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Full text of "Blicke in die Religionsgeschichte zu Anfang des zweiten christlichen Jahrhunderts"

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^^: 


Yui .  ^  ^-r. 
ic. 


Blicke  in  die  EeligionsgescMchte. 


J.A    ^ 


•    1        •        1*      T^    1  *     *  ^  * 


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zu  Anfang 

des  zweiten  cMstliclieii  Jahrlmnderts. 

I.  Der  Talmud  und  die  griechische  Sprache 

nebst  zwei  Excursen 
a.  Aristobul,  der  sogenannte  Peripatetiker.    b.  Die  Gnosis. 

Von 

Du  M.  Joel 

Rabbiner  der  israelitischen  Gemeinde  zu  Breslau. 


BRESLAll. 


Druck  und  Verlag  von  S.  Scliottlaender. 
1880. 


Einleitung. 


Die  Zeit,  in  welcher  das  Jadenthum  aus  seinem 
Schosse  die  Keligion  entliess,  welche  heute  die  Welt- 
herrschaft hat,  wird  niemals  aufhören,  im  hohem  Grade 
die  Theilnahme  des  Forschers  herauszufordern.  So 
unübersehlich  selbst  die  guten  Bücher  schon  sind, 
welche  diese  Zeit  schildern,  der  Ergänzung  und  Be- 
richtigung durch  irgend  eine  kleine,  bis  dahin  noch 
unbeachtete  Quelle  werden  sie  immer  noch  bedürfen. 
Namentlich  gilt  das  von  dem  aus  der  Erwägung  der 
einschlägigen  Talmudstellen  zu  Gewinnenden.  Directe 
zeitgenössische  Nachrichten  über  die  Entstehung  des 
Christenthums  haben  wir  im  Talmud  bekanntlich  so  gut 
wie  keine.  Das,  was  in  den  Gemaren  über  den  Stifter  des 
Christenthums  und  seine  Jünger  vorkommt,  ist  nicht 
blos  unbedeutend,  sondern  verräth  zugleich  seinen 
späteren  Ursprung  durch  die  chronologischen  Irr- 
thümer,  die  dabei  unterlaufen.  Jesus  wird  in  eine 
enge  Beziehung  zu  Josua  ben  Perachiah  gebracht, 
einem  Lehrer,   der  länger  als  hundert  Jahre  vor  Chr. 


n 


Geburt  geblüht  hat.  Es  war  eben  eine  ungeschicht- 
liche Zeit,  wo  man  Forschungen  über  den  Ursprung 
einer  Sache  nicht  anstellte,  sondern  mit  einer  Er- 
scheinung erst  dann  sich  beschäftigte,  wenn  sie  Theil- 
nahme  oder  Sorge  bereitete.  Wie  Justinus  Mai'tyr 
um  130  n.  Chr.  ruhig  erzählt,  dass  Ptolemäus,  der 
Begründer  der  alexandrinischen  Bibliothek,  einen  Ge- 
sandten an  den  jüdischen  König  Herodes  geschickt 
hätte  (1.  Apologie  c.  31),  so  wissen  die  späteren 
Talmudisten  nichts  Genaues  über  die  Vorgänge  bei 
den  Anfängen  des  Christenthums. 

Dagegen  wird  der  Talmud  zu  einer  Geschichts- 
queUe,  die  wichtiger  ist,  als  manche  directe  Erzählung, 
die  ja  leicht  gefärbt  sein  kann,  wo  er  ohne  Neben- 
absicht in  Massregeln,  in  Einrichtungen,  in  Ge- 
sprächen oder  in  Auslegungen  das,  was  die  Lehrer 
jener  Zeit  bewegt  und  beschäftigt  hat,  wie  in  einem 
treuen  Spiegel  reflectirt. 

Folgen  wir  blos  talmudischen  Quellen,  so  kommen 
wir  zu  folgendem  Eesultat:  Bis  zur  Zeit  Trajans 
suchen  wir  vergebens  nach  einer  charakteristischen 
Notiznahme  von  der  neuen  Erscheinung  auf  Seiten 
der  Lehrer  Israels.  Es  ist,  als  ob  bis  dahin  in  Pa- 
lästina das  Christenthum  durchaus  nicht  als  aus  dem 
Rahmen  des  Judenthums  getreten  erkannt  worden 
wäre.  Ton  da  ab  wird  es  anders.  Religionsgespräche 
mit  ILinäern,    bald    harmloser,    bald  beissender    Art, 


III 


werden  mitgetheilt ,  Einrichtungen  werden  getroffen 
mit  dem  Bewusstsein,  dass  dem  Judenthum  eine  Ge- 
fahr drohe,  Verbote  gegen  ketzerische  Bücher  werden 
erlassen,  eine  Methode  der  Schriftauslegung  kommt 
auf  oder  wird  wenigstens  vervollkommnet,  welche  der 
angegriffenen  Tradition  zur  neuen  Stütze  werden  soU. 
Dafür  den  geschichtlichen  Hintergrund  in  kleinen 
Specialuntersuchungen  deutlicher  zu  machen,  ist,  wenn 
auch  nicht  die  ursprüngliche  Tendenz  dieser  Schrift  — 
das  war  vielmehr  einfach  das  Streben  nach  Klarheit 
über  gewisse  dunkle  Stellen  und  über  gewisse  exege- 
tische Eigenthümlichkeiten  des  Talmud  —  aber  doch 
ein,  um  mit  Aristoteles  zu  reden,  nicht  zu  ver- 
schmähendes „£7iLY^Tv6[j.£vov  zbXoc,'^. 

Der  Eleiss  und  der  Scharfsinn  christlicher  Ge- 
lehrten hat  ja  längst  die  Betrachtung  des  Judenthums, 
wie  es  in  jener  Zeit  sich  gestaltet  hatte,  für  das  Yer- 
ständniss  des  damals  neu  entstehenden  Christenthums 
zu  verwerthen  gesucht,  Aber  bei  den  Massen,  welche 
diese  Forscher  ohnehin  zu  umspannen  haben,  ist  eine 
selbstständige  Durcharbeitung  des  Talmud  und  der 
Midraschim  ihnen  nicht  zuzumuthen.  Hier  müssen 
Diejenigen  eintreten,  welche  an  der  Beschäftigung  mit 
dem  Talmud  kein  blos  gelegentliches  Interesse  nehmen. 
Unbefangene  Wahrheitsforscher  werden  ja  die  Berich- 
tigung mancher  aus  Mangel  an  tieferer  Erkenntnis s 
des  Talmudismus  herrschenden  falschen  Urtheile  sich 


lY 


gern  gefallen  lassen.     Befangene  brauchen    überhaupt 
keine  neuen  Bücher. 

Wie  schwer  es  ist,  selbst  für  den  begabten 
Forscher,  bei  blos  gelegentlicher  Benutzung  der  Tal- 
mudtexte das  Richtige  zu  sagen,  möchte  ich  an  einem 
der  genialsten  zeigen,  dem  Franzosen  Ernest  Renan. 
Er  ist  ehrlich  genug,  sich  als  Jünger  der  deutschen 
Wissenschaft  in  seinen  Leistungen  zu  bekennen.  Das 
ihn  persönlich  Auszeichnende  aber  —  von  dem  Glänze 
seiner  Darstellung  abgesehen  —  namentlich  selbst  der 
tübinger  Schule  gegenüber,  der  er  offenbar  das  Meiste 
verdankt,  ist  einmal  die  Yermeidung  philosophischer 
Construction  bei  einer  wesentlich  historischen  Auf- 
gabe —  ein  Hauptfehler  des  sonst  so  erstaunlich 
geistesmächtigen  Baur  — ,  dann  eine  eingehendere 
Benutzung  des  Talmud.  Aber  selbst  wo  er  Zutreffen- 
des über  den  Talmud  sagt,  mischt  er  doch  Wahres 
und  Falsches  und  spricht  wie  ein  in  die  Sache  nicht 
ganz  Eingedrungener.  Ich  gebe  ein  Beispiel  aus  der 
autorisirten  deutschen  Ausgabe  seines  Paulus  (S.  1 03) : 
„Hierin  zeigte  sich  die  grosse  Dualität  im  Juden- 
thum.  Der  Geist  des  Gesetzes,  das  wesentlich  ein- 
schränken, Yon  andern  absondern  sollte,  war  durchaus 
verschieden  von  dem  der  Propheten,  die  in  ihrem 
weiteren  Gesichtskreise  an  die  Bekehrung  der  Welt 
dachten.  Zwei  der  talmudischen  Sprache  entlehnte 
Worte    drücken    den    eben    bezeichneten  Unterschied 


gut  aus.  Die  Hagada,  gegenüberstehend  der  Halacha, 
bezeichnet  die  Yolksthümliche  Predigt,  die  sich  die 
Bekehrung  der  Heiden  zum  Ziel  setzt,  während  im 
Gegentheil  die  gelehrte  Casuistik  nur  an  strenge 
Ausübung  des  Gresetzes  c'enkt  ohne  die  Absicht,  Je- 
mand zu  bekehren.  Die  Evangelien  sind  nach  der 
Sprache  des  Talmud  blosse  Hagadas,  der  Talmud  da- 
gegen ist  der  letzte  Ausdruck  der  Halacha.  Die  Ha- 
gada hat  die  Welt  erobert  und  das  Christenthum  ge- 
schaffen, die  Halacha  ist  die  Quelle  des  orthodoxen 
Judenthums,  das  noch  besteht,  ohne  den  Wunsch  sich 
auszubreiten ;  die  Hagada  ist  hauptsächlich  galiläischen, 
die  Halacha  hauptsächlich  jerusalemischen  Ursprungs; 
Jesus,  Hillel,  die  Yerfasser  der  Apokalypsen  und  Apo- 
kryphen, sind  Haggadisten ,  Schüler  der  Propheten, 
Erben  ihrer  unbegrenzten  Bestrebungen.  Sammai, 
die  Talmudis  ?n,  die  Juden  nach  der  Zerstörung 
Jerusalems  sind  Halachisten,  Anhänger  des  Gesetzes 
und  seiner  strengen  Beobachtung.  Wir  werden  sehen, 
wie  der  Gese  esfanatismus  bis  zu  der  äussersten 
Krise  des  Jahres  70  jeden  Tag  wächst,  und  am  Yor- 
abend  des  Yerhängnisses  des  ganzen  Yolkes  durch 
eine  Art  Keaction  gegen  die  paulinischen  Lehren 
zu  jenen  „achtzehn  Kegeln"  führt,  die  von  da  an  jeden 
Yerkehr  zwischen  Juden  und  Mchtjuden  unmöglich 
machten"  u.  s.  w. 


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Die  Worte  enthalten  ja  manches  Treffende.  Aber 
ist  das  ein  richtiger  G-egensatz  zwischen  Hillel  und 
Sammai,  dass  Hillel  Haggadist  gewesen  und  Sammai 
Haiachist?  Woher  hat  Kenan,  dass  Galiläa  haupt- 
sächlich das  Yaterland  der  Haggadah,  Jerusalem  die 
Taterstadt  der  Halachah  gewesen  sei?  Gesetzt,  es 
wäre  wahr,  dass  die  Hillel'sche  Kichtung  die  hagga- 
dische  gewesen,  so  stammt  ja  doch  Hillel  aus  Baby- 
lonien,  hört  in  Jerusalem  bei  Schemajah  und  Abtalion 
und  hat  eine  besondere  Beziehung  zu  Galiläa  nicht. 
Aber  Hillel  kann  sogar  umgekehrt  durch  seine  Auf- 
stellung der  sieben  Deutungsregeln,  wenn  nicht  als 
Begründer,  doch  als  eine  der  Säulen  der  Halachah 
bezeichnet  werden.  Dass  Hillel  weitherziger  gewesen 
als  sein  schrofferer  College  Sammai,  hat  mit  seiner 
Richtung  auf  Halachah  und  Haggadah  nichts  zu  thun. 
Gibt  es  denn  keine  weitherzige  Halachah  und  keine 
exclusive  Haggadah?  Yon  den  ,,18  Anordnungen" 
lässt  sich  sagen :  ä  la  guerre  comme  ä  la  guerre.  Es 
sind  Kriegsmassregeln  gegen  das  andringende  Rom. 
Aber  trotz  dieser  Ungenauigkeiten  zeigt  Renan  auch 
hierbei  seinen  grossen  Blick.  Eine  solche  Dualität, 
wie  er  sagt,  herrscht  wirklich  im  Judenthum  nur 
nicht  blos  jener  Zeit:  Exclusivität  und  Weitherzigkeit. 
In  einer  monotheistischen  Religion  kann 
man  ja  auf  die  Länge  keinen  Menschen  von 
Gott    ausschliessen.     Darum    hat    das  Judenthum 


YII 


schon  von  Jesaias  her  seinen  auch  die  Heidenwelt 
mit  einbegreifenden  Zug.  Im  Talmudismns  spricht 
sich  das  halachisch  aus  in  den  Liebespflichten 
gegen  die  das  noachische  (allgemein  menschliche)  Ge- 
setz befolgenden  Mchtjuden  und  in  der  zur  normirten 
Halachah  gewordenen  Meinung:  „Die  Frommen  aus 
den  Yölkern  der  Welt  haben  Antheil  an  der  zukünfti- 
gen Welt".  Aber  man  will  darum  nicht  in  das 
Heidenthum  aufgehen,  und  das  ist  die  jüdische  Ex- 
clusivität.  Wenn  demnach  Eenan  auch  nicht  gerade 
gut  exemplificirt,  so  bedarf  doch  das,  was  er  sagt,  nur 
des  Zurechtrücken s,  um  wahr  zu  sein.  Aber  eben 
dieses  Zarechtrücken  ist  Sache  Derer,  die  den  Talmud 
nicht  blos  ad  hoc  nachschlagen. 

Wenn  meine  Untersuchungen  die  bedeutenden 
Leistungen  jüdischer  Gelehrten  im  letzten  halben 
Jahrhundert  nach  dieser  Richtung  hin  auch  nur  ein 
wenig  ergänzen,  hie  und  da  auch  berichtigen,  so  haben 
sie  ihren  Zweck  erreicht. 


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•  usseü 


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Eine  verstümmelte  und  eine  nicht  genügend 
gewürdigte  Stelle. 


Ich  beginne  meine  Untersuchung,  indem  ich  zAvei 
einander  schnurstracks  Avidersprechende  rabbinische 
Stellen  erörtere,  deren  eine  dem  nachtalmudischen 
Tractate  „Sopherim"  i),  deren  andere  dem  jerusalemischen 
Talmud  entnommen  ist. 

Dass  der  Berieht  über  eine  zweimalige  griechische 
Pentateuch-Uebersetzung,  wie  er  in  dem  Tractat  Sophe- 
rim  gegeben,  von  einem  über  die  Vergangenheit-  un- 
klaren   Keferenten    ausgegangen    und    wohl    auch    in 


1)  „Sopherim"  (Schreiber)  ist  der  dritte  der  sogenanuteu 
„kleinen  Tractate'S  die  zu  Ende  der  vierten  Ordnung  (Nesikin) 
des  babylonischen  Talmud  abgedruckt  sind.  Nähere  Belehrung 
über  diesen  Tractat,  der  „Regeln  für  Schreibung  der  Gesetzesrollen 
und  Synagogenritual''  enthält,  bei  Zunz,  Gottesdienstl.  Yorti-äge 
S.  95  ff.  Vor  kurzem  ist  „Sopherim"  nach  Handschriften  be- 
sonders edii-t  und  mit  einem  Commentar  versehen  worden  von 
Dr.  Joel  Müller.  Für  unser  Urtheil  über  die  beiden  Berichte 
sind  die  Varianten,  welche  die  Handschriften  zu  unserer  Stelle 
bieten,  von  keinem  Belang. 

1 


seinem  ersten  Theile  yerstümmelt  ist,  hat  schon  Asa- 
riah  de  Eossi  i)  gesehen  nnd  in  der  Hauptsache  auch 
richtig  gedeutet.  Während  nämlich  der  Tractat  die 
Erzählung  von  den  72  Alten,  die  der  König  Ptole- 
mäus  in  72  Häuser  (Zimmer)  brachte,  ohne  ihnen 
den  Zweck  ihrer  Berufung  anzugeben,  bis  auf  einige 
IJngenauigkeiten  wörtlich  dem  babylonischen  Talmud  -^) 
entnimmt  —  der  Bericht  kommt  viel  nüchterner 
auch  in  der  halachisch-haggadischen  Erklärung  des 
zweiten  Buches  Mosis,  der  sogenannten  Mechiltha^) 
und  im  jerusalemischen  Talmud^)  vor  — ,  schickt  er 
eine  ihm  eigenthümliche  Relation  voran,  welche  fol- 
gendermaassen  lautet :  „Einst  übersetzten  fünf  Alte  dem 
Könige  Ptolemäus  die  Thora  ins  Griechische,  und  es 
war  der  Tag  der  Uebersetzung  hart  für  Israel  wie  der 
Tag,  an  welchem  das  goldene  Kalb  gemacht  worden 
war,  denn  die  Thora  hatte  nicht  genügend 
übersetzt  werden  können".  Nach  diesen  Worten 
setzt  er  eben  die  Erzählung  von  den  72  Alten  als 
einen  zweiten  Yorgang  gleichfalls  unter  Ptolemäus  ^). 


1)  Der  beiühmte  Mantuaner  Asariah  de  Rossi  (1511 — 1578) 
urtheilt  über  ucsere  Stelle  in  seinem  Meor  Enajim  (Imi-e  binah 
c.  8  ed.  Cassel  S.  136  ff.) 

2)  MegiUa  9a. 

3)  Zu  Exodus  12,  40. 

4)  MegiUa  Cap.  I-  S.  71  col.  4. 

5)  Sopherim  I.,  8  u.  9:  "öbnb  isn^tr  D^2p7  ntt'önn  ntrrö 
ii  iirrir  DVD  bKitt^''b  ntrp  orn  im«  rrm  n^or  minn  nx  "i^ön 


Darüber,  dass  der  Redacteur  des  Tractats  Sophe- 
rim  seine  Nachrichten  und  Personen  verwirrt  hat,  ist 
kein  Wort  zu  verlieren.  Nicht  blos  die  moderne  Kritik, 
sondern  schon  das  Mittelalter  ist  diesem  Tractat  gegen- 
über vorsichtig.  So  sagt  R.  Ascher  ij:  „der  jerusale- 
mische Talmud  ist  massgebend,  wo  er  dem  Tractat 
Sopherim  entgegen  ist,  denn  dieser  Tractat  ist  erst  in 
späterer  Zeit  verfasst  worden,  so  dass  von  seinen  Wor- 
ten im  Talmud  nichts  angeführt  wird".  Das  hindert 
aber  nicht,  dass  wir  das  Wahre,  welches  dem  Falschen 
beigemischt  ist,  zu  eruiren  suchen. 

Richtig  in  dem  Bericht  ist  I.  die  Nachricht  von 
einer  zweimaligen  Uebersetzung  des  Pentateuch,  aller- 
dings in  ganz  verschiedenen  Zeiten,  nämlich  zur  Zeit 
der  sogenannten  70  und  wiederum  zur  trajanisch- 
hadrianischen  Zeit.  Richtig  ist  11.  dass  die  zweite 
Uebersetzung  veranstaltet  \\n.irde  in  Tagen,  wo  man  in 
der  ersten  eine  Gefahr  für  Israel  sah,  wie  einst  in  dem 
goldenen  Kalbe.      Diese    Bezeichnung   für    einen    die 


mtr  :n2i2i  b^  Dnnnb  nbi^^  nmnn  nn^'^  ihü  b:un  nx  S^ntr^ 
D^nn  cni?)  'un  Di^^trim  a'ipt  (n"U)  ü'v^^  osatr  -['^ön  ^öbnn  ntrrü 
nnb  nöK  an«  nnKi  nn«  b^  b:ii<  0222  dd33  hö  hv  nnb  umn  n^i 
iö^3cni  nnxi  nnx  Sa  abn  n:iv  nypn  jn:  Dann  nr»  nmn  ^b  inna 
'121  ,in  irtr  nm  O"^  n^xi;  '':sn  nninn  n«  ib  innai  'hk  ni?nb 

1)  Bekannt  unter  dem  Namen  Eosch,  starb  1327.  Rosch 
spricM  sein  im  Text  angegebenes  Urtheil  über  den  Tractat  Sophe- 
rim in  den  Halachoth  ketanoth,  Hilchoth  Sifre  Thora  (abgedruckt 
hinter  den  „kleinen  Tractaten")  aus. 

1* 


Keligion  gefährdenden  Yorgang  in  Israel  hat  übrigens 
einen  sprichwörtlichen  Charakter,  da  sie  auch  sonst 
wiederkehrt,  z.  B.  bei  dem  Streite  der  schammaitischen 
und  hillelschen  Schule  über  die  sogenannten  18  Yer- 
ordnungen  i).  Kichtig  kann  selbst  sein  III.  die  Nach- 
richt von  den  fünf  Alten,  bei  denen  ich  an  die  fünf 
bekannten  Jünger  K.  Jochanan  ben  Saccai's  denke, 
unter  denen  die  berühmtesten  und  hervorragendsten  ß. 
Elieser  und  K.  Josua  als  diejenigen  im  Talmud  auftreten, 
auf  deren  Geh  ei  SS  und  unter  deren  Anspielen  Aquila  seine 
griechische  Uebersetzung  zu  Stande  gebracht  hat-). 
Aber  selbst  wenn  man  mit  de  Kossi  darin  eine  un- 
genaue Erinnerung  an  die  anderen  Uebersetzer 
Aquila,  Symmachus,  Theodotion  sieht,  würde  die  Zahl 
fünf  insofern  eine  Art  Erklärung  finden,  als  es  ja,  wie 
aus  den  Octaplis  des  Origines  zu  ersehen,  mrklich 
ausser  den  70  noch  fünf  griechische  Uebersetzer  gab, 
so  dass  der  Kedacteur  des  Ti'actats  Sopherim  etwas 
von  fünf  Uebersetzern  gehört  haben  könnte.  Falsch 
angewendet    dagegen    und    aus   späterer    Anschauung 


1)  Jer.  Tahnud,  Sab>  ath,  Cap.  I,  S.  3  col.  3  zu :  mD'^HÖ  ibx 

,Tn  Dvn  imK  'la  npnb  i'^uuo  jn;  p  .Tp^n  p  .T:;n  n-'^bun  r.bxü 

2)  Jer.  Talmud  Megilla,  cap.  I.,  S.  71  col.  3.  Die  Pai-allel- 
stelle  in  b.  Talmud  Megi  la  3a  gibt  zu  dem  IiTthum  Anlass,  als 
handle  es  sieb  um  unser  aramäisches  Targum,  wogegen  die  Sache 
nach  dem  jerusalemischen  nicht  miss verstanden  werden  kann. 


5 

heraus  verschlimmbessert  sind  die  Worte  des  Berichts 
„weil  die  Thora  (griechisch)  nicht  genügend  übersetzt 
werden  konnte".  Genau  das  Umgekehrte  lehrt  der 
jerusalemische  Talmud.  Dort  heisst  es^):  „Nach  ein- 
gehender Untersuchung  fand  man,  dass  die 
Thora  nach  ihrem  vollen  Bedarf  in  keiner 
anderen  Sprache  wiedergegeben  werden  könne 
als  in  der  griechischen".  Man  wird  zugeben, 
dass  diese  Worte  zunächst  überraschend  klingen,  aber 
wir  werden  darthun,  dass  sie  strengstens  und  nicht 
etwa  hyperbolisch  gemeint  sind.  Sie  bieten  den 
Schlüssel  für  Manches,  was  uns  im  Talmud  seltsam 
erscheint.  Um  jedoch  die  Worte  in  ihrer  vollen  Trag- 
weite zu  erkennen,  müssen  wir  zunächst  das  je  nach 
den  verschiedenen  Zeitläuften  wechselnde  Yerhalten 
der  Talmudlehrer  gegenüber  der  griechischen  Sprache 
so  gedrängt  wie  möglich  darlegen. 


1)  Jer.  Talmud  1.  1.:  ^2  Dnnnb  nbis"  nmnn  pi<u^  iK2iöi  ipnn 


Das  wechselnde  Verhalten  der  Talmudlehrer 
gegenüber  der  griechischen  Sprache. 


Längst  bevor  die  diuTh  die  Yerhältnisse  erklär- 
bare Scheu  der  Lehrer,  neben  den  kanonischen 
24  Büchern  der  heiligen  Schrift  ein  anderes  auf  die 
Religion  bezügliches  Buch,  und  sei  das  auch  eine 
Uebersetzung  der  Schrift,  in  jüdischen  Kreisen  gelten 
zu  lassen,  die  Bestimmung  hervorgerufen,  dass  man 
weder  Halachot  (Gesetzesbestimmungen)  noch  Hagga- 
doth  (erbauliche  Auslegungen),  weder  Uebersetzungen 
der  Schrift,  noch  Segenssprüche  aufschreiben  dürfet), 
bestand  eine  griechische  Bibelübersetzung  als  fait 
accompli.  Zur  Zeit  ihrer  Entstehung  und  noch  lange 
Zeit  nachher  war  kein  Grund  vorhanden,  in  ihrem 
Bestehen  etwas  Beklagenswerthes  zu  sehen.  Dass  die 
^elt  auf  drei  Tage  sich  verfinsterte  zur  Zeit  als  die 
Uebersetzung  der  70  gemacht  worden,  und  dass  darum 
der  8.  Tebet  ein  Fasttag  ist,    wie  es  in  dem  späteren 


i)  B.  Tabnud,  Sabbatli  116  a  und  b.     Gittin  60b  und  öfter. 


Zusatz  der  Fastenrolle  heisst  und  wie  es  von  da  in  die 
Ritualcodices  gekommen  (Orach  Chajim  580),  ist  Aus- 
druck einer  sehr  viel  später  entstandenen  Ueberzeu- 
gung  von  der  verhängni ssvollen  Bedeutung  der  griechi- 
schen Bibelübersetzung. 

Den  Gang  unserer  Darstellung  einen  Augenblick 
unterbrechend,  mache  ich  die  Bemerkung,  wie  ähnlich 
der  Talmud  und  die  Kirchenlehrer  den  Antheil  der 
physischen  Welt  der  Dinge  an  den  moralischen  und 
geschichtlichen  Yorgängen  construiren.  Bekanntlich 
verfinsterte  sich  die  Sonne  auf  drei  Stunden  beim 
Tode  Jesu  (Matth.  15,  33).  Ebenso  hat  das  Zerreissen 
des  Tempelvorhanges  (Luc.  23,  45)  sein  Gegenbild  in 
dem  Zerreissen  des  Yorhangs  bei  der  Tempelzerstörung 
(b.  Talmud,  Gittin,  56b),  wenn  es  auch  an  Ort  und 
Stelle  den  Anschein  hat,  als  habe  das  Wunder  nicht 
im  Zerreissen,  sondern  darin  bestanden,  dass  der 
Yorhang  von  Blut  troff.  Aber  die  ursprüngliche 
jüdische  Sage  scheint  auf  ein  wunderbares  Zerreissen  zu 
gehen,  da  der  Midrasch  zu  den  Klageliedern  2,  17  die 
Worte  „er  hat  seine  Yerheissung  vollbracht"  geradezu 
übersetzt:  „er  hat  seinen  Purpur  (Yorhang)  zerrissen" i). 
Wollte  ich  die  Frage  aufwerfen,  was  von  solchen  Wun- 
dern zu  halten  sei,  so  würde  ein  nüchterner  Forscher 
lächeln.     Aber  ich  will  an  einer  merkwürdigen  Parallele 


1)  Siehe  Dr.  Michael  Sachs,  Beiträge  zur  Sprach-  u.  Alter- 
thumsforschung  I.,  S.  29. 


8 


zeigen,  in  welcher  "Weise  bisweilen  der  Canon:  Wo 
Wunder  erzählt  werden,  da  haben  ^^ir  es  mit  nichts 
Thatsächlichem  zu  thun  i),  modificirt  werden  müsse. 
„Als  R.  Abbahu  (im  Zeitalter  des  Diocletian)  starb  — 
so  erzählt  der  Talmud  2)  —  da  vergossen  die  Säulen 
von  Cäsarea  Thränen".  Ein  richtiges  rabbinisches 
Märchen,  wird  man  sagen.  Aber  siehe  da,  Eusebius, 
der  Bischof  von  Cäsarea,  erzählt  für  dieselbe  Zeit,  in 
der  R.  Abbahu  lebte,  nachdem  er  über  christliche  Mär- 
tyrer in  Cäsarea  berichtet  hatte.  Folgendes 3):  „Wäh- 
rend dieses  (nämlich  die  grausame  Behandlung  der 
Märtyrer)   mehrere  Tage   hindurch    geschah,  ereignete 


1)  Siehe  Th.  Nöldecke's  geistvolle  Aufsätze:  die  alttesta- 
mentliche  Literatur,  S.  7  ff. 

2)  P.  Talmud,  Moed  katon,  S.  25  b.     in2K  nn  nx-23  TO  -5 

3)  Eusebius  in  der  zweiten  Zugabe  zum  8.  Buche  seiner 
Kirchengeschichto,  welche  übersclirieben  ist:  rizpi  toüv  ev  IlaXa:- 
cTir/j  fiapTopyjcdvTwv  c.  9.  Ich  gebe  seine  eigenen  Worte:  ecp' 
oiq  irXe'.ccalg  Tj|iEpats  £7r'.T£XrOO{Ji£votg,  toioütov  Tt  Ttapaoo^ov  oujxßaLvs:: 
alO-pia  Y^v  xai  Xa|j.7tpÖ5  ö  ä-rjp  xaJ  xoö  Tzzp'Ayovzoq  xaid-xa-ig 
EüO'.iutdrr/  sha  dö-poiu^  tüjv  dva  Tr,v  zoX-.v  xioviuv  ol  t«^  or^iiosiag 
uTTfips'.oov  GToas,  oaxputuv  T'.vd  xpoTCov  ol  uXsious  oTaXaY|J-oug  cctt- 
sotaCov  ayopai  -es  xai  ^Xaista'.,  jj-y^Ssjaiäg  '^sxdoog  l|  dspog  Y^Y'^^'^^i" 
[isvr^S  oi)x  olo'  6:r69'ev  uSav.  pavTiaO-staai  xaö-UYpatvovro  (Lg  aoxLxa 
otaö-püXXriO-rjvat  clg  «dvxag  Saxpüsai  ttjV  y^^  ^??'^{^V  Xoy«),  rrjv  xcüv 
TOTE  TTpayO-sv-ccuv  avoc'.oupYiav  [a-r]  'fspou-av  sie  sXsYy&v  ts  cpüaswc; 
dxsYxxo'j  xai  a.zo\i-a^oöc,  dvö-ptu-tuv,  XiO'oo^  xac  tyjV  a'i/uyov  oXyjV 
KKxXaücai  Tols  Y^f'^'^/I^^^^'S*  ^""^IP^S  ^^cug  xai  tiöö-oj  sü  o'.S'  Sx: 
Solsisv  slvai  xö  pTj|ia  lolc,  (Jls^'  Tj[Jiäg*  dXX'  ohy  ohTisp  6  xaipog  xtjv 
dX-fjO-siav  iTC'.oxcjucaxo. 


sicli  folgendes  Seltsame.  Die  Luft  war  rein  und 
hell  und  der  Himmel  wunderbar  heiter.  Da  begannen 
plötzlich  die  meisten  Säulen,  welche  die  öffentlichen 
städtischen  Hallen  (in  Cäsarea)  stützten,  wie  eine  Art 
Thränenti'opfen  zu  vergiessen.  Auch  die  Marktplätze 
und  Strassen  wurden,  während  kein  Tröpfchen  aus  der 
Luft  kam,  ich  weiss  nicht  woher,  vom  Wasser  nass 
und  feucht.  So  dass  alsbald  alle  Leute  sagten,  die 
Erde  weine  in  unsagbarer  Weise,  weil  sie  die  Frevel- 
haftigkeit des  damals  Yollbrachten  nicht  tragen  könne. 
Zar  Beschämung  der  harten  und  lieblosen  Natur  der 
Menschen  hätten  die  Steine  und  die  leblose  Materie 
über  das  Geschehene  geweint.  Als  Geschwätz  und 
Fabel,  weiss  ich  wohl,  wird  späteren  Menschen  das 
Gesagte  erscheinen,  nicht  so  denen,  denen  der  Zeit- 
punkt selbst  die  Wahrheit  der  Sache  bekräftigt  hat". 
Das  Factum  ist  also  nicht  einfach  erfunden,  aber  in 
der  Deutung  des  Factums  unterscheiden  sich  die 
Zeiten  und  die  Menschen. 

Doch  kehren  wir  zu  unserem  Gegenstande  zurück. 
In  der  Mischnah  und  in  den  Gemaren  herrscht  bald 
ein  überaus  freundliches  Yerhältniss  zur  griechischen 
Sprache,  bald  ein  feindliches,  selbstverständlich  je  nach 
der  geschichtlichen  Situation.  Aus  dem  Yorhanden- 
sein  einer  griechischen  Uebersetzung  entsteht  die 
Halachah,  dass  die  Bücher  der  heiligen  Schrift  in  jeder 
Sprache  ritual  gültig  geschrieben  werden  dürfen.    Aber 


10 


R.  Simon  ben  Gamaliel  schränkt  die  Halachah  auf 
den  Fall  ein.  Auch  bei  den  Büchern  der  heiligen 
Schrift,  meint  er,  haben  sie  (die  Lehrer)  nur  den  Ge- 
brauch der  griechischen  Sprache  gestattet.  (Mischnah 
Megilla  I.  8.)  Die  Gremara,  nachdem  sie  selbst  die 
Entstehung  der  Halachah  aus  dem  Factum  erklärt, 
motivirt  zugleich  hinterdrein  in  haggadischer  Weise 
den  der  griechischen  Sprache  eingeräumten  Vorzug 
mit  dem  Bibelverse  (Genesis  9,  27):  „Weit  mache  es 
Gott  dem  Japhet,  und  wohne  (so  dass  er  wohne)  in 
den  Zelten  des  Sem'',  bei  welcher  Gelegenheit  die 
Schönheit  der  griechischen  Sprache  gepriesen  und  in's 
Schriftwort  hineingelesen  wird^).  Die  Stelle  ferner, 
in  welcher  das  Griechische  sogar  als  das  einzig 
brauchbare  Organon  für  die  Yerdolmetschung  der  Lehre 
bezeichnet  ^^ird,  haben  wir  bereits  beigebracht,  andere 
hierher  gehörige  Stellen  werden  uns  noch  begegnen. 
Dagegen  heisst  es  in  der  Mischnah  (Solah  9,  14): 
„Im  Kriege  des  Quietus''  —  T\de  es  bekanntlich  nach 
der   unzweifelhaften,    durch    den   Zusammenhang    der 


1)  B.  Talmud  MegiUa,  S.  9:  irman  n'nnt':  ^K  min^  n  nisK 
K':m  ibön  •abm  n  r  i:  ö  d  i  t'  ö  i  n-iin  necn  ahi^  n"nn  ih  n^:ir 

'in  DrStr  ']b^n  ■'ö'^nr  nrrü  Nachdem  mm  die  Geschichte  von 
den  72  in  bekannter  Weise  gegeben,  folgt  eben  die  im  Texte 
besprochene  Deutung  DtT  ^bnKS  ptt"  ns^  btr  ime'S''  „Die  Schön- 
heit des  Japhet  wohne  in  den  Zelten  Sems''.  Aus  dem  Tractat 
Sopherim  ist  zu  ersehen,  dass  mau  später  das  Gi'iechische  in 
ritualer  Beziehung  nicht  mehr  bevorzugte.     (Sopherim  I,  7.) 


11 


stelle  selbst  gebotenen  und  auch  textuell  nicht  un- 
bezeugten  Conjectur  von  Graetz  statt  Titus  heissen 
muss  —  „wurde  bestimmt,  dass  Niemand  seinen  Sohn 
Griechisch  lernen  lasse".  Es  ist  wahr,  dass  die  baby- 
lonische Gemara  wegen  des  Widerspruchs,  in  welchem 
diese  Bestimmung  zu  der  selbst  die  Halachah  beein- 
flussenden Gunst  steht,  die  sonst  der  griechischen 
Sprache  zugewendet  wird,  die  Mischnah  dahin  erklärt, 
dass  nicht  die  griechische  Sprache,  sondern  die 
griechische  Weisheit,  nach  Einigen  eine  Art  Zeiclien- 
sprache  gemeint  sei.  Aber  abgesehen  von  der  gänz- 
lich un geschichtlichen  Haltung  der  den  Widerspruch 
ausgleichenden  Stelle  i)  ist  aus    dem  jerusalemischen 


1)  Als  Motiv  für  das  Verbot  des  Griechischen,  das  im 
Polemos  sckel  Kitos  116  n.  Chr.  gegeben  wurde,  wird  (babil. 
Talmud,  Sotah  Ende)  die  sowohl  von  Josephus  (Alterthümer  XIV, 
2,  2)  als  auch  vom  jerusalemischen  Talmud  (Berachoth  Cap.  IV.) 
wenn  auch  nicht  in  allen  Zügen  bestätigte  Geschichte  vorge- 
bracht, nach  welcher  der  von  den  HjTcanisten  belagerte  Aristo- 
bul  (64  V.  Chr.)  anfangs  für  schweres  Geld  die  nothwendigen 
Opferthiere  von  den  Belagerern  geliefert  erhielt,  dann  aber  auf 
den  Eath  eines  in  griechischer  "Weisheit  gewandten  Alten 
ohne  Opferthiere  belassen  wurde,  ja  zum  Hohn  ein  Schwein  er- 
hielt. Dass  diese  Motivirung  nicht  passt,  folgt  so  sehr  aus 
chronologischen  Gründen,  dass  weitere  Inconvenienzen  aufzu- 
suchen überflüssig  ist.  Bei  der  Gelegenheit  bemerkt  Graetz 
(Gesch.  der  Juden,  3.  Band,  2.  Auflage,  S.  480),  dass  das  Erd- 
beben, von  welchem  der  Talmud  als  von  einer  Folge  des  sacri- 
legischen  Verhaltens  der  Hyrcanisten  redet,  von  Bio  Cassius 
gleichfalls  erwähnt  wird.     Es  würde  das  zu  meiner  im  Texte  ge- 


12 


Talmud  der  Sachverhalt  ganz  klar  zu  entnehmen.  Dort 
wird  nämlich  das  Verbot  richtig  auf  das  Erlernen  der 
griechischen  Sprache  bezogen,  ein  Yerbot,  das  freilich 
nicht  durchdrang  und  nicht  mehr  durchdringen  konnte, 
dem  vielmehr,  wie  wir  sehen  werden,  eine  positive  und 
wirksamere  Maassregel  folgte.  Warum  das  Yerbot  für 
jene  Zeit  schwer  befolgbar  war.  könnte  man  schon 
aus  den  Worten  entnehmen,  in  denen  das  Verbot 
referirt  ist.  Es  erinnert  nämlich  an  das  Geschicht- 
chen, das  man,  von  Ovid  glaube  ich,  erzählt,  den 
nämlich  seine  Mutter,  als  er  noch  Knabe  war,  bestraft 
hätte,  weil  er  beständig  Verse  gemacht.  Gezüchtigt 
sprach  er:  ,,Jam,  jam  non  faciam  versus,  carissima 
mater'.  Aehnlich  registrirt  die  Mischna  das  Verbot, 
Griechisch  zu  lernen,  mit  den  Worten:  In  dem 
Polemos  des  Quitos  verboten  sie  das  Griechisch.  So 
in  die  Sprechweise  eingedrungen  ist  das  Griechische, 
dass  man  griechisch  auch  dann  redet,  wenn  man  es 
perhorrescirt.  Daher  sagt  auch  trotz  des  Verbotes  der 
Mischnah -Redacteui',    R.   Jehuda  Hannasi:     Was    hat 


machten  Bemerkung  vou  dem  bisweilen  faetischen  Hintergründe 
der  Wimder  voiti-efflieh  passen.  Allein  es  darf  nicht  verschwie- 
gen werden,  dass  das  Wunder  des  Erdbebens  im  Talmud  auch 
sonst  als  Folge  eines  verhängnissvollen  Ereignisses  vorkommt. 
So  bebt  Palästina  gleichfalls  über  seine  400  Quadrat-Parasangen 
hin,  als  Jonathan  bei  Usiel  das  Prophetentarg  am  enthüllt.  (Me- 
gilla  3a).  Bekanntlich  geschieht  nach  Matth.  27,  5  dasselbe  beim 
Tode  Jesu. 


13 


das  Syrische  in  Palästina  zu  thun?  (Nach  Palästina 
gehört  nur  hin)  entweder  hebräisch  oder  griechisch 
(b.  Talmud,  Solah  zu  Ende).  Ebenso  meint  R.  Abbahu, 
von  dem  wir  schon  oben  zu  sprechen  Gelegenheit  ^ 
hatten :  „Es  ist  gestattet  (d.  h.  trotz  des  in  der  Mischnah 
erwähnten  Yerbots),  seine  Töchter  Griechisch  lernen 
zu  lassen,  da  es  ein  Schmuck  für  sie  ist  (jer.  Talmud 
Solah,  Ende).  Eine  eigenthümliche  Charakteristik  der 
griechischen  Sprache  begegnet  uns  in  folgender  Stelle : 
„Vier  Sprachen  sind  angemessen,  dass  sich  die  Welt 
derselben  bediene :  die  griechische  —  das  „Laas"  ist  hier 
so  zu  verstehen  —  zum  Lied  (Poesie),  die  römische 
zum  Krieg,  die  syrische  zur  Klage,  die  hebräische 
zur  Rede"  (jer.  Talmud  Sotah  c.  7,  halachah  3  und 
Megillah  c.  I.  halachah  9).  Treffender  freilich  ist  die 
Charakteristik  in  Midrasch  Thillim,  wo  nur  von  drei 
Sprachen  die  Rede  ist  und  gesagt  wird,  das  Römische 
eigne  sich  zum  Ejriege,  das  Griechische  zur  Rede, 
das  Assyrische  (das  hier  hebräisch  sein  soll  und 
Aschurith  genannt  wird)  zum  Gebet  i). 

In  jedem  Falle  aber  war  zu  Anfange  des  zweiten 
christlichen  Jahrhunderts  ein  energischer,  aber  erfolg- 
loser Yersuch  gemacht  worden,  das  Griechische  aus 
jüdischen  Kreisen  zu  verdrängen,  und  es  fragt  sich, 
aus    welchem   Grunde?     Der   jerusalemische   Talmud 


^)  Siehe  Lightfooth,  horae  hebraicae  in  ev.  Matth.  S.  257. 


14 


gibt  als  Grund  an  „wegen  der  Angeber"^).  Im  Talmud  aber 
sind  wir  gewohnt,  Angeber  und  Minäer  (Minim)  nament- 
lich für  die  Zeit,  in  der  wir  stehen,  fast  als  Wechsel- 
begriffe auftreten  zu  sehen.  Es  ist  demnach  die  Be- 
ziehung aufzufinden,  in  welchem  die  Angeber,  resp. 
die  Minäer  sowohl  zum  „Polemos  schel  Kitos"  als 
auch  zur  griechischen  Sprache  standen. 

Bekanntlich  erhoben  sich  fast  alle  von  Juden  be- 
wohnten Länder  ums  Jahr  116  gegen  Trajan.  Lassen 
wir  die  Frage  unerörtert,  ob  Palästina  selbst  sich  am  Auf- 
stande betheiligte.  Genug,  wir  wissen  wohl,  dass  die  Juden 
in  Aegypten,  Cyrene,  Lybien,  Cypern  zur  selben  Zeit 
aufstanden,  zu  welcher  auch  ihre  Brüder  in  Babylonien 
kämpften,  wir  lesen  von  einer  beispiellosen  Erbitterung 
der  Juden,  wir  erfahren  aber  nicht  die  eigentliche 
Ursache.  Es  wäre  naiv  zu  glauben,  dass  wir  das  zu- 
fällig nicht  erfahren.  Die  Quellen,  die  uns  entzogen 
sind,  sind  nicht  der  Unbill  der  Zeiten  zum  Opfer 
gefallen,  wir  müssen  uns  des  Ausdrucks  erinnern, 
den  Yalesius  auf  den  Yerlust  des  Hegesipp  anwendet, 
er  sei  „seiner  Irrthümer  wegen"  verloren  gegangen. 
Eusebius'  Wort  wenigstens,  dass  die  Juden  „wie  von 
einem  schlimmen  Aufruhrsdämon  ergriffen  worden 
seien"  2)  ist  schwerlich  eine  geschichtliche  Erklärung. 


1)  Jer.  Talmud,  Solali  1.  1.  nmcöH  ^:BÖ 

2)  Eusebius.  h.  e.  lY.,  2    „ujoTtsp    ötzo    Ttvsüiiaxog    Seivoü    xac 
oxaoKuSoug  avappiTttO'O^vxes". 


15 


Wir  sprechen  vielmehr  folgende  Sätze  aus,  die  ^^dr  nach 
einander  zu  erörtern  haben  werden:  a)  Trajan  hatte 
den  Tempelbau  gestattet,  so  dass  ein  Freudentag  „Jom 
Trajanus"  in  die  Fastenrolle  eingetragen  wurde, 
b)  Damals  zuerst  war  es  für  den  Theil  der  Christen, 
der  antinational  dachte  und  der  durch  Exegese  des 
griechischen  alten  Testaments  —  zur  Zeit  auch  für 
sie  noch  die  alleinige  heilige  Schrift  —  die  anti- 
nationale und  antinomistische  Auffassung  der  Lehre 
Mosis  begründete,  eine  Frage  von  Sein  oder  Nicht- 
sein, ob  der  Tempel  in  Jerusalem  aufs  neue  erstehe 
oder  nicht,  c)  Sie  setzten  den  Befehl  zur  Sistirung 
des  Tempelbaues  durch,  und  die  Rebellion  brach  aus, 
obwohl  gerade  in  Palästina  selbst  aus  Gründen, 
die  uns  noch  begegnen  werden,  nicht  so  offen  wie 
in  den  übrigen  von  Juden  bewohnten  Ländern,  d)  Der 
Freudentag  wurde  abgeschafft,  als  Quietus  in  Palglstina 
wüthete  und  den  Pappus  und  Lollianus,  die  Haupt- 
factoren des  ganzen  Unternehmens  des  Tempelbaues, 
getödtet  hatte.  Da  erst  erkannte  man  die  Grefahren, 
welche  eine  Schriftdeutung,  die  nicht  auf  den  Urtext 
zurückging,  mit  sich  brachte.  Man  verbot  das 
Griechische  wegen  der  antinationalen  Richtung,  welche 
in  den  auf  Grund  der  griechischen  Bibel  entstandenen 
Schriften  vertreten  war. 

Erörtern    wir    diese    Sätze    nach    einander.      Da 
Graetz,  Jost,  Dernburg,  Yolkmar  und  Andere  die  im 


16 


Midrasch  i)  erwähnte  Erlaiibniss  der  Kömer ,  den 
Tempel  zu  bauen,  auf  Hadrian  im  Anfange  seiner 
Eegierungszeit  beziehen,  wohl  um  diese  midraschische 
Xachricht  mit  externen  Quellen,  deren  Bedeutung  hier 
aber  gleich  Null  ist,  zu  harmonisiren ,  so  geben  wir 
die  Midraschstelle,  um  zu  sehen,  was  sie  aussagt. 
Sie  lautet :  , Jn  den  Tagen  des  R.  Josua  ben  Chananiah 
befahl  die  frevelhafte  Herrschaft  (Rom),  dass  der 
Tempel  gebaut  würde.  Da  setzten  Pappus  und  Lol- 
lianus  AYechslertische  von  Acco  bis  Antiochia  und 
lieferten  den  aus  der  Fremde  (Golah)  Hinaufziehenden 
ihren  Bedarf  an  Silber,  Gold  und  Sonstigem.  Da 
gingen  jene  Cuthäer  und  sagten:  „Kundgethan  sei 
dem  Könige,  dass,  wenn  diese  Stadt  gebaut  und  die 
Mauern  vollendet  sein  werden,  sie  Steuer,  Schoss 
und  Wegegeld  nicht  geben  werde".  Er  aber  sagte 
ihnen:  ,,Was  sollen  mr  thun,  ich  habe  einmal  den 
Befehl  (die  Erlaubniss)  gegeben".  „Lass  ihnen  sagen", 
riethen  sie,  „sie  sollen  ihn  (den  Tempel)  entweder  auf 
einen  anderen  Platz  stellen  oder  um  fünf  Ellen  ver- 
kleinern oder  vergrössern,  und  sie  werden  von  selbst 
zurücktreten".  Das  Volk  war  dicht  versammelt  in 
der  Ebene  von  Beth-Rimon.  Als  nun  die  (chicanösen) 
Briefe  kamen,  brach  es  in  Thränen  aus  und  wollte 
sich  empören.    Da  sagten  sie  (nämlich  die  Leiter  oder 


1)  Genesis  Eabbah  c.  64. 


17 


Lehrer) ;  „es  komme  doch  ein  Weiser,  der  das  Volk  zu 
beruhigen  versteht".  Es  wird  nun  des  Weiteren  be- 
richtet, dass  es  E.  Josua  ben  Chananiah  gelang,  das 
Yolk  durch  eine  Fabel  zu  beschwichtigen. 

Kaum  gesagt  zu  werden  braucht,  dass  mit  der 
Wendung:  „da  gingen  jene  Cuthäer"  u.  s.  w.  nicht 
etwa  wirkliche  Samaritaner  als  Denuncianten  bezeich- 
net werden  sollen,  sondern  dass  die  Denuncianten 
jener  Zeit  nur  als  vergleichbar  hingestellt  werden  jenen 
Cuthäern,  die  zur  Perserzeit  (522  v.  Chr.)  den  Tempel- 
bau gehindert  hatten  mit  den  Worten  Esra  4,  13, 
welche  auch  den  neuen  Feinden  in  den  Mund  gelegt 
worden.  Wer  aber  war  der  Kaiser,  der  die  Erlaub- 
niss  gegeben?  Graetz  sieht  ein,  dass  Pappus  und 
Lollianus  in  den  talmudischen  Quellen  und  zunächst 
an  unserer  Stelle  eine  zu  grosse  KoUe  beim  Tempel- 
bau spielen,  als  dass  man  an  Hadrian  denken  könnte, 
so  lange  die  Meinung  existirt,  dass  Pappus  und  Lollianus 
bereits  vor  dem  Kegierungsantritt  des  Hadrian  durch 
Quietus  ums  Leben  gekommen  seien.  Er  bemüht  sich  also 
um  den  Nachweis,  dass  die  Quellen,  die  von  der  Fest- 
nehmung des  Pappus  und  Lollianus  durch  Quietus 
reden,  nicht  sowohl  besagen  wollen,  dass  sie  getödtet, 
als  vielmehr,  dass  sie  gerettet  worden  seien.  Aber 
thatsächlich  ist  ihm  dieser  Beweis  missglückt. 

Der   jerusalemische    Talmud    sagt    ausdrücklich: 
Der  Trajanstag  ist    abgeschafft   worden   an  dem  Tage, 

2 


18 


an  welchem  Lollianus  und  Pappns  getödtet  wor- 
den 1).  Der  babylonische  bestätigt  das  Factum. 
Sowohl  beginnt  er  die  Erzählung  mit  den  Worten: 
,.Als  Trajan  den  LoUianus  und  seinen  Bruder  Pappus 
in  Laodicäa  getödtet  hatte'',  als  auch  schliesst  er,  dass 
er  trotz  ihrer  Vorstellungen  ihnen  das  Leben  nahm  2). 
Wenn  er  wenige  Zeilen  vorher  den  Tod  des  Schme- 
maja  und  Achija  gleichfalls  auf  den  Trajanstag  verlegt, 
so  ist  es  wohl  keine  grosse  Combination,  wenn  wir  mit 
Dernburg  und  den  Alten  darin  nur  die  hebräischen  Namen 
für  Pappus  und  Lollianus  sehen.  Ebenso  klar  ist  es, 
dass  unsere  Stelle  wohl  weiss,  dass  der  Trajanstag 
als  Freudentag  aufgehoben  worden  wegen  des  Todes 
von  Schemaja  und  Achija  (Lollianus  und  Pappus), 
dass  er  aber  die  Motivirung  für  den  Trajanstag 
selbst  nicht  mehr  weiss.  Wie  natüiiich!  Es  war 
eine  kurze  Freude,  so  dass  man  mit  Aufhebung  des 
Trajanstages  nicht  wartete,  bis  die  Fastenrolle  über- 
haupt aufgehoben  würde,  sondern  ihn  an  dem 
Tage  als  Freudentag  abschaffte,  an  dem  er  durch 
Tödtung  der  eigentlichen  Motoren  des  Tempelbaues 
inhaltlos  geworden  war.  Von  unserer  Talmudstelle 
aus    kam    auch    die   unpassende   Motivirung  für   den 


1)  Jer.  Megillah  c.  I.  Halachah  4,  Taanit  II.  Hai.  1      jnnr 
•n  nn;r  ar  pnss  dv  bts::  2pL"  nn  xnK  n  -iöki  pnt:  ar  rra  -iri: 

2)  Bab.  Talmud,  Taanit  18b. 


19 


Trajanstag  in  das  Scholion  zur  Fastenrolle.  Gleich- 
falls der  Tractat  Semachoti)  spricht  von  dem  Tode 
des  LoUianiis  und  Pappus  mit  dem  allerdings  klar 
als  Ausschmückung  erkennbaren  Zusätze,  dass  ihre 
Drohung,  falls  sie  getödtet  würden,  so  seien  sie  doch 
vom  Geschlechte  der  Chananiah,  Mschael  und  Asariah, 
d.  h.  so  würde  Gott  ihren  Tod  rächen,  sich  sofort 
erfüllt  hätte,  indem  sie,  noch  sterbend  sahen,  wie  ihm 
(dem  Quietus)  die  Augen  ausgebohrt  wurden.  Yon 
Tödtung  und  nicht  von  blosser  Gefangennehmung 
spricht  auch  der  Midrasch  zu  Koheleth  9,  10.  Wo 
steht  denn  eigentlich,  dass  sie  nicht  getödtet  wurden? 
Man  höre:  Im  Sifra^)  und  im  Scholion  zur  Fasten- 
rolle 3)  wird  gesagt:  Als  Trajan  (Quietus)  Lollianus 
und  Pappus  ergriff,  da  sagte  er  zu  ihnen:  Wenn 
Ihr  vom  Yolke  des  Chananiah,  Mischael  und  Asariah 
seid,  so  möge  Euer  Gott  Euch  durch  ein  Wunder 
retten,  wie  er  jene  aus  der  Hand  Nebukadnezar's  ge- 
rettet. Sie  aber  entgegneten:  „Jene  waren  unsträf- 
liche Leute  und  Nebukadnezar  ein  König,  der  es 
werth  war,  dass  durch  ihn  ein  Wunder  geschehe.    Du 


1)  Einer  der  kleiuen  Tractate,  die  sich  in  den  Ausgaben  des 
babylonischen  Talmud  am  Sclilusse  der  vierten  Ordnung  befinden, 
auch  Ebel  Eabbathi  genannt.  Siehe  Zunz,  Gottesdienstliche  Vor- 
träge S.  89  u.  90.     Unsere  Erzählung  findet  sich  c.  8.  (S.  37  c.  3.) 

2)  Halachischer  Midrasch  zum  3.  Buche  Mosis,  Unsere  Er- 
zählung ist  zu  lesen  Abschnitt  Emor,  Cap.  9. 

3)  FastenroUe  zur  Stelle. 


20 


aber  bist  als  frevelhafter  König  eines  Wunders  nicht 
werth,  und  wir  mögen  wohl  Gott  gegenüber  den  Tod 
verdient  haben.  Verschonst  Du  uns,  so  fehlt  es  Gott 
weder  an  Bären,  noch  an  Tigern,  noch  an  Schlangen, 
noch  an  Scorpionen,  die  uns  treffen.  Zuletzt  aber 
wird  Gott  unser  Blut  von  Dir  fordern.  Man  erzählt, 
dass  er  (Quietus)  von  dort  noch  nicht  aufgebrochen 
war,  als  eine  Staatsschrift  von  Kom  kam,  auf  Grund 
deren  man  ihm  das  Gehirn  spaltete. 

Ich  erkläre,  dass,  wer  diese  Erzählung  aufmerk- 
sam liest,  durch  sie  weit  stärker  überzeugt  wird,  dass 
Lollianus  und  Pappus  getödtet  Avorden  seien,  als  durch 
die  directen  Berichte,  die  ja  allenfalls  falsch  sein 
könnten.  Hier  nämlich  soll  nicht  sowohl  für  Quietus 
als  fÜL'  naiv  fi'omme  Gemüther  die  iiTC  machende 
Schwierigkeit  gelöst  werden,  warum  Gott  für  so  wür- 
dige Leute  wie  Lollianus  und  Pappus  nicht  ein 
Wunder  gethan,  so  gut  wie  für  Chananiah,  Mischael 
und  Asaiiah.  Dass  das  in  der  That  der  Fall  gewesen, 
kann  nicht  gesagt  werden,  da  das  Factum  der  Tödtung 
feststand.  Es  wird  darum  distinguirt  zT^ischen  hier 
und  dort,  aber  doch  wenigstens  auf  eine  nachträgliche 
wunderbare  Fügung  aufmerksam  gemacht,  nämlich 
auf  die  zur  Strafe  für  den  Frevel  an  Quietus  voll- 
zogene Execution.  Wie  unkritisch  es  wäre,  in  der 
Unterhaltung  zwischen  Quietus  und  dem  Brüderpaar 
Lollianus  und  Pappus  statt  den  Versuch   einer  Theo- 


Jl 

dicee  etwas  Historisches  zu  sehen,  geht  aus  der  That- 
sache  hervor,  dass  der  Mdrasch  zu  Echa  1,  16  wort- 
getreu dieselbe  Unterhaltung  vorbringt,  wo  er  die 
bekannte  Erzählung  von  den  sieben  Söhnen  einer 
Mutter,  die  als  Glaubensmärtyrer  gefallen,  und  auf 
deren  Wanderung  und  Wandlung  aus  der  antiochischen 
Zeit  in  die  römische  wir  noch  zurückzukommen  Ge- 
legenheit haben  werden,  in  seiner  Weise  variirt.  An 
der  Tödtung  des  Pappus  und  LoUianus  ist  somit 
nicht  zu  zweifeln. 

Auch  sehe  ich  keinen  Grund,  in  ihnen  nicht  zu- 
gleich mit  dem  Midrasch  zu  Koheleth  9,  10  die  „Er- 
schlagenen von  Lydda"  zu  sehen,  denen  eine,  Anderen 
fast  unerreichbare  Stufe  der  Seligkeit  zugeschrieben 
wird.  Wie  leicht  konnte  eine  Yerwechselung  zwischen 
Lydda  und  Laodicäa  (TlS  und  ^^plh)  in  einem  Text 
vorkommen,  der  auch  sonst  von  Namenverderbniss  nicht 
frei  ist'.i)  Die  Legenden  über  „die  Erschlagenen  von 
Lydda"  stehen  ja  damit  nicht  in  Widerspruch.  Denn 
wenn  auch  das  wahre  Motiv  für  die  Hinrichtung  des 
Pappus  und  Lollianus  ihre  Arbeit  für  den  Tempelbau 
gewesen,  so  hindert  doch  nichts,  dass  man  die  Ge- 
legenheit zu  ihrer  Hinrichtung  auf  Grund  einer  anderen 


1)  Die  älteste  Stelle,  dass  Lollianus  und  Pappus  in  Laodicäa 
getödtet  worden  seien,  ist  wohl  die  im  Sifra,  von  da  kam  sie  in 
den  Tahrnid.      Aber    der  Sifra    schreibt    auch  für  Dimis  Dima 


22 


Beschuldigung  nahm,  i)  Flu'  ganz  charakteristisch 
halte  ich  die  Nachricht,  -)  dass  Pappus  und  Lollianus, 
um  sich  zu  retten,  nicht  einmal  den  Schein  einer 
Gresetzesübertretung  auf  sich  laden  wollten,  da  es 
Grundsatz  bei  den  Eömern  war,  diejenigen  zu  par- 
donniren,  die  sich  nicht  hartnäckig  zeigten.  Sie 
fürchteten  nur  die  Gesinnungsstarken.  So  wurde  unter 
Trajan  kein  Christ  hingerichtet,  der  für  den  Augen- 
blick zur  Verleugnung  bereit  war.  Merkwürdig  sind 
die  Worte  Tertullian's  in  dieser  Beziehung:  „Man 
zmngt  ihn,  (den  Christen)  zu  leugnen,  um  ihn 
dann  frei  zu  sprechen,  ihn,  den  man  nicht  wird  fi-ei 
sprechen  können,  ausser  wenn  er  geleugnet  hat  .  .  . 
Man  will  also,  dass  er  seine  Schuld  leugne,  um  ihn 
schuldlos  zu  machen''.  3)  Die  politischen  Kömer  hatten 
keine  Furcht  vor  Menschen,  denen  in  der  Stunde  der 
Gefahr  der  Muth  ausging. 


1)  Yergl.  babh  Tahnud,  Baba  Batlira  10b.  woselbst  Easchi 
die  Beschuldigung  gibt,  auch  keinen  Anstand  nimmt,  Lollianus 
und  Pappus  für  die  ..Erschlagenen  von  Lydda'"  zu  erklären. 

2)  Jer.  Schebiit  c.  IT,  lial.  II.  Die  SteUe  lautet:  .,AVo  es 
sich  um  eine  öffentliche  Verletzung  eines  Gebotes  handelt,  soll  man 
selbst  für  ein  kleines  Gebot  Mäi-tjTer  werden,  ^^ie  Lollianus  und 
sein  Bruder  Pappus,  denen  man  ^^asser  in  einem  farbigen  Glase 
gab  und  die  es  (wohl  um  des  Scheines  willen,  als  sei  es  Götzen- 
wein) refüsirten".    ji:=  'h  v^'C"  i<h  rhp  nr^^  ^h'Zü  c-rnn  SnK 

3)  Tertulhan.  Apolog.  c.  2. 


23 


Doch  wie  dem  immer  sei,  ob  man  Lollianus  und 
Pappiis  mit  den  „Erschlagenen  von  Lydda"  identificirt 
oder  nicht,  Thatsache  ist  es,  dass  jene  vor  dem  Ke- 
gierungsantritte  des  Hadrian  den  Tod  fanden,  That- 
sache somit,  dass  die  Erlaubniss  zum  Tempelbau  unter 
Trajan  war  gegeben  worden.  Wie  konnte  man  denn 
aber  auch  den  Inhalt  des  Trajanstages  darin  sehen, 
dass  man  die  Hinrichtung  des  Trajanus-Quietus  an  ihm 
feierte?  Die  Fastenrolle  war  ja  ausnahmsweise  auf- 
geschrieben. Die  Zeitgenossen  konnten  in  Trajan  nur 
Trajan  selbst  sehen.  Es  hätte  sich  also  die  Feier  nur 
auf  den  Tod  des  Trajan  beziehen  können.  Aber  wie 
würden  die  Juden  gewagt  haben,  ein  Halbfest  nach 
einem  dem  Kaiser  zugestossenen  Unglücke  zu  be- 
nennen und  schriftlich  zu  fixiren?  Sie  hätten  das 
sicherlich  gerade  so  vermieden,  wie  sie  die  Benennung 
Caligulatag  vermieden  haben  i).  Wahrlich,  da  würae 
die  Kaiserin  Plotina  mehr  Grund  gehabt  haben,  über 
die  Juden  sich  zu  beklagen,  als  zur  Zeit,  wo  sie  sich 
darüber  beschwerte,  dass  zufällig  ein  Trauerfest  und 
ein   Freudenfest    der    Juden    so    unglücklich    gefallen 


1)  Der  urspmngliche  Text  der  Fastenrolle  lautet:  „Am 
22.  Schebat  wurde  das  AVerk  unterbrochen,  das  der  Feind  in  den 
Tempel  zu  bringen  befohlen  hatte'*.  Man  feierte  wohl  den  Tod 
des  Caligula,  weil  man  durch  ihn  von  dem  Schrecklichsten  be- 
freit wurde,  das  Israel  bedrohte.  Aber  man  hütete  sich  w^ohl  die 
Füier  Caligulatag  zu  nennen.  Die  Feier  galt  der  Befreiung,  nicht 
dem  Tode  des  Kaisers. 


24 


war,  dass  die  Juden  trauerten  zur  Zeit,  wo  sie  (Plo- 
tina)  Anlass  zur  Freude  hatte  und  umgekehrt  i). 
Der  Trajanstag  muss  an  etwas  erinnert  haben,  was 
den  Juden  zur  Freude,  dem  Trajan  selbst  aber  zur 
Ehre  gereicht  hatte,  eine  Freude  und  eine  Ehre,  die 
vergessen  wurde,  weil  sie,  kaum  aufgeblüht,  schon 
welkte.  Am  12.  Adar  langte  die  Erlaubniss  an,  den 
Tempel  zu  bauen.  Man  setzte  den  Trajanstag  fest. 
Man  liess  nur  die  drei  Halbfesttage  yerstreichen,  den 
Nikanortag  und  die  beiden  Purimtage  und  schon  am 
16.  Adar  begann  man  den  Bau  und  gab  für  diesen 
Tag  gleichfalls  das  Verbot  des  Fastens.  3) 

Die  Erlaubniss  des  Kaisers  Trajan  scheint  aber 
durch  directe  Eeisen  R.  Josua's  nach  Rom  erwirkt 
worden  zu  sein.  Reisen,  von  denen  in  den  talmudischen 
und  midraschischen  Quellen  oft  die  Rede  ist.  -)  Dass 
diese  Romreisen  R.  Josua's  nicht  erst  unter  Hadrian, 
sondern  früher  fielen,  beweist  die  liebliche  Erzählung, 


1)  Jer.  Succa  cap.  Y.  hal.  a.  Graetz,  Gesch.  d.  Juden  lY. 
S.  126. 

2)  Die  Beziehung  der  "Worte  in  der  Fastenrolle:  „Am 
Iß.  fing  man  den  Bau  der  Mauer  von  Jerusalem  an*',  auf  unsere 
Zeit  wird  nahe  gelegt  durch  den  jerusalemischen  Talmud,  der 
folgende  Zusammenstellung  hat  (jer.  Megillah  c.  I.  hal.  6:    piDS 

ab'iTTi^  nvr  ü,:::f2b  jnir  n"n  nin; 

3)  Gittin  58.  Deut.  Rabbah  2.  Echa  ßabbah  1. 


25 


wie  er  den  R.  Ismael,  der  zu  Hadrian's  Zeit  bereits  ein 
berühmter  Lehrer  war,  in  Rom  im  Gefängniss  ais  begabten 
Jüngling  entdeckt  und  für  hohes  Geld  auslöst,  i) 
Ebenso  scheint  er  dort  bei  einer  Audienz,  die  ihm 
der  Kaiser  gewährte,  für  den  Augenblick  seinen  poli- 
tischen Gegner,  einen  Minäer,  überwunden  zu  haben'^). 
Der  Ruhm,  den  sich  R.  Josua  als  Berather  Israel's 
erworben,  so  dass  man  nach  seinem  Tode  sagte: 
„Wer  wird  uns  jetzt  gegen  die  Minäer  helfen?"  3)  und 
„Mit  R.  Josua  ist  guter  Rathschlag  geschwunden" -i) 
einen  Ruhm,  den  er  zur  Zeit  seiner  oben  erwähnten 
Beschwichtigungsrede  schon  gehabt  haben  muss,  scheint 
sich  auf  eine  durch  Klugheit  erzielte,  bedeutende 
politische  Errungenschaft  zu  beziehen,  und  das  war 
eben  die  Erlaubniss,  den  Tempel  zu  bauen.  Gerade 
darum  war  aber  auch  R.  Josua  der  Einzige,  der  die 
drohende  Rebellion  hindern  konnte. 

Nach  Klarlegung  des  unter  a)  über  den  „Jörn 
Trajanus"  Gesagten  erörtern  wir  das  unter  b)  c)  d) 
Aufgestellte. 

Das  Christenthum,  entstanden  als  Verwirklichung 
gerade    der    nationalen    Hoffnungen,     die    damals 


ij  Gittin  1.  1. 
2j  Cbagiga  5. 

3)  Ibid.    Statt  pcmp^BK  ist  nach  DnsiD  'p^^p"^  von  Eabbi- 
nowitsch  p-Ö  zu  lesen. 

4)  Sotah  49. 


26 


Israel  hegte,  war  in  seinem  Ursprünge  national  und 
heidenfeindlich  platth.  15,  26).  Ebenso  stand  es  wie 
Jesus  selbst  in  einem  affirmativen  Yerhältniss  nicht 
bloss  zum  Gesetze  Mosis,  sondern  selbst  ziu'  Tradition. 
Die  heutigen  Evangelien  reflectiren  diese  Thatsache 
noch  ganz  deutlich,  ebenso  deutlich  freilich  auch  das 
Gegentheil.  Sie  reflectiren  eben  geschichtlich  zwei  ziem- 
lich weit  von  einander  getrennte  Zeiten.  Was  Irenäus  i) 
von  den  Ebioniten  sagt:  „Sie  lassen  sich  beschneiden 
und  beharren  bei  den  gesetzlichen  Bräuchen  und  der 
jüdischen  Lebensweise,  so  dass  sie  auch  Jerusalem 
verehren  als  die  Wohnstätte  Gottes"  (Hiero- 
solymam  adorant  quasi  domus  sit  Dei)  passt  auf  das 
ganze  palästinische  Christenthum  bis  in  die  Trajanische 
Zeit  hinein.  So  bezeugen  es  im  Grunde  auch  Euse- 
bius2)  und  Sulpicius  Severus^),  wenn  sie  auch  ihre 
IN'achrichten  vom  Standpunkte  ihi^er  Zeit  aus  gestalten. 
Der  antinomistische  und  antinationale  Standpunkt  des 
Paulus  hat  in  Palästina  allen  Anzeichen  nach  lange 
Zeit  keinen  Yerti^eter.  Xicht  blos  die  Ebioniten  nennen 
ihn,  wie  Irenäus  sagt^)  einen  Apostaten,  oder  be- 
schuldigen ihn  unter  dem  Xamen   des  Magier  Simon, 


1)  Irenaeus,  contra  haer.  1,  26. 

2)  Eusebius,  bist.  ecci.  IT..  c.  Y. 

3)  Sulpicius  Severus  IL,  31.     ..Paene  omnes  Christum  Deurn 
sub  legis  observatione  credebant". 

*)  Siehe  Irenaeus,  1.  1. 


27 


dass  er  „Jerusalem  leugne  und  den  Berg  Gerisim 
aufrichten  wolle'' ^),  also  dass  er  antinational  sei,  auch 
die  kirchlich  recipirte  Apokalypse  kann  keinen  anderen 
meinen,  wenn  sie  dem  Engel  der  Gemeinde  von  Ephesus 
nachrühmt,  dass  er  diejenigen  entlarvt,  die  sich  für 
Apostel  ausgeben,  ohne  es  zu  sein 2).  Die  Stellung 
des  Paulus  in  Kleinasien  bis  auf  die  Tage  Marcion's 
hat  überhaupt  etwas  Eäthselhaftes.  Ist  es  schon  schwer 
zu  sagen,  warum  Papias  über  ihn  schweigt  an  einer 
Stelle,  wo  er  ihn  erwähnen  musste,  wenn  er  ihn  über- 
haupt anerkannt  hätte  3),  so  ist  vollends  das  Schweigen 
Justin  des  Märtyrers  über  ihn  noch  von  Memanden 
»befriedigend  erklärt -t).    Doch  würde  uns  ein  Eingehen 


1)  1. 1.  Siehe  das  Citat  aus  den  Clementinischen  Homihen  2,  22 
bei  Baur,  das  Christenthiiin  und  die  clu'istliche  Kirche  S.  92. 

2)  Apokalypse  2,  2,  besprochen  bei  Baui-  1.  1.  S.  81. 

3)  Eusebius  h.  e.  III,  40. 

*)  Die  Schwierigkeit  der  Frage  liegt  darin:  Da  Justin  es 
als  eine  seiner  Hauptaufgaben  betrachtete,  die  mosaische  Gesetz- 
gebung als  nicht  mehr  verbindlich  nachzuweisen,  so  konnte  er 
einen  l3esseren  Gewährsmann  als  den  Apostel  Paulus  nicht  haben. 
Dennoch  führt  er  ihn  nirgends  an.  Die  Distinctionen,  die  man 
macht  zwischen  seinem  Standpunkte  und  dem  des  Apostels, 
zwischen  alexandrin ischer  und  pauünischer  Schriftauslegung,  sind 
schwerlich  dem  Justin  selbst  zu  Eewusstsein  gekommen.  Die 
Meinung  Semisch' s,  Justin  habe,  um  auf  die  Juden  und  Juden- 
christen zu  wirken,  geflisscnthch  und  aus  Klugheitsrücksichten 
den  Namen  des  Paulus  nicht  mit  ins  Gefecht  geführt  (Semisch, 
Justin  der  Märtyrer,    zweiter  Theil  S.  239),    eine    Meinung,    der 


28 


auf  diesen  Paukt  von  unserem  Gegenstande  abführen. 

XWir    constatiren    nur    die  Thatsache,    dass    die    anti- 

nomistische  und  antinationale  Richtung  des  Christen- 

thums   nicht  im   Centrum    des  jüdischen   Lebens,   in 


als  Grundlage  dient  der  besondere  Hass,  den  die  Juden  und  Juden- 
christen  gegen  Paulus  hatten  —  der  besondere  Hass  der  Juden- 
christen gegen  ihn  ist  historisch,  ob  und  welche  Notiz  die  Juden 
von  Paulus  nahmen,  nicht  erweislich  —  ist  insofern  schwer  zu 
veiireten,  als  nicht  abzusehen  ist,  worin  denn  Justin,  der  anti- 
aomistisch  ujid  judenfeindhch  ist,  ich  will  nicht  sagen  den  Juden, 
aber  selbst  den  Judenchiisten  weniger  Anstoss  gegeben  haben 
könnte,  als  Apostel.  Dass  Justin  nicht  zu  den  Rigoristen 
gehört,  die  denjenigen  Christgläubigen,  die  das  Gesetz  Mosis  be- 
folgen, den  Antheil  am  Christenthum  absprechen,  ist  schwerlich 
unpaiüinisch.  entspricht  Yielmehi-  den  eigenen  Aeussemngen  wie 
der  Haltung  des  Apostels. 

Selbstverständlich  wird  aus  diesem  Schweigen  Justin's  über 
Paulus  kein  Mensch  an  dem  Vorhandensein  der  Biiefe  desselben 
um  130  n.  Chr.  zweifeln,  nur  wird  man  den  Einfluss  derselben 
auf  Kleinasien  füi-  jene  Zeit  nicht  allzuhoch  anschlagen  und 
annehmen,  dass  sie  erst  durch  Mai'cion  zu  grösserer  Bedeutung 
gekommen  sind. 

Verwerfen  wir  aber  für  diesen  Punkt  das  argumentum 
a  silentio,  so  folgen  wir  darum  noch  nicht  dem  Valkenaer,  der  auch 
auch  aus  Justin's  Schweigen  über  Aristobul,  den  sogenannten 
jüdischen  Peripatetiker,  nichts  über  die  ünächtheit  der  von  Cle- 
mens dem  Alexandriner  und  Eusebius  von  demselben  mitgetheilten 
Eragmente  gefolgert  wissen  will.  Valkenaer  hätte  Recht,  wenn 
Hody  wirklich  nur  aus  Justin's  Schweigen  die  Ünächtheit  des 
Aiistobul  erschlossen,  wie  er  demselben  fälschlich  imputirt.  Weil 
aber  die  Aiistobulfrage  uns  von  imserem  Thema  abführen  würde, 
behandeln  wh  sie  in  der  Kürze  in  einem  Anhange  zu  dieser 
Schrift. 


29 


Palästina,  entstanden  ist,  sondern  unter  den  helle- 
nistischen Juden,  unter  denen  dieser  Antinomismus 
ja  sogar  unbeeinflusst  vom  Christenthume  schon  in 
.den  Tagen  Philo's  principielle  Yertreter  hatte  i). 
Daraus  erklärt  sich,  warum  ^dr  in  den  Talmuden  vor 
den  Zeiten  Trajan's  auf  keine  Polemik  gegen  das 
Christenthum  stossen,  während  sie  da  auf  einmal 
sowohl  in  Disputationen,  als  auch  in  Einrichtungen 
und  Bestimmungen  sich  erkennen  lässt.    K.  Jochanan 


1)  Die  interessante  Stelle  in  Philo  de  migrationc  Abrahami, 
aus  der  deutHch.  zu  ersehen,  wie  die  allegorische  Auslegung  in 
Alexandria  längst  zum  Antinomismus  geführt  hat,  lautet:  „Denn 
es  giebt  Leute,  welche,  weil  sie  den  "Wortausdruck  der  Gesetze 
für  ein  Symbol  geistiger  Gegenstände  halten,  sich  auf  die  Deu- 
tung dieser  vorzüglich  legen,  jene  aber  gering  schätzen.  Ich 
möchte  ihnen  Leichtsinn  zur  Last  legen;  denn  man  muss  sich 
um  Beides  kümmern,  sowohl  um  die  genauere  Untersuchung 
dessen,  was  verborgen  ist,  als  auch  um  eine  treue  Beobachtung 
dessen,  was  offen  vorliegt.  Sie  nun  aber  betragen  sich,  als  lebten 
sie  allein  in  einer  Wüste,  oder  als  wären  sie  körperlose  Seelen 
und  wüssten  von  keiner  Stadt,  keinem  Dorfe,  keinem  Hause  oder 
überhaupt  von  keinem  Umgange  mit  Menschen,  setzen  sich  über 
alles  hinweg,  was  der  Mehrheit  wohl  gefällig  ist  und  suchen  die  reine 
Wahi'heit,  wie  sie  an  und  für  sich  ist,  zu  erstreben.  Dergleichen 
Männer  nun  lehrt  die  heilige  Schrift  den  guten  Ruf  nicht  zu 
gering  zu  achten  und  nichts  von  den  Gebräuchen  aufzuheben, 
die  heilige  und  grössere  Männer  festgesetzt  haben,  als  jetzt  unter 
uns  sind.  So  wollen  wir  also  nicht  etwa  die  gesetzlichen  Ge- 
bräuche des  Sabbat  aufheben,  im  Lande  arbeiten,  Klagen  an- 
stellen. Recht  sprechen.  Geliehenes  zurückfordern  oder  etwas 
anderes  thun,    was  an  anderen  nicht  festlichen  Zeiten  verstattet 


30 


ben  Saccai,  der  wohl  bis  80  n.  Chr.  an  der  Spitze 
der  palästinischen  Judenheit  stand,  hat  häufige  Dis- 
putationen mit  Sadducäern  (Jadaim  TY,  6.  Baba 
bathra  114),  mit  Boethusäern  (Menachot  65),  mit 
Heiden  (Chulin  27,  Bechoroth  8,  Midrasch  Kabbah, 
Numeri  c.  19),  aber  nicht  mit  Christen.  Das  ändert 
sich  auf  einmal  in  den  Tagen  der  Jünger  K.  Jocha- 
nan's,  des  Josua  ben  Chananiah,  des  Elieser  und  des 
Gamaliel  II.  Man  fängt  an,  zwischen  Christgläubigen 
und  Christgläubigen  zu  unterscheiden,  man  verkehrt 
freundlich  mit  den  Einen,  man  nennt  die  Anderen 
Minim  und  Denuncianten ,  man  trifft  Einrichtungen 
gegen  sie  wie  gegen  eine  innere  Gefahr,  man  disputirt 
und  verordnet.  Was  war  geschehen  ?  Welches  Ereig- 
niss  hatte  den  jüdischen  Lehrern  ihr  verändertes 
Yerhalten  vorgeschrieben?  [N'un,  eben  die  Vereitelung 
des  projectirten  und  von  Trajan  erlaubten  Tempel- 
baues. Das  ist  näher  zu  erörtern.  Bekanntlich 
war  für  die  antinomistische  Richtung  im  Christen- 
thum  die  Zerstörung  des  Tempels  das  mchtigste  Ar- 
gument gegen  die  weitere  Yerbindlichkeit  des  jüdischen 


ist,  weil  wir  etwa  wissen,  dass  die  Siebenzahl  uns  die  schöpfe- 
rische Kraft  des  Unerzeugten  und  die  natürliche  Unthätigkeit 
alles  Erzeugten  lehren  solle.  Auch  wollen  wir  keineswegs  die 
jährhchen  festlichen  Zusammenkünfte  abstellen,  weil  sie  Bild 
geistiger  Freude  und  Daakes  gegen  Gott  sind".  Aus  dem  weiteren 
Verlaufe  der  Worte  Philo's  scheint  sogar  eine  Laxheit  in  Uebung 
der  Circumcision  bei  den  Allegoristen  sich  eingestellt  zu  haben. 


31 


Ceremonialgesetzes.  Was  in  späteren  Jahrhunderten 
Chrysostomus  triumphirend  ausruft,  dass  die  Juden 
durch  ihren  dreimaligen  vergeblichen  Versuch,  den 
Tempel  aufzurichten,  wie  in  den  olympischen  Spielen 
der  dreimal  Geschlagene,  der  Kirche  den  Siegerkranz 
aufgesetzt  hätten  i),  das  war  in  der  Zeit,  in  der  wir 
stehen,  für  die  Antinomisten,  die  damals  noch  lange 
nicht  die  Kirche  als  solche  waren,  erst  noch  ein 
Wunsch  und  eine  Frage  und  zwar  eine  Frage  um 
Sein  oder  Nichtsein.  Bekannt  sind  die  tempelfeind- 
lichen Auslassungen  in  dem  sogenannten  Barnabas- 
briefe'-).  Ebenso  sagt  Justinus  Martj^r,  dass  Gott 
durch  Zerstörung  des  Tempels,  in  Folge  deren  so 
viele  Ceremonialgesetze  in  Wegfall  gekommen,  selbst 
zu  erkennen  gegeben  habe,  dass  er  sein  Gesetz  nicht 
mehr  befolgt  wissen  wollet).     Bekannt    sind    ebenso 


1)  Chiysostomus  fünfte  Rede  gegen  die  Juden  (opp.  ed. 
Montfaucon  Vol.  la.  p.  783  sq.).  üeber  die  Stelle  handelt  VoLkmar, 
Handbuch  der  Einleitung  in  die  Apokryphen  I.  Theil  S.  131. 
Bemerk enswerth  füi'  unseren  Zweck  sind  folgende  Woi-te:  „Den 
Christen  lag  daran,  dass  das  "Wort  der  Evangelisten  in  Kraft 
bleibe,  Jerusalem  solle  zertreten  bleiben  bis  zur  Erfüllung  der 
Zeiten'^  Warum  übrigens  Chrysostomus  wohl  von  einem  Ver- 
suche unter  Hadrian,  unter  Constantin  und  endlich  unter  Julian, 
nicht  aber  von  einem  solchen  unter  Trajan  weiss,  erklärt  Volk- 
mar  ganz  richtig. 

2)  Barnabasbrief  c.  16. 

3)  Justin,  dialogus  cum  Tryphone  Judaeo  c.  40  p.  137  (p.  259) 
beginnt  mit  den  Worten:  xal  ox:  Tcpooxa-.pos  (auf  Zeit)  yjv  xai  aüTYj 


32 


die  Antitempeliana  im  neuea  Testament,  denen  gegen- 
über wieder  Stellen  stehen,  AYelche  in  Jerusalem  die 
,4ieilige  Stadt"  und  im  Tempel  den  „heiligen  Ort" 
sehen.  Man  denke  sich  nnn  den  Eindruck,  den  die 
Erlaubniss  des  Kaisers  auf  alle  diejenigen  machen 
musste,  denen  mit  dem  Wiederaufbau  des  Tempels 
geradezu  der  Boden  entzogen  wurde,  auf  dem  sie  standen. 
Sie  mussten  Alles  daran  setzen,  diese  Erlauboiss  rück- 
gängig zu  machen,  und  ihi'e  Anstrengungen  hatten 
Erfolg.  So  erklärt  sich  die  furchtbare  Erbitterung 
der  Juden  gegen  die  Hellenisten,  so  erklärt  sich,  warnm 
der  Aufstand  mehr  in  den  hellenistischen  Ländern  als 
in  Palästina  selbst  zum  Ausbruch  kam,  so  erklärt  sich, 
warum  das  Judenchristenthum  damals  so  gut  seine 
Märtyrer  hatte  wie   das  Judenthum  i),  weil  sie  näm- 


Tj  hr.oKT^,  oüTcog  äroosi'y.vuij.'.",  den  Nachweis,  Gott  habe  sowohl  für 
das  Passahlamm,  als  auch  für  die  anderen  Opfer,  namenthch  für 
die  Ziegenböcke  am  Yersöhniingstage  nur  danim  die  Vorschrift 
gegeben,  dass  sie  nirgends  anders  dargebracht  werden  dürften, 
als  in  dem  von  ihm  ei-wählten  Heüigthume,  weil  er  wusste,  dass 
nach  Christi  Passion  die  Zeit  kommen  würde,  wo  JeiTisalem  den 
Feinden  Preis  gegeben  und  die  Opfer  aufhören  TNÜrden.  Er  habe 
eben  das  Aufhören  des  Opferdienstes  gewoUt,  und  damit  auch 
den  "\\''egfaU  des  übrigen  Ceremonialgesetzes. 

1 )  In  meinem  Vortrage :  „Die  Angriffe  des  Heidenthums  gegen 
Juden  und  Christen  in  den  ersten  Jahrhunderten  der  römischen 
Cäsaren"  habe  ich  bereits  gezeigt,  wie  gewaltsam  es  ist,  unter  den 
Ketzern,  die  Hegesipp  bei  Eusebius  h.  e.  III.  32  als  Denuncianten 
des     nationalgesinnten    Vorstehers     der    christlichen    Gemeinde, 


33 


lieh  als  national  gesinnt  denselben  Beschuldigungen 
ausgesetzt  waren,  so  erklären  sich  die  auf  einmal  auf- 
tauchenden Verordnungen  der  Lehrer  gegen  die  Minim 
und  Denuntianten.  Haben  wir  eine  talmudische  Stelle, 
welche  beweist,  dass  gerade  die  Vereitelung  des 
Tempelbaues  es  war,  was  gegen  die  Minim  erbitterte? 
Allerdings.  Im  babylonischen  Talmud  wird  nämlich 
Folgendes  vorgetragen  (Roch  haschanah  17):  „Die 
Frevler  aus  Israel  und  die  Frevler  aus  den  Heiden, 
sie  gehen  hinab  in's   Gehinnom   (Hölle)   und  werden 

daselbst    zwölf   Monate    gerichtet Aber    die 

Minim  und  die  Denuntianten  ....  sie  werden  ge- 
richtet durch  alle  Geschlechter".  Mit  Verwendung 
der  "Worte  des  Jesaias  {66,  24):  „Ihr  Wurm  wird 
nicht  sterben  und  ihr  Feuer  nicht  verlöschen",  wird 


Simon  Clopha,  angibt,  Andere  zu  sehen,  als  eben  antinomistische 
und  antinationale  Christen,  die  im  Sinne  des  Judonchristen  Hege- 
sipp  ja  wirklich  Ketzer  waren.  Simon  Clopha  theilte  wie  alle 
Judenchristen  damals  noch  die  nationalen  Hoffnungen  der  Juden, 
und  das  Jahi-  seiner  Hinrichtung  116  ist  ja  eben  bezeichnend 
genug.  Die  damals  noch  bestehende  und  eben  erst  sich  lockerade 
Verbindung  zwischen  Juden  und  paLästinischen  Christen  erklärt 
es  auch,  wie  es  möglich  war,  dass  die  römische  Obrigkeit  den 
beinahe  hervorragendsten  jüdischen  Lehrer  jener  Zeit,  R,  Elieser, 
Sohn  des  Hyrcanus,  für  einen  Christen  halten  und  zur  Verant- 
wortung ziehen  konnte.  Die  Worte  Aboda  Sarah  16  b  ceniiTD 
mrüb  nii;''':>K  ^i"i  heissen  nämhch  nicht,  wie  Dr.  Ferdinand 
Christian  Ewald  übersetzt:  „Als  einst  E.  Elieser  von  den  Heiden 
gefänglich  eingezogen  wurde,  damit  er  sich  vor  den  Götzen  beuge'S 
sondern:  „Als  einst  R.  EUeser  unter  Anklage  des  Christenthums 

3 


34 


gesagt:  „Das  Gehinnom  hört  auf,  sie  aber  nicht"  (ihre 
Strafe  dauert).  Warum  aber,  fragt  der  Talmud,  trifft 
sie  ein  so  schweres  Gericht ?  „Weil  sie  ihre  Hand 
gegen  den  Tempel  ausgestreckt"  i).  Aber  auch 
sonst  bildet  in  den  Tagen  Gamaliers  IL  und  Josua's, 
Sohn  des  Chananiah,  die  Frage  der  nationalen  Wieder- 
geburt Israels  den  Streitpunkt  zwischen  diesen  und 
den  Minäern.  So  wird  erzählt  (Hagiga  5):  „E.  Josua 
hatte  eine  Audienz  beim  Kaiser.  Da  gab  ihm  ein 
Minäer  {er  scheint  geradezu  zur  Confrontation  mit 
jenem  eingeladen  zu  sein)  ein  Zeichen,  welches  be- 
deutete :  „Ein  Yolk,  von  dem  sein  Herr  das  Angesicht 
abgewendet".     E.  Josua  erwiderte  mit  einem  anderen 


Yon  den  Heiden  eingezogen  wurde".  Die  noch  nicht  vollzogene 
Trennung  zwischen  Juden  und  Christgläubigen  beweist  auch  die 
Halachah:  KIH  fö  KISt:'  p'Z"'n  im«  pb^Ö  OTÖH  ns^cn  nrtö  (Bera- 
choth  29a)  und  ähnhche:  Mischnah  Berachoth  Y.  3.  Talmud 
Berachoth  34a,  Megilla  25a. 

1)  b')-'-  üTl^T  'lÄti'eiT  "Sib.  Interessant  ist,  dass  wir  noch  in 
der  Lage  sind,  zu  beweisen,  wie  nur  die  Erbittening,  nicht  aber 
ihr  Standpunkt  den  Talmudisten  diese  Ali  von  Eschatologie  in 
den  Mund  gelegt.  Im  jerusalemischen  Talmud  (Berachoth  c.  IX, 
hal.  I.  S.  13b)  wird  nämlich  an  den  Yers  (Koheleth  9,  4):  „Denn  wer 
h-gend  noch  verbunden  ist  mit  den  Lebendigen,  hat  Hoffnung'', 
die  Lehre  geknüpft:  „Selbst  die  ihre  Hand  gegen  den  Tempel 
ausgestreckt,  haben  noch  Aussicht''.  Dort  wird  aber  an  jSIebu- 
kadnezar  und  ähnhche  gedacht.  Der  sonst  so  kimdige  Ligthfooth 
hat  in  seiner  Inhaltsangabe  des  jerusalemischen  Talmud  die 
lächerliche  Uebersetzung  (Index  aliqualis  Talmudis  Hierosolymi- 
tani  S.  36):  „De  iis  qui  manus   suas  in    stercore  (i.  e.  in  Idolo- 


35 

Zeichen,  dessen  Sinn  war:  „Noch  ist  seine  Hand  aus- 
gestreckt^' (soll  heissen,  um  Israel  zu  schützen).  Es 
ist  gleichgültig,  dass  dann  hinzugefügt  wird,  der  Kaiser 
habe  den  Minäer  bestrafen  lassen,  weil  er,  während 
K.  Josua  sein  Zeichen  sofort  verstand,  nicht  die  gleiche 
Geistesschärfe  im  Yerstehen  der  Zeichensprache  hatte. 
Genug,  es  reflectirt  sich  in  solchen  Geschichten  der 
in  jenen  Tagen  sich  erhebende  Kampf  um  den  Fort- 
bestand der  jüdischen  Nationalität.  Ein  ähnliches 
Geschichtchen  ist  von  Josua's  Genossen,  Gamaliel, 
zu  lesen.  Talmud  babli  Jebamoth  102  mrd  nämlich 
ein  Wortgefecht  zwischen  Gamaliel  und  einem  Minäer 
mitgetheilt,  die  mit  Bibelversen  einander  za  beweisen 
suchen,  der  Eine,  dass  Gott  Israel  nicht  den  Abschied 
gegeben,  der  Andere,  dass  dies  geschehen  seil). 

Damals  zuerst  wurde  in's  Gebet  die  Bitte  ein- 
geschoben, dass  Gott  die  Verleumdungen  der  Minäer 
wirkungslos  machen  solle  2),  woraus  die  gehässige  An- 
schuldigung des  Justin  und  Anderer  geflossen,  dass 
die  Juden  die  Christen  in  ihren  Synagogen  verfluchten. 


lati-ia)  expandemnt,  tarnen  est  spes''.  Er  nahm  blST  im  stercus 
statt  für  templum.  Hätte  er  an  die  AVoite  des  babylonischen 
Talmud  gedacht  ^np»  h'?«  h^^'  1"«^  oder  hätte  er  den  Zusammen- 
hang des  hiesigen  Stelle  gut  überschaut,  so  konnte  er  sich  nicht  irren. 

1)  '131  rr^:»  nnö  .Tb  yhm  i^^v  ynh  Kra  xmn  r\^h  nöK 

2)  Jer.  Talmud,    berachoth  c.  IV.  S.  8a:    1U2p  n::2  ü^rö  h^ 
r\::r^  D^Ö2n.  babli  Tahnud,  berachoth  S.  29b. 


36 


Damals  traf  man  auch  sonst  cultuelle  Einrichtungen 
wegen  der  Einreden  der  Minäeri),  worunter  recht 
charakteristische.  Man  schaffte  das  früher  üblich 
gewesene  Kecitiren  des  Dekalogs  bei  der  täglichen 
Andacht  ab  „wegen  der  Einreden  der  Minäer"2). 
Wir  wissen  aber  aus  Irenäus  (contra  haer.  lY, 
c.  16)]  und  Anderen,  dass  man  christlicherseits 
den  Dekalog  als  wahrhaft  von  Gott  gesprochen 
und  verbindlich  im  Gegensatze  zum  übrigen  Gesetze 
fasste.  Umgekehrt  scheint  die  Einrichtung,  dass  der 
Abschnitt  über  Schaufäden,  4.  B.  M.  15,  37—41, 
Morgens  und  Abends  recitirt  werden  solle,  gleichfalls 
getroffen  worden  zu  sein,  damit  man  täglich  zwei 
Mal  „das  Joch  der  Gesetze"  auf  sich  nehme.  Wenig- 
stens finden  die  Alten  darin  Anti-Minäisches  3). 

Damals  zuerst  ging  aber  auch  den  jüdischen 
Lehrern  die  Gefahr  auf,  welche  in  der  alleinigen 
Benutzung  der  griechischen  Bibelübersetzung  und 
in  den  in  griechischer  Sprache  erschienenen  Aus- 
legungen lag. 

Was  könnte  ich  Starkes  über  einen  Theil  dieser 
Auslegungen  sagen,  das  nicht  stärker  schon  von  Seiten 
christlicher  Theologen  gesagt  Avorden?  Aber  in  den 
Eindruck,  den  die  Kenntnissnahme  von  der  damaligen 


1)  D^r^nn  a^nn  ^:2x: 

2)  Beraclioth  12a. 

3)  Ibid.  12b.    Damit   steht   die    sonstige  Begiündung  nicht 
in  ^Widerspruch. 


37 


hellenistischen  Exegese  auf  die  palästinischen  Lehrer 
nothwendig  machen  niusste,  versetzt  man  sich  doch 
nicht  lebendig  genng.  Yon  Seiten  bedeutender  Forscher 
wird  die  Meinung  gehegt,  dass  die  Form,  in  welcher 
Paulus  die  Abrogation  des  Ceremonialgesetzes  durch- 
setzen wollte,  schroffer  war  als  die  alexandrinische 
Weise  der  typisch  allegorischen  Auslegung  des  alten 
Gesetzes.  Pfleidereri)  sagt:  Man  könnte  freilich 
denken,  durch  eine  consequente  Durchführung  dieser 
typisch -allegorischen  Deutung  hätte  Paulus  die  Ab- 
rogation des  Ceremonialgesetzes,  um  welche  sich  der 
Kampf  mit  den  Judaisten  zunächst  drehte,  auf  ein- 
fachere und  mildere  Weise  durchsetzen  können  als 
durch  die  schroffe  und  künstliche  Art,  wie  er  das 
(doch  selbst  auch  für  göttlich  geoffenbart  gehaltene) 
Gesetz  in  rein  negative  Beziehung  zu  der  Heilsöko- 
nomie stellte.  Und  wirklich  sehen  wir  auch,  dass  der 
alexandrinisch  gefärbte  Paulinismus  des  Hebräer-  und 
des  Barnabasbriefes  jenen  ersteren  Weg  eingeschlagen 
hat,  und  zwar  mit  viel  Beifall  seitens  der  alten  Kirche, 
welcher  diese  Auffassungsweise  des  Verhältnisses 
zwischen  Gesetz  und  Evangelium  viel  geläufiger  war 
als  die   specifisch  paulinische".     Aber  wenn  man   als 


1)  Pf  leider  er,  Der  PauUnismiis,  ein  Beitrag  ziu'  Geschichte 
der  urchristHchen  Theologie,  Leipzig  1873,  S.  72.  Eine  belehrende 
Besprechung  der  Schrift  ist  in  Hilgenfeld's  Zeitschrift  für 
wissenschaftliche  Theologie,  Jahrgang  1874,  vonS.  161  ab  zu  finden. 


38 


Repräsentanten  jener  zweiten  Form  der  Bekämpfung 
den  Barnabasbrief  nimmt,  der  ja  et^va  in  die  Zeit 
fällt,  die  uns  hier  beschäftigt,  und  ebenso  den 
Justin,  der,  wenn  er  auch  später  schreibt,  doch  wohl 
paradigmatisch  auch  für  diese  Zeit  verwendet  werden 
kann,  so  kann  der  Erfolg  dieses  Schriftenthums  auf 
Lehrer,  die  auf  Grund  des  hebräischen  Originals  forsch- 
ten, kaum  ein  besserer  gewesen  sein.  Man  vergesse 
nicht,  dass  die  nicht  wörtliche,  sondern  allego- 
rische Auslegung  der  Schrift  kein  palästinisches 
Product  war  und  dass  die  palästinischen  Lehrer  vom 
Alexandrinismus  zwar  nicht  unbeeinflusst  waren,  aber 
diesem  doch  nur  zu  erbaulichen  Zwecken  Zugang  ver- 
statteten, dagegen  kein  Ohr  für  denselben  hatten,  wo 
es  sich  um  Yerflüchtigung  der  Gfesetze  zu  blossen 
Gedankensymbolen  handelte.  Gewiss  charakteristisch 
in  der  Beziehung  ist  die  talmudische  Angabe,  dass, 
als  R.  Ismael,  Zeitgenosse  Akiba's,  von  sämmtlichen 
pentateu einsehen  Gesetzesstellen  nur  drei  als  Maschal 
(uneigentlich)  erklärte,  seine  Collegen  ihm  zwei  con- 
cedirten,  eine  aber  noch  abzogen,  weil  gleichfalls 
eigentlich  gemeint i).  Will  man  daher  für  die 
halachische  Exegese  jener  Talmudlehrer  eine  Analogie, 
so  ist  sie  nicht  in  der  alexandrinischen  Art,  die  Texte 


1)  Mecbiltha,  Mischpatim  13.  Yergl.  die  Dai'stellung  der 
32  Middoth  (Deutungsregeln)  im  ersten  Foliobande  unserer  Talnmd- 
exemplare.  Seite  100,  col.  4,  Stichwort  ..maschal". 


39 


zu  behandeln,  zu  finden,  sondern  weit  eher  in  der 
Art,  wie  die  römischen  Rechtslehrer  dem  Zwölftafel- 
gesetze gegenüber  procedirten  i).  Ueberhaupt  verfährt 
man  in  Beurtheilung  der  rabbinischen  Exegese 
anachronistisch.  Ein  so  bedeutender  Forscher  wie 
Zeller  sagt  einmal  von  Philo:  „Und  so  unbedingt 
ist  seine  Yerehrung  gegen  sie,  dass  er,  wie  ein 
echter  Rabbine,  aus  jeder  ihrer  AVortformen  der 
alexandrinischen  Uebersetzung  die  tiefsten  Lehren 
ableitet'.  Aber  Philo  ist  hierbei  nicht  in  altjüdischen 
Gleisen  gegangen,  sondern  umgekehrt,  der  spätere 
Rabbinismus  hat  für  gewisse  Z^vecke  und  in  einer 
gewissen  Einschränkung,  die  wir  im  Verlaufe  noch 
kennen  lernen  werden,  die  alexandrinische  Methode 
sich  gesagt  sein  lassen.    Der  Satz,  den  Zeller  anführt : 


1)  Selbstverständlich  ist  der  Vergleich  cum  grano  salis  auf- 
zufassen, weil  die  Ehi'fui'cht  vor  dem  Zwölftafelgesetze,  so  gross 
sie  auch  bei  den  Römern  war  (Cicero,  de  legibus  II,  23;  de 
oratore  1,  23  ff.),  dennoch  nicht  der  Ehifurcht  gleichkam  und 
gleichkommen  konnte,  welche  die  Juden  der  Bibel  gegenüber  zu 
allen  Zeiten  empfanden.  Aber  seihst  die  Römer  bemühten  sich, 
ein  neues  Gesetz  als  implicite  in  den  12  Tafeln  schon  enthalten 
nachzuweisen.  Yergl.  Gaii  institutionum  lib.  I.,  165:  Ex  eadem 
lege  duodecim  tabulamm  libei-torum  et  libertanmi  tutela  ad  patronos 
Hberosque  eorum  pertinet.  quae  et  ipsa  legitima  tutela  vocatur, 
non  quia  nominatim  ea  lege  de  hac  tutela  cavetur,  sed 
quiaperinde  accepta  est  per  interpretationem  atque  si 
verbis  legis  introducta  esset.  Xun  folgt  ein  Herleiten  aus 
der  Analogie,  die  ganz  an  nitt^  mv:  (Analogieschluss)  erinnert. 


