erzählt von dem
Aufstande, den zwei jüdische Gresetzeslehrer von An-
sehen in der letzten Krankheit des Herodes erregt
1) Weiss, Vtrnm nm -in erste Seite,
62
hatten. Sie sprachen von seinen vielen Gesetzes-
übertretungen, namentlich aber von einer, welche ab-
zustellen sie bemüht sein müssten. lieber der
grösseren Pforte des Tempels nämlich hatte er einen
grossen und höchst werthvollen Adler aus Grold aufstellen
lassen. Nun aber verbiete das Gesetz Allen, die
darnach leben wollen, an die Errichtung von Bildern
zu denken oder irgend welche lebende Wesen abbildlich
zu gestalten. Sie ermahnten das Yolk, selbst unter
Lebensgefahr den Adler herabzureissen , da Treue
gegen das Gesetz wichtiger sei als das Leben. Es
geschah und hatte traurige Folgen für die Anstifter.
Thatsächlich aber verbietet die spätere Halachah, wie
sie für uns fixirt ist, gar nicht, Thiergestalten abzu-
bilden. Der Kürze wegen citire ich den Maimonides i) :
„Die Gestalten von Thieren, von allen lebenden Wesen
mit Ausnahme der Menschen, ebenso die Gestalten
von Bäumen, Gräsern und ähnlicher Dinge darf man
bilden, selbst in Relief". Die Halachah ist also später
milder geworden. Einer gleichen rigorosen Ansicht
über das Recht, die Häuser mit Thierbildern zu
schmücken, begegnen wir in der „vita" des Josephus,
wo das Haus des Tetrarchen Herodes zerstört werden
1) Maim. Jad hachasaka, Abschnitt über Götzendienst cap. 3
§ 9 Schluss: nm^tT DiKn ja pn n*n rs3 nKtri nönnn nmi
ntfibia r\'\^:in nn*n i^'^ski Dm« -ii::'? nma \ra ks:vdi D'Kur-n mj^Kn
63
sollte wegen der darin überall angebrachten Thier-
bilder i).
Ein anderes Beispiel, bei dem die Halachah einen
chronologischen Wink gibt, bietet die Umgestaltung
des im 2. und im 4. Makkabäerbuch dargestellten
Martyriums von sieben Söhnen einer Mutter. Die
Erzählung geht bekanntlich in die talmudische und
midraschische Literatur über 2), aber mit einer Aen-
derung, die in der veränderten Halachah ihren Grund
hat. Es ist nämlich bemerkenswerth , dass in der
griechischen Fassung das Pathos auf der Weigerung,
verbotene Speisen zu gemessen beruht, nach der tal-
mudischen Relation aber das Martyrium erlitten wird
wegen der Zumuthung: diene den Götzen. Zwischen
beiden Berichten liegt der in den Zeiten Hadrians
gefasste Lyddensische Beschluss, dass man in Lebens-
gefahr alle Yerbote der Schrift übertreten dürfe mit
Ausnahme von Götzendienst, Unzucht und Mord 3).
Fortan musste die Sage umgebildet werden, und statt
der Zumuthung, verbotene Speisen zu essen, musste
es heissen: diene den Götzen. Den Einwand, dass
die Bestimmungen später wieder verschärft wurden,
1) Vita Jos. c. 9, 12. Vgl. Ewald, Geschichte des Volkes
Israel, VI. Band, S. 703.
2) Freudenthal, die Flavius Josephus beigelegte Sclirift:
Ueber die Herrschaft der Vernunft (IV. Makkabäerbuch) S. 95.
3) Sanhedrin 74a. Graetz, Geschichte. B. IV., 2. Aufl. S. 170.
64
nänilich dass man, wo es sich um die Absicht, den
Israeliten von seinem Glauben abti'ünnig zu machen,
handelt, selbst um einer Kleinigkeit willen, das Leben
opfern müsse, übergehe ich als leicht lösbar.
So ist wohl auch die talmudische Xachricht, dass
in der Antiochischen Yerfolgungszeit Jemand wegen
Reitens am Sabbath hingerichtet worden sei, nicht
weil das gesetzlich so recht gewesen wäre, sondern
weil die Stunde (die Xothlage) eine solche Strenge er-
heischte 1) und ähnliche Erzählungen vom Standpunkte
der späteren Halachah dargestellt worden. In Wahr-
lieit waren die Sabbathgesetze rigoristischer, me ja
geschichtlich der Satz, dass „Lebensgefahr den
Sabbath verdränge, erst allmälig reift 2)".
Zum Verbote, Halachoth aufzuschreiben, trat im
ersten christlichen Jahrhundert das Verbot, aramäische
Uebersetzungen der biblischen Bücher zu publiciren.
So lässt E. Gamaliel der Erste das Targum zum Buche
Hieb versenken 3). An der griechischen Bibelüber-
setzung nahm man zu seiner Zeit noch keinen An-
stoss, da die dem ersten Gamaliel (lebte um 40 n. Chr.)
und seinen CoUegen missliebigen Auslegungen in
Palästina ihnen sicherlich noch an den aramäischen
Uebersetzungen und in aramäischer Sprache entgegen-
1) Sanhedrin 46a.
2) 1. Makkabäerbuch cap. 2, 32-41,
3) B. Sabbath 116a.
65
traten. Dass solche Ueb er Setzungen trotz des Yerbots
ciirsirten, wird ja gerade durch die Erzählung, dass
E. Gamaliel eine yernichtete, bestätigt. Es ist uns
sogar von einer aramäischen Uebersetzung berichtet, die
aus der griechischen gemacht wurde 3). Dass das
natürlich nicht unser onkelosisches Targum sein kann,
braucht Memandem gesagt zu werden, da diese vor-
treffliche Uebersetzung ihren originalen Charakter an
sich trägt. So muss dann eine Yermuthung Asariah
de Kossi's umgekehrt werden. Asariah de Eossi hat
1) In meinen Ausgaben steht: 1T,b n"l2nis* ]rh Xn^n IHK ^Jjnn
ri'^iVj. Megilla I, 71c. Die von Professor Levy in seinem neuen
Lexikon s. v. ''"1- gegebene Uebersetzung der Stelle: „Ein Hütten-
einlieger hat ihnen (den Eömern) das Eömischo, die lateinische
Sprache, aus dem Griechischen gesondert, d. h. eine besondere
Sprache daraus gemacht'^ ist trotz ihrer Seltsamkeit nicht ganz ohne
GiTind. Dieser Gelehrte liess sich nämlich in Erklärung unserer
Stelle von der Parallelstelle Esther rabbah s. v. C"*i£C nb'\V^^
leiten, die allerdings so wunderlich klingt (siehe Levy s. v. ■^"IS).
Aber es ist doch rationeller, unsere (talmudische) Stelle als die
primäre, jene (midraschische) als aus Missverständniss entstanden
anzusehen. Ohnehin kann man sich ja bei der Midraschnotiz
nichts Eechtes denken. Füt unsere Stelle aber ergibt der
Zusammenhang Folgendes: „Eabban Simon, Sohn GamaUel's, sagte;
Auch bei Büchern (bibhschen) haben sie nur den Gebrauch der
griechischen (keiner anderen, nicht — hebräischen) Sprache gestattet.
Sie untersuchten und fanden, dass die Thora in keiner anderen
Sprache nach ihrem ganzen Bedarf übersetzt werden könne, ausser
in der griechischen. Ein Bui'gbewohner hat ihnen sogar eine
aramäische Uebersetzung aus dem Griechischen angefertigt. E.
Jirm'jah im Namen des Chija bar Ba sagte: Es hat Akylas der
66
bekanntlich die seltsame Idee, dass die Septuaginta
aus dem aramäischen und nicht aus dem hebräischen
Original angefertigt worden sei. Heutzutage bedarf
das keiner "Widerlegung. Aber unter anderen Beweisen
für seine ^Meinung fühlt er auch an, dass, da doch
Jesus und seine Jünger ohne Frage aramäisch sprachen,
Avie aus den Originalcitaten Talita Kumi und ähn-
lichen hervorgeht, die Uebereinstimmung der Citate
in den Evangelien mit der Septuaginta nur diu'ch
seine Hypothese erklärt würde ^). Der Einwand, der
gemacht werden könnte, dass die Evangelien später
abgefasst seien, wüixlo insofern nicht ti^effen, als sie
doch sicherlich alte Elemente in sich enthalten. TTenn
man aber bedenkt, dass die in Palästina für das Yolk
cui^sirenden aramäischen Uebersetzungen zum Theil
aus dem Griechischen gemacht worden, wofüi' wir ja
ein directes Zeugniss haben, so schwindet jede
Schwierigkeit.
In den Zeiten Gamahers nun und seiner un-
mittelbaren Xachfolger musste auch die Xothwendig-
keit hervorti-eten, den Canon zu bestimmen und die
anderen entweder schon erschienenen oder zur Zeit
Proselyt die Thora vor E. Elieser und E. Josua übersetzt und
sie rühmten ihn und sprachen : „Schön bist du u. s. w." Diese
Aufeinanderfolge der Sätze schhesst jede Erkläiimg aus, die
sich nicht auf eine Schiiftübersetzung bezieht.
1) Asaiiah de Eossi, Meor Enajiin, Imre Binah c. 8 u. 9.
67
erscheinenden Bücher religiösen Inhalts als „draussen-
stehende" (Chizonim) zu bezeichnen. Ebenso niusste
statt des nichtausreichenden Yerbots von geschriebenen
Uebersetzungen das Uebersetzen selbst unter officielle
Obhut gestellt werden. Und als in den Zeiten der
Schüler K. Jochanan ben Saccai's der Kampf mit den
sectirerischen Meinungen nicht mehr blos auf Grund
des Aramäischen, sondern des Griechischen geführt
wurde, da schritt man auch, weil man aus Gründen,
die uns bereits bekannt sind, auf das Griechische
auch für exegetische Zwecke nicht verzichten konnte,
dazu, durch Aquila eine officielle griechische Version
anfertigen zu lassen.
5*
Die draussenstehenden Bücher (Chizonim).
Solcher Bücher gibt es zwei von einander ver-
schiedene Arten. Erstens solche, die man, obwohl
ihrer Xatur nach dazu einladend, nicht mehr in den
Canon aufgenommen, weil ihnen der Ximbus des hohen
Alterthums und die Yoraussetzung fehlte, dass ihr
Autor, vom göttlichen Geiste inspirirt, einen Text ge-
liefert, an den man mit den üblichen Deutungsmitteln
herangehen dürfe. Diese Bücher durften wohl gelesen
werden, aber zur Yertiefting in sie, die Xeues aus
ihnen herausholte, wurden sie nicht füi' geeignet
gehalten. Das wird ausdrücklich gesagt. Die Schluss-
worte in Koheleth, die nach dem scharfsinnigen Er-
gebniss EjochmaFs i) zugleich den Canon abschliessen,
enthalten bekanntlich auch die Worte: „Hüte dich,
Bücher ohne Ende zu machen, vielerlei Lesen ermüdet
den Leib-. Dazu bemerkt der ILidi'asch zur Stelle,
nachdem er Beispiele von nicht-kanonischen Büchern
1) More Xebuclie Haseman. Pforte 11. Sis:, 8.
G9
gebracht, worüber später: ,,Diese Bücher sind wohl
zum Forschen, aber nicht zur Ermüdung des Fleisches
gegeben"!). Was gemeint ist, dafür bietet die Stelle
selbst ein gutes Beispiel. Wie wird eben diese Vor-
schrift aus der Stelle herausgeholt? Es wird gethan,
als ob das Substantiv „Lahag" etwas mit dem Infinitiv
„lahagoth" zu thun hätte. So unreflectirt man auch
der Sprache gegenüberstand, man wusste wohl, dass
2nS nicht mit n^H ^nd rw.rb zusammenhinge. Ebenso
wird schon vorher ni^ni? gleichnij^l!? gelesen, nichtweil
man den Text anders aufPasste, als wir ihn auffassen,
sondern weilKoheleth als kanonisches Buch einen solchen
Eeichthum an Is^'ebenbeziehungen einschloss. Dasselbe
bei einem sonst tadellosen, aber unkanonischen Buche zu
thun, wlü'de eine Ueberschätzüng seines Reichthums
heissen. Im Talmud wird diese SteUung, welche die
sonst untadligen „draussenstehenden" Bücher ein-
nehmen, ausser durch dieWorte des Mdrasch : „Zum Lesen
eignen sie sich wolil, aber nicht zum Ermüden des
Fleisches", auch durch die Wendung gegeben : „Wer sie
liest, der liest sie nicht anders, wie wenn er in einem
Briefe liest" 2), das heisst: das Lesen mit TOfacher Augen-
1) an£c Tr^ nnr iiTn -[inn D^33ün bst:' nnn^zr r^nr^ri -invi
2) Jer. SanhedriQ X, 28a. Ueber die Yerwirmng, die in der
Stelle herrscht, später.
70
bewaffniing, ^^ie man die heiligen Bücher liest, ist bei
ihnen nicht statthaft.
Aber es gab auch ,,Chizonim" ganz anderer Art^
deren Lectüre das Seelenheil gefährdete und die man
darum ganz yerbot. Es waren das ketzerische Bücher^
von denen man Gefahr in der Zeit zu fürchten anfinge
in der man auch gegen das Griechische vorging. Die
Zeit ist aus der Fassung des Verbots ersichtlich. Die
ältere Bestimmung i) lautete: „Folgende haben keinen
Antheil an der zukünftigen Welt: „Wer da sagt, die
Thora lehre nicht die Auferstehung, wer da sagt, die
Thora sei nicht göttlich, und ein Anhänger des Epikur".
Zu dieser alten Bestimmung traten dann die Worte
hinzu: ,Jl. Akiba sagt: Auch wer da liest in den
draussenstehenden Büchern, wer eine Wunde bespricht^
über sie nämlich den Bibelvers Ex. 15, 26 lispelt:
Ich will keine der Krankheiten, die ich Aegj^ten
auferlegt, dir zuschicken, denn ich der Ewige bin.
dein Arzt". Abba Saul sagt : „Auch wer den Gottes-^
namen nach seinen wirklichen Buchstaben ausspricht".
Die ..Sifi^e Chizonim" werden dann 2) ausdrücklich
1) ]n cT^n r"r^n ]'X -!2'i<n ,Krn cStS phn cnS \'üz' iSi<T
'*n 'rri'C -^z'i^ nbnnr^ b: n^'X'i rc^n br rmbm :2':''^nn c"^£cn
-) Die Gemai-a glossirt zur ]yjschnah C^äC^ K"'i''pn s^K
D""2:nn die Worte Cp'IÄn 'n£cr X:n, wofür zu lesen ist ^'ISDÄ
C"'<-~, ^vie aus Alfasi zur Stelle zu ersehen.
71
als Bücher der Ketzer erklärt (dass Sadducäer für
Minim steht, kann Niemanden irre machen und die
alten Erklärer haben die richtige Lesart) und Alfasi
gibt den richtigen Grnnd an: „weil sie Thora, Pro-
pheten und Hagiographen nach ihrem Sinn erklären
und nicht nach der Auslegung der Weisen". Wir
sehen, dass erst zur Zeit Akiba's und seiner Lehrer
(R Josua, E. Elieser), also im Anfange des zweiten
christlichen Jahrhunderts auf solche Art Yon „Chizo-
nini'* reflectirt und von ihnen Gefahr gefürchtet wurde.
Ebenso ist die Yerpönung von Wunderheilungen, wie
sie auch von dem CollegenAkiba's,E.Ismael, an anderen
Orten 1) mit rigorosester Strenge ausgesprochen wird,
für jene Zeit charakteristisch genug.
Leider aber ist eine Verwirrung in die Texte
gekommen, so dass der unschuldige und sehr beliebte
Sirach aus der Klasse der „harmlosen" Chizonim in
die Klasse der verketzerten durch Abschreibernach-
lässigkeit gerathen ist. Wie wenig das mit den That-
sachen stimmt, darüber kann Einer durch das Studium
zweier inhaltreichen Seiten in Zunzen's „Gottesdienst-
liche Yorträge" -) sich belehren. Er wird sich nicht
blos überzeugen, dass die Talmudisten eine sehr be-
1) Aboda Sarah 27, woselbst E. Ismael seinem durch einen
Schlangenbiss in Lebensgefahr sich befindenden Schwestersobne
das Nacb suchen einer derartigen Heilung untersagt.
2) S. 100 ff.
deutende Zahl von Sii-achstellen citiren und benutzen.
sondern dass er in ihi^em Geiste noch gar nicht so
recht aus der Canonicität gedrängt ist. Sie citiren
ihn bisweilen mit der für Schriftcitate üblichen
Formel und zählen ihn zu den Hagiographen.
'Wir wollen versuchen, die TerwiiTung zu heben.
Unverdorben in Bezug auf das Buch Sirach ist bis
auf die leicht erkennbare Corruptel „Sifre ben Sii'a"
statt „Sefer ben Sii^a" die Stelle in der Tosephta
Jadaim ü.: ,,Ketzerbücher verunreinigen nicht die
Hände (sind nicht heilig), die Bücher (richtiger
das Buch) Sira und alle Schriften, die von da ab
geschrieben sind, veruni^einigen nicht die Hände (sind
unkanonisch) i). Sirach war die Gränze, die Bücher
vor ihm und die unter den späteren, die, wie z. B.
Daniel, durch Pseudonymität als vor Sii'ach geschrieben
galten, gehörten zui' heiligen Litteratur. Wie passend
ist Sii'ach als Gränze hingestellt! Dieses Buch hat
sich ja die volle Geltung zu verschaffen gewusst,
seiner Canonisirung stand blos die späte Zeit seiner
Entstehung im TTege. "Wäre irgend ein späteres für
wüi'dig befunden worden, so wäre Sirach sicher mit
hineingekommen. Es gab aber kein späteres, ich
meine ein solches, dessen späterer Ursprung den
ILischnahlehrern bekannt gewesen und dessen Canoni-
1) (lies : "£C) '"£c »c'Tn TS* j'i^n'^n p-x z'i'rin -üc C';rbjn
siriing sich ihnen durch seinen Werth aufgedrängt
hätte. Jede andere Deutung des „von da ab und
weiter" ist erkünstelt. Xun ist aber in den jerusa-
iemischen Talmud die Corruptel gekommen, dass als
Beispiel der streng verpönten Bücher, der ketzerischen
Chizonim, in erster Linie der unschuldige Sirach auf-
gestellt wirdi).
Indess ist die Corruptel auch schon äusserlich
zu erkennen. Der Genauigkeit Zunzen's ist es nicht
entgangen, dass an unserer Stelle ,,die Bücher des
ben Sira" steht, während sonst im jerusalemischen
Talmud immer ganz correct gesagt wird: „Buch des
ben Sira" 2) Aber da es nicht zu seinem Gegenstande
gehört, verfolgt er denWink nicht weiter. Ebenso schreibt
der babylonische Talmud an den zahlreichen Stellen, wo
Sirach citirt wird, immer „Buch des ben Sira", wenn
es nicht einfach heisst: „Bar Sira" oder „ben Sira"
1) Jer. Scinliedrin X. S. 28a: cnecs ^-^'(^n ?lK "lö'.i? Xrpi? n
n^-".SD b2^ CTan nao bnx n;i?b p nsci k^'d p nao ji:r c'r::nn
2) J. Berachoth c. 7 S. 11 col. 2 cith-t Simon ben Schetacli dem
Jannaiden Sirach mitdenAVorten: "iIT .T'l^cbc 2'r: i<"i"C p" J?^S"C2.
Dieselbe Stelle jer. Nasir c. 5 S. 54 2. Ebenso Genesis Eabbah c. 9 1 .
überall correct. Interessant ist auch, dass die Mittheilung
eines Citats ans Sirach wie die Mittheilung einer Tradition ein-
geführt wird. Jer. Chagiga cap. 2 S. 77 3 wird die Sentenz aus
Sirach: n'iimnit' nx22 ,-npnn n» bixtrö rip^^i' ,i:nn n^ yiri nK"'?£
m-inc:^ pCl? ^b j^X ,p2nX mit den Worten angeführt ^Ti:b '1
KTD nn m'Z AYiederholt ist die Stelle Genesis Rabbah c. 8.
74
sagti). Wir zweifeln nickt, class an unserer Stelle
ein anderes Wort gestanden hat, etwa „Sifre ben Satda"
(i^lÜD p ''^IsiD), ,,christltche Bücher", schon weil es
„Bücher' des ben Sira gar nicht gab, wie es ja auch
möglich ist, dass nnter dem Buche des „ben Tiglah
oder ben Laanah" sich ein Apokalvptiker verbirgt^
wozu ja der Käme ben Tiglah passt, und auch ben
Laanah passen würde, wenn in dieser Apokalypse wie
in der kanonischen der "Wermuth eine Rolle gespielt
haben sollte. Dass man auf ben Sira kam, war dann
natüiiich, da ben Sira in dieser Gesetzesbestimmung ja
eine Rolle spielt, nämlich als Gränzbuch für die
kanonischen Schriften. Die Stelle ist meines Erachtens
so zu fassen :
R. Akiba sagt: (Es büsst seinen Antheil an der
zukünftigen Welt ein) „Auch wer in draussenstehenden
Büchern liest, wie die Bücher des ben Satda und ben
Laanah. Aber das Buch Sirach und alle Bücher, die
1) B. Tahnud baba bathra 98b: brn Xn^C Ji -i£C2 mD
rJi'vT^ CT^2 "12T r-^-^ ni'Xü bp^ ,n"i',x C';:x2 nn'.x jrn^ bp^ rfin
nöb^i h X'n nb'x r^r^ ctl22 nrn rrö m"^ ^bz'fi) ^fii^:z\ Ebenso
Xidda 16b, woselbst es lieisst: XTC p "^.ECi rTi-lb n'b 'VZ^
Ebenso Sanhedrin 100b. Ebenso Jebamoth S. 63b: -i£C2 2TD
'•,ri nrx X^-C p» Ebenso Kethubotli 110b.
In ]yjdrascliEabbah sind überaus häufig die Citate mit bar Sira
sagt eingeführt : Gen Eabbdi cap. 8, ferner cap. 10, ferner cap. 73.
Levit. Eabbali cap. 33 u. a. a. 0.
75
von da ab und weiter geschrieben worden, wie die
Sifre Hemeros (Tagebücher) — wer in ihnen liest, von
dem ist es, als ob er in einem Briefe läse" i).
Die spätere Terwirrnng wurde vielleicht auch
durch den Umstand erleichtert, dass die aramäische
Uebersetzung des Sirach entstellende, des ächten
"Werkes unwürdige Zusätze enthielt, so dass der be-
kannte Amora E. Joseph (Anfang des 4. Jahrhunderts)
zu dem Werke sich nicht mehr ganz zu stellen
weiss. Einmal verbietet er es zu lesen, dann be-
hauptet er wiederum: „Die guten Sachen darin dürfe
man auslegen", was eigentlich so viel heisst, wie man
dürfe diese Stellen wie hagiographische behandeln 2).
Thatsächlich aber hat auch das Mittelalter sich
nicht beirren lassen durch das scheinbar widerspruchs-
1) Ich würde also die Stelle in jer. Sanli. X. S. 28a so
schreiben : p n£c ji;3 D^;',2inn cneDi i<-\^p:^ ^K n^iK i^rpi; n
"I 'm \ü2f2 linr:^' a-nscn b^i ^^td p nee bns* n:vb p nsci ktiSD
r-iJXn ^^^p2 pn ^l^pri DT^H ns:c pa Die Sifre Hemeros sind
natürlich nicht Homer, sondern, wie Graetz gut gezeigt hat, Tage-
bücher (Monatsschrift, Erankel-Graetz 1870 S. 180 ff.)
2) Sanhedrin 100b. fügt E. Joseph zu dem Akiba'schen Satze,
man solle nicht in Chizonim lesen, hinzu: Auch nicht im Buche
des ben Sira. Die Gemara fnägt aber warum, citirt Stellen, die
vielleicht der Giiind sein könnten, findet sie aber nicht darnach
angethan, um ein Verbot zu rechtfertigen. Darunter werden auch
seltsame angeführt, die in unserem Sirach nicht vorkommen.
Endlich sagt E. Joseph selbst: irh M'^mi .TD n^xn 'Kn^^buö ^h'f2
und macht sich gleich an's Werk.
ib
volle Verhalten der TalmucUehrer zum Sirach, sondern
die wahre Meinung desselben gut erkannt. Eitba
(Jörn Tob ben Abraham Ischbili, erste Hälfte des
14. Jahrhunderts) schreibt: ,^s ist geschrieben im
Buche Sirach", sagt der Talmud (ihn so mit Achtung
citirend). Dem steht nicht entgegen, dass er ihn in
Sanhedrin zu den Chizonim rechnet. Denn die Lehrer
hatten nur verboten, aus ihm ein ständiges Studium
zu machen (nach Art, meint er, wie die biblischen
Bücher studirt werden sollen), aber dennoch ist er
würdig; dass man zeitweise in ihm liest, um aus
ihm Weisheit und Zucht zu lernen, was bei wirk-
lichen Ketzerbüchern nicht statthaft isti)".
ij Eitbah angefühi't im En-Jacob zu baba bathra 98b : -T-
Kbr ]yvf2V c':'!:n c-isc j'-^nn;c2 rri^-^pz' sts", "s ktc r ^:2C2
nini'r ^r n',:nb ^^xi ö'« brx rrp ';s2ö r.'Z'vb ^^ k^k dü? ncN
EXCURS I.
a. Aristobul.
a. Aristobul,
Aus dem Eingang zum 2. Makkabäerbuche (1, 10)
erfahren wir, dass zur Zeit eines Ptolemäers ein Jude,
Namens Aristobul, aus dem Geschlechte der gesalbten
Priester, in hohem Ansehen stand und Lehrer des
Königs Ptolemäus genannt wurde. Welcher Ptolemäer
das war, hängt mit der Frage zusammen, ob die im
Texte stehende Zahl 188 der seleucidischen Aera
richtig ist, oder ob sie in 148 geändert werden soll.
Auf diese Frage lassen Avir uns hier, weil sie zu
unserer Untersuchung nichts beiträgt, nicht ein. Ob
er unter Ptolemäus Philometor gelebt hat, wie die
Meisten wollen, oder erst unter Physkon, so dass die
Zahl 188 a. s. = 124 v. Chr. richtig ist, kann uns
hier gleichgiltig sein. In jedem Falle ist länger
als 300 Jahr von Aristobul nirgends weiter die Eede.
Es schweigen über ihn Philo und Josephus, es schwei-
gen die Kirchenväter bis zum Ende des zweiten
christhchen Jahrhunderts. Da taucht sein Name und
die Nachricht, dass er eine Dedicationsschrift an Philo-
80
metor geschrieben, in den „Teppichen" (Stromata)
des Alexandriners Clemens (gest. vor 217 n. Chr.) auf.
Tier Stellen des Clemens thun des Aristobnl
Erwähnung. Das erste ]\IaU) wird sein Xame
nur flüchtig unter denen genannt, welche die
jüdische Philosophie für älter als die griechische er-
klären. Das zweite Mal 2) citirt Clemens das erste
Buch der Dedicationsschrift des Aristobul an Philo-
metor, worin Aristobul die Behauptung, dass Plato die
jüdische Gesetzgebung kannte, mit der Angabe stützt,
dass schon vor Demetrius, ' vor der Herrschaft des
Alexander und dem Sturze der Perser, Theile der
Bibel übersetzt worden seien. Das dritte Mal 3) wird
1) Clemens, ström. B. I. S. 305. (Ich citire die Seitenzahl
nach der mir gerade zugänglichen Sylburg'schen Ausgabe.) Nach
der Angabe des Clemens, dass der Pythagoräer Philo das höhere
Alter der jüdischen Weisheit umfänglich dargethan, folgen die
'SVorte: oh {iT|V aKkä xai 'ApicxoßoüXof: o Uto'.-xxriZ'.v.b^ xai aXXo
TtXsioug, Iva \i.ri xax' ovop.a ItwIwv oiatpißcu.
2) Clemens, ibid. B. I. S. 342: 'Ap-.TioßoüXog os Iv xCb t.oiu-iü
■zG) Tzobc, oiv <E>i/.o|JiY,-opa, xaxa Xsl'.v 'fp^'f '•' Katr|V.oXoD9'rf/.£ 5s v.at
b nXccTcüv Tv; xaO-* -r-jjiäs votioO-soia* ois'.piiTjVöüxai os r^pb
A7j|irjXpioD ucp' exepoo, izpb ttjs 'AXe|av8poo v.at Ilspawv IxxpatrpsüiS
xd xs xaxa xtjv hi AIyottcou l^ay^YV '^'^'^ '^Eßpat'cDV xuiv tjiisxspcov
TwoX'.Xüiv, xat 4] xüiv Y^T^'^^'^"*'' aTüdvxiov aüxols Ijxicpdvsia xai xpdxTjoig
XY,5 xtupas xal XY]g oXyjs vojioO^soiac s-s^YjrjC'.g.
1) Ibid. B. Y, S. 595. 'AptsxoßoDAO) os xw y.axd IlxoXeiiarov
YSYOvoxi xöv cpiXdSsXcpov ob [isjJLVTjxai 6 ouvxa4d|JL£vo<; X7]v xuiv Max-
y.aßa'y.u>v l7;ixofX7iv, ßißXia ^s.-^ovha.i (Yalkenaer, diatribe S. 30
schreibt dafür TiSTiovr^xat) Ixavd, tC d>v är.oosixvD-: xyjv ueptTiaxrj-
81
wunderlicher "Weise Aristobul unter Philadelphus gesetzt
und als Autor vieler Bücher hingestellt, in denen die
Behauptung enthalten sei, dass die Peripatetiker ihre
Lehren aus Moses und den Propheten entnommen.
Das vierte Mali) ^j-d eine allegorische Erklärung
über das Herabsteigen Gottes auf den Sinai auf
Aristobul zurückgeführt.
Ob diese vier Citate wirklich alle dem Clemens
ursprünglich angehören, odei* erst später hineinge-
schoben worden, ist selbst Valkenaer zweifelhaft. Er
natürlich, dem es vor allem um den Nachweis der
Echtheit der Aristobulea zu thun ist, hält die ihm passenden
Citate für echt, das störende dagegen, in dem sich ein
schimpflicher Irrthum über die Zeit des Aristobul
findet, für interpolirt. (Yalkenaer, diatribe de Aristo-
bulo Judaeo, S; 29 ff.) Solche Irrthümer sind zwar
im zweiten Jahrhundert n. Chr. nicht so merkwürdig,
wie in anderen Jahrhunderten. Man erinnere sich an
die IS'otiz bei Justin 2) : ,,Als aber Ptolemäus, König der
xixYjv cfiXoGocpiav Ix xs zoh y.azä Mcooea "^oiioo xat tcuv «XXüdv
♦rjpxYja^ac TipofYjXüiv.
1) Ibid. B. YI, S. 632 ttXtjV etopaOTj xo Trup, wg (pYjow 'Aptoxo-
ßouXog, Tcavxoc xoö rd/f^d-ooc, {JLüp'.docov oo-a eXacoov exaxov, /'"P^S
xÄv ftcpTQXixcuv sxxXYjGcaCovxcuv xuxXw xoö opooq.
2) Justin, 1. Apol. c. 31. oz& 5e IIxoXsiJLaloc 6 AlyoTcx^cov
ßaoiXsDS ßißXcoB-TjXTjv xaxsGxsüaCs xai xa udcvxcuv öcvO-pcÜTTcov oov-
Ypd|i[xaxa oovdYStv Insipd^Y], uoO-oiievos xat Ttspl xcov npocpvjxetoüv
xoüXüiv, npoqiTZBli^s xw tcüv louSaituv xoxe ß aoiXsuovxi 'HpcuST],
6
!>'A
Aegyptier, eine Bibliothek anlegte und die Schriften von
aller TTelt ziisanimenzubringen versnchte, da schickte er,
nachdem ihm etwas über diese Prophetien (die jüdischen)
bekannt geworden, zu dem damaligen Beherrscher der
Juden Herodes" (!). Indess Yalkenaer traut Clemens
nicht zu, was Justin ohne Frage zuzutrauen ist.
Andererseits hat Clemens in seiner „Ermahnung
an die Heiden'', namentlich aber in seinen „Teppichen"
nicht blos die später von Eusebius aus den Aristobuleis
mitgetheilten Orphischen Terse, auf die wir noch zurück-
konmien, die Yerse aus dem Arat und die Terse über die
Siebenzahl aus Hesiod, Homer, Kallimachos (Lines),
ohne ent^yeder eine Ahnung zu haben oder doch
wenigstens ohne zu sagen, dass sie der Aristobulischen
Schrift entnommen sind^), sondern auch viele ent-
weder wörtüch oder doch der Hauptsache nach mit
den später auftauchenden Aiistobuleis übereinstimmende
prosaische Stellen, ohne anzudeuten, dass er sie dem
Aristobul verdanke-).
Erst bei Eusebius treten grosse Stücke als Aristo-
bulea auf, sowohl das berufenste Stück, von welchem
das Orphische Gedicht, die Stelle aus dem Aivit und
die Terse aus Hesiod, Homer, Lines einen Theil bildet,
als auch andere Stücke. (Eusebius, praeparatio evan-
1) Clemens, cohortatio ad gentes S. 48 (c. YII, pag. 63). -
Str. Buch Y. s! 607 fe. (S. 723). Ibid. S. 600. Ibid. S. 597.
2) Yalkenaer S. 89, S. 11 u. a. a. 0.
83
gelica XIII, 11, 12; YII. 13, 14: YIIL 9, 10; IX 6;
Eusebius, bist. eccl. YII. 32.)
Sind diese Stellen echt?
Wie bekannt, bat Eicbard Simon i) ihre Unechtheit
behauptet, Hody 2) nnd nach ihm Eichhorn 3) bewiesen,
Yalkenaer ^) dagegen die Hody'schen Beweise wenigstens
in der Meinung der meisten Gelehrten entla^äftet.
Thatsächlich hat Hody der Sache nicht soviel Auf-
merksamkeit geschenkt, wie dem Aristeasbuche und
daher den Beweis für die Unechtheit der Aristobulea
nicht ebenso stringent geführt. Es sind Yerdachts-
gründe von schwererem Gewichte da, als Hody aus-
spricht, und ich freute mich, als ich sie fand, einen
Theil derselben bereits von keinem Geringeren als
Lobeck 5) ausgesprochen zu sehen.
Aber ich finde nicht, dass sie selbst von einem so
bedeutenden Manne wie Zeller *^) genügend gewürdigt
worden sind, und auch Graetz, obwohl er gerade die
1) Eichard Simon, liistoire critique du t. s. liv. 2 c. 2.
2) Hodius, de bibliornm textibus originalibus I. c. IX.
3) Eichliom, Allgemeine Bibliothek der biblischen Literatur,
0 Band, S. 253 ff.
^) Valkenaer in seiner berühmten diatribe de Aristobulo
Judaeo.
5) Lobeck, Aglaophamus, tom. prim. S. 439 ff.
6) Zeller, Die Philosophie der Griechen. 3. Theil, 1. Ab-
theiluDg (2. Auflage) S. 219 Note 2.
6=*=
84
Unechtheit der Aristobulea darthuii will^), lässt sich
die einzige lEöglichkeit, auch Andere von seiner
3Ieinung zu überzeugen, dadurch entgehen, dass er,
wie ich zeigen werde, den Lobeck'schen ^eg ver-
las st und die Textrerschiedenheiten des Orphischen
Gedichts bei den Kirchenvätern nicht ordentlich er-
wogen hat.
Was ich zeigen will, ist einmal, dass Talkenaer
es sich schon mit den Hody'schen Beweisen zu leicht
gemacht, dann dass zu den mehr äusserlichen Hody'schen
Argumenten die innere Beschaffenheit der Fragmente
hinzukommt, um für die Unechtheit zu plaidiren.
Hody's Verdacht wurde zunächst dadurch rege,
dass uli'istobul sich wie ein ge^viegter Ai'isteasleser
ausnimmt, wenn er die Thatsache, dass der Phalereer
Demetrius die Uebersetzung der LXX betrieben, als
aller TTelt bekannt voraussetzt ■•^). Indess so wahr-
scheinlich es auch ist, dass Demetrius überhaupt nichts
mit der Uebersetzung zu thun gehabt habe, da der
Beweis dafür nicht unerschütterhch ist, so ist auch doch
der sich daraus herleitende Terdachtsgrund nicht uner-
schütterlich.
Schwerer dagegen als Talkenaer zugiebt und als
Hody es klar macht, wiegt das Schweigen über Aiisto-
1) Graetz. Monatsschrift, Febr. 78. S. 55.
2) Hody, 1. 1. Bei Clemens steht blos Demetrius, bei Euse-
bius noch der Zusatz der Phalereer.
85
biil bis in die Tage des Clemens hinein. Yalkenaer
thiit, als ob das ein einfaches und oft ja nichts be-
weisendes argumentum a silentio wäre ^}. Aber das
Schweigen des Josephus unter den Juden und
des Justin unter den Kirchenvätern hat durch die
Umstände, wie wir zeigen werden, eine grössere
Bedeutung. Talkenaer citirt beifällig den bekannten
Gegner Hody's, Isaac Yossius, welcher meint: ,JIatte
denn Josephus IJrsache, in seinem Geschichtswerke des
Aristobul Erwähnung zuthun2)?-' Aber sollte Yalke-
naer vergessen haben, dass Josephus nicht blos eine
Geschichte geschrieben, sondern auch ein Buch, das
den Titel führt ^spl ap/aiör/j-cog looSaicov xaia 'Atilcovo;,
dass das Thema dieses Buches ist, das von juden-
feindlicher Seite bestrittene hohe Alter der Juden aus
Zeugnissen fremder Autoren darzuthun, dass er darin
das Schweigen der alten Griechen über die Juden zum
Theil mit der verhältnissmässig späten Schriftstellerei der
Griechen, zum Theil mit anderen Gründen 3) entschuldigt,
dass er aber dann in einem grossen CapiteH) alle älteren
1) Diatribe S. 23. Man wird ein wenig Sophistik bei Yalke-
naer nicht vermissen.
-) Ibid. Docte sie Is. Yossius ad istud Hodii ti'ibus verbis
respondit Ecqua est causa (das sind die drei Worte)
quamobrem hujus operis (sc. AiistobuH) in historia meminisse
debuerit (sc. Josephus).
3) Jos. contra Apioneni I. c. XII. enthält die anderen Gründe.
4) Ibid. I., cap. XXII.
86
griechischen Autoren aufzählt, die eine Bekanntschaft
mit den Juden verrathen, den Pythagoras, Hermippus,
Theophrast, Herodot, Chörilus, Klearch, Aristoteles,
Hecatäus von Abdera, Agatharchides i). Und nun soll,
länger als 200 Jahre vor dieser Joseph'schen Schrift,
ein berühmter Jude ein Werk hinterlassen haben,
welches Orpliika, Homerika u. s. w. enthält, die auf
Abraham und Moses hindeuten, ohne dass Josephus
irgendwie dazu Stellung nimmt? Man könnte ant-
worten, dass Josephus doch zu kritisch gewesen, um
sich von diesen Orphicis düpiren zu lassen, Avenn er
auch dem Aristeasbuche gegenüber ziemlich kiitiklos
verfährt. Denn in der That zeigt er in der Schrift
gegen Apion ein viel gesünderes kritisches Urtheil
als sonst, wie das seine später so einflussreich ge-
wordenen Ansichten über Homer und über das Alter
der griechischen Literatur, die er in dieser Schrift
niederlegt-) beweisen. Aber hätte er, wenn die
Aristobulea ihm vorgelegen, nicht mindestens wohl-
gefällig gesagt: Er könnte zwar noch andere Beweise
für das hohe Alterthum und die Bedeutung der Juden
aus Orpheus, Hesiod u. s. w. anführen, wenn er es
nicht verschmähte, aus unglaubwürdigen und ge-
fälschten Stücken zu beweisen ?
1) Ich habe die Autoren nicht nach ihrer Lebenszeit, sondern
wie sie beim Josephus nach einander behandelt werden, citirt.
^) Jos. contra Ap. I. c. 9.
87
Schlimmer noch steht es um das Schweigen des
Justin über AristobiiL Hier aber greifen innere und
äussere Yerdachtsgründe so ineinander, dass ich sie
auch gar nicht trenne. Als ich zum ersten Male im
Justin das Orphische Gedicht las in einer charak-
teristisch anderen Fassung als bei Clemens und vollends
als bei Eusebius, als ich dann sah, dass auch die
Justinische Fassung schon entweder eine jüdische
oder christliche sei, dass man also nothwendig drei
Fälscher annehmen müsse, von denen Aristobul, wenn
er wirklich etwas geleistet haben sollte, schon der
dritte gewesen sein müsste, als ich endlich gar wahr-
nahm, dass ein Theil der Abweichungen des Eusebius
nur versificirt enthält, was Justin und seine Zeit im
eigenen Xamen vorgetragen, aber noch nicht in das
Gedicht hineinzuschreiben gewagt hatte, da ging mir
über die Aristobulea ein Licht auf. Doch will ich
nicht vorwegnehmen, was hier noch nicht gewöi'digt
werden kann, vielmehr ordnungsmässig vorgehen.
Wie bekannt, war die „Xeuheif' des Christen-
thums ein oft wiederholter heidnischer Vorwurf, den
man allmälig dadurch zu entkräften suchte, dass
man, wenn ich so sagen darf, den Spiess umdrehte.
Man zeigte, indem man das Christenthum als die
eigentliche Erfüllung des Judenthums hinstellte, dass
dieses vielmehr die Quelle auch der griechischen
Weisheit sei. Es ist wahr, dass schüchterne Be-
88
hauptungen der Ait, vrie schon Zeller i) gezeigt hat,
auch bei Philo sich finden. Aber weder beschäftigt
ihn die Sorge, wie sich das historisch gemacht haben
soll, noch haben die wenigen Aeusserungen nach
dieser Richtimg soll ich sagen die verblüfi'ende Dreistig-
keit oder die naive Leichtgläubigkeit des zweiten
Jahrhunderts.
Für dieses war es ein stehendes Thema, und
gleich beim ältesten uns bekannten Yertreter dieser
Ansicht unter den Kirchenvätern, dem Märtyrer Justin,
tritt die Behauptung, die Griechen seien von der alt-
hebräischen Literatur abhängig, in einer Masslosigkeit
auf, die nicht mehr überti^offen werden kann. Justin
kannte, wie man weiss, den Aiistobul noch nicht,
nicht blos weil er ihn überhaupt nicht citirt, sondern
weil er das Orphische Gedicht statt in der Aristo-
buleischen Fassung, die alles bestätigt hätte, was er
behauptet, in einer nüchterneren Fassung hat, die ihm
nur wenig einträgt.
Sagt Justin weniger als wir dann später bei
Eusebius in den Aristobuleis lesen?
Hören wir seine Aeusserungen:
In der L Apologie c. 44 heisst es 2): „Wenn
1) ZeUer, 1. 1. S. 300.
2) lue "CS v,rxl nXaxüiv siTCüJV* ahta sXojJivou, ■9-sös 5' ca^ixioc,,
89
daher Plato sagt: „Die Schuld liegt am Wählenden,
Gott ist ohne Schuld", so hat er diesen Satz dem
Propheten Moses entnommen. Denn älter ist Moses
als alle Schriftsteller der Griechen. Und alles, was
über Unsterblichkeit der Seele, oder über die Strafen
nach dem Tode, oder über die Schau der himmlischen
Dinge und ähnliche Sätze Philosophen und Dichter
sagen, das konnten sie erst einsehen und auseinander-
setzen, nachdem sie die Anregung dazu von den
Propheten bekommen hatten".
Aber Justin begnügt sich nicht mit dieser noch
etwas allgemein gehaltenen Behauptung, er geht so
weit, den Moses ganz direct im Plato citirt zu finden.
Cohortatio ad Graecos c. 25 sagt er^): „Plato
hat wörtlich so geschrieben: „Gott, wie ja auch das
y,cd TzavTüJv 'ccüv sv "EXkrpt. Q'r(^(p<x'^ioi'j y.al Tiavxa oaa Tispi öcO-ava-
ocas 'f'-»"/,*^? ^ TO}JLcopiü>v [xsxa ^avaxov -q ■9-scupias oupavtcuv t] xwv
6[iG;a)V 5oY[Jiaxü)v xai (pcXoao'foi y.at Tzo'.r^rrxi l'cpa^av, Tiapa xwv r.po-
(T/T^zihv xäq acpopfxas Xaßovxsi^, y.at voYj-ac SsSuvYj^/xa: xal I^YjYTjoavxo.
1) .... 6 nXdxwv, abzrxlc, Xl^s^^tv oüxw y^TP^T^''' ° l^^'^ ^^
■^•so^, ojzTzsp y.a.i b uaXacö^ ^^oyo g (/^PX^i"^ '^'^^ xsXsuxtjv
xat [isoa xÄv uavxcuv ej^tuv. evxaüO-a ö IlXaxcov oa'fcü^ xal
cpavspÄ^ xöv uaXaiov Xoyov Mtoaecog övo[JiaCo|X£vov, xoö |jl£V
ov6p.axoi; Mcuoso)? cpoßoj xoö xcovscoü [xsp-vYjaO-at SsScoj?. •rjucoxaxo y«P
x*}]v xoö avSpog 5i5acJxaX[av e)(^pav '^EXXtjvcuv oüaav Sca Ss xyiiJ
xoö XoYOü 7iaXa'.6xY]xos xov Mtuasa aY]|j.atv£i aacpcüg. Denselben
Pragmatismus, dass Plato nur aus Pui'cht Moses niclit nament-
lich genannt habe, hat Justin auch sonst und noch bestimmter.
Siehe cohort. ad gentes ein Paar Seiten vor unserer Stelle.
90
alte AVort sagt, enthält Anfang. Ende nnd Mitte aller
Dinge". Hier nennt Plato klar und deutlich das „alte
Wort", nämlich des Moses, nur dass er aus Furcht
vor dem Schierling den Xamen des Moses nicht aus-
spricht, wissend, dass die Lehre dieses Mannes den
Griechen verhasst sei. Aber durch das ..Alter des
Portes" bezeichnet er ja deutlich den Moses". Hier
fühlen Tvir schon ganz den Athem einer nicht blo&
leichtgläubigen, sondern auch Geschichte machenden
Zeit, die nicht blos Unerwiesenes behauptet, sondern
auch gleich bereit ist. einen künstlichen Pragmatismus
herzustellen. Ist es nun nicht interessant wahrzu-
nehmen, wie das Orphische Gedicht bei Justin, dessen
TTortlaut wir noch mittheilen werden, noch nichts
vom ..alten TVorf weiss, dagegen bei Eusebius um
dieses ..alte Wort" bereichert aufüitt, gerade als hätte
man nach den Tagen Justin 's sich gesagt, warum denn
nur Plato den 3Ioses citiren solle und warum nicht
auch Orpheus? Ja dieses ..alte "Wort" kommt zwei
Mal in dem Orpliicum bei Eusebius vor, Y. 9 und
T. 36. und das zweite Mal gerade nach einer Stelle, die
der platonischen bei Justin angeführten vollständig ent-
spricht. Doch lassen wir jetzt die Stelle folgen, welche
die Justin'sche Fassung des Orphischen Gedichts ent-
hält, um daran zu ermessen, wann die Aristobuleische
Gestaltung entstanden ist.
91.
Cohort. ad geutes cap. 15 heisst es^): .,Denn
ich meine, dass es Einigen von Euch nicht unbekannt
sein wird, denen nämlich, die sich mit Diodor und
den übrigen diese Dinge behandelnden Geschichts-
schreibern beschäftigt haben, dass Orpheus, Homer,
der Gesetzgeber der Athener Selon, Pythagoras, Plato
und noch manche Andere in Aegypten gewesen seien,
und, nachdem sie aus den Mosaischen Schriften
Förderung erfahren, später das Gegen theil von dem
gelehrt, was sie früher Unschönes über die Götter
vorgebracht. Ich halte es für nothwendig, Euch aus-
einanderzusetzen, w^as Orpheus, den man beinahe als
ersten Lehrer eurer Vielgötterei bezeichnen kann, später
seinem Sohne Musäus und seinen übrigen ächten Schülern
über den einen und einzigen Gott vorgetragen". Und
nun lässt Justinus jenes vielbesprochene Orphische
Gedicht folgen, das ich hier griechisch und deutsch
gebe -), damit die späteren Ein Schiebungen klarer Averden :
1) Coh. ad gentes 15c (c. 15 77 Grab.): o-j -fap XavO-dvöiv
hiouc, DiJicüv O'.jiat, Ivx'j/^ovxas KavTcug uoo vq xs AcoSojpoD l-zopicc
vM zaic, Tüjv Xomcüv twv usp'l xooxojv bxoprj^avxcuv, oxi -xa: 'Op'fsos
y.r/.l "OiJLrjpoc y.a'l XoXojv ö zohc, voiaoog 'AO-Yjvaco'-s Y'TP^-'f"-*S ^-^^
IluO-aY^pac y-OLi nxdxüjv xai aXXoi xivsg ev x'q AIyüttxcü y^'^^M-svoä
VM £-/. XTj$ MtoascDg bxopiag (b'fsXr/^evxaig, UGXspov Ivavxia xcüv
-poXBpo^^ |X7] y.aXüjg Tisp: ■ö-scov oo^ocvxcuv a^xoTg öcTtS'^r^vavxo. 'Op'psog
y' 0!JV, 6 X7]g TtoXüO-soxr^xos d[JL(Lv, Jjg av siuoc xtc, Tipwxog 5t5a3xa-
Äog Y^T^'''*-'^?' ^p^b '^^'^ ^'-^'^ Moo-alov v.ai xous i^o'.-obc, y^j-ioo^
ay.pcTac, uaxspov uspl £V&? xai /xövoo ■9-cOü y/^p'jxxst Ai'^oy/ ouxcog.
-) Von Vers 8 aus Semisch entnommen.
92
1 $0-r,'|o}ia'. oU 0-£|jl:s £~'-,
TTOcvTSS 6[i(L;' 3'j §' ay.oos
cfa£3'.p6poo sy.Yovs MY;/r,5
MoDaal'* l?=p£tu Y«? aAv;0-£a
[xr,0£ GS Toc r.plv
iv GTY|0-£*o: cpav£Vta cftXr^?
5 £'.; 5k XoYov 0-slov ßXi'i/a^
TO'j'ü) zpoac5p£U£
lO-6va)v y.pa5ir,; vo£pov xu":©^,
£0 5' £7:ißa'.v£
öcTpaTXiToü, ,ucüvov 5' scopa
y.6-u.G'.o avaxTa.
£:; £3t' a-j-OYEVY]?, Evös r/.-
Yova 7:avxa TETuv-ta:
Iv 5' a'jTolg aÖTÖg -£piY-'YV£':a-
10 £*.'Gp7.a ^vr^-rcJüv' ab'bc, 5k y*
oüxos S' £^ (iYÄÖ-oto y.av.öv
•9-vr(Xo:3'. t'Zm':
xal 7:6X£|J.ov y.pü6£7":a v.ai
aX-[za Sav.poosv-a
oo5£ TIS £"£po; x^^P-S }Jt£Y<zXo'j
aoxöv o' Ol)/ opocu 7:£pi y^?
v£'ioc: loTYiPtxxa:.
15 ::ä3iv Yap ■9-
n'.oiz irvr^xa'. y.o-
jai £'l3iv £v oaoo'.c
Ich singe denen es gebüliii, Ihr
Unheiligen höret nicht zu
Alle zumal. Du aber höre, der
leuchtenden Luna Sohn.
Musäus; denn ich werde die
^'ahrheit sagen, und nicht möge
das
Früher in dein Innres Gelegte
dich des lieben Lebens be-
rauben.
Auf den göttlichen Logos
schauend, dem liege ob,
Aufs Eechte hinlenkend das
verständige Herz.
Guten Pfad wandle, blos auf
den König der Welt blicke.
Einer ist Gott, der sich und
aus sich Alles erzeugt hat;
Jegliches Ding dui'cndriugt
er; mit forschendem Auge er-
schaut er
Alle, indess ihn selbst kein
sterbliches Auge erreichet.
Xach den Tagen des Glücks
giebt er den sterblichen
Menschen
Uebel imd schaurigen Kiieg und
thi-änenei-pressende Schmerzen.
Dieser allein ist Gott, er herrscht
als mächtiger König.
Sehen kann ich ihn nicht; um
ihn sind "Wolken gelagert.
Sterblich ist die Seh' im Aug'
der sterblichen Menschen;
93
ciz^z'Abc, 5' tShiv Aia xov Ttav- Alle zu schwach sind sie, den
Tcuv }i£5£ovxa. Allobwalter zu schauen.
oh-oc, 'i'ap /aXxscGv sg o'jpav?/v Denn auf goldnem Sitz thront
bxTjpiy.xac Zeus in ehernem Himmel,
yc-ozi(ü sivl O-povü)* Y^-^iS S' ITeber den Erdkreis geht er hin
8711 Tzo'zi ßsßr^/s nach Morgen und Abend,
-/^Ipa TS g£^:-£pY]v Itti T£ptia- Bis zur Grenze des Meers streckt
TOS (I)X£avoIo er die gewaltige Rechte;
20 Tiavto^sv r/.x£tay.£v. Zcpi y«P Ringsum zittert das hohe Gebirg
xp£|Ji£t oüp£a {Jiay.pa es zittern die Ström',
y.al r^oza\ioi 7t&Xor,s x£ ßaO-o^ Zitternd schäumet die Tiefe des
■/apoTioTo -ö-aXoc-tir^g. bläulich leuchtenden Meeres.
Dass dieses Gedicht des Orpheus, abgesehen
davon, dass es nicht von Orpheus herrührt, auch
keinen Heiden zum Verfasser hat, ist klar. Das
Gedicht bei Justin ist ein Cento, aus wirklich bei den
Griechen für orphisch geltenden Yersen und eigenen
Zuthaten von einem Monotheisten gefertigt, der dem
Orpheus ein Testament in den Mund legt, das eine
Palinodie von dessen früheren polytheistischen An-
sichten vorstellen soll. Lobeck unterscheidet daher
mit Recht den X&yc? lepö?, den die alten Griechen dem
Orpheus zuschrieben und der gut heidnisch war und
die Götter verherrlichte, von unserem nach diesem
Xgyoc hpbc, gearbeiteten und aus keinem anderen
Grunde Testament (Sia^f^xai) genannten Gedichte, weil
es eben den Orpheus darstellen soll als bereuend
seine frülieren Lehren und seine Schüler ermah-
nend, dieselben zu vergessen. So sagt denn auch
'J4:
Clemens 1): ..Der tlu'acisclie Hieropliant imd Dichter
Orpheus, Sohn des Oeagriis. nachdem er die Heiligthümer
der Orgien und die Theologie der Götzen gelehrt (im
früheren Upoz Ai\'oz nämlich), widerruft nnd stimmt,
wenn auch spät, doch endlich den wahren Upoc agvo:
(nämlich unser Gedicht) an*'.
"Wer hat nun dieses pseudoorphische Gedicht in
der Fassung hei Justin gemacht? TTer die Aristo-
bulea bei Eusebius für echt hält, muss sagen: Ein
Jude vor Aristobul. Aristobul hätte dann diese
Fälschung aufs neue interpolirt. In der ersten Fassung
sei es auf Justin gekommen, in der zweiten auf Clemens
und Eusebius. Kichtiger noch, da Clemens und Euse-
bius sich gleichfalls sehr charakteristisch unterscheiden,
müsste er zwei Fälscher vor Aristobul annehmen
und diesem erst die dritte Eolle geben. Denn die
Ausflucht, als habe Justin nur zufällig ein Paar
Terse weniger als Clemens. Clemens zufällig wiederum
eine Anzahl Verse weniger als Eusebius, hält nur so
lange vor, als man die Gedichte nicht sorgfältig ver-
glichen hat. Darum taxirt auch Graetz diesen schwer-
sten, ja allein ausschlaggebenden Terdachtsgrund nicht
zur Genüge. Er schi^eibt-): ,JEndlich weist ja der
1) Colioi-tatio ad gentes c. TII p. 48 (p. 63): 'Opzcbz [is'ä
ötXf\%-zioLC, £'.3aY£i xöv Icpöv o^/Tcu; h'li r.ozt o|jlco? o' oi)V a5üjv Aoyov.
2) MonatsscMft 78, Febr. S. 55.
95
Eingang, welcher bei Justin wie bei Eusebius vor-
kommt, auf dieses „Gesetz" (das mosaische) hin, auf
die Satzung der Gerechten (Sr/.aiojv O-saiiooc), auf das
Allen gegebene göttliche Gesetz (O-cio'.o z=d-zvzoc, TüäGi
v6[JL0o) und auf das göttliche Wort (Xoyo; d-eloQ Y. 6)".
All das aber steht gar nicht im Justin, wie der
Leser aus dem wörtlich aus Justin mitgetheilten Ge-
dichte ersehen kann. In diesem Gedicht steht nichts
vom göttlichen Gesetz, nichts vom „alten Wort",
nichts von Abraham, nichts von Moses.
Aber auch Clemens hat bis auf eins das Alles noch
nicht. Was er mehr hat als Justin, das ist das Ein-
schiebsel nach Ter s 16, das sich auf Abraham bezieht.
Clemens nämlich, nachdem er i) prosaisch berichtet, dass
Orpheus mit Bezug auf Gott sage, die Menschen könnten
ihn nicht sehen, nachdem er also die anderswo -) von ihm
gleichfalls gegebenen und auch bei Justin sich findenden
Yerse: aöiöv o' ouy 6pöo3, ze^A yap vr^o; z. t. X. an
unserer Stelle blos prosaisch umschrieben hat, sagt
dann im Xamen des Orpheus, nur ein chaldäischer
Mann, womit er auf Abraham hindeute, habe Gott er-
kannt, und citirt die offenbar ZAvischen der Zeit des Justin
und Clemens in unser Gedicht eingeschobenen Worte:
1) Sü\ lib. Y ed. Sylbiirg S. 607: aü9-.s 5^ r.tpi zob O-soü
ccopa-cov slvat, 'fA'(UiV ('Op'fSDg 71.) [xovü) ^(vuiz^r^v^i hi vM cpr^-i 10
'{ivoc, Xa).Saiü> y.. x. X.
2j Ibid. eiüige Seiten vorher bei Clemens (Sylb. S. 585 (693).
96
ti }JLY] /xoovoYsvYjS Tig öcTioppü)! NuT ein Einziger könnt' es, ein
iföKoo avtoO-cV Sprössling aus der Chaldäer
-/aXöaituv. l'Spis y"P ^"^i^ aozpo'.- altem Geschlecht, denn kundig
•rzopsirii^ "^ar er des Laufes der Sonne
7t. T. X. u. s. f.
Erst bei Eusebius endlich ist dasJustinische Gredicht
folgendermassen verändert :
Gleich nach dem I. Yerse wird ein Yers einge-
schoben, der von „den Satzungen der Gerechten'' und
von dem „Allen gegebenen göttlichen Gesetze" redet i).
Nach dem 7. Yerse bei Justin, also nach dem 8. bei
Eusebius, wird ein Yers gebildet, der vom „alten
Worte" redet 2), offenbar nach Justin's und Anderer
in Prosa ausgedrückten Yor Stellungen gearbeitet.
Y. 23 — 26 enthält das auch bei Clemens zu
lesende Lob des chaldäischen Sprösslings, des Abra-
ham 3). Y. 36 — 37 ist eine Hinzufiigung, die da
lautet:
„Wie das Wort der Alten (lautet), wie der
Wassergeborene (Moses) befohlen, von Gott belehrt,
da er auf doppelter Tafel das Gesetz empfangen^).
1) Er lautet: cpsDYovxag §ixat(uv ^£c[j.o'js, d-tioio xzd-ivioq
TMzi WjIxoo (Eusebius pr. ev. XUI, 12 p. 664).
2) Er lautet: — —w— r^oLAaCog U \ö'{oz Ttspi tod^s 'fots
(Eusebius ibid.)
3) Die oben citirten Verse: zl [jly] jjlouvoys'/t^s x. t. \.
*) Die Verse lauten:
ü>? XoYos apyaitov, tog uXoysvy^s (Scaliger ü3oy£^^s) Sisralsv
97
Kann bei so charakteristischen Yersen ernstiich
daran gedacht werden, dass Justin oder Clemens sie
uncitirt gelassen hätten, wenn sie ihnen vorgelegen?
Und mussten sie nicht mindestens eine Lücke an-
deuten, wenn eine solche gewesen wäre, zumal da
Clemens das zu thun nicht unterlässt, so oft er blos
stückweise citirt und dann mit Uebergehung einiger
Yerse ein späteres Stück benutzt?
Vielmehr ist die Sachlage folgende. Das Pseudo-
orphicon bei Justin ist nicht lange vor ihm entstanden
dazu kam die Erwähnung Abrahams kurz vor Clemens,
dazu endlich all die dreisten Zusätze im Eusebius,
von denen die frühere Zeit nichts ahnte.
Schwerer hält es natürlich, die prosaischen Aristo-
bulea auf ihre Echtheit zu prüfen. Dennoch bieten
auch sie schwere Yerdachtsgründe, wovon ich nur die
sonst noch nirgends erwähnten anführe.
Es ist auffallend, dass Clemens vielfach im eigenen
l^amen vorträgt, was später in den Aristobuleis des
Eusebius zu lesen ist. A^alkenaer i) beschuldigt daher
den Clemens des Plagiats, und wendet auf ihn, der
Charakteristiscli ist, dass der X6-^o<; ap/aicov nach einem
Satze steht, bei dem auch Plato von einem uaXacG«; Xoyo^ redet,
den Justin auf Moses bezogen hatte. Vgl. Justin, coh. ad Grae-
cos c. 25.
1) Yalkenaer, diatribe, S. 69, S. 12 und öfter.
7
98
von den literarischen fiirtis der Griechen redet, das
Callimacheische Wort an:
OOX OCTCÖ pOO[10Ö
EizaCcö. ^(öpo^ i/vca cwp ejjLaö-ov.
Wie aber, wenn die Parallele im Clemens bis-
weilen beweist, dass auch das Aristobuleische Stück
christKch, nicht jüdisch ist?
Was nämlich Pseudo-Aristobul über den siebenten
Tag sagt, das findet sich auch im Clemens, wo dieser
es im eigenen Namen vorträgt, und ich meine nicht
zu irren, wenn ich den Eindruck, den ich davon habe^
dahin beschreibe, dass das, was im Clemens deutlich
christliche Anschauung ist, auch bei Aristobul christ-
lich ist, nur abgeschwächter und dunkler, weil sonst
die Fälschung zu klar am Tage läge.
Clemens, ström. YI. 680 (Sylb.) Aristobul bei Eusebius XILE.
'H eß56|JLyj xoivuv r^pApoc öcvd- c. 12.
■;taoGig xYjpuoasTai, exotjxaCoooa 'Hߧ6|J.Y) Y^jispa V) os xaL rrptoxr^
XYjV apyy[o^o'^ Yj|xspav xtjV xw cpostxwg av Xs^cixo cpwxcig y^vsci^
o>/xi ctvaTiaüG'.v y]|jl(Juv, yjv (lies xyjV £V ü) t« Tidcvxa GDvd-scDpslxau
Yalkenaer) 5y] xal npcuxr^v xü) Msxacpipoixo S' av xö auxo xal
ovxc cpcüxög Y^vsaiv, Iv (1) xöc zdvxa It^i xyjS ocf tag. xö ^dp ^äv cpAij
oov^ccopslxai xai ndvxa xXYjpo- laxiv 14 ohvr^c,. Kac xtvsg elYjxaot
vo|J.Elxai. 'Ex xdoxYjg xyjc Y]|j.£pag X(Juv Ix xyj? alpsascog ovxs? Xafx-
Yj TiptüXT] oocpia xai yj FvcÜGti; T^XYjpos aüXYjV i/siv xd^cv.
Y||JLäS £)j.CC[iTC£Xat. Tö Y^P'f^S "^iS
ccXr^O-siag Xa|JL7iXY;pos £-£X°^ i^X^O
xd^lV zlc, XY]V xcöv ovxcov tTzL-
Ich meine, wenn Clemens hier deutlich sagt,
99
„dass der siebente Tag als Euhe verkündet wird, vor-
bereitend den erstgeborenen Tag, unsere wahre Eiihe,
der ja auch der erste Ursprung des Lichtes ist, in
welchem alles geschaut wird"; wenn er dann den
Sonntag als Tag des ersten Aufleuchtens der Weisheit
und Gnosis hinstellt: so kann auch in den Worten
des Aristobul: „Der siebente Tag, der auch heissen
könne das erste Werden jenesLichts, in welchem
alles geschaut wird" nur dasselbe gefunden werden,
aber in verstümmelter oder doch schwer zu erkennender
Gestalt, weil sonst der Autor der Aristobulea ohne
Weiteres als Christ und nicht als Jude erkannt
worden wäre.
