Skip to main content

Full text of "Briefe aus dem Felde : aus der Untersuchungshaft und aus dem Zuchthaus"

See other formats


KARL    LIEBKNECHT 
BRIEFE 


VERLAG  DIE  AKTION  /  BERLIN-WILMERSDORF 


Karl    Liebknecht  (Aufnahme  aus   dem  Jahre  IQ'S) 


KARL      LIEBKNECHT 

BRIEFE   AUS    DEM    FELDE,    AUS    DER    UNTER- 
SUCHUNGSHAFT  UND  AUS   DEM    ZUCHTHAUS 


Ich   kann   nicht  wägen,  kann   nur  wagfn, 
Nicht  ernten  -  säen   nur  und  fliehn, 
Ich   kann   den   Mittag  nicht  ertragen, 
Ein   Morgenrot  -  ein  Abendglühn. 
So  sei   mein  Tag. 
(Als  einem  früheren   Briefe   Karl    Liebknechts,' 


f- 


/• 


BERLIN-WILMERSDORF  1920 
VERLAG    DER  WOCHENSCHRIFT  „DIE  AKTION" 

(FRANZ    PFEMFERT) 


Dieses    Werk    wurde    unter   Mitarbeit    der   Frau 
Karl  Liebknechts  herausgegeben  von  Franz  Pfemfert 


Alle  Rechte  vorbehalten 

Copyriht  1919  by  Franz  Pfemfert.  Berlin -Wilmersdorf 

Den  Druck   dieses  Werkes    besorgte   die  Druckerei 

Biko.  Berlin  C  19.  Kurstrasse  34-35 


Karl    Liebknecht  als  Achtzehnjähriger 


Seine   loten  mag  der  Feind  betrauer7i\ 
Denn  sie  liegen  ohne    Wiederkehren; 
Unsre  Brüder  sollt  ihr  nicht  bedatiern: 
Detin  sie  zuandeht  über  jenen   Sphären. 
Goethe,    U es tö: dicker  Diwan,    .J>erccht'igU  Alaune/-** 


BRIEFE     AUS     DEM     FELDE 
(11.  April  1915  bis  31.  Oktober  1915) 


Karl    Liebknechl    als   Armierungssoldat    1915 


11.  4.  15. 

Meine  Liebste! 

Inzwisclien  ist  allerhand  von  Dir  gekommen, 

Briefe,  Zeitungen  und  Pakete  —  die  Zigarren  noch 
nicht  —  sie  werden  dankbarst  erwartet. ,  Alles  findet 
viel  Anklang,  besonders  die  Tube  mit  dem  Gelee.  Ich 
bitte  Dich  aber,  außer  etwa  mittelstarken  Zigarren 
nichts  mehr  zu  schicken  —  Ihr  braucht  das  Geld 
selbst  dringend,  ich  komme  schon  aus.  Und  wenn. 
Du  mir  vielleicht  in  einer  Woche  noch  30  Mark 
schickst,  so  bin  ich  bis  zum  Reichstagsurlaub  einschl'. 
der  Reise  vollkommen  versorgt.  Von  Sylvia  kam  eine 
Karte.  Daß  die  Zigarren  Deiner  Mutter  eintrafen, 
schrieb  ich. 

Hier  ist  alles  beim  alten.  Mach  Dir  keine  Sorgen. 
Das  ich  keine  Details  schreibe,- bringen  die  Verhält- 
nisse mit  sich.  Ich  setzte  ein  paar  Tage  mit  Schreiben 
aus,  war  zu  müde  —  und  es  war  nichts  zu  schreiben. 
Die  Unregelmäßigkeit  der  Beförderung  lähmt  die 
Neigung  ein  wenig.  Ich  verstehe  nicht,  wie  Du  Dich 
über  dieses  Schwindelinterview  aufregen  kannst,  es 
ist  ja  inzwischen  auch  dementiert.  Wenn  Du  nicht 
lernst,  über  alle  persönlichen  Anfeindungen  zu  lachen, 
wenn  Du  Dir  nicht  jenes  Dante'sche  segu'  il  tuo 
corso  e  lasce  dir'  le  gente,  zur  Richtschnur  machst, 
wirst  Du,  solang  du  meine  Frau  bist,  nicht  zur  Ruhe 
kommen.  Darum  pfeif  auf  die  Gesellen  und  tröste 
Dich  damit,  daß  das  Recht  auf  Deiner  Seite  ist  und 
damit  alle  Menschen  auf  die  es  einem  vernünftiger 
weise  ankommen  kann 

Also  in  Lohengrin  wart  ihr.  Haben  die  Kinder 
etwas  davon  verstanden?  Nun  —  Helmi  ist  ja 
14  Jahre  alt. 

Das  Wetter  ist  hier  recht  aprilmäßig,  aber  wir 
haben  feste  Stiefel  und  dicke  Mäntel.  Die  armen 
Kerls  die  draußen  an  der  Front  liegen  haben  es  ganz 
anders.  Den  Artilleriekampf,  der  in  der  letzten  Zeit 
recht  heftig  war,  konnten  wir  zum  Teil  recht  gut  be- 
obachten. Grüße  alle  Freunde.  Deiner  Mutter  werde 
ich  noch  schreiben.  Dir  und  den  Kindern  viele  Küsse. 

Dein  Karl. 
Anbei  ein  paar  Veilchen  — 


Feldpostkarte 

den  25.  4.  1915. 

Liebstes  Bobbcheii! 

Das  war  ein  sehr  braver  Brief  von  dir;  ich 
danke  dir  und  habe  mich  über  den  Inhalt  sehr  ge- 
freut. Schreib  bald  wieder  einmal  und  sei  recht 
artig.  Wir  halten  hier  einen  Baummarder  gefangen; 
heut  war  Fuchsjagd  —  aber  Reinecke  prellte  die 
Jäger  und  den  Hund,  der  sich  schließlich  mit  ein 
paar  armseligen   Mäuslein  zufrieden  geben  mußte. 

Kanonengedröhn,  Maschinengewehrgeknatter 
und  Flieger,  Flieger  — . 

Ich  küsse  dich  und  euch  alle. 

Dein  Papa. 


Postkarte 

28.  4.  15. 

Mein  Helmi! 
Ich  danke  Dir  für  Deine  ausführliche  Karte,  die 
aber  wirklich  auch  an  der  Zeit  war.  „Sie"!  Das 
ist  bei  Dir,  kleinem  Kerlchen,  wirklich  drollig  und 
wenn  der  Lehrer  weiter  beim  Du  bleibt,  scheint 
das  ganz  in  der  Ordnung.  Jetzt  wird  die  Schule 
doch  wirklich  hochinteressant.  Was  ihr  da  lest, 
gehört  schon  zur  richtigen  Wissenschaft  und  wenn 
Du  Dir  eine  wertvolle  Zukunft  mit  tiefer  und  breiter 
Allgemeinbildung  aufbauen  willst,  so  versäume  diese 
Zeit  nicht.  Ich  hab  nichts  gegen  Scherz  und  Ueber- 
mut,  wenn  sie  nur  an  der  Oberfläche  Abwechslung 
schaffen;  ihr  kommt  jetzt  in  die  Zeit  des  Student- 
chen-Spielens.  —  Laß  darunter  niemals  das  Ernste 
und  Wichtige  leiden.  Denk,  wie  glücklich  Du  bist, 
vor  Millionen  anderer  Kinder,  die  nur  wegen  der 
Not  ihrer  Eltern  nichts  lernen  können  von  all  dem 
Wundervollen  und  deren  Anlagen  verkommen  und 
verderben.  Lernen,  lernen  und  nochmals  lernen. 
Siehst  Du  es  heute  nicht  ein,  später  wirst  Du  es 
ganz  verstehen.  Dieses  „Einschlafen"  im  Unterricht 
ist  Unfug  und  keine  Heldentat.  Paßt  ordentlich  auf, 
ihr  dummen  Kerlchen:   Zeichnen  und  Singen  sollst 

10 


Du  weiter  mitnehmen.  —  Hier  ists  Frühling.  Die 
Nachtigallen  singen.  Sonja  schrieb  ich  von  unseren 
Funden.   Ich  küsse  Dich,  mein  Junge  und  Euch  alle. 

Dein  Papa. 


7.  7.  15. 

Mein  liebstes  Helmichen! 

Gestern  vor  einer  Woche  ging  ich  fort.  Es  war 
eine  ziemlich  abenteuerliche  Fahrt  —  Cüstrin  kreuz 
und  quer,  eskortiert  von  einem  Unteroffizier,  der 
meine  Abfahrt  zu  überwachen  hatte.  Aus  der  Kaserne 
schickte  man  mich,  da  sich  die  Mannschaften  allzuviel 
um  mich  versammelten,  rasch  weg  —  mit  Marsch- 
verpflegung für  vier  Tage  und  3,30  Mark  Löhnung 
für  zehn  Tage.  Die  Marschverpflegung  ungeheuer- 
lich —  so  daß  ich  einen  Di^nstmann  hätte  nehmen 
müssen,  hätte  ich  nicht  gleich  Vs  an  die  Kameraden 
verschenkt. 

Am  3ü.  war  ich  in  Memel,  wo  ich  auf  Geld 
warten  mußte,  denn  hierher  Geld  zu  bekommen, 
ist  fast  unmöglich  und  dauert  wohl  2 — 3  Wochen, 
in  Memel  fand  ich  Freunde  —  wohnte  auch  bei  einem 
Genossen  (Wolff)  und  machte  mit  ihnen  mehrere 
Ausflüge  auf  die  Kurische  Nehrung  und  nach 
Schwarzort,  wo  die  Memeler  Flüchtlinge  aus  der 
!\ussenzeit  von  den  Hoteliers  niederträchtig  aus- 
gebeutet worden  waren.  ^—  Seebäder  —  kalt,  aber 
wundervoll  — ;  die  Haff-Fahrten  schön  wie  auf  der 
Havel.  In  Memel  ist  von  der  Zeit  der  Russen  nichts 
zu  bemerken,  außer  zerbrochenen  Fensterscheiben. 
In  der  Umgebung  solls  schlimmer  aussehen;  ich  ver- 
mochte nichts  zu  bemerken!  Plünderungen  sind 
vorgekonmien  —  in  der  Hauptsache  aber  nur  an 
Nahrungsmitteln,  Kleidung  —  die  zu  nehmen,  nacli 
deutschem  Militärstrafrecht  keine  Plünderung  ist. 
Mehrere  Zivilpersonen  scheinen  erschossen;  unter 
welchen  Umständen,  ist  mir  höchst  zweifelhaft,  viel- 
leicht bei  den  Gefechten  auf  den  Straßen.    Die  An- 

11 


gaben  der  natürlich  höchst  erschreckten  und  be- 
dauernswerten Bevölkerung  sind  mit  großer  Vorsicht 
aufzunehmen.  Auf  der  Straße  wurden  mir  sofort 
tolle  Mordsgeschichten  von  abgehackten  Händen 
erzählt  und  gegen  meinen  Zweifel  eingewandt: 
die  Regierung  streite  das  alles  nur  ab,  um  die  Angst 
der  Bevölkerung  zu  dämpfen. 

In  der  Nacht  vom  1.  zum  2.,  oder  am  2.  wurde 
ein  deutsches  Handelsschiff  auf  der  Fahrt  von  Libau 
nach  Memel  torpediert  —  von  einem  englischen 
oder  russischen  Unterseebot.  Am  2.  fuhr  wohl 
infolgedessen  kein  Transportschiff  von  Memel  nach 
Libau;  am  3.  sollte  erst  eins  fahren,  aber  unter  Be- 
deckung eines  armierten  Begleitschiffes,  des  kleinen 
—  nicht  größer  als  die  Wannseeübersetzschiffe!  — 
Flußschleppers  Puck,  der  mit  einigen  Revolver- 
kanonen bestückt  ist.  Schließhch  aber  wurde  das 
Transportschiff  zurückgehalten  —  nur  Puck  fuhr,  auf 
dem  mitzudampfen  ich  mir  die  Erlaubnis  holte.  Die 
Fahrt  war  natürlich  unbequem  —  nicht  mal  Sitze 
gabs;  kein  Bordgelände,  so  daß  man-  Acht  geben 
mußte,  nicht  über  Eck  zu  gehen,  aber  frische  Brise 
und  lebendige  See,  Mondschein  und  rosiger  Sonnen- 
aufgang, so  daß  ich  trotz  Dreck  und  Seekrankheit 
einiger  Gefährten  eine  famose  Nacht  verbrachte. 
Ein  großer  Umweg  muß  wegen  der  Minengefahr 
gemacht  werden;  die  Russen  haben  ein  gewaltiges 
Minenfeld  vor  Libau  gelegt,  ein  deutsches  Lotsen- 
schitf     liegt    am     kritischen     Ausgai  gspunkt.         Wir 

fuhren  ohne  Lotsen  und  kamen  glücklich  durch. 
Libau  ■  ist  lange  von  See  aus  zu  sehen  mit  seinen 
Türmen.  Der  Hafen  ist  großartig  —  riesig  und 
übersichtlich,  wie  ich  kaum  je  einen  sah.  Die  Ein- 
fahrt ist  noch  durch  versenkte  Schiffe  versperrt, 
deren  Sprengung  eben  im  Gang  ist.  Zwei  Taucher 
sind  dabei  bereits  getötet;  der  dritte  fuhr  mit  mir 
auf  Puck  nach  Libau,  Libau  reinhch  —  ohne 
Interesse. 