^ 

„An  jedem  Häckchen  der  Schrift  hängen  Berge  von 
-^  Gesetzen",  ist  100  Jahre  jünger  als  Philo.  Philo's 
überschwängliche  Auffassung  des  AYesens  der  Pro- 
phetie,  nach  welcher  der  Prophet  als  Person  erlischt 
und  nur  Werkzeug  ist,  ist  nicht  auf  jüdischem  Boden 
gewachsen,  sondern  entspricht  der  platonischen  Auf- 
fassung von  der  Mantik.  Xach  den  Talmudisten  hat 
der  Prophet  eine  ziemliche  Selbstständigkeit,  sie 
nehmen  nicht  Anstand,  zu  sagen,  Jesaias  spreche  von 
Gott  wie  ein  Grossstädter,  Ezechiel  wie  ein  Dorf- 
bewohner. Dagegen  ist  Philo's  Inspirationsbegriff  voll 
und  ganz  vertreten  im  Justin  und  später  im  Mon- 
\tanisnius  1).  Aber  auch  Origines  sagt  2):  „Ich,  glaubend 
den  Worten  meines  Herrn  (Jesu),  bin  der  Meinung, 
dass  im  Gesetze  und  in  den  Propheten  nicht  ein 
Jota  oder  ein  Häckchen  frei  ist  von  Geheimnissen". 
Hier  hat  man  den  rabbinischen  Satz,  nur  mit  dem 
Unterschiede,  dass  die  Rabbinen  bei  minutiöser 
Deutung  des  Einzelnen  doch  immerhin  einen  correcten 
Originaltext  vor  sich  und  in  ihrer  AufPassung  des 
Gesetzes  in  seiner  Eigentlichkeit  doch  offenbar  die 
exegetische  "Wahrheit  für  sich  hatten. 


1)  Da  ich  über  diesen  Punkt  einen  Aufsatz  geschrieben,  so 
begnüge  ich,  mit  dem  Hinweis  darauf,  Lessing -^klendelssohn 
Gedenkbuch,  S.  243  ff. 

2)  In  Exodum  homihae  1,  4  Tom.  IL  p.  131. 


41 


Will  man  den  Männern,  die  um  116  n.  Chr. 
das  Griechisch  verboten,  gerecht  werden,  so  muss  man 
folgendes  ins  Ange  fassen :  I.  die  Thatsache,  dass  die 
Septuaginta  nicht  blos  Missverständnisse  enthielt,  son- 
dern um  jene  Zeit  bereits  gefälscht  war.  Bei  aller 
Leichtgläubigkeit  nämlich,  an  der  Justin  laborirti), 
werden  wir  ihm  doch  nicht  die  Dreistigkeit  zutrauen, 
die  Juden  zu  beschuldigen,  sie  hätten  gewisse  Stellen 
aus  der  h.  Schrift  weggelassen,  wenn  diese  Stellen 
nicht  schon  vor  seiner  Zeit  in  den  griechischen  Bibeln 
gelesen  worden  wären.  IL  Die  Thatsache,  dass  gegen 
eine  Gnosis,  wie  sie  im  Barnabasbriefe  vertreten,  im 
alten  Testamente  keinen  Stein  auf  dem  anderen  Hess, 
ein  Disput  eigentlich  nicht  möglich  war.  III.  Dass 
allen  Spuren  nach  die  eigentlich  sogenannte  Gnosis, 
die  ursprünglich  durch  Exegese  des  1.  Capitels  der 
Genesis  und  des  1.  Capitels  des  Ezechiel  ihre  aus  dem 
Timäus  des  Plato  und^aus  den  neupythagoräischen  Auf- 
stellungen geschöpften  Lehren  mit  dem  Judenthum  in 
Einklang    za    bringen    gewusst    hatte,    in   jener  Zeit 


1)  Justin  hat  mit  Augen  die  70  Zellen  gesehen,  in  denen 
auf  der  Insel  Pharos  die  70  Dolmetscher  gearbeitet,  worüber 
schon  Valkenaer  lacht.  Justin  hat  ferner  in  Rom  die  Bildsäule 
des  nach  der  wahrscheinlichen  Yermuthung  Baui''s  nie  existent 
gewesenen  Simon  Magus  gesehen.  Just.  Mai-t.,  1  Apol.,  Cap.  26. 
Justin  glaubt  allen  Ernstes,  dass  Platon's  Bild  von  der  Welt- 
seele, die  er  in  Form  eines  griechischen  X  durch  alle  Theile  der 
Welt   ausgebreitet   sein    lässt  (Timäus  c.  36),    dem   Moses    ent- 


42 


bereits  anfing,  eine  dem  Judenthum  feindliche  Wen- 
dung zu  nehmen  1).  lY.,  und  das  ist  die  Hauptsache, 
die  politischen  Consequenzen,  ^Yelche  die  hellenistische 
Auffassung  des  alten  Testaments  in  jener  Zeit  in  so 
empfindlicher  Weise  hatte.  Das  Verbot  des  Griechischen 
ist  somit  genügend  motivirt.  Klar  aber  ist,  dass  ein 
solches  Verbot  in  jener  Zeit  weder  eine  bedeutende 
Wirkung  haben,  noch  den  Lehrern  selbst  auf  die  Länge 
recht  sein  konnte.  Bald  sahen  sie  umgekehrt  im 
Griechischen  ein  auserwähltes  Eüstzeug  für  ihre  Zwecke. 
Diese  letztere  Behauptung,  für  die  wir  ja  schon  gleich 
im  Eingange  den  classischen  Beleg  gegeben,  hängt 
mit  einer  so  eigenartigen  Zeit  Vorstellung  über  das 
Wesen  der  Schrift  zusammen,  dass  wir  ihren  Sinn 
nur  verstehen  können  im  Zusammenhange  mit  eben 
dieser  Zeitvorstellung. 


nommen,  und  zwar  einer  Stelle,  wo  nur  ein  Ausleger  wie  Justin 
ein  Kreuz  wahrnehmen  konnte  (1  Apol.  o.  60). 

1)  Ueher  die  Gnosis  siehe  den  zweiten  Excui'S. 


Die  Meinung  von  dem  Schriftworte 

in  den  Tagen  des  R.  Elieser,   des  R.   Josua 

ben    Chananiah    und    des    R.   Akiba  (in   den 

ersten  Decennien    des  zweiten  christlichen 

Jahrhunderts). 


Zur  negativen  Abwehr  trat  die  positive.  Unter 
den  Anspielen  des  E.  Elieser  und  K.  Josua  übersetzte 
der  Proselyt  Aquila  die  Schrift,  und  sie  priesen  ihn 
und  sagten  zu  ihm:  „Schön  bist  Du  vor  Menschen- 
kindern, Anmuth  ist  gegossen  auf  deine  Lippen  i). 
Wie  nicht  gesagt  zu  werden  braucht,  kann  die  Freude 
nicht  gegolten  haben  der  schönen  Form  der  Aquila- 
schen  Uebersetzung ,  die  in  ihrer  sklavischen  "Wört- 
lichkeit keinen  Kaum  für  litterarisch-ästhetische  Rück- 


1)  Jer.  Talmud Megillah  Cap.  L  hal.  9  S.  70  c.  3.  Dass  ich  das 
„Anmuth  ist  gegossen  auf  deine  Lippen"  ergänze,  wird  jeder  Kun- 
dige verstehen,  wissend,  dass  in  Talmud  und  Midrasch  oft  nur 
der  Anfang  eines  Verses  citirt  wird,  selbst  wenn  der  Nachdruck 
auf  dem  Schlüsse  des  Verses  ruht. 


44 


sichten  liess.  Wir  müssen  nns  yielmehr  jetzt  auf 
den  öfters  angeführten  Satz  besinnen,  der  an  unserer 
Talmudstelle  zu  lesen  ist:  „Nach  sorgfältiger  Unter- 
suchung fand  man,  dass  die  Thora  nach  ihrem  vollen 
Bedürfnisse  in  keiner  anderen  als  in  der  griechischen 
Sprache  übersetzt  werden  könne". 

Um  diesen  Satz  in  seiner  Tragweite  zu  erkennen, 
müssen  vrir  ein  wenig  ausholen.  Man  hat  in  der 
talmudischen  Exegese  Erscheinungen  constatijt,  die 
auffallend  sind,  ohne  dass  man  sie  zu  erklären  auch 
nur  versucht  hätte.  Worin,  fragen  wir,  lag  füi^  die 
Talmudisten  das  Plus,  das  eine  Uebersetzung  in 
griechischer  Sprache  mehr  leistete  als  eine  andere, 
etwa  die  aramäische?  Die  Antwort  darauf  ist  folgende: 

Es  war  das  die  Zeit,  wo  die  von  den  jüdischen 
Lehrern  geltend  gemachte  Ergänzung  der  Lehre  durch 
die  sogenannte  „mündliche",  die  Ueberlieferung,  wie 
einst  von  den  Sadducäern,  so  jetzt  von  den  Christen 
lebhaft  bestritten  wurde.  Eine  der  wichtigsten  Auf- 
gaben der  Lehrer  nach  R.  Jochanan  ben  Saccai,  des 
R.  Josua,  R.  Elieser,  R.  Akiba  und  Anderer,  bestand 
daher  in  dem  Nachweise,  dass  die  Ueberlieferung  in 
dem  Schriftworte  selbst  angedeutet  sei.  Charakteristisch 
füi'  dieses  Bestreben  ist,  um  ein  Beispiel  anzuführen, 
die  Mischnah  Sotah  Y,  2,  woselbst  Akiba  eine  Be- 
stimmung der  Schrift,  dass  ein  irdenes  Gefäss  die 
eigene  levitische  Unreinheit  Allem  mittheilt,   was   in 


45 


ihm  sich  befindet,   an   das  Schriftwort  ,jitma"  knüpft, 
er  nämlich  den  nicht  piinciirten  Text  benutzt,  um  je 
nach    der  Lesart  ,öitma''    oder    ,,jtamme"    sowohl    das 
Unreinsein    wie     das    TJnreinmachen     herauszulesen. 
Dazu    bemerkt  E.  Josua:    „Wer   doch  den  Staub  von 
deinen  Augen   nehmen  könnte,   R.  Josua   ben  Saccai 
(wer  dich  doch  lebendig  machen  könnte).    Du  meintest, 
es  werde  ein  späteres  Geschlecht  in  Bezug  auf  levi- 
tische  Unreinheit  nicht  bis  zum   dritten  Brote  gehen, 
weil  kein  Bibelvers  existirt,  der  die  Unreinheit   bis 
dahin  führt,  aber  dein  Schüler  Akiba  bringt  eine  Be- 
weisstelle aus  dem  Gesetze".   Es  war  also  eine  Methode 
aufgekommen,  welche  die  mündliche  Lehre  wo  möglich 
ganz   und  gar  aus   der   schriftlichen  herausdeducirte. 
Man   beachte  aber,  wie  viel  eine  griechische  Ueber- 
setzung,   namentlich   eine  solche  von  dem   Charakter 
*  der  Aquila'schen,  nach  dieser  Richtung  hin  versprach. 
Kein    Mensch    z.   B.,    der    blos    an    den    hebräischen 
Originaltext  dachte,  hätte  aus  der  für  die  griechische 
Sprache  allerdings   pleonastischen  Yoraussendung  des 
Infinitivs  vor   das   verbum  finitum  Schlüsse  gemacht 
und    Gesetzesbestimmungen    gezogen.      Aber     schon 
Philo   benutzt  Pleonasmen,  wie   „mit  Tod  werdet  Ihr 
sterben"  (^avdio)  aTiO'ö'avsraö's)  oder  ßpcbasi  '^av^j  (Gene- 
sis 2,  16  u.  17)  und  ähnliche,  um  daraus  Lehren  zu 
ziehen.    Im  Talmud  sind  nun,  wie  bekannt,  alle  diese 
erst  durch  das  Griechische  als  Pleonasmen  sich  kund- 


46 


gebenden  Wendungen  aufs  reichlichste  ausgenutzt. 
Dass  aber  eine  solche  ausgiebige  Benutzung  der  Pleo- 
nasmen erst  in  der  Zeit,  von  der  wir  reden,  ihren 
Anfang  genommen,  beweist  der  Widerspruch,  der  von 
anderen  Lehrern  jener  Zeit  erhoben  wird,  indem  sie 
sagen:  (Aus  dieser  Yerdoppelung  folge  nichts)  die 
Schrift  spreche  eben  wie  alle  Menschen  (sie  entfernt 
sich  ja  damit  nicht  vom  hebräischen  Sprachgebrauche)  ^). 
Ich  kann  hier  nur  andeuten.  Die  Yerlegenheit,  welche 
spätere  Erklärer  über  dieses  Hin-  und  Herwogen  von 
Berücksichtigung  und  Mchtberücksichtigung  der  Pleo- 
nasmen empfinden,  ersehe  man  aus  der  interessanten 
Stelle  der  Tosaphot  (Zusätze)-)  zu  Sotah  24a. 

Aber  nicht  blos  duich  ihren  die  Pleonasmen  ver- 
deutlichenden Charakter  war  die  griechische  Ueber- 
setzung  geschätzt,  sie  erzeugte  in  ihrer  Wörtlichkeit 
auch  Gelegenheit  zu  Deutungen  und  Lehren,  auf  die 
man  durch  das  hebräische  Original  naturwüchsig  nicht 
gekommen  wäre.  Denken  wir  uns  einen  nur  hebräisch 
und  aramäisch  redenden  Juden,  der  im  hebräischen 
Original  die  Worte  (2.  B.  Mos.  L,  12)  las:  „Aber  je 
mehr  sie  das  Volk  drückten,  desto  mehrte  es  sich  und 


1)  Yergl.  Talmud,  Baba  Mezia  S.  84b  ifh  nöKl  |Köb  KH":.*! 
X2^K  ^Kö  '121  nnin  nnsi  rtb  k^k  d-ik  ^:n  jitrb^  nnin  msn  pniaK 
-lö^ö'p.    Ebenso  Sanhedrin  85b. 

2)  Sotah  24a  Tosaphot  mit   den  Anfangsworten :    "'«n  piT  n^ 

n-'b  r2v  ^Kö  tr^K  ^r^x 


47 


breitete  es  sich  aus".  Konnte  er  von  selbst  auf  die  Idee 
kommen,  dass  die  Worte :  , jirbe  und  jifroz",  weil  sie 
auch  die  Futurbedeutung  haben,  hier,  wo  sie  un- 
zweifelhaft diese  Bedeutung  nicht  haben,  dennoch  auch 
nach  dieser  Seite  hin  von  einer  Prägnanz  seien,  die 
eine  Lehre  ergiebt?  Aber  man  denke  sich  Aquila 
wörtlich  übertragend  statt  ToaoDTt.)  TcXeiou;  Iyiyvovto 
—  ToaoüTcj)  ttXsiod^  '^ZYffiov'Z'xi^  und  der  Midrasch  ist 
fertig,  welcher  sagt :  „Mcht  sie  vermehrten  sich,  heisse 
es,  sondern  sie  werden  sich  vermehren.  Das  ist  die 
Botschaft  des  heiligen  Geistes:  sie  werden  sich  ver- 
mehren" 1).  Man  missverstehe  nicht.  Ich  meine  nicht, 
man  habe  die  griechische  Uebersetzung  ausgelegt, 
sondern  an  der  Uebersetzung  in  ein  nicht  wie  das 
aramäische  sprachverwandtes  Idiom  erkannte  man  die 
Deutungsfähigkeit  des  Textes  und  überzeugte  auch 
das  die  Aquila'sche  Uebersetzung  lesende  Yolk,  dass 
die  Deutungen  dem  Texte  entsprechen. 

Hier  scheint  aber  als  Anstoss  sich  in  den  Weg 
zu  stellen  die  Frage  nach  der  bona  fides,  an  der  bei 
Männern  wie  R.  Josua,  R.  Elieser,  R.  Akiba  nur  der- 


1)  Exodus  Eabbah  L:  p  FnB"  pT  nnn^  p  imN  i:!?"  nrN21 
^^ph  p  jiuöü  n  "löN  .i^ns^  pi  nun-'  p  n^n  "iün:  n^  na  pi  inn 

pne^  p1  nnn^  \D  '^rrWZll  i:npn  nn.  Diese  Fomi  der  Deutung  ist 
häufig  und  alt.  So  in  der  Mecliiltha,  wo  sogar  eine  Andeutung 
für  Unsterblichkeit  gefunden  wird   in  vh^  "löX:  xb  "itt^  :«  'T^'  TK 

'T^  TX 


48 


jenige  zweifeln  kann,  dem  der  Ernst  und  die  sittliche 
Bedeutung  der  Männer  nicht  aufgegangen.  Könnten 
wir  ganz  dem  Maimonides  folgen,  so  wäre  freilich  die 
ganze  Frage  nicht  drückend.  Die  Gesetzespraxis  (Ha- 
lachah),  so  löst  Maimonides  die  Schwierigkeit,  war 
feststehend  und  überkommen ,  der  Yers  nur  ein 
mnemotechnisches  Hilfsmittel,  um  die  Halachah  behalt- 
licher  zu  machen.  Es  lässt  sich  nicht  läugnen,  dass 
diese  Lösung  vielfach  zutreffend  ist,  wie  bei  dem 
oben  angeführten  Beispiele  einer  schon  von  R  Jocha- 
nan  ben  Saccai  gekannten  Halachah,  die  Akiba  nur 
an  das  Bibel  wort  lehnt,  ja  es  ist  richtig,  dass  der 
Talmud  selbst  häufig  diese  Lösung  giebti),  bisweilen 
sogar  eine  Ableitung  ä  la  rigueur  nimmt,  dann  aus 
der  Discussion  sich  überzeugt,  dass  sie  nur  ,.Stütze'' 
(Asmachtha)  ist-).  Noch  mehr,  diese  Lösung  des 
Maimonides  hat  sogar  einen  anderen  mittelalterlichen 
Gelehrten  auf  die  eigenthümliche  Idee  gebracht,  die 
Halacha's  ganz  unabhängig  vom  Talmud  aus  den 
Schriftstellen  abzuleiten,  die  ihm  passten,  weil  er  die 


1)  So  Kidduschin  9a :  'i^ipb  j:2l  in3^2ÖDKl  mr:  Xn^bn  u. 
a.  a.  0. 

2)  Vgl.  Tosaphot  zu  Berachoth  35a  s.  v.  K\-l  K-i::D  xbx,  wo 
ausgefülirt  -wird,  dass  die  Gemara  den  zur  Stütze  angeführten 
Bibelvers  streng  nahm  und  sich  dann  erst  überzeugte,  dass  die 
Bestimmung,  ohne  Bibelvers  auf  Grund  ihrer  eigenen  Selbst- 
verständüchkeit  entstanden,  dann  nur  an  den  Yers  gelehnt  wor- 
den war. 


49 


Verbindung  von  Halachah  und  Bibelvers,  wie  sie  im 
Talmud  vorkommt,  nur  für  eine  zufällige  hielt  i). 

Trotzdem  reicht  sie  keineswegs  für  alle  Fälle  aus 
und  Nachmanides'  Polemik  gegen  diesen  Canon  des 
Maimonides -),  seine  Behauptung,  dass  die  Deutungen 
nicht  blos  ernst  gemeint,  sondern  häufig  allererst  die 
Erzeuger  der  Halachoth  sind,  erscheint  unwiderleglich. 
Indess  das  Correctiv  für  subjective  Einfälle  lag  in 
dem  Umstände,  dass  eine  Halachah  nur  entweder 
durch  Ueberlieferung  oder  durch  Majoritätsbeschlüsse 
festgestellt  werden  konnte,  dass  sie  nicht  schriftlich 
fixirt,  sondern  in  mündlicher  Discussion  sich  an  den 
widerstrebenden  Meinungen  der  anderen  Lehrer  zu 
reiben  und  zu  berichtigen  hatte  •'5).  Für  haggadische 
Auslegungen  dagegen,  obwohl  man  sie  später  gleich- 
falls auf  Eegeln  brachte 'i),  glaubte  man  mit  Kecht 
kein  Correctiv  nöthig  zu  haben,  da  man  aus  ihnen 


1)  Ygl.  meine  Schrift,  Lewi  ben  Gersoii  (Gersonides)  S.  89. 
Dort  ist  aucli  erörtert,  dass  L.  nui-  das  von  Maimonides  im  Jad 
Hacliasaka  gegebene  Beispiel  allgemein  diirclifülirt  mid  auf  Frankel 
Monatsschi'ift  9.  Jahrgang  S.  381  ff.  verwiesen. 

2)  Ygl.  Maimonides'  Sefer  Hamizwoth,  Grundsatz  II.  und 
die  Polemik  des  Nachmanides  zur  Stelle.  Ygl.  auch  Frankel, 
Parke  Hamischnah  S.  17. 

3)  Solche  interessante  Discussionen  liefert  die  Misclmah  in 
Hülle  und  Fülle.    Ygl.  z.  B.  Mischnah  Jadaim  lY.,  3  und  4. 

4)  Die  bekannten  32  Regeln  des  R.  Elieser,  Sohn  R.  Jose's 
des  Galiläers. 

4 


50 


keine  Schlüsse  mit  Gesetzeskraft  zog  und  sie  mehr 
als  Erzeugnisse  des  Augenblicks  zu  erbaulichen 
Zwecken  benutzte. 

Dennoch  ist  die  Sache  damit  keineswegs  erledigt 
und  von  beiden  grossen  Lehrern  ßl.  und  N.)  ein 
Punkt  nicht  in's  Auge  gefasst,  auf  den  unsere  mehr 
geschichtliche  Betrachtung  der  Sache  uns  führt.  Die 
Ansicht  von  der  Schrift  war  damals  eine  andere,  und, 
wenn  Akiba  für  eine  alte  Halachah  auch  nur  das, 
was  wir  eine  blosse  Anlehnung  an  die  Schrift  nennen, 
gefunden,  so  war  er  nicht  etwa  der  Meinung,  es  sei 
das  eine  willkürliche  Anlehnung,  sondern  er  glaubte 
in  der  That,  die  Schrift  habe  das  andeuten  wollen. 
Ich  gebe  also  Maimonides  zu,  dass  die  Halachah 
häufig  auch  ohne  Yers  feststand,  gebe  aber  nicht  zu, 
dass  man  dann  die  Anlehnung  als  ein  blos  subjectives 
Spiel  erkannte.  Zur  Klarlegung  dieses  subtilen  Punktes 
bringe  ich  eine  andere  Schwierigkeit  bei,  die  zur 
Entscheidung  drängt. 

Es  gibt  exegetische  Eigenthümlichkeiten  der  tal- 
mudischen Literatur,  die  jeder  Kundige  kennt,  ohne 
sie  doch  sich  erklären  zu  können.  Zu  den  merk- 
würdigsten und  frappirendsten  gehören  offenbar  die 
bekannten  Eälle,  wo  das  hebräische  Bibelwort,  wenn 
sein  Klang  im  Griechischen  einen  Sinn  gibt,  griechisch 
gedeutet   wird.     Das  Material   ist   in  Sachs'    vortrefP- 


51 


liehen  Beiträgen  reichlich  aufgehäuft  i).  Aber  die 
Frage:  „War  es  Spielerei,  war  es  Ernst,  und,  wenn 
Ernst,  wie  ist  es  zu  verstehen,  bleibt  noch  zu  lösen. 
Es  mag  ja  eine  hübsche  vSentenz  ergeben,  wenn  das 
Hebräische  '^^Hi^Ö  aufgelöst  wird  in  [iv]  "^^Hi^,  aber 
wie  kann  man  glauben,  dass  die  Schrift  griechisch 
redet?  Oder  was  soll  man  sagen,  wenn  das  hebräische 
Wort  nty  =  Lamm  als  as  =  Dich  gedeutet  wird, 
oder  das  hebräische  p  =  siehe  für  sv  =  Eins? 
Und  gesetzt:  wir  sagen,  es  seien  das  unschuldige,  im 
Geschmacke  jener  Zeit  zur  Erbauung  vorgebrachte 
Spielereien,  klingt  es  nicht  schon  ernster,  wenn  Kabbi 
Ismael  die  überlieferte  Halachah,  dass  das  Phylacterion 
(die  Gebetkapsel,  die  am  Kopfe  getragen  wird)  aus 
vier  Gehäusen  zu  bestehen  habe,  aus  der  verschiedenen 
Schreibung  des  Wortes  „Totaphoth"  herleitet,  und  Akiba 
dazu  sagt:  Diese  Ableitung  sei  gar  nicht  nöthig,  da 
die  vier  schon  im  Worte  stecke,  denn  „Tot"  heisse  in 
„Kathphi"  (?)  zwei  und  „photh"  heisse  in  Africa  zwei  2).  Es 


1)  Sachs,  Beiträge  zui"  Sprach-  und  Alterthumsforschung 
I.  Theil,  S.  19  ff.  Daselbst  sind  auch  unsere  im  Text  gegebenen 
Beispiele  zu  finden. 

2)  Frankel,  Darke  Hamischnah,  S.  113,  Note  3,  bezeichnet 
es  als  seltsam,  wie  eine  solche  Deutung  dem  Akiba  soweit  gefallen 
konnte,  dass  er  seinem  Collegen  Ismael  zurufen  konnte  T'ISC  13"K, 
versucht  aber  nicht,  die  Seltsamkeit  zu  erklären. 

Die  bei  Sachs  und  Frankel    gleichfalls    angeführten  Stellen, 

sind  entnommen :  das 
4.* 


b2 


gibt  hier,  so  scheint  es,  nur  eine  Auskunft,  Akiba 
habe  nämlich  gerade  die  seltsamste  Anlehnung  für  die 
Halachah  vorgezogen,  weil  sie  desto  leichter  behalten 
wird. 

Aber  wüixlen  sich  Akiba  und  die  anderen  Lehrer 
bei  ihrer  Ehrfurcht  vor  der  Schi'ift  solche^  Spielereien 
erlaubt  haben,  wenn  nicht  jene  Zeit  eine  Ansicht  von 
der  Schrift  beheiTscht  hätte,  die  all  diesem  Thun  ein 
viel  ernsteres  Gepräge  gab?  So  ist  es  denn  auch  in 
der  That.  Obwohl  die  palästinischen  Lehrer  niemals 
bis  zu  dem  Missverständnisse  des  Bibelwortes  herab- 
sinken konnten,  Tsde  die  hellenistischen  Juden,  so 
hatte  doch  die  eigenthümliche  Venera tion  des  Schrift- 
wortes, wie  sie  in  Alexandiia  und  bei  den  griechisch 
redenden  Juden  aufgekommen  war,  auch  der  palästi- 
nischen Sphäre  sich  mitgetheilt.  Hatte  es  dort  als 
dürftig  gegolten,  dass  die  göttliche  Schrift  nur  einen 
Sinn  haben  sollte,  so  fand  man  es  auch  in  Palästina  bald 
nicht  sonderbar,  dass  die  Schrift,  unbeschadet 
des  Umstandes,  dass  sie  Hebräisch  sprach, 
doch  auch  zugleich  in  allen  Sprachen  einen 
Sinn  abwarf,  oder  anders  ausgedrückt,  man  heimste 
neben  dem  Sinne,  den  dasWort  im  Hebräischen 


{JLT,  "I"nx  dem  Tanchuma  zu  2.  B.  Mosis  22,  24.  Pas  T^  =  zi 
der  Pesikta  der.  Kah.  XL,  das  iv  =  jH  häufig,  siehe  Aruch,  die 
Deutung  von  Totaphoth  Sanhedi'in  4b, 


53 


ergab  und  den  man  sehr  wohl  kannte,  auch 
den  Sinn  mit  ein,  den  der  zufällige  Klang 
des  Wortes  in  einer  fremden  Sprache  hatte, 
weil  man  es  eben  nicht  für  zufällig  hielt. 
Akiba  z.  B.  kannte  die  Halachah  von  den  vier  Ge- 
häusen, kannte  ebenso  den  Wortsinn  von  Totaphoth, 
hielt  aber  darum  den  Umstand,  dass  in  zwei  fremden 
Sprachen  der  Klang  der  einzelnen  Silben  des  Wortes 
je  zwei  bedeutete,  für  nicht  zufällig,  sondern  von  der 
Schrift  beabsichtigt.  Man  glaubte  eben  nicht  gross 
genug  von  Gottes  Wort  denken  zu  können.  Wir 
suchen  diese  Behauptung  näher  zu  belegen. 

Anknüpfend  an  einen  Satz  in  dem  die  sinaitische 
Offenbarung  besingenden  Psalm  68,  nämlich  an  den 
12.  Yers:  „Gott  giebt  ein  Wort,  der  gute  Botschaft 
Bringenden  ist  eine  grosse  Zahl"  lehrt  der  Talmud: 
„Jedes  Wort,  das  aus  dem  Munde  Gottes  kam,  spaltete 
sich  in  70  Zungen"^).  Es  lässt  sich  das  ja  recht 
geistreich  homiletisch  verwenden,  indem  man  es  auf 
die  Bestimmung  des  Gottesgesetzes  für  alle  Völker  der 
Erde  bezieht.  Diese  Ansicht  ist  auch  an  vielen 
Stellen  und  in  sehr  eigenthümlicher  Weise  in  der 
Mischnah  ausgesprochen.  Dort  wird  nämlich  gesagt '-), 
dass  Israel  auf  die  Steine,  von  denen  Deuteron.  27,  G 


1)  Talmud,  Sabbath  88b. 

2)  Sotak  VII,  5. 


54 


die  Kede  ist,  die  Worte  der  Lehre  in  70  Sprachen 
schrieb,  offenbar  weil  sich  die  Lehrer  von  der  Frage 
bedrückt  fühlten,  wie  denn  Gott  die  übrigen  Yölker 
ohne  den  beseligenden  Inhalt  der  Lehre  lassen  konnte. 
Aber  dennoch  ist  es  rathsam,  das  Sich-Spalten  des 
Gotteswortes  in  70  Zungen  eigentlich  zu  fassen. 
Diese  Fassung  Avird  durch  so  manche  Spur  empfohlen. 
Einmal  erklären  sich  so  am  besten  die  70  Gesichter 
oder  Weisen,  me  die  Schrift  ausgelegt  werden  könne  i). 
Ebenso  warum  die  Hauptausleger  der  Schrift,  die  Syn- 
hedristen,  70  Zungen  verstehen  müssen  2).  Auch  das 
dem  Mardechai  gespendete  Lob  wird  verständlich.  Er 
heisse  auch  Pethachia,  denn  er  habe  seine  Auslegungen 
in  70  Zungen  eröffnet,  er  heisse  Baischan,  weil  er  in 
der  Exegese  die  Sprache  durcheinander  gemischt  3). 

Nicht  uninteressant  dürfte  bei  der  Gelegenheit 
die  Parallele  sein,  dass  der  Talmud  dieses  „In  Ziingen- 
reden'^  bei  Besprechung  des  jüdischen  Pfingstfestes 
und  der  sinaitischen  Offenbarung  hat,  und  dass  das 
schwierige  „In  Zungenreden"  der  Apostel  am  Pfingsten 
vielleicht  dadurch  seine  Erläuterung  erhält. 


1)  Die  70  ^"eisen  (D':E)  der  Auslegung  kommen  allerdings 
mehr  in  naclitalmudisclien  Schriften  vor. 

2)  Talmud,  Sanhedrin  17a  ]^^h  'V  '17nv  S^K  I'-nn:D2  j^n^iriö  j^K 

3)  Menachotli  65b :   ["^^h  'un  'irnm  nnistr  .Tnns  Knps  ^snnö 

^:^'b  b''2,  nm  \^b2 


55 


Scheint  aber  eine  solche  Ansicht  von  dem  Ueber- 
reichthum  der  Schrift,  der  Glaube  an  die  Berechtigung, 
jede  Andeutung  der  Schrift  zu  benutzen,  exegetisch 
verhängnissvoll  werden  zu  müssen,  so  gab  es  eine 
grosse  Zahl  von  Correctiven,  welche  die  palästinen- 
sischen Lehrer  vor  Yerirrungen  schützte.  Einmal 
vergesse  man  nicht,  dass  sie  zur  Sprache  der  Schrift 
immer  noch  ein  unmittelbares,  unreflectirtes  Yerhält- 
niss  hatten,  das  sich  vom  Yerhältniss  zur  Mutter- 
sprache kaum  unterschied.  Jene  Lehrer  hatten,  wie 
aus  der  präcisen,  geistreichen,  in  ihrer  Weise  klassi- 
schen Sprache  der  Mischnah  einerseits,  andererseits 
wiederum  aus  der  schlichten,  gemüthvoUen  Sprache 
der  aus  der  talmudischen  Zeit  stammenden  Gebete 
hervorgeht,  die  Fähigkeit  sowohl  des  wissenschaftlichen 
wie  des  künstlerischen  Gebrauchs  der  hebräischen 
Sprache  noch  in  hohem  Grade.  Schon  dadurch  standen 
sie  im  wahren  Yerständniss  der  Bibel  hoch  über  ihren 
Zeitgenossen,  welche,  was  ihnen  die  griechische  Ueber- 
setzung  an  Erkenntnissmöglichkeit  der  Schrift  noch 
übrig  gelassen,  durch  das  ewige  Allegorisiren  ein- 
büssteni).  Dazu  kommt,  dass  nicht  alle  uns  seltsam 
vorkommenden     exegetischen     Eruirungen     der    Tal- 


1)  Vgl.  den  oben  schon  angeführten  Aufsatz :  Ein  AVort 
gegen  Lessing  zu  Ehren  Lessing's  in  dem  vom  Israelitischen 
Gemeindebunde  herausgegebenen  Lessing  -  Mendelssohn'schon 
Gedenkbuche. 


56 


mudisten  so  seltsam  sind  als  sie  aussehen.  Wie 
Kroclimal  i)  nämlich  nachgewiesen,  hatten  die  Sopherim 
die  zu  tradirenden  Halachoth  bisweilen  durch  die 
Orthographie  der  Schrift  angedeutet,  so  dass  die  Tal- 
mudisten  berechtigt  waren,  aus  einem  fehlenden  oder 
voll  hingeschriebenen  Waw  z.  B.  Schlüsse  zu  machen. 
Wenn  wir  heute  das  Wort  „sie"  bald  plene  Dmx, 
bald  defect  DflS  lesen,  oder  das  Wort  „Hütten"  bald 
rilDD  und  bald  n^D  und  die  Talmudisten  daraus  Ha- 
lachoth herleiteten,  so  lag  die  Berechtigung  dafür 
darin,  dass  sie  nur  herauslasen,  was  die  Sopherim 
durch  ihre  Orthographie  absichtsvoll  hineingelegt. 

Endlich  aber  schützte  man  sich  vor  "TOllkür 
durch  das  rigoristische  Verbot  jeder  persönlichen 
Schriftstellerei,  so  weit  es  das  Religionsgesetz  tangirt, 
durch  Aufstellung  des  Canon,  Beschränkung  desselben 
auf  24  Bücher  und  Avilirung  der  anderen  als  „Chi- 
zonim"  (draussenstehende,  profane),  durch  Yerwandlung 
der  ganzen  Tradition  in  eine  „mündliche  Lehre",  deren 
Geltung  im  einzelnen  auf  Majoritätsbeschlüssen  des 
grossen  Synedriums  zu  Jerusalem  oder  der  später  sie 
vertretenden  Gerichtshöfe  beruhte.  Das  führt  uns 
denn  auf  die  Erwägung,  me  man  zu  dem  Begriffe 
einer  „mündlichen  Lehre"  gekommen  war. 


1)  In    seinem    klassischen  Buche :    jÖH  ^2123  nmö  Pforte  13 

nniDÜ^  DK 


Die  mündliche  Lefire. 


Der  Ausdruck  „mündliche  Lehre"  wird  gemein- 
hin als  Wechselbegriff  für  die  jüdische  „Tradition" 
genommen.  Dennoch  sind  beide  Ausdrücke  nicht 
identisch.  Es  lag  ursprünglich  keineswegs  im  Wesen 
der  Tradition  un  aufgeschrieben  zu  sein.  Der  Talmud 
selbst  kennt  eine  aufgeschriebene  Tradition  vor  der 
Zeit,  in  welcher  das  Aufschreiben  des  zu  Tradirenden 
verpönt  wurde.  Er  nennt  nämlich  die  gesetzlichen 
Bestimmungen,  die  nicht  in  der  Thora  (Pentateuch), 
sondern  in  den  Propheten  enthalten  sind,  „Worte  der 
Tradition",  unbeschadet  des  Umstandes,  dass  sie  in 
den  prophetischen  Büchern  durch  die  Schrift  fixirt 
sindi).      Der  Ausdruck    „mündliche  Lehre"    für  alles 

1)  So  sagt,  um  nur  aus  den  zaliheichen  Beispielen  einige 
anzuführen,  die  Mischnah  (Taanit  IL,  1) :  Und  in  der  „Tradition', 
heisst  es:  „Und  zerreisset  Euer  Herz  und  nicht  Eure  Kleider'^ 
und  bezeichnet  somit  die  Schriftworte  (Joel  2,  13)  als  r\bzp 
„Tradition".  So  heisst  es  Rosch  Haschanah  7a:  „Diese  Sache 
lernen  wir  nicht  aus  der  Lehre  imseres  Lehrers  Mosis,  sondern 
aus  den  Worten  der  „Tradition",  und  nun  mrd  ein  Wort  aus 
dem  hagiogi-aphischen  Buche  Esther  angeführt. 


58 


Mcht-Pentateuchische  kann  erst  spät  geprägt  worden 
sein,  zur  Zeit,  wo  geschichtliche  Umstände  das  Ver- 
bot veranlassten,  sei  es  die  Erklärungen  und  Erwei- 
terungen der  Schrift  aufzuschreiben,  sei  es  selbstän- 
dige Bücher  niit  der  Prätension  abzufassen,  sie  den 
vorhandenen  biblischen  Büchern  als  ebenbürtig  anzu- 
reihen, ü^och  nicht  bestanden  hat  das  Yerbot  im 
Zeitalter  des  jüngeren  Sirach.  Aus  Palästina  nach 
Alexandria  kommend,  sagt  er  ganz  harmlos,  sein  Gross- 
vater habe,  Schrift,  Propheten  und  die  späteren  natio- 
nalen Bücher  eifrig  studirend,  in  Folge  der  Förderung, 
die  er  dadurch  erfahren,  beschlossen,  auch  selbst  Aehn- 
liches  zu  leisten.  Ja,  man  kann  noch  streiten,  ob  er 
nicht  auch  sagen  will,  damit  auch  andere  Lernbegie- 
rige ihrerseits  dadurch  angeregt  würden,  neue  ähn- 
liche Bücher  hinzuzufügen  (eTiiTipoG-ö-wai)  i). 

Die  erste  Büchercensur  kam  wohl  im  Streite  mit 
den  Sadducäern  vor.  Zur  Kegierungszeit  der  Salome 
Alexandra  (79  —  70  v.  Chr.)  unter  dem  Synedrial- 
haupte  Simon  ben  Schetach  gelang  es  nicht  nur,  das 
Synedrium  mit  lauter  pharisäischen  Elementen  zu 
besetzen,  sondern  auch  den  geschriebenen  harten 
sadducäischen  Strafcodex  abzuschaffen  2).     Seit  jener 


1)  Prolog  zuni  giiechisclien  Sirach. 

2)  In    der  Fastem-olle    heisst   es:    „Am  14.  Tammus  wui'de 
das  Buch   der  Entscheidungen  abgeschafft,    daiuiu   soll   an   ihm 


59^ 

Zeit  verbot  man  wohl  Halachoth  aufzuschreiben.  Das 
Synedrium  in  seinen  Majoritätsbeschlüssen  sollte  allein 
die  gültige  Auslegung  repräsentiren,  und  so  volks- 
thünilich  und  moralisch  mächtig  war  die  pharisäische 
Handhabung  des  Gesetzes,  dass  nach  dem  Zeugnisse 
des  Josephus  die  Sadducäer  fortan  nur  theoretisch, 
nicht  aber  als  practische  Functionäre  gegen  die  phari- 
säische Lehre  aufzutreten  wagten.  Theoretisch  da- 
gegen zu  disputiren  hielten  sie  für  verdienstlich  i). 

Wir  werden  daher  von  den  Sadducäern  wohl 
nicht  eigentlich  sagen  können,  dass  sie  die  Tradition 
leugneten  —  sie  hatten  ja  selbst  welche,  sogar  auf- 
geschriebene — ,  sondern  die  mündliche  Lehre,  welche 
ihrem  eigentlichen  Begriffe  nach  eine  Institution,  eine 
Behörde  war  2).  Gerade  weil  sie  die  Autorität  dieser 
Institution  theoretisch  wenigstens  nicht  anerkannten. 


nicht  gefastet  werden^'.  Der  Scholiast  bezieht  es,  offenbar  richtig, 
auf  das  geschriebene  Strafgesetzbuch  der  Sadducäer.  Vgl.  Graetz, 
Geschichte  der  Juden,  Band  3,  Note  1  die  Ueberschrift :  anti- 
sadducäische  Gedenktage.  Dernburg,  essai  sur  l'histoire  e.  c.  t. 
S.  103.  Antidatirt  im  Schohasten  ist  nui-,  dass  er  das  Verbot 
derlei  aufzuschreiben  in  jener  Zeit  als  schon  längst  ergangen 
ansieht. 

1)  Joseph,  ant.  Jud.  XVIII.,  1,  4.  Das  von  Dernburg  S.  104 
daselbst  besprochene  ok  «otojv  muss  in  ctTz  auxÄv  verwandelt 
werden,  wie  manche  Ausgaben  haben.  Nur  letzteres  kann 
heissen  „nach  ihren  Ansichten", 

'-i)  MaimoDides,  Hilchoth  Mamrim  zu  Anfange:  SnJH  i^  ^'- 

na  bunu?  n-nn  np^u  on  o'^u^in^nt:? 


60 


sagte  man  von  ihnen,  sie  leugneten  die  mündliche  Lehre, 
eine  Bezeichnung,  die  erst  im  Streite  mit  ihnen  auf- 
gekommen war,  als  man  es  zum  "Wesen  der  Tradition 
gehörig  erklärte,  eben  nicht  aufgeschrieben  zu  sein. 

Es  liegt  nun  im  Geiste  des  Talmudismus,  dass 
man  für  den  neuen  Xamen  „mündliche  Lehre"  eine 
Stütze  in  der  Schrift  suchte  und  auch  fand.  So  be- 
merkt denn  der  exegetische  ^üLidrasch  Sifra  zu  dem 
Terse  Leviticus  26,  46:  „Dies  sind  die  Satzungen 
und  die  Rechte  und  die  Thoroth  (Lehren),  die  Gott 
zwischen  Sich  und  die  Eander  Israels  durch  Moses 
gesetzt^'.  Folgendes:  „Und  die  Thoroth  im  Plural  heisst 
es ;  das  lehrt,  dass  zwei  Thoroth  ihnen  (den  Israeliten) 
gegeben  worden,  eine  schriftliche  und  eine  mündliche". 
Merkwürdig,  dass  der  nun  folgende  Sprecher  im 
Sifra,  R.  Akiba,  mit  dieser  Erklärung  nicht  einver- 
standen zu  sein  scheint.  Eine  dasselbe  besagende 
Stelle  findet  sich  auch  in  Sifre  351  zu  den  "Worten 
Deuter.  32,  10:  „Sie  soUen  lehren  deine  Rechte,  Jakob, 
und  deine  Thora  (Sifi'e  Liest  aber  Plural),  Israel". 
Das  lehi't,  glossirt  Sifre,  dass  zwei  Thoroth  Israel 
gegeben  worden,  eine  mündlich,  die  andere  schriftlich. 
Es  fragte  der  Hegemon  Agenetos  (?)  den  R.  Gamaüel: 
Wieviel  Thoroth  sind  Israel  gegeben  worden?  Zwei, 
antvvortete  er  ihm,  eine  mündüche  und  eine  schrift- 
liche.    Im  Talmud  kommt   der  Ausdruck   „mündliche 


61 


Lehre"  schon  im  Munde  Hillel's  vor.  Weiss  i)  hält 
das  für  eine  Antedatirung,  was  sehr  möglich  ist. 

Die  Vermiithung  ist  wohl  gestattet,  dass  der 
Ausdruck  dem  römischen  Rechte  entnommen,  welches 
gleichfalls  neben  dem  Zwölftafelgesetz  ein  Civilrecht 
kennt,  das,  nicht  schriftlich  fixirt,  lediglich  in  der 
Auslegung  der  Rechtsverständigen  besteht  (quod  sine 
Scripte  in  sola  prudentum  interpretatione  consistit). 

Uebrigens  erstreckte  sich  das  im  Kampfe  mit  den 
Sadducäern  entstandene  Yerbot  ursprünglich  gewiss 
nicht  weiter  als  der  Anlass  es  gebot,  ich  meine,  be- 
zog sich  zunächst  nur  auf  das  Aufschreiben  der 
Halachoth.  Und  siehe  da,  dieses  Yerbot  hatte  zur 
Folge  nicht  etwa  eine  Stabilität  der  Halachoth,  sondern 
einen  gewissen  Fluss  derselben.  Natürlich!  Während 
die  Sadducäer  für  ihre  Rechtsentscheidungen  ihre 
Bücher  hervorgelangt  hatten,  war  jetzt  der  mündlichen 
Discussion  und  Schriftforschung  freie  Bahn  geöffnet. 
Dieser  geschichtliche  Fluss  der  Halachoth  ist  oft 
höchst  interessant,  ja  kann  sogar  zu  chronologischen 
Winken  benutzt  werden.  Ich  Avill  ein  Paar  Beispiele 
anführen. 

Josesphus  (ant.  jud.  XYH,  6,  2)  erzählt  von  dem 
Aufstande,  den  zwei  jüdische  Gresetzeslehrer  von  An- 
sehen  in    der    letzten  Krankheit    des  Herodes  erregt 


1)  Weiss,  Vtrnm  nm  -in  erste  Seite, 


62 


hatten.  Sie  sprachen  von  seinen  vielen  Gesetzes- 
übertretungen, namentlich  aber  von  einer,  welche  ab- 
zustellen sie  bemüht  sein  müssten.  lieber  der 
grösseren  Pforte  des  Tempels  nämlich  hatte  er  einen 
grossen  und  höchst  werthvollen  Adler  aus  Grold  aufstellen 
lassen.  Nun  aber  verbiete  das  Gesetz  Allen,  die 
darnach  leben  wollen,  an  die  Errichtung  von  Bildern 
zu  denken  oder  irgend  welche  lebende  Wesen  abbildlich 
zu  gestalten.  Sie  ermahnten  das  Yolk,  selbst  unter 
Lebensgefahr  den  Adler  herabzureissen ,  da  Treue 
gegen  das  Gesetz  wichtiger  sei  als  das  Leben.  Es 
geschah  und  hatte  traurige  Folgen  für  die  Anstifter. 
Thatsächlich  aber  verbietet  die  spätere  Halachah,  wie 
sie  für  uns  fixirt  ist,  gar  nicht,  Thiergestalten  abzu- 
bilden. Der  Kürze  wegen  citire  ich  den  Maimonides  i) : 
„Die  Gestalten  von  Thieren,  von  allen  lebenden  Wesen 
mit  Ausnahme  der  Menschen,  ebenso  die  Gestalten 
von  Bäumen,  Gräsern  und  ähnlicher  Dinge  darf  man 
bilden,  selbst  in  Relief".  Die  Halachah  ist  also  später 
milder  geworden.  Einer  gleichen  rigorosen  Ansicht 
über  das  Recht,  die  Häuser  mit  Thierbildern  zu 
schmücken,  begegnen  wir  in  der  „vita"  des  Josephus, 
wo  das  Haus  des  Tetrarchen  Herodes  zerstört  werden 


1)  Maim.  Jad  hachasaka,  Abschnitt  über  Götzendienst  cap.  3 

§  9  Schluss:  nm^tT  DiKn  ja  pn  n*n  rs3  nKtri  nönnn  nmi 
ntfibia  r\'\^:in  nn*n  i^'^ski  Dm«  -ii::'?  nma  \ra  ks:vdi  D'Kur-n  mj^Kn 


63 


sollte   wegen    der    darin   überall  angebrachten  Thier- 
bilder  i). 

Ein  anderes  Beispiel,  bei  dem  die  Halachah  einen 
chronologischen  Wink  gibt,  bietet  die  Umgestaltung 
des  im  2.  und  im  4.  Makkabäerbuch  dargestellten 
Martyriums  von  sieben  Söhnen  einer  Mutter.  Die 
Erzählung  geht  bekanntlich  in  die  talmudische  und 
midraschische  Literatur  über  2),  aber  mit  einer  Aen- 
derung,  die  in  der  veränderten  Halachah  ihren  Grund 
hat.  Es  ist  nämlich  bemerkenswerth ,  dass  in  der 
griechischen  Fassung  das  Pathos  auf  der  Weigerung, 
verbotene  Speisen  zu  gemessen  beruht,  nach  der  tal- 
mudischen Relation  aber  das  Martyrium  erlitten  wird 
wegen  der  Zumuthung:  diene  den  Götzen.  Zwischen 
beiden  Berichten  liegt  der  in  den  Zeiten  Hadrians 
gefasste  Lyddensische  Beschluss,  dass  man  in  Lebens- 
gefahr alle  Yerbote  der  Schrift  übertreten  dürfe  mit 
Ausnahme  von  Götzendienst,  Unzucht  und  Mord  3). 
Fortan  musste  die  Sage  umgebildet  werden,  und  statt 
der  Zumuthung,  verbotene  Speisen  zu  essen,  musste 
es  heissen:  diene  den  Götzen.  Den  Einwand,  dass 
die  Bestimmungen    später  wieder   verschärft   wurden, 


1)  Vita  Jos.  c.  9,  12.     Vgl.  Ewald,    Geschichte  des  Volkes 
Israel,  VI.  Band,  S.  703. 

2)  Freudenthal,    die    Flavius    Josephus    beigelegte    Sclirift: 
Ueber  die  Herrschaft  der  Vernunft  (IV.  Makkabäerbuch)  S.  95. 

3)  Sanhedrin  74a.    Graetz,  Geschichte.  B.  IV.,  2.  Aufl.  S.  170. 


64 


nänilich  dass  man,  wo  es  sich  um  die  Absicht,  den 
Israeliten  von  seinem  Glauben  abti'ünnig  zu  machen, 
handelt,  selbst  um  einer  Kleinigkeit  willen,  das  Leben 
opfern  müsse,  übergehe  ich  als  leicht  lösbar. 

So  ist  wohl  auch  die  talmudische  Xachricht,  dass 
in  der  Antiochischen  Yerfolgungszeit  Jemand  wegen 
Reitens  am  Sabbath  hingerichtet  worden  sei,  nicht 
weil  das  gesetzlich  so  recht  gewesen  wäre,  sondern 
weil  die  Stunde  (die  Xothlage)  eine  solche  Strenge  er- 
heischte 1)  und  ähnliche  Erzählungen  vom  Standpunkte 
der  späteren  Halachah  dargestellt  worden.  In  Wahr- 
lieit  waren  die  Sabbathgesetze  rigoristischer,  me  ja 
geschichtlich  der  Satz,  dass  „Lebensgefahr  den 
Sabbath  verdränge,  erst  allmälig  reift 2)". 

Zum  Verbote,  Halachoth  aufzuschreiben,  trat  im 
ersten  christlichen  Jahrhundert  das  Verbot,  aramäische 
Uebersetzungen  der  biblischen  Bücher  zu  publiciren. 
So  lässt  E.  Gamaliel  der  Erste  das  Targum  zum  Buche 
Hieb  versenken  3).  An  der  griechischen  Bibelüber- 
setzung nahm  man  zu  seiner  Zeit  noch  keinen  An- 
stoss,  da  die  dem  ersten  Gamaliel  (lebte  um  40  n.  Chr.) 
und  seinen  CoUegen  missliebigen  Auslegungen  in 
Palästina  ihnen  sicherlich  noch  an  den  aramäischen 
Uebersetzungen  und  in  aramäischer  Sprache  entgegen- 


1)  Sanhedrin  46a. 

2)  1.  Makkabäerbuch  cap.  2,  32-41, 

3)  B.  Sabbath  116a. 


65 


traten.  Dass  solche  Ueb  er  Setzungen  trotz  des  Yerbots 
ciirsirten,  wird  ja  gerade  durch  die  Erzählung,  dass 
E.  Gamaliel  eine  yernichtete,  bestätigt.  Es  ist  uns 
sogar  von  einer  aramäischen  Uebersetzung  berichtet,  die 
aus  der  griechischen  gemacht  wurde  3).  Dass  das 
natürlich  nicht  unser  onkelosisches  Targum  sein  kann, 
braucht  Memandem  gesagt  zu  werden,  da  diese  vor- 
treffliche Uebersetzung  ihren  originalen  Charakter  an 
sich  trägt.  So  muss  dann  eine  Yermuthung  Asariah 
de  Kossi's  umgekehrt  werden.     Asariah    de  Eossi  hat 


1)  In  meinen  Ausgaben  steht:  1T,b  n"l2nis*  ]rh  Xn^n  IHK  ^Jjnn 
ri'^iVj.  Megilla  I,  71c.  Die  von  Professor  Levy  in  seinem  neuen 
Lexikon  s.  v.  ''"1-  gegebene  Uebersetzung  der  Stelle:  „Ein  Hütten- 
einlieger  hat  ihnen  (den  Eömern)  das  Eömischo,  die  lateinische 
Sprache,  aus  dem  Griechischen  gesondert,  d.  h.  eine  besondere 
Sprache  daraus  gemacht'^  ist  trotz  ihrer  Seltsamkeit  nicht  ganz  ohne 
GiTind.  Dieser  Gelehrte  liess  sich  nämlich  in  Erklärung  unserer 
Stelle  von  der  Parallelstelle  Esther  rabbah  s.  v.  C"*i£C  nb'\V^^ 
leiten,  die  allerdings  so  wunderlich  klingt  (siehe  Levy  s.  v.  ■^"IS). 
Aber  es  ist  doch  rationeller,  unsere  (talmudische)  Stelle  als  die 
primäre,  jene  (midraschische)  als  aus  Missverständniss  entstanden 
anzusehen.  Ohnehin  kann  man  sich  ja  bei  der  Midraschnotiz 
nichts  Eechtes  denken.  Füt  unsere  Stelle  aber  ergibt  der 
Zusammenhang  Folgendes:  „Eabban  Simon,  Sohn  GamaUel's,  sagte; 
Auch  bei  Büchern  (bibhschen)  haben  sie  nur  den  Gebrauch  der 
griechischen  (keiner  anderen,  nicht — hebräischen)  Sprache  gestattet. 
Sie  untersuchten  und  fanden,  dass  die  Thora  in  keiner  anderen 
Sprache  nach  ihrem  ganzen  Bedarf  übersetzt  werden  könne,  ausser 
in  der  griechischen.  Ein  Bui'gbewohner  hat  ihnen  sogar  eine 
aramäische  Uebersetzung  aus  dem  Griechischen  angefertigt.  E. 
Jirm'jah  im  Namen  des  Chija  bar  Ba  sagte:    Es  hat  Akylas  der 


66 


bekanntlich  die  seltsame  Idee,  dass  die  Septuaginta 
aus  dem  aramäischen  und  nicht  aus  dem  hebräischen 
Original  angefertigt  worden  sei.  Heutzutage  bedarf 
das  keiner  "Widerlegung.  Aber  unter  anderen  Beweisen 
für  seine  ^Meinung  fühlt  er  auch  an,  dass,  da  doch 
Jesus  und  seine  Jünger  ohne  Frage  aramäisch  sprachen, 
Avie  aus  den  Originalcitaten  Talita  Kumi  und  ähn- 
lichen hervorgeht,  die  Uebereinstimmung  der  Citate 
in  den  Evangelien  mit  der  Septuaginta  nur  diu'ch 
seine  Hypothese  erklärt  würde  ^).  Der  Einwand,  der 
gemacht  werden  könnte,  dass  die  Evangelien  später 
abgefasst  seien,  wüixlo  insofern  nicht  ti^effen,  als  sie 
doch  sicherlich  alte  Elemente  in  sich  enthalten.  TTenn 
man  aber  bedenkt,  dass  die  in  Palästina  für  das  Yolk 
cui^sirenden  aramäischen  Uebersetzungen  zum  Theil 
aus  dem  Griechischen  gemacht  worden,  wofüi'  wir  ja 
ein  directes  Zeugniss  haben,  so  schwindet  jede 
Schwierigkeit. 

In  den  Zeiten  Gamahers  nun  und  seiner  un- 
mittelbaren Xachfolger  musste  auch  die  Xothwendig- 
keit  hervorti-eten,  den  Canon  zu  bestimmen  und  die 
anderen   entweder   schon   erschienenen  oder  zur  Zeit 


Proselyt  die  Thora  vor  E.  Elieser  und  E.  Josua  übersetzt  und 
sie  rühmten  ihn  und  sprachen :  „Schön  bist  du  u.  s.  w."  Diese 
Aufeinanderfolge  der  Sätze  schhesst  jede  Erkläiimg  aus,  die 
sich  nicht  auf  eine  Schiiftübersetzung  bezieht. 

1)  Asaiiah  de  Eossi,  Meor  Enajiin,  Imre  Binah  c.  8  u.  9. 


67 


erscheinenden  Bücher  religiösen  Inhalts  als  „draussen- 
stehende"  (Chizonim)  zu  bezeichnen.  Ebenso  niusste 
statt  des  nichtausreichenden  Yerbots  von  geschriebenen 
Uebersetzungen  das  Uebersetzen  selbst  unter  officielle 
Obhut  gestellt  werden.  Und  als  in  den  Zeiten  der 
Schüler  K.  Jochanan  ben  Saccai's  der  Kampf  mit  den 
sectirerischen  Meinungen  nicht  mehr  blos  auf  Grund 
des  Aramäischen,  sondern  des  Griechischen  geführt 
wurde,  da  schritt  man  auch,  weil  man  aus  Gründen, 
die  uns  bereits  bekannt  sind,  auf  das  Griechische 
auch  für  exegetische  Zwecke  nicht  verzichten  konnte, 
dazu,  durch  Aquila  eine  officielle  griechische  Version 
anfertigen  zu  lassen. 


5* 


Die  draussenstehenden  Bücher  (Chizonim). 

Solcher  Bücher  gibt  es  zwei  von  einander  ver- 
schiedene Arten.  Erstens  solche,  die  man,  obwohl 
ihrer  Xatur  nach  dazu  einladend,  nicht  mehr  in  den 
Canon  aufgenommen,  weil  ihnen  der  Ximbus  des  hohen 
Alterthums  und  die  Yoraussetzung  fehlte,  dass  ihr 
Autor,  vom  göttlichen  Geiste  inspirirt,  einen  Text  ge- 
liefert, an  den  man  mit  den  üblichen  Deutungsmitteln 
herangehen  dürfe.  Diese  Bücher  durften  wohl  gelesen 
werden,  aber  zur  Yertiefting  in  sie,  die  Xeues  aus 
ihnen  herausholte,  wurden  sie  nicht  füi'  geeignet 
gehalten.  Das  wird  ausdrücklich  gesagt.  Die  Schluss- 
worte in  Koheleth,  die  nach  dem  scharfsinnigen  Er- 
gebniss  EjochmaFs  i)  zugleich  den  Canon  abschliessen, 
enthalten  bekanntlich  auch  die  Worte:  „Hüte  dich, 
Bücher  ohne  Ende  zu  machen,  vielerlei  Lesen  ermüdet 
den  Leib-.  Dazu  bemerkt  der  ILidi'asch  zur  Stelle, 
nachdem  er  Beispiele  von  nicht-kanonischen  Büchern 


1)  More  Xebuclie  Haseman.  Pforte  11.  Sis:,  8. 


G9 


gebracht,  worüber  später:  ,,Diese  Bücher  sind  wohl 
zum  Forschen,  aber  nicht  zur  Ermüdung  des  Fleisches 
gegeben"!).  Was  gemeint  ist,  dafür  bietet  die  Stelle 
selbst  ein  gutes  Beispiel.  Wie  wird  eben  diese  Vor- 
schrift aus  der  Stelle  herausgeholt?  Es  wird  gethan, 
als  ob  das  Substantiv  „Lahag"  etwas  mit  dem  Infinitiv 
„lahagoth"  zu  thun  hätte.  So  unreflectirt  man  auch 
der  Sprache  gegenüberstand,  man  wusste  wohl,  dass 
2nS  nicht  mit  n^H  ^nd  rw.rb  zusammenhinge.  Ebenso 
wird  schon  vorher  ni^ni?  gleichnij^l!?  gelesen,  nichtweil 
man  den  Text  anders  aufPasste,  als  wir  ihn  auffassen, 
sondern  weilKoheleth  als  kanonisches  Buch  einen  solchen 
Eeichthum  an  Is^'ebenbeziehungen  einschloss.  Dasselbe 
bei  einem  sonst  tadellosen,  aber  unkanonischen  Buche  zu 
thun,  wlü'de  eine  Ueberschätzüng  seines  Reichthums 
heissen.  Im  Talmud  wird  diese  SteUung,  welche  die 
sonst  untadligen  „draussenstehenden"  Bücher  ein- 
nehmen, ausser  durch  dieWorte  des  Mdrasch  :  „Zum  Lesen 
eignen  sie  sich  wolil,  aber  nicht  zum  Ermüden  des 
Fleisches",  auch  durch  die  Wendung  gegeben :  „Wer  sie 
liest,  der  liest  sie  nicht  anders,  wie  wenn  er  in  einem 
Briefe  liest"  2),  das  heisst:  das  Lesen  mit  TOfacher  Augen- 


1)  an£c  Tr^  nnr  iiTn  -[inn D^33ün bst:'  nnn^zr  r^nr^ri  -invi 

2)  Jer.  SanhedriQ  X,  28a.   Ueber  die  Yerwirmng,  die  in  der 
Stelle  herrscht,  später. 


70 


bewaffniing,  ^^ie  man  die  heiligen  Bücher  liest,  ist  bei 
ihnen  nicht  statthaft. 

Aber  es  gab  auch  ,,Chizonim"  ganz  anderer  Art^ 
deren  Lectüre  das  Seelenheil  gefährdete  und  die  man 
darum  ganz  yerbot.  Es  waren  das  ketzerische  Bücher^ 
von  denen  man  Gefahr  in  der  Zeit  zu  fürchten  anfinge 
in  der  man  auch  gegen  das  Griechische  vorging.  Die 
Zeit  ist  aus  der  Fassung  des  Verbots  ersichtlich.  Die 
ältere  Bestimmung  i)  lautete:  „Folgende  haben  keinen 
Antheil  an  der  zukünftigen  Welt:  „Wer  da  sagt,  die 
Thora  lehre  nicht  die  Auferstehung,  wer  da  sagt,  die 
Thora  sei  nicht  göttlich,  und  ein  Anhänger  des  Epikur". 
Zu  dieser  alten  Bestimmung  traten  dann  die  Worte 
hinzu:  ,Jl.  Akiba  sagt:  Auch  wer  da  liest  in  den 
draussenstehenden  Büchern,  wer  eine  Wunde  bespricht^ 
über  sie  nämlich  den  Bibelvers  Ex.  15,  26  lispelt: 
Ich  will  keine  der  Krankheiten,  die  ich  Aegj^ten 
auferlegt,  dir  zuschicken,  denn  ich  der  Ewige  bin. 
dein  Arzt".  Abba  Saul  sagt :  „Auch  wer  den  Gottes-^ 
namen  nach  seinen  wirklichen  Buchstaben  ausspricht". 

Die  ..Sifi^e  Chizonim"  werden  dann 2)  ausdrücklich 


1)  ]n  cT^n  r"r^n  ]'X  -!2'i<n  ,Krn  cStS  phn  cnS  \'üz'  iSi<T 

'*n  'rri'C  -^z'i^  nbnnr^  b:  n^'X'i  rc^n  br  rmbm  :2':''^nn  c"^£cn 
-)    Die    Gemai-a    glossirt    zur   ]yjschnah    C^äC^  K"'i''pn  s^K 
D""2:nn  die  Worte  Cp'IÄn  'n£cr  X:n,  wofür  zu  lesen  ist  ^'ISDÄ 
C"'<-~,  ^vie  aus  Alfasi  zur  Stelle  zu  ersehen. 


71 


als  Bücher  der  Ketzer  erklärt  (dass  Sadducäer  für 
Minim  steht,  kann  Niemanden  irre  machen  und  die 
alten  Erklärer  haben  die  richtige  Lesart)  und  Alfasi 
gibt  den  richtigen  Grnnd  an:  „weil  sie  Thora,  Pro- 
pheten und  Hagiographen  nach  ihrem  Sinn  erklären 
und  nicht  nach  der  Auslegung  der  Weisen".  Wir 
sehen,  dass  erst  zur  Zeit  Akiba's  und  seiner  Lehrer 
(R  Josua,  E.  Elieser),  also  im  Anfange  des  zweiten 
christlichen  Jahrhunderts  auf  solche  Art  Yon  „Chizo- 
nini'*  reflectirt  und  von  ihnen  Gefahr  gefürchtet  wurde. 
Ebenso  ist  die  Yerpönung  von  Wunderheilungen,  wie 
sie  auch  von  dem  CollegenAkiba's,E.Ismael,  an  anderen 
Orten  1)  mit  rigorosester  Strenge  ausgesprochen  wird, 
für  jene  Zeit  charakteristisch  genug. 

Leider  aber  ist  eine  Verwirrung  in  die  Texte 
gekommen,  so  dass  der  unschuldige  und  sehr  beliebte 
Sirach  aus  der  Klasse  der  „harmlosen"  Chizonim  in 
die  Klasse  der  verketzerten  durch  Abschreibernach- 
lässigkeit gerathen  ist.  Wie  wenig  das  mit  den  That- 
sachen  stimmt,  darüber  kann  Einer  durch  das  Studium 
zweier  inhaltreichen  Seiten  in  Zunzen's  „Gottesdienst- 
liche Yorträge"  -)  sich  belehren.  Er  wird  sich  nicht 
blos  überzeugen,  dass   die  Talmudisten  eine  sehr  be- 


1)  Aboda  Sarah  27,  woselbst  E.  Ismael  seinem  durch  einen 
Schlangenbiss  in  Lebensgefahr  sich  befindenden  Schwestersobne 
das  Nacb suchen  einer  derartigen  Heilung  untersagt. 

2)  S.  100  ff. 


deutende  Zahl  von  Sii-achstellen  citiren  und  benutzen. 
sondern  dass  er  in  ihi^em  Geiste  noch  gar  nicht  so 
recht  aus  der  Canonicität  gedrängt  ist.  Sie  citiren 
ihn  bisweilen  mit  der  für  Schriftcitate  üblichen 
Formel  und  zählen  ihn  zu  den  Hagiographen. 

'Wir  wollen  versuchen,  die  TerwiiTung  zu  heben. 
Unverdorben  in  Bezug  auf  das  Buch  Sirach  ist  bis 
auf  die  leicht  erkennbare  Corruptel  „Sifre  ben  Sii'a" 
statt  „Sefer  ben  Sii^a"  die  Stelle  in  der  Tosephta 
Jadaim  ü.:  ,,Ketzerbücher  verunreinigen  nicht  die 
Hände  (sind  nicht  heilig),  die  Bücher  (richtiger 
das  Buch)  Sira  und  alle  Schriften,  die  von  da  ab 
geschrieben  sind,  veruni^einigen  nicht  die  Hände  (sind 
unkanonisch)  i).  Sirach  war  die  Gränze,  die  Bücher 
vor  ihm  und  die  unter  den  späteren,  die,  wie  z.  B. 
Daniel,  durch  Pseudonymität  als  vor  Sii'ach  geschrieben 
galten,  gehörten  zui'  heiligen  Litteratur.  Wie  passend 
ist  Sii'ach  als  Gränze  hingestellt!  Dieses  Buch  hat 
sich  ja  die  volle  Geltung  zu  verschaffen  gewusst, 
seiner  Canonisirung  stand  blos  die  späte  Zeit  seiner 
Entstehung  im  TTege.  "Wäre  irgend  ein  späteres  für 
wüi'dig  befunden  worden,  so  wäre  Sirach  sicher  mit 
hineingekommen.  Es  gab  aber  kein  späteres,  ich 
meine  ein  solches,  dessen  späterer  Ursprung  den 
ILischnahlehrern  bekannt  gewesen  und  dessen  Canoni- 


1)  (lies :  "£C)  '"£c  »c'Tn  TS*  j'i^n'^n  p-x  z'i'rin  -üc  C';rbjn 


siriing  sich  ihnen  durch  seinen  Werth  aufgedrängt 
hätte.  Jede  andere  Deutung  des  „von  da  ab  und 
weiter"  ist  erkünstelt.  Xun  ist  aber  in  den  jerusa- 
iemischen  Talmud  die  Corruptel  gekommen,  dass  als 
Beispiel  der  streng  verpönten  Bücher,  der  ketzerischen 
Chizonim,  in  erster  Linie  der  unschuldige  Sirach  auf- 
gestellt wirdi). 

Indess  ist  die  Corruptel  auch  schon  äusserlich 
zu  erkennen.  Der  Genauigkeit  Zunzen's  ist  es  nicht 
entgangen,  dass  an  unserer  Stelle  ,,die  Bücher  des 
ben  Sira"  steht,  während  sonst  im  jerusalemischen 
Talmud  immer  ganz  correct  gesagt  wird:  „Buch  des 
ben  Sira"  2)  Aber  da  es  nicht  zu  seinem  Gegenstande 
gehört,  verfolgt  er  denWink  nicht  weiter.  Ebenso  schreibt 
der  babylonische  Talmud  an  den  zahlreichen  Stellen,  wo 
Sirach  citirt  wird,  immer  „Buch  des  ben  Sira",  wenn 
es  nicht  einfach  heisst:    „Bar  Sira"   oder  „ben   Sira" 


1)  Jer.  Scinliedrin  X.  S.  28a:  cnecs  ^-^'(^n  ?lK  "lö'.i?  Xrpi?  n 

n^-".SD  b2^  CTan  nao  bnx  n;i?b  p  nsci  k^'d  p  nao  ji:r  c'r::nn 

2)  J.  Berachoth  c.  7  S.  11  col.  2  cith-t  Simon  ben  Schetacli  dem 
Jannaiden  Sirach  mitdenAVorten:  "iIT  .T'l^cbc  2'r:  i<"i"C  p"  J?^S"C2. 
Dieselbe  Stelle  jer.  Nasir  c.  5  S.  54  2.  Ebenso  Genesis  Eabbah  c.  9 1 . 
überall  correct.  Interessant  ist  auch,  dass  die  Mittheilung 
eines  Citats  ans  Sirach  wie  die  Mittheilung  einer  Tradition  ein- 
geführt wird.  Jer.  Chagiga  cap.  2  S.  77  3  wird  die  Sentenz  aus 
Sirach:  n'iimnit'  nx22  ,-npnn  n»  bixtrö  rip^^i'  ,i:nn  n^  yiri  nK"'?£ 
m-inc:^  pCl?  ^b  j^X  ,p2nX  mit  den  Worten  angeführt  ^Ti:b  '1 
KTD  nn  m'Z    AYiederholt  ist  die  Stelle  Genesis  Rabbah  c.  8. 


74 


sagti).  Wir  zweifeln  nickt,  class  an  unserer  Stelle 
ein  anderes  Wort  gestanden  hat,  etwa  „Sifre  ben  Satda" 
(i^lÜD  p  ''^IsiD),  ,,christltche  Bücher",  schon  weil  es 
„Bücher'  des  ben  Sira  gar  nicht  gab,  wie  es  ja  auch 
möglich  ist,  dass  nnter  dem  Buche  des  „ben  Tiglah 
oder  ben  Laanah"  sich  ein  Apokalvptiker  verbirgt^ 
wozu  ja  der  Käme  ben  Tiglah  passt,  und  auch  ben 
Laanah  passen  würde,  wenn  in  dieser  Apokalypse  wie 
in  der  kanonischen  der  "Wermuth  eine  Rolle  gespielt 
haben  sollte.  Dass  man  auf  ben  Sira  kam,  war  dann 
natüiiich,  da  ben  Sira  in  dieser  Gesetzesbestimmung  ja 
eine  Rolle  spielt,  nämlich  als  Gränzbuch  für  die 
kanonischen  Schriften.  Die  Stelle  ist  meines  Erachtens 
so  zu  fassen : 

R.  Akiba  sagt:  (Es  büsst  seinen  Antheil  an  der 
zukünftigen  Welt  ein)  „Auch  wer  in  draussenstehenden 
Büchern  liest,  wie  die  Bücher  des  ben  Satda  und  ben 
Laanah.     Aber  das  Buch  Sirach  und  alle  Bücher,  die 


1)  B.  Tahnud   baba  bathra    98b:    brn  Xn^C  Ji  -i£C2  mD 

rJi'vT^  CT^2  "12T  r-^-^  ni'Xü  bp^  ,n"i',x  C';:x2  nn'.x  jrn^  bp^  rfin 
nöb^i  h  X'n  nb'x  r^r^  ctl22  nrn  rrö  m"^  ^bz'fi)  ^fii^:z\  Ebenso 

Xidda  16b,  woselbst  es  lieisst:  XTC  p  "^.ECi  rTi-lb  n'b  'VZ^ 
Ebenso  Sanhedrin  100b.  Ebenso  Jebamoth  S.  63b:  -i£C2  2TD 
'•,ri  nrx  X^-C  p»    Ebenso  Kethubotli  110b. 

In  ]yjdrascliEabbah  sind  überaus  häufig  die  Citate  mit  bar  Sira 
sagt  eingeführt :  Gen  Eabbdi  cap.  8,  ferner  cap.  10,  ferner  cap.  73. 
Levit.  Eabbali  cap.  33  u.  a.     a.  0. 


75 


von  da  ab  und  weiter  geschrieben  worden,  wie  die 
Sifre  Hemeros  (Tagebücher)  —  wer  in  ihnen  liest,  von 
dem  ist  es,  als  ob  er  in  einem  Briefe  läse"  i). 

Die  spätere  Terwirrnng  wurde  vielleicht  auch 
durch  den  Umstand  erleichtert,  dass  die  aramäische 
Uebersetzung  des  Sirach  entstellende,  des  ächten 
"Werkes  unwürdige  Zusätze  enthielt,  so  dass  der  be- 
kannte Amora  E.  Joseph  (Anfang  des  4.  Jahrhunderts) 
zu  dem  Werke  sich  nicht  mehr  ganz  zu  stellen 
weiss.  Einmal  verbietet  er  es  zu  lesen,  dann  be- 
hauptet er  wiederum:  „Die  guten  Sachen  darin  dürfe 
man  auslegen",  was  eigentlich  so  viel  heisst,  wie  man 
dürfe   diese  Stellen  wie   hagiographische  behandeln  2). 

Thatsächlich  aber  hat  auch  das  Mittelalter  sich 
nicht  beirren  lassen  durch  das  scheinbar  widerspruchs- 


1)  Ich  würde  also  die  Stelle  in  jer.  Sanli.  X.  S.  28a  so 
schreiben :  p  n£c  ji;3  D^;',2inn  cneDi  i<-\^p:^  ^K  n^iK  i^rpi;  n 
"I  'm  \ü2f2  linr:^'  a-nscn  b^i  ^^td  p  nee  bns*  n:vb  p  nsci  ktiSD 
r-iJXn  ^^^p2  pn  ^l^pri  DT^H  ns:c  pa  Die  Sifre  Hemeros  sind 
natürlich  nicht  Homer,  sondern,  wie  Graetz  gut  gezeigt  hat,  Tage- 
bücher (Monatsschrift,    Erankel-Graetz  1870  S.  180  ff.) 

2)  Sanhedrin  100b.  fügt  E.  Joseph  zu  dem  Akiba'schen  Satze, 
man  solle  nicht  in  Chizonim  lesen,  hinzu:  Auch  nicht  im  Buche 
des  ben  Sira.  Die  Gemara  fnägt  aber  warum,  citirt  Stellen,  die 
vielleicht  der  Giiind  sein  könnten,  findet  sie  aber  nicht  darnach 
angethan,  um  ein  Verbot  zu  rechtfertigen.  Darunter  werden  auch 
seltsame  angeführt,  die  in  unserem  Sirach  nicht  vorkommen. 
Endlich  sagt  E.  Joseph  selbst:  irh  M'^mi  .TD  n^xn  'Kn^^buö  ^h'f2 
und  macht  sich  gleich  an's  Werk. 


ib 

volle  Verhalten  der  TalmucUehrer  zum  Sirach,  sondern 
die  wahre  Meinung  desselben  gut  erkannt.  Eitba 
(Jörn  Tob  ben  Abraham  Ischbili,  erste  Hälfte  des 
14.  Jahrhunderts)  schreibt:  ,^s  ist  geschrieben  im 
Buche  Sirach",  sagt  der  Talmud  (ihn  so  mit  Achtung 
citirend).  Dem  steht  nicht  entgegen,  dass  er  ihn  in 
Sanhedrin  zu  den  Chizonim  rechnet.  Denn  die  Lehrer 
hatten  nur  verboten,  aus  ihm  ein  ständiges  Studium 
zu  machen  (nach  Art,  meint  er,  wie  die  biblischen 
Bücher  studirt  werden  sollen),  aber  dennoch  ist  er 
würdig;  dass  man  zeitweise  in  ihm  liest,  um  aus 
ihm  Weisheit  und  Zucht  zu  lernen,  was  bei  wirk- 
lichen Ketzerbüchern  nicht  statthaft  isti)". 


ij  Eitbah  angefühi't  im  En-Jacob  zu  baba  bathra  98b :  -T- 
Kbr  ]yvf2V  c':'!:n  c-isc  j'-^nn;c2  rri^-^pz'  sts",  "s  ktc  r  ^:2C2 
nini'r  ^r  n',:nb  ^^xi  ö'«  brx  rrp  ';s2ö  r.'Z'vb  ^^  k^k  dü?  ncN 


EXCURS  I. 


a.  Aristobul. 


a.  Aristobul, 


Aus  dem  Eingang  zum  2.  Makkabäerbuche  (1,  10) 
erfahren  wir,  dass  zur  Zeit  eines  Ptolemäers  ein  Jude, 
Namens  Aristobul,  aus  dem  Geschlechte  der  gesalbten 
Priester,  in  hohem  Ansehen  stand  und  Lehrer  des 
Königs  Ptolemäus  genannt  wurde.  Welcher  Ptolemäer 
das  war,  hängt  mit  der  Frage  zusammen,  ob  die  im 
Texte  stehende  Zahl  188  der  seleucidischen  Aera 
richtig  ist,  oder  ob  sie  in  148  geändert  werden  soll. 
Auf  diese  Frage  lassen  Avir  uns  hier,  weil  sie  zu 
unserer  Untersuchung  nichts  beiträgt,  nicht  ein.  Ob 
er  unter  Ptolemäus  Philometor  gelebt  hat,  wie  die 
Meisten  wollen,  oder  erst  unter  Physkon,  so  dass  die 
Zahl  188  a.  s.  =  124  v.  Chr.  richtig  ist,  kann  uns 
hier  gleichgiltig  sein.  In  jedem  Falle  ist  länger 
als  300  Jahr  von  Aristobul  nirgends  weiter  die  Eede. 
Es  schweigen  über  ihn  Philo  und  Josephus,  es  schwei- 
gen die  Kirchenväter  bis  zum  Ende  des  zweiten 
christhchen  Jahrhunderts.  Da  taucht  sein  Name  und 
die  Nachricht,  dass  er  eine  Dedicationsschrift  an  Philo- 


80 


metor  geschrieben,  in  den  „Teppichen"  (Stromata) 
des  Alexandriners  Clemens  (gest.  vor  217  n.  Chr.)  auf. 
Tier  Stellen  des  Clemens  thun  des  Aristobnl 
Erwähnung.  Das  erste  ]\IaU)  wird  sein  Xame 
nur  flüchtig  unter  denen  genannt,  welche  die 
jüdische  Philosophie  für  älter  als  die  griechische  er- 
klären. Das  zweite  Mal  2)  citirt  Clemens  das  erste 
Buch  der  Dedicationsschrift  des  Aristobul  an  Philo- 
metor,  worin  Aristobul  die  Behauptung,  dass  Plato  die 
jüdische  Gesetzgebung  kannte,  mit  der  Angabe  stützt, 
dass  schon  vor  Demetrius,  '  vor  der  Herrschaft  des 
Alexander  und  dem  Sturze  der  Perser,  Theile  der 
Bibel  übersetzt  worden  seien.     Das   dritte  Mal  3)  wird 


1)  Clemens,  ström.  B.  I.  S.  305.  (Ich  citire  die  Seitenzahl 
nach  der  mir  gerade  zugänglichen  Sylburg'schen  Ausgabe.)  Nach 
der  Angabe  des  Clemens,  dass  der  Pythagoräer  Philo  das  höhere 
Alter  der  jüdischen  Weisheit  umfänglich  dargethan,  folgen  die 
'SVorte:  oh  {iT|V  aKkä  xai  'ApicxoßoüXof:  o  Uto'.-xxriZ'.v.b^  xai  aXXo 
TtXsioug,  Iva  \i.ri  xax'  ovop.a  ItwIwv  oiatpißcu. 

2)  Clemens,  ibid.  B.  I.  S.  342:  'Ap-.TioßoüXog  os  Iv  xCb  t.oiu-iü 
■zG)  Tzobc,  oiv  <E>i/.o|JiY,-opa,  xaxa  Xsl'.v  'fp^'f '•'     Katr|V.oXoD9'rf/.£  5s  v.at 

b  nXccTcüv  Tv;   xaO-*  -r-jjiäs  votioO-soia* ois'.piiTjVöüxai  os  r^pb 

A7j|irjXpioD  ucp'  exepoo,  izpb  ttjs  'AXe|av8poo  v.at  Ilspawv  IxxpatrpsüiS 
xd  xs  xaxa  xtjv  hi  AIyottcou  l^ay^YV  '^'^'^  '^Eßpat'cDV  xuiv  tjiisxspcov 
TwoX'.Xüiv,  xat  4]  xüiv  Y^T^'^^'^"*''  aTüdvxiov  aüxols  Ijxicpdvsia  xai  xpdxTjoig 
XY,5  xtupas  xal  XY]g  oXyjs  vojioO^soiac  s-s^YjrjC'.g. 

1)  Ibid.  B.  Y,  S.  595.  'AptsxoßoDAO)  os  xw  y.axd  IlxoXeiiarov 
YSYOvoxi  xöv  cpiXdSsXcpov  ob  [isjJLVTjxai  6  ouvxa4d|JL£vo<;  X7]v  xuiv  Max- 
y.aßa'y.u>v  l7;ixofX7iv,  ßißXia  ^s.-^ovha.i  (Yalkenaer,  diatribe  S.  30 
schreibt  dafür  TiSTiovr^xat)  Ixavd,   tC  d>v  är.oosixvD-:  xyjv  ueptTiaxrj- 


81 


wunderlicher  "Weise  Aristobul  unter  Philadelphus  gesetzt 
und  als  Autor  vieler  Bücher  hingestellt,  in  denen  die 
Behauptung  enthalten  sei,  dass  die  Peripatetiker  ihre 
Lehren  aus  Moses  und  den  Propheten  entnommen. 
Das  vierte  Mali)  ^j-d  eine  allegorische  Erklärung 
über  das  Herabsteigen  Gottes  auf  den  Sinai  auf 
Aristobul  zurückgeführt. 

Ob  diese  vier  Citate  wirklich  alle  dem  Clemens 
ursprünglich  angehören,  odei*  erst  später  hineinge- 
schoben worden,  ist  selbst  Valkenaer  zweifelhaft.  Er 
natürlich,  dem  es  vor  allem  um  den  Nachweis  der 
Echtheit  der  Aristobulea  zu  thun  ist,  hält  die  ihm  passenden 
Citate  für  echt,  das  störende  dagegen,  in  dem  sich  ein 
schimpflicher  Irrthum  über  die  Zeit  des  Aristobul 
findet,  für  interpolirt.  (Yalkenaer,  diatribe  de  Aristo- 
bulo  Judaeo,  S;  29  ff.)  Solche  Irrthümer  sind  zwar 
im  zweiten  Jahrhundert  n.  Chr.  nicht  so  merkwürdig, 
wie  in  anderen  Jahrhunderten.  Man  erinnere  sich  an 
die  IS'otiz  bei  Justin  2) :  ,,Als  aber  Ptolemäus,  König  der 


xixYjv    cfiXoGocpiav    Ix    xs    zoh    y.azä   Mcooea    "^oiioo  xat  tcuv    «XXüdv 
♦rjpxYja^ac  TipofYjXüiv. 

1)  Ibid.  B.  YI,  S.  632  ttXtjV  etopaOTj  xo  Trup,  wg  (pYjow  'Aptoxo- 
ßouXog,  Tcavxoc  xoö  rd/f^d-ooc,  {JLüp'.docov  oo-a  eXacoov  exaxov,  /'"P^S 
xÄv  ftcpTQXixcuv  sxxXYjGcaCovxcuv  xuxXw  xoö  opooq. 

2)  Justin,  1.  Apol.  c.  31.  oz&  5e  IIxoXsiJLaloc  6  AlyoTcx^cov 
ßaoiXsDS  ßißXcoB-TjXTjv  xaxsGxsüaCs  xai  xa  udcvxcuv  öcvO-pcÜTTcov  oov- 
Ypd|i[xaxa  oovdYStv  Insipd^Y],  uoO-oiievos  xat  Ttspl  xcov  npocpvjxetoüv 
xoüXüiv,  npoqiTZBli^s  xw  tcüv  louSaituv  xoxe  ß  aoiXsuovxi  'HpcuST], 

6 


!>'A 


Aegyptier,  eine  Bibliothek  anlegte  und  die  Schriften  von 
aller  TTelt  ziisanimenzubringen  versnchte,  da  schickte  er, 
nachdem  ihm  etwas  über  diese Prophetien  (die  jüdischen) 
bekannt  geworden,  zu  dem  damaligen  Beherrscher  der 
Juden  Herodes"  (!).  Indess  Yalkenaer  traut  Clemens 
nicht  zu,  was  Justin  ohne  Frage  zuzutrauen  ist. 

Andererseits  hat  Clemens  in  seiner  „Ermahnung 
an  die  Heiden'',  namentlich  aber  in  seinen  „Teppichen" 
nicht  blos  die  später  von  Eusebius  aus  den  Aristobuleis 
mitgetheilten  Orphischen  Terse,  auf  die  wir  noch  zurück- 
konmien,  die  Yerse  aus  dem  Arat  und  die  Terse  über  die 
Siebenzahl  aus  Hesiod,  Homer,  Kallimachos  (Lines), 
ohne  ent^yeder  eine  Ahnung  zu  haben  oder  doch 
wenigstens  ohne  zu  sagen,  dass  sie  der  Aristobulischen 
Schrift  entnommen  sind^),  sondern  auch  viele  ent- 
weder wörtüch  oder  doch  der  Hauptsache  nach  mit 
den  später  auftauchenden  Aiistobuleis  übereinstimmende 
prosaische  Stellen,  ohne  anzudeuten,  dass  er  sie  dem 
Aristobul  verdanke-). 

Erst  bei  Eusebius  treten  grosse  Stücke  als  Aristo- 
bulea  auf,  sowohl  das  berufenste  Stück,  von  welchem 
das  Orphische  Gedicht,  die  Stelle  aus  dem  Aivit  und 
die  Terse  aus  Hesiod,  Homer,  Lines  einen  Theil  bildet, 
als  auch  andere  Stücke.     (Eusebius,  praeparatio  evan- 


1)  Clemens,  cohortatio  ad  gentes  S.  48  (c.  YII,  pag.  63).  - 
Str.  Buch  Y.  s!  607  fe.  (S.  723).     Ibid.  S.  600.     Ibid.  S.  597. 

2)  Yalkenaer  S.  89,  S.  11  u.  a.  a.  0. 


83 


gelica  XIII,  11,  12;  YII.  13,  14:  YIIL  9,  10;  IX  6; 
Eusebius,  bist.  eccl.  YII.  32.) 

Sind  diese  Stellen  echt? 

Wie  bekannt,  bat  Eicbard  Simon  i)  ihre  Unechtheit 
behauptet,  Hody  2)  nnd  nach  ihm  Eichhorn  3)  bewiesen, 
Yalkenaer  ^)  dagegen  die  Hody'schen  Beweise  wenigstens 
in  der  Meinung  der  meisten  Gelehrten  entla^äftet. 
Thatsächlich  hat  Hody  der  Sache  nicht  soviel  Auf- 
merksamkeit geschenkt,  wie  dem  Aristeasbuche  und 
daher  den  Beweis  für  die  Unechtheit  der  Aristobulea 
nicht  ebenso  stringent  geführt.  Es  sind  Yerdachts- 
gründe  von  schwererem  Gewichte  da,  als  Hody  aus- 
spricht, und  ich  freute  mich,  als  ich  sie  fand,  einen 
Theil  derselben  bereits  von  keinem  Geringeren  als 
Lobeck  5)  ausgesprochen  zu  sehen. 

Aber  ich  finde  nicht,  dass  sie  selbst  von  einem  so 
bedeutenden  Manne  wie  Zeller  *^)  genügend  gewürdigt 
worden  sind,  und  auch  Graetz,  obwohl  er  gerade  die 


1)  Eichard  Simon,  liistoire  critique  du  t.  s.  liv.  2  c.  2. 

2)  Hodius,  de  bibliornm  textibus  originalibus  I.  c.  IX. 

3)  Eichliom,  Allgemeine  Bibliothek  der  biblischen  Literatur, 
0  Band,  S.  253  ff. 

^)  Valkenaer   in    seiner    berühmten    diatribe    de    Aristobulo 
Judaeo. 

5)  Lobeck,  Aglaophamus,  tom.  prim.  S.  439  ff. 

6)  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen.     3.  Theil,  1.  Ab- 
theiluDg  (2.  Auflage)  S.  219  Note  2. 

6=*= 


84 


Unechtheit  der  Aristobulea  darthuii  will^),  lässt  sich 
die  einzige  lEöglichkeit,  auch  Andere  von  seiner 
3Ieinung  zu  überzeugen,  dadurch  entgehen,  dass  er, 
wie  ich  zeigen  werde,  den  Lobeck'schen  ^eg  ver- 
las st  und  die  Textrerschiedenheiten  des  Orphischen 
Gedichts  bei  den  Kirchenvätern  nicht  ordentlich  er- 
wogen hat. 

Was  ich  zeigen  will,  ist  einmal,  dass  Talkenaer 
es  sich  schon  mit  den  Hody'schen  Beweisen  zu  leicht 
gemacht,  dann  dass  zu  den  mehr  äusserlichen  Hody'schen 
Argumenten  die  innere  Beschaffenheit  der  Fragmente 
hinzukommt,  um  für  die  Unechtheit  zu  plaidiren. 

Hody's  Verdacht  wurde  zunächst  dadurch  rege, 
dass  uli'istobul  sich  wie  ein  ge^viegter  Ai'isteasleser 
ausnimmt,  wenn  er  die  Thatsache,  dass  der  Phalereer 
Demetrius  die  Uebersetzung  der  LXX  betrieben,  als 
aller  TTelt  bekannt  voraussetzt  ■•^).  Indess  so  wahr- 
scheinlich es  auch  ist,  dass  Demetrius  überhaupt  nichts 
mit  der  Uebersetzung  zu  thun  gehabt  habe,  da  der 
Beweis  dafür  nicht  unerschütterhch  ist,  so  ist  auch  doch 
der  sich  daraus  herleitende  Terdachtsgrund  nicht  uner- 
schütterlich. 

Schwerer  dagegen  als  Talkenaer  zugiebt  und  als 
Hody  es  klar  macht,  wiegt  das  Schweigen  über  Aiisto- 


1)  Graetz.  Monatsschrift,  Febr.  78.  S.  55. 

2)  Hody,  1.  1.  Bei  Clemens  steht  blos  Demetrius,    bei  Euse- 
bius  noch  der  Zusatz  der  Phalereer. 


85 


biil  bis  in  die  Tage  des  Clemens  hinein.  Yalkenaer 
thiit,  als  ob  das  ein  einfaches  und  oft  ja  nichts  be- 
weisendes argumentum  a  silentio  wäre  ^}.  Aber  das 
Schweigen  des  Josephus  unter  den  Juden  und 
des  Justin  unter  den  Kirchenvätern  hat  durch  die 
Umstände,  wie  wir  zeigen  werden,  eine  grössere 
Bedeutung.  Talkenaer  citirt  beifällig  den  bekannten 
Gegner  Hody's,  Isaac  Yossius,  welcher  meint:  ,JIatte 
denn  Josephus  IJrsache,  in  seinem  Geschichtswerke  des 
Aristobul  Erwähnung  zuthun2)?-'  Aber  sollte  Yalke- 
naer vergessen  haben,  dass  Josephus  nicht  blos  eine 
Geschichte  geschrieben,  sondern  auch  ein  Buch,  das 
den  Titel  führt  ^spl  ap/aiör/j-cog  looSaicov  xaia  'Atilcovo;, 
dass  das  Thema  dieses  Buches  ist,  das  von  juden- 
feindlicher Seite  bestrittene  hohe  Alter  der  Juden  aus 
Zeugnissen  fremder  Autoren  darzuthun,  dass  er  darin 
das  Schweigen  der  alten  Griechen  über  die  Juden  zum 
Theil  mit  der  verhältnissmässig  späten  Schriftstellerei  der 
Griechen,  zum  Theil  mit  anderen  Gründen  3)  entschuldigt, 
dass  er  aber  dann  in  einem  grossen  CapiteH)  alle  älteren 


1)  Diatribe  S.  23.  Man  wird  ein  wenig  Sophistik  bei  Yalke- 
naer nicht  vermissen. 

-)  Ibid.  Docte  sie  Is.  Yossius  ad  istud  Hodii  ti'ibus   verbis 

respondit Ecqua   est    causa  (das    sind    die    drei  Worte) 

quamobrem  hujus  operis  (sc.  AiistobuH)  in  historia  meminisse 
debuerit  (sc.  Josephus). 

3)  Jos.  contra  Apioneni  I.  c.  XII.  enthält  die  anderen  Gründe. 

4)  Ibid.  I.,  cap.  XXII. 


86 


griechischen  Autoren  aufzählt,  die  eine  Bekanntschaft 
mit  den  Juden  verrathen,  den  Pythagoras,  Hermippus, 
Theophrast,  Herodot,  Chörilus,  Klearch,  Aristoteles, 
Hecatäus  von  Abdera,  Agatharchides  i).  Und  nun  soll, 
länger  als  200  Jahre  vor  dieser  Joseph'schen  Schrift, 
ein  berühmter  Jude  ein  Werk  hinterlassen  haben, 
welches  Orpliika,  Homerika  u.  s.  w.  enthält,  die  auf 
Abraham  und  Moses  hindeuten,  ohne  dass  Josephus 
irgendwie  dazu  Stellung  nimmt?  Man  könnte  ant- 
worten, dass  Josephus  doch  zu  kritisch  gewesen,  um 
sich  von  diesen  Orphicis  düpiren  zu  lassen,  Avenn  er 
auch  dem  Aristeasbuche  gegenüber  ziemlich  kiitiklos 
verfährt.  Denn  in  der  That  zeigt  er  in  der  Schrift 
gegen  Apion  ein  viel  gesünderes  kritisches  Urtheil 
als  sonst,  wie  das  seine  später  so  einflussreich  ge- 
wordenen Ansichten  über  Homer  und  über  das  Alter 
der  griechischen  Literatur,  die  er  in  dieser  Schrift 
niederlegt-)  beweisen.  Aber  hätte  er,  wenn  die 
Aristobulea  ihm  vorgelegen,  nicht  mindestens  wohl- 
gefällig gesagt:  Er  könnte  zwar  noch  andere  Beweise 
für  das  hohe  Alterthum  und  die  Bedeutung  der  Juden 
aus  Orpheus,  Hesiod  u.  s.  w.  anführen,  wenn  er  es 
nicht  verschmähte,  aus  unglaubwürdigen  und  ge- 
fälschten Stücken  zu  beweisen  ? 


1)  Ich  habe  die  Autoren  nicht  nach  ihrer  Lebenszeit,  sondern 
wie  sie  beim  Josephus  nach  einander  behandelt  werden,  citirt. 
^)  Jos.  contra  Ap.  I.  c.  9. 


87 


Schlimmer  noch  steht  es  um  das  Schweigen  des 
Justin  über  AristobiiL  Hier  aber  greifen  innere  und 
äussere  Yerdachtsgründe  so  ineinander,  dass  ich  sie 
auch  gar  nicht  trenne.  Als  ich  zum  ersten  Male  im 
Justin  das  Orphische  Gedicht  las  in  einer  charak- 
teristisch anderen  Fassung  als  bei  Clemens  und  vollends 
als  bei  Eusebius,  als  ich  dann  sah,  dass  auch  die 
Justinische  Fassung  schon  entweder  eine  jüdische 
oder  christliche  sei,  dass  man  also  nothwendig  drei 
Fälscher  annehmen  müsse,  von  denen  Aristobul,  wenn 
er  wirklich  etwas  geleistet  haben  sollte,  schon  der 
dritte  gewesen  sein  müsste,  als  ich  endlich  gar  wahr- 
nahm, dass  ein  Theil  der  Abweichungen  des  Eusebius 
nur  versificirt  enthält,  was  Justin  und  seine  Zeit  im 
eigenen  Xamen  vorgetragen,  aber  noch  nicht  in  das 
Gedicht  hineinzuschreiben  gewagt  hatte,  da  ging  mir 
über  die  Aristobulea  ein  Licht  auf.  Doch  will  ich 
nicht  vorwegnehmen,  was  hier  noch  nicht  gewöi'digt 
werden  kann,  vielmehr  ordnungsmässig  vorgehen. 

Wie  bekannt,  war  die  „Xeuheif'  des  Christen- 
thums  ein  oft  wiederholter  heidnischer  Vorwurf,  den 
man  allmälig  dadurch  zu  entkräften  suchte,  dass 
man,  wenn  ich  so  sagen  darf,  den  Spiess  umdrehte. 
Man  zeigte,  indem  man  das  Christenthum  als  die 
eigentliche  Erfüllung  des  Judenthums  hinstellte,  dass 
dieses  vielmehr  die  Quelle  auch  der  griechischen 
Weisheit    sei.      Es    ist    wahr,    dass    schüchterne  Be- 


88 


hauptungen  der  Ait,  vrie  schon  Zeller  i)  gezeigt  hat, 
auch  bei  Philo  sich  finden.  Aber  weder  beschäftigt 
ihn  die  Sorge,  wie  sich  das  historisch  gemacht  haben 
soll,  noch  haben  die  wenigen  Aeusserungen  nach 
dieser  Richtimg  soll  ich  sagen  die  verblüfi'ende  Dreistig- 
keit oder  die  naive  Leichtgläubigkeit  des  zweiten 
Jahrhunderts. 

Für  dieses  war  es  ein  stehendes  Thema,  und 
gleich  beim  ältesten  uns  bekannten  Yertreter  dieser 
Ansicht  unter  den  Kirchenvätern,  dem  Märtyrer  Justin, 
tritt  die  Behauptung,  die  Griechen  seien  von  der  alt- 
hebräischen Literatur  abhängig,  in  einer  Masslosigkeit 
auf,  die  nicht  mehr  überti^offen  werden  kann.  Justin 
kannte,  wie  man  weiss,  den  Aiistobul  noch  nicht, 
nicht  blos  weil  er  ihn  überhaupt  nicht  citirt,  sondern 
weil  er  das  Orphische  Gedicht  statt  in  der  Aristo- 
buleischen  Fassung,  die  alles  bestätigt  hätte,  was  er 
behauptet,  in  einer  nüchterneren  Fassung  hat,  die  ihm 
nur  wenig  einträgt. 

Sagt  Justin  weniger  als  wir  dann  später  bei 
Eusebius  in  den  Aristobuleis  lesen? 

Hören  wir  seine  Aeusserungen: 

In    der  L   Apologie   c.  44    heisst    es  2):     „Wenn 


1)  ZeUer,  1.  1.  S.  300. 

2)  lue  "CS  v,rxl  nXaxüiv  siTCüJV*  ahta  sXojJivou,  ■9-sös  5'    ca^ixioc,, 


89 


daher  Plato  sagt:  „Die  Schuld  liegt  am  Wählenden, 
Gott  ist  ohne  Schuld",  so  hat  er  diesen  Satz  dem 
Propheten  Moses  entnommen.  Denn  älter  ist  Moses 
als  alle  Schriftsteller  der  Griechen.  Und  alles,  was 
über  Unsterblichkeit  der  Seele,  oder  über  die  Strafen 
nach  dem  Tode,  oder  über  die  Schau  der  himmlischen 
Dinge  und  ähnliche  Sätze  Philosophen  und  Dichter 
sagen,  das  konnten  sie  erst  einsehen  und  auseinander- 
setzen, nachdem  sie  die  Anregung  dazu  von  den 
Propheten  bekommen  hatten". 

Aber  Justin  begnügt  sich  nicht  mit  dieser  noch 
etwas  allgemein  gehaltenen  Behauptung,  er  geht  so 
weit,  den  Moses  ganz  direct  im  Plato  citirt  zu  finden. 