Dass man die Einsetzung des Sonntag nicht blos
mit der Auferstehung Christi, sondern auch mit der
Schöpfung des Lichtes und metaphorisch mit dem
Hervortreten der Weisheit begründet habe, geht auch
aus den Worten des Justin hervor. Er sagt: „Am
Sonntag veranstalten wir die gemeinschaftliche Zu-
sammenkunft, da ja der erste Tag es gewesen, an welchem
Gott, die Finsterniss und die Hyle wendend, die Welt
schuf". Dann erst giebt er als weiteren Grund für die
Wahl des Sonntag die Auferstehung Christi an" i)
1) Justin, 1. Apol. cap. 67: r5]v th xoö Y]Xtou rjiispav xoiv^
Tcdvxsg xri-i oovsXO-ouaiv 7roio6|X£^a, ItcslSy] Tipcuiy] loxlv 4|!i£pa, Iv (L 6
-ö-eo? TÖ Gxoxo«: xai vtp oXyjv xpi^aq xov xoo/xov litoiYjos.
7*
100
Kach allem bis jetzt Gesagten glaube ich mich zu
der Meinung berechtigt, der ich bereits in meiner
kleinen Schrift: „Die Angriffe des Heidenthums gegen
Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten der
römischen Cäsaren" Ausdruck gegeben, dass es Zeit
sei, den Aristobul aus der Reihe der Autoren, von
denen Bruchstücke auf uns gekommen sind, zu
streichen, und dem zweiten Jahrhundert, dem in
Fälschungen so überaus fruchtbaren, auch die Er-
zeugung der Aiistobulea nicht zu nehmen.
EXCURS II
b. Die Gnosis.
Die Gnosis.
In der Kirchengeschiclite i) wird es als ein Ver-
dienst von Mosheim und Beansobre bezeichnet, dass
sie zuerst auf den Orient und seine kosmogonischen
Mythen als auf die Quelle der gnostischen Grund-
anschauungen hingewiesen , während bis dahin der
Piatonismus für die alleinige Basis derselben gegolten.
In der That finden denn auch in unseren Tagen die
bedeutendsten Erforscher des gnostischen Wesens,
vor allen Lipsius, charakteristische Berührungs-
punkte der älteren Form des Gnosticismus mit den
Eeligionsvorstellungen Syriens und Phöniciens. Aber
auch Lipsius stellt nicht in Abrede, dass der in der
Onosis etwa vorhandene speculative Gehalt, soweit er
nicht der Bibel selbst entstammt, aus der griechischen
Gedankenwelt herzuleiten ist.
Zell er 's Besonnenheit hat überhaupt das auch
1) Kiirtz, Handbuch der Kirchengeschichte, Abschnitt Gnosti-
cismus.
104
bei den nüchternsten Forschern üblich gewesene Reden
von orientalischer Philosophie als Quelle der neupvtha-
goräischen, der gnostischen und der neuplatonischen
Aufstellungen auf das bescheidenste Mass zurück-
geführt 1). Eigenthümlich ist, dass Baur den Orienta-
lismus der Gnpsis durch folgende Erwägungen glaubt
darthun zu können. Er meint, den heidnischen Reli-
gionen gemeinsam sei die Verbindung G-ottes und
der Welt durch die Momente eines Processes. In der
griechischen Religion aber nehme der Process den um-
gekehrten Verlauf wie in den orientalischen. Dort
sei ein Aufsteigen vom Unvollkommenen znm Voll-
kommenen, hier dagegen werde mit dem Vollkommenen
der Anfang gemacht. So komme es denn bei den
Orientalen , wo die Gottheit den Ausgangspunkt bildet.,
zu einer Kosmogonie, bei den Griechen, wo das
Unvollkommene diu^h Entwickelung zum Vollkommenen
aufsteigt, zu einer Theogonie.
Aber ich meine, wer die Gnosis zu einem aus
griechischen Philosophemen entstandenen Erzeugniss
macht, der werde zwar mit den lurchenvätern an
mancherlei Quellen denken (z. B. auch an Hesiod's
Theogonie), aber doch in erster Linie an den Timäus.
des Plato, der doch wohl eine Kosmogonie und keine-
1) Zeller, Die Philosophie der Griechen, III b. 2. Auflage,
S. 57 und S, 385.
105
Theogonie ist. Es ist ja selbstverständlich, dass wer
die G-nostiker fiii' Platoniker erklärt — ich meine
nicht blos die Yalentinianer, was ja allgemein zuge-
geben wird, sondern schon die ältesten Gnostiker, die
Ophiten, und das thut bereits Celsus i), — sie ja doch
nur für solche Platoniker halten wird, wie sie in ihrer
Zeit überhaupt vorkommen. Sie sind Platoniker in
der Gestalt desvSystems, dieihmderNeupythagoräismus^)
gegeben, der wohl so zu sagen als die Brille zu be-
zeichnen ist, durch welche die Urheber der Gnosis
die Platonischen Ansichten gesehen. Es ist daher ein
Eehler, wenn man sofort für orientalisch erklärt, was
nicht aus dem mrklichen Plato als griechisch sich
ausweist. Im Neupythagoräismus steckt schon wirklicher
und scheinbarer Orientalismus: wirklicher, insofern
wir einmal den jüdischen Einfluss auf die Entstehung
desselben so nennen können 3), dann insofern die I^eu-
1) „Hippolyt beginnt die Reihe der Gnostiker mit den Ophiten
oder Xaassenern, wie er sie nennt, und bezeichnet sie dadurch
als die ältesten von allen'' (Kurtz). Celsus bei Origines YI, 19
sagt: ..Etliche Christen, die Platonischen Sätze miss ver-
stehend, prahlen mit dem üBerhimmlischen Gotte. indem sie
den Himmel der Juden noch überschreiten". Dass er aber hier
die Ophiten im Sinne hat, ergiebt der weitere Verlauf, seine
Besprechung des ophitischen Diagramms u. s. w.
2) Zeller 1. 1. S. 83 zeigt, dass der Neupythagoräismus in
einer Verbindung Platonischer und P\'thagoräischer Philosopheme
besteht.
3) Zeller 1. 1. S. 62. Die bodenlose Vorstellung, die das
106
pytbagoräer so gut wie die von Zeller sogenannten
pythagoräisirenden Platoniker, z. B. Plutarcli, bereits
alle möglichen Mythen und Mysterien Asiens und
Aegyptens in den Kreis ihrer Beachtung gezogen und
nach gut griechischer Gewohnheit griechisch zugestutzt
hatten; scheinbarer Orientalismus aber, insofern die
damalige verlogene griechische Welt so viele Bücher
auf den Namen asiatischer Weisen und G-esetzgeber
geschmiedet hatte, dass man in derWeisheit des Zoroaster
und der Magier zu schwimmen glaubte, während
man doch nur griechische Pseudepigraphen vor sich
hatte 1). Darum ist es nicht in Ordnung, wenn nicht
zweite nachchristliche Jahrhundert beherrscht, dass die griechi-
schen Theologen und Philosophen ihre Lehren dem Moses ent-
nommen, könnte, da für uns Aristobul als Urheber einer so
dreisten Meinung ausscheidet, in einer so unkritischen Zeit auf
folgendem AVegc entstanden sein. Thatsächlich haben die Xeu-
pythagoräer ein praktisches Verhalten, das an den Pentateuch
erinnert. Zeller sagt (1. 1. S. 77): „Zu jener Heiligkeit gehören
Eeinigungen, Waschungen, Besprengungen; sodann, dass man
jede Berührung eines Todten, einer AVöchnerin oder sonst eines
Unreinen vermeide und dass man sich des Fleisches gefallener
oder zen-issener Thiere, einiger Fische enthalte". Das
sind pentateuchische Bestimmungen. Da man nun damals auf
den alten Pythagoras alles zui'ückführte, was die Ner.pythagoräer
geneuert hatten, so glaubte man für Pythagoras wenigstens den
Beweis für erbracht, dass er den Moses gelesen. Wie es dann weiter
ging, kann Jeder sich selbst erzählen.
1) Ueber diesen Punkt vergleiche die noch später zu erör-
ternde Stelle des Porphyrius, vita Plotini c. 16.
107
blos jN'eander, sondern selbst ein Mann wie Baur
meinen, dass der in die göttlichen Potenzen der
Onostiker, die Aeonen, eingeführte Gegensatz des
Männlichen und Weiblichen, die sogenannte Syzygien-
lehre, orientalisch sei. Lobeck im Aglaophamus i) zeigt
ja schon, woher die Syzygienlehre stammt. Er lobt
den ergötzlichen Scharfsinn des Epiphanius, der schon
in der Theogonie des Hesiod die Syzygien angedeutet
findet. Er zeigt später 2), dass die Pythagoräer aus
Eespect vor der Zehnzahl die unzähligen Syzygien des
Alkmaeon auf zehn zurückgeführt. Das ist ein Bei-
spiel für viele, dass man nicht unsichere Quellen auf-
suchen müsse für das, wofür man sichere hat. Ob
ursprünglich die Syzygienlehre aus dem Orient stammt,
will ich nicht entscheiden, aber ich meine, dass man
den Kirchenvätern sowohl als auch Plotin und Por-
phyrius Unrecht thut, wenn man ihre Behauptungen,
die Gnostiker hätten der griechischen Philosophie,
Mythologie und Mysteriös ophie ihre Sachen entnommen,
für überwunden ansieht.
Ueberhaupt, glaube ich, ist auch nach der Seite
die Auffassung dieser mitten in der Zeit des Gnosti-
cismus sich bewegenden Autoren vorzuziehen, dass
1) S. 457 Note: „Syzygias in ipsius Hesiodi Theogonia
adumlDratas inveniri delectabiü acumine docet Epiphanius adv.
Haer. L. I, toin. II, pag. 164 B".
2) Ibid. S. 930.
108
sie in den gnostischen Lehren keine blossen Ter-
irrungen redlicher Wahrheitsforscher erblicken, sondern
dass sie der Tendenz, der Absicht eine grosse Rolle
dabei zuschreiben. Es ist ja richtig, dass ungeschicht-
liche Zeiten die Geneigtheit haben, das als absicht-
lichen Dolus aufzufassen, für dessen Aufkommen ihre
eigenen Terhältnisse ihnen keine Erklärung bieten i),
und dass es eine Ehre unserer Zeit ist, am weitesten von
dieser Ungeschichtlichkeit entfernt zu sein. So wird
heute Jeder gern die treffende Bemerkung Zeller's
unterschreiben: „Sie (die Xeupvthagoräer) sind sich ihres
Hinausgehens über denselben (den ursprünglichen
Pythagoräismus) so wenig bewusst, als ein Philo
seines Hinausgehens über den Mosaismus, oder ein
Chrysippus der "Willkür seiner Mythendeutungen; sie
setzen ohne Umstände voraus, wie dies alle Offen-
barungsgläubigen voraussetzen, was ihnen wahr scheint,
müsse auch die Lehre ihrer dogmatischen Auctori-
1) Man hat zwai- in Schelling und Hegel eine Art Gnostiker
wiedergefunden und in neuerer Zeit hat in Hilgenfeld's treff-
hcher Zeitschrift für wissenschafthche Theologie (Jahi-gang 1874
S. 407 ff.) der geistvolle Alex. Schweizer die Berührung von
Hartmanns mit der alten Gnosis man kann auch sagen „delec-
tabih aeumine" nachgewiesen. Insofern bietet uns ja unsere Zeit
die beste Erklärung für das Aufkommen der Gnosis, als sie
uns sogar die Analogie bietet. Aber das hebt das im Text Ge-
sagte nicht auf. dass die Gnostiker vielfach die Grenze der
Selbsttäuschung überschritten haben und zum bewussten Humbug
übergegangen sind.
109
iäten .... sein". Diese Bemerkung werden wir mit
Fug und Recht auch noch der Grnosis eines Barnabas,
eines Justin, eines Clemens, eines Origines zu Gute
kommen lassen. Aber est quadam prodire tenus. Zu
behaupten, dass es auch einfacher Naivetät zuzu-
schreiben ist, wenn die Kainiten z. B. alle im alten
Testament als Vertreter des Bösen dargestellten Per-
sonen (Kain, die Sodomiten, Korah u. a.) für die
eigentlich Yollkommenen bezeichnen, heisst wieder
nach dem anderen Extrem ungeschichtlich werden
und die menschliche Leidenschaft als gar keinen
Factor in der Weltgeschichte anerkennen. Ebenso ist
in Marcion die Tendenz, eine breite und tiefe Kluft
zwischen Judenthum und Christenthum zu reissen,
das allein bestimmende. Wer sich nicht wie
Yalentin mit der Auslegung begnügt, sondern wie
Marcion nach dem Ausdruck TertuUians i) das Messer
nimmt, um die Schrift so lange zu beschneiden, bis
sie passt, ist weder naiv, noch auch nur offenbarungs-
1) Tertullian, De praescript. haeretic. XXXYIII: „Quibus
fuit propositum aliter docendi, eos necessitas coegit aliter dis-
ponendi instnimenta doctrinae Alius (Marcion) manu
scriptuias, alius (Yalentinus) sensus expositione intervertit.
Neque enim si Valentin-as integro instriimento uti videtur non
callidiore ingenio quam Marcioa manus intulit veritati. Marcion
enim. exerte et palam machaera, non stilo usus est, quoniam
ad materiam suam caedem scripturarum confecit; Yalentinus
autem pepercit.
110
gläubig, und es ist merkwürdig genug, dass ein
solches Verfahren dem Marcion in den Augen Xean-
ders 1) so wenig schadet. AUes mit den eigengearteten
Zeitverhältnissen entschuldigen zu woUen, heisst doch
auf jeden sittlichen Massstab für gewisse Zeiten ver-
zichten. Han hat sich so sehr nach einer Eintheilung
der Gnosis umgethan. Wie aber, wenn man sie theilte
in eine naive und eine tendenziöse? Dass die^
Eintheilung nicht reinlich genug gemacht werden
kann, um für jeden einzelnen Fall jedes Schwanken
zu beseitigen, ob Naivetät oder Absicht" vorliegt,,
ändert nichts an der Eichtigkeit der Theilung. Es
Avird ja auch die Klasse gegeben haben, von welcher
Porphyrius sagt 2): IIo^vXoü? k^rjTua'Uwv xal auTol Tjuanr]-
[i-evoi, eine Stelle, aus der wohl unbewusst dem Lessing
der Ausdruck „betrogene Betrüger" erwachsen ist.
Die naive Gnosis entsteht nicht in polemischer
Absicht, sondern ist ein natürliches Product der
Meinung, dass die Lehren der Philosophen, die man
gerade für wahr hielt, in der Bibel enthalten sein
müssen und aus ihren verschlossenen Sätzen durch
den allegorischen Schlüssel zu gewinnen seien.
1) Neander, Genetische Ent^-ickelung der vornehmsten
gnostischen Systeme. Er nennt den Marcion ..eine grosse Seele' %
S. 293.
2) Tita Plotini c. 16.
111
Lipsiiis^) hat daher Eecht, dass die gnostische Lehre
Yom „Demiiirgen" (Weltschöpfer) als einem vom höch-
sten Gott erst abgeleiteten Wesen ursprünglich nicht
in antijüdischem Interesse aufgestellt worden ist.
Gerade die Art, wie im Talmud gegen den „Demiurgen"
polemisirt wird — wir werden die Stellen noch kennen
lernen — involvirt vielmehr die Annahme, dass diese
Lehre auch unter Juden Platz gegriffen habe. Weniger
beistimmen kann ich Lipsius, wenn er den Demiurgen
nicht aus dem Plato ableiten oder diese Ableitung
höchstens für den Platoniker Yalentin gelten lassen will.
Mir beweisen namentlich die palästinischen Talmud-
lehrer, dass ein starker Einfluss des Plato auch da
wahrzunehmen, wo an ein directes Lesen seiner Werke
nicht zu denken ist.
Die palästinischen Lehrer können freilich schon
darum keine einfachen Anhänger eines griechischen
Systems, auch nicht in der eklektischen Gestalt, in
der jene Zeiten es aufweisen, sein, weil sie die Bibel
allen Ernstes als Erkenntnissquelle auch für meta-
physische und kosmogonische Dinge nehmen. Obwohl
sie nämlich gleichfalls nach Weise des Philo in die
Schrift hineindeuten, so ist doch bei ihnen stärker als
bei Philo auch ein wirkliches Herausdeuten zu finden.
So, um ein Beispiel anzuführen^ mag zu der tal-
^) Lispsius Aiiikel Gnosis in Ersch und Gmber S. 255.
112
mudischen Controverse. ob der Himmel oder die Erde
zuerst geschaffen worden sei, eine Controverse, die
sogar einmal im Talmud i) als eine griechische Frage,
d. h. als eine Frage des ITacedoniers Alexander, auf-
üitt, vielleicht die Platonische Stelle 2) : ,,Die Erde ist
die erste und älteste aller Gottheiten, welche inner-
halb des Himmels (bei Plato hier gleich Kosmos) ent-
standen ist", den Anlass gegeben haben. Entschieden
aber wird die Frage nach der Aussage von Bibel-
versen. Dennoch sind die palästinischen Talmudlehrer
von Platonisch-Pythagoräischen Vorstellungen in einer
Weise beherrscht, dass nur ihre schon durch ihre
gesetzliche Eichtung ihnen überkommene Gewohnheit,
es mit dem Bibelworte strengstens zu nehmen, die
jüdische Gnosis vor einer AVendung in's Heidnische
geschützt hat. Ton dieser jüdischen Gnosis sind in
den Talmuden und ^Midraschim nur Trümmerstücke
vorhanden, über welche Graetz 3) und Xachman
Xi'ochmal^) in verdienstlichster Weise sich verbreitet
haben.
Was mir aber für meinen Gegenstand von Be-
deutung ist, das ist die Wahrnehmung, wie die Gnosis
ursprünglich in Palästina gerade wie im Philonismus
1) Talmud. Thamid 32a.
2) Timäus S. 40.
3) Graetz, Gnosticismus und Judentliuni.
*) Krochmal, More Nebuche Haseman.
113
eine naiv sich vollziehende Ausgleichung zwischen
den griechischen Lehren und der Bibel war, bis
genau dieselben Zeiten und dieselben Lehrer, die
überhaupt gegen den Eindrang des Griechischen auf-
traten, auch der Gnosis sich entgegenstemmten, zu-
nächst indem sie das öffentliche Yor tragen derselben
verpönten, bald auch indem sie solche Forschungen
als überhaupt das Seelenheil gefährdend bezeichneten.
Hier wie überall finden wir wieder Josua ben Cha-
naniah und seinen Jünger Akiba auf der Wacht.
Die jüdische Gnosis und die platonisch- pytha-
goräischen Anschauungen der palästinischen
Lehrer.
Ueber die Thatsaclie, class die palästiiiisclien
Lehrer platonisch-pytliagoräiselie Anschaiuingen liatten,
kann kein Zweifel sein.
Die Eigenschaften G-ottes, die sogenannten ,.Mid-
doth*' treten so häufig wie selbstständige Wesenheiten,
Hypostasen, auf, dass nur die ünzweideutigkeit des
Bibelwortes in Bezug auf die Einzigkeit Gottes jede
polytheistische Gefahr abwendet.
Gottes Gerechtigkeit piiddath Haddin), Gottes
Barmherzigkeit pliddath Harachamim) , ebenso die
„Schechinah" treten wie selbstständige Wesen hin
vor Gott, um ihm etwas vorzutragen. Gebetformeln
lauten 1): Und es möge vor dich kommen die Eigen-
schaft deiner Güte und Herablassung, oder sehr häufig
1) Berachotb 16b: "[n^:m:i?i ']ma mö "T:£b X2m*
115
statt: „es sei dein Wille", „es sei der Wille Yor dir" i).
Statt wir haben von Gott gehört, heisst es: „Aus
dem Munde der Stärke haben \vir yernommen 2). Be-
kannt ist das targumische „Memra" oft ganz wie
Ich mache schon hier die Anmerkung, dass
Marcion zu seiner Unterscheidung zwischen einem
guten Gott und einem blos gerechten nicht etwa eine
nagelneue Erfindung zu machen nöthig hatte. Er
brauchte nur die längst bei den Juden vorhandene
Vorstellung, dass in Gott selbst Middath Haddin
und Mddath Harachamim Eigenschaften seien, welche
gleichsam auseinandertreten und in ihrem "Wirken
sich gegenseitig ergänzen 3), tendentiös zu ergreifen,
und er hatte das Mittel zu seiner schandbaren Auf-
stellung eines „Judengottes", die trotz des Protestes
1) Ibidem y^zh^ ]^:l'^\ ^'^^
2) i3i:öü nmn:n ^a^ öfter.
^) Bekannt ist, dass der Talmud den Namen „Jahwe'^ für
Middath Harachamim und den Xamen „Elohim'' für Middath.
Haddin in der Schrift angewendet glaubt. Charakteristisch ist
auch die Deutung des Daniel'schen Yerses 7, 9: „Ich schauete,
bis dass man hinsetzte Throne und ein Alter an Jahren sich
setzte" u. s. w. Hier macht den Talmudisten die Pluralform
„Throne'^ Sch^vierigkeiten. Akiba erkläi-t: „einen Thron für Gott,
einen für „David" (Messias). Das veiivies ihm sein College,
Jose der Galiläer, mit den Worten: Akiba, -^ie lange willst Du
die „Schechinah" profaniren? Vielmehr „einen für das Eecht,
einen für die Liebe" {npi:ih nnXT pn"? ^HK). Es ist wahr, dass
116
der Kirchenväter 1) in manchen noch bis heute heid-
nisch gebliebenen Köpfen haften geblieben. Doch
dies nebenbei. Aber zu solchen "Wendungen bot das
alte Testament keinen Anlass, die einzige Stelle
Spr. Sal. cap. 8 ausgenommen, wo die "Weisheit aller-
dings wie eine göttliche Hypostase auftritt, weshalb
diese Stelle auch in der jüdischen Gnosis eine Rolle
auch diese Deutung (wohl als zu pluralistisch) daselbst mit
schai-fen "Worten venvorfen wird, aber charakteristisch bleibt sie
doch. (Talmud, Chagiga 14a. Sanhedrin 38b.) Ygl. Graetz 1. 1.
S. 88.
1) Schäiier als die Kirchenväter gegen die Trennung des
..Judengottes" von dem wahren Gotte kann kein Jude protestiren.
Sie wissen alle, dass es sich dabei um Sein und Nichtsein des
historischen Chiistenthums handelt. Ja sie sagen im Kampfe
gegen die Häretiker bisweilen Dinge, die heute noch nicht über-
flüssig sind. So sagt Irenäus IV, 12, 2: ..Dass aber dieses (die
Liebe zu Gott nämlich) das erste und grösste Gebot ist, das
zweite aber die Liebe gegen den Nächsten, hat der Herr gelehrt
da er sagt, das ganze Gesetz und die Propheten hängen
an diesen Geboten. Auch der Herr hat kein anderes
grösseres Gebot als dieses gebracht, sondern eben dieses
seinen Jüngern erneuert, indem er ihnen befahl, Gott zu
lieben von ganzem Herzen und die "Cebrigen wie sich selbst
(et ipse autem ahud majus hoc praecepto non detulit, sed hoc
ipsum renovavit suis discipulis, jubens eis deum diligere ex toto
corde et caeteros quemadmodum se). TTena er aber von einem
anderen Tater gekommen wäre, so hätte er nie aus dem Gesetze
das erste und höchste Gebot hergenommen, sondern gewiss auf
alle Weise getrachtet, ein grösseres als dies von dem „voll-
kommenen" (gnostischen) Vater herabzubringen".
117
spielt. Desto mehr Anlass zu solcher Personificirung
von Eigenschaften bot das vom Piatonismus beein-
flusste Denken jener Tage. Platonisch ist auch die
Anschauung, nach welcher die obere Welt Paradigma
der diesseitigen ist. So gibt es unter den sieben
Himmeln, von denen der Talmud redet, einen Xamens
„Sebul", woselbst das himmlische Jerusalem und der
Tempel mit dem Altare sich befindet. Auf diesem
Altar bringt „Mchael der grosse Fürst" täglich die
Seelen der Frommen als Gott wohlgefälliges Opfer
dar^). So finden die Engel, welche auf der Jacobs-
leiter auf- und niedersteigen, das Jacobsgesicht auch
oben in den himmlischen Wesen (den Ezechierschen
Chajot^j. Das erinnert an die von Lobeck 3) aus
Kircher mitgeth eilte memphitische Inschrift: oopavoc
av(o , oopavo? y.dxco , ~äv 6 avo) Toöro zdxw x. t. X.
Mcht gesagt zu werden braucht, dass die midraschische
Wendung : Gott blickte auf die Thora und schuf nach
ihr die Welt'i), eine Judaisirung eines Platonischen
Gedankens ist.
1) Chagiga IIb: Sxs^ai n;n nn'öi trip^nn^^i t^bt'iT irtr '7^^t
bini n-'s 'n^;s n:n -i^Xitr nr brn pip rh^ ::npüi n^in b*n:n ni:?
xbx n'TZ2^ ans dü?4 tr^tr "^nun bu rhvn •'21 mpö nöi 'i2i -[b
D'pnü btt? jn^'^ra mpö
2) Chulin 91b: D^-ivi n4u?2 StT i:prn2 pSrnc^i c^Siü
HD» btr i;prnn j^bsncöi
3) Aglaophamus S. 909.
'i) Genesis Eabbah zu Anfans-e.
118
Ebenso unzweideutig sind die Anklänge an die
Platonische Seelenlehre. "Wie im Tiniäus die Zahl
der Seelen bestimmt ist und diese unterrichtet werden
über die Xatur des Alls und über die über sie ver-
hängten Gesetze^), so ist auch füi- die Talmudisten
einmal die Zahl der Seelen bestimmt nach dem Satze:
,^er Sohn David's (Messias) komme nicht früher, bis
die Seelen alle aus dem Behälter entlassen sind 2),
dann wird auch die Seele vor ihrer Geburt unter-
richtet und verwarnr' 3). Xicht minder ^^ie bei Plato
entsteht die anfängliche Unwissenheit der Seele, nach-
dem sie in's Diesseits getreten, eben durch diesen
1) Timäus S. 42.
2) Jebamoth 63b: ^l^ir^ n*!2r;n h'D 'hT'^ IV ^^ nn p pK
3) Xiddah 30b : Daselbst werden die Yorgcinge bei der Geburt
des Menschen in poetischen Farben geschildert. "Wenn er an's
Licht der "Welt tritt (wörtlich an die Luft der Welt), so öffnet
sich was verschlossen war und schliesst sich was geöffnet war,
denn sonst könnte er nicht eine Stunde leben, und ein Licht
brennt ihm zu Häupten, vennittelst dessen er von einem Ende
der "Welt bis zum andern bhckt, denn so heisst es (Hiob 29, 3) :
,.Da seine Leuchte sti-ahlte über meinem Haupte, bei seiaem
Lichte ich wandelte im Finstern'*. Wundere Dich auch nicht,
denn der Mensch scliläft hier und sieht einen Ti*aum in Spanien.
Auch giebt es keine besseren Tage als jene (vor der Gebuit), denn
es heisst (Hiob 29, 2): „0 wäre ich wie in vergangenen Monden
wie in den Tagen, da Gott mich behütete". Welches sind die
Tage, die sich wohl zu Monden runden aber nicht zu Jahren?
Das sind die Tage vor der Geburt. L'nd da lehrt man ihn die
ganze Thora, wie es heisst (Spr. Sal. 4, 3 ff.): „Da ein Sohn
119
Eintritt. Ein Engel macht sie die ganze Thora, in
der sie früher unterrichtet gewesen, wieder vergessen i),
so dass auch nach dem Talmud das Lernen wie bei
Plato nur eine "Wiedererinnerung sein kann. Dass
auch die Aristophanische Darstellung im Platonischen
Symposion, der Mensch sei ursprünglich androgyn
gewesen, in die Midraschim gedrungen, ist bekannt.
Die Stelle, die dem Plato nachsagt, er habe täglich
Gott gedankt, dass er ihn zum Hellenen, nicht zum
Barbaren, zum Freien, nicht zum Sklaven, zum Manne
und nicht zum Weibe geschaffen, kann ich augen-
blicklich nicht finden. Thatsächlich entspricht das
aber drei talmudisch für die Liturgie vorgeschriebenen
Segenssprüchen. Die Meinung über die Frau, die in
diesen Segenssprüchen sich ausspricht, ist daher nicht
jüdisch (orientalisch), sondern griechisch, und geht auf
Platon's Aeusserungen im Timäus'-) zurück, der das
ich war zart und einzig meines Vaters, meiner Mutter, unter^vies
er mich und sprach zu mir: Es erfasse meine Worte Dein
Herz, wahre meine Gebote und Du lebst''. Ferner heisst es
(Hiob in der Fortsetzung): „Als das Geheimniss Gottes über
meinem Zelte war" Wenn er dann an's Licht der Welt
tritt, kommt ein Engel, schlägt ihm auf den Mund imd macht
ihn die ganze Thora wieder vergessen und man beschwört
ihn auch vor Eintritt in die Welt: Sei ein Gerechter und kein
Frevler u. s. w.
1) Niddah, ibid., Siehe die vorige Xote.
2) Plato, Timäus S. 4:i: c'fxXsis §£ xouxwv, t'.ci '(>T/o(,iy.bz '-posiv
Iv z-Q teoxipcf. '(Bvhzi [iBZOi.'^aAXo'..
120
Eingehen .in eines Weibes Xatur' für eine Art von
Strafe bezeichnet. Ich würde diesen unbedeutenden
Punkt nicht berühren, wenn er nicht geeignet wäre^
eine gewisse Generalisirungsmethode, ein gewisses
Reden von Semitismus, als unhaltbar aufzuzeigen.
Xicht mehr platonisch, sondern neupythagoräisch
dagegen ist das Gewicht, das die Talmudisten auf die
Buchstaben und den Zahlenwerth derselben legen. Ja^
die Stellen, welche geradezu den Buchstaben welt-
schöpferische Kraft zuschreiben, führen uns schon
ganz in den gnostischen Gedankenkreis hinein. Im
Jerusalemischen Talmud i) heisst es: ,,Die Welt ist
vermittelst des ,3eth" geschaffen worden. Ein Anderer
meint, diese Welt vermittelst des „He*', die jenseitige
aber vermittelst des „Jod''. So heisst es auch^):
„Bezabel verstand die Buchstaben zu verbinden, ver-
mittelst deren Gott die Welt geschaffen^'. Wie hier
mit dem Worte „Bereschith'' oder mit dem Worte-
„Bejah" in Jesaias 26, 4 gespielt wird, so trägt Marcus,
bei Ii'enäus^) die Geheimnisse des Wortes af>yrj und
seiner vier Buchstaben vor, die als Insti'umente der
Weltschöpfung gedient hätten. Xach Marcus war das
Wort apyt^ das erste Wort des Gottesnamens, daran
knüpft sich ein zweites — welches, ist nicht gesagt —
1) Cliagiga c. 2 S. 77 col. 3.
2) Bab. Talmud Beracliotk 55a.
3) Ii-enäus, I, c. 14.
121
gleichfalls aus vier Buchstaben bestehend, daran ein
drittes aus zehn und ein viertes aus zwölf gebildet.
So komnien die dreissig Buchstaben gleich den
dreissig Aeonen der Gnostiker heraus. Bekanntlich
spricht auch der «Talmud neben dem yierbuch-
stabigen Gottesnamen von einem zwölf- und zwei-
undvierzigbuchstabigen , dessen Gnosis (wehajodeoh)
hienieden beliebt und im Jenseits selig macht ^).
Durch die Parallelstelle im Irenäus wird die Dunkel-
heit, die über dieser talmudischen Relation liegt, etwas
1) Kiddiiscliin 71a heisst es: Den vierbuchstabigen Xamen
tradirten die li\'eisen ihren Jüngern einmal in sieben Jahren,
nach Andern zweimal. Der zwölfbuchstabige wurde urspriinglich
Jedermann mitgetheilt , später aber nur den Verschwiegensten
unter den Priestern. Der zweiundvierzigbuchstabige wurde nur
einem Menschen, der ganz besondere ethische Bedingungen er-
füllte und in vorgemcktem Lebensalter stand, tradirt. „Wer
seine Gnosis hat'* (lUirm), sagt dann der Talmud, „und in Vor-
sicht und Eeinheit wahrt, ist oben (bei Gott) beliebt und unten
(bei ]\[enschen) begehrt, er flösst den Geschöpfen Scheu ein und
erbt beide Welten, diese und die kommende Welt''. Vergleiche
zu dieser Stelle die Schrift meines Bruders Dr. D. H. Joel:
Die Eeligionsphilosophie des Sohar S. 31 und 32. üeber die
Gottesnamen vergleiche auch Midrasch Koheleth zu III V. 11
(jetzt deutsch übertragen von Wünsche S. 48 u. 49). Aus dem
Schlüsse der langen Stehe geht deutlich hervor, dass man
durch Kenntniss des Gottesnamens in das Geheimniss
der ganzen Kosmogonie eindringen zu können glaubte.
Warum verheimlichte man den Xamen mit solcher Sorgfalt,
Avird gefragt und darauf geantwortet: ClS'H XÄ?2'' i<b "iwN ^^272
122
gelichtet, namentlich, wenn man die beachtenswerthe
Erklärung der Tosaphoth (Zusätze zum Talmud aus
dem 12. und 13. Jahrhundert) zu Chagiga (cap. 2,
Anfang) hinzunimmt, dass man nämlich unter ,31aasse
Bereschith'' (esoterische Kosmogonie der jüdischen
Lehrer) eben den zweiundvierzigbuchstabi gen Gottes-
namen verstehe, der aus dem ersten und dem auf
ihn folgenden Terse des biblischen Schöpfungsberichts
hervorgehe. Das stimmt so gut, dass man beinahe
an eine Tradition glauben möchte, wenn es nicht auf-
fallend wäre, dass weder Easchi noch ]\Iaimonides
diese Tradition kennen. Soweit die Zahl nicht stimmt,
ist zu bedenken, dass die Talmudisten an hebräischen,
die Gnostiker an griechischen Worten operirten. Hiermit
sind wir eigentlich schon in die talmudische Gnosis
etwas hineingekommen. Doch orientiren wir uns erst
über die Sache noch von einer anderen Seite her.
Sicher ist, dass es für die palästinischen Lehrer
nur eine Autorität gab, die Thora. TTo ihnen ein
Widerspruch zwischen den Worten der Thora und
einem Philosophem entgegentrat, da nahmen sie geT\iss
nicht einen Augenblick Anstand, das Philosophem zu
verwerfen. Aber die Platonischen Meinungen, auch
seine kosmogonischen, sowohl an sich, als namentlich
in der Gestalt, die ihnen die Xeupythagoräer gegeben,
mussten ihnen in vieler Beziehung verwandt und
lieb erscheinen.
123
Erst später, als auf Grund der heidnischen Philo-
sophie die Gnosis aus der jüdischen Kosmopoeie,
wie Philo noch im jüdischen Geiste sein Buch über-
schreibt, eine heidnische Kosmog 0 nie macht, mochte
ihnen der Widerspruch zwischen heidnisch und biblisch
auch bei sonstiger Aehnlichkeit entgegentreten. Konnte
doch auch demjenigen, der das erste Buch Mosis
„Genesis" genannt hat, noch nicht eingeleuchtet haben,
dass diese Bezeichnung eigentlich aus einem anderen
Gedankenkreise heraus erwachsen ist.
Aber dass Plato die Welt als geworden i), dass
er sie als einen Act der Güte Gottes fasst -), dass der
Kosmos schön und der Demiurg gut ist 3), dass die
Welt im Ebenbilde des Ewigen geschaffen sei*), dass
Gott Wohlgefallen fand an der geschaffenen Welt 5),
1) Plato, Timäus S. 28: ly.s-xsov odv Syj r.epl aoxoü (to-j
X6z[l00) T.pÜMOV .... TiOXSpOV TjV CabI, Y£V£G£a>S <^P/,V ^7"^''' l^V^'''
\iLo:j, y] '(e'(ovo'^f an öcp^-fjg tcvo^ apgaiasvo;. y^T°'^^'^-
2) Ibid. S. 29 : Ai-^(a\i.sv §■)] oC y^v aitcav ^(ivB^siv xal xb Käv xö5s
ooSsTioxs rpfÖYvsTO'.c cp^-ovog.
3) Ibid. El [ih 5-r] %aX6; bxiv o5s 6 -/.öy^oc, ozz or^|ico'jpYo;
*) Ibid. Upoc; Tioxspov tojv lüapaosiYlJ-^'^J'' ^ xsy.xa'.voiJLSvoG ^-'J'^v
öcTCStpYaCsxo Tiavxi Ss ca-fs; oxt 7:pös xo äc5:ov. Und im
Yerlaufe ebendaselbst: Tiavxa ox: ixc/Xiz-'x Ißo'JATj^Y] Y^vs-O-a: -apa-
Tr^Tpia a'jxö).
5) Ibid. 37: "ß^ ^^ xivr^O-sv xs a-jxo y.al C^v ivEv6Yja= xöiv
öcioitov •9-scöv '(B'(0'/oc, r/r(o.\[i.OL h ''^zWffiOi.c, iraxYjp, YjYaoO-T] xal
sü'vop avO-s'lj . . . . s-svoTj-sv x. x. X.
124
dass Sonne. [Mond und Sterne geschaffen seien „zur
Unterscheidung und Bewahrung der Zahlen der Zeit" i)
darin mussten die Talmudisten eine den biblischen
Aeusserungen verwandte Seite erkennen.
^as nicht verwandt war, sondern durch heidnische
Fassung abstiess, wie z. B. dass Plato die AVeit selbst
als einen gewordenen G-ott bezeichnete und dass er
überhaupt von Göttern sprach, das wurde passend ge-
macht dadurch, dass man ihm eine mehr jüdische
"Wendung gab. TVar ja die Engellehre seit der baby-
lonischen und persischen Zeit in Judäa ziemlich aus-
gebildet. So entsteht die merkwürdige Figur eines
^.Weltengels" oder „Weltfürsten" (Sar Haolam), wie
es einen ..Meerfürsten" (Sar Hajam) u. s. w. gibt.
Ea'ochmal meint, es sei das der Demiurg der Gnostiker.
Prüfen wir aber die wenigen Stellen, in denen der
Weltfüi^st figuriit.
Talmud Chulin 60 a bemerkt ein Lehrer zu dem
den berühmten Schöpfungspsalm (Psalm 104) ab-
schliessenden Verse: ..Ewig sei die Ehre Gottes,
seiner Werke fi'eut sich Gott*': Diesen Vers hat der
..Weltfürsf gesagt. Als nämlich Gott zu den Bäumen
sprach: ..Xach ihrer Art", da wandten die Gräser auf
1) Ibid. S. 38 ES ODv /«oyo-j y.al t'.avcixc. b-toö -o'M.'j-r,^ -poc /pövo-j
YcVSG'.v, Iva Y^vvcO--^ ZP^'-'^S? "Ba:oz xai -E//f,v/; xat rsv's a/.Äa az-prx
/VE.
125-
sich selbst einen Kai Wacliomer (Schluss vom Leich-
ten zum Schweren) an. Hätte Gott Gefallen (meinten
sie) am Durcheinander, warum hätte er zu den Bäumen
gesagt: „I^ach ihrer Art", zumal es ohnehin der Natur
-der Bäume nicht entspricht, im Durcheinander hervor-
zuwachsen. Sofort kamen auch die Gräser hervor,
jedes nach seiner Art, und der „Weltfiirst" stimmte
den Yers an: „Jahwe freut sich an seinen Werken
(die nämlich seinen Willen auf den Wink verstehen).
Jebamoth 16 heisst es: Den Yers (Ps. 37, 25):
,,Jung war ich, auch alt bin ich geworden, nie sah
ich verlassen den Frommen und seinen Samen suchen
nach Brot", den hat der „Weltfürst" gesagt. Im
Munde Gottes passt er nicht, da er nicht altert, im
Munde David's nicht, denn er ward gar nicht so alt
(um so sprechen zu dürfen).
Sanhedrin 94 a wird an das Jesaias 9, 6 in dem
Worte „lemarbe" unregelmässig geschriebene „Mem" i)
Folgendes angeknüpft. Warum ist jedes „Mem" inner-
halb eines Wortes offen, dieses aber geschlossen?
Gott wollte den Hiskias zum Messias und den San-
hcrib zum Gog und Magog machen. Da sagte Middath
Haddin (die Hypostase der göttlichen Gerechtigkeit)
zu Gott: „Herr der Welt, David, König von Israel,
der dich in so viel Liedern und Lobgesängen ver-
1) Es heisst nämlich Hnnob statt nn-Da*?.
126
heniicht, ihn hast du nicht zum Messias gemacht,
und du willst den Hiskias, dem du so viele Wunder
erwiesen, ohne dass er dir ein Lied sang, zum Messias
machen?'' Deshalb schloss sich das „Mem'^ (symbolisches
Zeichen, dass die Erlösung gehemmt sei). Sofort fing
die Erde an und sprach vor Ihm : Herr der Welt, ich
will vor dir ein Loblied singen für diesen Frommen,
und mache ihn zum Messias. Und sie hob ein Lied
an. wie es heisst (Jesaias 24, 16): „Tom Saume der
Erde hören ^v^ir Gesänge''. Es sprach nämlich der
Füi'st der Welt zum Heiligen, gelobt sei Er (Gott):
.,Thue diesem "Frommen seinen Willen". Da rief eine
Himmelsstimme als Antwort: „Mein ist das Geheimniss,
mein ist das Geheimniss" i).
Schon die alten Erklärer sind in Verlegenheit,
anzugeben, wer denn dieser „Fürst der Welt" sei.
Sie identificiren ihn in der Kegel mit „Metatron", der
als Bote Gottes ihn vielfach vertritt, ja sogar den
Xamen Gottes führt und nach einem Lehrer derjenige
ist, zu dem Moses aufsteigt. Die Worte nämlich
(Exodus 24, 1): „Und zu Moses sprach Er (Gott):
Steige auf zu Jahwe", machen einem talmudischen
Lehrer so viel Schwierigkeit, dass er erklärt, es sei
gemeint: Steige auf zu Metatron, dessen Xame gleich
1) Die "^^^enduDg .,Thue diesem Frommen seinen TTillen"
und „Mein ist das Geheimniss'' beruht auf der Auslegung der
Schriftworte (Jesaias 24, 16) p"r^h '21' und 'b "'n 'b ^n.
127
ist dem Xamen seines Herrn i). Wer diese Stelle
beachtet, der wird nicht schwer begreifen, Avie in
christlichen Kreisen die Ansicht aufkommen konnte,
die mosaische Gesetzgebung sei durch einen Engel
geschehen'-). Der Identificirung von ]\[etatron mit
1) Sanhedrin 38b: "b "J^'f2 'b^ rbV! 'H Sk nbü nö« .Trö ^^Kl
inn crr l^ri:' ]^li:^f2 in* b"i^ Von Metatron gibt es viele Ety-
mologien. Die Einen nehmen das Wort lateinisch, für metator,
der.Gränzabstecker, die Anderen für griechisch: „MitheiTScher^
(siehe Sachs, Beiträge I, 108; Levy, Lexicon s. v.)- Noch Andere
identificiren ihn mit dem persischen Mithras (Kohut, die jüdische
Angelogie 36 ff.) Auch wenn das letztere, was ich glaube
richtig ist, so muss man nicht etwa an persischen Einfluss auf
palästinische Lehrer wie Acher (Chagiga 15a) denken, sondern
die Mithrasmysterion waren damals seit langer Zeit den Griechen
sehr vertraut. Neben den von Kohut 1. 1. S. 41 aus Windisch-
raann „Mithra, ein Beiti-ag zur Mythengeschichte des Orients"-
angeführten Stellen ist Origines' Aeusserung interessant. Er sagt
(contra CelsumTI, 22): „Celsus bringe, gegen die Christen und
Juden schreibend, unpassend und ungehörig nicht blos den
Plato herbei, sondern auch den Mithrasdienst der Perser. Ob
das nun bei den Mithrasverehrern und den Persern damit seine
Richtigkeit habe oder nicht, so scheinen doch die llithras-
mysterien bei den Griechen nicht in gi'össerem Ansehen zu
stehen als die eleusinischen , oder die Mysterien der Hekate in
Aegina". Ohne zu entscheiden, wer Eecht hat, ob Origines
oder Celsus, starken Eingang müssen doch nach diesen "Werten
die Mysterien des Mithras in die gi-iechische "W'elt gefunden
haben.
2) Galater 3, 19 werden bekanntlich aus dieser damaligen
seltsamen Zeitanschauung wichtige Eolgemngen in Bezug auf
die Gültigkeit des mosaischen Gesetzes gezogen. Dieselbe Tor-
128
dem ..archon miindr* (Sar Haolam) steht freilich im
^ege, dass nach einer Ansicht ^letatron mit Henoch
identiscli ist, der nach seiner Entrückung von der
Erde zu dieser Stufe emporgehoben Trorden sei,
-während der Weltfürst, wie aus der ersten über ihn
mitgetheilten talmudischen Stelle ersichtlich, schon
bei Erschaffung der Welt da war. Eichtig aber be-
merken die ..Tosaphoth'' zu Jebamoth 16 b. dass man
von Haggadoth nicht verlangen könne, immer mit
einander übereinzustimmen. Für unseren Zweck
iedoch ist diese Frage secundär. Der ..Weltfürst'' ist
jedenfalls hier noch nicht der ..Demiurg" (Weltschöpfer),
das ist vielmehr noch Gott selbst. Einstweilen ist er
nur die Umwandlung der Platonischen Ansicht, dass
der Kosmos selbst ein gewordener seliger Gott ist.
in die jüdische Fassung, dass dem Kosmos ein ge-
wordener Engel als Archon vorsteht. Aber der Keim
zum Demiurgen in der gnostischen Fassung ist doch
hier gegeben. Wir werden sehen, dass auch unter
Juden ein solcher Keim aufgegangen war, wollen uns
erst aber darüber orientiren. dass in der That schon
Stellung heiTScht Hebr. 11. 2. act. 7. 53. Man zieht für diese
Vorstellung in der Regel auch die Stelle des Josephus an
(Antiq. XV, 5, 3). -^o Herodes in seiner Rede die "Worte hat:
Yjpiuv 5e la y.aXy.iita tcüv SoY.iJ-aTcov y.a' ib. bz'M'c/.-'x. tüjv sv -rot;
yoiioig bC ä-pfsAtuv ::apa icö 0£oD [JLaO'ovTcov. Es ist möglich, dass
auch dieser Stelle die neutestamentHche Vorstellung zu Giiinde
liegt, obwohl sie auch harmloser gemeint sein kann.
129
im Plato die Teranlassiing dazu g-efiindeii werden
konnte.
Piaton' s Timäus avüI beginnen ,,mit der Ent-
stehung der "Welt'' und endigen „bei der Erzeugung
des Menschen" i). „Den Schöpfer nun und Yater des
Alls zu finden'*, meint Plato, „ist schwer, und von dem
Gefundenen zu Allen zu reden, unmöglich"-).
Hier haben ^^'iT schon die auch den Talmudisten
geltende Norm, dass das Auslegen des Schöpfungs-
capitels (Maasse Bereschith) esoterisch bleiben müsse 3).
„Ist der Kosmos schön und der Demiurg gut", sagt
Plato, „so hat er ofi'enbar bei der Schöpfung auf das
Ewige als auf ein Paradigma geblickt, wenn aber" —
Plato wagt das Gegentheil nicht auszusprechen und
sagt, es sei nicht einmal erlaubt, das Gegentheil hypo-
thetisch hinzustellen — „dann hätte er auf Gewordenes
geblickt" -t). So sehr demnach diejenigen Gnostiker
antiplatonisch sind, die später die Dreistigkeit hatten
den TTeltschöpfer zu verlästern, so können wir doch
nicht sagen, dass ihnen die Anregung dazu nicht
aus Plato gekommen. Als sie ein Interesse daran
1) Timäus S. 27.
2j Ibid. S. 28 Tov |X£v vüv ttoiyjxtjV v.al TzoLiioT. xoöot zoö rravtoc
süpslv TS l'pYov v.ai sbpovxa sl^ Tzdyzccc, aoüvaxov Ki'(z'.v.
3) Darüber später im Texte.
■^) Timäus S. 2J sl |jlsv oq v.a/.os bxcv 002 ö v.ozixoz ozt or^{xi-
9
130
hatten, die Welt mit anderen als Platonischen Angen
anzusehen, als sie die Welt und ihre Erzeugnisse
so pessimistisch beurth eilen zu müssen glaubten,
dass diese nur durch ein kosmisches Wunder erlöst
werden konnte, kam ihnen die unausgesprochene
Hypothese des Plato gerade recht. Deutlicher noch
wird uns diese Anregung, wenn wir Folgendes erwägen.
Xach Plato wird der Schöpfer von einem Gesetze
beherrscht, das er selbst nicht durchbrechen kann.
Ans Güte schafft er die Welt so gut als es möglich ist.
Als nun ,,der Yater die von ihm erzeugte Welt be-
wegt und lebend bemerkte, eine Preude der ewigen
Götter, da empfand er Wohlgefallen und erfreut ge-
dachte er sie nun noch mehr dem Urbilde ähnlich
zu machen. Wie also dieses selbst ein ewiges Wesen
ist, so nnternahm er auch dieses All nach ^löglich-
keit^) zu einem eben solchen zu machen. Des
Wesens Xatur war aber eine ewige. Und dieses nun
2:anz auf das Erzeuo'te zu übertrasren war nicht
möglich 2); aber ein bewegtes Bild des Ewigen be-
schloss er zu machen''.
1) Ibid. S. 30: ßGuATjö-s'.? y^P ^ '^'^S ö^Yaöa |isv -dcvra, '^/.aöpov
OS [JLTjSIv c'.vc/.: y.aTa ODVa|J.iv, aoziu oy] 7:äv ocov v^v öpaTÖv ....
2) Ibid. S. 37: -q [ikv oüv CoiOü cp-joi? IxL-Y'/avsv obza alcuv-og.
v.ai tOD-o jisv OT, TCO ys'^vyjtö) TravXcXöig Tzpoza-zztiy, ohv. YjV
o'JvaToV s'.v.Gva o' l~'.votl '/.v/r-ry T'.va atcövoc zoirzai.
131
Aber wie hier der Schöpfer gehindert ist, dem
Kosmos als einer blos gewordenen Wesenheit die
ISTatur des Seienden zu geben, so ist er auch um-
gekehrt ausser Stande, wenn wir so sagen dürfen,
eigenhändig etwas geradezu Sterbliches und Yergäng-
liches zu machen. Plato las st demgemäss den Schöpfer
zu den gewordenen Göttern, nämlich dem Kosmos und
den Theilgöttern, die zwar ihrer Natur nach nicht ewig
sind, aber durch ihren directen Ursprung von Gott
dennoch nie vergehen werden, Folgendes sagen i):
„Noch sind drei unerzeugte sterbliche Geschlechter
übrig. "Wenn aber diese nicht entstehen, so wird
der Himmel (die Welt) unvollständig sein, denn er
wird nicht alle Geschlechter von Wesen in sich haben.
Durch mich aber entstanden und mit Leben
begabt, würden sie den Göttern gleichen.
Damit sie also sterblich seien, so wendet Euch
zur Hervorbringung von Wesen u. s. w.
Hier liegt klar der Keim zu der späteren (gnosti-
schen) Aufstellung, dass die Schöpfung des Diesseits nicht
von Gott ausgegangen, sondern von Engeln in seinem
1) Ibid. S. 41 : d^rqzu exi ^sw] Xo'.Ka xpia '(v/r^xä' toutcuv oüv |Jly]
Y£vo[Ji£vcuv, oopavog aTsX*}]^ eaxat . xä yap a^avia hv aoxö) y^vy) C^wv ohy^
i^si. Ssl 0£, sl nsXXs'. xsXs'.og IxavüJc elvac. oC l\ioö ok xaüxa Y£v6p-£va
xat ßiou jXExaoyovxa d-Bolc, lod^oix' av. iv' ouv ^-rrfo. xs ^, z6 xs tcöcv
ovxüj? a-av 'fi, xpsTiea^e xaxa cpuaiv ujists ItcI xy]v xtöv C<^oiV
OTifXtOüpY^aV, {Xt|JlOÜ|JLSVOt XTjV l|J.TjV 86va|XCV Ktft. XY]V üp.(I)V YSVS31V.
9*
132
Auftrage. Aber ebenso deutlich ist aus Plato die
Aufstellung zu holen, dass die Seelen der Pneumatiker
von Gott selbst stammen. Es heisst bei Plato i) : „Und
so viel von ihnen Unsterblichen gleichnamig zu sein
verdient, das göttlich zu Xennende und innerlich
Leitende Derer, die immer dem Rechte und Euch
(den Göttern) zu folgen geneigt sind, das wird von
mir gesäet und begründet Euch übergeben
wer den''. Das Sterbliche sollen sie dann selber
machen. Es ist ja klar, dass mit dem Moment, wo
man einen entweder naiven oder tendenziösen Anlass
hatte, die diesseitigen Hervorbringungen solchen
Engeln zuzuschreiben, die nicht mehr im Auftrage
Gottes handeln, sondern gleichsam sündigerweise
schaffen 2), man zu der Behauptung gelangen musste.
1) Ibid: v.aL v.aO-' ozov fxsv a'J'tuv Ccö-avd-ois o^J-ojvoiiov slva'.
Trpo-TjV.s:, '9'cTgv kv(6i^bvov, 'J-jsfxovoöv x' ev ahxolg, TöJv ati o'.v.-/j v,y.i
' 2) Hatte doch schon Plutarcli, in Folge seiner synkretistischen
Zusammenstellung des persischen Ahriman. des egyptischen Typho
mit den griechischen Erklänmgen des Bösen in der Welt, aus
Plato auch das Vorhandensein einer bösen Weltseele heraus-
gelesen, die, dui'ch den heilsamen gestaltenden Einfluss Gottes
zur Ordnung gebracht, doch das Princip des Bösen in der Welt
geblieben. Zeller, Die Philosophie der Griechen III, 2, 2. Aufl.
S. 152 ff. Konnte der Platoniker Plutarch das Böse in der Welt
nur duaüstisch erklären: so war für diejenigen, fiü' welche diese
133
dass in den besseren (pnenmatischen) Menschen ein
Keim, ein Sperma sei, das, direct Yon der Gottheit
stammend, eben darum höher stehe, als die jetzt von
Gott losgerissenen deminrgischen Kräfte.
Auffallend war mir, dass Lipsius der Ansicht zu
sein scheint, dass die Dreitheilung der Seele und da-
mit auch die bekannte gnostische Dreitheilung der
Menschen in pneumatische, psychische und hylische
nicht schon auf Plato zurückgeht. Plato hat ja eine
dreifache Seele, deren Sitz er sogar in verschiedene
Körpertheile yerlegt. Die eigentlich unsterbliche Seele
ist nach ihm nur die erkennende. "Wie nahe lag hier
für die platonisirenden Gnostiker^ nur denen wirkliche
Seligkeit zuzuschreiben, welche die Gnosis des Wahren
hatten. Plato sagt: „Wie wir oft gesagt haben, dass
drei Arten von Seelen dreifach vertheilt in uns
wohnen, so nach dieser Andeutung ist auch jetzt
aufs kürzeste zu sagen, dass diejenige von ihnen
welche in Unthätigkeit verharret und mit ihren Be-
wegungen ruhet, nothwendig die schwächste wird . . .
Von der vornehmsten aber unter den bei uns be-
findlichen Arten von Seelen müssen wir so denken,
dass Gott sie jedem als einen Schutzgeist gegeben, jene,
von welcher wir sagen, dass sie im obersten Theile
"Welt iiberliaupt im Argen lag, das ürtheil vorgezeiclinet, die
ganze Schöpfung als Product eines vom guten Gott losgerissenen
Demiurgen anzusehen.
134
unseres Körpers wohne und uns von der Erde zu
der Terwandtschaft im Himmel erhebe, als nicht
irdische, sondern himmlische G-ewächse ....
Wer sich also mit den Begierden oder mit Be-
strebungen des Ehrgeizes abgibt und diese sehr be-
treibt, der muss lauter sterbliche Meinungen bekom-
men . . . derjenige aber, der sich der Lernbegierde
und der wahren Erkenntniss beflissen . . . dessen
Denken kann wohl nichts anderes als Unsterbliches
und Göttliches, wenn er Wahrheit erfasst hat, zum
Inhalte haben, und auch er muss, so weit die mensch-
liche Natur der Unsterblichkeit theilhaftig sein kann,
dieses ganz vollständig sein'^ i). Wie natürlich setzt
Plato in der Regel nur zwei Menschenklassen einander
1) TimäusS. 89— 90: v.oL^dmp skofJisv tcoUocv.i; ov. xpia ^oyric,
Tp'./Tj Iv Yj|J.Tv s'ioYj v.axcüv.'.s-ca'. .... outco v.axa xaü-a y.ai vDv ü>s
o'.ä ßpayüxdxwv py^xsov Öjc, xö |j.£V aöxuJv Iv C/.o'(ici. oi^yov v.ni xojv
eaüxoü x'.vY^tJöcuv Yj-y/iav aYOV dcGd-svscxaxov ava-fx-ri ';i'(^zzd'rj.: ....
xö ok 07] Ttspi xoD y.'jp'.cuxdxou Tiap' 4]fxlv '^'oyr^c, b'2ooc, oiavosl-9-ai
Ssl xfyBs, (liz apa a-Jxö SaijJiova ö-soj exd-xü) Ssoüjv.s xoüxo o 8-)]
{pa[iEV olxelv jiev TjIJlcüv b axpo» xö) 3a)}xax'., Tipös Ss X7]V sv oüpavo)
coYY£ve:av ä-ö '(r^c, Yj,uas aips'.v, Jj? o'/xa; cpDXÖv oöv, £yy£'0">j «/.).
oüpdviov . . . . Xü) |X£V ouv TTspl xdt; t-'.^oiiiac, y] cp'.Xovs'.v.'.ag xsxy^-
TcoT'. .... Tidvta xd 56Y|J.axa dvocY^r^ ^'^^xd h'{^(s.'(oviyy.'. . . . . xu)
§5 irspt cfiXo[idO-£iav y.ocL ::spl xdg xf,? d^O-oiag opovTjSs'.g so-od-
daxoxt. — ttpovstv [xb dO-dvaxa v.aL ■9-sta xctO-' O3ov o' ao
jJLSxas/sTv dvO-pü>7rivr^ 'fj-i; dd-ava-ta; svcr/^xa:, xo6xou p-r^o dv
pipo; d-o/.'.-slv.
135
entgegen. Aber Anlass, drei lüassen zu scheiden,
gibt er doch.
Interessant ist, dass derTalmud zu den drei gnosti-
schenMenschenldassen eine Parallele hat, welche beweist,
dass diese Annahme gleichsam Zeitbewusstsein war.
Im jerusalemischen Talmud tragen die Schüler
E. Jochanan ben Saccai's die „Maasse Merkaba" vor.
Es ist dies im Gegensatze zur Kosmogonie (Maasse
Bereschith) die Erklärung des Ezechiel'schen "Wagens,
d. h. die Speculation über die überirdischen, den
Gottesthron tragenden Wesen (Chajoth), gnostisch aus-
gedrückt, die Beschreibung des Pleroma. Da lässt sich
eine Himmelsstimme yernehmen: „Siehe, der Platz ist
für Euch leer, das (himmlische) Gemach vorbereitet, Ihr
und Eure Schüler seid bereit für die dritte Klas se"-i).
Aehnlich, nur in viel glänzenderen dichterischen Farben
lautet die ParallelsteUe im babylonischen Talmud 2).
Aber noch ein Anderes ergibt die Erwägung der
von mir citirten Platonischen SteUen, namentlich die
Stelle, welche lautet 3): „Als nun der Täter die von
1) Chagiga cap. II S. 77a: '^1» i^bp'ntsm ü^b n:S op^H nn
2) Chagiga 14b. Xocli interessanter ist die Midraschstelle
zum hohen°Lied I, 3, wo unter Anderen erklärt wird: „Deshalb
lieben Dich Aeonen (Olamoth fiü- Alamoth) d. i. die dritte Klasse,
denn es lioisst (Zachar. 13, 9): Und ich bringe das Drittel in's
Feuer u. s. w."
3) Timäus S. 37.
136
ihm erzeugte Welt bewegt und lebend bemerkte, eine
Freude der ewigen Götter". Wer sind die ewigen
Götter, die sich am gewordenen Gott, dem Kosmos,
erfreneü? Henri Martin, der übrigens die Stelle
nicht gnt übersetzt, sagti): „ces dienx eternels dont
le monde est l'image, ce sont evidemment les idees''.
Thatsächlich kommt man ohne einen y.ba\iO(; vor(ZQZ^
dem nnräumlichen Orte der Ideen, nicht aus. Plato,
indem er sagt, dass die hiesige Welt nach einem
ewigen Paradigma geschaffen, fügt hinzu 2): „Denn
alle denkbaren Wesen umfasst und begreift jenes (das
paradigmatische Wesen) ebenso in sich, wie diese Welt
uns und alle die anderen unsichtbaren Theile" (um-
fasst). Darüber aber hat Plato sich nicht erklärt, ob
er diese einen idealen Kosmos bildenden Ideen in Gott
oder neben Gott sich denkt. Der Grund dafür lag
in der Gewissenhaftigkeit seiner Speculation. ]\Iehr
als er speculativ einsah, wollte er nicht sagen. Dieser
Grund galt natürlich nicht für die Gnostiker. Plato
nennt die Ideen Götter, die höchste Idee identificirt
er mit Gott selbst 3), damit hatten die Gnostiker ihr
i) Etudes sur le Timee de Piaton. tom II, p. 50.
~) Timäiis 30: zi: ^c^-p otj vor.Ta Lcüa Ttavra vazvio ev sautu)
-^piXajiöv r/t:, v.y.%-6.-to oos 6 v.6-[jlos -'f^\^ö.z.
3) Tgl. die treffliclie Auseinandersetzung Zellers über die
Ideenwelt und das Gute (Die Philosophie der Griechen, II. Theil,
erste Abtheilung, dritte Auflage, 585 If.)
137
Pleroma, das sie nur mit ihren phantastischen [N'amen
zu beschreiben brauchten.
TJeberaus zutreffend ist daher, was Plotin und
PorjDhyrius über dieses Yerhältniss der Gnostiker zu
Plato sagen. Porphyrius nennt i) Namen von Häre-
tikern (Gnostikern), welche unter Yorbringung von
uns unbekannten Büchern und sich stützend auf
pseudepigraphische Apokalypsen des Zoroaster und
Anderer als betrogene Betrüger behauptet hätten, dass
Plato in die Tiefe der intelligibeln Natur
nicht eingedrungen sei-).
Dasselbe sagt Plotin in dem bekannten Buche
gegen die Gnostiker, dessen welthistorische Bedeutung
Neander schon darum überschätzt, weil, wenn es selbst
eine solche gehabt haben sollte, die empfindlichen
Lücken, die es aufweist, auf eine Censur schliessen
lassen, die ihm eine weiter reichende Bedeutung
nehmen. Seine Worte 3) lauten: ,,Denn überhaupt
1) Yita Plohni cap. 16.
3) Ennead. n, 9, 6 ed. Kirchhoff II S. 39 ff. oXcoc y^^-P
a'jToic; Ta jjlIv Tiaoa toö IIXaTcovo? z'.Kr^TZ'^a',, ib. Vz özo. v.a'.votofxoöacv
Iva lo'.av '^'Xozo'^la.v ■O-tJüvta'., zoLÜxr/. s'^to i~(]C, okrqd'eCaQ Bipr^zai. sttcI
v.al al oi'y.ac v.al ol Ttoxaiaol ol ev a(Joo'v.aX ol jxsTsvauiiiaxcuasii; Iv-slö-sv.
v.aL £-1 Toiv ^or^xGy^ tz izL-r^d'Oi^ Tzo'.r^oai, TÖ ov v.ao tov voüv y.al tov
oYjfxioupY^^ aXXov '/.ai irj^^ ^^X*"!'-^ ^y- '^v Iv xö) Ti|JLaiü) \zyßb/zuiv
zThr-ZT.',.
138
haben sie das Eine von Plato genommen, das Andere,
Tvas sie neuern, um eine eigene Philosophie zu geben,
das wird als ausserhalb der Wahrheit befunden. Denn
sowohl die Gerichte und die Flüsse in der Unterwelt
und die Einkörperung (der Seelen) sind von dort,
(Plato) als auch das Intelligible eine Mehrzahl sein
zu lassen, nämlich das Seiende, die Vernunft (Xus)
und Ton ihr verschieden den Demiurgen und die
Seele, ist dem in Timäus Gesagten entnommen". Nach-
dem er dann in dem gnostischen Demiurgen ein Miss-
verständniss der Platonischen Aufstellung nachgewiesen,
fährt er fort: „Und überhaupt die Weise der Welt-
bildung und vieles Andere von ihm (Plato) legen sie
lügnerisch aus und ziehen die Meinungen des Mannes
ins Schlechtere, als ob sie die intelligible Natur
erkannt hätten, jene aber und die anderen
seligen Männer nicht Und indem sie eine Menge
von inteUigibeln Wesen nennen, glauben sie das
Genaue über das Intelligible gefunden zu haben,
während sie doch gerade durch die Menge die Xatur
des InteUigiblen zur Aehnlichkeit mit dem Sinnlichen
und Niedrigen führen" i).