Mit  drei  Artilleristen,  die  auch  nach  Grobin 
wollten,  im  Mietswagen,  natürlich  nur  Lastwagen, 
die  Beine  an  der  Seite  herunterhängend  —  nach 
Grobin  —  zirka  12  Kilometer.  Dort  mit  Müh  das 
Bataillonshauptquartier  aufgestöbert  —  Bataillons- 
Kommandeur    Rittmeister    Simon    und    Adjutanten 

12 


vorgestellt  —  Waldbrand  löschen  helfen.  Mit 
Fouragewagen  nach  Aistern-Krug,  zum  Kompagnie- 
Hauptquartier;  gegen  10  Uhr  abends  weiter  auf 
holprigen  Wegen  wieder  im  Achswagen  noch 
16  Kilometer  rund  nach  dem  Gehöft  Warwen  bei 
Durben  —  Quartier  der  4.  Korporalschaft.  Die 
Mannschaften  —  lauter  Berliner  und  meist  Ge- 
nossen. Quartier:  eine  Scheune,  gut  verschließbar, 
ohne  Fenster.  Alle  haben  Strohsäcke;  Mantel  als 
Kopfkissen;  eine  Decke,  natürlich  an  der  Erde. 
Läuse  gibt  es  viel.  Wasser  wenig  und  sehr  schlecht. 
Kameradschaft  erfreulich.  Unteroffizier  gut.  Der 
Sanitätsdienst  äußerst  miserabel.  Ein  besonderes 
Kapitel.  Heute  wurde  ich  gegen  Cholera  geimpft  — 
während  in  Lothringen  bei  jedem  eine  neusterilisierte 
Spritze  genommen  wurde,  hier  mit  derselben 
Spritze  —  ungereinigt  —  drei  geimpft  —  ich  als 
letzter  —  die  ekelhaftesten  Krankheiten  können  so 
übertragen  werden;  viele  unserer  Leute  hier  sind 
sehr  krank. 

Die  Bevölkerung  fast  ganz  lettisch.  —  Man 
sieht  wenige  'Zivilmenschen  hier  —  alles  voll 
deutscher  Soldaten.  Die  Natur  gleicht  der  ost- 
preußischen. Leicht  und  breit  gewelltes  Terrain, 
mit  kleinen  Gehölzen  durchsetzt,  meist  auf  den 
Hügeln  —  nur  30  bis  100  Meter  hoch  und  langsam 
breit  ansteigend  die  kleinen  Dörfer  und  zerstreuten 
Gehöfte,  zwischen  Bäumen.  Eine  eigentüm- 
liche Baumart  —  knorriger,  verzerrter  Wuchs  des 
etwas  lichten  und  dicken  Stammes,  nicht  sehr  hoch, 
weidenartige  Blätter  —  was  mag  das  sein?  Sonja, 
die  ja  wohl  nicht  mehr  zu  Haus  ist,  muß  es  wissen. 
Dann  und  wann  Seen;  einen  sehen  wir  von  der 
Höhe  unseres  Gehöfts  als  schmales  Silberband  in 
einer  Stunde  Entfernung.  Abends  dicker,  weißer 
Nebel  in  den  Senkungen.  Kriegsspuren  hier  wenig: 
die  zersprengten  Forts  von  Libau,  ein  halb- 
begrabenes faulendes  Pferd  an  der  Straße,  einige 
Gräber.  Wir  arbeiten  an  Befestigungen,  weit  hinter 
der  Front,  nicht  mal  Kanonendonner  hört  man  — 
dann  und  wann  ein  deutscher  Flieger.  Essen  bisher 
gut  und  reichlich  —  Wetter  gut  —  Ich  arbeite  mit. 
wie  alle.  Briefzensur  gibts  hier  nicht  —  so  viel 
ich  sehe. 

13 


So  viel  von  mir.  Laß  diesen  Brief  auch  Bobby 
und  Vera  lesen  —  Natünicii  vor  allem  bunja,  wenn 
sie  noch  da  ist  —  er  ist  für  Euch  alle.  Schreibt 
schnell  und  gründlich.  Seit  zehn  Tagen  höre  ich 
nichts  von  Euch  —  das  ist  traurig. 

Seid  brav  und  artig. 

Ich  küsse  Euch  alle  viel  —  vielmals. 

Euer  Papa. 


9.  7.  15. 

Liebste! 

Ich  frierend  auf  dem  Hof  sitzend,  Wolkenfetzen 
über  mir  hinjagend,  die  Abendröte  gedämpft  über 
den  nordwestlichen  Hügeln  zur  See  hinabklingend, 
die  Kameraden  —  lauter  Berliner  —  schreibend, 
Mundharmonika  spielend,  teils  dazu  tanzend  und 
lachend  —  rechts  neben  rfiir  der  Eingang  zu 
dem  Schuppen,  in  dem  wir  50  Mann  hansen  —  durch 
das  offene  Tor  einige  bereits  zum  Schlafen  Ge- 
gangene in  Rembrandt  —  oder  Dou  —  Beleuchtung 
ihrer  Kerzen  sichtbar,  die  Vögel  —  auch  die  Schwal- 
ben verschwunden  —  (sonst  wimmelts  davon  und 
Hänflinge,  Buchfinken,  Grasmücken,  Schwarzbrust- 
bachstelzen und  Rotkehlchen  besuchen  uns  und 
singen  uns  von  den  Bretterzäunen  und  den  Pyrami- 
den-Holzstaffeln gastfreundlich  an),  —  —  Koch- 
geschirr voll  „Kaffee"  vor  mir  und  Vanity  Fair 
(das  ich  mit  großem  Genuß  schlürfe)  —  so  hast 
Du  die  Requisiten  meiner  augenblicklichen  Um- 
gebung. 

....  Noch  immer  keine  Nachricht  von  zu  Haus  — 
schon  10  Tage  fort.  Gestern  bist  Du  hoffentlich 
aus  der  Klinik  heraus,  und  zwar  ganz  geheilt.  Aber 
nicht  gesund  —  das  muß  durch  den  „Erholungs- 
urlaub" erreicht  werden,  in  dem  Dich  dieser  Brief 
bereits  antreffen  wird  —  denn  Du  sollst  doch,  wenn 
irgend  möglich,  am  9.  8.  wieder  in  Berlin  sein,  wenn 
ich  komme.  Sorge  gründlich  für  Dich,  das  geht 
über  alles.  Ob  die  Kinder,  d.  h.  die  Jungen  in  Ober- 
wiesenthal sind,  bin  ich  begierig  zu  hören. 

14 


....  Nun  bin  ich  auch  in  Rußland,  ohne  Dich!  Aber 
unter  welchen  grauenhaften  Umständen.  ->  Ich  kann 
meine  morahsche  Lage  nicht  schildern.  Willenloses 
Werkzeug  einer  mir  in  der  tiefsten  Seele  verhaßten 
Macht!  Für  wessen  Interessen!  Doch  lassen  wir 
das.  .  .  .  Vom  Ausgang  der  Parteiausschußsitzung 
las  ich  kurz  im  „Memeler-Dampfboot".  der  einzigen 
Zeitung,  die  man  hier  ziemlich  rasch  bekommt.  Der 
Vorwärts  soll  wieder  erscheinen;  unter  welchen  Be- 
dingungen? Wie  hat  sich  unsere  Aktion  gegen  den 
P.  V.  und  Frakt.-Vorst.  weiter  entwickelt?  Ich  bin 
gespannt.  Näheres  und  Neuestes  zu  hören. 
Hast  Du  neue  Nachricht  von  den  Deinen? 
Berichte  mir  bitte  rasch  und  gründlich  von  allem. 
Wir  ziehen  hier  wohl  bald  ab  —  wohin  ist  ungewiß. 
Man  spioniert  hier  natürlich  heute  wie  immer. 
Habeant  sibi.  Viel  Arbeit.  Ich  bin  ziemJich  kaputt. 
Sonntags  wird  genau  wie  wochentags  gearbeitet. 
Alles,  alles  Gute,  ich  küsse  Dich  vielmals. 

Dein  Karluscha. 


10.  7.  15. 

Mein  liebstes  Bobbchen! 
Dein  Brief  war  so  nett,  es  hat  mich  riesig  ge- 
freut. Nur  die  Seite  mit  dem  Rauchen  und  dem 
Baden  ist  doch  bedenklich.  Rauchen  ist  nichts  für 
Euch  Zwerglein  und  mit  dem  Baden  heißts  Vor- 
sicht —  denke  an  den  Wannsee!  Und  die  vielen 
Opfer  der  anderen  Seen.  Es  tut  mir  so  leid,  daß  ihr 
nicht  reisen  konntet  —  aber  es  ist  ein  Ausnahmejahr. 
Und  das  müßt  ihr  „durchhalten";  und  ihr  wollts.  Und 
ihr  werdet  besonnen  und  artig  sein  und  freundlich 
und  heiter.  Hier  ists  kalt  und  regnerisch.  Daß  ich 
Schillerfalter,  Gabelschwanzraupen,  Mondvogel, 
braune  Bären  u.  v.  a.  sah  und  viele  Störche,  habe 
ich  schon  geschrieben.  Die  Adresse  von  W.  Paradies 
fehlt  mir.  Schreibe  ihm  einige  Zeilen.  Hoffentlich 
sc'd  ihr  wohl.  Wann  und  ob  ich  komme,  ist  ganz 
ungewiß.     \'iele,  viele  Küsse. 

Papa. 

15 


23.  7.  15. 
Liebe  Sonja! 

Deine  beiden  Briefe  kamen,  ebenso  Tabak, 

F^Idpostkarten  und  Verbandssachen.  Vielen  Dank. 
Nunbrauciie  ich  ja  nichts  mehr, vorausgesetzt,  daß  ich 
am  28.  losgondeln  kann.  Ich  bin  s  e  h  r  zerschlagen, 
es  wird  wohl  nur  vorübergehend  sein.  Im  Sanitäts- 
wesen habe  ich  tolle  Erfahrungen  gemacht;  den 
Leuten  vertraue  ich  mich  nicht  lebendig  an.  Ge- 
wissenlosigkeit ist  für  gewisse  Dinge  Euphemismus. 

Mich  behandelt  man  vorsichtig.    Mit  den  Kame- 
raden stehe  ich  natürlich  vorzüglich. 

Wir  sind  am  15.  von  Warwen  nach  Beben 

umquartiert  und  werden  v^'^ohl  bald  nach  Hasenpot 
oder  sonst  nach  dem  Osten  weiter  müssen.  Toll  ist 
die,  Ungezieferplage.  Fhegen,  Läuse,  Flöhe,  Ratten 
quälen  am  meisten. 

Die  Natur  großartig  in  ihrer  Grenzenlosigkeit, 
Kraft  und  Unberührtheit. 

Alles  alles 'Gute  Dir  und  Euch  allen 

Dein  Karl. 
Die  Post  geht  ab,  ich  bin  totmüde. 


27.  7.   15. 
Liebste  Sonitschka! 

Ich  habe  den  Urlaub  bisher   nicht.  Er  wird 

möglicherweise  ganz  zu  Wasser,  so  wie  jetzt  hier  die 
„Straßen"  und  unsere  Kunstbauten.  Von  Sylvia  er- 
hielt ich  Nachricht,  daß  sie  Anfang  August  auf  einige 
Tage  nach. Berlin  kommt,  um  dann  nach  Schweden 
zu  reisen.  Du  wirst  dann  mitgehen  oder  nach- 
folgen. —  Natürlich  wäre  ich  glücklich,  wenn 
Du  während  meines  etwaigen  Urlaubs  mit  mfr 
bliebst.  Für  Deine  Briefe  vielen  Dank.  Seit  drei 
Tagen  wieder  keine  Post,  auch  keine  Zeitungen.  Es 
ist  hier  eine  verfluchte  Ecke.  Die  großen  Hinden- 
burg-Operationen  ziehen  uns  natürlich  tüchtig  in  Mit- 
leidenschaft. Der  Tabak  schmeckt  vorzüglich  — 
die  große  Sauerei  ist  aber  kaum  erträglich. 
.  .  .  .  Könnte  ich  Euch  nur  bald  sehen!  —  Ich 
sitze  im  Stall  —  unserer  Wohnung  —  auf 
einer     Kiste     und     schreibe      auf     einem      Brett. 

16 


Die  Kameraden  liegen  im  „Bett",  d.  h.  auf 
dem  Stroh  um  mich  herum.  Das  Lichtstümpfchen 
will  verglühen.  Es  ist  lOV^.  Wir  sind  auf  die  Haut 
durchnäßt.  Tausend  Fliegen  umsummen  und  pi- 
sacken  mich.  Um  4  Uhr  nachts  Vvärd  die  Post  weg- 
gebracht durch  eine  Ordonnanz,  im  Rucksack,  im 
strömenden  Regen,  zum  Kompägnie-.,HauptGuartier" 
in  Aistern-Krug.  Wir  sollen  Gewehre  bekommen. 
Man  will  uns  zur  bewaffneten  Truppe  modeln.  — 
Kreuz  Teufel.  — 

Alles  Beste  Euch  allen.    Viele  Küsse 

Dein  Karl. 