Cohortatio  ad  Graecos  c.  25  sagt  er^):  „Plato 
hat  wörtlich  so  geschrieben:    „Gott,  wie  ja  auch  das 


y,cd  TzavTüJv  'ccüv  sv  "EXkrpt.  Q'r(^(p<x'^ioi'j  y.al  Tiavxa  oaa  Tispi  öcO-ava- 
ocas  'f'-»"/,*^?  ^  TO}JLcopiü>v  [xsxa  ^avaxov  -q  ■9-scupias  oupavtcuv  t]  xwv 
6[iG;a)V  5oY[Jiaxü)v  xai  (pcXoao'foi  y.at  Tzo'.r^rrxi  l'cpa^av,  Tiapa  xwv  r.po- 
(T/T^zihv  xäq  acpopfxas  Xaßovxsi^,  y.at  voYj-ac  SsSuvYj^/xa:  xal  I^YjYTjoavxo. 
1)  ....  6  nXdxwv,  abzrxlc,  Xl^s^^tv  oüxw  y^TP^T^'''  °  l^^'^  ^^ 
■^•so^,  ojzTzsp  y.a.i  b  uaXacö^  ^^oyo  g  (/^PX^i"^  '^'^^  xsXsuxtjv 
xat  [isoa  xÄv  uavxcuv  ej^tuv.  evxaüO-a  ö  IlXaxcov  oa'fcü^  xal 
cpavspÄ^  xöv  uaXaiov  Xoyov  Mtoaecog  övo[JiaCo|X£vov,  xoö  |jl£V 
ov6p.axoi;  Mcuoso)?  cpoßoj  xoö  xcovscoü  [xsp-vYjaO-at  SsScoj?.  •rjucoxaxo  y«P 
x*}]v  xoö  avSpog  5i5acJxaX[av  e)(^pav  '^EXXtjvcuv  oüaav  Sca  Ss  xyiiJ 
xoö  XoYOü  7iaXa'.6xY]xos  xov  Mtuasa  aY]|j.atv£i  aacpcüg.  Denselben 
Pragmatismus,  dass  Plato  nur  aus  Pui'cht  Moses  niclit  nament- 
lich genannt  habe,  hat  Justin  auch  sonst  und  noch  bestimmter. 
Siehe  cohort.  ad  gentes  ein  Paar  Seiten  vor  unserer  Stelle. 


90 


alte  AVort  sagt,  enthält  Anfang.  Ende  nnd  Mitte  aller 
Dinge".  Hier  nennt  Plato  klar  und  deutlich  das  „alte 
Wort",  nämlich  des  Moses,  nur  dass  er  aus  Furcht 
vor  dem  Schierling  den  Xamen  des  Moses  nicht  aus- 
spricht, wissend,  dass  die  Lehre  dieses  Mannes  den 
Griechen  verhasst  sei.  Aber  durch  das  ..Alter  des 
Portes"  bezeichnet  er  ja  deutlich  den  Moses".  Hier 
fühlen  Tvir  schon  ganz  den  Athem  einer  nicht  blo& 
leichtgläubigen,  sondern  auch  Geschichte  machenden 
Zeit,  die  nicht  blos  Unerwiesenes  behauptet,  sondern 
auch  gleich  bereit  ist.  einen  künstlichen  Pragmatismus 
herzustellen.  Ist  es  nun  nicht  interessant  wahrzu- 
nehmen, wie  das  Orphische  Gedicht  bei  Justin,  dessen 
TTortlaut  wir  noch  mittheilen  werden,  noch  nichts 
vom  ..alten  TVorf  weiss,  dagegen  bei  Eusebius  um 
dieses  ..alte  Wort"  bereichert  aufüitt,  gerade  als  hätte 
man  nach  den  Tagen  Justin 's  sich  gesagt,  warum  denn 
nur  Plato  den  3Ioses  citiren  solle  und  warum  nicht 
auch  Orpheus?  Ja  dieses  ..alte  "Wort"  kommt  zwei 
Mal  in  dem  Orpliicum  bei  Eusebius  vor,  Y.  9  und 
T.  36.  und  das  zweite  Mal  gerade  nach  einer  Stelle,  die 
der  platonischen  bei  Justin  angeführten  vollständig  ent- 
spricht. Doch  lassen  wir  jetzt  die  Stelle  folgen,  welche 
die  Justin'sche  Fassung  des  Orphischen  Gedichts  ent- 
hält, um  daran  zu  ermessen,  wann  die  Aristobuleische 
Gestaltung  entstanden  ist. 


91. 


Cohort.  ad  geutes  cap.  15  heisst  es^):  .,Denn 
ich  meine,  dass  es  Einigen  von  Euch  nicht  unbekannt 
sein  wird,  denen  nämlich,  die  sich  mit  Diodor  und 
den  übrigen  diese  Dinge  behandelnden  Geschichts- 
schreibern beschäftigt  haben,  dass  Orpheus,  Homer, 
der  Gesetzgeber  der  Athener  Selon,  Pythagoras,  Plato 
und  noch  manche  Andere  in  Aegypten  gewesen  seien, 
und,  nachdem  sie  aus  den  Mosaischen  Schriften 
Förderung  erfahren,  später  das  Gegen theil  von  dem 
gelehrt,  was  sie  früher  Unschönes  über  die  Götter 
vorgebracht.  Ich  halte  es  für  nothwendig,  Euch  aus- 
einanderzusetzen, w^as  Orpheus,  den  man  beinahe  als 
ersten  Lehrer  eurer  Vielgötterei  bezeichnen  kann,  später 
seinem  Sohne  Musäus  und  seinen  übrigen  ächten  Schülern 
über  den  einen  und  einzigen  Gott  vorgetragen".  Und 
nun  lässt  Justinus  jenes  vielbesprochene  Orphische 
Gedicht  folgen,  das  ich  hier  griechisch  und  deutsch 
gebe  -),  damit  die  späteren  Ein  Schiebungen  klarer  Averden : 


1)  Coh.  ad  gentes  15c  (c.  15  77  Grab.):  o-j  -fap  XavO-dvöiv 
hiouc,  DiJicüv  O'.jiat,  Ivx'j/^ovxas  KavTcug  uoo  vq  xs  AcoSojpoD  l-zopicc 
vM  zaic,  Tüjv  Xomcüv  twv  usp'l  xooxojv  bxoprj^avxcuv,  oxi  -xa:  'Op'fsos 
y.r/.l  "OiJLrjpoc  y.a'l  XoXojv  ö  zohc,  voiaoog  'AO-Yjvaco'-s  Y'TP^-'f"-*S  ^-^^ 
IluO-aY^pac  y-OLi  nxdxüjv  xai  aXXoi  xivsg  ev  x'q  AIyüttxcü  y^'^^M-svoä 
VM  £-/.  XTj$  MtoascDg  bxopiag  (b'fsXr/^evxaig,  UGXspov  Ivavxia  xcüv 
-poXBpo^^  |X7]  y.aXüjg  Tisp:  ■ö-scov  oo^ocvxcuv  a^xoTg  öcTtS'^r^vavxo.  'Op'psog 
y'  0!JV,  6  X7]g  TtoXüO-soxr^xos  d[JL(Lv,  Jjg  av  siuoc  xtc,  Tipwxog  5t5a3xa- 
Äog  Y^T^'''*-'^?'  ^p^b  '^^'^  ^'-^'^  Moo-alov  v.ai  xous  i^o'.-obc,  y^j-ioo^ 
ay.pcTac,  uaxspov   uspl    £V&?   xai  /xövoo  ■9-cOü    y/^p'jxxst    Ai'^oy/  ouxcog. 

-)  Von  Vers  8  aus  Semisch  entnommen. 


92 


1  $0-r,'|o}ia'.     oU    0-£|jl:s     £~'-, 

TTOcvTSS     6[i(L;'     3'j     §'    ay.oos 

cfa£3'.p6poo  sy.Yovs  MY;/r,5 

MoDaal'*  l?=p£tu  Y«?  aAv;0-£a 

[xr,0£  GS  Toc  r.plv 

iv     GTY|0-£*o:    cpav£Vta    cftXr^? 

5  £'.;    5k    XoYov    0-slov    ßXi'i/a^ 

TO'j'ü)  zpoac5p£U£ 

lO-6va)v  y.pa5ir,;  vo£pov  xu":©^, 

£0  5'   £7:ißa'.v£ 

öcTpaTXiToü,    ,ucüvov     5'    scopa 

y.6-u.G'.o  avaxTa. 

£:;    £3t'   a-j-OYEVY]?,    Evös   r/.- 

Yova  7:avxa  TETuv-ta: 

Iv  5'  a'jTolg  aÖTÖg  -£piY-'YV£':a- 


10  £*.'Gp7.a  ^vr^-rcJüv'  ab'bc,  5k  y* 

oüxos    S'    £^    (iYÄÖ-oto    y.av.öv 
•9-vr(Xo:3'.  t'Zm': 

xal     7:6X£|J.ov     y.pü6£7":a     v.ai 

aX-[za  Sav.poosv-a 

oo5£  TIS  £"£po;  x^^P-S  }Jt£Y<zXo'j 

aoxöv   o'   Ol)/  opocu    7:£pi  y^? 
v£'ioc:  loTYiPtxxa:. 


15  ::ä3iv  Yap  ■9- 


n'.oiz  irvr^xa'.  y.o- 
jai  £'l3iv  £v  oaoo'.c 


Ich  singe  denen  es  gebüliii,  Ihr 
Unheiligen  höret  nicht  zu 
Alle  zumal.    Du  aber  höre,  der 
leuchtenden  Luna  Sohn. 
Musäus;     denn    ich  werde  die 
^'ahrheit  sagen,  und  nicht  möge 
das 
Früher  in  dein  Innres  Gelegte 
dich    des    lieben    Lebens    be- 
rauben. 
Auf   den    göttlichen  Logos 

schauend,  dem  liege  ob, 
Aufs    Eechte    hinlenkend     das 
verständige  Herz. 
Guten    Pfad    wandle,    blos  auf 
den  König  der  Welt  blicke. 
Einer  ist  Gott,    der   sich    und 
aus  sich  Alles  erzeugt  hat; 
Jegliches     Ding      dui'cndriugt 
er;    mit  forschendem  Auge  er- 
schaut er 
Alle,    indess    ihn    selbst    kein 
sterbliches  Auge  erreichet. 
Xach    den   Tagen    des    Glücks 
giebt      er      den       sterblichen 
Menschen 
Uebel  imd  schaurigen  Kiieg  und 
thi-änenei-pressende  Schmerzen. 
Dieser  allein  ist  Gott,  er  herrscht 
als  mächtiger  König. 
Sehen  kann  ich  ihn  nicht;  um 
ihn  sind  "Wolken  gelagert. 
Sterblich  ist  die  Seh'  im  Aug' 
der  sterblichen  Menschen; 


93 


ciz^z'Abc,  5'  tShiv  Aia  xov  Ttav-  Alle  zu  schwach  sind  sie,  den 

Tcuv  }i£5£ovxa.  Allobwalter  zu  schauen. 

oh-oc,  'i'ap  /aXxscGv  sg  o'jpav?/v  Denn   auf  goldnem  Sitz  thront 

bxTjpiy.xac  Zeus  in  ehernem  Himmel, 

yc-ozi(ü   sivl  O-povü)*  Y^-^iS  S'  ITeber  den  Erdkreis  geht  er  hin 

8711  Tzo'zi  ßsßr^/s  nach  Morgen  und  Abend, 

-/^Ipa  TS  g£^:-£pY]v  Itti  T£ptia-  Bis  zur  Grenze  des  Meers  streckt 

TOS  (I)X£avoIo  er  die  gewaltige  Rechte; 

20  Tiavto^sv  r/.x£tay.£v.  Zcpi  y«P  Ringsum  zittert  das  hohe  Gebirg 

xp£|Ji£t  oüp£a  {Jiay.pa  es  zittern  die  Ström', 

y.al  r^oza\ioi  7t&Xor,s  x£  ßaO-o^  Zitternd  schäumet  die  Tiefe  des 

■/apoTioTo  -ö-aXoc-tir^g.  bläulich  leuchtenden  Meeres. 

Dass  dieses  Gedicht  des  Orpheus,  abgesehen 
davon,  dass  es  nicht  von  Orpheus  herrührt,  auch 
keinen  Heiden  zum  Verfasser  hat,  ist  klar.  Das 
Gedicht  bei  Justin  ist  ein  Cento,  aus  wirklich  bei  den 
Griechen  für  orphisch  geltenden  Yersen  und  eigenen 
Zuthaten  von  einem  Monotheisten  gefertigt,  der  dem 
Orpheus  ein  Testament  in  den  Mund  legt,  das  eine 
Palinodie  von  dessen  früheren  polytheistischen  An- 
sichten vorstellen  soll.  Lobeck  unterscheidet  daher 
mit  Recht  den  X&yc?  lepö?,  den  die  alten  Griechen  dem 
Orpheus  zuschrieben  und  der  gut  heidnisch  war  und 
die  Götter  verherrlichte,  von  unserem  nach  diesem 
Xgyoc  hpbc,  gearbeiteten  und  aus  keinem  anderen 
Grunde  Testament  (Sia^f^xai)  genannten  Gedichte,  weil 
es  eben  den  Orpheus  darstellen  soll  als  bereuend 
seine  frülieren  Lehren  und  seine  Schüler  ermah- 
nend,   dieselben  zu  vergessen.     So    sagt    denn    auch 


'J4: 


Clemens  1):  ..Der  tlu'acisclie  Hieropliant  imd  Dichter 
Orpheus,  Sohn  des  Oeagriis.  nachdem  er  die  Heiligthümer 
der  Orgien  und  die  Theologie  der  Götzen  gelehrt  (im 
früheren  Upoz  Ai\'oz  nämlich),  widerruft  nnd  stimmt, 
wenn  auch  spät,  doch  endlich  den  wahren  Upoc  agvo: 
(nämlich  unser  Gedicht)  an*'. 

"Wer  hat  nun  dieses  pseudoorphische  Gedicht  in 
der  Fassung  hei  Justin  gemacht?  TTer  die  Aristo- 
bulea  bei  Eusebius  für  echt  hält,  muss  sagen:  Ein 
Jude  vor  Aristobul.  Aristobul  hätte  dann  diese 
Fälschung  aufs  neue  interpolirt.  In  der  ersten  Fassung 
sei  es  auf  Justin  gekommen,  in  der  zweiten  auf  Clemens 
und  Eusebius.  Kichtiger  noch,  da  Clemens  und  Euse- 
bius sich  gleichfalls  sehr  charakteristisch  unterscheiden, 
müsste  er  zwei  Fälscher  vor  Aristobul  annehmen 
und  diesem  erst  die  dritte  Eolle  geben.  Denn  die 
Ausflucht,  als  habe  Justin  nur  zufällig  ein  Paar 
Terse  weniger  als  Clemens.  Clemens  zufällig  wiederum 
eine  Anzahl  Verse  weniger  als  Eusebius,  hält  nur  so 
lange  vor,  als  man  die  Gedichte  nicht  sorgfältig  ver- 
glichen hat.  Darum  taxirt  auch  Graetz  diesen  schwer- 
sten, ja  allein  ausschlaggebenden  Terdachtsgrund  nicht 
zur  Genüge.     Er    schi^eibt-):    ,JEndlich    weist   ja    der 


1)  Colioi-tatio   ad  gentes  c.  TII  p.  48  (p.  63):    'Opzcbz  [is'ä 

ötXf\%-zioLC,  £'.3aY£i  xöv  Icpöv  o^/Tcu;  h'li  r.ozt  o|jlco?  o'  oi)V  a5üjv  Aoyov. 

2)  MonatsscMft  78,  Febr.  S.  55. 


95 


Eingang,  welcher  bei  Justin  wie  bei  Eusebius  vor- 
kommt, auf  dieses  „Gesetz"  (das  mosaische)  hin,  auf 
die  Satzung  der  Gerechten  (Sr/.aiojv  O-saiiooc),  auf  das 
Allen  gegebene  göttliche  Gesetz  (O-cio'.o  z=d-zvzoc,  TüäGi 
v6[JL0o)  und  auf  das  göttliche  Wort  (Xoyo;  d-eloQ  Y.  6)". 

All  das  aber  steht  gar  nicht  im  Justin,  wie  der 
Leser  aus  dem  wörtlich  aus  Justin  mitgetheilten  Ge- 
dichte ersehen  kann.  In  diesem  Gedicht  steht  nichts 
vom  göttlichen  Gesetz,  nichts  vom  „alten  Wort", 
nichts  von  Abraham,  nichts  von  Moses. 

Aber  auch  Clemens  hat  bis  auf  eins  das  Alles  noch 
nicht.  Was  er  mehr  hat  als  Justin,  das  ist  das  Ein- 
schiebsel nach  Ter s  16,  das  sich  auf  Abraham  bezieht. 
Clemens  nämlich,  nachdem  er  i)  prosaisch  berichtet,  dass 
Orpheus  mit  Bezug  auf  Gott  sage,  die  Menschen  könnten 
ihn  nicht  sehen,  nachdem  er  also  die  anderswo  -)  von  ihm 
gleichfalls  gegebenen  und  auch  bei  Justin  sich  findenden 
Yerse:  aöiöv  o'  ouy  6pöo3,  ze^A  yap  vr^o;  z.  t.  X.  an 
unserer  Stelle  blos  prosaisch  umschrieben  hat,  sagt 
dann  im  Xamen  des  Orpheus,  nur  ein  chaldäischer 
Mann,  womit  er  auf  Abraham  hindeute,  habe  Gott  er- 
kannt, und  citirt  die  offenbar  ZAvischen  der  Zeit  des  Justin 
und  Clemens  in  unser  Gedicht  eingeschobenen  Worte: 


1)  Sü\  lib.  Y  ed.  Sylbiirg  S.  607:  aü9-.s  5^  r.tpi  zob  O-soü 
ccopa-cov  slvat,  'fA'(UiV  ('Op'fSDg  71.)  [xovü)  ^(vuiz^r^v^i  hi  vM  cpr^-i  10 
'{ivoc,  Xa).Saiü>  y..  x.  X. 

2j  Ibid.  eiüige  Seiten  vorher  bei  Clemens  (Sylb.  S.  585  (693). 


96 


ti    }JLY]    /xoovoYsvYjS    Tig    öcTioppü)!  NuT  ein  Einziger  könnt'  es,  ein 

iföKoo  avtoO-cV  Sprössling  aus  der  Chaldäer 

-/aXöaituv.  l'Spis  y"P  ^"^i^  aozpo'.-  altem  Geschlecht,  denn  kundig 

•rzopsirii^  "^ar  er  des  Laufes  der  Sonne 

7t.  T.  X.  u.     s.  f. 

Erst  bei  Eusebius  endlich  ist  dasJustinische  Gredicht 
folgendermassen  verändert : 

Gleich  nach  dem  I.  Yerse  wird  ein  Yers  einge- 
schoben, der  von  „den  Satzungen  der  Gerechten''  und 
von  dem  „Allen  gegebenen  göttlichen  Gesetze"  redet  i). 
Nach  dem  7.  Yerse  bei  Justin,  also  nach  dem  8.  bei 
Eusebius,  wird  ein  Yers  gebildet,  der  vom  „alten 
Worte"  redet  2),  offenbar  nach  Justin's  und  Anderer 
in  Prosa  ausgedrückten  Yor Stellungen  gearbeitet. 

Y.  23  —  26  enthält  das  auch  bei  Clemens  zu 
lesende  Lob  des  chaldäischen  Sprösslings,  des  Abra- 
ham 3).  Y.  36  —  37  ist  eine  Hinzufiigung,  die  da 
lautet: 

„Wie  das  Wort  der  Alten  (lautet),  wie  der 
Wassergeborene  (Moses)  befohlen,  von  Gott  belehrt, 
da  er  auf  doppelter  Tafel   das  Gesetz   empfangen^). 


1)  Er  lautet:    cpsDYovxag  §ixat(uv  ^£c[j.o'js,  d-tioio  xzd-ivioq 

TMzi  WjIxoo  (Eusebius  pr.  ev.  XUI,  12  p.  664). 

2)  Er   lautet:  — —w—  r^oLAaCog    U    \ö'{oz    Ttspi    tod^s    'fots 
(Eusebius  ibid.) 

3)  Die  oben  citirten  Verse:    zl  [jly]  jjlouvoys'/t^s  x.  t.  \. 
*)  Die  Verse  lauten: 

ü>?  XoYos  apyaitov,  tog  uXoysvy^s  (Scaliger  ü3oy£^^s)  Sisralsv 


97 

Kann  bei  so  charakteristischen  Yersen  ernstiich 
daran  gedacht  werden,  dass  Justin  oder  Clemens  sie 
uncitirt  gelassen  hätten,  wenn  sie  ihnen  vorgelegen? 
Und  mussten  sie  nicht  mindestens  eine  Lücke  an- 
deuten, wenn  eine  solche  gewesen  wäre,  zumal  da 
Clemens  das  zu  thun  nicht  unterlässt,  so  oft  er  blos 
stückweise  citirt  und  dann  mit  Uebergehung  einiger 
Yerse  ein  späteres  Stück  benutzt? 

Vielmehr  ist  die  Sachlage  folgende.  Das  Pseudo- 
orphicon  bei  Justin  ist  nicht  lange  vor  ihm  entstanden 
dazu  kam  die  Erwähnung  Abrahams  kurz  vor  Clemens, 
dazu  endlich  all  die  dreisten  Zusätze  im  Eusebius, 
von  denen  die  frühere  Zeit  nichts  ahnte. 

Schwerer  hält  es  natürlich,  die  prosaischen  Aristo- 
bulea  auf  ihre  Echtheit  zu  prüfen.  Dennoch  bieten 
auch  sie  schwere  Yerdachtsgründe,  wovon  ich  nur  die 
sonst  noch  nirgends  erwähnten  anführe. 

Es  ist  auffallend,  dass  Clemens  vielfach  im  eigenen 
l^amen  vorträgt,  was  später  in  den  Aristobuleis  des 
Eusebius  zu  lesen  ist.  A^alkenaer  i)  beschuldigt  daher 
den  Clemens    des  Plagiats,    und  wendet  auf  ihn,    der 


Charakteristiscli  ist,  dass  der  X6-^o<;  ap/aicov  nach  einem 
Satze  steht,  bei  dem  auch  Plato  von  einem  uaXacG«;  Xoyo^  redet, 
den  Justin  auf  Moses  bezogen  hatte.  Vgl.  Justin,  coh.  ad  Grae- 
cos  c.  25. 

1)  Yalkenaer,  diatribe,  S.  69,  S.  12  und  öfter. 

7 


98 


von   den  literarischen  fiirtis    der  Griechen  redet,   das 
Callimacheische  Wort  an: 

OOX    OCTCÖ    pOO[10Ö 

EizaCcö.  ^(öpo^  i/vca  cwp  ejjLaö-ov. 

Wie  aber,  wenn  die  Parallele  im  Clemens  bis- 
weilen beweist,  dass  auch  das  Aristobuleische  Stück 
christKch,  nicht  jüdisch  ist? 

Was  nämlich  Pseudo-Aristobul  über  den  siebenten 
Tag  sagt,  das  findet  sich  auch  im  Clemens,  wo  dieser 
es  im  eigenen  Namen  vorträgt,  und  ich  meine  nicht 
zu  irren,  wenn  ich  den  Eindruck,  den  ich  davon  habe^ 
dahin  beschreibe,  dass  das,  was  im  Clemens  deutlich 
christliche  Anschauung  ist,  auch  bei  Aristobul  christ- 
lich ist,  nur  abgeschwächter  und  dunkler,  weil  sonst 
die  Fälschung  zu  klar  am  Tage  läge. 

Clemens,  ström.  YI.  680  (Sylb.)  Aristobul  bei  Eusebius  XILE. 

'H  eß56|JLyj  xoivuv  r^pApoc  öcvd-  c.  12. 

■;taoGig    xYjpuoasTai,    exotjxaCoooa  'Hߧ6|J.Y)  Y^jispa  V)  os  xaL  rrptoxr^ 

XYjV    apyy[o^o'^    Yj|xspav    xtjV    xw  cpostxwg  av  Xs^cixo  cpwxcig  y^vsci^ 

o>/xi  ctvaTiaüG'.v  y]|jl(Juv,  yjv  (lies  xyjV  £V    ü)    t«    Tidcvxa     GDvd-scDpslxau 

Yalkenaer)    5y]    xal    npcuxr^v   xü)  Msxacpipoixo    S'  av  xö   auxo  xal 

ovxc  cpcüxög  Y^vsaiv,  Iv  (1)  xöc  zdvxa  It^i  xyjS   ocf  tag.   xö  ^dp  ^äv  cpAij 

oov^ccopslxai  xai    ndvxa    xXYjpo-  laxiv  14  ohvr^c,.   Kac  xtvsg  elYjxaot 

vo|J.Elxai.    'Ex  xdoxYjg  xyjc  Y]|j.£pag  X(Juv  Ix  xyj?  alpsascog  ovxs?  Xafx- 

Yj    TiptüXT]    oocpia    xai    yj    FvcÜGti;  T^XYjpos  aüXYjV  i/siv  xd^cv. 
Y||JLäS  £)j.CC[iTC£Xat.    Tö  Y^P'f^S  "^iS 

ccXr^O-siag  Xa|JL7iXY;pos  £-£X°^  i^X^O 
xd^lV     zlc,     XY]V     xcöv     ovxcov     tTzL- 

Ich    meine,    wenn    Clemens   hier    deutlich    sagt, 


99 


„dass  der  siebente  Tag  als  Euhe  verkündet  wird,  vor- 
bereitend den  erstgeborenen  Tag,  unsere  wahre  Eiihe, 
der  ja  auch  der  erste  Ursprung  des  Lichtes  ist,  in 
welchem  alles  geschaut  wird";  wenn  er  dann  den 
Sonntag  als  Tag  des  ersten  Aufleuchtens  der  Weisheit 
und  Gnosis  hinstellt:  so  kann  auch  in  den  Worten 
des  Aristobul:  „Der  siebente  Tag,  der  auch  heissen 
könne  das  erste  Werden  jenesLichts,  in  welchem 
alles  geschaut  wird"  nur  dasselbe  gefunden  werden, 
aber  in  verstümmelter  oder  doch  schwer  zu  erkennender 
Gestalt,  weil  sonst  der  Autor  der  Aristobulea  ohne 
Weiteres  als  Christ  und  nicht  als  Jude  erkannt 
worden  wäre. 

Dass  man  die  Einsetzung  des  Sonntag  nicht  blos 
mit  der  Auferstehung  Christi,  sondern  auch  mit  der 
Schöpfung  des  Lichtes  und  metaphorisch  mit  dem 
Hervortreten  der  Weisheit  begründet  habe,  geht  auch 
aus  den  Worten  des  Justin  hervor.  Er  sagt:  „Am 
Sonntag  veranstalten  wir  die  gemeinschaftliche  Zu- 
sammenkunft, da  ja  der  erste  Tag  es  gewesen,  an  welchem 
Gott,  die  Finsterniss  und  die  Hyle  wendend,  die  Welt 
schuf".  Dann  erst  giebt  er  als  weiteren  Grund  für  die 
Wahl  des  Sonntag  die  Auferstehung  Christi  an"  i) 


1)  Justin,  1.  Apol.  cap.  67:  r5]v  th  xoö  Y]Xtou  rjiispav  xoiv^ 
Tcdvxsg  xri-i  oovsXO-ouaiv  7roio6|X£^a,  ItcslSy]  Tipcuiy]  loxlv  4|!i£pa,  Iv  (L  6 
-ö-eo?  TÖ  Gxoxo«:  xai  vtp  oXyjv  xpi^aq  xov  xoo/xov  litoiYjos. 

7* 


100 


Kach  allem  bis  jetzt  Gesagten  glaube  ich  mich  zu 
der  Meinung  berechtigt,  der  ich  bereits  in  meiner 
kleinen  Schrift:  „Die  Angriffe  des  Heidenthums  gegen 
Juden  und  Christen  in  den  ersten  Jahrhunderten  der 
römischen  Cäsaren"  Ausdruck  gegeben,  dass  es  Zeit 
sei,  den  Aristobul  aus  der  Reihe  der  Autoren,  von 
denen  Bruchstücke  auf  uns  gekommen  sind,  zu 
streichen,  und  dem  zweiten  Jahrhundert,  dem  in 
Fälschungen  so  überaus  fruchtbaren,  auch  die  Er- 
zeugung der  Aiistobulea  nicht  zu  nehmen. 


EXCURS  II 


b.  Die  Gnosis. 


Die  Gnosis. 


In  der  Kirchengeschiclite  i)  wird  es  als  ein  Ver- 
dienst von  Mosheim  und  Beansobre  bezeichnet,  dass 
sie  zuerst  auf  den  Orient  und  seine  kosmogonischen 
Mythen  als  auf  die  Quelle  der  gnostischen  Grund- 
anschauungen hingewiesen ,  während  bis  dahin  der 
Piatonismus  für  die  alleinige  Basis  derselben  gegolten. 
In  der  That  finden  denn  auch  in  unseren  Tagen  die 
bedeutendsten  Erforscher  des  gnostischen  Wesens, 
vor  allen  Lipsius,  charakteristische  Berührungs- 
punkte der  älteren  Form  des  Gnosticismus  mit  den 
Eeligionsvorstellungen  Syriens  und  Phöniciens.  Aber 
auch  Lipsius  stellt  nicht  in  Abrede,  dass  der  in  der 
Onosis  etwa  vorhandene  speculative  Gehalt,  soweit  er 
nicht  der  Bibel  selbst  entstammt,  aus  der  griechischen 
Gedankenwelt  herzuleiten  ist. 

Zell  er 's  Besonnenheit  hat  überhaupt  das  auch 


1)  Kiirtz,  Handbuch  der  Kirchengeschichte,  Abschnitt  Gnosti- 
cismus. 


104 


bei  den  nüchternsten  Forschern  üblich  gewesene  Reden 
von  orientalischer  Philosophie  als  Quelle  der  neupvtha- 
goräischen,  der  gnostischen  und  der  neuplatonischen 
Aufstellungen  auf  das  bescheidenste  Mass  zurück- 
geführt  1).  Eigenthümlich  ist,  dass  Baur  den  Orienta- 
lismus der  Gnpsis  durch  folgende  Erwägungen  glaubt 
darthun  zu  können.  Er  meint,  den  heidnischen  Reli- 
gionen gemeinsam  sei  die  Verbindung  G-ottes  und 
der  Welt  durch  die  Momente  eines  Processes.  In  der 
griechischen  Religion  aber  nehme  der  Process  den  um- 
gekehrten Verlauf  wie  in  den  orientalischen.  Dort 
sei  ein  Aufsteigen  vom  Unvollkommenen  znm  Voll- 
kommenen, hier  dagegen  werde  mit  dem  Vollkommenen 
der  Anfang  gemacht.  So  komme  es  denn  bei  den 
Orientalen ,  wo  die  Gottheit  den  Ausgangspunkt  bildet., 
zu  einer  Kosmogonie,  bei  den  Griechen,  wo  das 
Unvollkommene  diu^h  Entwickelung  zum  Vollkommenen 
aufsteigt,  zu  einer  Theogonie. 

Aber  ich  meine,  wer  die  Gnosis  zu  einem  aus 
griechischen  Philosophemen  entstandenen  Erzeugniss 
macht,  der  werde  zwar  mit  den  lurchenvätern  an 
mancherlei  Quellen  denken  (z.  B.  auch  an  Hesiod's 
Theogonie),  aber  doch  in  erster  Linie  an  den  Timäus. 
des  Plato,  der  doch  wohl  eine  Kosmogonie  und  keine- 


1)  Zeller,   Die  Philosophie  der  Griechen,    III  b.    2.  Auflage, 
S.  57  und  S,  385. 


105 


Theogonie  ist.  Es  ist  ja  selbstverständlich,  dass  wer 
die  G-nostiker  fiii'  Platoniker  erklärt  —  ich  meine 
nicht  blos  die  Yalentinianer,  was  ja  allgemein  zuge- 
geben wird,  sondern  schon  die  ältesten  Gnostiker,  die 
Ophiten,  und  das  thut  bereits  Celsus  i),  —  sie  ja  doch 
nur  für  solche  Platoniker  halten  wird,  wie  sie  in  ihrer 
Zeit  überhaupt  vorkommen.  Sie  sind  Platoniker  in 
der  Gestalt  desvSystems,  dieihmderNeupythagoräismus^) 
gegeben,  der  wohl  so  zu  sagen  als  die  Brille  zu  be- 
zeichnen ist,  durch  welche  die  Urheber  der  Gnosis 
die  Platonischen  Ansichten  gesehen.  Es  ist  daher  ein 
Eehler,  wenn  man  sofort  für  orientalisch  erklärt,  was 
nicht  aus  dem  mrklichen  Plato  als  griechisch  sich 
ausweist.  Im  Neupythagoräismus  steckt  schon  wirklicher 
und  scheinbarer  Orientalismus:  wirklicher,  insofern 
wir  einmal  den  jüdischen  Einfluss  auf  die  Entstehung 
desselben  so  nennen  können  3),  dann  insofern  die  I^eu- 


1)  „Hippolyt  beginnt  die  Reihe  der  Gnostiker  mit  den  Ophiten 
oder  Xaassenern,  wie  er  sie  nennt,  und  bezeichnet  sie  dadurch 
als  die  ältesten  von  allen''  (Kurtz).  Celsus  bei  Origines  YI,  19 
sagt:  ..Etliche  Christen,  die  Platonischen  Sätze  miss ver- 
stehend, prahlen  mit  dem  üBerhimmlischen  Gotte.  indem  sie 
den  Himmel  der  Juden  noch  überschreiten".  Dass  er  aber  hier 
die  Ophiten  im  Sinne  hat,  ergiebt  der  weitere  Verlauf,  seine 
Besprechung  des  ophitischen  Diagramms  u.  s.  w. 

2)  Zeller  1.  1.  S.  83  zeigt,  dass  der  Neupythagoräismus  in 
einer  Verbindung  Platonischer  und  P\'thagoräischer  Philosopheme 
besteht. 

3)  Zeller  1.  1.  S.  62.     Die   bodenlose   Vorstellung,    die    das 


106 


pytbagoräer  so  gut  wie  die  von  Zeller  sogenannten 
pythagoräisirenden  Platoniker,  z.  B.  Plutarcli,  bereits 
alle  möglichen  Mythen  und  Mysterien  Asiens  und 
Aegyptens  in  den  Kreis  ihrer  Beachtung  gezogen  und 
nach  gut  griechischer  Gewohnheit  griechisch  zugestutzt 
hatten;  scheinbarer  Orientalismus  aber,  insofern  die 
damalige  verlogene  griechische  Welt  so  viele  Bücher 
auf  den  Namen  asiatischer  Weisen  und  G-esetzgeber 
geschmiedet  hatte,  dass  man  in  derWeisheit  des  Zoroaster 
und  der  Magier  zu  schwimmen  glaubte,  während 
man  doch  nur  griechische  Pseudepigraphen  vor  sich 
hatte  1).     Darum  ist  es  nicht  in  Ordnung,  wenn  nicht 


zweite  nachchristliche  Jahrhundert  beherrscht,  dass  die  griechi- 
schen Theologen  und  Philosophen  ihre  Lehren  dem  Moses  ent- 
nommen, könnte,  da  für  uns  Aristobul  als  Urheber  einer  so 
dreisten  Meinung  ausscheidet,  in  einer  so  unkritischen  Zeit  auf 
folgendem  AVegc  entstanden  sein.  Thatsächlich  haben  die  Xeu- 
pythagoräer  ein  praktisches  Verhalten,  das  an  den  Pentateuch 
erinnert.  Zeller  sagt  (1.  1.  S.  77):  „Zu  jener  Heiligkeit  gehören 
Eeinigungen,  Waschungen,  Besprengungen;  sodann,  dass  man 
jede  Berührung  eines  Todten,  einer  AVöchnerin  oder  sonst  eines 
Unreinen  vermeide  und  dass    man  sich    des  Fleisches  gefallener 

oder  zen-issener  Thiere,    einiger  Fische enthalte".      Das 

sind  pentateuchische  Bestimmungen.  Da  man  nun  damals  auf 
den  alten  Pythagoras  alles  zui'ückführte,  was  die  Ner.pythagoräer 
geneuert  hatten,  so  glaubte  man  für  Pythagoras  wenigstens  den 
Beweis  für  erbracht,  dass  er  den  Moses  gelesen.  Wie  es  dann  weiter 
ging,  kann  Jeder  sich  selbst  erzählen. 

1)  Ueber  diesen  Punkt  vergleiche    die  noch  später  zu  erör- 
ternde Stelle  des  Porphyrius,  vita  Plotini  c.  16. 


107 


blos  jN'eander,  sondern  selbst  ein  Mann  wie  Baur 
meinen,  dass  der  in  die  göttlichen  Potenzen  der 
Onostiker,  die  Aeonen,  eingeführte  Gegensatz  des 
Männlichen  und  Weiblichen,  die  sogenannte  Syzygien- 
lehre,  orientalisch  sei.  Lobeck  im  Aglaophamus  i)  zeigt 
ja  schon,  woher  die  Syzygienlehre  stammt.  Er  lobt 
den  ergötzlichen  Scharfsinn  des  Epiphanius,  der  schon 
in  der  Theogonie  des  Hesiod  die  Syzygien  angedeutet 
findet.  Er  zeigt  später  2),  dass  die  Pythagoräer  aus 
Eespect  vor  der  Zehnzahl  die  unzähligen  Syzygien  des 
Alkmaeon  auf  zehn  zurückgeführt.  Das  ist  ein  Bei- 
spiel für  viele,  dass  man  nicht  unsichere  Quellen  auf- 
suchen müsse  für  das,  wofür  man  sichere  hat.  Ob 
ursprünglich  die  Syzygienlehre  aus  dem  Orient  stammt, 
will  ich  nicht  entscheiden,  aber  ich  meine,  dass  man 
den  Kirchenvätern  sowohl  als  auch  Plotin  und  Por- 
phyrius  Unrecht  thut,  wenn  man  ihre  Behauptungen, 
die  Gnostiker  hätten  der  griechischen  Philosophie, 
Mythologie  und  Mysteriös ophie  ihre  Sachen  entnommen, 
für  überwunden  ansieht. 

Ueberhaupt,  glaube  ich,  ist  auch  nach  der  Seite 
die  Auffassung  dieser  mitten  in  der  Zeit  des  Gnosti- 
cismus   sich  bewegenden   Autoren  vorzuziehen,    dass 


1)  S.  457  Note:  „Syzygias  in  ipsius  Hesiodi  Theogonia 
adumlDratas  inveniri  delectabiü  acumine  docet  Epiphanius  adv. 
Haer.  L.  I,  toin.  II,  pag.  164  B". 

2)  Ibid.  S.  930. 


108 


sie  in  den  gnostischen  Lehren  keine  blossen  Ter- 
irrungen  redlicher  Wahrheitsforscher  erblicken,  sondern 
dass  sie  der  Tendenz,  der  Absicht  eine  grosse  Rolle 
dabei  zuschreiben.  Es  ist  ja  richtig,  dass  ungeschicht- 
liche Zeiten  die  Geneigtheit  haben,  das  als  absicht- 
lichen Dolus  aufzufassen,  für  dessen  Aufkommen  ihre 
eigenen  Terhältnisse  ihnen  keine  Erklärung  bieten  i), 
und  dass  es  eine  Ehre  unserer  Zeit  ist,  am  weitesten  von 
dieser  Ungeschichtlichkeit  entfernt  zu  sein.  So  wird 
heute  Jeder  gern  die  treffende  Bemerkung  Zeller's 
unterschreiben:  „Sie  (die  Xeupvthagoräer)  sind  sich  ihres 
Hinausgehens  über  denselben  (den  ursprünglichen 
Pythagoräismus)  so  wenig  bewusst,  als  ein  Philo 
seines  Hinausgehens  über  den  Mosaismus,  oder  ein 
Chrysippus  der  "Willkür  seiner  Mythendeutungen;  sie 
setzen  ohne  Umstände  voraus,  wie  dies  alle  Offen- 
barungsgläubigen voraussetzen,  was  ihnen  wahr  scheint, 
müsse    auch    die  Lehre   ihrer   dogmatischen  Auctori- 


1)  Man  hat  zwai-  in  Schelling  und  Hegel  eine  Art  Gnostiker 
wiedergefunden  und  in  neuerer  Zeit  hat  in  Hilgenfeld's  treff- 
hcher  Zeitschrift  für  wissenschafthche  Theologie  (Jahi-gang  1874 
S.  407  ff.)  der  geistvolle  Alex.  Schweizer  die  Berührung  von 
Hartmanns  mit  der  alten  Gnosis  man  kann  auch  sagen  „delec- 
tabih  aeumine"  nachgewiesen.  Insofern  bietet  uns  ja  unsere  Zeit 
die  beste  Erklärung  für  das  Aufkommen  der  Gnosis,  als  sie 
uns  sogar  die  Analogie  bietet.  Aber  das  hebt  das  im  Text  Ge- 
sagte nicht  auf.  dass  die  Gnostiker  vielfach  die  Grenze  der 
Selbsttäuschung  überschritten  haben  und  zum  bewussten  Humbug 
übergegangen  sind. 


109 


iäten  ....  sein".  Diese  Bemerkung  werden  wir  mit 
Fug  und  Recht  auch  noch  der  Grnosis  eines  Barnabas, 
eines  Justin,  eines  Clemens,  eines  Origines  zu  Gute 
kommen  lassen.  Aber  est  quadam  prodire  tenus.  Zu 
behaupten,  dass  es  auch  einfacher  Naivetät  zuzu- 
schreiben ist,  wenn  die  Kainiten  z.  B.  alle  im  alten 
Testament  als  Vertreter  des  Bösen  dargestellten  Per- 
sonen (Kain,  die  Sodomiten,  Korah  u.  a.)  für  die 
eigentlich  Yollkommenen  bezeichnen,  heisst  wieder 
nach  dem  anderen  Extrem  ungeschichtlich  werden 
und  die  menschliche  Leidenschaft  als  gar  keinen 
Factor  in  der  Weltgeschichte  anerkennen.  Ebenso  ist 
in  Marcion  die  Tendenz,  eine  breite  und  tiefe  Kluft 
zwischen  Judenthum  und  Christenthum  zu  reissen, 
das  allein  bestimmende.  Wer  sich  nicht  wie 
Yalentin  mit  der  Auslegung  begnügt,  sondern  wie 
Marcion  nach  dem  Ausdruck  TertuUians  i)  das  Messer 
nimmt,  um  die  Schrift  so  lange  zu  beschneiden,  bis 
sie  passt,  ist  weder  naiv,  noch  auch  nur  offenbarungs- 


1)  Tertullian,    De  praescript.    haeretic.  XXXYIII:     „Quibus 
fuit  propositum    aliter  docendi,    eos  necessitas    coegit  aliter  dis- 

ponendi    instnimenta    doctrinae Alius    (Marcion)    manu 

scriptuias,  alius  (Yalentinus)  sensus  expositione  intervertit. 
Neque  enim  si  Valentin-as  integro  instriimento  uti  videtur  non 
callidiore  ingenio  quam  Marcioa  manus  intulit  veritati.  Marcion 
enim.  exerte  et  palam  machaera,  non  stilo  usus  est,  quoniam 
ad  materiam  suam  caedem  scripturarum  confecit;  Yalentinus 
autem  pepercit. 


110 


gläubig,  und  es  ist  merkwürdig  genug,  dass  ein 
solches  Verfahren  dem  Marcion  in  den  Augen  Xean- 
ders  1)  so  wenig  schadet.  AUes  mit  den  eigengearteten 
Zeitverhältnissen  entschuldigen  zu  woUen,  heisst  doch 
auf  jeden  sittlichen  Massstab  für  gewisse  Zeiten  ver- 
zichten. Han  hat  sich  so  sehr  nach  einer  Eintheilung 
der  Gnosis  umgethan.  Wie  aber,  wenn  man  sie  theilte 
in  eine  naive  und  eine  tendenziöse?  Dass  die^ 
Eintheilung  nicht  reinlich  genug  gemacht  werden 
kann,  um  für  jeden  einzelnen  Fall  jedes  Schwanken 
zu  beseitigen,  ob  Naivetät  oder  Absicht"  vorliegt,, 
ändert  nichts  an  der  Eichtigkeit  der  Theilung.  Es 
Avird  ja  auch  die  Klasse  gegeben  haben,  von  welcher 
Porphyrius  sagt  2):  IIo^vXoü?  k^rjTua'Uwv  xal  auTol  Tjuanr]- 
[i-evoi,  eine  Stelle,  aus  der  wohl  unbewusst  dem  Lessing 
der  Ausdruck  „betrogene  Betrüger"  erwachsen  ist. 

Die  naive  Gnosis  entsteht  nicht  in  polemischer 
Absicht,  sondern  ist  ein  natürliches  Product  der 
Meinung,  dass  die  Lehren  der  Philosophen,  die  man 
gerade  für  wahr  hielt,  in  der  Bibel  enthalten  sein 
müssen  und  aus  ihren  verschlossenen  Sätzen  durch 
den     allegorischen     Schlüssel     zu     gewinnen     seien. 


1)  Neander,  Genetische  Ent^-ickelung  der  vornehmsten 
gnostischen  Systeme.  Er  nennt  den  Marcion  ..eine  grosse  Seele' % 
S.  293. 

2)  Tita  Plotini  c.  16. 


111 


Lipsiiis^)  hat  daher  Eecht,  dass  die  gnostische  Lehre 
Yom  „Demiiirgen"  (Weltschöpfer)  als  einem  vom  höch- 
sten Gott  erst  abgeleiteten  Wesen  ursprünglich  nicht 
in  antijüdischem  Interesse  aufgestellt  worden  ist. 
Gerade  die  Art,  wie  im  Talmud  gegen  den  „Demiurgen" 
polemisirt  wird  —  wir  werden  die  Stellen  noch  kennen 
lernen  —  involvirt  vielmehr  die  Annahme,  dass  diese 
Lehre  auch  unter  Juden  Platz  gegriffen  habe.  Weniger 
beistimmen  kann  ich  Lipsius,  wenn  er  den  Demiurgen 
nicht  aus  dem  Plato  ableiten  oder  diese  Ableitung 
höchstens  für  den  Platoniker  Yalentin  gelten  lassen  will. 
Mir  beweisen  namentlich  die  palästinischen  Talmud- 
lehrer, dass  ein  starker  Einfluss  des  Plato  auch  da 
wahrzunehmen,  wo  an  ein  directes  Lesen  seiner  Werke 
nicht  zu  denken  ist. 

Die  palästinischen  Lehrer  können  freilich  schon 
darum  keine  einfachen  Anhänger  eines  griechischen 
Systems,  auch  nicht  in  der  eklektischen  Gestalt,  in 
der  jene  Zeiten  es  aufweisen,  sein,  weil  sie  die  Bibel 
allen  Ernstes  als  Erkenntnissquelle  auch  für  meta- 
physische und  kosmogonische  Dinge  nehmen.  Obwohl 
sie  nämlich  gleichfalls  nach  Weise  des  Philo  in  die 
Schrift  hineindeuten,  so  ist  doch  bei  ihnen  stärker  als 
bei  Philo  auch  ein  wirkliches  Herausdeuten  zu  finden. 
So,    um    ein  Beispiel    anzuführen^    mag   zu  der    tal- 


^)  Lispsius  Aiiikel  Gnosis  in  Ersch  und  Gmber  S.  255. 


112 


mudischen  Controverse.  ob  der  Himmel  oder  die  Erde 
zuerst  geschaffen  worden  sei,  eine  Controverse,  die 
sogar  einmal  im  Talmud  i)  als  eine  griechische  Frage, 
d.  h.  als  eine  Frage  des  ITacedoniers  Alexander,  auf- 
üitt,  vielleicht  die  Platonische  Stelle  2) :  ,,Die  Erde  ist 
die  erste  und  älteste  aller  Gottheiten,  welche  inner- 
halb des  Himmels  (bei  Plato  hier  gleich  Kosmos)  ent- 
standen ist",  den  Anlass  gegeben  haben.  Entschieden 
aber  wird  die  Frage  nach  der  Aussage  von  Bibel- 
versen. Dennoch  sind  die  palästinischen  Talmudlehrer 
von  Platonisch-Pythagoräischen  Vorstellungen  in  einer 
Weise  beherrscht,  dass  nur  ihre  schon  durch  ihre 
gesetzliche  Eichtung  ihnen  überkommene  Gewohnheit, 
es  mit  dem  Bibelworte  strengstens  zu  nehmen,  die 
jüdische  Gnosis  vor  einer  AVendung  in's  Heidnische 
geschützt  hat.  Ton  dieser  jüdischen  Gnosis  sind  in 
den  Talmuden  und  ^Midraschim  nur  Trümmerstücke 
vorhanden,  über  welche  Graetz  3)  und  Xachman 
Xi'ochmal^)  in  verdienstlichster  Weise  sich  verbreitet 
haben. 

Was  mir  aber  für  meinen  Gegenstand  von  Be- 
deutung ist,  das  ist  die  Wahrnehmung,  wie  die  Gnosis 
ursprünglich  in  Palästina  gerade  wie  im  Philonismus 


1)  Talmud.  Thamid  32a. 

2)  Timäus  S.  40. 

3)  Graetz,  Gnosticismus  und  Judentliuni. 
*)  Krochmal,  More  Nebuche  Haseman. 


113 


eine  naiv  sich  vollziehende  Ausgleichung  zwischen 
den  griechischen  Lehren  und  der  Bibel  war,  bis 
genau  dieselben  Zeiten  und  dieselben  Lehrer,  die 
überhaupt  gegen  den  Eindrang  des  Griechischen  auf- 
traten, auch  der  Gnosis  sich  entgegenstemmten,  zu- 
nächst indem  sie  das  öffentliche  Yor tragen  derselben 
verpönten,  bald  auch  indem  sie  solche  Forschungen 
als  überhaupt  das  Seelenheil  gefährdend  bezeichneten. 
Hier  wie  überall  finden  wir  wieder  Josua  ben  Cha- 
naniah  und  seinen  Jünger  Akiba  auf  der  Wacht. 


Die  jüdische  Gnosis  und  die  platonisch- pytha- 

goräischen  Anschauungen    der    palästinischen 

Lehrer. 


Ueber  die  Thatsaclie,  class  die  palästiiiisclien 
Lehrer  platonisch-pytliagoräiselie  Anschaiuingen  liatten, 
kann  kein  Zweifel  sein. 

Die  Eigenschaften  G-ottes,  die  sogenannten  ,.Mid- 
doth*'  treten  so  häufig  wie  selbstständige  Wesenheiten, 
Hypostasen,  auf,  dass  nur  die  ünzweideutigkeit  des 
Bibelwortes  in  Bezug  auf  die  Einzigkeit  Gottes  jede 
polytheistische  Gefahr  abwendet. 

Gottes  Gerechtigkeit  piiddath  Haddin),  Gottes 
Barmherzigkeit  pliddath  Harachamim) ,  ebenso  die 
„Schechinah"  treten  wie  selbstständige  Wesen  hin 
vor  Gott,  um  ihm  etwas  vorzutragen.  Gebetformeln 
lauten  1):  Und  es  möge  vor  dich  kommen  die  Eigen- 
schaft deiner  Güte  und  Herablassung,  oder  sehr  häufig 


1)  Berachotb  16b:  "[n^:m:i?i  ']ma  mö  "T:£b  X2m* 


115 


statt:  „es  sei  dein  Wille",  „es  sei  der  Wille  Yor  dir"  i). 
Statt  wir  haben  von  Gott  gehört,  heisst  es:  „Aus 
dem  Munde  der  Stärke  haben  \vir  yernommen  2).  Be- 
kannt  ist    das    targumische    „Memra"    oft   ganz    wie 

Ich  mache  schon  hier  die  Anmerkung,  dass 
Marcion  zu  seiner  Unterscheidung  zwischen  einem 
guten  Gott  und  einem  blos  gerechten  nicht  etwa  eine 
nagelneue  Erfindung  zu  machen  nöthig  hatte.  Er 
brauchte  nur  die  längst  bei  den  Juden  vorhandene 
Vorstellung,  dass  in  Gott  selbst  Middath  Haddin 
und  Mddath  Harachamim  Eigenschaften  seien,  welche 
gleichsam  auseinandertreten  und  in  ihrem  "Wirken 
sich  gegenseitig  ergänzen  3),  tendentiös  zu  ergreifen, 
und  er  hatte  das  Mittel  zu  seiner  schandbaren  Auf- 
stellung eines  „Judengottes",    die    trotz   des  Protestes 


1)  Ibidem  y^zh^  ]^:l'^\  ^'^^ 

2)  i3i:öü  nmn:n  ^a^  öfter. 

^)  Bekannt  ist,  dass  der  Talmud  den  Namen  „Jahwe'^  für 
Middath  Harachamim  und  den  Xamen  „Elohim''  für  Middath. 
Haddin  in  der  Schrift  angewendet  glaubt.  Charakteristisch  ist 
auch  die  Deutung  des  Daniel'schen  Yerses  7,  9:  „Ich  schauete, 
bis  dass  man  hinsetzte  Throne  und  ein  Alter  an  Jahren  sich 
setzte"  u.  s.  w.  Hier  macht  den  Talmudisten  die  Pluralform 
„Throne'^  Sch^vierigkeiten.  Akiba  erkläi-t:  „einen  Thron  für  Gott, 
einen  für  „David"  (Messias).  Das  veiivies  ihm  sein  College, 
Jose  der  Galiläer,  mit  den  Worten:  Akiba,  -^ie  lange  willst  Du 
die  „Schechinah"  profaniren?  Vielmehr  „einen  für  das  Eecht, 
einen  für  die  Liebe"  {npi:ih  nnXT  pn"?  ^HK).     Es  ist  wahr,  dass 


116 


der  Kirchenväter  1)  in  manchen  noch  bis  heute  heid- 
nisch gebliebenen  Köpfen  haften  geblieben.  Doch 
dies  nebenbei.  Aber  zu  solchen  "Wendungen  bot  das 
alte  Testament  keinen  Anlass,  die  einzige  Stelle 
Spr.  Sal.  cap.  8  ausgenommen,  wo  die  "Weisheit  aller- 
dings wie  eine  göttliche  Hypostase  auftritt,  weshalb 
diese  Stelle  auch  in  der  jüdischen   Gnosis   eine  Rolle 


auch  diese  Deutung  (wohl  als  zu  pluralistisch)  daselbst  mit 
schai-fen  "Worten  venvorfen  wird,  aber  charakteristisch  bleibt  sie 
doch.  (Talmud,  Chagiga  14a.  Sanhedrin  38b.)  Ygl.  Graetz  1.  1. 
S.  88. 

1)  Schäiier  als  die  Kirchenväter  gegen  die  Trennung  des 
..Judengottes"  von  dem  wahren  Gotte  kann  kein  Jude  protestiren. 
Sie  wissen  alle,  dass  es  sich  dabei  um  Sein  und  Nichtsein  des 
historischen  Chiistenthums  handelt.  Ja  sie  sagen  im  Kampfe 
gegen  die  Häretiker  bisweilen  Dinge,  die  heute  noch  nicht  über- 
flüssig sind.  So  sagt  Irenäus  IV,  12,  2:  ..Dass  aber  dieses  (die 
Liebe  zu  Gott  nämlich)  das  erste  und  grösste  Gebot  ist,  das 
zweite  aber  die  Liebe  gegen  den  Nächsten,  hat  der  Herr  gelehrt 
da  er  sagt,  das  ganze  Gesetz  und  die  Propheten  hängen 
an  diesen  Geboten.  Auch  der  Herr  hat  kein  anderes 
grösseres  Gebot  als  dieses  gebracht,  sondern  eben  dieses 
seinen  Jüngern  erneuert,  indem  er  ihnen  befahl,  Gott  zu 
lieben  von  ganzem  Herzen  und  die  "Cebrigen  wie  sich  selbst 
(et  ipse  autem  ahud  majus  hoc  praecepto  non  detulit,  sed  hoc 
ipsum  renovavit  suis  discipulis,  jubens  eis  deum  diligere  ex  toto 
corde  et  caeteros  quemadmodum  se).  TTena  er  aber  von  einem 
anderen  Tater  gekommen  wäre,  so  hätte  er  nie  aus  dem  Gesetze 
das  erste  und  höchste  Gebot  hergenommen,  sondern  gewiss  auf 
alle  Weise  getrachtet,  ein  grösseres  als  dies  von  dem  „voll- 
kommenen" (gnostischen)  Vater  herabzubringen". 


117 

spielt.  Desto  mehr  Anlass  zu  solcher  Personificirung 
von  Eigenschaften  bot  das  vom  Piatonismus  beein- 
flusste  Denken  jener  Tage.  Platonisch  ist  auch  die 
Anschauung,  nach  welcher  die  obere  Welt  Paradigma 
der  diesseitigen  ist.  So  gibt  es  unter  den  sieben 
Himmeln,  von  denen  der  Talmud  redet,  einen  Xamens 
„Sebul",  woselbst  das  himmlische  Jerusalem  und  der 
Tempel  mit  dem  Altare  sich  befindet.  Auf  diesem 
Altar  bringt  „Mchael  der  grosse  Fürst"  täglich  die 
Seelen  der  Frommen  als  Gott  wohlgefälliges  Opfer 
dar^).  So  finden  die  Engel,  welche  auf  der  Jacobs- 
leiter auf-  und  niedersteigen,  das  Jacobsgesicht  auch 
oben  in  den  himmlischen  Wesen  (den  Ezechierschen 
Chajot^j.  Das  erinnert  an  die  von  Lobeck  3)  aus 
Kircher  mitgeth eilte  memphitische  Inschrift:  oopavoc 
av(o ,  oopavo?  y.dxco ,  ~äv  6  avo)  Toöro  zdxw  x.  t.  X. 
Mcht  gesagt  zu  werden  braucht,  dass  die  midraschische 
Wendung :  Gott  blickte  auf  die  Thora  und  schuf  nach 
ihr  die  Welt'i),  eine  Judaisirung  eines  Platonischen 
Gedankens  ist. 


1)  Chagiga  IIb:  Sxs^ai  n;n  nn'öi  trip^nn^^i  t^bt'iT irtr  '7^^t 
bini  n-'s  'n^;s  n:n  -i^Xitr  nr  brn  pip  rh^  ::npüi  n^in  b*n:n  ni:? 
xbx  n'TZ2^  ans  dü?4  tr^tr  "^nun  bu  rhvn  •'21  mpö  nöi  'i2i  -[b 

D'pnü  btt?  jn^'^ra  mpö 

2)  Chulin  91b:  D^-ivi  n4u?2  StT  i:prn2  pSrnc^i  c^Siü 

HD»  btr  i;prnn  j^bsncöi 

3)  Aglaophamus  S.  909. 

'i)  Genesis  Eabbah  zu  Anfans-e. 


118 


Ebenso  unzweideutig  sind  die  Anklänge  an  die 
Platonische  Seelenlehre.  "Wie  im  Tiniäus  die  Zahl 
der  Seelen  bestimmt  ist  und  diese  unterrichtet  werden 
über  die  Xatur  des  Alls  und  über  die  über  sie  ver- 
hängten Gesetze^),  so  ist  auch  füi-  die  Talmudisten 
einmal  die  Zahl  der  Seelen  bestimmt  nach  dem  Satze: 
,^er  Sohn  David's  (Messias)  komme  nicht  früher,  bis 
die  Seelen  alle  aus  dem  Behälter  entlassen  sind  2), 
dann  wird  auch  die  Seele  vor  ihrer  Geburt  unter- 
richtet und  verwarnr'  3).  Xicht  minder  ^^ie  bei  Plato 
entsteht  die  anfängliche  Unwissenheit  der  Seele,  nach- 
dem   sie  in's  Diesseits    getreten,    eben    durch    diesen 


1)  Timäus  S.  42. 

2)  Jebamoth  63b:    ^l^ir^  n*!2r;n  h'D  'hT'^  IV  ^^  nn  p  pK 

3)  Xiddah  30b :  Daselbst  werden  die  Yorgcinge  bei  der  Geburt 
des  Menschen  in  poetischen  Farben  geschildert.  "Wenn  er  an's 
Licht  der  "Welt  tritt  (wörtlich  an  die  Luft  der  Welt),  so  öffnet 
sich  was  verschlossen  war  und  schliesst  sich  was  geöffnet  war, 
denn  sonst  könnte  er  nicht  eine  Stunde  leben,  und  ein  Licht 
brennt  ihm  zu  Häupten,  vennittelst  dessen  er  von  einem  Ende 
der  "Welt  bis  zum  andern  bhckt,  denn  so  heisst  es  (Hiob  29,  3) : 
,.Da  seine  Leuchte  sti-ahlte  über  meinem  Haupte,  bei  seiaem 
Lichte  ich  wandelte  im  Finstern'*.  Wundere  Dich  auch  nicht, 
denn  der  Mensch  scliläft  hier  und  sieht  einen  Ti*aum  in  Spanien. 
Auch  giebt  es  keine  besseren  Tage  als  jene  (vor  der  Gebuit),  denn 
es  heisst  (Hiob  29,  2):  „0  wäre  ich  wie  in  vergangenen  Monden 
wie  in  den  Tagen,  da  Gott  mich  behütete".  Welches  sind  die 
Tage,  die  sich  wohl  zu  Monden  runden  aber  nicht  zu  Jahren? 
Das  sind  die  Tage  vor  der  Geburt.  L'nd  da  lehrt  man  ihn  die 
ganze  Thora,   wie  es   heisst  (Spr.  Sal.  4,  3  ff.):    „Da  ein   Sohn 


119 


Eintritt.  Ein  Engel  macht  sie  die  ganze  Thora,  in 
der  sie  früher  unterrichtet  gewesen,  wieder  vergessen  i), 
so  dass  auch  nach  dem  Talmud  das  Lernen  wie  bei 
Plato  nur  eine  "Wiedererinnerung  sein  kann.  Dass 
auch  die  Aristophanische  Darstellung  im  Platonischen 
Symposion,  der  Mensch  sei  ursprünglich  androgyn 
gewesen,  in  die  Midraschim  gedrungen,  ist  bekannt. 
Die  Stelle,  die  dem  Plato  nachsagt,  er  habe  täglich 
Gott  gedankt,  dass  er  ihn  zum  Hellenen,  nicht  zum 
Barbaren,  zum  Freien,  nicht  zum  Sklaven,  zum  Manne 
und  nicht  zum  Weibe  geschaffen,  kann  ich  augen- 
blicklich nicht  finden.  Thatsächlich  entspricht  das 
aber  drei  talmudisch  für  die  Liturgie  vorgeschriebenen 
Segenssprüchen.  Die  Meinung  über  die  Frau,  die  in 
diesen  Segenssprüchen  sich  ausspricht,  ist  daher  nicht 
jüdisch  (orientalisch),  sondern  griechisch,  und  geht  auf 
Platon's  Aeusserungen  im  Timäus'-)    zurück,   der  das 


ich  war  zart  und  einzig  meines  Vaters,  meiner  Mutter,  unter^vies 
er  mich  und  sprach  zu  mir:  Es  erfasse  meine  Worte  Dein 
Herz,  wahre  meine  Gebote  und  Du  lebst''.  Ferner  heisst  es 
(Hiob    in  der  Fortsetzung):     „Als  das    Geheimniss    Gottes   über 

meinem  Zelte  war" Wenn  er  dann  an's  Licht  der  Welt 

tritt,  kommt  ein  Engel,    schlägt  ihm    auf    den  Mund  imd  macht 

ihn  die  ganze  Thora  wieder  vergessen und  man  beschwört 

ihn  auch  vor  Eintritt  in  die  Welt:  Sei  ein  Gerechter  und  kein 
Frevler  u.  s.  w. 

1)  Niddah,  ibid.,  Siehe  die  vorige  Xote. 

2)  Plato,  Timäus  S.  4:i:    c'fxXsis  §£  xouxwv,  t'.ci '(>T/o(,iy.bz  '-posiv 
Iv  z-Q  teoxipcf.  '(Bvhzi  [iBZOi.'^aAXo'.. 


120 


Eingehen  .in  eines  Weibes  Xatur'  für  eine  Art  von 
Strafe  bezeichnet.  Ich  würde  diesen  unbedeutenden 
Punkt  nicht  berühren,  wenn  er  nicht  geeignet  wäre^ 
eine  gewisse  Generalisirungsmethode,  ein  gewisses 
Reden  von  Semitismus,  als  unhaltbar  aufzuzeigen. 
Xicht  mehr  platonisch,  sondern  neupythagoräisch 
dagegen  ist  das  Gewicht,  das  die  Talmudisten  auf  die 
Buchstaben  und  den  Zahlenwerth  derselben  legen.  Ja^ 
die  Stellen,  welche  geradezu  den  Buchstaben  welt- 
schöpferische Kraft  zuschreiben,  führen  uns  schon 
ganz  in  den  gnostischen  Gedankenkreis  hinein.  Im 
Jerusalemischen  Talmud i)  heisst  es:  ,,Die  Welt  ist 
vermittelst  des  ,3eth"  geschaffen  worden.  Ein  Anderer 
meint,  diese  Welt  vermittelst  des  „He*',  die  jenseitige 
aber  vermittelst  des  „Jod''.  So  heisst  es  auch^): 
„Bezabel  verstand  die  Buchstaben  zu  verbinden,  ver- 
mittelst deren  Gott  die  Welt  geschaffen^'.  Wie  hier 
mit  dem  Worte  „Bereschith''  oder  mit  dem  Worte- 
„Bejah"  in  Jesaias  26,  4  gespielt  wird,  so  trägt  Marcus, 
bei  Ii'enäus^)  die  Geheimnisse  des  Wortes  af>yrj  und 
seiner  vier  Buchstaben  vor,  die  als  Insti'umente  der 
Weltschöpfung  gedient  hätten.  Xach  Marcus  war  das 
Wort  apyt^  das  erste  Wort  des  Gottesnamens,  daran 
knüpft  sich  ein  zweites  —  welches,  ist  nicht  gesagt  — 


1)  Cliagiga  c.  2  S.  77  col.  3. 

2)  Bab.  Talmud  Beracliotk  55a. 

3)  Ii-enäus,  I,  c.  14. 


121 


gleichfalls  aus  vier  Buchstaben  bestehend,  daran  ein 
drittes  aus  zehn  und  ein  viertes  aus  zwölf  gebildet. 
So  komnien  die  dreissig  Buchstaben  gleich  den 
dreissig  Aeonen  der  Gnostiker  heraus.  Bekanntlich 
spricht  auch  der  «Talmud  neben  dem  yierbuch- 
stabigen  Gottesnamen  von  einem  zwölf-  und  zwei- 
undvierzigbuchstabigen ,  dessen  Gnosis  (wehajodeoh) 
hienieden  beliebt  und  im  Jenseits  selig  macht  ^). 
Durch  die  Parallelstelle  im  Irenäus  wird  die  Dunkel- 
heit, die  über  dieser  talmudischen  Relation  liegt,  etwas 


1)  Kiddiiscliin  71a  heisst  es:  Den  vierbuchstabigen  Xamen 
tradirten  die  li\'eisen  ihren  Jüngern  einmal  in  sieben  Jahren, 
nach  Andern  zweimal.  Der  zwölfbuchstabige  wurde  urspriinglich 
Jedermann  mitgetheilt ,  später  aber  nur  den  Verschwiegensten 
unter  den  Priestern.  Der  zweiundvierzigbuchstabige  wurde  nur 
einem  Menschen,  der  ganz  besondere  ethische  Bedingungen  er- 
füllte und  in  vorgemcktem  Lebensalter  stand,  tradirt.  „Wer 
seine  Gnosis  hat'*  (lUirm),  sagt  dann  der  Talmud,  „und  in  Vor- 
sicht und  Eeinheit  wahrt,  ist  oben  (bei  Gott)  beliebt  und  unten 
(bei  ]\[enschen)  begehrt,  er  flösst  den  Geschöpfen  Scheu  ein  und 
erbt  beide  Welten,  diese  und  die  kommende  Welt''.  Vergleiche 
zu  dieser  Stelle  die  Schrift  meines  Bruders  Dr.  D.  H.  Joel: 
Die  Eeligionsphilosophie  des  Sohar  S.  31  und  32.  üeber  die 
Gottesnamen  vergleiche  auch  Midrasch  Koheleth  zu  III  V.  11 
(jetzt  deutsch  übertragen  von  Wünsche  S.  48  u.  49).  Aus  dem 
Schlüsse  der  langen  Stehe  geht  deutlich  hervor,  dass  man 
durch  Kenntniss  des  Gottesnamens  in  das  Geheimniss 
der  ganzen  Kosmogonie  eindringen  zu  können  glaubte. 
Warum  verheimlichte  man  den  Xamen  mit  solcher  Sorgfalt, 
Avird  gefragt  und   darauf  geantwortet:    ClS'H  XÄ?2''  i<b  "iwN  ^^272 


122 


gelichtet,  namentlich,  wenn  man  die  beachtenswerthe 
Erklärung  der  Tosaphoth  (Zusätze  zum  Talmud  aus 
dem  12.  und  13.  Jahrhundert)  zu  Chagiga  (cap.  2, 
Anfang)  hinzunimmt,  dass  man  nämlich  unter  ,31aasse 
Bereschith''  (esoterische  Kosmogonie  der  jüdischen 
Lehrer)  eben  den  zweiundvierzigbuchstabi gen  Gottes- 
namen verstehe,  der  aus  dem  ersten  und  dem  auf 
ihn  folgenden  Terse  des  biblischen  Schöpfungsberichts 
hervorgehe.  Das  stimmt  so  gut,  dass  man  beinahe 
an  eine  Tradition  glauben  möchte,  wenn  es  nicht  auf- 
fallend wäre,  dass  weder  Easchi  noch  ]\Iaimonides 
diese  Tradition  kennen.  Soweit  die  Zahl  nicht  stimmt, 
ist  zu  bedenken,  dass  die  Talmudisten  an  hebräischen, 
die  Gnostiker  an  griechischen  Worten  operirten.  Hiermit 
sind  wir  eigentlich  schon  in  die  talmudische  Gnosis 
etwas  hineingekommen.  Doch  orientiren  wir  uns  erst 
über  die  Sache  noch  von  einer  anderen  Seite  her. 

Sicher  ist,  dass  es  für  die  palästinischen  Lehrer 
nur  eine  Autorität  gab,  die  Thora.  TTo  ihnen  ein 
Widerspruch  zwischen  den  Worten  der  Thora  und 
einem  Philosophem  entgegentrat,  da  nahmen  sie  geT\iss 
nicht  einen  Augenblick  Anstand,  das  Philosophem  zu 
verwerfen.  Aber  die  Platonischen  Meinungen,  auch 
seine  kosmogonischen,  sowohl  an  sich,  als  namentlich 
in  der  Gestalt,  die  ihnen  die  Xeupythagoräer  gegeben, 
mussten  ihnen  in  vieler  Beziehung  verwandt  und 
lieb  erscheinen. 


123 


Erst  später,  als  auf  Grund  der  heidnischen  Philo- 
sophie die  Gnosis  aus  der  jüdischen  Kosmopoeie, 
wie  Philo  noch  im  jüdischen  Geiste  sein  Buch  über- 
schreibt, eine  heidnische  Kosmog 0 nie  macht,  mochte 
ihnen  der  Widerspruch  zwischen  heidnisch  und  biblisch 
auch  bei  sonstiger  Aehnlichkeit  entgegentreten.  Konnte 
doch  auch  demjenigen,  der  das  erste  Buch  Mosis 
„Genesis"  genannt  hat,  noch  nicht  eingeleuchtet  haben, 
dass  diese  Bezeichnung  eigentlich  aus  einem  anderen 
Gedankenkreise  heraus  erwachsen  ist. 

Aber  dass  Plato  die  Welt  als  geworden  i),  dass 
er  sie  als  einen  Act  der  Güte  Gottes  fasst  -),  dass  der 
Kosmos  schön  und  der  Demiurg  gut  ist  3),  dass  die 
Welt  im  Ebenbilde  des  Ewigen  geschaffen  sei*),  dass 
Gott  Wohlgefallen  fand   an   der  geschaffenen   Welt  5), 


1)  Plato,    Timäus  S.   28:    ly.s-xsov    odv   Syj    r.epl    aoxoü    (to-j 

X6z[l00)    T.pÜMOV    ....    TiOXSpOV    TjV    CabI,    Y£V£G£a>S     <^P/,V    ^7"^'''    l^V^''' 

\iLo:j,  y]  '(e'(ovo'^f  an    öcp^-fjg  tcvo^  apgaiasvo;.     y^T°'^^'^- 

2)  Ibid.  S.  29 :  Ai-^(a\i.sv  §■)]  oC  y^v  aitcav  ^(ivB^siv  xal  xb  Käv  xö5s 

ooSsTioxs  rpfÖYvsTO'.c  cp^-ovog. 

3)  Ibid.  El  [ih  5-r]  %aX6;   bxiv  o5s     6   -/.öy^oc,  ozz   or^|ico'jpYo; 

*)  Ibid.  Upoc;  Tioxspov  tojv  lüapaosiYlJ-^'^J''  ^  xsy.xa'.voiJLSvoG  ^-'J'^v 

öcTCStpYaCsxo Tiavxi   Ss  ca-fs;    oxt   7:pös  xo  äc5:ov.     Und  im 

Yerlaufe  ebendaselbst:  Tiavxa  ox:  ixc/Xiz-'x  Ißo'JATj^Y]  Y^vs-O-a:  -apa- 
Tr^Tpia  a'jxö). 

5)  Ibid.  37:  "ß^  ^^  xivr^O-sv  xs  a-jxo  y.al  C^v  ivEv6Yja=  xöiv 
öcioitov  •9-scöv  '(B'(0'/oc,  r/r(o.\[i.OL  h  ''^zWffiOi.c,  iraxYjp,  YjYaoO-T]  xal 
sü'vop  avO-s'lj  .  .  .  .   s-svoTj-sv  x.  x.  X. 


124 


dass  Sonne.  [Mond  und  Sterne  geschaffen  seien  „zur 
Unterscheidung  und  Bewahrung  der  Zahlen  der  Zeit"  i) 
darin  mussten  die  Talmudisten  eine  den  biblischen 
Aeusserungen  verwandte  Seite  erkennen. 

^as  nicht  verwandt  war,  sondern  durch  heidnische 
Fassung  abstiess,  wie  z.  B.  dass  Plato  die  AVeit  selbst 
als  einen  gewordenen  G-ott  bezeichnete  und  dass  er 
überhaupt  von  Göttern  sprach,  das  wurde  passend  ge- 
macht dadurch,  dass  man  ihm  eine  mehr  jüdische 
"Wendung  gab.  TVar  ja  die  Engellehre  seit  der  baby- 
lonischen und  persischen  Zeit  in  Judäa  ziemlich  aus- 
gebildet. So  entsteht  die  merkwürdige  Figur  eines 
^.Weltengels"  oder  „Weltfürsten"  (Sar  Haolam),  wie 
es  einen  ..Meerfürsten"  (Sar  Hajam)  u.  s.  w.  gibt. 
Ea'ochmal  meint,  es  sei  das  der  Demiurg  der  Gnostiker. 
Prüfen  wir  aber  die  wenigen  Stellen,  in  denen  der 
Weltfüi^st  figuriit. 

Talmud  Chulin  60  a  bemerkt  ein  Lehrer  zu  dem 
den  berühmten  Schöpfungspsalm  (Psalm  104)  ab- 
schliessenden Verse:  ..Ewig  sei  die  Ehre  Gottes, 
seiner  Werke  fi'eut  sich  Gott*':  Diesen  Vers  hat  der 
..Weltfürsf  gesagt.  Als  nämlich  Gott  zu  den  Bäumen 
sprach:  ..Xach  ihrer  Art",   da  wandten  die  Gräser  auf 


1)  Ibid.  S.  38  ES  ODv  /«oyo-j  y.al  t'.avcixc.  b-toö  -o'M.'j-r,^  -poc  /pövo-j 
YcVSG'.v,  Iva  Y^vvcO--^  ZP^'-'^S?  "Ba:oz  xai  -E//f,v/;  xat  rsv's  a/.Äa  az-prx 


/VE. 


125- 


sich  selbst  einen  Kai  Wacliomer  (Schluss  vom  Leich- 
ten zum  Schweren)  an.  Hätte  Gott  Gefallen  (meinten 
sie)  am  Durcheinander,  warum  hätte  er  zu  den  Bäumen 
gesagt:  „I^ach  ihrer  Art",  zumal  es  ohnehin  der  Natur 
-der  Bäume  nicht  entspricht,  im  Durcheinander  hervor- 
zuwachsen.  Sofort  kamen  auch  die  Gräser  hervor, 
jedes  nach  seiner  Art,  und  der  „Weltfiirst"  stimmte 
den  Yers  an:  „Jahwe  freut  sich  an  seinen  Werken 
(die  nämlich  seinen  Willen  auf  den  Wink  verstehen). 

Jebamoth  16  heisst  es:  Den  Yers  (Ps.  37,  25): 
,,Jung  war  ich,  auch  alt  bin  ich  geworden,  nie  sah 
ich  verlassen  den  Frommen  und  seinen  Samen  suchen 
nach  Brot",  den  hat  der  „Weltfürst"  gesagt.  Im 
Munde  Gottes  passt  er  nicht,  da  er  nicht  altert,  im 
Munde  David's  nicht,  denn  er  ward  gar  nicht  so  alt 
(um  so  sprechen  zu  dürfen). 

Sanhedrin  94  a  wird  an  das  Jesaias  9,  6  in  dem 
Worte  „lemarbe"  unregelmässig  geschriebene  „Mem"  i) 
Folgendes  angeknüpft.  Warum  ist  jedes  „Mem"  inner- 
halb eines  Wortes  offen,  dieses  aber  geschlossen? 
Gott  wollte  den  Hiskias  zum  Messias  und  den  San- 
hcrib  zum  Gog  und  Magog  machen.  Da  sagte  Middath 
Haddin  (die  Hypostase  der  göttlichen  Gerechtigkeit) 
zu  Gott:  „Herr  der  Welt,  David,  König  von  Israel, 
der    dich    in   so  viel  Liedern    und  Lobgesängen    ver- 


1)  Es  heisst  nämlich  Hnnob  statt  nn-Da*?. 


126 


heniicht,  ihn  hast  du  nicht  zum  Messias  gemacht, 
und  du  willst  den  Hiskias,  dem  du  so  viele  Wunder 
erwiesen,  ohne  dass  er  dir  ein  Lied  sang,  zum  Messias 
machen?''  Deshalb  schloss  sich  das  „Mem'^  (symbolisches 
Zeichen,  dass  die  Erlösung  gehemmt  sei).  Sofort  fing 
die  Erde  an  und  sprach  vor  Ihm :  Herr  der  Welt,  ich 
will  vor  dir  ein  Loblied  singen  für  diesen  Frommen, 
und  mache  ihn  zum  Messias.  Und  sie  hob  ein  Lied 
an.  wie  es  heisst  (Jesaias  24,  16):  „Tom  Saume  der 
Erde  hören  ^v^ir  Gesänge''.  Es  sprach  nämlich  der 
Füi'st  der  Welt  zum  Heiligen,  gelobt  sei  Er  (Gott): 
.,Thue  diesem  "Frommen  seinen  Willen".  Da  rief  eine 
Himmelsstimme  als  Antwort:  „Mein  ist  das  Geheimniss, 
mein  ist  das  Geheimniss"  i). 

Schon  die  alten  Erklärer  sind  in  Verlegenheit, 
anzugeben,  wer  denn  dieser  „Fürst  der  Welt"  sei. 
Sie  identificiren  ihn  in  der  Kegel  mit  „Metatron",  der 
als  Bote  Gottes  ihn  vielfach  vertritt,  ja  sogar  den 
Xamen  Gottes  führt  und  nach  einem  Lehrer  derjenige 
ist,  zu  dem  Moses  aufsteigt.  Die  Worte  nämlich 
(Exodus  24,  1):  „Und  zu  Moses  sprach  Er  (Gott): 
Steige  auf  zu  Jahwe",  machen  einem  talmudischen 
Lehrer  so  viel  Schwierigkeit,  dass  er  erklärt,  es  sei 
gemeint:  Steige  auf  zu  Metatron,  dessen  Xame  gleich 


1)  Die  "^^^enduDg  .,Thue  diesem  Frommen  seinen  TTillen" 
und  „Mein  ist  das  Geheimniss''  beruht  auf  der  Auslegung  der 
Schriftworte  (Jesaias  24,  16)  p"r^h  '21'  und  'b  "'n  'b  ^n. 


127 


ist  dem  Xamen  seines  Herrn  i).  Wer  diese  Stelle 
beachtet,  der  wird  nicht  schwer  begreifen,  Avie  in 
christlichen  Kreisen  die  Ansicht  aufkommen  konnte, 
die  mosaische  Gesetzgebung  sei  durch  einen  Engel 
geschehen'-).      Der  Identificirung    von    ]\[etatron    mit 


1)  Sanhedrin  38b:  "b  "J^'f2  'b^  rbV!  'H  Sk  nbü  nö«  .Trö  ^^Kl 
inn  crr  l^ri:'  ]^li:^f2  in*  b"i^  Von  Metatron  gibt  es  viele  Ety- 
mologien. Die  Einen  nehmen  das  Wort  lateinisch,  für  metator, 
der.Gränzabstecker,  die  Anderen  für  griechisch:  „MitheiTScher^ 
(siehe  Sachs,  Beiträge  I,  108;  Levy,  Lexicon  s.  v.)-  Noch  Andere 
identificiren  ihn  mit  dem  persischen  Mithras  (Kohut,  die  jüdische 
Angelogie  36  ff.)  Auch  wenn  das  letztere,  was  ich  glaube 
richtig  ist,  so  muss  man  nicht  etwa  an  persischen  Einfluss  auf 
palästinische  Lehrer  wie  Acher  (Chagiga  15a)  denken,  sondern 
die  Mithrasmysterion  waren  damals  seit  langer  Zeit  den  Griechen 
sehr  vertraut.  Neben  den  von  Kohut  1.  1.  S.  41  aus  Windisch- 
raann  „Mithra,  ein  Beiti-ag  zur  Mythengeschichte  des  Orients"- 
angeführten  Stellen  ist  Origines'  Aeusserung  interessant.  Er  sagt 
(contra  CelsumTI,  22):  „Celsus  bringe,  gegen  die  Christen  und 
Juden  schreibend,  unpassend  und  ungehörig  nicht  blos  den 
Plato  herbei,  sondern  auch  den  Mithrasdienst  der  Perser.  Ob 
das  nun  bei  den  Mithrasverehrern  und  den  Persern  damit  seine 
Richtigkeit  habe  oder  nicht,  so  scheinen  doch  die  llithras- 
mysterien  bei  den  Griechen  nicht  in  gi'össerem  Ansehen  zu 
stehen  als  die  eleusinischen ,  oder  die  Mysterien  der  Hekate  in 
Aegina".  Ohne  zu  entscheiden,  wer  Eecht  hat,  ob  Origines 
oder  Celsus,  starken  Eingang  müssen  doch  nach  diesen  "Werten 
die  Mysterien  des  Mithras  in  die  gi-iechische  "W'elt  gefunden 
haben. 

2)  Galater  3,  19  werden  bekanntlich  aus  dieser  damaligen 
seltsamen  Zeitanschauung  wichtige  Eolgemngen  in  Bezug  auf 
die  Gültigkeit  des  mosaischen  Gesetzes  gezogen.     Dieselbe  Tor- 


128 


dem  ..archon  miindr*  (Sar  Haolam)  steht  freilich  im 
^ege,  dass  nach  einer  Ansicht  ^letatron  mit  Henoch 
identiscli  ist,  der  nach  seiner  Entrückung  von  der 
Erde  zu  dieser  Stufe  emporgehoben  Trorden  sei, 
-während  der  Weltfürst,  wie  aus  der  ersten  über  ihn 
mitgetheilten  talmudischen  Stelle  ersichtlich,  schon 
bei  Erschaffung  der  Welt  da  war.  Eichtig  aber  be- 
merken die  ..Tosaphoth''  zu  Jebamoth  16  b.  dass  man 
von  Haggadoth  nicht  verlangen  könne,  immer  mit 
einander  übereinzustimmen.  Für  unseren  Zweck 
iedoch  ist  diese  Frage  secundär.  Der  ..Weltfürst''  ist 
jedenfalls  hier  noch  nicht  der  ..Demiurg"  (Weltschöpfer), 
das  ist  vielmehr  noch  Gott  selbst.  Einstweilen  ist  er 
nur  die  Umwandlung  der  Platonischen  Ansicht,  dass 
der  Kosmos  selbst  ein  gewordener  seliger  Gott  ist. 
in  die  jüdische  Fassung,  dass  dem  Kosmos  ein  ge- 
wordener Engel  als  Archon  vorsteht.  Aber  der  Keim 
zum  Demiurgen  in  der  gnostischen  Fassung  ist  doch 
hier  gegeben.  Wir  werden  sehen,  dass  auch  unter 
Juden  ein  solcher  Keim  aufgegangen  war,  wollen  uns 
erst  aber  darüber  orientiren.    dass   in  der  That  schon 


Stellung  heiTScht  Hebr.  11.  2.  act.  7.  53.  Man  zieht  für  diese 
Vorstellung  in  der  Regel  auch  die  Stelle  des  Josephus  an 
(Antiq.  XV,  5,  3).  -^o  Herodes  in  seiner  Rede  die  "Worte  hat: 
Yjpiuv  5e  la  y.aXy.iita  tcüv  SoY.iJ-aTcov  y.a'  ib.  bz'M'c/.-'x.  tüjv  sv  -rot; 
yoiioig  bC  ä-pfsAtuv  ::apa  icö  0£oD  [JLaO'ovTcov.  Es  ist  möglich,  dass 
auch  dieser  Stelle  die  neutestamentHche  Vorstellung  zu  Giiinde 
liegt,  obwohl  sie  auch  harmloser  gemeint  sein  kann. 


129 


im   Plato    die    Teranlassiing    dazu    g-efiindeii   werden 
konnte. 

Piaton' s  Timäus  avüI  beginnen  ,,mit  der  Ent- 
stehung der  "Welt''  und  endigen  „bei  der  Erzeugung 
des  Menschen"  i).  „Den  Schöpfer  nun  und  Yater  des 
Alls  zu  finden'*,  meint  Plato,  „ist  schwer,  und  von  dem 
Gefundenen  zu  Allen  zu  reden,  unmöglich"-). 
Hier  haben  ^^'iT  schon  die  auch  den  Talmudisten 
geltende  Norm,  dass  das  Auslegen  des  Schöpfungs- 
capitels  (Maasse  Bereschith)  esoterisch  bleiben  müsse  3). 
„Ist  der  Kosmos  schön  und  der  Demiurg  gut",  sagt 
Plato,  „so  hat  er  ofi'enbar  bei  der  Schöpfung  auf  das 
Ewige  als  auf  ein  Paradigma  geblickt,  wenn  aber"  — 
Plato  wagt  das  Gegentheil  nicht  auszusprechen  und 
sagt,  es  sei  nicht  einmal  erlaubt,  das  Gegentheil  hypo- 
thetisch hinzustellen  —  „dann  hätte  er  auf  Gewordenes 
geblickt" -t).  So  sehr  demnach  diejenigen  Gnostiker 
antiplatonisch  sind,  die  später  die  Dreistigkeit  hatten 
den  TTeltschöpfer  zu  verlästern,  so  können  wir  doch 
nicht  sagen,  dass  ihnen  die  Anregung  dazu  nicht 
aus  Plato    gekommen.     Als    sie    ein  Interesse    daran 


1)  Timäus  S.  27. 

2j  Ibid.  S.  28  Tov  |X£v  vüv  ttoiyjxtjV  v.al  TzoLiioT.  xoöot  zoö  rravtoc 
süpslv  TS  l'pYov  v.ai  sbpovxa  sl^  Tzdyzccc,  aoüvaxov  Ki'(z'.v. 
3)  Darüber  später  im  Texte. 
■^)  Timäus  S.  2J  sl  |jlsv  oq  v.a/.os  bxcv  002  ö  v.ozixoz  ozt  or^{xi- 

9 


130 


hatten,  die  Welt  mit  anderen  als  Platonischen  Angen 
anzusehen,  als  sie  die  Welt  und  ihre  Erzeugnisse 
so  pessimistisch  beurth eilen  zu  müssen  glaubten, 
dass  diese  nur  durch  ein  kosmisches  Wunder  erlöst 
werden  konnte,  kam  ihnen  die  unausgesprochene 
Hypothese  des  Plato  gerade  recht.  Deutlicher  noch 
wird  uns  diese  Anregung,  wenn  wir  Folgendes  erwägen. 
Xach  Plato  wird  der  Schöpfer  von  einem  Gesetze 
beherrscht,  das  er  selbst  nicht  durchbrechen  kann. 
Ans  Güte  schafft  er  die  Welt  so  gut  als  es  möglich  ist. 
Als  nun  ,,der  Yater  die  von  ihm  erzeugte  Welt  be- 
wegt und  lebend  bemerkte,  eine  Preude  der  ewigen 
Götter,  da  empfand  er  Wohlgefallen  und  erfreut  ge- 
dachte er  sie  nun  noch  mehr  dem  Urbilde  ähnlich 
zu  machen.  Wie  also  dieses  selbst  ein  ewiges  Wesen 
ist,  so  nnternahm  er  auch  dieses  All  nach  ^löglich- 
keit^)  zu  einem  eben  solchen  zu  machen.  Des 
Wesens  Xatur  war  aber  eine  ewige.  Und  dieses  nun 
2:anz  auf  das  Erzeuo'te  zu  übertrasren  war  nicht 
möglich 2);  aber  ein  bewegtes  Bild  des  Ewigen  be- 
schloss  er  zu  machen''. 


1)  Ibid.  S.  30:  ßGuATjö-s'.?  y^P  ^  '^'^S  ö^Yaöa  |isv  -dcvra,  '^/.aöpov 
OS  [JLTjSIv  c'.vc/.:  y.aTa  ODVa|J.iv,  aoziu  oy]  7:äv  ocov  v^v  öpaTÖv  .... 

2)  Ibid.  S.  37:  -q  [ikv  oüv  CoiOü  cp-joi?  IxL-Y'/avsv  obza  alcuv-og. 
v.ai  tOD-o  jisv  OT,  TCO  ys'^vyjtö)  TravXcXöig  Tzpoza-zztiy,  ohv.  YjV 
o'JvaToV  s'.v.Gva  o'  l~'.votl  '/.v/r-ry  T'.va  atcövoc  zoirzai. 


131 


Aber  wie  hier  der  Schöpfer  gehindert  ist,  dem 
Kosmos  als  einer  blos  gewordenen  Wesenheit  die 
ISTatur  des  Seienden  zu  geben,  so  ist  er  auch  um- 
gekehrt ausser  Stande,  wenn  wir  so  sagen  dürfen, 
eigenhändig  etwas  geradezu  Sterbliches  und  Yergäng- 
liches  zu  machen.  Plato  las  st  demgemäss  den  Schöpfer 
zu  den  gewordenen  Göttern,  nämlich  dem  Kosmos  und 
den  Theilgöttern,  die  zwar  ihrer  Natur  nach  nicht  ewig 
sind,  aber  durch  ihren  directen  Ursprung  von  Gott 
dennoch  nie  vergehen  werden,  Folgendes  sagen i): 
„Noch  sind  drei  unerzeugte  sterbliche  Geschlechter 
übrig.  "Wenn  aber  diese  nicht  entstehen,  so  wird 
der  Himmel  (die  Welt)  unvollständig  sein,  denn  er 
wird  nicht  alle  Geschlechter  von  Wesen  in  sich  haben. 
Durch  mich  aber  entstanden  und  mit  Leben 
begabt,  würden  sie  den  Göttern  gleichen. 
Damit  sie  also  sterblich  seien,  so  wendet  Euch 
zur  Hervorbringung  von  Wesen  u.  s.  w. 

Hier  liegt  klar  der  Keim  zu  der  späteren  (gnosti- 
schen)  Aufstellung,  dass  die  Schöpfung  des  Diesseits  nicht 
von  Gott  ausgegangen,  sondern  von  Engeln  in  seinem 


1)  Ibid.  S.  41 :  d^rqzu  exi  ^sw]  Xo'.Ka  xpia  '(v/r^xä'  toutcuv  oüv  |Jly] 
Y£vo[Ji£vcuv,  oopavog  aTsX*}]^  eaxat .  xä  yap  a^avia  hv  aoxö)  y^vy)  C^wv  ohy^ 
i^si.  Ssl  0£,  sl  nsXXs'.  xsXs'.og  IxavüJc  elvac.  oC  l\ioö  ok  xaüxa  Y£v6p-£va 
xat  ßiou  jXExaoyovxa  d-Bolc,  lod^oix'  av.  iv'  ouv  ^-rrfo.  xs  ^,  z6  xs  tcöcv 
ovxüj?    a-av    'fi,    xpsTiea^e    xaxa    cpuaiv    ujists     ItcI   xy]v   xtöv     C<^oiV 

OTifXtOüpY^aV,    {Xt|JlOÜ|JLSVOt    XTjV    l|J.TjV    86va|XCV    Ktft.    XY]V    üp.(I)V    YSVS31V. 

9* 


132 


Auftrage.  Aber  ebenso  deutlich  ist  aus  Plato  die 
Aufstellung  zu  holen,  dass  die  Seelen  der  Pneumatiker 
von  Gott  selbst  stammen.  Es  heisst  bei  Plato  i) :  „Und 
so  viel  von  ihnen  Unsterblichen  gleichnamig  zu  sein 
verdient,  das  göttlich  zu  Xennende  und  innerlich 
Leitende  Derer,  die  immer  dem  Rechte  und  Euch 
(den  Göttern)  zu  folgen  geneigt  sind,  das  wird  von 
mir  gesäet  und  begründet  Euch  übergeben 
wer  den''.  Das  Sterbliche  sollen  sie  dann  selber 
machen.  Es  ist  ja  klar,  dass  mit  dem  Moment,  wo 
man  einen  entweder  naiven  oder  tendenziösen  Anlass 
hatte,  die  diesseitigen  Hervorbringungen  solchen 
Engeln  zuzuschreiben,  die  nicht  mehr  im  Auftrage 
Gottes  handeln,  sondern  gleichsam  sündigerweise 
schaffen  2),  man  zu  der  Behauptung  gelangen  musste. 


1)  Ibid:    v.aL    v.aO-'    ozov   fxsv    a'J'tuv    Ccö-avd-ois    o^J-ojvoiiov    slva'. 
Trpo-TjV.s:,  '9'cTgv  kv(6i^bvov,  'J-jsfxovoöv  x'    ev  ahxolg,   TöJv  ati  o'.v.-/j  v,y.i 

'  2)  Hatte  doch  schon  Plutarcli,  in  Folge  seiner  synkretistischen 
Zusammenstellung  des  persischen  Ahriman.  des  egyptischen  Typho 
mit  den  griechischen  Erklänmgen  des  Bösen  in  der  Welt,  aus 
Plato  auch  das  Vorhandensein  einer  bösen  Weltseele  heraus- 
gelesen, die,  dui'ch  den  heilsamen  gestaltenden  Einfluss  Gottes 
zur  Ordnung  gebracht,  doch  das  Princip  des  Bösen  in  der  Welt 
geblieben.  Zeller,  Die  Philosophie  der  Griechen  III,  2,  2.  Aufl. 
S.  152  ff.  Konnte  der  Platoniker  Plutarch  das  Böse  in  der  Welt 
nur  duaüstisch  erklären:  so  war  für  diejenigen,  fiü'  welche  diese 


133 


dass  in  den  besseren  (pnenmatischen)  Menschen  ein 
Keim,  ein  Sperma  sei,  das,  direct  Yon  der  Gottheit 
stammend,  eben  darum  höher  stehe,  als  die  jetzt  von 
Gott  losgerissenen  deminrgischen  Kräfte. 

Auffallend  war  mir,  dass  Lipsius  der  Ansicht  zu 
sein  scheint,  dass  die  Dreitheilung  der  Seele  und  da- 
mit auch  die  bekannte  gnostische  Dreitheilung  der 
Menschen  in  pneumatische,  psychische  und  hylische 
nicht  schon  auf  Plato  zurückgeht.  Plato  hat  ja  eine 
dreifache  Seele,  deren  Sitz  er  sogar  in  verschiedene 
Körpertheile  yerlegt.  Die  eigentlich  unsterbliche  Seele 
ist  nach  ihm  nur  die  erkennende.  "Wie  nahe  lag  hier 
für  die  platonisirenden  Gnostiker^  nur  denen  wirkliche 
Seligkeit  zuzuschreiben,  welche  die  Gnosis  des  Wahren 
hatten.  Plato  sagt:  „Wie  wir  oft  gesagt  haben,  dass 
drei  Arten  von  Seelen  dreifach  vertheilt  in  uns 
wohnen,  so  nach  dieser  Andeutung  ist  auch  jetzt 
aufs  kürzeste  zu  sagen,  dass  diejenige  von  ihnen 
welche  in  Unthätigkeit  verharret  und  mit  ihren  Be- 
wegungen ruhet,  nothwendig  die  schwächste  wird  .  .  . 
Von  der  vornehmsten  aber  unter  den  bei  uns  be- 
findlichen Arten  von  Seelen  müssen  wir  so  denken, 
dass  Gott  sie  jedem  als  einen  Schutzgeist  gegeben,  jene, 
von  welcher  wir  sagen,    dass   sie  im    obersten  Theile 


"Welt  iiberliaupt  im  Argen  lag,  das  ürtheil  vorgezeiclinet,  die 
ganze  Schöpfung  als  Product  eines  vom  guten  Gott  losgerissenen 
Demiurgen  anzusehen. 


134 


unseres  Körpers  wohne  und  uns  von  der  Erde  zu 
der  Terwandtschaft  im  Himmel  erhebe,  als  nicht 
irdische,  sondern  himmlische  G-ewächse  .... 
Wer  sich  also  mit  den  Begierden  oder  mit  Be- 
strebungen des  Ehrgeizes  abgibt  und  diese  sehr  be- 
treibt, der  muss  lauter  sterbliche  Meinungen  bekom- 
men .  .  .  derjenige  aber,  der  sich  der  Lernbegierde 
und  der  wahren  Erkenntniss  beflissen  .  .  .  dessen 
Denken  kann  wohl  nichts  anderes  als  Unsterbliches 
und  Göttliches,  wenn  er  Wahrheit  erfasst  hat,  zum 
Inhalte  haben,  und  auch  er  muss,  so  weit  die  mensch- 
liche Natur  der  Unsterblichkeit  theilhaftig  sein  kann, 
dieses  ganz  vollständig  sein'^  i).  Wie  natürlich  setzt 
Plato  in  der  Regel  nur  zwei  Menschenklassen  einander 


1)  TimäusS.  89— 90:  v.oL^dmp  skofJisv  tcoUocv.i;  ov.  xpia  ^oyric, 
Tp'./Tj  Iv  Yj|J.Tv  s'ioYj  v.axcüv.'.s-ca'.  ....  outco  v.axa  xaü-a  y.ai  vDv  ü>s 
o'.ä  ßpayüxdxwv  py^xsov  Öjc,  xö  |j.£V  aöxuJv  Iv  C/.o'(ici.  oi^yov  v.ni  xojv 
eaüxoü  x'.vY^tJöcuv  Yj-y/iav  aYOV  dcGd-svscxaxov  ava-fx-ri  ';i'(^zzd'rj.:  .... 
xö  ok  07]  Ttspi  xoD  y.'jp'.cuxdxou  Tiap'  4]fxlv  '^'oyr^c,  b'2ooc,  oiavosl-9-ai 
Ssl  xfyBs,  (liz  apa  a-Jxö  SaijJiova  ö-soj  exd-xü)  Ssoüjv.s  xoüxo  o  8-)] 
{pa[iEV  olxelv  jiev  TjIJlcüv  b  axpo»  xö)  3a)}xax'.,  Tipös  Ss  X7]V  sv  oüpavo) 
coYY£ve:av  ä-ö  '(r^c,  Yj,uas  aips'.v,  Jj?  o'/xa;  cpDXÖv  oöv,  £yy£'0">j  «/.). 
oüpdviov  .  .  .  .  Xü)  |X£V  ouv  TTspl  xdt;  t-'.^oiiiac,  y]  cp'.Xovs'.v.'.ag  xsxy^- 
TcoT'.  ....  Tidvta  xd  56Y|J.axa  dvocY^r^  ^'^^xd  h'{^(s.'(oviyy.'.  .  .  .  .  xu) 
§5  irspt  cfiXo[idO-£iav  y.ocL   ::spl  xdg   xf,?   d^O-oiag    opovTjSs'.g   so-od- 

daxoxt.  —  ttpovstv    [xb  dO-dvaxa  v.aL   ■9-sta xctO-'  O3ov  o'  ao 

jJLSxas/sTv    dvO-pü>7rivr^    'fj-i;    dd-ava-ta;    svcr/^xa:,    xo6xou    p-r^o     dv 
pipo;  d-o/.'.-slv. 


135 

entgegen.     Aber    Anlass,    drei    lüassen    zu    scheiden, 
gibt  er  doch. 

Interessant  ist,  dass  derTalmud  zu  den  drei  gnosti- 
schenMenschenldassen  eine  Parallele  hat,  welche  beweist, 
dass  diese  Annahme  gleichsam  Zeitbewusstsein  war. 

Im  jerusalemischen  Talmud  tragen  die  Schüler 
E.  Jochanan  ben  Saccai's  die  „Maasse  Merkaba"  vor. 
Es  ist  dies  im  Gegensatze  zur  Kosmogonie  (Maasse 
Bereschith)  die  Erklärung  des  Ezechiel'schen  "Wagens, 
d.  h.  die  Speculation  über  die  überirdischen,  den 
Gottesthron  tragenden  Wesen  (Chajoth),  gnostisch  aus- 
gedrückt, die  Beschreibung  des  Pleroma.  Da  lässt  sich 
eine  Himmelsstimme  yernehmen:  „Siehe,  der  Platz  ist 
für  Euch  leer,  das  (himmlische)  Gemach  vorbereitet,  Ihr 
und  Eure  Schüler  seid  bereit  für  die  dritte  Klas  se"-i). 
Aehnlich,  nur  in  viel  glänzenderen  dichterischen  Farben 
lautet  die  ParallelsteUe  im  babylonischen  Talmud  2). 