Woher aber den Gnostikern die vermeintlich
j) Ibid.: y.ai ohmz '^o'J xpo-ov x-rj? §Y]jj,ooüpYta;; y.al aXXa -otXa.
v.axadöuSovia'. auxoö xal Ttpö? xö ^slpov i>.y.ooat zac, go^a? xob ötvSpoi;
(liC, ahxoi |JL£V xY]y voyjxyjv cpoG'.v xaxavcVOTjy.oxsg, sv.eivoo
^t y.ai xojv aXXcuv xciv [xaxapLtuv avopcov iiy] x. x. X.
139
grössere Einsicht in die Is"atui^ des Intelligiblen, die
Yertrautheit mit den Wesen, die das Pleroma bilden,
gekommen, ist nicht schwer zu sagen. Offenbar durch
Combinirung der neupythagoräischen Syzygien und
ihrer Zahlenlehre mit dem, was sie durch Allegori-
sirung der Schrift entlockten, die ältesten Gnostiker
mehr dem alten Testament, die späteren mehr den
Evangelien.
Wie Philo den stoischen Logos durch den glück-
lichen Zufall, dass Gott durch's Wort schafft, für
mosaisch halten konnte, so begegnet sich z. B. die
Pythagoräische Tetraktys recht glücklich mit der Herr-
schaft der Yierzahl in dem Capitel, welches als eigent-
liche Fundgrube für die Auffassung Gottes und der
ihn umgebenden Wesen angesehen wurde, in dem
sogenannten Wagen pierkaba) des Ezechiel. So
braucht man denn für die ophitische Bezeichnung der
Gottheit als Adam nicht mit Lipsius i) an phönicische
Torstellungen zu denken, sondern an Ezechiel 1, 26,
wo der Anlass für diese Benennung klar zu Tage
liegt. Glücklicherweise sind wir noch in der Lage,
die Berücksichtigung dieses Ezechiel'schen Capitels
von Seiten der frühesten Gnostiker, der Ophiten,
nachweisen zu können.
Celsus bei Origines -) kommt auf die sieben vor-
1) Lipsius 1. 1. S. 278.
2) Oiigines conü-a Celsnm. TL 30.
140
nehmsten Dämonen zu sprechen, von denen die
Ophiten zu sagen wissen, und die auf ihrem seltsamen
Diagramm verzeichnet sind. Der erste sei in die
Gestalt eines Löwen gekleidet (Michael, wie Origines
erklärt), der nachfolgende und zweite ein Stier
(Surieli), der dritte eine Art Amphibium und zwar
schrecklich zischend (Eaphael), der vierte mit Adlers-
gestalt (Gabriel), der fünfte mit Bärengestalt (Thauta-
baoth), der sechste hat nach ihrer Erzählung einen
Hundskopf (Erathaoth), der siebente Thaphabaoth oder
Onoel genannt, das Antlitz eines Esels (Origines nennt
ihn Thartharaoth).
Man erkennt leicht, dass drei der genannten Ge-
stalten aus dem ersten Capitel des Ezechiel copirt
sind, die Löwen-, Stier- und Adlersgestalt.
Stammt die Bezeichnung Adam für das Urwesen
aus Ezechiel, so stammen die mystischen Worte für
die drei Principien, die sie in ihm unterscheiden.
1) f^miel kommt auch, im Talmud vor. Beraclioth 51a:
..Drei Dinge hat mir Suriel (bi^'^niD) erzählt''. Der Name ist
offenbar uj-spiTingHch bK'^ltr oder ^^'"in von hebr. "n*i' oder
aram. ^"n (Taöpos) ^üi- Stier, gerade wie Onoel von seiner Esels-
gestalt so heisst, nur dass das letztere ein hibrides Wort ist
aus gi'iechisch und hebräisch. Onoel kommt im Talmud nicht
vor, dagegen machte mich mein Bruder, Dr. D. Joel, darauf auf-
merksam, dass im Sohar zum Pcntateuchabschnitt über die
Jakobsleiter ein Engel T'K;r' vorkomme, der freilich aramäisch,
gedeutet Lammgestalt haben müsste von K;u z=z jKÄ = Kleinvieh.
141
Caulacaii, Saiüasau und Ziesar, wie bekannt, aus
Jesaias 28, 10 u. 13. Man kann an dieser Probe
die ausschweifende Phantasie dieser Schriftallegorisirer
erkennen, wenn man nicht lieber mit Epiphanius
sagen will, dass sie absichtlich solche yerblüffende
Namen vorbrachten i). Neander versucht Caulacau durch
folgende Worte zu erklären:^) „Der Name Caulacau,
den nach Iren aus die Welt führt, in der der Erlöser
wohnt, aus der er hinab und in die er hinaufstieg,
erhaben über alle Engel, lässt sich allerdings am
natürlichsten ableiten, wie schon Epiphanius bei der
Lehre der Ophiten bemerkt, aus dem hebräischen
Kaw la Kaw, mag man das nun erklären, die Linien
über die Linien, die höchste unter allen Linien, Eeihen,
Stufen der Geisterwelt, oder die Hoffnung, Erwartung
über alle Erwartungen, Hoffnungen (wie die Alexan-
driner es Jesaias 28, 10 iXTiiSa iz eXtccS:, übersetzt
hatten), denn Basilides setzte jedem besonderen SidaTYjjxa
(Abstand) der Geisterwelt eine besondere IXtil^ und konnte
als das höchste Ziel der IXiiic, setzen die Welt des Er-
lösers". Indess, da Basilides den Namen Caulacau
von den Ophiten überkommen, so hätte Neander ihn
1) Epiphanius 1. J, tom. II contra iKicolaitas sagt, dass sie
Xamen wie Caulacau blos, um durch den schrecklichen Klang der
^^orte einen Eindruck zu erzielen, vorbrächten,
2) Neander, Genetische Entwickelung der vornehmsten
gnostischen Systeme. S. 85.
142
auch Yon dort aus erklären soUen. Aus dem ophiti-
schen Diagramm aber können wir entnehmen, dass es
heissen soll : „KJreis über Kreis" i). Auch die Tal-
mudisten nämlich müssen entweder von dem ophiti-
schen Diagramm etwas gewusst oder ihre eigenen
Ansichten sich durch eine ähnliche Zeichnung ver-
deutlicht haben. Chagiga IIb kommen nämlich die
unverständlichen und meines Wissens von Memand
erklärten Worte vor: „Tohu das ist der gelbe (grüne)
Kreis (Kaw), der die ganze Welt umgibt und von
welchem der Welt die Finsterniss kommt 2). Ein
solcher gelber Kreis ist aber nach Origines auch auf
dem ophitischen Diagramm gewesen 3). Eeichliche
Gelegenheit zu allerlei Allegorisirungen bot den
ältesten Gnostikern auch namentlich die biblische
Schöpfungsgeschichte, die verschiedenen dabei auf-
1) Offenbar sind auch die Worte des Celsus bei Origines VI,
34: y.a: '/.övXooz ItiI y.ö'/Xoig das Caulacan.
3) Origines contra Celsmn YI, 38: £upo|X£v 3'4j|i.£l; h todtw
TU) oiaYpajJ-JJ-^'i xov /JLst^ova v.uvAov xai xov iiupoz^^o'^. (bv hizl T7i<;
Sta^isTpoD B-r(v(poi.-zzo -axY]p y.ac oloc' v.cd /xsxa^o xoö {J-siCovog, ev
(L ö fX'.xpoxspos -r^v v.al aXXoug cdy^-s^H-^voüs Ix 860 v.öv.Xcov, xou |J.?v
E^üixspou 4avO-o5 xoö os IvSoxipou v.oavoö. In der Dr. Thal-
hoferschen Bibliothek der Kirchenväter S. 204 ist die Ueber-
setzung von ^^vO-o^ mit ..weiss" wohl nur ein Druckfehler, da
es in der Beilage über das ophitische Diagi'amm S. 542 richtig
2;elb heisst.
14B
tretenden Gottesnamen, der Sündenfall (Adam, Eva,
„die Mutter alles Lebenden", die Schlange, der Baum
des Lebens und der Baum der Gnosis), die Erzählung-
von der Verbindung der Söhne des „Elohim" mit den
Töchtern der Erde u. s. w. Als dann die Erscheinung
Jesu von Nazareth zum Mittelpunkte des kosmischen
Epos gemacht wurde, da zogen die Gnostiker auch
die heidnischen Mythen mit hinein, um die ver-
schiedenen Yersuche, die Elohim früher an Juden
und Heiden gemacht hätte, seinen im Menschen vor-
handenen, aber geknechteten Geist zu erlösen, erst
in Jesu als gelungen aufzuweisen!).
Aber so charakteristisch das Alles auch sein mag
für die Zeichnung einer Zeit, die an solchen Auf-
stellungen Gefallen fand, das, was sie nach dieser
Kichtung zu Stande brachte, hat doch mehr den
Charakter einer Curiosität, auf die einzugehen nicht
verlohnt.
Der speculative Gehalt aber der Gnosis ist, wie
bereits gesagt, so weit aus Plato und den Philosophen,
die auf Grund seiner Sätze philosophirt hatten, als
sie nicht die christliche Erlösungsidee in ihr System
aufzunehmen und das Platonische Epos von der
Kosmogonie zu christianisiren hatten. Aber gerade
durch dieses Bestreben, die Erscheinung Christi mit
1) ivurtz, Handbuch der Kirchengeschiclite, die Ophiten.
144
in die kosmogonisclie Darstellung zu Terflechten, sie
kosmisch zu fassen, wurden sie Ketzer. Denn es
legte ihnen die Kothwendigkeit auf, die Erzählungen
der Evangelien so zu behandeln, wie die Ej.rchen-
Yäter das alte Testament. Baur's Bemerkung, dass
sich Allegorie immer da einstellt, wo Eeligionen zer-
fallen, ist also offenbar nicht zutreffend. Denn die
Gnostiker allegorisiren das Christenthum kaum dass
es entstanden ist. Baur hat hier die subjective Stel-
lung der Personen mit der objectiven Sache ver-
wechselt. Es ist ja richtig, dass für den Allegorisirer
der einfache Wortsinn einer Schriftstelle nicht vor-
nehm genug ist. Daraus folgt aber keineswegs, dass
er Eecht hat. Das Judenthum war nicht zerfallen, als
es Philo allegorisirte, sondern er selbst Avar verbildet,
so dass er die Schönheit des Einfachen nicht einsah. Und
wenn die Kirchenväter in Erklärung des alten Testaments
in seinen Bahnen gingen, so wird doch jeder Unbe-
fangene zugeben, dass eine wahre Würdigung der Schrif-
ten des alten Testaments erst eingetreten ist, nachdem
diese Bahnen wieder verlassen worden. Um aber
wieder auf die Gnostiker zu kommen, so war es heid-
nische Aufgeblasenheit, die ihnen ihre Construction
des Christenthums eingab. Die Charakterisirung des
Celsusi), gegen die auch Origines, so weit es die
1) Origines contra Celsum TI, 19.
145
Gnostiker angeht, nichts Erhebliches einwendet, ist
zutreffend. ,.Einige Christen", sagt er, „die Platoni-
schen Sätze niissverstehend, prahlen mit dem über-
himmlichen Gott, indem sie den Himmel der Juden
noch überschreiten". Darum handelt es sich in der
That für die Gnostiker, und es wäre lächerlich, wenn
man es für ein ehrliches Denkresultat ausgeben
wollte, dass sie den Gott der Juden als den ,,Yer-
wunschenen Gott" erklären i). Zu solchen Eesultaten
waren die Evangelien natürlich nur dann zu benutzen,
wenn man ihren Sinn durch Allegorisirung yerdrehte. Das
konnte sich aber die Kirche nicht gefallen lassen, die
immer das Yerständniss dafür hatte, dass, wer ihr
den Zusammenhang des alten Testaments mit dem
neuen zu lockern die Absicht hatte, nicht sowohl ein
Christenthum beabsichtigte, als vielmehr eine eigene
Construction unter christlichem Namen. Xur schein-
bar nimmt Marcion als Anti-Allegoriker in dieser Hin-
sicht eine besondere Stelle unter den Gnostikern ein.
Man weiss ja, was ihn zur Yerschmähung der Alle-
gorie gebracht hat. Da er Gesetz und Evangelium
als unvereinbar und zwar zum Xachtheil des Mosais-
mus bezeichnen Avollte, so müsste er vor allem die
typische Erklärung des alten Testaments abweisen.
Seltsam ist daher die Aeusserung Neander's, es sei
1) Ibid. YL 27.
10
146
nicht zu erweisen, dass ]\Iarcion ,,zuerst dadurch zu
seiner hermeneutischen Richtung veranlasst wurde'^ i).
Wenn wir in der Geschichte stärkere Beweise ab-
warten woUen, als wir für Xarcion's Motive haben,
so können wir lange warten. Aber trotzdem ist
Marcion, der im Einzelnen nicht allegorisirt und der
sich statt durch Interpretation durch die Scheere hiKt,
mit der er alles Unbequeme wegschneidet, ein AUe-
goriker im grossen Stil. G-ibt es ein stärkeres
„anderes sagen und anderes meinen", als dass nach
ihm Jesus, während er überhaupt keinen Leib hat,
dennoch leiblich erscheint, während er gar nicht der
von den Propheten verkündete Messias sein wiU, aus
Accommodation dennoch sich als solchen ausgibt?
Die Kirche hat darum gefühlt, dass die wilde Feind-
schaft Marcion's gegen das Judenthum ihr selbst zu-
gleich allen historischen Boden entzieht. Und durch
alle Zeiten bis heutigen Tages ist es eine interessante
Erscheinung, dass Diejenigen am meisten sich mit
Marcion befreunden, welche, wie er, gleichgültig gegen
das Historische im Christenthum, nur ihre eigenen
Ansichten durch Ausstattung mit christlichen Xamen
flu' Christenthum erklären.
Um noch ein Wort über die Beeinflussung der
Gnostiker durch Plato und die späteren griechischen
1) Xeander 1. 1. S. 27:
147
Philosophen zu sagen, so bemerke ich, dass man mit
Unrecht dabei blos an die Yalentinianer i) denkt.
Schon früher habe ich daran erinnert, dass Celsus die
ophitische Aufstellung als ein Missverständniss der
Sätze Plato's bezeichnet. Ebenso bedenklich ist die
1) Wenn die Yalentinianer von der „Achamoth" sagen, sie sei
ausserhalb des Lichts und des Pleroma gewesen, worauf der
obere Christus sich ihrer erbarmt und durch den Kreuzpfahl
sich ausdehnend ihr eine Gestalt gegeben habe, so ist dieser
obere sich in Kreuzform dehnende Christus ein Nachbild der
Platonischen Weltseele, welche nach des Timäus (S. 36) mythischer
Darstellung vom Schöpfer kreuzweis wie ein X gestaltet wurde,
worauf dann diese Linien in Kreise umgebogen wui'den. Nahm
doch schon Justin (1 Apol. c. 60) von diesem X des Plato
Notiz und beschuldigt ihn sogar, es dem Moses entnommen zu
haben. Ob die Talmudisten mit den Worten (Chagiga IIb):
„In der Stunde, da Gott die Welt schuf, da dehnte sich dieselbe
wie zwei Knäuel von Geweben CntT h'Ü nvüpB TltTD), bis Gott
sie anschrie imd zum Stehen brachte, denn es heisse (Hieb 26,
11): die Säulen des Himmels ermatteten, staunten ob seinem
Anschrei", nicht die Platonische Vorstellung geben wollen,
nach welcher das Weltgerüst wie ein X war, bis es auf
Befehl Gottes sich zu Kreisen umbog, gebe ich zur Erwägung
Ueber die Achamoth, das TertuUian (adv. Valentinianos c. 14) ein
ininterpretabile nomen nennt, habe ich eine Meinung, die nur
demjenigen als abenteuerlich erscheinen ^drd, der nicht zugibt,
dass damals gerade das BizaiTe gesucht wui-de. Hatten die Neu-
pythagoräer die Einzahl, die Gottheit, die Vernunft, das Mass,
die Harmonie u. s. w. Apollo genannt und dieses Wort erklärt von
TzoKöc, und dem privativen Alpha (Zeller), so gingen die Gnostikei-
einen Schritt in sprachlichen Abenteuera weiter und nannton
vielleicht die von der himmlischen Sophia ausgestossene Weis-
10*
148
Behauptung, class Basilides mehr das System der
Barbaren vorträgt. Man vergesse nicht, dass das
sogenannte Persische in ihm den von Porphyrius
erwähnten pseudepigraphischen Schriften des Zoroaster
und ähnlicher entnommen sein konnte, die ja helleni-
stische Producte waren. Was nun zunächst den Basilides
der Philo sophumena und des Clemens angeht, den
man als ächten von den späteren Basilidianern des
Irenäus und des Epiphanius unterscheidet, so erkennt
man an seinem unbewegten Beweger, der durch seine
Schönheit anziehend bewegt, die Spuren Platonisch-
Aristotelischer Philosophie. Aber auch andere Züge
des Clementischen Basilides sind acht Platonisch.
Xeanderi) sagt vom Basilides, dass Theodicee die
Hauptrichtung seines Systems gewesen sei. Aber
heit, die l'co» -zrysia ..Unweisheit"". ein hibrides T^^oii; bildend aus
dem hebr. Chocbraa und dem a priv., wie das obige Onoel.
"W^ill man ein solches Verfakren nicht gelten lassen, so bleibt
nui' das Wort ai-amäisch zu erklären i^r^DIK = Schwärze. Unver-
ständlich ist bekannthch auch die ..colorbasische" StiEe (Ii-e-
näus I, 14). So geistreich die Conjectur Yolkmar"s ist ITIX bs
..die ganze Yierheit'', so wenig befriedigt doch hier gerade das ^2.
Ich meine, dass die Worte fälschlich von rechts zu Hnks gestellt
worden, dass es vielmehr h'p r.Z „Bathkol", richtiger aramäisch
ühp ni2, wie im 2. Targum zu Esther und auch sonst heissen
müsse, und dass dabei ein feiner Witz, wie er dem Irenäus gegen
die Gnostiker eigen ist, gemacht worden. Die Stille, wiU er
sagen, ist keine Stille, sie hat doch ein ..Echo'- (Bathkolj, das
bis zu Marcus gedrungen ist.
ij Xeanderr 1. 1. S. 39.
149
seine Theodicee, Avelche die gefallenen Seelen durch
Einkörperung in TMerseelen läutern lässt, ist ganz
dem Platonischen Gedankenkreise entnommen. Im
Tim aus S. 41 — 42 dreht sich die Darstellung um den
Gedanken, „dass die erste Geburt für Alle auf gleiche
Weise bestimmt sei, damit Keiner durch ihn
(Gott) in Xachtheil käme^'. „Und wer die ihm
zukommende Zeit gut verlebt, der wird selig, wer
aber nicht, der beginnt seine "Wanderung in Weib
und Thier". Xoch einmal sagt dann Plato : „Nachdem
er ihnen aber alle diese Gesetze gegeben, damit er
an der nachherigen Schlechtigkeit eines Jeden
unschuldig sei" u. s. w. Bekannt und von Kirchen-
vätern citirt ist ja auch das Platonische: akia o'lXo-
•jisvoo, d-züQ avaiuo?. AYenn demnach für Basilides der
ganze Weltlauf ein Läuterungsprocess für die ge-
fallenen Lichtwesen ist (GiZQVG[jLia zaO-apaswv), so hat
er nur die Platonischen Traditionen bewahrt und sie,
so gut es anging, christlich gestaltet.
Die bei den späteren Basilidianern vorkommenden
365 Geisterreiche oder Himmel ('AjSpa^al) erklären
sich vielleicht folgendermassen : Plato bezeichnet den
Kosmos als, ein bewegtes Bild der Ewigkeit. Darauf
sagt er wörtlich: „Und indem er zugleich den Himmel
einrichtet, macht er von der in einem beharrenden
Ewigkeit ein nach der Zahl gehendes ewiges Bild, das
was wir Zeit genannt haben. Denn Tage und Xächte
150
und Monate und Jahre, die es nicht gab, bevor der
Himmel geworden war, deren Entstehung Teranstaltet
er jetzt zugleich mit der Zusammenfügung von
diesem'' i). Es ist möglich, • dass Basilides von dieser
Stelle den Anlass genommen, die Zahl der entstan-
denen Himmel nach der Zahl der Tage im Jahre zu
bestimmen.
Eigenthümlich ist, dass selbst die ethischen Yer-
irrungen der Gnostiker ihren Eückhalt im Plato
suchen und Clemens sie meist als Missverständnisse
Platonischer Aufstellungen bezeichnet.
So knüpfen Carpokrates und Epiphanes ihre com-
munistischen Ansichten, ihre Auffassung von Mein
und Dein, ihre Lehre von der TTeibergemeinschaft
an Plato an-). Die Marcionisten wiederum berufen
^ich auf ihn, um der Ehelosigkeit, die sie aus Hass
gegen den Demiurgen predigen, eine philosophische
Stütze zu geben 3). Kurz, Plato scheint, wie für ihre
1) Timäus S. 37 : Elv.öva o' hrzv/otl v.vr^^'zr^v xiva alcüvo? -oir^za'.
y.al oiav.G-,u.üjv au.a o^pavov Tzry.tl, ,u,£vovtoc at(Lvoc h evl, xax' ap'.ö*-
/xov loDoav alüjv'.ov slv-ova, todxov ov o-q 'jr.mw covo[i.dy.ajj.£v v.. ':. X.
2) ClemeDS sti'omata 1. III (ev. Sylbui-g S. 430), nachdem
er den ..Krieg mit Gott'', den Karpokrates und sein Schüler
Epiphanias in dem Buche ,,-spl o'.xaio^DvYjc" führen, geschildert
und Ton ihren schamlosen Zusammenkünften j-edet, fährt fort:
ooy.zl oe ixo: (ö KapTtov.paxYj«;) toü IlXaTcuvo? -a&av.TjV.oEvoc. ev x-^ tioX:-
X£ia cpajxsvoD v.siva? (1. v.o'.va?) slva'. xac Y^vaiv.a;; zavxcuv.
3) Ibid. S. 434. Nachdem er Yorher zugegeben, dass Plato
schon Tor Mai'cion ir^ awo'j-''av, y-'-'^'s"^? oirav ip/j^v mit einer
151
neiiplatonischeii Gegner, so auch für die G-nostiker
der Hauptphilosoph gewesen zu sein.
Lenken wir jetzt wieder in die Betrachtung der
Stellung ein, die der Talmud zur Gnosis hat.
Die Mischnah i) tritt mit einem die Gnosis ver-
pönenden Abschnitte auf. Er lautet:
a. „Man trägt Erklärungen über den Abschnitt
der Yerbotenen Eheverbindungen nicht vor vor drei
Personen, die Schöpfungsgeschichte nicht vor zweien,
die Merkaba (den Wagen des Ezechiel) nicht vor
Einem, es sei denn ein "Weiser, der aus eigener Ein-
sicht (Gnosis) versteht".
b. „Wer vißr Dinge betrachtet, dem wäre besser,
nicht auf die Welt gekommen zu sein: was oberhalb
und was unterhalb ist, Avas vorber war und was
nachher sein wird. Und wer nicht schont die
Ehre seines Schöpfers, dem wäre besser,
nicht auf die Welt gekommen zu sein".
Die beiden von mir mit a. und b. bezeichneten
Absätze in der Mischnah sind nicht zu gleicher Zeit
gesagt worden. Der erste Absatz will die kosmo-
gewissen Ungunst behandelt, sagt er, Plato habe aber darum dem
Marcion keinen Anlass gegeben, die Materie für etwas Schümmes
zu erklären, da er selbst mit Pietät von der Welt gesprochen
(6ccpop|X7jv ob Kapsa/sv tü) Mapv.iODv:, soosßojc o.h'zbq sIzojv uepl toö
v.oojxod). Er nennt sogar die Entstellung des Plato durch Marcion
undankbar u. s. w.
1) Chagiga II, Mischnah 1.
152
gonischen und theosophischen Lehren nur nicht
öffenthch nnd vor unreifen Menschen vorgetragen,
sondern sie esoterisch behandelt wissen. Der zweite
Absatz verbietet sie im Grunde ganz und deutet mit
den merkwürdigen Worten: „Wer nicht schont die
Ehre seines Schöpfers", auf die den Demiurgen
schmähende Eichtung hin.
Dass die Stucüen von „Maasse Bereschith" und
„Merkaba'^ zur Zeit, wo der erste Absatz gelehrt
wurde, noch in hohen Ehren standen, beweist folgende
in der Tosephta und dem jerusalemischen Talmud zur
Stelle vorkommende Erzählung, die bei aUer dichte-
rischen und sagenhaften Ausschmückung doch in
ihrem Kern historisch ist.
E. Jochanan ben Saccai (70 v. Chr.) befand sich
auf der Eeise und in seiner Begleitung sein Jünger,
Elasar, Sohn des Arach. Dieser bat den Lehrer:
„Lehre mich doch einen Abschnitt aus der Merkaba".
Der Lehrer antwortete: „Haben denn die Weisen nicht
gesagt, über Merkaba soU man auch nicht Einem
vortragen, es sei denn, er wäre ein Weiser und hätte
die G-nosis von selbst?" ,Ps'un, so erlaube, dass ich
ein Wort Dir darüber vortrage". „So sprich", ant-
wortete E. Jochanan. Wie Elasar anfing, von der
Merkaba zu reden, da stieg E. Jochanan von seinem
Eeitthiere herab, sagend: „Es ist nicht recht, dass ich
von der Ehre meines Schöpfers reden höre und dabei
153
auf meinem Thiere verharre". Sie setzten sich nieder
unter einem Baume, und Feuer kam vom Himmel
und umkreiste sie, und Engel führten einen Eeigen
um sie, fröhlich wie Hochzeitsgäste vor dem Bräuti-
gam (ich beziehe diese Worte auf das Thema, auf das
Feuer im Ezechiel und die Chajoth und Ophanim),
und ein Engel rief aus dem Feuer: „Wie du es
schilderst, Elasar, so verhält es sich mit der Merkaba".
Da öffneten die Bäume ihren Mund zu einem Lob-
liede (nach dem Satze): „Da jauchzten die Bäume des
Waldes''. Wie nun Elasar zu Ende war, erhob sich
K. Jochanan, küsste ihn auf's Haupt und sagte: „Ge-
priesen sei der Grott Abrahams, Isaaks und Jakobs,
der unserem Tater Abraham einen weisen Sohn ge-
geben, kundig zu predigen über die Ehre unseres
Täters im Himmel. Es gibt Menschen, die gut
predigen, aber schlecht erfüllen (handeln), die gut er-
füllen, aber schlecht predigen. Elasar, Sohn des
Arach, predigt gut und erfüllt guf'i).
1) Jer. Chagiga 77a: 717 "^bTir^ rmv 'Ü21 p \:rr jni2 riri'sa
n22",^s nSt c";:2rn ^;ty -p n^i ib "iisx nn^nxsn nrir^n ins* p^.s
m^nz -j^u p -i'vh n nrz^ \r2 -ni^x ^h ^.!::n /;i^ y:zh irn
mTi nnx |b'K rr>r\ irh 'Z'C'^ ir^'n ♦ n-isnn bi^ n^r*^, ';xi 'yp mrD
nein '32= un';sb \"^zpt^ rrz-n "r^bö .rm cns* '2"pm o^^rn {ü tk
jn niubs* -nsns -^k: t:'s*n -,tö nn« -[xbö n:^; ♦ jm ".zb j'n^üt:?
154
Diese Erzählung beweist, dass man die ]\Ierkaba
wohl für etwas Esoterisches hielt, aber an sich die
Forschung über diese Dinge nicht vei^pönte. Zu den
Zeiten Josua ben Chananiah's aber und Akiba's, also
um die Zeit, um welche unsere Gesammtunter suchungen
sich bewegen, war die häretische Gnosis aufgekommen,
die Gnosis, welche den Demiurgen vom wahren Gott
trennte. Da sagte man denn: „Wer Tier Dinge be-
ti-achet: was oberhalb, was unterhalb ist, was vorher
war und was nachher sein wird, dem wäre besser,
nicht auf die Welt gekommen zu sein". Hier wird
die Forschung über das Pleroma, über die Hölle, die
Forschung über das, was vor der Schöpfung war und
wie das weitere Geschick des Weltalls sein werde,
also das gnostische Thema, verpönt i). Dass es sich
2pr"", prrr zrr.m 'nbi< 'n 7,-^2 "iäki ".ir'xn br ipr;i "xr* p jinr n
'•=' -;'*,rx .c"p^ nx:i z"^'n nx:
1) Obwohl unter D'isb HÄS und ^*n^b n)2 auch etwas Eäum-
liches verstanden werden kann, so stimmen doch aUe Erklärer
dahin überein, dass mit diesen 'V\"orten auch das Forschen nach
dem, was vor Erschaffung der "W^elt war und was nachher sein
werde, verboten werden solle. Damit steht nicht im "S^^idersprach
dass die Talmudisten bisweilen factisch anzugeben wissen, was
vor Erschaffung der "Welt da war, z. B. der Xame des Messias
(Pesachim 54a), da das Verbot zu forschen immer nicht blos
155
darum und um nichts anderes handelt, geht unzwei-
deutig aus dem Zusatz in der Mischnah hervor :
„Wer nicht schont die Ehre seines Schöpfers, d. h.
wer den Demiurgen verlästert, dem ist besser nicht
geboren zu sein''. Dieser Zusatz ^vird in ein noch
helleres Licht gesetzt dui'cli folgende im jerasalemischen
Talmud zur Stelle gegebene exegetische Ausdeutung
eines Psalmverses.
Es heisst in den Psalmen (31, 16): „Es mögen ver-
stummen die lügnerischen Lippen,' die wider den G-e-
rechten Ereches (Athak) reden in Hochmuth und Ver-
achtung". (Das will sagen:) Es mögen verstummen,
die wider den Gerechten der Welt (Zaddiko schel
Olam, nämlich Gott) „Athak" reden, als habe er sich
nämlich seinen Geschöpfen entzogen. „In Hochmuth
und Yerachtung", diese Worte sind angewendet auf
Den, der sich brüstet : Ich spreche über das Schöpfungs-
werk (Maasse Bereschith), meinend, er preise, während
er in Wahrheit herabsetzt. R. Jose, Sohn des Cha-
nina, sagt: Wer sich zu ehren sucht durch Schmähung
seines Nächsten, hat keinen Antheil an der zukünfti-
gen Welt Wer sich nun gar mit der Ehre — euphe-
mistisch füi' Schmähung — des Ewiglebenden empor-
heben will, um wie viel mehr verwirkt der die
eine Forschung, sondern sogar schon einen Missbraiicli derselben
voraussetzt.
156
Zukunft. Wie setzt der Psalm (31, 16) fort? ..Wie
gross ist Deine Güte, die Du aufsparst den Dich
Fürchtenden, die du erwiesen hast denen, die bei dir
sich bergen''. Xun, er (der Schmähende) soll nicht
Theil haben an Deiner grossen Güte i). "Wie charakte-
1) Chagiga IL S. 77 col. 3 : nnmn • • . np'kT 'r&v n:öbKn
p'nrntr cnrn chrj hz' ip-ns: hv nnrnn ,pr\v p"i:i hv
'i'hpz ^rrrj^n ny:n ]z "cr ^"n* ,112x22 nSn irxi ni':^D k^ic n^ro
n^2 Nb -.-^ bs ,yii^^b n:z:i n^^K ^^nro 21 n» nnnn :2^n5 rtö ♦ j2t:^
"j2',LS m* Dasselbe ist zu lesen Genesis Eabbah I. Die Beziehung
des Wortes ..Zaddik" auf Gott, auch wo die schHchte Exegese
das nicht zulässt, ist in Midraschim nicht selten. So bezieht
Midi-asch zu Koheleth III, 9 die Worte: .TH^ '.rr^xr p'":^ „der
Pronime lebt seines Glaubens" (in seiner Treue), das Wort „der
Fromme" auf Gott. Derselbe Midrasch hat eine scharfe Kritik
der häretischen Anmassung, Gott meistern zu woUen, die sehr
bezeichnend ist und unsere im Texte behandelten Stellen gut
iUustiii-t. Zu Koheleth 11, 12: „Xun wandte ich mich, zu be-
schauen Weisheit und Thorheit und Unverstand, denn was ver-
mag ein Mensch, der nach dem Könige kommt? Das was sie
längst gethan'-, sagt E.Simon: Unter Thorheit ist zu verstehen
die Thorheit der Ketzerei (der Gnostiker), unter Unver-
stand die Yerstocktheit. „Denn was vermag ein Mensch, der
nach dem Könige kommt'': Wenn dir ein Mensch sagt: Ich
kann hinter das Wesen der Welt kommen, so sage ihm: Einen
König von Fleisch und Blut kannst du nicht ergründen, viel
weniger den König der Könige E. Simon ben Jochai
sagt: .,Die Sache ist folgender vergleichbar. Ein König hatte einen
Palast gebaut, in den alle Eeisenden hineingingen und sagten:
Wäi-en seine Säulen hoch, so wäre er schön, wären seine Wände
157
ristisch ist die Stelle für Gnostiker, welche sich selbst
für höher halten, als den Demiurg, weil in ihnen ein
Sperma des oberen Gottes ist!
Aber noch Eines ist in unserer Mischnahstelle
dunkel, so dass die scharfsinnigen Erklärer Kaschi
und Samuel Edels sich mit Eecht Mühe geben, das
Dunkel zu lichten. Obwohl nämlich die „verbotenen
Eheverbindungen" den Anlass gegeben haben, unsere
Mschnah hier einzurücken 2) — in der voraufgehen-
den ]\Iischnah war von ihnen die Kode und bei
einem Buche, das dem Gedächtniss eingeprägt wurde,
wie unsere Mischnah, war die Rücksicht auf Behalt-
lichkeit massgebender als der streng logische Ge-
sichtspunkt — , so ist doch das Yerbot, sie nicht vor
drei Personen vorzutragen, nicht gerade klar. Gründe
hoch, so wäre er schön, wäre seine Decke hoch, so wäre er
schön. So könnte ein Mensch sagen: Hätte ich drei Hände
oder drei Augen oder drei Ohren oder drei Füsse, so wäre ich
schön. Darum steht: „das was sie längst gethan"^ Gestatten
wir uns die AYendung (bl2^i2) : Gott und sein Gerichtshof, sie
stimmten ab über jedes Glied von Dir und er stellte Dich hin
in Deiner richtigen Verfassung. Du wirst aber sagen, es gibt
zwei Mächte (mm \"it:0* Aber es heisst ja schon (Deuter. 36, 6):
Er hat Dich gemacht und Dich bereitet". Uns ist es bekannt geuug^
dass die Yerlästerung des Demiurgen durch den Nachweis erreicht
wurde, dass die "^N'elt nicht gut eingerichtet sei, wie auch Plotin
sein Buch gegen die Gnostiker überschreibt: „Gegen die, welche sagen,
der Demiui'g derT^^lt sei schlecht und die ^Velt selbst schlecht".
1) Vergl. Maimonides zur Stelle und die Zusätze des Lipmann
Heller.
158
der TVohlanstäüdigkeit reichen nicht aus für im
Ganzen naive Zeiten, Tvelche geschlechtliche Yerhält-
nisse zu Zwecken der ritualen Belehrung ruhig be-
sprechen 1). Auch wird das von den Erklärern gar
nicht als Hinderniss vermuthet. Sie meinen vielmehr,
der Eine, es beziehe sich das Verbot des öffentlichen
Vortrags auf den Theil der verbotenen Eheverbin-
dungen, der nicht ausdrücklich in der Schrift erwähnt,
sondern blos durch Deutung erschlossen wird, der
Andere, es beziehe sich auf Angabe der tieferen
Gründe für die ausgesprochenen Eheverbote. Ein
Missverständniss in dieser Beziehung, meinen sie,
könnte in einer so wichtigen Angelegenheit ^vie die
Reinheit der Ehen zu einer laxen Praxis führen -).
1) Mischnah Megillah IV, 10 heisst es: „Die Geschichte
vom Reuben ^vird vorgeleseri, aber nicht übersetzt". Der Grund
ist nicht ^'ohlanständigkeit, sondern um ..Eeuben-- nicht zu nahe
zu treten. Das wird durch die Fortsetzung bewiesen, dagegen
„die Geschichte der Thamar T\-ü-d gelesen und übersetzt", da sie
nämlich Jehudah wegen seines offenen Bekenntnisses nicht zur
Unehre gereiche. K"ip: n^n HltTö Cjnn'ö N^l Nnp: jr^n ncvfl)
2) Die babylonische Gemara ist schon um Angabe des Gnindes,
waiTim der Abschnitt über die verbotenen Ehen (n^niO nicht
vorgetragen werden düi'fe, in Verlegenheit und sagt, es seien
rVT '- '.rc zu verstehen. Das erklärt nun aber Easchi dahin, dass
die nicht ausdrücklich in der Schrift angegebenen mni? gemeint
seien. Samuel Edels aber (Maharscha) dui'ch folgende Worte:
■^'C'X "i'c '*;r r'-'i: "icx ^'c z'nn —rc z'^zb "m^b "c -£c -;\""ri
159
Eine solche Deutung miiss uns so lange genügen,
als wir keine bessere wissen. Wie aber, wenn die
„Geheimnisse der verbotenen Eheverbindungen", von
denen in unserer Stelle die Kede, eine Art Syzygien-
lehre ist, die Lehre, nach welcher die Sophia sich
durchaus mit ihrem Yater habe verbinden wollen, so
dass das Thema dem von „Maasse Bereschith" und
„Merkaba" verwandt wäre? Ich gebe das nur als
Yermuthung, will aber zeigen, dass diese Yermuthung
durch eine andere Mischnahstelle eine starke Stütze
erhält. In Mischnah Megillahi) sind eine Keihe
kleiner Bestimmungen aufgezählt, die alle die Ten-
denz haben, die Weise der Minim und Chizonim
(Ketzer und Draussenstehende) nicht zuzulassen.
Unter diesen Bestimmungen figurirt auch folgende:
„Wer den Abschnitt über die verbotenen Eheverbin-
dungen bildlich auslegt, den heisst man schweigen" -).
Ich gebe diese Stelle im Zusammenhange : „Wer da sagt :
Ich trete nicht in gefärbten lOeidern vor die Yorbeterlade
hin, soll auch in weissen zum Yorbeten nicht zugelassen
werden, ich will nicht in Sandalen hintreten, soll
1) Megillah, Mischnaii IV, 8—9
2) im« i^pntTÖ mni7S nssian. Graetz, Gnosticismus und
Judenthimi S. 14, bringt unsere Stelle in Chagiga bereits mit
dieser in Megillah in Connex. Er deutet das nnun .1:20,1, wie
es nicht anders gedeutet werden kann, ,,AYer die verbotenen Ehen
allegorisirt"', nur dass er den Zusammenhang des kosmogonischen
Thema's u. s. w. nicht herstellt.
IGO
auch barfuss keinen Zutritt haben AVer die
Thefillin (Phylakterien) auf die Stirn bindet oder auf
die Handfläche, verfährt nach Weise der Minim
(Häretiker). Wer sie mit Gold belegt oder sie über
den Aermel bindet, verfährt nach Weise der Chizonim
{Draussenstehenden, die sich um die Bestimmung der
Lehrer nicht kümmern). Sagt Einer im Gebete : ,,Dich
segnen die Guten", so ist das ketzerische (minäische)
Weise. Sagt Einer: „Auf die Vogelnester erstreckt
sich Dein Erbarmen" und „über den Guten (oder über
das Gute) wird dein Xame genannt", oder sagt er
zweimal „Modim" (wir danken, dankt er gleichsam zwei
Mächten), so heisst man ihn schweigen, legt er die ver-
botenen Ehen bildlich aus, so heisst man ihn schweigen".
Dass ein Theil dieser Stellen gegen die Gnostiker
gerichtet ist, die den „guten Gott" im Gegensatze zum
blos „gerechten" betonen, hat schon Graetz erkannt 3).
Was kann nun aber in diesem Zusammenhange das
Verbot, den Abschnitt „Eheverbote" bildlich zu deuten.
Anderes heissen, als die gnostischen Syzygien zu
lehren. Die Syzvgienlehre ist allerdings im Talmud
nicht ausdrücklich zu finden, aber eine Spur, dass
die Talmudlehrer mit diesem Begrijffe der Syzygie
mindestens gespielt, ist allerdings vorhandeü. So
1) 1. 1. 48 fe.
161
heisst es einmal i), K. Simon ben Jochai (Schüler
Akiba's) hätte gelehrt: Der Sabbath sagte zu Gott:
Herr der "Welt, jeder Tag hat einen Syzygos (die
sechs Tage sind paarweise), ich aber habe keinen.
Da antwortete Gott: Die Kneseth Israel (die israelitische
ecclesia) soll dein Syzygos sein. Wie nun Israel vor
dem Sinai stand, da sagte ihnen Gott: Gedenket des
Wortes, das ich zum Sabbath gesagt, die israelitische
Ecclesia soU dein Syzygos sein. Darum heisst es
(Exodus 20, 8): „Gedenke" des Sabbath, um ihn zu
heiligen. Haben wir so in unserer Mischnah ein
gegen die Gnosis gerichtetes Gesetz constatirt, so hält
es nicht schwer, die Zeit zu bestimmen, in welcher
man sich des abschüssigen Weges bewusst wurde,
auf welchem man in's Heidenthum zu gleiten Gefahr
lief R Josua, Xahum aus Gimso und ihr Jünger
Akiba sind es, welche sich als vollbewusste Gegner
der gnostischen Speculation selbst ebenbürtigen Col-
legen oder doch hochgeachteten Jüngern gegenüber
zu erkennen geben. Es versteht sich, dass durch
ein solches Verbot die Speculationen auf diesem Ge-
biete nicht beseitigt werden konnten. Es wird uns
1) Genesis Eabbah c. 11: nr^:' m^X *XnT' ji jirötT n ^;n
iiynpb nnrn er nx m2T cd niar)
11
162
gesagt, dass die im Sinne Akiba's erlassene ILischnah
nicht für alle seine CoUegen als massgebend galti),
es werden uns ]\Iänner genannt, welche nur in sehr
bedingter Weise vom Mischnahverbot sich einschränken
Hessen 2), aber da die Akiba'sche Richtung überhaupt
für die Folgezeit massgebend wurde, so waren seine
Aeusserungen doch ein starker Damm gegen in's
Bodenlose sich verirrende Speculationen. Bringen
wir jetzt ein Paar Beispiele, welche die Sache veran-
schaulichen.
Im jerusalemischen Talmud trägt Jehudah ben
Pasi (ein palästinischer Lehrer zu Anfange des vierten
Jahrhunderts) die Lehre vor, dass zu Anfange die
TTelt war Wasser in Wasser, denn es heisst: der
Gottesgeist schwebte auf der Oberfläche des Wassers 3).
Diese Lehre ist alt und schon in den Tagen Josua
ben Chananiah's im Gange, da sein Jünger Ben-Soma,
der in seiner Gedankenverzückung den herankommen-
den Lehrer nicht gewahrt und zu grüssen unterlässt,
diesem auf die Frage : Woher und wohin. Ben Soma ?
die Antwort gibt: Ich betrachtete das Schöpfungswerk
und finde, dass zwischen dem oberen und unteren
1) Jer. Tahnud 77a: C-.n N"n nrpr m HT.T n nZ'Z Kr n
2) Der später im Texte vorkommende Juda ben Pasi, schon
vor ihm Bar-Kaphra jer. Talmud 77, col 3.
3) Ibid. col. I: nm x!2:"j "Kis car cia cbirn rrn rhnr.z
'1—' E"/-n "IS ^i? rsin"'!^ er ,'X
163
Wasser nur eine Handbreite ist. Das folgere ich aus
dem Ausdrucke der Schrift „rachaf ' schweben, brüten,
welches ein Berühren und Mchtberühren ist" i).
Diese Aeusserungen scheinen harmlos genug,
können es aber nach der scharfen Kritik, die sie er-
fahren, nicht gewesen sein. Josua sagt auf diese
Aeusserung seines Jüngers: „Ben Soma ist noch
draussen" -) (bei den Chizonim, Häretikern), und an
einer anderen Stelle heisst es: „Wer da sagt: An-
fangs war die Welt Wasser in Wasser, der macht
schadhaft den Garten (Paradies) des Königs" 3). In
gleicher Weise polemisirt Akiba gegen diese Auf-
stellung. „Tier gingen in den Pardes (Paradies),
heisst es-i), und zw^ar ben Asai, ben Soma, Acher
1) Ibid. Nn x^iT pi "[n-Q "iSn^ n'Ti^ utrin^ n 'n n^'uü :z"^
vSnj hv . . . . nt:':2 firh n^Kii ?iinn jk2 nx2ND ,n£ta nns nSiss
'n Plinn t]K ujid 13^ni u:i3 jSnS n^x:^ t]inn n» sinn^
2) Ibid. pinnb Klan p ^^n
3) Das Paradies, der Garten des Königs, ist bei den Tal-
mudisten ein Bild für die Gnosis, wohl wegen des Baumes der
Erkenntniss daselbst, gerade wie bei Philo, Clemens und im
Grunde auch im neuen Testament, wo (2 Corinth. 12, 4) Paulus,
in's „Paradies" entrückt, „unsagbare "Worte vernimmt, die dem
Menschen zu sagen nicht erlaubt sind" (vortrefflich übersetzt
Pr. Deutsch : D^Ä«b ü^ih mir-) pKI, während Luther' sUebersetzung
die Sache nicht deutlich macht).
*) Bab. Talmud Chagiga 14b: DTnaS 1D333 nun^N pm i:n
jD;2nr3 «n^pu ^m cnS i^n xn^pr m nnxi höh p 'i^'v p p iSx
11*
164
(Elisa ben Abujah) und E. Akiba. Da sagte der
letztere zu seinen Collegen: TTenn Ihr kommet zu
den Steinen von reinem Marmor, so hütet Euch zu
sagen: "Wasser, Wasser, denn es steht geschrieben:
„Wer Lügen redet, wird nicht bestehen vor meinem
Angesichte^' (Ps. 101, 7).
Diese Stellen sind schon von Graetz richtig er-
kannt und auch von Le^y in die richtige Beziehung
zu einander gebracht. Graetz verweist auf Leander,
welcher zeigt, dass das Wasser von allen Piatonikern
als Symbol der Hyle oder der Genesis betrachtet
wurde. Simplicius sagt: Das Meer nannten auch die
alten Mythendichter wegen seiner Schwere, seines
Wogens, seines auf jede Art und Weise sich Yer-
wandelns, seines Erstickens Derer, die in dasselbe
sinken, ein Symbol des Werdens. Xumenius führt
als alte Meinung an, „dass die Seelen an dem Wasser
haften, welches gottdurchhaucht sei, weshalb auch
der Prophet (Moses) gesagt habe, es schwebe der Geist
Gottes oberhalb des Wassers'' i).
TU "i::7 p2'' ih* Die dort im Talmud gegebene Fortsetzung der
Erzäklung, welche besagt, dass von allen vier diesen gnostischen
Forschungen ergebenen Lehrern nur einer weder Schaden nahm
noch schädigte, nämhch Akiba, ist von denjenigen, die an unserem
Gegenstand gerükrt, so genügend besprochen worden, dass ich
nicht weiter darauf eingehe.
1) Graetz, 1. 1. Levy s. v. CA. Xeander, genetische Ent-
165
Deutlicher aber als in diesen von Leander bei-
gebrachten Stellen wird die Sache durch Stellen, die
ich den Epitomis i), die in der Sylberg'schen Ausgabe
des Clemens abgedruckt sind, entnehmen.
Daselbst 2) wird an den Satz aus den Apokryphen 3) :
„Gepriesen seist Du, der Du auf die Abgründe schauest,
sitzend auf den Cherubim'^ Folgendes anknüpft: „Da-
niel stimmt hier mit dem Enoch, der gelehrt hat:
Und ich sah alle Hylen, den Abgrund nämlich, den
nach seiner eigenen Substanz undurchdringlichen
durchdrungen aber durch die ^Älacht Gottes. Die
hylischen Substanzen nun, von denen die Theil-
geschlechter und ihre Species entstehen, sind Ab-
gründe genannt, da er das blosse Wasser nicht
Abgrund genannt hätte. Jedoch wird die Hyle alle-
gorisch als abgründiges Wasser bezeichnet''. Kurz
Wickelung der gnostischen Systeme S. 220. Die bei Xeander
aus Simplicius in Epictet. enchiridion c. 12 angeführte Stelle
lautet: ty^v ^aXaoaav otcc th ifißp^O-s;; xai xXuoa'.v6[i£vov v.al Tiav-
Toico? /x£TaßaXX6|X£vov v.al tcvIyov xohc, xaTaoovovxs? tic, ahir^v v.al ol
TiaXaiol [xuO-oTcXaoxai i-r^c, -(zvhtoiq 'fkv^ov cd/j-^o/.ov. Die AYorte des
Numenius (Porph\T. antr. nymph. c. 10) lauten: r.ooz'.H/hvy xü>
ma-z', zac, 'l'r/ac, ^eo-v6üj ovti, oiä xoözo y.cd tov rcpo'fTjtTjV etoYivivo-.:,
hli-^iptzd-ai sTidvcü tgü oaazoc, ■ö-soö irvsüiia.
1) iv. Ttüv 0£Oo6too xal zr^:; dLvrj.zo\'.'/.r^c, avay.a>^0'j|J.£';T,(; oioai-
y.aXi'xz v-azu zobc, O'jaXsvxtvoD /povoo; i-i-o,ii.ai.
2) S. 801.
3) Gebet Asariah's und Loblied der drei Männer Y. '^1.
166
darauf 1) heisst es: Durch Wasser und Geist (Pneuma)
wird die Wiedergeburt bewerkstelligt wie ja auch die
ganze Schöpfung ursprünglich durch sie zu Stande
kam. Denn der Geist Gottes schwebte über dem
Abyssus. Deshalb wurde auch der Heiland ge-
tauft u. s. w.
Aus solchen und ähnlichen Stellen wird uns
deutlicher, warum dem Josua ben Chananiah so
wenig wie dem Akiba die Speculation des ben
Soma über das Wasser gefiel. Sie merkten, dass
durch diese OefiEnung die heidnisch - dualistische An-
schauung von einer Hvle neben Gott, das ewig von
ihnen gefürchtete „Sch'the Reschujoth" (zwei Herr-
schaften), eindringen könne.
Schwierigkeiten machen allein noch „die Steine
Ton reinem Marmor'' in unserer Talmudstelle. Die
Erklärung Levy's^): „Wenn Ihr zu den Eis- und
Schneemassen kommt*', hat insofern eine gute Basis,
ö AaviYjX Kk^zi, ofXGOo^öiv Tö) 'Eva>-/ Tö) sloY^v-oxc, xai elSov xa.g okac,
o'jjxsvov 0£ zfj ouva[iS'. toü d'to'j. cd toivjv oh'zia: ÖMxai &'f ' tbv xa IkI
/xlpoü? '(ivri xal xä xouxcuv sioyj Y^vsxat, a^ozzoi sTpTjVxai. Ir^ü /jlovu
xo üScuo obv. av s'.tzsv ocßDGaov. xatxoc xal u8u>p aßuacoc 4] uXy]
öLK\ri'(optlzy.i. Darauf auf Seite 802: aöxixa 8:' uoaxos xai r.wtö-
p.axog 4] avaYsvvTj-'.s, xaO-aiTsp xai 4] Tüäca y^vs^'-S- üvsölia y"?
■ö-soü i-ccpspsxo X-/J (iß'j^oü) y.a'l Sia xoöxo 6 owxyjO Ißavxöaaxo x. x. X.
2) s. V. C'tt*
167
als gemäss der aus dem jerusalemischen Talmud oben
angeführten Stelle Wasser der Urstoff war, dieses
Wasser dann in Schnee und Eis verwandelt wurde i).
Warum aber diese Wasser dann „Marmor stein" heissen,
ist doch damit nicht befriedigend erläutert. Wie wäre
es, wenn man an den „Eben Schethija" (den Grund-
stein der Welt) dächte, dessen Symbol nach misch-
nischer Xachricht^) sich zur Zeit des zweiten Tempels
im AUerheiligsten befand in Yertretung der nicht
mehr daselbst vorhandenen Bundeslade. In der
Mischnah ist allerdings nur der Xame des Steins
„Schethija" gegeben. Aber beide Gemaren zur Stelle
erklären ihn als den „Grundstein der Welt" 3). Da
die „^IHD '^^tr ^iD^5" sonst nirgends vorkommen, so
ist das Wort entweder eine Corruptel oder der sym-
bolische Stein war aus Marmor. Der Sinn wäre also :
„Wenn Ihr an den Grundstein der Welt kommt (an
die Betrachtung, wie ist die Welt entstanden), so sagt
nicht: Wasser, Wasser, nämlich das obere und das
untere Wasser war die Hyle, das eine für die dies-
seitigen, das andere für die überhimmlischen Wesen".
Thatsächlich nämlich unterscheidet derselbe Gnostiker,
den ich oben angeführt, ein sinnliches und ein intelli-
1) Jer. Talmud Chagiga II, 77a.
2) Joma Y, 2 : D\s*ri; r\'.t2^f2 nz' ^n^- pK fni^ri h'^*:z'f2
3) üb^vn nnüin ij^iac'
168
gibles Wasser. Wem die Bezeichnung, die Akiba der
Sache gibt, zu pretiös erscheint, der erwäge, dass man
wohl damals aus Yorsicht die gnostischen Themata
durch eine gleichsam esoterische Symbolsprache aus-
drückte.
Wir lassen jetzt noch ein anderes talmudisches
Beispiel folgen, das in deutlichster Weise eine
gnostische Auffassung abwehrt.
Eabbi Ismael, heisst esi), fragte den Rabbi Akiba:
„Du, der Du zweiundzwanzig Jahre um Xahum aus
Gimso gewesen {= seine Vorträge mitangehört), der
jedem „eth" in der Thora (die Accusativpartikel, die
stehen und auch fehlen kann) eine Lehre abgewann
(kannst Du mir nicht sagen), welche Lehre er entnahm
den beiden „eth", die im ersten Schriftsatze vorkom-
men : Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde („eth"'-
Haschschamajim „weeth" Haarez)". Akiba gibt darauf
die sonderbar klingende Ant^^ort: ,JIätte es blos ge-
heissen: „Scham maj im" und „Erez" ohne „eth", wüiTle
ich die Worte für Gottesnamen gehalten haben. Durch
die Partikel „eth" aber ersehe ich, dass es sich ein-
fach um das handelt, was wir unter Himmel und
1) Chagiga 12a: ]'2hr^^ rr\z'2 i?rpi7 n HK bxrtttr^ n Snut
h2 rnn .-rnt:' nrr cd '-n: r"x ein; ns* nr^rü? nns* S"n "j-ns
CDU-' nöKD ib'K b"K ',.12 tt'm ^xs: jm^n nKi ciswn nx nmnnr itk
HK ntts'rc' Vvi'm p nz'pn bv \n^^^ pKi q^äü iöik ^rrn pxi
z'^fi (''"K ps* w-":^ c^u" c'^r \nH:i n^si ci^rn
169
Erde yerstehen". Die Sonderbarkeit der AMba'schen
Antwort schwindet, wenn man folgende Stelle über
die Gnostiker bei Irenäus i) liest.
Moses nämlich, sagen sie, indem er die Ab-
handlung über die Schöpfung beginnt, hat gleich im
Anfange die Mutter aller Dinge angezeigt, da er sagt:
„Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde". Diese
vier also nennend: Gott und Anfang, Himmel und
Erde, hat er ihre Tierheit (Tetraktys), wie sie sagen,
ausgedrückt". Hier sind also thatsächlich Himmel
und Erde füi' Potenzen in Gott oder neben Gott hin-
gestellt und der Einfall, sie für Gottesnamen zu halten,
kein von Xahum aus Gimso willkürlich formulirter.
Diese Stellen mögen genügen. Die Polemik gegen
die Gnosis hatte gewiss nicht als alleiniges Motiv
theoretische Bedenken, sondern mehr noch die Ueber-
zeugung, dass auch die Praxis geschädigt werde durch
den Eindrang dieser bedenklichen Theorien. Acher's
Apostasie, sein antinationales und auch in ethischer
Beziehung antinomistisches Verhalten kann ja nach
den talmudischen Nachrichten über ihn nur als eine
Frucht aus gnostischer Wurzel angesehen werden 2).
1) Irenäus adversus liaer, I, 18: Mcuö-Tj^, cpaolv, ar^yoiitvoc,
oXcDV |-£03'4£V s'.TioüV Iv ö-pyj! s-oiTjjSv ö %-thq xöv ohr,r/Mh^i -xal xy]v
Y^jV. Ts3japa oüv xaDxa c<vo,u.c/.3as ■9-S&V xai ^P'/y^v, ohpoL^/ov y.al
Y^jV TTjV xetpav.xuv aOxÄv oj^ ai)Xoi Ki'(oo'i. o'.zvjTzmztv.
2) Gractz, Geschichte IV. zweite AuÜ. S. 102 u. a. a. 0.
170
Wenn nun auch diese Polemik nicht gerade zur Folge
hatte, der G-nosis verwandte Speeulationen aus dem
Judenthum zu bannen, so lehrte sie doch darüber
wachen, dass nicht an Stelle der nüchternen Fort-
bildung der Religion die Allegorie das innerste Wesen
des Judenthums auflöse. Und als später die Tochter
oder die Schwester der Gnosis, die sogenannte Kab-
balah, dennoch wieder in's Judenthum sich hineinzu-
drängen wusste, so hatte sie nicht mehr die Kraft,
sich an die Stelle desselben zu setzen, sondern musste
mit dem in talmudischer Rüstung einhergehenden
Judenthum sich zu vertragen suchen.
Uns kam es hier nur darauf an, zu zeigen, dass
die Trajanisch-Hadrianische Zeit es war, die über den
weiteren Entwickelungsgang des Judenthums entschied.
Uebersiclit des Inlialts.
Seite
Eine Terstümmelte und eine nicht g'enüg'end ge-
wtirdig-te Stelle. Entgegenstellung zweier einander
widersprechenden Stellen aus Sopherim und dem
jerusalemiscken Talmud. Erörterung der Stelle
in Sopherim über eine zweimalige üebersetzung
des Pentateuch ins Griechische. Hinweis auf
eine höchst charakteristische, aber der Erklärung
sehr bedürftige Stelle in dem jerusalemischen
Tahnud 1—5
Das wechselnde Terhalten der Talmudlehrer g-eg-en-
über der g-riechischen Sprache. Das harte
Urtheil über die Septuaginta entsteht erst Jahr-
hunderte später, während man in ihr urspmnglich
nichts Verfängliches sieht. Die Verfinsterung der
"Welt auf drei Tage und ähnliche im Talmud Tor-
kommende Wunder mit den kirchengeschichtlichen
parallelisirt. Die Gunst, in welcher die griechische
Sprache bei den Talmudlehrern stand. Lobende
Aeusserungen über dieselbe. Verbot des Grie-
172
Seite
cMschea in der Mischnali zui- Zeit des Trajan.
Die' babylonische Gemara ist mit den Ereignissen,
die zum Verbote fühi-en, nicht mehr bekannt, Avohl
aber die jerusalemische. Das Verbot nicht mehr
befolgbai'. Gründe. Im Talmud und Midrasch vor-
kommende Charakterisii-ung des Griechischen. Ur-
sachen füi- Erlass des Verbots. Zusammenhang
der Angeber und Minäer mit dem „Polemos schel
Kitos". Mangelhaftigkeit der Quellen über die
Ursachen des jüdischen Aufstandes unter Trajan.
Wahre Bedeutung des „Trajanstages" (Jom Tra-
janus). Wann sind Pappus und LoUianus getödtet
worden? Nachweis, dass es unter Trajan ge-
schehen. Stand des Christenthums zu jener Zeit.
Das palästinische Christenthum damals noch national
im Gegensatz zum antinomischen und antinationalen
Christenthum der Hellenisten. Im Talmud bis zui"
Zeit Trajans kein Disput mit Christen, überhaupt
kein Gegensatz. Tritt plötzlich hervor zur Zeit
Josua ben Chananjahs und Gamaliel 11. in Disputen
und Einrichtungen. Veranlassung der von Helle-
nisten bei Ti-ajan vorgebrachten Denunciationen zur
Vereitelung des Tempelbaues* Die Zurücknahme
derTrajanischen Erlaubniss, Ursache des Aufstandes
und Erbitterung der Juden gegen die Hellenisten.
Talmudstelle, die das aussagt. Andere Talmud-
stellen, welche diese Vorgänge illustriren.
Einrichtungen gegen die Minäer. Erkenntniss der
Gefahr, welche die gefälschte Septuaginta und die
auf Grund derselben verfassten Auslegungsschriften
für das Judenthum hatten 6—42
Die Meinung' von dem Sehriftworte in den Tag-en
das K. Elieser und des K. Josua ben Chauanjali.
Positive Abwehr. Veranstaltung der Aquila'schen
173
Seite
Bibelübersetzung. Freude über dieselbe, weil am
Griechischen besser als an der aramäischen TJeber-
setzung die Deutungsfähigkeit des Textes zum
Vorschein kam. Die damals aufgekommene und
Yon Akiba vervollkommnete Methode, die ganze
„mündliche Lehre" aus der schriftlichen heraus zu
deduciren. Nachweis, welchen Dienst das Grie-
chische dieser Methode leistete. Fi-age über die
bona fides dieser Methode. Auffassung des Maimo-
nides. Nachmanides' Polemik gegen diese Auf-
fassung. Das Ungenügende beider Auffassungen.
Weitere exegetische Eigenthümlichkeiten im Tal-
mud. Das Hebräische selbst, als sei es griechisch,
gedeutet. Erklärung dieser Erscheinung. Glaube,
dass die Schrift in 70 Zungen rede. Die zahlreichen
CoiTective gegen aus solcher Meinung etwa ent-
springende Yerin-ungen 42 — 56
Die mündliche Lehre. Tradition und mündliche Lehre
ursprünglich nicht identisch. Tradition ursprüng-
lich sowohl aufgeschrieben als unaufgeschrieben,
Verbot des Aufschreibens zui' Zeit des Simon ben
Schetach. Die Sadducäer leugneten nicht eigentlich
die Tradition, sondern die „mündliche Lehi'e".
Spuren des Namens „mündliche Lehre" nicht über
Hillel hinaus. Anfangs nur das Aufschreiben der
Halachoth verboten. Günstige Folgen dieses Ver--
bots für die Entwickelung der Halachah. Beispiele
einer solchen Entwickelung, aus der selbst chrono-
logische Winke zu entnehmen. Zwei Stellen des
Josephus. Veränderung des im 2. und 4. Macca-
bäerbuche erzählten Martyriums von sieben Söhnen
einer Mutter aus halachischen Eücksichten, An-
dere Beispiele für veränderte Halachoth. Verbot,
aramäische Uebersetzungen aufzuschi'eiben zur
174
Seite
Zeit Gamaliel I. Eine aramäische Bibelübersetzung
aus der Griechischen gefertigt. Lösung einer von
Asariah de Eossi aufgeworfenen Schwierigkeit ... 57—67
Die drausseu stehenden Büclier. (Chizonim.) Zwei
Arten derselben, harmlose und gefährliche. Die
harmlosen blos der Deutung, nicht dem Lesen ent-
zogen. Das Vorgehen gegen Ketzerbücher nicht
lange vor Akiba. Yerwirning der Texte zum Nach-
theile des harmlosen Sirachbuches. Herstellung
des Textes durch Conjectur, auf die das Wort Sifre
statt Sefer ben Sira führt. Eichtige Erkenntniss
der eigentlichen Natur des Buches Sirach schon
im Mittelalter 68—76
I. Exeurs. AristobuL Seine Ei-wähnung im Macca-
bäerbuche. Darauf di'eihundertjähiiges Schweigen
über ihn. Sein Name taucht zuerst wieder in
Clemens auf, der an vier Stellen seiner gedenkt,
einmal auch ausdrücklich seiner Dedicationsschrift
an Ptolemäus. Trotzdem hat Clemens die von
Eusebius als aus den Aristobuleis citirten Yerse
des Orpheus, des Arat, des Hesiod, des Homer,
des Eallimachus (Lines) ohne anzugeben, dass sie
dem Aristobul entnommen sind. Desgleichen
prosaische Stücke, die mit den Aristobuleis
zusammenstimmen, ohne Zurückführung auf die
Quelle. Erst bei Eusebius die bekannten gi'ossen
Citate aus der angeblichen Dedicationsschrift des
Aristobul. Diese Aristobulea, von Eichard Simon,
Hody und Eichhora für unecht erklärt, werden
von Valkenaer als echt vertheidigt. Yalkenaer
nimmt es zu leicht mit den Hody'schen Beweisen,
Hody selbst aber hat die stärksten Yerdachts-
gründe nicht gefunden. Dagegen hat Lobeck das
Eichtige gesehen, wenn auch nicht erschöpfend
175
Seite
ausgebeutet. Das Scliweigen des Josephus über
Aiistobul nicht so gleichgültig, wie Yalkenaer es
darstellt. Noch weniger gleichgültig das Schweigen
des Justin. Justin behauptet dasselbe, was Aristobul.
glaubt sogar den Moses direct im Plato citirt unter
der Bezeichnung das „alte Wort". Dennoch fehlt
im orphischen Gedicht, wie es Justin hat, sowohl
das „alte Wort", als auch die Erwähnung des
Abraham, des Moses, der Bundestafeln, obwohl
auch diese Fassung des Orphicum nicht von Or-
pheus, sondern von einem Monotheisten (Christen
oder Juden) herrührt. Bei Clemens tritt dann die
Erwähnung des Abraham, bei Eusebius alles Uebrige
hinzu. Hätte Aristobul gefälscht, so müsste es vor
ihm zwei andere Fälscher gegeben haben, von denen
Justin den ersten, Clemens den zweiten und erst
Eusebius den dritten (Aristobul) gekannt hätte.