5.  8.  15. 
Liebste  Sonitschka! 

Noch  habe  ich  keinen  Urlaub;  ich  werde  also 
kaum  rechtzeitig*  zum  Reichstag  in  Berlin  sein 
können.  Vielleicht  zu  meinem  Geburtstag?  Alles 
schwebt  im  Ungewissen.  Wenn  ich  Dich  doch  nur 
wenigstens  sehen  könnte.  Wer  weiß,  was  weiter 
folgt.  Kannst  Du  es  so  einrichten,  daß  Du  auf  einige 
Tage  nach  B.  kommst,  wenn  ich  dort  sein  sollte? 
Ich  werde  ja  nicht  frei  reisen  können,  ganz  ab- 
gesehen von  der  Reichstagsgebundenheit. 

....  Hier  ist  alles  beim  Alten,  Quartier  ge- 
wechselt. Ein  Storch  im  Nest  und  Bienenstöcke  und 
Beerensträucher  (darunter  die  von  Dir  so  ersehnten 
schwarzen  Johannisbeeren)  und  ein  f  ischteich  und 
vieles  andere  würden  den  Aufenthalt  idyllisch 
machen,    wäre    man    unter    anderen  Verhältnissen 

hier Heute  lag  ich  auf  einem  Rain  —  in  der 

Vesperpause.  Ueber  meinem  Kopf  wiegten  sich 
Blüten  gelben  Labkrauts  —  gegen  einen  tief- 
blauen Himmel,  beleuchtet  von  silbernen  Sonnen- 
strahlen. Dich  hätte  die  Seligkeit  überwältigt,  wie 
damals  am  Kohlhof  bei  dem  Lupinenfeld. 

Das  Wetter  war  schlimm,  die  Wege  grund- 
los. Von  der  nahen  See  kamen  fortgesetzt  metereolo- 
gische  Ueberraschungen.  Aber  jetzt  leuchtet  die 
Natur  wieder  herrlich.  Und  diese  Abende!  Ja, 
wenn  Du  da  wärst!  Wieviel  Genüsse  und  Be- 
lehrendes gäbe    es  auch  für  die  Kinder!      Erst    in 

2  17 


solchem  Wiedererleben  der  Umstände  der  eigenen 
Jugend,  erkennt  man  ganz,  was  der  heutigen  Qroß- 
stadtgeneration  fehlt.  Mir  wird  Borsdorf  fortgesetzt 
lebendig  und  unser  Zusammenwachsen  mit  der  Natur, 
die  wir  nicht  nur  beim  „Spazierengehn",  nicht  als 
bloße  „Sommerfrischler"  von  ferne,  unpersönlich, 
als  fremdes  Objekt  sahen.  Ich  ge^e  Nachricht,  so 
bald  ich  weiß,  wann  ich  komme.  Sorge  bitte,  daß 
jedenfalls  jemand  zu  Hause  ist,  der  eine  solche  Nach- 
richt erfährt,  wenn  Du  weg  bist.  Ich  werde  auf 
alle  Fälle  noch  an  Alice  schreiben.  Von  den  Kindern 
kamen  lange  Briefe,  die  mir  sehr  wichtig  waren. 
Zigarren  von  Dir  erhielt  ich  gerade  jetzt.  Vielen 
Dank,  tausend  Küsse  Dir.  meine  Herzliebste,  und 
den  Kindern. 

Dein  Karolus 


14.  9.  15. 
Liebstes  Bobbchen! 

Wer  weiß,  wann  ich  euch  wieder  schreiben 
kann.  Rasch  —  weil  auf  dem  Marsch  —  einige 
Worte.  Ueber  Bauske-Barbern  nach  Kertschen,  wo 
der  Bataillonsstab  liegt,  der  bald  nach  Friedrichstadt 
verlegt  werden  soll  —  jetzt  ists  noch  zu  unsicher 
dort.  Unsere  Kompagnie  liegt  in  Sauschinen  —  noch 
ca.  30  km  östlich  von  hier.  Sie  arbeitet  an  der  Düna, 
an  der  Front,  unter  tüchtigem  Feuer. 

Die  Kanonen  von  Riga  bollern  gehörig  —  und 
die  Flieger  umsummen  uns  und  riesige  Krähen- 
schwärme ziehen  durch  die  Luft  und  kreisen  und 
kreischen  umher  —  ein  widerliches  Gesindel,  das 
hier  gute  Beute  hat.  Ich  erzählte  gern  viel  von  dem 
Traurigen  und  Ernsten,  das  ich  sah  —  die  Zeit  drängt. 
Liebes  Bobbchen  und  ihr  anderen  Kinder,  Helmichen 
und  Mausi,  dieses  noch  einmal:  Seid  artig  und  fleißig 
und  schlagt  euch  tapfer  durchs  Leben,  ohne  rechts 
und  links  zu  schwanken.  Geradeaus,  obs  euch  be- 
quem ist  oder  nicht. 

Denk  daran,  welche  grauenvolle  Zeit  es  ist,  die 
wir  durchleben.    Da  heißt  es,  sich  zusammennehmen. 

Ich  denke  immer  an  euch  und  möchte  euch  die 
glücklichste  Zukunft  schaffen:  Kraft  vor  allem  und 
Sonnenschein  so  viel  es  gibt. 

18 


Ich  habe  euch  so  lieb,  wie  je  ein  Vater 
seine  Kinder.  Ihr  müßt  das  wissen;  Ihr  dürft 
daran  nicht  zweifeln.  Höhere  Gewalten  zwingen 
mich  immer  wieder  aus  der  Familie,  Habt 
Vertrauen  zu  mir  und  zu  Sonja  wie  zu 
euch  selbst;  aber  nicht  zu  viel  zu  euch  selbst 
in  dem  Sinn,  daß  ihr  töricht  und  eingebildet  werdet. 
Das  w^äre  ein  Jammer!  Gerade  an  sich  selbst  muß 
jeder  die  schärfste  Kritik,  den  schärfsten  Maßstab 
anlegen,  sonst  purzeJt  er  von  den  Stelzen  in  die 
Pfützen.  Arbeiten,  arbeiten!  Das  befreit  und  be- 
friedigt allein.  Gründlich  arbeiten,  nicht  an  der 
Oberfläche  herumplätschern.  Fleißig  sein  in  der 
Schule  und  immer  an  die  besten  Menschen  als  Muster 
denken,  die  am  meisten  für  die  Menschheit  geleistet 
haben, 

Selbstzufriedenheit  und  Selbstüjberhebung  sind 
ein  Unglück  und  machen  zum  Narren,  Das  vergeßt 
nicht,  Selbstvertrauen  heißt  Vertrauen  darauf,  daß 
man  als  tüchtiger  Kerl  arbeiten  will,  soweit  die 
Kräfte  reichen,  und  zum  Höchsten  streben. 

Ich  hoffe,  ihr  werdet  euren  Vater  nicht  ver- 
lieren, bevor  ihr  flügge  seid;  aber  Sonja  und  Onkel 
Thele,  Willi,  Curt  und  Alice,  Gertrud  und  Onkel 
Otto  und  Tante  Etty  und  auch  Isy  und  Quste 
und  viele  andere,  auch  Sonjas  Mutter  und  Ge- 
schwister stehen  für  alle  Fälle  zu  euch.  Ihr  werdet 
nie  verlassen  sein,  und  wenn  ihr  tüchtig  seid  und 
gut  und  arbeitet,  so  werdet  ihr  euer  Leben  zimmern, 
wie  ichs  euch  wünsche.  —  Seid  Tante  Alice  dank- 
bar und  gut.  Grüßt  alle  von  mir.  Ich  küsse  euch, 
Ihr  lieben  Kerlchen  vielmals 

Euer  Papa. 


15.  9.  15. 
Aleine  liebe  Sonjn ! 
Deinen  Brief  vom  3.  9.,  dem  Tage  meiner 
Abfahrt  aus  Berlin,  erhielt  ich  heute  Abend  hier  bei 
meiner  Kornoralschaft.  bei  der  ich  nun  endlich  — 
nach  fast  zwölfstündiger  Abenteuerfahrt  angelangt 
bin. . . ,  Wir  liefen  nahe  der  Düna,  bei  Friedrichstadt 
als  ein  vorgeschobener  Keil,  rechts  und  links  russische 

2»  19 


Stellungen.  Die  Truppe  hat  schon  scharfes  Artillerie- 
und  auch  Infanteriefeuer  bekommen,  ist  auch  zur  Be- 
setzung von  Schützengräben  verwandt  worden.  Ver- 
wundete und  Vermißte  —  noch  l<einen  Toten.  Gestern 
Nacht  mußte  unsere  Korporalschaft  ihr  Quartier  vor 
Artiileriefeuer  räumen.  Auf  dem  Marsch  hatten  wir 
Gelegenheit  mit  Fliegerbomben  Bekanntschaft  zu 
machen.  Wir  liegen  in  ständiger  Alarmbereitschaft 
—  dürfen  uns  nicht  ausziehen  ...  In  meiner  Ab- 
wesenheit hat  die  Truppe  böse  Strapazen  gehabt. 
Morgen  ziehe  ich  mit  aus.  "Eben  ist  Nacht,  d.  h. 
V4IO  Uhr  —  kein  Licht  —  außer  einer  Kerze,  die  ich 
gerade  zur  Hand  habe,  in  meinem  Schuppen,  natür- 
lich ohne  Fenster,  mit  ungeheuren  Fliegenschwärmen, 
die  die  Wände  buchstäblich  bedecken  und  stechen 
und  widerlich  aufdringlich  sind.  Die  Kameraden 
schlafen  neben  und  hinter  mir.  Das  gibt 
jetzt  lange  und  immer  längere  dunkle,  bt- 
leuchtungslose  Nächte;  eine  besondere  Qual.  Tabak, 
Zigarren  gar  nicht  mehr  zu  bekommen,  das 
ist  das  Schlimmste.  Auf  einer  Beutesammel- 
stelle bei  Kertschen  konnten  wir  gestern  einen  kleinen 
Vorrat  erstehen;  ein  Tropfen  auf  einen  heißen  Stein. 
Kerzen  und  Rauchstoff  ist  Hauptbedarf.  Post  funk- 
tioniert sehr  langsam  und  unregelmäßig.  Aus  über 
60  Kilometer  Entfernung  wird  sie  dann  und  wann  ge- 
holt, —  das  dauert  jedesmal  fünf  Tage.  Viel  Ruhr 
und  Typhus  —  natürlich  —  aus  einer  Kompagnie 
rund  I5  (d.  h.  100  Mann  von  500);  in  unserer  Kom- 
pagnie gehts  bis  jetzt  ganz  gut.  Unsere  Arbeit  ist 
Baumfällungen  in  den  Dünawaldungen. 

Das  Geschützfeuer  ist  gerade  eben  ziemlich 
schwach.  In  dem  Gehöft,  wo  wir  jetzt  liegen,  war 
eine  alte  Frau  krank  im  Bett  zurückgeblieben,  als  die 
andern  fortzogen  —  alle  sind  fortgezogen,  die  Ge- 
höfte verödet  und  wüst,  die  Hunde  heulen  herum  und 
treiben    sich    mit    den    Katzen    verwildert    umher. 

Krähenschwärme  —  riesig  -^  dazu  Dohlen 

Gestern  früh  fand  man  die  Alte  tot  vor  dem  Haus 
liegen,  sie  ist  am  Weg  neben  ihrem  Gehöft  beerdigt., 
Was  rede  ich  —  das  Elend  ist  so  grauenhaft,  die 
Zerstörungen  so  entsetzlich,  daß  der  Stift  stockt. 

Diesen  Brief  kann  ich  wiegen  seines  Inhalts 

nicht  nach  derSchweiz  gehen  lassen.  EndeSeptember 

20 


wirst  Du  vielleicht  doch  in  Berlin  sein,  wenn  ichs 
auch  für  Dich  nicht  hoffe.  Von  einer  raschen  Korre- 
spondenz geordneter  Art  kann  nicht  die  Rede  sein, 
da  die  Antwort  stets  3  bis  4  Wochen  dauert.  Doch 
kann  jeder,  ohne  Antwort  abzuwarten,  häufig 
schreiben  und  darum  bitte  ich  Dich.    Ich  küsse  Dich 

Dein  Karl. 


20.  9.  15. 

Liebste ! 