Aber  noch  ein  Anderes  ergibt  die  Erwägung  der 
von  mir  citirten  Platonischen  SteUen,  namentlich  die 
Stelle,  welche  lautet  3):    „Als  nun  der  Täter  die  von 


1)  Chagiga  cap.  II  S.  77a:  '^1»  i^bp'ntsm  ü^b  n:S  op^H  nn 

2)  Chagiga  14b.  Xocli  interessanter  ist  die  Midraschstelle 
zum  hohen°Lied  I,  3,  wo  unter  Anderen  erklärt  wird:  „Deshalb 
lieben  Dich  Aeonen  (Olamoth  fiü-  Alamoth)  d.  i.  die  dritte  Klasse, 
denn  es  lioisst  (Zachar.  13,  9):  Und  ich  bringe  das  Drittel  in's 
Feuer  u.  s.  w." 

3)  Timäus  S.  37. 


136 


ihm  erzeugte  Welt  bewegt  und  lebend  bemerkte,  eine 
Freude  der  ewigen  Götter".  Wer  sind  die  ewigen 
Götter,  die  sich  am  gewordenen  Gott,  dem  Kosmos, 
erfreneü?  Henri  Martin,  der  übrigens  die  Stelle 
nicht  gnt  übersetzt,  sagti):  „ces  dienx  eternels  dont 
le  monde  est  l'image,  ce  sont  evidemment  les  idees''. 
Thatsächlich  kommt  man  ohne  einen  y.ba\iO(;  vor(ZQZ^ 
dem  nnräumlichen  Orte  der  Ideen,  nicht  aus.  Plato, 
indem  er  sagt,  dass  die  hiesige  Welt  nach  einem 
ewigen  Paradigma  geschaffen,  fügt  hinzu  2):  „Denn 
alle  denkbaren  Wesen  umfasst  und  begreift  jenes  (das 
paradigmatische  Wesen)  ebenso  in  sich,  wie  diese  Welt 
uns  und  alle  die  anderen  unsichtbaren  Theile"  (um- 
fasst). Darüber  aber  hat  Plato  sich  nicht  erklärt,  ob 
er  diese  einen  idealen  Kosmos  bildenden  Ideen  in  Gott 
oder  neben  Gott  sich  denkt.  Der  Grund  dafür  lag 
in  der  Gewissenhaftigkeit  seiner  Speculation.  ]\Iehr 
als  er  speculativ  einsah,  wollte  er  nicht  sagen.  Dieser 
Grund  galt  natürlich  nicht  für  die  Gnostiker.  Plato 
nennt  die  Ideen  Götter,  die  höchste  Idee  identificirt 
er  mit  Gott  selbst  3),    damit  hatten   die  Gnostiker  ihr 


i)  Etudes  sur  le  Timee  de  Piaton.  tom  II,  p.  50. 

~)  Timäiis  30:  zi:  ^c^-p  otj  vor.Ta  Lcüa  Ttavra  vazvio  ev  sautu) 
-^piXajiöv  r/t:,  v.y.%-6.-to  oos  6  v.6-[jlos  -'f^\^ö.z. 

3)  Tgl.  die  treffliclie  Auseinandersetzung  Zellers  über  die 
Ideenwelt  und  das  Gute  (Die  Philosophie  der  Griechen,  II.  Theil, 
erste  Abtheilung,  dritte  Auflage,  585  If.) 


137 


Pleroma,  das  sie  nur  mit  ihren  phantastischen  [N'amen 
zu  beschreiben  brauchten. 

TJeberaus  zutreffend  ist  daher,  was  Plotin  und 
PorjDhyrius  über  dieses  Yerhältniss  der  Gnostiker  zu 
Plato  sagen.  Porphyrius  nennt  i)  Namen  von  Häre- 
tikern (Gnostikern),  welche  unter  Yorbringung  von 
uns  unbekannten  Büchern  und  sich  stützend  auf 
pseudepigraphische  Apokalypsen  des  Zoroaster  und 
Anderer  als  betrogene  Betrüger  behauptet  hätten,  dass 
Plato  in  die  Tiefe  der  intelligibeln  Natur 
nicht  eingedrungen  sei-). 

Dasselbe  sagt  Plotin  in  dem  bekannten  Buche 
gegen  die  Gnostiker,  dessen  welthistorische  Bedeutung 
Neander  schon  darum  überschätzt,  weil,  wenn  es  selbst 
eine  solche  gehabt  haben  sollte,  die  empfindlichen 
Lücken,  die  es  aufweist,  auf  eine  Censur  schliessen 
lassen,  die  ihm  eine  weiter  reichende  Bedeutung 
nehmen.     Seine    Worte 3)    lauten:    ,,Denn    überhaupt 


1)  Yita  Plohni  cap.  16. 

3)  Ennead.  n,  9,  6  ed.  Kirchhoff  II  S.  39  ff.  oXcoc  y^^-P 
a'jToic;  Ta  jjlIv  Tiaoa  toö  IIXaTcovo?  z'.Kr^TZ'^a',,  ib.  Vz  özo.  v.a'.votofxoöacv 
Iva  lo'.av  '^'Xozo'^la.v  ■O-tJüvta'.,  zoLÜxr/.  s'^to  i~(]C,  okrqd'eCaQ  Bipr^zai.  sttcI 
v.al  al  oi'y.ac  v.al  ol  Ttoxaiaol  ol  ev  a(Joo'v.aX  ol  jxsTsvauiiiaxcuasii;  Iv-slö-sv. 
v.aL  £-1  Toiv  ^or^xGy^  tz  izL-r^d'Oi^  Tzo'.r^oai,  TÖ  ov  v.ao  tov  voüv  y.al  tov 
oYjfxioupY^^  aXXov  '/.ai  irj^^  ^^X*"!'-^  ^y-  '^v  Iv  xö)  Ti|JLaiü)  \zyßb/zuiv 
zThr-ZT.',. 


138 


haben  sie  das  Eine  von  Plato  genommen,  das  Andere, 
Tvas  sie  neuern,  um  eine  eigene  Philosophie  zu  geben, 
das  wird  als  ausserhalb  der  Wahrheit  befunden.  Denn 
sowohl  die  Gerichte  und  die  Flüsse  in  der  Unterwelt 
und  die  Einkörperung  (der  Seelen)  sind  von  dort, 
(Plato)  als  auch  das  Intelligible  eine  Mehrzahl  sein 
zu  lassen,  nämlich  das  Seiende,  die  Vernunft  (Xus) 
und  Ton  ihr  verschieden  den  Demiurgen  und  die 
Seele,  ist  dem  in  Timäus  Gesagten  entnommen".  Nach- 
dem er  dann  in  dem  gnostischen  Demiurgen  ein  Miss- 
verständniss  der  Platonischen  Aufstellung  nachgewiesen, 
fährt  er  fort:  „Und  überhaupt  die  Weise  der  Welt- 
bildung und  vieles  Andere  von  ihm  (Plato)  legen  sie 
lügnerisch  aus  und  ziehen  die  Meinungen  des  Mannes 
ins  Schlechtere,  als  ob  sie  die  intelligible  Natur 
erkannt  hätten,  jene  aber  und  die  anderen 
seligen  Männer  nicht  Und  indem  sie  eine  Menge 
von  inteUigibeln  Wesen  nennen,  glauben  sie  das 
Genaue  über  das  Intelligible  gefunden  zu  haben, 
während  sie  doch  gerade  durch  die  Menge  die  Xatur 
des  InteUigiblen  zur  Aehnlichkeit  mit  dem  Sinnlichen 
und  Niedrigen  führen"  i). 

Woher    aber    den    Gnostikern    die    vermeintlich 


j)  Ibid.:  y.ai  ohmz  '^o'J  xpo-ov  x-rj?  §Y]jj,ooüpYta;;  y.al  aXXa  -otXa. 
v.axadöuSovia'.  auxoö  xal  Ttpö?  xö  ^slpov  i>.y.ooat  zac,  go^a?  xob  ötvSpoi; 
(liC,  ahxoi  |JL£V  xY]y  voyjxyjv  cpoG'.v  xaxavcVOTjy.oxsg,  sv.eivoo 
^t  y.ai  xojv  aXXcuv  xciv  [xaxapLtuv  avopcov  iiy]  x.  x.  X. 


139 


grössere  Einsicht  in  die  Is"atui^  des  Intelligiblen,  die 
Yertrautheit  mit  den  Wesen,  die  das  Pleroma  bilden, 
gekommen,  ist  nicht  schwer  zu  sagen.  Offenbar  durch 
Combinirung  der  neupythagoräischen  Syzygien  und 
ihrer  Zahlenlehre  mit  dem,  was  sie  durch  Allegori- 
sirung  der  Schrift  entlockten,  die  ältesten  Gnostiker 
mehr  dem  alten  Testament,  die  späteren  mehr  den 
Evangelien. 

Wie  Philo  den  stoischen  Logos  durch  den  glück- 
lichen Zufall,  dass  Gott  durch's  Wort  schafft,  für 
mosaisch  halten  konnte,  so  begegnet  sich  z.  B.  die 
Pythagoräische  Tetraktys  recht  glücklich  mit  der  Herr- 
schaft der  Yierzahl  in  dem  Capitel,  welches  als  eigent- 
liche Fundgrube  für  die  Auffassung  Gottes  und  der 
ihn  umgebenden  Wesen  angesehen  wurde,  in  dem 
sogenannten  Wagen  pierkaba)  des  Ezechiel.  So 
braucht  man  denn  für  die  ophitische  Bezeichnung  der 
Gottheit  als  Adam  nicht  mit  Lipsius  i)  an  phönicische 
Torstellungen  zu  denken,  sondern  an  Ezechiel  1,  26, 
wo  der  Anlass  für  diese  Benennung  klar  zu  Tage 
liegt.  Glücklicherweise  sind  wir  noch  in  der  Lage, 
die  Berücksichtigung  dieses  Ezechiel'schen  Capitels 
von  Seiten  der  frühesten  Gnostiker,  der  Ophiten, 
nachweisen  zu  können. 

Celsus  bei  Origines  -)  kommt  auf  die  sieben  vor- 


1)  Lipsius  1.  1.  S.  278. 

2)  Oiigines  conü-a  Celsnm.  TL  30. 


140 


nehmsten  Dämonen  zu  sprechen,  von  denen  die 
Ophiten  zu  sagen  wissen,  und  die  auf  ihrem  seltsamen 
Diagramm  verzeichnet  sind.  Der  erste  sei  in  die 
Gestalt  eines  Löwen  gekleidet  (Michael,  wie  Origines 
erklärt),  der  nachfolgende  und  zweite  ein  Stier 
(Surieli),  der  dritte  eine  Art  Amphibium  und  zwar 
schrecklich  zischend  (Eaphael),  der  vierte  mit  Adlers- 
gestalt (Gabriel),  der  fünfte  mit  Bärengestalt  (Thauta- 
baoth),  der  sechste  hat  nach  ihrer  Erzählung  einen 
Hundskopf  (Erathaoth),  der  siebente  Thaphabaoth  oder 
Onoel  genannt,  das  Antlitz  eines  Esels  (Origines  nennt 
ihn  Thartharaoth). 

Man  erkennt  leicht,  dass  drei  der  genannten  Ge- 
stalten aus  dem  ersten  Capitel  des  Ezechiel  copirt 
sind,  die  Löwen-,  Stier-  und  Adlersgestalt. 

Stammt  die  Bezeichnung  Adam  für  das  Urwesen 
aus  Ezechiel,  so  stammen  die  mystischen  Worte  für 
die    drei   Principien,    die    sie    in    ihm   unterscheiden. 


1)  f^miel  kommt  auch,  im  Talmud  vor.  Beraclioth  51a: 
..Drei  Dinge  hat  mir  Suriel  (bi^'^niD)  erzählt''.  Der  Name  ist 
offenbar  uj-spiTingHch  bK'^ltr  oder  ^^'"in  von  hebr.  "n*i'  oder 
aram.  ^"n  (Taöpos)  ^üi-  Stier,  gerade  wie  Onoel  von  seiner  Esels- 
gestalt so  heisst,  nur  dass  das  letztere  ein  hibrides  Wort  ist 
aus  gi'iechisch  und  hebräisch.  Onoel  kommt  im  Talmud  nicht 
vor,  dagegen  machte  mich  mein  Bruder,  Dr.  D.  Joel,  darauf  auf- 
merksam, dass  im  Sohar  zum  Pcntateuchabschnitt  über  die 
Jakobsleiter  ein  Engel  T'K;r'  vorkomme,  der  freilich  aramäisch, 
gedeutet  Lammgestalt  haben  müsste  von  K;u  z=z  jKÄ  =  Kleinvieh. 


141 


Caulacaii,  Saiüasau  und  Ziesar,  wie  bekannt,  aus 
Jesaias  28,  10  u.  13.  Man  kann  an  dieser  Probe 
die  ausschweifende  Phantasie  dieser  Schriftallegorisirer 
erkennen,  wenn  man  nicht  lieber  mit  Epiphanius 
sagen  will,  dass  sie  absichtlich  solche  yerblüffende 
Namen  vorbrachten  i).  Neander  versucht  Caulacau  durch 
folgende  Worte  zu  erklären:^)  „Der  Name  Caulacau, 
den  nach  Iren  aus  die  Welt  führt,  in  der  der  Erlöser 
wohnt,  aus  der  er  hinab  und  in  die  er  hinaufstieg, 
erhaben  über  alle  Engel,  lässt  sich  allerdings  am 
natürlichsten  ableiten,  wie  schon  Epiphanius  bei  der 
Lehre  der  Ophiten  bemerkt,  aus  dem  hebräischen 
Kaw  la  Kaw,  mag  man  das  nun  erklären,  die  Linien 
über  die  Linien,  die  höchste  unter  allen  Linien,  Eeihen, 
Stufen  der  Geisterwelt,  oder  die  Hoffnung,  Erwartung 
über  alle  Erwartungen,  Hoffnungen  (wie  die  Alexan- 
driner es  Jesaias  28,  10  iXTiiSa  iz  eXtccS:,  übersetzt 
hatten),  denn  Basilides  setzte  jedem  besonderen  SidaTYjjxa 
(Abstand)  der  Geisterwelt  eine  besondere  IXtil^  und  konnte 
als  das  höchste  Ziel  der  IXiiic,  setzen  die  Welt  des  Er- 
lösers". Indess,  da  Basilides  den  Namen  Caulacau 
von  den  Ophiten  überkommen,   so  hätte  Neander  ihn 


1)  Epiphanius  1.  J,  tom.  II  contra  iKicolaitas  sagt,  dass  sie 
Xamen  wie  Caulacau  blos,  um  durch  den  schrecklichen  Klang  der 
^^orte  einen  Eindruck  zu  erzielen,  vorbrächten, 

2)  Neander,  Genetische  Entwickelung  der  vornehmsten 
gnostischen  Systeme.  S.  85. 


142 


auch  Yon  dort  aus  erklären  soUen.  Aus  dem  ophiti- 
schen  Diagramm  aber  können  wir  entnehmen,  dass  es 
heissen  soll :  „KJreis  über  Kreis"  i).  Auch  die  Tal- 
mudisten  nämlich  müssen  entweder  von  dem  ophiti- 
schen  Diagramm  etwas  gewusst  oder  ihre  eigenen 
Ansichten  sich  durch  eine  ähnliche  Zeichnung  ver- 
deutlicht haben.  Chagiga  IIb  kommen  nämlich  die 
unverständlichen  und  meines  Wissens  von  Memand 
erklärten  Worte  vor:  „Tohu  das  ist  der  gelbe  (grüne) 
Kreis  (Kaw),  der  die  ganze  Welt  umgibt  und  von 
welchem  der  Welt  die  Finsterniss  kommt  2).  Ein 
solcher  gelber  Kreis  ist  aber  nach  Origines  auch  auf 
dem  ophitischen  Diagramm  gewesen  3).  Eeichliche 
Gelegenheit  zu  allerlei  Allegorisirungen  bot  den 
ältesten  Gnostikern  auch  namentlich  die  biblische 
Schöpfungsgeschichte,    die    verschiedenen    dabei    auf- 


1)  Offenbar  sind  auch  die  Worte  des  Celsus  bei  Origines  VI, 
34:    y.a:  '/.övXooz  ItiI  y.ö'/Xoig  das  Caulacan. 

3)  Origines  contra  Celsmn  YI,  38:  £upo|X£v  3'4j|i.£l;  h  todtw 
TU)  oiaYpajJ-JJ-^'i  xov  /JLst^ova  v.uvAov  xai  xov  iiupoz^^o'^.  (bv  hizl  T7i<; 
Sta^isTpoD  B-r(v(poi.-zzo  -axY]p  y.ac  oloc'  v.cd  /xsxa^o  xoö  {J-siCovog,  ev 
(L  ö  fX'.xpoxspos  -r^v  v.al  aXXoug  cdy^-s^H-^voüs  Ix  860  v.öv.Xcov,  xou  |J.?v 
E^üixspou  4avO-o5  xoö  os  IvSoxipou  v.oavoö.  In  der  Dr.  Thal- 
hoferschen  Bibliothek  der  Kirchenväter  S.  204  ist  die  Ueber- 
setzung  von  ^^vO-o^  mit  ..weiss"  wohl  nur  ein  Druckfehler,  da 
es  in  der  Beilage  über  das  ophitische  Diagi'amm  S.  542  richtig 
2;elb  heisst. 


14B 


tretenden  Gottesnamen,  der  Sündenfall  (Adam,  Eva, 
„die  Mutter  alles  Lebenden",  die  Schlange,  der  Baum 
des  Lebens  und  der  Baum  der  Gnosis),  die  Erzählung- 
von  der  Verbindung  der  Söhne  des  „Elohim"  mit  den 
Töchtern  der  Erde  u.  s.  w.  Als  dann  die  Erscheinung 
Jesu  von  Nazareth  zum  Mittelpunkte  des  kosmischen 
Epos  gemacht  wurde,  da  zogen  die  Gnostiker  auch 
die  heidnischen  Mythen  mit  hinein,  um  die  ver- 
schiedenen Yersuche,  die  Elohim  früher  an  Juden 
und  Heiden  gemacht  hätte,  seinen  im  Menschen  vor- 
handenen, aber  geknechteten  Geist  zu  erlösen,  erst 
in  Jesu  als  gelungen  aufzuweisen!). 

Aber  so  charakteristisch  das  Alles  auch  sein  mag 
für  die  Zeichnung  einer  Zeit,  die  an  solchen  Auf- 
stellungen Gefallen  fand,  das,  was  sie  nach  dieser 
Kichtung  zu  Stande  brachte,  hat  doch  mehr  den 
Charakter  einer  Curiosität,  auf  die  einzugehen  nicht 
verlohnt. 

Der  speculative  Gehalt  aber  der  Gnosis  ist,  wie 
bereits  gesagt,  so  weit  aus  Plato  und  den  Philosophen, 
die  auf  Grund  seiner  Sätze  philosophirt  hatten,  als 
sie  nicht  die  christliche  Erlösungsidee  in  ihr  System 
aufzunehmen  und  das  Platonische  Epos  von  der 
Kosmogonie  zu  christianisiren  hatten.  Aber  gerade 
durch   dieses  Bestreben,    die  Erscheinung  Christi  mit 


1)  ivurtz,  Handbuch  der  Kirchengeschiclite,  die  Ophiten. 


144 


in  die  kosmogonisclie  Darstellung  zu  Terflechten,  sie 
kosmisch  zu  fassen,  wurden  sie  Ketzer.  Denn  es 
legte  ihnen  die  Kothwendigkeit  auf,  die  Erzählungen 
der  Evangelien  so  zu  behandeln,  wie  die  Ej.rchen- 
Yäter  das  alte  Testament.  Baur's  Bemerkung,  dass 
sich  Allegorie  immer  da  einstellt,  wo  Eeligionen  zer- 
fallen, ist  also  offenbar  nicht  zutreffend.  Denn  die 
Gnostiker  allegorisiren  das  Christenthum  kaum  dass 
es  entstanden  ist.  Baur  hat  hier  die  subjective  Stel- 
lung der  Personen  mit  der  objectiven  Sache  ver- 
wechselt. Es  ist  ja  richtig,  dass  für  den  Allegorisirer 
der  einfache  Wortsinn  einer  Schriftstelle  nicht  vor- 
nehm genug  ist.  Daraus  folgt  aber  keineswegs,  dass 
er  Eecht  hat.  Das  Judenthum  war  nicht  zerfallen,  als 
es  Philo  allegorisirte,  sondern  er  selbst  Avar  verbildet, 
so  dass  er  die  Schönheit  des  Einfachen  nicht  einsah.  Und 
wenn  die  Kirchenväter  in  Erklärung  des  alten  Testaments 
in  seinen  Bahnen  gingen,  so  wird  doch  jeder  Unbe- 
fangene zugeben,  dass  eine  wahre  Würdigung  der  Schrif- 
ten des  alten  Testaments  erst  eingetreten  ist,  nachdem 
diese  Bahnen  wieder  verlassen  worden.  Um  aber 
wieder  auf  die  Gnostiker  zu  kommen,  so  war  es  heid- 
nische Aufgeblasenheit,  die  ihnen  ihre  Construction 
des  Christenthums  eingab.  Die  Charakterisirung  des 
Celsusi),   gegen    die    auch   Origines,    so    weit    es   die 


1)  Origines  contra  Celsum  TI,  19. 


145 


Gnostiker  angeht,  nichts  Erhebliches  einwendet,  ist 
zutreffend.  ,.Einige  Christen",  sagt  er,  „die  Platoni- 
schen Sätze  niissverstehend,  prahlen  mit  dem  über- 
himmlichen  Gott,  indem  sie  den  Himmel  der  Juden 
noch  überschreiten".  Darum  handelt  es  sich  in  der 
That  für  die  Gnostiker,  und  es  wäre  lächerlich,  wenn 
man  es  für  ein  ehrliches  Denkresultat  ausgeben 
wollte,  dass  sie  den  Gott  der  Juden  als  den  ,,Yer- 
wunschenen  Gott"  erklären  i).  Zu  solchen  Eesultaten 
waren  die  Evangelien  natürlich  nur  dann  zu  benutzen, 
wenn  man  ihren  Sinn  durch  Allegorisirung  yerdrehte.  Das 
konnte  sich  aber  die  Kirche  nicht  gefallen  lassen,  die 
immer  das  Yerständniss  dafür  hatte,  dass,  wer  ihr 
den  Zusammenhang  des  alten  Testaments  mit  dem 
neuen  zu  lockern  die  Absicht  hatte,  nicht  sowohl  ein 
Christenthum  beabsichtigte,  als  vielmehr  eine  eigene 
Construction  unter  christlichem  Namen.  Xur  schein- 
bar nimmt  Marcion  als  Anti-Allegoriker  in  dieser  Hin- 
sicht eine  besondere  Stelle  unter  den  Gnostikern  ein. 
Man  weiss  ja,  was  ihn  zur  Yerschmähung  der  Alle- 
gorie gebracht  hat.  Da  er  Gesetz  und  Evangelium 
als  unvereinbar  und  zwar  zum  Xachtheil  des  Mosais- 
mus  bezeichnen  Avollte,  so  müsste  er  vor  allem  die 
typische  Erklärung  des  alten  Testaments  abweisen. 
Seltsam    ist    daher  die  Aeusserung  Neander's,    es    sei 


1)  Ibid.  YL  27. 

10 


146 


nicht  zu  erweisen,  dass  ]\Iarcion  ,,zuerst  dadurch  zu 
seiner  hermeneutischen  Richtung  veranlasst  wurde'^  i). 
Wenn  wir  in  der  Geschichte  stärkere  Beweise  ab- 
warten woUen,  als  wir  für  Xarcion's  Motive  haben, 
so  können  wir  lange  warten.  Aber  trotzdem  ist 
Marcion,  der  im  Einzelnen  nicht  allegorisirt  und  der 
sich  statt  durch  Interpretation  durch  die  Scheere  hiKt, 
mit  der  er  alles  Unbequeme  wegschneidet,  ein  AUe- 
goriker  im  grossen  Stil.  G-ibt  es  ein  stärkeres 
„anderes  sagen  und  anderes  meinen",  als  dass  nach 
ihm  Jesus,  während  er  überhaupt  keinen  Leib  hat, 
dennoch  leiblich  erscheint,  während  er  gar  nicht  der 
von  den  Propheten  verkündete  Messias  sein  wiU,  aus 
Accommodation  dennoch  sich  als  solchen  ausgibt? 
Die  Kirche  hat  darum  gefühlt,  dass  die  wilde  Feind- 
schaft Marcion's  gegen  das  Judenthum  ihr  selbst  zu- 
gleich allen  historischen  Boden  entzieht.  Und  durch 
alle  Zeiten  bis  heutigen  Tages  ist  es  eine  interessante 
Erscheinung,  dass  Diejenigen  am  meisten  sich  mit 
Marcion  befreunden,  welche,  wie  er,  gleichgültig  gegen 
das  Historische  im  Christenthum,  nur  ihre  eigenen 
Ansichten  durch  Ausstattung  mit  christlichen  Xamen 
flu'  Christenthum  erklären. 

Um   noch  ein  Wort    über  die  Beeinflussung  der 
Gnostiker  durch  Plato   und  die   späteren  griechischen 


1)  Xeander  1.  1.  S.  27: 


147 


Philosophen  zu  sagen,  so  bemerke  ich,  dass  man  mit 
Unrecht  dabei  blos  an  die  Yalentinianer  i)  denkt. 
Schon  früher  habe  ich  daran  erinnert,  dass  Celsus  die 
ophitische  Aufstellung  als  ein  Missverständniss  der 
Sätze  Plato's  bezeichnet.     Ebenso    bedenklich  ist  die 


1)  Wenn  die  Yalentinianer  von  der  „Achamoth"  sagen,  sie  sei 
ausserhalb  des  Lichts  und  des  Pleroma  gewesen,  worauf  der 
obere  Christus  sich  ihrer  erbarmt  und  durch  den  Kreuzpfahl 
sich  ausdehnend  ihr  eine  Gestalt  gegeben  habe,  so  ist  dieser 
obere  sich  in  Kreuzform  dehnende  Christus  ein  Nachbild  der 
Platonischen  Weltseele,  welche  nach  des  Timäus  (S.  36)  mythischer 
Darstellung  vom  Schöpfer  kreuzweis  wie  ein  X  gestaltet  wurde, 
worauf  dann  diese  Linien  in  Kreise  umgebogen  wui'den.  Nahm 
doch  schon  Justin  (1  Apol.  c.  60)  von  diesem  X  des  Plato 
Notiz  und  beschuldigt  ihn  sogar,  es  dem  Moses  entnommen  zu 
haben.  Ob  die  Talmudisten  mit  den  Worten  (Chagiga  IIb): 
„In  der  Stunde,  da  Gott  die  Welt  schuf,  da  dehnte  sich  dieselbe 
wie  zwei  Knäuel  von  Geweben  CntT  h'Ü  nvüpB  TltTD),  bis  Gott 
sie  anschrie  imd  zum  Stehen  brachte,  denn  es  heisse  (Hieb  26, 
11):  die  Säulen  des  Himmels  ermatteten,  staunten  ob  seinem 
Anschrei",  nicht  die  Platonische  Vorstellung  geben  wollen, 
nach  welcher  das  Weltgerüst  wie  ein  X  war,  bis  es  auf 
Befehl  Gottes  sich  zu  Kreisen  umbog,  gebe  ich  zur  Erwägung 
Ueber  die  Achamoth,  das  TertuUian  (adv.  Valentinianos  c.  14)  ein 
ininterpretabile  nomen  nennt,  habe  ich  eine  Meinung,  die  nur 
demjenigen  als  abenteuerlich  erscheinen  ^drd,  der  nicht  zugibt, 
dass  damals  gerade  das  BizaiTe  gesucht  wui-de.  Hatten  die  Neu- 
pythagoräer  die  Einzahl,  die  Gottheit,  die  Vernunft,  das  Mass, 
die  Harmonie  u.  s.  w.  Apollo  genannt  und  dieses  Wort  erklärt  von 
TzoKöc,  und  dem  privativen  Alpha  (Zeller),  so  gingen  die  Gnostikei- 
einen  Schritt  in  sprachlichen  Abenteuera  weiter  und  nannton 
vielleicht  die  von  der  himmlischen  Sophia  ausgestossene  Weis- 

10* 


148 


Behauptung,  class  Basilides  mehr  das  System  der 
Barbaren  vorträgt.  Man  vergesse  nicht,  dass  das 
sogenannte  Persische  in  ihm  den  von  Porphyrius 
erwähnten  pseudepigraphischen  Schriften  des  Zoroaster 
und  ähnlicher  entnommen  sein  konnte,  die  ja  helleni- 
stische Producte  waren.  Was  nun  zunächst  den  Basilides 
der  Philo sophumena  und  des  Clemens  angeht,  den 
man  als  ächten  von  den  späteren  Basilidianern  des 
Irenäus  und  des  Epiphanius  unterscheidet,  so  erkennt 
man  an  seinem  unbewegten  Beweger,  der  durch  seine 
Schönheit  anziehend  bewegt,  die  Spuren  Platonisch- 
Aristotelischer  Philosophie.  Aber  auch  andere  Züge 
des  Clementischen  Basilides  sind  acht  Platonisch. 
Xeanderi)  sagt  vom  Basilides,  dass  Theodicee  die 
Hauptrichtung    seines    Systems    gewesen    sei.      Aber 


heit,  die  l'co»  -zrysia  ..Unweisheit"".  ein  hibrides  T^^oii;  bildend  aus 
dem  hebr.  Chocbraa  und  dem  a  priv.,  wie  das  obige  Onoel. 
"W^ill  man  ein  solches  Verfakren  nicht  gelten  lassen,  so  bleibt 
nui'  das  Wort  ai-amäisch  zu  erklären  i^r^DIK  =  Schwärze.  Unver- 
ständlich ist  bekannthch  auch  die  ..colorbasische"  StiEe  (Ii-e- 
näus  I,  14).  So  geistreich  die  Conjectur  Yolkmar"s  ist  ITIX  bs 
..die  ganze  Yierheit'',  so  wenig  befriedigt  doch  hier  gerade  das  ^2. 
Ich  meine,  dass  die  Worte  fälschlich  von  rechts  zu  Hnks  gestellt 
worden,  dass  es  vielmehr  h'p  r.Z  „Bathkol",  richtiger  aramäisch 
ühp  ni2,  wie  im  2.  Targum  zu  Esther  und  auch  sonst  heissen 
müsse,  und  dass  dabei  ein  feiner  Witz,  wie  er  dem  Irenäus  gegen 
die  Gnostiker  eigen  ist,  gemacht  worden.  Die  Stille,  wiU  er 
sagen,  ist  keine  Stille,  sie  hat  doch  ein  ..Echo'-  (Bathkolj,  das 
bis  zu  Marcus  gedrungen  ist. 
ij  Xeanderr  1.  1.  S.  39. 


149 

seine  Theodicee,  Avelche  die  gefallenen  Seelen  durch 
Einkörperung  in  TMerseelen  läutern  lässt,  ist  ganz 
dem  Platonischen  Gedankenkreise  entnommen.  Im 
Tim  aus  S.  41 — 42  dreht  sich  die  Darstellung  um  den 
Gedanken,  „dass  die  erste  Geburt  für  Alle  auf  gleiche 
Weise  bestimmt  sei,  damit  Keiner  durch  ihn 
(Gott)  in  Xachtheil  käme^'.  „Und  wer  die  ihm 
zukommende  Zeit  gut  verlebt,  der  wird  selig,  wer 
aber  nicht,  der  beginnt  seine  "Wanderung  in  Weib 
und  Thier".  Xoch  einmal  sagt  dann  Plato :  „Nachdem 
er  ihnen  aber  alle  diese  Gesetze  gegeben,  damit  er 
an  der  nachherigen  Schlechtigkeit  eines  Jeden 
unschuldig  sei"  u.  s.  w.  Bekannt  und  von  Kirchen- 
vätern citirt  ist  ja  auch  das  Platonische:  akia  o'lXo- 
•jisvoo,  d-züQ  avaiuo?.  AYenn  demnach  für  Basilides  der 
ganze  Weltlauf  ein  Läuterungsprocess  für  die  ge- 
fallenen Lichtwesen  ist  (GiZQVG[jLia  zaO-apaswv),  so  hat 
er  nur  die  Platonischen  Traditionen  bewahrt  und  sie, 
so  gut  es  anging,  christlich  gestaltet. 

Die  bei  den  späteren  Basilidianern  vorkommenden 
365  Geisterreiche  oder  Himmel  ('AjSpa^al)  erklären 
sich  vielleicht  folgendermassen :  Plato  bezeichnet  den 
Kosmos  als, ein  bewegtes  Bild  der  Ewigkeit.  Darauf 
sagt  er  wörtlich:  „Und  indem  er  zugleich  den  Himmel 
einrichtet,  macht  er  von  der  in  einem  beharrenden 
Ewigkeit  ein  nach  der  Zahl  gehendes  ewiges  Bild,  das 
was  wir  Zeit  genannt  haben.    Denn  Tage  und  Xächte 


150 


und  Monate  und  Jahre,  die  es  nicht  gab,  bevor  der 
Himmel  geworden  war,  deren  Entstehung  Teranstaltet 
er  jetzt  zugleich  mit  der  Zusammenfügung  von 
diesem''  i).  Es  ist  möglich,  •  dass  Basilides  von  dieser 
Stelle  den  Anlass  genommen,  die  Zahl  der  entstan- 
denen Himmel  nach  der  Zahl  der  Tage  im  Jahre  zu 
bestimmen. 

Eigenthümlich  ist,  dass  selbst  die  ethischen  Yer- 
irrungen  der  Gnostiker  ihren  Eückhalt  im  Plato 
suchen  und  Clemens  sie  meist  als  Missverständnisse 
Platonischer  Aufstellungen  bezeichnet. 

So  knüpfen  Carpokrates  und  Epiphanes  ihre  com- 
munistischen  Ansichten,  ihre  Auffassung  von  Mein 
und  Dein,  ihre  Lehre  von  der  TTeibergemeinschaft 
an  Plato  an-).  Die  Marcionisten  wiederum  berufen 
^ich  auf  ihn,  um  der  Ehelosigkeit,  die  sie  aus  Hass 
gegen  den  Demiurgen  predigen,  eine  philosophische 
Stütze  zu  geben  3).    Kurz,  Plato  scheint,  wie  für  ihre 


1)  Timäus  S.  37 :  Elv.öva  o'  hrzv/otl  v.vr^^'zr^v  xiva  alcüvo?  -oir^za'. 
y.al  oiav.G-,u.üjv  au.a  o^pavov  Tzry.tl,  ,u,£vovtoc  at(Lvoc  h  evl,  xax'  ap'.ö*- 
/xov  loDoav  alüjv'.ov  slv-ova,  todxov  ov  o-q  'jr.mw  covo[i.dy.ajj.£v  v..  ':.  X. 

2)  ClemeDS  sti'omata  1.  III  (ev.  Sylbui-g  S.  430),  nachdem 
er  den  ..Krieg  mit  Gott'',  den  Karpokrates  und  sein  Schüler 
Epiphanias  in  dem  Buche  ,,-spl  o'.xaio^DvYjc"  führen,  geschildert 
und  Ton  ihren  schamlosen  Zusammenkünften  j-edet,  fährt  fort: 
ooy.zl  oe  ixo:  (ö  KapTtov.paxYj«;)  toü  IlXaTcuvo?  -a&av.TjV.oEvoc.  ev  x-^  tioX:- 
X£ia  cpajxsvoD  v.siva?  (1.  v.o'.va?)  slva'.  xac  Y^vaiv.a;;  zavxcuv. 

3)  Ibid.  S.  434.  Nachdem  er  Yorher  zugegeben,  dass  Plato 
schon  Tor  Mai'cion    ir^  awo'j-''av,    y-'-'^'s"^?  oirav  ip/j^v  mit  einer 


151 


neiiplatonischeii  Gegner,  so  auch  für  die  G-nostiker 
der  Hauptphilosoph  gewesen  zu  sein. 

Lenken  wir  jetzt  wieder  in  die  Betrachtung  der 
Stellung   ein,    die    der  Talmud    zur  Gnosis    hat. 

Die  Mischnah  i)  tritt  mit  einem  die  Gnosis  ver- 
pönenden  Abschnitte  auf.     Er  lautet: 

a.  „Man  trägt  Erklärungen  über  den  Abschnitt 
der  Yerbotenen  Eheverbindungen  nicht  vor  vor  drei 
Personen,  die  Schöpfungsgeschichte  nicht  vor  zweien, 
die  Merkaba  (den  Wagen  des  Ezechiel)  nicht  vor 
Einem,  es  sei  denn  ein  "Weiser,  der  aus  eigener  Ein- 
sicht (Gnosis)  versteht". 

b.  „Wer  vißr  Dinge  betrachtet,  dem  wäre  besser, 
nicht  auf  die  Welt  gekommen  zu  sein:  was  oberhalb 
und  was  unterhalb  ist,  Avas  vorber  war  und  was 
nachher  sein  wird.  Und  wer  nicht  schont  die 
Ehre  seines  Schöpfers,  dem  wäre  besser, 
nicht  auf  die  Welt  gekommen  zu  sein". 

Die  beiden  von  mir  mit  a.  und  b.  bezeichneten 
Absätze  in  der  Mischnah  sind  nicht  zu  gleicher  Zeit 
gesagt   worden.     Der    erste  Absatz    will    die    kosmo- 


gewissen  Ungunst  behandelt,  sagt  er,  Plato  habe  aber  darum  dem 
Marcion  keinen  Anlass  gegeben,  die  Materie  für  etwas  Schümmes 
zu  erklären,  da  er  selbst  mit  Pietät  von  der  Welt  gesprochen 
(6ccpop|X7jv  ob  Kapsa/sv  tü)  Mapv.iODv:,  soosßojc  o.h'zbq  sIzojv  uepl  toö 
v.oojxod).  Er  nennt  sogar  die  Entstellung  des  Plato  durch  Marcion 
undankbar  u.  s.  w. 

1)  Chagiga  II,  Mischnah  1. 


152 


gonischen  und  theosophischen  Lehren  nur  nicht 
öffenthch  nnd  vor  unreifen  Menschen  vorgetragen, 
sondern  sie  esoterisch  behandelt  wissen.  Der  zweite 
Absatz  verbietet  sie  im  Grunde  ganz  und  deutet  mit 
den  merkwürdigen  Worten:  „Wer  nicht  schont  die 
Ehre  seines  Schöpfers",  auf  die  den  Demiurgen 
schmähende  Eichtung  hin. 

Dass  die  Stucüen  von  „Maasse  Bereschith"  und 
„Merkaba'^  zur  Zeit,  wo  der  erste  Absatz  gelehrt 
wurde,  noch  in  hohen  Ehren  standen,  beweist  folgende 
in  der  Tosephta  und  dem  jerusalemischen  Talmud  zur 
Stelle  vorkommende  Erzählung,  die  bei  aUer  dichte- 
rischen und  sagenhaften  Ausschmückung  doch  in 
ihrem  Kern  historisch  ist. 

E.  Jochanan  ben  Saccai  (70  v.  Chr.)  befand  sich 
auf  der  Eeise  und  in  seiner  Begleitung  sein  Jünger, 
Elasar,  Sohn  des  Arach.  Dieser  bat  den  Lehrer: 
„Lehre  mich  doch  einen  Abschnitt  aus  der  Merkaba". 
Der  Lehrer  antwortete:  „Haben  denn  die  Weisen  nicht 
gesagt,  über  Merkaba  soU  man  auch  nicht  Einem 
vortragen,  es  sei  denn,  er  wäre  ein  Weiser  und  hätte 
die  G-nosis  von  selbst?"  ,Ps'un,  so  erlaube,  dass  ich 
ein  Wort  Dir  darüber  vortrage".  „So  sprich",  ant- 
wortete E.  Jochanan.  Wie  Elasar  anfing,  von  der 
Merkaba  zu  reden,  da  stieg  E.  Jochanan  von  seinem 
Eeitthiere  herab,  sagend:  „Es  ist  nicht  recht,  dass  ich 
von  der  Ehre  meines  Schöpfers  reden  höre  und  dabei 


153 


auf  meinem  Thiere  verharre".  Sie  setzten  sich  nieder 
unter  einem  Baume,  und  Feuer  kam  vom  Himmel 
und  umkreiste  sie,  und  Engel  führten  einen  Eeigen 
um  sie,  fröhlich  wie  Hochzeitsgäste  vor  dem  Bräuti- 
gam (ich  beziehe  diese  Worte  auf  das  Thema,  auf  das 
Feuer  im  Ezechiel  und  die  Chajoth  und  Ophanim), 
und  ein  Engel  rief  aus  dem  Feuer:  „Wie  du  es 
schilderst,  Elasar,  so  verhält  es  sich  mit  der  Merkaba". 
Da  öffneten  die  Bäume  ihren  Mund  zu  einem  Lob- 
liede  (nach  dem  Satze):  „Da  jauchzten  die  Bäume  des 
Waldes''.  Wie  nun  Elasar  zu  Ende  war,  erhob  sich 
K.  Jochanan,  küsste  ihn  auf's  Haupt  und  sagte:  „Ge- 
priesen sei  der  Grott  Abrahams,  Isaaks  und  Jakobs, 
der  unserem  Tater  Abraham  einen  weisen  Sohn  ge- 
geben, kundig  zu  predigen  über  die  Ehre  unseres 
Täters  im  Himmel.  Es  gibt  Menschen,  die  gut 
predigen,  aber  schlecht  erfüllen  (handeln),  die  gut  er- 
füllen, aber  schlecht  predigen.  Elasar,  Sohn  des 
Arach,  predigt  gut  und  erfüllt  guf'i). 


1)  Jer.  Chagiga  77a:    717  "^bTir^  rmv  'Ü21  p  \:rr  jni2  riri'sa 

n22",^s  nSt  c";:2rn  ^;ty  -p  n^i  ib  "iisx  nn^nxsn  nrir^n  ins*  p^.s 

m^nz  -j^u  p  -i'vh  n  nrz^  \r2  -ni^x  ^h  ^.!::n  /;i^  y:zh  irn 

mTi  nnx  |b'K  rr>r\  irh  'Z'C'^  ir^'n  ♦  n-isnn  bi^  n^r*^,  ';xi  'yp  mrD 
nein  '32=  un';sb  \"^zpt^  rrz-n  "r^bö  .rm  cns*  '2"pm  o^^rn  {ü  tk 
jn  niubs*  -nsns  -^k:  t:'s*n  -,tö  nn«  -[xbö  n:^;  ♦  jm  ".zb  j'n^üt:? 


154 


Diese  Erzählung  beweist,  dass  man  die  ]\Ierkaba 
wohl  für  etwas  Esoterisches  hielt,  aber  an  sich  die 
Forschung  über  diese  Dinge  nicht  vei^pönte.  Zu  den 
Zeiten  Josua  ben  Chananiah's  aber  und  Akiba's,  also 
um  die  Zeit,  um  welche  unsere  Gesammtunter suchungen 
sich  bewegen,  war  die  häretische  Gnosis  aufgekommen, 
die  Gnosis,  welche  den  Demiurgen  vom  wahren  Gott 
trennte.  Da  sagte  man  denn:  „Wer  Tier  Dinge  be- 
ti-achet:  was  oberhalb,  was  unterhalb  ist,  was  vorher 
war  und  was  nachher  sein  wird,  dem  wäre  besser, 
nicht  auf  die  Welt  gekommen  zu  sein".  Hier  wird 
die  Forschung  über  das  Pleroma,  über  die  Hölle,  die 
Forschung  über  das,  was  vor  der  Schöpfung  war  und 
wie  das  weitere  Geschick  des  Weltalls  sein  werde, 
also  das  gnostische  Thema,    verpönt  i).     Dass    es  sich 


2pr"",  prrr  zrr.m  'nbi<  'n  7,-^2  "iäki  ".ir'xn  br  ipr;i  "xr*  p  jinr  n 

'•='  -;'*,rx  .c"p^  nx:i  z"^'n  nx: 
1)  Obwohl  unter  D'isb  HÄS  und  ^*n^b  n)2  auch  etwas  Eäum- 
liches  verstanden  werden  kann,  so  stimmen  doch  aUe  Erklärer 
dahin  überein,  dass  mit  diesen  'V\"orten  auch  das  Forschen  nach 
dem,  was  vor  Erschaffung  der  "W^elt  war  und  was  nachher  sein 
werde,  verboten  werden  solle.  Damit  steht  nicht  im  "S^^idersprach 
dass  die  Talmudisten  bisweilen  factisch  anzugeben  wissen,  was 
vor  Erschaffung  der  "Welt  da  war,  z.  B.  der  Xame  des  Messias 
(Pesachim  54a),    da  das  Verbot    zu   forschen    immer   nicht  blos 


155 


darum  und  um  nichts  anderes  handelt,  geht  unzwei- 
deutig aus  dem  Zusatz  in  der  Mischnah  hervor : 
„Wer  nicht  schont  die  Ehre  seines  Schöpfers,  d.  h. 
wer  den  Demiurgen  verlästert,  dem  ist  besser  nicht 
geboren  zu  sein''.  Dieser  Zusatz  ^vird  in  ein  noch 
helleres  Licht  gesetzt  dui'cli  folgende  im  jerasalemischen 
Talmud  zur  Stelle  gegebene  exegetische  Ausdeutung 
eines  Psalmverses. 

Es  heisst  in  den  Psalmen  (31, 16):  „Es  mögen  ver- 
stummen die  lügnerischen  Lippen,'  die  wider  den  G-e- 
rechten  Ereches  (Athak)  reden  in  Hochmuth  und  Ver- 
achtung". (Das  will  sagen:)  Es  mögen  verstummen, 
die  wider  den  Gerechten  der  Welt  (Zaddiko  schel 
Olam,  nämlich  Gott)  „Athak"  reden,  als  habe  er  sich 
nämlich  seinen  Geschöpfen  entzogen.  „In  Hochmuth 
und  Yerachtung",  diese  Worte  sind  angewendet  auf 
Den,  der  sich  brüstet :  Ich  spreche  über  das  Schöpfungs- 
werk (Maasse  Bereschith),  meinend,  er  preise,  während 
er  in  Wahrheit  herabsetzt.  R.  Jose,  Sohn  des  Cha- 
nina, sagt:  Wer  sich  zu  ehren  sucht  durch  Schmähung 
seines  Nächsten,  hat  keinen  Antheil  an  der  zukünfti- 
gen Welt  Wer  sich  nun  gar  mit  der  Ehre  —  euphe- 
mistisch füi'  Schmähung  —  des  Ewiglebenden  empor- 
heben   will,    um    wie    viel    mehr    verwirkt    der    die 


eine  Forschung,  sondern  sogar  schon  einen  Missbraiicli  derselben 
voraussetzt. 


156 


Zukunft.  Wie  setzt  der  Psalm  (31,  16)  fort?  ..Wie 
gross  ist  Deine  Güte,  die  Du  aufsparst  den  Dich 
Fürchtenden,  die  du  erwiesen  hast  denen,  die  bei  dir 
sich  bergen''.  Xun,  er  (der  Schmähende)  soll  nicht 
Theil  haben  an  Deiner  grossen  Güte  i).    "Wie  charakte- 


1)  Chagiga  IL  S.  77  col.  3 :  nnmn  •  •  .  np'kT  'r&v  n:öbKn 
p'nrntr  cnrn  chrj  hz'  ip-ns:  hv  nnrnn  ,pr\v  p"i:i  hv 

'i'hpz  ^rrrj^n  ny:n  ]z  "cr  ^"n*  ,112x22  nSn  irxi  ni':^D  k^ic  n^ro 

n^2  Nb  -.-^  bs  ,yii^^b  n:z:i  n^^K  ^^nro  21  n»  nnnn  :2^n5  rtö  ♦  j2t:^ 

"j2',LS  m*  Dasselbe  ist  zu  lesen  Genesis  Eabbah  I.  Die  Beziehung 
des  Wortes  ..Zaddik"  auf  Gott,  auch  wo  die  schHchte  Exegese 
das  nicht  zulässt,  ist  in  Midraschim  nicht  selten.  So  bezieht 
Midi-asch  zu  Koheleth  III,  9  die  Worte:  .TH^  '.rr^xr  p'":^  „der 
Pronime  lebt  seines  Glaubens"  (in  seiner  Treue),  das  Wort  „der 
Fromme"  auf  Gott.  Derselbe  Midrasch  hat  eine  scharfe  Kritik 
der  häretischen  Anmassung,  Gott  meistern  zu  woUen,  die  sehr 
bezeichnend  ist  und  unsere  im  Texte  behandelten  Stellen  gut 
iUustiii-t.  Zu  Koheleth  11,  12:  „Xun  wandte  ich  mich,  zu  be- 
schauen Weisheit  und  Thorheit  und  Unverstand,  denn  was  ver- 
mag ein  Mensch,  der  nach  dem  Könige  kommt?  Das  was  sie 
längst  gethan'-,  sagt  E.Simon:  Unter  Thorheit  ist  zu  verstehen 
die  Thorheit  der  Ketzerei  (der  Gnostiker),  unter  Unver- 
stand die  Yerstocktheit.  „Denn  was  vermag  ein  Mensch,  der 
nach  dem  Könige  kommt'':  Wenn  dir  ein  Mensch  sagt:  Ich 
kann  hinter  das  Wesen  der  Welt  kommen,  so  sage  ihm:  Einen 
König  von  Fleisch    und  Blut   kannst    du   nicht  ergründen,    viel 

weniger  den  König  der  Könige E.  Simon  ben  Jochai 

sagt:  .,Die  Sache  ist  folgender  vergleichbar.  Ein  König  hatte  einen 
Palast  gebaut,  in  den  alle  Eeisenden  hineingingen  und  sagten: 
Wäi-en  seine  Säulen  hoch,  so  wäre  er  schön,  wären  seine  Wände 


157 


ristisch  ist  die  Stelle  für  Gnostiker,  welche  sich  selbst 
für  höher  halten,  als  den  Demiurg,  weil  in  ihnen  ein 
Sperma  des  oberen  Gottes  ist! 

Aber  noch  Eines  ist  in  unserer  Mischnahstelle 
dunkel,  so  dass  die  scharfsinnigen  Erklärer  Kaschi 
und  Samuel  Edels  sich  mit  Eecht  Mühe  geben,  das 
Dunkel  zu  lichten.  Obwohl  nämlich  die  „verbotenen 
Eheverbindungen"  den  Anlass  gegeben  haben,  unsere 
Mschnah  hier  einzurücken  2)  —  in  der  voraufgehen- 
den  ]\Iischnah  war  von  ihnen  die  Kode  und  bei 
einem  Buche,  das  dem  Gedächtniss  eingeprägt  wurde, 
wie  unsere  Mischnah,  war  die  Rücksicht  auf  Behalt- 
lichkeit  massgebender  als  der  streng  logische  Ge- 
sichtspunkt — ,  so  ist  doch  das  Yerbot,  sie  nicht  vor 
drei  Personen  vorzutragen,  nicht  gerade  klar.    Gründe 


hoch,  so  wäre  er  schön,  wäre  seine  Decke  hoch,  so  wäre  er 
schön.  So  könnte  ein  Mensch  sagen:  Hätte  ich  drei  Hände 
oder  drei  Augen  oder  drei  Ohren  oder  drei  Füsse,  so  wäre  ich 
schön.  Darum  steht:  „das  was  sie  längst  gethan"^  Gestatten 
wir  uns  die  AYendung  (bl2^i2) :  Gott  und  sein  Gerichtshof,  sie 
stimmten  ab  über  jedes  Glied  von  Dir  und  er  stellte  Dich  hin 
in  Deiner  richtigen  Verfassung.  Du  wirst  aber  sagen,  es  gibt 
zwei  Mächte  (mm  \"it:0*  Aber  es  heisst  ja  schon  (Deuter.  36,  6): 
Er  hat  Dich  gemacht  und  Dich  bereitet".  Uns  ist  es  bekannt  geuug^ 
dass  die  Yerlästerung  des  Demiurgen  durch  den  Nachweis  erreicht 
wurde,  dass  die  "^N'elt  nicht  gut  eingerichtet  sei,  wie  auch  Plotin 
sein  Buch  gegen  die  Gnostiker  überschreibt:  „Gegen  die,  welche  sagen, 
der  Demiui'g  derT^^lt  sei  schlecht  und  die  ^Velt  selbst  schlecht". 
1)  Vergl.  Maimonides  zur  Stelle  und  die  Zusätze  des  Lipmann 
Heller. 


158 


der  TVohlanstäüdigkeit  reichen  nicht  aus  für  im 
Ganzen  naive  Zeiten,  Tvelche  geschlechtliche  Yerhält- 
nisse  zu  Zwecken  der  ritualen  Belehrung  ruhig  be- 
sprechen 1).  Auch  wird  das  von  den  Erklärern  gar 
nicht  als  Hinderniss  vermuthet.  Sie  meinen  vielmehr, 
der  Eine,  es  beziehe  sich  das  Verbot  des  öffentlichen 
Vortrags  auf  den  Theil  der  verbotenen  Eheverbin- 
dungen, der  nicht  ausdrücklich  in  der  Schrift  erwähnt, 
sondern  blos  durch  Deutung  erschlossen  wird,  der 
Andere,  es  beziehe  sich  auf  Angabe  der  tieferen 
Gründe  für  die  ausgesprochenen  Eheverbote.  Ein 
Missverständniss  in  dieser  Beziehung,  meinen  sie, 
könnte  in  einer  so  wichtigen  Angelegenheit  ^vie  die 
Reinheit    der  Ehen  zu   einer  laxen  Praxis  führen  -). 


1)  Mischnah  Megillah  IV,  10  heisst  es:  „Die  Geschichte 
vom  Reuben  ^vird  vorgeleseri,  aber  nicht  übersetzt".  Der  Grund 
ist  nicht  ^'ohlanständigkeit,  sondern  um  ..Eeuben--  nicht  zu  nahe 
zu  treten.  Das  wird  durch  die  Fortsetzung  bewiesen,  dagegen 
„die  Geschichte  der  Thamar  T\-ü-d  gelesen  und  übersetzt",  da  sie 
nämlich  Jehudah  wegen  seines  offenen  Bekenntnisses  nicht  zur 
Unehre  gereiche.    K"ip:  n^n  HltTö  Cjnn'ö  N^l  Nnp:  jr^n  ncvfl) 

2)  Die  babylonische  Gemara  ist  schon  um  Angabe  des  Gnindes, 
waiTim  der  Abschnitt  über  die  verbotenen  Ehen  (n^niO  nicht 
vorgetragen  werden  düi'fe,  in  Verlegenheit  und  sagt,  es  seien 
rVT  '- '.rc  zu  verstehen.  Das  erklärt  nun  aber  Easchi  dahin,  dass 
die  nicht  ausdrücklich  in  der  Schrift  angegebenen  mni?  gemeint 
seien.  Samuel  Edels  aber  (Maharscha)  dui'ch  folgende  Worte: 
■^'C'X  "i'c  '*;r  r'-'i:  "icx  ^'c  z'nn  —rc  z'^zb  "m^b  "c  -£c  -;\""ri 


159 


Eine  solche  Deutung  miiss  uns  so  lange  genügen, 
als  wir  keine  bessere  wissen.  Wie  aber,  wenn  die 
„Geheimnisse  der  verbotenen  Eheverbindungen",  von 
denen  in  unserer  Stelle  die  Kede,  eine  Art  Syzygien- 
lehre  ist,  die  Lehre,  nach  welcher  die  Sophia  sich 
durchaus  mit  ihrem  Yater  habe  verbinden  wollen,  so 
dass  das  Thema  dem  von  „Maasse  Bereschith"  und 
„Merkaba"  verwandt  wäre?  Ich  gebe  das  nur  als 
Yermuthung,  will  aber  zeigen,  dass  diese  Yermuthung 
durch  eine  andere  Mischnahstelle  eine  starke  Stütze 
erhält.  In  Mischnah  Megillahi)  sind  eine  Keihe 
kleiner  Bestimmungen  aufgezählt,  die  alle  die  Ten- 
denz haben,  die  Weise  der  Minim  und  Chizonim 
(Ketzer  und  Draussenstehende)  nicht  zuzulassen. 
Unter  diesen  Bestimmungen  figurirt  auch  folgende: 
„Wer  den  Abschnitt  über  die  verbotenen  Eheverbin- 
dungen bildlich  auslegt,  den  heisst  man  schweigen"  -). 
Ich  gebe  diese  Stelle  im  Zusammenhange :  „Wer  da  sagt : 
Ich  trete  nicht  in  gefärbten  lOeidern  vor  die  Yorbeterlade 
hin,  soll  auch  in  weissen  zum  Yorbeten  nicht  zugelassen 
werden,    ich    will   nicht    in    Sandalen    hintreten,    soll 


1)  Megillah,  Mischnaii  IV,  8—9 

2)  im«  i^pntTÖ  mni7S  nssian.  Graetz,  Gnosticismus  und 
Judenthimi  S.  14,  bringt  unsere  Stelle  in  Chagiga  bereits  mit 
dieser  in  Megillah  in  Connex.  Er  deutet  das  nnun  .1:20,1,  wie 
es  nicht  anders  gedeutet  werden  kann,  ,,AYer  die  verbotenen  Ehen 
allegorisirt"',  nur  dass  er  den  Zusammenhang  des  kosmogonischen 
Thema's  u.  s.  w.  nicht  herstellt. 


IGO 


auch   barfuss   keinen   Zutritt  haben AVer   die 

Thefillin  (Phylakterien)  auf  die  Stirn  bindet  oder  auf 
die  Handfläche,  verfährt  nach  Weise  der  Minim 
(Häretiker).  Wer  sie  mit  Gold  belegt  oder  sie  über 
den  Aermel  bindet,  verfährt  nach  Weise  der  Chizonim 
{Draussenstehenden,  die  sich  um  die  Bestimmung  der 
Lehrer  nicht  kümmern).  Sagt  Einer  im  Gebete :  ,,Dich 
segnen  die  Guten",  so  ist  das  ketzerische  (minäische) 
Weise.  Sagt  Einer:  „Auf  die  Vogelnester  erstreckt 
sich  Dein  Erbarmen"  und  „über  den  Guten  (oder  über 
das  Gute)  wird  dein  Xame  genannt",  oder  sagt  er 
zweimal  „Modim"  (wir  danken,  dankt  er  gleichsam  zwei 
Mächten),  so  heisst  man  ihn  schweigen,  legt  er  die  ver- 
botenen Ehen  bildlich  aus,  so  heisst  man  ihn  schweigen". 
Dass  ein  Theil  dieser  Stellen  gegen  die  Gnostiker 
gerichtet  ist,  die  den  „guten  Gott"  im  Gegensatze  zum 
blos  „gerechten"  betonen,  hat  schon  Graetz  erkannt  3). 
Was  kann  nun  aber  in  diesem  Zusammenhange  das 
Verbot,  den  Abschnitt  „Eheverbote"  bildlich  zu  deuten. 
Anderes  heissen,  als  die  gnostischen  Syzygien  zu 
lehren.  Die  Syzvgienlehre  ist  allerdings  im  Talmud 
nicht  ausdrücklich  zu  finden,  aber  eine  Spur,  dass 
die  Talmudlehrer  mit  diesem  Begrijffe  der  Syzygie 
mindestens    gespielt,    ist    allerdings    vorhandeü.      So 


1)  1. 1.  48  fe. 


161 


heisst  es  einmal  i),  K.  Simon  ben  Jochai  (Schüler 
Akiba's)  hätte  gelehrt:  Der  Sabbath  sagte  zu  Gott: 
Herr  der  "Welt,  jeder  Tag  hat  einen  Syzygos  (die 
sechs  Tage  sind  paarweise),  ich  aber  habe  keinen. 
Da  antwortete  Gott:  Die  Kneseth  Israel  (die  israelitische 
ecclesia)  soll  dein  Syzygos  sein.  Wie  nun  Israel  vor 
dem  Sinai  stand,  da  sagte  ihnen  Gott:  Gedenket  des 
Wortes,  das  ich  zum  Sabbath  gesagt,  die  israelitische 
Ecclesia  soU  dein  Syzygos  sein.  Darum  heisst  es 
(Exodus  20,  8):  „Gedenke"  des  Sabbath,  um  ihn  zu 
heiligen.  Haben  wir  so  in  unserer  Mischnah  ein 
gegen  die  Gnosis  gerichtetes  Gesetz  constatirt,  so  hält 
es  nicht  schwer,  die  Zeit  zu  bestimmen,  in  welcher 
man  sich  des  abschüssigen  Weges  bewusst  wurde, 
auf  welchem  man  in's  Heidenthum  zu  gleiten  Gefahr 
lief  R  Josua,  Xahum  aus  Gimso  und  ihr  Jünger 
Akiba  sind  es,  welche  sich  als  vollbewusste  Gegner 
der  gnostischen  Speculation  selbst  ebenbürtigen  Col- 
legen  oder  doch  hochgeachteten  Jüngern  gegenüber 
zu  erkennen  geben.  Es  versteht  sich,  dass  durch 
ein  solches  Verbot  die  Speculationen  auf  diesem  Ge- 
biete  nicht  beseitigt  werden  konnten.     Es    wird  uns 


1)  Genesis  Eabbah  c.  11:    nr^:'  m^X  *XnT' ji  jirötT  n  ^;n 

iiynpb  nnrn  er  nx  m2T  cd  niar) 
11 


162 


gesagt,  dass  die  im  Sinne  Akiba's  erlassene  ILischnah 
nicht  für  alle  seine  CoUegen  als  massgebend  galti), 
es  werden  uns  ]\Iänner  genannt,  welche  nur  in  sehr 
bedingter  Weise  vom  Mischnahverbot  sich  einschränken 
Hessen  2),  aber  da  die  Akiba'sche  Richtung  überhaupt 
für  die  Folgezeit  massgebend  wurde,  so  waren  seine 
Aeusserungen  doch  ein  starker  Damm  gegen  in's 
Bodenlose  sich  verirrende  Speculationen.  Bringen 
wir  jetzt  ein  Paar  Beispiele,  welche  die  Sache  veran- 
schaulichen. 

Im  jerusalemischen  Talmud  trägt  Jehudah  ben 
Pasi  (ein  palästinischer  Lehrer  zu  Anfange  des  vierten 
Jahrhunderts)  die  Lehre  vor,  dass  zu  Anfange  die 
TTelt  war  Wasser  in  Wasser,  denn  es  heisst:  der 
Gottesgeist  schwebte  auf  der  Oberfläche  des  Wassers  3). 
Diese  Lehre  ist  alt  und  schon  in  den  Tagen  Josua 
ben  Chananiah's  im  Gange,  da  sein  Jünger  Ben-Soma, 
der  in  seiner  Gedankenverzückung  den  herankommen- 
den Lehrer  nicht  gewahrt  und  zu  grüssen  unterlässt, 
diesem  auf  die  Frage :  Woher  und  wohin.  Ben  Soma  ? 
die  Antwort  gibt:  Ich  betrachtete  das  Schöpfungswerk 
und  finde,    dass    zwischen    dem    oberen  und  unteren 


1)  Jer.  Tahnud  77a:    C-.n  N"n  nrpr  m  HT.T  n  nZ'Z  Kr  n 

2)  Der  später  im  Texte  vorkommende  Juda  ben  Pasi,    schon 
vor  ihm  Bar-Kaphra  jer.  Talmud  77,  col    3. 

3)  Ibid.  col.  I:  nm  x!2:"j  "Kis  car  cia  cbirn  rrn  rhnr.z 

'1—'  E"/-n  "IS  ^i?  rsin"'!^  er  ,'X 


163 


Wasser  nur  eine  Handbreite  ist.  Das  folgere  ich  aus 
dem  Ausdrucke  der  Schrift  „rachaf '  schweben,  brüten, 
welches  ein  Berühren  und  Mchtberühren  ist"  i). 

Diese  Aeusserungen  scheinen  harmlos  genug, 
können  es  aber  nach  der  scharfen  Kritik,  die  sie  er- 
fahren, nicht  gewesen  sein.  Josua  sagt  auf  diese 
Aeusserung  seines  Jüngers:  „Ben  Soma  ist  noch 
draussen"  -)  (bei  den  Chizonim,  Häretikern),  und  an 
einer  anderen  Stelle  heisst  es:  „Wer  da  sagt:  An- 
fangs war  die  Welt  Wasser  in  Wasser,  der  macht 
schadhaft  den  Garten  (Paradies)  des  Königs"  3).  In 
gleicher  Weise  polemisirt  Akiba  gegen  diese  Auf- 
stellung. „Tier  gingen  in  den  Pardes  (Paradies), 
heisst  es-i),    und   zw^ar  ben  Asai,    ben  Soma,    Acher 


1)  Ibid.  Nn  x^iT  pi  "[n-Q  "iSn^  n'Ti^  utrin^  n  'n  n^'uü  :z"^ 

vSnj  hv  .  . . .  nt:':2  firh  n^Kii  ?iinn  jk2  nx2ND  ,n£ta  nns  nSiss 
'n  Plinn  t]K  ujid  13^ni  u:i3  jSnS  n^x:^  t]inn  n»  sinn^ 

2)  Ibid.  pinnb  Klan  p  ^^n 

3)  Das  Paradies,  der  Garten  des  Königs,  ist  bei  den  Tal- 
mudisten  ein  Bild  für  die  Gnosis,  wohl  wegen  des  Baumes  der 
Erkenntniss  daselbst,  gerade  wie  bei  Philo,  Clemens  und  im 
Grunde  auch  im  neuen  Testament,  wo  (2  Corinth.  12,  4)  Paulus, 
in's  „Paradies"  entrückt,  „unsagbare  "Worte  vernimmt,  die  dem 
Menschen  zu  sagen  nicht  erlaubt  sind"  (vortrefflich  übersetzt 
Pr.  Deutsch :  D^Ä«b  ü^ih  mir-)  pKI,  während  Luther' sUebersetzung 
die  Sache  nicht  deutlich  macht). 

*)  Bab.   Talmud   Chagiga   14b:     DTnaS  1D333  nun^N  pm  i:n 

jD;2nr3  «n^pu  ^m  cnS  i^n  xn^pr  m  nnxi  höh  p  'i^'v  p  p  iSx 

11* 


164 


(Elisa  ben  Abujah)  und  E.  Akiba.  Da  sagte  der 
letztere  zu  seinen  Collegen:  TTenn  Ihr  kommet  zu 
den  Steinen  von  reinem  Marmor,  so  hütet  Euch  zu 
sagen:  "Wasser,  Wasser,  denn  es  steht  geschrieben: 
„Wer  Lügen  redet,  wird  nicht  bestehen  vor  meinem 
Angesichte^'  (Ps.  101,  7). 

Diese  Stellen  sind  schon  von  Graetz  richtig  er- 
kannt und  auch  von  Le^y  in  die  richtige  Beziehung 
zu  einander  gebracht.  Graetz  verweist  auf  Leander, 
welcher  zeigt,  dass  das  Wasser  von  allen  Piatonikern 
als  Symbol  der  Hyle  oder  der  Genesis  betrachtet 
wurde.  Simplicius  sagt:  Das  Meer  nannten  auch  die 
alten  Mythendichter  wegen  seiner  Schwere,  seines 
Wogens,  seines  auf  jede  Art  und  Weise  sich  Yer- 
wandelns,  seines  Erstickens  Derer,  die  in  dasselbe 
sinken,  ein  Symbol  des  Werdens.  Xumenius  führt 
als  alte  Meinung  an,  „dass  die  Seelen  an  dem  Wasser 
haften,  welches  gottdurchhaucht  sei,  weshalb  auch 
der  Prophet  (Moses)  gesagt  habe,  es  schwebe  der  Geist 
Gottes  oberhalb  des  Wassers''  i). 


TU  "i::7  p2''  ih*  Die  dort  im  Talmud  gegebene  Fortsetzung  der 
Erzäklung,  welche  besagt,  dass  von  allen  vier  diesen  gnostischen 
Forschungen  ergebenen  Lehrern  nur  einer  weder  Schaden  nahm 
noch  schädigte,  nämhch  Akiba,  ist  von  denjenigen,  die  an  unserem 
Gegenstand  gerükrt,  so  genügend  besprochen  worden,  dass  ich 
nicht  weiter  darauf  eingehe. 

1)  Graetz,    1.  1.  Levy  s.  v.  CA.     Xeander,  genetische    Ent- 


165 


Deutlicher  aber  als  in  diesen  von  Leander  bei- 
gebrachten Stellen  wird  die  Sache  durch  Stellen,  die 
ich  den  Epitomis  i),  die  in  der  Sylberg'schen  Ausgabe 
des  Clemens  abgedruckt  sind,  entnehmen. 

Daselbst  2)  wird  an  den  Satz  aus  den  Apokryphen  3) : 
„Gepriesen  seist  Du,  der  Du  auf  die  Abgründe  schauest, 
sitzend  auf  den  Cherubim'^  Folgendes  anknüpft:  „Da- 
niel stimmt  hier  mit  dem  Enoch,  der  gelehrt  hat: 
Und  ich  sah  alle  Hylen,  den  Abgrund  nämlich,  den 
nach  seiner  eigenen  Substanz  undurchdringlichen 
durchdrungen  aber  durch  die  ^Älacht  Gottes.  Die 
hylischen  Substanzen  nun,  von  denen  die  Theil- 
geschlechter  und  ihre  Species  entstehen,  sind  Ab- 
gründe genannt,  da  er  das  blosse  Wasser  nicht 
Abgrund  genannt  hätte.  Jedoch  wird  die  Hyle  alle- 
gorisch   als    abgründiges  Wasser    bezeichnet''.      Kurz 


Wickelung  der  gnostischen  Systeme  S.  220.  Die  bei  Xeander 
aus  Simplicius  in  Epictet.  enchiridion  c.  12  angeführte  Stelle 
lautet:  ty^v  ^aXaoaav  otcc  th  ifißp^O-s;;  xai  xXuoa'.v6[i£vov  v.al  Tiav- 
Toico?  /x£TaßaXX6|X£vov  v.al  tcvIyov  xohc,  xaTaoovovxs?  tic,  ahir^v  v.al  ol 
TiaXaiol  [xuO-oTcXaoxai  i-r^c,  -(zvhtoiq  'fkv^ov  cd/j-^o/.ov.  Die  AYorte  des 
Numenius  (Porph\T.  antr.  nymph.  c.  10)  lauten:  r.ooz'.H/hvy  xü> 
ma-z',  zac,  'l'r/ac,  ^eo-v6üj  ovti,  oiä  xoözo  y.cd  tov  rcpo'fTjtTjV  etoYivivo-.:, 
hli-^iptzd-ai  sTidvcü  tgü  oaazoc,  ■ö-soö  irvsüiia. 

1)  iv.    Ttüv  0£Oo6too    xal    zr^:;  dLvrj.zo\'.'/.r^c,  avay.a>^0'j|J.£';T,(;  oioai- 
y.aXi'xz  v-azu  zobc,  O'jaXsvxtvoD  /povoo;  i-i-o,ii.ai. 

2)  S.  801. 

3)  Gebet  Asariah's  und  Loblied  der  drei  Männer  Y.  '^1. 


166 


darauf  1)  heisst  es:  Durch  Wasser  und  Geist  (Pneuma) 
wird  die  Wiedergeburt  bewerkstelligt  wie  ja  auch  die 
ganze  Schöpfung  ursprünglich  durch  sie  zu  Stande 
kam.  Denn  der  Geist  Gottes  schwebte  über  dem 
Abyssus.  Deshalb  wurde  auch  der  Heiland  ge- 
tauft u.  s.  w. 

Aus  solchen  und  ähnlichen  Stellen  wird  uns 
deutlicher,  warum  dem  Josua  ben  Chananiah  so 
wenig  wie  dem  Akiba  die  Speculation  des  ben 
Soma  über  das  Wasser  gefiel.  Sie  merkten,  dass 
durch  diese  OefiEnung  die  heidnisch  -  dualistische  An- 
schauung von  einer  Hvle  neben  Gott,  das  ewig  von 
ihnen  gefürchtete  „Sch'the  Reschujoth"  (zwei  Herr- 
schaften), eindringen  könne. 

Schwierigkeiten  machen  allein  noch  „die  Steine 
Ton  reinem  Marmor''  in  unserer  Talmudstelle.  Die 
Erklärung  Levy's^):  „Wenn  Ihr  zu  den  Eis-  und 
Schneemassen  kommt*',   hat  insofern   eine  gute  Basis, 


ö  AaviYjX  Kk^zi,  ofXGOo^öiv  Tö)  'Eva>-/  Tö)  sloY^v-oxc,  xai  elSov  xa.g  okac, 

o'jjxsvov  0£  zfj  ouva[iS'.  toü  d'to'j.  cd  toivjv  oh'zia:  ÖMxai  &'f '  tbv  xa  IkI 
/xlpoü?  '(ivri  xal  xä  xouxcuv  sioyj  Y^vsxat,  a^ozzoi  sTpTjVxai.  Ir^ü  /jlovu 
xo  üScuo  obv.  av  s'.tzsv  ocßDGaov.  xatxoc  xal  u8u>p  aßuacoc  4]  uXy] 
öLK\ri'(optlzy.i.  Darauf  auf  Seite  802:  aöxixa  8:' uoaxos  xai  r.wtö- 
p.axog  4]  avaYsvvTj-'.s,  xaO-aiTsp  xai  4]  Tüäca  y^vs^'-S-  üvsölia  y"? 
■ö-soü  i-ccpspsxo  X-/J  (iß'j^oü)  y.a'l  Sia  xoöxo  6  owxyjO  Ißavxöaaxo  x.  x.  X. 

2)    s.    V.    C'tt* 


167 

als  gemäss  der  aus  dem  jerusalemischen  Talmud  oben 
angeführten  Stelle  Wasser  der  Urstoff  war,  dieses 
Wasser  dann  in  Schnee  und  Eis  verwandelt  wurde  i). 
Warum  aber  diese  Wasser  dann  „Marmor stein"  heissen, 
ist  doch  damit  nicht  befriedigend  erläutert.  Wie  wäre 
es,  wenn  man  an  den  „Eben  Schethija"  (den  Grund- 
stein der  Welt)  dächte,  dessen  Symbol  nach  misch- 
nischer  Xachricht^)  sich  zur  Zeit  des  zweiten  Tempels 
im  AUerheiligsten  befand  in  Yertretung  der  nicht 
mehr  daselbst  vorhandenen  Bundeslade.  In  der 
Mischnah  ist  allerdings  nur  der  Xame  des  Steins 
„Schethija"  gegeben.  Aber  beide  Gemaren  zur  Stelle 
erklären  ihn  als  den  „Grundstein  der  Welt"  3).  Da 
die  „^IHD  '^^tr  ^iD^5"  sonst  nirgends  vorkommen,  so 
ist  das  Wort  entweder  eine  Corruptel  oder  der  sym- 
bolische Stein  war  aus  Marmor.  Der  Sinn  wäre  also : 
„Wenn  Ihr  an  den  Grundstein  der  Welt  kommt  (an 
die  Betrachtung,  wie  ist  die  Welt  entstanden),  so  sagt 
nicht:  Wasser,  Wasser,  nämlich  das  obere  und  das 
untere  Wasser  war  die  Hyle,  das  eine  für  die  dies- 
seitigen, das  andere  für  die  überhimmlischen  Wesen". 
Thatsächlich  nämlich  unterscheidet  derselbe  Gnostiker, 
den  ich  oben  angeführt,  ein  sinnliches  und  ein  intelli- 


1)  Jer.  Talmud  Chagiga  II,  77a. 

2)  Joma  Y,  2 :  D\s*ri;  r\'.t2^f2  nz'  ^n^-  pK  fni^ri  h'^*:z'f2 

3)  üb^vn  nnüin  ij^iac' 


168 


gibles  Wasser.  Wem  die  Bezeichnung,  die  Akiba  der 
Sache  gibt,  zu  pretiös  erscheint,  der  erwäge,  dass  man 
wohl  damals  aus  Yorsicht  die  gnostischen  Themata 
durch  eine  gleichsam  esoterische  Symbolsprache  aus- 
drückte. 

Wir  lassen  jetzt  noch  ein  anderes  talmudisches 
Beispiel  folgen,  das  in  deutlichster  Weise  eine 
gnostische  Auffassung  abwehrt. 

Eabbi  Ismael,  heisst  esi),  fragte  den  Rabbi  Akiba: 
„Du,  der  Du  zweiundzwanzig  Jahre  um  Xahum  aus 
Gimso  gewesen  {=  seine  Vorträge  mitangehört),  der 
jedem  „eth"  in  der  Thora  (die  Accusativpartikel,  die 
stehen  und  auch  fehlen  kann)  eine  Lehre  abgewann 
(kannst  Du  mir  nicht  sagen),  welche  Lehre  er  entnahm 
den  beiden  „eth",  die  im  ersten  Schriftsatze  vorkom- 
men :  Im  Anfange  schuf  Gott  Himmel  und  Erde  („eth"'- 
Haschschamajim  „weeth"  Haarez)".  Akiba  gibt  darauf 
die  sonderbar  klingende  Ant^^ort:  ,JIätte  es  blos  ge- 
heissen:  „Scham maj im"  und  „Erez"  ohne  „eth",  wüiTle 
ich  die  Worte  für  Gottesnamen  gehalten  haben.  Durch 
die  Partikel  „eth"  aber  ersehe  ich,  dass  es  sich  ein- 
fach  um   das   handelt,   was    wir   unter  Himmel    und 


1)  Chagiga  12a:  ]'2hr^^  rr\z'2  i?rpi7  n  HK  bxrtttr^  n  Snut 

h2  rnn  .-rnt:'  nrr  cd  '-n:  r"x  ein;  ns*  nr^rü?  nns*  S"n  "j-ns 

CDU-'  nöKD  ib'K  b"K  ',.12  tt'm  ^xs:  jm^n  nKi  ciswn  nx  nmnnr  itk 

HK  ntts'rc'  Vvi'm  p  nz'pn  bv  \n^^^  pKi  q^äü  iöik  ^rrn  pxi 

z'^fi  (''"K  ps*  w-":^  c^u"  c'^r  \nH:i  n^si  ci^rn 


169 


Erde  yerstehen".  Die  Sonderbarkeit  der  AMba'schen 
Antwort  schwindet,  wenn  man  folgende  Stelle  über 
die  Gnostiker  bei  Irenäus  i)  liest. 

Moses  nämlich,  sagen  sie,  indem  er  die  Ab- 
handlung über  die  Schöpfung  beginnt,  hat  gleich  im 
Anfange  die  Mutter  aller  Dinge  angezeigt,  da  er  sagt: 
„Im  Anfange  schuf  Gott  Himmel  und  Erde".  Diese 
vier  also  nennend:  Gott  und  Anfang,  Himmel  und 
Erde,  hat  er  ihre  Tierheit  (Tetraktys),  wie  sie  sagen, 
ausgedrückt".  Hier  sind  also  thatsächlich  Himmel 
und  Erde  füi'  Potenzen  in  Gott  oder  neben  Gott  hin- 
gestellt und  der  Einfall,  sie  für  Gottesnamen  zu  halten, 
kein  von  Xahum    aus  Gimso    willkürlich  formulirter. 

Diese  Stellen  mögen  genügen.  Die  Polemik  gegen 
die  Gnosis  hatte  gewiss  nicht  als  alleiniges  Motiv 
theoretische  Bedenken,  sondern  mehr  noch  die  Ueber- 
zeugung,  dass  auch  die  Praxis  geschädigt  werde  durch 
den  Eindrang  dieser  bedenklichen  Theorien.  Acher's 
Apostasie,  sein  antinationales  und  auch  in  ethischer 
Beziehung  antinomistisches  Verhalten  kann  ja  nach 
den  talmudischen  Nachrichten  über  ihn  nur  als  eine 
Frucht   aus    gnostischer  Wurzel    angesehen  werden  2). 


1)  Irenäus  adversus  liaer,  I,    18:    Mcuö-Tj^,    cpaolv,    ar^yoiitvoc, 

oXcDV  |-£03'4£V  s'.TioüV  Iv  ö-pyj!  s-oiTjjSv  ö  %-thq  xöv  ohr,r/Mh^i  -xal  xy]v 
Y^jV.  Ts3japa  oüv  xaDxa  c<vo,u.c/.3as  ■9-S&V  xai  ^P'/y^v,  ohpoL^/ov  y.al 
Y^jV  TTjV  xetpav.xuv  aOxÄv  oj^    ai)Xoi    Ki'(oo'i.  o'.zvjTzmztv. 

2)  Gractz,  Geschichte  IV.  zweite  AuÜ.  S.  102  u.  a.  a.  0. 


170 


Wenn  nun  auch  diese  Polemik  nicht  gerade  zur  Folge 
hatte,  der  G-nosis  verwandte  Speeulationen  aus  dem 
Judenthum  zu  bannen,  so  lehrte  sie  doch  darüber 
wachen,  dass  nicht  an  Stelle  der  nüchternen  Fort- 
bildung der  Religion  die  Allegorie  das  innerste  Wesen 
des  Judenthums  auflöse.  Und  als  später  die  Tochter 
oder  die  Schwester  der  Gnosis,  die  sogenannte  Kab- 
balah,  dennoch  wieder  in's  Judenthum  sich  hineinzu- 
drängen wusste,  so  hatte  sie  nicht  mehr  die  Kraft, 
sich  an  die  Stelle  desselben  zu  setzen,  sondern  musste 
mit  dem  in  talmudischer  Rüstung  einhergehenden 
Judenthum   sich  zu  vertragen  suchen. 

Uns  kam  es  hier  nur  darauf  an,  zu  zeigen,  dass 
die  Trajanisch-Hadrianische  Zeit  es  war,  die  über  den 
weiteren  Entwickelungsgang  des  Judenthums  entschied. 


Uebersiclit  des  Inlialts. 


Seite 

Eine  Terstümmelte  und  eine  nicht  g'enüg'end  ge- 
wtirdig-te  Stelle.  Entgegenstellung  zweier  einander 
widersprechenden  Stellen  aus  Sopherim  und  dem 
jerusalemiscken  Talmud.  Erörterung  der  Stelle 
in  Sopherim  über  eine  zweimalige  üebersetzung 
des  Pentateuch  ins  Griechische.  Hinweis  auf 
eine  höchst  charakteristische,  aber  der  Erklärung 
sehr  bedürftige  Stelle  in  dem  jerusalemischen 
Tahnud 1—5 

Das  wechselnde  Terhalten  der  Talmudlehrer  g-eg-en- 
über  der  g-riechischen  Sprache.  Das  harte 
Urtheil  über  die  Septuaginta  entsteht  erst  Jahr- 
hunderte später,  während  man  in  ihr  urspmnglich 
nichts  Verfängliches  sieht.  Die  Verfinsterung  der 
"Welt  auf  drei  Tage  und  ähnliche  im  Talmud  Tor- 
kommende  Wunder  mit  den  kirchengeschichtlichen 
parallelisirt.  Die  Gunst,  in  welcher  die  griechische 
Sprache  bei  den  Talmudlehrern  stand.  Lobende 
Aeusserungen    über    dieselbe.      Verbot    des  Grie- 


172 


Seite 


cMschea  in  der  Mischnali  zui-  Zeit  des  Trajan. 
Die'  babylonische  Gemara  ist  mit  den  Ereignissen, 
die  zum  Verbote  fühi-en,  nicht  mehr  bekannt,  Avohl 
aber  die  jerusalemische.  Das  Verbot  nicht  mehr 
befolgbai'.  Gründe.  Im  Talmud  und  Midrasch  vor- 
kommende Charakterisii-ung  des  Griechischen.  Ur- 
sachen füi-  Erlass  des  Verbots.  Zusammenhang 
der  Angeber  und  Minäer  mit  dem  „Polemos  schel 
Kitos".  Mangelhaftigkeit  der  Quellen  über  die 
Ursachen  des  jüdischen  Aufstandes  unter  Trajan. 
Wahre  Bedeutung  des  „Trajanstages"  (Jom  Tra- 
janus).  Wann  sind  Pappus  und  LoUianus  getödtet 
worden?  Nachweis,  dass  es  unter  Trajan  ge- 
schehen. Stand  des  Christenthums  zu  jener  Zeit. 
Das  palästinische  Christenthum  damals  noch  national 
im  Gegensatz  zum  antinomischen  und  antinationalen 
Christenthum  der  Hellenisten.  Im  Talmud  bis  zui" 
Zeit  Trajans  kein  Disput  mit  Christen,  überhaupt 
kein  Gegensatz.  Tritt  plötzlich  hervor  zur  Zeit 
Josua  ben  Chananjahs  und  Gamaliel  11.  in  Disputen 
und  Einrichtungen.  Veranlassung  der  von  Helle- 
nisten bei  Ti-ajan  vorgebrachten  Denunciationen  zur 
Vereitelung  des  Tempelbaues*  Die  Zurücknahme 
derTrajanischen  Erlaubniss,  Ursache  des  Aufstandes 
und  Erbitterung  der  Juden  gegen  die  Hellenisten. 
Talmudstelle,  die  das  aussagt.  Andere  Talmud- 
stellen, welche  diese  Vorgänge  illustriren. 
Einrichtungen  gegen  die  Minäer.  Erkenntniss  der 
Gefahr,  welche  die  gefälschte  Septuaginta  und  die 
auf  Grund  derselben  verfassten  Auslegungsschriften 

für  das  Judenthum  hatten 6—42 

Die  Meinung'  von  dem  Sehriftworte  in  den  Tag-en 
das  K.  Elieser  und  des  K.  Josua  ben  Chauanjali. 
Positive  Abwehr.     Veranstaltung  der  Aquila'schen 


173 

Seite 
Bibelübersetzung.  Freude  über  dieselbe,  weil  am 
Griechischen  besser  als  an  der  aramäischen  TJeber- 
setzung  die  Deutungsfähigkeit  des  Textes  zum 
Vorschein  kam.  Die  damals  aufgekommene  und 
Yon  Akiba  vervollkommnete  Methode,  die  ganze 
„mündliche  Lehre"  aus  der  schriftlichen  heraus  zu 
deduciren.  Nachweis,  welchen  Dienst  das  Grie- 
chische dieser  Methode  leistete.  Fi-age  über  die 
bona  fides  dieser  Methode.  Auffassung  des  Maimo- 
nides.  Nachmanides'  Polemik  gegen  diese  Auf- 
fassung. Das  Ungenügende  beider  Auffassungen. 
Weitere  exegetische  Eigenthümlichkeiten  im  Tal- 
mud. Das  Hebräische  selbst,  als  sei  es  griechisch, 
gedeutet.  Erklärung  dieser  Erscheinung.  Glaube, 
dass  die  Schrift  in  70  Zungen  rede.  Die  zahlreichen 
CoiTective  gegen  aus  solcher  Meinung  etwa  ent- 
springende Yerin-ungen 42 — 56 

Die  mündliche  Lehre.  Tradition  und  mündliche  Lehre 
ursprünglich  nicht  identisch.  Tradition  ursprüng- 
lich sowohl  aufgeschrieben  als  unaufgeschrieben, 
Verbot  des  Aufschreibens  zui'  Zeit  des  Simon  ben 
Schetach.  Die  Sadducäer  leugneten  nicht  eigentlich 
die  Tradition,  sondern  die  „mündliche  Lehi'e". 
Spuren  des  Namens  „mündliche  Lehre"  nicht  über 
Hillel  hinaus.  Anfangs  nur  das  Aufschreiben  der 
Halachoth  verboten.  Günstige  Folgen  dieses  Ver-- 
bots  für  die  Entwickelung  der  Halachah.  Beispiele 
einer  solchen  Entwickelung,  aus  der  selbst  chrono- 
logische Winke  zu  entnehmen.  Zwei  Stellen  des 
Josephus.  Veränderung  des  im  2.  und  4.  Macca- 
bäerbuche  erzählten  Martyriums  von  sieben  Söhnen 
einer  Mutter  aus  halachischen  Eücksichten,  An- 
dere Beispiele  für  veränderte  Halachoth.  Verbot, 
aramäische     Uebersetzungen    aufzuschi'eiben    zur 


174 


Seite 


Zeit  Gamaliel  I.  Eine  aramäische  Bibelübersetzung 
aus  der  Griechischen  gefertigt.  Lösung  einer  von 
Asariah  de  Eossi  aufgeworfenen  Schwierigkeit  ...       57—67 

Die  drausseu  stehenden  Büclier.  (Chizonim.)  Zwei 
Arten  derselben,  harmlose  und  gefährliche.  Die 
harmlosen  blos  der  Deutung,  nicht  dem  Lesen  ent- 
zogen. Das  Vorgehen  gegen  Ketzerbücher  nicht 
lange  vor  Akiba.  Yerwirning  der  Texte  zum  Nach- 
theile des  harmlosen  Sirachbuches.  Herstellung 
des  Textes  durch  Conjectur,  auf  die  das  Wort  Sifre 
statt  Sefer  ben  Sira  führt.  Eichtige  Erkenntniss 
der  eigentlichen  Natur  des  Buches  Sirach  schon 
im  Mittelalter 68—76 

I.  Exeurs.  AristobuL  Seine  Ei-wähnung  im  Macca- 
bäerbuche.  Darauf  di'eihundertjähiiges  Schweigen 
über  ihn.  Sein  Name  taucht  zuerst  wieder  in 
Clemens  auf,  der  an  vier  Stellen  seiner  gedenkt, 
einmal  auch  ausdrücklich  seiner  Dedicationsschrift 
an  Ptolemäus.  Trotzdem  hat  Clemens  die  von 
Eusebius  als  aus  den  Aristobuleis  citirten  Yerse 
des  Orpheus,  des  Arat,  des  Hesiod,  des  Homer, 
des  Eallimachus  (Lines)  ohne  anzugeben,  dass  sie 
dem  Aristobul  entnommen  sind.  Desgleichen 
prosaische  Stücke,  die  mit  den  Aristobuleis 
zusammenstimmen,  ohne  Zurückführung  auf  die 
Quelle.  Erst  bei  Eusebius  die  bekannten  gi'ossen 
Citate  aus  der  angeblichen  Dedicationsschrift  des 
Aristobul.  Diese  Aristobulea,  von  Eichard  Simon, 
Hody  und  Eichhora  für  unecht  erklärt,  werden 
von  Valkenaer  als  echt  vertheidigt.  Yalkenaer 
nimmt  es  zu  leicht  mit  den  Hody'schen  Beweisen, 
Hody  selbst  aber  hat  die  stärksten  Yerdachts- 
gründe  nicht  gefunden.  Dagegen  hat  Lobeck  das 
Eichtige  gesehen,    wenn    auch    nicht    erschöpfend 


175 


Seite 
ausgebeutet.  Das  Scliweigen  des  Josephus  über 
Aiistobul  nicht  so  gleichgültig,  wie  Yalkenaer  es 
darstellt.  Noch  weniger  gleichgültig  das  Schweigen 
des  Justin.  Justin  behauptet  dasselbe,  was  Aristobul. 
glaubt  sogar  den  Moses  direct  im  Plato  citirt  unter 
der  Bezeichnung  das  „alte  Wort".  Dennoch  fehlt 
im  orphischen  Gedicht,  wie  es  Justin  hat,  sowohl 
das  „alte  Wort",  als  auch  die  Erwähnung  des 
Abraham,  des  Moses,  der  Bundestafeln,  obwohl 
auch  diese  Fassung  des  Orphicum  nicht  von  Or- 
pheus, sondern  von  einem  Monotheisten  (Christen 
oder  Juden)  herrührt.  Bei  Clemens  tritt  dann  die 
Erwähnung  des  Abraham,  bei  Eusebius  alles  Uebrige 
hinzu.  Hätte  Aristobul  gefälscht,  so  müsste  es  vor 
ihm  zwei  andere  Fälscher  gegeben  haben,  von  denen 
Justin  den  ersten,  Clemens  den  zweiten  und  erst 
Eusebius  den  dritten  (Aristobul)  gekannt  hätte. 
Aber  auch  die  prosaischen  Stücke  unecht.  Beweis 
aus  Pai'allelisirung  einer  prosaischen  Stelle  der 
Aiistobulea  mit  einer  Clementischen,  welche  auch 
die  erste  als  eine  christliche  erscheinen  lässt. . . .  79—100 
II.  Excurs.  Die  Guosis.  Ihr  orientalischer  Ur- 
sprung nur  sehr  bedingt  zuzugeben.  Der  specu- 
lative  Gehalt  aus  der  Bibel  und  aus  Plato.  Zeller's 
Yerdienste  um  Mässigung  des  Eedens  über  Orien- 
talismus. Baui''s  Construction,  dass  die  Orientalen 
Kosmogonie,  die  Griechen  Theogonie  erzeugen, 
wird  schadhaft  dui'ch  die  Betrachtung,  dass  Plato's 
Timäus,  die  Hauptquelle  für  die  Gnosis,  eine  Kos- 
mogonie ist.  Die  Gnostiker  sind  keine  reinen 
Platoniker,  die  neupythagoräische  Gestalt  des  Plato- 
nismus  liegt  ihren  Aufstellungen  zu  Grunde.  Daher 
selbst  das  Orientalische  bei  ihnen  nicht  immer 
aus  erster  Hand,  sondern  schon  durch's  Griechen- 


176 

Seite 
thum  gegangen.  Beispiele  dafür.  Bei  der  Gnosis 
spielt  die  Tendenz  eine  grosse  Rolle.  Zeller's  Be- 
merkung, dass  jene  Zeit  der  Willkür  ihrer  Aus- 
deutungen und  Constructioncn  sich  nicht  bewusst 
ist,  trifft  zu  für  Philo  und  für  die  Kirchenväter, 
nicht  aber  für  die  Gnostiker,  wenigstens  nicht  für 
die  Kainiten  oder  für  Marcion.  Eintheilung  der  - 
Gnosis  in  naive  und  tendenziöse.  Die  naive  Gnosis 
stellt  ihren  Demiurg  ursprünglich  nicht  in  pole- 
mischer Absicht  auf  (Lipsius),  nimmt  ihn  vielmehr 
aus  Plato.  Das  beweisen  die  palästinischen  Talmud- 
lehrer. Grätz  und  Krochmal  über  die  Gnosis  im 
Talmud.  In  Palästina  vollzieht  sich  die  Aus- 
gleichung der  griechischen  Lehren  mit  der  Bibel 
in  naiver  Weise,  bis  zu  Trajans  Zeiten  Gefahi-  ge- 
fürchtet wird.  Die  jüdische  Gnosis.  Nachweis, 
dass  die  palästinischen  Lehrer  vielfach  Platonisch- 
Pythagoräische  Anschauungen  hatten.  Die  Eigen- 
schaften Gottes  bei  ihnen  hypostasirt.  Angabe 
weiterer  Anklänge  an  Plato  und  die  Neupytha- 
goräer.  Erläuterung  einer  talmudischen  Stelle 
durch  eine  gnostische.  "Wie  sich  die  Hinneigung 
zu  den  Platonischen  Sätzen  bei  den  Talmudisten 
erklärt.  Umbildung  des  Platonisch-Heidnischen 
ins  Jüdische.  Der  „Weltfürst"  ob  Metatron,  ob 
der  Demiurg.  Der  Weltfürst  noch  nicht  der  De- 
miui-g,  aber  der  Keim  dazu.  Nachweis,  was  alles 
aus  dem  Platonischen  Timäus  in  die  späteren 
jüdischen  und  gnostischen  Anschauungen  über- 
gegangen. Das  Urtheil  des  Plotin  und  des  Por- 
phyrius  zutreffend.  Nachweis,  dass  bei  den  älteren 
Gnostikern  das  Capitel  in  Ezechiel  eine  Eolle 
spielte.  Bedeutung  von  Kaw  La  Kaw  (Caulacau). 
Talmudische  Parallele.      Die  Gnostiker  behandeln 


177 


Seite 
die  Evangelien  wie  die  Kirchenväter  das  alte 
Testament,  Marcion  nur  scheinbar  eine  Ausnahme. 
Weiterer  Nachweis,  dass  Plato  für  die  Gnostiker 
der  Hauptphilosoph  gewesen.  Colorbasus  ist  das 
aramäische  Brath-Kol  (die  Worte  sind  in  umge- 
kehrter Eeihenfolge).  Behandlung  einer  Anzahl 
von  Talmud-  und  Mi  draschsteilen,  die  entweder 
selbst  gnostisch  sind  oder  umgekehrt  deutlich 
gegen  die  Gnosis  polemisiren 103 — 170 


Yon  demselben  Verfasser  sind  früher  erschienen: 

Beiträge   zur   Geschichte   der  Philosophie,     ii  Bände. 

Breslau  1876.  Verlag  von  H.  Skutsch  (jetzt  Hepner). 
I.  Band:  Maimonides.  Albertus  Magnus.  Gersonides. 
Anhang:  Gabriel,  Philo.  II.  Fand:  Creskas.  Spinoza 
(Sein  theologisch -politischer  Traktat,  und.  Zur  Genesis  der 
Lehre  Spinoza's). 

Religiös -philosophische    Zeitfragen.     Breslau  1876. 

Schletter'sche  Buchhandlung  E.  Frank. 

Meine  in  Veranlassung  eines  Processes  abgegebenen 
Gutachten     über    den     Talmud.       Breslau    1877. 

Schletter'sche  Buchhandlung  E.  Frank. 

Die  Angriffe  des  Heidenthums  gegen  Juden  und  Christen 
in  den  ersten  Jahrhunderten  der  römischen  Cäsaren. 

Breslau  1879.     Schktter'sche  Buchhandlung  E.  Frank. 

Zur  Orientirung  in  der  Cultusfrage.    Dazu  eine  Ergänzung. 

Breslau  1869.     H.  Skutsch  (jetzt  Hepner). 
Fest- Predigten.      Breslau  1867.    H.  Skutsch  (jetzt  Hepner). 

Patriotische  Predigten  von  1861  —  1871.     h.  skutsch 

(jetzt  Hepner). 


In  Verlag  von  S.  Schottlaender  in  Breslau  übergegangen: 

Dr.  M.  Joel:  Notizen  zum  Buche  Daniel.  —  Etwas 
über  die  Bücher  Sifra  und  Sifre.  —  Vortrag 
über  das  Buch  Daniel.     Breslau  i873. 


Yerlag  von  S.  Schottlaender  in  Breslau. 


Das 


italienische  Volk 

im  Spiegel  seiner  Tolkslieder 


Otto   Badke. 


Zweite  Auflage. 


8.    Elegant  broschirt  t^  4.-;  fein  gebunden  M.  5.— 

Wie  seine  Sprache  des  Volkes  Mund,  so  sind  seine  Lieder 
des  Volkes  Herz!  —  Otto  Badke  hat  einen  gelungenen  Ver- 
such unternommen,  uns  das  italienische  Volk  durch  seine  Lieder 
kennen  zu  lehren.  Er  selbst  —  man  merkt  das  ganz  genau  — 
ist  wohl  vertraut  mit  der  Sprache,  literatur  und  Sitten  des 
gelobten  Landes  Italia  und  aus  dessen  schönen  Liedern,  wie  der 
Mund  des  Volkes  sie  anstimmt,  hat  er  uns  einen  Kranz  gewunden, 
in  dem  manche  vergessene  Blüthe,  die  viel  zu  duftig  ist,  um 
schon  zum  Verwelken  bestimmt  zu  sein,  wieder  zu  Ehren  kommt. 
Italienisches  Leben,  italienisches  Denken  und  Lieben  ist  es,  das 
aus  den  Liedern  wiederhallt;  wir  hören  zu  und  fühlen  uns 
mitteninne  in  dem  herrlichen  Wunderland!  Ausserdem  ist  Otto 
Badke' s  Buch  auch  ein  werthvoller  Beitrag  zur  Geschichte  der 
italienischen  Volksdichtung  und  wir  wünschen  aufrichtig  auch 
der  zweiten  Auflage  recht  viele  Freunde. 


Zu  beziehen  durch  alle  Buchhandlungen  des  In-  und  Auslandes. 


Blicke  in  die  EeligionsgescMchte. 


Zweite   Abtheilung. 


J.A.Ji. 


BlidiD  iii  die  Rdigioiisgesdiidite 

zu  Anfang 

des  zweiten  christlicheii  Jalirliiinderts 

mit  Berücksiclitigiing  der  angränzenden  Zeiten. 


II.  Abtiieiluiig. 

Der  Conflict  des  Heidenthums  mit  dem  Christen- 
thume   in  seinen  Folgen  für  das  Judenthum. 

Von 

W^^  31.  Joel 

Rabbiner  der  israelitischen  Gemeinde  zu  Breslau. 

) 


BRESLAU. 

Druck   und  Verlag  von   S.  Schottlaendor. 

1883. 


Dem  Andenken 
meiner  verewigten   Brüder 

D£:  David  Joel 

weiland    Seminar- Rabbiners    zu  Breslau 
und 

D^  Hermann  Joel 

weiland  Iiabbiners    zu    Hirscliberg  in    Schlesien 

in  pietätsvoller  Erinnerung 

zugeeignet. 


Inhalt. 


Seite 

Vorwort IX 

I.  Einleitung 1 

IL  Zur  Lage  der  CJiristeu  im  zweiten  Jahrhundert  und 

zu  den  gegen  sie  erhobenen  falschen  Anklagen  .     .       15 

III.  Das  officielle  Rom   in  der  christlichen  Literatur  des 

zweiten  Jahrhunderts 37 

IV.  "Worin  eigentlich  die  geschichtliche  Sünde  der  Juden 

bestand 48 

V.  Das  erste  christliche    Jahrhundert  im  Unterschiede 

vom  zweiten 73 

VI.  Tacitus  über  die  Neronische  Christenverfolgung.  — 
Jüdisch -christliche  Dinge  in  römisch -heidnischer 
Beleuchtung 96 

VII.  Proben  von  falschen  Anschuldigungen  gegen  die 
Juden,  welche  vor  einer  ernsten  Kritik  nicht  be- 
stehen können 149 

VIII.  Nachträge  zum  ersten  und   zum  zweiten  Theile  von 

„Blicke  in  die  Religionsgeschichte"      .     .     .     170—190 


Vorwort. 


Der  zweite  Tlieil  der  1880  erschienenen  .,Blickeu.s.w." 
hat  etwas  länger  auf  sich  warten  lassen,  als  ich  ursprihig- 
lich  geglaubt.  Ich  lioffe  aber,  nicht  zu  seinem  Nachtheil. 
Es  ist  nicht  immer  schädlich,  durch  Berufsgeschäfte  von 
stetiger  Verfolgung  einer  literarischen  Arbeit  abgezogen 
zu  werden.  Man  kehrt  l)isweilen  mit  desto  frischerer 
Lust  zu  ihr  zurück. 