Aber auch die prosaischen Stücke unecht. Beweis
aus Pai'allelisirung einer prosaischen Stelle der
Aiistobulea mit einer Clementischen, welche auch
die erste als eine christliche erscheinen lässt. . . . 79—100
II. Excurs. Die Guosis. Ihr orientalischer Ur-
sprung nur sehr bedingt zuzugeben. Der specu-
lative Gehalt aus der Bibel und aus Plato. Zeller's
Yerdienste um Mässigung des Eedens über Orien-
talismus. Baui''s Construction, dass die Orientalen
Kosmogonie, die Griechen Theogonie erzeugen,
wird schadhaft dui'ch die Betrachtung, dass Plato's
Timäus, die Hauptquelle für die Gnosis, eine Kos-
mogonie ist. Die Gnostiker sind keine reinen
Platoniker, die neupythagoräische Gestalt des Plato-
nismus liegt ihren Aufstellungen zu Grunde. Daher
selbst das Orientalische bei ihnen nicht immer
aus erster Hand, sondern schon durch's Griechen-
176
Seite
thum gegangen. Beispiele dafür. Bei der Gnosis
spielt die Tendenz eine grosse Rolle. Zeller's Be-
merkung, dass jene Zeit der Willkür ihrer Aus-
deutungen und Constructioncn sich nicht bewusst
ist, trifft zu für Philo und für die Kirchenväter,
nicht aber für die Gnostiker, wenigstens nicht für
die Kainiten oder für Marcion. Eintheilung der -
Gnosis in naive und tendenziöse. Die naive Gnosis
stellt ihren Demiurg ursprünglich nicht in pole-
mischer Absicht auf (Lipsius), nimmt ihn vielmehr
aus Plato. Das beweisen die palästinischen Talmud-
lehrer. Grätz und Krochmal über die Gnosis im
Talmud. In Palästina vollzieht sich die Aus-
gleichung der griechischen Lehren mit der Bibel
in naiver Weise, bis zu Trajans Zeiten Gefahi- ge-
fürchtet wird. Die jüdische Gnosis. Nachweis,
dass die palästinischen Lehrer vielfach Platonisch-
Pythagoräische Anschauungen hatten. Die Eigen-
schaften Gottes bei ihnen hypostasirt. Angabe
weiterer Anklänge an Plato und die Neupytha-
goräer. Erläuterung einer talmudischen Stelle
durch eine gnostische. "Wie sich die Hinneigung
zu den Platonischen Sätzen bei den Talmudisten
erklärt. Umbildung des Platonisch-Heidnischen
ins Jüdische. Der „Weltfürst" ob Metatron, ob
der Demiurg. Der Weltfürst noch nicht der De-
miui-g, aber der Keim dazu. Nachweis, was alles
aus dem Platonischen Timäus in die späteren
jüdischen und gnostischen Anschauungen über-
gegangen. Das Urtheil des Plotin und des Por-
phyrius zutreffend. Nachweis, dass bei den älteren
Gnostikern das Capitel in Ezechiel eine Eolle
spielte. Bedeutung von Kaw La Kaw (Caulacau).
Talmudische Parallele. Die Gnostiker behandeln
177
Seite
die Evangelien wie die Kirchenväter das alte
Testament, Marcion nur scheinbar eine Ausnahme.
Weiterer Nachweis, dass Plato für die Gnostiker
der Hauptphilosoph gewesen. Colorbasus ist das
aramäische Brath-Kol (die Worte sind in umge-
kehrter Eeihenfolge). Behandlung einer Anzahl
von Talmud- und Mi draschsteilen, die entweder
selbst gnostisch sind oder umgekehrt deutlich
gegen die Gnosis polemisiren 103 — 170
Yon demselben Verfasser sind früher erschienen:
Beiträge zur Geschichte der Philosophie, ii Bände.
Breslau 1876. Verlag von H. Skutsch (jetzt Hepner).
I. Band: Maimonides. Albertus Magnus. Gersonides.
Anhang: Gabriel, Philo. II. Fand: Creskas. Spinoza
(Sein theologisch -politischer Traktat, und. Zur Genesis der
Lehre Spinoza's).
Religiös -philosophische Zeitfragen. Breslau 1876.
Schletter'sche Buchhandlung E. Frank.
Meine in Veranlassung eines Processes abgegebenen
Gutachten über den Talmud. Breslau 1877.
Schletter'sche Buchhandlung E. Frank.
Die Angriffe des Heidenthums gegen Juden und Christen
in den ersten Jahrhunderten der römischen Cäsaren.
Breslau 1879. Schktter'sche Buchhandlung E. Frank.
Zur Orientirung in der Cultusfrage. Dazu eine Ergänzung.
Breslau 1869. H. Skutsch (jetzt Hepner).
Fest- Predigten. Breslau 1867. H. Skutsch (jetzt Hepner).
Patriotische Predigten von 1861 — 1871. h. skutsch
(jetzt Hepner).
In Verlag von S. Schottlaender in Breslau übergegangen:
Dr. M. Joel: Notizen zum Buche Daniel. — Etwas
über die Bücher Sifra und Sifre. — Vortrag
über das Buch Daniel. Breslau i873.
Yerlag von S. Schottlaender in Breslau.
Das
italienische Volk
im Spiegel seiner Tolkslieder
Otto Badke.
Zweite Auflage.
8. Elegant broschirt t^ 4.-; fein gebunden M. 5.—
Wie seine Sprache des Volkes Mund, so sind seine Lieder
des Volkes Herz! — Otto Badke hat einen gelungenen Ver-
such unternommen, uns das italienische Volk durch seine Lieder
kennen zu lehren. Er selbst — man merkt das ganz genau —
ist wohl vertraut mit der Sprache, literatur und Sitten des
gelobten Landes Italia und aus dessen schönen Liedern, wie der
Mund des Volkes sie anstimmt, hat er uns einen Kranz gewunden,
in dem manche vergessene Blüthe, die viel zu duftig ist, um
schon zum Verwelken bestimmt zu sein, wieder zu Ehren kommt.
Italienisches Leben, italienisches Denken und Lieben ist es, das
aus den Liedern wiederhallt; wir hören zu und fühlen uns
mitteninne in dem herrlichen Wunderland! Ausserdem ist Otto
Badke' s Buch auch ein werthvoller Beitrag zur Geschichte der
italienischen Volksdichtung und wir wünschen aufrichtig auch
der zweiten Auflage recht viele Freunde.
Zu beziehen durch alle Buchhandlungen des In- und Auslandes.
Blicke in die EeligionsgescMchte.
Zweite Abtheilung.
J.A.Ji.
BlidiD iii die Rdigioiisgesdiidite
zu Anfang
des zweiten christlicheii Jalirliiinderts
mit Berücksiclitigiing der angränzenden Zeiten.
II. Abtiieiluiig.
Der Conflict des Heidenthums mit dem Christen-
thume in seinen Folgen für das Judenthum.
Von
W^^ 31. Joel
Rabbiner der israelitischen Gemeinde zu Breslau.
)
BRESLAU.
Druck und Verlag von S. Schottlaendor.
1883.
Dem Andenken
meiner verewigten Brüder
D£: David Joel
weiland Seminar- Rabbiners zu Breslau
und
D^ Hermann Joel
weiland Iiabbiners zu Hirscliberg in Schlesien
in pietätsvoller Erinnerung
zugeeignet.
Inhalt.
Seite
Vorwort IX
I. Einleitung 1
IL Zur Lage der CJiristeu im zweiten Jahrhundert und
zu den gegen sie erhobenen falschen Anklagen . . 15
III. Das officielle Rom in der christlichen Literatur des
zweiten Jahrhunderts 37
IV. "Worin eigentlich die geschichtliche Sünde der Juden
bestand 48
V. Das erste christliche Jahrhundert im Unterschiede
vom zweiten 73
VI. Tacitus über die Neronische Christenverfolgung. —
Jüdisch -christliche Dinge in römisch -heidnischer
Beleuchtung 96
VII. Proben von falschen Anschuldigungen gegen die
Juden, welche vor einer ernsten Kritik nicht be-
stehen können 149
VIII. Nachträge zum ersten und zum zweiten Theile von
„Blicke in die Religionsgeschichte" . . . 170—190
Vorwort.
Der zweite Tlieil der 1880 erschienenen .,Blickeu.s.w."
hat etwas länger auf sich warten lassen, als ich ursprihig-
lich geglaubt. Ich lioffe aber, nicht zu seinem Nachtheil.
Es ist nicht immer schädlich, durch Berufsgeschäfte von
stetiger Verfolgung einer literarischen Arbeit abgezogen
zu werden. Man kehrt l)isweilen mit desto frischerer
Lust zu ihr zurück.
Der Gegenstand, der in diesen Blättern behandelt
wird, obgleich ebenso wie die frühern Themata zur Ge-
schichte des zweiten Jalu'hunderts gehörig, hat doch in
sofern ein actuelleres Interesse, als er Gelegenheit bietet,
geschichtliche Annahmen und Anschauungen zu berichtigen,
die noch heute nicht blos fortwirken, .sondern auch
fort zeugen.
Ich gebe mich der Hoffnung hin, dass die sachliche
Behandlung desselben aucli eine saclüiche Beurtheilung
finden werde. Diejenigen, welche von der Forschung
etwas anderes wünschen ' als die Eruirung der Walirheit,
X
werden lioffentlicli mein Buch nicht lesen und damit sicli
und mir einen Gefallen thun. In einem Capitel „Nach-
ti'äge" liabe ich unter anderem mich auch mit einigen
dankbar entgegengenommenen Besprechmigen des fi-üheren
Bändchens auseinandergesetzt.
Breslau, Februar 1883.
Der Verfasser.
D. /Taa)
Berlin W. 1
- c 'smundstrasseö J
I. Einleitung.
Die officielle Yerfolgung des CliristentliLims als
einer die römische Staatsreligion gefährdenden un-
erlaubten Religion begann bekanntlich erst unter Trajan
(98—117) und setzte sich, gesteigert durch die Volks-
wuth, die immer sich einzufinden pflegt gegen die
Unglücklichen, denen der Staat grollt, unter den
Nachfolgern Trajan s fort, bis sie unter Marc Aurel
(161 — 180) einen gewissen Höhepunkt erreicht hatte
und unter seinen Nachfolgern bis auf Severus (193 — 211)
einer Art von Duldung Raum gab.
Wenn der Bericht des Tacitus über die Christen-
Verfolgung unter Nero, auf den wir noch zurückkommen,
den Anschein erweckt, als seien schon damals für das
Auge der römischen Obrigkeit Christenthum und Ju-
deuthum als geschiedene Religionsformen auseinander-
getreten, ja, als seien schon damals die den Christen
später Schuld gegebenen „Gräuel" erfunden gewesen,
so sind die besonnensten Forscher unserer Tage
1
nicht in Zweifel, dass Tacitus aus seiner Zeit heraus
spricht — die Abfassung der Annalen fällt zwischen
115 und 117 — dass er antedatirt. Erst von Trajan
ab ist der Xame Christ ein Verbrechen, gegen welches
der heidnische Staat unter Umständen mit den schwer-
sten Strafen: Folter, Tod, Terurtheilung zu den Stein-
brüchen und Bergwerken einschreitet i).
Dass die Kirche diesen Kampf gegen das Heiden-
thum ruhmreich bestände^, hat, braucht nicht gesagt
zu werden. Ebenso dass die Avirksamste Waffe in
dem schweren Kampfe die religiöse Begeisterung, die
durch keine Schrecken zu erschütternde Todesver-
achtung gewesen. Aber in einem Kampfe, bei dem
1) Die Beschwerde der Kirchenväter, dass man, wo es
sich um Christen handelt, auf den blossen Namen hin einschreitet,
ist so überaus häufig, dass es einzelner Nachweise kaum bedarf.
Bei Justin, bei Athenagoras, bei Theophilus, bei Tertullian hören
wir überall dieselbe Klage, dass der Name zur Anklage genügt.
A^gl, z. B. bei Justin, I. Apol., Cap. 4, wo zugleich mit dem
Namen ypr^oxoc, da man Chrestiani schrieb (wie ja noch fran-
zösich. chretien). ein häufig angewandtes Wortspiel gemacht wird.
Siehe auch Keim, Eom und das Christenthum, S. 452, 488, 501.
Ueber die Strafen, mit welchen die Christen belegt wurden,
vergleiche Friedländer, Dai'stellung aus der Sittengeschichte
Homs, IIL, S. 518. Dort ist auch auf S. 29^2 ff. über die innerlich
unwahre Schönrednerei nachzulesen, die dui'ch die formal rheto-
rische Erziehung in den römischen und griechischen Schulen
jener Zeiten herbeigeführt wurde und von der selbst die besseren
Schriftsteller nicht frei sind.
alle weltliche Macht auf Seiten des Gegners war,
musste man noch andere Mittel anwenden. Man musste
den Gegner gewinnen nnd ablenken, man musste ihn
üterarisch zugleich besiegen und versöhnen.
Diese literarische Arbeit wurde im zweiten Jahr-
hundert in Staunenswerther Weise geleistet, aber doch
auch zugleich in einem Geiste, der nicht der unsrige ist.
Es ist schon oft bemerkt worden, dass das, was
wir schriftstellerische Fälschung nennen, damals in
anderem Lichte erschien. Wo es sich um das Höchste
handelte, da nahm mau keinen Anstand, Schriften auf
fremde j^amen zu verfassen, vorhandene Schriften zu
interpoliren, absolut widerstrebende zu vernichten und
die Yergangenheit so darzustellen, wie es der augen-
blicklichen Situation angemessen und nützlich erschien.
Dazu kam die unbewusste Geschichtsfälschung, die
man als eine Art falschen Sehens bezeichnen kann,
und deren Wesen besteht in der unabsichtlichen Fär-
bung der Yergangenheit mit den Farben der Gegen-
wart. Dazu kam, dass die Männer, die im zweiten
Jahrhundert, nachdem sie dem Christenthum gewonnen
waren, in der christlichen Literatur das Wort nahmen,
meist hellenistisch-römische Vorbildung hatten, so dass
der rhetorische, bisweilen auch der advocatorische Cha-
rakter ihrer Schriftstell erei stark zumYorscheinkommti).
1) Ygl. das Ende der vorigen Anmerkung.
, 1*
Ein klassisches Beispiel füi' diese Art des Literatur-
betriebs ist der Märtyrer Justin. Wer wird ihm echte
Frömmigkeit, todesmuthige Begeisterung für seinen
Glauben absprechen ! Aber da ihm die Hauptsache bis
zur Evidenz feststand, welche Sorglosigkeit zeigt er
in dem, was ihm für seine Person mit Recht als neben-
sächlich erschien, nämlich in der kritischen Sichtung
des Geschichtlichen, mit dem er den Gegner von etwas
überzeugen wollte, was für ihn allerdings zweifellos
war! Schon Yalkenaer klagt über seine Leichtgläu-
bigkeit, obwohl er keineswegs die stärksten Proben
derselben anführt i). Ebenso können wir von rheto-
rischen Wendungen bei Justin reden, die in der Xoth
jener trüben Tage wohl das Ihrige thaten. bei denen es
aber unsere Schuld ist, wenn wir sie als Geschichts-
quelle ansehen. So hat Lipsius gezeigt, wie falsch es
ist, aus einer Aeusserung Justin's über die Acten des
Pilatus auf das Vorhandensein solcher Acten in jener
Zeit zu schliessen. Er erinnert daran, dass Justin
sich auch in gleicher Weise für die Geburt Jesu in
Bethlehem auf die Censustabellen unter Quirinus be-
ruft und fügt hinzu: ..Justinus nimmt also an, dass
im kaiserlichen Archiv zu Rom sowohl jene Census-
1) Yalkenaer, De Aristohulo Jiidaeo, S. 6, 7; vgl. das erste
Bändchen dieser Schrift: ..Blicke in die Eeligionsgeschichte"
S. 41, Anmerkung.
tabellen, als ein offici eller Bericht über den Process
Jesu unter Pilatus aufbewahrt sei. Gesehen hat er die
ersteren nun ganz gewiss nicht, aber hiermit fällt auch
zugleich jeder Beweis, dass er die angeblichen offi-
ciellen Processacten in Händen gehabt habe"i). Yer-
hängnissvoller, weil noch heute nicht überwunden,
wurde die apologetische Khetorik Justin's, wo er, weil
er die politische Seite der römischen Yerfolgungen
nicht versteht oder nicht Wort haben will, das Odium
der Sache auf die Juden wirft, als sei die Haltung
der römischen Obrigkeit und die Diffamirung der
Christen durch den heidnischen Pöbel durch die Aus-
streuungen der Juden veranlasst. In seiner gewohnten
Weise spricht er von Sendboten des Synedriums, von
denen kein Mensch in der Welt ausser ihm etwas
weiss, und verleitet spätere Kirchenväter, ihm das
nachzuschreiben. Zu welcher Tendenzkritik das Bauen
auf solche Justinische Wendungen noch in unseren
Tagen geführt hat, kann man am besten aus Hilgen-
feld's Beleuchtung der Dr. Aberle'schen Aufsätze "-j
erkennen. Wir werden im Yerlaufe uns überzeugen,
1) Eichard Adalbert Lipsius: „Die Pilatusacten , kritisch
untersucht'-, Kiel 1871, S. 15 ff. Besprochen von Hilgenfeld,
Jahrgang 1871, von Seite 607 ab.
2) Hilgenfeld in seiner Zeitschrift Jahrgang 1864, von S. 425 :
„Die neueste Tübingische Tendenz - Kritik", beleuchtet von
Dr. A. Hilgenfeld.
^yie entschuldbar in jener Zeit das Verfahren des
Justin gewesen und wie wenig Schlimmes er damit
beabsichtigt hat. Aber sein Yerfahren und das Ver-
fahren der meisten .ähnlichen Schriftsteller des zweiten
Jahrhunderts hat das erste Jahrhundert zu einem
wahren Palimpsest gemacht, dessen Züge erst zum
Vorschein kommen, nachdem man das, was das zweite
Jahrhundert darüber geschrieben, beseitigt hat.
Es gehört wohl zu den glänzendsten Leistungen
der Wissenschaft dieses Jahrhunderts, namentlich der
theologischen, dass ihr die mühselige Wiedergewinnung
des echten Gesichtes, welches das erste Jahrhundert
zeigte, soweit das noch überhaupt möglich ist. ge-
lang. Mit der Erkenntniss. dass Evangelien und
Apostelgeschichte theologische und nicht geschichtliche
Bücher seien, dass sie nicht einfache Erzählung der
Vorgänge bezwecken, sondern im Dienste von Ideen
stehen, welche die tradirten Vorgänge umgestalten
und im Lichte der neu gewonnenen Erkenntniss er-
scheinen lassen, bahnte die Wissenschaft sich den
Weg, der einen Durchblick bietet zu den ersten Tagen
des Christenthums.
Aber einen Punkt hat die Wissenschaft nur
selten mit bewusster Absicht aufzuhellen unternommen,
nämlich die Frage, ob das Verhalten des Judenthums
gegen das neu entstehende Christenthum durch die
jetzt gewonnenen Einsichten nicht in einem anderen
Lichte erscheint Sollte das nicht ein überaus wür-
diger Gegenstand auch für die christliche Theologie
sein? Sollte sie nicht der Meinung sein, dass man
aus. der IN'oth, Avelche dem zweiten christlichen Jahr-
hundert eine Belastung des Judenthums auferlegte,
heute nicht mehr eine Tugend zu machen braucht?
Es wäre undankbar, zu leugnen, dass nicht durch
die gegenwärtigen kritischen Leistungen hie und da
eine freundlichere Beleuchtung des jüdischen Yer-
haltens sich ergiebt. Wir werden nicht ermangeln,
das dankbar anzuerkennen. Aber im Grossen und
Ganzen ist der alte Curialstyl geblieben. Ja, gerade
wo die Absicht der Yerunglimpfung fehlt, ist die
Sache um so schmerzlicher, weil sie dann gleichsam
als unausrottbare Gewohnheit sich zu erkennen giebt.
"Wenn ein römischer Lnperator einen Triumph feiert,
ohne einen Feind besiegt, oder auch nur gesehen zu
haben, so ist das eitle Prahlerei. A\^enn aber Josephus
die Eichtungen innerhalb des Judenthums mit dem
Namen philosophischer Lehrweisen beehrt, um den
Griechen die Sache plausibel zu machen, so ist das
..jüdische'- Prahlerei. Ich will davon absehen, dass
es überhaupt keine Prahlerei war, da man zu jener
Zeit Philosophie überhaupt in etwas weiterem Sinne
gebrauchte 1), wie ja auch das Ohristenthum sich damals
1) Bekannt ist. dass Klearch sowohl wie Theophrast Icdighch
auf (irinid der Kunde von der Lebensweise der Judäer ihnen
8
als eine Philosopliie anffasste. Aber man kann über-
haupt nicht als „jüdisch'" bezeichnen, was leider bis
heutzutage allgemein menschlich ist Obwohl es der
Talmud sagt, ist die Vorschrift doch wohl für Alle
giltig: „Ihr Weisen, seid vorsichtig mit eueren Worten^'.
"Will man mich der übertriebenen Empfindlichkeit
zeihen, so glaube ich, dass die Empfindlichkeit, in der
Wissenschaft nichts sagen zu lassen, was nicht dem
Wahrheits sinne, sondern der Leidenschaft entspringt,
ganz am Platze ist. Aber ich kann leider die Trag-
weite der Sache bis zu einem Grade nachweisen, der
mir am wenigsten erwünscht ist.
Bekanntlich versucht heute auch die strenge Wis-
senschaft zum Volke herabzusteigen. Ob zum vSegen.
weiss ich nicht. Aber wem die seltene Gabe verliehen
ist, ohne der Wissenschaft etwas zu vergeben, dennoch
gefällig und unterhaltend zu schreiben, der muss
doppelte Vorsicht anwenden, um nicht auf Kosten der
AVahrheit zu unterhalten. Obwohl die deutsche Theo-
logie, was Tiefe und Schärfe der Forschung betiifft,
in der Erkenntniss der Ursprünge des Christenthums
den Namen ..Philosophen- gaben. Klearch sagt: ..Die Philo-
sophen heissen bei den Indem Kalaner. bei den Syi'ern Judäei",
und Theophi-ast bezeichnet den ganzen Stamm als der Philosophie
ergeben (ats tfiÄooG-fo-. to ysvo? ovts;). Vgl. Bernays: „Theophrastos'
Schrift über die Frömmigkeit', S. 85. und dazu die vielfach inter-
essanten Bemerkungen von S. 109 ab.
9
den ersten Rang einnimmt, so ist doch kein Werk
über das Christenthum von grösserem Einflüsse auf
die Gebildeten unserer Tage gewesen, als die Bücher
des Franzosen Ernst Renan. Gerade weil in Renan
der Schriftsteller fast noch höher steht als der Forscher,
ist seine Leserzahl immens. Ich halte das bei aller
Bewunderung der Renan'schen Fähigkeiten für geradezu
verhängnissvoll. Dass er selbst nicht fest an seine
Resultate glaubt, dass er jüngst das Bedauern aus-
sprach, sich nicht vielmehr der Naturwissenschaft
gewidmet zu haben, weil er dann sicherere Ergebnisse
erzielt hätte, kann der Sache nicht mehr abhelfen.
Renan hat leider nur allzusehr vergessen, dass es
literarische Sünden giebt, die praktisch traurige Folgen
haben. In diesem Sinne bedauere ich selbst, dass er
nicht mehr naturwissenschaftliche Methode auch für
die Geschichtsschreibung angewendet hat. Er würde
dann statt immer von oben her, von der Ra9e aus,
zu operiren, von unten auf, von dem gegebenen In-
dividuellen, ausgegangen sein und Festeres erzielt
haben.
Renan ist am Ende ein Xamen so glänzend, dass
es sich wohl verlohnt, an ihm die Fehler auch Anderer
kenntlich zu machen. Es ist gewiss nicht übertrieben,
wenn ich sage, dass mir die orthodoxe Darstellung
der Ursprünge des Christenthums in gewissem Sinne
lieber ist als die Renan'sche. Wenn die Juden in
10
einer solchen Darstellung keine angenehme Rolle
spielen, so fehlt es doch nicht au Compensation. Die
Orthodoxie verunglimpft nicht blos das Judenthum,
sondern verherrlicht es auch. Aber eine Darstellung,
die kritisch sein will und eben erst als unecht be-
zeichnete Quellen sofort wieder benutzt, wenn sie nur
Farben enthalten, welche der künstlerische Autor für
seine farbigen Darstellungsbilder effectreich zu ver-
werthen versteht; eine Darstellung, die — ich werde
das harte Wort erhärten — am AVider Spruche mit
sich selbst eine gewisse Freude zu haben scheint,
unbekümmert darum, ob die eine Stelle ein vernich-
tendes Urtheil über eine Gesammtheit enthcält, während
die andere das Gegentheil davon aussagt, aber durch
so viel Bände von der ersten getrennt ist, dass die
Hoffnung eine schwache ist, es werde ein Mensch beide
Stellen zugleich im Kopfe haben, eine solche Dar-
stellung, sage ich, ist von einer Bedenklichkeit, welche
auch einem so genialen Autor gegenüber zwingt, offen
zu reden.
Damit man erkenne, was ich meine, seien hier
nur zwei Beispiele angeführt. Wer in orthodoxer
Weise die Apostelgeschichte für eine nicht blos theo-
logisch bedeutsame, was sie in allewege ist. sondern
zugleich für eine historisch verJässliche Quellenschrift
ansieht, ist sicherlich berechtigt, auf Grund derselben
von einer Feindschaft des officiellen Judenthums gegen
11
die Jünger Jesu zu reden. Renan aber hat zwar das
Wesen der Apostelgeschichte nicht so tief ergründet,
wie die deutsche Wissenschaft seit Zeller 's bahnbrechen-
der Arbeit und den vielen darauffolgenden, von denen
ich nur an die von Holtzmanni) und 0 verbeck 2) er-
innere, aber er hat doch scharfe Kritik geübt und,
als für unsere Frage interessant, etwa Folgendes ge-
funden. Der Yerfasser der Apostelgeschichte kennt
nach Renan den Judaismus und die palästinischen
Angelegenheiten schlecht. Er ist mit dem Original
des alten Testaments nicht vertraut, dagegen schreibt
er gut griechisch und ist mit den Ansichten der Heiden
wohl bekannt. Er hat die Tendenz, Alles hervor-
zuheben, was den Römern günstig und den Juden
ungünstig ist. Die historische Treue ist für ihn eine
gleichgiltige Sache 3).
Meint man, dass das Renan abhält, die Worte
zu schreiben: „Die Juden waren vor der Zerstörung
Jerusalem's die wahren Verfolger der Christen und ver-
nachlässigten Nichts, sie verschwinden zu machen^' -k)
1) Holtzraann, „Lu.cas und Josephus", Hilgenfeld's Zeit-
schrift, 16, Jahrgang, S. 85 ff.
2) In seiner treftUchen neuen Bearbeitung des de Wette'schen
Commentars zur Apostelgeschichte.
3) Renan: „Die Apostel'' (autorisiite deutsche Ausgabe,
Einleitung, S. 16 ff. Vgl. namentüch S. 19).
^) Derselbe: „L'Äntechrist" (franz.), S. 161.
12
und dafür als alleinige Quelle anzuführen: Apostel-
geschichte auf jeder Seite und die Geschichte des
heiligen Polycarp? Diese letztere Geschichte werden
wir noch Gelegenheit haben, kritisch zu behandeln
und uns dabei wie mit Anderen so auch mit Eenan
auseinanderzusetzen.
Aber bezeichnender und schwerer wiegend ist ein
anderer Eenan'scher Widerspruch. Im ,,Leben Jesu^'i)
schreibt er die entsetzlichen Worte: .,So waren es
weder Tiberius noch Pilatus, die Jesus verdammten.
Es war die alte jüdische Partei, es war das mosaische
Gesetz. Xach unseren neuen Begriffen giebt es keine
üebertragung einer moralischen Schuld vom Vater
auf den Sohn; jeder ist der menschlichen und gött-
lichen Gerechtigkeit nur für das verantwortlich, was
er selbst gethan hat. Darum hat jeder Jude, der noch
heute füi' den Mord Jesu leidet, das Recht, sich zu
beklagen; denn vielleicht wäre er Simon der Cyrener
gewesen ; vielleicht wenigstens hätte er nicht zu Denen
gehört, die da schrien: ,Kreuziget ihn'. Aber die Na-
tionen haben ihre Verantwortlichkeit wie die Indi-
viduen. Und wenn jemals ein Verbrechen das Ver-
1) Eenan: ..Leben Jesu" (deutsche autorisirte Ausgabe,
III. Auflage, S. 346). Ich bitte hier um Entscliuldigung, dass
ich die eine Eeuan'sche Schrift nach der deutschen Uebersetzung,
die andere nach dem französischen Original citire, da ich sie
anführe, wie sie gerade in meinen Besitz gekommen.
13
brechen eines Volkes war. so war es der Tod Jesir'.
Damit vergleiche man die Worte desselben Antors im
6. Buche, betitelt: Die christliche Kirche (Seite 267
der französischen Ausgabe) : „Von der Mitte des zweiten
Jahrhunderts ab war der Hass zwischen den beiden
Religionen besiegelt Die Juden warfen den
Christen vor, dass sie die Wuth und die Schmerzen
Israels nicht theilten. Die Christen fingen an, auf
die Gesammtheit der jüdischen Xation einen Vor-
wurf fallen zu lassen, welchen sicherlich
weder Petrus, noch Jacobus, noch der A^er-
fasser der Apokalypse au ihre Adresse zu
richten sich hatten einfallen lassen, nämlich
den, Jesus gekreuzigt zu haben. Der Tod
Jesu war bis dahin betrachtet worden als das
Verbrechen des Pilatus, der hohen Priester,
gewisser Pharisäer, aber nicht als das Ver-
brechen von ganz Israel. Jetzt erscheinen die
Juden wie ein deicides A^olk, wie ein Volk, das die
Gesandten Gottes tödtet und den klarsten Prophe-
zeiungen widerstrebt."
AVahrlich, man sieht, dass unser Autor nicht ge-
spasst hat, als er jüngst in einem Aufsatze i) die
1) „Hevue de deux mondcs'-, 15. Februar 1882, kommen in
Renan's Besprechung von Koheleth die AVorte vor: „Malheur
ä celui qui ne se contredit pur au moins une fois par jour.'^
14
merkwürdigen Worte sprach: ,.Ein unglückseliger
Mensch, der sich nicht mindestens einmal täglich
widerspricht!" Ja, aber die meisten Menschen empfin-
den gar nicht die Sehnsucht, sich beständig zu wider-
sprechen. Für diese Klasse von uninteressanten
Menschen, denen die pittoreskeste Schilderung und die
geistreichste Charakterisirung die geschichtliche Treue
nicht ersetzen kann, versuche ich das Wenige zu
geben, das ich gefunden. Ich versuche zu zeigen,
wie der literarische Kampf, den die christlichen Autoren
gegen das heidnische Rom im zweiten Jahrhundert
zu führen hatten, eine starke Rückwirkung übte auf
ihre Darstellung des jüdischen Yerhaltens gegen das
Christenthum.
II. Zur Lage der Christen im zweiten Jahr-
hundert und zu den gegen sie erhobenen
falschen Anklagen.
Die Gefahr, in welcher das Christenthiim von dem
Augenblicke ab schwebte, wo es nicht mehr als jü-
dische Secte dem Auge des heidnischen Rom erschien,
war eine ungeheure. Gegen fremde, aber nationale
Religionen übte man Duldung, nicht so gegen eine
Religion ohne Yergangenheit , welche sich selbst an
die Stelle der Staatsreligion zu setzen die Absicht
hatte und haben musste.
Es ist bekannt, dass namentlich die „Neuheit'^
des Christenthums den Hauptanstoss erregte und dass
die Literatur des zweiten Jahrhunderts darum in Pro-
ductionen sich überbot, welche das Christenthum als
das Uranfängliche, als Quelle auch der alt-griechischen
A\^eisheit, erkennen lassen sollten. So entstanden auch
die Pseudo-Aristobulea , von denen im Früheren die
Rede war. Ein zweiter Anstoss, der mit dem ersten
16
zusammenhing und dem Staate gegenüber die Bedenk-
lichkeit der neuen Eeligion steigerte, musste gleich-
falls abgeschwächt, womöglich ganz beseitigt werden.
Indem man nämlich von den Zeiten des Trajan ab
gegen das Christenthum das alt-römische Gesetz gegen
unerlaubte Verbindungen geltend machte, erinnerte
man sich, dass Eom von Anfang an der neuen Eeli-
gion mit richterlicher Strenge gegenübergetreten war.
Nichts gefährlicher im römischen Imperatorenreiche,
als die Tradition, dass von vornherein das Christen-
thum als etwas Staatsgefährliches von Seiten römischer
Eichter angesehen wurde.
Dieser Gefahr literarisch zu begegnen, gab es
nur zwei Wege, die bisweilen in einen zusammen-
gingen. Man musste nachweisen, dass das Christen-
thum bei den römischen Imperatoren und Magistraten
des ersten Jahrhunderts in Gunst gestanden, man
musste ferner nachweisen, dass die Juden und nicht
die römische Obrigkeit Schuld an der Yerurtheilung
Jesu trügen, man musste die Juden von vornherein
als hasserfüllt und verfolgungssüchtig gegen das neue
Christenthum hinstellen, ja, als die Juden durch ihre
Aufstände unter Trajan und Hadrian den Römern ver-
hasster geworden waren, erschien es nützlich, die
grässlichen Anschuldigungen, welche heidnische Nie-
dertracht gegen die Christen ersonnen, nämlich Kinder-
mord und blutschänderische Umarmungen, auf die
17
Juden als Urheber zurückzuführen. Wer Justin kennt
und wer Tertullian kennt, weiss, was von der Be-
hauptung des Einen zu halten ist, dass die Juden
durch ausgesandte Agenten das Christenthum verlästert
hätten — der in Bezug auf die Juden gewiss unver-
dächtige Keim bezeichnet das als mythisch — und
was die Behauptung Beider werth ist, dass die Juden
die Urheber der mfamiae gewesen, mit der das Hei-
denthum die Christen zu brandmarken suchte. Nicht
die leiseste Spur in einer jüdischen Quelle lässt sich
nachweisen, die zu einer solchen Behauptung den
Anstoss bietet.
Als ich zum erstenmale die Form der Anklage
erwog, welche das Heidenthnm gegen die Christen
vorbrachte, da war mir schon aus der sprach-
lichen Fassung „thyesteische Mahlzeiten" und „ödi-
podische A^erbindungen'* klar, dass nur einer helle-
nistischen Zunge, dass nur der „Graecia mendax"
die Anklagen entsprungen waren. Es war mir
erfreulich zu sehen, dass sowohl Baur^) als auch
1) Baur: ,.üogmengeschichte", 1. Band, 1. Abth., Leipzig
1865, erklärt die Angaben Justin's und Tertiülian's aus ganz
denselben Gründen für unwahrscheinlich, aus denen auch ich,
unbekannt mit dieser seiner Aeusserung, sie als falsch erklärt
habe. Merkwürdig ist" s, dass Baur an das directe Zeugniss, das
wir haben, dass thatsächlich die Griechen die '}£o&o[i.apxüp£c
waren, nicht denkt. Auf dieses Zeugniss des Tatian kommen
wir in einem anderen Zasammonhange noch zurück.
2
18
Keimi), unabhäugig von meiner in einem vor Jahren
YeröfPentlichten Vortrage gemachten Bemerkung, darin
das Richtige gesehen, während ich mich damals gegen
die Stelle in Baur's Kirchengeschichte wenden zu
müssen glaubte, welche' den Worten Tertullian's noch
nicht genügend misstraut hatte.
Warum übrigens eine solche Beschuldigung den
Heiden gerade so nahe lag wie den Juden fern, das
sieht Tertullian, wo er will, sehr gut ein. Er macht
die richtige Bemerkung, dass die Heiden nur darum
den Christen Gräuelthaten , wie Kindermord zu reli-
giösen Zwecken, zutrauen, weil sie selbst dergleichen
noch immer üben -). Man wäre geneigt, diese Behaup-
tung für einen der bekannten Fechterhiebe des heiss-
blüligen Afrikaners zu halten, wenn die Richtigkeit
derselben nicht bis zu einem gewissen Grade auch
noch für seine Zeit geschichtlich constatirt wäre.
Es ist nicht unnütz, sich darüber zu orientiren,.
dass der gräuel volle Cult des Menschenopfers bei
keinem, auch nicht dem gebildetsten heidnischen Volke
fehlte, und dass er sich bei vielen dem römischen
Imperium unterworfenen Völkern mit grosser Zähigkeit
1) Keim: ..Eom und das Christenthum'-, S. 365. sieht dio
Falschheit des Vorwurfs aus anderen Gründen ein.
-) Tertullian, apolog. IX: Haec quo magis reftitaveriui
a vohis fieri ostendam partim in aperto, paHim in occulto, per
quod forsitan et de nohis credidistis.
19
noch im zweiten christlichen Jahrhundert erhalten hat.
Wir verdanken die genauesten Nachrichten über die
Verbreitung dieses Gräuels dem Porphyrius, der in
seiner Schrift „über die Enthaltung von animalischer
Nahrung" sowohl alle älteren Angaben des Theophrast
über diesen Punkt registrirt, als auch selbständig die
einschlägigen Notizen für die spätere Zeit gesammelt
hati). Man kann sich denken, dass der sammellustige
Bischof Eusebius diese Notizen sich nicht hat ent-
gehen lassen. Sie bilden nebst Auszügen aus Diodor
und Dionysius von Halikarnass die xmce de resistance
des vierten Buches seiner „evangelischen Yorbereitung".
Eusebius sagt daselbst zusammenfassend: In Rhodus,
in Salamis und den anderen Inseln, im ägyptischen
Heliopolis, in Chios, Tenedos, Sparta und Arkadien,
in Phönicien und Libyen, dazu in Syrien und Arabien
und bei allen Hellenen, selbst bei der Blüthe derselben,
den Atheniensern , in Karthago und Afrika, bei den
Thraciern und Skythen sind durch die sichersten
Zeugnisse Menschenopfer constatirt-). Diese Behaup-
1) Nähere Auskimft über diesen Punkt giebt Bernays' Ab-
handlung: ,,Theophrastos' Schrift über die Frömmigkeit", Note 39.
2) Eusebius, „Praepar. evang.", IV., 17, 164 c.: si '(äo Iv
'Pooco v.al £v XaXap.iV'. v.al sv r/Xka'.q vqaoiSj ^'v '^s '^HXioo TZoKsi z-g
v.ax' AT-j-UkTov, £v T£ Xuo v.ai Tsvioco v.al Aa7.soa'',u.ov'. xal 'Ap-
v.ao''a, <J>oiviv.-/^ ts v.ac X'.fj'rrj y.oX ttoo^ tooto'-S aT:aa:v iv Supcoc -xal
Apaß'.a, y.al Trapa -{z xolc, FlavsXXYjGiv xal iv. Tootüiv ~olc, v.opu'fa'.o-
2*
20
timg des Eiisebius ist nicht etwa eine unbeweisbare Ver-
heniicbung des Christenthums , dessen sittlich ver-
edelndem Einflüsse er die Abschaffung selbst bei den
Heiden zuschreibt^), und des Judenthums, dessen
schweren Tadel gegen diese kanaanitischen Gräuel er
anführt (Ps. 106. 37)2) _ er hätte freilich auch die
zahlreichen Stellen des Pentateuch gegen den ^lolochs-
dienst citii-en können — sondern durchaus den schon
genannten heidnischen Quellen entnommen. Er hätte
auch Gelten und Germanen der Völker- und Städteliste
hinzufügen können 3).
Es ist das Verdienst der römischen Polizei, dass
diese Gräuel in der Mitte des zweiten nachchristlichen
Jahrhunderts nicht mehr öffentlich konnten geübt
werden. Obwohl nämlich schon Tiberius mit grosser
Strenge gegen die gallischen Priester, die Druiden
vorgegangen war, ,,welchen Ungeheuern einen Menschen
xäzoiz A^Y^^aLO'.c. v.aToc zi Kap-/Y,oöv3c xa' rr;; 'A-fptv.r,v v.ai -apä
0pa^t v.at Ix'jO-a'.c (iKolior.y^X'xi tä ty^? Satjxovixvjc avö-poi-ov-Tovia^
xata To'jc 7:aXacoö; y^ö'jo'ic, l-:zz\rJi]i.r.o. v.a'l .usyp: to5 atoirr^pos Yjxoiv
rapat£tvav-a v.. -.. /..
1) Siehe am Schluss der vorigen Note und öfter.
2) Ibid. 16. 161c.
3) Für die gallischen Gelten bedai-f es keiner Beweise
Vgl. übrigens die folgende Anmerkung. Von den Germanen sagt
Tacitus (Germania 9): „Unter den Göttern verehren sie am meisten
den Mercur. dem sie an gewissen Tagen auch Menschenopfer
darzubringen für richtig halten".
21
zu tödten für höchst fromm, zu essen für höchst heil-
sam" erschien i) , so war es doch erst Hadrian
(117 — 138), dem man die Abstellung des Menschen-
opfers im ganzen Gebiet des römischen Befehls zu-
schreibt-). Wie weit freilich die Hadrianische Maass-
regel in die verborgenen Schlupfwinkel dieser her-
gebrachten Gräuel hineinlangen konnte, lässt sich
nicht constatiren. War doch selbst das kaiserliche
Eom trotz seines rühmenswerthen officiellen Eifers in
diesem Punkte keineswegs frei von derselben heidni-
schen Befleckung, so dass dieser Widerspruch die
Casuistik des Plutarch einmal beschäftigt 3).
W^enn Livius das Menschenopfer als unrömisch be-
zeichnet^), so ist das wohl vergleichsweise richtig, aber
doch nur vergleichsweise. Dass freilich der bekannte
1) Plinius, U. n. 30, 13: Tiheri Caesaris principatus sustulit
Bruidas eorum . . . nee satis aestimari potest (picmtum Bomanis
debeatur^ qui sustulere monstra, in quibus hominem occidere
religiosissimum erat, mcmdi vero saluberrimum. Vergleiche die
grausige Schilderung des sachlichen und besonnenen Strabo 4, 198,
^j Dieses berichtet ein von Porpbynus, p. 118, 8, an-
geführter Pallas, der die ., Geschichte des Mitbras- geschrieben
und nach ihm Eusebius, „Praep. ecang.", IV., 16. 156 p.: xaxa-
/.u>qva: OE TGc? avö-pcuiioO-DGtag o/sSov lag uapa Tcäsi cpYjac ndX).a?,
h apcoxa Tztoi tcuv xoO Mii^pa c'jvaYaY<.ov jJt'j'XTjpicuv s-L 'Aopiavoü xoü
aÖToxpaTopog.
^) Siehe die später im Text angeführte Stelle aus ., Römische
Fragen- •.
■ij Livius, XXII., § 57: „Minime sacro Bomano".
22
„heilige Lenz" (die Opferung alles dessen, was au
Menschen und Yieh in einem bestimmten Zeiträume
geboren wurde) und ebenso die zur Beschwichtigung
des Götterzornes berichteten Selbstopferungen römischer
Patrioten nichts gegen den besonneneren Geist der
latinischen Eeligion beweist, hat Mommsen gezeigt^).
Yiel Gewicht wollen wir auch nicht auf die Gladia-
torenspiele legen, die ursprüglich Leichenspiele an den
Gräbern der Grossen waren, deren Manen man mit
diesen Menschenopfern beruhigen zu müssen glaubte,
und die später umgedeutet wurden, als hätten sie nur
den Zweck, den kriegerischen Geist lebendig zu er-
halten 2). Aber vereinzelt fehlt es bis in die Kaiserzeit
hinein weder an wirklichen, noch an der immerhin
bedeutsamen Sitte symbolischer Menschenopfer. Um
über diese letztere Sitte zuerst etwas zu sagen, so
bietet Dionysius von Halikarnass ein unanfechtbares
Zeugniss noch für die augusteische Zeit. Herkules,
so ging nach Dionysius die Sage, habe die Latiner,
die einst gleich den Gelten und Karthaginiensern
1) Mommsen: ,,Eömisclie Gescliichte" 5. Aufl., I. S. 174.
2) Nieuport: „De ritibus Bomanorum'', ed. nova, 1743,
S. 606: „Dum caclaver cremaretur, sangitis humanus ante rogum
eifundelatur, quo manes defuncti lüacari credebant Ille sanguis
oUrn ßiit captiforum, vel servorum, at postea gladiatoriim, qui
inde bustuarii sunt dicti. Uober den Zweck der Gladiatorenkämpfo
Cic. Tusc. II.
23
Menschen geopfert, gelehrt, statt der Menschen, die
sie, an Händen und Füssen gebunden, in den
Tiber warfen, menschenähnliche Bilder dem Flusse
preiszugeben. „Dies'', so fügt er hinzu, „thaten die
Kömer bis auf meine Zeit, nnd zwar kurz nach
der Tag- und Nachtgleiche, an den sogenannten Iden
des Mai, indem sie dabei auf den Vollmond bestanden.
An diesem Tage warfen nach vorhergehenden gesetz-
lichen Opfern die höchsten, ,Pontifices' genannten
Priester, mit ihnen die das ewige Feuer hütenden
Jungfrauen, die Prätoren und Solche, denen die Assi-
stenz bei den heiligen Handlungen zusteht, menschen-
ähnliche Bilder, Argeen genannt, von der heiligen
Brücke herab in den Tiberstrom" i). Aber neben dieser
harmlosen Gestaltung einer vielleicht in unvordenklicher
1) Dionysius voa Halikarnass A. R. I., 3S: zobzo ok v.al
lJ.k-/o'.c, £[J.oö S'.stsXoüv ^Pin\i%lo'. tpwztz sxt ii.iv.pby üOTcpov laocvr^;
Gr^ixtpiac, h [xrivi Mol'm xo.lz y.o.Xoop.ivoLC, bIooIc,, oi^o|i-Y|Vc5a ßoDX6[JLsvoc
xaoTTjV s'.va: xyjv -'qp-ipav, sv -^ 7:po8-6aavx£g Ispsla xa v.axa lobz
vojuLODg ol v.yXo6iJ.tvo'. Txovtbcv.sc;, Ispscuv ol oiatpavsaxaxoc, y.ac ouv
aoxolg cd zb aO-avaxov Tzbp §:a'-p»jXaxxooaa'. Tiap^svot, cxpaxTJYO'- '^^ V-^-^
TcT>v aAÄojv TzoXixojv ou;; Ttapclva: xal;; '.spoupYiaij -B-s/x'-S, sl'oouXa sl^
/xopcpa; öcvö-ptJUT^aiv slv.aajJLsva, xp'.dv.ovxa xov öcpiO-iJ-ov auo xvjg tspä^
YS'-popa; ßaXXoDGiv sU xo psö[j.a xoü Tißsptoj, 'Ao-ptoD;; aoxa v.aXoöv-
Tsc". Warum übrigens diese Menschenbilder Argeen hiessen, be-
schäftigt den Plutarcli, ,, Römische Fragen" 32. Kein Geringerer
als Mommsen freilich hält die Auffassung der Bilder als Ver-
treter von Menschen für unüberlegt. Indess war doch diese Auf-
f
*assung, wie aus Dionysius hervorgeht, in Rom selbst heimisch.
24
Zeit blutig' gewesenen Sitte wissen wir doch auch
von weniger harmlosen Acten zu erzählen. Für die
republikanische Zeit sind zwei Fälle officiell durch den
Senat angeordneter Menschenopfer constatirt, der eine
als der Aufstand der Gallier im »Jahre 225 t. Chr.
die Gemüther in Schrecken setzte, der andere, nachdem
die Schlacht bei Cannae auch religiös ausserordentliche
Maassregeln aiifzunöthigen schien.
In Bezug auf den ersten Fall lauten die Worte
Mommsens: .,Der Glaube, dass Roms Untergang diesmal
unvermeidlich und der römische Boden zum Yerhäng-
niss, gallisch zu werden, bestimmt sei, war selbst in
Rom nnter der 3Ienge so allgemein verbreitet, dass
sogar die Regierung es nicht unter ihrer Würde hielt,
den crassen Aberglauben des Pöbels durch einen noch
crasseren zu bannen und zur Erfüllung des Schicksals-
spruchs einen gallischen Mann und eine gallische
Frau auf dem römischen Markt lebendig begraben zu
lassen-^). Ebenso forderte der Ausfall der cannensischen
Sahlacht gar vier Menschenopfer. Es wurden nämlich
damals zur Sühne des Götterzornes zu dem gallischen
Mann und der gallischen Frau noch ein Grieche und
eine Griechin lebendig begraben. Aber auch für
reifere Zeiten bis ins dritte nachchristliche Jahrhundert
hinein sind Beispiele bald ofiicieller bald verstohlener
1) Mommsen: „Eöm. Geschichte", 3. Buch, S. 561.
25
Menschenopfer zu verzeichnen. INTach einigen Gewährs-
männern bei Sueton brachte Octavian als Sieger von
Pernsia am Todestage des vergötterten Julius auf dem
diesem geweihten Altare dreihundert Ritter und Sena-
toren zum Opfer ^). Wenn auch der schlaue Octavian
sicherlich sich und nicht den Göttern damit eine Gunst
zu erweisen die Absicht hatte, so musste er doch auf
den für einen solchen Vorgang erforderlichen Yolks-
wahn rechnen können. Sextus Pompe.jus opfert Pferde
und Menschen dem Neptun-). Nero tödtet eine Menge
Adeliger, die er einer Verschwörung bezichtigte, mit
ihren Kindern zur Abwendung einer Kometengefahr '^).
Ebenso lässt er den geheimnissvollen Schlund des
delphischen Orakels schliessen, verdriesslich über die
Ungunst der Orakelsprüche, und versenkt zur Sühne
für Apollo Menschen in denselben -i). Der ältere Plinius
kennt zu seiner (des Vespasian) Zeit ein officiell an-
geordnetes Menschenopfer, das nach Vermuthung
Alexandre's dasselbe ist^), über welches Plutarch
1) Sueton, Caesar Oct. Augustus, XV. Dio Cassius 48, 15.
2) Dio Cassius 48, 48.
3) Tacitus, Ann., XV., 47; Sueton, Nero XXXVI.
*) Dio Cassius 63, 14.
5) Plinius, h. n. XXVIII, § 3. Alexandre, ./Jracula sihyl-
lina'\ II., S. 215. Alexandre's Schluss freilich aus den Worten
Plutarch's: oh thoWoIc, sTsaov I'{iirpoo0sv beruht auf falscher Ueber-
setzung der Worte, wie man aus dem ini Text Gesagten er-
sehen kanu.
26
(Fragen über römische Gebräuche) sicli folgencler-
maaseii Ternehmen lässt: „Warum beriefen die Römer,
als sie erfahren hatten, dass die sogenannten Bleto-
nesier, ein barbarisches Yolk, einen ]\Ienschen den
Göttern geopfert, die Anführer derselben zu sich, um
sie zu strafen, entliessen sie aber, da diese bewiesen,
dass sie herkömmlicher Weise gehandelt, mit der Wei-
sung, es in Zukunft nicht mehr zu thun, während
sie selbst wenige Jahre zuvor zwei Männer und zwei
Frauen, theils Griechen theils Gallier, auf dem so-
genannten Ochsenmarkte lebendig begraben hatten?"
Die Antwort möge der Leser selbst nachsehen. Vor
Allem aber forderte der bei den Heiden und auch in
Rom herrschende scheussliche Aberglaube, dass man
aus den Eiugeweiden geopferter Knaben die Zukunft
weissagen könne, von Zeit zu Zeit Kinder opfer. So
lesen wir bei Philostratus im Leben des Apollonius
von Tvana, dem Kaiser Domitian nachstellt, folgende
Worte: ..Denn er behauptet (Domitianj, sie seien
überwiesen, nach seiner Herrschaft zu trachten und
Du habest die Männer dazu angereizt und desshalb
gegen einen Knaben, glaube ich, das Messer ge-
braucht. Wie. sagte Apollonius, um durch einen
Eunuchen die Herrschaft zu stüi^zen? Xicht so,
antwortete Jener, lautet die Beschuldigung, son-
dern sie sagen. Du habest einen Knaben geojDfert,
um aus seinen jugendlichen Eingeweiden zu weis-
27
sagen"!). Aber aucli ein Kaiser verschmähte es nicht,
in dieser Weise über die Znkunft sich Raths zu er-
holen. Didius Julianns, der nach Ermordung des
Pertinax die Kaiserkrone sich erkauft hatte, suchte
den Willen der Götter aus den EingeAveiden geopferter
Kinder zu erschliessen -). Die „Weisheit Salomonis"
deren Autor schon die Tage des Caligula gesehen 3),
schildert daher nicht untreu die aus der falschen
Gotteserkenntniss , nämlich dem heidnischen Götzen-
dienste, sichergebenden praktischen Gräuel, wenn er vor-
bringt, dass die Heiden „kindesmörderische Weihen
oder verstohlene Mysterien oder wilde Gelage mit
absonderlichen Bräuchen" begehen -i). Wenn man auf
Grund dieser kurzen Uebersicht sich die Welt ver-
gegenwärtigt, welche die Christen verlästert, so
wird man es aufgeben, nach weiteren Ursachen der
1) Philostratus, „Vita Apollonii" 7. 11.
2) Dio Cassiiis 73, 16.
3) Diese von Graetz (Gesch. 3. Bd., 2. Aufl., S. i;95) ge-
gebene Zeitbestimmung ist in der Tliat aus dem Buche selbst
herauszulesen. Gewicht hat nur das Bedenken Zeller s wegen
der ausgiebigen Benutzung unseres Buches in den Briefen Pauli
(Zeller, „Die Philosophie der Griechen'-, S. 274); aber ich glaube,
dass die Ansicht über die letzte Eedaction der Briefe keine
so fest begründete ist, dass von ihr aus operirt werden kann.
Davon soll im Verlaufe dieser Arbeit noch die Rede sein.
^) „B. d, ^"eisheit", 14, 23: r^ -[äo Tsv.vo'fovoys xs^exag r^
v.p'jff'.a jJLU3XYjpia '7] s/j-iiavel; s^ o.)J,üiv '9'sa,u.ojv y.ojiJtoug aYO'/cs?.
28
Verlästerung zu suchen. Wie nahe lag der hellenistisch-
heidnischen TTelt. missverstandene Worte und Riten
der verhassten neuen Eeligion, die wegen der staat-
lichen Illegalität ihre heiligen Handlungen im A'erbor-
genen üben musste, in einem Sinne zu deuten, der
für Heiden gar nicht so Grauenhaftes hat. und wie
nahe wiederum lag der römischen Gesellschaft, die
freilich nüchterner war als die Yölker, von denen
die Anklagen ausgingen, solches von einer Religion,
deren wahren Geist sie nicht kannte, zu glauben!
Interessant nocJi für unsere Tage ist die Art, wie
bisweilen die A'ertheidigung geführt wird. Man glaubt
gesetzestreue Juden zu hören.
Tertullian, nachdem er die grauenhaften heidni-
schen Bräuche geschildert, bei denen Menschenblut bald
zur Besiegelung von Bündnissen, bald zur vermeint-
lichen Heilung von Krankheiten, bald zum scheussüchen
Mahle gebraucht wird , fährt fort -i) : „Eure (der Heiden)
Yerirruug möge erröthen vor uns Christen, die wir nicht
ij Tertullian. Ajjol. IX.: „Erubescat error fester Christia-
nis, qiii ne animaUum (j^iiidem sanguinem in epitlis esciilentis
liabemus; qiii propterea quocßie suff'ocatis et moi-ticinis ahstine-
inus, ne quo sanguine contaminemur vel intra ciscera sepulto.
Denique inter tentamenta Christianorum hotulos etiam cruore
distentos admovetis, certissimi scilieet illicitiim esse penes illos,
per quod exorhitare eos vultis. Forro quule est, ut quos san-
guinem pecoris horrere confiditis, humano inhiare credatis, nisi
forte suavioreiH eum expeHi^
29
einmal Thierblut zu den essbaren Gerichten zählen,
die Avir desshalb auch des Erstickten und des Crepirten
uns enthalten, damit wir nur auf keine "Weise mit
Blut befleckt würden, auch mit dem in den Ein-
geweiden sich bergenden. Wendet Ihr ja sogar unter
den Mitteln, die Christen als solche zu erkennen, mit
Blut gefüllte Würste an, überzeugt wie Ihr seid, dass
gerade das bei ihnen verboten ist, worin Ihr Aus-
schreitungen bei ihnen behauptet. Wie ist aber dieses
euer Verfahren zu bezeichnen, wenn ihr von 'Den-
jenigen glaubt, dass sie nach Menschenblut lechzen,
von deren Abscheu vor Thierblut Ihr überzeugt seid,
Ihr müsstet denn, die Ihr darin erfahren seid, jenes
für wohlschmeckender als dieses halten."
Sehr richtig ! Aber wann will der Eeind das Eich-
tige sehen, und wie wenig hat ein so durchschlagendes
Argument später sich bewährt, als man gegen die
Juden, von denen ja die Blutscheu, auf die Tertullian
sich beruft, herstammt, dieselben Beschuldigungen
vorbrachte ! Ja, derselbe Tertullian, der hier mit Kecht
seiner sittlichen Entrüstung einen so beredten Aus-
druck giebt, trägt, wenn auch unabsichtlich, eine Mit-
schuld an den späteren frevelhaften Beschuldigungen
gegen die Juden. Es kann nämlich keine Frage sein,
dass seine und Anderer in der Hitze des Kampfes
hingeworfenen Aeusserungen, ,,die Juden sind die
Urheber der uns belastenden Infamie", von deren
30
Unbegründetheit sie sicherlich selbst überzeugt Avaren,
die Kachegefühle des Mittelalters gegen die Juden
nach dieser Seite hin zur Entladung gebracht haben.
Wenn ich sage, dass es Tertullian und seinen Yor-
gängern nicht Sache der Ueberzeugung gewesen, in
den Juden die ITiheber der falschen Beschuldigungen
zu nennen , so geht das unzweideutig aus dem Um-
stände hervor, dass sie bei passender Gelegenheit
andere Urheber anzugeben wussten. Ueberzeugt von
dem Abscheu, den ein Mann wie Marc Aurel vor
Kaisern wie Xero und Domitian empfindet, schreibt
3Ielito in seinem Briefe an jenen i): .Ton allen Kaisern
waren es allein Xero und Domitian, die, von einigen
übelwollenden Leuten verleitet, unsere Religion in
schlechten Ruf zu bringen bestrebt waren. Von ihnen
ist denn auch die falsche Anklage gegen uns auf die
Fachwelt gekommen, und, wie die Gewohnheit des
Volkes es mit sich bringt, ist dann den lügenhaften
Ausstreuungen ohne vernünftige Ueberlegung Glau-
ben geschenkt worden."
1) Eusebius, h. e. IV,, c. XXVII.: „Mdvo: -a'/wtov ocva-e:-
Q^bnzc. :j7i6 T'.viuv ßa-y.dvtuv avO-poj-tuv, xöv v.xO-' •^jjxä': Iv o'.aßoX'^
'/,rj.\rxoi~ff,OL'. /vOYov TjO-s/^Tj-av Nspcov v.al Ao|JL£xiav6g äcp' wv v.al "rö
TTjg Goxo'favTtag üMÖ'[w z^yn^^-ziri r,zo\ touc xo'.o'jiouc, p'jvjva: oujjl-
ßsßYjv.s 'küoos." Um das später im Text Gesagte noch mehr zu
würdigen, verfolge man die Worte des Melito weiter, wo den
Kaisern aus Schonung nicht ccvo-.av, sondern aYvoiav zugeschrie-
ben wird.
31
Der Unbefangene ersieht aus dieser Stelle, wie
Avenig Melito in einem so bedeutsamen Briefe es sich
einfallen lässt, die Juden der Urheberschaft rücksichtlich
der diffamirenden Gerüchte zu bezichtigen. In der zu
Kempten unter der Oberleitung von Thalhofer erscheinen«
den Bibliothek der Kirchenväter in deutscher Sprache ')
ist durch eine leise Nuance die Bedeutung der Stelle
abgeschwächt, und die falschen Anklagen, von denen
im Texte die Kede ist, noch dazu durch die seltsame
Anmerkung verdunkelt: „Wahrscheinlich, dass die
Unglücksfälle, welche das Reich treffen, eine Strafe
der Götter seien, weil man deren Feinde, die Christen,
dulde". Als ob überhaupt ein Zweifel darüber wäre,
von Avelcher Sykophantie die Rede sei, und dass es
sich um die bekannten JJagiüa" handelt. Dass Melito,
dem eine gewisse diplomatische Feinheit in seinen
Wendungen nicht fehlt, an der Stelle, wo er Xero und
Domitian beschuldigt, vorsichtig hinzufügt „von einigen
übelwollenden Leuten überredet" — „einigen" lässt
der Uebersetzer weg — ist durchaus sachgemäss. Sie
waren doch immer Kaiser, und jeder Imperator sah
sich als Successor derselben an, der eine Beschuldigung
seiner Vorfahren ohne abschwächende Bemerkung im
Munde eines Unterthanen als Mangel an Ehrerbie-
tung gegen die kaiserliche Würde empfunden hätte.
ij Euselius. ..Kirchengcsch.'-. übers, von Dr. Stiglober, S. 253..
32
Was aber meine andere Behauptung betrifft, dass
erst das späte Mittelalter durch diese nicht einmal
ernst gemeinten Aeusserungen sich stacheln Hess, den
Juden das heimzuzahlen, was man von ihnen an-
gestiftet wähnte, so ist das streng erweislich. Schon
Wagenseil macht um 1693 die Bemerkung, dass die
alte Kirche es sich niemals hat einfallen lassen, auch
in den Zeiten, wo ihre Feindschaft gegen die Juden
in vollster Blüthe stand, diese eines solchen dem
Juden thum so widerstrebenden heidnischen Gräuels zu
beschuldigen 1). Man kannte doch am Ende die starken
"Worte, in denen der Pentateuch diese schwerste theo-
kratische Sünde, den ]\[olochsdienst, mit der schwersten
Strafe, der SteiniguDg, verpönt. Man hätte es noch als
Selbstironisirung empfunden, gerade die Eeligions-
gemeinschaft, die mindestens seit der Rückkehr aus
dem babylonischen Exil nicht blos allein unter den
Völkern dastand in Verehrung des einzigen bildlosen
Gottes, sondern auch allein in ihrer Scheu, den Altar
1) Ich citü'e hier aus einer Sclirift von Wagenseil, die selten
ist. Es ist eine disseHatio einstoUca ad Johannem Feclitium.
Sie enthält neben anderem nicht Hicrhergehörigen auch eine
„lyraeparaiio judicü sanguinis, in quo pcdam, levato relo dis-
ceptahünr (ardua, pol! et momentosa causa), num Judaei cum
Christianornm sanguine faciant musteria/' Gedruckt ist sie zu
Altdorf 1693. S. 111 heisst es: Sic ergo Judacis, ante secula
liaud adeo multa, qnod ah antiquiorilnis Christianis
neutiquam factum, rursus humanae caedes fuere ohjectae.
33
mit Menschenbliit zu beflecken, einer ihrem innersten
Wesen so widerstrebenden Sünde zu beschuldigen.
Trotz aller Feindschaft ging die Solidarität mit dem
Judenthum noch so weit, um nicht gleichsam ihre reli-
giöse Verfassungsurkunde, den Pentateuch, den man ja
selbst respectirte, zu verunglimpfen. Man fand bei den
Juden einen „Eifer um das Gesetz", den man nicht als
den rechten ansah, aber eine freche Umkehrung des Gre-
setzes in sein Gegentheil schrieb man ihnen nicht zu.