In  Kürze  wird  sich   das   erste   Triennium 

unserer  Ehe  vollenden.  Wo  Du  an  diesem  Tage  sein 
wirst,  kann  ich  hier  nicht  einmal  ahnen.  Seit  dem  3.  9. 
ohne  jedes  Lebenszeichen  von  euch  allen  und  ohne 
Aussicht  darauf.  Ob  dieser  Brief  bis  zum  1.  Ok- 
tober in  Berlin  sein  wird,  steht  sehr  dahin. 
Die  Postverhältnisse  sind  hier  toll,  ebenso  wie  alles 
andere.  Wir  arbeiten,  ohne  jede  Sicherung  vor 
uns,  unmittelbar  an  der  äußersten  Front,  wo  die 
Feldwachen  liegen  und  streifen.  Die  russische  Front 
steht  hier  noch  diesseits  der  Düna.  Tag  und  Nacht 
Geknatter  und  Geknall  und  böses  Gedröhn  und  Ge- 
fauch und  Gezisch  und  Geheul  und  Gepfeif  und 
Gekrach.  Granaten  und  Schrappneils  sind  unsere 
ständigen  Abwechselungen';  Nachts  jede  Minute  zum 
Abrücken  bereit.  Wir  sollen  auch  eventuell  in  die 
Schützengräben;  so  gut  haben  sich  —  nach  Hinden- 
burg  —  die  Schipper  bewährt,  daß  sie  dieser  „Ehre" 
teilhaftig  werden  sollen.  Dabei  alles  ungedient  und 
unerfahren.  Selbst  der  Unteroffizier,  in  dessen 
alleiniger  Obhut  wir  stehen,  ganz  ohne  Erfahrung 
und  zudem  nicht  gerade  beschlagen!  Nun  —  bisher 
gabs  in  unserer  Korporalschaft  noch  keine  Verluste, 
obwohl  sie  bereits  einmal  das  Quartier  vor  Ge- 
schützfeuer räumen  mußte  und  unser  jetziges 
Quartier  mehrfach  beschossen  wurde.  In  anderen 
Korporalschaften  derselben  Kompagnie  gibts  Ver- 
luste. Erst  vorgestern  wurde  ein  Unteroffizier  durch 
Schrappneil  getötet  —  Vater  von  sieben  Kindern.  — 
Gestern   schoß  sich   ein   Mann  mit  Gewehr   durch 

21 


den  Fuß.    In  anderen  Kompagnien  unseres  Bataillons 
sind  geliörige  Verluste. 

Die  Art,  wie  man  uns  verwendet,  ist  leicht- 
fertig und  verbrecherisch.  Ich  bitte  Dich,  erforder- 
hchenfalls  Haase  davon  Mitteilung  zu  machen.  Da- 
bei hat  das  ganze  Bataillon  von  2500  Mann  nur  einen 
Arzt  und  was  für  einen;  für  2500  Mann,  die  auf 
einem  Gebiet  von  2-300  Quadratkilometern  und 
mehr  in  kleinen  und  kleinsten  Abteilungen  zerstreut 
liegen.  Dazu  kommen  für  unsere  Kompagnie  mit 
500  Mann  noch  zwei  Sanitätsunteroffiziere  —  und 
was  für  welche!  Auf  500  Mann,  die  auf  einem  Ge- 
biet von  vielleicht  100  Ouadratkiiomeiern  zerstreut 
sind!  Und  von  diesen  Sanitätsunteroffizieren  ist  jetzt, 
wo  die  Gefahr  von  Verwundungen  recht  ernst  ist,  der 
eine  zum  Föuragetransport  kommandiert  und  damit 
dem  Sanitätsdienst  einfach  entzogen!  Und  das  an 
der  Front  —  es  ist  ein  Skandal.  Die  Verpflegung 
läßt  hier  höchlichst  zu  wünschen  übrig,  nur  Kar- 
toffeln, und  zwar  sehr  gute,  gibts  auf  den  Feldern 
im  Ueberfluß.  Tabak  ist  nicht  zu  erlangen  —  das 
ist  besonders  empfindlich,  weil  Tabak  das  einzige 
Stimulans  bildet.  Weiter  hinten  in  der  Etappe  gibts 
alles  Mögliche.  Z.  B.  auch  täglich  2  Zigarren  und 
2  Zigaretten.  Hier  alle  Jubeljahre  eine  Zigarre,  man 
zahlt  oft  20  Pfg.  für  eine  miserable  Zigarette! 
Daneben  ist  der  größte  Notstand  der  völlige  Mangel 
an  Beleuchtung!  Von  6V2  an  dunkel.  Keine  Kerze 
und  nichts  wird  geliefert.  Man  drückt  sich  herum, 
feann  weder  lesen  noch  schreiben,  verkriecht  sich 
in  „sein  Bett",  d.  h.  auf  sein  Stroh  und  wickelt  sich 
vor  der  ekligen  Kälte  natürlich  im  ungeheizten 
Stall  oder  Scheune  oft  hundenaß  in  den  Kleidern  in 
seinen  Mantel  und  eine  dünne  Decke  und  friert  die 
ganze  Nacht  wie  ein  Schneider.  Man  braucht  hier 
schon  die  Wintersachen,  d'e  ich  im  Juni  bei  meiner 
Abreise  zu  Haus  ließ.  Ich  bitte  Dich,  schick  die 
Wintersachen,  jede  Woche  regelmäßig  fünf  Päck- 
chen billigsten  Tabak  und  20  Zigarren  (zu  6  Pfg.. 
groß  schwer)  und  jede  Woche  fünf  Kerzen,  nicht  zu 
große.  Außerdem  erbitte  ich  das  Tageblatt,  es 
scheint  eingestellt  zu  sein,  der  Vorwärts  kam 
einmal 

Nun  bin  ich  vom  Anlaß  meines  Briefes  ganz  ab- 

22 


geirrt.  Ich  war  bei  unserem  Hoclizeitstag  und  will 
Dir  dazu  einige  gute  und  ernste  Worte  schreiben, 
will  Dir  schreiben,  daß  ich  Dich  lieb  habe,  daß  mir 
unsere  gemeinsame  Vergangenheit  geheiligt  ist, 
und  daß  ich,  falls  man  heil  aus  dieser  Sauerei 
herauskommt,  trotz  alledem  hoffe.  Dir  eine 
Zukunft    nach     Deiner     Sinnesart     gestalten     zu 

helfen,  mehr  als  bisher Verlebe  -den  Tag  in 

Gedanken  an  mich.  Liebste,  denk  an  Prag, 
an  Eger,  an  Schandau,  an  Schlachtensee  und  Ham- 
burg, an  Heidelberg  und  Worms  und  vieles  andere, 

woran    ich    denke Ich    muß    schließen,    ich 

friere  wie  zwei  Schneider.  Leb  wohl,  alles  Beste  — 
ich  küsse  Dich  und  die  Kinder. 

Dein  Karl.   , 


•  21.  9.  15. 

Liebste  Kinder! 

Es  ist  heute  ein  wilder  Tag  hier  und  ein  sehr 
böser  Abend.  Ein  russischer  Vorstoß  aus  Riga  hat 
uns  überrascht.  V/ir  heben  jetzt  neue  Stellungen 
aus  —  in  vorderster  Linie.  Es  ist  kühl.  Neben 
mir  kracht  es  toll  —  auf  uns  ist  die  Hölle  losgelassen. 
Ich  werde  nicht  schießen  — 

Lebt  wohl  —  ihr  Liebsten!  Ich  küsse  euch 
so  heiß,  wie  ich  euch  lieb  habe  —  in  neun  Wochen 
auf  Wiedersehn  —  alles,  alles  Beste. 

Euer  Papa. 

22.  9.  1")  (morgens) 
Liebste  Kinder! 

Die  xNacht  ohne  Angriff  verstrichen;  Ver- 
stärkung kam  soeben  an.  Die  Artillerie  begann 
bereits  ihr  Werk  am  frühen  Morgen.  Diese  Stundeii 
sind  unvergeßlich  und  für  mich  fürchterlich  — 
ich  vermag  das  Großartige  dabei  höchstens  zu 
empfinden  wie  bei  einem  Brand,  einem  Erdbeben. 
wie  bei  Tigergebrüll. 

Menschlich  ists  niederschmetternd,  sofern 
man  an  den  Menschen  ein  Maß  anlcj^t,  dessen  er 
selbst   sich  sonst  vermißt. 

23 


Die  Natur  ist  hier  groß  und  weit  und  stark  — 
von  elementarer  Kraft. 

Kalt,  kalt  —  sorgt,  daß  die  Wintersachen 
kommen. 

Schreibt  bald  und  oft,  wenn  auch  kurz. 

Ich  küsse  euch  vielmals,  meine  kleinen  Kerlchen, 

Euer  Papa 


23.  9.  15. 

Liebste! 

Auf  der  Fahrt  nach  Kertschen  zum  Bataillons- 
arzt —  ich  habe  eine  Augenentzündung  durch  einen 
bei  der  Arbeit  ins  Auge  gefallenen  Fremdkörper. 
Eine  Kleinigkeit  —  und  gute  Gelegenheit,  wenigstens 
ein  paar  Tage  von  der  Front  zu  kommen.  Ich 
schreibe  nachts  3  Uhr,  ii^  einem,  wie  die  Regel,  von 
den  Bewohnern  verlassenen  einsamen  Gehöft,  wo 
ich  mit  ein  paar  Kameraden  untergekrochen  bin. 
Kosaken-Patrouillen  sind  gemeldet,  so  muß  gewacht 
werden  und  ich  habs  übernommen,  um  einmal  gründ- 
lich arbeiten  und  lesen  zu  können  —  eine  Anzahl 
Zeitungen  fiel  mir  gerade  in  die  Hände.  Post  bekam 
ich  noch  nicht. 

Augenblicklich  ists  ziemlich  ruhig,  wir  sind 

freilich  4  bis  5  Kilometer  von  der  Front.  Große 
Geschütze  sind  eben  nicht  an  der  Arbeit.  Gestern 
Nacht  gabs  sehr  blutige  Kämpfe  in  dem  großen 
Dünawald.  Die  deutschen  Verluste  sind  beträchtlich, 
zum  Teil  durch  zu  kurz  schießende  deutsche 
Artillerie  veranlaßt.  Große  Operationen  scheinen 
sich  hier  vorzubereiten  —  von  russischer  und 
deutscher  Seite.  Die  Stimmung  der  Armierungs- 
soldaten ist  sehr  erregt,  ja  ernpört,  ich  traf  viele 
alte  Landstürmer,  Bekannte,  deren  Zustand  tief  er- 
greifend war.  Alles  ist  die  Schweinerei  gründlich  satt. 

In  den  ersten  Tagen  gleich  tauchten  allerhand 
Offiziere  bei  mir  auf,  darunter  zwei  Prinzen,  um 
mit  mjr  beim  Kanonendonner  zu  diskutieren;  das 
geschah  von  mir  mit  aller  Deutlichkeit  und  war  ganz 
amüsant.  Ich  sagte  ihnen  die  ganze  Wahrheit  ins 
Gesicht  und  erhielt  das  Zugeständnis  des  deutsch- 
österreichischen Angriffs,  eine  Apologie  des  Kron- 

24 


Prinzenmordes  von  Sarajewo  als  eines  wahren 
Segsns,  die  ungenierte  Verfeditung  des  Eroberungs- 
ziels und  von  einem  das  Bekenntnis,  daß  er  seit 
Jahren  für  den  Krieg  gearbeitet  habe  und  der  Krieg 
noch  ein  bis  zwei  Jahre  dauern  müsse.  Ich  werde 
Dir,  wenns  geht,  darüber  noch  ausführhcher  be- 
richten. 

Es  ist  dunkel  um  mich,  man  singt  fern.  „Die 

Tote"  darfst  Du  mir  nicht  sein.  Ich  weiß  nicht, 
ich  habe  Angst,  Dich  zu  verlieren,  wahnsinnige 
Angst.  Die  ganze  Vergangenheit  ist  lebendig. 
Und  ich  ertrinke  in  ihr,  wenn  Du  mich  nicht  auf- 
nimmst. Ich  habe  Dich  lieb  und  strecke  die  Hände 
nach  Dir  aus,  gib  mir  Deine  Hand.  Hab  mich  lieb. 
Hilf  mir.    Ich  kann  nichts  ohne.  Dich. 

Dein  Karl. 
In  mir  zerbricht  alles.       ' 


26.  9.  15. 
Mein  liebster  Junge! 

Noch  hab  ich  kein  Wort  von  euch  und  heute 
grad  besteht  Aussicht,  Post  zu  bekommen.  Ich 
schreibe  aber  doch  schon  jetzt.  Es  streichen  mir  so 
viele  Erinnerungen  aus  meiner  Jugend  durch  den 
Kopf,  Erinnerungen  grad  aus  deinem  Alter,  in  dem 

der  Geist  und  die  Gefühle  knospen Ich  blättere 

eben  im  Ploetz  (Geschichte)  und  warf  einen  Blick  in 
die  bunte,  ernste  Fülle  der  Menschheitsgeschicke, 
und  bei  alledem  wehten  mir  aus  jeder  Seite  die  Stim- 
mungen entgegei],  in  denen  ich  sie  einstens  las  und 
mit  einer  träumerischen  Phantasie  in  mich  einsog. 
Getrocknete  Blumen  mit  ihrem  leicht  verwirrenden 
Duft. 

Diese  Zeit  des  Werdens  sollt  auch  ihr  in  ihrer 
ganzen  Zauberhaftigkeit  durchleben.  Das  ist  das 
Verlangen,  das  mich  jetzt  erfüllt.  Ihr  werdet  viel 
ärmer  sein  in  euren  späteren  Jahren,  wenn  ihr  darum 
betrogen  werdet  —  und  ihr  sollt  nicht  darum  be- 
trogen werden. 