Der  Gegenstand,  der  in  diesen  Blättern  behandelt 
wird,  obgleich  ebenso  wie  die  frühern  Themata  zur  Ge- 
schichte des  zweiten  Jalu'hunderts  gehörig,  hat  doch  in 
sofern  ein  actuelleres  Interesse,  als  er  Gelegenheit  bietet, 
geschichtliche  Annahmen  und  Anschauungen  zu  berichtigen, 
die  noch  heute  nicht  blos  fortwirken,  .sondern  auch 
fort  zeugen. 

Ich  gebe  mich  der  Hoffnung  hin,  dass  die  sachliche 
Behandlung  desselben  aucli  eine  saclüiche  Beurtheilung 
finden  werde.  Diejenigen,  welche  von  der  Forschung 
etwas  anderes  wünschen '  als  die  Eruirung  der  Walirheit, 


X 


werden  lioffentlicli  mein  Buch  nicht  lesen  und  damit  sicli 
und  mir  einen  Gefallen  thun.  In  einem  Capitel  „Nach- 
ti'äge"  liabe  ich  unter  anderem  mich  auch  mit  einigen 
dankbar  entgegengenommenen  Besprechmigen  des  fi-üheren 
Bändchens  auseinandergesetzt. 

Breslau,  Februar  1883. 


Der  Verfasser. 


D. /Taa) 

Berlin  W.      1 


-  c 'smundstrasseö    J 
I.  Einleitung. 


Die  officielle  Yerfolgung  des  CliristentliLims  als 
einer  die  römische  Staatsreligion  gefährdenden  un- 
erlaubten Religion  begann  bekanntlich  erst  unter  Trajan 
(98—117)  und  setzte  sich,  gesteigert  durch  die  Volks- 
wuth,  die  immer  sich  einzufinden  pflegt  gegen  die 
Unglücklichen,  denen  der  Staat  grollt,  unter  den 
Nachfolgern  Trajan s  fort,  bis  sie  unter  Marc  Aurel 
(161 — 180)  einen  gewissen  Höhepunkt  erreicht  hatte 
und  unter  seinen  Nachfolgern  bis  auf  Severus  (193 — 211) 
einer  Art  von  Duldung  Raum  gab. 

Wenn  der  Bericht  des  Tacitus  über  die  Christen- 
Verfolgung  unter  Nero,  auf  den  wir  noch  zurückkommen, 
den  Anschein  erweckt,  als  seien  schon  damals  für  das 
Auge  der  römischen  Obrigkeit  Christenthum  und  Ju- 
deuthum  als  geschiedene  Religionsformen  auseinander- 
getreten, ja,  als  seien  schon  damals  die  den  Christen 
später  Schuld  gegebenen  „Gräuel"  erfunden  gewesen, 
so     sind    die    besonnensten    Forscher    unserer    Tage 

1 


nicht  in  Zweifel,  dass  Tacitus  aus  seiner  Zeit  heraus 
spricht  —  die  Abfassung  der  Annalen  fällt  zwischen 
115  und  117  —  dass  er  antedatirt.  Erst  von  Trajan 
ab  ist  der  Xame  Christ  ein  Verbrechen,  gegen  welches 
der  heidnische  Staat  unter  Umständen  mit  den  schwer- 
sten Strafen:  Folter,  Tod,  Terurtheilung  zu  den  Stein- 
brüchen und  Bergwerken  einschreitet  i). 

Dass  die  Kirche  diesen  Kampf  gegen  das  Heiden- 
thum  ruhmreich  bestände^,  hat,  braucht  nicht  gesagt 
zu  werden.  Ebenso  dass  die  Avirksamste  Waffe  in 
dem  schweren  Kampfe  die  religiöse  Begeisterung,  die 
durch  keine  Schrecken  zu  erschütternde  Todesver- 
achtung gewesen.     Aber  in  einem  Kampfe,    bei  dem 


1)  Die  Beschwerde  der  Kirchenväter,  dass  man,  wo  es 
sich  um  Christen  handelt,  auf  den  blossen  Namen  hin  einschreitet, 
ist  so  überaus  häufig,  dass  es  einzelner  Nachweise  kaum  bedarf. 
Bei  Justin,  bei  Athenagoras,  bei  Theophilus,  bei  Tertullian  hören 
wir  überall  dieselbe  Klage,  dass  der  Name  zur  Anklage  genügt. 
A^gl,  z.  B.  bei  Justin,  I.  Apol.,  Cap.  4,  wo  zugleich  mit  dem 
Namen  ypr^oxoc,  da  man  Chrestiani  schrieb  (wie  ja  noch  fran- 
zösich.  chretien).  ein  häufig  angewandtes  Wortspiel  gemacht  wird. 
Siehe  auch  Keim,  Eom  und  das  Christenthum,  S.  452,  488,  501. 
Ueber  die  Strafen,  mit  welchen  die  Christen  belegt  wurden, 
vergleiche  Friedländer,  Dai'stellung  aus  der  Sittengeschichte 
Homs,  IIL,  S.  518.  Dort  ist  auch  auf  S.  29^2  ff.  über  die  innerlich 
unwahre  Schönrednerei  nachzulesen,  die  dui'ch  die  formal  rheto- 
rische Erziehung  in  den  römischen  und  griechischen  Schulen 
jener  Zeiten  herbeigeführt  wurde  und  von  der  selbst  die  besseren 
Schriftsteller  nicht  frei  sind. 


alle  weltliche  Macht  auf  Seiten  des  Gegners  war, 
musste  man  noch  andere  Mittel  anwenden.  Man  musste 
den  Gegner  gewinnen  nnd  ablenken,  man  musste  ihn 
üterarisch  zugleich  besiegen  und  versöhnen. 

Diese  literarische  Arbeit  wurde  im  zweiten  Jahr- 
hundert in  Staunenswerther  Weise  geleistet,  aber  doch 
auch  zugleich  in  einem  Geiste,  der  nicht  der  unsrige  ist. 

Es  ist  schon  oft  bemerkt  worden,  dass  das,  was 
wir  schriftstellerische  Fälschung  nennen,  damals  in 
anderem  Lichte  erschien.  Wo  es  sich  um  das  Höchste 
handelte,  da  nahm  mau  keinen  Anstand,  Schriften  auf 
fremde  j^amen  zu  verfassen,  vorhandene  Schriften  zu 
interpoliren,  absolut  widerstrebende  zu  vernichten  und 
die  Yergangenheit  so  darzustellen,  wie  es  der  augen- 
blicklichen Situation  angemessen  und  nützlich  erschien. 
Dazu  kam  die  unbewusste  Geschichtsfälschung,  die 
man  als  eine  Art  falschen  Sehens  bezeichnen  kann, 
und  deren  Wesen  besteht  in  der  unabsichtlichen  Fär- 
bung der  Yergangenheit  mit  den  Farben  der  Gegen- 
wart. Dazu  kam,  dass  die  Männer,  die  im  zweiten 
Jahrhundert,  nachdem  sie  dem  Christenthum  gewonnen 
waren,  in  der  christlichen  Literatur  das  Wort  nahmen, 
meist  hellenistisch-römische  Vorbildung  hatten,  so  dass 
der  rhetorische,  bisweilen  auch  der  advocatorische  Cha- 
rakter ihrer  Schriftstell  erei  stark  zumYorscheinkommti). 


1)  Ygl.  das  Ende  der  vorigen  Anmerkung. 

,  1* 


Ein  klassisches  Beispiel  füi'  diese  Art  des  Literatur- 
betriebs ist  der  Märtyrer  Justin.  Wer  wird  ihm  echte 
Frömmigkeit,  todesmuthige  Begeisterung  für  seinen 
Glauben  absprechen !  Aber  da  ihm  die  Hauptsache  bis 
zur  Evidenz  feststand,  welche  Sorglosigkeit  zeigt  er 
in  dem,  was  ihm  für  seine  Person  mit  Recht  als  neben- 
sächlich erschien,  nämlich  in  der  kritischen  Sichtung 
des  Geschichtlichen,  mit  dem  er  den  Gegner  von  etwas 
überzeugen  wollte,  was  für  ihn  allerdings  zweifellos 
war!  Schon  Yalkenaer  klagt  über  seine  Leichtgläu- 
bigkeit, obwohl  er  keineswegs  die  stärksten  Proben 
derselben  anführt  i).  Ebenso  können  wir  von  rheto- 
rischen Wendungen  bei  Justin  reden,  die  in  der  Xoth 
jener  trüben  Tage  wohl  das  Ihrige  thaten.  bei  denen  es 
aber  unsere  Schuld  ist,  wenn  wir  sie  als  Geschichts- 
quelle ansehen.  So  hat  Lipsius  gezeigt,  wie  falsch  es 
ist,  aus  einer  Aeusserung  Justin's  über  die  Acten  des 
Pilatus  auf  das  Vorhandensein  solcher  Acten  in  jener 
Zeit  zu  schliessen.  Er  erinnert  daran,  dass  Justin 
sich  auch  in  gleicher  Weise  für  die  Geburt  Jesu  in 
Bethlehem  auf  die  Censustabellen  unter  Quirinus  be- 
ruft und  fügt  hinzu:  ..Justinus  nimmt  also  an,  dass 
im  kaiserlichen  Archiv  zu  Rom  sowohl  jene  Census- 


1)  Yalkenaer,  De  Aristohulo  Jiidaeo,  S.  6,  7;  vgl.  das  erste 
Bändchen  dieser  Schrift:  ..Blicke  in  die  Eeligionsgeschichte" 
S.  41,  Anmerkung. 


tabellen,  als  ein  offici eller  Bericht  über  den  Process 
Jesu  unter  Pilatus  aufbewahrt  sei.  Gesehen  hat  er  die 
ersteren  nun  ganz  gewiss  nicht,  aber  hiermit  fällt  auch 
zugleich  jeder  Beweis,  dass  er  die  angeblichen  offi- 
ciellen  Processacten  in  Händen  gehabt  habe"i).  Yer- 
hängnissvoller,  weil  noch  heute  nicht  überwunden, 
wurde  die  apologetische  Khetorik  Justin's,  wo  er,  weil 
er  die  politische  Seite  der  römischen  Yerfolgungen 
nicht  versteht  oder  nicht  Wort  haben  will,  das  Odium 
der  Sache  auf  die  Juden  wirft,  als  sei  die  Haltung 
der  römischen  Obrigkeit  und  die  Diffamirung  der 
Christen  durch  den  heidnischen  Pöbel  durch  die  Aus- 
streuungen der  Juden  veranlasst.  In  seiner  gewohnten 
Weise  spricht  er  von  Sendboten  des  Synedriums,  von 
denen  kein  Mensch  in  der  Welt  ausser  ihm  etwas 
weiss,  und  verleitet  spätere  Kirchenväter,  ihm  das 
nachzuschreiben.  Zu  welcher  Tendenzkritik  das  Bauen 
auf  solche  Justinische  Wendungen  noch  in  unseren 
Tagen  geführt  hat,  kann  man  am  besten  aus  Hilgen- 
feld's  Beleuchtung  der  Dr.  Aberle'schen  Aufsätze "-j 
erkennen.     Wir  werden  im  Yerlaufe  uns  überzeugen, 


1)  Eichard  Adalbert  Lipsius:  „Die  Pilatusacten ,  kritisch 
untersucht'-,  Kiel  1871,  S.  15  ff.  Besprochen  von  Hilgenfeld, 
Jahrgang  1871,  von  Seite  607  ab. 

2)  Hilgenfeld  in  seiner  Zeitschrift  Jahrgang  1864,  von  S.  425 : 
„Die  neueste  Tübingische  Tendenz  -  Kritik",  beleuchtet  von 
Dr.  A.  Hilgenfeld. 


^yie  entschuldbar  in  jener  Zeit  das  Verfahren  des 
Justin  gewesen  und  wie  wenig  Schlimmes  er  damit 
beabsichtigt  hat.  Aber  sein  Yerfahren  und  das  Ver- 
fahren der  meisten  .ähnlichen  Schriftsteller  des  zweiten 
Jahrhunderts  hat  das  erste  Jahrhundert  zu  einem 
wahren  Palimpsest  gemacht,  dessen  Züge  erst  zum 
Vorschein  kommen,  nachdem  man  das,  was  das  zweite 
Jahrhundert  darüber  geschrieben,  beseitigt  hat. 

Es  gehört  wohl  zu  den  glänzendsten  Leistungen 
der  Wissenschaft  dieses  Jahrhunderts,  namentlich  der 
theologischen,  dass  ihr  die  mühselige  Wiedergewinnung 
des  echten  Gesichtes,  welches  das  erste  Jahrhundert 
zeigte,  soweit  das  noch  überhaupt  möglich  ist.  ge- 
lang. Mit  der  Erkenntniss.  dass  Evangelien  und 
Apostelgeschichte  theologische  und  nicht  geschichtliche 
Bücher  seien,  dass  sie  nicht  einfache  Erzählung  der 
Vorgänge  bezwecken,  sondern  im  Dienste  von  Ideen 
stehen,  welche  die  tradirten  Vorgänge  umgestalten 
und  im  Lichte  der  neu  gewonnenen  Erkenntniss  er- 
scheinen lassen,  bahnte  die  Wissenschaft  sich  den 
Weg,  der  einen  Durchblick  bietet  zu  den  ersten  Tagen 
des  Christenthums. 

Aber  einen  Punkt  hat  die  Wissenschaft  nur 
selten  mit  bewusster  Absicht  aufzuhellen  unternommen, 
nämlich  die  Frage,  ob  das  Verhalten  des  Judenthums 
gegen  das  neu  entstehende  Christenthum  durch  die 
jetzt  gewonnenen  Einsichten   nicht  in  einem  anderen 


Lichte  erscheint  Sollte  das  nicht  ein  überaus  wür- 
diger Gegenstand  auch  für  die  christliche  Theologie 
sein?  Sollte  sie  nicht  der  Meinung  sein,  dass  man 
aus.  der  IN'oth,  Avelche  dem  zweiten  christlichen  Jahr- 
hundert eine  Belastung  des  Judenthums  auferlegte, 
heute  nicht  mehr  eine  Tugend  zu  machen  braucht? 
Es  wäre  undankbar,  zu  leugnen,  dass  nicht  durch 
die  gegenwärtigen  kritischen  Leistungen  hie  und  da 
eine  freundlichere  Beleuchtung  des  jüdischen  Yer- 
haltens  sich  ergiebt.  Wir  werden  nicht  ermangeln, 
das  dankbar  anzuerkennen.  Aber  im  Grossen  und 
Ganzen  ist  der  alte  Curialstyl  geblieben.  Ja,  gerade 
wo  die  Absicht  der  Yerunglimpfung  fehlt,  ist  die 
Sache  um  so  schmerzlicher,  weil  sie  dann  gleichsam 
als  unausrottbare  Gewohnheit  sich  zu  erkennen  giebt. 
"Wenn  ein  römischer  Lnperator  einen  Triumph  feiert, 
ohne  einen  Feind  besiegt,  oder  auch  nur  gesehen  zu 
haben,  so  ist  das  eitle  Prahlerei.  A\^enn  aber  Josephus 
die  Eichtungen  innerhalb  des  Judenthums  mit  dem 
Namen  philosophischer  Lehrweisen  beehrt,  um  den 
Griechen  die  Sache  plausibel  zu  machen,  so  ist  das 
..jüdische'-  Prahlerei.  Ich  will  davon  absehen,  dass 
es  überhaupt  keine  Prahlerei  war,  da  man  zu  jener 
Zeit  Philosophie  überhaupt  in  etwas  weiterem  Sinne 
gebrauchte  1),  wie  ja  auch  das  Ohristenthum  sich  damals 


1)  Bekannt  ist.  dass  Klearch  sowohl  wie  Theophrast  Icdighch 
auf  (irinid    der  Kunde    von   der  Lebensweise    der  Judäer    ihnen 


8 


als  eine  Philosopliie  anffasste.  Aber  man  kann  über- 
haupt nicht  als  „jüdisch'"  bezeichnen,  was  leider  bis 
heutzutage  allgemein  menschlich  ist  Obwohl  es  der 
Talmud  sagt,  ist  die  Vorschrift  doch  wohl  für  Alle 
giltig:  „Ihr  Weisen,  seid  vorsichtig  mit  eueren  Worten^'. 

"Will  man  mich  der  übertriebenen  Empfindlichkeit 
zeihen,  so  glaube  ich,  dass  die  Empfindlichkeit,  in  der 
Wissenschaft  nichts  sagen  zu  lassen,  was  nicht  dem 
Wahrheits sinne,  sondern  der  Leidenschaft  entspringt, 
ganz  am  Platze  ist.  Aber  ich  kann  leider  die  Trag- 
weite der  Sache  bis  zu  einem  Grade  nachweisen,  der 
mir  am  wenigsten  erwünscht  ist. 

Bekanntlich  versucht  heute  auch  die  strenge  Wis- 
senschaft zum  Volke  herabzusteigen.  Ob  zum  vSegen. 
weiss  ich  nicht.  Aber  wem  die  seltene  Gabe  verliehen 
ist,  ohne  der  Wissenschaft  etwas  zu  vergeben,  dennoch 
gefällig  und  unterhaltend  zu  schreiben,  der  muss 
doppelte  Vorsicht  anwenden,  um  nicht  auf  Kosten  der 
AVahrheit  zu  unterhalten.  Obwohl  die  deutsche  Theo- 
logie, was  Tiefe  und  Schärfe  der  Forschung  betiifft, 
in  der  Erkenntniss  der  Ursprünge  des  Christenthums 


den  Namen  ..Philosophen-  gaben.  Klearch  sagt:  ..Die  Philo- 
sophen heissen  bei  den  Indem  Kalaner.  bei  den  Syi'ern  Judäei", 
und  Theophi-ast  bezeichnet  den  ganzen  Stamm  als  der  Philosophie 
ergeben  (ats  tfiÄooG-fo-.  to  ysvo?  ovts;).  Vgl.  Bernays:  „Theophrastos' 
Schrift  über  die  Frömmigkeit',  S.  85.  und  dazu  die  vielfach  inter- 
essanten Bemerkungen  von  S.  109  ab. 


9 


den  ersten  Rang  einnimmt,  so  ist  doch  kein  Werk 
über  das  Christenthum  von  grösserem  Einflüsse  auf 
die  Gebildeten  unserer  Tage  gewesen,  als  die  Bücher 
des  Franzosen  Ernst  Renan.  Gerade  weil  in  Renan 
der  Schriftsteller  fast  noch  höher  steht  als  der  Forscher, 
ist  seine  Leserzahl  immens.  Ich  halte  das  bei  aller 
Bewunderung  der  Renan'schen  Fähigkeiten  für  geradezu 
verhängnissvoll.  Dass  er  selbst  nicht  fest  an  seine 
Resultate  glaubt,  dass  er  jüngst  das  Bedauern  aus- 
sprach, sich  nicht  vielmehr  der  Naturwissenschaft 
gewidmet  zu  haben,  weil  er  dann  sicherere  Ergebnisse 
erzielt  hätte,  kann  der  Sache  nicht  mehr  abhelfen. 
Renan  hat  leider  nur  allzusehr  vergessen,  dass  es 
literarische  Sünden  giebt,  die  praktisch  traurige  Folgen 
haben.  In  diesem  Sinne  bedauere  ich  selbst,  dass  er 
nicht  mehr  naturwissenschaftliche  Methode  auch  für 
die  Geschichtsschreibung  angewendet  hat.  Er  würde 
dann  statt  immer  von  oben  her,  von  der  Ra9e  aus, 
zu  operiren,  von  unten  auf,  von  dem  gegebenen  In- 
dividuellen, ausgegangen  sein  und  Festeres  erzielt 
haben. 

Renan  ist  am  Ende  ein  Xamen  so  glänzend,  dass 
es  sich  wohl  verlohnt,  an  ihm  die  Fehler  auch  Anderer 
kenntlich  zu  machen.  Es  ist  gewiss  nicht  übertrieben, 
wenn  ich  sage,  dass  mir  die  orthodoxe  Darstellung 
der  Ursprünge  des  Christenthums  in  gewissem  Sinne 
lieber    ist    als    die  Renan'sche.     Wenn   die  Juden  in 


10 

einer  solchen  Darstellung  keine  angenehme  Rolle 
spielen,  so  fehlt  es  doch  nicht  au  Compensation.  Die 
Orthodoxie  verunglimpft  nicht  blos  das  Judenthum, 
sondern  verherrlicht  es  auch.  Aber  eine  Darstellung, 
die  kritisch  sein  will  und  eben  erst  als  unecht  be- 
zeichnete Quellen  sofort  wieder  benutzt,  wenn  sie  nur 
Farben  enthalten,  welche  der  künstlerische  Autor  für 
seine  farbigen  Darstellungsbilder  effectreich  zu  ver- 
werthen  versteht;  eine  Darstellung,  die  —  ich  werde 
das  harte  Wort  erhärten  —  am  AVider Spruche  mit 
sich  selbst  eine  gewisse  Freude  zu  haben  scheint, 
unbekümmert  darum,  ob  die  eine  Stelle  ein  vernich- 
tendes Urtheil  über  eine  Gesammtheit  enthcält,  während 
die  andere  das  Gegentheil  davon  aussagt,  aber  durch 
so  viel  Bände  von  der  ersten  getrennt  ist,  dass  die 
Hoffnung  eine  schwache  ist,  es  werde  ein  Mensch  beide 
Stellen  zugleich  im  Kopfe  haben,  eine  solche  Dar- 
stellung, sage  ich,  ist  von  einer  Bedenklichkeit,  welche 
auch  einem  so  genialen  Autor  gegenüber  zwingt,  offen 
zu  reden. 

Damit  man  erkenne,  was  ich  meine,  seien  hier 
nur  zwei  Beispiele  angeführt.  Wer  in  orthodoxer 
Weise  die  Apostelgeschichte  für  eine  nicht  blos  theo- 
logisch bedeutsame,  was  sie  in  allewege  ist.  sondern 
zugleich  für  eine  historisch  verJässliche  Quellenschrift 
ansieht,  ist  sicherlich  berechtigt,  auf  Grund  derselben 
von  einer  Feindschaft  des  officiellen  Judenthums  gegen 


11 


die  Jünger  Jesu  zu  reden.  Renan  aber  hat  zwar  das 
Wesen  der  Apostelgeschichte  nicht  so  tief  ergründet, 
wie  die  deutsche  Wissenschaft  seit  Zeller 's  bahnbrechen- 
der Arbeit  und  den  vielen  darauffolgenden,  von  denen 
ich  nur  an  die  von  Holtzmanni)  und  0 verbeck 2)  er- 
innere, aber  er  hat  doch  scharfe  Kritik  geübt  und, 
als  für  unsere  Frage  interessant,  etwa  Folgendes  ge- 
funden. Der  Yerfasser  der  Apostelgeschichte  kennt 
nach  Renan  den  Judaismus  und  die  palästinischen 
Angelegenheiten  schlecht.  Er  ist  mit  dem  Original 
des  alten  Testaments  nicht  vertraut,  dagegen  schreibt 
er  gut  griechisch  und  ist  mit  den  Ansichten  der  Heiden 
wohl  bekannt.  Er  hat  die  Tendenz,  Alles  hervor- 
zuheben, was  den  Römern  günstig  und  den  Juden 
ungünstig  ist.  Die  historische  Treue  ist  für  ihn  eine 
gleichgiltige  Sache  3). 

Meint  man,  dass  das  Renan  abhält,  die  Worte 
zu  schreiben:  „Die  Juden  waren  vor  der  Zerstörung 
Jerusalem's  die  wahren  Verfolger  der  Christen  und  ver- 
nachlässigten Nichts,    sie  verschwinden  zu  machen^' -k) 


1)  Holtzraann,    „Lu.cas  und  Josephus",    Hilgenfeld's   Zeit- 
schrift, 16,  Jahrgang,  S.  85  ff. 

2)  In  seiner  treftUchen  neuen  Bearbeitung  des  de  Wette'schen 
Commentars  zur  Apostelgeschichte. 

3)  Renan:    „Die    Apostel''    (autorisiite    deutsche    Ausgabe, 
Einleitung,  S.  16  ff.  Vgl.  namentüch  S.  19). 

^)  Derselbe:   „L'Äntechrist"  (franz.),  S.  161. 


12 


und  dafür  als  alleinige  Quelle  anzuführen:  Apostel- 
geschichte auf  jeder  Seite  und  die  Geschichte  des 
heiligen  Polycarp?  Diese  letztere  Geschichte  werden 
wir  noch  Gelegenheit  haben,  kritisch  zu  behandeln 
und  uns  dabei  wie  mit  Anderen  so  auch  mit  Eenan 
auseinanderzusetzen. 

Aber  bezeichnender  und  schwerer  wiegend  ist  ein 
anderer  Eenan'scher  Widerspruch.  Im  ,,Leben  Jesu^'i) 
schreibt  er  die  entsetzlichen  Worte:  .,So  waren  es 
weder  Tiberius  noch  Pilatus,  die  Jesus  verdammten. 
Es  war  die  alte  jüdische  Partei,  es  war  das  mosaische 
Gesetz.  Xach  unseren  neuen  Begriffen  giebt  es  keine 
üebertragung  einer  moralischen  Schuld  vom  Vater 
auf  den  Sohn;  jeder  ist  der  menschlichen  und  gött- 
lichen Gerechtigkeit  nur  für  das  verantwortlich,  was 
er  selbst  gethan  hat.  Darum  hat  jeder  Jude,  der  noch 
heute  füi'  den  Mord  Jesu  leidet,  das  Recht,  sich  zu 
beklagen;  denn  vielleicht  wäre  er  Simon  der  Cyrener 
gewesen ;  vielleicht  wenigstens  hätte  er  nicht  zu  Denen 
gehört,  die  da  schrien:  ,Kreuziget  ihn'.  Aber  die  Na- 
tionen haben  ihre  Verantwortlichkeit  wie  die  Indi- 
viduen.    Und   wenn  jemals  ein  Verbrechen   das  Ver- 


1)  Eenan:  ..Leben  Jesu"  (deutsche  autorisirte  Ausgabe, 
III.  Auflage,  S.  346).  Ich  bitte  hier  um  Entscliuldigung,  dass 
ich  die  eine  Eeuan'sche  Schrift  nach  der  deutschen  Uebersetzung, 
die  andere  nach  dem  französischen  Original  citire,  da  ich  sie 
anführe,  wie  sie  gerade  in  meinen  Besitz  gekommen. 


13 


brechen  eines  Volkes  war.  so  war  es  der  Tod  Jesir'. 
Damit  vergleiche  man  die  Worte  desselben  Antors  im 
6.  Buche,  betitelt:  Die  christliche  Kirche  (Seite  267 
der  französischen  Ausgabe) :  „Von  der  Mitte  des  zweiten 
Jahrhunderts  ab   war   der  Hass   zwischen   den  beiden 

Religionen  besiegelt Die  Juden  warfen  den 

Christen  vor,  dass  sie  die  Wuth  und  die  Schmerzen 
Israels  nicht  theilten.  Die  Christen  fingen  an,  auf 
die  Gesammtheit  der  jüdischen  Xation  einen  Vor- 
wurf fallen  zu  lassen,  welchen  sicherlich 
weder  Petrus,  noch  Jacobus,  noch  der  A^er- 
fasser  der  Apokalypse  au  ihre  Adresse  zu 
richten  sich  hatten  einfallen  lassen,  nämlich 
den,  Jesus  gekreuzigt  zu  haben.  Der  Tod 
Jesu  war  bis  dahin  betrachtet  worden  als  das 
Verbrechen  des  Pilatus,  der  hohen  Priester, 
gewisser  Pharisäer,  aber  nicht  als  das  Ver- 
brechen von  ganz  Israel.  Jetzt  erscheinen  die 
Juden  wie  ein  deicides  A^olk,  wie  ein  Volk,  das  die 
Gesandten  Gottes  tödtet  und  den  klarsten  Prophe- 
zeiungen widerstrebt." 

AVahrlich,  man  sieht,  dass  unser  Autor  nicht  ge- 
spasst  hat,    als    er   jüngst    in    einem  Aufsatze i)    die 


1)  „Hevue  de  deux  mondcs'-,  15.  Februar  1882,  kommen  in 
Renan's  Besprechung  von  Koheleth  die  AVorte  vor:  „Malheur 
ä  celui  qui  ne  se  contredit  pur  au  moins  une  fois  par  jour.'^ 


14 


merkwürdigen  Worte  sprach:  ,.Ein  unglückseliger 
Mensch,  der  sich  nicht  mindestens  einmal  täglich 
widerspricht!"  Ja,  aber  die  meisten  Menschen  empfin- 
den gar  nicht  die  Sehnsucht,  sich  beständig  zu  wider- 
sprechen. Für  diese  Klasse  von  uninteressanten 
Menschen,  denen  die  pittoreskeste  Schilderung  und  die 
geistreichste  Charakterisirung  die  geschichtliche  Treue 
nicht  ersetzen  kann,  versuche  ich  das  Wenige  zu 
geben,  das  ich  gefunden.  Ich  versuche  zu  zeigen, 
wie  der  literarische  Kampf,  den  die  christlichen  Autoren 
gegen  das  heidnische  Rom  im  zweiten  Jahrhundert 
zu  führen  hatten,  eine  starke  Rückwirkung  übte  auf 
ihre  Darstellung  des  jüdischen  Yerhaltens  gegen  das 
Christenthum. 


II.  Zur  Lage  der  Christen    im   zweiten  Jahr- 
hundert und  zu  den  gegen  sie  erhobenen 
falschen  Anklagen. 


Die  Gefahr,  in  welcher  das  Christenthiim  von  dem 
Augenblicke  ab  schwebte,  wo  es  nicht  mehr  als  jü- 
dische Secte  dem  Auge  des  heidnischen  Rom  erschien, 
war  eine  ungeheure.  Gegen  fremde,  aber  nationale 
Religionen  übte  man  Duldung,  nicht  so  gegen  eine 
Religion  ohne  Yergangenheit ,  welche  sich  selbst  an 
die  Stelle  der  Staatsreligion  zu  setzen  die  Absicht 
hatte  und  haben  musste. 

Es  ist  bekannt,  dass  namentlich  die  „Neuheit'^ 
des  Christenthums  den  Hauptanstoss  erregte  und  dass 
die  Literatur  des  zweiten  Jahrhunderts  darum  in  Pro- 
ductionen  sich  überbot,  welche  das  Christenthum  als 
das  Uranfängliche,  als  Quelle  auch  der  alt-griechischen 
A\^eisheit,  erkennen  lassen  sollten.  So  entstanden  auch 
die  Pseudo-Aristobulea ,  von  denen  im  Früheren  die 
Rede  war.     Ein  zweiter  Anstoss,  der  mit  dem  ersten 


16 


zusammenhing  und  dem  Staate  gegenüber  die  Bedenk- 
lichkeit der  neuen  Eeligion  steigerte,  musste  gleich- 
falls abgeschwächt,  womöglich  ganz  beseitigt  werden. 
Indem  man  nämlich  von  den  Zeiten  des  Trajan  ab 
gegen  das  Christenthum  das  alt-römische  Gesetz  gegen 
unerlaubte  Verbindungen  geltend  machte,  erinnerte 
man  sich,  dass  Eom  von  Anfang  an  der  neuen  Eeli- 
gion mit  richterlicher  Strenge  gegenübergetreten  war. 
Nichts  gefährlicher  im  römischen  Imperatorenreiche, 
als  die  Tradition,  dass  von  vornherein  das  Christen- 
thum als  etwas  Staatsgefährliches  von  Seiten  römischer 
Eichter  angesehen  wurde. 

Dieser  Gefahr  literarisch  zu  begegnen,  gab  es 
nur  zwei  Wege,  die  bisweilen  in  einen  zusammen- 
gingen. Man  musste  nachweisen,  dass  das  Christen- 
thum bei  den  römischen  Imperatoren  und  Magistraten 
des  ersten  Jahrhunderts  in  Gunst  gestanden,  man 
musste  ferner  nachweisen,  dass  die  Juden  und  nicht 
die  römische  Obrigkeit  Schuld  an  der  Yerurtheilung 
Jesu  trügen,  man  musste  die  Juden  von  vornherein 
als  hasserfüllt  und  verfolgungssüchtig  gegen  das  neue 
Christenthum  hinstellen,  ja,  als  die  Juden  durch  ihre 
Aufstände  unter  Trajan  und  Hadrian  den  Römern  ver- 
hasster  geworden  waren,  erschien  es  nützlich,  die 
grässlichen  Anschuldigungen,  welche  heidnische  Nie- 
dertracht gegen  die  Christen  ersonnen,  nämlich  Kinder- 
mord   und    blutschänderische  Umarmungen,    auf   die 


17 


Juden  als  Urheber  zurückzuführen.  Wer  Justin  kennt 
und  wer  Tertullian  kennt,  weiss,  was  von  der  Be- 
hauptung des  Einen  zu  halten  ist,  dass  die  Juden 
durch  ausgesandte  Agenten  das  Christenthum  verlästert 
hätten  —  der  in  Bezug  auf  die  Juden  gewiss  unver- 
dächtige Keim  bezeichnet  das  als  mythisch  —  und 
was  die  Behauptung  Beider  werth  ist,  dass  die  Juden 
die  Urheber  der  mfamiae  gewesen,  mit  der  das  Hei- 
denthum  die  Christen  zu  brandmarken  suchte.  Nicht 
die  leiseste  Spur  in  einer  jüdischen  Quelle  lässt  sich 
nachweisen,  die  zu  einer  solchen  Behauptung  den 
Anstoss  bietet. 

Als  ich  zum  erstenmale  die  Form  der  Anklage 
erwog,  welche  das  Heidenthnm  gegen  die  Christen 
vorbrachte,  da  war  mir  schon  aus  der  sprach- 
lichen Fassung  „thyesteische  Mahlzeiten"  und  „ödi- 
podische  A^erbindungen'*  klar,  dass  nur  einer  helle- 
nistischen Zunge,  dass  nur  der  „Graecia  mendax" 
die  Anklagen  entsprungen  waren.  Es  war  mir 
erfreulich    zu    sehen,    dass    sowohl   Baur^)    als    auch 

1)  Baur:  ,.üogmengeschichte",  1.  Band,  1.  Abth.,  Leipzig 
1865,  erklärt  die  Angaben  Justin's  und  Tertiülian's  aus  ganz 
denselben  Gründen  für  unwahrscheinlich,  aus  denen  auch  ich, 
unbekannt  mit  dieser  seiner  Aeusserung,  sie  als  falsch  erklärt 
habe.  Merkwürdig  ist" s,  dass  Baur  an  das  directe  Zeugniss,  das 
wir  haben,  dass  thatsächlich  die  Griechen  die  '}£o&o[i.apxüp£c 
waren,  nicht  denkt.  Auf  dieses  Zeugniss  des  Tatian  kommen 
wir  in  einem  anderen  Zasammonhange  noch  zurück. 

2 


18 


Keimi),  unabhäugig  von  meiner  in  einem  vor  Jahren 
YeröfPentlichten  Vortrage  gemachten  Bemerkung,  darin 
das  Richtige  gesehen,  während  ich  mich  damals  gegen 
die  Stelle  in  Baur's  Kirchengeschichte  wenden  zu 
müssen  glaubte,  welche'  den  Worten  Tertullian's  noch 
nicht  genügend  misstraut  hatte. 

Warum  übrigens  eine  solche  Beschuldigung  den 
Heiden  gerade  so  nahe  lag  wie  den  Juden  fern,  das 
sieht  Tertullian,  wo  er  will,  sehr  gut  ein.  Er  macht 
die  richtige  Bemerkung,  dass  die  Heiden  nur  darum 
den  Christen  Gräuelthaten ,  wie  Kindermord  zu  reli- 
giösen Zwecken,  zutrauen,  weil  sie  selbst  dergleichen 
noch  immer  üben  -).  Man  wäre  geneigt,  diese  Behaup- 
tung für  einen  der  bekannten  Fechterhiebe  des  heiss- 
blüligen  Afrikaners  zu  halten,  wenn  die  Richtigkeit 
derselben  nicht  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch 
noch  für  seine  Zeit  geschichtlich  constatirt  wäre. 

Es  ist  nicht  unnütz,  sich  darüber  zu  orientiren,. 
dass  der  gräuel volle  Cult  des  Menschenopfers  bei 
keinem,  auch  nicht  dem  gebildetsten  heidnischen  Volke 
fehlte,  und  dass  er  sich  bei  vielen  dem  römischen 
Imperium  unterworfenen  Völkern  mit  grosser  Zähigkeit 


1)  Keim:  ..Eom  und  das  Christenthum'-,  S.  365.  sieht  dio 
Falschheit  des  Vorwurfs  aus  anderen  Gründen  ein. 

-)  Tertullian,  apolog.  IX:  Haec  quo  magis  reftitaveriui 
a  vohis  fieri  ostendam  partim  in  aperto,  paHim  in  occulto,  per 
quod  forsitan   et  de  nohis  credidistis. 


19 


noch  im  zweiten  christlichen  Jahrhundert  erhalten  hat. 
Wir  verdanken  die  genauesten  Nachrichten  über  die 
Verbreitung  dieses  Gräuels  dem  Porphyrius,  der  in 
seiner  Schrift  „über  die  Enthaltung  von  animalischer 
Nahrung"  sowohl  alle  älteren  Angaben  des  Theophrast 
über  diesen  Punkt  registrirt,  als  auch  selbständig  die 
einschlägigen  Notizen  für  die  spätere  Zeit  gesammelt 
hati).  Man  kann  sich  denken,  dass  der  sammellustige 
Bischof  Eusebius  diese  Notizen  sich  nicht  hat  ent- 
gehen lassen.  Sie  bilden  nebst  Auszügen  aus  Diodor 
und  Dionysius  von  Halikarnass  die  xmce  de  resistance 
des  vierten  Buches  seiner  „evangelischen  Yorbereitung". 
Eusebius  sagt  daselbst  zusammenfassend:  In  Rhodus, 
in  Salamis  und  den  anderen  Inseln,  im  ägyptischen 
Heliopolis,  in  Chios,  Tenedos,  Sparta  und  Arkadien, 
in  Phönicien  und  Libyen,  dazu  in  Syrien  und  Arabien 
und  bei  allen  Hellenen,  selbst  bei  der  Blüthe  derselben, 
den  Atheniensern ,  in  Karthago  und  Afrika,  bei  den 
Thraciern  und  Skythen  sind  durch  die  sichersten 
Zeugnisse  Menschenopfer  constatirt-).    Diese  Behaup- 


1)  Nähere  Auskimft  über  diesen  Punkt  giebt  Bernays'  Ab- 
handlung: ,,Theophrastos'  Schrift  über  die  Frömmigkeit",  Note  39. 

2)  Eusebius,  „Praepar.  evang.",  IV.,  17,  164  c.:  si  '(äo  Iv 
'Pooco  v.al  £v  XaXap.iV'.  v.al  sv  r/Xka'.q  vqaoiSj  ^'v  '^s  '^HXioo  TZoKsi  z-g 
v.ax'  AT-j-UkTov,  £v  T£  Xuo  v.ai  Tsvioco  v.al  Aa7.soa'',u.ov'.  xal  'Ap- 
v.ao''a,  <J>oiviv.-/^  ts  v.ac  X'.fj'rrj  y.oX  ttoo^  tooto'-S  aT:aa:v  iv  Supcoc  -xal 
Apaß'.a,   y.al  Trapa  -{z  xolc,  FlavsXXYjGiv  xal  iv.  Tootüiv  ~olc,  v.opu'fa'.o- 

2* 


20 


timg  des  Eiisebius  ist  nicht  etwa  eine  unbeweisbare  Ver- 
heniicbung  des  Christenthums ,  dessen  sittlich  ver- 
edelndem Einflüsse  er  die  Abschaffung  selbst  bei  den 
Heiden  zuschreibt^),  und  des  Judenthums,  dessen 
schweren  Tadel  gegen  diese  kanaanitischen  Gräuel  er 
anführt  (Ps.  106.  37)2)  _  er  hätte  freilich  auch  die 
zahlreichen  Stellen  des  Pentateuch  gegen  den  ^lolochs- 
dienst  citii-en  können  —  sondern  durchaus  den  schon 
genannten  heidnischen  Quellen  entnommen.  Er  hätte 
auch  Gelten  und  Germanen  der  Völker-  und  Städteliste 
hinzufügen  können  3). 

Es  ist  das  Verdienst  der  römischen  Polizei,  dass 
diese  Gräuel  in  der  Mitte  des  zweiten  nachchristlichen 
Jahrhunderts  nicht  mehr  öffentlich  konnten  geübt 
werden.  Obwohl  nämlich  schon  Tiberius  mit  grosser 
Strenge  gegen  die  gallischen  Priester,  die  Druiden 
vorgegangen  war,  ,,welchen  Ungeheuern  einen  Menschen 


xäzoiz  A^Y^^aLO'.c.  v.aToc  zi  Kap-/Y,oöv3c  xa'  rr;;  'A-fptv.r,v  v.ai  -apä 
0pa^t  v.at  Ix'jO-a'.c  (iKolior.y^X'xi  tä  ty^?  Satjxovixvjc  avö-poi-ov-Tovia^ 
xata  To'jc  7:aXacoö;  y^ö'jo'ic,  l-:zz\rJi]i.r.o.  v.a'l  .usyp:  to5  atoirr^pos  Yjxoiv 
rapat£tvav-a  v..  -..   /.. 

1)  Siehe  am  Schluss  der  vorigen  Note  und  öfter. 

2)  Ibid.  16.  161c. 

3)  Für  die  gallischen  Gelten  bedai-f  es  keiner  Beweise 
Vgl.  übrigens  die  folgende  Anmerkung.  Von  den  Germanen  sagt 
Tacitus  (Germania  9):  „Unter  den  Göttern  verehren  sie  am  meisten 
den  Mercur.  dem  sie  an  gewissen  Tagen  auch  Menschenopfer 
darzubringen  für  richtig  halten". 


21 


zu  tödten  für  höchst  fromm,  zu  essen  für  höchst  heil- 
sam" erschien  i) ,  so  war  es  doch  erst  Hadrian 
(117 — 138),  dem  man  die  Abstellung  des  Menschen- 
opfers im  ganzen  Gebiet  des  römischen  Befehls  zu- 
schreibt-). Wie  weit  freilich  die  Hadrianische  Maass- 
regel in  die  verborgenen  Schlupfwinkel  dieser  her- 
gebrachten Gräuel  hineinlangen  konnte,  lässt  sich 
nicht  constatiren.  War  doch  selbst  das  kaiserliche 
Eom  trotz  seines  rühmenswerthen  officiellen  Eifers  in 
diesem  Punkte  keineswegs  frei  von  derselben  heidni- 
schen Befleckung,  so  dass  dieser  Widerspruch  die 
Casuistik  des  Plutarch  einmal  beschäftigt  3). 

W^enn  Livius  das  Menschenopfer  als  unrömisch  be- 
zeichnet^), so  ist  das  wohl  vergleichsweise  richtig,  aber 
doch  nur  vergleichsweise.     Dass  freilich  der  bekannte 

1)  Plinius,  U.  n.  30,  13:  Tiheri  Caesaris  principatus  sustulit 
Bruidas  eorum  . .  .  nee  satis  aestimari  potest  (picmtum  Bomanis 
debeatur^  qui  sustulere  monstra,  in  quibus  hominem  occidere 
religiosissimum  erat,  mcmdi  vero  saluberrimum.  Vergleiche  die 
grausige  Schilderung  des  sachlichen  und  besonnenen  Strabo  4,  198, 

^j  Dieses  berichtet  ein  von  Porpbynus,  p.  118,  8,  an- 
geführter Pallas,  der  die  ., Geschichte  des  Mitbras-  geschrieben 
und  nach  ihm  Eusebius,  „Praep.  ecang.",  IV.,  16.  156  p.:  xaxa- 
/.u>qva:  OE  TGc?  avö-pcuiioO-DGtag  o/sSov  lag  uapa  Tcäsi  cpYjac  ndX).a?, 
h  apcoxa  Tztoi  tcuv  xoO  Mii^pa  c'jvaYaY<.ov  jJt'j'XTjpicuv  s-L  'Aopiavoü  xoü 
aÖToxpaTopog. 

^)  Siehe  die  später  im  Text  angeführte  Stelle  aus  ., Römische 
Fragen- •. 

■ij  Livius,  XXII.,  §  57:  „Minime  sacro  Bomano". 


22 


„heilige  Lenz"  (die  Opferung  alles  dessen,  was  au 
Menschen  und  Yieh  in  einem  bestimmten  Zeiträume 
geboren  wurde)  und  ebenso  die  zur  Beschwichtigung 
des  Götterzornes  berichteten  Selbstopferungen  römischer 
Patrioten  nichts  gegen  den  besonneneren  Geist  der 
latinischen  Eeligion  beweist,  hat  Mommsen  gezeigt^). 
Yiel  Gewicht  wollen  wir  auch  nicht  auf  die  Gladia- 
torenspiele legen,  die  ursprüglich  Leichenspiele  an  den 
Gräbern  der  Grossen  waren,  deren  Manen  man  mit 
diesen  Menschenopfern  beruhigen  zu  müssen  glaubte, 
und  die  später  umgedeutet  wurden,  als  hätten  sie  nur 
den  Zweck,  den  kriegerischen  Geist  lebendig  zu  er- 
halten 2).  Aber  vereinzelt  fehlt  es  bis  in  die  Kaiserzeit 
hinein  weder  an  wirklichen,  noch  an  der  immerhin 
bedeutsamen  Sitte  symbolischer  Menschenopfer.  Um 
über  diese  letztere  Sitte  zuerst  etwas  zu  sagen,  so 
bietet  Dionysius  von  Halikarnass  ein  unanfechtbares 
Zeugniss  noch  für  die  augusteische  Zeit.  Herkules, 
so  ging  nach  Dionysius  die  Sage,  habe  die  Latiner, 
die    einst    gleich    den   Gelten    und    Karthaginiensern 


1)  Mommsen:  ,,Eömisclie  Gescliichte"  5.  Aufl.,  I.  S.  174. 

2)  Nieuport:  „De  ritibus  Bomanorum'',  ed.  nova,  1743, 
S.  606:  „Dum  caclaver  cremaretur,  sangitis  humanus  ante  rogum 
eifundelatur,  quo  manes  defuncti  lüacari  credebant  Ille  sanguis 
oUrn  ßiit  captiforum,  vel  servorum,  at  postea  gladiatoriim,  qui 
inde  bustuarii  sunt  dicti.  Uober  den  Zweck  der  Gladiatorenkämpfo 
Cic.  Tusc.  II. 


23 


Menschen  geopfert,  gelehrt,  statt  der  Menschen,  die 
sie,  an  Händen  und  Füssen  gebunden,  in  den 
Tiber  warfen,  menschenähnliche  Bilder  dem  Flusse 
preiszugeben.  „Dies'',  so  fügt  er  hinzu,  „thaten  die 
Kömer  bis  auf  meine  Zeit,  nnd  zwar  kurz  nach 
der  Tag-  und  Nachtgleiche,  an  den  sogenannten  Iden 
des  Mai,  indem  sie  dabei  auf  den  Vollmond  bestanden. 
An  diesem  Tage  warfen  nach  vorhergehenden  gesetz- 
lichen Opfern  die  höchsten,  ,Pontifices'  genannten 
Priester,  mit  ihnen  die  das  ewige  Feuer  hütenden 
Jungfrauen,  die  Prätoren  und  Solche,  denen  die  Assi- 
stenz bei  den  heiligen  Handlungen  zusteht,  menschen- 
ähnliche Bilder,  Argeen  genannt,  von  der  heiligen 
Brücke  herab  in  den  Tiberstrom"  i).  Aber  neben  dieser 
harmlosen  Gestaltung  einer  vielleicht  in  unvordenklicher 


1)  Dionysius  voa  Halikarnass  A.  R.  I.,  3S:  zobzo  ok  v.al 
lJ.k-/o'.c,  £[J.oö  S'.stsXoüv  ^Pin\i%lo'.  tpwztz  sxt  ii.iv.pby  üOTcpov  laocvr^; 
Gr^ixtpiac,  h  [xrivi  Mol'm  xo.lz  y.o.Xoop.ivoLC,  bIooIc,,  oi^o|i-Y|Vc5a  ßoDX6[JLsvoc 
xaoTTjV  s'.va:  xyjv  -'qp-ipav,  sv  -^  7:po8-6aavx£g  Ispsla  xa  v.axa  lobz 
vojuLODg  ol  v.yXo6iJ.tvo'.  Txovtbcv.sc;,  Ispscuv  ol  oiatpavsaxaxoc,  y.ac  ouv 
aoxolg  cd  zb  aO-avaxov  Tzbp  §:a'-p»jXaxxooaa'.  Tiap^svot,  cxpaxTJYO'-  '^^  V-^-^ 
TcT>v  aAÄojv  TzoXixojv  ou;;  Ttapclva:  xal;;  '.spoupYiaij  -B-s/x'-S,  sl'oouXa  sl^ 
/xopcpa;  öcvö-ptJUT^aiv  slv.aajJLsva,  xp'.dv.ovxa  xov  öcpiO-iJ-ov  auo  xvjg  tspä^ 
YS'-popa;  ßaXXoDGiv  sU  xo  psö[j.a  xoü  Tißsptoj,  'Ao-ptoD;;  aoxa  v.aXoöv- 
Tsc".  Warum  übrigens  diese  Menschenbilder  Argeen  hiessen,  be- 
schäftigt den  Plutarcli,  ,, Römische  Fragen"  32.  Kein  Geringerer 
als  Mommsen  freilich  hält  die  Auffassung  der  Bilder  als  Ver- 
treter von  Menschen  für  unüberlegt.  Indess  war  doch  diese  Auf- 
f 
*assung,  wie  aus  Dionysius  hervorgeht,  in  Rom  selbst  heimisch. 


24 


Zeit  blutig'  gewesenen  Sitte  wissen  wir  doch  auch 
von  weniger  harmlosen  Acten  zu  erzählen.  Für  die 
republikanische  Zeit  sind  zwei  Fälle  officiell  durch  den 
Senat  angeordneter  Menschenopfer  constatirt,  der  eine 
als  der  Aufstand  der  Gallier  im  »Jahre  225  t.  Chr. 
die  Gemüther  in  Schrecken  setzte,  der  andere,  nachdem 
die  Schlacht  bei  Cannae  auch  religiös  ausserordentliche 
Maassregeln  aiifzunöthigen  schien. 

In  Bezug  auf  den  ersten  Fall  lauten  die  Worte 
Mommsens:  .,Der  Glaube,  dass  Roms  Untergang  diesmal 
unvermeidlich  und  der  römische  Boden  zum  Yerhäng- 
niss,  gallisch  zu  werden,  bestimmt  sei,  war  selbst  in 
Rom  nnter  der  3Ienge  so  allgemein  verbreitet,  dass 
sogar  die  Regierung  es  nicht  unter  ihrer  Würde  hielt, 
den  crassen  Aberglauben  des  Pöbels  durch  einen  noch 
crasseren  zu  bannen  und  zur  Erfüllung  des  Schicksals- 
spruchs einen  gallischen  Mann  und  eine  gallische 
Frau  auf  dem  römischen  Markt  lebendig  begraben  zu 
lassen-^).  Ebenso  forderte  der  Ausfall  der  cannensischen 
Sahlacht  gar  vier  Menschenopfer.  Es  wurden  nämlich 
damals  zur  Sühne  des  Götterzornes  zu  dem  gallischen 
Mann  und  der  gallischen  Frau  noch  ein  Grieche  und 
eine  Griechin  lebendig  begraben.  Aber  auch  für 
reifere  Zeiten  bis  ins  dritte  nachchristliche  Jahrhundert 
hinein  sind  Beispiele  bald  ofiicieller  bald  verstohlener 

1)  Mommsen:  „Eöm.  Geschichte",  3.  Buch,  S.  561. 


25 


Menschenopfer  zu  verzeichnen.  INTach  einigen  Gewährs- 
männern bei  Sueton  brachte  Octavian  als  Sieger  von 
Pernsia  am  Todestage  des  vergötterten  Julius  auf  dem 
diesem  geweihten  Altare  dreihundert  Ritter  und  Sena- 
toren zum  Opfer ^).  Wenn  auch  der  schlaue  Octavian 
sicherlich  sich  und  nicht  den  Göttern  damit  eine  Gunst 
zu  erweisen  die  Absicht  hatte,  so  musste  er  doch  auf 
den  für  einen  solchen  Vorgang  erforderlichen  Yolks- 
wahn  rechnen  können.  Sextus  Pompe.jus  opfert  Pferde 
und  Menschen  dem  Neptun-).  Nero  tödtet  eine  Menge 
Adeliger,  die  er  einer  Verschwörung  bezichtigte,  mit 
ihren  Kindern  zur  Abwendung  einer  Kometengefahr '^). 
Ebenso  lässt  er  den  geheimnissvollen  Schlund  des 
delphischen  Orakels  schliessen,  verdriesslich  über  die 
Ungunst  der  Orakelsprüche,  und  versenkt  zur  Sühne 
für  Apollo  Menschen  in  denselben -i).  Der  ältere  Plinius 
kennt  zu  seiner  (des  Vespasian)  Zeit  ein  officiell  an- 
geordnetes Menschenopfer,  das  nach  Vermuthung 
Alexandre's    dasselbe    ist^),    über    welches    Plutarch 


1)  Sueton,  Caesar  Oct.  Augustus,  XV.     Dio  Cassius  48, 15. 

2)  Dio  Cassius  48,  48. 

3)  Tacitus,  Ann.,  XV.,  47;  Sueton,  Nero  XXXVI. 
*)  Dio  Cassius  63,  14. 

5)  Plinius,  h.  n.  XXVIII,  §  3.  Alexandre,  ./Jracula  sihyl- 
lina'\  II.,  S.  215.  Alexandre's  Schluss  freilich  aus  den  Worten 
Plutarch's:  oh  thoWoIc,  sTsaov  I'{iirpoo0sv  beruht  auf  falscher  Ueber- 
setzung  der  Worte,  wie  man  aus  dem  ini  Text  Gesagten  er- 
sehen kanu. 


26 


(Fragen  über  römische  Gebräuche)  sicli  folgencler- 
maaseii  Ternehmen  lässt:  „Warum  beriefen  die  Römer, 
als  sie  erfahren  hatten,  dass  die  sogenannten  Bleto- 
nesier,  ein  barbarisches  Yolk,  einen  ]\Ienschen  den 
Göttern  geopfert,  die  Anführer  derselben  zu  sich,  um 
sie  zu  strafen,  entliessen  sie  aber,  da  diese  bewiesen, 
dass  sie  herkömmlicher  Weise  gehandelt,  mit  der  Wei- 
sung, es  in  Zukunft  nicht  mehr  zu  thun,  während 
sie  selbst  wenige  Jahre  zuvor  zwei  Männer  und  zwei 
Frauen,  theils  Griechen  theils  Gallier,  auf  dem  so- 
genannten Ochsenmarkte  lebendig  begraben  hatten?" 
Die  Antwort  möge  der  Leser  selbst  nachsehen.  Vor 
Allem  aber  forderte  der  bei  den  Heiden  und  auch  in 
Rom  herrschende  scheussliche  Aberglaube,  dass  man 
aus  den  Eiugeweiden  geopferter  Knaben  die  Zukunft 
weissagen  könne,  von  Zeit  zu  Zeit  Kinder opfer.  So 
lesen  wir  bei  Philostratus  im  Leben  des  Apollonius 
von  Tvana,  dem  Kaiser  Domitian  nachstellt,  folgende 
Worte:  ..Denn  er  behauptet  (Domitianj,  sie  seien 
überwiesen,  nach  seiner  Herrschaft  zu  trachten  und 
Du  habest  die  Männer  dazu  angereizt  und  desshalb 
gegen  einen  Knaben,  glaube  ich,  das  Messer  ge- 
braucht. Wie.  sagte  Apollonius,  um  durch  einen 
Eunuchen  die  Herrschaft  zu  stüi^zen?  Xicht  so, 
antwortete  Jener,  lautet  die  Beschuldigung,  son- 
dern sie  sagen.  Du  habest  einen  Knaben  geojDfert, 
um    aus  seinen  jugendlichen    Eingeweiden    zu   weis- 


27 

sagen"!).  Aber  aucli  ein  Kaiser  verschmähte  es  nicht, 
in  dieser  Weise  über  die  Znkunft  sich  Raths  zu  er- 
holen. Didius  Julianns,  der  nach  Ermordung  des 
Pertinax  die  Kaiserkrone  sich  erkauft  hatte,  suchte 
den  Willen  der  Götter  aus  den  EingeAveiden  geopferter 
Kinder  zu  erschliessen -).  Die  „Weisheit  Salomonis" 
deren  Autor  schon  die  Tage  des  Caligula  gesehen  3), 
schildert  daher  nicht  untreu  die  aus  der  falschen 
Gotteserkenntniss ,  nämlich  dem  heidnischen  Götzen- 
dienste, sichergebenden  praktischen  Gräuel,  wenn  er  vor- 
bringt, dass  die  Heiden  „kindesmörderische Weihen 
oder  verstohlene  Mysterien  oder  wilde  Gelage  mit 
absonderlichen  Bräuchen"  begehen -i).  Wenn  man  auf 
Grund  dieser  kurzen  Uebersicht  sich  die  Welt  ver- 
gegenwärtigt, welche  die  Christen  verlästert,  so 
wird  man  es  aufgeben,    nach   weiteren  Ursachen   der 


1)  Philostratus,  „Vita  Apollonii"  7.  11. 

2)  Dio  Cassiiis  73,  16. 

3)  Diese  von  Graetz  (Gesch.  3.  Bd.,  2.  Aufl.,  S.  i;95)  ge- 
gebene Zeitbestimmung  ist  in  der  Tliat  aus  dem  Buche  selbst 
herauszulesen.  Gewicht  hat  nur  das  Bedenken  Zeller  s  wegen 
der  ausgiebigen  Benutzung  unseres  Buches  in  den  Briefen  Pauli 
(Zeller,  „Die  Philosophie  der  Griechen'-,  S.  274);  aber  ich  glaube, 
dass  die  Ansicht  über  die  letzte  Eedaction  der  Briefe  keine 
so  fest  begründete  ist,  dass  von  ihr  aus  operirt  werden  kann. 
Davon  soll  im  Verlaufe  dieser  Arbeit  noch  die  Rede  sein. 

^)  „B.  d,  ^"eisheit",  14,  23:  r^  -[äo  Tsv.vo'fovoys  xs^exag  r^ 
v.p'jff'.a     jJLU3XYjpia  '7]  s/j-iiavel;  s^  o.)J,üiv  '9'sa,u.ojv  y.ojiJtoug  aYO'/cs?. 


28 


Verlästerung  zu  suchen.  Wie  nahe  lag  der  hellenistisch- 
heidnischen  TTelt.  missverstandene  Worte  und  Riten 
der  verhassten  neuen  Eeligion,  die  wegen  der  staat- 
lichen Illegalität  ihre  heiligen  Handlungen  im  A'erbor- 
genen  üben  musste,  in  einem  Sinne  zu  deuten,  der 
für  Heiden  gar  nicht  so  Grauenhaftes  hat.  und  wie 
nahe  wiederum  lag  der  römischen  Gesellschaft,  die 
freilich  nüchterner  war  als  die  Yölker,  von  denen 
die  Anklagen  ausgingen,  solches  von  einer  Religion, 
deren  wahren  Geist  sie  nicht  kannte,  zu  glauben! 

Interessant  nocJi  für  unsere  Tage  ist  die  Art,  wie 
bisweilen  die  A'ertheidigung  geführt  wird.  Man  glaubt 
gesetzestreue  Juden  zu  hören. 

Tertullian,  nachdem  er  die  grauenhaften  heidni- 
schen Bräuche  geschildert,  bei  denen  Menschenblut  bald 
zur  Besiegelung  von  Bündnissen,  bald  zur  vermeint- 
lichen Heilung  von  Krankheiten,  bald  zum  scheussüchen 
Mahle  gebraucht  wird ,  fährt  fort  -i) :  „Eure  (der  Heiden) 
Yerirruug  möge  erröthen  vor  uns  Christen,  die  wir  nicht 


ij  Tertullian.  Ajjol.  IX.:  „Erubescat  error  fester  Christia- 
nis, qiii  ne  animaUum  (j^iiidem  sanguinem  in  epitlis  esciilentis 
liabemus;  qiii  propterea  quocßie  suff'ocatis  et  moi-ticinis  ahstine- 
inus,  ne  quo  sanguine  contaminemur  vel  intra  ciscera  sepulto. 
Denique  inter  tentamenta  Christianorum  hotulos  etiam  cruore 
distentos  admovetis,  certissimi  scilieet  illicitiim  esse  penes  illos, 
per  quod  exorhitare  eos  vultis.  Forro  quule  est,  ut  quos  san- 
guinem pecoris  horrere  confiditis,  humano  inhiare  credatis,  nisi 
forte  suavioreiH  eum  expeHi^ 


29 

einmal  Thierblut  zu  den  essbaren  Gerichten  zählen, 
die  Avir  desshalb  auch  des  Erstickten  und  des  Crepirten 
uns  enthalten,  damit  wir  nur  auf  keine  "Weise  mit 
Blut  befleckt  würden,  auch  mit  dem  in  den  Ein- 
geweiden sich  bergenden.  Wendet  Ihr  ja  sogar  unter 
den  Mitteln,  die  Christen  als  solche  zu  erkennen,  mit 
Blut  gefüllte  Würste  an,  überzeugt  wie  Ihr  seid,  dass 
gerade  das  bei  ihnen  verboten  ist,  worin  Ihr  Aus- 
schreitungen bei  ihnen  behauptet.  Wie  ist  aber  dieses 
euer  Verfahren  zu  bezeichnen,  wenn  ihr  von 'Den- 
jenigen glaubt,  dass  sie  nach  Menschenblut  lechzen, 
von  deren  Abscheu  vor  Thierblut  Ihr  überzeugt  seid, 
Ihr  müsstet  denn,  die  Ihr  darin  erfahren  seid,  jenes 
für  wohlschmeckender  als  dieses  halten." 

Sehr  richtig !  Aber  wann  will  der  Eeind  das  Eich- 
tige  sehen,  und  wie  wenig  hat  ein  so  durchschlagendes 
Argument  später  sich  bewährt,  als  man  gegen  die 
Juden,  von  denen  ja  die  Blutscheu,  auf  die  Tertullian 
sich  beruft,  herstammt,  dieselben  Beschuldigungen 
vorbrachte !  Ja,  derselbe  Tertullian,  der  hier  mit  Kecht 
seiner  sittlichen  Entrüstung  einen  so  beredten  Aus- 
druck giebt,  trägt,  wenn  auch  unabsichtlich,  eine  Mit- 
schuld an  den  späteren  frevelhaften  Beschuldigungen 
gegen  die  Juden.  Es  kann  nämlich  keine  Frage  sein, 
dass  seine  und  Anderer  in  der  Hitze  des  Kampfes 
hingeworfenen  Aeusserungen,  ,,die  Juden  sind  die 
Urheber    der    uns    belastenden    Infamie",    von    deren 


30 


Unbegründetheit  sie  sicherlich  selbst  überzeugt  Avaren, 
die  Kachegefühle  des  Mittelalters  gegen  die  Juden 
nach  dieser  Seite  hin  zur  Entladung  gebracht  haben. 
Wenn  ich  sage,  dass  es  Tertullian  und  seinen  Yor- 
gängern  nicht  Sache  der  Ueberzeugung  gewesen,  in 
den  Juden  die  ITiheber  der  falschen  Beschuldigungen 
zu  nennen ,  so  geht  das  unzweideutig  aus  dem  Um- 
stände hervor,  dass  sie  bei  passender  Gelegenheit 
andere  Urheber  anzugeben  wussten.  Ueberzeugt  von 
dem  Abscheu,  den  ein  Mann  wie  Marc  Aurel  vor 
Kaisern  wie  Xero  und  Domitian  empfindet,  schreibt 
3Ielito  in  seinem  Briefe  an  jenen i):  .Ton  allen  Kaisern 
waren  es  allein  Xero  und  Domitian,  die,  von  einigen 
übelwollenden  Leuten  verleitet,  unsere  Religion  in 
schlechten  Ruf  zu  bringen  bestrebt  waren.  Von  ihnen 
ist  denn  auch  die  falsche  Anklage  gegen  uns  auf  die 
Fachwelt  gekommen,  und,  wie  die  Gewohnheit  des 
Volkes  es  mit  sich  bringt,  ist  dann  den  lügenhaften 
Ausstreuungen  ohne  vernünftige  Ueberlegung  Glau- 
ben geschenkt    worden." 


1)  Eusebius,  h.  e.  IV,,  c.  XXVII.:  „Mdvo:  -a'/wtov  ocva-e:- 
Q^bnzc.  :j7i6  T'.viuv  ßa-y.dvtuv  avO-poj-tuv,  xöv  v.xO-'  •^jjxä':  Iv  o'.aßoX'^ 
'/,rj.\rxoi~ff,OL'.  /vOYov  TjO-s/^Tj-av  Nspcov  v.al  Ao|JL£xiav6g  äcp'  wv  v.al  "rö 
TTjg  Goxo'favTtag  üMÖ'[w  z^yn^^-ziri  r,zo\  touc  xo'.o'jiouc,  p'jvjva:  oujjl- 
ßsßYjv.s  'küoos."  Um  das  später  im  Text  Gesagte  noch  mehr  zu 
würdigen,  verfolge  man  die  Worte  des  Melito  weiter,  wo  den 
Kaisern  aus  Schonung  nicht  ccvo-.av,  sondern  aYvoiav  zugeschrie- 
ben wird. 


31 

Der  Unbefangene  ersieht  aus  dieser  Stelle,  wie 
Avenig  Melito  in  einem  so  bedeutsamen  Briefe  es  sich 
einfallen  lässt,  die  Juden  der  Urheberschaft  rücksichtlich 
der  diffamirenden  Gerüchte  zu  bezichtigen.  In  der  zu 
Kempten  unter  der  Oberleitung  von  Thalhofer  erscheinen« 
den  Bibliothek  der  Kirchenväter  in  deutscher  Sprache ') 
ist  durch  eine  leise  Nuance  die  Bedeutung  der  Stelle 
abgeschwächt,  und  die  falschen  Anklagen,  von  denen 
im  Texte  die  Kede  ist,  noch  dazu  durch  die  seltsame 
Anmerkung  verdunkelt:  „Wahrscheinlich,  dass  die 
Unglücksfälle,  welche  das  Reich  treffen,  eine  Strafe 
der  Götter  seien,  weil  man  deren  Feinde,  die  Christen, 
dulde".  Als  ob  überhaupt  ein  Zweifel  darüber  wäre, 
von  Avelcher  Sykophantie  die  Rede  sei,  und  dass  es 
sich  um  die  bekannten  JJagiüa"  handelt.  Dass  Melito, 
dem  eine  gewisse  diplomatische  Feinheit  in  seinen 
Wendungen  nicht  fehlt,  an  der  Stelle,  wo  er  Xero  und 
Domitian  beschuldigt,  vorsichtig  hinzufügt  „von  einigen 
übelwollenden  Leuten  überredet"  —  „einigen"  lässt 
der  Uebersetzer  weg  —  ist  durchaus  sachgemäss.  Sie 
waren  doch  immer  Kaiser,  und  jeder  Imperator  sah 
sich  als  Successor  derselben  an,  der  eine  Beschuldigung 
seiner  Vorfahren  ohne  abschwächende  Bemerkung  im 
Munde  eines  Unterthanen  als  Mangel  an  Ehrerbie- 
tung gegen  die  kaiserliche  Würde  empfunden  hätte. 


ij  Euselius.  ..Kirchengcsch.'-.  übers,  von  Dr.  Stiglober,  S.  253.. 


32 


Was  aber  meine  andere  Behauptung  betrifft,  dass 
erst  das  späte  Mittelalter  durch  diese  nicht  einmal 
ernst  gemeinten  Aeusserungen  sich  stacheln  Hess,  den 
Juden  das  heimzuzahlen,  was  man  von  ihnen  an- 
gestiftet wähnte,  so  ist  das  streng  erweislich.  Schon 
Wagenseil  macht  um  1693  die  Bemerkung,  dass  die 
alte  Kirche  es  sich  niemals  hat  einfallen  lassen,  auch 
in  den  Zeiten,  wo  ihre  Feindschaft  gegen  die  Juden 
in  vollster  Blüthe  stand,  diese  eines  solchen  dem 
Juden thum  so  widerstrebenden  heidnischen  Gräuels  zu 
beschuldigen  1).  Man  kannte  doch  am  Ende  die  starken 
"Worte,  in  denen  der  Pentateuch  diese  schwerste  theo- 
kratische  Sünde,  den  ]\[olochsdienst,  mit  der  schwersten 
Strafe,  der  SteiniguDg,  verpönt.  Man  hätte  es  noch  als 
Selbstironisirung  empfunden,  gerade  die  Eeligions- 
gemeinschaft,  die  mindestens  seit  der  Rückkehr  aus 
dem  babylonischen  Exil  nicht  blos  allein  unter  den 
Völkern  dastand  in  Verehrung  des  einzigen  bildlosen 
Gottes,  sondern  auch  allein  in  ihrer  Scheu,  den  Altar 


1)  Ich  citü'e  hier  aus  einer  Sclirift  von  Wagenseil,  die  selten 
ist.  Es  ist  eine  disseHatio  einstoUca  ad  Johannem  Feclitium. 
Sie  enthält  neben  anderem  nicht  Hicrhergehörigen  auch  eine 
„lyraeparaiio  judicü  sanguinis,  in  quo  pcdam,  levato  relo  dis- 
ceptahünr  (ardua,  pol!  et  momentosa  causa),  num  Judaei  cum 
Christianornm  sanguine  faciant  musteria/'  Gedruckt  ist  sie  zu 
Altdorf  1693.  S.  111  heisst  es:  Sic  ergo  Judacis,  ante  secula 
liaud  adeo  multa,  qnod  ah  antiquiorilnis  Christianis 
neutiquam  factum,  rursus  humanae  caedes  fuere  ohjectae. 


33 


mit  Menschenbliit  zu  beflecken,  einer  ihrem  innersten 
Wesen  so  widerstrebenden  Sünde  zu  beschuldigen. 
Trotz  aller  Feindschaft  ging  die  Solidarität  mit  dem 
Judenthum  noch  so  weit,  um  nicht  gleichsam  ihre  reli- 
giöse Verfassungsurkunde,  den  Pentateuch,  den  man  ja 
selbst  respectirte,  zu  verunglimpfen.  Man  fand  bei  den 
Juden  einen  „Eifer  um  das  Gesetz",  den  man  nicht  als 
den  rechten  ansah,  aber  eine  freche  Umkehrung  des  Gre- 
setzes  in  sein  Gegentheil  schrieb  man  ihnen  nicht  zu. 
Wo  die  Kirche  nach  dieser  Kichtung  hin,  nach 
Seiten  der  Yerübung  heidnischer  Gräuel,  beschuldigte, 
da  waren  es  immer  Ketzer,  die  sich  den  Christen- 
namen beilegten,  wie  bald  Karpokratianer,  bald  Mon- 
tanisten, bald  Quintillianer,  Priscillianer,  Pepuzianer, 
denen  sie  so  etwas  nachsagte.  Die  Juden  dagegen 
berührte  man  in  dieser  Beziehung  Jahrhunderte  lang 
mit  keinem  Hauch.  Wahrscheinlich  ist  auch  dieses 
Schweigen  der  alten  Kirche,  das  ja  einem  Yollen  Zeug- 
niss  für  die  Juden  gleichkommt,  der  Grund  gewesen, 
warum  die  Päpste  die  Blutbeschuldigung  gegen  die 
Juden    wiederholentlich    verboten    habend).     Erst    im 


1)  Eusebius,  li.  e.  IV.  12,  beschuldigt  ausdrücklich  die 
Karpokratianer,  dass  sie  viele  Gläubige  verführt,  die  Ungläubigen 
aber  durch  ihr  schandbares  Betragen  zu  einer  schlechten  Meinung 
über  die  Christen  veranlasst  hätten.  Sie  seien  es  gewesen, 
durch  -welche  bei  den  damaligen  Heiden  die  gottlose  und  ab- 
geschmackte   Meinung    sich    verbreitet    hätte,    als    hätten    die 


34 


späteren  Mttelalter  kam  man  auf  folgendes  System 
von  Judenverfolgung.  Man  schlug  die  alten  christ- 
lichen Schriften  nach,  und  wenn  sich  in  denselben 
irgend  ein  feindseliger  Act  eines  oder  vieler  Juden 
gegen  etwas  das  Christenthum  Betreffende  berichtet 
fand,  so  Hess  man,  ohne  auch  nur  Kritik  zu  üben, 
ob  die  Xachricht  einen  Grund  habe,  ganz  programm- 
mässig  die  späteren  Juden  dasselbe  leiden.  So  hat 
z.  B.  der  gelbe  den  Juden  an's  Kleid  geheftete  Ring 
als  Veranlassung  eine  K"achricht  aus  Mcephorus  Cal- 
listus'  Kirchengeschichte,  dass  die  Juden  in  den  Tagen 
des  Cyrill  in  Alexandrien  ein  solches  Abzeichen  ver- 
abredet hätten,  um  die  Christen  anzugreifen.  So  Hess 
man  sie  jeden  N'ebenumstaud,  der  bei  der  Passion 
Jesu,  sei  es  nach  einem  canonischen,  sei  es  nach 
einem  apokryphen  Evangelium  erzählt  wurde,  an  ihrer 
Person  abbüssen.  Dass  z.  B.  um  den  Rock  Jesu  von 
den  Soldaten  geloost  worden  sein  soll,    erzeugte  eine 


Christen  unerlaubten  (ödipodischen)  Umgang  und  genössen  ver- 
abscheuungs würdige  (thyesteische)  Speisen.  Auch  diese  Eusebia- 
nische  Stelle  beweist  zur  Genüge  die  Nichtbetheiligung  der 
Juden  an  der  Anscbwärzung.  Epiphanias  schwankt,  welchen 
Ketzern  er  die  Gräuel  zuschreiben  solle,  auf  diö  Juden  ist  er 
natürlich  noch  nicht  verfallen.  Die  Verbote  der  Päpste  sind  bekannt. 
Auf  diese  Verbote  der  Päpste,  den  Juden  dergleichen  Schuld 
zu  geben,  beruft  sich  sowohl  Kaiser  Friedrich  um  1470,  als 
auch  Kaiser  Ferdinand  III.  1638.  Die  Edicte  beider  Kaiser  zum 
Schutze  der  Juden  sind  bei  Wagenseil  /.  7.  S.  101  und  S.  103 
abgedruckt. 


35 


eigenartige  Quälerei  der  Juden,  nämlich  von  ihnen 
Spielwürfel  zu  erpressen.  Ja,  eine  besondere  Art 
spasshaften  Hängens  wurde  gleichfalls,  einer  sogenann- 
ten Quelle  zu  Liebe,  gegen  sie  ersonnen  i). 

Einem  solchen  Zeitalter  genügte  natürlich  die 
blosse  jN'otiz  in  der  älteren  Literatur,  dass  die  Heiden 
bei  ihren  Yerleumdungen  der  Christen  von  den  Juden 
aufgestachelt  waren,  um  es  sich  als  gutes  Werk  an- 
zurechnen, die  Blutbeschuldigung,  die  einst  den  Christen 
schwere  Tage  gemacht,  auf  die  Juden  zu  wälzen.  „Und 
es  fehlte,  wie  es  bei  grossen  Lügen  zu  geschehen 
pflegt,  nicht  an  Zeugen"  sagt  Wagenseil,  ein  aus 
christlicher  Frömmigkeit  das  Judenthum  bitter  be- 
kämpfender, aber  durch  und  durch  ehrlicher  und  ge- 


ij  Ueber  den  gelben  runden  Kleiderfetzen  sagt  Wagenseil 
l.  l  S.  113:  „Apiid  Germanos  pro  signo  et  olim  fuit  et  alicubi 
etiam  nuS^1693)  est  annulus  luteus  pallio  affixus,  de  cujus 
rei  instituto  foveo  qiioque  propriam  opinionem,  suggessisse  ni- 
mirum  hanc  notam  magistratui  Christano  aliquem,  qui  ex  Ni- 
cephori  Callisti  lib.  13  liist.  Ecclesiast.  c.  14  .  .  .  sciverat,  Ju- 
daeos  in  seditione  quam  regente  Alexandrinam  ecdesiam  S.  Gy- 
rillo  adversus  Christianos  ibi  concitarunt,  comnmni  consilio 
€oacto  de  signo  et  tessera  inter  se  convenisse,  ut  unusquisque 
videlicet  annulum  e  cortice  surculi  pälmae  gestaret  et  noctu 
Christianos  aggrederetur."  Ebendaselbst  sind  die  Notizen:  „de 
more  extorquendi  tesseras  lusorias  tres  a  Judaeis,  cui  rnilitum 
in  passione  Domini  circa  tunicam  ejus  inconsutilem  sortitio, 
nisi  quid  me  decipit,  occasionem  praebuit"  Ebenso  „de  more 
suspendendi  Judaeos  in  trahe  patihuli  producta  a  pedihus"  etc. 

3* 


36 


lehrter  Mann,  dessen  Talmudkenntniss  vielleicht  noch 
die  des  Buxtorf  übertrifft. 

Doch  kehren  wir  von  diesem  Gange  in  spätere 
Jahrhunderte  zurück  zu  der  Zeit,  die  wir  behandeln, 
zu  den.  Zeiten  des  Trajan  und  seiner  Xachfolger,  dem 
Hadrian  und  den  Antoninen.  Damals  in  der  ]N"oth,  in 
welcher  die  christliche  Welt  sich  befand,  von  der  Be- 
hörde geächtet,  von  der  Stimme  des  Yolkes  gebrand- 
markt, war  es  kein  schlechtes  Strategem,  den  römisch- 
griechischen Heidenzorn  auch  dadurch  zu  entwaffnen, 
dass  man  die  Juden,  zur  Zeit  Trajans  und  Hadrians 
offene  Kriegsfeinde  der  Römer,  für  Dinge  verantwort- 
lich machte,  von  denen  sie  nicht  einmal  Kunde 
hatten.  Dass  man  mit  dieser  "Wendung  eine  reiche 
Saat  von  Thränen  und  schlimmen  Thaten  für  die  Zu- 
kunft ausstreute,  konnte  man  noch  nicht  ahnen.  Zeigen 
wir  jetzt,  wie  consequent  auch  sonst  das  Verfahren 
beobachtet  wurde,  die  heidnischen  Obrigkeiten  dadurcJi 
versöhnlicher  zu  stimmen,  dass  man  die  Vorgänger  in 
einem  Lichte  der  Milde  erglänzen  liess,  das  kein 
eigenes,  sondern  ein  von  zielbewusster  Apologetik 
ihnen  verliehenes  war. 


111.  Das  officielle  Rom  in  der  christlichen  Lite- 
ratur des  zweiten  Jahrhunderts. 


Zu  den  Mitteln,  der  namentlich  unter  Marc  Aurel 
unerträglich  gewordenen  Lage  der  Christen  abzuhelfen, 
gehört  auch  ein  eigenthümliches,  das  Schmieden  von 
Kescripten  und  Briefen  verstorbener  Kaiser,  welche 
Duldung  der  Christen  und  Bestrafung  ihrer  Ankläger  ver- 
fügten i).  Das  bekannte,  nur  in  der  heidnischen  Quelle 
uns  aufbewahrte  echte  Schreiben  des  Trajan  an  PJinius, 
das  bei  aller  Kühe  im  Tone  dennoch  die  Christen 
fast  rechtlos  machte,  liess  sich  freilich  nicht  wegschaffen, 
wurde  aber  in  der  Kegel  so  citirt  und  gedeutet,  als 
sei  es  nicht    ein    Aechtuugs-,    sondern  ein  Toleranz- 


1)  Eine  der  belehrendsten  Arbeiten  in  dieser  Eichtung  ist 
die  Abhandlung  von  Franz  Oveibeck:  „lieber  die  Gesetze  der 
römischen  Kaiser  von  Trajan  bis  Marc  Aurel  gegen  die  Christen 
und  ihre  Behandlung  bei  den  Kirchenschriftstellern".  Abgedruckt 
in  seinen  Studien  zur  Geschichte  der  alten  Kirche,  Heft  I, 
Schloss-Chemnitz   lb75. 


B8 


Edict  1).  Dazu  fügte  man  ein  Kescript  Hadrian's  au  Fun- 
danus ,  Statthalter  in  Kleinasien ,  das  sich  nur  in 
der  griechischen  Uebersetzung  des  Eusebius  und 
in  der  Rückübersetzung  in's  Lateinische  durch  Rufin 
erhalten  hat  2).  Dieses  Edict  missversteht  den  Sinn 
der  römischen  Gesetze  gegen  die  Christen  in  einer 
Weise  und  passt  so  wenig  in  die  damalige  Lage  wie 
zu  der  feindseligen  Stimmung  des  Hadrian  gegen  das 
Christenthum^),  dass  die  berufensten  Kritiker  unserer 
Tage  es  als  unecht  und  zur  Zeit  des  Marc  Aurel 
geschmiedet  erkannt  haben.  Xoch  zahh^eicher  sind  die 
dem  Antoninus  Pius  untergeschobenen  Rescripte  und 
Briefe,  von  denen  die  Römische  Gesetzsammlung  nichts 
weiss  und  von  denen  ein  Theil  auch  von  orthodoxer 
Seite  als  gefälscht  preisgegeben  wird*).  Antoninus  war 


1)  Vgl.  Overbecli  7.  1.  S.  119  ff. 

2)  Aufgegeben  ist  heute  nicht  blos  die  noch  von  Gieseler 
und  Neander  vertretene  Meinung,  dass  die  aus  dem  Griechischen 
des  Eusebius  von  Rufin  gefertigte  Uebersetzung  das  lateinische 
Original  sei,  sondern  auch  das  Edict  selbst.  Keim,  Lipsius, 
Hausrath,  Overbeck,  Hahn,  Herzog  sind  einig  in  der  Verwerfung. 
Ebenso  der  Franzose  Aube.  Vgl.  Keim:  ,,Eom  und  das  Christen- 
thum",  S.  554,  Anmerkung  des  Herausgebers  (Ziegler). 

3)  Der  bekannte  Brief  des  Hadrian  bei  Flav.  Vopiscus  in 
vita  Saturnini  c.  8  zeigt  die  Gesinnung  des  Kaisers. 

^)  Das  Eescript  TwOÖ;  xb  y.o'.^/bv  tt,;  'Aziccc,  wird  auch  von 
Gieseler  und  Kurtz  (siehe  dessen  Kirchengeschichte  I.,  2.  Aufl., 
S.  140)  nicht  gehalten.  Was  über  die  übrigen  zu  denken  ist,  lehrt 
Keim  Z.  Z.  S.  567  ff. 


39 


freilich  ein  Kaiser,  der  den  Namen  Pins  mit  Recht 
verdient,  wohl  der  beste  Kaiser,  der  anf  dem  römi- 
schen Cäsarenthron  gesessen  hat,  aber  sein  Verfahren 
gegen  die  Christen  war  so  weit  entfernt,  zn  ihren 
Gunsten  von  der  Linie  abzuweichen,  welche  Trajan 
vorgezeichnet,  dass  vielmehr  überall  eine  Steigerung 
der  Leiden  derselben  wahrzunehmen  war.  Ja,  selbst 
dem  Kaiser  Marc  Aurel ,  dessen  Grundsatz :  „Auf  alten 
Männern  und  Sitten  beruht  Rom,'^  und  dessen 
Maxime,  „ernst  und  gross  zu  denken  als  Römer  und 
als  Mann"  der  neuen  Religion  die  schlimmsten  Tage 
bereitet  hat,  wurde  freundliche  Gesinnung  angedichtet. 
Es  ist  kaum  fraglich,  dass  Marc  Aurel  ein  Edict  für 
das  Reich  erlassen  hat,  welches  durch  die  Vortheile, 
die  es  dem  Denuncianten  eines  Christen  bot,  nämlich 
Eintritt  in  den  Besitz  des  als  Christen  Bezeichneten 
und  Erkannten,  die  Zahl  der  Verfolgungen  nothwendig 
erhöhen  musste.  Wenn  Melito  in  seiner  Apologie  an 
den  Kaiser  thut,  als  glaube  er  nicht  an  die  Aechtheit 
eines  Edicts,  das  selbst  für  Barbaren  zu  hart  wäre, 
so  ist,  wie  schon  Keim  richtig  gesehen,  das  nur  eine 
feine  Wendung  des  Apologeten,  die  nicht  missver- 
standen werden  kanni).    Dennoch  hat  man  sich  nicht 


1)  Melito's  Apologie  ist  uns  zam  Tlieile  A^on  Eusebius 
li.  e.  4.  26  aufbewahrt  worden  und  ist  durch  Geist  und  Gewandt- 
heit in  der  That  geeignet,  Eindruck  zu  machen.  Aber  gerade 
aus  ihm  ist  sowohl  der  Erlass  eines  feindseligen  Edicts  wie  ein 


40 


gescheut  —  Xoth  kennt  kein  Gebot  —  selbst  Marc 
Aurel  einen  Brief  an  den  römischen  Senat  zu  Gunsten 
der  Christen  anzudichten.  Der  in  dem  Brief  erzählte 
Hergang  ist  eine  directe  Umkehrung  des  Sachverhalts, 
den  wir  anderweitig  kennen.  Die  Ueberzeugung  Marc 
Aurel's,  dass  sein  Gebet  an  Jupiter  ihm  gegen  die 
Quaden,  denen  es  gelungen  war,  die  Römer  einzu- 
schliessen,  zum  Siege  verholfen  habe,  wird  in  dem 
Briefe  gleichsam  christianisirt,  als  habe  der  Kaiser 
nach  Rom  berichtet,  er  verdanke  dem  Gebete  der 
Christen  den  Sieg  i).  Die  strengen  Maassregeln,  die  der 
Kaiser  drei  Jahre  nach  dem  Quadenkriege  (177)  gegen 
die  Christen  traf  und  die  bis  zur  Entziehung  der 
Bürgerrechte  und  bis  zur  Yerhängung  von  Folter  und 
Scheiterhaufen  gingen,  dementiren  zur  Genüge  den 
freundlichen  Inhalt  des  Briefes.  Auf  alle  diese  vor- 
geblichen Schutzedicte    wirft  übrigens,  wie  Overbeck 


Theil  des  gefährhchen  Inhalts  desselben  klar  zu  ersehen.  Dass 
der  Zweifel,  ob  das  Vorgehen  gegen  die  Christen  wirklich  auf 
kaiserliche  Verordnung  geschieht,  nur  eine  geschickte  Eedewen- 
dung  des  Melito  ist,  zeigt  Keim  l.  l.  S,  605. 

1)  Es  ist  durch  Münzen  erwiesen,  ..dass  die  heidnische  Auf- 
fassung jenes  Vorfalles  im  Quadenkriege  die  officielle  gewesen, 
mithin  an  den  Erlass  eines  Briefes  wie  des  angeführten  durch 
Mai'c  Aurel  nicht  zu  denken  ist"'  (Overbeck  Z.  I.  S.  125).  Keim 
7.  ?.  625.  Gieseler,  ,.KircheDgeschichte"  L,  2.  Aufl.,  S.  134.  Die 
heidnische  Auffassung:  Dio  Cassius  71,  8;  die  christliche:  Ter- 
tullian,  A2wl.  5,  Eusebius  h.  e.  5,  5. 


41 


gezeigt,  noch  ein  eigenthüniliclies  Licht  die  Xachricht, 
welche  sich  zufällig  erhalten  hat,  von  einer  Sammlung 
der  kaiserlichen  Edicte  gegen  die  Christen,  welche 
der  römische  Eechtsl ehrer  Ulpian  unter  Caracalla 
(211—217)  dem  siebenten  Buche  seines  Werkes  ,,Be 
officio  proconsulis"  einverleibt  hatte.  Diese  gegen  die 
Christen  feindseligen  Edicte  haben  sich  nicht  erhalten, 
aber  die  Notiz  reicht  doch  aus,  um  den  Verdacht 
gegen  die  Schutzedicte,  aus  denen  mehr  christliche  Milde 
als  römische  Härte  sich  ergiebt,  noch  zu  verstärken  i). 
Dasselbe  Verfahren,  das  wir  hier  beobachten,  wird 
auch  in  der  Reconstruction  der  Geschichte  des  ersten 
Jahrhunderts  consequent  eingeschlagen.  TertuUian  er- 
zählt bekanntlich,  dass  Tiberius,  zu  dessen  Zeit,  wie 
er  sagt,  der  Christenname  in  die  Welt  eintrat,  nach 
Erwägung  des  über  die  Vorgänge  im  palästinischen 
Syrien  an  ihn  ergangenen  Berichtes,  einen  Antrag  an 
den  Senat  zu  Gunsten  der  christlichen  Sache  (nämlich 
Christus  unter  die  römischen  Götter  aufzunehmen)  ge- 
stellt, die  Genehmigung  desselben  aber  nicht  erlangt 
habe.  Er  fügt  sogar  hinzu:  „Der  Kaiser  blieb  bei 
seiner  Meinung  und  drohte  den  Anklägern  der  Christen 


1)  Overbeck,  l.  l.  S.  108,  Lact,  inst  V.,  11  extr.:  Domitius 
de  officio  proconsulis  lihro  septimo  rescripta  lyrincipum  nefaria 
coUegit  ut  doceret,  quibns  poenis  affici  oporteret  eos,  qui  se 
cultores  dei  confiterentur. 


42 


mit  Gefahren-' i).  lieber  die  Sagenhaftigkeit  dieser  Xacli- 
rieht,  welche  uns  glauben  machen  will,  dass  Tiberius 
und  Pilatus  nicht  die  Henker,  sondern  die  Anhänger 
Jesu  gewesen  seien,  braucht  nichts  weiter  gesagt  zu 
werden,  ob  die  ISachricht  nun  aus  den  allgemein 
als  gefälscht  anerkannten  Pilatusacten,  falls  dieselben 
damals  schon  vorhanden  gewesen,  oder  anderswoher 
stammt.  Eine  ähnliche  Tendenz,  die  Ungunst  der 
Kaiser  nicht  zu  betonen,  liegt  der  Yerschweigung  des 
Eusebius  zu  Grunde,  dass  die  feindliche  Yerfügiing 
des  Claudius,  von  der  uns  Sueton  berichtet,  nicht 
sowolü  gegen  die  Juden,  als  vielmehr  gegen  die  christ- 
liche Bewegung  unter  den  Juden  sich  richtete.  Ich 
kann  nicht  finden,  dass  Keim's  Erklärung  der  be- 
kannten und  viel  ventilirten  Worte  des  Sueton-),  ,, Clau- 
dius habe  die  unter  Anstiftung  Chresti  beharrlich 
tumultuirenden  Juden  aus  Kom  vertriebenes),  irgendwie 
zutreffend  ist.  Er  spricht  von  leidenschaftlichen  fort- 
gesetzten Keibungen  zwischen  Christen  und  Juden  in 
Kom,  ohne  eine  andere  Quelle  als  seine  Voraussetzung 
dafür  zu  haben,  und  erklärt  die  Polizeimaassregel  des 
Claudius  mit  folgenden  Worten:  „]N'ur  entdeckte  er 
rein  jüdische  Streitigkeiten,  und  so  trieb  er  die  Juden 


1)  TertulUan,  Apol.  5. 

2)  Sueton,  Claudius  25. 

3)  Keim  ?.  7.  S.  173. 


43 


aus  oder  suchte  vielmehr  nur  sie  auszutreiben  und 
verbot  ihre  Zusammenkünfte.  Durch  den  Judentitel 
bis  dahin  geschützt,  mussten  die  Christen  diesmal 
unter  dem  Juden titel  mittragen  und  mitleiden,  so 
zwar,  dass  der  heidenchristliche  Theil  der  Gemeinde 
natürlich  frei  ausging.  Für  das  Christenthum  war  es 
im  Ganzen  kein  schwerer  Schlag,  weshalb  auch  die 
Väter,  z.  B.  Eusebius,  nur  von  einer  Verbannung  der 
Juden  wissen"  i).  Für  einen  Mann  wie  Keim,  der  sonst 
eine  so  übertrieben  ungünstige  Meinung  von  Eusebius 
hat,  ist  diese  Fructificirung  einer  Verschweigung  des 
Eusebius,  deren  Grund  so  durchsichtig  ist,  geradezu 
erstaunlich.  Die  richtige  Erklärung  der  Sueton'schen 
Stelle  ist  längst  gefunden.  Ich  gebe  sie  mit  den  Worten 
von  Keuss:  „Die  Judaei  impulsore  Chresto  assidue  tu- 
muUuantes  (Sueton,  Claudius  25)  sind  nicht  Juden- 
christen, welche  mit  anderen  Juden  Streit  gehabt,  und 
ihre  Vertreibung  aus  Kom  ist  somit  nicht  eine  Con- 
cession  an  letztere;  wenn  dieselbe  nicht  alle  (Act.  18,  2), 
sondern  nur  solche  traf,  bei  denen  ein  Chrestus  im- 
ptdsor  im  Spiele  war,  so  heisst  dies  zu  Deutsch,  dass 
die  römische  Polizei  von  messianischer  Predigt  anfing 
Notiz  zu  nehmen;  das  tumidtuari  ist  Bureaustil,  der 
Chrestus  ein  Missverständniss  der  annoch  ganz  in- 
difi'erenten   gebildeten   Societät,    also   des    Geschichts- 


1)  Keim,  l.  l.  S.  601,  vgl.  auch  S.  572. 


44 


Schreibers" -^).  Die  Art,  wie  Eusebius'-)  und  vor  ihm 
schon  die  Apostelgeschichte 3)  die  Sache  mittheilen,  ist 
nur  ein  Beweis  mehr,  dass  man  im  zweiten  und  den 
darauffolgenden  Jahrhunderten  ohne  Noth  keine  Feind- 
seligkeit der  älteren  Kaiser  gegen  das  entstehende 
Christenthum  zugeben  wollte,  und  dass  man  die  Sache 
lieber  so  wendete,  dass  sie  allein  gegen  das  Judenthum 
gemünzt  war. 

Freilich,  das  Verhalten  Xero's  war  weder  zu  ver- 
schweigen, noch  auch  zu  beschönigen  möglich.  Ihm 
hat  sowohl  die  Apocalypse  als  auch  Tacitus  ein  Denk- 
mal der  Schande  gesetzt.  Aber  darum  sind  die  Mil- 
derungsversuche, auf  die  wir  auch  hier  stossen,  um 
so  charakteristischer.  Melito  entlastet  den  ^ero,  indem 
er  ihn,  blos  durch  Yerläumder  verhetzt,  gegen  die 
Christen  wüthen  lässt^).  Eusebius  erinnert  an  die 
anfängliche  Milde  des  Nero,  der  es  entsprochen 
habe,  die  Yertheidigung  des  Paulus  gütig  auf- 
zunehmen. Erst  später,  als  er  auf  der  Bahn  des 
Frevels  fortgeschritten,  seien  mit  den  Uebrigen 
auch    die    Apostel     Opfer     seiner     G-rausamkeit    ge- 


ij  Eeuss :  ,:Die  Geschichte  der  heiligen  Schriften  neuen  Te- 
staments", vierte  Auflage,  S.  92. 

2)  Eusebius,  h.  e.  II.,  18. 

3)  Act.  18,  2. 

^)  Vgl.    die  oben  angeführte  Apologie   des  Melito    bei  Eu- 
sebius IV.,  26. 


45 


worden  f).  Spätere  gehen  sogar  so  weit,  Nero  als 
Christenfreiincl  hinzustellen,  der  zur  Eache  für  Christus 
den  Pilatus  hingerichtet,  diese  That  selbst  aber  mit 
dem  Tode  gebüsst  hätte,  da  die  Juden  die  Hinrichtung 
des  Pilatus  nicht  ungerächt  gelassen-).  Ich  meine, 
dass  so  werthlos  auch  sonst  solche  Geschichtchen  sind, 
sie  doch  gerade  ganz  besonders  sich  eignen,  über  den 
"Werth  gewisser  Anschuldigungen  uns  zu  belehren. 
Weniger  auffallend  sind  die  freundlichen  Sagen  über 
Yespasian,  da  wir  von  diesem  Kaiser  wenigstens  keinen 
feindlichen  Act  gegen  Christen  wissen.  Umgekehrt 
ist  sicherlich  unwahr,  was  Sulpicius  Severus  berichtet, 
als  habe  Titus  mit  dem  Judenthum  zugleich  das 
Christenthum  treffen  wollen  3),  da  eine  solche  Absicht 
der  damaligen  Stellung  des  Christenthums  noch  nicht 
entsprach.  Ist  es  doch  noch  nicht  einmal  ausgemacht, 
dass    die   sogenannte    Domitianische  Verfolgung   eine 


1)  Eusebins,  h.  e.  IL,  22,  Schluss. 

2)  Jq]i^  j^fif:^  Iyi  Excerpta  Vdlesii,  p.  808.  Chron.  Pasch. 
L,  459. 

3)  Sulincius  Severus,  Chron.  IT.,  30,  6:  Quippe  has  reli- 
giones,  licet  contrarias  sibi,  iisdem  tarnen  auctoribus  profectas; 
Christianos  ex  Judaeis  exstitisse,  radice  suhlata  stirpem  facile 
perituram.  Wenn  wir  diese  "Worte  als  für  Titus'  Zeit  anachro- 
nistisch bezeichnen,  so  folgt  daraus  noch  nicht,  dass  nicht  Ta- 
citus  Aehnliches  dem  Kriegsrath  in  den  Mund  gelegt  haben 
könnte,  Avie  Bernays,  „Sulpicius  Severus"  S.  57,  will.  Tacitus 
ist  schon  oiientirt  genug. 


46 


christliche  gewesen.  Der  Wortlaut  der  heidnischen 
Quelle  spricht  für  eine  Terfolgiing  jüdischer  Pro- 
paganda in  der  heidnischen  Welt,  in  welche  selbst- 
verständlich die  christliche  mit  einbegriffen  war^). 
Indess.  auch  diesen  Kaiser  entlastet  Tertullian  mit  den 
Worten:  ,,Auch  Domitian,  an  Grausamkeit  ein  halber 
^ero,  griff  es  an;  aber  weil  er  doch  wenigstens  noch 
ein  Mensch  war,  so  unterdrückte  er  leicht  das  Beginnen, 
indem  er  sogar  die  zurückberief,  die  er  verbannt 
hatte"  -). 

Ich  glaube  nicht,  dass  es  einen  moralischen  Ei- 
goristen  giebt,  der  die  bedrängte  Kirche  dafür  wird 
tadeln  wollen,  dass  sie  in  einem  so  ungleichen  Kampfe 
gegen  heidnische  Uebermacht  sich  dadurch  Erleich- 
terung zu  verschaffen  suchte,    dass  sie  eine  Tradition 


1)  Dio  Cassius  67,  14:  h-t^i'/ß-r,  os  öi/j-'^olv  (nämlicli  dem 
ClemeDS  und  seiner  Frau  Donütilla)  £YxXrj|j.a  äd-tö-Ytioc,  b's"  Tjg 
v.ai  riWoi  zc,  ICC  tcöv  'loooatcov  sO-r^  l^oyiXXovxe«;  7zo)^Xol  xaTEOLv.djiWj- 
cav.  Ygl.  Graetz.  „GescMchte",  lY.,  2.  Aufl.,  S.  118  fP.  und 
dazu  daselbst  Note  12:  ..Der  Consul-Proselyt  Flavius  Clemens'*. 
Man  hat  aus  dem  Umstände,  dass  Yespasian  und  Titus  nach 
Besiegung  der  Juden  nicht  das  Y^ort  Juda'icus  in  ihre  Titel 
aufnahmen,  auf  Yerachtung  schliessen  wollen.  Aber  man  vergisst, 
dass  dieses  YTort.  da  Hinneigung  zu  jüdischen  Sitten  in  Eom 
als  eine  Gefahr  für  die  Staatsrehgion  gefüi'chtet  wurde,  einen 
bedenklichen  Sinn  involviren  konnte,  den  man  möglichst  vermied. 

2)  Tertullian,  Apol.  5:  Tentaverat  et  Domitianus,  portio 
Neronis  de  crudelitate,  sed  quia  et  homo  facile  coeptiim  re- 
pressit,  restitiitis  etiam  quos  relegaverat. 


47 


behördlicher  römischer  Milde  zu  schaffen  suchte,  die 
dem  thatsächlichen  Verhalten  nicht  entsprach.  Aber 
da  man  die  Römer  nicht  eigentlich  entlasten  konnte, 
ohne  einen  Sündenbock  zu  finden,  auf  dessen  Haupt 
man  die  Schuld  abladen  konnte,  so  traf  diese  Ent- 
lastung mit  noch  heute  drückender  Wucht  das  Haupt 
der  Juden. 


IV.  Worin  eigentlich  die  geschichtliche  Sünde 
der  Juden  bestand. 


Mit  einer  Modificatioii  einer  früheren  Behauptung 
muss  ich  hier  beginnen.  Wenn  ich  im  Früheren  i)  ge- 
meint habe,  dass  das  von  den  Synhech-isten  in  Pa- 
lästina um  116  erlassene  Verbot,  die  Jugend  im  Grrie- 
chischen  zu  unterrichten,  nicht  mehr  durchgreifen 
konnte,  so  stützte  ich  mich  dabei  auf  den  Umstand, 
dass  man  trotz  des  Verbotes  es  noch  für  nöthig  erachtet 
hatte,  dem  namentlich  durch  Zusätze  veränderten  Septua- 
gintaltext  die  Uebersetzung  des  Aquila  officiell  ent- 
gegenzustellen'-). So  weit  war  die  Bemerkung  richtig. 


1)  ., Blicke  in  die  Eeligionsgeschichte'-,  L,  S.  12. 