Wo die Kirche nach dieser Kichtung hin, nach
Seiten der Yerübung heidnischer Gräuel, beschuldigte,
da waren es immer Ketzer, die sich den Christen-
namen beilegten, wie bald Karpokratianer, bald Mon-
tanisten, bald Quintillianer, Priscillianer, Pepuzianer,
denen sie so etwas nachsagte. Die Juden dagegen
berührte man in dieser Beziehung Jahrhunderte lang
mit keinem Hauch. Wahrscheinlich ist auch dieses
Schweigen der alten Kirche, das ja einem Yollen Zeug-
niss für die Juden gleichkommt, der Grund gewesen,
warum die Päpste die Blutbeschuldigung gegen die
Juden wiederholentlich verboten habend). Erst im
1) Eusebius, li. e. IV. 12, beschuldigt ausdrücklich die
Karpokratianer, dass sie viele Gläubige verführt, die Ungläubigen
aber durch ihr schandbares Betragen zu einer schlechten Meinung
über die Christen veranlasst hätten. Sie seien es gewesen,
durch -welche bei den damaligen Heiden die gottlose und ab-
geschmackte Meinung sich verbreitet hätte, als hätten die
34
späteren Mttelalter kam man auf folgendes System
von Judenverfolgung. Man schlug die alten christ-
lichen Schriften nach, und wenn sich in denselben
irgend ein feindseliger Act eines oder vieler Juden
gegen etwas das Christenthum Betreffende berichtet
fand, so Hess man, ohne auch nur Kritik zu üben,
ob die Xachricht einen Grund habe, ganz programm-
mässig die späteren Juden dasselbe leiden. So hat
z. B. der gelbe den Juden an's Kleid geheftete Ring
als Veranlassung eine K"achricht aus Mcephorus Cal-
listus' Kirchengeschichte, dass die Juden in den Tagen
des Cyrill in Alexandrien ein solches Abzeichen ver-
abredet hätten, um die Christen anzugreifen. So Hess
man sie jeden N'ebenumstaud, der bei der Passion
Jesu, sei es nach einem canonischen, sei es nach
einem apokryphen Evangelium erzählt wurde, an ihrer
Person abbüssen. Dass z. B. um den Rock Jesu von
den Soldaten geloost worden sein soll, erzeugte eine
Christen unerlaubten (ödipodischen) Umgang und genössen ver-
abscheuungs würdige (thyesteische) Speisen. Auch diese Eusebia-
nische Stelle beweist zur Genüge die Nichtbetheiligung der
Juden an der Anscbwärzung. Epiphanias schwankt, welchen
Ketzern er die Gräuel zuschreiben solle, auf diö Juden ist er
natürlich noch nicht verfallen. Die Verbote der Päpste sind bekannt.
Auf diese Verbote der Päpste, den Juden dergleichen Schuld
zu geben, beruft sich sowohl Kaiser Friedrich um 1470, als
auch Kaiser Ferdinand III. 1638. Die Edicte beider Kaiser zum
Schutze der Juden sind bei Wagenseil /. 7. S. 101 und S. 103
abgedruckt.
35
eigenartige Quälerei der Juden, nämlich von ihnen
Spielwürfel zu erpressen. Ja, eine besondere Art
spasshaften Hängens wurde gleichfalls, einer sogenann-
ten Quelle zu Liebe, gegen sie ersonnen i).
Einem solchen Zeitalter genügte natürlich die
blosse jN'otiz in der älteren Literatur, dass die Heiden
bei ihren Yerleumdungen der Christen von den Juden
aufgestachelt waren, um es sich als gutes Werk an-
zurechnen, die Blutbeschuldigung, die einst den Christen
schwere Tage gemacht, auf die Juden zu wälzen. „Und
es fehlte, wie es bei grossen Lügen zu geschehen
pflegt, nicht an Zeugen" sagt Wagenseil, ein aus
christlicher Frömmigkeit das Judenthum bitter be-
kämpfender, aber durch und durch ehrlicher und ge-
ij Ueber den gelben runden Kleiderfetzen sagt Wagenseil
l. l S. 113: „Apiid Germanos pro signo et olim fuit et alicubi
etiam nuS^1693) est annulus luteus pallio affixus, de cujus
rei instituto foveo qiioque propriam opinionem, suggessisse ni-
mirum hanc notam magistratui Christano aliquem, qui ex Ni-
cephori Callisti lib. 13 liist. Ecclesiast. c. 14 . . . sciverat, Ju-
daeos in seditione quam regente Alexandrinam ecdesiam S. Gy-
rillo adversus Christianos ibi concitarunt, comnmni consilio
€oacto de signo et tessera inter se convenisse, ut unusquisque
videlicet annulum e cortice surculi pälmae gestaret et noctu
Christianos aggrederetur." Ebendaselbst sind die Notizen: „de
more extorquendi tesseras lusorias tres a Judaeis, cui rnilitum
in passione Domini circa tunicam ejus inconsutilem sortitio,
nisi quid me decipit, occasionem praebuit" Ebenso „de more
suspendendi Judaeos in trahe patihuli producta a pedihus" etc.
3*
36
lehrter Mann, dessen Talmudkenntniss vielleicht noch
die des Buxtorf übertrifft.
Doch kehren wir von diesem Gange in spätere
Jahrhunderte zurück zu der Zeit, die wir behandeln,
zu den. Zeiten des Trajan und seiner Xachfolger, dem
Hadrian und den Antoninen. Damals in der ]N"oth, in
welcher die christliche Welt sich befand, von der Be-
hörde geächtet, von der Stimme des Yolkes gebrand-
markt, war es kein schlechtes Strategem, den römisch-
griechischen Heidenzorn auch dadurch zu entwaffnen,
dass man die Juden, zur Zeit Trajans und Hadrians
offene Kriegsfeinde der Römer, für Dinge verantwort-
lich machte, von denen sie nicht einmal Kunde
hatten. Dass man mit dieser "Wendung eine reiche
Saat von Thränen und schlimmen Thaten für die Zu-
kunft ausstreute, konnte man noch nicht ahnen. Zeigen
wir jetzt, wie consequent auch sonst das Verfahren
beobachtet wurde, die heidnischen Obrigkeiten dadurcJi
versöhnlicher zu stimmen, dass man die Vorgänger in
einem Lichte der Milde erglänzen liess, das kein
eigenes, sondern ein von zielbewusster Apologetik
ihnen verliehenes war.
111. Das officielle Rom in der christlichen Lite-
ratur des zweiten Jahrhunderts.
Zu den Mitteln, der namentlich unter Marc Aurel
unerträglich gewordenen Lage der Christen abzuhelfen,
gehört auch ein eigenthümliches, das Schmieden von
Kescripten und Briefen verstorbener Kaiser, welche
Duldung der Christen und Bestrafung ihrer Ankläger ver-
fügten i). Das bekannte, nur in der heidnischen Quelle
uns aufbewahrte echte Schreiben des Trajan an PJinius,
das bei aller Kühe im Tone dennoch die Christen
fast rechtlos machte, liess sich freilich nicht wegschaffen,
wurde aber in der Kegel so citirt und gedeutet, als
sei es nicht ein Aechtuugs-, sondern ein Toleranz-
1) Eine der belehrendsten Arbeiten in dieser Eichtung ist
die Abhandlung von Franz Oveibeck: „lieber die Gesetze der
römischen Kaiser von Trajan bis Marc Aurel gegen die Christen
und ihre Behandlung bei den Kirchenschriftstellern". Abgedruckt
in seinen Studien zur Geschichte der alten Kirche, Heft I,
Schloss-Chemnitz lb75.
B8
Edict 1). Dazu fügte man ein Kescript Hadrian's au Fun-
danus , Statthalter in Kleinasien , das sich nur in
der griechischen Uebersetzung des Eusebius und
in der Rückübersetzung in's Lateinische durch Rufin
erhalten hat 2). Dieses Edict missversteht den Sinn
der römischen Gesetze gegen die Christen in einer
Weise und passt so wenig in die damalige Lage wie
zu der feindseligen Stimmung des Hadrian gegen das
Christenthum^), dass die berufensten Kritiker unserer
Tage es als unecht und zur Zeit des Marc Aurel
geschmiedet erkannt haben. Xoch zahh^eicher sind die
dem Antoninus Pius untergeschobenen Rescripte und
Briefe, von denen die Römische Gesetzsammlung nichts
weiss und von denen ein Theil auch von orthodoxer
Seite als gefälscht preisgegeben wird*). Antoninus war
1) Vgl. Overbecli 7. 1. S. 119 ff.
2) Aufgegeben ist heute nicht blos die noch von Gieseler
und Neander vertretene Meinung, dass die aus dem Griechischen
des Eusebius von Rufin gefertigte Uebersetzung das lateinische
Original sei, sondern auch das Edict selbst. Keim, Lipsius,
Hausrath, Overbeck, Hahn, Herzog sind einig in der Verwerfung.
Ebenso der Franzose Aube. Vgl. Keim: ,,Eom und das Christen-
thum", S. 554, Anmerkung des Herausgebers (Ziegler).
3) Der bekannte Brief des Hadrian bei Flav. Vopiscus in
vita Saturnini c. 8 zeigt die Gesinnung des Kaisers.
^) Das Eescript TwOÖ; xb y.o'.^/bv tt,; 'Aziccc, wird auch von
Gieseler und Kurtz (siehe dessen Kirchengeschichte I., 2. Aufl.,
S. 140) nicht gehalten. Was über die übrigen zu denken ist, lehrt
Keim Z. Z. S. 567 ff.
39
freilich ein Kaiser, der den Namen Pins mit Recht
verdient, wohl der beste Kaiser, der anf dem römi-
schen Cäsarenthron gesessen hat, aber sein Verfahren
gegen die Christen war so weit entfernt, zn ihren
Gunsten von der Linie abzuweichen, welche Trajan
vorgezeichnet, dass vielmehr überall eine Steigerung
der Leiden derselben wahrzunehmen war. Ja, selbst
dem Kaiser Marc Aurel , dessen Grundsatz : „Auf alten
Männern und Sitten beruht Rom,'^ und dessen
Maxime, „ernst und gross zu denken als Römer und
als Mann" der neuen Religion die schlimmsten Tage
bereitet hat, wurde freundliche Gesinnung angedichtet.
Es ist kaum fraglich, dass Marc Aurel ein Edict für
das Reich erlassen hat, welches durch die Vortheile,
die es dem Denuncianten eines Christen bot, nämlich
Eintritt in den Besitz des als Christen Bezeichneten
und Erkannten, die Zahl der Verfolgungen nothwendig
erhöhen musste. Wenn Melito in seiner Apologie an
den Kaiser thut, als glaube er nicht an die Aechtheit
eines Edicts, das selbst für Barbaren zu hart wäre,
so ist, wie schon Keim richtig gesehen, das nur eine
feine Wendung des Apologeten, die nicht missver-
standen werden kanni). Dennoch hat man sich nicht
1) Melito's Apologie ist uns zam Tlieile A^on Eusebius
li. e. 4. 26 aufbewahrt worden und ist durch Geist und Gewandt-
heit in der That geeignet, Eindruck zu machen. Aber gerade
aus ihm ist sowohl der Erlass eines feindseligen Edicts wie ein
40
gescheut — Xoth kennt kein Gebot — selbst Marc
Aurel einen Brief an den römischen Senat zu Gunsten
der Christen anzudichten. Der in dem Brief erzählte
Hergang ist eine directe Umkehrung des Sachverhalts,
den wir anderweitig kennen. Die Ueberzeugung Marc
Aurel's, dass sein Gebet an Jupiter ihm gegen die
Quaden, denen es gelungen war, die Römer einzu-
schliessen, zum Siege verholfen habe, wird in dem
Briefe gleichsam christianisirt, als habe der Kaiser
nach Rom berichtet, er verdanke dem Gebete der
Christen den Sieg i). Die strengen Maassregeln, die der
Kaiser drei Jahre nach dem Quadenkriege (177) gegen
die Christen traf und die bis zur Entziehung der
Bürgerrechte und bis zur Yerhängung von Folter und
Scheiterhaufen gingen, dementiren zur Genüge den
freundlichen Inhalt des Briefes. Auf alle diese vor-
geblichen Schutzedicte wirft übrigens, wie Overbeck
Theil des gefährhchen Inhalts desselben klar zu ersehen. Dass
der Zweifel, ob das Vorgehen gegen die Christen wirklich auf
kaiserliche Verordnung geschieht, nur eine geschickte Eedewen-
dung des Melito ist, zeigt Keim l. l. S, 605.
1) Es ist durch Münzen erwiesen, ..dass die heidnische Auf-
fassung jenes Vorfalles im Quadenkriege die officielle gewesen,
mithin an den Erlass eines Briefes wie des angeführten durch
Mai'c Aurel nicht zu denken ist"' (Overbeck Z. I. S. 125). Keim
7. ?. 625. Gieseler, ,.KircheDgeschichte" L, 2. Aufl., S. 134. Die
heidnische Auffassung: Dio Cassius 71, 8; die christliche: Ter-
tullian, A2wl. 5, Eusebius h. e. 5, 5.
41
gezeigt, noch ein eigenthüniliclies Licht die Xachricht,
welche sich zufällig erhalten hat, von einer Sammlung
der kaiserlichen Edicte gegen die Christen, welche
der römische Eechtsl ehrer Ulpian unter Caracalla
(211—217) dem siebenten Buche seines Werkes ,,Be
officio proconsulis" einverleibt hatte. Diese gegen die
Christen feindseligen Edicte haben sich nicht erhalten,
aber die Notiz reicht doch aus, um den Verdacht
gegen die Schutzedicte, aus denen mehr christliche Milde
als römische Härte sich ergiebt, noch zu verstärken i).
Dasselbe Verfahren, das wir hier beobachten, wird
auch in der Reconstruction der Geschichte des ersten
Jahrhunderts consequent eingeschlagen. TertuUian er-
zählt bekanntlich, dass Tiberius, zu dessen Zeit, wie
er sagt, der Christenname in die Welt eintrat, nach
Erwägung des über die Vorgänge im palästinischen
Syrien an ihn ergangenen Berichtes, einen Antrag an
den Senat zu Gunsten der christlichen Sache (nämlich
Christus unter die römischen Götter aufzunehmen) ge-
stellt, die Genehmigung desselben aber nicht erlangt
habe. Er fügt sogar hinzu: „Der Kaiser blieb bei
seiner Meinung und drohte den Anklägern der Christen
1) Overbeck, l. l. S. 108, Lact, inst V., 11 extr.: Domitius
de officio proconsulis lihro septimo rescripta lyrincipum nefaria
coUegit ut doceret, quibns poenis affici oporteret eos, qui se
cultores dei confiterentur.
42
mit Gefahren-' i). lieber die Sagenhaftigkeit dieser Xacli-
rieht, welche uns glauben machen will, dass Tiberius
und Pilatus nicht die Henker, sondern die Anhänger
Jesu gewesen seien, braucht nichts weiter gesagt zu
werden, ob die ISachricht nun aus den allgemein
als gefälscht anerkannten Pilatusacten, falls dieselben
damals schon vorhanden gewesen, oder anderswoher
stammt. Eine ähnliche Tendenz, die Ungunst der
Kaiser nicht zu betonen, liegt der Yerschweigung des
Eusebius zu Grunde, dass die feindliche Yerfügiing
des Claudius, von der uns Sueton berichtet, nicht
sowolü gegen die Juden, als vielmehr gegen die christ-
liche Bewegung unter den Juden sich richtete. Ich
kann nicht finden, dass Keim's Erklärung der be-
kannten und viel ventilirten Worte des Sueton-), ,, Clau-
dius habe die unter Anstiftung Chresti beharrlich
tumultuirenden Juden aus Kom vertriebenes), irgendwie
zutreffend ist. Er spricht von leidenschaftlichen fort-
gesetzten Keibungen zwischen Christen und Juden in
Kom, ohne eine andere Quelle als seine Voraussetzung
dafür zu haben, und erklärt die Polizeimaassregel des
Claudius mit folgenden Worten: „]N'ur entdeckte er
rein jüdische Streitigkeiten, und so trieb er die Juden
1) TertulUan, Apol. 5.
2) Sueton, Claudius 25.
3) Keim ?. 7. S. 173.
43
aus oder suchte vielmehr nur sie auszutreiben und
verbot ihre Zusammenkünfte. Durch den Judentitel
bis dahin geschützt, mussten die Christen diesmal
unter dem Juden titel mittragen und mitleiden, so
zwar, dass der heidenchristliche Theil der Gemeinde
natürlich frei ausging. Für das Christenthum war es
im Ganzen kein schwerer Schlag, weshalb auch die
Väter, z. B. Eusebius, nur von einer Verbannung der
Juden wissen" i). Für einen Mann wie Keim, der sonst
eine so übertrieben ungünstige Meinung von Eusebius
hat, ist diese Fructificirung einer Verschweigung des
Eusebius, deren Grund so durchsichtig ist, geradezu
erstaunlich. Die richtige Erklärung der Sueton'schen
Stelle ist längst gefunden. Ich gebe sie mit den Worten
von Keuss: „Die Judaei impulsore Chresto assidue tu-
muUuantes (Sueton, Claudius 25) sind nicht Juden-
christen, welche mit anderen Juden Streit gehabt, und
ihre Vertreibung aus Kom ist somit nicht eine Con-
cession an letztere; wenn dieselbe nicht alle (Act. 18, 2),
sondern nur solche traf, bei denen ein Chrestus im-
ptdsor im Spiele war, so heisst dies zu Deutsch, dass
die römische Polizei von messianischer Predigt anfing
Notiz zu nehmen; das tumidtuari ist Bureaustil, der
Chrestus ein Missverständniss der annoch ganz in-
difi'erenten gebildeten Societät, also des Geschichts-
1) Keim, l. l. S. 601, vgl. auch S. 572.
44
Schreibers" -^). Die Art, wie Eusebius'-) und vor ihm
schon die Apostelgeschichte 3) die Sache mittheilen, ist
nur ein Beweis mehr, dass man im zweiten und den
darauffolgenden Jahrhunderten ohne Noth keine Feind-
seligkeit der älteren Kaiser gegen das entstehende
Christenthum zugeben wollte, und dass man die Sache
lieber so wendete, dass sie allein gegen das Judenthum
gemünzt war.
Freilich, das Verhalten Xero's war weder zu ver-
schweigen, noch auch zu beschönigen möglich. Ihm
hat sowohl die Apocalypse als auch Tacitus ein Denk-
mal der Schande gesetzt. Aber darum sind die Mil-
derungsversuche, auf die wir auch hier stossen, um
so charakteristischer. Melito entlastet den ^ero, indem
er ihn, blos durch Yerläumder verhetzt, gegen die
Christen wüthen lässt^). Eusebius erinnert an die
anfängliche Milde des Nero, der es entsprochen
habe, die Yertheidigung des Paulus gütig auf-
zunehmen. Erst später, als er auf der Bahn des
Frevels fortgeschritten, seien mit den Uebrigen
auch die Apostel Opfer seiner G-rausamkeit ge-
ij Eeuss : ,:Die Geschichte der heiligen Schriften neuen Te-
staments", vierte Auflage, S. 92.
2) Eusebius, h. e. II., 18.
3) Act. 18, 2.
^) Vgl. die oben angeführte Apologie des Melito bei Eu-
sebius IV., 26.
45
worden f). Spätere gehen sogar so weit, Nero als
Christenfreiincl hinzustellen, der zur Eache für Christus
den Pilatus hingerichtet, diese That selbst aber mit
dem Tode gebüsst hätte, da die Juden die Hinrichtung
des Pilatus nicht ungerächt gelassen-). Ich meine,
dass so werthlos auch sonst solche Geschichtchen sind,
sie doch gerade ganz besonders sich eignen, über den
"Werth gewisser Anschuldigungen uns zu belehren.
Weniger auffallend sind die freundlichen Sagen über
Yespasian, da wir von diesem Kaiser wenigstens keinen
feindlichen Act gegen Christen wissen. Umgekehrt
ist sicherlich unwahr, was Sulpicius Severus berichtet,
als habe Titus mit dem Judenthum zugleich das
Christenthum treffen wollen 3), da eine solche Absicht
der damaligen Stellung des Christenthums noch nicht
entsprach. Ist es doch noch nicht einmal ausgemacht,
dass die sogenannte Domitianische Verfolgung eine
1) Eusebins, h. e. IL, 22, Schluss.
2) Jq]i^ j^fif:^ Iyi Excerpta Vdlesii, p. 808. Chron. Pasch.
L, 459.
3) Sulincius Severus, Chron. IT., 30, 6: Quippe has reli-
giones, licet contrarias sibi, iisdem tarnen auctoribus profectas;
Christianos ex Judaeis exstitisse, radice suhlata stirpem facile
perituram. Wenn wir diese "Worte als für Titus' Zeit anachro-
nistisch bezeichnen, so folgt daraus noch nicht, dass nicht Ta-
citus Aehnliches dem Kriegsrath in den Mund gelegt haben
könnte, Avie Bernays, „Sulpicius Severus" S. 57, will. Tacitus
ist schon oiientirt genug.
46
christliche gewesen. Der Wortlaut der heidnischen
Quelle spricht für eine Terfolgiing jüdischer Pro-
paganda in der heidnischen Welt, in welche selbst-
verständlich die christliche mit einbegriffen war^).
Indess. auch diesen Kaiser entlastet Tertullian mit den
Worten: ,,Auch Domitian, an Grausamkeit ein halber
^ero, griff es an; aber weil er doch wenigstens noch
ein Mensch war, so unterdrückte er leicht das Beginnen,
indem er sogar die zurückberief, die er verbannt
hatte" -).
Ich glaube nicht, dass es einen moralischen Ei-
goristen giebt, der die bedrängte Kirche dafür wird
tadeln wollen, dass sie in einem so ungleichen Kampfe
gegen heidnische Uebermacht sich dadurch Erleich-
terung zu verschaffen suchte, dass sie eine Tradition
1) Dio Cassius 67, 14: h-t^i'/ß-r, os öi/j-'^olv (nämlicli dem
ClemeDS und seiner Frau Donütilla) £YxXrj|j.a äd-tö-Ytioc, b's" Tjg
v.ai riWoi zc, ICC tcöv 'loooatcov sO-r^ l^oyiXXovxe«; 7zo)^Xol xaTEOLv.djiWj-
cav. Ygl. Graetz. „GescMchte", lY., 2. Aufl., S. 118 fP. und
dazu daselbst Note 12: ..Der Consul-Proselyt Flavius Clemens'*.
Man hat aus dem Umstände, dass Yespasian und Titus nach
Besiegung der Juden nicht das Y^ort Juda'icus in ihre Titel
aufnahmen, auf Yerachtung schliessen wollen. Aber man vergisst,
dass dieses YTort. da Hinneigung zu jüdischen Sitten in Eom
als eine Gefahr für die Staatsrehgion gefüi'chtet wurde, einen
bedenklichen Sinn involviren konnte, den man möglichst vermied.
2) Tertullian, Apol. 5: Tentaverat et Domitianus, portio
Neronis de crudelitate, sed quia et homo facile coeptiim re-
pressit, restitiitis etiam quos relegaverat.
47
behördlicher römischer Milde zu schaffen suchte, die
dem thatsächlichen Verhalten nicht entsprach. Aber
da man die Römer nicht eigentlich entlasten konnte,
ohne einen Sündenbock zu finden, auf dessen Haupt
man die Schuld abladen konnte, so traf diese Ent-
lastung mit noch heute drückender Wucht das Haupt
der Juden.
IV. Worin eigentlich die geschichtliche Sünde
der Juden bestand.
Mit einer Modificatioii einer früheren Behauptung
muss ich hier beginnen. Wenn ich im Früheren i) ge-
meint habe, dass das von den Synhech-isten in Pa-
lästina um 116 erlassene Verbot, die Jugend im Grrie-
chischen zu unterrichten, nicht mehr durchgreifen
konnte, so stützte ich mich dabei auf den Umstand,
dass man trotz des Verbotes es noch für nöthig erachtet
hatte, dem namentlich durch Zusätze veränderten Septua-
gintaltext die Uebersetzung des Aquila officiell ent-
gegenzustellen'-). So weit war die Bemerkung richtig.
1) ., Blicke in die Eeligionsgeschichte'-, L, S. 12.
2) Herr Professor Strack spricht in der Eecension meiner
Schrift: „Theologische Literaturzeitung'", 1881, Nr. 8 seine Ver-
-^vundeiTing darüber aus, dass ich die positive und negative Ver-
anstaltung (das Verbot des Griechischen und die Anordnung der
Aquila' sehen Uebersetzung) denselben Männern zuschreibe. Allein
die Sache ist so gut wie ausdrücklich bezeugt. Um 116 konnte
kein Verbot des Griechischen vom Synediium ausgehen, ohne
49
Aber die Verstimmung gegen alles Griechische, für
welche das Verbot ja nur ein Symptom ist, hat denn
doch die nachhaltigsten Folgen.
Von der Stunde ab, wo das Judenthum imChristen-
thum nicht mehr eine innerjüdische Hoffnung, sondern
einen Gegensatz sah, der namentlich in der Frage Er-
neuerung oder Xichterneuerung des Tempels und des
Tempelcultus die Schärfe eines zugleich dogmatischen
und zugleich nationalen annahm, hat die officielle Ver-
tretung des Judenthums seinen passiven Widerstand
zunächst dahin organisirt, dass man den Verkehr in
Literatur und Disput mit den jetzt „Minim" Genannten —
warum sie so genannt wurden, soll noch erörtert werden
— möglichst beschränkte. Die minäische Exegese flösste
Furcht ein, weil man ja in mancher Beziehung auf
demselben exegetischen Standpunkte sich befand i).
Die philologische und historische Unrichtigkeit
derselben war es ja nicht, was, wie in unseren Tagen,
R. Elieser und R. Josua, welche dessen maassgebende Koryphäen
wareil. Da nun dieselben Männer zugleich Aquila's Bibelüber-
setzung anordnen, ihr Jünger Akiba, dem an anderer Stelle ein
Zusammenhang mit der Uebersetzung zugeschrieben wird, wenn
auch erst später besonders hervorragend, doch schon auch in der
Zeit dieser Männer eine Bedeutung hatte, so ist über den Kreis,
aas dem beide Maassnahmen geflossen, nicht der geringste Zweifel.
1) Bekannt sind die AVendungen auf nicht gerade sehr be-
denkliche Fragen mancher Minäer: nnK nö '1^7: l^pz n'rn m DK
4
50
abstiess; was abstiess, war allein der Yersiich, ver-
mittelst einer solchen Exegese das jüdische Gesetz
aufzulösen, später auch die dogmatischen Yorstellungen
des Judenthums umzugestalten. Darum discutirte man
nicht gerne. Man schützte sich besser, indem man
das Gesetz wie einen Wall gegen die auflösende Alle-
gorie aufthürmte. Es ist sicher, dass das Judenthum
diesem Sichzurückziehen auf sich selbst und sein
Gesetz, dem es an passivem Fanatismus nicht fehlte i),
1) Weil man die Juden so wenig vorsteht, darum sei über
das was hier gemeint ist, ein kurzes Wort verstattet. Das Ju-
denthum, wie es seit dem zweiten christlichen Jahrhundert sich
gestaltet hat, also gerade das rabbinische Judenthum, ist in
einer Beziehung absolut nicht fanatisch. Seit es im
zweiten Jahrhundert den grossen Schmerz erlebt hat, dass die
aus seinem Schoosse hervorgegangene Religion sich ihm feindlich
gegenüberstellte, hat es jede propagandistische Thätigkeit, die es
einst geübt und wodurch es dem Christenthum den Weg bereitet
hat, principiell aufgegeben (damals entstand der Satz: D'"i3 D''tt?p
nnsCD '^K-itr'b) und sich nur die Aufgabe vindicirt, für sich
selbst die angestammte Religion zu bewahren und nach seiner
Auffassung quellenmässig fortzubilden. Nun ist activer Fana-
tismus nur bei propagandistischer Tendenz denkbar. Dagegen
verstehe ich unter passivem Fanatismus die aus Furcht vor
auflösenden Einflüssen entstandenen Yerhütungsmaassregeln. So
sind die geringschätzigen Aeusserungen und trennenden Be-
stimmungen über Minäer zu verstehen, die damals gethan und
getroffen wurden (Siehe ..Blicke", I., S. 30 ff.). Man wollte damit
die kampflustige minäische Propaganda von sich fern halten.
Aggressives Vorgehen gegen nicht zu ihm Gehörige wird man
dem rabbinischen Judenthum nicht nachweisen können.
51
seine Erhaltung zu danken hat. Aber es ist auch
sicher, dass ihm durch diese Abwendung von Allem,
was in jenen Tagen anderswo gesagt und geschrieben
wurde, eine Gefahr erwuchs, die meines Wissens noch
nirgends genügend urgirt worden.
Wie Philo und Josephus für die Juden vom
zweiten Jahrhundert ab bis nach Ende des Mittelalters
(Asariah de Rossi) entweder gar nicht oder nur in
Ahnungen (Josippon) existirte, so konnte Jeder von
da ab Alles den Juden aufbürden, wenn er es nur
auf Griechisch oder Lateinisch sagte, ohne eine Wi-
derlegung fürchten zu müssen. Josephus war der
letzte Jude auf lange Zeit, der den hellenistischen und
römischen Lügen über die Juden heimleuchtete, nachher
konnte man ihrem Rücken Allerlei aufladen, ohne
dass sie selbst auch nur darum wussten. Dass es nicht
immer der Hass war, der ihnen auflud, obwohl der
Hass gerade aus den vielen unwidersprochen geblie-
beneu Beschuldigungen neue Nahrung zog, dass viel-
mehr die Kirche in dem Momente, wo sie, vom Ju-
denthnm losgetrennt, den schweren Stand einer religio
illicita hatte, aus Nothwehr die GeschicW:serzählung
der ersten Entstehung des Christenthums für römisch-
heidnische Ohren gefälliger machen musste und auf
den Schaden der Juden keine Rücksicht nehmen
konnte, haben wir schon im Früheren betont.
Aber Schuld der Juden war es doch, dass man
4*
52
ihnen z. B. den Josephiis verstümmeln konnte an den
Stellen, wo der Sachverhalt beim Tode Jesu zu ihren
Gunsten hätte zeugen können, dass man ebenso ohne
ihren Widerspruch die g-ravirendsten Dinge ihnen
nachsagen konnte, weil sie um Alles, Avas nicht die
Auslegung und Wahrung ihres Gesetzes betraf, sich
niclit sonderlich kümmerten.
Dass Josephus mehr enthalten hat, als wir heute
in ihm lesen, ist allgemeine IJeberzeugung. Renan
sagti): .Josephus ist durch christliche Abschreiber
auf uns gekommen, welche Alles unterdrückten, was
ihrem Glauben missliebig war; sehr wahrscheinlich
hat er ausführlicher über Jesus und die Christen ge-
sprochen, als es in der Ausgabe geschieht, die zu
uns gelangt ist'-. In ähnlichem Sinne lesen wir bei
Ewald-): .,Denn Josephus' Werke, schon von vorne
an nicht für Judäer bestimmt, sondern weit mehr für
Heiden geschrieben, kamen in Folge der weiteren Ge-
schicke des Volkes bald allein in heidnische und noch
mehr in christliche Hände, und wurden den Christen
früh zu einer Hauptquelle ihrer Geschichtserkenntniss :
es ist nicht Wunder, dass ein hervorragender Christ
eine darin enthaltene Stelle über Christus frühzeitig
so änderte, dass das Werk für Christen lesbar wurde
1) Renan, ..Die Apostel", deutsche Ausgabe, S. 279.
2) Ewald, „Geschichte Israels", V., S. 181.
53
und diese Aeiideruiig dann in alle christliche Hand-
schriften — andere haben sich nicht erhalten - — über-
ging''. Dass die Stelle über Christus bei Josephus ur-
sprünglich anders gelautet und in der That, wie Ewald
sagt, nicht gerade Unverfängliches wird enthalten
haben, darin hat er richtig gesehen. Aber wer wird
glauben, dass, wenn die Schuld der Juden am Tode
Jesu durch Josephus' Bericht eine Bestätigung erhalten
hätte, dieser Bericht uns vorenthalten worden wäre?
Die Art wenigstens, wie Josephus mit Entrüstung von
dem am Bruder Jesu begangenen Justizmorde erzählt,
lässt auf keine Verstimmung der pharisäischen Partei,
also des eigentlichen Kerns der ]N"ation, gegen die
christliche Bewegung schliessen i). Leider sind wir in
Bezug auf die Pharisäer gleichfalls auf keinen un-
verkürzt gebliebenen Text des Josephus angewiesen.
Er selbst nämlich bezeichnet als die Hauptstelle über
die drei Kichtungen unter den Juden seine Ausführungen
im „Jüdischen Kriege" -). Er fasse sich, meint er in den
„Alterthümern", hier kurz, da er in seinem früheren
"Werke bereits das Genügende beigebracht 3). Aber das
trifft höchstens auf seine Behandlung der Essäer zu, die
1) Josephus, ,.Alterthümer", XX., 9 Anfang.
2) „BeUnm Judaicum", II., 8. 2 ff.
3j „Antiquit.", XYIIL 12: y.r/X x'x^yö.-iz: [ihzo: irspt, aatcbv
OJJ.(o5 y.rjX VÖV rj.hxÖiV ZT, bj.['(U}'/.
54
Pharisäer, also gerade die Richtung, zu der er sich
selbst bekennt, sind an beiden Stellen mit wenigen
Zeilen abgethan. und zwar so, dass heute die „Alter-
thümer^ noch etwas mehr enthalten als die einst Haupt-
stelle gewesene im „Jüdischen Kriege'-. Die Lücke
ist längst bemerkt worden^) und sie erklärt sich ein-
fach folgendermaassen : Da die Pharisäer zu den Zeiten,
wo die XichtbefoJgung des mosaischen Gesetzes schon
christliches Princip geworden war, als die eigentlichen
principiellen Gegner des Christenthums angesehen
wurden, so glaubte man in der Joseph'schen Charak-
teristik des Pharisäerthums nicht mehr die Wahrheit
zu sehen und Hess nur stehen, was neben ihrem von
den Evangelien entworfenen Bilde sich sehen lassen
konnte.
Eine der seltsamsten und erstaunlichsten Folgen,
welche die ünbekümmertheit der Talmudisten im
zweiten Jahrhundert um Alles, was sich nicht auf
die Erforschung der Schrift und des Gesetzes bezieht,
aufweist, ist ihre ünorientirtheit über die Vorgänge
zur Zeit Jesu, von der andeutungsweise im Früheren
die Rede war, und die wir hier noch etwas näher
beleuchten wollen.
Man kann nachweisen, dass die wenigen Notizen.
1) Gieseler, deutsche Uebersetzung des jJüdischeD Krieges"
zur Stelle.
oo
auf die wir bei ihnen stossen, nur eine Spiegelang
christlicher und heidnischer Legenden sind und dass
sie nach den Eindrücken des zweiten Jahrhunderts, wie
sie sich ihnen aufdrängen, und nicht nach geschicht-
licher Tradition zeichnen. Es ist ein Verdienst De-
renbourg'si), dass er die ursprüngliche Nichtidentität
des Ben-Sat'da mit Jesus erkannt hat. Die Quellen,
denen, gegenüber der babylonische Talmud in solchen
Fragen nicht zählt, sind Tosephta und jerusalemischer
Talmud. Beide erörtern theoretisch die von dem
sonstigen Usus abweichende strafgesetzliche Bestim-
mung über den „Mesith'' (Yerleiter zum Abfall von
der Religion) und sagen 2): „So verfuhren sie mit
Ben-Sat'da in Lydda. Man stellte ihm, von ihm un-
bemerkt, rechtskundige Zeugen, worauf er vor das
Tribunal geführt und gesteinigt wurde''. Man höre!
^^ichts deutet auf Jesus hin, der, wo er immer im
Talmud genannt wird, mit seinem wirklichen Namen
1) Derenbourg, „Essai siir Vhistoire etc.'-, S. 468 ff.
2) Tosephta, Sanhedrin 10, 11, ed. Zuckermandel, S. 431:
'fp-biÄ-, •p:i-nn n^sn rirr xim -»';sn n-rn w^zn n-a'^n ^2U? h
müD \zb iri? pi '^b^p nK ry»'^^ '^^^ r^^"> "'■"''^ '"'^ "^^^ ^^ "^^
^T\'bpü^ D^asn ^Tl^bn "tr rbis Tj^-: '\^bn. Aus dieser Tosephta-
Stelle sind wohl die Stellen des jerusalemischen Talmud geflossen
(j. Sanhedrin YIL, 16; j. Jebamoth XVI., 6), welche lauten: pT
n-nb imH^zm D-j::n n-nbn ^3r rbi: irarm n*72 xii:d \zb wv
56
bezeichnet ist. Nichts stimmt überein, nicht der I^ame
des Verurtheilteu, nicht der Ort des Processes, nicht
die Art der Strafvollstreckung. Die babylonische Ge-
mara aber, der, wie ziemlich natürlich, nach Jahr-
hunderten Ben-Sat'da so wenig bekannt war wie uns
heute, und der nichts näher lag, als an das grosse
Ereigniss zu denken, dessen Wichtigkeit alle anderen
überstrahlte, nämlich an den Process Jesu — wdr
werden noch zeigen, dass sie in seiner Auffassung
von der evangelischen Tradition abhängig ist — meint,
es stecke in diesem tarnen eine Bezeichnung Jesu
und fügt aus eigenen Mitteln hinzu: „und sie hingen
ihn am Rüsttage zum Passahfeste'' \). Aber wie kann,
fragt der Talmud mit Recht, der Sohn des Pandera
Ben-Sat'da heissen? und giebt eine Antwort, die Jeden,
der den geringsten Sprachsinn hat, sofort belehrt, dass
es sich um eine iSTamensdeutung handelt, die so wenig
ernst zu nehmen ist, wie die Deutungen gewisser
griechischer Yocabeln, die in dem mit Griechisch un-
bekannten babylonischen Talmud sich finden 2).
Der Ben-Sat'da kommt auch noch in Tosephta
Sabbath vor und giebt sich auch dort leicht als
nicht mit Jesus identisch zu erkennen. Es heisst
1) Sanhedrin 67a (imcensirte Ausgabe: nC£ S"ir2 imK^nv
2) DieVeiiegenheits-Etymologisirung xntDD = n'^mö KT ntSD
stellt auf derselben Stufe, wie die bekannte Etymologisirang von
^p'niSK = 'j-o^r-^v.Yi durck "Xp ".in 1£K uod ähnliche.
57
daselbst i) : .,Wenn Einer (am Sabbath) sich eine Schrift
in die Haut ritzt, so verpflichtet ihn K. Elieser zu
einem Schuldopfer, die Weisen aber sprechen ihn
frei. Da sagte E. Elieser: Aber Ben-Sat*da hat ja in
gar keiner anderen Weise als in dieser gelehrt! Sie
antworten: Sollen wir ^Yegen eines Thoren alle Klugen
bestrafen?^' Abgesehen von dem völlig Unzutreffenden
der gewöhnlichen Beziehung war das Christenthum
wohl „den Griechen eine Thorheit", nicht aber den
Juden. Ihnen war es damals „ein Anstoss", ,,Mich-
schol'', wie Delitzsch das ..Scandalon'', heute leicht
misszuverstehen, treffend übersetzt. Natürlich hat aber
die später entstandene Yerwechselung die Stelle in
den Gemaren schon modificirt. Gewohnt bei Ben-
Sat'da an Jesus zu denken, bekannt mit den Yor-
würfen, dass er seine Wunder durch Zauberei zu
Stande gebracht, ebenso bekannt mit der K'achricht,
er sei in Aegypten gewesen, umschreiben sie (beide
Gemaren) die dunkeln Worte der Tosephta, dass die
Lehrweise des Ben-Sat'da nur in der Weise (durch
in die Haut geritzte Schrift) verlaufen sei, durch fol-
gende schon präjudiciell gefärbte: Ben-Sat'da hat ja
1) Tosephta, Sabbath XL. (^ .{ed. Ziickermatidel S. 126j:
nrh -i!2N i'TlSis D'.^2m 2"na n-u''?« n nm hv '^-^sT^r^
IHK .Toitt' ^:^n 6 n;a« pr xSk löb x'? xitsc in x'r'm ^lu*'?« n
♦i-npsn bz nx isx:
58
seine Zauberformeln nur so (d. li. in die Hant ein-
gravirt) aus Aegypten gebracht i).
Der kundige Leser erkennt leicht, Avorin ich in
Erklärung der Stellen über Ben-Sad'ta von Derenbourg
abweiche, in der Hauptsache aber ist seine Bemer-
kung unanfechtbar.
Dass aber in der That der Talmud seine Kunde
über die Entstehungszeit des Christenthums nur be-
zieht aus dem Wenigen, was von evangelischer Tra-
dition an ihn gelangt, und aus der Beleuchtung, in
der durch die Yorgänge des zweiten Jahrhunderts das
Leben Jesu ihm erscheint, ergiebt sich am interessan-
testen aus der Erscheinung, dass seine Angaben im
Laufe der Jahre mit der veränderten christlichen Tra-
dition sich gleichfalls ändern. Die Erscheinung ist um so
bemerkenswerther, als dadurch die Kesultate der Evan-
gelienkritik von einer neuen Seite bestätigt werden.
In der Tosephta kommt nämlich folgende Stelle vor -) :
„Der widerspänstige Sohn, der aufsätzige Gelehrte, der
1) j. Sabbath XIL, 4: Dn^tÄÖ D'StrD X'm üb Knt2D \^ nm
"pz ifhii* Aelinlich babli Sabbath 104 b.
2) Tosephta, Saiihedrin 11, 7 {ed. Ziickermandl, S. 432):
-iprn x^2;i nn^sm n-c^m i^-i n-s 'S hv kiöö ipn n-nai -niD p
nöb>i iK-i^i ivr^v?^ Drn b^ x'^k -rw ab x'pk iki^i ini^ duh b^-^
^32 i'nbitt?! "fsmai tö mix ]"n*öa Nb>x ni btr in nx i^sra
59
Mesith und Mediach (Yerleiter), der falsche Prophet,
die der falschen Aussage in peinlichen Fällen über-
führten Zeugen werden nicht sofort getödtet, sondern
man bringt sie zum grossen Gerichtshofe nach Jeru-
salem, bewahrt sie auf bis zu einem der Wallfahrts-
tage und tödtet sie am Festtage, denn so heisst es
(in der Schrift): ,Und das ganze Volk soll es hören
und sich fürchten und nicht mehr frevehi'. Dies sind
die "Worte Akiba's. Da sagte ihm R Jehudah: Heisst
es denn: alles Yolk soll es sehen und sich fürchten;
es heisst ja nur: alles Yolk soll es hören und sich
fürchten. Warum soll man durch Rechtsverzögerung
lieblos gegen den Yerurtheilten handeln? Yielmehr
tödtet man ihn gleich und sendet überall Boten mit
Schriftstücken des Inhalts: X. K ist abgeurtheilt
worden von dem und dem Gerichtshofe, die und die
waren die Zeugen, die gegen ihn ausgesagt, dies und
dies hat er gethan und so ist ihm selbst geschehen''.
Xicht ganz so ausführlich und mit einigen Ya-
rianten findet sich dasselbe in der Mischnah selbst^}.
Wir ziehen die Tosephtastelle vor, weil sie genauer
ist und alle die Fälle erschöpft, bei denen sich die
Schrift der Wendung bedient: „Und alles Yolk soll es
bei ^:^bsi'\ ^Tbti ^:i'7a bu? -rn n^nn im n»;: 'sibs -^^ii maiparr
t6 iiru pi .TtTu -;n "^di ni?
\) Mischnah XL, 4 (Sanhedrinj.
60
hören und nicht mehr sündigen-' -i). Für die Original-
steile freilich halten AA'ir auch diese nicht. Yielmehr
sehen wir im Sifra, wo statt der nackten Halachah
zugleich die Gelegenheit erkannt wird, bei der sie
aus der Schrift zuerst eruirt worden 2), dass Akiba
ursprünglich an die biblische Bestimmung über den
,,Mesith" seine Meinung über Zeitpunkt der Bestrafung
desselben vorgetragen.
Aber diese Meinung Akiba's hat eine Schwierig-
keit, an die zu meiner Yerwunderung kein Talmud-
erklärer, soweit ich dieselben verfolgen konnte, gedacht
hat. Sie steht nämlich im Widerspruch mit einer
klaren und unzweideutigen Lehre der Mischnah, die
folgendermaassen lautet S): ..In Geldsachen hat man
das Eecht, die Verhandlung an einem Tage zu Ende
zu bringen, das Urtheil mag freisprechend oder be-
lastend sein. In peinlichen Sachen dagegen darf man
Avohl die Verhandlung an einem Tage erledigen, wenn
ein freisprechendes Urtheil gefällt, nicht aber wenn
ein Schuldig gesprochen wird, das darf erst am
1) Deuteronomium 13, 12 (Alesitbj; ibid. 17, 13 (Saken
Mamrej; ibid. 19, 20 (Edim somiuemirnj ; ibid. 21, 21 (Sorer
ümoreh)
2) Sifre zu Deuteron. C. 21. \. 22-23
3j Sanhedrin, Mischnali IV., 1 (Babyl. Talmud S. 32): ^ri
xbi DIU" z-i-z sb \':i i^K 'p'zb r,z:nb vinabz' dvzi n^zib
61
anderen Tage geschehen. Deshalb beginnt man keine
peinliche Verhandlung weder am Rasttage eines
Sabbath, noch eines Festtages'-.
Beide Gemaren erklären durchaus sachgemäss,
weil das Gericht die Verhandlung am anderen Tage
zum Abschluss bringen und somit den Verurtheilten
am Sabbath oder Festtag hinrichten lassen müsste^
was nach ihrer Ansicht biblisch unstatthaft ist^). Ein
Aufschub der Verhandlung resp. der Hinrichtung aber
wäre unberechtigte Rechtsverzögerung (Innui Haddin).
Es fragt sich, warum Akiba so gar kein Bedenken
hat, die Hinrichtung einer gewissen Klasse von Ver-
urtheilten an einem der Wallfahrtsfeste für statthaft
anzunehmen, während, wie wir aus der eben an-
geführten Mischnah ersahen, eine solche Procedur für
gewöhnlich an solchen Tagen für unzulässig gehalten
wurde-), und icii zweifle nicht, dass die Sache sich fol-
gendermaassen erJedigt. Halachische Bestimmungen
entstehen oft aus Berichten über Geschehenes. Die
Pietät vor der Vergangenheit Hess ohne Weiteres vor-
aussetzen, dass es gewiss nach der richtigen Norm
geschehen sei, wenn man nicht einen Entschuldi-
gungsgrund für die Abweichung hatte. Dies erkennen
1) j. Sanhedrin 22, c. 2; bab. h c.
-) Die Deutung, dass ein Halbfeiertag gemeint sei, ist
pilpulistiscb. und beachtet nicht den Hauptzweck, den der grösst-
möglichen Publicität.
62
wir an solchen Halacbas. die scheinbar ganz unabhän-
gig von äusseren Vorgängen ausgesprochen werden,
denen aber nachträglich die Veranlassung angefügt
wird. So heisst es z. B. in der ^lischnah^): .,Heilige
Bücher dürfen in jeder Sprache geschrieben werden'*.
'Wenn nicht R. Simon ben Gamaliel seinen Wider-
spruch mit den Worten ausgedrückt hätte: .,Auch bei
heiligen Büchern haben sie von fremden Sprachen
nur das Griechische zugelassen", so würde aus der
Mschnah selbst nicht erkannt worden sein, dass die
Halachah nur erschlossen ist aus dem Vorhandensein
der griechischen Ueb ersetz uiig, wie die Gemara es
richtig ausführt. Sicherlich nun hat Akiba in Bezug
auf den Tod Jesu die durch die Synoptiker verbreitete
]\Ieinung, dass er am Festtage selbst erfolgt sei. Dass
in diesem Kreise das Evangelium bekannt war, ist
bezeugt 2). Die wohl etwas jüngere Mischnah IV., 1
und die Gemara dagegen haben schon die nachher
durchgedrungene Meinung des Evangelium Johannis,
dass vielmehr der Rüsttag des Passahfestes der Todes-
tag gewesen 3). Akiba. in gutem Glauben an das Datum,
1) Mischnah Megillah I., ö. Siehe .,Blicke etc.-, I., S. 10.
2j Talmud babli Sabbath 116a.
3) Renan, ..Leben Jesu"', deutsche Ausgabe, S. 32.), Note 3
sagt : ,.Das ist das System der Synoptiker gewesen (Matth, 24, 17 ff.;
Marcus 14, 12 ff.; Lucas 22^1 ff. 15^'. [Er will sagen, das
System, nach welchem das erste Abendmahl am wirkhchen Passah-
63
schliesst daraus, dass für den „Mesith'' die Hinrich-
tung am Feste Avohl statthaft gewesen sein müsse
und sucht nach seiner Gewohnheit einen Bibelvers,
der das rechtfertigt oder gar anordnet, und den er
dann überall, wo er vorkommt, naturgemäss das Gleiche
in Bezug auf die Terminsbestimmung der Hinrichtung
sagen lässt. Die Späteren dagegen, für welche der
Vorgang in dieser Form nicht mehr existirt — sie
sagen ja ausdrücklich, dass es vielmehr am Eüsttage
des Passahfestes gewesen — kennen und anerkennen
daher auch keine exceptionelle Halachah in dieser
Beziehung. Es bestätigt sich auch hier, was auch
sonst aus den Talmuden erhellt, dass sie ohne selbst-
ständige Ueberlieferung über Jesus sind, und dass
kein nachtheiliges Wort aus der Yergangenheit , in
welche das Wirken Jesu fällt, zu ihnen herüberschallt.
abend begangen worden wäre, so dass die Hinriclitiing am Fest-
tage selbst erfolgt sein müsste]. „Aber Johannes, dessen Erzäh-
lung für diesen Theil von überwiegender Bedeutung ist, nimmt
ausdrüctlicli an, dass Jesus denselben Tag starb, an dem man
das Lamm ass (13. 1—2, 29: 18, 28; 19, 14, 31). Auch der
Talmud lässt Jesus am Osterabend (soll vielmehr heissen: am
Rüstsage des Passah, nca mi:) sterben (Talmud bab. Sanhedrin
43 a, 67 a)''. Aber wir sehen vielmehr gerade aus dem Talmud
das Ergebniss der Kritik bestätigt, nach welcher es nur natür-
lich ist, wenn Akiba (Hadrian's Zeitgenosse) von der durch das
Evangelium Johannis veränderten Terminsfixirung noch nichts
weiss, während die späteren Talmudisten bereits das imK^m
nca S1U2 der späteren Annahme gemäss hinschreiben.
64
Wo vom zweiten Jahrhundert ab ein unmuthiges Wort
über den Stifter des Christenthums gesprochen wird,
da ist es ojffenbar nicht die geschichtliche Person, die
ihnen vorschwebt, sondern es sind die das Judenthum
schwer treffenden Consequenzen, die sie auf ihn zurück-
führen. Deshalb sind sie bei aller Pietät gegen die
Yergangenheit doch auch unzufrieden mit dem Lehrer,
der, wie sie fälschlich glauben, durch rücksichtslose
Abweisung Jesu ihn dem Judenthum entfremdet
hätte. Dass das aber gleichfalls nur eine Spiegelung
der Erzählungen, die sie im zweiten Jahrhundert
hören, und nicht Tradition ist, geht zur Evidenz aus
dem schweren Irrthum hervor, in welchem der Talmud
über die Zeit und den Lehrer Jesu sich befindeti).
Wir gehen hier auf die oft gefühlte Schwierigkeit
ein, den Process Jesu sich zu denken unter Mitwir-
kung eines auch nur den Schein mosaisch-talmudischen
Kechts wahrenden Synedriums.
Nach den Quellen soll die Yerurtheilung wegen
,,Gidduf-' (Blasphemie. Gotteslästerung) erfolgt sein.
Aber auf Grund welcher Aeusserungen Jesu sollte
das sich rechtfertigen ? Weder seine Behauptung, dass
er der verheissene Messias sei, noch auch seine Be-
rufung auf Daniel, „man werde des Menschen Sohn
herabkommen sehen in den Wolken des Himmels",
h Tahmul babli, Sanhedrin lUTh.
65
constituiren iin Geringsten das, was man unter „Giddiif'
versteht. „Gidduf ist immer wirkliche Gottesläste-
rungi). Selbst unter der Annahme, die nicht leicht
ein Kritiker macht, dass Jesus sich vor dem Synedrium
bereits in höherer als menschlicher Würde (Gottes-
sohn) bekannt habe, ist eine Anklage auf „Gidduf"
nicht verständlich. Ertrug man in einem kanonischen
Scribenten die Bezeichnung eines Engels als Bar-
Elohin (Daniel 3, 25), wenn auch solche dem Nebu-
kadnezar in den Mund gelegt wird, so konnte auch
eine solche auf eine Verkleinerung Gottes nicht ab-
zielende Bezeichnung nicht als eine Blasphemie auf-
gefasst werden, bei der man, wie wenn es sich um
die directe Schmähung des Gottesnamens handelt —
denn das ist Gidduf — die Kleider zum Zeichen der
Trauer zerreisst. Es ist daher überaus charakteristisch
für den Talmud, dass, obwohl er doch nur von spä-
teren Nachrichten lebt, er dennoch niemals von Jesus
sagt, er sei wegen „Gidduf*' gestraft worden. Offenbar
stimmen ihm die Daten nicht. Vielmehr, da ihm das
1) Sanhedrin, Mischnali VI!.. 5: '^'^Si^Z' IV r-n irK rp;^:!
'DV na' 'Iran onun nx i':i dt bsn rinnp ]z ru^i.T n -".ttK az'n
'^z'\ 'i3'Dn D":-nn vh i"in in:: ,-cr nx* Aus der MiscliDali ist
klar, dass es sich um ein wirkliches Fluchen und Lästern han-
delt, zugleich auch, dass sie eine ziemlich treue Auslegung des
Schriftwortes (Leviticus 24, 11—16) ist, auf v\'elches die ganze
Procedur zurückgeht.
5
66
Factum der TerurtlieiliiDg durch ein jüdisches Gericht
erzählt wird, denkt er sich als Grund der Yerurthei-
luug „Yerleitung" und macht ihn zum „Mesith'-. Aus
dem Umstände nämlich, dass zu seiner Zeit das
Christenthum eine vom Judenthum verschiedene Re-
ligion war, erschliesst er, er werde wohl ein „Mesith''
gewesen sein, d. h. zum Abfall von der jüdischen
Eeligion aufgefordert haben. ^Natürlich setzt er dannaber
nicht blos eine Terurtheilung. sondern auch eine Voll-
streckung durch das jüdische Gericht voraus i).
Denn hier stossen wir auf eine zweite, wie mir
scheint, unüberwindliche Schwierigkeit.
Man hat die Lösung der Schwierigkeit von der
Frage abhängig gemacht, wie weit dem Synedrium da-
mals das jus glaäii noch zustand. Die Nachricht des
Talmud, dass vierzig Jahre vor Zerstörung des Tem-
pels dem Synedrium dieses Eecht genommen ward"-).
1) Talmud babli Sanhedrin 43 a: n'rriK ri^b \<ir Vror\'i
".2". hirz'' ns* n-nm n-cn: ?]vr2ir h'j '^pc-b K::r c:\ Er denkt also
an jüdisclie Todesart. was die Ungeschichtliclikeit der Stelle aus-
reichend charakterisiit.
2) Sanhedrin 41 a. Die Sache wird dort wie ein freiwilliger
Act des Synedriums dai'gestellt, als ob es nämlich, um nicht
mehr Todesurtheile fällen zu müssen, aus der ., Quaderhalle" in
die ..Chanujot-- (vergl. über dieselben Derenbourg Z. L S. 485),
woselbst das nicht geslattet gewesen, gewandert sei. Siehe
Easchi zur Stelle: i-i"n:!:.Tir TUZ X^N D'pn ^DS nv»r£3 -n 1-KU7
67
wird von Josephus und vom Evangelium Johannis
bestätigt!). Aber man meinte durch analoge Fälle die
Sache sich so zurechtlegen zu können, dass ausnahms-
weise in kirchlichen Dingen der Procurator die Gfe-
nehmigung zu einem peinlichen Verhör durch das
Synedrium geben konnte, wie ja bei dem Falle mit
Jacobus die Beschwerde gegen den Hochpriester
Anan nur dahin gehe, es habe ihm nicht zugestanden,
ohne Genehmigung des Procurators eine Synedrial-
sitzung Zwecks einer peinlichen Procedur anzuordnen 2).
Aber bei näherer Betrachtung versagt jene Analogie
und es wäre der Process Jesu ein Unicum. Nehmen
wir selbst den Fall Stephanus als historisch — der
kritischen Bedenken gegen die Historicität soll später
noch Erwähnung geschehen — so ist auch er nicht
analog. Um es kurz zu sagen : Es ist nicht denkbar,
dass ein jüdisches Gericht einen Angeklagten ord-
nungsmässig nach mosaischem Rechte von vornherein
mit der Maassgabe verurtheilt, dass die Yollstreckung
dann nicht nach jüdischer, sondern nach römi-
scher Weise erfolge, nach einer Weise, die in einer
alten Stelle mit Indignation erwähnt ist 3).
i) Jos., Ant. XX., 9, 1.. Eü. Joli. 18, 81. Vgl. über das
Ganze Schürer. „Neiitestamenthche Zeitgeschichte", S. 415,
2) O'jy. s^ov Yjv'Avavcp ytupl? "/f^c, sxs(voD YvwfJ-Tj^ viaO-ljac ^uvsootov.
3) Sifra zu 21, 22—23: "^mD «n KMtTD imK i'^^in 1.T blD^
ra",m ^ll^b T,öbn |TT nvsböntr» Der Fall im Maimonides
5*
68
Das VOR einem gewaltthäti^en Priester unter
Missbilligung aller gewissenhaften Juden gegen Ja-
cobus eingeleitete Verfahren, ebenso, wenn es wirklich
vorgekommen sein sollte, gegen Stephanus, hatte in-
sofern mehr jüdisch gesetzliche Form, als Urtheil und
Vollstreckung von derselben Behörde ausging und die
Vollstreckung selbst eine jüdische war, man also nicht
Gelegenheit gab zu einer Procedur, die man als eine
gräuelvolle verabscheute. In unserem Falle aber
konnte, da die Hinrichtung durch Pilatus das geschicht-
lich Gegebene war, die Sache nur so vorstellig ge-
macht werden, dass das jüdische Gericht zu einem
römischen Tod verurtheilt hätte. Darin aber liegt das
schwer Denkbare. Wir meinen darum, dass wohl ein
Paar gewaltthätige Machthaber, Priester von dem
Schlage, die der Talmud selbst „Frevler" zu nennen
keinen Anstand nimmt i), dem Pilatus zugestimmt
(Hilchotli Sanhedrin 14, 8), der auf Talmud Sanhedrin 45 b zu-
zückgeht und welcher besagt, dass. wenn ein zum Tode Ver-
urtheilter sich der gesetzlichen Todesart zu entziehen gewusst
hat, die ihn erkennenden und ihn packenden Zeugen ihn auch in
anderer Weise tödten dürfen, ist völlig unanalog, da es sich dort
ura einen rite Yerurtheilten handelt, der dem Gericht entsprungen
ist und von giltigen Zeugen erkannt wird.
1) Vgl. die Anwendung des Schriftwortes: ,,Die Jahre der
Frevler werden verkürzt*' (Spr. Sal. 10, 27) auf einen Theil der
Hohenpriester während des zweiten Tempels, Talmud babU,
joma 9 a.
G9
haben können, aber ein an die Bedingungen des jüdi-
schen Verfahrens auch nur der Form nach sich hal-
tendes Synedrium konnte es nicht. Den richtigen
Weg in dieser Frage ist schon Philippson i) gegan-
gen, indem er durch eine Charakterisirung des
Pilatus nach Philo und Josephus nachweist, wie wenig
dieser Blutmensch eine Entlastung verdient oder auch
nur möglich macht. Das harte ürtheil des Philo "-),
der den Pilatus als einen unbeugsamen und rücksichts-
los harten Charakter^) bezeichnet, der von seiner „Be-
stechlichkeit, seinen übermüthigen Gewaltthaten, Räu-
bereien, Misshandlungen, Kränkungen, Justizmorden
und Massentödtungen", kurz von seiner bis zur Un-
erträglichkeit fortgesetzten Wildheit-*) redet, mrd
durch Alles, was wir sonst von ihm wissen, bestätigt.
Eine Creatur Sejan's, dessen Gesinnung gegen die
Juden bekannt ist und auf dessen AYeisungen er
wohl gehandelt haben wird, war er der erste Procu-
rator, dem es Vergnügen machte, die religiösen Ge-
1) In seiner bekannten Schrift: „Haben die Juden Jesum usw."
2) Oder vielmehr Agrippa I. in dem Briefe, welchen Philo
von ihm mittheilt. Vgl. Schürer: „Neutestamentliche Zeitgesch.",
Seite 252.
^) Philo, ,,Legatio ad Cajum", ed. Mangey, IL, 590: Tag
StopoSoxia?, xac ußpscc, Tag ap-aYocg, Tag atxta?, Tag sTirjpstag, looc,
äxpixoug xat aüaXXrjXoüg '-fovoug, T7]v avTjVüTov xai o.^yxKB(}ii6.xr^
top.6TrjTa.
70
fühle der Juden durch allerlei Manipulationen zu
verletzen!). Die dadurch erzeugte Erbitterung ertränkte
er dann in Blut, wobei er zur Grausamkeit die Hinter-
list fügte ■■^). Die einzige nach Gemeinnützigkeit aus-
sehende Maassregel des Pilatus, die Anlegung eines
Aquaeducts mit den Mitteln, die er dem Tempel schätz
entnahm, war gleichfalls, wie Derenbourg gut gezeigt
hat 3), nicht so harmlos gemeint, wie sie aussah. Sie
sollte die Yertheidigungsfähigkeit Jerusalems schwächen.
Die Juden hatten sich demnach auch damals nicht in
Pilatus geirrt, als sie in dieser mit ihrem Gelde be-
strittenen Wohlthat die väterliche Fürsorge desselben
nicht anerkannten. Wie Pilatus aber jedem Schein
einer messianischen Bewegung gegenüber sich
verhielt, das ergiebt sich am besten aus der schweren
That ein oder zwei Jahre nach dem Tode Jesu, die
ihn die Procuratur gekostet.
Xach alter samaritanischer Vorstellung nämlich
waren seit Moses' Zeiten die heiligen Tempelgeräthe
auf dem Berge Garizim begraben. Um 35 n. Chr. ver-
sprach nun ein samaritanischer Schwärmer, dem Yolke
diese Geräthe zu zeigen, wenn es sich am Garizim
einfände. Das Volk, sich täuschen lassend, sammelte
1) Joseplius, Ant., XVIII., 3, 1. B. J. II., 9, 2—3. Philo,
legatio, ed. Mangey. 589 ff.
'-2) Jos., AnU XVm , 3, 2. B. J. II., 9. 4.
^) Derenbourg, Essai, S. 199.
71
sich in bewaffneten Schaaren im Dorfe Thirathana am
Fasse des heiligen G-arizim. Pilatus aber hatte ihnen
durch Fussvolk und Eeiter auflauern lassen, die dann
auch angriffen und Alles niederhieben, was nicht
entfloh. Von den auf der Flucht Ergriffenen liess
Pilatus dann noch die Yornehmsten tödten i). So ver-
fuhr Pilatus mit den zahmen und meist gehorsamen
Samaritanern auf den blossen Schatten eines Verdachtes
hin, dass es sich um eine messianische Bewegung
handle. Sie müssen doch wohl in der Lage gewesen
sein, dem syrischen Präses: Vitellius die politische
Harmlosigkeit ihrer Zusammenrottung nachzuweisen,
wenn derselbe sich veranlasst fühlte, den Pilatus zur
Verantwortung nach Eom zu schicken.
Ein Mann dieses Schlages braucht nichts als seine
eigene böse Gemüthsart für sein Verfahren gegen Jesus,
dessen imponirende Haltung bei seinem Verhör jenen
eher stacheln, als versöhnen konnte. Ein Zeichen der
Eohheit des Pilatus ist auch die Inschrift über dem
Kreuze, von welcher der Verfasser des Evangelium
Johannis gefühlt hat, dass sie nicht blos einen Hohn
gegen die Messianität Jesu, sondern gegen den Messias-
glauben der Juden überhaupt enthalte. Die Entlastung
der Juden von der Betheiligung an dem ganzen Acte,
die allein schon aus der Inschrift ersichtlich, veranlasst
1) Antiq. XVIII. 4, 1.
daher den Evangelisten, abweichend von den Synop-
tikern, die Juden gegen die Inschrift remonstriren zu
lassen. Aber gerade die Wendung, welche Johannes
der Sache giebt, beweist, dass er selbst es für nöthig
hält, das kritische Bedenken gegen den Bericht der
Synoptiker durch eine leise Veränderung um seine
Bedenklichkeit zu bringen i).
Ich meine, dass bei solcher Schwierigkeit, aus den
heutigen Quellen Sicheres zu eruiren, die Sorglosigkeit
der Juden in Rücksicht auf geschichtliche Vorgänge,
die später so schwer ihnen angerechnet werden soUteu,
von jedem Freunde der Wahrheit aufs Schmerzlichste
empfunden werden muss.
1) EvaDgelium Johannis 19. T. 19 — 22 verglichen mit
Matthäus 27, 37; Marcus 15, 26: Lucas 23. 38.
V. Das erste christliche Jahrhundert im Unter-
schiede vom zweiten.
Man kann den Canon aufstellen, dass jede christ-
liche Schrift, die fremd und feindlich von Juden und
Juden thum spricht, nicht dem ersten, sondern erst
dem zweiten Jahrhundert angehört. Das ist wie psy-
chologisch das einzig Verständliche, so auch das von
unbefangener Kritik allein Bestätigte. Man trennt sich
ja nicht an einem Tage. Der christgläubige Jude, der
dem nicht überzeugten Juden grollte, sprach darum
so wenig wegwerfend über Juden, wie etwa ein libe-
raler Deutscher, weil er den Conservativen grollt,
sich veranlasst sehen könnte, von den Deutschen selbst
wegwerfend zu reden. Dazu kam, wie wir noch sehen
werden, dass der Unterschied zwischen dem christ-
gläubigen Juden, der auf die Parusie wartete, und
den übrigen immerhin doch gleichfalls einer messia-
nischen Parusie entgegensehendenBekennern des Juden-
thums bis auf lans:e hinaus verschwindend klein war.