Du  bist  jetzt  groß  genug,  um  mir  schreiben  zu 
können,    mir    dein  Herz    auszuschütten.     Und  das 

25 


sollst  Du  tun,  ganz  ohne  Vorbehalt,  ohne  das 
Mindeste  zu  verbergen.  Du  trittst  jetzt  in  das 
Alter  des  Uebergangs  von  Kind  zum  Mann  —  in 
der  Seele  treten  neue  Regungen  auf,  die  leicht  irre- 
geleitet werden  oder  von  selbst  irrelaufen  können. 

Hab  Vertrauen  zu  mir  und  zu  Sonja.  Nichts 

vor  uns  verheimlichen,  nichts  tun,  was  Du  uns  zu 
bekennen  scheutest.  Wir  verstehen  alles  —  ich  habe 
alle  Irrwege  des  menschlichen  Herzens  durch- 
wandert, durchtastet  —  durchkrochen.  Nichts 
könnte  Dir  beikommen,  was  ich  nicht  verstünde  — 
und  Dir  nicht  verzeihen  könnte  und  würde,  wenn 
ich  Dein  Streben  sehe,  dich  durchzuarbeiten,  hinauf- 
zusteigen auf  die  Höhen  —  zur  Sonne,  in  die  un- 
endliche Herrlichkeit  der  Welt.  Deine  Brust  soll 
hoch  aufatmen  und*  ich  wih  dich  sehen,  wie  du  die 
Arme  weit  ausbreitest,  ihr,  der  Welt  entgegen.  — 
Das  will  ich  sehen,  darauf  warte  ich.  —  Oeffne  Dein 
Herz  —  laß  alles  hineinfluten  und  Dich  beseligen. 
Und  laß  Dich  leiten  vom  Vertrauen  zu  mir,  von  der 
Liebe  zu  uns  allen  und  zu  den  Menschen.  Dann 
fällt  alle  Arbeit  leicht;  dann  ist  sie  nicht  Mühsal, 
sondern  Glück  und  Entzücken. 

Schreib  mir,  mein  Herzenskind.  Bald.  Viel. 
Ganz,  wie  Dirs  ums  Herz  ist. 

Ich  küsse  dich  und  euch  alle,  alle,  tausendmal. 

Dein  Papa. 


4.  10.  15. 
Mein  liebster  Helmijunge! 

Eure  ausführliche  Karte  kam  —  Vera  hat  leider 
wieder  nicht  unterschrieben.  Das  Fräulein  will 
wohl  warten,  bis  ich  ihr  erst  einen  langen  Brief 
schreibe.     Nun,  der  wird  allerdings  bald  kommen. 

Wir  liegen  noch  an  der  Front  und  werden  wohl 
dauernd  dort  bleiben.  Uebermorgen  komme  ich 
wieder  zur  Korporalschaft  zurück,  nachdem  mein 
Auge  wohl  annähernd  auskuriert  ist.  Ich  werde 
dann  fast  14  Tage  hier  gewesen  sein;  in  weiteren 
43  bis  45  Tagen,  d.  h.  6  bis  7  Wochen,  gehts  dann 
wieder  zu  Euch.  Bis  dahin  freilich  werden  harte 
Zeiten  kommen.    Wenn  mir  nur  der  Schützengiaben 

26 


nicht  biüiit  —  alles  andere,  alle  Gefahren  spielen 
keine  Rolle;  nur  mitniurden  —  das  kann  ich  nicht  — 
da  hörts  auf. 

Die  arme  Bevölkerung  hier!  —  Fast  alle  sind 
geflohen  —  und  die  Gehöfte  stehen  verödet.  Da 
ist  natürlich  alles  ratzekahl  weggenommen  —  von 
den  Deutschen.  Denen,  die  geblieben  sind,  wird 
auch  fast  alles  genommen.  Keinerlei  Vorsorge  is: 
getroffen,  daß  ihnen  wenigstens  das  Nötige  bleibt. 
Und  gar  oft  nicht  requiriert  mit  gehörigem  Schein, 
sondern  einfach  genommen,  geraubt.  Heute  kam 
eine  Frau  hier  an,  der  auf  einen  gefälschten  Schein 
das  letzte  Schwein  genommen  war.  Die  Soldaten 
lachen  leider  gar  oft  noch  über  solche  Unmensch- 
lichkeit, nur  selten  verstehn  sie  die  Lage  der  Be- 
völkerung. Raub  und  Plünderiftig  sind  eben 
Zwillingsgeschwister  des  Mords "  —  wie  dieser  — 
legitime  Kinder  des  Krieges.  Ich  habe  darüber  nun 
manche  Erfahrung. 

Riesige  Mengen  von  Feldfrüchten  verkommen 
hier  allenthalben  in  der  Erde  —  ihre  Einbringung 
wird  nicht  einmal  versucht;  es  wird  verzehrt  — 
direkt  aus  der  Erde  geholt  —  was  jeweils  grad  ge- 
braucht wird  und  damit  basta. 

Ich  las  hier  von  Euripides  drei  Stücke:  Medea, 
Hippolyt  und  Jphigenia  bei  den  Taurier.n.  — 
Wundervolle  Teile  haben  alle  drei:  Lest  ihr  schon 
griechische  Tragödien?  Aeschylgs  oder  Sophokles? 
Bald  wirds  soweit  sein.  Da  mußt  du  dann  freiUch 
auch  unsere  Dichter  besser  kennen  als  bisher. 

Schreibt  bald  und  oft  und  recht  gründlich  — . 

Ich  küsse  euch  tausendmal. 

Dein  Papa. 


S.  10.  15. 
Liebste ! 
Das  sind  jetzt  Erlebnisse.  Gestern  Mittag 
im  Haus  neben  uns  eine  Granate  durchs  Fenster  — 
ein  Toter,  ein  Schwerverwundeter.  Heute  früh  um 
8V^  Uhr  ein  Korporalschaftskamerad  bei  der  Arbeit 
—  schwerer  Bauchschuß  —  noch  lebend.  Gestern 
Mittag  ein  Schrappnell  gerade  über  mir  geplatzt,  als 

27 


ich  mit  dem  Leutnant  auf  dem  Hofe  des  Quartiers 
sprach  —  eine  Kugel  tanzte  zwischen  uns,  ich  habe 
sie  aufgehoben.  Wir  liegen  in  einem  Gehöft  nahe 
am  Dünawald;  deutsche  Artilleriestellungen,  die  bis 
gestern  dicht  neben  uns  waren,  sind  wegen  dauernder 
Beschießung  verlegt. 

Wir  arbeiten  „nachts",  d.  h.  gehen  um  4V2  Uhr 
nachmittags  fort,  gegen  5  Uhr  erreichen  wir  den  Ein- 
gang zu  den  deutschen  Gräben,  durch  deren  Zick- 
zack wir  dann  in  der  Dunkelheit  ^/4  Stunden 
laufen,  stolpern,  kriechen,  —  bis  zur  Arbeitsstelle. 
Dort  bis  I  Uhr  Arbeit,  2  Uhr  Abmarsch  vom  Stellungs- 
eingang nach  dem  Quartier.  Ankunft  um  3  Uhr. 
Kaffee.  Dann  zu  „Bett".  Natürlich  im  eiskalten 
Stall,  Stroh,  Maötel,  Decke.  Heute  waren  bis  2  Grad 
Kälte. 

Eine  berauschende  flammende  feierliche  Winter- 
sternnacht, den  aufsteigenden  Orion  und  meinen 
Sirius,  unseren  Sirius  vor  mir,  über  mir  durch  das 
herbstliche  Gezweig  der  Sträucher  und  Bäume  den 
himmlischen  Festesglanz.  In  die  Erde  gewühlt  — 
auf  einem  Friedhof  in  die  Erde.  Gewehrschüsse 
knallen  —  bald  einzeln,  bald  zahlreich:  die  Russen 
liegen  80  bis  150  Meter  vor  uns  und  hinter  uns  jen- 
seits der  Düna,  wir  zwischen  ihnen  im  spitzen  Keil. 
Weit  vor  uns  halb  rechts  blitzt  es  auf  —  wie  Wetter- 
leuchten. Das  gilt  uns.  Nach  10  bis  12  Sekunden 
hören  wir  das  Abschußdröhnen  und  das  wilde 
Fauchen  des  heranrasenden  Ungetüms  —  Deckung! 
d.  h.  Hinlegen.  Näher,  näher  —  —  vorbei?  — . 
Getöse  dicht  neben  uns.  Ich  richte  mich  auf  — 
Warnung  —  Sprengstücke  abwarten.  Richtung: 
Dicht  neben  mir  fällt's  auf  den  Grabenrand. 
Ein  tüchtig  schwerer  Junge,  so  geht's  weiter,  zweimal 
fallen  Stücke  dicht  neben  mir  —  das  war  beim  Gang 
zur  Arbeitstelle,  an  die  ich  mit  einem  Feldwebel,  nach- 
dem ich  dem  diesen  Abschnitt  kommandierenden 
Leutnant  ein  Croquis  zu  zeichnen  geholfen  hatte, 
gegen  ^/1>10  Uhr  nachfolgte.  Der  Stellungsanfang 
wurde  beschossen  —  ausgezeichnet  gezielt  —  was 
den  Russen  überhaupt  nachzusagen  ist.  An  der 
Arbeitsstelle  sind  wir  sicherer.  Die  Ungeheuer  fliegen 
weiter  darüber  hinaus,  so  daß  wir  vor  Sprengstücken 
gesichert  sind.  Wir  arbeiten,  oder  auch  nicht,  je  nach 

28 


dem.  Die  Gräber  und  Kreuze  um  uns,  die  rascheln- 
den Zweige  über  uns  und  das  Geflimmer  dazwisclien. 
Ein  Kamerad  neben  mir  bricht  plötzHch  tief  ein: 
ein  Sarg  unter  ihm  ist  eingebrochen  —  er 
trampelt  auf  der  Leiche  —  Dreck  drauf  —  das 
Loch  ausgefüllt  —  und  weiter  gehts  mit  dem  Spaten 
inmitten  der  Gräber  und  Kreuze  und  Leichen  und  des 
Gedröhns  und  Geknatters  und  Kugelgepfeifs Un- 
geheure Visionen.  —  „Umschnallen!"  Ein  russischer 
Angriff  ist  wahrscheinlich.  Deutsche  Leuchtkugeln 
fliegen,  wir  ducken  uns,  klettern  dann  aus  unserem 
Grabenstück,  das  30  bis  40  Meter  getrennt  liegt,  vom 
langen  fertigen  Graben.  Stolpern  über  die  Gräber, 
durchs  Gebüsclf  —  keiner  weiß  den  Weg  oder  die 
Richtung  zum  Hauptgraben.  Mein  Klemmer  fällt  von 
einem  Zweig  abgestreift  ins  Gras;  ich  taste  ihn  zu- 
fällig wieder.  Plötzlich  entdeckt  einer  den  Graben. 
Wir  springen  hinein.  Der  Unteroffizier  ist  un- 
gehalten. Ich  zanke  mit  ihm,  nicht  gar  bös,  denn  er 
ist  ein  guter  Kerl,  wenn  auch  sehr  beschränkt  und 
überängstlich.  Ich  erkläre  ihm,  daß  i  c  h  nicht 
schießen  werde  und  wenn  es  befohlen  würde.  Dann 
möge  man  mich  erschießen.  Andere  stimmen  mir 
bei.  Wir  werden  laut.  Sofort  pfeift's  uns  um  die 
Ohren,  die  Russen  hören  uns.  Hören  jedes  Spaten- 
geklapper. Ich  habe  mich  vorläufig  meines  Gewehrs 
wieder  entledigt.  Wandere  also  ohne  Waffe  auf 
Arbeit.  Da  bin  ich  innerlich  fast  frei.  Gestern  früh 
war  mir  nach  einer  geistig  durcharbeiteten  Nacht  fast 
jubelnd  ums  Herz, , , .  Ich  fühlte  und  sah  und  erlebte 
diesen  Herbst  wie  in  Jünglingszeiten,  wie  in  Friedens- 
tagen, wie  einst  mit  Dir.  Und  noch  fühle  ich  mich  so 
sieghaft  über  allem  was  ist  und  kommen  kann.  Wie 
kann  ichs  beschreiben!  Ich  las  Dante  und  arbeitete. 
Und  diese  Wintersternen-Nacht  im  Herbst!  Alle 
äußeren  Molesten  sind  lächerlich.  Ich  spotte  ihrer, 
auch  wenn  mein  Körper  versagt. 


Vor  einigen  Tagen  fragte  mich  ein  Rittmeister 
neugierig,  wie  mir  die  Arbeit  gefalle  —  ich  trug  gerade 
Mist,  Antwort:  „Ja,  wenn  Frieden  wäre"  —  Er 
fällt  ein:  „Natürlich,  dann  würden  Sie  diese  Arbeit 
nicht  machen".  Ich:  „ImGegenteil,  dann  würde  ich  sie 
gern  machen."    Er:  verblüfft:  „und  jetzt  machen  Sie. 