2)  Herr  Professor  Strack  spricht  in  der  Eecension  meiner 
Schrift:  „Theologische  Literaturzeitung'",  1881,  Nr.  8  seine  Ver- 
-^vundeiTing  darüber  aus,  dass  ich  die  positive  und  negative  Ver- 
anstaltung (das  Verbot  des  Griechischen  und  die  Anordnung  der 
Aquila' sehen  Uebersetzung)  denselben  Männern  zuschreibe.  Allein 
die  Sache  ist  so  gut  wie  ausdrücklich  bezeugt.  Um  116  konnte 
kein  Verbot  des  Griechischen    vom  Synediium    ausgehen,  ohne 


49 


Aber  die  Verstimmung  gegen  alles  Griechische,  für 
welche  das  Verbot  ja  nur  ein  Symptom  ist,  hat  denn 
doch  die  nachhaltigsten  Folgen. 

Von  der  Stunde  ab,  wo  das  Judenthum  imChristen- 
thum  nicht  mehr  eine  innerjüdische  Hoffnung,  sondern 
einen  Gegensatz  sah,  der  namentlich  in  der  Frage  Er- 
neuerung oder  Xichterneuerung  des  Tempels  und  des 
Tempelcultus  die  Schärfe  eines  zugleich  dogmatischen 
und  zugleich  nationalen  annahm,  hat  die  officielle  Ver- 
tretung des  Judenthums  seinen  passiven  Widerstand 
zunächst  dahin  organisirt,  dass  man  den  Verkehr  in 
Literatur  und  Disput  mit  den  jetzt  „Minim"  Genannten  — 
warum  sie  so  genannt  wurden,  soll  noch  erörtert  werden 
—  möglichst  beschränkte.  Die  minäische  Exegese  flösste 
Furcht  ein,  weil  man  ja  in  mancher  Beziehung  auf 
demselben  exegetischen  Standpunkte  sich  befand  i). 

Die  philologische  und  historische  Unrichtigkeit 
derselben  war  es  ja  nicht,  was,  wie  in  unseren  Tagen, 


R.  Elieser  und  R.  Josua,  welche  dessen  maassgebende  Koryphäen 
wareil.  Da  nun  dieselben  Männer  zugleich  Aquila's  Bibelüber- 
setzung anordnen,  ihr  Jünger  Akiba,  dem  an  anderer  Stelle  ein 
Zusammenhang  mit  der  Uebersetzung  zugeschrieben  wird,  wenn 
auch  erst  später  besonders  hervorragend,  doch  schon  auch  in  der 
Zeit  dieser  Männer  eine  Bedeutung  hatte,  so  ist  über  den  Kreis, 
aas  dem  beide  Maassnahmen  geflossen,  nicht  der  geringste  Zweifel. 
1)  Bekannt  sind  die  AVendungen  auf  nicht  gerade  sehr  be- 
denkliche Fragen  mancher  Minäer:  nnK  nö  '1^7:  l^pz  n'rn  m  DK 

4 


50 


abstiess;  was  abstiess,  war  allein  der  Yersiich,  ver- 
mittelst einer  solchen  Exegese  das  jüdische  Gesetz 
aufzulösen,  später  auch  die  dogmatischen  Yorstellungen 
des  Judenthums  umzugestalten.  Darum  discutirte  man 
nicht  gerne.  Man  schützte  sich  besser,  indem  man 
das  Gesetz  wie  einen  Wall  gegen  die  auflösende  Alle- 
gorie aufthürmte.  Es  ist  sicher,  dass  das  Judenthum 
diesem  Sichzurückziehen  auf  sich  selbst  und  sein 
Gesetz,  dem  es  an  passivem  Fanatismus  nicht  fehlte  i), 


1)  Weil  man  die  Juden  so  wenig  vorsteht,  darum  sei  über 
das  was  hier  gemeint  ist,  ein  kurzes  Wort  verstattet.  Das  Ju- 
denthum, wie  es  seit  dem  zweiten  christlichen  Jahrhundert  sich 
gestaltet  hat,  also  gerade  das  rabbinische  Judenthum,  ist  in 
einer  Beziehung  absolut  nicht  fanatisch.  Seit  es  im 
zweiten  Jahrhundert  den  grossen  Schmerz  erlebt  hat,  dass  die 
aus  seinem  Schoosse  hervorgegangene  Religion  sich  ihm  feindlich 
gegenüberstellte,  hat  es  jede  propagandistische  Thätigkeit,  die  es 
einst  geübt  und  wodurch  es  dem  Christenthum  den  Weg  bereitet 
hat,  principiell  aufgegeben  (damals  entstand  der  Satz:  D'"i3  D''tt?p 
nnsCD  '^K-itr'b)  und  sich  nur  die  Aufgabe  vindicirt,  für  sich 
selbst  die  angestammte  Religion  zu  bewahren  und  nach  seiner 
Auffassung  quellenmässig  fortzubilden.  Nun  ist  activer  Fana- 
tismus nur  bei  propagandistischer  Tendenz  denkbar.  Dagegen 
verstehe  ich  unter  passivem  Fanatismus  die  aus  Furcht  vor 
auflösenden  Einflüssen  entstandenen  Yerhütungsmaassregeln.  So 
sind  die  geringschätzigen  Aeusserungen  und  trennenden  Be- 
stimmungen über  Minäer  zu  verstehen,  die  damals  gethan  und 
getroffen  wurden  (Siehe  ..Blicke",  I.,  S.  30  ff.).  Man  wollte  damit 
die  kampflustige  minäische  Propaganda  von  sich  fern  halten. 
Aggressives  Vorgehen  gegen  nicht  zu  ihm  Gehörige  wird  man 
dem  rabbinischen  Judenthum  nicht  nachweisen  können. 


51 


seine  Erhaltung  zu  danken  hat.  Aber  es  ist  auch 
sicher,  dass  ihm  durch  diese  Abwendung  von  Allem, 
was  in  jenen  Tagen  anderswo  gesagt  und  geschrieben 
wurde,  eine  Gefahr  erwuchs,  die  meines  Wissens  noch 
nirgends  genügend  urgirt  worden. 

Wie  Philo  und  Josephus  für  die  Juden  vom 
zweiten  Jahrhundert  ab  bis  nach  Ende  des  Mittelalters 
(Asariah  de  Rossi)  entweder  gar  nicht  oder  nur  in 
Ahnungen  (Josippon)  existirte,  so  konnte  Jeder  von 
da  ab  Alles  den  Juden  aufbürden,  wenn  er  es  nur 
auf  Griechisch  oder  Lateinisch  sagte,  ohne  eine  Wi- 
derlegung fürchten  zu  müssen.  Josephus  war  der 
letzte  Jude  auf  lange  Zeit,  der  den  hellenistischen  und 
römischen  Lügen  über  die  Juden  heimleuchtete,  nachher 
konnte  man  ihrem  Rücken  Allerlei  aufladen,  ohne 
dass  sie  selbst  auch  nur  darum  wussten.  Dass  es  nicht 
immer  der  Hass  war,  der  ihnen  auflud,  obwohl  der 
Hass  gerade  aus  den  vielen  unwidersprochen  geblie- 
beneu Beschuldigungen  neue  Nahrung  zog,  dass  viel- 
mehr die  Kirche  in  dem  Momente,  wo  sie,  vom  Ju- 
denthnm  losgetrennt,  den  schweren  Stand  einer  religio 
illicita  hatte,  aus  Nothwehr  die  GeschicW:serzählung 
der  ersten  Entstehung  des  Christenthums  für  römisch- 
heidnische Ohren  gefälliger  machen  musste  und  auf 
den  Schaden  der  Juden  keine  Rücksicht  nehmen 
konnte,  haben  wir  schon  im  Früheren  betont. 

Aber  Schuld  der  Juden  war  es  doch,    dass  man 

4* 


52 


ihnen  z.  B.  den  Josephiis  verstümmeln  konnte  an  den 
Stellen,  wo  der  Sachverhalt  beim  Tode  Jesu  zu  ihren 
Gunsten  hätte  zeugen  können,  dass  man  ebenso  ohne 
ihren  Widerspruch  die  g-ravirendsten  Dinge  ihnen 
nachsagen  konnte,  weil  sie  um  Alles,  Avas  nicht  die 
Auslegung  und  Wahrung  ihres  Gesetzes  betraf,  sich 
niclit  sonderlich  kümmerten. 

Dass  Josephus  mehr  enthalten  hat,  als  wir  heute 
in  ihm  lesen,  ist  allgemeine  IJeberzeugung.  Renan 
sagti):  .Josephus  ist  durch  christliche  Abschreiber 
auf  uns  gekommen,  welche  Alles  unterdrückten,  was 
ihrem  Glauben  missliebig  war;  sehr  wahrscheinlich 
hat  er  ausführlicher  über  Jesus  und  die  Christen  ge- 
sprochen, als  es  in  der  Ausgabe  geschieht,  die  zu 
uns  gelangt  ist'-.  In  ähnlichem  Sinne  lesen  wir  bei 
Ewald-):  .,Denn  Josephus'  Werke,  schon  von  vorne 
an  nicht  für  Judäer  bestimmt,  sondern  weit  mehr  für 
Heiden  geschrieben,  kamen  in  Folge  der  weiteren  Ge- 
schicke des  Volkes  bald  allein  in  heidnische  und  noch 
mehr  in  christliche  Hände,  und  wurden  den  Christen 
früh  zu  einer  Hauptquelle  ihrer  Geschichtserkenntniss : 
es  ist  nicht  Wunder,  dass  ein  hervorragender  Christ 
eine  darin  enthaltene  Stelle  über  Christus  frühzeitig 
so  änderte,  dass  das  Werk  für  Christen  lesbar  wurde 


1)  Renan,  ..Die  Apostel",  deutsche  Ausgabe,  S.  279. 

2)  Ewald,  „Geschichte  Israels",  V.,  S.  181. 


53 


und  diese  Aeiideruiig  dann  in  alle  christliche  Hand- 
schriften —  andere  haben  sich  nicht  erhalten  - —  über- 
ging''. Dass  die  Stelle  über  Christus  bei  Josephus  ur- 
sprünglich anders  gelautet  und  in  der  That,  wie  Ewald 
sagt,  nicht  gerade  Unverfängliches  wird  enthalten 
haben,  darin  hat  er  richtig  gesehen.  Aber  wer  wird 
glauben,  dass,  wenn  die  Schuld  der  Juden  am  Tode 
Jesu  durch  Josephus'  Bericht  eine  Bestätigung  erhalten 
hätte,  dieser  Bericht  uns  vorenthalten  worden  wäre? 
Die  Art  wenigstens,  wie  Josephus  mit  Entrüstung  von 
dem  am  Bruder  Jesu  begangenen  Justizmorde  erzählt, 
lässt  auf  keine  Verstimmung  der  pharisäischen  Partei, 
also  des  eigentlichen  Kerns  der  ]N"ation,  gegen  die 
christliche  Bewegung  schliessen  i).  Leider  sind  wir  in 
Bezug  auf  die  Pharisäer  gleichfalls  auf  keinen  un- 
verkürzt gebliebenen  Text  des  Josephus  angewiesen. 
Er  selbst  nämlich  bezeichnet  als  die  Hauptstelle  über 
die  drei  Kichtungen  unter  den  Juden  seine  Ausführungen 
im  „Jüdischen  Kriege"  -).  Er  fasse  sich,  meint  er  in  den 
„Alterthümern",  hier  kurz,  da  er  in  seinem  früheren 
"Werke  bereits  das  Genügende  beigebracht  3).  Aber  das 
trifft  höchstens  auf  seine  Behandlung  der  Essäer  zu,  die 


1)  Josephus,  ,.Alterthümer",  XX.,  9  Anfang. 

2)  „BeUnm  Judaicum",  II.,  8.  2  ff. 

3j  „Antiquit.",    XYIIL  12:    y.r/X   x'x^yö.-iz:  [ihzo:   irspt,   aatcbv 

OJJ.(o5    y.rjX    VÖV    rj.hxÖiV    ZT,     bj.['(U}'/. 


54 

Pharisäer,  also  gerade  die  Richtung,  zu  der  er  sich 
selbst  bekennt,  sind  an  beiden  Stellen  mit  wenigen 
Zeilen  abgethan.  und  zwar  so,  dass  heute  die  „Alter- 
thümer^  noch  etwas  mehr  enthalten  als  die  einst  Haupt- 
stelle gewesene  im  „Jüdischen  Kriege'-.  Die  Lücke 
ist  längst  bemerkt  worden^)  und  sie  erklärt  sich  ein- 
fach folgendermaassen :  Da  die  Pharisäer  zu  den  Zeiten, 
wo  die  XichtbefoJgung  des  mosaischen  Gesetzes  schon 
christliches  Princip  geworden  war,  als  die  eigentlichen 
principiellen  Gegner  des  Christenthums  angesehen 
wurden,  so  glaubte  man  in  der  Joseph'schen  Charak- 
teristik des  Pharisäerthums  nicht  mehr  die  Wahrheit 
zu  sehen  und  Hess  nur  stehen,  was  neben  ihrem  von 
den  Evangelien  entworfenen  Bilde  sich  sehen  lassen 
konnte. 

Eine  der  seltsamsten  und  erstaunlichsten  Folgen, 
welche  die  ünbekümmertheit  der  Talmudisten  im 
zweiten  Jahrhundert  um  Alles,  was  sich  nicht  auf 
die  Erforschung  der  Schrift  und  des  Gesetzes  bezieht, 
aufweist,  ist  ihre  ünorientirtheit  über  die  Vorgänge 
zur  Zeit  Jesu,  von  der  andeutungsweise  im  Früheren 
die  Rede  war,  und  die  wir  hier  noch  etwas  näher 
beleuchten  wollen. 

Man  kann  nachweisen,  dass  die  wenigen  Notizen. 


1)  Gieseler,  deutsche  Uebersetzung  des  jJüdischeD  Krieges" 
zur  Stelle. 


oo 


auf  die  wir    bei  ihnen  stossen,    nur  eine  Spiegelang 
christlicher  und  heidnischer  Legenden  sind  und  dass 
sie  nach  den  Eindrücken  des  zweiten  Jahrhunderts,  wie 
sie  sich  ihnen  aufdrängen,   und  nicht  nach  geschicht- 
licher Tradition  zeichnen.     Es    ist  ein  Verdienst  De- 
renbourg'si),  dass  er  die  ursprüngliche  Nichtidentität 
des  Ben-Sat'da    mit  Jesus  erkannt  hat.     Die  Quellen, 
denen,  gegenüber  der  babylonische  Talmud  in  solchen 
Fragen  nicht  zählt,  sind  Tosephta  und  jerusalemischer 
Talmud.     Beide    erörtern    theoretisch    die    von    dem 
sonstigen  Usus    abweichende    strafgesetzliche   Bestim- 
mung   über  den  „Mesith''  (Yerleiter  zum  Abfall    von 
der  Religion)    und    sagen  2):    „So  verfuhren    sie    mit 
Ben-Sat'da  in  Lydda.    Man  stellte  ihm,  von  ihm  un- 
bemerkt,   rechtskundige  Zeugen,    worauf  er  vor  das 
Tribunal  geführt    und    gesteinigt  wurde''.    Man  höre! 
^^ichts  deutet  auf  Jesus  hin,    der,    wo   er  immer  im 
Talmud  genannt  wird,  mit  seinem  wirklichen  Namen 


1)  Derenbourg,  „Essai  siir  Vhistoire  etc.'-,  S.  468  ff. 

2)  Tosephta,  Sanhedrin  10,  11,    ed.  Zuckermandel,    S.  431: 

'fp-biÄ-,  •p:i-nn  n^sn  rirr  xim  -»';sn  n-rn  w^zn  n-a'^n  ^2U?  h 
müD  \zb  iri?  pi  '^b^p  nK  ry»'^^  '^^^  r^^">  "'■"''^  '"'^  "^^^  ^^  "^^ 
^T\'bpü^  D^asn  ^Tl^bn  "tr  rbis  Tj^-:  '\^bn.  Aus  dieser  Tosephta- 
Stelle  sind  wohl  die  Stellen  des  jerusalemischen  Talmud  geflossen 
(j.  Sanhedrin  YIL,  16;  j.  Jebamoth  XVI.,  6),  welche  lauten:  pT 
n-nb  imH^zm  D-j::n  n-nbn  ^3r  rbi:  irarm  n*72  xii:d  \zb  wv 


56 


bezeichnet  ist.  Nichts  stimmt  überein,  nicht  der  I^ame 
des  Verurtheilteu,  nicht  der  Ort  des  Processes,  nicht 
die  Art  der  Strafvollstreckung.  Die  babylonische  Ge- 
mara  aber,  der,  wie  ziemlich  natürlich,  nach  Jahr- 
hunderten Ben-Sat'da  so  wenig  bekannt  war  wie  uns 
heute,  und  der  nichts  näher  lag,  als  an  das  grosse 
Ereigniss  zu  denken,  dessen  Wichtigkeit  alle  anderen 
überstrahlte,  nämlich  an  den  Process  Jesu  —  wdr 
werden  noch  zeigen,  dass  sie  in  seiner  Auffassung 
von  der  evangelischen  Tradition  abhängig  ist  —  meint, 
es  stecke  in  diesem  tarnen  eine  Bezeichnung  Jesu 
und  fügt  aus  eigenen  Mitteln  hinzu:  „und  sie  hingen 
ihn  am  Rüsttage  zum  Passahfeste'' \).  Aber  wie  kann, 
fragt  der  Talmud  mit  Recht,  der  Sohn  des  Pandera 
Ben-Sat'da  heissen?  und  giebt  eine  Antwort,  die  Jeden, 
der  den  geringsten  Sprachsinn  hat,  sofort  belehrt,  dass 
es  sich  um  eine  iSTamensdeutung  handelt,  die  so  wenig 
ernst  zu  nehmen  ist,  wie  die  Deutungen  gewisser 
griechischer  Yocabeln,  die  in  dem  mit  Griechisch  un- 
bekannten babylonischen  Talmud  sich  finden  2). 

Der  Ben-Sat'da  kommt  auch  noch  in  Tosephta 
Sabbath  vor  und  giebt  sich  auch  dort  leicht  als 
nicht   mit    Jesus    identisch    zu   erkennen.     Es   heisst 


1)  Sanhedrin  67a  (imcensirte  Ausgabe:  nC£  S"ir2  imK^nv 

2)  DieVeiiegenheits-Etymologisirung  xntDD  =  n'^mö  KT  ntSD 
stellt  auf  derselben  Stufe,  wie  die  bekannte  Etymologisirang  von 
^p'niSK  =  'j-o^r-^v.Yi  durck  "Xp  ".in  1£K  uod  ähnliche. 


57 

daselbst  i) :  .,Wenn  Einer  (am  Sabbath)  sich  eine  Schrift 
in  die  Haut  ritzt,  so  verpflichtet  ihn  K.  Elieser  zu 
einem  Schuldopfer,  die  Weisen  aber  sprechen  ihn 
frei.  Da  sagte  E.  Elieser:  Aber  Ben-Sat*da  hat  ja  in 
gar  keiner  anderen  Weise  als  in  dieser  gelehrt!  Sie 
antworten:  Sollen  wir  ^Yegen  eines  Thoren  alle  Klugen 
bestrafen?^'  Abgesehen  von  dem  völlig  Unzutreffenden 
der  gewöhnlichen  Beziehung  war  das  Christenthum 
wohl  „den  Griechen  eine  Thorheit",  nicht  aber  den 
Juden.  Ihnen  war  es  damals  „ein  Anstoss",  ,,Mich- 
schol'',  wie  Delitzsch  das  ..Scandalon'',  heute  leicht 
misszuverstehen,  treffend  übersetzt.  Natürlich  hat  aber 
die  später  entstandene  Yerwechselung  die  Stelle  in 
den  Gemaren  schon  modificirt.  Gewohnt  bei  Ben- 
Sat'da  an  Jesus  zu  denken,  bekannt  mit  den  Yor- 
würfen,  dass  er  seine  Wunder  durch  Zauberei  zu 
Stande  gebracht,  ebenso  bekannt  mit  der  K'achricht, 
er  sei  in  Aegypten  gewesen,  umschreiben  sie  (beide 
Gemaren)  die  dunkeln  Worte  der  Tosephta,  dass  die 
Lehrweise  des  Ben-Sat'da  nur  in  der  Weise  (durch 
in  die  Haut  geritzte  Schrift)  verlaufen  sei,  durch  fol- 
gende schon  präjudiciell  gefärbte:    Ben-Sat'da    hat  ja 


1)  Tosephta,    Sabbath  XL.  (^  .{ed.  Ziickermatidel    S.  126j: 

nrh   -i!2N   i'TlSis    D'.^2m   2"na   n-u''?«  n   nm  hv  '^-^sT^r^ 
IHK  .Toitt'  ^:^n  6  n;a«  pr  xSk  löb  x'?  xitsc  in  x'r'm  ^lu*'?«  n 

♦i-npsn  bz  nx  isx: 


58 


seine  Zauberformeln  nur  so  (d.  li.  in  die  Hant  ein- 
gravirt)  aus  Aegypten  gebracht i). 

Der  kundige  Leser  erkennt  leicht,  Avorin  ich  in 
Erklärung  der  Stellen  über  Ben-Sad'ta  von  Derenbourg 
abweiche,  in  der  Hauptsache  aber  ist  seine  Bemer- 
kung unanfechtbar. 

Dass  aber  in  der  That  der  Talmud  seine  Kunde 
über  die  Entstehungszeit  des  Christenthums  nur  be- 
zieht aus  dem  Wenigen,  was  von  evangelischer  Tra- 
dition an  ihn  gelangt,  und  aus  der  Beleuchtung,  in 
der  durch  die  Yorgänge  des  zweiten  Jahrhunderts  das 
Leben  Jesu  ihm  erscheint,  ergiebt  sich  am  interessan- 
testen aus  der  Erscheinung,  dass  seine  Angaben  im 
Laufe  der  Jahre  mit  der  veränderten  christlichen  Tra- 
dition sich  gleichfalls  ändern.  Die  Erscheinung  ist  um  so 
bemerkenswerther,  als  dadurch  die  Kesultate  der  Evan- 
gelienkritik von  einer  neuen  Seite  bestätigt  werden. 
In  der  Tosephta  kommt  nämlich  folgende  Stelle  vor  -) : 
„Der  widerspänstige  Sohn,  der  aufsätzige  Gelehrte,  der 


1)  j.  Sabbath  XIL,  4:  Dn^tÄÖ  D'StrD  X'm  üb  Knt2D  \^  nm 
"pz  ifhii*    Aelinlich  babli  Sabbath  104  b. 

2)  Tosephta,    Saiihedrin  11,  7    {ed.  Ziickermandl,  S.  432): 
-iprn  x^2;i  nn^sm  n-c^m  i^-i  n-s  'S  hv  kiöö  ipn  n-nai  -niD  p 

nöb>i  iK-i^i  ivr^v?^  Drn  b^  x'^k  -rw  ab  x'pk  iki^i  ini^  duh  b^-^ 
^32  i'nbitt?!  "fsmai  tö  mix  ]"n*öa  Nb>x  ni  btr  in  nx  i^sra 


59 

Mesith  und  Mediach  (Yerleiter),  der  falsche  Prophet, 
die  der  falschen  Aussage  in  peinlichen  Fällen  über- 
führten Zeugen  werden  nicht  sofort  getödtet,  sondern 
man  bringt  sie  zum  grossen  Gerichtshofe  nach  Jeru- 
salem, bewahrt  sie  auf  bis  zu  einem  der  Wallfahrts- 
tage und  tödtet  sie  am  Festtage,  denn  so  heisst  es 
(in  der  Schrift):  ,Und  das  ganze  Volk  soll  es  hören 
und  sich  fürchten  und  nicht  mehr  frevehi'.  Dies  sind 
die  "Worte  Akiba's.  Da  sagte  ihm  R  Jehudah:  Heisst 
es  denn:  alles  Yolk  soll  es  sehen  und  sich  fürchten; 
es  heisst  ja  nur:  alles  Yolk  soll  es  hören  und  sich 
fürchten.  Warum  soll  man  durch  Rechtsverzögerung 
lieblos  gegen  den  Yerurtheilten  handeln?  Yielmehr 
tödtet  man  ihn  gleich  und  sendet  überall  Boten  mit 
Schriftstücken  des  Inhalts:  X.  K  ist  abgeurtheilt 
worden  von  dem  und  dem  Gerichtshofe,  die  und  die 
waren  die  Zeugen,  die  gegen  ihn  ausgesagt,  dies  und 
dies  hat  er  gethan  und  so  ist  ihm  selbst  geschehen''. 
Xicht  ganz  so  ausführlich  und  mit  einigen  Ya- 
rianten  findet  sich  dasselbe  in  der  Mischnah  selbst^}. 
Wir  ziehen  die  Tosephtastelle  vor,  weil  sie  genauer 
ist  und  alle  die  Fälle  erschöpft,  bei  denen  sich  die 
Schrift  der  Wendung  bedient:  „Und  alles  Yolk  soll  es 


bei  ^:^bsi'\  ^Tbti  ^:i'7a  bu?  -rn  n^nn  im  n»;:  'sibs  -^^ii  maiparr 

t6  iiru  pi  .TtTu  -;n  "^di  ni? 
\)  Mischnah  XL,  4  (Sanhedrinj. 


60 


hören  und  nicht  mehr  sündigen-' -i).  Für  die  Original- 
steile  freilich  halten  AA'ir  auch  diese  nicht.  Yielmehr 
sehen  wir  im  Sifra,  wo  statt  der  nackten  Halachah 
zugleich  die  Gelegenheit  erkannt  wird,  bei  der  sie 
aus  der  Schrift  zuerst  eruirt  worden  2),  dass  Akiba 
ursprünglich  an  die  biblische  Bestimmung  über  den 
,,Mesith"  seine  Meinung  über  Zeitpunkt  der  Bestrafung 
desselben  vorgetragen. 

Aber  diese  Meinung  Akiba's  hat  eine  Schwierig- 
keit, an  die  zu  meiner  Yerwunderung  kein  Talmud- 
erklärer, soweit  ich  dieselben  verfolgen  konnte,  gedacht 
hat.  Sie  steht  nämlich  im  Widerspruch  mit  einer 
klaren  und  unzweideutigen  Lehre  der  Mischnah,  die 
folgendermaassen  lautet  S):  ..In  Geldsachen  hat  man 
das  Eecht,  die  Verhandlung  an  einem  Tage  zu  Ende 
zu  bringen,  das  Urtheil  mag  freisprechend  oder  be- 
lastend sein.  In  peinlichen  Sachen  dagegen  darf  man 
Avohl  die  Verhandlung  an  einem  Tage  erledigen,  wenn 
ein  freisprechendes  Urtheil  gefällt,  nicht  aber  wenn 
ein    Schuldig    gesprochen    wird,    das    darf    erst    am 


1)  Deuteronomium  13,  12  (Alesitbj;  ibid.  17,  13  (Saken 
Mamrej;  ibid.  19,  20  (Edim  somiuemirnj ;  ibid.  21,  21  (Sorer 
ümoreh) 

2)  Sifre  zu  Deuteron.  C.  21.  \.  22-23 

3j  Sanhedrin,  Mischnali  IV.,  1  (Babyl.  Talmud  S.  32):   ^ri 

xbi  DIU"   z-i-z  sb  \':i  i^K  'p'zb  r,z:nb  vinabz'  dvzi  n^zib 


61 


anderen  Tage  geschehen.  Deshalb  beginnt  man  keine 
peinliche  Verhandlung  weder  am  Rasttage  eines 
Sabbath,  noch  eines  Festtages'-. 

Beide  Gemaren  erklären  durchaus  sachgemäss, 
weil  das  Gericht  die  Verhandlung  am  anderen  Tage 
zum  Abschluss  bringen  und  somit  den  Verurtheilten 
am  Sabbath  oder  Festtag  hinrichten  lassen  müsste^ 
was  nach  ihrer  Ansicht  biblisch  unstatthaft  ist^).  Ein 
Aufschub  der  Verhandlung  resp.  der  Hinrichtung  aber 
wäre  unberechtigte  Rechtsverzögerung  (Innui  Haddin). 

Es  fragt  sich,  warum  Akiba  so  gar  kein  Bedenken 
hat,  die  Hinrichtung  einer  gewissen  Klasse  von  Ver- 
urtheilten an  einem  der  Wallfahrtsfeste  für  statthaft 
anzunehmen,  während,  wie  wir  aus  der  eben  an- 
geführten Mischnah  ersahen,  eine  solche  Procedur  für 
gewöhnlich  an  solchen  Tagen  für  unzulässig  gehalten 
wurde-),  und  icii  zweifle  nicht,  dass  die  Sache  sich  fol- 
gendermaassen  erJedigt.  Halachische  Bestimmungen 
entstehen  oft  aus  Berichten  über  Geschehenes.  Die 
Pietät  vor  der  Vergangenheit  Hess  ohne  Weiteres  vor- 
aussetzen, dass  es  gewiss  nach  der  richtigen  Norm 
geschehen  sei,  wenn  man  nicht  einen  Entschuldi- 
gungsgrund für  die  Abweichung  hatte.  Dies  erkennen 


1)  j.  Sanhedrin  22,  c.  2;  bab.  h  c. 

-)  Die  Deutung,  dass  ein  Halbfeiertag  gemeint  sei,  ist 
pilpulistiscb.  und  beachtet  nicht  den  Hauptzweck,  den  der  grösst- 
möglichen  Publicität. 


62 


wir  an  solchen  Halacbas.  die  scheinbar  ganz  unabhän- 
gig von  äusseren  Vorgängen  ausgesprochen  werden, 
denen  aber  nachträglich  die  Veranlassung  angefügt 
wird.  So  heisst  es  z.  B.  in  der  ^lischnah^):  .,Heilige 
Bücher  dürfen  in  jeder  Sprache  geschrieben  werden'*. 
'Wenn  nicht  R.  Simon  ben  Gamaliel  seinen  Wider- 
spruch mit  den  Worten  ausgedrückt  hätte:  .,Auch  bei 
heiligen  Büchern  haben  sie  von  fremden  Sprachen 
nur  das  Griechische  zugelassen",  so  würde  aus  der 
Mschnah  selbst  nicht  erkannt  worden  sein,  dass  die 
Halachah  nur  erschlossen  ist  aus  dem  Vorhandensein 
der  griechischen  Ueb ersetz uiig,  wie  die  Gemara  es 
richtig  ausführt.  Sicherlich  nun  hat  Akiba  in  Bezug 
auf  den  Tod  Jesu  die  durch  die  Synoptiker  verbreitete 
]\Ieinung,  dass  er  am  Festtage  selbst  erfolgt  sei.  Dass 
in  diesem  Kreise  das  Evangelium  bekannt  war,  ist 
bezeugt  2).  Die  wohl  etwas  jüngere  Mischnah  IV.,  1 
und  die  Gemara  dagegen  haben  schon  die  nachher 
durchgedrungene  Meinung  des  Evangelium  Johannis, 
dass  vielmehr  der  Rüsttag  des  Passahfestes  der  Todes- 
tag gewesen 3).  Akiba.  in  gutem  Glauben  an  das  Datum, 


1)  Mischnah  Megillah  I.,  ö.     Siehe  .,Blicke  etc.-,  I.,  S.  10. 

2j  Talmud  babli  Sabbath  116a. 

3)  Renan,  ..Leben  Jesu"',  deutsche  Ausgabe,  S.  32.),  Note  3 
sagt :  ,.Das  ist  das  System  der  Synoptiker  gewesen  (Matth,  24, 17  ff.; 
Marcus  14,  12  ff.;  Lucas  22^1  ff.  15^'.  [Er  will  sagen,  das 
System,  nach  welchem  das  erste  Abendmahl  am  wirkhchen  Passah- 


63 


schliesst  daraus,  dass  für  den  „Mesith''  die  Hinrich- 
tung am  Feste  Avohl  statthaft  gewesen  sein  müsse 
und  sucht  nach  seiner  Gewohnheit  einen  Bibelvers, 
der  das  rechtfertigt  oder  gar  anordnet,  und  den  er 
dann  überall,  wo  er  vorkommt,  naturgemäss  das  Gleiche 
in  Bezug  auf  die  Terminsbestimmung  der  Hinrichtung 
sagen  lässt.  Die  Späteren  dagegen,  für  welche  der 
Vorgang  in  dieser  Form  nicht  mehr  existirt  —  sie 
sagen  ja  ausdrücklich,  dass  es  vielmehr  am  Eüsttage 
des  Passahfestes  gewesen  —  kennen  und  anerkennen 
daher  auch  keine  exceptionelle  Halachah  in  dieser 
Beziehung.  Es  bestätigt  sich  auch  hier,  was  auch 
sonst  aus  den  Talmuden  erhellt,  dass  sie  ohne  selbst- 
ständige Ueberlieferung  über  Jesus  sind,  und  dass 
kein  nachtheiliges  Wort  aus  der  Yergangenheit ,  in 
welche  das  Wirken  Jesu  fällt,  zu  ihnen  herüberschallt. 


abend  begangen  worden  wäre,  so  dass  die  Hinriclitiing  am  Fest- 
tage selbst  erfolgt  sein  müsste].  „Aber  Johannes,  dessen  Erzäh- 
lung für  diesen  Theil  von  überwiegender  Bedeutung  ist,  nimmt 
ausdrüctlicli  an,  dass  Jesus  denselben  Tag  starb,  an  dem  man 
das  Lamm  ass  (13.  1—2,  29:  18,  28;  19,  14,  31).  Auch  der 
Talmud  lässt  Jesus  am  Osterabend  (soll  vielmehr  heissen:  am 
Rüstsage  des  Passah,  nca  mi:)  sterben  (Talmud  bab.  Sanhedrin 
43  a,  67  a)''.  Aber  wir  sehen  vielmehr  gerade  aus  dem  Talmud 
das  Ergebniss  der  Kritik  bestätigt,  nach  welcher  es  nur  natür- 
lich ist,  wenn  Akiba  (Hadrian's  Zeitgenosse)  von  der  durch  das 
Evangelium  Johannis  veränderten  Terminsfixirung  noch  nichts 
weiss,  während  die  späteren  Talmudisten  bereits  das  imK^m 
nca  S1U2  der  späteren  Annahme  gemäss  hinschreiben. 


64 


Wo  vom  zweiten  Jahrhundert  ab  ein  unmuthiges  Wort 
über  den  Stifter  des  Christenthums  gesprochen  wird, 
da  ist  es  ojffenbar  nicht  die  geschichtliche  Person,  die 
ihnen  vorschwebt,  sondern  es  sind  die  das  Judenthum 
schwer  treffenden  Consequenzen,  die  sie  auf  ihn  zurück- 
führen. Deshalb  sind  sie  bei  aller  Pietät  gegen  die 
Yergangenheit  doch  auch  unzufrieden  mit  dem  Lehrer, 
der,  wie  sie  fälschlich  glauben,  durch  rücksichtslose 
Abweisung  Jesu  ihn  dem  Judenthum  entfremdet 
hätte.  Dass  das  aber  gleichfalls  nur  eine  Spiegelung 
der  Erzählungen,  die  sie  im  zweiten  Jahrhundert 
hören,  und  nicht  Tradition  ist,  geht  zur  Evidenz  aus 
dem  schweren  Irrthum  hervor,  in  welchem  der  Talmud 
über  die  Zeit  und  den  Lehrer  Jesu  sich  befindeti). 

Wir  gehen  hier  auf  die  oft  gefühlte  Schwierigkeit 
ein,  den  Process  Jesu  sich  zu  denken  unter  Mitwir- 
kung eines  auch  nur  den  Schein  mosaisch-talmudischen 
Kechts  wahrenden  Synedriums. 

Nach  den  Quellen  soll  die  Yerurtheilung  wegen 
,,Gidduf-'  (Blasphemie.  Gotteslästerung)  erfolgt  sein. 
Aber  auf  Grund  welcher  Aeusserungen  Jesu  sollte 
das  sich  rechtfertigen  ?  Weder  seine  Behauptung,  dass 
er  der  verheissene  Messias  sei,  noch  auch  seine  Be- 
rufung auf  Daniel,  „man  werde  des  Menschen  Sohn 
herabkommen   sehen    in    den  Wolken    des  Himmels", 

h  Tahmul  babli,  Sanhedrin  lUTh. 


65 


constituiren  iin  Geringsten  das,  was  man  unter  „Giddiif' 
versteht.  „Gidduf  ist  immer  wirkliche  Gottesläste- 
rungi).  Selbst  unter  der  Annahme,  die  nicht  leicht 
ein  Kritiker  macht,  dass  Jesus  sich  vor  dem  Synedrium 
bereits  in  höherer  als  menschlicher  Würde  (Gottes- 
sohn) bekannt  habe,  ist  eine  Anklage  auf  „Gidduf" 
nicht  verständlich.  Ertrug  man  in  einem  kanonischen 
Scribenten  die  Bezeichnung  eines  Engels  als  Bar- 
Elohin  (Daniel  3,  25),  wenn  auch  solche  dem  Nebu- 
kadnezar  in  den  Mund  gelegt  wird,  so  konnte  auch 
eine  solche  auf  eine  Verkleinerung  Gottes  nicht  ab- 
zielende Bezeichnung  nicht  als  eine  Blasphemie  auf- 
gefasst  werden,  bei  der  man,  wie  wenn  es  sich  um 
die  directe  Schmähung  des  Gottesnamens  handelt  — 
denn  das  ist  Gidduf  —  die  Kleider  zum  Zeichen  der 
Trauer  zerreisst.  Es  ist  daher  überaus  charakteristisch 
für  den  Talmud,  dass,  obwohl  er  doch  nur  von  spä- 
teren Nachrichten  lebt,  er  dennoch  niemals  von  Jesus 
sagt,  er  sei  wegen  „Gidduf*'  gestraft  worden.  Offenbar 
stimmen  ihm  die  Daten  nicht.    Vielmehr,  da  ihm  das 


1)  Sanhedrin,  Mischnali  VI!..  5:  '^'^Si^Z'  IV  r-n  irK  rp;^:! 
'DV  na'  'Iran  onun  nx  i':i  dt  bsn  rinnp  ]z  ru^i.T  n  -".ttK  az'n 
'^z'\  'i3'Dn  D":-nn  vh  i"in  in::  ,-cr  nx*  Aus  der  MiscliDali  ist 
klar,  dass  es  sich  um  ein  wirkliches  Fluchen  und  Lästern  han- 
delt, zugleich  auch,  dass  sie  eine  ziemlich  treue  Auslegung  des 
Schriftwortes  (Leviticus  24,  11—16)  ist,  auf  v\'elches  die  ganze 
Procedur  zurückgeht. 

5 


66 


Factum  der  TerurtlieiliiDg  durch  ein  jüdisches  Gericht 
erzählt  wird,  denkt  er  sich  als  Grund  der  Yerurthei- 
luug  „Yerleitung"  und  macht  ihn  zum  „Mesith'-.  Aus 
dem  Umstände  nämlich,  dass  zu  seiner  Zeit  das 
Christenthum  eine  vom  Judenthum  verschiedene  Re- 
ligion war,  erschliesst  er,  er  werde  wohl  ein  „Mesith'' 
gewesen  sein,  d.  h.  zum  Abfall  von  der  jüdischen 
Eeligion  aufgefordert  haben.  ^Natürlich  setzt  er  dannaber 
nicht  blos  eine  Terurtheilung.  sondern  auch  eine  Voll- 
streckung durch  das  jüdische  Gericht  voraus  i). 

Denn  hier  stossen  wir  auf  eine  zweite,  wie  mir 
scheint,  unüberwindliche  Schwierigkeit. 

Man  hat  die  Lösung  der  Schwierigkeit  von  der 
Frage  abhängig  gemacht,  wie  weit  dem  Synedrium  da- 
mals das  jus  glaäii  noch  zustand.  Die  Nachricht  des 
Talmud,  dass  vierzig  Jahre  vor  Zerstörung  des  Tem- 
pels dem  Synedrium  dieses  Eecht  genommen   ward"-). 


1)  Talmud  babli  Sanhedrin  43  a:  n'rriK  ri^b  \<ir  Vror\'i 
".2".  hirz''  ns*  n-nm  n-cn:  ?]vr2ir  h'j  '^pc-b  K::r  c:\  Er  denkt  also 
an  jüdisclie  Todesart.  was  die  Ungeschichtliclikeit  der  Stelle  aus- 
reichend charakterisiit. 

2)  Sanhedrin  41  a.  Die  Sache  wird  dort  wie  ein  freiwilliger 
Act  des  Synedriums  dai'gestellt,  als  ob  es  nämlich,  um  nicht 
mehr  Todesurtheile  fällen  zu  müssen,  aus  der  ., Quaderhalle"  in 
die  ..Chanujot--  (vergl.  über  dieselben  Derenbourg  Z.  L  S.  485), 
woselbst  das  nicht  geslattet  gewesen,  gewandert  sei.  Siehe 
Easchi  zur  Stelle:  i-i"n:!:.Tir  TUZ  X^N  D'pn  ^DS  nv»r£3  -n  1-KU7 


67 


wird  von  Josephus  und  vom  Evangelium  Johannis 
bestätigt!).  Aber  man  meinte  durch  analoge  Fälle  die 
Sache  sich  so  zurechtlegen  zu  können,  dass  ausnahms- 
weise in  kirchlichen  Dingen  der  Procurator  die  Gfe- 
nehmigung  zu  einem  peinlichen  Verhör  durch  das 
Synedrium  geben  konnte,  wie  ja  bei  dem  Falle  mit 
Jacobus  die  Beschwerde  gegen  den  Hochpriester 
Anan  nur  dahin  gehe,  es  habe  ihm  nicht  zugestanden, 
ohne  Genehmigung  des  Procurators  eine  Synedrial- 
sitzung  Zwecks  einer  peinlichen Procedur  anzuordnen 2). 
Aber  bei  näherer  Betrachtung  versagt  jene  Analogie 
und  es  wäre  der  Process  Jesu  ein  Unicum.  Nehmen 
wir  selbst  den  Fall  Stephanus  als  historisch  —  der 
kritischen  Bedenken  gegen  die  Historicität  soll  später 
noch  Erwähnung  geschehen  —  so  ist  auch  er  nicht 
analog.  Um  es  kurz  zu  sagen :  Es  ist  nicht  denkbar, 
dass  ein  jüdisches  Gericht  einen  Angeklagten  ord- 
nungsmässig  nach  mosaischem  Rechte  von  vornherein 
mit  der  Maassgabe  verurtheilt,  dass  die  Yollstreckung 
dann  nicht  nach  jüdischer,  sondern  nach  römi- 
scher Weise  erfolge,  nach  einer  Weise,  die  in  einer 
alten  Stelle  mit  Indignation  erwähnt  ist  3). 


i)  Jos.,  Ant.  XX.,  9,  1..     Eü.  Joli.  18,  81.     Vgl.  über  das 
Ganze  Schürer.  „Neiitestamenthche  Zeitgeschichte",  S.  415, 

2)  O'jy.  s^ov  Yjv'Avavcp  ytupl?  "/f^c,  sxs(voD  YvwfJ-Tj^  viaO-ljac  ^uvsootov. 

3)  Sifra  zu  21,  22—23:    "^mD  «n  KMtTD  imK  i'^^in  1.T  blD^ 
ra",m    ^ll^b   T,öbn    |TT    nvsböntr»    Der   Fall   im  Maimonides 

5* 


68 


Das  VOR  einem  gewaltthäti^en  Priester  unter 
Missbilligung  aller  gewissenhaften  Juden  gegen  Ja- 
cobus  eingeleitete  Verfahren,  ebenso,  wenn  es  wirklich 
vorgekommen  sein  sollte,  gegen  Stephanus,  hatte  in- 
sofern mehr  jüdisch  gesetzliche  Form,  als  Urtheil  und 
Vollstreckung  von  derselben  Behörde  ausging  und  die 
Vollstreckung  selbst  eine  jüdische  war,  man  also  nicht 
Gelegenheit  gab  zu  einer  Procedur,  die  man  als  eine 
gräuelvolle  verabscheute.  In  unserem  Falle  aber 
konnte,  da  die  Hinrichtung  durch  Pilatus  das  geschicht- 
lich Gegebene  war,  die  Sache  nur  so  vorstellig  ge- 
macht werden,  dass  das  jüdische  Gericht  zu  einem 
römischen  Tod  verurtheilt  hätte.  Darin  aber  liegt  das 
schwer  Denkbare.  Wir  meinen  darum,  dass  wohl  ein 
Paar  gewaltthätige  Machthaber,  Priester  von  dem 
Schlage,  die  der  Talmud  selbst  „Frevler"  zu  nennen 
keinen    Anstand    nimmt  i),    dem    Pilatus    zugestimmt 


(Hilchotli  Sanhedrin  14,  8),  der  auf  Talmud  Sanhedrin  45  b  zu- 
zückgeht  und  welcher  besagt,  dass.  wenn  ein  zum  Tode  Ver- 
urtheilter  sich  der  gesetzlichen  Todesart  zu  entziehen  gewusst 
hat,  die  ihn  erkennenden  und  ihn  packenden  Zeugen  ihn  auch  in 
anderer  Weise  tödten  dürfen,  ist  völlig  unanalog,  da  es  sich  dort 
ura  einen  rite  Yerurtheilten  handelt,  der  dem  Gericht  entsprungen 
ist  und  von  giltigen  Zeugen  erkannt  wird. 

1)  Vgl.  die  Anwendung  des  Schriftwortes:  ,,Die  Jahre  der 
Frevler  werden  verkürzt*'  (Spr.  Sal.  10,  27)  auf  einen  Theil  der 
Hohenpriester  während  des  zweiten  Tempels,  Talmud  babU, 
joma  9  a. 


G9 


haben  können,  aber  ein  an  die  Bedingungen  des  jüdi- 
schen Verfahrens  auch  nur  der  Form  nach  sich  hal- 
tendes Synedrium  konnte  es  nicht.  Den  richtigen 
Weg  in  dieser  Frage  ist  schon  Philippson  i)  gegan- 
gen, indem  er  durch  eine  Charakterisirung  des 
Pilatus  nach  Philo  und  Josephus  nachweist,  wie  wenig 
dieser  Blutmensch  eine  Entlastung  verdient  oder  auch 
nur  möglich  macht.  Das  harte  ürtheil  des  Philo "-), 
der  den  Pilatus  als  einen  unbeugsamen  und  rücksichts- 
los harten  Charakter^)  bezeichnet,  der  von  seiner  „Be- 
stechlichkeit, seinen  übermüthigen  Gewaltthaten,  Räu- 
bereien, Misshandlungen,  Kränkungen,  Justizmorden 
und  Massentödtungen",  kurz  von  seiner  bis  zur  Un- 
erträglichkeit  fortgesetzten  Wildheit-*)  redet,  mrd 
durch  Alles,  was  wir  sonst  von  ihm  wissen,  bestätigt. 
Eine  Creatur  Sejan's,  dessen  Gesinnung  gegen  die 
Juden  bekannt  ist  und  auf  dessen  AYeisungen  er 
wohl  gehandelt  haben  wird,  war  er  der  erste  Procu- 
rator,    dem  es  Vergnügen  machte,    die  religiösen  Ge- 


1)  In  seiner  bekannten  Schrift:  „Haben  die  Juden  Jesum  usw." 

2)  Oder  vielmehr  Agrippa  I.  in  dem  Briefe,  welchen  Philo 
von  ihm  mittheilt.  Vgl.  Schürer:  „Neutestamentliche  Zeitgesch.", 
Seite  252. 

^)  Philo,  ,,Legatio  ad  Cajum",  ed.  Mangey,  IL,  590:  Tag 
StopoSoxia?,  xac  ußpscc,  Tag  ap-aYocg,  Tag  atxta?,  Tag  sTirjpstag,  looc, 
äxpixoug  xat  aüaXXrjXoüg  '-fovoug,  T7]v  avTjVüTov  xai  o.^yxKB(}ii6.xr^ 
top.6TrjTa. 


70 


fühle  der  Juden  durch  allerlei  Manipulationen  zu 
verletzen!).  Die  dadurch  erzeugte  Erbitterung  ertränkte 
er  dann  in  Blut,  wobei  er  zur  Grausamkeit  die  Hinter- 
list fügte ■■^).  Die  einzige  nach  Gemeinnützigkeit  aus- 
sehende Maassregel  des  Pilatus,  die  Anlegung  eines 
Aquaeducts  mit  den  Mitteln,  die  er  dem  Tempel  schätz 
entnahm,  war  gleichfalls,  wie  Derenbourg  gut  gezeigt 
hat 3),  nicht  so  harmlos  gemeint,  wie  sie  aussah.  Sie 
sollte  die  Yertheidigungsfähigkeit  Jerusalems  schwächen. 
Die  Juden  hatten  sich  demnach  auch  damals  nicht  in 
Pilatus  geirrt,  als  sie  in  dieser  mit  ihrem  Gelde  be- 
strittenen Wohlthat  die  väterliche  Fürsorge  desselben 
nicht  anerkannten.  Wie  Pilatus  aber  jedem  Schein 
einer  messianischen  Bewegung  gegenüber  sich 
verhielt,  das  ergiebt  sich  am  besten  aus  der  schweren 
That  ein  oder  zwei  Jahre  nach  dem  Tode  Jesu,  die 
ihn  die  Procuratur  gekostet. 

Xach  alter  samaritanischer  Vorstellung  nämlich 
waren  seit  Moses'  Zeiten  die  heiligen  Tempelgeräthe 
auf  dem  Berge  Garizim  begraben.  Um  35  n.  Chr.  ver- 
sprach nun  ein  samaritanischer  Schwärmer,  dem  Yolke 
diese  Geräthe  zu  zeigen,  wenn  es  sich  am  Garizim 
einfände.  Das  Volk,   sich  täuschen  lassend,  sammelte 


1)  Joseplius,  Ant.,  XVIII.,  3,  1.     B.  J.  II.,  9,  2—3.     Philo, 
legatio,  ed.  Mangey.  589  ff. 

'-2)  Jos.,  AnU  XVm ,  3,  2.     B.  J.  II.,  9.  4. 
^)  Derenbourg,  Essai,  S.  199. 


71 


sich  in  bewaffneten  Schaaren  im  Dorfe  Thirathana  am 
Fasse  des  heiligen  G-arizim.  Pilatus  aber  hatte  ihnen 
durch  Fussvolk  und  Eeiter  auflauern  lassen,  die  dann 
auch  angriffen  und  Alles  niederhieben,  was  nicht 
entfloh.  Von  den  auf  der  Flucht  Ergriffenen  liess 
Pilatus  dann  noch  die  Yornehmsten  tödten  i).  So  ver- 
fuhr Pilatus  mit  den  zahmen  und  meist  gehorsamen 
Samaritanern  auf  den  blossen  Schatten  eines  Verdachtes 
hin,  dass  es  sich  um  eine  messianische  Bewegung 
handle.  Sie  müssen  doch  wohl  in  der  Lage  gewesen 
sein,  dem  syrischen  Präses:  Vitellius  die  politische 
Harmlosigkeit  ihrer  Zusammenrottung  nachzuweisen, 
wenn  derselbe  sich  veranlasst  fühlte,  den  Pilatus  zur 
Verantwortung  nach  Eom  zu  schicken. 

Ein  Mann  dieses  Schlages  braucht  nichts  als  seine 
eigene  böse  Gemüthsart  für  sein  Verfahren  gegen  Jesus, 
dessen  imponirende  Haltung  bei  seinem  Verhör  jenen 
eher  stacheln,  als  versöhnen  konnte.  Ein  Zeichen  der 
Eohheit  des  Pilatus  ist  auch  die  Inschrift  über  dem 
Kreuze,  von  welcher  der  Verfasser  des  Evangelium 
Johannis  gefühlt  hat,  dass  sie  nicht  blos  einen  Hohn 
gegen  die  Messianität  Jesu,  sondern  gegen  den  Messias- 
glauben der  Juden  überhaupt  enthalte.  Die  Entlastung 
der  Juden  von  der  Betheiligung  an  dem  ganzen  Acte, 
die  allein  schon  aus  der  Inschrift  ersichtlich,  veranlasst 


1)  Antiq.  XVIII.  4,  1. 


daher  den  Evangelisten,  abweichend  von  den  Synop- 
tikern, die  Juden  gegen  die  Inschrift  remonstriren  zu 
lassen.  Aber  gerade  die  Wendung,  welche  Johannes 
der  Sache  giebt,  beweist,  dass  er  selbst  es  für  nöthig 
hält,  das  kritische  Bedenken  gegen  den  Bericht  der 
Synoptiker  durch  eine  leise  Veränderung  um  seine 
Bedenklichkeit  zu  bringen  i). 

Ich  meine,  dass  bei  solcher  Schwierigkeit,  aus  den 
heutigen  Quellen  Sicheres  zu  eruiren,  die  Sorglosigkeit 
der  Juden  in  Rücksicht  auf  geschichtliche  Vorgänge, 
die  später  so  schwer  ihnen  angerechnet  werden  soUteu, 
von  jedem  Freunde  der  Wahrheit  aufs  Schmerzlichste 
empfunden  werden  muss. 


1)  EvaDgelium    Johannis    19.    T.    19  —  22    verglichen    mit 
Matthäus  27,  37;  Marcus  15,  26:  Lucas  23.  38. 


V.  Das  erste  christliche  Jahrhundert  im  Unter- 
schiede vom  zweiten. 


Man  kann  den  Canon  aufstellen,  dass  jede  christ- 
liche Schrift,  die  fremd  und  feindlich  von  Juden  und 
Juden thum  spricht,  nicht  dem  ersten,  sondern  erst 
dem  zweiten  Jahrhundert  angehört.  Das  ist  wie  psy- 
chologisch das  einzig  Verständliche,  so  auch  das  von 
unbefangener  Kritik  allein  Bestätigte.  Man  trennt  sich 
ja  nicht  an  einem  Tage.  Der  christgläubige  Jude,  der 
dem  nicht  überzeugten  Juden  grollte,  sprach  darum 
so  wenig  wegwerfend  über  Juden,  wie  etwa  ein  libe- 
raler Deutscher,  weil  er  den  Conservativen  grollt, 
sich  veranlasst  sehen  könnte,  von  den  Deutschen  selbst 
wegwerfend  zu  reden.  Dazu  kam,  wie  wir  noch  sehen 
werden,  dass  der  Unterschied  zwischen  dem  christ- 
gläubigen  Juden,  der  auf  die  Parusie  wartete,  und 
den  übrigen  immerhin  doch  gleichfalls  einer  messia- 
nischen Parusie  entgegensehendenBekennern  des  Juden- 
thums  bis  auf  lans:e  hinaus  verschwindend  klein  war. 


74 


Der  eben  ausgesprochene  Canon  kann  darum  ganz 
rigoros  angewendet  und  es  darf  ausgesprochen  werden, 
dass,  wo  in  einer  christlichen  Schrift  mit  einer  gewissen 
Fremdheit  von  Juden  die  Rede  ist;  ihr  Autor  einer 
Zeit  entstammt,  wo  nicht  mehr  als  Juden  Geborene 
das  Wort  haben,  sondern  zum  Christenthum  bekehrte 
Heiden,  bei  denen  zum  nationalen  Antagonismus  noch 
die  Bitterkeit  hinzukam,  die  sie  wegen  einstiger  Yer- 
sagung  des  Tollbürgerthums  im  Reiche  Gottes  empfan- 
den. Diese  Wendung  der  Dinge  war  aber  nicht  vor 
dem  zweiten  Jahrhundert  eingetreten. 

Renan  sagt  ganz  richtig:  „Der  Name  Jude,  im 
vierten  Evangelium  beständig  genommen  wie  ein  Sy- 
nonym des  Wortes  ,Feind  Jesu',  ist  in  der  Apokalypse 
der  höchste  Ehrentitek'^.  Sind  daraus  keine  Schlüsse 
zu  ziehen?  Kann  fiii'  den  frommen,  christgläubigen 
Verfasser  der  Apokalypse  schon  die  Tradition  existirt 
haben,  dass  die  Juden  überall  die  Verfolger  des  christ- 
lichen Xamens  gewesen  seien,  wenn  das  Judeseln 
für  ihn  noch  etwas  so  Hohes  bedeutet?  Xoch  haben 
Christ  und  Jude  dieselben  Feinde.  Apion,  der  Yer- 
lästerer  der  Juden,  lebt  auch  in  der  christlichen  Tra- 


1)  Eenaß.  „L'  Antechrisf' ,  introduction  XXV.,  Xote  3: 
Le  nom  de  Jtiif  pvis  comme  synonyme  ,cV  adversaire  de  Jesus' 
dans  le  qiicdrieme  Evangüe  est  dans  V  Äpocalypse  Je  titre 
sippreme  d' lionneiir  (IL.  9;  lU  .  9). 


dition  als  der  leibhaftige  Diabolus  forti).  Welches 
Zeugniss  will  man  dem  gegenüber  anführen? 

In  Betreff  der  Apostelgeschichte  steht  das  Urtheil 
der  berufensten  Kritiker  längst  fest,  dass  es  eine 
theologische  Kundgebung  des  zweiten  Jahrhunderts 
von  einem  Standpunkte  aus  ist,  auf  welchem  „von 
irgend  welcher  historischen  Gewissenhaftigkeit  nicht 
die  Eede  sein  kann"-j.  Die  Geilissentlichkeit,  mit 
welcher  in  derselben  die  Eömer  entlastet  und  die 
Juden  belastet  werden  •^),  springt  zu  sehr  in  die  Augen, 
um  anders  als  aus  den  von  uns  bereits  erörterten 
politischen  Gründen  erklärt  Averden  zu  können.  Ja, 
die  bekannte  Umdeutung  des  Trajanischen  Edicts,  die 
Overbeck  gezeigt  hat-^),  ist  schon  in  derselben  ver- 
treten ^). 

Was   von  den  Verfolgungen    der  jungen  Kirche 


1)  Haiisrath,  ..Neu testamentliche  Zeitgeschichte",  IL,  231. 

2)  Derselbe,  ibid.,  III.,  421. 

3)  Vgl.  II.,  36;  IV.,  10;  V.,  28,  wo  die  Juden  gegen  den 
Sachverhalt  als  die  eigentlichen  Executoren,  nicht  blos  Ver- 
anlasser des  Todes  Jesu  hingestellt  werden,  „den  Ihr  mit  Eueren 
Händen  gemordet  und  dann  an's  Kreuz  geschlagen-.  Ja,  wo  die 
Verschweigung  des  Pilatus  dem  römischen  besseren  "Wissen  ge- 
genüber (Tacitus,  Ännal.  15,  44)  sich  nicht  empfahl,  wird  von 
Pilatus  mit  grösster  Schonung  geredet.  „Er  machte  richterhche 
Anstrengungen,  ihn  zu  retten,  Ihr  aber  habt  ihn  verleugnet.'- 

*)  Studien  zur  Geschichte  der  alten  Kirche  S.  121  ff. 
5)  Siehe  die  Stellen  Protestantenbibel  S.  352—353. 


76 


durch  die  Juden  darin  erzählt  wird,  kann  auf  die 
Länge  der  historischen  Kritik  nicht  Stand  halten.  Der 
Yersuch  der  Kritik  beispielsweise,  bei  aller  Erkennt- 
nisse dass  die  einzelnen  Züge  in  der  Erzählung  des 
Stephanus-Processes  zu  der  historischen  Lage  absolut 
nicht  stimmen  wollen,  dennoch  einen  geschichtlichen 
Kern  des  Vorganges  festzuhalten,  ist  schon  von 
Schwegler  nicht  mitgemacht  worden  und  darf  wohl 
durch  die  ausgezeichnete  Beleuchtung  Overbeck's  als 
gescheitert  angesehen  werden  i).  Ebenso  schwer  glaub- 
lich zu  machen  sind  die  Häscherbriefe  des  Synedriums 
gegen  die  Christen  in  Damascus.  Mit  stilistischen 
Wendungen  kann  die  Denkbarkeit  der  Sache  nicht 
erleichtert  werden.  Keim,  nachdem  er  das  Verhalten 
der  Juden  gegen  die  ersten  Christen  auf  Grund  der 
Apostelgeschichte  geschildert,  sagt-):  ,.Glücklicherweise 
reichte  die  Autorität  des  jüdischen  Volkes  und  seiner 
gesetzlichen  Entscheidungen  nicht  weiter  als  Judäa, 
obwohl  sie  freiwilliger  Weise  auch  von  den  Juden 
auswärts,  zumal  im  nahen  Syrien,  anerkannt  werden 
konnte,  wie  ja  Paulus  mit  hochpriesterlichen  Häscher- 
briefen nach  Damascus  auszog''.   Statt  zu  sagen,  dass 


1)  Schwegler.  ..Das  nachapostolisclie  Zeitalter'',  II.,  102  ff. 
Overbeck  in  seiner  reberarbeitung  des  de  Wette'schen  Commen- 
tars  zur  Apostelgeschichte.  Vgl.  über  Stephanus:  Weizsäcker 
in  Schenkels  Bibellexicon. 

2)  Keim,  ..Rom  und  das  Christenthum-,  S.  175. 


77 


es  eben  nicht  verständlich  ist,  wie  Paulus  mit  Häscher 
briefen  nach  Damascus  gehen  konnte,  und  welche 
Aussicht  er  hatte,  die  Macht  des  Synedriums  dort 
gegen  die  Christen  zur  Geltung  zu  bringen,  wird  der 
Bericht  als  authentisch  festgehalten  und  durch  ein 
keineswegs  lösendes  „obwohl''  möglich  gemacht. 
Stärker  fühlt  Renan  das  Bedenkliche  des  Berichtes, 
aber  er  ist  der  Letzte,  der  sich  durch  so  Etwas  irre 
machen  Hesse.  Er  schildert,  wie  es  seine  Art  ist, 
als  sei  er  dabei  gewesen  und  als  ob  er  einer  alten 
zuverlässigen  Quelle  blos  nachzuschreiben  hätte,  die 
Sache  folgendermaasseni):  ,,Er  (nämlich  Paulus)  athmete 
nur  Tod  und  Schrecken  und  durchlief  Jerusalem  wie 
ein  Rasender,  versehen  mit  einem  Mandat,  das  ihn 
zu  allen  Grausamkeiten  ermächtigte.  Er  ging  von 
Synagoge  zu  Synagoge,  zwang  dort  die  Furchtsamen^ 
den  Xamen  Jesu  abzuschwören  und  liess  die  Anderen 
auspeitschen  oder  in's  Gefängniss  werfen  2).  Nachdem 
die  Gemeinde  von  Jerusalem  zerstreut  worden  war, 
warf  sich  seine  Wuth  auf  die  benachbarten  Städte-^). 
Die  Fortschritte,  welche  der  neue  Glaube  machte, 
brachten  ihn  ausser  sich,  und  als  er  erfuhr,  dass  eine 
Gruppe    von   Gläubigen    sich    in  Damascus    gebildet 


ij  Eenan.  ..Die  Aposter*.  deutsche  Ausgabe,  S.  204. 

2)  Apostelgeschichte  22,  4.  19:  26.  10.  U. 

3)  Apostelgeschichte  26,  11. 


78 


hatte,  erbat  er  von  dem  Hohenpriester  Theophiliis.  dem 
Sohne  Chauan'si).  Briefe  an  die  Synagoge  jener  Stadt, 
welche  ihm  die  Macht  ertheilen  soUteu,  die  Schlecht- 
gesinnten festzunehmen  und  sie  in  Ketten  und  Banden 
nach  Jerusalem  zu  schleppen-). 

Die  schon  seit  dem  Tode  des  Tiberius  unter- 
grabene römische  Autorität  in  Judäa  erklärt  diese 
villkiiiiichen  Verfolgungen.  Man  befand  sich  unter 
der  Hen'schaft  des  wahnsinnigen  Caligula.  Die  Ver- 
waltung gerieth  nach  allen  Seiten  hin  in  Verwirrung. 
Der  Fanatismus  hatte  das  Feld,  das  die  bürgerliche 
Gewalt  verloren  hatte,  gewonnen.  Xach  der  Absetzung 
des  Pilatus  und  den  Zugeständnissen,  welche  den 
Inländern  durch  Lucius  Vitellius  gemacht  wurden, 
nahm  man  das  Princip  an,  das  Land  sich  nach  seinen 
eigenen  Gesetzen  regieren  zu  lassen.  Tausend  örtliche 
Tyrannien  benutzten  die  Schwäche  einer  sich  um 
nichts  mehi'  kümmernden  Macht.  Damascus  war 
überdies  kurz  zuvor  in  die  Hände  das  nabatenischen 
Königs  Hartat  oder  Harath  gekommen,  dessen  Haupt- 
stadt   in  Petra  lag-') Die  Juden  bildeten    im 

Augenblick  dieser  neuen  Besitznahme  eine  angesehene 


1)  Hoherpriester  von  37 — 42:  Josephus.  Antiq.  XYIIL,  5,  3; 
XIX..  G.  2. 

2)  Apostelgeschichte  9.  L  2.  14;  22,  5:  26,  12. 

3)  Ygl.  Beviie  numismatique,  neue  Serie,  III.  (^1858),  296  fg.; 
362  fg.     Eevue  archeoh  (April  1864).  S.  284  fg. 


79 


Partei.  Sie  waren  zahlreich  in  Damascus  und  übten 
dort,  namentlich  unter  den  Frauen,  einen  umfassenden 
Proselytismus  ausi).  Man  wollte  sie  zufriedenstellen. 
Das  Mittel,  sie  zu  gewinnen,  war  immer,  ihrer  Selbst- 
herrschaft Zugeständnisse  zu  machen;  jedes  Zugeständ- 
niss  an  ihre  Autonomie  war  aber  eine  Erlaubniss  zu 
religiösen  Gewaltthaten'-).  Diejenigen  strafen,  ja  tödten, 
welche  nicht  wie  sie  dachten,  das  nannten  sie  Un- 
abhängigkeit und  Freiheit". 

Und  Kenan  nennt  das  Unabhängigkeit  und 
Freiheit  in  der  Kritik,  wenn  er  die  Apostelgeschichte 
erst  ausdrücklich  von  einem  Autor  herrühren  lässt, 
der  durch  seine  Gemüthsverfassung  „der  in  der  Welt 
am  wenigsten  Befähigte  war",  „die  Dinge,  wie  sie 
stattgefunden  haben,  darzustellen",  für  den  ,,die  histo- 
rische Treue  eine  gleichgiltige  Sache,  die  Erbauung 
Alles  ist"  3),  dem  judäische  Verhältnisse  ganz  unbekannt 
waren,  der  fern  von  Zeit  und  Ort  der  geschichtlichen 
Ereignisse  für  „Leute  schreibt,  die  mit  der  Geographie 
des  Landes  schlecht  vertraut  waren,  die  sich  nicht 
bekümmerten,  weder  um  eine  gründliche  rabbinische 
Wissenschaft,  noch  um  hebräische  Namen"-^),  und 
wenn  er  dann    nach  einer  solchen  Anschauung  über 


1)  Joseplms,  Antiq.  XYIII..  5,  1.  3. 

2)  Vgl.  Apostelgeschichte  12.  3;  24,  27;  25,  9. 

3)  Eerican,  „Die  Apostel'-,  deutsche  Ausgabe,  S.  21  unten. 

4)  Derselbe,  daselbst,  S.  16  ff. 


80 


das  Buch,  die  Ereignisse  auf  Grund  desselben  und 
wie  der  Leser  aus  den  Citaten  schon  gemerkt  hat,  nur 
auf  Grund  desselben  —  nur  noch  mit  erhöhteren 
Farben  als  das  Buch  selbst  aufträgt,  schildert,  die 
kritischen  Schwierigkeiten  durch  gesuchte  Geschichts- 
consti-uctionen  glättet,  und  einen  wuthschnaubenden 
Paulus  und  ein  wuthschnaubendes  Judentham  malt, 
vor  denen  uns  grauen  könnte,  wenn  uns  nicht  der 
Gedanke  beruliigte,  dass  es  ein  Renan'sches  Phantasie- 
bild und  nicht  ein  nach  der  Natur  gezeichnetes  ist. 

Da  jede  Spur  einer  solchen  Verfolgung  in  den 
jüdischen  Quellen  fehlt,  während  doch  so  zahlreiche 
Spuren  arger  Verstimmung  gegen  die  Minäer  im 
zweiten  Jahrhundert  iu  den  rabbinischen  Quellen  an- 
zutreffen, liegt  es  da  nicht  viel  näher  und  ist  es  dem 
kritischen  Verstände  nicht  angemessener,  die  Sache 
sich  vielmehr  folgendermaassen  vorstellig  zu  machen? 

Die  Reise  des  Paulus  nach  Damascus,  seine  Be- 
kehrung auf  dieser  Reise  ist  das  geschichtlich  und 
traditionell  Gegebene.  Das  Erbauliche  dieser  Bekehrung 
aber  erhöht  sich  am  Gegensatze,  erhöht  sich,  wenn  man 
Paulus  gerade  in  der  Stunde  sich  bekehren  lässt,  wo 
er  auszieht,  das  Christenthum  mit  feindlichem  Schlage 
zu  treffen. 

Warum  hat  Renan  eigentlich  die  Apostel- 
geschichte so  scharf  kritisirt,  wenn  seine  kritischen 
Bedenken  absolut  irrelevant  für  seine  Darstellung  sind? 


81 


Aber  die  vier  Hauptbriefe  des  Paulus,  die  doch 
immerhin  eine  Stimmung  der  Juden  jener  Zeit  re- 
flectiren,  wie  sie  den  gangbaren  Yorstellungen  ent- 
spricht? Ich  habe  nicht  die  Süffisance,  in  dieser 
Frage  ein  entscheidendes  Wort  mitzureden,  habe  aber 
schon  meine  Eathlosigkeit,  das  Yorhandensein  der 
Briefe  im  ersten  Jahrhundert  mit  der  totalen  Ignori- 
rung  so  glänzender  Producte  des  christlichen  Geistes 
bis  in  die  Mitte  des  zweiten  Jahrhunderts  mir  vor- 
stellig zumachen,  im  Früheren  i)  ausgesprochen.  Herr 
Professor  A.  D.  Lomann,  dessen  „paulinische  Quästio- 
nen"  in  holländischer  Sprache  durch  seine  Güte  mir 
übermittelt  worden  sind,  hat  aber  die  Frage  nach  der 
Authentie  dieser  Briefe  in  einer  Weise  aufgenommen, 
die  es  unmöglich  macht,  die  Sache  einfach  auf  ihrem 
alten  Stand  zu  belassen.  So  lange  blos  Bruno  Bauer 
sprach,  hat  das  gerechte  Misstrauen  gegen  den  Autor 
auch  dem  Beachten swerthen  in  seinen  Aufstellungen 
die  Aufmerksamkeit  entzogen.  In  Lomann  redet  zu 
uns  die  lauterste  Liebe  zur  Wahrheit,  und  ich  meine, 
dass  man  auf  diese  Stimme  und  auf  die  gewichtigen 
Gründe,  die  sie  vorbringt,  wird  hören  müssen.  Mich 
Avenigstens  hat  sie  vollständig  überzeugt,  dass  die 
Kritik  die  Briefe  Pauli  und  das  Evangrelium  Johannis, 


1)  „Blicke  in  die  Rehgionsgeschicbte  zu  Anfang  des  zweiten 
Christi.  Jahrhunderts-'.  I.  Bd.,  S.  27  u.  28. 

6 


82 


was  das  argumentum    e  süentio  betrifft,    mit  zweierlei 
Maass  gemessen  hati). 

Vielmehr  wie  die  Apokalypse  uns  gewiss  macht, 
dass  das  Band  ZAYischen  Juden  und  Christen  um's 
Jahr  69  so  wenig  zerrissen  ist,  dass  dem  Apokalyptiker 
eine  Trennung  vom  Judenthum  gar  nicht  in  den  Sinn 
kommt,  so  hat  der  Scharfsinn  Tolkmar's  nach  Fixi- 
rung  der  Esra-Prophetie  auf  97  uns  auch  für  diesen 
Zeitpunkt  darüber  belehrt,  wie  nahe  verwandt  der 
Messiasgläubige  Jude  dem  Christusgläubigen  auch 
noch  jener  Tage  war.  Was  er  dabei  von  ,,rohem 
Kabbinismus"  sagt,  ist  eine  gangbare  Redewendung, 
die  sicherlich  für  jene  Zeiten  derHillel,  der  Gamaliel, 
der  Simon  ben  Gamaliel  und  der  Jochanan  ben  Saccai 
nicht  passt.  Im  Uebrigen  sind  seine  Worte  überaus 
belehrend-):  ,,Flavius  Clemens  wurde  unter  dem  dritten 
Haupte  der  Verruchtheit  hingerichtet,  wc  aO-eo;  xal 
wyi)J^cov  si;  Ta  'loooaiv.a  sO-r.  d.  h.  er  war  Christ,  aber 


1)  Eine  Unäclit-Erklärung  der  Briefe  PauU  von  ketzerischer 
Seite  kommt  auch  im  zweiten  Jahrhundeii;  vor.  Eusebius  sagt 
von  den  SeveriaDern,  dass  sie  Gesetz.  Propheten  und  Evangelien 
annehmen,  dagegen  die  Briefe  des  Paulus  für  unächt  erklären, 
ebenso  die  Apostelgeschichte  nicht  annehmen.  Die  Worte:  ,/j.^t- 
•zohz'.-'i  a-JToü  zäc,  l-izzoXac,''  heissen  doch  wohl  technisch,  nicht 
dass  sie  sie  verwerfen,  weil  sie  ihnen  Eicht  genehm,  sondern 
dass  sie  sie  als  unecht  bezeichnen  (Eusebius  li.  e.  IV.,  29j. 

2)  Yolkmar,  ..Handbuch  der  Einleitung    in  die  Apokryphen, 
zweite  Abtheilung.  Das  vierte  Buch  Esra",  Tübingen  1863,  S.  406. 


83 


der  Sitte  nach  einem  Juden  ähnlich,  also  Sabbath  hal- 
tend, Unreines  verschmähend.  Und  doch  war  dieser 
Presbyter  der  römischen  Christusgemeinde  aus  dem 
kaiserlichen  Geschlecht,  bei  allem  diesem  jüdischen 
Schein,  Allem  zufolge  (Phil.  4,  2  und  Ep.  Clem.)  von 
Haus  aus  ein  Pauliner  (vgl.  m.  Abhandlung  über 
Clemens  von  Kom,  Theol.  Jahrb.  1856).  Also  selbst 
der  Pauliner  stand  zu  Rom  dem  Synagogen- Verband 
so  nahe,  dass  das  Judenthum  den  Blutzeugen  Gottes, 
Clemens,  als  Einen  der  Ihrigen  noch  später  ansah 
(vgl.  das.).  Durch  Esra  erfahren  wir  das  ergänzende 
^^ähere. 

Auch  der  den  ,Wahn'  der  Kreuzeshoffnung  ver- 
werfende Chasidäer  war  mit  den  Jesu-Messianern  nicht 
blos  nächst  vereinigt,  sondern  diesen  unverwerflich 
Reinen  und  Treuen  selbst  nahe  befreundet,  gleich 
ihnen  entgegengesetzt  dem  feigen,  schamlosen  Saddu- 
cäismus,  wie  dem  zelotischen  Extrem.  Daher  klingt 
so  viel  Messianisches  durch  ihn  wieder,  daher  nicht • 
ein  Wort  der  Anklage  gegen  den  Theil  des  grossen 
jüdischen  Yerbandes,  mit  dem  er  eine  geistige  Mitte 
bildete  gegen  rohen  Rabbinismus.  wie  gegen  Saddu- 
cäismus  und  Zelotismus". 

Bei  einem  solchen  Stande  der  Dinge  wird  man 
auch  die  Nachricht  des  Eusebius  leicht  auf  ihren 
wahren  Werth  zurückführen,  als  habe  eine  Trennung 
der  Christgläubigen  von  den  übrigen  Juden  in  Jeru- 


84 


salem  kurz  vor  der  Zerstörung  Jerusalems  stattgehabt 
Erstere  sollen  nämlich  nach  göttlicher  Weisung  die 
Stadt  vor  dem  Kriege  verlassen  haben  und  nach  Pella 
in  Peräa  gezogen  sein^).  Allein  diese  Xachricht  un- 
glaubwürdig zu  finden,  braucht  man  nicht  allzuviel 
zu  suchen.  Eusebius  widerspricht  sich,  wie  häufige 
selbst,  indem  er  trotz  seiner  Meldung,  dass  das  ge- 
sammte  Judäa-).  als  Titus  Jerusalem  eroberte,  von 
Christgläubigen  entblösst  war,  später  aus  schriftlichen 
Urkunden  die  in  Jerusalem  bis  zur  Zeit  Hadriau's 
an  der  Spitze  der  christlichen  Gemeinde  stehenden 
Bischöfe,  fünfzehn  an  der  Zahl,  mit  Xamen  nennt 
und  von  ihnen  sagt,  dass  sie  alle  Bischöfe  aus  der 
Beschneidung  gewesen  seien  S).  Die  Wanderung  nach 
Pella  ist  antedatirt.  um  in  Eusebianischer  Weise  die 
Geschichte  der  Zerstörung  Jerusalems  dadurch  erbau- 
licher zu  machen,  dass  er  zeigt,  wie  Jerusalem  der 
heiligen  Männer  entblösst  gewesen  wäre,   deren  Yer- 


1)  Eusebius,  lu  e.  III.,  cap.  V. 

-)  Ibid.:  h  j]  "ücüv  tiq  Xp'.^töv  -t-'.-Zc.'r/.ö-zoyi  ä-'o  ~'\z  hzou- 
-a/.r|i,  u=TtüV.'.G,uiviov ,  cu^av  TiavTsXüig  l-i)Sko'.-o-L<y>  (y.-,'-"'''  ävopdiv 
aürfjV    TS    xr^-^f   lo'j5aicuv    ßa-'./.'.v.r;;    ;j.Y,Tpo-oX'.v    y.r/X    --jfx-a-av    x-qv 

'lo'joalav  YV  "''••  "•  '"• 

3)  Ibid.  IV.,  c.  V.  Er  sagt  ausdräckUch ,  dass  damals  die 
Kirche  von  Jerusalem  nur  aas  gläubigen  Judeu  bestanden  und 
dass  bis  zum  Hadrianisclien  Kriege  von  den  Aposteln  ab  in 
ununterbrochener  Reihenfolge  fünfzehn  Bischöfe  aus  der  Be- 
schneidung der  dortigen  Kirche  vorgestanden  hätten. 


85 


dienst  Gott  zur  Eettmig  der  Stadt  bestimmt  hätte. 
Josephus,  der  Pella  ja  sehr  gut  kennt  und  auch  im 
jüdischen  Kriege  seiner  erwähnt,  weiss  nichts  von 
dem  durch  Eusebius  Berichteten.  Im  Gegentheil  er- 
giebt  sich  aus  Josephus,  dass  man  selbst  heidnisch 
geborenen  Christen  Sympathie  mit  dem  jüdischen 
Aufstande  zutraute.  Denn  die  Judaizontes,  w^elchen 
man  nicht  traute,  waren  sicherlich  christliche  Pro  se- 
hnten i).  Selbst  die  Samaritaner,  sonst  ja  bittere  Feinde 
der  Juden,  standen  in  diesem  Yerzweiflungskampfe 
auf  Seiten  derselben.  AYie  erst  die  Christen,  wo  es  sich 
um  einen  Krieg  gegen  IN'ero  handelte,  der  eben  erst 
in  so  furchtbarer  Weise  gegen  sie  gewüthet  hatte  und 
gegen  den  sie  ihre  Gesinnung  in  einem  Documente 
niedergelegt,  das  überzeugender  ist  als  die  völlig  un- 
gedeckte [N'achricht  des  Eusebius,  in  der  Apokalypse. 
Dass  übrigens  der  national-patriotische  Feuereifer  kein 
Hinderniss  war,  in  Jesus  den  Messias  zu  sehen,  be- 
weist der  eine  Jüns^er  mit  dem  stehenden  Beinamen  : 
der  Zelot -^). 

Ganz  anders  freilich  stellt  sich  die  Frage,  ob 
nicht  der  schreckliche  Ausgang  des  jüdischen  Krieges, 
das  Schicksal  Jerusalems  und  vor  Allem  des  Tempels 


1)  B.  J.  II.,  18,2:  ä-öT/.tw.':d-r/.'.  yjsj  -zohc.  'lo-JoaloD-:  Soxoöv- 

2)  Matth.  10.  4;  Marc.  3,  18:  Luc' 6,  15;  Act.  1,  13. 


86 


den  Anfang  der  Lostrennung  des  Christenthums  vom 
Judenthum  bildete.  Diese  Frage  ist  zu  bejahen.  Der 
Untergang  des  Tempels  machte  einen  grossen  Theil 
des  jüdischen  Gesetzes,  der  an  den  Bestand  des  Tem- 
pels geknüpft  ^'ar.  unausführbar.  Er  gab  damit  der 
Partei,  welche  die  Aufnahme  in  die  christliche  Ge- 
meinschaft für  die  Heiden  nicht  an  die  Erfüllung^ 
des  ganzen  mosaischen  Gesetzes,  sondern  nur  einiger 
wenigerTorschriften  geknüpft  wissen  wollte,  dasUeber- 
gewicht.  Dazu  kam,  dass  durch  die  nach  der  Erobe- 
rung auferlegte  Steuer,  den  sogenannten  fiscus  Ju- 
daicus,  welche  die  habgierigen  Flavier  mit  bekanntem 
Cynismusi)  einforderten,  auf  das  Xichtbeschnittensein 
gleichsam  eine  Prämie  gesetzt  wurde.  Ja,  es  kam 
die  Zeit,  wo  man  auf  Propaganda  unter  den  Heiden ^ 
wenn  man  noch  länger  auf  Beschneidung  bestand, 
einfach  hätte  verzichten  müssen,  da  Hadrian  diesen  Act 
auch  den  Juden  verbot.  Antonin  sie  diesen  zwar  erlaubte, 
bei  allen  Anderen  aber  nicht  als  Juden  Geborenen 
sie   wie   durch   das   Gesetz    verpönte  Castration^)   be- 


ij  Graetz,  „Geschichte  der  Juden-',  IV.,  2.  Aull..  S.  118. 

-)  Das  Gesetz  gegen  Castration  wird  von  Sueton  auf  Do- 
mitian  zmückgeführt(Vn.j.  schärfer  ab  er  tritt  es  dann  unter  Hadrian 
auf.  endlich  heisst  es  auch  von  Antonin  Big.  48,  8,  4,  2:  Cir- 
ciuncidere  Judaeis  filios  suos  tantum  rescripto  divi  Pii  per- 
mittitiir:  in  nun  ejiisdem  reJigionis  rpii  Jioc  fecerit,  castrantis 
poena  irrogatiir.     Vgl.  auch  Graet-s  ?.  /.  S.  185. 


si 

handelte.  Doch  führt  uns  das  schon  in  die  spätere 
Zeit  hinein,  während  der  Anfang  der  Entfremdung 
bereits  in  den  Zeiten  Trajan's  deutlich  wahrzunehmen. 
Die  Entfremdung  hatte  zunächst  nicht  dogmatische 
Differenzen  im  engeren  Sinne  als  Ursache,  sondern 
den  Streit  um  die  Yerbindlichkeit  oder  Xichtverbind- 
lichkeit  des  Gesetzes  nach  Erscheinen  des  3Iessias. 
Man  kann  die  Sache  nicht  schärfer  erkennen  nnd 
nicht  klarer  ausdrücken,  als  Baur  in  seiner  Dogmen- 
geschichte es  erkennt  und  lehrt.  Er  sagt:  „In  dem 
Glauben  an  den  Messias  hatte  das  Christenthum  noch 
ganz  seine  Wurzel  im  Juden thum,  er  erschien  in  ihm 
selbst  nur  als  ein  aus  ihm  hervorgegangener  Zweig, 
als  eine  blosse  Form  des  Judenthums,  der  Unterschied 
war  nur  die  Person  des  Messias,  sofern  die  Christen 
Jesuni  füi-  den  wirklich  erschienenen  Messias  hielten. 
Aber  auch  dieser  Unterschied  glich  sich  da- 
durch wieder  aus,  dass  auch  die  Christen  den 
wirklichen  Genuss  der  messianischen  Seg- 
nungen nicht  von  der  ersten  Erscheinung  des 
Messias,  sondern  erst  von  der  zweiten,  der 
in  der  nächsten  Zeit  bevorstehenden  "Wieder- 
kunft Jesu  erwarteten.  Auch  diese  Erwartung 
zeigte,  wie  eng  damals  noch  das  Christen- 
thum mit  dem  Judenthum  zusammengewachsen 
war.  Die  Realität  und  Gewdssheit  des  messianischen 
Heils  Avurde  auch  so  wieder  nicht  in  die  Gegenwart, 


88 


sondern  in  die  Zukunft  gesetzt Der  Wende- 
punkt, in  welchem  in  dem  religiösen  ßewusstsein  des 
Apostels  (Paulus)  das  Christenthum  von  dem  Juden- 
thum  sich  trennte,  war  die  veränderte  Ansicht  von 
der  G-iltigkeit  des  Gesetzes.  So  lange  das  G-esetz  für 
die  Christen  dasselbe  war  wie  für  die  Juden,  war 
das  Christenthum  selbst  nur  Judenthum,  sollte  es 
aber  etwas  anderes  als  das  Judenthum  sein,  so  musste 
es  sich  vor  Allem  zum  Gesetz  anders  verhalten  als 
das  Judenthum;  in  dieses  freiere  Verhältniss  zum 
Gesetze  konnte  es  sich  nur  dann  setzen,  wenn  es  ein 
vom  Gesetz  verschiedenes  und  ein  von  ihm  ganz  un- 
abhängiges Princip  des  Heils  in  sich  hatte;  dieses 
Princip  konnte  nur  der  Tod  Jesu  sein"f). 

Wir  haben  diesen  zutreffenden  Worten  nur  das 
Eine  hinzuzufügen.  Wie  viel  von  der  charakteristischen 
Wendung,  welche  allmälig  auf  eine  Trennung  des 
Christenthums  vom  Judenthum  hinauslief,  bereits  auf 
den  Apostel  Paulus  zurückzuführen  und  wie  viel  erst 
auf  Rechnung  der  WeiterentwickeJung  seiner  Gedanken 
in  späterer  Zeit  zu  setzen  ist,  steht  hier  nicht  in 
Präge ,  da  das  mit  der  im  Früheren  schon  berührten 
Frage  zusammenhängt,  ob  die  in  den  Briefen,  die  den 
Namen  des  Apostels  tragen,  bereits  vollständig  ent- 
wickelte christliche  Theologie  gerade  um  dieser  ihrer 


ij  Baur,  .,Dograengeschiclite".  I.  Bd..  1.  Abth..   S.  141-142. 


89 


Yorgeschritteüen  Entwickelung  willen  schon  dem  ersten 
Jahrhundert  angehören  kann.  Aber  sicher  ist  es  in 
jedem  Falle,  dass  geschichtlich  und  in  der  Praxis 
erkennbar  diese  Trennung  erst  nach  der  Zerstörung 
des  Tempels  unter  den  Flaviern  sich  vorbereitet  und 
zu  den  Zeiten  des  Trajan  bereits  weit  genug  gediehen 
ist,  um  zur  Polemik  zu  führen. 

Was  diese  Polemik  zur  Zeit  Trajan's  zu  einer 
erbitterten  machte,  habe  ich  im  ersten  Bändchen  dieser 
Schrift -i)  bereits  zu  zeigen  versucht. 

Die  beiden  Bestrebungen,  die  eigentlich  zusammen- 
fallen: l)  die  Polemik  von  Seiten  der  Christgläubigen 
gegen  die  Verbindlichkeit  des  mosaischen  Gesetzes; 
2)  ihre  Anstrengungen  gegen  die  Wiederaufrichtung 
des  Tempels  waren  damals  mit  einem  Erfolg  gekrönt 
gewesen,  der  die  in  Palästina  leitenden  jüdischen 
Lehrer  zu  abwehrenden  Maassregeln  veranlasste,  die 
ich  schon  geschildert. 

Aber  es  giebt  ein  so  charakteristisches  Merkmal, 
dass  man  damals  erst  das  Tafeltuch  durchschnitt, 
dass  ich  darauf  aufmerksam  zu  machen  nicht  ver- 
fehlen darf. 

Bekanntlich  kam  damals  die  Bezeichnung  „Minim" 
für  den  Theil  der  Christgläubigen  auf,  die  man  als 
Gegner    des   jüdischen    Gesetzes    wie    der   jüdischen 


1)  „Blicke  in  die  Eeligionsgescliichte'",  I..  von  S.  14-41, 


90 


^Nationalität  betrachtete.  Jochanan  ben  Saccai  kennt 
den  [N'amen  noch  nicht,  alle  Spuren  führen  auf  Janinia 
zur  Zeit  Gamaliels  IL  und  Josua's  Sohn  des  Cha- 
naniah  (Ende  der  Kegierung  Trajan's).  Aber  dieser 
Name  ,,Minim''  ist  noch  tou  Xiemanden^)  befiiedigend 
erklärt  worden,  Aveil  man  vergass,  dass  solche  Xamen 
nicht  blos  mit  Hilfe  der  Linguistik,  sondern  zugleich 
aus  dem  Leben  und  der  gesetzlichen  Praxis  (Halachah) 
heraus  erklärt  werden  müssen. 

Wie  nannten  sich  denn  die  ursprünglichen 
Christen?  Man  sehe  sich  das  Xeue  Testament  darauf 
hin  an  und  wird  linden,  dass  der  Xame  „Gläubige" 
(Ti'.^iol,  hebräisch  Maaminim)  der  bei  weitem  häufigste 
ist.  Wie  natürlich!  Das  Christenthum  war  Botschaft, 
Evangelium,  die  Botschaft,  dass  der  von  den  Propheten 
verheissene  Messias  erschienen  sei.  Wer  dieser  Bot- 
schaft Glauben  schenkte,  war  -laio?  oder  wie  man  ja  in 
Palästina  sagte:  ,,Maamin,''  anfangs  ein  um  so  treuerer 
Verehrer  des  mosaischen  Gesetzes,  später  in  dem 
„Glauben"  ein  dem  „Gesetze"  entgegenstehendes  Heils- 
princip    betonend-),     ^lit   dem  Augenblicke  nun,    wo 


1)  Vergleiche  dagegen  die  Xachträge. 

-)  Es  ist  eigentlich  überflüssig,  die  wesenhafte  und  darum 
auch  namengebende  Bedeutung  der  Tdcv.c,  (n:*.;2K)  im  Neuen  Testa- 
mente nachzuweisen.  Wir  dürfen  ja  nui'  herausgreifen.  Man 
wird  es  vielleicht  auch  bequem  finden,  wenn  ick  einige  Stellen 
gleich  aus  der  trefflichen  L'ebersetzung  von  Delitzsch  hersetze: 
Schluss    des    Evangehum   Marc.  IG,  16—18:    N',n    bz'^::    i'^SSn 


91 

man  in  den  Maaminim  nicht  mehr  Bundesgenossen, 
sondern  Gegner,  Störer  des  Tempelbaues  und  Anti- 
nomisten  sah,  wandte  man  auf  sie  die  Halachah  an, 
dass  man  den  glorificirenden  Namen  etwas  abänderte. 
Wenn  man  es  auch  nicht  so  weit  trieb,  dass  man 
ihnen,  wie  den  Dingen  in  Palästina,  die  sich  auf 
Götzendienst  bezogen i),  einen  Schmähnamen  gab,  so 
lag  in  der  Abänderung  der  Maaminim  in  3Iinim  schon 
der  Ausdruck  der  Trennung.  Dasselbe  Verfahren  liegt 
dem  Ausdruck  „be  Abidan"  für  Yersammlungshaus 
der  Ebioniten  und  „be  Xazrefe^'  für  Versammlungshaus 
der  „Nazaräer-^  und  ebenso  der  bekannten  unfreund- 
lichen Bezeichnung  des  Evangeliums  zu  Grunde-^). 


Ferner  Lucas  4,  50:  -^b-nU^ITin  insiöK.  Act  2,  44:  D^rDKön  ^31 
in"  nnxnn;  ibid.  4,  32:  nnx  nb  crh  rn  D-röxan  bnp%^Hier 
tritt  der  Name  geradezu  techniscli  auf.  Vgl.  damit  Act.  5,  14; 
6,  7;  10,  45;  11,  17;  15,  5. 

1)  Die  Halachah,  von  der  ich  rede,  findet  sich  Tosephta, 
Aboda  Sarah  6,  4:  'K::b  imK  r:2n  vv  nzzb  M^-ip:^  n-.tt^pXS  bD 
nms  'rrp  b^  rv  zh::  :^  nniK  inp  ^bii  ;:3  nmK  inp^  ^« 
X^b:  nn',K  in-.p  X-;i;  F'P  l'«»  J^r.  Talmud  Aboda  Sarah  S.  43a, 
Sabbath  S.  11,  Col.  4;  Talmud  babh,  Aboda  Sarah  S.  46  a. 

2)  Dass  iT-^  '3  ^^^^^^  persisch  ist,  wie  Rappoport  meint, 
hat  schon  Levy  s.  v.  gut  zurückgewiesen,  da  Josua  ben  Chana- 
niah.  der  mitPersien  nichts  zu  thun  hat,  bereits  mit  dem  Worte 
in  Verbindung  gebracht  wird.  Er  selbst  aber  hätte,  da  er  einmal 
•212:3  ^n  richtig  als  „Nazaräerhaus"  bestimmt,  sich  von  der  einen 
s'telle,  die  zurE.klärung  von  IT^X  Z  als  „Haus  der  Ebioniten" 
nicht  zu  passen  scheint,    nicht  irre  machen  lassen  soUen.     Die 


92 


Es    ist    das    verwundete    Gemüth     der    Männer, 
■welche  es  nicht   ertrag-en  konnten,    dass  Solche,    die 


BeziehiiDg  auf  die  bekannten  christlichen  Secten  ist  Sabbath  116  a 
durch  die  ganze  Umgebung  so  unzweifelhaft,  ja  es  spricht  sich 
in  den  ^'orten:  '£-1:::  "^zh  ]2'Z'  b2^  eine  so  gute  Kenntniss  des 
"Wesens  dieser  Secten  aus.  dass  über  die  Sache  nicht  viel  zu 
reden.  Die  Ebioniten  hielten  nämlich,  die  Beobachtung  des  Cere- 
monialgesetzes  für  unbedingt  zur  Seligkeit  nothwendig  und 
Christus  zwar  für  den  Messias,  aber  nur  füi'  einen  mit  höheren 
Kräften  ausgestatteten  Menschen.  Die  Nazaräer  dagegen  hielten 
sich  persönlich  zwar  an  das  Ceremonialgesetz  gebunden,  nicht 
aber  die  Heidenchristen,  Ebenso  glaubten  sie  an  die  Gottheit 
Jesu  und  emancipirten  sich  von  vielen  rabbinischen  Satzungen. 
Es  ist  darum  nur  natürlich,  dass  ein  jüdischer  Lehrer  gar  keinen 
Grund  sah.  die  Disputationen  der  Ebioniten  zu  meiden.  AVas  die 
beiden  scheinbar  widerstrebenden  Stellen  (Sabbath  152a  und 
Aboda  Sarah  17  b)  angeht,  so  ist  voä  der  ersten  zu  sagen,  dass 
sie  überhaupt  nicht  widerstrebt.  AVcnn  Hadrian  den  hochbetagten 
Josua  ^en  Chananiah  fragt,  warum  er  nicht  die  Versammlungen 
der  Ebioniten  besuche,  so  ist  das  von  diesem  sich  um  Alles 
kümmernden  Kaiser  (vgl.  seinen  Brief  Flav.  Vopiscus  in  vita 
Saturnini.  c.  8)  eine  Xeckerei,  als  fehle  dem  Rabbi  der  Muth, 
sich  mit  den  Ebioniten  in  Discussionen  einzulassen.  Und  die 
Entschuldigung  des  Eabhi  mit  seinem  hohen  Alter  ist  ganz 
sachgemäss.  Die  zweite  Stelle  ist  schon  durch  die  kleinlichen 
Wunder,  die  erzählt  werden  und  dadurch,  dass  sie  die  Entschul- 
digung mit  dem  Alter,  die  bei  Josua  historisch  sein  kann,  nur 
"wie  ein  Echo  erscheinen  lässt,  als  ungenau  und  unzuverlässig 
gekennzeichnet.  Die  Ausdrücke  ]T2K  '2  und  •S-.ä;  "2  sind  auch  im 
, .Literaturblatt  des  Orient"  18-15,  Xo.  I,  und  im  „Hechaluz'\ 
Jahrgang  1853.  behandelt.  Die  Notiz  im  „Hechalui"  von  L.  Low, 
S.  100.  enthält  das  Eichtige.  —  Bei  der  Gelegenheit  sei  noch 
ein  ^'oit  über  das  Gebet  gegen  die  Minäer,  deren  ich  in  ..Bücke 


93 


sie  sich  zugerechnet  hatten,  nicht  mit  ihnen  trauerten 
um  die  Trümmer  Jerusalems,  dem  diese  Namen  ent- 
sprangen. 

in  die  Eeligionsgeschichte*-,  I.,  S.  35  Erwähnung  gethan,  hier 
nachgetragen.  Im  jerusalemischen  Talmud  Taanit  II.,  2.  S.  65, 
Col.  3  kommt  folgende  Stelle  vor:  „R.  Lewi  sagt:  Die  üblichen 
achtzehn  Benedictionen  entsprechen  der  achtzehnmal  wieder- 
holten Nennung  des  Gottesnamens  in  dem  Psalm:  , Spendet  dem 
Ewigen,  Ihr  Söhne  der  Starken  u.  s.  w.'  (Ps.  29).  R.  Chonah 
sagt:  Macht  Dir  Jemand  den  Einwurf,  es  komme  der  Name 
Gottes  ja  nur  siebenzehnmal  in  dem  Psalm  vor,  so  antworte  ihm: 
Der  Segensspruch,  in  welchem  gegen  die  Minäer  gebetet  wird, 
ist  erst  von  den  Weisen  in  Jamnia  festgestellt  worden.  Da  fragte 
Elieser  aus  dem  Hause  R.  Jose's  vor  R.  Jose:  Es  steht  ja  (im 
Psalm):  ,üer  GoH  der  Ehre  donnert'  (soll  heissen,  also  waren 
ja  von  vornherein  achtzehn  Gottesnamen  im  Psalm  enthalten, 
nämlich  siebenzehnmal  m.T  und  einmal  in^n  ^K)'?  Darauf  wird 
geantwortet:  Nun,  es  heisst  ja  auch  in  einer  Baraitha  (Tosephta 
Berachoth  III.,  ed.  Zuckermandel,  S.  8;  ich  corrigire  gleich  die 
Gemara  nach  der  Tosephta  und  die  Tosephta  nach  der  Gemara, 
weil  Jeder,  der  sich  beide  Stellen  ansieh*-,  leicht  erkennt,  wo  die 
eine  und  wo  die  andere  corrumpirt  ist):  Man  schliesst  die  Bene- 
diction  gegen  die  Minim  ein  in  die  gegen  die  Sünder,  das  Gebet  für 
Proselyten  in  das  für  die  Gelehrten,  das  Gebet  für  die  Davidische 
Herrschaft  in  das  Gebet  für  Jerusalem  (i'tr'ns  hz'Z  DTX:  h'ü  't^'^ID 
DbtTT-,^  bv'2  -in  h'^*i  D';pT  bir^n  d^j  b'^ri  []-i;i:^is  b"i\)r  Vergl. 
auch  j.  Berachoth,  S.  3,  Col.  3.  Die  Tosephtastelle  und  die  er- 
läuternden Gcmarastellen  sind  interessant  und  charakteristisch, 
erhellen  zugleich  eine  Dunkelheit,  die  der  babylonische  Talmud 
lässt.  Daselbst  nämlich  (Berachoth  33  a)  finden  sich  wider- 
sprechende Xotizen;  nach  der  einen  sind  die  achtzehn  Benedic- 
tionen alt,  weit  älter  als  Gamaliel  IL,  nach  der  anderen  werden  sie 
von  einem  Simon  Hapikkoli  erst  in  Gegenwart  GamalieFs  IL    in 


94 


Aus  der  Entstehiiug  des  Minim-Xameiis  zur  Zeit 
Gamaliers  uud  Josua  ben  Chananiah's  (Trajau)  geht 
zugleich  hervor,  was  man  ja  auch  sonst  schon  weiss, 
dass  der  Xame  „Christianer"'  in  der  Apostelgeschichte 
antedatirt  ist.  Ein  Gleiches  gilt  auch  von  der  bekannten 
Stelle  im  Tacitus,  deren  wir  im  Eingange  unserer 
Schrift  fluchtig  Erwähnung  gethaii,  deren  genaue  Be- 
trachtung aber  uns  hier  um  so  mehr  obliegt,  als  in 
neuerer  Zeit  die  Yerkennung  des  Verhältnisses,  das 
im  ersten  Jahrhundert  zwischen  Judenthum  und  Chri- 
stenthum  obwaltete,  bei  Stahr  und  Eenan  zu  Beschul- 
digungen geführt  hat,  von  denen  die  alten  Quellen 
nichts  \vissen. 

Wenn  wir  in  Anlass  der  Betrachtung  dieser  viel- 
fach behandelten  Stelle  im  Tacitus  zugleich  Gelegenheit 

OidniiDg  gebracht.  Der  Tahniid  weiss  sich  diesen  sich  wider- 
sprechenden Notizen  gegenüber  keinen  anderen  Rath,  als  dahin  zu 
entscheiden,  die  achtzehn  Segenspriiclie  wären  eingerichtet  ge- 
wesen, seien  dann  vergessen  und  zur  Zeit  Gamahei's  wieder  re- 
stituirt  worden,  DHC".  "HTm  ClHDr»  Aus  unseren  Stellen  aber 
ersehen  wir  Folgendes:  Es  ist  ganz  richtig,  dass  man  schon 
längst  das  Hauptgebet  in  achtzehn  Benedictionen  verrichtete.  In 
der  Zeit  Gamaliels  aber  (Trajan)  schob  man  in  die  drei  dazu 
geeigneten  Benedictionen  ein.  was  das  Zeitbediirfniss  erheischte, 
nämlich,  in  die  erste  (der  vollen  Zählung  nach  zwölfte)  eiuAVort 
gegen  die  Minäer,  in  die  zweite  (dreizehnte)  umgekehrt  ein  Wort 
lür  die  wahren  Proselyten  (plSn  ^l':).  in  die  dritte  (vierzehnte) 
zum  Zeichen,  dass  man  an  der  alten  Messias-Hoffnung  festhalte, 
ein  "S\'ort  für  ..David". 