74
Der eben ausgesprochene Canon kann darum ganz
rigoros angewendet und es darf ausgesprochen werden,
dass, wo in einer christlichen Schrift mit einer gewissen
Fremdheit von Juden die Rede ist; ihr Autor einer
Zeit entstammt, wo nicht mehr als Juden Geborene
das Wort haben, sondern zum Christenthum bekehrte
Heiden, bei denen zum nationalen Antagonismus noch
die Bitterkeit hinzukam, die sie wegen einstiger Yer-
sagung des Tollbürgerthums im Reiche Gottes empfan-
den. Diese Wendung der Dinge war aber nicht vor
dem zweiten Jahrhundert eingetreten.
Renan sagt ganz richtig: „Der Name Jude, im
vierten Evangelium beständig genommen wie ein Sy-
nonym des Wortes ,Feind Jesu', ist in der Apokalypse
der höchste Ehrentitek'^. Sind daraus keine Schlüsse
zu ziehen? Kann fiii' den frommen, christgläubigen
Verfasser der Apokalypse schon die Tradition existirt
haben, dass die Juden überall die Verfolger des christ-
lichen Xamens gewesen seien, wenn das Judeseln
für ihn noch etwas so Hohes bedeutet? Xoch haben
Christ und Jude dieselben Feinde. Apion, der Yer-
lästerer der Juden, lebt auch in der christlichen Tra-
1) Eenaß. „L' Antechrisf' , introduction XXV., Xote 3:
Le nom de Jtiif pvis comme synonyme ,cV adversaire de Jesus'
dans le qiicdrieme Evangüe est dans V Äpocalypse Je titre
sippreme d' lionneiir (IL. 9; lU . 9).
dition als der leibhaftige Diabolus forti). Welches
Zeugniss will man dem gegenüber anführen?
In Betreff der Apostelgeschichte steht das Urtheil
der berufensten Kritiker längst fest, dass es eine
theologische Kundgebung des zweiten Jahrhunderts
von einem Standpunkte aus ist, auf welchem „von
irgend welcher historischen Gewissenhaftigkeit nicht
die Eede sein kann"-j. Die Geilissentlichkeit, mit
welcher in derselben die Eömer entlastet und die
Juden belastet werden •^), springt zu sehr in die Augen,
um anders als aus den von uns bereits erörterten
politischen Gründen erklärt Averden zu können. Ja,
die bekannte Umdeutung des Trajanischen Edicts, die
Overbeck gezeigt hat-^), ist schon in derselben ver-
treten ^).
Was von den Verfolgungen der jungen Kirche
1) Haiisrath, ..Neu testamentliche Zeitgeschichte", IL, 231.
2) Derselbe, ibid., III., 421.
3) Vgl. II., 36; IV., 10; V., 28, wo die Juden gegen den
Sachverhalt als die eigentlichen Executoren, nicht blos Ver-
anlasser des Todes Jesu hingestellt werden, „den Ihr mit Eueren
Händen gemordet und dann an's Kreuz geschlagen-. Ja, wo die
Verschweigung des Pilatus dem römischen besseren "Wissen ge-
genüber (Tacitus, Ännal. 15, 44) sich nicht empfahl, wird von
Pilatus mit grösster Schonung geredet. „Er machte richterhche
Anstrengungen, ihn zu retten, Ihr aber habt ihn verleugnet.'-
*) Studien zur Geschichte der alten Kirche S. 121 ff.
5) Siehe die Stellen Protestantenbibel S. 352—353.
76
durch die Juden darin erzählt wird, kann auf die
Länge der historischen Kritik nicht Stand halten. Der
Yersuch der Kritik beispielsweise, bei aller Erkennt-
nisse dass die einzelnen Züge in der Erzählung des
Stephanus-Processes zu der historischen Lage absolut
nicht stimmen wollen, dennoch einen geschichtlichen
Kern des Vorganges festzuhalten, ist schon von
Schwegler nicht mitgemacht worden und darf wohl
durch die ausgezeichnete Beleuchtung Overbeck's als
gescheitert angesehen werden i). Ebenso schwer glaub-
lich zu machen sind die Häscherbriefe des Synedriums
gegen die Christen in Damascus. Mit stilistischen
Wendungen kann die Denkbarkeit der Sache nicht
erleichtert werden. Keim, nachdem er das Verhalten
der Juden gegen die ersten Christen auf Grund der
Apostelgeschichte geschildert, sagt-): ,.Glücklicherweise
reichte die Autorität des jüdischen Volkes und seiner
gesetzlichen Entscheidungen nicht weiter als Judäa,
obwohl sie freiwilliger Weise auch von den Juden
auswärts, zumal im nahen Syrien, anerkannt werden
konnte, wie ja Paulus mit hochpriesterlichen Häscher-
briefen nach Damascus auszog''. Statt zu sagen, dass
1) Schwegler. ..Das nachapostolisclie Zeitalter'', II., 102 ff.
Overbeck in seiner reberarbeitung des de Wette'schen Commen-
tars zur Apostelgeschichte. Vgl. über Stephanus: Weizsäcker
in Schenkels Bibellexicon.
2) Keim, ..Rom und das Christenthum-, S. 175.
77
es eben nicht verständlich ist, wie Paulus mit Häscher
briefen nach Damascus gehen konnte, und welche
Aussicht er hatte, die Macht des Synedriums dort
gegen die Christen zur Geltung zu bringen, wird der
Bericht als authentisch festgehalten und durch ein
keineswegs lösendes „obwohl'' möglich gemacht.
Stärker fühlt Renan das Bedenkliche des Berichtes,
aber er ist der Letzte, der sich durch so Etwas irre
machen Hesse. Er schildert, wie es seine Art ist,
als sei er dabei gewesen und als ob er einer alten
zuverlässigen Quelle blos nachzuschreiben hätte, die
Sache folgendermaasseni): ,,Er (nämlich Paulus) athmete
nur Tod und Schrecken und durchlief Jerusalem wie
ein Rasender, versehen mit einem Mandat, das ihn
zu allen Grausamkeiten ermächtigte. Er ging von
Synagoge zu Synagoge, zwang dort die Furchtsamen^
den Xamen Jesu abzuschwören und liess die Anderen
auspeitschen oder in's Gefängniss werfen 2). Nachdem
die Gemeinde von Jerusalem zerstreut worden war,
warf sich seine Wuth auf die benachbarten Städte-^).
Die Fortschritte, welche der neue Glaube machte,
brachten ihn ausser sich, und als er erfuhr, dass eine
Gruppe von Gläubigen sich in Damascus gebildet
ij Eenan. ..Die Aposter*. deutsche Ausgabe, S. 204.
2) Apostelgeschichte 22, 4. 19: 26. 10. U.
3) Apostelgeschichte 26, 11.
78
hatte, erbat er von dem Hohenpriester Theophiliis. dem
Sohne Chauan'si). Briefe an die Synagoge jener Stadt,
welche ihm die Macht ertheilen soUteu, die Schlecht-
gesinnten festzunehmen und sie in Ketten und Banden
nach Jerusalem zu schleppen-).
Die schon seit dem Tode des Tiberius unter-
grabene römische Autorität in Judäa erklärt diese
villkiiiiichen Verfolgungen. Man befand sich unter
der Hen'schaft des wahnsinnigen Caligula. Die Ver-
waltung gerieth nach allen Seiten hin in Verwirrung.
Der Fanatismus hatte das Feld, das die bürgerliche
Gewalt verloren hatte, gewonnen. Xach der Absetzung
des Pilatus und den Zugeständnissen, welche den
Inländern durch Lucius Vitellius gemacht wurden,
nahm man das Princip an, das Land sich nach seinen
eigenen Gesetzen regieren zu lassen. Tausend örtliche
Tyrannien benutzten die Schwäche einer sich um
nichts mehi' kümmernden Macht. Damascus war
überdies kurz zuvor in die Hände das nabatenischen
Königs Hartat oder Harath gekommen, dessen Haupt-
stadt in Petra lag-') Die Juden bildeten im
Augenblick dieser neuen Besitznahme eine angesehene
1) Hoherpriester von 37 — 42: Josephus. Antiq. XYIIL, 5, 3;
XIX.. G. 2.
2) Apostelgeschichte 9. L 2. 14; 22, 5: 26, 12.
3) Ygl. Beviie numismatique, neue Serie, III. (^1858), 296 fg.;
362 fg. Eevue archeoh (April 1864). S. 284 fg.
79
Partei. Sie waren zahlreich in Damascus und übten
dort, namentlich unter den Frauen, einen umfassenden
Proselytismus ausi). Man wollte sie zufriedenstellen.
Das Mittel, sie zu gewinnen, war immer, ihrer Selbst-
herrschaft Zugeständnisse zu machen; jedes Zugeständ-
niss an ihre Autonomie war aber eine Erlaubniss zu
religiösen Gewaltthaten'-). Diejenigen strafen, ja tödten,
welche nicht wie sie dachten, das nannten sie Un-
abhängigkeit und Freiheit".
Und Kenan nennt das Unabhängigkeit und
Freiheit in der Kritik, wenn er die Apostelgeschichte
erst ausdrücklich von einem Autor herrühren lässt,
der durch seine Gemüthsverfassung „der in der Welt
am wenigsten Befähigte war", „die Dinge, wie sie
stattgefunden haben, darzustellen", für den ,,die histo-
rische Treue eine gleichgiltige Sache, die Erbauung
Alles ist" 3), dem judäische Verhältnisse ganz unbekannt
waren, der fern von Zeit und Ort der geschichtlichen
Ereignisse für „Leute schreibt, die mit der Geographie
des Landes schlecht vertraut waren, die sich nicht
bekümmerten, weder um eine gründliche rabbinische
Wissenschaft, noch um hebräische Namen"-^), und
wenn er dann nach einer solchen Anschauung über
1) Joseplms, Antiq. XYIII.. 5, 1. 3.
2) Vgl. Apostelgeschichte 12. 3; 24, 27; 25, 9.
3) Eerican, „Die Apostel'-, deutsche Ausgabe, S. 21 unten.
4) Derselbe, daselbst, S. 16 ff.
80
das Buch, die Ereignisse auf Grund desselben und
wie der Leser aus den Citaten schon gemerkt hat, nur
auf Grund desselben — nur noch mit erhöhteren
Farben als das Buch selbst aufträgt, schildert, die
kritischen Schwierigkeiten durch gesuchte Geschichts-
consti-uctionen glättet, und einen wuthschnaubenden
Paulus und ein wuthschnaubendes Judentham malt,
vor denen uns grauen könnte, wenn uns nicht der
Gedanke beruliigte, dass es ein Renan'sches Phantasie-
bild und nicht ein nach der Natur gezeichnetes ist.
Da jede Spur einer solchen Verfolgung in den
jüdischen Quellen fehlt, während doch so zahlreiche
Spuren arger Verstimmung gegen die Minäer im
zweiten Jahrhundert iu den rabbinischen Quellen an-
zutreffen, liegt es da nicht viel näher und ist es dem
kritischen Verstände nicht angemessener, die Sache
sich vielmehr folgendermaassen vorstellig zu machen?
Die Reise des Paulus nach Damascus, seine Be-
kehrung auf dieser Reise ist das geschichtlich und
traditionell Gegebene. Das Erbauliche dieser Bekehrung
aber erhöht sich am Gegensatze, erhöht sich, wenn man
Paulus gerade in der Stunde sich bekehren lässt, wo
er auszieht, das Christenthum mit feindlichem Schlage
zu treffen.
Warum hat Renan eigentlich die Apostel-
geschichte so scharf kritisirt, wenn seine kritischen
Bedenken absolut irrelevant für seine Darstellung sind?
81
Aber die vier Hauptbriefe des Paulus, die doch
immerhin eine Stimmung der Juden jener Zeit re-
flectiren, wie sie den gangbaren Yorstellungen ent-
spricht? Ich habe nicht die Süffisance, in dieser
Frage ein entscheidendes Wort mitzureden, habe aber
schon meine Eathlosigkeit, das Yorhandensein der
Briefe im ersten Jahrhundert mit der totalen Ignori-
rung so glänzender Producte des christlichen Geistes
bis in die Mitte des zweiten Jahrhunderts mir vor-
stellig zumachen, im Früheren i) ausgesprochen. Herr
Professor A. D. Lomann, dessen „paulinische Quästio-
nen" in holländischer Sprache durch seine Güte mir
übermittelt worden sind, hat aber die Frage nach der
Authentie dieser Briefe in einer Weise aufgenommen,
die es unmöglich macht, die Sache einfach auf ihrem
alten Stand zu belassen. So lange blos Bruno Bauer
sprach, hat das gerechte Misstrauen gegen den Autor
auch dem Beachten swerthen in seinen Aufstellungen
die Aufmerksamkeit entzogen. In Lomann redet zu
uns die lauterste Liebe zur Wahrheit, und ich meine,
dass man auf diese Stimme und auf die gewichtigen
Gründe, die sie vorbringt, wird hören müssen. Mich
Avenigstens hat sie vollständig überzeugt, dass die
Kritik die Briefe Pauli und das Evangrelium Johannis,
1) „Blicke in die Rehgionsgeschicbte zu Anfang des zweiten
Christi. Jahrhunderts-'. I. Bd., S. 27 u. 28.
6
82
was das argumentum e süentio betrifft, mit zweierlei
Maass gemessen hati).
Vielmehr wie die Apokalypse uns gewiss macht,
dass das Band ZAYischen Juden und Christen um's
Jahr 69 so wenig zerrissen ist, dass dem Apokalyptiker
eine Trennung vom Judenthum gar nicht in den Sinn
kommt, so hat der Scharfsinn Tolkmar's nach Fixi-
rung der Esra-Prophetie auf 97 uns auch für diesen
Zeitpunkt darüber belehrt, wie nahe verwandt der
Messiasgläubige Jude dem Christusgläubigen auch
noch jener Tage war. Was er dabei von ,,rohem
Kabbinismus" sagt, ist eine gangbare Redewendung,
die sicherlich für jene Zeiten derHillel, der Gamaliel,
der Simon ben Gamaliel und der Jochanan ben Saccai
nicht passt. Im Uebrigen sind seine Worte überaus
belehrend-): ,,Flavius Clemens wurde unter dem dritten
Haupte der Verruchtheit hingerichtet, wc aO-eo; xal
wyi)J^cov si; Ta 'loooaiv.a sO-r. d. h. er war Christ, aber
1) Eine Unäclit-Erklärung der Briefe PauU von ketzerischer
Seite kommt auch im zweiten Jahrhundeii; vor. Eusebius sagt
von den SeveriaDern, dass sie Gesetz. Propheten und Evangelien
annehmen, dagegen die Briefe des Paulus für unächt erklären,
ebenso die Apostelgeschichte nicht annehmen. Die Worte: ,/j.^t-
•zohz'.-'i a-JToü zäc, l-izzoXac,'' heissen doch wohl technisch, nicht
dass sie sie verwerfen, weil sie ihnen Eicht genehm, sondern
dass sie sie als unecht bezeichnen (Eusebius li. e. IV., 29j.
2) Yolkmar, ..Handbuch der Einleitung in die Apokryphen,
zweite Abtheilung. Das vierte Buch Esra", Tübingen 1863, S. 406.
83
der Sitte nach einem Juden ähnlich, also Sabbath hal-
tend, Unreines verschmähend. Und doch war dieser
Presbyter der römischen Christusgemeinde aus dem
kaiserlichen Geschlecht, bei allem diesem jüdischen
Schein, Allem zufolge (Phil. 4, 2 und Ep. Clem.) von
Haus aus ein Pauliner (vgl. m. Abhandlung über
Clemens von Kom, Theol. Jahrb. 1856). Also selbst
der Pauliner stand zu Rom dem Synagogen- Verband
so nahe, dass das Judenthum den Blutzeugen Gottes,
Clemens, als Einen der Ihrigen noch später ansah
(vgl. das.). Durch Esra erfahren wir das ergänzende
^^ähere.
Auch der den ,Wahn' der Kreuzeshoffnung ver-
werfende Chasidäer war mit den Jesu-Messianern nicht
blos nächst vereinigt, sondern diesen unverwerflich
Reinen und Treuen selbst nahe befreundet, gleich
ihnen entgegengesetzt dem feigen, schamlosen Saddu-
cäismus, wie dem zelotischen Extrem. Daher klingt
so viel Messianisches durch ihn wieder, daher nicht •
ein Wort der Anklage gegen den Theil des grossen
jüdischen Yerbandes, mit dem er eine geistige Mitte
bildete gegen rohen Rabbinismus. wie gegen Saddu-
cäismus und Zelotismus".
Bei einem solchen Stande der Dinge wird man
auch die Nachricht des Eusebius leicht auf ihren
wahren Werth zurückführen, als habe eine Trennung
der Christgläubigen von den übrigen Juden in Jeru-
84
salem kurz vor der Zerstörung Jerusalems stattgehabt
Erstere sollen nämlich nach göttlicher Weisung die
Stadt vor dem Kriege verlassen haben und nach Pella
in Peräa gezogen sein^). Allein diese Xachricht un-
glaubwürdig zu finden, braucht man nicht allzuviel
zu suchen. Eusebius widerspricht sich, wie häufige
selbst, indem er trotz seiner Meldung, dass das ge-
sammte Judäa-). als Titus Jerusalem eroberte, von
Christgläubigen entblösst war, später aus schriftlichen
Urkunden die in Jerusalem bis zur Zeit Hadriau's
an der Spitze der christlichen Gemeinde stehenden
Bischöfe, fünfzehn an der Zahl, mit Xamen nennt
und von ihnen sagt, dass sie alle Bischöfe aus der
Beschneidung gewesen seien S). Die Wanderung nach
Pella ist antedatirt. um in Eusebianischer Weise die
Geschichte der Zerstörung Jerusalems dadurch erbau-
licher zu machen, dass er zeigt, wie Jerusalem der
heiligen Männer entblösst gewesen wäre, deren Yer-
1) Eusebius, lu e. III., cap. V.
-) Ibid.: h j] "ücüv tiq Xp'.^töv -t-'.-Zc.'r/.ö-zoyi ä-'o ~'\z hzou-
-a/.r|i, u=TtüV.'.G,uiviov , cu^av TiavTsXüig l-i)Sko'.-o-L<y> (y.-,'-"''' ävopdiv
aürfjV TS xr^-^f lo'j5aicuv ßa-'./.'.v.r;; ;j.Y,Tpo-oX'.v y.r/X --jfx-a-av x-qv
'lo'joalav YV "''•• "• '"•
3) Ibid. IV., c. V. Er sagt ausdräckUch , dass damals die
Kirche von Jerusalem nur aas gläubigen Judeu bestanden und
dass bis zum Hadrianisclien Kriege von den Aposteln ab in
ununterbrochener Reihenfolge fünfzehn Bischöfe aus der Be-
schneidung der dortigen Kirche vorgestanden hätten.
85
dienst Gott zur Eettmig der Stadt bestimmt hätte.
Josephus, der Pella ja sehr gut kennt und auch im
jüdischen Kriege seiner erwähnt, weiss nichts von
dem durch Eusebius Berichteten. Im Gegentheil er-
giebt sich aus Josephus, dass man selbst heidnisch
geborenen Christen Sympathie mit dem jüdischen
Aufstande zutraute. Denn die Judaizontes, w^elchen
man nicht traute, waren sicherlich christliche Pro se-
hnten i). Selbst die Samaritaner, sonst ja bittere Feinde
der Juden, standen in diesem Yerzweiflungskampfe
auf Seiten derselben. AYie erst die Christen, wo es sich
um einen Krieg gegen IN'ero handelte, der eben erst
in so furchtbarer Weise gegen sie gewüthet hatte und
gegen den sie ihre Gesinnung in einem Documente
niedergelegt, das überzeugender ist als die völlig un-
gedeckte [N'achricht des Eusebius, in der Apokalypse.
Dass übrigens der national-patriotische Feuereifer kein
Hinderniss war, in Jesus den Messias zu sehen, be-
weist der eine Jüns^er mit dem stehenden Beinamen :
der Zelot -^).
Ganz anders freilich stellt sich die Frage, ob
nicht der schreckliche Ausgang des jüdischen Krieges,
das Schicksal Jerusalems und vor Allem des Tempels
1) B. J. II., 18,2: ä-öT/.tw.':d-r/.'. yjsj -zohc. 'lo-JoaloD-: Soxoöv-
2) Matth. 10. 4; Marc. 3, 18: Luc' 6, 15; Act. 1, 13.
86
den Anfang der Lostrennung des Christenthums vom
Judenthum bildete. Diese Frage ist zu bejahen. Der
Untergang des Tempels machte einen grossen Theil
des jüdischen Gesetzes, der an den Bestand des Tem-
pels geknüpft ^'ar. unausführbar. Er gab damit der
Partei, welche die Aufnahme in die christliche Ge-
meinschaft für die Heiden nicht an die Erfüllung^
des ganzen mosaischen Gesetzes, sondern nur einiger
wenigerTorschriften geknüpft wissen wollte, dasUeber-
gewicht. Dazu kam, dass durch die nach der Erobe-
rung auferlegte Steuer, den sogenannten fiscus Ju-
daicus, welche die habgierigen Flavier mit bekanntem
Cynismusi) einforderten, auf das Xichtbeschnittensein
gleichsam eine Prämie gesetzt wurde. Ja, es kam
die Zeit, wo man auf Propaganda unter den Heiden ^
wenn man noch länger auf Beschneidung bestand,
einfach hätte verzichten müssen, da Hadrian diesen Act
auch den Juden verbot. Antonin sie diesen zwar erlaubte,
bei allen Anderen aber nicht als Juden Geborenen
sie wie durch das Gesetz verpönte Castration^) be-
ij Graetz, „Geschichte der Juden-', IV., 2. Aull.. S. 118.
-) Das Gesetz gegen Castration wird von Sueton auf Do-
mitian zmückgeführt(Vn.j. schärfer ab er tritt es dann unter Hadrian
auf. endlich heisst es auch von Antonin Big. 48, 8, 4, 2: Cir-
ciuncidere Judaeis filios suos tantum rescripto divi Pii per-
mittitiir: in nun ejiisdem reJigionis rpii Jioc fecerit, castrantis
poena irrogatiir. Vgl. auch Graet-s ?. /. S. 185.
si
handelte. Doch führt uns das schon in die spätere
Zeit hinein, während der Anfang der Entfremdung
bereits in den Zeiten Trajan's deutlich wahrzunehmen.
Die Entfremdung hatte zunächst nicht dogmatische
Differenzen im engeren Sinne als Ursache, sondern
den Streit um die Yerbindlichkeit oder Xichtverbind-
lichkeit des Gesetzes nach Erscheinen des 3Iessias.
Man kann die Sache nicht schärfer erkennen nnd
nicht klarer ausdrücken, als Baur in seiner Dogmen-
geschichte es erkennt und lehrt. Er sagt: „In dem
Glauben an den Messias hatte das Christenthum noch
ganz seine Wurzel im Juden thum, er erschien in ihm
selbst nur als ein aus ihm hervorgegangener Zweig,
als eine blosse Form des Judenthums, der Unterschied
war nur die Person des Messias, sofern die Christen
Jesuni füi- den wirklich erschienenen Messias hielten.
Aber auch dieser Unterschied glich sich da-
durch wieder aus, dass auch die Christen den
wirklichen Genuss der messianischen Seg-
nungen nicht von der ersten Erscheinung des
Messias, sondern erst von der zweiten, der
in der nächsten Zeit bevorstehenden "Wieder-
kunft Jesu erwarteten. Auch diese Erwartung
zeigte, wie eng damals noch das Christen-
thum mit dem Judenthum zusammengewachsen
war. Die Realität und Gewdssheit des messianischen
Heils Avurde auch so wieder nicht in die Gegenwart,
88
sondern in die Zukunft gesetzt Der Wende-
punkt, in welchem in dem religiösen ßewusstsein des
Apostels (Paulus) das Christenthum von dem Juden-
thum sich trennte, war die veränderte Ansicht von
der G-iltigkeit des Gesetzes. So lange das G-esetz für
die Christen dasselbe war wie für die Juden, war
das Christenthum selbst nur Judenthum, sollte es
aber etwas anderes als das Judenthum sein, so musste
es sich vor Allem zum Gesetz anders verhalten als
das Judenthum; in dieses freiere Verhältniss zum
Gesetze konnte es sich nur dann setzen, wenn es ein
vom Gesetz verschiedenes und ein von ihm ganz un-
abhängiges Princip des Heils in sich hatte; dieses
Princip konnte nur der Tod Jesu sein"f).
Wir haben diesen zutreffenden Worten nur das
Eine hinzuzufügen. Wie viel von der charakteristischen
Wendung, welche allmälig auf eine Trennung des
Christenthums vom Judenthum hinauslief, bereits auf
den Apostel Paulus zurückzuführen und wie viel erst
auf Rechnung der WeiterentwickeJung seiner Gedanken
in späterer Zeit zu setzen ist, steht hier nicht in
Präge , da das mit der im Früheren schon berührten
Frage zusammenhängt, ob die in den Briefen, die den
Namen des Apostels tragen, bereits vollständig ent-
wickelte christliche Theologie gerade um dieser ihrer
ij Baur, .,Dograengeschiclite". I. Bd.. 1. Abth.. S. 141-142.
89
Yorgeschritteüen Entwickelung willen schon dem ersten
Jahrhundert angehören kann. Aber sicher ist es in
jedem Falle, dass geschichtlich und in der Praxis
erkennbar diese Trennung erst nach der Zerstörung
des Tempels unter den Flaviern sich vorbereitet und
zu den Zeiten des Trajan bereits weit genug gediehen
ist, um zur Polemik zu führen.
Was diese Polemik zur Zeit Trajan's zu einer
erbitterten machte, habe ich im ersten Bändchen dieser
Schrift -i) bereits zu zeigen versucht.
Die beiden Bestrebungen, die eigentlich zusammen-
fallen: l) die Polemik von Seiten der Christgläubigen
gegen die Verbindlichkeit des mosaischen Gesetzes;
2) ihre Anstrengungen gegen die Wiederaufrichtung
des Tempels waren damals mit einem Erfolg gekrönt
gewesen, der die in Palästina leitenden jüdischen
Lehrer zu abwehrenden Maassregeln veranlasste, die
ich schon geschildert.
Aber es giebt ein so charakteristisches Merkmal,
dass man damals erst das Tafeltuch durchschnitt,
dass ich darauf aufmerksam zu machen nicht ver-
fehlen darf.
Bekanntlich kam damals die Bezeichnung „Minim"
für den Theil der Christgläubigen auf, die man als
Gegner des jüdischen Gesetzes wie der jüdischen
1) „Blicke in die Eeligionsgescliichte'", I.. von S. 14-41,
90
^Nationalität betrachtete. Jochanan ben Saccai kennt
den [N'amen noch nicht, alle Spuren führen auf Janinia
zur Zeit Gamaliels IL und Josua's Sohn des Cha-
naniah (Ende der Kegierung Trajan's). Aber dieser
Name ,,Minim'' ist noch tou Xiemanden^) befiiedigend
erklärt worden, Aveil man vergass, dass solche Xamen
nicht blos mit Hilfe der Linguistik, sondern zugleich
aus dem Leben und der gesetzlichen Praxis (Halachah)
heraus erklärt werden müssen.
Wie nannten sich denn die ursprünglichen
Christen? Man sehe sich das Xeue Testament darauf
hin an und wird linden, dass der Xame „Gläubige"
(Ti'.^iol, hebräisch Maaminim) der bei weitem häufigste
ist. Wie natürlich! Das Christenthum war Botschaft,
Evangelium, die Botschaft, dass der von den Propheten
verheissene Messias erschienen sei. Wer dieser Bot-
schaft Glauben schenkte, war -laio? oder wie man ja in
Palästina sagte: ,,Maamin,'' anfangs ein um so treuerer
Verehrer des mosaischen Gesetzes, später in dem
„Glauben" ein dem „Gesetze" entgegenstehendes Heils-
princip betonend-), ^lit dem Augenblicke nun, wo
1) Vergleiche dagegen die Xachträge.
-) Es ist eigentlich überflüssig, die wesenhafte und darum
auch namengebende Bedeutung der Tdcv.c, (n:*.;2K) im Neuen Testa-
mente nachzuweisen. Wir dürfen ja nui' herausgreifen. Man
wird es vielleicht auch bequem finden, wenn ick einige Stellen
gleich aus der trefflichen L'ebersetzung von Delitzsch hersetze:
Schluss des Evangehum Marc. IG, 16—18: N',n bz'^:: i'^SSn
91
man in den Maaminim nicht mehr Bundesgenossen,
sondern Gegner, Störer des Tempelbaues und Anti-
nomisten sah, wandte man auf sie die Halachah an,
dass man den glorificirenden Namen etwas abänderte.
Wenn man es auch nicht so weit trieb, dass man
ihnen, wie den Dingen in Palästina, die sich auf
Götzendienst bezogen i), einen Schmähnamen gab, so
lag in der Abänderung der Maaminim in 3Iinim schon
der Ausdruck der Trennung. Dasselbe Verfahren liegt
dem Ausdruck „be Abidan" für Yersammlungshaus
der Ebioniten und „be Xazrefe^' für Versammlungshaus
der „Nazaräer-^ und ebenso der bekannten unfreund-
lichen Bezeichnung des Evangeliums zu Grunde-^).
Ferner Lucas 4, 50: -^b-nU^ITin insiöK. Act 2, 44: D^rDKön ^31
in" nnxnn; ibid. 4, 32: nnx nb crh rn D-röxan bnp%^Hier
tritt der Name geradezu techniscli auf. Vgl. damit Act. 5, 14;
6, 7; 10, 45; 11, 17; 15, 5.
1) Die Halachah, von der ich rede, findet sich Tosephta,
Aboda Sarah 6, 4: 'K::b imK r:2n vv nzzb M^-ip:^ n-.tt^pXS bD
nms 'rrp b^ rv zh:: :^ nniK inp ^bii ;:3 nmK inp^ ^«
X^b: nn',K in-.p X-;i; F'P l'«» J^r. Talmud Aboda Sarah S. 43a,
Sabbath S. 11, Col. 4; Talmud babh, Aboda Sarah S. 46 a.
2) Dass iT-^ '3 ^^^^^^ persisch ist, wie Rappoport meint,
hat schon Levy s. v. gut zurückgewiesen, da Josua ben Chana-
niah. der mitPersien nichts zu thun hat, bereits mit dem Worte
in Verbindung gebracht wird. Er selbst aber hätte, da er einmal
•212:3 ^n richtig als „Nazaräerhaus" bestimmt, sich von der einen
s'telle, die zurE.klärung von IT^X Z als „Haus der Ebioniten"
nicht zu passen scheint, nicht irre machen lassen soUen. Die
92
Es ist das verwundete Gemüth der Männer,
■welche es nicht ertrag-en konnten, dass Solche, die
BeziehiiDg auf die bekannten christlichen Secten ist Sabbath 116 a
durch die ganze Umgebung so unzweifelhaft, ja es spricht sich
in den ^'orten: '£-1::: "^zh ]2'Z' b2^ eine so gute Kenntniss des
"Wesens dieser Secten aus. dass über die Sache nicht viel zu
reden. Die Ebioniten hielten nämlich, die Beobachtung des Cere-
monialgesetzes für unbedingt zur Seligkeit nothwendig und
Christus zwar für den Messias, aber nur füi' einen mit höheren
Kräften ausgestatteten Menschen. Die Nazaräer dagegen hielten
sich persönlich zwar an das Ceremonialgesetz gebunden, nicht
aber die Heidenchristen, Ebenso glaubten sie an die Gottheit
Jesu und emancipirten sich von vielen rabbinischen Satzungen.
Es ist darum nur natürlich, dass ein jüdischer Lehrer gar keinen
Grund sah. die Disputationen der Ebioniten zu meiden. AVas die
beiden scheinbar widerstrebenden Stellen (Sabbath 152a und
Aboda Sarah 17 b) angeht, so ist voä der ersten zu sagen, dass
sie überhaupt nicht widerstrebt. AVcnn Hadrian den hochbetagten
Josua ^en Chananiah fragt, warum er nicht die Versammlungen
der Ebioniten besuche, so ist das von diesem sich um Alles
kümmernden Kaiser (vgl. seinen Brief Flav. Vopiscus in vita
Saturnini. c. 8) eine Xeckerei, als fehle dem Rabbi der Muth,
sich mit den Ebioniten in Discussionen einzulassen. Und die
Entschuldigung des Eabhi mit seinem hohen Alter ist ganz
sachgemäss. Die zweite Stelle ist schon durch die kleinlichen
Wunder, die erzählt werden und dadurch, dass sie die Entschul-
digung mit dem Alter, die bei Josua historisch sein kann, nur
"wie ein Echo erscheinen lässt, als ungenau und unzuverlässig
gekennzeichnet. Die Ausdrücke ]T2K '2 und •S-.ä; "2 sind auch im
, .Literaturblatt des Orient" 18-15, Xo. I, und im „Hechaluz'\
Jahrgang 1853. behandelt. Die Notiz im „Hechalui" von L. Low,
S. 100. enthält das Eichtige. — Bei der Gelegenheit sei noch
ein ^'oit über das Gebet gegen die Minäer, deren ich in ..Bücke
93
sie sich zugerechnet hatten, nicht mit ihnen trauerten
um die Trümmer Jerusalems, dem diese Namen ent-
sprangen.
in die Eeligionsgeschichte*-, I., S. 35 Erwähnung gethan, hier
nachgetragen. Im jerusalemischen Talmud Taanit II., 2. S. 65,
Col. 3 kommt folgende Stelle vor: „R. Lewi sagt: Die üblichen
achtzehn Benedictionen entsprechen der achtzehnmal wieder-
holten Nennung des Gottesnamens in dem Psalm: , Spendet dem
Ewigen, Ihr Söhne der Starken u. s. w.' (Ps. 29). R. Chonah
sagt: Macht Dir Jemand den Einwurf, es komme der Name
Gottes ja nur siebenzehnmal in dem Psalm vor, so antworte ihm:
Der Segensspruch, in welchem gegen die Minäer gebetet wird,
ist erst von den Weisen in Jamnia festgestellt worden. Da fragte
Elieser aus dem Hause R. Jose's vor R. Jose: Es steht ja (im
Psalm): ,üer GoH der Ehre donnert' (soll heissen, also waren
ja von vornherein achtzehn Gottesnamen im Psalm enthalten,
nämlich siebenzehnmal m.T und einmal in^n ^K)'? Darauf wird
geantwortet: Nun, es heisst ja auch in einer Baraitha (Tosephta
Berachoth III., ed. Zuckermandel, S. 8; ich corrigire gleich die
Gemara nach der Tosephta und die Tosephta nach der Gemara,
weil Jeder, der sich beide Stellen ansieh*-, leicht erkennt, wo die
eine und wo die andere corrumpirt ist): Man schliesst die Bene-
diction gegen die Minim ein in die gegen die Sünder, das Gebet für
Proselyten in das für die Gelehrten, das Gebet für die Davidische
Herrschaft in das Gebet für Jerusalem (i'tr'ns hz'Z DTX: h'ü 't^'^ID
DbtTT-,^ bv'2 -in h'^*i D';pT bir^n d^j b'^ri []-i;i:^is b"i\)r Vergl.
auch j. Berachoth, S. 3, Col. 3. Die Tosephtastelle und die er-
läuternden Gcmarastellen sind interessant und charakteristisch,
erhellen zugleich eine Dunkelheit, die der babylonische Talmud
lässt. Daselbst nämlich (Berachoth 33 a) finden sich wider-
sprechende Xotizen; nach der einen sind die achtzehn Benedic-
tionen alt, weit älter als Gamaliel IL, nach der anderen werden sie
von einem Simon Hapikkoli erst in Gegenwart GamalieFs IL in
94
Aus der Entstehiiug des Minim-Xameiis zur Zeit
Gamaliers uud Josua ben Chananiah's (Trajau) geht
zugleich hervor, was man ja auch sonst schon weiss,
dass der Xame „Christianer"' in der Apostelgeschichte
antedatirt ist. Ein Gleiches gilt auch von der bekannten
Stelle im Tacitus, deren wir im Eingange unserer
Schrift fluchtig Erwähnung gethaii, deren genaue Be-
trachtung aber uns hier um so mehr obliegt, als in
neuerer Zeit die Yerkennung des Verhältnisses, das
im ersten Jahrhundert zwischen Judenthum und Chri-
stenthum obwaltete, bei Stahr und Eenan zu Beschul-
digungen geführt hat, von denen die alten Quellen
nichts \vissen.
Wenn wir in Anlass der Betrachtung dieser viel-
fach behandelten Stelle im Tacitus zugleich Gelegenheit
OidniiDg gebracht. Der Tahniid weiss sich diesen sich wider-
sprechenden Notizen gegenüber keinen anderen Rath, als dahin zu
entscheiden, die achtzehn Segenspriiclie wären eingerichtet ge-
wesen, seien dann vergessen und zur Zeit Gamahei's wieder re-
stituirt worden, DHC". "HTm ClHDr» Aus unseren Stellen aber
ersehen wir Folgendes: Es ist ganz richtig, dass man schon
längst das Hauptgebet in achtzehn Benedictionen verrichtete. In
der Zeit Gamaliels aber (Trajan) schob man in die drei dazu
geeigneten Benedictionen ein. was das Zeitbediirfniss erheischte,
nämlich, in die erste (der vollen Zählung nach zwölfte) eiuAVort
gegen die Minäer, in die zweite (dreizehnte) umgekehrt ein Wort
lür die wahren Proselyten (plSn ^l':). in die dritte (vierzehnte)
zum Zeichen, dass man an der alten Messias-Hoffnung festhalte,
ein "S\'ort für ..David".
95
nehmen , des Tacitiis und seiner literarischen Vor-
gänger in Rom Aeusserungen über Juden und Juden-
thum unter Beleuchtung zu stellen, so wird hoffentlich
Niemand darin ein liors d'oeuvre erblicken, sondern
den Nutzen für unseren Hauptgegenstand leicht er-
kennen i).
1) Leider konnte ich das Programm von Lipsius, ..über
den Ursprung und ältesten Gebrauch des Christennamens, 1873",
nicht erlangen, ersehe aber aus Anführungen, dass er sich für
die letzten Decennien des ersten Jahrhunderts entscheidet, jeden-
falls nicht für die Historicität des Jahres 48, das sich aus
Act. 11, 26 ergeben wikde.
Stahr's Arbeit, auf die ich hier Rücksicht nehme, ist in
Westermann's Monatsschrift, September 1875, enthalten. Eine
der werthvGllsten und grtindlichsten Arbeiten über die Eegie-
rungszeit des Nero ist das AVerk: ., Geschichte der römischen
Kaiserzeit unter Nero" von Hennann Schiller, ^^orin ich diesem
Gelehrten nicht beistimmen kann, wird im Verlaufe erhellen.
V. Tacitus über die Neronische Christenverfol-
gung. — Jüdisch -christliche Dinge in römisch-
heidnischer Beleuchtung.
In den Annalen des Tacitus wird das Christen-
thum und auch die Person Christi, obwohl nicht der
Eigenname Jesus — Tacitus hält offenbar Christus
selbst für den Eigennamen i) — zum ersten und ein-
zigen Male bei dem Bericht über die jSTeronische Ver-
folgung erwähnt^). Vergebens suchen wir da, wo wir
etwas zu erwarten berechtigt gewesen wären, nämlich
in des Geschichtsschreibers Darstellung der Eegierungs-
zeit des Tiberius eine Xotiz über die judäischen Vor-
gänge um die Zeit, wo Jesus gelebt und gewirkt.
Indess ist nicht unbeachtet zu lassen, dass gerade das
fünfte Buch der Annalen nur in wenigen Bruch-
stücken uns erhalten ist. Ob in diesen Lücken sich
1) Eenan, ..Die Apostel'* (deutsch), S. 255.
2) Ann. XY. 44.
97
nicht Manches über jucläische Zustände befunden
haben mag. was uns ^yerthYollen Aufschluss von
heidnischer Seite über das wichtige Ereigniss gebracht
hätte, wer will das heute sagen? Sollte es zufällig
sein, dass gerade für die Jahre 29 bis etwa 32 Tacitus
als Quelle versiegt? Es ist wahr, dass die Worte, mit
denen Tacitus das Christenthum später einführt, so
klingen, als habe er hier zuerst darüber gesprochen,
und dass sie auch nicht gerade eine etwa später
nachbessernde Hand verrathen. Aber so oft uns Lücken,
namentlich bei Autoren, die das erste Jahrhundert
behandeln, begegnen, müssen wir uns erinnern, dass
die Schriften Zeiten zu passiren hatten, in denen man
schon darum es als recht und billig ansah, weg-
zulassen, was nicht zur herrschenden Vorstellung
stimmte, weil man es eben für wahrheitswidrig und
schädlich hielt.
Die Abfassung der Annalen fällt zwischen 115
und 117, also in eine Zeit, wo die römische Obrigkeit
bereits angefangen hatte, Christen und Juden gesetzlich
zu scheiden und zu behandeln. So ist es denn auch
natürlich, dass Tacitus die beiden Religionen nicht
mehr verwechselt, obwohl er den judäischen Ursprung
des Christenthums gut kennt. Daraus aber den Schluss
niachen zu wollen, dass auch schon zu Nero 's Zeiten
dieselbe Klarheit geherrscht habe, wäre übereilt, so
sehr auch Tacitus der Erzählung von der Christen-
7
98
Verfolgung unter Xero eine Färbung giebt, die zu
dieser falschen AufPassung leitet.
Kein heidnischer Schriftsteller des ersten Jahr-
hunderts erwähnt die Christen, nicht die Satiriker
Juvenal und Persius,- nicht die Poeten Lucian und
Martial, nicht der ältere Plinius in seinem so gross
angelegten Werke, nicht Seneca. Augustin sucht sich
das Schweigen Seneca's über die Christen in etwas
seltsamer Weise zu erklären, ohne zu merken, dass
sie eigentlich mit gemeint sind, vielleicht gar in erster
Linie gemeint sind, wo er von den Juden redet, dass
sein Ingrimm gegen diese gerade ihrer siegreichen
Propaganda gilt, dass er nicht sowohl gegen die Eiten
der Juden etwas hat — ihn konnte z. B. ihre Ent-
haltsamkeit, die den Kömern so viel Gelegenheit zu
wohlfeilen Witzen gab, nicht so stören, da er sie
probeweise auf ein Jahr darin sogar übertraf — als
vielmehr gegen die grosse Zahl von Kömern, denen
er nachsagt, dass sie gedankenlos die jüdischen Kiten
nachahmten, ohne ihre Bedeutung zu kennen. Augu-
stinus Worte lauten : ,,ünter anderen abergläubischen
Bräuchen tadelt er (Seneca) auch die Mysterien der
Juden und besonders die Sabbathe, indem er behauptet,
dass sie sich damit selbst schädigten, weil sie zufolge
jenes festgesetzten je siebenten Tages fast den siebenten
Theil ihrer Zeit durch Müssiggang verlören die
Christen .... jedoch wagte er nach keiner Seite hin
99
zu erwähnen, um sie nicht entweder entgegen den
alten Gewohnheiten seines Vaterlandes zu loben oder
vielleicht entgegen seinem eigenen Willen zu tadeln.
"Wo er nun aber von den Juden spricht, sagt er : Da
inzwischen die Lebensgewohnheit dieses verruchten
Volkes so mächtig geworden, dass sie fast durch alle
Länder in Aufnahme gekommen, haben die Besiegten
den Siegern Gesetze gegeben. Jene jedoch kennen
die Ursachen ihrer Eiten, aber der grössere Theil des
Volkes übt, ohne zu wissen, warum er es übt''i).
Angesichts des Ausdruckes, den nach Augustin
Seneca in seiner patriotischen Beklemmung von den
Juden gebraucht hat, ,,sceleratissma gens'% und der
bekannten Aeusserungen des Tacitus und der Satiriker
über die Juden, die Avir noch beleuchten werden, sei
hier sowolil von dem wirklichen Hass und der Ver-
achtung, mit welchem die Juden in Rom, namentlich
kurz nach der Zerstörung Jerusalem 's, zu kämpfen
hatten, die Eede, als auch von der Art, w ie moderne
Schriftsteller hie und da diesen Hass und diese Ver-
achtung schildern zu müssen glauben. Letzteren be-
1) Augustin, De eidtote Bei, VI.. 11. Die letzten für uns
wichtigen AVorte lauten: C^m Interim eo usque sceleratissimae
(jentis consiietudo convaluit , tit per omnes jam terras recepta
Sit, victi victoribus leg es deäervnt. Uli tarnen cmisas ritus
sni noveriint, sed rnajor pars jw^ndi facit, quod cur fäciat
ignorat.
7*
100
gegiiet es nämlich, ob be^usst oder iiiibewusst wage
ich nicht zu entscheiden, dass sie, beabsichtigend, die
Stimmung der Heiden gegen die Juden im damaligen
Rom zu zeichnen, nnr ihre eigene Stimmung in jene
hineinlesen. Sie fructificiren oft harmlose Stellen in
einer Weise, die mehr Achtung vor ihrer schöpferi-
schen Phantasie, als vor ihrer Philologie abnöthigt
Man liest oft einen sehr ergötzlichen Text und wird
in einer Xote belehrt, dass das Alles aus einer Zeile
Sueton's oder aas einem Verse Martiars oder Juvenal's
zu lernen ist. Aber diese Zeilen reden oft nur den
wirklichen Adepten der Zwischen-den-Zeilen-Leserzunft^
nicht gewöhnlichen Menschen. Wir werden das Alles
noch zeigen. Aber reden wir erst von dem thatsäch-
lichen Sachverhalt. Es fehlte nicht an Hass und nicht
an Verachtung.
Zwar Avas die Verachtung betrifft, so ist das ein
psychologisches Phänomen, dessen Constatirung einige
Aufmerksamkeit erfordert. Man verachtet nicht Alles,
was man verächtlich behandelt. Man könnte leichter
an die Verachtung der Juden glauben, wenn sie nicht
zugleich auch so sehr beachtet worden wären. Wo
sollte auch im Grunde jener religiös und sittlich
bankbrüchigen Gesellschaft die wahre Kraft der Ver-
achtung hergekommen sein, wenn doch die Begab-
teren unter ihnen, z. B. ein Mann wie Seneca, das
Gefühl der eigenen Holilheit mit sich herumtragen
101
iniissten?!). Der AVitz, wo er nicht wie bei Horaz um
seiner selbst willen und harmlos o-emacht wurde, war
1) Seiieca war zu schwach, um nach den Grundsätzen
seiner Philosophie leben zu können, aber doch sicherlich zu
-ernst, um den Widerspruch zwischen seinem nichts weniger als
reinen Leben und seiner Philosophie nicht als eine Demüthigung
zu empfinden. Was ihm Alles nach Tacitus, Ann. XIH.. 42:
XIY., 14; XIV., 7; XTV.. 11 und gar nach Dio Cassius LXL. 10,
12, 20; LXIL. 2 u. a. a. U, vorgeworfen wird, mag sich ja
mildern lassen und zum Theil auf gehässige Uebertreibung
seiner Feinde zurückzuführen sein. Aber es bleibt doch genug,
um sagen zu dürfen: Dieser Manu, von dem der ihm sonst ge-
hässige Dio selbst sagt, ,,dass er alle Eömer seiner Zeit und
viele Andere an Weisheit übertroffen habe" (LIX , 19), ist eben
darum einer der belehrendsten Typen für den ethischen Werth
einer gewissen theoretischen Erhabenheit. Nur die Theorie,
<iie nicht das blosse Ergebniss der Belesenheit, der Nachahmung
und des Talentes ist, sondern aus den originalen Tiefen einer
Uenscheu- und Volksseele entspringt, pflegt ein Leben zu er-
zeugen, das sich mit der Theorie deckt. Der Eklektiker Seneca
war ein grosses Talent und meinte es ernst, aber die schönen
Sätze, die er ausspricht, hatten sich nicht aus der Tiefe seiner
eigenen Eömerseele emporgerungen, sondern waren ihm selbst
unbewusst angeflogen und übten daher auf ihn nicht die zwingende
Gewalt, welche Original Weisheit, auch die weniger glänzende,
übt. Wer das einsieht, weiss auch, warum Sokrates so lebte,
wie er lehrte, nicht aber Seneca. Eben so warum dio in ver-
hältnissmässig wenig Sätzen sich aussprechende Weisheit jüdi-
discher Propheten und Lehrer das Leben beherrschte, nicht so
die glänzenden Sentenzen und Phrasen der römischen Philosophie
uud Ehetorik jener Tage. Noch bis heute täuscht ein gewisser
Glanz über die innere Hohlheit, so dass man nicht begreift, wie
man die jüdische Weisheit über die römische stellen kann. Es
102
häufig nur zurückgetretener Aerger, dass eine verachtete
Keligion eine Anziehungskraft haben sollte, die der
Xationalreligion abging. Deshalb giebt auch der ernste
Tacitus sich nicht die Mühe, witzig oder geistreich
über die Juden zu sein, er schreibt hasserfüilt gegen
die jüdische Religion und gegen das neuentstandene
Christenthum.
In einer Beziehung freilich kann man von ehr-
licher Verachtung der Juden reden. Ein Volk, wie
das römische, das immer noch heidnisch genug war-
um seine Grötter zu bestrafen, wenn sie ihnen nicht
beigestanden oder ein Unglück nicht abgewehrt
gab schlechte Juden, wie es schlechte Römer gab. aber während
man sich bequem einen römischen Kero denken kann , der zu-
gleich eine ergreifende Abhandlung über Humanität schrieber
sind Juden von der Sorte nicht aufzutreiben. Der Heide hat
eine gewisse Pose, welche täuscht. Titus, die ,,^Vonne des Men-
schengeschlechts", feiert den Geburtstag seines Bruders Domitian
in Cäsarea. indem er 2500 von den besiegten Juden zum Theil
den Thieren vorwü'ft, zum Theil sonst tödten lässt (Jos.. B. J,
7, 3, 1. Vgl 7, 2, 1; 6, 9, 2), was ihn sicherlich nicht gehin-
dert, die „Wonne des Menschengeschlechts" zu bleiben und
Tugendschwatz zu üben. Eine solche Gesellschaft hatte wohl
die Geringschätzung des Starken gegen den Schwachen, nicht
aber das Bewusstsein des sittlich Höherstehenden gegen die
moralische Yersunkenheit des Anderen. Dieses Bewusstsein war
vielmehr auf Seite der Juden und trug nicht wenig bei, den Hass
gegen sie zu mehren. — Ueber den Charakter des Seneca ver-
gleiche Zeiler, „Die Philosophie der Griechen", III., 1., dritte
Auflage, S. 718.
103
hatten, welches das Standbild des Neptun zerstört,
weil er römische Schifte hatte scheitern lassen i), wel-
ches Tempel mit Steinen bewarf und Götteraltäre um-
stürzte, weil die Götter den Tod des (Jermanicus zu-
gelassen hatten 2) — selbst wenn Sueton hier Un-
geschichtliches berichtet, wäre es ebenso charakteristisch
— ein solches Volk musste die Juden verachten, die
in ihrer Treue gegen ihren Gott sich nicht beirren
Hessen, obwohl er ihre Niederlage zugelassen. Das:
,, Warum sollen die Heiden sagen: AVo ist ihr Gott?"
(Ps. 79, 10) ging buchstäblich in Erfüllung.
Schon Cicero argumentirt in dieser für Heiden
so charakteristischen Weise, dass die Juden den
Göttern unmöglich angenehme Leute sein könnten,
da sie ja besiegt, verkauft, geknechtet seien 3). Indess
dieser, wenn ich so sagen darf, apagogische Beweis
für die Inferiorität des Judenthums konnte in den-
kenden Köpfen sich nicht behaupten. Der heidnische
1) Sueton, Augustiis 16.
2) Sueton, Caligida 5.
3) Cicero pro Flacco, c.28: Quam cara Diis immortalibus
esset (gens Judaeorum sc.) clocuit., qaod est rietet., cßiod elocata,
quod servata. Auf die Schwierigkeit des letzten Wortes gehe
ich hier nicht ein. Damit ist zu vergleichen das Wort des Heiden
Cäcilius in Minucii Felicis Octavius c. 10: „Judaeorum sola
et misera gentüitas unum . . . .~J)eum .... cohierunt, cujus adeo
nulla vis et potestas, tit sit Romanis numimbus cum sua sibi
natione capticus.''
104
Pöbel fi'eilich konnte Einleuchtenderes gar nicht hören.
Der Midrasch zu den Klageliedern schildert ergreifend
die Herabwürdigung IsraeFs, nachdem es besiegt zu
den Füssen des Feindes lag. DenTers in den Klage-
liedern I, 11: ..Siehe, o Herr, wie ich so erniedrigt
bin'' legt er durch folgendes Geschichtchen aus : Zwei
Buhldirnen in Ascalon hatten sich gezankt und allerlei
Schmeicheleien gesagt. Unter anderen, schlimmen
Dingen hatte die eine der anderen vorgeworfen, dass
sie ein ganz jüdisches Aussehen habe. Bei der Aus-
söhnung meinte die beleidigte Dirne: Alles verzeihe
ich Dir, nur nicht, dass Du mich jüdisch aussehend
bezeichnet hasfi). Diesen Alten war die Wendung
neu, uns nicht. Indess, so natürlich es war, dass
Buhldirnen keinen anderen Maassstab als Erfolg und
Glanz haben, die besseren Köpfe von damals waren
gar nicht mehr so heidnisch gerichtet. Man schlägt
den Einfluss, den das Jahrhunderte lange Vorhanden-
sein der Bibel in griechischer Spi-ache ausgeübt hat,
viel zu niedrig an, wenn man ihn blos da annimmt,
wo er constatirt ist. Es ist freilich erst für das zweite
^) Midrasch, Echah zum aageführten Verse: n*r> KIZT
i"Tn-i xrnö x^^tk nx n-h xi au ki i'rnsriö i"in 13 nmnn'?
xbir b-: rh nax i^-h xi r,'iir:x ]'fir ^.nzh xnX'T„T= T£x
--12' x'? xr.'iX-T.Tr -^"ax \'"n -h r,-ÄXi h'^ xbx -^-b p-z^: "\v
lOn
Jahrhundert bezeugt, dass man gebildeten Heiden die
Bekanntschaft mit der Schrift a. T. ohne weiteres zutraut.
Athenagoras sagt in seiner Schutzschrift an die Kaiser
Marc Aurel und Commodus: ,Jch glaube, dass auch
Ihr als Männer von so ausgezeichneter Belesenheit
und wissenschaftlicher Bildung mit den Schriften eines
Moses, Jesaias, Jeremias und der übrigen Propheten
nicht unbekannt seid'' i). Ebenso bekennt Tatian
durch Studium des alten Testaments vom heidnischen
Wesen abgekommen zu sein. „Als ich ernstlich hin
und her sann," sagte er, „fielen mir einige barbarische
Schriften in die Hände, älter als die Lehren der
Griechen und unvergleichlich göttlicher als ihr Irr-
thum" 2). Aber wenn doch schon in vorchristlicher
Zeit sich der Hass nachweisen lässt, den gerade die
Leetüre der Bibel bei Personen, auf die wir noch
kommen, erregt hat, hat es nicht auch eine stattliche
Anzahl Solcher gegeben, welche das Gelesene zu
noch etwas anderem, als blos zum Queruliren benutzt
1) Athenagoras, -psojisia -sol Xpc^xiavojv {cap. 0): yoi^iUo
y.r/.l u|Jiä;, <p'.Xo|J.a9-£3xa-:o'j; xai s-t-xy^;j.0ViaidT0'J5 oviaj, O'jy. avoY,xo'j;
'[V(ovv/'Xi o'JTc tojv MojjEcoj, o'Jts Tojv 'H'ato'j y.ai Ispsixioo xai xojv
AOtüOJV 7rpO'^Y|-tüV '/.. '. Ä.
2) Tatian, T:pö$ "Ea/^/jvoc: c 25: -payiJtaTSDoixsvov y.ax' s;j.a'jxöv
Y£v&|X£vog £C"^jXouv, oxco xp6-o) xäXrjO-s; zleoozlv oovaaat. -£p'.vooD"/xi
Ol \io'. xa OTtooSala, auvsßr^ Ypa'f a:<; x',-i evx'j/ilv j3apßap'.v.atc, Tipssß'j-
xipo'.q |xsv, üj? Tipö? xa '^EXX'rjvüy/' S&y!^''''-'°'> %-2'.oxipr/.'.g oz ioq r^poz,
106
haben? Es ist merkwürdig. Avie sehr man das ver-
gisst. Keim i) polemisirt mit Eecht gegen die Behaup-
tung namentlich französicher Gelehrten, dass schon
in Seneca, Plinius dem Jüngern, Epictet, Marc Aurel
das Christenthum sich reflectirt. Er bezeichnet das
als ungeschichtlich. ..Die Arbeit der Philosophie'', sagt
er, ..gehört vor das Christenthum, sie war nicht be-
eintlusst von ihm-'. Aber Keim vergisst. dass, was
diese Gelehrten getäuscht hat, der Einfluss biblischen
Geistes 4st, der auch in der heidnischen Atmosphäre,
namentlich in Alexandrien. eingeathmet wurde und
auch anderswohin seinen Weg fand. Wenn Jemand
beispielsweise sagt, Seneca's Wort: „Diejenigen, welche
Gott gefallen, welche er liebt, prüft und übt er-)^', sei
auf biblischem und nicht auf heidnischem Grunde
gewachsen, so sagt er damit noch nicht, Seneca habe
es selbst aus der Bibel genommen.
Doch kommen wir jetzt auf die Hauptsache, auf
denHass der Römer gegen die Juden. Er hat nicht
annähernd den furchtbaren Ernst, den er im Mittel-
alter und in mittelalterlich gerichteten Köpfen später
aufweist. Er war in Rom auch nicht volksthümlich,
er lebte zunächst nur in der Literatur, der er aus
der Fremde war zugetragen worden. Das versteht
1) Keim, .,Rom und das Christenthum'-, S. 3u9.
2) Seneca, De prov. 4.
107
sich, dass die Kriege und Aufstände der Juden po-
litische Männer wie Tacitus empfänglicher machten
für die Einflüsterer, deren Bekanntschaft wir noch
machen werden. Er sagt es selbst i): „Es erhöhte die
Erbitterung gegen die Jaden, dass sie allein sich
nicht hatten zum Ziele legen wollen'^ Deshalb auch
die Erscheinung, dass nüchterne Männer wie Strabo^
selbst Dio, sachlich, sogar anerkennend über die Juden
und ihre Religion sich vernehmen lassen. Doch darum,
weil dieser Hass künstlich importirt worden war, ist
die Untersuchung seines Ursprunges um so inter-
essanter.
Man hat versucht, den Judenhass bei den Heiden
von der Höhe herab und rein logisch zu erklären
und glaubte sich der Mühe überhoben, die Menschen
aufzusuchen, die ihn bewusst und absichtsvoll aus-
gesäet haben. Die erste Methode schien erhaben, die
zweite kleinlich. Aber leider ist in der Geschichte das
Kleinliche und Gemeine ein grosser Factor. Man hat
nicht ohne einen Schein von Grund ^on dem Gegen-
satze gesprochen, in welchem das Judenthum zu allem
Heidnischen stand und der nothwendig Aversion er-
zeugen musste. Aber die Juden lebten zwei Jahr-
hunderte seit Cyrus unter persischer Oberhoheit, ohne
1) Tacitus, Hist. 5, 10: Augehat iras, quod soll Judaei
non cessissent.
108
dass der Hass zum Yorschein kam^), gerade so. wie
sie später durch lange Jahrhunderte unter Parthern
und Xeupersern in Zuständen lebten, die im Vergleich
zu den Zuständen bis in's vorige Jahrhundert hinein
beneidenswerth zu nennen waren. Gleichfalls Alexander
der Grosse, nachdem er dem Perserreich ein Ende
gemacht hatte, gab ihnen volle Rechtsgleichheit, die
unter den besseren Ptolemäern unbeanstandet fort-
dauerte, wie ja auch ebenso die Seleuciden bis auf
Antiochus Epiphanes sie als loyale Bürger ansahen
und behandelten.
Aber schon hatte die Literatur in Aegypten —
wir werden gleich sehen, dass und warum dort zuerst
der Judenhass sich entzündete — ihr Werk begonnen,
konnte aber ihren Zweck erst ganz erreichen, nachdem
die jämmerliche Nivellirungspolitik des Antiochus den
Kampf und den Sieg der Makkabäer und damit den
Hass und den Xeid der hellenistischen Bewohner
EQeinasiens erzeugt und aus ihnen gelehrige Jünger
und Helfershelfer der alexandrinischen Ränkeschmiede
gemacht. Ton diesen zwei Seiten her drang die Juden-
feindschaft nach Rom vor.
Man darf behaupten, dass, wenn in Rom stets
Selbstherrscher wie Julius Cäsar, Augustus undTiberius
1) ^'as dagegen spricht, beseitigt eine hclitige Quellon-
beurth eilung.
109
in seiner besseren Zeit regiert hätten und nicht später
nach dem Vorgänge schon des Pompejus ^) unter
1) Uober den Charakter der römischen Provinzialverwaltung
vor Cäsar sagt Mommsen folgende bezeichnende Worte (,,Römische
Geschichte'^ 5. Buch. S. 529): ,.Wen es zu ergründen gelüstet,
wie tief der Mensch sinken kann, sowohl in dem frevelhaften
Zufügen, sowie in dem nicht minder frevelhaften Ertragen alles
denkbaren Unrechts, der mag aus den Criminalacten zusammen-
lesen, was römische Grosse zu thun, was Griechen, Syrer, Pliö-
niker zu leiden vermochten". Er schildert dann, wie Cäsar mit
starker und einsichtiger Hand eine Besserung anstrebte, erzählt
von der Ueberschwemmung Roms durch Hellenen und Halb-
hellenen und illustrirt die Bedeutung derselben durch folgendes
Beispiel (S. 535): „Um nur der eminentesten Erscheinung auf
diesem Gebiete zu gedenken, so ist das Regiment der griechi-
schen Lakaien über die römischen Monarchen so alt wie die
Monarchie: der erste in der eben so langen wie widerwärtigen
Liste dieser Individuen ist Pompejus' vertrauter Bedienter Theo-
phanes von Mytilene Nicht ganz mit Unrecht ward er
nach seinem Tode von seinen Landsleuten göttlich verehrt: er-
öffnete er doch die Kammerdiener-Regierung der Kaiserzeit, die
gewissermaassen auch eine Herrschaft der Hellenen über die
Römer gewesen war''. Ich meine, man darf blos die letzten
Zeiten Jerusalems vor seinem Falle durch Titus kennen, um
überzeugt zu sein, dass Judäa absichtsvoll von diesen griechi-
schen Lakaien in den Untergang gehetzt wurde. Es ist eigen,
dass ein so gründlicher Forscher wie H. Schiller sich gemüssigt
sieht, die römischen Procuratoren in Schutz zu nehmen. In
Yerurtheilung dieser Leute istTacitus, dem man doch schwerlich
die Absicht, die Juden zu entlasten, zutrauen wird, ganz einig
mit Josephus. Erst hatten die Alexandriner die Verrücktheit
des Caligula, durchaus als wirklicher Gott verehrt zu werden,
aufs Gründhchste gegen die Juden verwerthet. Die durch seine
110
Calig'ula, Claudius und Xero griechische Freigelasseae
die eigentlichen Regenten von Rom gewesen wären,
die Gährung gegen Rom in Jndäa sich gelegt, die
Ermordung beseitigte Gefahr brachte aber nur kurze Besserung.
Tacitus sagt {Eist. 5,9—10): ,. Claudius überliess, als die Könige
gestorben oder auf einige Zeit zuiückgewiesen waren, die Provinz
Judäa römischen Kittern oder Freigelassenen, von welchen letz-
teren Antonius Felix in jeder Art von Grausamkeit und Willkür
Königsrecht mit Sclavenlaune übte. Vgl. Tacitus, Änn.Xll.^ 54:
Cuncta mcdefacta sihi impune ratus tanta potentia suhnixo.
liennoch hielt sich die Geduld der Judäer bis auf Gessius Florus."
AVie schwerwiegend sind nicht diese letzten "Worte gerade aus
der Feder des Tacitus! Auch für ihn also giebt es wie für
Mommsen „ein fievelhaftes Ertragen alles denkbaren Unrechts".
Wie sehr werden die sogenannten Zeloten oder sogenannten Räuber
in Judäa durch dieses Wort entlastet! — In der That, noch bevor
Gessius Florus das Aeusserste leistete, wie hatten es die Frei-
gelassenen am Kaiserhofe verstanden, die Juden aus der Erbitte-
rung nicht herauskommen zulassen. Man kann darüber streiten,
ob die Juden Eecht hatten, die von ihrem Könige Herodes ge-
baute Stadt Cäsarea als eine jüdische in Anspruch zu nehmen.
Felix hat sie ja für diesen Anspi-uch mit Waffengewalt zu Paaren
treiben, viele von ihnen niederhauen lassen, die Häuser Anderer
seinen Soldaten zur Plünderung preisgegeben (Jos., Ant. XX..