29 


sie  nicht  gern?"  Ich:  „Im  Kriege  kann  ich  nichts 
gern  machen,  nichts,  was  dem  Kriege  dient."  Er  hat 
sich  wohl  bis  heute  nicht  beruhigt.  Es  ist  nachmittags 
3  Uhr.  In  fünfviertel  Stunden  Antreten  zur  Arbeit, 
vorher  noch  Kartoffelschälen  für  morgen.  Und  für 
mich  arbeiten  —  an  einem  Expose  für  ein  „inter- 
nationales sozialistisches  Institut".  Fast  fertig  damit, 
wenn  natürlich  auch  stark  extemporiert  in  der  Dis- 
position und  voller  Unvollkommenheit.  Aber  Zögern 
gibts  jetzt  nicht.  Seid  ohne  Sorge  um  mich.  Die 
Kameraden  tragen  mich  auf  Händen.  Aus  allen 
Truppenteilen  kommen  sie  hergelaufen  und  schicken 
mir,  was  sie  haben.  Mein  Auge  ist  fast  gut.  Tabak 
fehlt,  schick  jeden  Tag  ein  kleines  Quantum  im  Brief, 
wenn  Pakete  verboten.  Das  brauch  ich.  Ich  bitte 
Dich  um  diese  kleine  Mühe  und  schreib  jeden  Tag. . . . 
Noch  ist  seit  dem  15.  9.  nichts  von  Dir  gekommen. 
Wie  geht's  Beba?  Sei  froh,  daß  er  jetzt  aus  der 
Hölle  im  Westen  ist.    Ich  küsse  Dich  und  Euch  alle. 

Dein  Karluscha. 


9.  10.  15. 

Liebste! 
Heute  Nacht  fällt  die  Arbeit  aus,  so  melde  ich 

mich  kurz  bei  Dir  zur  Stelle Die  letzte  Nacht  war 

kolossal  anstrengend;  ich  krachte  fast  zusammen. 
Als  wir  —  in  der  Dämmerung  abmarschiert,  im 
Dunkel  den  hohen  Fichtenwald  durchwanderten, 
glitzerten     die    Sterne    wie    Weihnachtskerzen    in 

den    Bäumen Die    Arbeit    auf   dem    Friedhof 

folgte.  In  voller  schwarzer  Nacht  —  die  Sterne 
verschwanden.  Schon  dsn  Gräberrasen  abheben  — 
unsäglich  schwer.  Bei  jedem  Spatenstich  tropft  Fäul- 
nisfeuer wie  Glühwürmchen  vom  Spaten,  Die  fallende 
Erde  liört  man  nicht.  Der  Spaten  schlägt  hohl  auf  — 
wieder  ein  Sarg.  Und  dumpfer  Verwesungsgeruch. 
Und  Gewehrgeknatter  —  und  die  ganz  nah  vorbei- 
pfeifenden Kugeln  von  jenseits  der  Düna  und  die 
scharf  aufknaüenden  Explosivgeschosse  vom  nahen 
russischen  Graben,  bei  denen  der  Aiifschlagknall  dem 
Abschußknall  vorangeht  (für  unser  Ohr).    Die  Russen 

30 


verwenden  sc!ir  viel  Explosivgeschosse  (Gewehr- 
granaten) wohl  amerikanischen  Fabrikats,  die  sehr 
böse  zurichten.  Ich  kroch  bis  zur  Dünaspitze  und 
sah  das  erste  Mal  die  silberschimmernde  breite 
Wasserfläche  des  Stromes.  Die  Kugeln  nahe- 
stehender russischer  Posten  pfiffen  uns  um  die  Ohren. 
Die  Russen  haben  zirka  10  Kilometer  entfernt 
von  unserem  hoch  und  weithin  sichtbar  gelegenen 
Quartier  einen  Fesselballon,  der  ihnen  gute  Dienste 
leistet.  Heut  war  er  wieder  hoch.  Die  Schießerei 
war  heut  Nacht  geringer  —  die  Russen  arbeiteten 
einen  Drahtverhau  vor  uns  und  hielten  sich  daher 
ruhig. 

Eben  sitze  ich  bei  benachbarten  Maschinen- 
gewehrleuten —  Parteigenossen  —  in  warmer  Bude. 
Sie  skaten  und  plaudern.  Einer  hat  das  bei 
Langevviesche  erschienene  Büchlein  über  die  deutsche 
Malerei  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts „Der  stille  Garten",  Reproduktionen  aus 
der  .Tahrhundertausstellung  —  natürlich  irgendwo 
„mitgenommen".  Ich  las  es  eben  und  war  dabei  ganz 
in  Deiner  Nähe.  Hast  Du  das  Heft?  Ich  rate 
sehr  dazu. . . . 

Der  gestern  geschossene  Kamerad  Lohse  hat 

Lungen-  und  Bauchschuß  —  er  ist  schon  ab,  aber  er 
wird  wohl  sterben.  Es  gab  neue  Verluste  in  der 
Stellung,  wo  wir  arbeiten.  Noch  immer  kein  Wort 
von  Dir!  Ich  küsse  Dich  und  die  Kinder.  Schreib 
Deinem  Karluscha  bald. 


13.  10.  15. 
Mein  Junge! 

Nichts  Neues  von  hier  —  aber  leider 
auch  nichts  von  euch!  Natürlich  liegts  an 
der  Post,  die  ganz  miserabel  funktioniert. 
Schreibt  aber  doch  möghchst  jeden  Tag,  wenn  auch 
ganz  kurz.  Man  dürstet  danach  —  in  dieser  Ver- 
einsamung. Wüßte  ich  nur  wenigstens,  wo  Sonja 
steckt  ~  Seit  genau  28  Tagen  kein 
Sterbens  wörtlein. 

Strahlender    Spätherbst     —     sternenklar    und 

31 


reifbegossen  —  kalt.     Natürlich  ohne  Oefen.     Nur 
eine  Decke  im  Stall  oder  Schuppen. 

Ich   küsse   euch   alle.     Genießt   die  Ferien   — 

Euer  Papa. 


25.  10.  15. 

Liebste ' 

Jetzt  bist  Du  sicher  zu  Haus  und  wirst  gesehen 

haben,  wie  oft  ich  schrieb Ich  habe  seit  langem 

nichts  von  Dir,  es  mag  mit  der  äußerst  schlechten  Ver- 
bindung zusammenhängen.  Wir  bekommen  fast  nichts 
mehr.  Eine  reine  Qual.  Ich  bin  zu  ungeduldig  und  von 
dem  Postabholen  zu  sehr  bedrängt,  um  viel  schreiben 

zu  können Seit  mehrerenTagen  ist  unser  Ouartier 

verlegt,  wir  hausen  in  russischen  Unterständen; 
weiter  nordw^estlich  wieder  nahe  der  Düna.  Es  ist 
sehr  kalt.  Seit  heute  auch  echtes  Schneewetter,  so 
daß  ich  mich  heute  früh  in  Schnee  waschen  konnte 
—  ein  hoher  Genuß. 

Wahnsinnig  viel  Ungeziefer.  Wie  gehts  bei 

euch.  Man  kann  nicht  mehr  schreiben,  wenn  man 
nichts  von  zu  Hause  bekommt.  Auch  die  Pakete  —  bis 
auf  einige  kleine  Tabakbriefe  von  Alice  fehlen  noch 
ganz.  Kein  Licht,  kein  Block,  keine  Zigarren  und 
fast  kein  Tabak.  So  siehts  heute  sieben  Wochen 
nach  meiner  Abfahrt  aus.  Zum  Auswachsen.  Winter- 
sachen brauche  ich  nicht  mehr.  Habe  hier  alles 
empfangen.    Schreib,  schreib. 

Ich  werde  widerlich  bespitzelt,  wie  ich  jetzt 

erfahre,  Schmiergesellschaft!!  Ich  küsse  Dich  und 
euch  alle 

Dein  Karl. 


Notizen  :    Am    25.  10.   15    bittet    mich  .  .  . 

aus  der  Bataillons-Revier-Stube  heraus  und 

teilt  mir  mit:  Es  ist  beim  Bataillorr  gemeldet, 
daß  Sie  Propaganda  für  den  Kirchenaustritt  unter 
•den  Kameraden  im  Revier  treiben.  Das  darf  ich 
nicht  dulden,  das  Revier  ist  neutraler  Boden.  Ich 
muß  Sie  ersuchen,  es  einzustellen  (bis  dahin  dienst- 

32 


Karl    Liebknecht.  6  Jahre  alt 


Karl    Liebknecht,  13  Jahre  alt 


lieh).  Sie  sollen  die  Aufforderung  zum  Austritt  auch 
dadurch  begründet  haben,  daß  so  ein  Druck  auf  Be- 
endigung des  Krieges  geübt  werden  könne  und  solle 
—  das  könnte  leicht  als  Aufruhr  ausgedeutet  werden 
(ich  widerspreche).  Ich  sage  Ihnen  das  in  bester 
Absicht  —  wie  ich  sonst  dem  Austritt  gegenüber- 
stehe, tut  hier  nichts  zur  Sache.  Ich  stehe  Ihnen  ir 
der  Auffassung  des  Krieges  gar  nicht  fern  und 
huldige  stark  pazifistischen  Neigungen.  (Worte 
scharfer  Kritik.)  Sie  können  sich  denken,  daß  Sie 
von  Spionen  umgeben  sind,  die  stets  alles  hinter- 
bringen; also  Vorsicht.  Uebrigens  weiß  ich,  daß 
der  Stabsoffizier  der  Pioniere  Ihnen  nicht  gewogen 
ist.  Ich  habe  selbst  aus  seinem  Munde  gehört,  daß 
er  —  bei  Gelegenheit  Ihres  iüngsten  Urlaubs  — 
sagte:  „Wenn  Sie  dort  in  Zivil  gehen  würden,  würde 
er  Sie  unweigerlich  einsperren!"  Seien  Sie  auf 
der  Hut. 

Am.  26.  10.  kommt  der  Bat.-Kom.  und  ruft  mich: 
Er  habe  von  der  Propaganda  für  Kirchenaustritt 
gehört.  Das  gehe  nicht.  Er  lege  Gewicht  darauf, 
mit  mir  in  aller  Güte  durchzukommen,  sagen  zu 
können,  daß  ich  tadellos  gewesen  sei.  Er  werde 
diese  Sache  nicht  weitergeben,  er  fasse  sie  nur 
als  privat  zu  seinen  Ohren  gekommen  auf.  Ich 
solle  nicht  vergessen,  daß  eine  ganze  Zahl  von  den 
Kameraden  ins  Gesicht  gut  Freund  zu  mir  sei  und 
dann  doch  hinter  dem  Rücken  gegen  mich  redeten 
und  hetzten  und  mich  denunzierten.  Daß  ich  mit 
einzelnen  mich  unterhielte,  deren  Gesinnung  ich  zu 
kennen  glaubte,  dagegen  sei  nichts  zu  sagen  —  er 
selbst  habe  sich  ja  so  mit  mir  unterhalten  und  werde 
mich  bei  Gelegenheit  wieder  fragen,  wenn  ich  vom 
Reichstag  kommen  werde.    Nur  keine  „Agitation"! 

Der  .  .  .  sagte  noch,  ich  solle  auch  nicht  ver- 
gessen, daß  Briefe  geöffnet  werden  könnten,  es  be- 
stehe dazu  die  Befugnis  (zur  Verhinderung  von  Auf- 
lehnung und  Aufruhr).  Ob  bei  mir  schon  geschehen, 
wisse  er  nicht.  Ich  müsse  mit  allem  rechnen.  Es 
sei  einmal  die  Rede  davon  gewesen  (im  Bat.-Stab), 
daß  meine  Frau  im  Ausland  sei  und  ich  durch  eine 
Deckadresse  mit  ihr  korrespondiere. 


33 


14.  10.  15. 
Liebe  Sonja! 
Dein  Brief  aus  Bern  vom  1.  10.  kam  heute  .  .  . 
Ich  schrieb  öfters,  doch  scheinen  meine  Briefe  nicht 
angelangt  zu  sein  .  .  .  Hier  nichts  neues.  Die  Nacht- 
arbeit an  der  Düna  (Mühlbachsnitze  beim  Brücken- 
kopf  Annen-Lenewaden)  dauert  an.  Wir  arbeiten 
jetzt  an  der  Dünaseite  des  Dreiecks,  unmittelbar  am 
Rand  der  steilen  bewaldeten  Böschung  8 — 20  m  tief, 
in  der  das  westhche  Ufer  in  den  Strom  hinabstürzt. 
Jenseits  des  Wassers  arbeiten  die  Russen  an  ihrer 
Stellung.  Ihr  Klopfen  dringt  zu  uns,  wie  unser 
Klappern  und  Khrren  zu  ihnen.  Dazwischen  das 
helle  Schwellen  und  Rauschen  der  breit  strömenden 
Flut.  Die  Kuppeln  pfeif  -  um  die  Ohren  —  zischend, 
fauchend  wie  Katzen,  die  Sterne  flirren  durch  die 
Aeste  und  zittern  im  Sniep^el  des  Wassers.  Es  ist 
kalt  und  feucht  und  weiß-reifig.  Wir  graben  uns  in 
die  Erde.  Ist's  tief  genug,  wird  wohl,  geduckt  oder 
hegend,  ein  Pfeifchen  geraucht.  Um  12  gehts  heim- 
wärts durch  das  Labvrinth  der  Gräben,  oft  tief  ge- 
bückt und  ohne  Deckun^.  unter  fortp-esetzter  zischen- 
der Kugelbegleitung.  Man  wälzt  sich  —  rechts  und 
links  ausweichend  in  Schlangenwindungen,  schwei- 
gend und  schleichend,  die  Posten  an  den  Scharten 
begrüßend.  Neulich  drang  lustige  Russenmusik  von 
der  anderen  Dünaseite  zu  uns.  —  Zwei  Stunden 
Wegs  nach  Haus  —  im  Dunkel  stolpernd.  Totmüde, 
bleierne  Glieder.  Der  Orion  stolz  am  Himmel.  Vor 
4  selten  zur  Ruh,  um  6  wieder  auf.  Dann  beginnt 
mein  Tag,  meine  Arbeit. 