95 


nehmen ,  des  Tacitiis  und  seiner  literarischen  Vor- 
gänger in  Rom  Aeusserungen  über  Juden  und  Juden- 
thum  unter  Beleuchtung  zu  stellen,  so  wird  hoffentlich 
Niemand  darin  ein  liors  d'oeuvre  erblicken,  sondern 
den  Nutzen  für  unseren  Hauptgegenstand  leicht  er- 
kennen i). 


1)  Leider  konnte  ich  das  Programm  von  Lipsius,  ..über 
den  Ursprung  und  ältesten  Gebrauch  des  Christennamens,  1873", 
nicht  erlangen,  ersehe  aber  aus  Anführungen,  dass  er  sich  für 
die  letzten  Decennien  des  ersten  Jahrhunderts  entscheidet,  jeden- 
falls nicht  für  die  Historicität  des  Jahres  48,  das  sich  aus 
Act.  11,  26  ergeben  wikde. 

Stahr's  Arbeit,  auf  die  ich  hier  Rücksicht  nehme,  ist  in 
Westermann's  Monatsschrift,  September  1875,  enthalten.  Eine 
der  werthvGllsten  und  grtindlichsten  Arbeiten  über  die  Eegie- 
rungszeit  des  Nero  ist  das  AVerk:  ., Geschichte  der  römischen 
Kaiserzeit  unter  Nero"  von  Hennann  Schiller,  ^^orin  ich  diesem 
Gelehrten  nicht  beistimmen  kann,  wird  im  Verlaufe  erhellen. 


V.  Tacitus  über  die  Neronische  Christenverfol- 
gung.  —  Jüdisch -christliche  Dinge  in  römisch- 
heidnischer Beleuchtung. 


In  den  Annalen  des  Tacitus  wird  das  Christen- 
thum  und  auch  die  Person  Christi,  obwohl  nicht  der 
Eigenname  Jesus  —  Tacitus  hält  offenbar  Christus 
selbst  für  den  Eigennamen  i)  —  zum  ersten  und  ein- 
zigen Male  bei  dem  Bericht  über  die  jSTeronische  Ver- 
folgung erwähnt^).  Vergebens  suchen  wir  da,  wo  wir 
etwas  zu  erwarten  berechtigt  gewesen  wären,  nämlich 
in  des  Geschichtsschreibers  Darstellung  der  Eegierungs- 
zeit  des  Tiberius  eine  Xotiz  über  die  judäischen  Vor- 
gänge um  die  Zeit,  wo  Jesus  gelebt  und  gewirkt. 
Indess  ist  nicht  unbeachtet  zu  lassen,  dass  gerade  das 
fünfte  Buch  der  Annalen  nur  in  wenigen  Bruch- 
stücken uns  erhalten  ist.     Ob  in  diesen  Lücken  sich 


1)  Eenan,  ..Die  Apostel'*  (deutsch),  S.  255. 

2)  Ann.  XY.  44. 


97 


nicht  Manches  über  jucläische  Zustände  befunden 
haben  mag.  was  uns  ^yerthYollen  Aufschluss  von 
heidnischer  Seite  über  das  wichtige  Ereigniss  gebracht 
hätte,  wer  will  das  heute  sagen?  Sollte  es  zufällig 
sein,  dass  gerade  für  die  Jahre  29  bis  etwa  32  Tacitus 
als  Quelle  versiegt?  Es  ist  wahr,  dass  die  Worte,  mit 
denen  Tacitus  das  Christenthum  später  einführt,  so 
klingen,  als  habe  er  hier  zuerst  darüber  gesprochen, 
und  dass  sie  auch  nicht  gerade  eine  etwa  später 
nachbessernde  Hand  verrathen.  Aber  so  oft  uns  Lücken, 
namentlich  bei  Autoren,  die  das  erste  Jahrhundert 
behandeln,  begegnen,  müssen  wir  uns  erinnern,  dass 
die  Schriften  Zeiten  zu  passiren  hatten,  in  denen  man 
schon  darum  es  als  recht  und  billig  ansah,  weg- 
zulassen, was  nicht  zur  herrschenden  Vorstellung 
stimmte,  weil  man  es  eben  für  wahrheitswidrig  und 
schädlich  hielt. 

Die  Abfassung  der  Annalen  fällt  zwischen  115 
und  117,  also  in  eine  Zeit,  wo  die  römische  Obrigkeit 
bereits  angefangen  hatte,  Christen  und  Juden  gesetzlich 
zu  scheiden  und  zu  behandeln.  So  ist  es  denn  auch 
natürlich,  dass  Tacitus  die  beiden  Religionen  nicht 
mehr  verwechselt,  obwohl  er  den  judäischen  Ursprung 
des  Christenthums  gut  kennt.  Daraus  aber  den  Schluss 
niachen  zu  wollen,  dass  auch  schon  zu  Nero 's  Zeiten 
dieselbe  Klarheit  geherrscht  habe,  wäre  übereilt,  so 
sehr   auch  Tacitus   der   Erzählung  von   der  Christen- 

7 


98 


Verfolgung   unter  Xero    eine  Färbung  giebt,    die    zu 
dieser  falschen  AufPassung  leitet. 

Kein  heidnischer  Schriftsteller  des  ersten  Jahr- 
hunderts erwähnt  die  Christen,  nicht  die  Satiriker 
Juvenal  und  Persius,-  nicht  die  Poeten  Lucian  und 
Martial,  nicht  der  ältere  Plinius  in  seinem  so  gross 
angelegten  Werke,  nicht  Seneca.  Augustin  sucht  sich 
das  Schweigen  Seneca's  über  die  Christen  in  etwas 
seltsamer  Weise  zu  erklären,  ohne  zu  merken,  dass 
sie  eigentlich  mit  gemeint  sind,  vielleicht  gar  in  erster 
Linie  gemeint  sind,  wo  er  von  den  Juden  redet,  dass 
sein  Ingrimm  gegen  diese  gerade  ihrer  siegreichen 
Propaganda  gilt,  dass  er  nicht  sowohl  gegen  die  Eiten 
der  Juden  etwas  hat  —  ihn  konnte  z.  B.  ihre  Ent- 
haltsamkeit, die  den  Kömern  so  viel  Gelegenheit  zu 
wohlfeilen  Witzen  gab,  nicht  so  stören,  da  er  sie 
probeweise  auf  ein  Jahr  darin  sogar  übertraf  —  als 
vielmehr  gegen  die  grosse  Zahl  von  Kömern,  denen 
er  nachsagt,  dass  sie  gedankenlos  die  jüdischen  Kiten 
nachahmten,  ohne  ihre  Bedeutung  zu  kennen.  Augu- 
stinus Worte  lauten :  ,,ünter  anderen  abergläubischen 
Bräuchen  tadelt  er  (Seneca)  auch  die  Mysterien  der 
Juden  und  besonders  die  Sabbathe,  indem  er  behauptet, 
dass  sie  sich  damit  selbst  schädigten,  weil  sie  zufolge 
jenes  festgesetzten  je  siebenten  Tages  fast  den  siebenten 

Theil  ihrer  Zeit  durch  Müssiggang  verlören die 

Christen  ....  jedoch  wagte  er  nach  keiner  Seite  hin 


99 


zu  erwähnen,  um  sie  nicht  entweder  entgegen  den 
alten  Gewohnheiten  seines  Vaterlandes  zu  loben  oder 
vielleicht  entgegen  seinem  eigenen  Willen  zu  tadeln. 
"Wo  er  nun  aber  von  den  Juden  spricht,  sagt  er :  Da 
inzwischen  die  Lebensgewohnheit  dieses  verruchten 
Volkes  so  mächtig  geworden,  dass  sie  fast  durch  alle 
Länder  in  Aufnahme  gekommen,  haben  die  Besiegten 
den  Siegern  Gesetze  gegeben.  Jene  jedoch  kennen 
die  Ursachen  ihrer  Eiten,  aber  der  grössere  Theil  des 
Volkes  übt,  ohne  zu  wissen,  warum  er  es  übt''i). 

Angesichts  des  Ausdruckes,  den  nach  Augustin 
Seneca  in  seiner  patriotischen  Beklemmung  von  den 
Juden  gebraucht  hat,  ,,sceleratissma  gens'%  und  der 
bekannten  Aeusserungen  des  Tacitus  und  der  Satiriker 
über  die  Juden,  die  Avir  noch  beleuchten  werden,  sei 
hier  sowolil  von  dem  wirklichen  Hass  und  der  Ver- 
achtung, mit  welchem  die  Juden  in  Rom,  namentlich 
kurz  nach  der  Zerstörung  Jerusalem 's,  zu  kämpfen 
hatten,  die  Eede,  als  auch  von  der  Art,  w  ie  moderne 
Schriftsteller  hie  und  da  diesen  Hass  und  diese  Ver- 
achtung  schildern  zu  müssen  glauben.    Letzteren  be- 

1)  Augustin,  De  eidtote  Bei,  VI..  11.  Die  letzten  für  uns 
wichtigen  AVorte  lauten:  C^m  Interim  eo  usque  sceleratissimae 
(jentis  consiietudo  convaluit ,  tit  per  omnes  jam  terras  recepta 
Sit,  victi  victoribus  leg  es  deäervnt.  Uli  tarnen  cmisas  ritus 
sni  noveriint,  sed  rnajor  pars  jw^ndi  facit,  quod  cur  fäciat 
ignorat. 

7* 


100 


gegiiet  es  nämlich,  ob  be^usst  oder  iiiibewusst  wage 
ich  nicht  zu  entscheiden,  dass  sie,  beabsichtigend,  die 
Stimmung  der  Heiden  gegen  die  Juden  im  damaligen 
Rom  zu  zeichnen,  nnr  ihre  eigene  Stimmung  in  jene 
hineinlesen.  Sie  fructificiren  oft  harmlose  Stellen  in 
einer  Weise,  die  mehr  Achtung  vor  ihrer  schöpferi- 
schen Phantasie,  als  vor  ihrer  Philologie  abnöthigt 
Man  liest  oft  einen  sehr  ergötzlichen  Text  und  wird 
in  einer  Xote  belehrt,  dass  das  Alles  aus  einer  Zeile 
Sueton's  oder  aas  einem  Verse  Martiars  oder  Juvenal's 
zu  lernen  ist.  Aber  diese  Zeilen  reden  oft  nur  den 
wirklichen  Adepten  der  Zwischen-den-Zeilen-Leserzunft^ 
nicht  gewöhnlichen  Menschen.  Wir  werden  das  Alles 
noch  zeigen.  Aber  reden  wir  erst  von  dem  thatsäch- 
lichen  Sachverhalt.  Es  fehlte  nicht  an  Hass  und  nicht 
an  Verachtung. 

Zwar  Avas  die  Verachtung  betrifft,  so  ist  das  ein 
psychologisches  Phänomen,  dessen  Constatirung  einige 
Aufmerksamkeit  erfordert.  Man  verachtet  nicht  Alles, 
was  man  verächtlich  behandelt.  Man  könnte  leichter 
an  die  Verachtung  der  Juden  glauben,  wenn  sie  nicht 
zugleich  auch  so  sehr  beachtet  worden  wären.  Wo 
sollte  auch  im  Grunde  jener  religiös  und  sittlich 
bankbrüchigen  Gesellschaft  die  wahre  Kraft  der  Ver- 
achtung hergekommen  sein,  wenn  doch  die  Begab- 
teren unter  ihnen,  z.  B.  ein  Mann  wie  Seneca,  das 
Gefühl    der    eigenen  Holilheit    mit  sich    herumtragen 


101 


iniissten?!).  Der  AVitz,  wo  er  nicht  wie  bei  Horaz  um 
seiner  selbst  willen  und  harmlos  o-emacht  wurde,  war 


1)  Seiieca  war  zu  schwach,  um  nach  den  Grundsätzen 
seiner  Philosophie  leben  zu  können,  aber  doch  sicherlich  zu 
-ernst,  um  den  Widerspruch  zwischen  seinem  nichts  weniger  als 
reinen  Leben  und  seiner  Philosophie  nicht  als  eine  Demüthigung 
zu  empfinden.  Was  ihm  Alles  nach  Tacitus,  Ann.  XIH..  42: 
XIY.,  14;  XIV.,  7;  XTV..  11  und  gar  nach  Dio  Cassius  LXL.  10, 
12,  20;  LXIL.  2  u.  a.  a.  U,  vorgeworfen  wird,  mag  sich  ja 
mildern  lassen  und  zum  Theil  auf  gehässige  Uebertreibung 
seiner  Feinde  zurückzuführen  sein.  Aber  es  bleibt  doch  genug, 
um  sagen  zu  dürfen:  Dieser  Manu,  von  dem  der  ihm  sonst  ge- 
hässige Dio  selbst  sagt,  ,,dass  er  alle  Eömer  seiner  Zeit  und 
viele  Andere  an  Weisheit  übertroffen  habe"  (LIX ,  19),  ist  eben 
darum  einer  der  belehrendsten  Typen  für  den  ethischen  Werth 
einer  gewissen  theoretischen  Erhabenheit.  Nur  die  Theorie, 
<iie  nicht  das  blosse  Ergebniss  der  Belesenheit,  der  Nachahmung 
und  des  Talentes  ist,  sondern  aus  den  originalen  Tiefen  einer 
Uenscheu-  und  Volksseele  entspringt,  pflegt  ein  Leben  zu  er- 
zeugen, das  sich  mit  der  Theorie  deckt.  Der  Eklektiker  Seneca 
war  ein  grosses  Talent  und  meinte  es  ernst,  aber  die  schönen 
Sätze,  die  er  ausspricht,  hatten  sich  nicht  aus  der  Tiefe  seiner 
eigenen  Eömerseele  emporgerungen,  sondern  waren  ihm  selbst 
unbewusst  angeflogen  und  übten  daher  auf  ihn  nicht  die  zwingende 
Gewalt,  welche  Original  Weisheit,  auch  die  weniger  glänzende, 
übt.  Wer  das  einsieht,  weiss  auch,  warum  Sokrates  so  lebte, 
wie  er  lehrte,  nicht  aber  Seneca.  Eben  so  warum  dio  in  ver- 
hältnissmässig  wenig  Sätzen  sich  aussprechende  Weisheit  jüdi- 
discher  Propheten  und  Lehrer  das  Leben  beherrschte,  nicht  so 
die  glänzenden  Sentenzen  und  Phrasen  der  römischen  Philosophie 
uud  Ehetorik  jener  Tage.  Noch  bis  heute  täuscht  ein  gewisser 
Glanz  über  die  innere  Hohlheit,  so  dass  man  nicht  begreift,  wie 
man  die  jüdische  Weisheit  über  die  römische  stellen  kann.     Es 


102 


häufig  nur  zurückgetretener  Aerger,  dass  eine  verachtete 
Keligion  eine  Anziehungskraft  haben  sollte,  die  der 
Xationalreligion  abging.  Deshalb  giebt  auch  der  ernste 
Tacitus  sich  nicht  die  Mühe,  witzig  oder  geistreich 
über  die  Juden  zu  sein,  er  schreibt  hasserfüilt  gegen 
die  jüdische  Religion  und  gegen  das  neuentstandene 
Christenthum. 

In  einer  Beziehung  freilich  kann  man  von  ehr- 
licher Verachtung  der  Juden  reden.  Ein  Volk,  wie 
das  römische,  das  immer  noch  heidnisch  genug  war- 
um  seine  Grötter  zu  bestrafen,  wenn  sie  ihnen  nicht 
beigestanden     oder     ein     Unglück     nicht     abgewehrt 

gab  schlechte  Juden,  wie  es  schlechte  Römer  gab.  aber  während 
man  sich  bequem  einen  römischen  Kero  denken  kann ,  der  zu- 
gleich eine  ergreifende  Abhandlung  über  Humanität  schrieber 
sind  Juden  von  der  Sorte  nicht  aufzutreiben.  Der  Heide  hat 
eine  gewisse  Pose,  welche  täuscht.  Titus,  die  ,,^Vonne  des  Men- 
schengeschlechts", feiert  den  Geburtstag  seines  Bruders  Domitian 
in  Cäsarea.  indem  er  2500  von  den  besiegten  Juden  zum  Theil 
den  Thieren  vorwü'ft,  zum  Theil  sonst  tödten  lässt  (Jos..  B.  J, 
7,  3,  1.  Vgl  7,  2,  1;  6,  9,  2),  was  ihn  sicherlich  nicht  gehin- 
dert, die  „Wonne  des  Menschengeschlechts"  zu  bleiben  und 
Tugendschwatz  zu  üben.  Eine  solche  Gesellschaft  hatte  wohl 
die  Geringschätzung  des  Starken  gegen  den  Schwachen,  nicht 
aber  das  Bewusstsein  des  sittlich  Höherstehenden  gegen  die 
moralische  Yersunkenheit  des  Anderen.  Dieses  Bewusstsein  war 
vielmehr  auf  Seite  der  Juden  und  trug  nicht  wenig  bei,  den  Hass 
gegen  sie  zu  mehren.  —  Ueber  den  Charakter  des  Seneca  ver- 
gleiche Zeiler,  „Die  Philosophie  der  Griechen",  III.,  1.,  dritte 
Auflage,  S.  718. 


103 


hatten,  welches  das  Standbild  des  Neptun  zerstört, 
weil  er  römische  Schifte  hatte  scheitern  lassen  i),  wel- 
ches Tempel  mit  Steinen  bewarf  und  Götteraltäre  um- 
stürzte, weil  die  Götter  den  Tod  des  (Jermanicus  zu- 
gelassen hatten  2)  —  selbst  wenn  Sueton  hier  Un- 
geschichtliches berichtet,  wäre  es  ebenso  charakteristisch 
—  ein  solches  Volk  musste  die  Juden  verachten,  die 
in  ihrer  Treue  gegen  ihren  Gott  sich  nicht  beirren 
Hessen,  obwohl  er  ihre  Niederlage  zugelassen.  Das: 
,, Warum  sollen  die  Heiden  sagen:  AVo  ist  ihr  Gott?" 
(Ps.  79,  10)  ging  buchstäblich  in  Erfüllung. 

Schon  Cicero  argumentirt  in  dieser  für  Heiden 
so  charakteristischen  Weise,  dass  die  Juden  den 
Göttern  unmöglich  angenehme  Leute  sein  könnten, 
da  sie  ja  besiegt,  verkauft,  geknechtet  seien 3).  Indess 
dieser,  wenn  ich  so  sagen  darf,  apagogische  Beweis 
für  die  Inferiorität  des  Judenthums  konnte  in  den- 
kenden Köpfen  sich  nicht  behaupten.   Der  heidnische 


1)  Sueton,  Augustiis  16. 

2)  Sueton,  Caligida  5. 

3)  Cicero  pro  Flacco,  c.28:  Quam  cara  Diis  immortalibus 
esset  (gens  Judaeorum  sc.)  clocuit.,  qaod  est  rietet.,  cßiod  elocata, 
quod  servata.  Auf  die  Schwierigkeit  des  letzten  Wortes  gehe 
ich  hier  nicht  ein.  Damit  ist  zu  vergleichen  das  Wort  des  Heiden 
Cäcilius  in  Minucii  Felicis  Octavius  c.  10:  „Judaeorum  sola 
et  misera  gentüitas  unum  .  . .  .~J)eum  ....  cohierunt,  cujus  adeo 
nulla  vis  et  potestas,  tit  sit  Romanis  numimbus  cum  sua  sibi 
natione  capticus.'' 


104 


Pöbel  fi'eilich  konnte  Einleuchtenderes  gar  nicht  hören. 
Der  Midrasch  zu  den  Klageliedern  schildert  ergreifend 
die  Herabwürdigung  IsraeFs,  nachdem  es  besiegt  zu 
den  Füssen  des  Feindes  lag.  DenTers  in  den  Klage- 
liedern I,  11:  ..Siehe,  o  Herr,  wie  ich  so  erniedrigt 
bin''  legt  er  durch  folgendes  Geschichtchen  aus :  Zwei 
Buhldirnen  in  Ascalon  hatten  sich  gezankt  und  allerlei 
Schmeicheleien  gesagt.  Unter  anderen,  schlimmen 
Dingen  hatte  die  eine  der  anderen  vorgeworfen,  dass 
sie  ein  ganz  jüdisches  Aussehen  habe.  Bei  der  Aus- 
söhnung meinte  die  beleidigte  Dirne:  Alles  verzeihe 
ich  Dir,  nur  nicht,  dass  Du  mich  jüdisch  aussehend 
bezeichnet  hasfi).  Diesen  Alten  war  die  Wendung 
neu,  uns  nicht.  Indess,  so  natürlich  es  war,  dass 
Buhldirnen  keinen  anderen  Maassstab  als  Erfolg  und 
Glanz  haben,  die  besseren  Köpfe  von  damals  waren 
gar  nicht  mehr  so  heidnisch  gerichtet.  Man  schlägt 
den  Einfluss,  den  das  Jahrhunderte  lange  Vorhanden- 
sein der  Bibel  in  griechischer  Spi-ache  ausgeübt  hat, 
viel  zu  niedrig  an,  wenn  man  ihn  blos  da  annimmt, 
wo  er  constatirt  ist.  Es  ist  freilich  erst  für  das  zweite 


^)  Midrasch,    Echah    zum    aageführten  Verse:    n*r>    KIZT 

i"Tn-i  xrnö  x^^tk  nx  n-h  xi  au  ki  i'rnsriö  i"in  13  nmnn'? 
xbir  b-:  rh  nax  i^-h  xi  r,'iir:x  ]'fir  ^.nzh  xnX'T„T=  T£x 
--12'  x'?  xr.'iX-T.Tr  -^"ax  \'"n  -h  r,-ÄXi  h'^  xbx  -^-b  p-z^:  "\v 


lOn 


Jahrhundert  bezeugt,  dass  man  gebildeten  Heiden  die 
Bekanntschaft  mit  der  Schrift  a.  T.  ohne  weiteres  zutraut. 
Athenagoras  sagt  in  seiner  Schutzschrift  an  die  Kaiser 
Marc  Aurel  und  Commodus:  ,Jch  glaube,  dass  auch 
Ihr  als  Männer  von  so  ausgezeichneter  Belesenheit 
und  wissenschaftlicher  Bildung  mit  den  Schriften  eines 
Moses,  Jesaias,  Jeremias  und  der  übrigen  Propheten 
nicht  unbekannt  seid''  i).  Ebenso  bekennt  Tatian 
durch  Studium  des  alten  Testaments  vom  heidnischen 
Wesen  abgekommen  zu  sein.  „Als  ich  ernstlich  hin 
und  her  sann,"  sagte  er,  „fielen  mir  einige  barbarische 
Schriften  in  die  Hände,  älter  als  die  Lehren  der 
Griechen  und  unvergleichlich  göttlicher  als  ihr  Irr- 
thum"  2).  Aber  wenn  doch  schon  in  vorchristlicher 
Zeit  sich  der  Hass  nachweisen  lässt,  den  gerade  die 
Leetüre  der  Bibel  bei  Personen,  auf  die  wir  noch 
kommen,  erregt  hat,  hat  es  nicht  auch  eine  stattliche 
Anzahl  Solcher  gegeben,  welche  das  Gelesene  zu 
noch  etwas  anderem,  als  blos  zum  Queruliren  benutzt 


1)  Athenagoras,  -psojisia  -sol  Xpc^xiavojv  {cap.  0):  yoi^iUo 
y.r/.l  u|Jiä;,  <p'.Xo|J.a9-£3xa-:o'j;  xai  s-t-xy^;j.0ViaidT0'J5  oviaj,  O'jy.  avoY,xo'j; 
'[V(ovv/'Xi  o'JTc  tojv  MojjEcoj,  o'Jts  Tojv  'H'ato'j  y.ai    Ispsixioo  xai  xojv 

AOtüOJV    7rpO'^Y|-tüV    '/..    '.    Ä. 

2)  Tatian,  T:pö$  "Ea/^/jvoc:  c  25:  -payiJtaTSDoixsvov  y.ax'  s;j.a'jxöv 
Y£v&|X£vog  £C"^jXouv,  oxco  xp6-o)  xäXrjO-s;  zleoozlv  oovaaat.  -£p'.vooD"/xi 
Ol  \io'.  xa  OTtooSala,  auvsßr^  Ypa'f  a:<;  x',-i  evx'j/ilv  j3apßap'.v.atc,  Tipssß'j- 
xipo'.q  |xsv,    üj?  Tipö?  xa  '^EXX'rjvüy/'  S&y!^''''-'°'>    %-2'.oxipr/.'.g    oz  ioq    r^poz, 


106 


haben?  Es  ist  merkwürdig.  Avie  sehr  man  das  ver- 
gisst.  Keim  i)  polemisirt  mit  Eecht  gegen  die  Behaup- 
tung namentlich  französicher  Gelehrten,  dass  schon 
in  Seneca,  Plinius  dem  Jüngern,  Epictet,  Marc  Aurel 
das  Christenthum  sich  reflectirt.  Er  bezeichnet  das 
als  ungeschichtlich.  ..Die  Arbeit  der  Philosophie'',  sagt 
er,  ..gehört  vor  das  Christenthum,  sie  war  nicht  be- 
eintlusst  von  ihm-'.  Aber  Keim  vergisst.  dass,  was 
diese  Gelehrten  getäuscht  hat,  der  Einfluss  biblischen 
Geistes  4st,  der  auch  in  der  heidnischen  Atmosphäre, 
namentlich  in  Alexandrien.  eingeathmet  wurde  und 
auch  anderswohin  seinen  Weg  fand.  Wenn  Jemand 
beispielsweise  sagt,  Seneca's  Wort:  „Diejenigen,  welche 
Gott  gefallen,  welche  er  liebt,  prüft  und  übt  er-)^',  sei 
auf  biblischem  und  nicht  auf  heidnischem  Grunde 
gewachsen,  so  sagt  er  damit  noch  nicht,  Seneca  habe 
es  selbst  aus  der  Bibel  genommen. 

Doch  kommen  wir  jetzt  auf  die  Hauptsache,  auf 
denHass  der  Römer  gegen  die  Juden.  Er  hat  nicht 
annähernd  den  furchtbaren  Ernst,  den  er  im  Mittel- 
alter und  in  mittelalterlich  gerichteten  Köpfen  später 
aufweist.  Er  war  in  Rom  auch  nicht  volksthümlich, 
er  lebte  zunächst  nur  in  der  Literatur,  der  er  aus 
der  Fremde    war    zugetragen    worden.     Das    versteht 


1)  Keim,  .,Rom  und  das  Christenthum'-,  S.  3u9. 

2)  Seneca,  De  prov.  4. 


107 


sich,  dass  die  Kriege  und  Aufstände  der  Juden  po- 
litische Männer  wie  Tacitus  empfänglicher  machten 
für  die  Einflüsterer,  deren  Bekanntschaft  wir  noch 
machen  werden.  Er  sagt  es  selbst  i):  „Es  erhöhte  die 
Erbitterung  gegen  die  Jaden,  dass  sie  allein  sich 
nicht  hatten  zum  Ziele  legen  wollen'^  Deshalb  auch 
die  Erscheinung,  dass  nüchterne  Männer  wie  Strabo^ 
selbst  Dio,  sachlich,  sogar  anerkennend  über  die  Juden 
und  ihre  Religion  sich  vernehmen  lassen.  Doch  darum, 
weil  dieser  Hass  künstlich  importirt  worden  war,  ist 
die  Untersuchung  seines  Ursprunges  um  so  inter- 
essanter. 

Man  hat  versucht,  den  Judenhass  bei  den  Heiden 
von  der  Höhe  herab  und  rein  logisch  zu  erklären 
und  glaubte  sich  der  Mühe  überhoben,  die  Menschen 
aufzusuchen,  die  ihn  bewusst  und  absichtsvoll  aus- 
gesäet  haben.  Die  erste  Methode  schien  erhaben,  die 
zweite  kleinlich.  Aber  leider  ist  in  der  Geschichte  das 
Kleinliche  und  Gemeine  ein  grosser  Factor.  Man  hat 
nicht  ohne  einen  Schein  von  Grund  ^on  dem  Gegen- 
satze gesprochen,  in  welchem  das  Judenthum  zu  allem 
Heidnischen  stand  und  der  nothwendig  Aversion  er- 
zeugen musste.  Aber  die  Juden  lebten  zwei  Jahr- 
hunderte seit  Cyrus  unter  persischer  Oberhoheit,  ohne 


1)  Tacitus,    Hist.   5,  10:    Augehat  iras,    quod   soll  Judaei 
non  cessissent. 


108 


dass  der  Hass  zum  Yorschein  kam^),  gerade  so.  wie 
sie  später  durch  lange  Jahrhunderte  unter  Parthern 
und  Xeupersern  in  Zuständen  lebten,  die  im  Vergleich 
zu  den  Zuständen  bis  in's  vorige  Jahrhundert  hinein 
beneidenswerth  zu  nennen  waren.  Gleichfalls  Alexander 
der  Grosse,  nachdem  er  dem  Perserreich  ein  Ende 
gemacht  hatte,  gab  ihnen  volle  Rechtsgleichheit,  die 
unter  den  besseren  Ptolemäern  unbeanstandet  fort- 
dauerte, wie  ja  auch  ebenso  die  Seleuciden  bis  auf 
Antiochus  Epiphanes  sie  als  loyale  Bürger  ansahen 
und  behandelten. 

Aber  schon  hatte  die  Literatur  in  Aegypten  — 
wir  werden  gleich  sehen,  dass  und  warum  dort  zuerst 
der  Judenhass  sich  entzündete  —  ihr  Werk  begonnen, 
konnte  aber  ihren  Zweck  erst  ganz  erreichen,  nachdem 
die  jämmerliche  Nivellirungspolitik  des  Antiochus  den 
Kampf  und  den  Sieg  der  Makkabäer  und  damit  den 
Hass  und  den  Xeid  der  hellenistischen  Bewohner 
EQeinasiens  erzeugt  und  aus  ihnen  gelehrige  Jünger 
und  Helfershelfer  der  alexandrinischen  Ränkeschmiede 
gemacht.  Ton  diesen  zwei  Seiten  her  drang  die  Juden- 
feindschaft nach  Rom  vor. 

Man  darf  behaupten,  dass,  wenn  in  Rom  stets 
Selbstherrscher  wie  Julius  Cäsar,  Augustus  undTiberius 


1)  ^'as  dagegen  spricht,    beseitigt    eine    hclitige  Quellon- 
beurth  eilung. 


109 


in  seiner  besseren  Zeit  regiert  hätten  und  nicht  später 
nach    dem    Vorgänge    schon    des    Pompejus  ^)    unter 

1)  Uober  den  Charakter  der  römischen  Provinzialverwaltung 
vor  Cäsar  sagt  Mommsen  folgende  bezeichnende  Worte  (,,Römische 
Geschichte'^  5.  Buch.  S.  529):  ,.Wen  es  zu  ergründen  gelüstet, 
wie  tief  der  Mensch  sinken  kann,  sowohl  in  dem  frevelhaften 
Zufügen,  sowie  in  dem  nicht  minder  frevelhaften  Ertragen  alles 
denkbaren  Unrechts,  der  mag  aus  den  Criminalacten  zusammen- 
lesen, was  römische  Grosse  zu  thun,  was  Griechen,  Syrer,  Pliö- 
niker  zu  leiden  vermochten".  Er  schildert  dann,  wie  Cäsar  mit 
starker  und  einsichtiger  Hand  eine  Besserung  anstrebte,  erzählt 
von  der  Ueberschwemmung  Roms  durch  Hellenen  und  Halb- 
hellenen und  illustrirt  die  Bedeutung  derselben  durch  folgendes 
Beispiel  (S.  535):  „Um  nur  der  eminentesten  Erscheinung  auf 
diesem  Gebiete  zu  gedenken,  so  ist  das  Regiment  der  griechi- 
schen Lakaien  über  die  römischen  Monarchen  so  alt  wie  die 
Monarchie:  der  erste  in  der  eben  so  langen  wie  widerwärtigen 
Liste  dieser  Individuen  ist  Pompejus'  vertrauter  Bedienter  Theo- 

phanes  von  Mytilene Nicht  ganz  mit  Unrecht  ward  er 

nach  seinem  Tode  von  seinen  Landsleuten  göttlich  verehrt:  er- 
öffnete er  doch  die  Kammerdiener-Regierung  der  Kaiserzeit,  die 
gewissermaassen  auch  eine  Herrschaft  der  Hellenen  über  die 
Römer  gewesen  war''.  Ich  meine,  man  darf  blos  die  letzten 
Zeiten  Jerusalems  vor  seinem  Falle  durch  Titus  kennen,  um 
überzeugt  zu  sein,  dass  Judäa  absichtsvoll  von  diesen  griechi- 
schen Lakaien  in  den  Untergang  gehetzt  wurde.  Es  ist  eigen, 
dass  ein  so  gründlicher  Forscher  wie  H.  Schiller  sich  gemüssigt 
sieht,  die  römischen  Procuratoren  in  Schutz  zu  nehmen.  In 
Yerurtheilung  dieser  Leute  istTacitus,  dem  man  doch  schwerlich 
die  Absicht,  die  Juden  zu  entlasten,  zutrauen  wird,  ganz  einig 
mit  Josephus.  Erst  hatten  die  Alexandriner  die  Verrücktheit 
des  Caligula,  durchaus  als  wirklicher  Gott  verehrt  zu  werden, 
aufs  Gründhchste  gegen  die  Juden  verwerthet.   Die  durch  seine 


110 


Calig'ula,  Claudius  und  Xero  griechische  Freigelasseae 
die  eigentlichen  Regenten  von  Rom  gewesen  wären, 
die  Gährung    gegen  Rom    in  Jndäa    sich  gelegt,    die 

Ermordung  beseitigte  Gefahr  brachte  aber  nur  kurze  Besserung. 
Tacitus  sagt  {Eist.  5,9—10):  ,. Claudius  überliess,  als  die  Könige 
gestorben  oder  auf  einige  Zeit  zuiückgewiesen  waren,  die  Provinz 
Judäa  römischen  Kittern  oder  Freigelassenen,  von  welchen  letz- 
teren Antonius  Felix  in  jeder  Art  von  Grausamkeit  und  Willkür 
Königsrecht  mit  Sclavenlaune  übte.  Vgl.  Tacitus,  Änn.Xll.^  54: 
Cuncta  mcdefacta  sihi  impune  ratus  tanta  potentia  suhnixo. 
liennoch  hielt  sich  die  Geduld  der  Judäer  bis  auf  Gessius  Florus." 
AVie  schwerwiegend  sind  nicht  diese  letzten  "Worte  gerade  aus 
der  Feder  des  Tacitus!  Auch  für  ihn  also  giebt  es  wie  für 
Mommsen  „ein  fievelhaftes  Ertragen  alles  denkbaren  Unrechts". 
Wie  sehr  werden  die  sogenannten  Zeloten  oder  sogenannten  Räuber 
in  Judäa  durch  dieses  Wort  entlastet!  —  In  der  That,  noch  bevor 
Gessius  Florus  das  Aeusserste  leistete,  wie  hatten  es  die  Frei- 
gelassenen am  Kaiserhofe  verstanden,  die  Juden  aus  der  Erbitte- 
rung nicht  herauskommen  zulassen.  Man  kann  darüber  streiten, 
ob  die  Juden  Eecht  hatten,  die  von  ihrem  Könige  Herodes  ge- 
baute Stadt  Cäsarea  als  eine  jüdische  in  Anspruch  zu  nehmen. 
Felix  hat  sie  ja  für  diesen  Anspi-uch  mit  Waffengewalt  zu  Paaren 
treiben,  viele  von  ihnen  niederhauen  lassen,  die  Häuser  Anderer 
seinen  Soldaten  zur  Plünderung  preisgegeben  (Jos.,  Ant.  XX.. 
8,  7.  B.  J.  IL,  13,  7).  Dass  aber  auf  ihre  Klage  in  Rom  ihnen 
als  Antwort  gegeben  wurde  —  ganz  gleich,  ob  noch  der  Bruder 
des  Felix,  Pallas,  oder  Burrus  der  Antwortende  war  —  dass 
ihnen  sogar  die  Isopolitie  daselbst  genommen  wurde  {Ant  XX.,  8,  9; 
B.  J.  IL,  14,  1).  konnte  doch  nur  Bedientenseelen  einfallen,  für 
welche  Gerechtigkeit  nur  ein  leeres  Wort,  dagegen  die  KJL'änkung 
der  Juden  ein  angenehmer  Spoii;  war.  Diese  Antwort  darf  als 
eine  der  schwerstempfundenen  angesehen  werden  und  als  eine 
Hauptursache  des  Krieges  (Josephus.   B.  J.  IL.  14.  4). 


111 


jüdische  Xatioii  den  Krieg  mit  Rom  vermieden  hätte 
und  ein  geduldiger  Vasallenstaat  des  Reiches  geblieben 
wäre.  In  Alexandrien^),  in  Cäsarea-)  und  in  anderen 
hellenistischen  Städten  wurden  die  Xetze  gefertigt, 
in  welche  die  Juden  nothwendig  sich  verfangen 
mussten,  da  die  Antwort  auf  ihre  Klagen  scheinbar 
von  den  römischen  Imperatoren,  in  Wahrheit  aber 
von  den  Yettern  und  GTesinnungsgenossen  der  helle- 
nistischen Anzettler  gegeben  wurde.  So  lange  Cäsar, 
Augustus  und  Tiberius  —  soweit  nicht  Sejan  ihn 
verführte  —  antworteten,  merkt  man  den  scharfsich- 
tigen Imperatorenblick,  der  sich  durch  die  verlogenen 
Pseudogriechen  nicht  täuschen  Hess.  Das  hätte  auch 
Hausrath  nicht  sollen.  Es  ist  durchaus  unquellenmässig, 
wenn  er  schreibt,  dass  die  Juden  in  den  griechischen 
Städten  über  Bedrückung  klagten,    wo   sie  selbst  be- 


1)  Siehe  die  vorige  Note. 

2)  Iq  Midraseh  Echa  zum  Satze:  ,, Ihre  Feinde  wurden  zum 
Haupt'-  (Echa  1,  5  Z'ii'h  nni  r.l)  wird  bemerkt,  es  beziehe 
sich  das  auf  Cäsarea,  dem  es  einst  an  Bedeutung  fehlte, 
das  aber  nach  Zerstörung  Jerusalem  Metropole  und  stark 
bevölkerte  Stadt  wurde  (]^'7l£"it:a  inop  "U?i:3  D^^^*^,'  nnnra 
]"'b*Sl2m).  Letzteres  Wort  ist  wahrscheinlich  so  viel  wie  i>a,a6-oÄ'.;. 
dichtgedrängte,  volkreiche  Stadt,  von  ■9'au.TjS  =  d-^ix-ibz,  dicht- 
gedrängt. Ob  Levy  s.  v.  i"''?isnt3a  dasselbe  meint?  es  steht 
dort  ^ivro/z.v,  was  wohl  Dnieklehler.  Jedenfalls  ist  hier  eine 
gute  Erinnerung  an  die  Todtfeindschaft  Cäsarea's,  wenn  gerade 
der  Satz:  ,,dass  Israels  Feind  Spitze,  Haupt  wurde''  auf  Cäsarea 
angewendet  wird. 


112 


drückten  1).  Als  ob  man  die  Xiedertracht  der  Alexan- 
driner und  die  spiessbürgerliclie  Engherzigkeit  gewisser 
hellenistischer  Gemeinwesen  in  Asien  nicht  kennte, 
denen  es  Spass  machte,  die  Juden  gerade  am  Sabbath 
vor  Gericht  zu  laden,  ihnen  das  Geld  wegzunehmen,  das 
sie  für  den  Tempel  in  Jerusalem  gesammelt  hatten,  ja, 
die  auch  über  den  Spass  hinausgingen  und,  wie  aus 
dem  Decret  des  xiugustus  hervorgeht,  der  sie  mit  der 
Strafe  des  Sacrilegs  bedroht,  die  heiligen  Bücher  nnd 
das  geweihte  Geld  der  Juden  stahlen,  um  sie  in  ihren 
religiösen  Gefühlen  zu  verletzen-). 

Dieser  kleinliche  und  wühlerische  Hass  der  Halb- 
helleneu,  den  schon  Josephus  in  seiner  ganzen  Furcht- 
barkeit erkennt'"')    und  den  er    durch    seine  Schriften 


1)  Hausrath,  ..Neutestamentliche  Zeitgeschichte'',  IL,  96. 

2)  Josephus,  Äntiqu.  XYL,  6.  Das  Decret  des  Augustus 
redet  deutlicli  genug.  Xamenthch  die  AVoite:  iäv  ok  t-l;  -itopaO-f^ 
V.ÄS--OJV  Tag  bpa<;  ßißXo'j':  a-jxwv.  y;  -ä  Ispa  •/^A^.^.rj,z%  sx  ts  ao-.^i^a- 
Tsioo,  r/.  IS  (5cvopojvoc  »tvai  UpöjoXov. 

3)  Antiqu.  XVT..  6,  8  sagt  Jösephus  ausdrücklich,  dass 
die  apolegetisclie  Tendenz  seiner  Schrift  vorzugsweise  um  der 
Griechen  willen  von  ihm  in's  Auge  gefasst  worden,  dass  früher 
ein  Conflict  zwischen  den  fremden  Staats-  und  Stadt- Autoritäten 
und  den  nach  mosaischen  Gesetzen  lebenden  Juden  nicht  be- 
standen habe,  dass  Herrscher  und  Magistrate  ihren  Cultus  be- 
schützt hätten.  Er  wolle  die  Hellcsnen  seinem  Volke  versöhnlich 
stimmen  und  die  Ursachen  des  unvernünftigen  Hasses  ent- 
wurzeln. 


113 


wenigstens  in  seiner  Contagiosität  zu  schwächen  sucht, 
wie  ist  er  entstanden? 

So  eigenthümlich  es  auf  den  ersten  Blick  er- 
scheint, er  ist  ursprünglich  ganz  allein  das  Werk  der 
Literatur,  die  aber  freilich  nur  zum  Ziele  kommt  durch 
die  für  solche  IJinge  empfängliche  Natur  alles  dessen, 
was  sich  damals  Hellene  nennt.  Auf  Herrschaft  hatten 
die  Hellenen  damals  längst  verzichtet,  sie  waren  willige 
Sclaven,  dafür  durfte  es  aber  auch  nichts  auf  Gottes  Erd- 
boden geben,  worin  sie  nicht  die  Lehrmeister  des  Men- 
schengeschlechts waren.  Barbarische  Schriften  sollten 
etwas  enthalten,  was  für  die  Welt  maassgebender  zu  wer- 
den drohte  als  ihre  eigenen,  das  war  nicht  zu  ertragen. 
Daher  die  unaufhörliche  Anschwärzung  des  alten  Testa- 
ments, der  jüdischen  Gesetze  und  Bräuche,  daher  jene 
kleinlichen  Züge  von  Verhöhnung,  wie  sie  zum  Beispiel 
charakteristisch  hervortreten  in  der  Nachahmung  eines 
Opfers,  das  die  Schrift  für  einen  vom  Aussatz  Geheilten 
anordnet,  an  der  Thür  einer  Synagoge ,  um  das  Apio- 
nische  Märchen  von  dem  Aussatz  der  Juden  bildlich 
zur  Darstellung  zu  bringen  i).  Im  zweiten  Jahrhun- 
dert wurde  den  Christen  von  Seiten  der  Griechen, 
die  Heiden  geblieben  waren,  gerade  so  zugesetzt. 
Tatian  bezeugt,  dass  sie  die  römischen  Behörden  be- 


^)  Josephus,  B.  J..  II..  U,  4-5. 


114 


ständig  gegen  sie  (die  Christen)  hetzen  i),  dass  sie  die 
falschen  Zeugen  seien,  die  sie  der  Anthropophagie 
beschuldigen-).  Gleich  sein  erstes  Wort  an  die  Griechen 
lautet:  „Seid  doch  nicht  gar  so  feindselig  gegen  die 
Barbaren,  ihr  Griechen,  und  habt  doch  nicht  so  viel 
Neid  auf  ihre  Lehrsätze".  Celsus  freilich  macht  schon 
die  Concession,  die  Barbaren  verständen  es  besser, 
Lehren  zu  ersinnen,  die  Griechen  dagegen,  diese  Lehren 
zu  entwickeln,  sie  gleichsam  wissenschaftlich  zu  ge- 
stalten 3).  Doch  hiemit  sind  wir  schon  in  w^eitere  Zeiten 
hineingekommen.  Wo  fing  das  Spiel  an? 

1)  Tatian  gegen  die  Ghecbea  c.  4:  o:a  -;  yap  av5peg"EXX7]- 
V£S  w3-£p  SV  ^''y([i-Ji  30Yv.po6£'.v  ßo'jXsj^-s  zac,  r.oX'.zöioiC,  y-aö-'  Yjtxäc. 
(.,Aus  welchem  Grunde,  Ihr  hellenischen  Mäoner.  hetzt  Ihr  wie 
in  einem  Faustkampfe  die  Gemeinwesen  gegen  uns  auf?"') 

2)  Tatian,  c.  25:  r.ap'  y^iiTv  ohv.  eaxiv  avO-pwTüocpaYca ,  ^psoSo- 
}iapt'j>p£^,  Ol  l-i-Y^osDop-svo:,  '(v(ma-t.  Die  deutsche  Uebersetzung 
in  der  Bibliothek  der  Kirchenväter  unter  Oberleitung  Ton  Dr.  Thal- 
höfer,  S.  64,  entspricht  nicht  genau  dem  Text:  „^'ir  essen  kein 
Menschenfleisch,  Ihr  seid  falsche  Zeugen,  wenn  Ihr  das  sagt,  wie 
Diejenigen,  die  es  Euch  gelehrt  haben".  Aber  es  ist  gar  nicht 
von  zwei  Klassen  die  Rede,  1)  Zeugen,  2)  Lehrern,  sondern  es 
muss  heissen:  „Ihr  seid,  indem  Ihr  diese  Anschuldigung  gegen 
uns  vorbringt,  falsche  Zeugen",  wie  die  lateinische  Uebersetzung 
es  richtig  giebt  (faJsi  testes  Jioc  crimine  contra  nos  conftcto 
deprehensi  estis).  Hier  ist  ein  directes  Zeugniss,  dass  die  Griechen 
und  nicht  die  Juden  die  Blutbeschuldigung  gegen  die  Christen 
aufgebracht  haben. 

3)  Origines  contra  Celsum  I.,  2.  Vergleiche  darüber  Keim, 
„Celsus'  wahres  AVort",  S.  4.  Note  3.  Keim  macht  die  interessante 
Bemerkung,    wie    im   zweiten  Jahrhundert    die  Yeracbtung    des 


115 


Das  hätte  man  schon  aus  Josephus  lernen  können, 
wenn  man  nicht  die  leidige  Gewohnheit  hätte,  den 
Mann  wegen  gewisser  Schwächen  immer  zu  schul- 
meistern und  zu  vergessen,  dass,  wo  nicht  das  Be- 
streben, sich  persönlich  zu  rechtfertigen  oder  die  Eück- 
sicht  auf  das  Flavische  Kaiserhaus  ihn  vom  rechten 
Wege  ablenkt,  er,  was  Wahrhaftigkeit  betrifft,  die 
meisten  zeitgenössischen  Autoren  überragt.  Hausrath 
meint,  dass  die  Antiquitäten  des  Josephus  nicht  den 
von  ihm  gewünschten  Erfolg  gehabt  hätten,  die  damals 
vorhandenen  Yorurtheile  gegen  die  Juden  zu  beseitigen. 
Es  sei  überhaupt  ein  „doctrinärer  Irrthum  unseres 
Yerfassers  gewesen,  zu  meinen,  die  Abneigung  der 
heidnischen  Welt  gegen  die  jüdische  sei  auf  litera- 
rischem Wege  zu  überwinden'*.  Aber  ich  hätte  ge- 
wünscht, dass  das  zweite  Jahrhundert  einen  Autor 
von  der  Bedeutung  des  Verfassers,  der  den  Apion 
bekämpft,  gehabt  hätte,  um  die  neuen  Anschuldigungen 
gegen  die  Juden  zu  widerlegen.  Es  stände  heute  viel 
besser.  Es  ist  wahr,  dass  handgreifliche  Folgen  der 
Joseph 'sehen  Yertheidigung  sich  nicht  zeigen.  Tacitus 
z.  B.  lässt  sich  dadurch  nicht  stören,  in  seinen  Nach- 
richten über  die  Juden  den  trübsten  alexandrini sehen 
Quellen  zu  folgen.     „Leider",    sagt  Ewald,    „ist    auch 


Fremden,    Barbarischeu   mit  der  Bewunderung    der  barbarischen 
AVeisheit  kämpft. 


116 


Tacitus  durch  solche  zu  seiner  Zeit  vielgelesene 
schlechte  Alterthumsfor scher  verführt,  er  giebt  eine 
Menge  verschiedener  Meinungen  über  den  Ursprung 
des  Volkes  der  Juden,  aber  die  ihm  am  besten  ge- 
fallende ist  die  erbärmliche  Erzählung  des  Lysimachos, 
welche  er  noch  etwas  weiter  herabgeführt  mittheilt 
als  Fl.  Josephus""^).  Aber  das  beweist  nur,  dass  der 
politische  Hass  blind  macht  und  dass  das  Verlästern 
leichter  ist,  als  das  Entlasten.  Aber  wer  will  wissen, 
wie  viele  gebildete  Heiden  durch  die  Bücher  des 
Josephus  dennoch  sich  veranlasst  sahen,  die  Bibel 
zu  lesen  und  das  Judenthum  mit  anderen  Augen  an- 
zusehen? Celsus.  Xumenius,  Bio  Cassius  reden  doch 
schon  anders  vom  Judenthum,  und  die  Zeit  nach 
Josephus  zeigt  ohne  Frage  einen  Umschwung. 

Jedenfalls  war  der  Gedanke  des  Josephus  richtig, 
dass  das,  was  durch  die  Literatur  gesündigt  worden, 
nur  durch  sie  wieder  hergestellt  werden  kann.  Und 
der  Judenhass  ist  thatsächlich  durch  die  Literatur 
entstanden  und  es  lässt  sich  Zeit  und  Stunde  noch 
heute  nachweisen. 

Sein  Ursprungsland  ist  Aegypten,  wo 
man  nach  Bekanntschaft  mit  der  dort  über- 
setzten griechischen  Bibel  es  als  eine  Krän- 
kung   der   nationalen  Gefühle  empfand,    dass 


1 )  Ewald,  ..Gesch.  des  Volkes  Israel-,  II.,  3.  Ausg.,  S.  130. 


117 


die  Aegyptier  bei  der  Yolkswerdung  Israel's 
eine  so  wenig  schmeichelhafte  Eolle  sollten 
gespielt  haben. 

Man  wehrte  sich  mit  nnfläthiger  Entstellung  der 
mosaischen  Erzählung  vom  Auszüge  aus  Aegypten  und 
mit  Ersinnen  von  Fabeln,  die  heute  einer  Wider- 
legung nicht  bedürfen. 

Wenn  der  gewissenhaftere  Manetho  Geschichte 
und  Geschwätz  der  Aegyptier  noch  sorgfältig  scheidet 
und  die  Yerwechslung  der  Juden  mit  den  Hyksos,  die 
Ja  auch  Josephus  sich  gefallen  las  st,  ihm  unfreiwillig 
begegnet,  so  T\'ird  die  Entstellung  der  altisraelitischen 
Geschichte  von  den  gewissenlosen  Autoren  Chäremon 
undLysimachi)  gewerbsmässig  betrieben,  so  dass  nur 
ein  Specialist  im  Anschwärzen  und  Erfinden,  wie 
Apion,  sie  übertreffen  konnte. 

1)  Yergl.  meinen  Yorti-ag:  .,Der  Kampf  des  Heidenthums 
gegen  die  Juden  und  Christen  in  den  ersten  Jahrhunderten  der 
römischen  Cäsaren".  Sehr  belehrend  für  das  hier  Verhandelte  ist 
J.  G.  MüUer's  Ausgabe  des  „Josephus  contra  Apionem".  ObM'ohl 
es  dem  Yerfasser  nicht  vergönnt  gewesen,  die  letzte  Hand  an 
seine  Schrift  zu  legen,  so  ist  sie  doch  ausserordentlich  werth- 
Yoll.  Yergl.  auch  Knobers  Comjnentar  zu  Exodus  12—13  (von 
Seite  112  ab),  der  vortrefflich  die  Sachen  zusammenstellt  und 
beurtheilt.  Doch  füge  ich  Eines  hinzu.  Es  wird  sich  wohl  kaum 
umgehen  lassen,  in  Manetho's  Zeit  die  erste  Bekanntschaft  der 
Aegyptier  mit  der  Bibel  zu  setzen.  Das.  was  man  damals,  nach 
Manetho's  AYorten,  über  die  Müden  zu  fabeln  anfing  (xa  li-yO-sDÖ- 
;j.sva    zsp'l    Tojv    'lo'joaiojvj,    nimmt    sich    schon    wie     eine     der 


118 


lieber  die  traurige  Figur,  welche  diese  Helden 
spielen,  brauche  ich  nichts  zu  sagen.  .,Apion'-,  sagt 
der  geistvolle  Hausrath.  „hatte  seine  Quellenforschungen 
über  den  Ursprung  der  Juden  in  den  Tabernen 
Alexandriens  gemacht  und  da  nicht  blos  ein  sehr 
ergötzliches  Material  zusammengebracht,  sondern  das- 
selbe auch  mit  entschiedenstem  Talent  für  alles 
Schmutzige  vorgeü-agen^'^). 

Aber  Apion  fand  dennoch  bei  den  Römern  einen 
gut  vorbereiteten  Boden,  um  seine  Giftsaat  auszustreuen. 
Längst  hatten  Männer  wie  der  in  Philosophie  und 
Leichtgläubigkeit  hervorragende  Posidonius  (135  bis 
51  V.  Chr.)-'),  ApoUonius  Molo  (70  v.  Chr.) 3)  und 
Andere  die  alexandrinischen  Flunkereien  als  jüdische 


biblischen  Erzählung  Opposition  machende  aus.  Manetho  soll 
nach  Plutai'ch  unter  Ptolomäus  Lagi  (gest.  284)  gelebt  haben, 
was  ja  nicht  ausschliesst ,  dass  er  die  Zeit  der  üebersetzung  der 
Bibel  noch  erlebt  und  mit  Schriftstellerei  erfüllt  hat.  Jedenfalls 
verdiente  der  Punkt  eine  nähere  Untersuchung,  da  er  die  Zeit, 
zu  welcher  mindestens  der  Pentateuch  griechisch  schon  vorhan- 
den gewesen,  zu  fixiren  geeignet  ist. 

1)  Xeutestamentliche  Zeitgeschichte,  III.,  S.  296. 

2)  Vergl,  über  ihn  Zeller,  ,,Die  Philosophie  der  Griechen", 
III a.,  3.  Auflage,  S.  572—584.  Seine  Leichtgläubigkeit  rückt 
ihm  vor  Strabo  bei  Zeller,  S.  575,  Note  1. 

3)  Ueber  ihn  spricht  Josephus  contra  Apionem  sehr  häufig 
II..  2,  G  u.  a.  V.  a.  0.  Tgl.  über  ihn  die  Ausgabe  des  „Josephus 
contra  Apionem"  von  J.  G.  Müller,  S.  230.  Die  Fragmente 
seiner  Schriften  in  Carl  Müllers  „Fragmenta  hist.  graec.'', 
III.,  208,  212. 


119 


Geschichte  auf  den  römischen  Markt  geworfen,  so 
class  es  uns  nicht  Wunder  zu  nehmen  braucht,  wenn, 
wie  einst  Cicero,  der  als  Pompejaner  die  Juden  gegen 
sich  hatte,  sich  daran  erbaut,  so  später  Tacitus,  der 
in  den  Juden  nicht  blos  den  Kriegsfeind  Kom's, 
sondern  auch  den  bedenklichen  Gegner  des  national- 
römischen Cultus  sah,  auf  solche  Autoritäten  hin  seine 
ihm  wahrlich  nicht  zum  Kuhme  gereichenden  Ansichten 
über  Juden  und  Judenthum  vorbringt. 

Es  giebt  meines  Erachtens  nichts  Belehrenderes 
und  Warnenderes  als  die  Stellen  des  Tacitus  über 
die  Juden.  Man  hat  früher,  wo  es  sich  um  Tacitus 
handelte,  die  unvergleichliche  Grösse  des  Schriftstellers 
mit  der  Bedeutung  des  Forschers  verwechselt.  Ein 
Schriftsteller,  der  oft  in  einem  Satze  mehr  zu  denken 
gibt,  als  Andere  auf  Seiten,  lässt  leicht  vergessen,  dass 
es  mit  der  Verlässlichkeit  seiner  Quellen  schlimm 
bestellt  ist.  Die  heutige  Kritik  hat,  wo  es  sich  nicht 
um  Juden  handelt,  bereits  festgestellt,  dass  er,  wie 
kaum  gesagt  zu  werden  braucht,  wohl  verlässlicher 
ist  als  Autoren  von  dem  Schlage  des  Sueton,  dass 
aber  auch  seine  Quellenforschung  „erstaunlich  tief 
stehti).     Indess,  wer  will  die  Bilder  verdrängen,  die 


1)  Hermann  Schiller,  „Geschichte  des  Römischen  Kaiser- 
reichs unter  der  E,egier\ing  des  Nero",  S.  7  sagt:  „Wir  sind 
gewohnt,  Tacitus  als  das  Muster  eines  Geschichtschreibers  preisen 


120 


er  einmal  von  den  Kaisern  des  Julischen  Hauses  ge- 
zeichnet hat?  Man  kann  daraus  am  besten  die  ver- 
hängnissYolle,  difiamirende  Macht  der  Literatur  er- 
kennen, und  es  sollte  den  Forschern  unserer  Tage 
nicht  entgehen,  dass  für  .jüdisch"  nicht  gilt,  was  im 
Leben  als  ,güdisch'*  sich  zeigt,  sondern  was  die  Lite- 
ratur, und  zwar  eine  bitterfeindliche,  als  ,güdisch^' 
hinzustellen  für  gut  befunden.  Wo  zeigt  sich  das 
"besser  als  bei  Tacitus  ?  Wie  viele  von  den  Taciteischen 
Sätzen  getraut  sich  heute  der  ärgste  Judenfeind,  wenn 
er  etwas  auf  sich  hält,  als  auch  nur  annähernd  der 
Wahrheit  entsprechend  zu  vertheidigen  ?  Sein  römischer 
Nationalstolz  erlaubte  ihm  leider  nicht,  die  Bibel  oder 
wenigstens  den  Josephus  zu  lesen.  Denn  dass  ein 
Mann  wie  Tacitus,  wenn  er  auch  dadurch  seinen  Hass 
nicht  verloren  hätte,  sich  doch  gescheut  haben  würde, 
solches  kritiklose  Zeug  über  die  Juden  zusammen- 
zuschreiben, braucht  doch  wohl  nicht  gesagt  zu 
werden. 

Die  Judäer  staromen    aus  Kreta   (Idäer),    wo  sie 
in   der   Zeit,    da    Jupiter    über   seinen   Täter   Saturn 


zu  hören,  und  es  mag  dies  Lob  in  mancher  Hinsicht  gegründet 
sein;  nur  darf  man  darunter  nicht  die  Quellenkritik 
und  die  eigene  Forschung  begreifen:  denn  diese  stehen 
auch  bei  Tacitus  erstaunlich  tief.  A^ichivalische 
Studien  hat  er  nie  gemacht  (üSTipperd.  Einl.  zu  Tac.  Ann. 
p.  XXII.  5)". 


121 

gesiegt,  nach  dem  äussersten  Rande  Libyens  geflohen 
seien.  Die  Weisheit  Anderer  macht  sie  zu  äthiopi- 
schem Volk,  das,  von  Herrn  Hierosolymus  und  Herrn 
Juda  geführt,  in  die  Aegypten  benachbarten  Länder 
gekommen  sei.  Gelegentlich  werden  sie  auch  Assyrer, 
die  sich  eines  Theiles  von  Aegypten,  später  des  von 
ihnen  bewohnten  Landes  bemächtigt,  ja  —  o  Grianz !  — 
sie  seien  sogar  die  Solymer,  von  denen  Homer  singt. 
Indess,  worin  sich  natürlich  die  „meisten'-  dieser  edlen 
Forscher  —  ob  sie  dabei  gelacht,  wird  nicht  berichtet 
—  geeinigt  haben,  das  ist  der  Bericht,  nach  welchem 
sie  um  einer  Seuche  willen  als  götterverhasstes 
Menschenvolk  auf  Befehl  dieser  Götter  von  König 
Bocchoris  in  die  Einöde  getrieben  worden  seien.  Dort 
in  Verzweiflung,  von  Göttern  und  Menschen  verlassen, 
wären  sie  dem  Durste  erlegen,  wenn  sie  nicht  durch 
eine  Heerde  Esel  gerettet  worden  wären.  iSTatürlich 
lehrte  sie  ihr  Führer  Moses  diesen  Eseln  dankbar 
sein.  Folgen  für  einige  Ceremonialgesetze  die  denkbar 
läppischesten,  knabenhaftesten  Motivirungen. 

Was  aber  das  Erstaunlichste  ist  und  uns  einen 
Blick  thun  lässt  in  den  Zustand  eines  heidnischen 
Gemüthes  und  in  eine  heute  für  uns  versunkene 
Welt,  ist  die  Art,  wie  Tacitus  die  geistige  Gottes- 
verehrung der  Juden  mit  zu  ihren  Abgeschmackt- 
heiten und  Niedrigkeiten  rechnet.  „Die  Aegyptier'S 
sagt  er,  „verehren  allerlei  Thiere  und  selbstgeschaffene 


122 


Bilder;  die  Jiidäer  erkennen  im  Geiste  nur  eine  ein- 
zige Gottheit.  Gottlos  seien  Alle,  die  von  Göttern 
sich  aus  irdischen  Stoffen  menschlichen  Gestalten 
ähnliche  Bilder  schüfen;  jenes  höchste,  ewige  Wesen 
sei  weder  darstellbar,  noch  auch  vergänglich.  Daher 
dulden  sie  keine  Götterbilder  in  ihren  Städten,  ge- 
schweige in  den  Tempeln.  Nicht  Königen^  wird 
solche  Schmeichelei,  nicht  den  Cäsaren  solche 
Ehre.  Weil  aber  ihre  Priester  Flöten-  und  Pauken- 
spiel erschallen  lassen,  sich  mit  Epheu  kränzten  und 
man  eine  goldene  Rebe  fand  im  Tempel,  haben  Einige 
gemeint,  es  werde  Vater  Bacchus  verehrt,  des  Morgen- 
lands Bezwinger,  womit  doch  keineswegs  ihre  Satzun- 
gen zusammenstimmen.  Bacchus  hat  ja  festlichen  und 
fröhlichen  Brauch  geordnet,  der  Judäer  Weise  ist 
abgeschmackt  und  niedrig^'  i). 


1)  Tacitus,  Hist.  V.,  5.  Wie  viel  Heidenthum  liegt  niclit 
in  den  wenigen  Worten :  „non  regihus  liaec  adulatio,  non  Caesa- 
ribus  honor".  Ich.  bin  überzeugt,  dass  bei  uns  in  Deutschland 
die  Ehrfurcht  vor  dem  regierenden  Fürsten  eine  ehrlichere  ist 
als  im  alten  Eom,  aber  gerade,  weil  die  Heiden  nicht  sowohl 
einem  moralischen  Bedürfniss  in  Verehrung  dessen,  der  die 
Majestät  des  Staates  repräsentirt ,  genügten,  als  vielmehr  ihren 
Respect  abhängig  machten  von  der  Macht  zn  nützen  oder  zu 
schaden,  war  ihnen  die  Macht  Caesar's  verehrungswüi-diger  als  die 
der  Götter.  —  Merkwürdig,  in  neuerer  Zeit  hat  maa  gerade  den 
Optimismus  der  Juden  angegriffen  (Schopenhauer)  uod  hatte  in 
der  Beziehung  mehr  Recht  als  Tacitus.  Das  Freudenfest  der 
Juden  war  nicht  blos    das  längste  Fest,    sondern    das  Fest  xax' 


123 


Wie  viel  Werth  hat  es  -nun,  wenn  derselbe  Tacitus 
lind  Schriftsteller,  die  unter  ihm  stehen,  von  dem 
Aberglauben  der  Judäer  reden?  Wir  können  das 
sogar  ziemlich  genau  ermessen.  Wie  „abergläubisch" 
die  Juden  sind,  zeigt  er  an  einer  Stelle  in  recht 
significanter  Weise.  Bei  Schilderung  der  letzten  Tage 
Jerusalems  sagt  er:  „Wohl  hatten  Wunderzeichen  sich 
ereignet,  die  jedoch  dies  dem  Aberglauben  er- 
gebene, heiligem  Brauche  abgeneigte  Volk 
weder  durch  Schlachtopfer,  noch  durch  Ge- 
lübde zu  sühnen  für  gestattet  hält.  Schlacht- 
reihen sah  man  über  den  Himmel  hin  zusammen- 
treffen, rothfunkelnde  Waffen  und  von  plötzlichem 
Wolkenfeuerschein  den  Himmel  erhellt.  Mit  einem- 
male  thaten  sich  die  Thüren  des  Heiligthums  auf 
und  man  vernahm  eine  übermenschliche  Stimme:  ,Die 
Götter  ziehen  aus'  und  zugleich  der  Ausziehenden 
gewaltiges  Getöse"  i). 

Ist  es  nicht  so?  Wenn  wir  das  stolze  Keden 
patriotischer  Heiden,  als  deren  besten  Repräsentanten 
wir  ja  Tacitus  gelten  lassen  können,  über  die  jüdische 
und    dann    über    die    christliche    ., Superstition"    ver- 


ilo^Yiv,  :n-Hütten-Ereiidenfest.  Dass  die  Schrift  Fröhhchkeit 
wünscht,  vorschreibt,  iinzähligemal  vorschreibt,  nui-  nicht  baccha- 
nalisohe,  wusste  Tacitus  freilich  nicht.  nniSU?  HKl  x'rr  "Ö  bs 
l^a^ö  nnttü  nxi  i<'7  ri^i^'Z^n  n'2  heisst  es  in  Mischnah,  Sukkah  V.,1. 
1)  Tacitus,  mst.  V.,  13. 


124 

nehmen  und  uns  dabei  erinnern,  dass  diese  Männer 
die  lächerlichsten  Prodigien,  für  die  heute  kaum  eine 
alte  Frau  empfänglich  ist,  wie  wichtige  Staatsactionen 
buchen,  so  können  wir  daraus  lernen,  was  für  ein 
seltsames  (reschöpf  der  Mensch  in  seinem  Wahn  ist, 
selbst  wenn  es  zufällig  ein  so  hervorragender  Mensch 
wie  Tacitiis  sein  sollte. 

Das  Alles  brauchte  man  aber  heute  nicht  zu 
zeigen  und  wir  könnten  uns  des  Tacitus  erfreuen, 
ohne  seiner  literarischen  Sünden  zu  gedenken,  wenn 
nicht,  wie  der  Judenhass  erster  Serie  (der  heid- 
nische) aus  der  Literatur  entsprungen  ist,  so  auch 
eine  spätere  Literatur  den  viel  bedenklicheren 
Judenhass  zweiter  Serie,  den  mittelalterlichen  und 
neuzeitlichen,  erzeugt  hätte. 

Dafür  habe  ich  Hausratli  selbst  als  gewiss  un- 
parteiischen Gewährsmann  und  gebe  darum  die  Sache 
lieber  mit  seinen  "Worten,  als  mit  den  meinigen.  Er 
sagt:  „Schon  Lncas  redet  eine  entschieden  juden- 
feindliche Sprache.  Wie  er  im  Evangelium  die  Schuld 
der  Juden  stärker  betont,  als  die  der  Eömer,  so  lässt 
er  in  seiner  Geschichte  der  Apostel  die  Juden  überall 
als  Verleumder  des  Christenthums  erscheinen,  die  die 
heidnische  Obrigkeit  gegen  die  Gemeinde  aufstacheln 
u.  s.  w.*'i).     Er    fährt  dann  fort:    „Dennoch    sind  die 


1)  Hausrath,    ..Xeutestainentliche  Zeitgesch,'-,  III.,   S.  526. 


125 


Urtheile  des  vierteD  Evangelisten  über  das  Judenthiim 
noch  um  ein  Beträchtliches  härter  und  man  fühlt 
deutlich,  wie  in  Folge  des  zweiten  jüdischen  Krieges 
die  Erbitterung  gegen  das  yerhasste  Volk  unermesslich 
gewachsen  ist.  Es  ist  kaum  ein  erheblicher  Unter- 
schied zwischen  der  Gesinnung  des  Tacitus  gegen  die 
Juden  und  der  des  vierten  Evangelisten,  und  dieses 
„Evangelium  der  Liebe''  hat  am  Hass  der  Zeit 
Hadrians  gegen  die  Juden  seinen  reichlich  zugemes- 
senen Antheil.  Für  Tacitus  sind  die  Juden  die  Feinde 
des  menschlichen  Geschlechts,  für  den  vierten  Evan- 
gelisten sind  sie  schlechtweg  Feinde  des  Lichts,  des 
Messias,  Gottes.  Ber  vierte  Evangelist  hat  dem  Juden- 
hass  seine  religiöse  Prägung  gegeben,  indem  er  die 
Juden  schlechthin  als  das  Volk  zeichnet,  das  Jesum 
von  der  ersten  Stunde  an  tödten  will,  zu  tödten  ver- 
sucht und  schliesslich  wirklich  tödtet.  Yordem  hasste 
man  den  Juden  aus  nationaler  Abneigung,  der  mittel- 
alterliche religiöse  Hass  dagegen  geht  wesentlich  auf 
die  Darstellung  des  vierten  Evangelisten  zurück,  für 
den  die  Juden  nicht  mehr  das  Volk  sind,  das  Jesus 
vor  allen  Anderen  retten  wollte,  sondern  das,  das  ihn 
gemordet  hat"  i). 

Hausrath    i^eigt    hier    den  freien  Blick,    der   ihn 
erkennen    lässt,    dass    trotz    des  hohen  Geistes,    von 


1)  Hausrath,  „Neutestamentl.  Zeitgesch/',  III.,  S.  528. 


120 


welchem  das  Evangelium  Johannis  durchweht  ist, 
dennoch  die  furchtbare  Erbitterung,  welche  der  Bar- 
kochba'sche  Aufstand  gerade  in  christlichen  Kreisen 
gegen  die  Juden  nachgelassen  hat,  auf  die  Behandlung 
der  Juden  in  diesem  Evangelium  mächtig  eingewirkt. 
Das  versteht  sich,  dass  dazu  eine  grosse  Zahl  anderer, 
wenn  auch  minder  hochstehender  Schriften  des  zweiten 
Jahrhunderts  gefügt  werden  könnte,  denen  eine  gleiche 
Wirkung  entstammte. 

Tritt  ihm  aber  hier  selbst  die  Macht  der  Literatur 
in  ihrer  ganzen  Furchtbarkeit  entgegen,  so  wird  es 
ihn  nicht  mehr  AYunder  nehmen,  wenn  ich  die  Bedeu- 
tung gerade  gut  geschriebener  Schriften  der  Gegenwart 
nicht  unterschätze,  die  bisweilen,  vielleicht  ihren 
Autoren  selbst  unbewusst,  bei  Schilderung  der  Juden 
jener  Tage  die  Farben  statt  aus  den  alten  Quellen, 
aus  ihren  eigenen  modernen  Yorurtheilen  holen.  Das 
ist's,  was  ich  erst  noch  zeigen  will,  bevor  ich  auf 
die  Tacitusstelle.  welche  von  der  Neronischen  Christen- 
verfolgung handelt,  näher  eingehe.  Es  ist  nicht 
Zufall  und  nicht  Laune,  die  mich  bestimmt,  gerade 
aus  Kenan  und  aus  Hausrath  Beispiele  anzuführen. 
Vielmehr  weil  beider  Männer  Schriften  durch  ihre 
Form  die  Chance  haben,  auch  in  nicht  fachliche 
Kreise  zu  dringen,  hat  das,  was  sie  sagen,  eine 
Tragweite,  die  man  nur  der  beweisbaren  Wahrheit 
concediren  darf. 


12" 


Ich  wähle  nicht  sonderlich,  greife  thatsächlich 
nur  heraus,  denn  „wo  Ihr's  packt,  ist's  interessant". 
Nehmen  wir  zunächst  ein  paar  Sätze  aus  der  Kenan- 
schen  Schilderung  der  Juden  in  Rom  in  seinem  Buche 
„Die  Apostel".  Er  sagti):  „Ihre  seltsamen  Gfebränche, 
ihr  Abscheu  gegen  gewisse  Speisen,  ihre  Unsauberkeit, 
ihr  Mangel  an  äusserer  Haltung,  der  schlechte  Geruch 
ihres  Athems'-),  ihre  religiösen  Scrupel,  ihre  kleinliche 
Aengstlichkeit  in  Beobachtung  des  Sabbath  werden 
lächerlich  gefunden  ^').  Von  der  Gesellschaft  in  Bann 
gethan,  geben  sich  die  Juden,  was  eine  natürliche 
Folge  davon  war,  keine  Mühe,  äusserlich  mit  Anstand 
zu  erscheinen.  Auf  Reisen  fand  man  sie  überall  iji 
Ton  Schmutz  starrenden  Kleidern,  mit  linkischem 
Benehmen,  abgespannten  bleichen  Gesichtern,  dunkeln 
kranken  Augen-^),  frömmelnder  Miene,  eine  sich  ab- 
sondernde Bande  ausmachend  mit  ihren  Frauen,  ihren 
Kindern,  ihren  zusammengeschnürten  Decken  und  dem 


1)  Eenan.  ,,Die  Apostel*'  (deutsche  Ausgabe),  S.  303. 

2)  [Eenan'sche  Anmerkung,  Martial,  lY.,  4.  Aniii.  Marcel- 
linus XXII.,  5]. 

3)  [Renan'sche  Anmerkung.  Suetou,  August.  76;  Horaz, 
Seit.  1.  9,  69  fg.;  Juvenal  III..  13-16.  29b.;  VI.,  156—160, 
542-547;  XIV..  96-107;  Martial  IV..  4 ;  VII.,  29,  34,54; 
XI.,  95;  XII.,  57;  Rutilius  Numatianus  a.  a.  Ö.  und  besonders 
Josephus  contra  Äpionem  II.,  13:  Philo,  Lec/„  ad  Cajum 
§  26-28]. 

4)  [Ren.  Anm.  Martial  XII..  57]. 


128 


Korbe,  der  ihr  ganzes  Mobiliar  enthielt i).  In  den 
Städten  tiieben  sie  die  armseligsten  Gewerbe,  sie 
waren  Bettler,  Lumpensammler,  Trödler,  Zündholz chen- 
verkäufer"  -). 

Darauf  vernehmen  wir  eine  kleine  Friedens- 
schalmei  bei  Renan,  lautend :  ,  Jn  ungerechtester  Weise 
hat  man  ihr  Gesetz  und  ihre  Geschichte  herabgewür- 
digt u.  s.  w.-'.  die  dann  bald  in  die  gewohnte  Schauer- 
melodie einlenkt.  Was  ist  nun  von  dieser  ganzen 
Renan 'sehen  Schilderung  zu  halten  und  von  der 
überwältigenden  Fülle  von  Citaten,  die  als  j}ihces 
justificatives  die  Darstellung  zu  einer  unzweifelhaften 
machen  sollen?  Der  Leser  muss  schon  ein  Avenig 
misstrauisch  werden,  wenn  er  Martial  lY.,  4  ziemlich 
oft,  ITartial  XU.,  57  auf  einer  kurzen  Strecke  sogar 
sechsmal  citirt  findet.  Was  muss  nicht  AUes  in 
diesem  Epigramm  MartiaFs  stehen !  In  der  That  findet 
der  Leser,  der  prüft,  sein  [Misstrauen  belohnt.  Die 
Sache  steht  so :  Von  der  Renan'schen  Schilderung  ist 
quellenmässig  richtig,  dass  die  nach  Zerstörung  Jeru- 
salems als  Sclaven  nach  Rom  gekommenen  und  dort 
zum  Theil  freigelassenen  Juden,  wie  kaum  gesagt 
zu  werden  braucht,  arm  waren  und  betteln  mussten: 

1)  [Eenansche  AnmerkuDg.  Juvenal.  Sat.  III.,  14;  VI.,  542]. 

2)  [Ren.  Anm.  Juvenal IIL,  296:  VI.,  543  fg.;  Martial  1,42; 
XII.,  57.  Statins,  Süvae  1.  6,  73.  74.  Vgl.  Forcellini  unter  dem 

A\'oite  s u Iph 1 1 mtxm] . 


129 

.Jch  ward  .getränkt  mit  Bitternissen 

Icli  ward  bedrängt  von  schweren  Sorgen, 
Ich  musste  lügen,  ich  musste  borgen 
Bei  reichen  Buben  und  alten  A^etteln. 
Ich  glaube  sogar,  ich  musste  betteln. 

Ebenso  dass  ein  Mann  wie  Martial  ein  grosses 
Talent,  aber  ein  kleiner  Charakter,  dessen  Specialität 
Bordellstudien  waren,  noch  lieber  wie  Horaz  jede 
Gelegenheit  wahrnahm,  um  einen  Cynismns  über  die 
„beschnittenen"  Juden  zum  Besten  zu  gebend).  Da- 
gegen ist  „der  schlechte  Geruch  des  Athems,  der 
Mangel  an  äusserer  Haltung,    die  schmutzstarrenden 


1)  Friedländer,  „Darstellungen  aus  der  Sittengeschichte 
Rom's,  1.  Theil  (S.  19B) :  Seine  Gedichte  zeigen  hinlänglich,  wie 
äusserst  gedrückt,  ja  unwürdig  die  Lage  der  Ritter  sein  konnte, 
denen  die  Mittel  zum  standesgemässen  Leben  fehlten  und  die 
zum  anständigen  Erwerb  zu  träge  oder  ungeschickt  waren.  Er 
war  durchaus  auf  die  Unterstützung  reicher  oder  vornehmer 
Gönner  angewiesen  und  nahm  keinen  Anstand,  diese  so  wie  den 
Kaiser  immer  aufs  Xeue  anzubetteln  (an  Domitian  V.,  19;  VI,  10; 
VII.,  60;  VIIL,  24;  an  Regulus  VII.,  6();  an  Stella  VII.,  36  u.s.w.) ; 
seine  AVünsche  waren  bescheiden,  er  bat  auch  wohl  um  einen 
guten  Mantel  (VI.,  82),  und  eine  feine  Toga,  die  er  von  dem 
kaiserlichen  Oberkämmerer  Parthenius  zum  Geschenk  erhielt, 
hat  er  in  zwei  Gedichten  besungen,  als  sie  neu  und  als  sie 
abgenutzt  war  (VIIL,  28;  IX.,  49).  Jahre  lang  leistete  er 
um  das  tägliche  Brod  die  niedrigsten  Clientendienste.  Seine 
Muse  stand  jedem  zu  Diensten,  der  sie  belohnte  (Plinius, 
Epist  III.,  21). 

9 


130 


Gewänder,  die  abgespannten  bleichen  Gesichter,  die 
dunkeln  kranken  Augen",  ja  selbst  die  Aufzählung 
der  armseligen  Gewerbe,  denen  gerade  die  Juden  ob- 
gelegen haben  sollen,  zum  Theil  einfach  Phantasie, 
zum  Theil  unselbstständige  und  darum  verfehlte  Be- 
nutzung der  Quellen. 

Für  den  „schlechten  Geruch  des  jüdischen  Athems*' 
beruft  sich  Kenan  auf  Martial  lY.,  4  und  Ammianus 
Marcellinus  XXIL,  5.  Was  steht  Martial  IV..  4? 
Folgendes:  Martial  hat  den  schlechten  Athem  studirt, 
wo  die  jeunesse  dorre  des  damaligen  Rom  ihre  Studien 
machte,  nämlich  bei  einer  Dirne.  Die  Dirne  heisst 
Bassa  und  er  will  sie  ärgern,  indem  er  allerlei 
schlechte  Gerüche,  etwa  zehn,  ausrechnet,  die  ihm 
weniger  widerwärtig  seien,  als  Bassa.  Unter  den 
schlechten  Gerüchen  kommt  auch  der  schlechte  Geruch 
Derer  vor,  die  sicli  durch  Fasten  am  Sabbath  (Ver- 
söhnungstag) den  Athem  verdorben  haben  (qiiod  je- 
junia  sabbatarioriwi  oder  sahhatarianmij.  Dass  Martial 
hier  bei  Gelegenheit  seinen  heidnischen  Spott  über 
das  Fasten  der  Juden  oder  Jüdinnen  (je  nach  der 
Lesart)  am  Versöhnuugstage  ausgiesst,  ist  richtig. 
Lächerlich  aber  ist  es,  aus  dieser  Stelle  zu  folgern, 
dass  Martial  dauernd  den  Juden  einen  übel  riechenden 
Athem  zuschreibt.  Er  denkt  sich  nur,  und  denkt  ja 
darin  ganz  richtig,  dass  ein  Mensch,  der  vierund- 
zwanzig   Stunden    weder  Speise  noch  Trank    zu   sich 


131 


genommen,    schlecht  riecht,    natürlich  nur  so  lange, 
bis  er  wieder  gegessen  hati). 

Aber  enthält  Ammianus  3Iarcellinns  niclit  ein 
gutes  testimonmm  für  den  foetor  Judaicits,  den  noch 
Schopenhauer  recht  liebevoll  verwerthet?  Vielleicht 
überzeugt  sich  Renan  aus  einer  guten  Textausgabe 
des  Ammianus,  dass  wir  es  hier  mit  einem  Liebes- 
dienst zu  thun  haben,  den  das  Mittelalter  den  Juden 
erwiesen  hat,  indem  es  statt  der  Worte:  „der  Kaiser 
sei  der  ihn  mit  Bitten  und  Lärm  bestürmenden  Juden 
überdrüssig  geworden''  (Judaeorum  petentium  et  tumul- 
ümnÜum  taedio  percitus)  gesetzt  hat  „der  Kaiser  sei 
der  stinkenden  und  lärmenden  Juden  überdrüssig  ge- 
worden". Das  Kunststück  wurde  geleistet  durch  Yer- 
wandlung  eines  j)  in  ein  f ,  durch  Schreibung  von 
fetentium  statt  petentium.  Nicht  blos  merkt  der  neueste 
Herausgeber-)  an,  dass  fetentium  eine  Verbesserung 
aus  zweiter  Hand  sei  und  dass  in  der  Rasur  ein  p 
statt  eines  f  stehe,  sondern  der  Sinn  des  ganzen 
Satzes-^)  erlaubt  gar  keine  andere  Lesart.     Denn   die 


1)  Dass  Martial  die  Juden  nicht  gar  so  iinangeaelini  kann 
gefunden  haben,  beweist  der  Umstand,  dass  er  einen  jüdischen 
Sclaven  hatte,  wozu  ihn  doch  Keiner  nöthigen  konnte.  Martial 
YIL,  35;  idem  VII.,  55. 

2)  Franciscus  Eyssenhardt,  BerUn  1871,  S.  232,  in  den 
textkritischen  Anmerkungen. 

3)  Der  Satz  lautet  vollständig:  ,JUe  enim  (Marens)  cum 
Palaestinam   transiret  Äecßuptum  peterm,    Judaeormn  petentium 

9* 


132 


,.Thorheit"  (ineptia)  der  Juden  kiinn  doch  nicht  aus 
ihrem  Athem,  sondern  nur  aus  ihren  Forderungen 
(Petitionen)  erkannt  worden  sein. 

Der  Geruch  des  Athems  hat  einen  physiologischen 
Grund  und  er  Avurde  sicherlich  in  den  römischen 
Schandhäusern  gründlicher  verdorben  als  in  den 
Synagogen  und  in  den  Häusern  der  Juden.  Das  steht 
auch  im  Martial.  Wer  darüber  sich  unterrichten 
will,  der  lese  das  Epigramm  XII.,  86  des  Martial  und 
ebenso  seine  unzweideutige  Andeutung  L,  83,  warum 
der  Maneja  ein  Hündchen  Lippen  und  Antlitz  leckt. 
Freilich  wollte  man  auch  den  Juden  ihren  Antheil 
an  dem  römischen  Schmutze  nicht  verkümmern. 
Keim^)  entdeckt  einen  jüdischen  Bordellwirth  nach 
den  Angaben  Juvenal's  8,  159  ff.  Aber  da  die  Be- 
zeichnung dieses  „balsamtriefenden''  Wirths  als  „Syro- 
Phönike"  durchaus  keinen  Anlass  giebt,  an  einen 
Juden  zu  denken,    ja   die  genaue  Angabe,    wo  diese 


et  tumuUuantiiun  saepe  taedio  percitus  dol enter  dicitur  (Wer 
hat  es  bezeugt?)  exclamasse :  0  Marcomanni,  o  Quadi,  o  Sar- 
matae.  tandem  aJios  vohis  ineptiores  inveni^'.  In  Schürer,  „Neu- 
testamentliche  Zeitgeschichte*',  S.  392  wird  die  Stelle  folgender- 
maassen  angeführt:  „tandem  alios  vohis  inertiores  inveni''. 
AVäre  die  Lesart  richtig,  so  müsste  es  um  des  Sinnes  willen 
siatt  petentiiim:  feriantium  heissen,  was  dann  auf  ihren  Sabbath 
ginge.  Indess,  da  Eyssenhardt  keine  Variante  anmerkt,  so  halten 
wir  uns  an  seinen  Text. 

1)  ..Rom  und  das  Christenthum"  S.  100,  Note. 


133 


Menschenklasse  heimisch  ist,  nämlich  nicht  in  Palästina 
und  nicht  in  Cölesyrien,  sondern  in  Syrophönicien, 
den  Gedanken  an  einen  Juden  ausschliesst,  so  müssen 
wir  leider  auch  von  Keim  sagen,  dass  er  hinein-  und 
nicht  herausgelesen  hat.  Juvenal  redet  ja  gar  nicht 
so  selten  von  Juden  und  immer,  wo  das  geschieht, 
ist  das  durchaus  deutlich  und  unmissverständlich. 
Doch  auf  Juvenal  kommen  wir  noch  und  Avollen  uns 
einstweilen  in  der  Weiterprüfung  der  Renan'schen 
Citate  nicht  stören  lassen. 

Was  eigentlich  das  völlig  harmlose  Wort  des 
Augustus,  welches  Sueton  76  berichtet,  beweisen  soll, 
ist  mir  unerfindlich.  Augustus  beklagt  sich  über 
Appetitlosigkeit  und  schreibt:  „Kein  Jude  fastet  so 
streng  am  Sabbath ,  mein  lieber  Tiberius ,  wie  ich 
heute  gefastet  habe''.  Die  Römer  meinen  nämlich,  dass 
die  Juden  am  Sabbath  fasten,  während  ihnen  um- 
gekehrt für  gewöhnlich  das  Fasten  an  diesem  Tage 
verboten,  ja  bessere  Kost  vorgeschrieben  ist.  Es  ist 
das  natürlich  eine  Yerwechselung  mit  dem  Yersöh- 
nungstage,  der  gleichfalls  Sabbath,  ja  Sabbatha  Sab- 
bathon (Leviticus  16,  31)  genannt  wird.  Spott  lese 
ich  in  den  Worten  des  Augustus  nicht.  Aber  der 
„Schmutz,  die  bleichen  Gesichter,  die  dunkeln  kranken 
Augen",  wo  bezieht  die  Renan  her?  Natürlich  aus 
der  unerschöpflichen  Fundgrube,  aus  Martial,  oder 
richtiger  aus  einer  Uebersetzung  des  Martial,  die  von 


134 


einer   genauen   Einsicht    in   den  Urtext    doch    nicht 

dispensiren    darf.     Martial    XII.,   57    erklärt    seinem 

Preimde  Sparsus,  warum  er  so  oft  das  lärmende  Rom 

mit  seinem  einfachen  Landhause    vertauscht.     Er  hat 

in   der  Stadt    keine  Euhe.     Ihn   stören    Schulmeister, 

Bäcker,  Schmiede.  Geldwechsler  und  Andere.     Unter 

diesen   Störenfrieden    figuriren    auch    ein  von  seiner 

Mutter   zum  Betteln   ausgeschickter  Judenknabe   und 

ein  triefäugiger  Schwefelhändler.    KatürHch  muss  der 

Schwefelhändler    ein    Jade    sein.     Wer    sollte    auch 

anders   mit   Schwefel  handeln?     Leider  aber    handelt 

hier  ein  Anderer  mit  Schwefel.    Der  lateinische  Text, 

der    die   verschiedenen   Beunruhiger   mit   tiec  —   nee 

einführt,    sagt    das    Jedem    ganz    unzweideutig.     Es 

heisst: 

A  matre  äoctiis  nee  rogare  Judaens. 
Kec  siüphtiratae  Jippus  institor  mercis. 

Renan  hätte  umgekehrt  daraus  lernen  sollen,  dass 
auch  der  Hausirer,  der  nach  Martial  I.,  41  „drüben 
vom  Tiber  her  gelbliche  Schwefelfäden  für  zerbrochenes 
Glas  eintauscht",  darum,  weil  er  jenseits  des  Tiber 
wohnt,  noch  kein  Jude  ist.  Freilich  verlieren  dadurch 
die  Juden  ihre  Triefäugigkeit  und  ihr  verschwefeltes 
Angesicht.  Aber  das  hätte  ihnen  Martial  auch  gewiss 
nicht  geschenkt,  wenn  sie  daran  gelitten  hätten.  Die 
Juden  waren  damals  noch  gar  nicht  so  dem  Handel 
ergeben.     Josephus   sagt  in   einem  Buche,    das   doch 


135 


«•erade  in  erster  Linie  für  Hellenen  bestimmt  ist: 
„"Was  uns  anbetrifft,  so  bewohnen  wir  weder  ein 
Küstenland,  noch  haben  wir  Freude  an  Handels- 
geschäften und  stehen  darum  auch  nicht  viel  in 
Verkehr  mit  Anderen.  Unsere  Städte  lieg-en  vom  Meere 
ab  und  unsere  Beschäftigung  ist  das  gute  Land,  das 
wir  bewohnen ,  anzubauen''  i ).  Das  hätte  er  doch 
sicherlich  nicht  zu  sagen  gewagt,  wenn  man  schon 
damals  in  jedem  Händler  einen  Juden  gesehen.  "Wie 
steht  es  denn  nun  mit  den  Worten  Kenan's:  „In 
den  Städten  trieben  sie  die  armseligsten  Gewerbe,  sie 
Avaren  Bettler,  Lumpensammler,  Trödler,  Zündhölzchen- 
verkäufer''(!).  Die  Zündhölzchenverkäufer  kennen  wir 
schon,  sie  sind  der  bekannte  „Schwefelhändler''.  Aber 
Aver  trieb  denn  nach  dem  Zeugnisse  der  Satiriker  die 
schmutzigen  Gewerbe?  Wirklich  Juden?  Hören  wir 
Juvenal  selbst: 

Lass'  mich  die  Heimath  fliehen.  Dort  leb'  Artorius,  dorteii 
Catulus,  bleiben  sie  da,  die  Schwarz  in  AVeisses  verdrehen. 
Denen  es  leicht  ist,  Bauten  und  Flüss'  und  Häfen  zu  pachten, 
Oder  das  Trocknen  des  Sumpfs,  und  zur  Brandstatt  Leichen  zu 

schaffen, 
Und  ein  verkäufliches  Haus  vor  die  Lanze  zu  bringen. 
Die  Hornbläser  vordem,  und  einst  der  Arena  der  Landstadt 


1)  JosepJins  contra  Äpionem  I.,  12:  -fiixslg  xotvov  oots  yuypix^ 
ol-/.o5iJ.£v  TcapdX'.ov,  oox'  sjJLTiGpLa'.;;  /aip&|J.£v,  0'J0£  ir/tg  TZpbc,  ahXo'jc, 
rj'.b.    xo'j-ojv    8-:jj.'.iia'.c    äiX   slciv    [Jisv    Y|[jlcöv    al  TiÖKzic    {Jiav.pav    ä^ö 


136 


Xiemals  felilend  Geleit  und  bekanat  in  den  Städten  von  Backe 
Geben  nun  Spiele  dem  Volk,   und  wendete  dieses   den  Daumen, 
Tödten  sie,  wen  es  verlangt,   volksfreundlich:    kommen  sie  von 

dorther. 
Pachten  sie  Tragleibstühl" :  imd  warum  nicht  Alles?  Gehören 
Doch  sie  zur  Sorte  der  Menschen,  die  tief  aus  demKothe  Fortuna 
Hebet  zum  Gipfel  der  Macht,  so  oft  ihr  zu  scherzen  beliebefi ). 

Dass  das  keine  Juden  sind,  die  der  Dichter  hier 
schildert,  ergeben  die  Worte  des  Dichters  selbst.  Es 
ist  wahr,  Juvenal  trifft  auch  die  Juden  mit  seiner 
satirischen  Geissei.  Aber  muss  er  darum  zugestutzt 
und  auf  sein  Conto  Xeues  gesagt  werden?  Juvenal 
sieht  scheel  auf  Alle,  deren  Kindheit  nicht  aventinische 
Luft  eingeathmet  2) ,  auf  alle  Fremden.  Wir  werden 
sehen,  dass  die  Juden  nicht  diejenigen  Fremden  sind. 
denen  er  seinen  intimsten  Groll  widmet.  Von  ihnen 
sagt  er,  dass  sie  arm  seien,  dass  sie  ein  geringes 
Hausgeräth  haben,  dass  man  sich  um  wenig  Geld  die 
Gesetze  Ilosis  von  ihnen  auslegen  lassen  kann  und 
dass  sie  auch  aus  Traumdeutung  ein  Geschäft  machen  3). 
Die  Worte:  „verkaufen  Juden  doch  Alles''  sind  nicht 
juvenalisch,  sondern  ein  moderner  Liebesdienst.     Die 


1)  Juvenal,  Satir.  III.,  30  sqq.  Zmneist  nach  üebersetzung 
von  Alexander  Berg. 

-')  Id.  III.,  83: 
Usque  adeo  nihil  est,  quod  nostra  infantia  coeltnu 
Hausit  Aventini    hacca  nvtrita  Sabina? 

3)    Id.   Tl..   542  sqq. 


131 

AYorte:  ,,Qimliacimque  voles  Judael  somnia  vendimt'^ 
bedeuten  das  nicht  für  Jeden,  der  sich  die  Stelle  an- 
sieht und  lateinisch  versteht  i).  Ein  nicht  minder 
bedenkliches  Missverstiindniss  ist  die  allgemein  accep- 
tirte  Auslegung  juvenalischer  Worte,  die  sich  in  der 
bekannten  Schilderung  des  vierzehnten  Buches  finden. 
Nachdem  Juvenal  daselbt  etwa  in  tacitei'scher  Manier 
die  geistige  Gottesverehrung  der  Juden  eine  Anbetung 
von  Nichts  „als  Wolken  und  des  Himmels  Macht'* 
nennt,  Sabbath,  Enthaltung  von  Schweinefleisch  und 
Beschneiduug  in  gewohnter  römischer  Weise  bekrittelt, 
sagt  er  von  ihnen,  dass  sie  „Niemandem  den  Weg 
zeigen,  der  nicht  dieselben  Heiligthümer  verehrt  und 
dass  sie  nur  Beschnittene  zur  gesuchten  Quelle  führen'' ■■^). 
Wie  man  das  hat  eigentlich  nehmen  können,  statt 
die  einzig  mögliche  Auslegung  zu  geben,  dass  die 
Juden  um  der  bedenklichen  Folgen  willen  schon  jene 
später  stärker  hervortretende  Scheu  bekommen  hatten, 
solche  Heiden  im  Mosaismus  zu  unterrichten,  die  sich 
den  Aufnahmebedingungen  nicht  fügen,  Aväre  schier 
unerklärlich,  wenn  man  nicht  in  Bezug  auf  Juden  Alles 
natürlich  fände,  auch  dass  sie  einem  Eeisenden  —  wie 
lächerlich!    —    nicht    den    Weg    zeigen    und    einem 


1)  Juvenal  VI.,  547. 

2)  Id.  XIV.,  96  sq(i.: 

Non  monstrare  vias  eadem  nisi  sacra  colenti, 
Quaesitiim  ad  fovtem  solos  deducere  rerpnni. 


138 


Durstigen  den  Labetrunk  yersagen.  Als  hätte  ein 
Heide  zuerst  den  Satz  gesagt :  .,Hungert  Deinen  Feind, 
so  gib  ihm  Brod,  durstet  ihn,  so  reiche  ihm  Wasser. 
Scharrest  Du  auch  dadurch  Kohlen  auf  sein  Haupt 
so  vergilt  der  Ewige  doch  Deine  Thaf'i).  Das  Alles 
hatten  die  bibelkundigen  Juden  damals  rein  vergessen 
und  in  das  Geo:entheil  verkehrt.  Hausrath  schreibt 
unabsichtlich  folgende  Satire  auf  die  Jaden  in  Rom-): 
„Was  hätte  der  Sohn  Israers  nicht  Alles  in  der  Welt- 
stadt getrieben?  Kaufmann.  Wechsler,  Krämor  und 
Hausirer  war  er  der  Regel  nach'-.  Beweis,  alleiniger 
Beweis  natürlich  Martial  XIL.  57  und  dessen  berühmter 
Schwefelhändler.  Er  fährt  fort:  ,,Aber  er  war  auch 
Beamter  und  manchmal  selbst  Soldat  (wie  merkwür- 
dig!), er  war  Gelehrter".  Letzteres  Wort  wird  in  der 
Anmerkung  dadurch  bewiesen,  dass  in  Rom  ja  Josephus 
lebte.  Aber  der  jüdische  General  hätte  doch  in  Rom 
nicht  gut  Schneider  werden  können,  und  am  Ende 
verdankt  doch  Hausrath  nicht  wenig  Xotizen  dieser 
jüdischen  Verwendbarkeit  des  Josephus  für  sein  in 
der  That  schätzbares  Buch.  Dagegen  geben  wir  ihm 
zu,  dass  der  von  Martial  verspottete  Dichter  und  Re- 
censent  gewiss  kein  Martial  oder  Heine  gewesen.  Aber 
das  Recht,  schlechte  Dichter  zu  haben,   ist  durchaus 


1)  Spr.  Salom.  XXY..  21—22. 

-)  ,,NeutestameDtliche  Zeitgeschichte"  S.  74. 


139 


international  nnd  interconfessionell.  Ich  bin  allerdings 
in  der  Lage,  für  Hausraths  Schilderung  eine  völlig 
deckende  Parallele  ans  Juvenal  zu  liefern,  aber  ich 
zweifle,  ob  er  mir  dafür  Dank  wissen  wird.  Juvenal 
sagti): 

^'as  das  beliebteste  A^olk  jetzt  ist  bei  unseren  lieichen, 
"Wen  ich  fliehe  zumeist,  will  flugs  ich  gestehn,  und  es  soll  mich 
Nicht  abhalten  die  Scham.  Unleidlich  ist  mir,  Quinten. 
Griechisch    die    Stadt;    und    wie    klein    doch    der  Theil    der 

Achaischen  Hefe. 

iJort  dein  Bauer,  Quirin,  geht  her  ia  Griechengewändern, 
Und  am  gesalbeten  Hals  hat  Siegesdenkzeichen  er  hängen. 
Dieser  verlässt  die  Höhen  von  Sicyon,  Amydon  jener, 
Andres  und  Samos  der,  Alabanda  jener  und  Trallos. 
Jsach   den  Esquilien  geht's    und    dem   Berg,    der   nach  Weiden 

benannt  ist. 
Nistet  sich  ein,  wo  vornehm  das  Haus,  und  wird  der  Gebieter, 
Schwindelgenie  von  verzweifelter  Frechheit,  hat  er  ein  loses 
Maulwerk,  strömender  noch  als  Isäus.    0  sage,  was,  glaubst  Du, 
Ist  er"?  WozuDu  nur  willst,  stellt  solcher  sich  uns  zum  Gebrauche. 
Ehetor,  Grammatiker,  Messer  des  Feldes  und  Bader  und  Maler. 
Arzt,  Seiltänzer,  Prophet  und  ^Magier.     Alles  versteht  ein 
Hungriges  Griechlein;    steiget,    wenn  man  ihn  heisst,    in    den 

Himmel. 
Kui'z,  nicht  war  es  ein  Maur,  noch  ein  Thracier,  noch  ein  Sarmate, 
Welcher  die  Flügel  sich  nahm,  vielmehr  ein  geborener  Athener. 
Deren  Purpurgewand  nicht  flijh"  ich?  Sollte  vor  mir  der 
Zeichnen  und  liegen  bei  Tisch,  auf  besseres  Polster  gedehuet, 
AA'elehen  nach  Bom  mit  Pflaumen  zugleich  und  Feigen  der  AVind 

trug? 


ij  Saf.  III.,  58—83  ff. 


140 


Hier  haben  wir  eigentlich  Alles  beisammen.  Den 
Pflaumenhändler,  der  sich  ßeichthümer  erwirbt  und 
grosse  Häuser,  den  Allerweltskerl,  der  in  allen  Sätteln 
gerecht,  sich  auf  Alles  versteht  und  zu  Allem  bereit 
ist,  den  schnellfertigen,  kecken,  vordringlichen  —  Juden 
etwa?  —  nein,  Griechen. 