8, 7. B. J. IL, 13, 7). Dass aber auf ihre Klage in Rom ihnen
als Antwort gegeben wurde — ganz gleich, ob noch der Bruder
des Felix, Pallas, oder Burrus der Antwortende war — dass
ihnen sogar die Isopolitie daselbst genommen wurde {Ant XX., 8, 9;
B. J. IL, 14, 1). konnte doch nur Bedientenseelen einfallen, für
welche Gerechtigkeit nur ein leeres Wort, dagegen die KJL'änkung
der Juden ein angenehmer Spoii; war. Diese Antwort darf als
eine der schwerstempfundenen angesehen werden und als eine
Hauptursache des Krieges (Josephus. B. J. IL. 14. 4).
111
jüdische Xatioii den Krieg mit Rom vermieden hätte
und ein geduldiger Vasallenstaat des Reiches geblieben
wäre. In Alexandrien^), in Cäsarea-) und in anderen
hellenistischen Städten wurden die Xetze gefertigt,
in welche die Juden nothwendig sich verfangen
mussten, da die Antwort auf ihre Klagen scheinbar
von den römischen Imperatoren, in Wahrheit aber
von den Yettern und GTesinnungsgenossen der helle-
nistischen Anzettler gegeben wurde. So lange Cäsar,
Augustus und Tiberius — soweit nicht Sejan ihn
verführte — antworteten, merkt man den scharfsich-
tigen Imperatorenblick, der sich durch die verlogenen
Pseudogriechen nicht täuschen Hess. Das hätte auch
Hausrath nicht sollen. Es ist durchaus unquellenmässig,
wenn er schreibt, dass die Juden in den griechischen
Städten über Bedrückung klagten, wo sie selbst be-
1) Siehe die vorige Note.
2) Iq Midraseh Echa zum Satze: ,, Ihre Feinde wurden zum
Haupt'- (Echa 1, 5 Z'ii'h nni r.l) wird bemerkt, es beziehe
sich das auf Cäsarea, dem es einst an Bedeutung fehlte,
das aber nach Zerstörung Jerusalem Metropole und stark
bevölkerte Stadt wurde (]^'7l£"it:a inop "U?i:3 D^^^*^,' nnnra
]"'b*Sl2m). Letzteres Wort ist wahrscheinlich so viel wie i>a,a6-oÄ'.;.
dichtgedrängte, volkreiche Stadt, von ■9'au.TjS = d-^ix-ibz, dicht-
gedrängt. Ob Levy s. v. i"''?isnt3a dasselbe meint? es steht
dort ^ivro/z.v, was wohl Dnieklehler. Jedenfalls ist hier eine
gute Erinnerung an die Todtfeindschaft Cäsarea's, wenn gerade
der Satz: ,,dass Israels Feind Spitze, Haupt wurde'' auf Cäsarea
angewendet wird.
112
drückten 1). Als ob man die Xiedertracht der Alexan-
driner und die spiessbürgerliclie Engherzigkeit gewisser
hellenistischer Gemeinwesen in Asien nicht kennte,
denen es Spass machte, die Juden gerade am Sabbath
vor Gericht zu laden, ihnen das Geld wegzunehmen, das
sie für den Tempel in Jerusalem gesammelt hatten, ja,
die auch über den Spass hinausgingen und, wie aus
dem Decret des xiugustus hervorgeht, der sie mit der
Strafe des Sacrilegs bedroht, die heiligen Bücher nnd
das geweihte Geld der Juden stahlen, um sie in ihren
religiösen Gefühlen zu verletzen-).
Dieser kleinliche und wühlerische Hass der Halb-
helleneu, den schon Josephus in seiner ganzen Furcht-
barkeit erkennt'"') und den er durch seine Schriften
1) Hausrath, ..Neutestamentliche Zeitgeschichte'', IL, 96.
2) Josephus, Äntiqu. XYL, 6. Das Decret des Augustus
redet deutlicli genug. Xamenthch die AVoite: iäv ok t-l; -itopaO-f^
V.ÄS--OJV Tag bpa<; ßißXo'j': a-jxwv. y; -ä Ispa •/^A^.^.rj,z% sx ts ao-.^i^a-
Tsioo, r/. IS (5cvopojvoc »tvai UpöjoXov.
3) Antiqu. XVT.. 6, 8 sagt Jösephus ausdrücklich, dass
die apolegetisclie Tendenz seiner Schrift vorzugsweise um der
Griechen willen von ihm in's Auge gefasst worden, dass früher
ein Conflict zwischen den fremden Staats- und Stadt- Autoritäten
und den nach mosaischen Gesetzen lebenden Juden nicht be-
standen habe, dass Herrscher und Magistrate ihren Cultus be-
schützt hätten. Er wolle die Hellcsnen seinem Volke versöhnlich
stimmen und die Ursachen des unvernünftigen Hasses ent-
wurzeln.
113
wenigstens in seiner Contagiosität zu schwächen sucht,
wie ist er entstanden?
So eigenthümlich es auf den ersten Blick er-
scheint, er ist ursprünglich ganz allein das Werk der
Literatur, die aber freilich nur zum Ziele kommt durch
die für solche IJinge empfängliche Natur alles dessen,
was sich damals Hellene nennt. Auf Herrschaft hatten
die Hellenen damals längst verzichtet, sie waren willige
Sclaven, dafür durfte es aber auch nichts auf Gottes Erd-
boden geben, worin sie nicht die Lehrmeister des Men-
schengeschlechts waren. Barbarische Schriften sollten
etwas enthalten, was für die Welt maassgebender zu wer-
den drohte als ihre eigenen, das war nicht zu ertragen.
Daher die unaufhörliche Anschwärzung des alten Testa-
ments, der jüdischen Gesetze und Bräuche, daher jene
kleinlichen Züge von Verhöhnung, wie sie zum Beispiel
charakteristisch hervortreten in der Nachahmung eines
Opfers, das die Schrift für einen vom Aussatz Geheilten
anordnet, an der Thür einer Synagoge , um das Apio-
nische Märchen von dem Aussatz der Juden bildlich
zur Darstellung zu bringen i). Im zweiten Jahrhun-
dert wurde den Christen von Seiten der Griechen,
die Heiden geblieben waren, gerade so zugesetzt.
Tatian bezeugt, dass sie die römischen Behörden be-
^) Josephus, B. J.. II.. U, 4-5.
114
ständig gegen sie (die Christen) hetzen i), dass sie die
falschen Zeugen seien, die sie der Anthropophagie
beschuldigen-). Gleich sein erstes Wort an die Griechen
lautet: „Seid doch nicht gar so feindselig gegen die
Barbaren, ihr Griechen, und habt doch nicht so viel
Neid auf ihre Lehrsätze". Celsus freilich macht schon
die Concession, die Barbaren verständen es besser,
Lehren zu ersinnen, die Griechen dagegen, diese Lehren
zu entwickeln, sie gleichsam wissenschaftlich zu ge-
stalten 3). Doch hiemit sind wir schon in w^eitere Zeiten
hineingekommen. Wo fing das Spiel an?
1) Tatian gegen die Ghecbea c. 4: o:a -; yap av5peg"EXX7]-
V£S w3-£p SV ^''y([i-Ji 30Yv.po6£'.v ßo'jXsj^-s zac, r.oX'.zöioiC, y-aö-' Yjtxäc.
(.,Aus welchem Grunde, Ihr hellenischen Mäoner. hetzt Ihr wie
in einem Faustkampfe die Gemeinwesen gegen uns auf?"')
2) Tatian, c. 25: r.ap' y^iiTv ohv. eaxiv avO-pwTüocpaYca , ^psoSo-
}iapt'j>p£^, Ol l-i-Y^osDop-svo:, '(v(ma-t. Die deutsche Uebersetzung
in der Bibliothek der Kirchenväter unter Oberleitung Ton Dr. Thal-
höfer, S. 64, entspricht nicht genau dem Text: „^'ir essen kein
Menschenfleisch, Ihr seid falsche Zeugen, wenn Ihr das sagt, wie
Diejenigen, die es Euch gelehrt haben". Aber es ist gar nicht
von zwei Klassen die Rede, 1) Zeugen, 2) Lehrern, sondern es
muss heissen: „Ihr seid, indem Ihr diese Anschuldigung gegen
uns vorbringt, falsche Zeugen", wie die lateinische Uebersetzung
es richtig giebt (faJsi testes Jioc crimine contra nos conftcto
deprehensi estis). Hier ist ein directes Zeugniss, dass die Griechen
und nicht die Juden die Blutbeschuldigung gegen die Christen
aufgebracht haben.
3) Origines contra Celsum I., 2. Vergleiche darüber Keim,
„Celsus' wahres AVort", S. 4. Note 3. Keim macht die interessante
Bemerkung, wie im zweiten Jahrhundert die Yeracbtung des
115
Das hätte man schon aus Josephus lernen können,
wenn man nicht die leidige Gewohnheit hätte, den
Mann wegen gewisser Schwächen immer zu schul-
meistern und zu vergessen, dass, wo nicht das Be-
streben, sich persönlich zu rechtfertigen oder die Eück-
sicht auf das Flavische Kaiserhaus ihn vom rechten
Wege ablenkt, er, was Wahrhaftigkeit betrifft, die
meisten zeitgenössischen Autoren überragt. Hausrath
meint, dass die Antiquitäten des Josephus nicht den
von ihm gewünschten Erfolg gehabt hätten, die damals
vorhandenen Yorurtheile gegen die Juden zu beseitigen.
Es sei überhaupt ein „doctrinärer Irrthum unseres
Yerfassers gewesen, zu meinen, die Abneigung der
heidnischen Welt gegen die jüdische sei auf litera-
rischem Wege zu überwinden'*. Aber ich hätte ge-
wünscht, dass das zweite Jahrhundert einen Autor
von der Bedeutung des Verfassers, der den Apion
bekämpft, gehabt hätte, um die neuen Anschuldigungen
gegen die Juden zu widerlegen. Es stände heute viel
besser. Es ist wahr, dass handgreifliche Folgen der
Joseph 'sehen Yertheidigung sich nicht zeigen. Tacitus
z. B. lässt sich dadurch nicht stören, in seinen Nach-
richten über die Juden den trübsten alexandrini sehen
Quellen zu folgen. „Leider", sagt Ewald, „ist auch
Fremden, Barbarischeu mit der Bewunderung der barbarischen
AVeisheit kämpft.
116
Tacitus durch solche zu seiner Zeit vielgelesene
schlechte Alterthumsfor scher verführt, er giebt eine
Menge verschiedener Meinungen über den Ursprung
des Volkes der Juden, aber die ihm am besten ge-
fallende ist die erbärmliche Erzählung des Lysimachos,
welche er noch etwas weiter herabgeführt mittheilt
als Fl. Josephus""^). Aber das beweist nur, dass der
politische Hass blind macht und dass das Verlästern
leichter ist, als das Entlasten. Aber wer will wissen,
wie viele gebildete Heiden durch die Bücher des
Josephus dennoch sich veranlasst sahen, die Bibel
zu lesen und das Judenthum mit anderen Augen an-
zusehen? Celsus. Xumenius, Bio Cassius reden doch
schon anders vom Judenthum, und die Zeit nach
Josephus zeigt ohne Frage einen Umschwung.
Jedenfalls war der Gedanke des Josephus richtig,
dass das, was durch die Literatur gesündigt worden,
nur durch sie wieder hergestellt werden kann. Und
der Judenhass ist thatsächlich durch die Literatur
entstanden und es lässt sich Zeit und Stunde noch
heute nachweisen.
Sein Ursprungsland ist Aegypten, wo
man nach Bekanntschaft mit der dort über-
setzten griechischen Bibel es als eine Krän-
kung der nationalen Gefühle empfand, dass
1 ) Ewald, ..Gesch. des Volkes Israel-, II., 3. Ausg., S. 130.
117
die Aegyptier bei der Yolkswerdung Israel's
eine so wenig schmeichelhafte Eolle sollten
gespielt haben.
Man wehrte sich mit nnfläthiger Entstellung der
mosaischen Erzählung vom Auszüge aus Aegypten und
mit Ersinnen von Fabeln, die heute einer Wider-
legung nicht bedürfen.
Wenn der gewissenhaftere Manetho Geschichte
und Geschwätz der Aegyptier noch sorgfältig scheidet
und die Yerwechslung der Juden mit den Hyksos, die
Ja auch Josephus sich gefallen las st, ihm unfreiwillig
begegnet, so T\'ird die Entstellung der altisraelitischen
Geschichte von den gewissenlosen Autoren Chäremon
undLysimachi) gewerbsmässig betrieben, so dass nur
ein Specialist im Anschwärzen und Erfinden, wie
Apion, sie übertreffen konnte.
1) Yergl. meinen Yorti-ag: .,Der Kampf des Heidenthums
gegen die Juden und Christen in den ersten Jahrhunderten der
römischen Cäsaren". Sehr belehrend für das hier Verhandelte ist
J. G. MüUer's Ausgabe des „Josephus contra Apionem". ObM'ohl
es dem Yerfasser nicht vergönnt gewesen, die letzte Hand an
seine Schrift zu legen, so ist sie doch ausserordentlich werth-
Yoll. Yergl. auch Knobers Comjnentar zu Exodus 12—13 (von
Seite 112 ab), der vortrefflich die Sachen zusammenstellt und
beurtheilt. Doch füge ich Eines hinzu. Es wird sich wohl kaum
umgehen lassen, in Manetho's Zeit die erste Bekanntschaft der
Aegyptier mit der Bibel zu setzen. Das. was man damals, nach
Manetho's AYorten, über die Müden zu fabeln anfing (xa li-yO-sDÖ-
;j.sva zsp'l Tojv 'lo'joaiojvj, nimmt sich schon wie eine der
118
lieber die traurige Figur, welche diese Helden
spielen, brauche ich nichts zu sagen. .,Apion'-, sagt
der geistvolle Hausrath. „hatte seine Quellenforschungen
über den Ursprung der Juden in den Tabernen
Alexandriens gemacht und da nicht blos ein sehr
ergötzliches Material zusammengebracht, sondern das-
selbe auch mit entschiedenstem Talent für alles
Schmutzige vorgeü-agen^'^).
Aber Apion fand dennoch bei den Römern einen
gut vorbereiteten Boden, um seine Giftsaat auszustreuen.
Längst hatten Männer wie der in Philosophie und
Leichtgläubigkeit hervorragende Posidonius (135 bis
51 V. Chr.)-'), ApoUonius Molo (70 v. Chr.) 3) und
Andere die alexandrinischen Flunkereien als jüdische
biblischen Erzählung Opposition machende aus. Manetho soll
nach Plutai'ch unter Ptolomäus Lagi (gest. 284) gelebt haben,
was ja nicht ausschliesst , dass er die Zeit der üebersetzung der
Bibel noch erlebt und mit Schriftstellerei erfüllt hat. Jedenfalls
verdiente der Punkt eine nähere Untersuchung, da er die Zeit,
zu welcher mindestens der Pentateuch griechisch schon vorhan-
den gewesen, zu fixiren geeignet ist.
1) Xeutestamentliche Zeitgeschichte, III., S. 296.
2) Vergl, über ihn Zeller, ,,Die Philosophie der Griechen",
III a., 3. Auflage, S. 572—584. Seine Leichtgläubigkeit rückt
ihm vor Strabo bei Zeller, S. 575, Note 1.
3) Ueber ihn spricht Josephus contra Apionem sehr häufig
II.. 2, G u. a. V. a. 0. Tgl. über ihn die Ausgabe des „Josephus
contra Apionem" von J. G. Müller, S. 230. Die Fragmente
seiner Schriften in Carl Müllers „Fragmenta hist. graec.'',
III., 208, 212.
119
Geschichte auf den römischen Markt geworfen, so
class es uns nicht Wunder zu nehmen braucht, wenn,
wie einst Cicero, der als Pompejaner die Juden gegen
sich hatte, sich daran erbaut, so später Tacitus, der
in den Juden nicht blos den Kriegsfeind Kom's,
sondern auch den bedenklichen Gegner des national-
römischen Cultus sah, auf solche Autoritäten hin seine
ihm wahrlich nicht zum Kuhme gereichenden Ansichten
über Juden und Judenthum vorbringt.
Es giebt meines Erachtens nichts Belehrenderes
und Warnenderes als die Stellen des Tacitus über
die Juden. Man hat früher, wo es sich um Tacitus
handelte, die unvergleichliche Grösse des Schriftstellers
mit der Bedeutung des Forschers verwechselt. Ein
Schriftsteller, der oft in einem Satze mehr zu denken
gibt, als Andere auf Seiten, lässt leicht vergessen, dass
es mit der Verlässlichkeit seiner Quellen schlimm
bestellt ist. Die heutige Kritik hat, wo es sich nicht
um Juden handelt, bereits festgestellt, dass er, wie
kaum gesagt zu werden braucht, wohl verlässlicher
ist als Autoren von dem Schlage des Sueton, dass
aber auch seine Quellenforschung „erstaunlich tief
stehti). Indess, wer will die Bilder verdrängen, die
1) Hermann Schiller, „Geschichte des Römischen Kaiser-
reichs unter der E,egier\ing des Nero", S. 7 sagt: „Wir sind
gewohnt, Tacitus als das Muster eines Geschichtschreibers preisen
120
er einmal von den Kaisern des Julischen Hauses ge-
zeichnet hat? Man kann daraus am besten die ver-
hängnissYolle, difiamirende Macht der Literatur er-
kennen, und es sollte den Forschern unserer Tage
nicht entgehen, dass für .jüdisch" nicht gilt, was im
Leben als ,güdisch'* sich zeigt, sondern was die Lite-
ratur, und zwar eine bitterfeindliche, als ,güdisch^'
hinzustellen für gut befunden. Wo zeigt sich das
"besser als bei Tacitus ? Wie viele von den Taciteischen
Sätzen getraut sich heute der ärgste Judenfeind, wenn
er etwas auf sich hält, als auch nur annähernd der
Wahrheit entsprechend zu vertheidigen ? Sein römischer
Nationalstolz erlaubte ihm leider nicht, die Bibel oder
wenigstens den Josephus zu lesen. Denn dass ein
Mann wie Tacitus, wenn er auch dadurch seinen Hass
nicht verloren hätte, sich doch gescheut haben würde,
solches kritiklose Zeug über die Juden zusammen-
zuschreiben, braucht doch wohl nicht gesagt zu
werden.
Die Judäer staromen aus Kreta (Idäer), wo sie
in der Zeit, da Jupiter über seinen Täter Saturn
zu hören, und es mag dies Lob in mancher Hinsicht gegründet
sein; nur darf man darunter nicht die Quellenkritik
und die eigene Forschung begreifen: denn diese stehen
auch bei Tacitus erstaunlich tief. A^ichivalische
Studien hat er nie gemacht (üSTipperd. Einl. zu Tac. Ann.
p. XXII. 5)".
121
gesiegt, nach dem äussersten Rande Libyens geflohen
seien. Die Weisheit Anderer macht sie zu äthiopi-
schem Volk, das, von Herrn Hierosolymus und Herrn
Juda geführt, in die Aegypten benachbarten Länder
gekommen sei. Gelegentlich werden sie auch Assyrer,
die sich eines Theiles von Aegypten, später des von
ihnen bewohnten Landes bemächtigt, ja — o Grianz ! —
sie seien sogar die Solymer, von denen Homer singt.
Indess, worin sich natürlich die „meisten'- dieser edlen
Forscher — ob sie dabei gelacht, wird nicht berichtet
— geeinigt haben, das ist der Bericht, nach welchem
sie um einer Seuche willen als götterverhasstes
Menschenvolk auf Befehl dieser Götter von König
Bocchoris in die Einöde getrieben worden seien. Dort
in Verzweiflung, von Göttern und Menschen verlassen,
wären sie dem Durste erlegen, wenn sie nicht durch
eine Heerde Esel gerettet worden wären. iSTatürlich
lehrte sie ihr Führer Moses diesen Eseln dankbar
sein. Folgen für einige Ceremonialgesetze die denkbar
läppischesten, knabenhaftesten Motivirungen.
Was aber das Erstaunlichste ist und uns einen
Blick thun lässt in den Zustand eines heidnischen
Gemüthes und in eine heute für uns versunkene
Welt, ist die Art, wie Tacitus die geistige Gottes-
verehrung der Juden mit zu ihren Abgeschmackt-
heiten und Niedrigkeiten rechnet. „Die Aegyptier'S
sagt er, „verehren allerlei Thiere und selbstgeschaffene
122
Bilder; die Jiidäer erkennen im Geiste nur eine ein-
zige Gottheit. Gottlos seien Alle, die von Göttern
sich aus irdischen Stoffen menschlichen Gestalten
ähnliche Bilder schüfen; jenes höchste, ewige Wesen
sei weder darstellbar, noch auch vergänglich. Daher
dulden sie keine Götterbilder in ihren Städten, ge-
schweige in den Tempeln. Nicht Königen^ wird
solche Schmeichelei, nicht den Cäsaren solche
Ehre. Weil aber ihre Priester Flöten- und Pauken-
spiel erschallen lassen, sich mit Epheu kränzten und
man eine goldene Rebe fand im Tempel, haben Einige
gemeint, es werde Vater Bacchus verehrt, des Morgen-
lands Bezwinger, womit doch keineswegs ihre Satzun-
gen zusammenstimmen. Bacchus hat ja festlichen und
fröhlichen Brauch geordnet, der Judäer Weise ist
abgeschmackt und niedrig^' i).
1) Tacitus, Hist. V., 5. Wie viel Heidenthum liegt niclit
in den wenigen Worten : „non regihus liaec adulatio, non Caesa-
ribus honor". Ich. bin überzeugt, dass bei uns in Deutschland
die Ehrfurcht vor dem regierenden Fürsten eine ehrlichere ist
als im alten Eom, aber gerade, weil die Heiden nicht sowohl
einem moralischen Bedürfniss in Verehrung dessen, der die
Majestät des Staates repräsentirt , genügten, als vielmehr ihren
Respect abhängig machten von der Macht zn nützen oder zu
schaden, war ihnen die Macht Caesar's verehrungswüi-diger als die
der Götter. — Merkwürdig, in neuerer Zeit hat maa gerade den
Optimismus der Juden angegriffen (Schopenhauer) uod hatte in
der Beziehung mehr Recht als Tacitus. Das Freudenfest der
Juden war nicht blos das längste Fest, sondern das Fest xax'
123
Wie viel Werth hat es -nun, wenn derselbe Tacitus
lind Schriftsteller, die unter ihm stehen, von dem
Aberglauben der Judäer reden? Wir können das
sogar ziemlich genau ermessen. Wie „abergläubisch"
die Juden sind, zeigt er an einer Stelle in recht
significanter Weise. Bei Schilderung der letzten Tage
Jerusalems sagt er: „Wohl hatten Wunderzeichen sich
ereignet, die jedoch dies dem Aberglauben er-
gebene, heiligem Brauche abgeneigte Volk
weder durch Schlachtopfer, noch durch Ge-
lübde zu sühnen für gestattet hält. Schlacht-
reihen sah man über den Himmel hin zusammen-
treffen, rothfunkelnde Waffen und von plötzlichem
Wolkenfeuerschein den Himmel erhellt. Mit einem-
male thaten sich die Thüren des Heiligthums auf
und man vernahm eine übermenschliche Stimme: ,Die
Götter ziehen aus' und zugleich der Ausziehenden
gewaltiges Getöse" i).
Ist es nicht so? Wenn wir das stolze Keden
patriotischer Heiden, als deren besten Repräsentanten
wir ja Tacitus gelten lassen können, über die jüdische
und dann über die christliche ., Superstition" ver-
ilo^Yiv, :n-Hütten-Ereiidenfest. Dass die Schrift Fröhhchkeit
wünscht, vorschreibt, iinzähligemal vorschreibt, nui- nicht baccha-
nalisohe, wusste Tacitus freilich nicht. nniSU? HKl x'rr "Ö bs
l^a^ö nnttü nxi i<'7 ri^i^'Z^n n'2 heisst es in Mischnah, Sukkah V.,1.
1) Tacitus, mst. V., 13.
124
nehmen und uns dabei erinnern, dass diese Männer
die lächerlichsten Prodigien, für die heute kaum eine
alte Frau empfänglich ist, wie wichtige Staatsactionen
buchen, so können wir daraus lernen, was für ein
seltsames (reschöpf der Mensch in seinem Wahn ist,
selbst wenn es zufällig ein so hervorragender Mensch
wie Tacitiis sein sollte.
Das Alles brauchte man aber heute nicht zu
zeigen und wir könnten uns des Tacitus erfreuen,
ohne seiner literarischen Sünden zu gedenken, wenn
nicht, wie der Judenhass erster Serie (der heid-
nische) aus der Literatur entsprungen ist, so auch
eine spätere Literatur den viel bedenklicheren
Judenhass zweiter Serie, den mittelalterlichen und
neuzeitlichen, erzeugt hätte.
Dafür habe ich Hausratli selbst als gewiss un-
parteiischen Gewährsmann und gebe darum die Sache
lieber mit seinen "Worten, als mit den meinigen. Er
sagt: „Schon Lncas redet eine entschieden juden-
feindliche Sprache. Wie er im Evangelium die Schuld
der Juden stärker betont, als die der Eömer, so lässt
er in seiner Geschichte der Apostel die Juden überall
als Verleumder des Christenthums erscheinen, die die
heidnische Obrigkeit gegen die Gemeinde aufstacheln
u. s. w.*'i). Er fährt dann fort: „Dennoch sind die
1) Hausrath, ..Xeutestainentliche Zeitgesch,'-, III., S. 526.
125
Urtheile des vierteD Evangelisten über das Judenthiim
noch um ein Beträchtliches härter und man fühlt
deutlich, wie in Folge des zweiten jüdischen Krieges
die Erbitterung gegen das yerhasste Volk unermesslich
gewachsen ist. Es ist kaum ein erheblicher Unter-
schied zwischen der Gesinnung des Tacitus gegen die
Juden und der des vierten Evangelisten, und dieses
„Evangelium der Liebe'' hat am Hass der Zeit
Hadrians gegen die Juden seinen reichlich zugemes-
senen Antheil. Für Tacitus sind die Juden die Feinde
des menschlichen Geschlechts, für den vierten Evan-
gelisten sind sie schlechtweg Feinde des Lichts, des
Messias, Gottes. Ber vierte Evangelist hat dem Juden-
hass seine religiöse Prägung gegeben, indem er die
Juden schlechthin als das Volk zeichnet, das Jesum
von der ersten Stunde an tödten will, zu tödten ver-
sucht und schliesslich wirklich tödtet. Yordem hasste
man den Juden aus nationaler Abneigung, der mittel-
alterliche religiöse Hass dagegen geht wesentlich auf
die Darstellung des vierten Evangelisten zurück, für
den die Juden nicht mehr das Volk sind, das Jesus
vor allen Anderen retten wollte, sondern das, das ihn
gemordet hat" i).
Hausrath i^eigt hier den freien Blick, der ihn
erkennen lässt, dass trotz des hohen Geistes, von
1) Hausrath, „Neutestamentl. Zeitgesch/', III., S. 528.
120
welchem das Evangelium Johannis durchweht ist,
dennoch die furchtbare Erbitterung, welche der Bar-
kochba'sche Aufstand gerade in christlichen Kreisen
gegen die Juden nachgelassen hat, auf die Behandlung
der Juden in diesem Evangelium mächtig eingewirkt.
Das versteht sich, dass dazu eine grosse Zahl anderer,
wenn auch minder hochstehender Schriften des zweiten
Jahrhunderts gefügt werden könnte, denen eine gleiche
Wirkung entstammte.
Tritt ihm aber hier selbst die Macht der Literatur
in ihrer ganzen Furchtbarkeit entgegen, so wird es
ihn nicht mehr AYunder nehmen, wenn ich die Bedeu-
tung gerade gut geschriebener Schriften der Gegenwart
nicht unterschätze, die bisweilen, vielleicht ihren
Autoren selbst unbewusst, bei Schilderung der Juden
jener Tage die Farben statt aus den alten Quellen,
aus ihren eigenen modernen Yorurtheilen holen. Das
ist's, was ich erst noch zeigen will, bevor ich auf
die Tacitusstelle. welche von der Neronischen Christen-
verfolgung handelt, näher eingehe. Es ist nicht
Zufall und nicht Laune, die mich bestimmt, gerade
aus Kenan und aus Hausrath Beispiele anzuführen.
Vielmehr weil beider Männer Schriften durch ihre
Form die Chance haben, auch in nicht fachliche
Kreise zu dringen, hat das, was sie sagen, eine
Tragweite, die man nur der beweisbaren Wahrheit
concediren darf.
12"
Ich wähle nicht sonderlich, greife thatsächlich
nur heraus, denn „wo Ihr's packt, ist's interessant".
Nehmen wir zunächst ein paar Sätze aus der Kenan-
schen Schilderung der Juden in Rom in seinem Buche
„Die Apostel". Er sagti): „Ihre seltsamen Gfebränche,
ihr Abscheu gegen gewisse Speisen, ihre Unsauberkeit,
ihr Mangel an äusserer Haltung, der schlechte Geruch
ihres Athems'-), ihre religiösen Scrupel, ihre kleinliche
Aengstlichkeit in Beobachtung des Sabbath werden
lächerlich gefunden ^'). Von der Gesellschaft in Bann
gethan, geben sich die Juden, was eine natürliche
Folge davon war, keine Mühe, äusserlich mit Anstand
zu erscheinen. Auf Reisen fand man sie überall iji
Ton Schmutz starrenden Kleidern, mit linkischem
Benehmen, abgespannten bleichen Gesichtern, dunkeln
kranken Augen-^), frömmelnder Miene, eine sich ab-
sondernde Bande ausmachend mit ihren Frauen, ihren
Kindern, ihren zusammengeschnürten Decken und dem
1) Eenan. ,,Die Apostel*' (deutsche Ausgabe), S. 303.
2) [Eenan'sche Anmerkung, Martial, lY., 4. Aniii. Marcel-
linus XXII., 5].
3) [Renan'sche Anmerkung. Suetou, August. 76; Horaz,
Seit. 1. 9, 69 fg.; Juvenal III.. 13-16. 29b.; VI., 156—160,
542-547; XIV.. 96-107; Martial IV.. 4 ; VII., 29, 34,54;
XI., 95; XII., 57; Rutilius Numatianus a. a. Ö. und besonders
Josephus contra Äpionem II., 13: Philo, Lec/„ ad Cajum
§ 26-28].
4) [Ren. Anm. Martial XII.. 57].
128
Korbe, der ihr ganzes Mobiliar enthielt i). In den
Städten tiieben sie die armseligsten Gewerbe, sie
waren Bettler, Lumpensammler, Trödler, Zündholz chen-
verkäufer" -).
Darauf vernehmen wir eine kleine Friedens-
schalmei bei Renan, lautend : , Jn ungerechtester Weise
hat man ihr Gesetz und ihre Geschichte herabgewür-
digt u. s. w.-'. die dann bald in die gewohnte Schauer-
melodie einlenkt. Was ist nun von dieser ganzen
Renan 'sehen Schilderung zu halten und von der
überwältigenden Fülle von Citaten, die als j}ihces
justificatives die Darstellung zu einer unzweifelhaften
machen sollen? Der Leser muss schon ein Avenig
misstrauisch werden, wenn er Martial lY., 4 ziemlich
oft, ITartial XU., 57 auf einer kurzen Strecke sogar
sechsmal citirt findet. Was muss nicht AUes in
diesem Epigramm MartiaFs stehen ! In der That findet
der Leser, der prüft, sein [Misstrauen belohnt. Die
Sache steht so : Von der Renan'schen Schilderung ist
quellenmässig richtig, dass die nach Zerstörung Jeru-
salems als Sclaven nach Rom gekommenen und dort
zum Theil freigelassenen Juden, wie kaum gesagt
zu werden braucht, arm waren und betteln mussten:
1) [Eenansche AnmerkuDg. Juvenal. Sat. III., 14; VI., 542].
2) [Ren. Anm. Juvenal IIL, 296: VI., 543 fg.; Martial 1,42;
XII., 57. Statins, Süvae 1. 6, 73. 74. Vgl. Forcellini unter dem
A\'oite s u Iph 1 1 mtxm] .
129
.Jch ward .getränkt mit Bitternissen
Icli ward bedrängt von schweren Sorgen,
Ich musste lügen, ich musste borgen
Bei reichen Buben und alten A^etteln.
Ich glaube sogar, ich musste betteln.
Ebenso dass ein Mann wie Martial ein grosses
Talent, aber ein kleiner Charakter, dessen Specialität
Bordellstudien waren, noch lieber wie Horaz jede
Gelegenheit wahrnahm, um einen Cynismns über die
„beschnittenen" Juden zum Besten zu gebend). Da-
gegen ist „der schlechte Geruch des Athems, der
Mangel an äusserer Haltung, die schmutzstarrenden
1) Friedländer, „Darstellungen aus der Sittengeschichte
Rom's, 1. Theil (S. 19B) : Seine Gedichte zeigen hinlänglich, wie
äusserst gedrückt, ja unwürdig die Lage der Ritter sein konnte,
denen die Mittel zum standesgemässen Leben fehlten und die
zum anständigen Erwerb zu träge oder ungeschickt waren. Er
war durchaus auf die Unterstützung reicher oder vornehmer
Gönner angewiesen und nahm keinen Anstand, diese so wie den
Kaiser immer aufs Xeue anzubetteln (an Domitian V., 19; VI, 10;
VII., 60; VIIL, 24; an Regulus VII., 6(); an Stella VII., 36 u.s.w.) ;
seine AVünsche waren bescheiden, er bat auch wohl um einen
guten Mantel (VI., 82), und eine feine Toga, die er von dem
kaiserlichen Oberkämmerer Parthenius zum Geschenk erhielt,
hat er in zwei Gedichten besungen, als sie neu und als sie
abgenutzt war (VIIL, 28; IX., 49). Jahre lang leistete er
um das tägliche Brod die niedrigsten Clientendienste. Seine
Muse stand jedem zu Diensten, der sie belohnte (Plinius,
Epist III., 21).
9
130
Gewänder, die abgespannten bleichen Gesichter, die
dunkeln kranken Augen", ja selbst die Aufzählung
der armseligen Gewerbe, denen gerade die Juden ob-
gelegen haben sollen, zum Theil einfach Phantasie,
zum Theil unselbstständige und darum verfehlte Be-
nutzung der Quellen.
Für den „schlechten Geruch des jüdischen Athems*'
beruft sich Kenan auf Martial lY., 4 und Ammianus
Marcellinus XXIL, 5. Was steht Martial IV.. 4?
Folgendes: Martial hat den schlechten Athem studirt,
wo die jeunesse dorre des damaligen Rom ihre Studien
machte, nämlich bei einer Dirne. Die Dirne heisst
Bassa und er will sie ärgern, indem er allerlei
schlechte Gerüche, etwa zehn, ausrechnet, die ihm
weniger widerwärtig seien, als Bassa. Unter den
schlechten Gerüchen kommt auch der schlechte Geruch
Derer vor, die sicli durch Fasten am Sabbath (Ver-
söhnungstag) den Athem verdorben haben (qiiod je-
junia sabbatarioriwi oder sahhatarianmij. Dass Martial
hier bei Gelegenheit seinen heidnischen Spott über
das Fasten der Juden oder Jüdinnen (je nach der
Lesart) am Versöhnuugstage ausgiesst, ist richtig.
Lächerlich aber ist es, aus dieser Stelle zu folgern,
dass Martial dauernd den Juden einen übel riechenden
Athem zuschreibt. Er denkt sich nur, und denkt ja
darin ganz richtig, dass ein Mensch, der vierund-
zwanzig Stunden weder Speise noch Trank zu sich
131
genommen, schlecht riecht, natürlich nur so lange,
bis er wieder gegessen hati).
Aber enthält Ammianus 3Iarcellinns niclit ein
gutes testimonmm für den foetor Judaicits, den noch
Schopenhauer recht liebevoll verwerthet? Vielleicht
überzeugt sich Renan aus einer guten Textausgabe
des Ammianus, dass wir es hier mit einem Liebes-
dienst zu thun haben, den das Mittelalter den Juden
erwiesen hat, indem es statt der Worte: „der Kaiser
sei der ihn mit Bitten und Lärm bestürmenden Juden
überdrüssig geworden'' (Judaeorum petentium et tumul-
ümnÜum taedio percitus) gesetzt hat „der Kaiser sei
der stinkenden und lärmenden Juden überdrüssig ge-
worden". Das Kunststück wurde geleistet durch Yer-
wandlung eines j) in ein f , durch Schreibung von
fetentium statt petentium. Nicht blos merkt der neueste
Herausgeber-) an, dass fetentium eine Verbesserung
aus zweiter Hand sei und dass in der Rasur ein p
statt eines f stehe, sondern der Sinn des ganzen
Satzes-^) erlaubt gar keine andere Lesart. Denn die
1) Dass Martial die Juden nicht gar so iinangeaelini kann
gefunden haben, beweist der Umstand, dass er einen jüdischen
Sclaven hatte, wozu ihn doch Keiner nöthigen konnte. Martial
YIL, 35; idem VII., 55.
2) Franciscus Eyssenhardt, BerUn 1871, S. 232, in den
textkritischen Anmerkungen.
3) Der Satz lautet vollständig: ,JUe enim (Marens) cum
Palaestinam transiret Äecßuptum peterm, Judaeormn petentium
9*
132
,.Thorheit" (ineptia) der Juden kiinn doch nicht aus
ihrem Athem, sondern nur aus ihren Forderungen
(Petitionen) erkannt worden sein.
Der Geruch des Athems hat einen physiologischen
Grund und er Avurde sicherlich in den römischen
Schandhäusern gründlicher verdorben als in den
Synagogen und in den Häusern der Juden. Das steht
auch im Martial. Wer darüber sich unterrichten
will, der lese das Epigramm XII., 86 des Martial und
ebenso seine unzweideutige Andeutung L, 83, warum
der Maneja ein Hündchen Lippen und Antlitz leckt.
Freilich wollte man auch den Juden ihren Antheil
an dem römischen Schmutze nicht verkümmern.
Keim^) entdeckt einen jüdischen Bordellwirth nach
den Angaben Juvenal's 8, 159 ff. Aber da die Be-
zeichnung dieses „balsamtriefenden'' Wirths als „Syro-
Phönike" durchaus keinen Anlass giebt, an einen
Juden zu denken, ja die genaue Angabe, wo diese
et tumuUuantiiun saepe taedio percitus dol enter dicitur (Wer
hat es bezeugt?) exclamasse : 0 Marcomanni, o Quadi, o Sar-
matae. tandem aJios vohis ineptiores inveni^'. In Schürer, „Neu-
testamentliche Zeitgeschichte*', S. 392 wird die Stelle folgender-
maassen angeführt: „tandem alios vohis inertiores inveni''.
AVäre die Lesart richtig, so müsste es um des Sinnes willen
siatt petentiiim: feriantium heissen, was dann auf ihren Sabbath
ginge. Indess, da Eyssenhardt keine Variante anmerkt, so halten
wir uns an seinen Text.
1) ..Rom und das Christenthum" S. 100, Note.
133
Menschenklasse heimisch ist, nämlich nicht in Palästina
und nicht in Cölesyrien, sondern in Syrophönicien,
den Gedanken an einen Juden ausschliesst, so müssen
wir leider auch von Keim sagen, dass er hinein- und
nicht herausgelesen hat. Juvenal redet ja gar nicht
so selten von Juden und immer, wo das geschieht,
ist das durchaus deutlich und unmissverständlich.
Doch auf Juvenal kommen wir noch und Avollen uns
einstweilen in der Weiterprüfung der Renan'schen
Citate nicht stören lassen.
Was eigentlich das völlig harmlose Wort des
Augustus, welches Sueton 76 berichtet, beweisen soll,
ist mir unerfindlich. Augustus beklagt sich über
Appetitlosigkeit und schreibt: „Kein Jude fastet so
streng am Sabbath , mein lieber Tiberius , wie ich
heute gefastet habe''. Die Römer meinen nämlich, dass
die Juden am Sabbath fasten, während ihnen um-
gekehrt für gewöhnlich das Fasten an diesem Tage
verboten, ja bessere Kost vorgeschrieben ist. Es ist
das natürlich eine Yerwechselung mit dem Yersöh-
nungstage, der gleichfalls Sabbath, ja Sabbatha Sab-
bathon (Leviticus 16, 31) genannt wird. Spott lese
ich in den Worten des Augustus nicht. Aber der
„Schmutz, die bleichen Gesichter, die dunkeln kranken
Augen", wo bezieht die Renan her? Natürlich aus
der unerschöpflichen Fundgrube, aus Martial, oder
richtiger aus einer Uebersetzung des Martial, die von
134
einer genauen Einsicht in den Urtext doch nicht
dispensiren darf. Martial XII., 57 erklärt seinem
Preimde Sparsus, warum er so oft das lärmende Rom
mit seinem einfachen Landhause vertauscht. Er hat
in der Stadt keine Euhe. Ihn stören Schulmeister,
Bäcker, Schmiede. Geldwechsler und Andere. Unter
diesen Störenfrieden figuriren auch ein von seiner
Mutter zum Betteln ausgeschickter Judenknabe und
ein triefäugiger Schwefelhändler. KatürHch muss der
Schwefelhändler ein Jade sein. Wer sollte auch
anders mit Schwefel handeln? Leider aber handelt
hier ein Anderer mit Schwefel. Der lateinische Text,
der die verschiedenen Beunruhiger mit tiec — nee
einführt, sagt das Jedem ganz unzweideutig. Es
heisst:
A matre äoctiis nee rogare Judaens.
Kec siüphtiratae Jippus institor mercis.
Renan hätte umgekehrt daraus lernen sollen, dass
auch der Hausirer, der nach Martial I., 41 „drüben
vom Tiber her gelbliche Schwefelfäden für zerbrochenes
Glas eintauscht", darum, weil er jenseits des Tiber
wohnt, noch kein Jude ist. Freilich verlieren dadurch
die Juden ihre Triefäugigkeit und ihr verschwefeltes
Angesicht. Aber das hätte ihnen Martial auch gewiss
nicht geschenkt, wenn sie daran gelitten hätten. Die
Juden waren damals noch gar nicht so dem Handel
ergeben. Josephus sagt in einem Buche, das doch
135
«•erade in erster Linie für Hellenen bestimmt ist:
„"Was uns anbetrifft, so bewohnen wir weder ein
Küstenland, noch haben wir Freude an Handels-
geschäften und stehen darum auch nicht viel in
Verkehr mit Anderen. Unsere Städte lieg-en vom Meere
ab und unsere Beschäftigung ist das gute Land, das
wir bewohnen , anzubauen'' i ). Das hätte er doch
sicherlich nicht zu sagen gewagt, wenn man schon
damals in jedem Händler einen Juden gesehen. "Wie
steht es denn nun mit den Worten Kenan's: „In
den Städten trieben sie die armseligsten Gewerbe, sie
Avaren Bettler, Lumpensammler, Trödler, Zündhölzchen-
verkäufer''(!). Die Zündhölzchenverkäufer kennen wir
schon, sie sind der bekannte „Schwefelhändler''. Aber
Aver trieb denn nach dem Zeugnisse der Satiriker die
schmutzigen Gewerbe? Wirklich Juden? Hören wir
Juvenal selbst:
Lass' mich die Heimath fliehen. Dort leb' Artorius, dorteii
Catulus, bleiben sie da, die Schwarz in AVeisses verdrehen.
Denen es leicht ist, Bauten und Flüss' und Häfen zu pachten,
Oder das Trocknen des Sumpfs, und zur Brandstatt Leichen zu
schaffen,
Und ein verkäufliches Haus vor die Lanze zu bringen.
Die Hornbläser vordem, und einst der Arena der Landstadt
1) JosepJins contra Äpionem I., 12: -fiixslg xotvov oots yuypix^
ol-/.o5iJ.£v TcapdX'.ov, oox' sjJLTiGpLa'.;; /aip&|J.£v, 0'J0£ ir/tg TZpbc, ahXo'jc,
rj'.b. xo'j-ojv 8-:jj.'.iia'.c äiX slciv [Jisv Y|[jlcöv al TiÖKzic {Jiav.pav ä^ö
136
Xiemals felilend Geleit und bekanat in den Städten von Backe
Geben nun Spiele dem Volk, und wendete dieses den Daumen,
Tödten sie, wen es verlangt, volksfreundlich: kommen sie von
dorther.
Pachten sie Tragleibstühl" : imd warum nicht Alles? Gehören
Doch sie zur Sorte der Menschen, die tief aus demKothe Fortuna
Hebet zum Gipfel der Macht, so oft ihr zu scherzen beliebefi ).
Dass das keine Juden sind, die der Dichter hier
schildert, ergeben die Worte des Dichters selbst. Es
ist wahr, Juvenal trifft auch die Juden mit seiner
satirischen Geissei. Aber muss er darum zugestutzt
und auf sein Conto Xeues gesagt werden? Juvenal
sieht scheel auf Alle, deren Kindheit nicht aventinische
Luft eingeathmet 2) , auf alle Fremden. Wir werden
sehen, dass die Juden nicht diejenigen Fremden sind.
denen er seinen intimsten Groll widmet. Von ihnen
sagt er, dass sie arm seien, dass sie ein geringes
Hausgeräth haben, dass man sich um wenig Geld die
Gesetze Ilosis von ihnen auslegen lassen kann und
dass sie auch aus Traumdeutung ein Geschäft machen 3).
Die Worte: „verkaufen Juden doch Alles'' sind nicht
juvenalisch, sondern ein moderner Liebesdienst. Die
1) Juvenal, Satir. III., 30 sqq. Zmneist nach üebersetzung
von Alexander Berg.
-') Id. III., 83:
Usque adeo nihil est, quod nostra infantia coeltnu
Hausit Aventini hacca nvtrita Sabina?
3) Id. Tl.. 542 sqq.
131
AYorte: ,,Qimliacimque voles Judael somnia vendimt'^
bedeuten das nicht für Jeden, der sich die Stelle an-
sieht und lateinisch versteht i). Ein nicht minder
bedenkliches Missverstiindniss ist die allgemein accep-
tirte Auslegung juvenalischer Worte, die sich in der
bekannten Schilderung des vierzehnten Buches finden.
Nachdem Juvenal daselbt etwa in tacitei'scher Manier
die geistige Gottesverehrung der Juden eine Anbetung
von Nichts „als Wolken und des Himmels Macht'*
nennt, Sabbath, Enthaltung von Schweinefleisch und
Beschneiduug in gewohnter römischer Weise bekrittelt,
sagt er von ihnen, dass sie „Niemandem den Weg
zeigen, der nicht dieselben Heiligthümer verehrt und
dass sie nur Beschnittene zur gesuchten Quelle führen'' ■■^).
Wie man das hat eigentlich nehmen können, statt
die einzig mögliche Auslegung zu geben, dass die
Juden um der bedenklichen Folgen willen schon jene
später stärker hervortretende Scheu bekommen hatten,
solche Heiden im Mosaismus zu unterrichten, die sich
den Aufnahmebedingungen nicht fügen, Aväre schier
unerklärlich, wenn man nicht in Bezug auf Juden Alles
natürlich fände, auch dass sie einem Eeisenden — wie
lächerlich! — nicht den Weg zeigen und einem
1) Juvenal VI., 547.
2) Id. XIV., 96 sq(i.:
Non monstrare vias eadem nisi sacra colenti,
Quaesitiim ad fovtem solos deducere rerpnni.
138
Durstigen den Labetrunk yersagen. Als hätte ein
Heide zuerst den Satz gesagt : .,Hungert Deinen Feind,
so gib ihm Brod, durstet ihn, so reiche ihm Wasser.
Scharrest Du auch dadurch Kohlen auf sein Haupt
so vergilt der Ewige doch Deine Thaf'i). Das Alles
hatten die bibelkundigen Juden damals rein vergessen
und in das Geo:entheil verkehrt. Hausrath schreibt
unabsichtlich folgende Satire auf die Jaden in Rom-):
„Was hätte der Sohn Israers nicht Alles in der Welt-
stadt getrieben? Kaufmann. Wechsler, Krämor und
Hausirer war er der Regel nach'-. Beweis, alleiniger
Beweis natürlich Martial XIL. 57 und dessen berühmter
Schwefelhändler. Er fährt fort: ,,Aber er war auch
Beamter und manchmal selbst Soldat (wie merkwür-
dig!), er war Gelehrter". Letzteres Wort wird in der
Anmerkung dadurch bewiesen, dass in Rom ja Josephus
lebte. Aber der jüdische General hätte doch in Rom
nicht gut Schneider werden können, und am Ende
verdankt doch Hausrath nicht wenig Xotizen dieser
jüdischen Verwendbarkeit des Josephus für sein in
der That schätzbares Buch. Dagegen geben wir ihm
zu, dass der von Martial verspottete Dichter und Re-
censent gewiss kein Martial oder Heine gewesen. Aber
das Recht, schlechte Dichter zu haben, ist durchaus
1) Spr. Salom. XXY.. 21—22.
-) ,,NeutestameDtliche Zeitgeschichte" S. 74.
139
international nnd interconfessionell. Ich bin allerdings
in der Lage, für Hausraths Schilderung eine völlig
deckende Parallele ans Juvenal zu liefern, aber ich
zweifle, ob er mir dafür Dank wissen wird. Juvenal
sagti):
^'as das beliebteste A^olk jetzt ist bei unseren lieichen,
"Wen ich fliehe zumeist, will flugs ich gestehn, und es soll mich
Nicht abhalten die Scham. Unleidlich ist mir, Quinten.
Griechisch die Stadt; und wie klein doch der Theil der
Achaischen Hefe.
iJort dein Bauer, Quirin, geht her ia Griechengewändern,
Und am gesalbeten Hals hat Siegesdenkzeichen er hängen.
Dieser verlässt die Höhen von Sicyon, Amydon jener,
Andres und Samos der, Alabanda jener und Trallos.
Jsach den Esquilien geht's und dem Berg, der nach Weiden
benannt ist.
Nistet sich ein, wo vornehm das Haus, und wird der Gebieter,
Schwindelgenie von verzweifelter Frechheit, hat er ein loses
Maulwerk, strömender noch als Isäus. 0 sage, was, glaubst Du,
Ist er"? WozuDu nur willst, stellt solcher sich uns zum Gebrauche.
Ehetor, Grammatiker, Messer des Feldes und Bader und Maler.
Arzt, Seiltänzer, Prophet und ^Magier. Alles versteht ein
Hungriges Griechlein; steiget, wenn man ihn heisst, in den
Himmel.
Kui'z, nicht war es ein Maur, noch ein Thracier, noch ein Sarmate,
Welcher die Flügel sich nahm, vielmehr ein geborener Athener.
Deren Purpurgewand nicht flijh" ich? Sollte vor mir der
Zeichnen und liegen bei Tisch, auf besseres Polster gedehuet,
AA'elehen nach Bom mit Pflaumen zugleich und Feigen der AVind
trug?
ij Saf. III., 58—83 ff.
140
Hier haben wir eigentlich Alles beisammen. Den
Pflaumenhändler, der sich ßeichthümer erwirbt und
grosse Häuser, den Allerweltskerl, der in allen Sätteln
gerecht, sich auf Alles versteht und zu Allem bereit
ist, den schnellfertigen, kecken, vordringlichen — Juden
etwa? — nein, Griechen.
Gestehen wir nur, dass, wenn Juvenal etwa so
die Juden geschildert hätte, die Stelle ein förmlicher
locus memorialis für Alles, was auf Bildung Anspruch
macht, geworden wäre. Aber sie ist doch auch so
sehr belehrend. Gewiss hat es auch unangenehme
Griechen gegeben. Aber ist Juvenal darum im Keclit ?
Es kann uns leid thun, dass dieser talentvolle Mann
mit der Xoth des Lebens zu kämpfen gehabt. Aber
mit seinem schlecht verhehlten [N'eide und seiner ]Dfahl-
bürgerlichen Gesinnung, die ihn dann sagen lässt:
,,'Ist es so gar nichts werth, dass Aventini sehen Himmel
unsere Kindheit athmete, mit Sabinischer Beere ge-
nährt?" lässt sich nicht sympathisiren. Dass Roqi alle
Welt ausraubt, kann er ertragen, dass aber in Rom
der fleissige Fremde es oft weiter bringt als der lun-
gernde Eingeborene, soll entsetzlich sein.
Durchaus nicht gehässig gegen die Juden ist
die gleichfalls zur Belastung angeführte Stelle
aus Juvenal: „In welcher Synagoge soll ich Dich
suchen?'' Juvenal geisselt vielmehr daselbst die
Rohheit reicher römischer Schlemmer, die, wenn sie
141
von ihren Gelagen keimkehren, sich wohl hüten, mit
Mächtigen anzubinden, dagegen schlichte Leute, wie
Juden und Andere, die nicht mit Fackel und Diener-
schaft die Strasse passiren, trotzend auf ihre Macht,
schimpflich behandeln und dann noch mit späterem Pro-
cesse bedrohen i). Beiläufig drücke ich mein Erstaunen
aus, dass ein Mann wie Hausrath, der doch von jüdi-
schen Dingen etwas versteht, sich die aberwitzige
Auslegung der Stelle in Horazens Satiren IL, 3, 286 ff.
gefallen lässt — eine Mutter gelobt dort dem Jupiter,
ihren kranken Jungen am Jovistage (Donnerstag)
fastend früh Morgens im Flusse stehen zu lassen —
als sei das „eine der Synagoge ergebene Mutter" ge-
wesen -).
Aber Hausrath ist in der That für einen wissen-
schaftlichen Mann viel zu genügsam, wo es sich um
die Frage handelt: Ist das auch wirklich so und kann
ich das belegen? So schildert er zu seinem und
Anderer Yergnügen den Lärm, den die Juden in Kom
machten: „Mit innerstem Ergötzen sahen die Bewohner
der Hauptstadt von Zeit zu Zeit die Wirbel einer
theologischen Debatte durch das Judenviertel brausen
und die wenig beliebte Nation zanken, lärmen.
Staub werfen und selbst zu Gewaltthätigkeiten gegen
1) Juvenal III., 2S6— 2J>6. ,Jn qua te quaero proseucha?''
2) Hausrath, ?. l. S. 79.
142
einander schreiten und gelegentlich wurde der Lärm
so gross, dass der Prätor mit Massen- Ausweisungen
Torging" 1).
Das ist sehr gut gesagt. Aber wo ist die Quelle?
Die alleinige Quelle, aus der diese Schilderung ge-
flossen, ist, wie uns eine Xote Hausrath's überzeugt,
die bekannte ^otiz des Sueton: „Die Juden, die auf
Anregung Chresti beständig tumultuirten. wies er aus
Kom". Das ist schon oben richtig erklärt: man fing
an, die messianische Predigt von Christus zu bearg-
wöhnen; das Tumultuiren ist Polizeiausdruck für
Etwas, das irgendwie stört.
Hausrath Avird wohl gestehen müssen, dass hier
seine Phantasie viel ergiebiger war, als seine Quelle.
Es ist dann auch kein Wunder, wenn, nachdem einmal
die Gesinnung des heidnischen Eom gegen die Juden
so Grau in Grau gemalt ist. man auf einmal um die
Erklärung verlegen ist, woher denn das Umsichgreifen
der jüdischen Sitten, die Hinneigung nicht gerade der
schlechteren Seelen zum jüdischen Gesetz gekommen
sein kann. Ob wohl Renan, als er den Satz schrieb,
„Besonders fühlten sich die Frauen zu diesen in
Lumpen gehüllten Sendboten hingezogen'- -) — die
Lumpen hat ihnen jiatürlich Renan selbst angezogen —
1) Hausrath /. /. III., S. 79.
-') Renan, ..Die Apostel" (deutsch). S. 305.
143
sich die Frage vorgelegt bat, ob es denn Eigenheit
der Frauen sei, für zerlumpte und nocb dazu aus
dem Halse riechende Menschen Sympathien zu haben?
Wahrlich nicht. Als es gelungen war, durch tausend-
jährigen Druclv die Juden in gewissen Gegenden zu
verunstalten, da waren sicherlich die Frauen die
Letzten, die sich ihrer annahmen.
Ich meine, durch Vorstehendes Jeden überzeugt
zu haben, dass eine solche ^N'utzbarmachung alter
Stellen eher zum Irrthum, als zur Wahrheit leitet,
und gehe jetzt auf die taciteische Erzählung der N'ero-
nischen Christenverfolgung ein^), nicht um das von
ausgezeichneten Forschern Gesagte zu wiederholen,
sondern um das die Juden Betreffende ins Licht zu
setzen.
Der A^erdacht, den Tacitus unsicher-), Sueton
und Dio (richtiger der Mönch Xiphilinus) bestimmter
aussprechen, dass Xero selbst Koni angezündet habe,
verdient keine Beachtung. Darin ist Stahr's „Rettung^'
sicherlich gelungen und die Schiller'schen Unter-
suchungen aus schlaggebend ^).
1) Tacitus, Ann. XV., cap. 38—44.
-) Sequitur clacles, forte an dolo principis mcertani (neun
atrmnque auctores prodiderej etc.
3) Stahr in der oben angeführten Darstellung in Wester-
mann's Monatsschrift; Schiller. ..Nero'S behandelt die Berichte
über den Brand liom's von Seite 424 ab mit grosser kritischer
Akribie.
144
Aber was besagen die TVorte des Tacitus, dass
unter Denen, welche der Pöbel Christianer nannte,
Solche ergriffen worden . welche gestanden ? ^) Ganz
gewiss heisst das nicht, dass sie einfach zugaben, Rom
angezündet zu haben, da Tacitus sie selbst nacli der
Richtung hin sie gar nicht für schuldig hält-). Ebenso
wenig aber, dass sie zugaben, Christen zu sein, weil
darin damals noch kein vom Staate verbotenes Yer-
halten lag. Vielmehr ist die Saclie folgendermaassen
zu denken:
In der jüdischen Welt war damals wohl allgemein
die Messiashoffnung lebendig, aber nirgends sah man
mit solcher Gewissheit der demnächstigen Parusie
des Messias (Christi) entgegen, als in dem Theile der
Juden, der an die Messianität Jesu glaubte. Man
erwartete mit dem Erscheinen des Messias in Herrlich-
keit zugleich ein schweres Gericht über die Sünder,
vor allem den Untergang Rom's durch Feuer'-). Als
1) Tacitus, l. 1. c. 44: Igitur priinum correpti qui fate-
hantur, deinde indicio eorum muJtitudo ingens haiid perinde in
crimine hicendii quam odio humcini generis convicti sunt.
2) Tgl. die '\Vorte in der vorstehenden Xote: „Xickt sowohl
der Brandstiftung, als vielmehr des Hasses gegen das Menschen-
geschlecht überführt".
3) Apokalypse 18: Vers 8 daselbst lautet: ,.Im Nu, an
einem Tage kommen über sie (die grosse Stadt, das sündige
Babel j ihre Schläge: Tod und Trauer und Hunger, und sie wird
in Feuer verbrannt, denn stark ist Gott der Herr, der sie ge-
145
nun Koni von einem schweren Brande heimgesucht
wurde, an dem sicherlich die Christen unschuldig
waren, da sahen diese darin den Beginn der Kata-
strophe, die sie erhofft, verhehlten ihre Freude nicht
über die beginnende Erfüllung des prophetisch Ver-
kündeten, hielten das Löschen für gottwidrig i) und
waren, ob ihres Yerhaltens ergriffen, sicherlich zu
voll von dem Glauben an das eintretende Gericht, um
ihren Triumph zu leugnen oder mit den Manien der
Vielen, die ihre Gesinnung theilten, zurückzuhalten.
So erklärt sich die Meldung des Tacitus, dass auf
Einleitung des Strafprocesses man das Geständniss
Einiger erwirkte, darauf auf die Angabe derselben die
Masse der Christen überführte nicht sowohl der Brand-
stiftung, als des Hasses gegen das ganze Menschen-
geschlecht. Es ist klar, dass wir noch heute uns
leichter in die Stimmung und das Reden der Christen
jener Zeit hineindenken können, als der damalige
richtet^'. V. 18: „Und sie sclireien, wenn sie den ßauch ihres
Brandes aufsteigen scheu, sprechend: Welche Stadt ghch einst
dieser grossen". Solche Erwartungen lebton schon langst vor
der Abfassung der Apokalypse im Herzen der frommen Christen,
welche das Wohlergehen der Sünder sich nur unter der Voraus-
setzung erklären konnten, dass sie für den Gerichtstag aufbewahrt
seien.
^) So erklärt sich wohl die von Tacitus gegebene Schilde-
rung {ibid. 38) : nee quisquam defendere audebat, crebris multo-
rum minis restinguere prohibentmm.
10
146
römische Stadtpräfect. vor dem die Untersuchung ge-
führt wurde. Der Triumph über den Brand, wohl
auch das Eingeständniss, dass man Löschen für ein
Eingreifen in Gottes Gericht ansah, nmsste dem
Stadtpräfecteii als ein ausreichendes Geständniss er-
scheinen. In die Seele von Menschen, die eine Er-
wartung hegten, deren Yerwirklichung sie ganz allein
von der Gottheit erhofften, ohne persönlich durch eine
That sich daran zu betheiligen, konnte ein Heide sich
nicht finden. Und dennoch schimmert die Einsicht
in den wahren Sachverhalt selbst durch die Worte
des Tacitus hindurch, man nierkt. dass auch der
Kömer weiss, wie nicht sowohl die Brandstiftung als
vielmehr die beim Brande bekundete Gesinnung —
im Sinne der Römer Hass gegen das Menschen-
geschlecht — den Christen vorzuwerfen gewesen sei.
Welchen Anlass hat nun ein ehrlicher Forscher,
die Juden hier in einen Gegensatz zu den Christen
zu bringen und sie als die Denuncianten zu bezeich-
nen? Tacitus, der an unserer Stelle mit gewohnter
Gehässigkeit von den Juden redet, giebt dennoch zu
einem solchen Verdacht nicht das leiseste Recht, sagt
vielmehr ausdrücklich, dass die zuerst ergriffenen
Christen die anderen angegeben iiätten-).
1) Siehe die oben citirte Stelle. Die correjjfi sind, wie
Tacitus sagt, Solche, quos cuhixs Christianos appelJahat. Dann
..inäicio eonim'' wurden die Anderen vor den ßichter gebracht.
147
Aber auch diese JSTotiz muss erst sitiiationsgemäss
gedeutet werden, um richtig zu sein. Die zuerst
Ergriffenen waren sicherlich Solche, die in ihrer Be-
geisterung aus ihrer Gesinnung auf offener Strasse
kein Heh! gemacht hatten. Man denke sich doch nur
wahrhaft Gläubige, die den Anfang des verheissenen
Endes mit Augen zu sehen glaubten. Da herrscht
nicht, kluge Zurückhaltung, da wird offen geredet,
und als sie ergriffen wurden, da waren sie schwerlich
gewillt, die gebrauchten Ausdrücke und ihre Haltung
feige zu leugnen, sondern rühmten sich Tielmehr
einer grossen Zalil Gesinnungsgenossen, denen sie nun
edeichfalls Verderben brachten, ohne das etwa zu
beabsichtigen.
Unzweifelhaft dagegen ist die Hindeutuug des
Tacitus auf die „Schandthaten" der Christen i). als
1) Tacitus, /. J. c. 44: ergo abolendo riimori subdidü reos
et (iiiaesitissimis poenis fiffecif, quos per fhigitia invisos vulgus
Christianos apellahcd. Ueber die „quae.^itis.^imae poenae" ist
Folgendes zu bemerken: Die grausame Tödtung der Christen,
namenÜich die scbcussliche Barbarei, sie bei ihrer Verbrennung
zugleich als Tackeln zur Erleuchtung der von Nero gegebenen
nächthchen Spiele zu benutzen, ist in dieser Auschrcitung nero-
nisch, im Uebrigen aber ^var die tnnica molestct, das Martergewand
aus AVerg und Pech, in ^velchem die zum Feuertod Terurtheiiten
lebendig verbrannt wurden, eine bei den Römern für Brandstifter
auch sonst übliche Strafe. Juvenal YIII.. 231—234 sagt:
Quid, Catüina, tuis natalibiis atque Cethegi
Inveniet qui^quam suhlimiusY Anna tarnen ros
10*
148
hätten die Heiden schon damals jene schrecklichen
Gerlichte erfunden gehabt, die erst unter Trajan auf-
kamen, ebenso seine genaue Unterscheidung zwischen
Juden und Christen eine Antidatirung. Da man unter
den Flaviern die Christen noch zu den Juden rechnet,
so kann man sie zu Xero's Zeit noch nicht von ihnen
geschieden haben. Die Christen unter Xero waren
nur die zuversichtlichsten aller jüdischen Messianer,
diejenigen, welche die Ankunft oder richtiger Wieder-
kunft des Messias geradezu jeden Augenblick erwar-
teten und die darum bei der grossen Katastrophe
dui'ch ihre ausgesprochenen Hoffnungen sich am
meisten exponirt hatten.
Noctui'na et flammas domibus tenqjlisque parcdis,
Ut bracatorum pueri Senonumque minores,
Ausi qiiod liceaf funica punire molesta.
Dagegen direct auf das Verfahren des Xero gegen die Christen
spielt an die Stelle des Juvenal I., 155 ff. „taeda Jucehis in
üJa" e c. I. Vgl. noch andere bei Renan. .,L-AntecJirist'' S. 166 ff.
angeführte Stellen.