Leb  wohl  —  lebt  alle  wohl. 
Ich  küsse  Dich  und  Euch  alle 

Dein  Kar! 


30.  10.  15 
Liebste! 
Noch  nichts  von  Dir,  obwohl  gestern,  durch 
guten  Wind,  mir  wieder  einige  Zufallspost  angeweht 
wurde.  Aber  ich  hoffe  von  Tag  zu  Tag,  eine  männ- 
liche Hero  ...  In  meinem  Zustand  hat  sich  einiges 
gewandelt.    Ich  wurde  bei  Nachtarbeit  und  Marsch 

34 


ein  paar  Mal  schlapp  und  alsbald  in  die  Hände 
unseres  neuen  sehr  tüchtigen  und  gewissenhaften 
Bataillonsarztes  Dr.  R.  geliefert,  der  mich  nun 
morgen  ins  Lazarett  Mitau  (wahrscheinlich)  bringen 
läßt,  von  wo  eventuell  weiter  zur  Erholung.  Ich 
war,  um  auch  das  letzte  auszukosten  an  Frontplage, 
noch  gern  zu  den  Kameraden  zurück.  Dr.  R.  er- 
klärt, das  nicht  verantworten  zu  können,  Adresse 
bleibt  vorläufig  die  alte. 

.  .  .  Mein  Zustand  ist  körperhch  matt,  mit  eini- 
gen etwas  peinlichen  Lokalbeschwerden.  Geistig  und 
seelisch  ganz  au  fait.  Ich  las  wieder,  etwas:  Wasser- 
mann: „Der  Mann  von  vierzig  Jahren",  Andersen. 
„Qlückpeter",  Will  Vesper:  „Tristan  und  Isolde", 
„Parzival".  Letzteres  sehr  farbig,  aus  der  Zeit  her- 
aus —  objektiv  und  voll  Leben,  von  manchen  kleinen 
Abrutschungen  ins  AUtäghche  abgesehen,  ganz  im 
Stil  der  phantastischen  Legenden  des  Mittelalters, 
wobei  man  zu  seinem  Erstaunen  die  enge  geistige 
Verwandtschaft  dieser  Wunderblüten  mit  denen  aus 
Tausend  und  eine  Nacht  oder  dem  Schach  Namech 
erkennt  —  übrigens  wohl  auch  direkte  Influenzierung 

—  Zeitalter    der  Kreuzzüge! Persönlich 

wird  Dich  Wassermann,  scheint  mir,  interessieren. 

.  .  .  Die  Natur  ist  ein  schimmerndes  Feenschloß 

—  die  Worte  versagen  vor  der  Zartheit  und  Größe. 
Stets  bin  ich  wach  und  erlebe  alles  mit  ausgebreite- 
ten Armen.  Die  Sterne,  den  weißen  Mond,  und  er 
wird  rot  an  einer  kleinen  Stelle,  ein  goldener  Kranz 
legt  sich  um  die  Blüte;  es  wird  heller,  rosa  gelblich, 
weit  am  Rand  über  den  Wäldern,  wo  war  das  erste 
Rot?  In  den  Furchen,  an  den  Abhängen,  auf  den 
schrägen  breiten  Giebeln  und  Dächern  der  schnee- 
bedeckten Hütten,  leuchtets  im  Widerschein  heim- 
lich -  Opal  -  der  harte  Schnee  knirscht  unter 
meinen  Füßen.  Alles  glitzert  auf  —  der  Himmel 
erhellt  sich  in  seiner  ganzen  Wölbung  —  der  Mond 
will  drin  vergehen,  wie  ein  Hchter  Dampf  in  der 
Luft.  Es  blitzt  und  strahlt  und  blendet  —  sie  hat 
den  Königsthron  bestiegen  unter  großem  „Vortritt", 
heute  und  fast  alle  die  Tage.  Diese  großen  Herrlich- 
keiten: Warum  kannst  Du  sie,  können  die  Kinder 
sie  nicht  genießen!  Wie  ich  Euch  um  Euren  Regen- 
herbst bedaure. 

o*  35 


.  .  .  Liebste,  wir  haben  viel  zu  erzählen.  Bald, 
bald  kommt  die  Zeit  Ich  küsse  Dich  tausendmal 
und  Euch  alle.  Die  „Post"  will  fort,  sie  kommt 
freiUch  nicht  zu  uns,  untreu  in  Potenz,  alles  Beste 

Dein  Karluscha. 


An  Helmi:  31.  10.  15. 

Liebstes  Kind! 

Deine  Karte  vom  13.,  die  ich  vor  einigen  Tagen 
bekam,  freute  mich  sehr.  Du  sollst  aber  auch  einen 
Brief  schreiben;  für  diesmal  ists  zu  spät,  aber  das 
nächste  Mal  —  ich  bitte  Dich.  Für  diesmal  ists 
zu  spät.  Denn  ehe  Du  dieses  hast,  läutet  mir  wohl 
die  Mitauer  Bahnglocke  und  ehe  Dein  Brief  hier 
wäre,  hätte  ich  Dich  leibhaftig  in  den  Händen. 

Ich  bin  etwas  zusammengekracht,  infolge  der 
Anstrengungen,  seit  einigen  Tagen  wieder  im  Revier 
und  heute  gehts  nach  einem  Lazarett  —  wohl  Mitau. 
Ganz  wie  das  erste  Mal  im  September,  so  schickte 
mich  auch  diesmal  der  Kompagniechef  zum 
Bataillonsarzt.  Einmal  nachts,  als  wir  im  Wald 
arbeiteten  (sägten),  es  war  bitter  kalt!  wurde  ich 
ohnmächtig.  Dann,  nach  dem  russischen  Rückzug 
über  die  Düna,  als  wir  nach  unserer  neuen  Arbeits- 
stelle zogen. 

Dieser  Marsch  führte  uns  durch  die  eroberten 
russischen  Stellungen,  unterirdische  Labyrinthe, 
kunstvoll  und  bequem  ausgebaut.  „Zerdeppert" 
ratürhch  jetzt  vielfach.  Da  lagen  die  Leichen 
herum,  auf  der  eisigen  Erde,  gekrümmt  wie  Würmer 
—  oder  mit  ausgebreiteten  Armen,  als  wollten  sie 
sich  an  die  Erde  oder  den  Himmel  schmiegen, 
retten.  Die  Gesichter  nach  dem  Boden  oder  auf- 
wärts. Schwarz  schon  zuweilen.  Gott,  ich  sah 
auch  manchen  unserer  Toten  in  dieser  Zeit  und 
half  ihnen  die  Habseligkeiten  abnehmen,  die  letzten 
Erinnerungen  für  Frau  und  Kinder. 

Eine  Geschichte  dieses  Krieges  wird  einfacher 
sein,  mein  Kind,  als  die  Geschichte  vieler  früherer 
Kriege.  Weü  die  Triebkräfte  gerade  dieses  Kriegs 
ganz  brutal  an  der  Oberfläche  liegen.  Denk  an  die 
Kreuzzüge,  wie  verwirrend  der  rehgiös-kulturell- 
phantastische  Anschein,  der  freilich  auch  fast  nur 

36 


wirtschaftliche  Tendenzen  verdeckte:  die  Kreuzzüge 
waren  große  Handelskriege. 

Die  Ungeheuerlichkeit  in  Maß,  Mitteln,  Zielen 
des  heutigen  Krieges  verdeckt  nicht,  sondern  ent- 
deckt, deckt  eher  auf.  Darüber  reden  wir  noch. 
Und  über  vieles  andere. 

Du  fragst,  was  Du  lesen  sollst.  Ich  rate  zu- 
nächst zu  einer  Literaturgeschichte.  Den  ganzen 
Schiller  nimm  in  die  Hand,  blättre  und  lies,  lies 
gründlich  und  immer  wieder.  Und  dann  nimm  den 
Kleist  und  den  Körner  und  einige  Goethe-Bände  und 
Shakespeare  und  Sophokles  und  Aeschylos  und 
Homer.  Nasche  überall  und  dann  bleib  hängen  und 
Ues  gründlich.  Sitz  stundenlang  allein  mit  den 
Büchern.  So  werden  sie  Deine  Freunde  und  Du  ihr 
Vertrauter.  Ich  möchte  Dich  nirgends  hinzwingen. 
Du  mußt.  Du  sollst  selbst  suchen  —  jeder  hat  seiner, 
eigenen  Weg.     Nun,   auch   darüber   bald  mündlich. 

Die  Schicksale  Eurer  Raupen  sind  erfreuhch. 
Führt  die  Zucht  nun  einmal  ordentlich  durch. 

Ich  muß  nun  schließen  —  wir  warten  aufs  Auto, 
das  uns  zum  Lazarett  bringen  soll.    Ich  muß  packen. 

Icli  küsse  Dich,  mein  Junge  —  habt  keine  Sorge 
um  mich. 

Geht  viel  ins  Freie.     Grüßt  alle.  — 

Dein  Papa. 


31.  10.  15. 
Liebste! 

Heute  kam  endlich  das  Auto,  das  uns  morgen 
fortbringen  soll,  und  zwar  wohl  nach  Schawli  — 
doch  vielleicht  auch  Mitau  —  noch  ungewiß  — 
anbei  einige  Zettel  —  bitte  sorglichst  verwahren. 
Du  magst  sie  natürlich  lesen . . .  Wann  ich  nun  Post 
haben  werde,  weiß  ich  nicht.  Das  ist  ganz  bös 
und  zum  Verzweifeln. 

Ich  hab  noch  viel  zu  arbeiten  —  so  schlapp 
ich  bin,  es  läßt  mir  keinen  Moment  Ruhe.  Was 
wird  sein?  Von  Helmi  hörte  ich,  Adolf  sei  ein- 
berufen. Es  wäre  entsetzlich.  Bitte  gib  Nachricht 
noch  an  alte  Adresse  ....  Ich  bin  wegen  euch 
sehr  unruhig. 

37 


Wären  wir  doch  bald  zusammen. 
Alles,  alles  Beste  —  ich  küsse  Dich  vielmals, 
meine  Sonitschka. 

Dein  Karl. 

Die  Etappe!!  Haufen  von  Korruption 
von  oben  bis  unten  —  Wohlleben  und  Machtvoll- 
kommenheit  vereint    —    verderbUch.    — 


5.  7.   15. 
Liebste  Sonitschka! 

Nun  weiß  ich  garnicht,  wo  Dich  dieser  Brief  trifft. 
Morgen  wirst  Du,  wenn  alles  nach  Wunsch,  die  Klinik 
verlassen.  Aber  nur,  um  gleich  wer  weiß  wohin,  viel- 
leicht nach  Schweden  -  zu  Deiner  Mutter  und  Mira 
abzufahren.  Das  muß  sein,  unbedingt.  Ohne  Rück- 
sicht auf  irgend  etwas.  Und  ich  hoffe,  daß  Du  Deine 
Nerven  kräitigst  -  für  die  schweren  Lasten,  die  auf 
Dir  liegen  und  für  die  Eroberung  des  Lebens,  dem  Du 
noch  immer  wie  ein  17  jähriges  Mädchen  sehnsüchtig 
und  fassungslos  gegenüberstehst.  Ich  füge  einen  Brief 
an  Deine  Mutter  und  einen  an  Mira  bei,  schick  sie 
ihnen.  Der  Tod  Deines  Vaters  ist  mir  sehr,  sehr  nahe 
gegangen.  Ich  hatte  zu  ihm  ein  ganz  persönliches  und 
innerliches  Verhältnis. 

Im  Halbdunkel  schreibe  ich  an  sehr  kühlem  Abend. 
Von  der  Küste  her  fliegen  die  typischen  Seewolken 
herüber.  Noch  habe  ich  kein  Wort  von  Euch,  von  Dir. 
Es  fällt  mir  nicht  leicht,  das, noch  länger  zu  ertragen. 
Ich  denke  soviel  an  Dich  -  obwohl  alles  darauf  an- 
gelegt ist,  einem  hier  alles  Denken  und  Fühlen  zu  ver- 
leiden, zu  vertreiben.  Hoffentlich  gehts  bei  Euch,  wie 
es  in  diesen  Tagen  möglich  ist.  Das  Quartier  haben 
wir  noch  nicht  gewechselt.  Ich  möchte  Dir  viel  er- 
zählen, möchte  Du  wärst  bei  mir  -  unter  anderem 
Sterne  freilich.  Ich  lese  Vanity  fair.  Der  erste  Band 
nur  ist  hier.  Ich  bitte  Dich,  mir  die  zwei  anderen  zu 
schicken,  leg  sie  bereit,  wenn  Du  kannst.  Absenden 
erst,  wenn  Du  meine  feste  Adresse  hast.  Ich  denke 
an  Dich  Liebste.    Mir  tut  so  vieles  leid.    Ich  küsse  Dich. 