Gestehen  wir  nur,  dass,  wenn  Juvenal  etwa  so 
die  Juden  geschildert  hätte,  die  Stelle  ein  förmlicher 
locus  memorialis  für  Alles,  was  auf  Bildung  Anspruch 
macht,  geworden  wäre.  Aber  sie  ist  doch  auch  so 
sehr  belehrend.  Gewiss  hat  es  auch  unangenehme 
Griechen  gegeben.  Aber  ist  Juvenal  darum  im  Keclit  ? 
Es  kann  uns  leid  thun,  dass  dieser  talentvolle  Mann 
mit  der  Xoth  des  Lebens  zu  kämpfen  gehabt.  Aber 
mit  seinem  schlecht  verhehlten  [N'eide  und  seiner  ]Dfahl- 
bürgerlichen  Gesinnung,  die  ihn  dann  sagen  lässt: 
,,'Ist  es  so  gar  nichts  werth,  dass  Aventini sehen  Himmel 
unsere  Kindheit  athmete,  mit  Sabinischer  Beere  ge- 
nährt?" lässt  sich  nicht  sympathisiren.  Dass  Roqi  alle 
Welt  ausraubt,  kann  er  ertragen,  dass  aber  in  Rom 
der  fleissige  Fremde  es  oft  weiter  bringt  als  der  lun- 
gernde Eingeborene,  soll  entsetzlich  sein. 

Durchaus  nicht  gehässig  gegen  die  Juden  ist 
die  gleichfalls  zur  Belastung  angeführte  Stelle 
aus  Juvenal:  „In  welcher  Synagoge  soll  ich  Dich 
suchen?''  Juvenal  geisselt  vielmehr  daselbst  die 
Rohheit  reicher  römischer  Schlemmer,  die,  wenn  sie 


141 


von  ihren  Gelagen  keimkehren,  sich  wohl  hüten,  mit 
Mächtigen  anzubinden,  dagegen  schlichte  Leute,  wie 
Juden  und  Andere,  die  nicht  mit  Fackel  und  Diener- 
schaft die  Strasse  passiren,  trotzend  auf  ihre  Macht, 
schimpflich  behandeln  und  dann  noch  mit  späterem  Pro- 
cesse  bedrohen  i).  Beiläufig  drücke  ich  mein  Erstaunen 
aus,  dass  ein  Mann  wie  Hausrath,  der  doch  von  jüdi- 
schen Dingen  etwas  versteht,  sich  die  aberwitzige 
Auslegung  der  Stelle  in  Horazens  Satiren  IL,  3,  286  ff. 
gefallen  lässt  —  eine  Mutter  gelobt  dort  dem  Jupiter, 
ihren  kranken  Jungen  am  Jovistage  (Donnerstag) 
fastend  früh  Morgens  im  Flusse  stehen  zu  lassen  — 
als  sei  das  „eine  der  Synagoge  ergebene  Mutter"  ge- 
wesen -). 

Aber  Hausrath  ist  in  der  That  für  einen  wissen- 
schaftlichen Mann  viel  zu  genügsam,  wo  es  sich  um 
die  Frage  handelt:  Ist  das  auch  wirklich  so  und  kann 
ich  das  belegen?  So  schildert  er  zu  seinem  und 
Anderer  Yergnügen  den  Lärm,  den  die  Juden  in  Kom 
machten:  „Mit  innerstem  Ergötzen  sahen  die  Bewohner 
der  Hauptstadt  von  Zeit  zu  Zeit  die  Wirbel  einer 
theologischen  Debatte  durch  das  Judenviertel  brausen 
und  die  wenig  beliebte  Nation  zanken,  lärmen. 
Staub  werfen  und  selbst  zu  Gewaltthätigkeiten  gegen 


1)  Juvenal  III.,  2S6— 2J>6.  ,Jn  qua  te  quaero  proseucha?'' 

2)  Hausrath,  ?.  l.  S.  79. 


142 


einander  schreiten  und  gelegentlich  wurde  der  Lärm 
so  gross,  dass  der  Prätor  mit  Massen- Ausweisungen 
Torging"  1). 

Das  ist  sehr  gut  gesagt.  Aber  wo  ist  die  Quelle? 
Die  alleinige  Quelle,  aus  der  diese  Schilderung  ge- 
flossen, ist,  wie  uns  eine  Xote  Hausrath's  überzeugt, 
die  bekannte  ^otiz  des  Sueton:  „Die  Juden,  die  auf 
Anregung  Chresti  beständig  tumultuirten.  wies  er  aus 
Kom".  Das  ist  schon  oben  richtig  erklärt:  man  fing 
an,  die  messianische  Predigt  von  Christus  zu  bearg- 
wöhnen; das  Tumultuiren  ist  Polizeiausdruck  für 
Etwas,  das  irgendwie  stört. 

Hausrath  Avird  wohl  gestehen  müssen,  dass  hier 
seine  Phantasie  viel  ergiebiger  war,  als  seine  Quelle. 
Es  ist  dann  auch  kein  Wunder,  wenn,  nachdem  einmal 
die  Gesinnung  des  heidnischen  Eom  gegen  die  Juden 
so  Grau  in  Grau  gemalt  ist.  man  auf  einmal  um  die 
Erklärung  verlegen  ist,  woher  denn  das  Umsichgreifen 
der  jüdischen  Sitten,  die  Hinneigung  nicht  gerade  der 
schlechteren  Seelen  zum  jüdischen  Gesetz  gekommen 
sein  kann.  Ob  wohl  Renan,  als  er  den  Satz  schrieb, 
„Besonders  fühlten  sich  die  Frauen  zu  diesen  in 
Lumpen  gehüllten  Sendboten  hingezogen'-  -)  —  die 
Lumpen  hat  ihnen  jiatürlich  Renan  selbst  angezogen  — 

1)  Hausrath  /.  /.  III.,  S.  79. 

-')  Renan,  ..Die  Apostel"  (deutsch).  S.  305. 


143 


sich  die  Frage  vorgelegt  bat,  ob  es  denn  Eigenheit 
der  Frauen  sei,  für  zerlumpte  und  nocb  dazu  aus 
dem  Halse  riechende  Menschen  Sympathien  zu  haben? 
Wahrlich  nicht.  Als  es  gelungen  war,  durch  tausend- 
jährigen Druclv  die  Juden  in  gewissen  Gegenden  zu 
verunstalten,  da  waren  sicherlich  die  Frauen  die 
Letzten,  die  sich  ihrer  annahmen. 

Ich  meine,  durch  Vorstehendes  Jeden  überzeugt 
zu  haben,  dass  eine  solche  ^N'utzbarmachung  alter 
Stellen  eher  zum  Irrthum,  als  zur  Wahrheit  leitet, 
und  gehe  jetzt  auf  die  taciteische  Erzählung  der  N'ero- 
nischen  Christenverfolgung  ein^),  nicht  um  das  von 
ausgezeichneten  Forschern  Gesagte  zu  wiederholen, 
sondern  um  das  die  Juden  Betreffende  ins  Licht  zu 
setzen. 

Der  A^erdacht,  den  Tacitus  unsicher-),  Sueton 
und  Dio  (richtiger  der  Mönch  Xiphilinus)  bestimmter 
aussprechen,  dass  Xero  selbst  Koni  angezündet  habe, 
verdient  keine  Beachtung.  Darin  ist  Stahr's  „Rettung^' 
sicherlich  gelungen  und  die  Schiller'schen  Unter- 
suchungen aus  schlaggebend  ^). 


1)  Tacitus,  Ann.  XV.,  cap.  38—44. 

-)  Sequitur  clacles,  forte  an  dolo  principis  mcertani  (neun 
atrmnque  auctores  prodiderej  etc. 

3)  Stahr  in  der  oben  angeführten  Darstellung  in  Wester- 
mann's  Monatsschrift;  Schiller.  ..Nero'S  behandelt  die  Berichte 
über  den  Brand  liom's  von  Seite  424  ab  mit  grosser  kritischer 
Akribie. 


144 


Aber  was  besagen  die  TVorte  des  Tacitus,  dass 
unter  Denen,  welche  der  Pöbel  Christianer  nannte, 
Solche  ergriffen  worden .  welche  gestanden  ?  ^)  Ganz 
gewiss  heisst  das  nicht,  dass  sie  einfach  zugaben,  Rom 
angezündet  zu  haben,  da  Tacitus  sie  selbst  nacli  der 
Richtung  hin  sie  gar  nicht  für  schuldig  hält-).  Ebenso 
wenig  aber,  dass  sie  zugaben,  Christen  zu  sein,  weil 
darin  damals  noch  kein  vom  Staate  verbotenes  Yer- 
halten  lag.  Vielmehr  ist  die  Saclie  folgendermaassen 
zu  denken: 

In  der  jüdischen  Welt  war  damals  wohl  allgemein 
die  Messiashoffnung  lebendig,  aber  nirgends  sah  man 
mit  solcher  Gewissheit  der  demnächstigen  Parusie 
des  Messias  (Christi)  entgegen,  als  in  dem  Theile  der 
Juden,  der  an  die  Messianität  Jesu  glaubte.  Man 
erwartete  mit  dem  Erscheinen  des  Messias  in  Herrlich- 
keit zugleich  ein  schweres  Gericht  über  die  Sünder, 
vor  allem  den  Untergang  Rom's  durch  Feuer'-).     Als 


1)  Tacitus,  l.  1.  c.  44:  Igitur  priinum  correpti  qui  fate- 
hantur,  deinde  indicio  eorum  muJtitudo  ingens  haiid  perinde  in 
crimine  hicendii  quam  odio  humcini  generis  convicti  sunt. 

2)  Tgl.  die  '\Vorte  in  der  vorstehenden  Xote:  „Xickt  sowohl 
der  Brandstiftung,  als  vielmehr  des  Hasses  gegen  das  Menschen- 
geschlecht überführt". 

3)  Apokalypse  18:  Vers  8  daselbst  lautet:  ,.Im  Nu,  an 
einem  Tage  kommen  über  sie  (die  grosse  Stadt,  das  sündige 
Babel j  ihre  Schläge:  Tod  und  Trauer  und  Hunger,  und  sie  wird 
in  Feuer  verbrannt,    denn  stark  ist  Gott  der  Herr,    der  sie  ge- 


145 


nun  Koni  von  einem  schweren  Brande  heimgesucht 
wurde,  an  dem  sicherlich  die  Christen  unschuldig 
waren,  da  sahen  diese  darin  den  Beginn  der  Kata- 
strophe, die  sie  erhofft,  verhehlten  ihre  Freude  nicht 
über  die  beginnende  Erfüllung  des  prophetisch  Ver- 
kündeten, hielten  das  Löschen  für  gottwidrig  i)  und 
waren,  ob  ihres  Yerhaltens  ergriffen,  sicherlich  zu 
voll  von  dem  Glauben  an  das  eintretende  Gericht,  um 
ihren  Triumph  zu  leugnen  oder  mit  den  Manien  der 
Vielen,  die  ihre  Gesinnung  theilten,  zurückzuhalten. 

So  erklärt  sich  die  Meldung  des  Tacitus,  dass  auf 
Einleitung  des  Strafprocesses  man  das  Geständniss 
Einiger  erwirkte,  darauf  auf  die  Angabe  derselben  die 
Masse  der  Christen  überführte  nicht  sowohl  der  Brand- 
stiftung, als  des  Hasses  gegen  das  ganze  Menschen- 
geschlecht. Es  ist  klar,  dass  wir  noch  heute  uns 
leichter  in  die  Stimmung  und  das  Reden  der  Christen 
jener    Zeit    hineindenken    können,    als    der   damalige 


richtet^'.  V.  18:  „Und  sie  sclireien,  wenn  sie  den  ßauch  ihres 
Brandes  aufsteigen  scheu,  sprechend:  Welche  Stadt  ghch  einst 
dieser  grossen".  Solche  Erwartungen  lebton  schon  langst  vor 
der  Abfassung  der  Apokalypse  im  Herzen  der  frommen  Christen, 
welche  das  Wohlergehen  der  Sünder  sich  nur  unter  der  Voraus- 
setzung erklären  konnten,  dass  sie  für  den  Gerichtstag  aufbewahrt 
seien. 

^)  So  erklärt  sich  wohl  die  von  Tacitus  gegebene  Schilde- 
rung {ibid.  38) :  nee  quisquam  defendere  audebat,  crebris  multo- 
rum  minis  restinguere  prohibentmm. 

10 


146 


römische  Stadtpräfect.  vor  dem  die  Untersuchung  ge- 
führt wurde.  Der  Triumph  über  den  Brand,  wohl 
auch  das  Eingeständniss,  dass  man  Löschen  für  ein 
Eingreifen  in  Gottes  Gericht  ansah,  nmsste  dem 
Stadtpräfecteii  als  ein  ausreichendes  Geständniss  er- 
scheinen. In  die  Seele  von  Menschen,  die  eine  Er- 
wartung hegten,  deren  Yerwirklichung  sie  ganz  allein 
von  der  Gottheit  erhofften,  ohne  persönlich  durch  eine 
That  sich  daran  zu  betheiligen,  konnte  ein  Heide  sich 
nicht  finden.  Und  dennoch  schimmert  die  Einsicht 
in  den  wahren  Sachverhalt  selbst  durch  die  Worte 
des  Tacitus  hindurch,  man  nierkt.  dass  auch  der 
Kömer  weiss,  wie  nicht  sowohl  die  Brandstiftung  als 
vielmehr  die  beim  Brande  bekundete  Gesinnung  — 
im  Sinne  der  Römer  Hass  gegen  das  Menschen- 
geschlecht —  den  Christen  vorzuwerfen  gewesen  sei. 
Welchen  Anlass  hat  nun  ein  ehrlicher  Forscher, 
die  Juden  hier  in  einen  Gegensatz  zu  den  Christen 
zu  bringen  und  sie  als  die  Denuncianten  zu  bezeich- 
nen? Tacitus,  der  an  unserer  Stelle  mit  gewohnter 
Gehässigkeit  von  den  Juden  redet,  giebt  dennoch  zu 
einem  solchen  Verdacht  nicht  das  leiseste  Recht,  sagt 
vielmehr  ausdrücklich,  dass  die  zuerst  ergriffenen 
Christen  die  anderen  angegeben  iiätten-). 


1)  Siehe  die  oben  citirte  Stelle.  Die  correjjfi  sind,  wie 
Tacitus  sagt,  Solche,  quos  cuhixs  Christianos  appelJahat.  Dann 
..inäicio  eonim''  wurden  die  Anderen  vor  den  ßichter  gebracht. 


147 


Aber  auch  diese  JSTotiz  muss  erst  sitiiationsgemäss 
gedeutet  werden,  um  richtig  zu  sein.  Die  zuerst 
Ergriffenen  waren  sicherlich  Solche,  die  in  ihrer  Be- 
geisterung aus  ihrer  Gesinnung  auf  offener  Strasse 
kein  Heh!  gemacht  hatten.  Man  denke  sich  doch  nur 
wahrhaft  Gläubige,  die  den  Anfang  des  verheissenen 
Endes  mit  Augen  zu  sehen  glaubten.  Da  herrscht 
nicht,  kluge  Zurückhaltung,  da  wird  offen  geredet, 
und  als  sie  ergriffen  wurden,  da  waren  sie  schwerlich 
gewillt,  die  gebrauchten  Ausdrücke  und  ihre  Haltung 
feige  zu  leugnen,  sondern  rühmten  sich  Tielmehr 
einer  grossen  Zalil  Gesinnungsgenossen,  denen  sie  nun 
edeichfalls  Verderben  brachten,  ohne  das  etwa  zu 
beabsichtigen. 

Unzweifelhaft  dagegen  ist  die  Hindeutuug  des 
Tacitus    auf    die    „Schandthaten"   der  Christen  i).    als 


1)  Tacitus,  /.  J.  c.  44:  ergo  abolendo  riimori  subdidü  reos 
et  (iiiaesitissimis  poenis  fiffecif,  quos  per  fhigitia  invisos  vulgus 
Christianos  apellahcd.  Ueber  die  „quae.^itis.^imae  poenae"  ist 
Folgendes  zu  bemerken:  Die  grausame  Tödtung  der  Christen, 
namenÜich  die  scbcussliche  Barbarei,  sie  bei  ihrer  Verbrennung 
zugleich  als  Tackeln  zur  Erleuchtung  der  von  Nero  gegebenen 
nächthchen  Spiele  zu  benutzen,  ist  in  dieser  Auschrcitung  nero- 
nisch,  im  Uebrigen  aber  ^var  die  tnnica  molestct,  das  Martergewand 
aus  AVerg  und  Pech,  in  ^velchem  die  zum  Feuertod  Terurtheiiten 
lebendig  verbrannt  wurden,  eine  bei  den  Römern  für  Brandstifter 
auch  sonst  übliche  Strafe.  Juvenal  YIII..  231—234  sagt: 
Quid,  Catüina,  tuis  natalibiis  atque  Cethegi 
Inveniet  qui^quam  suhlimiusY  Anna  tarnen  ros 

10* 


148 


hätten  die  Heiden  schon  damals  jene  schrecklichen 
Gerlichte  erfunden  gehabt,  die  erst  unter  Trajan  auf- 
kamen, ebenso  seine  genaue  Unterscheidung  zwischen 
Juden  und  Christen  eine  Antidatirung.  Da  man  unter 
den  Flaviern  die  Christen  noch  zu  den  Juden  rechnet, 
so  kann  man  sie  zu  Xero's  Zeit  noch  nicht  von  ihnen 
geschieden  haben.  Die  Christen  unter  Xero  waren 
nur  die  zuversichtlichsten  aller  jüdischen  Messianer, 
diejenigen,  welche  die  Ankunft  oder  richtiger  Wieder- 
kunft des  Messias  geradezu  jeden  Augenblick  erwar- 
teten und  die  darum  bei  der  grossen  Katastrophe 
dui'ch  ihre  ausgesprochenen  Hoffnungen  sich  am 
meisten  exponirt  hatten. 


Noctui'na  et  flammas  domibus  tenqjlisque  parcdis, 
Ut  bracatorum  pueri  Senonumque  minores, 
Ausi  qiiod  liceaf  funica  punire  molesta. 
Dagegen  direct  auf  das  Verfahren  des  Xero  gegen  die  Christen 
spielt  an    die  Stelle    des  Juvenal  I.,  155  ff.    „taeda    Jucehis    in 
üJa"  e  c.  I.  Vgl.  noch  andere  bei  Renan.  .,L-AntecJirist''  S.  166  ff. 
angeführte  Stellen. 


VII.  Proben  von  falschen  Anschuldigungen  gegen 

die  Juden,  welche  vor  einer  ernsten  Kritik  nicht 

bestehen  können. 


Auf  das.  was  andere  Kritiker  bereits  gelöscht, 
nachdem  es  früher  anstandslos  den  Juden  aufs  Kerb- 
holz geschrieben  worden  war,  gehe  ich  hier  nicht 
weiter  ausführlich  ein,  obwohl  man  Vielen  immer  und 
immer  wieder  etwas  Xeues  damit  sagt. 

So  komme  ich  nicht  wieder  auf  die  bekannte 
Belastung  der  Juden  zn  Gunsten  des  Pilatus,  zumal 
ich  im  Früheren  Gelegenheit  hatte,  die  Sache  in 
einem  grösseren  Zusammenhang  zu  behandeln. 

Ebenso  erinnere  ich  nur  kurz  an  die  Lösung,  die 
das  Räthsel,  welches  uns  in  der  unmöglichen  Figur 
des  Judas  aufgegeben  war  und  schon  dem  Christen- 
feinde Celsus^)  so  viel  Gelegenheit  zu  giftigen  Aus- 
fällen geboten  hatte,  durch  den  Scharfblick  Yolkmar"s 


1)  Origines  contra  CeJsnm  IL,  9;  IL,  12. 


150 


gefunden.  A^lkmar  hat  uns  gezeigt,  dass  die  Apo- 
kalypse noch  von  keinem  Terräther  unter  den  Aposteln 
weiss,  dass  sie  von  allen  zwölf  mit  gleicher  Würdi- 
gung redet  und  dass  Judas  eine  zur  Zeit  der  Ent- 
fremdung Ton  den  Juden  erdichtete  Figur  sei,  in  der 
das  Judenthum  selbst  als  verrätherisch  sollte  perso- 
nificirt  und  gebrandmarkt  werden  i).  Bekannt  sind 
darum  auch  die  widersprechenden  Erzählungen  über  den 
Verräther,  welche  sich  Matth.  27,3 — 10  und  Apostel- 
geschichte I.,  18  finden.  Dazu  füge  ich  nur  noch 
Eines  hinzu.  Xach  Eusebius  hiess  der  letzte  Bischof 
aus  der  Beschneidung  in  Jerusalem,  der  bis  zum 
Hadrianischen  Kriege  sein  Amt  verwaltete.  Judas-).  Ob 
wohl  ein  Christ  sich  diesen  Xamen  beigelegt,  ja  auch 
nur  ihn  behalten  hätte,  wenn  das  Bild  des  Yerräthers 
damals  schon  fertig  gezeichnet  gewesen  wäre?  Freilich 
erwähnt  Eusebius  noch  für  eine  spätere  Zeit  einen 
Schriftsteller  Judas 3),  der  über  die  siebenzig  TTocheu 
des  Daniel  geschrieben  habe.  Aber  Allem  nach  scheint 


ij  Yolkmar.  ..Die  Eehgion  Jesu"  S.  261;  S.  190. 

-)  Eusebius.  //,  c.  IT..  5.  Eusebius  theilt  ..aus  schrift- 
lichen Urkunden ••  (sH  r[-^yj.'cwA  die  Xamen  der  Bischöfe  mit,  die 
bis  zur  YeiwüstuDg  Jeiusalcms  durch  Hadrian  in  Jerusalem  ihr 
Amt  vei^waltet.  Er  rechnet  deren  fünfzehn  aus,  die  alle  Juden 
von  Gebart  waren,  und  bezeichnet  als  fünfzehnten  und  letzten 
einen  Bischof  Namens  Judas. 

3)  Eusebius,  li.  c.  TL.  7. 


151 


das  ein  Jude  gewesen  zu  sein,    der  auf  die  Ankunft 
des  Messias  hoffte. 

Gleichfalls  für  ausreichend  halte  ich  es,  im  Yor- 
beigehen  nur  flüchtig  noch  einmal  daran  zu  erinnern, 
dass  die  moderne  Kritik  die  leider  folgenreich  gewor- 
dene Unwahrheit,  als  seien  die  Juden  Erfinder  der 
von  den  Heiden  den  CJiristen  vorgeworfenen  flagitia 
gewesen,  als  solche  erkannt  und  beseitigt  hat. 

Hier  will  ich  nur  ein  Paar  neue  Proben  folscher 
Anschuldigungen  geben,  welche  dem  kritischen  Scharf- 
sinn der  Forscher  wohl  nur  darum  entgangen  sind, 
weil  für  sie  der  Gegenstand  nicht  die  nöthige  Wich- 
tigkeit hatte.  Ich  meine  aber,  dass  bei  Richtigstellung 
von  historischen  Xotizen  auch  das  Kleine  nicht  zu 
verschmähen  ist. 

Für  mich  ist  es  ein  kritischer  Canon,  dass.  wenn 
den  Juden  jener  Jahrhunderte  eine  solche  Betheiligung 
an  Grausamkeiten,  sei  es  gegen  Christen,  sei  es  über- 
haupt gegen  irgendwen,  nachgesagt  wird,  die  zugleich 
eine  freche  Verhöhnung  der  mosaischen  Gebote  oder 
Dogmen  involvirt,  die  Nachricht  sehr  genau  darauf 
hin  anzusehen  ist,  ob  sie  nicht  vielleicht  erdichtet 
und  sogar  schlecht  erdichtet  ist.  Wird  dagegen  von 
Juden  etwas  erzählt,  was  zur  Xoth  wenigstens  als 
dem  Gesetze  Mosis  entsprechend  oder  doch  nicht 
widersprechend  sich  rechtfertigen  lässt,  so  ist  der 
Umstand  allein,  dass  es  unseren  heutigen  Anschauungen 


152 


in  keiner  TTeise  zusagt,  noch  kein  Yerdachtsgrund. 
Von  der  Zeit  des  Trajan  ab  namentlich,  wo,  wie 
bereits  gezeigt,  der  Streit  um  das  Gesetz  im  Vorder- 
gründe stand  und  die  Juden  mit  grösster  Genauigkeit 
der  Uebung  auch  des  kleinsten  mosaischen  Gebotes 
sich  befleissigten,  ist  der  eben  ausgesprochene  Canon 
ganz  gewiss  ein  unanfechtbarer. 

Das  haben  auch  moderne  Kritiker  gefühlt,  aber 
durch  stilistische  ATendungen  um  seine  Benutzbarkeit 
gebracht. 

Keimi)  liest  den  Bericht  über  das  Martyrium 
des  Polycarp  und  merkt,  dass  die  Juden,  die  den 
Heiden  geholfen  haben  sollen,  dabei  zugleich  das 
Sabbathgesetz  öffentlich  verletzt  haben  müssten.  Statt 
Verdacht  zu  schöpfen  gegen  die  überhaupt  nur 
künstlich  in  die  Erzählung  hineingebrachten  Juden, 
schreibt  er:  ..Trotz  des  Sabbath  waren  die  Juden  die 
eifrigsten  Mitarbeiter".  Ja.  wenn  die  Quelle  das  gesagt 
hätte  I  Aber  wir  werden  später  noch  sehen,  dass  der 
Erzähler,  der  die  Juden  gleichsam  programmmässig 
hineinbringt,  überhaupt  nicht  daran  gedacht  hat,  dass 
schon  der  Tag,  an  welchem  Polycarp  starb,  seine 
Xotiz  über  die  Juden  dementirt. 

Eine  gleiche  Kritik  und  eine  gleiche  Beseitigung 
kritischer     Scrupel     übt    Hausrath     gegenüber     dem 


1)  Keim,  ..Rom  und  das  Christenthum-.  S.  598. 


153 

Bericht  iiiclit  des  Dio  Cassius,  wie  man  gewöhnlich 
sagt,  sondern  des  Mönchs  Xiphilinus  über  die  Gran- 
samkeiten,  welche  die  Juden  bei  ihrem  Aufstände  116 
in  Cypern  und  anderswo  sollen  verübt  haben.  Haus- 
rath  fühlt,  dass  Juden,  die  noch  irgendwie  mit  dem 
Mosaismus  zusammenhingen,  wenn  auch  nicht  aus 
Menschlichkeit,  doch  mindestens  aus  Gesetzestreue 
nicht  thun  konnten,  was  ihnen  dort  imputirt  wird. 
Aber  mit  der  Wendung:  ,.Die  gefangenen  Römer 
und  Griechen  durften  jetzt  im  Amphitheater  kämpfen 
und  die  Juden  sahen  zu  (richtiger:  sollen  sie  gar  dazu 
gezwungen  haben),  ohne  des  Verbotes  zu  gedenken'' 
kommt  man  über  die  Sache  nicht  weg.  Denn  das 
sagt  nicht  mehr  Xiphilinus ,  sondern  Hausrath  i). 
Xiphilinus  denkt  überhaupt  nicht  an  das  mosaische 
Gesetz,  er  denkt  nur  daran,  den  Juden  Etwas  an- 
zuheften. Doch  gehen  wir  jetzt  auf  beide  genannten 
Fälle  näher  ein. 

Im  siebzehnten  Jahrhundert  ist  von  Usser, 
dann  von  Cotelier,  ein  Schreiben  der  Smyrnäischen 
Christengemeinde  an  die  Gemeinde  Philomelium  in 
Grossphrygien  über  die  Hinrichtung  zwölf  christlicher 
Märtyrer  (nach  Waddington  um  155,  nach  Lipsius 
um  156,  nach  Keim,  der  aber  schwerlich  Recht  hat, 
gar    erst  um    168),    darunter    auch    des     durch    sein 


1)  Hausrath,  ..XeutestainontUche  Zeitgeschichte-.  III.,  372, 


154 


Alter  und  seine  hohea  Tugenden  verehrten  Polycarp 
veröffentlicht  worden.  Die  in  diesem  Briefe  gegebene 
Erzählung  war  freilich  längst  durch  die  reiciüichen 
Auszüge,  die  sich  im  Eusebius  davon  finden,  in 
den  meisten  Zügen  bekannt  ^). 

Ich  überlasse  den  Fachmännern  das  Urtheil  über 
den  Inhalt  und  die  Darstellung  der  Begebenheit,  bei 
welcher  die  erstaunlichsten AYunder  vorkommen,  ebenso 
über  die  abweichenden  Eecensionen-),  und  beurtheile 
blos  das  über  Juden  dabei  Erzählte. 

Bei  Gelegenheit  von  Thierhetzen.  die  in  Smyrna 
zur  Belustigung  des  Tolkes  in  Gegenwart  des  Pro- 
consuls  Quadratus  gefeiert  wurden,  erlitten  elf  oder 
zwölf  Christen,  die  man  zur  Verleugnung  ihres  Ghiu- 
bens  zwingen  Avollte.  den  Märtyrertod.  Erbittert  über 
die  Standhaftigkeit  der  Märtyrer,  fahndete  man  nach 
dem  Haupt  der  Christengemeinde,  dem  achtzigjährigen 
Polycarp.  Polycarp  bekennt  rücksichtslos  und  stand- 
haft sein  Christenthum,  wird  auf  das  Geschrei  des 
Volkes  hin  zum  Scheiterhaufen  verurtheilt  und  stirbt 
in  der  denkbar  wunderbarsten  AVeise,  die  in  dem 
Briefe  und  bei  Eusebius  bis  auf  den  einen  Punkt. 
dass  Eusebius  nichts  von  der  Taube  hat,  al eichlautend 


1)  Eusebius.   h.  e.  IT..  15.    Damit  vergleiche  die  Ausgabe 
des  Briefes  in  ..Apostoüsche  Väter". 

2)  Danz,  ..De  Euseh'w",  ji.  13".    hat  über  das  Verhältaiss 
beider  Recensionea  gesprochen. 


155 


etwa  folgendermaassen  erzählt  wird:  „Die  Heizer 
zündeten  das  Feuer  an  (nämlich  des  Scheiterhaufens, 
auf  welchem  Polycarp  A'erbrannt  werden  sollte). 
Mächtig  schlug  die  Flamme  empor.  Da  schauten  wir. 
denen  zuzusehen  gegönnt  war,  ein  grosses  Wunder  — 
und  wir  wurden  wohl  auch  deshalb  erhalten,  damit 
wir  den  IJebrigen  das  Geschehene  verkünden  möchten 
—  das  Feuer  nämlich  bildete  eine  Wölbung,  ver- 
gleichbar einem  vom  Winde  geschwellten  Segel^ 
und  umgab  so  den  Leib  des  Märtyrers  ringsum  Avie 
eine  Mauer.  Dieser  aber  stand  mitten  inne  nicht 
wie  ein  verbrennender  Leib,  sondern  wie  ein  Brod. 
das  gebacken,  ja  wie  Gold  und  Silber,  das  im  Ofen 
geläutert  wird,  und  ein  Geruch,  wie  von  Weihrauch 
und  kostbarem  Gewürz,  den  Rauch  bewältigend,  drang 
heraus".  Es  wird  dann  hinzugefügt,  dass  der  Henker, 
weil  der  Leib  des  Polycarp  dem  Feuer  trotzte,  zum 
Dolche  seine  Zuflucht  nehmen  musste,  dass  das  stroni- 
weis  iliessende  Bhit  das  ganze  Feuer  verlöschte,  ja, 
dass  bei  dem  tüdtlichen  Stich  des  Henkers  eine  Taube 
hervorkam'). 


1)  Eiisebius,  /.  /.  u.  ,, Apostolische  Väter".  Entstanden  kann 
die  Sage  daraus  sein,  dass  Polycarp  vielleicht  einem  Löwen  vor- 
geworfen worden  und  verschont  geblieben.  So  etwas  kam  auch. 
wie  Tacitus,  Historien  II.,  61.  berichtet,  ohne  Wunder  vor. 
Ereilich  hielt  auch,  das  Volk  den  Mariccus,  weil  er  den  Thieren 
entgangen,  „für  unveiletzlich .  bis  er  vor  ViteUius  Augen  hin- 
gerichtet wurde". 


156 


So   ausgeschmückt   die  Erzäliluiio'   auch   hier   er- 

7 


scheint,  so  ist  doch  an  der  Wahrheit  der  Hauptsache 
nämlich  an  dem  Martyrium  und  der  bewiesenen  Stand- 
haftigkeit  des  Polycarp  nicht  zu  zweifeln.  Aber  eben 
der  Charakter  des  Berichtes,  der  aus  dem  Schlusstheil 
am  deutlichsten  erhellt,  hat  die  Forscher  längst  schon 
darauf  geführt,  dass  die  Erzählung  in  ihren  früheren 
Zügen  den  Yorgängen  beim  Tode  Jesu  nachgedichtet 
ist^).  Polycarp  ahnt  seinen  Tod-),  wird  verrathen^), 
reitet  auf  einem  Esel  in  die  Stadt  ein-i),  wird  wohl 
vom  römischen  Proconsul  verhört,  fällt  aber  mehr 
dem  Geschrei  des  Yolkes  zum  Opfer,  als  dem  AYillen 
des  Proconsuls.  Das  sollen  die  Worte  des  Proconsuls 
ausdrücken:  „Gewinne  das  Yolk''^),  so  dass  dieser 
eine  dem  Pilatus  ähnliche  Rolle  spielt. 

Aber   eine  Aehnlichkeit  fehlte  noch,   es   fehlten 
noch  die  zum  Tode  des  Märtvrers  beitrao-enden  Juden. 


1)  Darauf  bereitet  uns  schon  der  Eingang  des  Briefes 
(Apost.  Väter)  mit  den  Worten  vor:  ..Polycarp  sehnte  sich 
nämlich,  wie  der  Herr  auch,  hingegeben  zu  werden'". 

2;  ..Apost.  Väter",  Rundschreiben  C.  V.  Ev  spricht  pro- 
phetisch: ..Ich  muss  verbrannt  werden". 

^)  Ibid.  0:  ., Seine  Verräthor  mngo  die  Strafe  des  Judas 
treffen". 

4)  Ibid.  S. 

5)  ..Apost.  Väter-  10:  Easebius  h.  e.  IV..  15:  al  oz  O-sXsts 
TÖv  TOD   \o'.z-'.y.v'.z\iob    !JLa\>sIv    ko-^ov.   5o;    'fyikyj,-)   v.ai    av.o'jcov   s'^Yj 


157 


Die  ganze  Umgebung  ist  heidnisch,  das  Gesetz,  nach 
welchem  Polycarp  getödtet  wurde,  das  römische,  das 
Yolk  der  Thierhetzen  ohne  Erage  Heiden.  Dennoch 
werden  die  Juden  von  dem  Erzähler  oder  AYeiter- 
bildner  der  Geschichte  mit  in  die  lieidnische  Schuld 
verwickelt,  aber  mit  solcher  Unkenntniss  des  jüdischen 
Wesens,  dass  die  Erfindung  auf  Schritt  und  Tritt 
sichtbar. 

Die  Juden  sollen  erstens  so  gut  wie  die  Heiden 
verlangt  haben,  dass  Polycarp  einem  Löwen  vor- 
geworfen würdet),  aber  wie  das  damalige  jüdische  Ge- 
setz über  die  Thierhetzen  und  über  die  Bluturtheile 
der  Heiden  überhaupt  denkt,  sei  hier  in  wenigen 
Strichen  gegeben,  „Wer  im  Stadium  (dem  Orte  der 
Thierhetzen,  wie  ausdrücklich  erklärt  wird)  sitzt,  ist 
vergleichbar  dem,  der  selbst  Blut  vergiesst'"-^).  Es 
heisst  ferner-^):  „Man  darf  den  Heiden  keine  Bären, 
Löwen,  noch  sonst  etwas,  woraus  der  Menge  Schaden 
erwächst,  verkaufen.  Man  hilft  den  Heiden  nicht 
bauen:  Basiliken,  Schaffote,  Stadien  (Eennbahnen 
für  Thierhetzen)  und   Gerüste  (von   denen  aus  Todes- 


1)  Ihicl,  „Apost.  Väter'-  12. 

-)  j.  Abodak  sai'ah,  I.,  40a:    ■]arii?  n*  nn  i'nüiKn  att^r.n 

3)  Mischnah,  abodah  sarah,  L,  8:  mnKI  i'nn  ]nh  i^naiö  fK 

xnö^i'KT  ,cn-.;i  *ph'Dz  nn^u  'c:^n  ]•«  o'-n'?  pi3  in  tr^^tr  -im  bz^ 


158 


urtheile  i:-efällt  werden).  Dagegen  darf  man  ihnen 
bauen  helfen  Denkmäler  nnd  Badehäuser."  Zu  Basiliken 
erklärt  dann  die  Gemara  ausdrücklich,  dass  es  auch 
harmlose  Basiliken  gebe,  deren  Bau  unverfänglich 
ist,  dass  dagegen  diejenigen  verboten  seien,  in  denen 
Todesurtheile  gefällt  werden  i).  Der  einzige  Mischnah- 
lehrer, welcher  eine  Ausnahme  macht  und  die  An- 
wesenheit im  Stadium  für  gestattet  hält,  bestätigt  mit 
seiner  Ausnahme  nur  die  Regel.  Es  sei  darum  er- 
laubt, sagt  er,  einmal  weil  man  daselbst  durch  sein 
Geschrei  einen  Menschen  retten  kann,  dann  auch 
wohl  einer  Frau,  die  durch  den  unbezeugten  Tod  ihres 
im  Stadium  umgekommenen  Gatten,  für  immer  ver- 
einsamt bleiben  müsste,  durch  sein  Zeugniss  die  Mög- 
lichkeit zur  Wiederverheirathung  verschaffen  könnte-). 
Wie  dem  auch  immer  sei,  bei  solcher  Stimmung  der 
Juden  gegen  Alles ,  Avas  nach  heidnischer  Lust  am 
Blutvergiessen  schmeckt,  ist  ihre  Haltung  in  unserer 
Erzählung  offenbar  nicht  nach  dem  Leben  gezeichnet. 
Aber  es  kommt  immer  seltsamer.  Es  heisst  im 
Verläufe  unserer  Erzählung:  „Als  das  vom  Herold 
ausgerufen  worden    war  (nämlich   dass   Polycarp   sich 


1)  b.  Talmud    abodah    samh    fol    16=    "^w    '{n    rriKpb'DZ    ': 
-)  Tosephtah,  abodah  sarah  1,  7  <?f?.  Znckermandel  S.  462): 


159 


als  Christ  bekannt  htätte),  schrie  die  ganze  Versammlung 
von  Heiden  nnd  Juden,  die  zu  Smyrna  ansässig 
waren,  mit  unbändiger  Wuth  und  gewaltiger  Stimme: 
Dies  ist  der  Lehrer  Asiens,  der  Yater  der  Christen, 
der  Mörder  unserer  Götter,  der  die  Menge  lehrt, 
ihnen  nicht  zu  opfern,  noch  auch  sie  anzubeten''^). 
Haben  das  die  Juden  wirklich  gerufen,  waren  sie 
wirklich  ergrimmt,  dass  der  Götzendienst  gestört 
wurde,  die  Juden,  welche  A-on  dem  Götzendienst  den 
Satz  aufstellen:  „Schwer  wiegend  ist  der  Götzendienst, 
denn  wer  von  ihm  sich  lossagt,  von  dem  ist  es,  als 
ob  er  zur  ganzen  Thora  sich  bekennete?'" -) 

Eenan  hat  hier  die  Schwäche  der  Erzählung 
gefühlt,  aber  sein  Darstellungstalent  ist  darüber  weg- 
gekommen. Das  Wie  ist  characteristisch  genug,  um  eine 
Anführung  zu  verdienen.  Renan  arrangirt  die  Quelle. 
Er  setzt  erst  die  Juden  und  dann  die  Heiden,  und 
vertheilt  dann  die  Rollen  reclit  angemessen,  leider 
nur  nicht  quellenmässig.  Er  schreibt:  Juifs  et  pa'tens 
poHSScrent  des   cris  de   mort.     „Le  voiln,  Je  doctear  de 


1)  Eusebius,  /.  /.  To'koo  X^/O-svtgt  örö  "oO  xYp-jxo;  räv  So 
-AT^t>os  Sv)-vojv  TS  v.al  'Jo'joaic'jv  tojv  tV^v  X^.opvav  xaToiv-oüv-ojv,  äv.a- 
laT/sT«;)  l>'j;j.(T)  zai  U-z'^c/j/r^  'f<^'^'^'^  s,^öa'  ootö;  Izzi'/  ö  z'f^c,  'Aota^ 
oioa-v.aXo:,  ö  zaTr^p  tojv  Xp'.--'.avojv.  ö  Tfov  YjiJLstipdiV  9-soiv  xaOac- 
c£xr,c.   ö  Tto/J.o'j-:  o:oar/.cov  \x'}^  0-Jsiv,  li'qoz  -pojv.'jvs:-/. 

-)  Talmud  b.  Kidduschin  40a:  ,12  "iBlzn  ^Dtt'  r:3  miön 
m',nn  "^^rr  nT,^2.     Val.  Megillah  loa  lind  öfter. 


160 


TAsie,  Je  jK're  des  cliretiens'-  disaient  les  premiers.  ,,Le 
voüä  le  destnicfetü'  de  nos  dieiu:,  celui  qm  enseigne  a  ne 
pas  sacrificr,  ä  ne  pas  aäorer!''  disaient  les  seconds[). 
So  ist  freilich  Alles  iu  Ordnung  bis  auf  die  Kleinig- 
keit, dass  es  Eenan's  eigenes  Fabrikat  ist. 

Aber  ebenso  klar  ist  auch  das  Urtheil  über  die 
spätere  Xachhilfe.  Die  Menge  verlangt  den  Feuertod 
für  Polycarp.  Da  wird  denn  berichtet:  ., Diesem 
AYorte  entsprach  die  noch  schnellere  That.  Die 
Yolkshaufen  schleppten  sofort  aus  den  Werkstätten 
und  aus  den  Bädern  Holz  und  Reisig  zusammen". 
Hierauf  folgen  die  Worte:  „Am  meisten  halfen  be- 
reitwilligst dazu  nach  ihrer  Gewohnheit  die  Juden?"'-) 
Aber  der  Darsteller  hat  vergessen,  dass  zu  Anfang 
der  Erzählung  berichtet  war,  der  Tag  des  ^lartyriums 
sei  ein  Sabbath  gewesen-^),  Haben  die  Juden  wirklich 
am  Sabbath  Holz  für  den  Scheiterhaufen  herbeigetragen 
und  das  vielleicht  gar  noch  aus  ihren  Werkstätten 
oder  aus  ihren  Bädern?  Wie  ich  über  Keim's: 
,, Trotz  des  Sabbath"  denke,  habe  ich  schon  oben  gesagt. 
Wenn  das  die  Quelle  selbst  gesagt  hätte,  Hesse  ich  es 
mir  noch  gefallen.  Xicht  so  eine  stilistische  Verbesse- 
rung der  Quelle,  um  die  Schwieris^keit  zu  ebnen. 


1)  Renan.  .,L'eglise  Chretienne'' ,  p.  458. 

2)  Eusebius,  /.  ?.  „Äpost.  Väter"  ?.  l.  c.  13. 

'*)  ..Apost.  Väter'-  /.  7.  c.  8.  ,,Es  war  Charsamstag" 


161 

Man  wird  es  nach  diesem  Zustande  der  Quellen- 
schrift nur  natürlich  finden,  wenn  ich  meine,  dass 
ganz  dasselbe  von  der  weiteren  Nachricht  gilt,  welche 
die  Juden  eine  ebenso  wenig  sach-  wie  situations- 
gemässe  Eolle  spielen  lässt.  Der  heidnische  Irenarch 
beredet  nämlich,  so  wird  weiter  erzählt,  den  Proconsul, 
die  Leiche  des  Polvcarp  den  Christen  zur  Bestattung 
nicht  auszuliefern,  „damit  sie  nicht"  —  so  sagt  der 
Irenarch  —  „von  dem  Gekreuzigten  ablassen  und 
diesen  anzubeten  anfingen"  i).  Aber  auch  daran  sollen 
die  Juden  Schuld  gewesen  sein,  der  Irenarch  habe 
das  nämlich  auf  ihr  Anstiften  gethan.  Man  prüfe  die 
Worte  und  erwäge,  wie  wenig  Sinn  eine  solche  Be- 
sorgniss  im  Munde  der  Juden  hat  und  wie  sie  um- 
gekehrt heidnischen  Magistraten  jener  Zeit  ganz  gut 
zuzutrauen  ist. 

Mein  Urtheil  über  die  ganze  Erzählung  vom 
Martyrium  des  Polvcarp  geht  dahin,  dass  der  Kern 
der  Sache  unzweifelhaft  historisch  ist,  dass  man  aber 
dann  bei  den  freien  Ausschmückungen,  die  ja  kein 
Mensch,  der  überhaupt  mitzählt,  in  Abrede  stellen 
kann,  auch  die  Juden  nicht  vergessen  hat,  glücklicher- 


1)  „ApostoUsche  "Väter".    'Y~i'^cc\o^    ^(ohv  xcvs?   ivxoysiv  tü) 

£:':xaüpüj|jivov,   xoöxov  aptojvxai  'oßs'.v. 

11 


162 


weise  so,   ^dass    man    ihre   spätere   Einschiebung    bei 
unbefangener  Ejritik  sofort  erkennt  i). 

1)  "Wie  selir  man  sich  später  gewöhnt  hatte,  die  Judeu  bei 
passender  und  unpassender  Gelegenheit,  wenn  es  nur  unfreundlich 
war,  in  die  Darstellungen  hineinzubringen,  sei  hier  an  einem 
anderen  Beispiele  gezeigt.  Sulpicius  Severus  sagt  (Chr.  II.,  3.  5): 
..Die  eisernen  Schenkel  sind  das  vierte  Reich  (Dan,  2.  40); 
darunter  giebt  das  römische  sich  zu  erkennen,  bei  weitem  das 
stärkste  im  Vergleich  zu  allen  vorangegangenen  Herrschaften. 
Die  Füsse  jedoch,  welche  theils  eisern,  theils  thöneru  sind 
(Dan.  2,  41).  geben  die  Vorbedeutung  von  einer  derartigen  Thei- 
lung  der  römischen  Herrschaft,  dass  sie  nie  wieder  eins  werden 
könne;  und  dies  hat  sich  gleichfalls  erfüllt.  "^Vird  doch  der 
römische  Staat  schon  nicht  länger  von  Einem  Kaiser,  sondern 
sogar  von  mehr  als  zweien  regiert,  und  zwar  von  solchen,  die 
fortwährend  sich  bekämpfen,  sei  es  mitAVaffen  oder  mit  Politik. 
Endlich  wenn  die  Thonscherben  und  das  Eisen  untereinander 
gemischt  werden,  ohne  dass  sich  die  Stoffe  verbinden  (Dan.  2,  43), 
so  sind  damit  die  Mischungen  des  Menschengeschlechtes  bei 
fortdauernder  Abneigung  gegen  einander  angedeutet.  Ist  es  doch 
offenkundig,  dass  der  römische  Boden  von  ausländischen  Stämmen 
entweder,  nachdem  sie  zum  Kriege  sich  erhoben,  besetzt,  oder, 
nachdem  sie  in  einem  Scheinfrieden  sich  unterworfen  haben, 
ihnen  überwiesen  worden,  und  sehen  wir  doch,  wie  barbarische 
Völter  in  unseren  Heeren.  Städten.  Landschaften  mit  uns  ver- 
mischt loben,  ohne  dass  sie  darum  in  unsere  Sitten  sich  fügen."  — 
Die  Uebersetzung  der  lateinischen  Worte  ist  von  Bernays": 
„Ueber  die  Chronik  des  Sulpicius  Severus-  S.  28.  Bei  ihm  ist 
auch  zu  finden,  dass  sich  ein  Leser  bewogen  gefühlt  hat,  die 
AVorte:  ..wie  barbarische  Völker  in  unseren  Heeren.  Städten, 
Landschaften  mit  uns  vermischt  leben  u.  s.  w."  durch  Ein- 
schiebung von  „und  namentlich  Juden"  (et  praecipue  Judaeoa) 
zu  illustiiren.     Dass    die  Worte    nicht  passen .    Avird    dort  klar 


163 


Wir  wenden  uns  jetzt  zu  der  anderen  von  uns 
obeii  berührten  Nachricht  in  Dio  Cassius  68,  32,  nach 
welcher  die  Juden  zur  Zeit  des  Trajan  (116)  die 
furchtbarsten  Grausamkeiten  in  Cyrene,  Cypern  und 
anderswo  gegen  ihre  Feinde,  die  Hellenisten,  verübt 
haben  sollen. 

Bekanntlich  haben  wir  vom  Eegierungsantritte 
des  Xero  (vom  61.  Buche  des  Dio)  ab  nicht  mehr 
den  wirldichen  Dio  vor  ans,  sondern  den  Auszug, 
den  der  Mönch  Xiphilinus,  Yerwandter  des  gleich- 
namigen Patriarchen  von  Constantinopel  und  Trapezunt, 
am  Ende  des  11.  Jahrhunderts  von  den  Büchern  des 
Dio  gemacht  hat.  Nur  vereinzelte  Bruchstücke  der 
vollständigen  Geschichte  sind  uns  verblieben.  Schon 
im    früheren    Bändchen    haben    wir    zugleich   darauf 


gezeigt,  ebenso  dass  schon  der  gelehrte  Herausgeber  der  Chronik 
Sigonius  au  den  Worten  Anstoss  genommen.  Bei-nays  will  nun 
schreiben  et  praecipue  GotJws,  weil  sie  allein  passen.  Allein 
ich  glaube,  dass  gar  nichts  dafiü-  zu  schreiben  ist.  Sulpicius 
Severus  brauchte  seinen  Zeitgenossen  ein  allen  deutliches  Sach- 
verhältniss  nicht  zu  erläutern.  Sie  wussten,  wer  die  barbarischen 
Völker  waren,  von  denen  Severus  redet.  Aber  ein  Späterer  fühlte 
sich  bewogen,  et  iwaecipue  Judaeos  einzuschieben  nach  der  ein- 
fachen Logik:  Warum  sollte  Severus  sie  nicht  meinen,  wo  er 
ein  Missbehagen  ausdrückt?  Bernays  selbst  fährt  ja  fort:  ,,Noch 
an  einem  anderen  Orte  der  Chronik  haben  die  Abschreiber  den 
ihnen  geläufigen  Judennamen  eingeschwärzt.  Bei  Flacius  und  im 
Vaticanus  heisst  es  übereinstimmend  IL,  7,  1  exagitati  in  Jndaeo. 
Das  richtige  exagitati  inridiati  hat  bereits  Giselinus  erkannt 

11* 


164 


aufmerksam  gemacht,  dass  wir  die  Veranlassung  zum 
damaligen  Auf  stände  der  Juden  in  den  hellenistischen 
Ländern  in  externen  Quellen  vergebens  suchen.  Es 
^Yar  das  eben  unterdrückt  worden  i). 

Aber  es  ist  doch  nicht  schwer,  aus  äusseren  und 
inneren  Gründen  nachzuweisen,  dass  die  geschilderten 
Grausamkeiten  erst  durch  Xiphilinus  die  grässliche 
Färbung  bekommen  haben,  vor  der  wir  uns  entsetzen. 

Wenn  die  Juden  aufstanden,  so  waren  es  die 
gesetzestreuen.  Dass  diese  in  einer  Zeit,  wo  sie 
vielleicht  mehr  als  jemals  an  das  Gesetz  sich  klam- 
merten, aus  Eachsucht  die  Gesetze  Mosis  so  frech 
sollten  verletzt  haben,  dass  sie  das  Fleisch  der  er- 
schlagenen Feinde  gegessen  hätten,  und  dass  sie 
andere  Feinde  gezwungen  hätten,  mit  wilden  Thieren 
zu  kämpfen,  wäre  selbst  dann  unglaublich,  wenn  wir 
aus  einer  guten  Quelle  schöpften.  Wie  aber,  wenn 
sich  ganz  klar  zeigen  lässt,  dass  bei  richtiger  Taxi- 
rung der  Quellen  unsere  angeführte   sich  alsbald   als 


1)  Wie  rücksichtslos  man  unter  den  byzantinischen  Cäsaren 
in  Unterdrückung  von  nicht  genehmen  Schriftstellern  vorging, 
erzählt  Papst  Leo  X.,  der  von  Demetrius  Chalcondylas  ver- 
nommen, dass  man  des  Meander,  des  Diphilus,  des  ApoUodor, 
des  Philemo,  des  Alexis  Schauspiele  und  ebenso  die  G-edichte 
der  Sappho,  der  Erinna,  des  Anaki'eon,  des  Mimnermus,  des 
Alcman.  des  Alcäus  ohne  Erbarmen  verbrannt  habe.  Siehe 
Bernavs:  ..Die  HerakUtischen  Briefe"  S.  117. 


165 


eine  trügerische  kimdgiebt?  Eiisebius  meldet  uns  ja 
denselben  Aufstand  und  behauptet,  wortgetreu  den 
griechischen  Schriftstellern  in  seiner  Erzählung  ge- 
folgt zu  sein  i).  Ob  wir  nun  mit  Volkmar  annehmen, 
dass  unter  dem  Ausdruck  „die  griechischen  Schrift- 
steller" hier  ganz  allein  der  Dio,  oder  mit  Lipsius, 
dass  vorzugsweise  Dio  gemeint  sei  2)-,  dass  Eiisebius 
den  wichtigsten,  ja  uns  eigentlich  allein  bekannten 
Historiker,  der  jene  Zeit  behandelt  hat,  nach  solchen 
Worten  nicht  eingesehen  haben  soll,  ist  doch  wohl 
eine  Behauptung,  die  kaum  der  Abweisung  werth  ist. 
Wie  wäre  es  nun  erklärlich,  dass  Eusebius  so  auf- 
fallende Vorgänge  weggelassen  hat?  In  einem  Capitel, 


1)  Eusebius,   Ti.  e.  IV,,  2:   Taöta  xal  "^EXXyjVcuv  oi   xa  -xata 

Toug  auxooc  y^ry^ovic,  '(pa^fi  ::apa§6vT£^  ochzolc,  loTopYj^av  pTjiiac;:. 

2)  Wegen  der  Wichtigkeit  der  Sache  gebe  ich  Volkmar's 
Worte,  „Handbuch  in  die  Einleitung  der  Apokryphen-',  1.  Theil, 
S.  45:  „Er  (Eusebius)  hat  also  wirklich  griechische  Historiker 
excerpirt,  die  dieselben  Zeiten  (Trajan's)  behandelt  hätten.  Es 
ist  ausser  Dio  kaum  ein  Anderer  als  Geschichtsschreiber  Trajan's 
bekannt.  Dazu  kommt,  dass  er  wirklich,  zum  Theil  wörtlich, 
mit  der  anderen  Epitome  Xiphilin's  stimmt  (Dio,  c,  30  §  3: 
Ao'joioc,  v.axcupB-üJGS  aXXa  xs  -oWä  ....  Eusebius,  §  5:  Aoöoioc; 
zni  xö)  vtad-opO-cufJiaxi  .  .  .).  Mein  Schluss,  Eusebius  werde  hier 
mindestens  vorzugsweise,  wenn  nicht  allein,  den  Dio  im  Auge 
haben,  hat  auch  Lipsius  (S.  89)  eingeleuchtet.  Muss  aber  auch 
die  Möglichkeit  einer  zweiten  Quelle  für  Eusebius  offen  bleiben, 
so  ist  es  hilflos,  wenn  Ewald  (S.  356)  nicht  Dio  wenigstens  mit 
zu  den  Quellen  des  Eusebius  rechnet." 


166 


welches  dem  Nachweise  gewidmet  ist.  wie  die 
Kii'che  immer  mehr  emporblühte,  die  Juden  aber 
santen.  sollte  er  aus  Schonung  für  die  Juden  so 
Unerhörtes  von  ihnen  nicht  berichten?  Hören  wir, 
was  er  sagt: 

..Die  Lehre  unseres  Erlösers  und  die  Kirche, 
von  Tag  zu  Tag  mehr  emporblühend,  gelangte  zu 
immer  grösserem  Wachsthum,  bei  den  Juden  dagegen 
häufte  sich  das  Unglück  durch  immer  neue  Uebel. 
Denn  da  der  Kaiser  (Trajan)  schon  das  achtzehnte 
Jahr  regierte,  yernichtete  er,  da  ein  neuer  Aufstand 
der  Juden  ausgebrochen  war,  eine  grosse  Anzahl  der- 
selben. Sie  fingen  nämlich  in  Alexandrien  und  im 
übrigen  Aeg^^Dten.  dazu  auch  in  Cyrene.  wie  von 
einem  Aufruhrsdämon  getrieben,  gegen  ihre  Mit- 
bewohner, die  Griechen,  zu  rebelliren  an.  Der  Auf- 
stand wuchs,  so  dass  ein  nicht  unbedeutender  Kiieg 
von  ihnen  begonnen  wurde.  Statthalter  von  ganz 
Aegypten  war  damals  Lupus.  Beim  ersten  Zusammen- 
treffen blieben  die  Juden  Sieger  über  die  Hellenen. 
Diese,  nach  Alexandrien  fliehend,  fingen  die  in  der 
Stadt  wohnenden  Juden  und  tödteten  sie.  Die  Juden 
in  C\Tene,  welche  somit  der  Hilfe  von  Alexandrien 
aus  beraubt  waren,  fuhren  dennoch  fort,  unter  An- 
führung des  Lucuas,  Aegypten  und  seine  Xomen  zu 
plündern  und  zu  verheeren.  Da  schickte  der  Kaiser 
den    Marcus   Turbo    mit    Fussvolk,    einer    Seemacht, 


1()7 

ausserdem  noch  Reiterei  gegen  sie.  Dieser,  in  vielen 
Schlachten  and  in  ziemlich  langer  Zeit  mühevoll  den 
Krieg  gegen  sie  beendend,  tödtet  viele  Myriaden 
Juden,  nicht  blos  cyrenensische,  sondern  auch  die 
aus  Aegypten  ihrem  Könige  Lucuas  zu  Hilfe  geeilt 
waren.  Aber  der  Kaiser,  fürchtend,  dass  auch  die 
Juden  in  Mesopotamien  die  dortigen  Bewohner  an- 
greifen würden,  befahl  dem  Lusius  Quietus,  die  Pro- 
vinz von  ihnen  zu  säubern.  Dieser  zog  denn  auch 
wider  sie  und  tödtete  von  ihnen  eine  grosse  Menge. 
Wegen  dieser  glücklichen  Leistung  w^urde  er  vom 
Kaiser  zum  Statthalter  von  Judäa  ernannt.  Dies  er- 
zählen mit  denselben  Worten  auch  die  griechi- 
schen Schriftsteller,  welche  die  Vorgänge  jener  Zeiten 
der  Xachwelt  überliefert  haben''. 

Eusebius  weiss  demnach  absolut  nichts  von  be- 
sonderen Gräueln.  welche  die  Juden  jener  Zeit  ver- 
übt haben  sollen,  und  wer  bis  auf  Xiphilinus  weiss 
etwas  davon? 

Giebt  es  einen  Kritiker,  der  glauben  kann, 
dass  die  Kirchenschriftsteller  bis  in's  elfte  Jahr- 
hundert hinein  sich  solche  Dinge  gegen  die  Juden, 
wenn  sie  im  Dio  sich  vorgefunden,  sich  würden  haben 
entgehen  lassen?  Dio  selbst  gehört  zu  den  wenigen 
heidnischen  Autoren  jener- Tage,  die  ohne  Hass  und 
ziemlich   sachlich   über  Juden   und  jüdische  Eeligion 


168 


berichten  i).  Und  dennoch  sollten  ihm  solche  Gräuel 
bekannt  gewesen  sein,  ohne  auf  seine  Stimmung  ein- 
zuwirken? 

"Wir  zweifeln  nicht,  dass  neben  der  allgemeinen 
Gesinnung  gegen  die  Juden,  welche  seit  den  Kreuz- 
zügen erzeugt  war,  bei  Xiphilinus  noch  das  besondere 
3Ioment  hinzukam,  dass  er  als  Hellene  gerade  über 
einen  Bericht  erbittert  war,  in  welchem  die  Hellenen 
eine  so  wenig  schmeichelhafte  Rolle  gespielt,  insofern 
sie  nach  grausamer  Tödtung  von  Gefangenen  dennoch 
erst  mit  Hilfe  des  Aufgebots  der  ganzen  römischen  Macht 
zum  Ziele  kommen  konnten,  und  dass  er  darum  nicht 
Anstand  nahm,  seiner  Phantasie  über  die  Juden  die 
Zügel  schiessen  zu  lassen.  Gerade  in  Bezug  auf 
Trajan  fehlt  es  nicht  an  talmudischen  Notizen.  ^Yo 
ist  die  Spur  von  Thaten,  auf  die  sicherlich  in  irgend 
einem  midraschischen  Versteck  Aväre  angespielt  w^orden? 
Wir  hören  wohl  von  grossen  Leiden,  aber  nicht  von 
solchen  Thaten  der  Wiedervergeltung. 

Dennoch  prangt  die  Geschichte  von  den  entsetz- 
lichen Juden  in  Cypern  unbeanstandet  in  allen  Dar- 
stellungen. In  Gibbon  so  gut  wie  in  Renan  steht 
sie  da  als  specimen  Jiidaicae  immanitatis.  Aber  ich 
meine,  dass  der  Verdachtsgrund,   den  ich  vorgebracht. 


1)  Dio  Cassius,  37,  15. 


169 

doch  nicht  so   gar  leichtwiegend  ist,   nm  unbeachtet 
zu  bleiben. 

Ich  begnüge  mich  mit  diesen  Proben,  die  doch 
immerhin  etwas  beitragen,  die  längst  vorhandene  Ein- 
sicht zu  stärken,  wie  viel  die  Kritik  noch  zu  leisten 
hat,  ehe  die  Geschichte,  statt  falle  convenue  zu  sein, 
eine  wirkliche  Erkenntniss  der  Vergangenheit  wird. 


VIII.  Nachträge  zum   ersten   und  zum  zweiten 
Theile  der  ,,Blicke  in  die  Religionsgeschichte''. 


A.    Zum  ersten   Theile. 

I.  Für  das  Eindringen  des  Griechischen  in  die 
palästinische  Welt  (S.  10  ff.)  auch  da.  wo  es  sich  um 
cultnelle  Zwecke  handelte,  konnte  auch  Mischnah 
Schekalim  IIL.  2  als  charakteristisch  angeführt  werden. 
Daselbst  lesen  wir,  dass  nach  E.  Ismael  die  Kasten 
in  der  Tempelkammer,  welche  die  Schekalimgelder 
bargen,  mit  griechischen  Buchstaben  bezeichnet  waren. 
Das  wird  in  den  Zusätzen  des  E.  Jom  Tob  Heller 
(Tosaphot)  zur  dritten  Mischuah  des  fünften  Capitels 
des  Schekalim-Tractats  recht  sachgemäss  erklärt.  In 
der  zuletzt  angeführten  Mischnah  wird  nämlich 
wiederum  gesagt,  dass  die  Siegel,  richtiger  Marken, 
die  man  Denen  gab,  welche  die  Gebühr  für  die  ver- 
schiedenen Trankopfer  entrichtet  hatten  (Egel,  Sachar, 
Gedi,  Chote  dal,  Chote  aschir),  die  in  den  Klammern 
enthaltenen  Worte  auf  aramäisch  enthielten.     E.  Jom 


171 


Tob  erklärt  hierzu  Folgendes  i) :  Die  officiellen  Per- 
sonen verstanden  Griechisch,  wie  sie  Hebräisch  ver- 
standen, desswegen  konnten  die  Kasten,  mit  denen  ja 
nur  beamtete  Persönlichkeiten  zu  thun  hatten,  grie- 
chisch gezeichnet  sein,  die  Siegel  (Marken)  dagegen 
dienten  ja  auch  gewöhnlichen  Leuten,  zu  denen  man 
darum  nur  in  der  Sprache  des  Landes  (aramäisch) 
reden  konnte. 

n.  Zu  der  Behauptung,  dass  man  die  früher  ge- 
schätzte Septuaginta  mit  dem  Tage  ungünstig  ansah, 
wo  dieselbe  gleichsam  zur  geistigen  Depossedirung 
Israel's  benutzt  w^urde  (S.  15  ff.),  konnte  auf  eine 
Stelle  verwiesen  w^erden,  welche  Weiss,  von  Jellinek 
aufmerksam  gemacht,  bespricht-).  Zu  dem  Satze 
nämlich  Exodus  34,  21 :  „Und  Gott  sprach  zu  Moses : 
Schreibe  dir  diese  Worte  auf"  wird  von  den  Midra- 
schim-')  über  den  AYerth  der  mündlichen  Lehre  ge- 
sprochen. Man  merkt  diesen  Stellen  die  Verstimmung 
an,  welche  die  Behauptung:  „Nicht  Ihr  seid  fürder 
Israel,  sondern  w4r"  in  den  Kreisen  der  jüdischen 
Lehrer  erzeugt  hat,  und  sie  antworten  mit  der  Wen- 
dung:   Wenn  Ihr  auch  durch  die  griechische  Ueber- 


1)  l.  l  Stichwort  \:i'hv  sirD  n*önK% 

2)  Weiss  ViT-im  im  -in,  S.  96. 

3)  Exodus  Eabbah  zur  angeführten  Pentateuchstelle .  na- 
mentlich aber  charakteristisch  in  dem  „Tancliuma"  genannten 
Midrasch  zur  Stelle. 


172 

Setzung  im  Besitze  der  Lehre  seid,  so  liegt  doch  in 
der  mündlichen,  der  halachischen  Exegese  und  der 
Mischnah.  erst  der  Schlüssel  zu  ihr.  und  der  ist  noch 
in  den  Händen  IsraeFs. 

Will  man  so  etwas  kleinlich,  engherzig  finden, 
so  übe  man  zunächst  die  Gerechtigkeit,  sich  in  die 
Seele  von  Menschen  zu  setzen,  denen  man  die  eigene 
nationale  Literatur  aus  der  Hand  nimmt  mit  den 
Worten:  Ihr  versteht  Euern  Moses  nicht,  seine  Ge- 
setze sind  nicht  eigentlich,  sondern  nur  allegorisch 
gemeint. 

HL  Zu  dem  Capitel:  ,,Die  Meinung  vom  Schrift- 
wort in  den  Tagen  R.  Elieser's  und  R.  Josua's  ben 
Chananiah"  füge  ich  noch  folgendes  Eigenthümliche 
hinzu  : 

Gerade  der  Kampf  der  Minäer  gegen  die  Gesetze 
bewirkte,  dass  man  in  jener  Zeit  nicht  blos  wie  später 
Maimonides  und  wie  im  Grunde  der  Pentateuch  selbst  i) 
in  dem  sogenannten  Ceremonialgesetz  ein  Mittel  sah  zur 


1)  Ein  Beispiel  für  Viele  ist  die  Begründung  des  Gebotes 
der  Schaufäden  (Zizith)  im  Pentateuch  mit  den  Worten  (Xumeri 
18,  40):  „Und  Ihr  werdet  sie  sehen  und  gedenken  aller  Gebote 
Gottes  und  sie  üben,  auf  dass  Ihr  nicht  nachgeht  Euerm  Herzen 
und  Euern  Augen,  denen  Ihr  nachbuhlt.  Auf  dass  Ihr  gedenket 
all'  meiner  Gebote  und  sie  übet  imd  so  heilig  werdet  Euerm 
Gotte''. 


173 


Weihung  und  Heiligung  auch  des  täglichen  Lebens 
und  zur  Befestigung  in  Glauben  und  Sitte,  sondern 
dass  man  es  wie  eine  Art  von  Welt-  und  Naturgesetz 
fasste.  Die  Gebote  haben  nicht  mehr  relativen,  sondern 
absoluten  Zweck,  sie  sind  nicht  mehr  blos  ein  Weg, 
den  Gott  dem  Menschen  vorgeschrieben,  sondern  den 
unter  schicklicher  Berücksichtigung  des  Abstandes 
zwischen  Gott  und  Menschen  man  auch  von  Gott 
selbst  eingehalten  glaubt.  Da  diese  Auffassung 
manche  Eigenthümlichkeit  erklärt,  so  sei  sie  hier  noch 
näher  auseinandergesetzt.  In  Exodus  Rabbah  heisst 
esi):  „R.  Gamaliel,  R.  Josua,  R.  Eleasar  ben  Asariah 
und  R.  Akiba  sagten  in  Rom  in  einem  Vortrage  Fol- 
gendes: Die  Wege  des  Heiligen,  gelobt  sei  Er,  sind 
nicht  die  Wege  von  Fleisch  und  Blut.  Fleisch  und 
Blut  (ein  Mensch)  giebt  wohl  eine  Verordnung  und 
heisst  Andere  so  thun,  handelt  aber  selbst  nicht  so, 
bei  Gott  dagegen  steht  es  anders.  Da  war  daselbst 
ein  Minäer  und  sagte:  Euere  Worte  sind  ja  unwahr. 
Ihr  habt  gesagt:  Gott  befiehlt  und  thut  es  selbst 
Warum  beobachtet  Er  nicht  den  Sabbath?  (gemeint 
ist  Seine  Nichtberücksichtigung  des  Verbotes,  von  Ort 
zu  Ort  zu  tragen,   die   sich  im  Regen   und  anderen 


^)  Exodus  Eabbah,  c.  XXX.  Diese  Stelle  ist  auch  von 
Derenbourg  citirt:  „Essai  sur  V  histoire  etc.",  p.  334,  wenn 
auch  zu  einem  anderen,  als  meinem  hiesigen  Zwecke. 


174 


;N'aturvorgäugeii  ausspricht).  Sie  aber  antworteten: 
Giebst  Du  nicht  zu,  dass  innerhalb  des  einem  und 
demselben  Menschen  gehörigen  abgegränzten  Gebietes 
das  Tragen  von  Ort  zu  Ort  am  Sabbath  erlaubt  ist? 
Gewiss,  antwortete  er.  Nun.  die  obere  und  die  untere 
Welt  sind  ja  Gottes  Gebiet  (bilden  den  Hof  Gottes), 
denn  so  heisst  es:  Toll  ist  die  Erde  seiner  Herr- 
üchteit". 

Wer  diese  Stelle  näher  erwägt,  wird  sich  andere, 
seltsam  klingende  Stellen  leichter  erklären.  So  zum 
Beispiel  den  Satz,  der  so  viel  Yerwunderung  erregt  hat, 
dass  eine  der  Beobachtung  des  Thefillingebotes  durch 
die  Menschen  correspondirende  Observanz  bei  Gott 
angenommen  wirdi).  Ebenso  den  Satz,  dass  schon 
Abraham  alle  späteren  Gebote  befolgt  habe-j.  Wenn 
dieser  Satz  auch  aus  den  Worten  der  Genesis  2(3.  5: 
„Die weil  er  (Abraham)  auf  meine  Stimme  gehört  und 
beobachtet  hat  meine  Hut,  meine  Gebote,  meine 
Satzungen  und  meine  Lehren'*  sehr  geschickt  heraus- 
gedeutet wird  und  offenbar  seine  polemische  Spitze 
gegen  die  Paulinische  Beweisführung  richtet,  dass 
Abraham  nur  durch  seinen  Glauben  selig  geworden 3), 


1 


0  Der    bekannte    Satz    Berachotli    6a:    rr:?2    n'ZpZ^   p:a 

i'^Sn  etc. 

2)  Joma  28  b:  r\"J  ''£K  HTiinn  bz  DmnS*  D"p» 

s)  Eigenthümlich  ist  es  dagegen,  dass  der  PauUaische  Satz 

anstandslos  auch  von  derMechiltha  ausgesprochen  wird.  Mecbiltha 


175 


so  konnte  eine  solche  sagen  wir  anachronistische 
Annahme  in  Bezug  auf  Abraham  doch  nur  auf- 
kommen in  Zeiten,  wo  man  das  Ceremonialgesetz  um 
seiner  absoluten  Bedeutung  willen  als  einem  prophe- 
tischen Mann  wie  Abraham  unmöglich  von  Gott  vor- 
enthalten annahm. 

Falsch  aber  wäre  die  Behauptung,  dass  diese  in 
der  Hitze  der  Polemik  unwillkürlich  gesteigerte  Be- 
deutung des  Ceremonialgesetzes  auch  nur  im  Talmud 
selbst  consequent  festgehalten  wird.  Der  Kundige 
erinnert  sich  an  den  Satz:  Die  Gebote  seien  blos 
-gegeben,  um  den  Menschen  zu  läutern,  oder  an  die 
merkwürdige  Predigt  des  K.  Simlai,  welche  eines  der 
ehrenvollsten  Zeugnisse  für  den  Talmud  ist,  beweisend, 
dass,  wo  er  nicht  in  der  Abwehr  sich  befindet,  er 
Zweck  und  Mittel.  Wesen  und  Erscheinung  in  der 
Religion  aufs  beste  zu  sondern  weiss i). 

Gleichfalls  ein  Satz,  auf  dem  heissen  Boden  der 
Polemik  erwachsen  und  nachweislich  nicht  überein- 
stimmend mit  einem  freisinnigeren  Satze,  der  als  an- 
genommene  Halachah    sich   bis   heute   behauptet   hat 


zu  Exodus  14.  31:   nn  DbiüH  DHiZK  iTT  i^^  K2£iö  nnx  pi 

1)  Mackoth  24  b.  Vgl.  Graetz,  ., Geschichte  der  Juden",  lY., 
2.  Auflage,  S.  265. 


176 


ist  folgender!):  ..Wer  da  sagt:  Die  Tliora  ist  göttlich 
bis  auf  einen  Yers,  den  nicht  Gott  gesagt,  sondern 
Moses  aus  sich  selbst,  auf  den  findet  das  Wort  An- 
wendung: Denn  das  Wort  Gottes  hat  er  verschmäht 
y^umeri  15,  31'\  Damit  vergleiche  man  die  halachische 
Bestimmung,  dass  man  die  Strafandrohungen  beim 
öffentlichen  Torlesen  aus  der  Thora  in  einem  Zuge 
lesen  solle,  um  nicht  zu  thun,  als  ob  man  die  Zucht 
Gottes  verschmähe  und  die  Motivirung .  warum  das 
nur  von  der  „Züchtigung"  im  dritten  Buche  Mosis, 
nicht  aber  von  der  im  fünften  gilt.  Abaji  sagt  näm- 
lich: Die  Fluchworte  im  dritten  Buch  Mosis  sind 
im  Plural  abgefasst  und  Moses  sagt  sie  „aus  dem 
Munde  der  Stärke'"  (von  Gott  eingegeben),  aber  die 
Fluchworte  im  Deuteronomium  sind  singularisch  ge- 
halten und  Moses  sagt  sie  „aus  eigenem  Munde"  2). 
Hier  braucht  Abaji  genau  die  Worte,  die  nach  dem 
früher  angeführten  Satze  als  Geringschätzung  des 
Gotteswortes  bezeichnet  werden. 

Wer   sich   erinnert,   dass   die  den  Juden  nächst 


1)  Sanhedria  69  a:    D*öirn  ]»    nbl2  nT,nn  b^    lÖlK  l'^'SKl 

2)  Megillah  31  b  wird  zur  Bestimmung  der  voran geojaDgenen 
Mischnah:    n'bbp2  i"p'C£ö  i'K  Folgendes  von  Abaji  erklärt:    vh 

6bm  pÄK  rni2;n  •£»  ntra*.  n-niös  cs-i  ]:^bz  ibbn  xiauts  'Kö 


177 


stehende  Secte  der  Miiiäer,  die  Ebioniten,  zwar  das 
Gesetz  Mosis  für  verbindlich  hielten,  aber  eine  Art 
von  Pentateuchkritik  übten,  indem  sie  sich  erlaubten, 
Zugesetztes  und  Irriges  in  demselben  anzunehmen i), 
der  wird  die  geschiclitliche  Entstehung  des  zuerst 
angeführten  Satzes  leicht  begreifen,  zugleich  begreifen, 
warum  man  noch  weiter  geht  und  sogar  denjenigen 
als  Verräther  des  Gotteswortes  bezeichnet,  der  die 
durch  irgend  eine  Deutungsregel  aus  der  Schrift  er- 
schlossene und  gewonnene  Lehre  dem  Schrift worte 
selbst  nicht  gleichstellt-). 

IV.  In  der  Abhandlung  über  Aristobul  erwähne 
ich  Seite  87  die  auch  bei  Philo  auftretende  Meinung, 
als  hätten  griechische  Philosophen  aus  den  jüdischen 
Offenbarungsurkunden  geschöpft.  Da  man  ohne  nähere 
Prüfung  der  Sache  leicht  glauben  kann,  Philo  unter- 
scheide sich  in  diesem  Punkte  nicht  viel  von  dem 
sogenannten  Aristobul ,  so  sei  hier  eine  kurze  Ver- 
gleichung  angestellt.  Pseudoaristobul  hat  die  Dreistig- 
keit  zu   behaupten,    dass   schon   vor  der   Entstehung 


1)  Vgl.  Paur.  „Dogmengeschichte-',  erster  Band,  erste  Ab- 
theilung,  Leipzig  1865.  Daselbst  wird  S.  378  ff.  die  Pentateuch- 
und  Bibelkritik  des  Yerfassers  der  Clementinen  auseinander- 
gesetzt. 

2)  Sanhedrin ,    Z.  ?.  :    D'örn  p  rh^D  m'.nn   ^2  n?21K  ITBKI 

,n]n  '•■■  ist  «3  xin  nn  n  mtrnTT:^:  n-  löim  bpö  ,nT  pnpi»  rin 

12 


178 


der  Septuaginta.  vor  Demetrius  und  vor  Alexander 
dem  CTrossen  gewisse  Theile  der  Schrift  übersetzt 
wurden  und  so  den  Griechen  zugänglich  gewesen 
seien  1).  Philo  dagegen  hat  keine  Ahnung  davon, 
dass  so  etwas  je  behauptet  worden.  Er  sagt-):  ,,Dass 
das  Göttliche  dieser  Gesetze  nicht  nur  bei  den  Juden, 
sondern  auch  bei  allen  anderen  Völkern  Bewunderung 
und  Ehrfurcht  erweckt  habe,  lässt  sich  ausser  dem 
schon  Angeführten  noch  aus  Folgendem  ersehen.  Die 
Gesetze  waren  anfänglich  in  chaldäischer  Sprache  ge- 
schrieben, in  der  sie  eine  geraume  Zeit,  so  lange 
nämlich  ihre  Yortrefflichkeit  anderen  Völkern  nicht 
so  bekannt  war.  allein  konnten  gelesen  werden;  wie 
aber  die  Fremden,  bei  der  täglichen  Beobachtung  und 
Ausübung  derselben,  die  unter  ihren  Augen  geschah, 
sie  mit  Aufmerksamkeit  zu  betrachten  und  überall 
viel  Rühmens  von  ihnen  zu  machen  anfingen,  wie 
ja  in  der  Regel  das  Schöne,  wenn  auch  einige  Zeit 
durch  den  Xeid  verdunkelt  und  unbekannt  bleibt, 
nachher  wegen  seiner  Vorzüge  mit  desto  grösserem 
Glänze  hervorbricht,  so  hielten  es  Einige  für  sehr  un- 
billig, dass  diese  Gesetze  nur  der  einen  Hälfte 
des  Menschengeschlechts,  den  Barbaren,  be- 


1)  Vgl.  meine  Abhandlung  S.  80   und  die  daselbst  Note  2 
in  extenso  mitgetheilte  Stelle  aus  Clemens. 

^)  Philo.  ,,  Vita  Mosis'',  IL.  §  5.  ed.  Mangey,  138. 


179 


kannt  sein,  den  Griechen  aber  ewig  unbekannt 
bleiben  sollten,  und  fassten  den  Entschluss,  sie  zn 
übersetzen.  Dieses  grosse  und  nützliche  Unternehmen 
auszuführen  war  keiner  geringen  Person ,  sondern 
einem  Könige,  und  zwar  einem  der  berühmtesten 
Könige  vorbehalten  geblieben*'.  Und  nun  folgt  das 
Lob  des  Ptolemäus  Philadelphus  und  die  bekannte 
Erzählung,  wie  durch  ihn  das  Uebersetzungswerk  zu 
Stande  gekommen. 

Man  sieht,  von  dem  später  erfundenen  Pragma- 
tismus der  Aristobulea  zu  dem  Zwecke,  die  Benutzung 
der  heiligen  Schrift  durch  die  Griechen  vor  Alexander 
dem  Grossen  glaubhaft  zu  machen,  ist  in  Philo  keine 
Spur.  Philo  ist  so  wenig  darauf  aus,  in  Allem  die 
Priorität  dem  Moses  einzuräumen,  dass  er  diesen 
sogar  in  Aegypten  von  griechischen  Lehrern  unter- 
richtet werden  lässt^). 

Wenn  Philo  in  Bezug  auf  einen  Satz  des  Zeno 
sagt,  „er  (Zeno)  scheine  ihn  gleichsam  wie  aus  einer 
Quelle  aus  der  jüdischen  Gesetzgebung  geschöpft  zu 
haben"'-),  so  ist  das  natürlich  nicht  richtig,  aber  doch 


1)  Philo,  „Vita  Mosis'',  L,  6,  ed.  Mangey.  84:  „Ty;/  ok 
aAATtW  l'(y,6v.\iov  TzoL'.oiiav  "EXatjVcS  so:oa-v.ov.  Tergleiclie  Siegfried, 
„Philo",  S.  351. 

2)  Angeführt  bei  Zeller,  „Geschichte  der  griechischen  Philo- 
sophie". III.,  2.     3.  Aufl..  S    347. 

12* 


180 


wenigstens  nicht  schon  aus  chronologischen  Gründen 
unmöglich  und  abenteuerlich,  da  Zeno  etwa  um  270 
V.  Chr.  gestorben  ist^). 

Wenn  Philo  ferner  die  Lehre  A'on  den  Gegen- 
sätzen, den  er  als  Hauptpunkt  der  Heraklitischen 
Philosophie  bezeichnet,  schon  als  von  Moses  gefunden 
angiebt,  so  sagt  das,  wenn  man  die  Worte  erwägt, 
keineswegs ,  dass  Heraklit  sie  dem  Moses  entnommen 
habe,  sondern  der  Sinn  des  Ganzen  ist  doch  blos 
der:  Ihr  Griechen  lühmt  das  an  Euerem  bewunder- 
ten Heraklit  als  einen  neuen  Fund,  so  vernehmt, 
dass  es  schon  ein  Pund  des  Moses  ist-).  Das  Alles 
ist  ja  natürlich  nicht  richtig,  hat  aber  mit  den 
Abenteuern  der  späteren  Aristobulea  nur  so  viel  zu 
thun,  dass  der  Fälscher  durch  solche  bei  Philo  und 
Anderen  vorkommende  Wendungen  sich  angeregt 
fühlte,  den  Prioritätstreit  dadurch  zu  erledigen,  dass 
er  durch  Falsiiicate  einen  Beweis  für  die  mosaische 
Priorität  schuf. 


1)  Zeller,  ?.  l  III..  1,  3.  Aufl.,  S.  28. 

2)  Zeller,  ?.  Z.,  verweist  auch  auf  diese  Stelle.  Um  aber 
den  im  Text  angegebenen  Sinn  derselben  zu  erhärten,  setze  ich 
die  Philonischen  "SVoite  hin:  o'j  toöt'  bxcv  o  'fa-'.v  "EXXtjVs^  tov 
urcav  xat  '^.oioiij.&v  Ttap'  'xbiolc.  'Hpav.XsiTov  y.s'-p^zXatov  xy]S  cchxoö 
■!T:pooxr^aa|isvov  'S'Xo'O'Siiac,  a'j/slv  cö^  k's>'  f'yoi'zs'.  xsv/J'  izoOmw  y«? 
£Dps|jia  ^loizioi^  l-v.  (quis  rerum  divin.  heres  610  C.  503  M.). 


181 


Y.  Zu  Seite  126  möchte  ich  aufmerksam  machen 
auf  die  merkwürdige  Position,  in  welche  nach  unserer 
und  anderen  Talmudstellen  der  Messias  bei  den  spä- 
teren Lehrern  gerückt  ist.  Gott  wollte,  heisst  es,  den 
Hiskias  zum  Messias  machen.  Da  wird  von  der  Ge- 
rechtigkeit eingewendet:  ,,Du  hast  David,  der  dessen 
würdiger  gewesen  wäre,  nicht  dazu  gemacht,  warum 
willst  Du  Hiskias  dazu  erheben." 

Während  also  ursprünglich  der  Messias  ja  nur 
Sinn  hatte  als  Retter  und  Wiederhersteller,  nachdem 
Israel  seine  Selbständigkeit  verloren,  wird  er  hier  be- 
handelt, als  gehöre  er  unter  allen  Umständen  zur 
Oekonomie  von  Israel's  Geschichte.  Damit  ist  zu- 
sammenzustellen der  Satz,  dass  der  Name  des  Messias 
der  AVeltschöpfung  vorhergeht,  wie  noch  sechs  anderen 
Dingen  eine  ideelle  Existenz  vor  der  "Weltschöpfung 
zugeschrieben  wird  i). 

YI.  Ich  gehe  jetzt  zu  den  Nachträgen  über,  zu 
denen  ich  durch  die  dankenswerthen  Besprechungen 
meiner  Schrift  in  Zeitschriften  veranlasst  bin. 

Yon    Dr.    David    Rosin "s    Besprechung  -)    kann 


1)  Pcsachin  54  a:    D^lUn    iT^^V    DT,p    IKinS    anm    HUDtT 

2)  In  „Magazin  für  die  AVissenschaft  des  Jiidenthiims" 
herausgegeben  von  Dr.  Berliner  und  Dr.  D.  Hoffmann,  Berlin  1880, 
von  S.  174—181. 


182 


ich  nur  sagen,  dass  ich  jedem  ehrlichen  Autor 
solche  Leser  und  einen  solchen  Yermittler  wünsche. 
Mit  der  diesem  Gelehrten  eigenen  Gründlichkeit  giebt 
er  in  gedrängtester  Kürze  eine  meisterliche  Skizzirung 
des  Inhalts,  und  fügt  zugleich i)  eigene  beachtenswerthe 
Bemerkungen  hinzu. 

Dankenswerth  waren  für  mich  auch  die  Be- 
sprechungen von  Siegfried  (Göttingische  Gelehrte  An- 
zeigen 1880,  2.  Band  S.  1261  — 1277j  und  von  Strack 
(Theologische  Litteraturzeitung ,  herausgegeben  von 
Harnack  und  Schürer,  Giessen  9.  April  1881).  Siegfried, 
der  Verfasser  des  trefflichen  Buches  über  Philo,  hat 
mich  durch  seine  Recension  zum  Xachdenken  über 
einige  Punkte  angeregt  und  dadurch  gefördert.  Wenn 
ich  mich  in  viele  seiner  Einwürfe  nicht  finden  kann, 
so  glaube  ich  im  Interesse  der  Sache  zu  handeln. 
wenn  ich  mich  hier  mit  ihm  auseinandersetze. 

Siegfried  will  das  grosse  Interesse  nicht  begreifen, 
dass  der  antinomistisch  gesinnte  Theil  der  Christen 
an  der  Vereitelung  des  Tempelbaues  soll  gehabt 
haben.  Aber  wenn  doch  noch  bei  Justin,  wie  ich 
gezeigt  habe,  gerade  die  Zerstörung  des  Tempels  ein 
Argument  gegen  die  Verbindlichkeit  des  sogenannten 
Ceremonialgesetzes    bildet,    wie    kann    man    zweifeln. 


i)  Auf  Seite  180—181. 


183 

dass  so  viel  früher  der  in  Trümmera  liegende  Tempel 
.vie   ein  Fingerzeig  Gottes   angesehen  wurde,   dass  er 
die  alte  Cultusform  verworfen  habe?    Siegfried  wendet 
ein,  dass  man  ja  schon  aus  dem  Hebräerbrief  lernen 
konnte,  „wie  gut  es  sich  ohne  den  Tempel  auskommen 
lasse".     Aber    der  llebräerbrief   heisst  ja    darum   so, 
weil   er   gerade   ein   \' ersuch  war,   die   Judenchristen 
„von  der  hemmenden  :N^eigung  zu  den  ererbten  Formen 
loszureissen^'    (Reuss,    ,,Geschichte    des    neuen   Testa- 
ments-  S.  142).     Und  kann  Jemand,  der  die  Menschen 
kennt,    zweifeln,    dass   die    feinsten   Allegorisirungen 
auf    die    Massen    nicht    so  wirkten,    wie    die    nackte 
Thatsache?     Kann  man  zweifeln,   dass  das  Argument 
mit  dem  hinweisenden  Finger:    Seht,  wie  Gott  seinen 
Tempel  hat  in  Asche  legen  lassen,   damit   eine  neue 
Art    der    Gottesverehrung   aufkomme,    stärker   wirkte 
als    die    künstlichsten    Allegorisirungen    in    Schriften 
und    Reden!     Die    ganze    Macht    der    Allegorisirung 
nach    der    Richtung    hin     wäre    gebrochen    gewesen, 
wenn    der  Tempel    sicli  wieder    in   altem   Glänze   er- 
hoben   hätte,    während    sie    eine    grosse    Bedeutung 
hatte,    so  lange  sie    nur  die   Illustration   zu  der  vor- 
handenen Wirklichkeit  bildete. 

Siegfried  vermisst  S.  1260  bei  mir  eine  aus- 
drückliche Classification  der  damaligen  Juden  in 
1)  gesetzestreue  und  christusfeindliche  2)  gesetzestreue 
und  christusgläubige,   3)  antinationale   und  antinomi- 


184 


stische.  Und  solcher,  frage  ich,  welche  schwankten, 
welche  eben  nicht  wnssten,  was  sie  in  jenen  noch 
messianisch  gespannten  Zeiten  glauben  nnd  thun 
sollten,  wird  es  nicht  eine  grosse  Menge  gegeben 
haben? 

Ebensowenig  ist  mir  der  Einwand  verständlich: 
Wozu  man  denn  das  Griechisch  verbot,  da  man  es 
doch  den  Minim  nicht  verbieten  konnte?  (1269 — 1270). 
Aber  ist  es  so  schwer  zu  verstehen,  warum  man 
z.  B.  einen  index  lihrorum  iirohibitormn  anfertigt  für 
Solche,  die  sonst  durchaus  keine  Neigung  zeigen,  aus 
dem  Yerbande  zu  treten?  Die  Juden  waren  ja  nicht 
gefeit  gegen  Auslegungen,  die  man  von  Seiten  der 
jüdischen  Lehrer  für  bedenklich  hielt.  Nicht  einmal 
alle  Lehrer  waren  dagegen  gefeit.  Wir  können  eine 
stattliche  Liste  solcher  anfertigen,  die,  im  Sinne  der 
damaligen  Juden  geredet,  in's  Netz  der  Minäer  fielen. 
E.  Elieser,  Sohn  des  Hyrcan,  sagt  selbst,  dass  gewisse 
minäische  Auslegungen  für  ihn  einen  Reiz  gehabt 
hätten  i).  Vorübergehende  Hinneigung  zu  den  Minäern 
wird  auch  dem  ben  Dimah,  Schwestersolme  des 
R.  Ismael-),  dem  später  hervorragenden  Lehrer  Cha- 
naniah.  Brudersohne  des  R.  Josua,  einem  Lehrer  Jehuda, 


1)  Aboda  Sarah  17  a. 
2j  Ibid.  9.1h. 


185 


Sohn  des  xsTekiissa  zugeschrieben i),  nicht  zu  reden  von 
dem  bekannten  Elisa  ben  Abujah.  der  freilich  mehr 
in  gnostische  Yerirrungen  hineingerathen  zu  sein 
scheint 

Die  Frage  Siegfried's  (S.  1269):  „Sollte  das  wohl 
bei  dem  Hass,  den  man  gegen  die  Minim  hegte,  za 
befürchten  geAvesen  sein"  (nämlich  dass  ihre  G-esin- 
nung  bei  den  Juden  Eingang  finden  Avürde),  contrastirt 
daher  seltsam  mit  dem  talmudischen  Worte:  „Für 
Minäisches  gelten  andere  Kegeln,  das  hat  eine  beson- 
dere Anziehungskraft"'  -).  Man  vergisst  gar  zu  sehr, 
dass  der  grimmige  Hass.  der  auf  jüdischer  Seite  an- 
genommen wird,  in  die  Judenseelen,  die  man  wahrlich 
wenig  kennt,  hineingedichtet  ist. 

Siegfried  sagt  ferner  (S.  1270) :  „Seltsam  nimmt 
es  sich  dann  aus,  S.  43  zu  lesen:  Zur  negativen  Ab- 
wehr trat  die  positive*'.  Seltsam  mag  es  sein,  aber 
wahr  ist  es.  Das  habe  ich  schon  in  einer  Xote  gegen 
denselben  Einwand  des  Herrn  Professor  Strack  gezeigt. 

Gänzlich  unverständlich  ist  mir  folgender  Ein- 
wand Siegfried"s  (S.  1269),  den  Strack  ebenso  zum 
seinigen  macht:  „Merkwürdig  ist  nur,  dass  wir  dabei 
in  allen  historischen  Berichten  immer  nur  von  einem 
Aufstände    der  Juden    gegen    die  römische   Obrigkeit 


1)  Midrascli  Kohelcth  zu  7,  26  ■;«  X^IISI* 
2j  Abodah  Sarah  27  b:  XZt:'^"!  n';"^  ^;X'iy» 


186 


lesen".  Ich  bitte,  die  Quellen  einzusehen  (Dio  Cassius. 
Eusebius),  und  sich  zu  überzeugen,  dass  der  Aufstand 
in  erster  Linie  gegen  die  Hellenisten  gerichtet  war. 

Siegfried  sagtS.  1271 :  „Auch  ist  nicht  zuzugeben, 
dass  man  erst  aus  der  griechischen  Uebersetzuug 
die  Deutungsfähigkeit  des  Textes  erkannt  habe.  Aller- 
dings kamen  durch  diese  üebersetzung  neue  Deutungs- 
möglichkeiten hinzu".  Mehr  als  neue  Deutungsmöglich- 
keiten habe  ich  aucli  nicht  behauptet,  und  der 
Einwand,  dass  der  Grundtext  in  Hinsicht  gewisser 
Pleonasmen  nicht  ungünstiger  steht,  als  die  griechische 
üebersetzung,  ist  doch  wohl  nicht  haltbar,  wenn,  wie 
ich  in  meiner  Schrift  S.  46  gezeigt  habe,  diese  Art 
zu  deuten  noch  von  Zeitgenossen  Akiba's  so  wenig 
dem  Urtexte  angemessen  erachtet  wird,  dass  sie  ent- 
gegenhalten: Wie  kann  man  deuten,  wo  die  Thora 
nicht  anders  spricht  als  die  Menschen  auch  sonst. 
Das  heisst  doch  wohl,  dass  man  es  im  Urtext  gar 
nicht  als  pleonastisch  gefühlt  hat,  weil  es  eben  Sprach- 
gebrauch ist. 

Auf  die  Frage,  ob  Alexandrien  oder  Palästina 
für  gewisse  Deutungen  die  Priorität  habe,  lasse  ich 
mich  hier  nicht  ein.  Meine  Ansichten  über  diesen 
Punkt  habe  ich  in  der  Kürze  in  einem  besonderen 
Aufsatze  i)  dargelegt.     Auch  Freudenthal   hat  erkannt. 


^)  Lessiüg.  ..Mendelsohn"s  Gedenkbuch",  S.  243  ff. 


18^ 


dass  es  falsch  ist,  blos  von  einem  Einfluss  der 
palästinischen  Exegese  auf  alexandrinische  und  nicht 
auch  umgedreht  zu  reden. 

Mit  bis  auf  das  Kleine  sich  erstreckender  Sorgfalt 
ist  meine  Schrift  von  Strack  gelesen  worden.  Von  seinen 
zahlreichen  kleinen  Bemerkungen  und  Zusätzen  er- 
wähne ich  hier  die  Verbesserung  meiner  auf  Seite  155 
gegebenen  Uebersetzung  einer  talmu diseben  Stelle. 
Es  muss  in  der  That  heissen:  „Die  über  Gott  Dinge 
sagen,  die  er  von  seinen  Geschöpfen  entfernt  (d.  h. 
ihnen  verborgen)  hat''.  Warum  ich  dagegen  mit 
einem  Theil  seiner  Einwände  mich  nicht  einverstanden 
erklären  kann,  ist  aus  dem  gegen  Siegfried  Gesagten 
zur  Genüge  zu  entnehmen. 

Zur  Eecension  meiner  Schrift  von  Dr.  Eosenthai 
(Graetz'  Monatsschrift,  Juni  1880)  bemerke  ich  Folgen- 
des. Herr  Dr.  Rosenthal  wendet  sich  gegen  eine 
Stelle  meiner  Schrift,  die  ich  auf  seine  Bitte  ihm  gern 
von  vornherein  Preis  gegeben  hätte.  Dass  der  IG.  Adar 
gerade  der  Tag  war,  an  dem  man  damals  zu  bauen 
begann  (S.  24  meiner  Schrift),  war  ein  Einfall  von 
mir,  ohne  dass  ich  etwas  dagegen  habe,  wenn  man 
entweder  mit  Graetz  (,,Gesch.-'  III.,  2.  Auflage  S.  423) 
diesen  Gedenktag  in  die  Makkabäerzeit  verlegt  oder 
mit  Derenbourg  {essai  p.  74)  die  Schwierigkeit  anders 
löst.  Was  gemeint  ist,  bleibt  eben  ungewiss.  Aber 
völlig  bedeutungslos    ist   die   Sache   für  meine   Aus- 


188 


einandersetzung  über  den  Ti-ajanstag.  Herr  Dr 
Eosenthal  versteht  zu  viel  Hebräisch,  als  dass  ich 
zweifeln  sollte,  er  habe  seinen  Einwand  gegen  meine 
TJebersetznng :  „Der  Trajanstag  ist  aufgehoben  worden 
-,2  :^ri;r  dv  an  dem  Tage,  an  dem  hingerichtet  worden'-, 
nicht  längt  zurückgenommen.  Dass  man  auf  die 
Frage:  Wann  im  Hebräischen  ebenso  gat  er  wie  avr 
sagen  könne,  Aveiss  Herr  Dr.  E.  so  gut  wie  ich.  Dass 
er  bei  den  bekannten  Wendungen  n":rn  n*?:?:  rh^z  und 
ähnlichen  den  merkwürdigen  Vorschlag  macht,  man 
solle  lesen:  "2:  ',r  :^,nrir  er  ivt^:  cv  b^z  und  übersetzen: 
Es  habe  den  Trajanstag  aufgehoben  der  Tag,  an 
welchem  Pappus  und  Lollianus  getödtet  Avorden  sei, 
ist  doch  wohl  Zwang  ohne  Xoth.  Sicherlich  würde  der 
jerusalemische  Talmud  nach  seiner  orthographischen 
"Methode  in  dem  Falle  auch  b^i'z  geschrieben  haben. 

Sehr  AA'ichtige  Bemerkungen  in  einer  holländischen 
Besprechung  meiner  Schrift  a'ou  A.  D.  Lomann  habe 
ich  im  zweiten  Theile  der  Schrift  dankbar  benutzt. 


B.   Nachträge  zum  ZAveiten  Theile. 

Zu  Seite  90. 
I.  Die    Erklärung    der  Wortes    Minim,    die    ich 
-•ebe,  hat,  Avie  ich  nachträglich  gefunden,  schon  Mussafia. 


189 

Hoffentlich  aber  wird  der  Leser  die  Art,  wie  ich  aus 
der  g-eschichtlichen  Lage  und  der  halachischen  Praxis 
die  Erklärung  motivire,  als  neu  und  überzeugend 
erkennen. 

Zu  Seite  127  ff. 

IT.  Damit  man  sehe,  wie  ein  wirklicher  Kenner 
der  talmudischen  Quellen  über  die  damalige  äusser- 
liche  Haltung  der  Juden  urtheilt,  citire  ich  aus  Franz 
Delitzsch :  „Jüdisches  Handwerkerleben  zur  Zeit  Jesu'-^ 
n.  Auflage  S.  39  folgende  Stelle. 

„Das  mosaische  Gesetz  hatte  dem  Yolke  eine 
starke  und  zarte  Empfindlichkeit  für  Rein  und  Unrein 
anerzogen.  Ein  Handwerk,  welches  mit  unreinen 
Stoffen  hantirte,  die  man  dem  Manne  anroch,  stand 
schon  deshalb  auf  tiefer  Stufe.  Die  G-erberei,  welche 
Thierhäute  zu  Leder  herrichtet  und  die  Erzgräberei^ 
welche  in  der  Erde  wühlt,  galten  für  so  schmutzige 
Gewerbe,  dass  es  einer  Frau  verstattet  war,  sich  nicht 
allein  von  dem  Hundekothsammler,  welcher  dem 
Gerber  diesen  Gerbestoff  zuführte,  sondern  auch  von 
dem  Gerber  und  Erzgräber  selbst  ebensowohl  wie 
von  einem  Manne  mit  Aussatzgeschvvüren  oder  einem 
stinkenden  Polypen  zu  scheiden,  möge  er  das,  wodurch 
er  sie  unerträglich  belästigt,  schon  vor  der  Heirath 
gewesen  oder  erst  nach  der  Heirath  geworden  sein. 
(Ketuboth  YIL,  10.)      Die  Welt,    sagt    ein    mehrmals 


190 


vorkommender  Spruch  (Kidcluschin  82  b)  kann  Treder 
ohne  Parfümeur  (bassam)  noch  ohne  Gerber  (burseki) 
bestehen.  Heil  dem.  dessen  Handwerk  das  Parfümiren, 
wehe  dem,  dessen  Handwerk  die  Gerberei  ist.  — 
Der  Platz  .für  Gerbereien  musste  wie  für  Aeser  und 
Gräber  wenigstens  50  Ellen  von  der  Stadt  entfernt 
sein.--     (Bathra  H.  9.) 


am  Bicl  !P>iW 

ier  Bitiüsltiet  ier 
jltStieiiteBerlii 


17.1  28- 


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A     000  118  509     9