VII. Proben von falschen Anschuldigungen gegen
die Juden, welche vor einer ernsten Kritik nicht
bestehen können.
Auf das. was andere Kritiker bereits gelöscht,
nachdem es früher anstandslos den Juden aufs Kerb-
holz geschrieben worden war, gehe ich hier nicht
weiter ausführlich ein, obwohl man Vielen immer und
immer wieder etwas Xeues damit sagt.
So komme ich nicht wieder auf die bekannte
Belastung der Juden zn Gunsten des Pilatus, zumal
ich im Früheren Gelegenheit hatte, die Sache in
einem grösseren Zusammenhang zu behandeln.
Ebenso erinnere ich nur kurz an die Lösung, die
das Räthsel, welches uns in der unmöglichen Figur
des Judas aufgegeben war und schon dem Christen-
feinde Celsus^) so viel Gelegenheit zu giftigen Aus-
fällen geboten hatte, durch den Scharfblick Yolkmar"s
1) Origines contra CeJsnm IL, 9; IL, 12.
150
gefunden. A^lkmar hat uns gezeigt, dass die Apo-
kalypse noch von keinem Terräther unter den Aposteln
weiss, dass sie von allen zwölf mit gleicher Würdi-
gung redet und dass Judas eine zur Zeit der Ent-
fremdung Ton den Juden erdichtete Figur sei, in der
das Judenthum selbst als verrätherisch sollte perso-
nificirt und gebrandmarkt werden i). Bekannt sind
darum auch die widersprechenden Erzählungen über den
Verräther, welche sich Matth. 27,3 — 10 und Apostel-
geschichte I., 18 finden. Dazu füge ich nur noch
Eines hinzu. Xach Eusebius hiess der letzte Bischof
aus der Beschneidung in Jerusalem, der bis zum
Hadrianischen Kriege sein Amt verwaltete. Judas-). Ob
wohl ein Christ sich diesen Xamen beigelegt, ja auch
nur ihn behalten hätte, wenn das Bild des Yerräthers
damals schon fertig gezeichnet gewesen wäre? Freilich
erwähnt Eusebius noch für eine spätere Zeit einen
Schriftsteller Judas 3), der über die siebenzig TTocheu
des Daniel geschrieben habe. Aber Allem nach scheint
ij Yolkmar. ..Die Eehgion Jesu" S. 261; S. 190.
-) Eusebius. //, c. IT.. 5. Eusebius theilt ..aus schrift-
lichen Urkunden •• (sH r[-^yj.'cwA die Xamen der Bischöfe mit, die
bis zur YeiwüstuDg Jeiusalcms durch Hadrian in Jerusalem ihr
Amt vei^waltet. Er rechnet deren fünfzehn aus, die alle Juden
von Gebart waren, und bezeichnet als fünfzehnten und letzten
einen Bischof Namens Judas.
3) Eusebius, li. c. TL. 7.
151
das ein Jude gewesen zu sein, der auf die Ankunft
des Messias hoffte.
Gleichfalls für ausreichend halte ich es, im Yor-
beigehen nur flüchtig noch einmal daran zu erinnern,
dass die moderne Kritik die leider folgenreich gewor-
dene Unwahrheit, als seien die Juden Erfinder der
von den Heiden den CJiristen vorgeworfenen flagitia
gewesen, als solche erkannt und beseitigt hat.
Hier will ich nur ein Paar neue Proben folscher
Anschuldigungen geben, welche dem kritischen Scharf-
sinn der Forscher wohl nur darum entgangen sind,
weil für sie der Gegenstand nicht die nöthige Wich-
tigkeit hatte. Ich meine aber, dass bei Richtigstellung
von historischen Xotizen auch das Kleine nicht zu
verschmähen ist.
Für mich ist es ein kritischer Canon, dass. wenn
den Juden jener Jahrhunderte eine solche Betheiligung
an Grausamkeiten, sei es gegen Christen, sei es über-
haupt gegen irgendwen, nachgesagt wird, die zugleich
eine freche Verhöhnung der mosaischen Gebote oder
Dogmen involvirt, die Nachricht sehr genau darauf
hin anzusehen ist, ob sie nicht vielleicht erdichtet
und sogar schlecht erdichtet ist. Wird dagegen von
Juden etwas erzählt, was zur Xoth wenigstens als
dem Gesetze Mosis entsprechend oder doch nicht
widersprechend sich rechtfertigen lässt, so ist der
Umstand allein, dass es unseren heutigen Anschauungen
152
in keiner TTeise zusagt, noch kein Yerdachtsgrund.
Von der Zeit des Trajan ab namentlich, wo, wie
bereits gezeigt, der Streit um das Gesetz im Vorder-
gründe stand und die Juden mit grösster Genauigkeit
der Uebung auch des kleinsten mosaischen Gebotes
sich befleissigten, ist der eben ausgesprochene Canon
ganz gewiss ein unanfechtbarer.
Das haben auch moderne Kritiker gefühlt, aber
durch stilistische ATendungen um seine Benutzbarkeit
gebracht.
Keimi) liest den Bericht über das Martyrium
des Polycarp und merkt, dass die Juden, die den
Heiden geholfen haben sollen, dabei zugleich das
Sabbathgesetz öffentlich verletzt haben müssten. Statt
Verdacht zu schöpfen gegen die überhaupt nur
künstlich in die Erzählung hineingebrachten Juden,
schreibt er: ..Trotz des Sabbath waren die Juden die
eifrigsten Mitarbeiter". Ja. wenn die Quelle das gesagt
hätte I Aber wir werden später noch sehen, dass der
Erzähler, der die Juden gleichsam programmmässig
hineinbringt, überhaupt nicht daran gedacht hat, dass
schon der Tag, an welchem Polycarp starb, seine
Xotiz über die Juden dementirt.
Eine gleiche Kritik und eine gleiche Beseitigung
kritischer Scrupel übt Hausrath gegenüber dem
1) Keim, ..Rom und das Christenthum-. S. 598.
153
Bericht iiiclit des Dio Cassius, wie man gewöhnlich
sagt, sondern des Mönchs Xiphilinus über die Gran-
samkeiten, welche die Juden bei ihrem Aufstände 116
in Cypern und anderswo sollen verübt haben. Haus-
rath fühlt, dass Juden, die noch irgendwie mit dem
Mosaismus zusammenhingen, wenn auch nicht aus
Menschlichkeit, doch mindestens aus Gesetzestreue
nicht thun konnten, was ihnen dort imputirt wird.
Aber mit der Wendung: ,.Die gefangenen Römer
und Griechen durften jetzt im Amphitheater kämpfen
und die Juden sahen zu (richtiger: sollen sie gar dazu
gezwungen haben), ohne des Verbotes zu gedenken''
kommt man über die Sache nicht weg. Denn das
sagt nicht mehr Xiphilinus , sondern Hausrath i).
Xiphilinus denkt überhaupt nicht an das mosaische
Gesetz, er denkt nur daran, den Juden Etwas an-
zuheften. Doch gehen wir jetzt auf beide genannten
Fälle näher ein.
Im siebzehnten Jahrhundert ist von Usser,
dann von Cotelier, ein Schreiben der Smyrnäischen
Christengemeinde an die Gemeinde Philomelium in
Grossphrygien über die Hinrichtung zwölf christlicher
Märtyrer (nach Waddington um 155, nach Lipsius
um 156, nach Keim, der aber schwerlich Recht hat,
gar erst um 168), darunter auch des durch sein
1) Hausrath, ..XeutestainontUche Zeitgeschichte-. III., 372,
154
Alter und seine hohea Tugenden verehrten Polycarp
veröffentlicht worden. Die in diesem Briefe gegebene
Erzählung war freilich längst durch die reiciüichen
Auszüge, die sich im Eusebius davon finden, in
den meisten Zügen bekannt ^).
Ich überlasse den Fachmännern das Urtheil über
den Inhalt und die Darstellung der Begebenheit, bei
welcher die erstaunlichsten AYunder vorkommen, ebenso
über die abweichenden Eecensionen-), und beurtheile
blos das über Juden dabei Erzählte.
Bei Gelegenheit von Thierhetzen. die in Smyrna
zur Belustigung des Tolkes in Gegenwart des Pro-
consuls Quadratus gefeiert wurden, erlitten elf oder
zwölf Christen, die man zur Verleugnung ihres Ghiu-
bens zwingen Avollte. den Märtyrertod. Erbittert über
die Standhaftigkeit der Märtyrer, fahndete man nach
dem Haupt der Christengemeinde, dem achtzigjährigen
Polycarp. Polycarp bekennt rücksichtslos und stand-
haft sein Christenthum, wird auf das Geschrei des
Volkes hin zum Scheiterhaufen verurtheilt und stirbt
in der denkbar wunderbarsten AVeise, die in dem
Briefe und bei Eusebius bis auf den einen Punkt.
dass Eusebius nichts von der Taube hat, al eichlautend
1) Eusebius. h. e. IT.. 15. Damit vergleiche die Ausgabe
des Briefes in ..Apostoüsche Väter".
2) Danz, ..De Euseh'w", ji. 13". hat über das Verhältaiss
beider Recensionea gesprochen.
155
etwa folgendermaassen erzählt wird: „Die Heizer
zündeten das Feuer an (nämlich des Scheiterhaufens,
auf welchem Polycarp A'erbrannt werden sollte).
Mächtig schlug die Flamme empor. Da schauten wir.
denen zuzusehen gegönnt war, ein grosses Wunder —
und wir wurden wohl auch deshalb erhalten, damit
wir den IJebrigen das Geschehene verkünden möchten
— das Feuer nämlich bildete eine Wölbung, ver-
gleichbar einem vom Winde geschwellten Segel^
und umgab so den Leib des Märtyrers ringsum Avie
eine Mauer. Dieser aber stand mitten inne nicht
wie ein verbrennender Leib, sondern wie ein Brod.
das gebacken, ja wie Gold und Silber, das im Ofen
geläutert wird, und ein Geruch, wie von Weihrauch
und kostbarem Gewürz, den Rauch bewältigend, drang
heraus". Es wird dann hinzugefügt, dass der Henker,
weil der Leib des Polycarp dem Feuer trotzte, zum
Dolche seine Zuflucht nehmen musste, dass das stroni-
weis iliessende Bhit das ganze Feuer verlöschte, ja,
dass bei dem tüdtlichen Stich des Henkers eine Taube
hervorkam').
1) Eiisebius, /. /. u. ,, Apostolische Väter". Entstanden kann
die Sage daraus sein, dass Polycarp vielleicht einem Löwen vor-
geworfen worden und verschont geblieben. So etwas kam auch.
wie Tacitus, Historien II., 61. berichtet, ohne Wunder vor.
Ereilich hielt auch, das Volk den Mariccus, weil er den Thieren
entgangen, „für unveiletzlich . bis er vor ViteUius Augen hin-
gerichtet wurde".
156
So ausgeschmückt die Erzäliluiio' auch hier er-
7
scheint, so ist doch an der Wahrheit der Hauptsache
nämlich an dem Martyrium und der bewiesenen Stand-
haftigkeit des Polycarp nicht zu zweifeln. Aber eben
der Charakter des Berichtes, der aus dem Schlusstheil
am deutlichsten erhellt, hat die Forscher längst schon
darauf geführt, dass die Erzählung in ihren früheren
Zügen den Yorgängen beim Tode Jesu nachgedichtet
ist^). Polycarp ahnt seinen Tod-), wird verrathen^),
reitet auf einem Esel in die Stadt ein-i), wird wohl
vom römischen Proconsul verhört, fällt aber mehr
dem Geschrei des Yolkes zum Opfer, als dem AYillen
des Proconsuls. Das sollen die Worte des Proconsuls
ausdrücken: „Gewinne das Yolk''^), so dass dieser
eine dem Pilatus ähnliche Rolle spielt.
Aber eine Aehnlichkeit fehlte noch, es fehlten
noch die zum Tode des Märtvrers beitrao-enden Juden.
1) Darauf bereitet uns schon der Eingang des Briefes
(Apost. Väter) mit den Worten vor: ..Polycarp sehnte sich
nämlich, wie der Herr auch, hingegeben zu werden'".
2; ..Apost. Väter", Rundschreiben C. V. Ev spricht pro-
phetisch: ..Ich muss verbrannt werden".
^) Ibid. 0: ., Seine Verräthor mngo die Strafe des Judas
treffen".
4) Ibid. S.
5) ..Apost. Väter- 10: Easebius h. e. IV.. 15: al oz O-sXsts
TÖv TOD \o'.z-'.y.v'.z\iob !JLa\>sIv ko-^ov. 5o; 'fyikyj,-) v.ai av.o'jcov s'^Yj
157
Die ganze Umgebung ist heidnisch, das Gesetz, nach
welchem Polycarp getödtet wurde, das römische, das
Yolk der Thierhetzen ohne Erage Heiden. Dennoch
werden die Juden von dem Erzähler oder AYeiter-
bildner der Geschichte mit in die lieidnische Schuld
verwickelt, aber mit solcher Unkenntniss des jüdischen
Wesens, dass die Erfindung auf Schritt und Tritt
sichtbar.
Die Juden sollen erstens so gut wie die Heiden
verlangt haben, dass Polycarp einem Löwen vor-
geworfen würdet), aber wie das damalige jüdische Ge-
setz über die Thierhetzen und über die Bluturtheile
der Heiden überhaupt denkt, sei hier in wenigen
Strichen gegeben, „Wer im Stadium (dem Orte der
Thierhetzen, wie ausdrücklich erklärt wird) sitzt, ist
vergleichbar dem, der selbst Blut vergiesst'"-^). Es
heisst ferner-^): „Man darf den Heiden keine Bären,
Löwen, noch sonst etwas, woraus der Menge Schaden
erwächst, verkaufen. Man hilft den Heiden nicht
bauen: Basiliken, Schaffote, Stadien (Eennbahnen
für Thierhetzen) und Gerüste (von denen aus Todes-
1) Ihicl, „Apost. Väter'- 12.
-) j. Abodak sai'ah, I., 40a: ■]arii? n* nn i'nüiKn att^r.n
3) Mischnah, abodah sarah, L, 8: mnKI i'nn ]nh i^naiö fK
xnö^i'KT ,cn-.;i *ph'Dz nn^u 'c:^n ]•« o'-n'? pi3 in tr^^tr -im bz^
158
urtheile i:-efällt werden). Dagegen darf man ihnen
bauen helfen Denkmäler nnd Badehäuser." Zu Basiliken
erklärt dann die Gemara ausdrücklich, dass es auch
harmlose Basiliken gebe, deren Bau unverfänglich
ist, dass dagegen diejenigen verboten seien, in denen
Todesurtheile gefällt werden i). Der einzige Mischnah-
lehrer, welcher eine Ausnahme macht und die An-
wesenheit im Stadium für gestattet hält, bestätigt mit
seiner Ausnahme nur die Regel. Es sei darum er-
laubt, sagt er, einmal weil man daselbst durch sein
Geschrei einen Menschen retten kann, dann auch
wohl einer Frau, die durch den unbezeugten Tod ihres
im Stadium umgekommenen Gatten, für immer ver-
einsamt bleiben müsste, durch sein Zeugniss die Mög-
lichkeit zur Wiederverheirathung verschaffen könnte-).
Wie dem auch immer sei, bei solcher Stimmung der
Juden gegen Alles , Avas nach heidnischer Lust am
Blutvergiessen schmeckt, ist ihre Haltung in unserer
Erzählung offenbar nicht nach dem Leben gezeichnet.
Aber es kommt immer seltsamer. Es heisst im
Verläufe unserer Erzählung: „Als das vom Herold
ausgerufen worden war (nämlich dass Polycarp sich
1) b. Talmud abodah samh fol 16= "^w '{n rriKpb'DZ ':
-) Tosephtah, abodah sarah 1, 7 <?f?. Znckermandel S. 462):
159
als Christ bekannt htätte), schrie die ganze Versammlung
von Heiden nnd Juden, die zu Smyrna ansässig
waren, mit unbändiger Wuth und gewaltiger Stimme:
Dies ist der Lehrer Asiens, der Yater der Christen,
der Mörder unserer Götter, der die Menge lehrt,
ihnen nicht zu opfern, noch auch sie anzubeten''^).
Haben das die Juden wirklich gerufen, waren sie
wirklich ergrimmt, dass der Götzendienst gestört
wurde, die Juden, welche A-on dem Götzendienst den
Satz aufstellen: „Schwer wiegend ist der Götzendienst,
denn wer von ihm sich lossagt, von dem ist es, als
ob er zur ganzen Thora sich bekennete?'" -)
Eenan hat hier die Schwäche der Erzählung
gefühlt, aber sein Darstellungstalent ist darüber weg-
gekommen. Das Wie ist characteristisch genug, um eine
Anführung zu verdienen. Renan arrangirt die Quelle.
Er setzt erst die Juden und dann die Heiden, und
vertheilt dann die Rollen reclit angemessen, leider
nur nicht quellenmässig. Er schreibt: Juifs et pa'tens
poHSScrent des cris de mort. „Le voiln, Je doctear de
1) Eusebius, /. /. To'koo X^/O-svtgt örö "oO xYp-jxo; räv So
-AT^t>os Sv)-vojv TS v.al 'Jo'joaic'jv tojv tV^v X^.opvav xaToiv-oüv-ojv, äv.a-
laT/sT«;) l>'j;j.(T) zai U-z'^c/j/r^ 'f<^'^'^'^ s,^öa' ootö; Izzi'/ ö z'f^c, 'Aota^
oioa-v.aXo:, ö zaTr^p tojv Xp'.--'.avojv. ö Tfov YjiJLstipdiV 9-soiv xaOac-
c£xr,c. ö Tto/J.o'j-: o:oar/.cov \x'}^ 0-Jsiv, li'qoz -pojv.'jvs:-/.
-) Talmud b. Kidduschin 40a: ,12 "iBlzn ^Dtt' r:3 miön
m',nn "^^rr nT,^2. Val. Megillah loa lind öfter.
160
TAsie, Je jK're des cliretiens'- disaient les premiers. ,,Le
voüä le destnicfetü' de nos dieiu:, celui qm enseigne a ne
pas sacrificr, ä ne pas aäorer!'' disaient les seconds[).
So ist freilich Alles iu Ordnung bis auf die Kleinig-
keit, dass es Eenan's eigenes Fabrikat ist.
Aber ebenso klar ist auch das Urtheil über die
spätere Xachhilfe. Die Menge verlangt den Feuertod
für Polycarp. Da wird denn berichtet: ., Diesem
AYorte entsprach die noch schnellere That. Die
Yolkshaufen schleppten sofort aus den Werkstätten
und aus den Bädern Holz und Reisig zusammen".
Hierauf folgen die Worte: „Am meisten halfen be-
reitwilligst dazu nach ihrer Gewohnheit die Juden?"'-)
Aber der Darsteller hat vergessen, dass zu Anfang
der Erzählung berichtet war, der Tag des ^lartyriums
sei ein Sabbath gewesen-^), Haben die Juden wirklich
am Sabbath Holz für den Scheiterhaufen herbeigetragen
und das vielleicht gar noch aus ihren Werkstätten
oder aus ihren Bädern? Wie ich über Keim's:
,, Trotz des Sabbath" denke, habe ich schon oben gesagt.
Wenn das die Quelle selbst gesagt hätte, Hesse ich es
mir noch gefallen. Xicht so eine stilistische Verbesse-
rung der Quelle, um die Schwieris^keit zu ebnen.
1) Renan. .,L'eglise Chretienne'' , p. 458.
2) Eusebius, /. ?. „Äpost. Väter" ?. l. c. 13.
'*) ..Apost. Väter'- /. 7. c. 8. ,,Es war Charsamstag"
161
Man wird es nach diesem Zustande der Quellen-
schrift nur natürlich finden, wenn ich meine, dass
ganz dasselbe von der weiteren Nachricht gilt, welche
die Juden eine ebenso wenig sach- wie situations-
gemässe Eolle spielen lässt. Der heidnische Irenarch
beredet nämlich, so wird weiter erzählt, den Proconsul,
die Leiche des Polvcarp den Christen zur Bestattung
nicht auszuliefern, „damit sie nicht" — so sagt der
Irenarch — „von dem Gekreuzigten ablassen und
diesen anzubeten anfingen" i). Aber auch daran sollen
die Juden Schuld gewesen sein, der Irenarch habe
das nämlich auf ihr Anstiften gethan. Man prüfe die
Worte und erwäge, wie wenig Sinn eine solche Be-
sorgniss im Munde der Juden hat und wie sie um-
gekehrt heidnischen Magistraten jener Zeit ganz gut
zuzutrauen ist.
Mein Urtheil über die ganze Erzählung vom
Martyrium des Polvcarp geht dahin, dass der Kern
der Sache unzweifelhaft historisch ist, dass man aber
dann bei den freien Ausschmückungen, die ja kein
Mensch, der überhaupt mitzählt, in Abrede stellen
kann, auch die Juden nicht vergessen hat, glücklicher-
1) „ApostoUsche "Väter". 'Y~i'^cc\o^ ^(ohv xcvs? ivxoysiv tü)
£:':xaüpüj|jivov, xoöxov aptojvxai 'oßs'.v.
11
162
weise so, ^dass man ihre spätere Einschiebung bei
unbefangener Ejritik sofort erkennt i).
1) "Wie selir man sich später gewöhnt hatte, die Judeu bei
passender und unpassender Gelegenheit, wenn es nur unfreundlich
war, in die Darstellungen hineinzubringen, sei hier an einem
anderen Beispiele gezeigt. Sulpicius Severus sagt (Chr. II., 3. 5):
..Die eisernen Schenkel sind das vierte Reich (Dan, 2. 40);
darunter giebt das römische sich zu erkennen, bei weitem das
stärkste im Vergleich zu allen vorangegangenen Herrschaften.
Die Füsse jedoch, welche theils eisern, theils thöneru sind
(Dan. 2, 41). geben die Vorbedeutung von einer derartigen Thei-
lung der römischen Herrschaft, dass sie nie wieder eins werden
könne; und dies hat sich gleichfalls erfüllt. "^Vird doch der
römische Staat schon nicht länger von Einem Kaiser, sondern
sogar von mehr als zweien regiert, und zwar von solchen, die
fortwährend sich bekämpfen, sei es mitAVaffen oder mit Politik.
Endlich wenn die Thonscherben und das Eisen untereinander
gemischt werden, ohne dass sich die Stoffe verbinden (Dan. 2, 43),
so sind damit die Mischungen des Menschengeschlechtes bei
fortdauernder Abneigung gegen einander angedeutet. Ist es doch
offenkundig, dass der römische Boden von ausländischen Stämmen
entweder, nachdem sie zum Kriege sich erhoben, besetzt, oder,
nachdem sie in einem Scheinfrieden sich unterworfen haben,
ihnen überwiesen worden, und sehen wir doch, wie barbarische
Völter in unseren Heeren. Städten. Landschaften mit uns ver-
mischt loben, ohne dass sie darum in unsere Sitten sich fügen." —
Die Uebersetzung der lateinischen Worte ist von Bernays":
„Ueber die Chronik des Sulpicius Severus- S. 28. Bei ihm ist
auch zu finden, dass sich ein Leser bewogen gefühlt hat, die
AVorte: ..wie barbarische Völker in unseren Heeren. Städten,
Landschaften mit uns vermischt leben u. s. w." durch Ein-
schiebung von „und namentlich Juden" (et praecipue Judaeoa)
zu illustiiren. Dass die Worte nicht passen . Avird dort klar
163
Wir wenden uns jetzt zu der anderen von uns
obeii berührten Nachricht in Dio Cassius 68, 32, nach
welcher die Juden zur Zeit des Trajan (116) die
furchtbarsten Grausamkeiten in Cyrene, Cypern und
anderswo gegen ihre Feinde, die Hellenisten, verübt
haben sollen.
Bekanntlich haben wir vom Eegierungsantritte
des Xero (vom 61. Buche des Dio) ab nicht mehr
den wirldichen Dio vor ans, sondern den Auszug,
den der Mönch Xiphilinus, Yerwandter des gleich-
namigen Patriarchen von Constantinopel und Trapezunt,
am Ende des 11. Jahrhunderts von den Büchern des
Dio gemacht hat. Nur vereinzelte Bruchstücke der
vollständigen Geschichte sind uns verblieben. Schon
im früheren Bändchen haben wir zugleich darauf
gezeigt, ebenso dass schon der gelehrte Herausgeber der Chronik
Sigonius au den Worten Anstoss genommen. Bei-nays will nun
schreiben et praecipue GotJws, weil sie allein passen. Allein
ich glaube, dass gar nichts dafiü- zu schreiben ist. Sulpicius
Severus brauchte seinen Zeitgenossen ein allen deutliches Sach-
verhältniss nicht zu erläutern. Sie wussten, wer die barbarischen
Völker waren, von denen Severus redet. Aber ein Späterer fühlte
sich bewogen, et iwaecipue Judaeos einzuschieben nach der ein-
fachen Logik: Warum sollte Severus sie nicht meinen, wo er
ein Missbehagen ausdrückt? Bernays selbst fährt ja fort: ,,Noch
an einem anderen Orte der Chronik haben die Abschreiber den
ihnen geläufigen Judennamen eingeschwärzt. Bei Flacius und im
Vaticanus heisst es übereinstimmend IL, 7, 1 exagitati in Jndaeo.
Das richtige exagitati inridiati hat bereits Giselinus erkannt
11*
164
aufmerksam gemacht, dass wir die Veranlassung zum
damaligen Auf stände der Juden in den hellenistischen
Ländern in externen Quellen vergebens suchen. Es
^Yar das eben unterdrückt worden i).
Aber es ist doch nicht schwer, aus äusseren und
inneren Gründen nachzuweisen, dass die geschilderten
Grausamkeiten erst durch Xiphilinus die grässliche
Färbung bekommen haben, vor der wir uns entsetzen.
Wenn die Juden aufstanden, so waren es die
gesetzestreuen. Dass diese in einer Zeit, wo sie
vielleicht mehr als jemals an das Gesetz sich klam-
merten, aus Eachsucht die Gesetze Mosis so frech
sollten verletzt haben, dass sie das Fleisch der er-
schlagenen Feinde gegessen hätten, und dass sie
andere Feinde gezwungen hätten, mit wilden Thieren
zu kämpfen, wäre selbst dann unglaublich, wenn wir
aus einer guten Quelle schöpften. Wie aber, wenn
sich ganz klar zeigen lässt, dass bei richtiger Taxi-
rung der Quellen unsere angeführte sich alsbald als
1) Wie rücksichtslos man unter den byzantinischen Cäsaren
in Unterdrückung von nicht genehmen Schriftstellern vorging,
erzählt Papst Leo X., der von Demetrius Chalcondylas ver-
nommen, dass man des Meander, des Diphilus, des ApoUodor,
des Philemo, des Alexis Schauspiele und ebenso die G-edichte
der Sappho, der Erinna, des Anaki'eon, des Mimnermus, des
Alcman. des Alcäus ohne Erbarmen verbrannt habe. Siehe
Bernavs: ..Die HerakUtischen Briefe" S. 117.
165
eine trügerische kimdgiebt? Eiisebius meldet uns ja
denselben Aufstand und behauptet, wortgetreu den
griechischen Schriftstellern in seiner Erzählung ge-
folgt zu sein i). Ob wir nun mit Volkmar annehmen,
dass unter dem Ausdruck „die griechischen Schrift-
steller" hier ganz allein der Dio, oder mit Lipsius,
dass vorzugsweise Dio gemeint sei 2)-, dass Eiisebius
den wichtigsten, ja uns eigentlich allein bekannten
Historiker, der jene Zeit behandelt hat, nach solchen
Worten nicht eingesehen haben soll, ist doch wohl
eine Behauptung, die kaum der Abweisung werth ist.
Wie wäre es nun erklärlich, dass Eusebius so auf-
fallende Vorgänge weggelassen hat? In einem Capitel,
1) Eusebius, Ti. e. IV,, 2: Taöta xal "^EXXyjVcuv oi xa -xata
Toug auxooc y^ry^ovic, '(pa^fi ::apa§6vT£^ ochzolc, loTopYj^av pTjiiac;:.
2) Wegen der Wichtigkeit der Sache gebe ich Volkmar's
Worte, „Handbuch in die Einleitung der Apokryphen-', 1. Theil,
S. 45: „Er (Eusebius) hat also wirklich griechische Historiker
excerpirt, die dieselben Zeiten (Trajan's) behandelt hätten. Es
ist ausser Dio kaum ein Anderer als Geschichtsschreiber Trajan's
bekannt. Dazu kommt, dass er wirklich, zum Theil wörtlich,
mit der anderen Epitome Xiphilin's stimmt (Dio, c, 30 § 3:
Ao'joioc, v.axcupB-üJGS aXXa xs -oWä .... Eusebius, § 5: Aoöoioc;
zni xö) vtad-opO-cufJiaxi . . .). Mein Schluss, Eusebius werde hier
mindestens vorzugsweise, wenn nicht allein, den Dio im Auge
haben, hat auch Lipsius (S. 89) eingeleuchtet. Muss aber auch
die Möglichkeit einer zweiten Quelle für Eusebius offen bleiben,
so ist es hilflos, wenn Ewald (S. 356) nicht Dio wenigstens mit
zu den Quellen des Eusebius rechnet."
166
welches dem Nachweise gewidmet ist. wie die
Kii'che immer mehr emporblühte, die Juden aber
santen. sollte er aus Schonung für die Juden so
Unerhörtes von ihnen nicht berichten? Hören wir,
was er sagt:
..Die Lehre unseres Erlösers und die Kirche,
von Tag zu Tag mehr emporblühend, gelangte zu
immer grösserem Wachsthum, bei den Juden dagegen
häufte sich das Unglück durch immer neue Uebel.
Denn da der Kaiser (Trajan) schon das achtzehnte
Jahr regierte, yernichtete er, da ein neuer Aufstand
der Juden ausgebrochen war, eine grosse Anzahl der-
selben. Sie fingen nämlich in Alexandrien und im
übrigen Aeg^^Dten. dazu auch in Cyrene. wie von
einem Aufruhrsdämon getrieben, gegen ihre Mit-
bewohner, die Griechen, zu rebelliren an. Der Auf-
stand wuchs, so dass ein nicht unbedeutender Kiieg
von ihnen begonnen wurde. Statthalter von ganz
Aegypten war damals Lupus. Beim ersten Zusammen-
treffen blieben die Juden Sieger über die Hellenen.
Diese, nach Alexandrien fliehend, fingen die in der
Stadt wohnenden Juden und tödteten sie. Die Juden
in C\Tene, welche somit der Hilfe von Alexandrien
aus beraubt waren, fuhren dennoch fort, unter An-
führung des Lucuas, Aegypten und seine Xomen zu
plündern und zu verheeren. Da schickte der Kaiser
den Marcus Turbo mit Fussvolk, einer Seemacht,
1()7
ausserdem noch Reiterei gegen sie. Dieser, in vielen
Schlachten and in ziemlich langer Zeit mühevoll den
Krieg gegen sie beendend, tödtet viele Myriaden
Juden, nicht blos cyrenensische, sondern auch die
aus Aegypten ihrem Könige Lucuas zu Hilfe geeilt
waren. Aber der Kaiser, fürchtend, dass auch die
Juden in Mesopotamien die dortigen Bewohner an-
greifen würden, befahl dem Lusius Quietus, die Pro-
vinz von ihnen zu säubern. Dieser zog denn auch
wider sie und tödtete von ihnen eine grosse Menge.
Wegen dieser glücklichen Leistung w^urde er vom
Kaiser zum Statthalter von Judäa ernannt. Dies er-
zählen mit denselben Worten auch die griechi-
schen Schriftsteller, welche die Vorgänge jener Zeiten
der Xachwelt überliefert haben''.
Eusebius weiss demnach absolut nichts von be-
sonderen Gräueln. welche die Juden jener Zeit ver-
übt haben sollen, und wer bis auf Xiphilinus weiss
etwas davon?
Giebt es einen Kritiker, der glauben kann,
dass die Kirchenschriftsteller bis in's elfte Jahr-
hundert hinein sich solche Dinge gegen die Juden,
wenn sie im Dio sich vorgefunden, sich würden haben
entgehen lassen? Dio selbst gehört zu den wenigen
heidnischen Autoren jener- Tage, die ohne Hass und
ziemlich sachlich über Juden und jüdische Eeligion
168
berichten i). Und dennoch sollten ihm solche Gräuel
bekannt gewesen sein, ohne auf seine Stimmung ein-
zuwirken?
"Wir zweifeln nicht, dass neben der allgemeinen
Gesinnung gegen die Juden, welche seit den Kreuz-
zügen erzeugt war, bei Xiphilinus noch das besondere
3Ioment hinzukam, dass er als Hellene gerade über
einen Bericht erbittert war, in welchem die Hellenen
eine so wenig schmeichelhafte Rolle gespielt, insofern
sie nach grausamer Tödtung von Gefangenen dennoch
erst mit Hilfe des Aufgebots der ganzen römischen Macht
zum Ziele kommen konnten, und dass er darum nicht
Anstand nahm, seiner Phantasie über die Juden die
Zügel schiessen zu lassen. Gerade in Bezug auf
Trajan fehlt es nicht an talmudischen Notizen. ^Yo
ist die Spur von Thaten, auf die sicherlich in irgend
einem midraschischen Versteck Aväre angespielt w^orden?
Wir hören wohl von grossen Leiden, aber nicht von
solchen Thaten der Wiedervergeltung.
Dennoch prangt die Geschichte von den entsetz-
lichen Juden in Cypern unbeanstandet in allen Dar-
stellungen. In Gibbon so gut wie in Renan steht
sie da als specimen Jiidaicae immanitatis. Aber ich
meine, dass der Verdachtsgrund, den ich vorgebracht.
1) Dio Cassius, 37, 15.
169
doch nicht so gar leichtwiegend ist, nm unbeachtet
zu bleiben.
Ich begnüge mich mit diesen Proben, die doch
immerhin etwas beitragen, die längst vorhandene Ein-
sicht zu stärken, wie viel die Kritik noch zu leisten
hat, ehe die Geschichte, statt falle convenue zu sein,
eine wirkliche Erkenntniss der Vergangenheit wird.
VIII. Nachträge zum ersten und zum zweiten
Theile der ,,Blicke in die Religionsgeschichte''.
A. Zum ersten Theile.
I. Für das Eindringen des Griechischen in die
palästinische Welt (S. 10 ff.) auch da. wo es sich um
cultnelle Zwecke handelte, konnte auch Mischnah
Schekalim IIL. 2 als charakteristisch angeführt werden.
Daselbst lesen wir, dass nach E. Ismael die Kasten
in der Tempelkammer, welche die Schekalimgelder
bargen, mit griechischen Buchstaben bezeichnet waren.
Das wird in den Zusätzen des E. Jom Tob Heller
(Tosaphot) zur dritten Mischuah des fünften Capitels
des Schekalim-Tractats recht sachgemäss erklärt. In
der zuletzt angeführten Mischnah wird nämlich
wiederum gesagt, dass die Siegel, richtiger Marken,
die man Denen gab, welche die Gebühr für die ver-
schiedenen Trankopfer entrichtet hatten (Egel, Sachar,
Gedi, Chote dal, Chote aschir), die in den Klammern
enthaltenen Worte auf aramäisch enthielten. E. Jom
171
Tob erklärt hierzu Folgendes i) : Die officiellen Per-
sonen verstanden Griechisch, wie sie Hebräisch ver-
standen, desswegen konnten die Kasten, mit denen ja
nur beamtete Persönlichkeiten zu thun hatten, grie-
chisch gezeichnet sein, die Siegel (Marken) dagegen
dienten ja auch gewöhnlichen Leuten, zu denen man
darum nur in der Sprache des Landes (aramäisch)
reden konnte.
n. Zu der Behauptung, dass man die früher ge-
schätzte Septuaginta mit dem Tage ungünstig ansah,
wo dieselbe gleichsam zur geistigen Depossedirung
Israel's benutzt w^urde (S. 15 ff.), konnte auf eine
Stelle verwiesen w^erden, welche Weiss, von Jellinek
aufmerksam gemacht, bespricht-). Zu dem Satze
nämlich Exodus 34, 21 : „Und Gott sprach zu Moses :
Schreibe dir diese Worte auf" wird von den Midra-
schim-') über den AYerth der mündlichen Lehre ge-
sprochen. Man merkt diesen Stellen die Verstimmung
an, welche die Behauptung: „Nicht Ihr seid fürder
Israel, sondern w4r" in den Kreisen der jüdischen
Lehrer erzeugt hat, und sie antworten mit der Wen-
dung: Wenn Ihr auch durch die griechische Ueber-
1) l. l Stichwort \:i'hv sirD n*önK%
2) Weiss ViT-im im -in, S. 96.
3) Exodus Eabbah zur angeführten Pentateuchstelle . na-
mentlich aber charakteristisch in dem „Tancliuma" genannten
Midrasch zur Stelle.
172
Setzung im Besitze der Lehre seid, so liegt doch in
der mündlichen, der halachischen Exegese und der
Mischnah. erst der Schlüssel zu ihr. und der ist noch
in den Händen IsraeFs.
Will man so etwas kleinlich, engherzig finden,
so übe man zunächst die Gerechtigkeit, sich in die
Seele von Menschen zu setzen, denen man die eigene
nationale Literatur aus der Hand nimmt mit den
Worten: Ihr versteht Euern Moses nicht, seine Ge-
setze sind nicht eigentlich, sondern nur allegorisch
gemeint.
HL Zu dem Capitel: ,,Die Meinung vom Schrift-
wort in den Tagen R. Elieser's und R. Josua's ben
Chananiah" füge ich noch folgendes Eigenthümliche
hinzu :
Gerade der Kampf der Minäer gegen die Gesetze
bewirkte, dass man in jener Zeit nicht blos wie später
Maimonides und wie im Grunde der Pentateuch selbst i)
in dem sogenannten Ceremonialgesetz ein Mittel sah zur
1) Ein Beispiel für Viele ist die Begründung des Gebotes
der Schaufäden (Zizith) im Pentateuch mit den Worten (Xumeri
18, 40): „Und Ihr werdet sie sehen und gedenken aller Gebote
Gottes und sie üben, auf dass Ihr nicht nachgeht Euerm Herzen
und Euern Augen, denen Ihr nachbuhlt. Auf dass Ihr gedenket
all' meiner Gebote und sie übet imd so heilig werdet Euerm
Gotte''.
173
Weihung und Heiligung auch des täglichen Lebens
und zur Befestigung in Glauben und Sitte, sondern
dass man es wie eine Art von Welt- und Naturgesetz
fasste. Die Gebote haben nicht mehr relativen, sondern
absoluten Zweck, sie sind nicht mehr blos ein Weg,
den Gott dem Menschen vorgeschrieben, sondern den
unter schicklicher Berücksichtigung des Abstandes
zwischen Gott und Menschen man auch von Gott
selbst eingehalten glaubt. Da diese Auffassung
manche Eigenthümlichkeit erklärt, so sei sie hier noch
näher auseinandergesetzt. In Exodus Rabbah heisst
esi): „R. Gamaliel, R. Josua, R. Eleasar ben Asariah
und R. Akiba sagten in Rom in einem Vortrage Fol-
gendes: Die Wege des Heiligen, gelobt sei Er, sind
nicht die Wege von Fleisch und Blut. Fleisch und
Blut (ein Mensch) giebt wohl eine Verordnung und
heisst Andere so thun, handelt aber selbst nicht so,
bei Gott dagegen steht es anders. Da war daselbst
ein Minäer und sagte: Euere Worte sind ja unwahr.
Ihr habt gesagt: Gott befiehlt und thut es selbst
Warum beobachtet Er nicht den Sabbath? (gemeint
ist Seine Nichtberücksichtigung des Verbotes, von Ort
zu Ort zu tragen, die sich im Regen und anderen
^) Exodus Eabbah, c. XXX. Diese Stelle ist auch von
Derenbourg citirt: „Essai sur V histoire etc.", p. 334, wenn
auch zu einem anderen, als meinem hiesigen Zwecke.
174
;N'aturvorgäugeii ausspricht). Sie aber antworteten:
Giebst Du nicht zu, dass innerhalb des einem und
demselben Menschen gehörigen abgegränzten Gebietes
das Tragen von Ort zu Ort am Sabbath erlaubt ist?
Gewiss, antwortete er. Nun. die obere und die untere
Welt sind ja Gottes Gebiet (bilden den Hof Gottes),
denn so heisst es: Toll ist die Erde seiner Herr-
üchteit".
Wer diese Stelle näher erwägt, wird sich andere,
seltsam klingende Stellen leichter erklären. So zum
Beispiel den Satz, der so viel Yerwunderung erregt hat,
dass eine der Beobachtung des Thefillingebotes durch
die Menschen correspondirende Observanz bei Gott
angenommen wirdi). Ebenso den Satz, dass schon
Abraham alle späteren Gebote befolgt habe-j. Wenn
dieser Satz auch aus den Worten der Genesis 2(3. 5:
„Die weil er (Abraham) auf meine Stimme gehört und
beobachtet hat meine Hut, meine Gebote, meine
Satzungen und meine Lehren'* sehr geschickt heraus-
gedeutet wird und offenbar seine polemische Spitze
gegen die Paulinische Beweisführung richtet, dass
Abraham nur durch seinen Glauben selig geworden 3),
1
0 Der bekannte Satz Berachotli 6a: rr:?2 n'ZpZ^ p:a
i'^Sn etc.
2) Joma 28 b: r\"J ''£K HTiinn bz DmnS* D"p»
s) Eigenthümlich ist es dagegen, dass der PauUaische Satz
anstandslos auch von derMechiltha ausgesprochen wird. Mecbiltha
175
so konnte eine solche sagen wir anachronistische
Annahme in Bezug auf Abraham doch nur auf-
kommen in Zeiten, wo man das Ceremonialgesetz um
seiner absoluten Bedeutung willen als einem prophe-
tischen Mann wie Abraham unmöglich von Gott vor-
enthalten annahm.
Falsch aber wäre die Behauptung, dass diese in
der Hitze der Polemik unwillkürlich gesteigerte Be-
deutung des Ceremonialgesetzes auch nur im Talmud
selbst consequent festgehalten wird. Der Kundige
erinnert sich an den Satz: Die Gebote seien blos
-gegeben, um den Menschen zu läutern, oder an die
merkwürdige Predigt des K. Simlai, welche eines der
ehrenvollsten Zeugnisse für den Talmud ist, beweisend,
dass, wo er nicht in der Abwehr sich befindet, er
Zweck und Mittel. Wesen und Erscheinung in der
Religion aufs beste zu sondern weiss i).
Gleichfalls ein Satz, auf dem heissen Boden der
Polemik erwachsen und nachweislich nicht überein-
stimmend mit einem freisinnigeren Satze, der als an-
genommene Halachah sich bis heute behauptet hat
zu Exodus 14. 31: nn DbiüH DHiZK iTT i^^ K2£iö nnx pi
1) Mackoth 24 b. Vgl. Graetz, ., Geschichte der Juden", lY.,
2. Auflage, S. 265.
176
ist folgender!): ..Wer da sagt: Die Tliora ist göttlich
bis auf einen Yers, den nicht Gott gesagt, sondern
Moses aus sich selbst, auf den findet das Wort An-
wendung: Denn das Wort Gottes hat er verschmäht
y^umeri 15, 31'\ Damit vergleiche man die halachische
Bestimmung, dass man die Strafandrohungen beim
öffentlichen Torlesen aus der Thora in einem Zuge
lesen solle, um nicht zu thun, als ob man die Zucht
Gottes verschmähe und die Motivirung . warum das
nur von der „Züchtigung" im dritten Buche Mosis,
nicht aber von der im fünften gilt. Abaji sagt näm-
lich: Die Fluchworte im dritten Buch Mosis sind
im Plural abgefasst und Moses sagt sie „aus dem
Munde der Stärke'" (von Gott eingegeben), aber die
Fluchworte im Deuteronomium sind singularisch ge-
halten und Moses sagt sie „aus eigenem Munde" 2).
Hier braucht Abaji genau die Worte, die nach dem
früher angeführten Satze als Geringschätzung des
Gotteswortes bezeichnet werden.
Wer sich erinnert, dass die den Juden nächst
1) Sanhedria 69 a: D*öirn ]» nbl2 nT,nn b^ lÖlK l'^'SKl
2) Megillah 31 b wird zur Bestimmung der voran geojaDgenen
Mischnah: n'bbp2 i"p'C£ö i'K Folgendes von Abaji erklärt: vh
6bm pÄK rni2;n •£» ntra*. n-niös cs-i ]:^bz ibbn xiauts 'Kö
177
stehende Secte der Miiiäer, die Ebioniten, zwar das
Gesetz Mosis für verbindlich hielten, aber eine Art
von Pentateuchkritik übten, indem sie sich erlaubten,
Zugesetztes und Irriges in demselben anzunehmen i),
der wird die geschiclitliche Entstehung des zuerst
angeführten Satzes leicht begreifen, zugleich begreifen,
warum man noch weiter geht und sogar denjenigen
als Verräther des Gotteswortes bezeichnet, der die
durch irgend eine Deutungsregel aus der Schrift er-
schlossene und gewonnene Lehre dem Schrift worte
selbst nicht gleichstellt-).
IV. In der Abhandlung über Aristobul erwähne
ich Seite 87 die auch bei Philo auftretende Meinung,
als hätten griechische Philosophen aus den jüdischen
Offenbarungsurkunden geschöpft. Da man ohne nähere
Prüfung der Sache leicht glauben kann, Philo unter-
scheide sich in diesem Punkte nicht viel von dem
sogenannten Aristobul , so sei hier eine kurze Ver-
gleichung angestellt. Pseudoaristobul hat die Dreistig-
keit zu behaupten, dass schon vor der Entstehung
1) Vgl. Paur. „Dogmengeschichte-', erster Band, erste Ab-
theilung, Leipzig 1865. Daselbst wird S. 378 ff. die Pentateuch-
und Bibelkritik des Yerfassers der Clementinen auseinander-
gesetzt.
2) Sanhedrin , Z. ?. : D'örn p rh^D m'.nn ^2 n?21K ITBKI
,n]n '•■■ ist «3 xin nn n mtrnTT:^: n- löim bpö ,nT pnpi» rin
12
178
der Septuaginta. vor Demetrius und vor Alexander
dem CTrossen gewisse Theile der Schrift übersetzt
wurden und so den Griechen zugänglich gewesen
seien 1). Philo dagegen hat keine Ahnung davon,
dass so etwas je behauptet worden. Er sagt-): ,,Dass
das Göttliche dieser Gesetze nicht nur bei den Juden,
sondern auch bei allen anderen Völkern Bewunderung
und Ehrfurcht erweckt habe, lässt sich ausser dem
schon Angeführten noch aus Folgendem ersehen. Die
Gesetze waren anfänglich in chaldäischer Sprache ge-
schrieben, in der sie eine geraume Zeit, so lange
nämlich ihre Yortrefflichkeit anderen Völkern nicht
so bekannt war. allein konnten gelesen werden; wie
aber die Fremden, bei der täglichen Beobachtung und
Ausübung derselben, die unter ihren Augen geschah,
sie mit Aufmerksamkeit zu betrachten und überall
viel Rühmens von ihnen zu machen anfingen, wie
ja in der Regel das Schöne, wenn auch einige Zeit
durch den Xeid verdunkelt und unbekannt bleibt,
nachher wegen seiner Vorzüge mit desto grösserem
Glänze hervorbricht, so hielten es Einige für sehr un-
billig, dass diese Gesetze nur der einen Hälfte
des Menschengeschlechts, den Barbaren, be-
1) Vgl. meine Abhandlung S. 80 und die daselbst Note 2
in extenso mitgetheilte Stelle aus Clemens.
^) Philo. ,, Vita Mosis'', IL. § 5. ed. Mangey, 138.
179
kannt sein, den Griechen aber ewig unbekannt
bleiben sollten, und fassten den Entschluss, sie zn
übersetzen. Dieses grosse und nützliche Unternehmen
auszuführen war keiner geringen Person , sondern
einem Könige, und zwar einem der berühmtesten
Könige vorbehalten geblieben*'. Und nun folgt das
Lob des Ptolemäus Philadelphus und die bekannte
Erzählung, wie durch ihn das Uebersetzungswerk zu
Stande gekommen.
Man sieht, von dem später erfundenen Pragma-
tismus der Aristobulea zu dem Zwecke, die Benutzung
der heiligen Schrift durch die Griechen vor Alexander
dem Grossen glaubhaft zu machen, ist in Philo keine
Spur. Philo ist so wenig darauf aus, in Allem die
Priorität dem Moses einzuräumen, dass er diesen
sogar in Aegypten von griechischen Lehrern unter-
richtet werden lässt^).
Wenn Philo in Bezug auf einen Satz des Zeno
sagt, „er (Zeno) scheine ihn gleichsam wie aus einer
Quelle aus der jüdischen Gesetzgebung geschöpft zu
haben"'-), so ist das natürlich nicht richtig, aber doch
1) Philo, „Vita Mosis'', L, 6, ed. Mangey. 84: „Ty;/ ok
aAATtW l'(y,6v.\iov TzoL'.oiiav "EXatjVcS so:oa-v.ov. Tergleiclie Siegfried,
„Philo", S. 351.
2) Angeführt bei Zeller, „Geschichte der griechischen Philo-
sophie". III., 2. 3. Aufl.. S 347.
12*
180
wenigstens nicht schon aus chronologischen Gründen
unmöglich und abenteuerlich, da Zeno etwa um 270
V. Chr. gestorben ist^).
Wenn Philo ferner die Lehre A'on den Gegen-
sätzen, den er als Hauptpunkt der Heraklitischen
Philosophie bezeichnet, schon als von Moses gefunden
angiebt, so sagt das, wenn man die Worte erwägt,
keineswegs , dass Heraklit sie dem Moses entnommen
habe, sondern der Sinn des Ganzen ist doch blos
der: Ihr Griechen lühmt das an Euerem bewunder-
ten Heraklit als einen neuen Fund, so vernehmt,
dass es schon ein Pund des Moses ist-). Das Alles
ist ja natürlich nicht richtig, hat aber mit den
Abenteuern der späteren Aristobulea nur so viel zu
thun, dass der Fälscher durch solche bei Philo und
Anderen vorkommende Wendungen sich angeregt
fühlte, den Prioritätstreit dadurch zu erledigen, dass
er durch Falsiiicate einen Beweis für die mosaische
Priorität schuf.
1) Zeller, ?. l III.. 1, 3. Aufl., S. 28.
2) Zeller, ?. Z., verweist auch auf diese Stelle. Um aber
den im Text angegebenen Sinn derselben zu erhärten, setze ich
die Philonischen "SVoite hin: o'j toöt' bxcv o 'fa-'.v "EXXtjVs^ tov
urcav xat '^.oioiij.&v Ttap' 'xbiolc. 'Hpav.XsiTov y.s'-p^zXatov xy]S cchxoö
■!T:pooxr^aa|isvov 'S'Xo'O'Siiac, a'j/slv cö^ k's>' f'yoi'zs'. xsv/J' izoOmw y«?
£Dps|jia ^loizioi^ l-v. (quis rerum divin. heres 610 C. 503 M.).
181
Y. Zu Seite 126 möchte ich aufmerksam machen
auf die merkwürdige Position, in welche nach unserer
und anderen Talmudstellen der Messias bei den spä-
teren Lehrern gerückt ist. Gott wollte, heisst es, den
Hiskias zum Messias machen. Da wird von der Ge-
rechtigkeit eingewendet: ,,Du hast David, der dessen
würdiger gewesen wäre, nicht dazu gemacht, warum
willst Du Hiskias dazu erheben."
Während also ursprünglich der Messias ja nur
Sinn hatte als Retter und Wiederhersteller, nachdem
Israel seine Selbständigkeit verloren, wird er hier be-
handelt, als gehöre er unter allen Umständen zur
Oekonomie von Israel's Geschichte. Damit ist zu-
sammenzustellen der Satz, dass der Name des Messias
der AVeltschöpfung vorhergeht, wie noch sechs anderen
Dingen eine ideelle Existenz vor der "Weltschöpfung
zugeschrieben wird i).
YI. Ich gehe jetzt zu den Nachträgen über, zu
denen ich durch die dankenswerthen Besprechungen
meiner Schrift in Zeitschriften veranlasst bin.
Yon Dr. David Rosin "s Besprechung -) kann
1) Pcsachin 54 a: D^lUn iT^^V DT,p IKinS anm HUDtT
2) In „Magazin für die AVissenschaft des Jiidenthiims"
herausgegeben von Dr. Berliner und Dr. D. Hoffmann, Berlin 1880,
von S. 174—181.
182
ich nur sagen, dass ich jedem ehrlichen Autor
solche Leser und einen solchen Yermittler wünsche.
Mit der diesem Gelehrten eigenen Gründlichkeit giebt
er in gedrängtester Kürze eine meisterliche Skizzirung
des Inhalts, und fügt zugleich i) eigene beachtenswerthe
Bemerkungen hinzu.
Dankenswerth waren für mich auch die Be-
sprechungen von Siegfried (Göttingische Gelehrte An-
zeigen 1880, 2. Band S. 1261 — 1277j und von Strack
(Theologische Litteraturzeitung , herausgegeben von
Harnack und Schürer, Giessen 9. April 1881). Siegfried,
der Verfasser des trefflichen Buches über Philo, hat
mich durch seine Recension zum Xachdenken über
einige Punkte angeregt und dadurch gefördert. Wenn
ich mich in viele seiner Einwürfe nicht finden kann,
so glaube ich im Interesse der Sache zu handeln.
wenn ich mich hier mit ihm auseinandersetze.
Siegfried will das grosse Interesse nicht begreifen,
dass der antinomistisch gesinnte Theil der Christen
an der Vereitelung des Tempelbaues soll gehabt
haben. Aber wenn doch noch bei Justin, wie ich
gezeigt habe, gerade die Zerstörung des Tempels ein
Argument gegen die Verbindlichkeit des sogenannten
Ceremonialgesetzes bildet, wie kann man zweifeln.
i) Auf Seite 180—181.
183
dass so viel früher der in Trümmera liegende Tempel
.vie ein Fingerzeig Gottes angesehen wurde, dass er
die alte Cultusform verworfen habe? Siegfried wendet
ein, dass man ja schon aus dem Hebräerbrief lernen
konnte, „wie gut es sich ohne den Tempel auskommen
lasse". Aber der llebräerbrief heisst ja darum so,
weil er gerade ein \' ersuch war, die Judenchristen
„von der hemmenden :N^eigung zu den ererbten Formen
loszureissen^' (Reuss, ,,Geschichte des neuen Testa-
ments- S. 142). Und kann Jemand, der die Menschen
kennt, zweifeln, dass die feinsten Allegorisirungen
auf die Massen nicht so wirkten, wie die nackte
Thatsache? Kann man zweifeln, dass das Argument
mit dem hinweisenden Finger: Seht, wie Gott seinen
Tempel hat in Asche legen lassen, damit eine neue
Art der Gottesverehrung aufkomme, stärker wirkte
als die künstlichsten Allegorisirungen in Schriften
und Reden! Die ganze Macht der Allegorisirung
nach der Richtung hin wäre gebrochen gewesen,
wenn der Tempel sicli wieder in altem Glänze er-
hoben hätte, während sie eine grosse Bedeutung
hatte, so lange sie nur die Illustration zu der vor-
handenen Wirklichkeit bildete.
Siegfried vermisst S. 1260 bei mir eine aus-
drückliche Classification der damaligen Juden in
1) gesetzestreue und christusfeindliche 2) gesetzestreue
und christusgläubige, 3) antinationale und antinomi-
184
stische. Und solcher, frage ich, welche schwankten,
welche eben nicht wnssten, was sie in jenen noch
messianisch gespannten Zeiten glauben nnd thun
sollten, wird es nicht eine grosse Menge gegeben
haben?
Ebensowenig ist mir der Einwand verständlich:
Wozu man denn das Griechisch verbot, da man es
doch den Minim nicht verbieten konnte? (1269 — 1270).
Aber ist es so schwer zu verstehen, warum man
z. B. einen index lihrorum iirohibitormn anfertigt für
Solche, die sonst durchaus keine Neigung zeigen, aus
dem Yerbande zu treten? Die Juden waren ja nicht
gefeit gegen Auslegungen, die man von Seiten der
jüdischen Lehrer für bedenklich hielt. Nicht einmal
alle Lehrer waren dagegen gefeit. Wir können eine
stattliche Liste solcher anfertigen, die, im Sinne der
damaligen Juden geredet, in's Netz der Minäer fielen.
E. Elieser, Sohn des Hyrcan, sagt selbst, dass gewisse
minäische Auslegungen für ihn einen Reiz gehabt
hätten i). Vorübergehende Hinneigung zu den Minäern
wird auch dem ben Dimah, Schwestersolme des
R. Ismael-), dem später hervorragenden Lehrer Cha-
naniah. Brudersohne des R. Josua, einem Lehrer Jehuda,
1) Aboda Sarah 17 a.
2j Ibid. 9.1h.
185
Sohn des xsTekiissa zugeschrieben i), nicht zu reden von
dem bekannten Elisa ben Abujah. der freilich mehr
in gnostische Yerirrungen hineingerathen zu sein
scheint
Die Frage Siegfried's (S. 1269): „Sollte das wohl
bei dem Hass, den man gegen die Minim hegte, za
befürchten geAvesen sein" (nämlich dass ihre G-esin-
nung bei den Juden Eingang finden Avürde), contrastirt
daher seltsam mit dem talmudischen Worte: „Für
Minäisches gelten andere Kegeln, das hat eine beson-
dere Anziehungskraft"' -). Man vergisst gar zu sehr,
dass der grimmige Hass. der auf jüdischer Seite an-
genommen wird, in die Judenseelen, die man wahrlich
wenig kennt, hineingedichtet ist.
Siegfried sagt ferner (S. 1270) : „Seltsam nimmt
es sich dann aus, S. 43 zu lesen: Zur negativen Ab-
wehr trat die positive*'. Seltsam mag es sein, aber
wahr ist es. Das habe ich schon in einer Xote gegen
denselben Einwand des Herrn Professor Strack gezeigt.
Gänzlich unverständlich ist mir folgender Ein-
wand Siegfried"s (S. 1269), den Strack ebenso zum
seinigen macht: „Merkwürdig ist nur, dass wir dabei
in allen historischen Berichten immer nur von einem
Aufstände der Juden gegen die römische Obrigkeit
1) Midrascli Kohelcth zu 7, 26 ■;« X^IISI*
2j Abodah Sarah 27 b: XZt:'^"! n';"^ ^;X'iy»
186
lesen". Ich bitte, die Quellen einzusehen (Dio Cassius.
Eusebius), und sich zu überzeugen, dass der Aufstand
in erster Linie gegen die Hellenisten gerichtet war.
Siegfried sagtS. 1271 : „Auch ist nicht zuzugeben,
dass man erst aus der griechischen Uebersetzuug
die Deutungsfähigkeit des Textes erkannt habe. Aller-
dings kamen durch diese üebersetzung neue Deutungs-
möglichkeiten hinzu". Mehr als neue Deutungsmöglich-
keiten habe ich aucli nicht behauptet, und der
Einwand, dass der Grundtext in Hinsicht gewisser
Pleonasmen nicht ungünstiger steht, als die griechische
üebersetzung, ist doch wohl nicht haltbar, wenn, wie
ich in meiner Schrift S. 46 gezeigt habe, diese Art
zu deuten noch von Zeitgenossen Akiba's so wenig
dem Urtexte angemessen erachtet wird, dass sie ent-
gegenhalten: Wie kann man deuten, wo die Thora
nicht anders spricht als die Menschen auch sonst.
Das heisst doch wohl, dass man es im Urtext gar
nicht als pleonastisch gefühlt hat, weil es eben Sprach-
gebrauch ist.
Auf die Frage, ob Alexandrien oder Palästina
für gewisse Deutungen die Priorität habe, lasse ich
mich hier nicht ein. Meine Ansichten über diesen
Punkt habe ich in der Kürze in einem besonderen
Aufsatze i) dargelegt. Auch Freudenthal hat erkannt.
^) Lessiüg. ..Mendelsohn"s Gedenkbuch", S. 243 ff.
18^
dass es falsch ist, blos von einem Einfluss der
palästinischen Exegese auf alexandrinische und nicht
auch umgedreht zu reden.
Mit bis auf das Kleine sich erstreckender Sorgfalt
ist meine Schrift von Strack gelesen worden. Von seinen
zahlreichen kleinen Bemerkungen und Zusätzen er-
wähne ich hier die Verbesserung meiner auf Seite 155
gegebenen Uebersetzung einer talmu diseben Stelle.
Es muss in der That heissen: „Die über Gott Dinge
sagen, die er von seinen Geschöpfen entfernt (d. h.
ihnen verborgen) hat''. Warum ich dagegen mit
einem Theil seiner Einwände mich nicht einverstanden
erklären kann, ist aus dem gegen Siegfried Gesagten
zur Genüge zu entnehmen.
Zur Eecension meiner Schrift von Dr. Eosenthai
(Graetz' Monatsschrift, Juni 1880) bemerke ich Folgen-
des. Herr Dr. Rosenthal wendet sich gegen eine
Stelle meiner Schrift, die ich auf seine Bitte ihm gern
von vornherein Preis gegeben hätte. Dass der IG. Adar
gerade der Tag war, an dem man damals zu bauen
begann (S. 24 meiner Schrift), war ein Einfall von
mir, ohne dass ich etwas dagegen habe, wenn man
entweder mit Graetz (,,Gesch.-' III., 2. Auflage S. 423)
diesen Gedenktag in die Makkabäerzeit verlegt oder
mit Derenbourg {essai p. 74) die Schwierigkeit anders
löst. Was gemeint ist, bleibt eben ungewiss. Aber
völlig bedeutungslos ist die Sache für meine Aus-
188
einandersetzung über den Ti-ajanstag. Herr Dr
Eosenthal versteht zu viel Hebräisch, als dass ich
zweifeln sollte, er habe seinen Einwand gegen meine
TJebersetznng : „Der Trajanstag ist aufgehoben worden
-,2 :^ri;r dv an dem Tage, an dem hingerichtet worden'-,
nicht längt zurückgenommen. Dass man auf die
Frage: Wann im Hebräischen ebenso gat er wie avr
sagen könne, Aveiss Herr Dr. E. so gut wie ich. Dass
er bei den bekannten Wendungen n":rn n*?:?: rh^z und
ähnlichen den merkwürdigen Vorschlag macht, man
solle lesen: "2: ',r :^,nrir er ivt^: cv b^z und übersetzen:
Es habe den Trajanstag aufgehoben der Tag, an
welchem Pappus und Lollianus getödtet Avorden sei,
ist doch wohl Zwang ohne Xoth. Sicherlich würde der
jerusalemische Talmud nach seiner orthographischen
"Methode in dem Falle auch b^i'z geschrieben haben.
Sehr AA'ichtige Bemerkungen in einer holländischen
Besprechung meiner Schrift a'ou A. D. Lomann habe
ich im zweiten Theile der Schrift dankbar benutzt.
B. Nachträge zum ZAveiten Theile.
Zu Seite 90.
I. Die Erklärung der Wortes Minim, die ich
-•ebe, hat, Avie ich nachträglich gefunden, schon Mussafia.
189
Hoffentlich aber wird der Leser die Art, wie ich aus
der g-eschichtlichen Lage und der halachischen Praxis
die Erklärung motivire, als neu und überzeugend
erkennen.
Zu Seite 127 ff.
IT. Damit man sehe, wie ein wirklicher Kenner
der talmudischen Quellen über die damalige äusser-
liche Haltung der Juden urtheilt, citire ich aus Franz
Delitzsch : „Jüdisches Handwerkerleben zur Zeit Jesu'-^
n. Auflage S. 39 folgende Stelle.
„Das mosaische Gesetz hatte dem Yolke eine
starke und zarte Empfindlichkeit für Rein und Unrein
anerzogen. Ein Handwerk, welches mit unreinen
Stoffen hantirte, die man dem Manne anroch, stand
schon deshalb auf tiefer Stufe. Die G-erberei, welche
Thierhäute zu Leder herrichtet und die Erzgräberei^
welche in der Erde wühlt, galten für so schmutzige
Gewerbe, dass es einer Frau verstattet war, sich nicht
allein von dem Hundekothsammler, welcher dem
Gerber diesen Gerbestoff zuführte, sondern auch von
dem Gerber und Erzgräber selbst ebensowohl wie
von einem Manne mit Aussatzgeschvvüren oder einem
stinkenden Polypen zu scheiden, möge er das, wodurch
er sie unerträglich belästigt, schon vor der Heirath
gewesen oder erst nach der Heirath geworden sein.
(Ketuboth YIL, 10.) Die Welt, sagt ein mehrmals
190
vorkommender Spruch (Kidcluschin 82 b) kann Treder
ohne Parfümeur (bassam) noch ohne Gerber (burseki)
bestehen. Heil dem. dessen Handwerk das Parfümiren,
wehe dem, dessen Handwerk die Gerberei ist. —
Der Platz .für Gerbereien musste wie für Aeser und
Gräber wenigstens 50 Ellen von der Stadt entfernt
sein.-- (Bathra H. 9.)
am Bicl !P>iW
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17.1 28-
UC SOUTHERN REGIONAL LIBRARY FACILITY
A 000 118 509 9