Dein  Karlruscha. 

38 


BRIEFE 
AUS    DER    UNTERSUCHUNGSHAFT 

(3.  Mai  1916  bis  6-  Dezember  1916) 


Nördliche  militärische  Arrestanstalt, 

den  3.  5.  16. 
Liebes  Kind! 

Die  Sache  wird  sich  noch  etwas  hinziehen. 
Vorläufige  Festnahme  wegen  Nichtbefolgung 
eines  Dienstbefehls  in  Idealkonkurrenz  mit  einigen 
andern  (begangen  durch  ein  paar  Rufe).  Kein 
Grund  zur  Unruhe.  Die  Haussuchung  wird  Dich  et- 
was gestört  haben.  Hoffentlich  ist  das  wüste  Durch- 
einander in  meinem  Zimmer  nicht  zum  Chaos  ge- 
worden. Bisher  fand  ich  mich  doch  glänzend  zurecht. 
Bitte  sei  vorsichtig.  Laß  zusammen,  was  jetzt  zu- 
sammen liegt.  Ich  bin  gut  untergebracht.  Nur 
einiges  brauche  ich  geschwind.  Taschentücher, 
Strümpfe,  Kragen,  Taghemden  —  Bücher:  L  Ploetz, 
Qeschichtsgrundriß;  2.  Hilferding,  Finanzkapital; 
3.  Luxemburg,  Akkumulation  des  Kapitals;  4.  Ge- 
schichte der  französischen  Revolution. 

Wende  Dich  keinesfalls  an  einen  andern  Anwalt 
als  Thedel.  Auch  an  keinen  Reichstagskollegen.  Ich 
will  keine  unerbetenen  und  wenn  noch  so  gut  ge- 
meinten Dienste.  Das  meine  ich  ganz  strikt.  Hast 
Du  schon  mit  einem  gesprochen,  so  bitte  revoziere 
sofort.  Vielleicht  können  wir  uns  bald  sehen.  Dich 
und  die  Kinder  küsse  ich.  Seid  vergnügt,  daß  ihr 
einige  Zeit  vor  mir  Ruhe  habt.  Grüße  auch  Theo, 
Lu.  Alice,  Gertrud  und  alle  anderen. 

Dein  Karl. 


Am  4.  5.  16. 
Liebes  Kind! 
Wie  ich  höre,  darfst  Du  morgen  kommen.  Bitte 
bring  meine  Militärsachen  (Binde,  Litewka,  Mütze) 
mit.  Mehr  darf  ich  Dir  eben  nicht  schreiben.  Alles 
gut.  Vielen  Dank  allen  und  viele  Grüße.  Dich  und 
die  Kinder  küsse  ich. 

Karl. 

41 


BerlinW.,  den  18.  6.  16. 
Liebste! 
Was  war  das  für  eine  Erregung!    Du  mußt  doch 
bedenken,  daß  wir  nicht  allein  sind,  daß  ich  nicht  so 
zu  Dir  sein  kann,  wie  ich  möchte  .  .  .    Hat  man  nix 
Gebratenes,  so  frißt  man  halt  die  Kohlsuppe  und  das 
Kommißbrot  des  Lebens,  wenns  nur  um  einen  an- 
ständigen   Zweck   geht   — .    Lies    Goethes   Elegie, 
„Hermann  und  Dorothea"  (nicht  das  Epos) 
uns  lehret  Weisheit  am  Ende 
Das  Jahrhundert,  wen  hat  das  Geschick  nicht 

geprüft? 
(Beachte  das  Gewicht  auf  dem  Anfang  der 
zweiten  Zeile.)  Montag  hoffe  ich  Dich  froher  zu 
sehen  —  lach  —  lach  über  die  „stinks  and  arrows  of 
outrageous  fortune"  ...  Ich  verstehe  Deine  Sor- 
gen —  aber  „mit  Sorgen  wird's  nicht  besser  sein". 
Ich  küsse  Dich  und  die  Kinder. 

Dein  Karl. 


Berhn,  den  30.  9.  16. 
Liebste!  Tristram  Shandy  muß  Dir  Behagen 
und  Vergnügen  machen  in  seiner  weltbefreienden 
Ironie.  Laß  Dich  durch  die  altertümhche  Sprache 
und  das  breite  lockere  Gefüge  nicht  abschrecken. 
Wenn  kein  Mensch  Dich  stören  kann  —  abends, 
leg  Dich  aufs  Sofa  und  Hes.  Wenn  Onkel  Toby 
die  Pfeife  ausklopft,  wirst  Du  Dir  eine  Zigarette  an- 
zünden, wie  ich  mir  unwiderstehlich,  eine  Pfeife. 
Und  wenn  Du  von  den  Nasen  liest,  vergiß 
nicht  Cyrano  und  die  Cadets  de  Gascogne  und  bei 
den  Zwickelbärten  denk  an  mich  und  keinen  andern. 
Diese  deutsche  Ausgabe  ist,  trotz  kleiner  Mängel, 
ausgezeichnet,  unübertrefflich.  Das  Ganze  gehört  zu 
Rabelais  und  Don  Quichote.  Natürlich  kannst  Du 
tauschen,  aber  ich  hoffe,  du  behältsts  als  Standard- 
work.  Ich  fahnde  noch  nach  der  sentimental  journey 
Bring  mir  Band  2  und  3  rasch  noch  einmal  her,  ich 
muß  noch  drin  stöbern.  Und  Schoul  for  scandal 
bitte  auch  und  Macauley  und  die  Dämonen.  Und 
nun,  ich  küsse  Dich  tausendmal.  Ich  mache  ja  keine 
„Geschichten".  Aber  es  ist  mir  doch  nicht  ver- 
boten, an  unseren  Hochzeitstag  zu  denken.    Ich  habe 

42 


doch  immer  daran  gedacht,  sogar  einen  Monat  zu 
früh  dieses  Jahr,  es  fehlte  mir  immer  nur  an  Zeit, 
wenn  Du  auch  meinst,  in  solchen  Dingen  dürfe  es 
nie  daran  fehlen.  Wir  können  uns  morgen  nicht 
sehen,  aber  ich  bin  doch  bei  Dir. 

Sei  vergnügt  und  ich  hoffe,  der  Schandysmus 
wird  Dir  erleichtern  über  vieles  hinwegzulachen,  wie 
sichs  gebührt.  Noch  tausend  Küsse  Dir  und  den 
Kindern. 

Dein  vierjähriger  Ehemann 

Kari. 


B.,  21.  10.  16. 

Lieb-^^tp' 

Mantel  und  Taschentücher  kamen  gestern  Abend 
trotz  meines  Briefs.  Ich  danke  — aber  wenn  ich 
glauben  könnte.  Du  würdest  glauben,  wenn  ich  sagen 
würde,  es  war  überflüssig,  so  würde  ich  sagen,  es 
war  überflüssig.  —  Glaube  mir.  Aber  weil  usw. 
Verstandez-vous? 

Folgendes:  Heut  in  14  Tagen  steigt  die 
Revision,  d.  h.  sie  steigt  ab,  d.  h.  wir  müssen  in 
diesen  14  Tagen  erledigen,  was  am  nötigsten  ist. 
Dann  ist  Schluß. 

Ich  will  nur  Dich  und  die  Kinder  sehn.  Alle 
anderen  mögen  zusammen  kommen,  aber  bitte  nur 
die  unentbehrlichsten.  Montag  besprechen  wir  das 
genau.  Die  Kinder  sollen  sich  für  Donnerstag  oder 
Freitag  bereithalten.  Aber  nur  zum  vorletzten 
Male  ... 

...  Sei  philosophisch!  Was  sind  vier  Jahre!  — 
Kopf  hoch  und  das  wichtigste  wird  zur  Bagatelle  — 
sub  specie  aeternitatis  nicht  nur  des  Gesamt-, 
sondern  auch   des  Einzellebens. 

Ich  küsse  und  umarme  Dich  vielmals,  vielmals 

Dein  Karl. 

43 


Berlin,  6.  12.  16. 

Liebste! 

Anbei  ein  Brief,  den  ich  Dich  mit  der  voll- 
ständigen Adresse  zu  versehen  bitte.  Befördere 
ihn  dann.  — 

Jetzt  sitzt  Du  wohl  ebenso  allein  Steglitz, 
Bismarckstraße  75  III,  wie  ich  Lehrterstraße  59 III. 

Aber  ich  habe  Goethe  vor  mir  —  und  Du? 

Drum  frisch  nur  auf's  Neue    —    bedenke  Dich 

nicht  — 
Denn,  wer  sich  die  Rosen,  die  blühenden  bricht 
Den  kitzeln  fürwahr  nur  die  Dornen 
So  heute  wie  gestern,  es  flimmert  der  Stern  — 
Nur  halte  von  hängenden  Köpfen  Dich  fern 
Und  lebe  Dir  immer  von  vornen.  — 

Wenn  ich  auch  keine  „charmante  Person"  bin. 
das  gilt  auch  Dir.  Trotz  allem  und  allem.  Wie 
kann  man  mit  Goethe  und  der  Kunst  und  tausend 
anderen  Bücher-Freunden  kopfhängerisch  sein? 

Entschließe  Dich  kurz  auf  einen  anderen  Platz 
zu  treten,  die  Welt  von  einer  anderen  Seite  zu 
sehen.  Jetzt  siehst  Du  sie,  wie  ein  falsch  ge- 
hängtes Bild. 

Ob  ich  Dich  noch  hier  treffen  werde?  Ich 
wäre  so  froh.  Aber  wenn  nicht,  hast  Du  sofort 
Nachricht  und  alles  wird  sich  arrangieren. 

Nur  Kopf  hoch.  — 

Ich  küsse  und  umarme  Dich. 

Dein  Karl. 


.  .  .  Moliere  ist  doch  ein  eminenter  Kerl.  Seit 
wohl  23  Jahren  hab  ich  ihn  nicht  mehr  im  Original 
gelesen.  Die  Fuldaschen  Uebersetzungen  sind  ge- 
schickt und  unsere  Aufführungen  von  Malade 
imaginaire  und  Georges  Dandin,  die  ich  zuletzt 
sah,  —  letzteren  mit  Dir  —  weißt  Du?  —  gewiß 
gut.     Aber  doch  —  wie  viel  Feinheit  geht  da  ver- 

44 


\ 


loren  und  wie  viel  besser  goutiert  man  sie   beim 
Lesen, 

Das  ist  Lebensanschauung  sub  specie  aeter- 
nitatls  bei  aller  zeitlichen  Gebundenheit.  Und 
soziologisch-geschichtlich  interessant.  Und  in  der 
Fülle  der  Phantasie  und  der  schlagenden  Prägnanz 
von  leichtem  Witz  und  ätzendem  Spott  in  Wort  und 
Situation  und  in  der  typisierenden  Herausarbeitung 
der  Charaktere  unübertreffhch.  Nimm  ihn  bitte  zur 
Hand  in  grillenhaften  Stunden.  —  Er  objektiviert 
einem  alle  Misere.  — 


45 


BRIEFE    AUS    DEM    ZUCHTHAUSE 
(11.  Dezember  1916  bis  8.  September  1918) 


Eingangspforte  zum  Zuchthaus 
in    Luckau 


Luckau,  den  11.  Dezember  1916. 

Liebste! 
Du  könntest  Donnerstag  nicht  kommen,  weil 
Du  krank  seiest  —  so  wurde  mir  berichtet,  als  ich 
schon  wußte,  daß  ich  am  nächsten  Morgen  weg- 
kommen würde.  Was  fehlt  Dir?  Ich  bin  unruhig, 
hoffe  aber,  daß  es  nichts  Ernstes  war. 

Mein  Transport  ging  sehr  „diskret"  von  statten. 
8  Uhr  morgens  vom  Anhalter  Bahnhof  mit  dem  D-Zug 
bis  Ukro,  (Richtung  Dresden),  wenig  über  eine 
Stunde,  —  und  in  rund  einer  Viertelstunde  in  Luckau, 
wo  die  Strafanstalt  etwa  10  Minuten  vom  Bahnhof 
in  der  Hauptstraße  links  gelegen  ist  (sofort  erkenn- 
bares Gebäude).  Diese  Verbindung,  mit  der  man 
bereits  gegen  10  Uhr  hier  im  Hause  sein  kann,  werdet 
Ihr  auch  benutzen  müssen  bei  Besuchen;  nachmittags 
gegen  5  oder  6  Uhr  kann  man  wieder  in  Berlin  sein. 
Ich  bin  ganz  wohl;  keine  Gedanken  um  mich!  Zelle 
geräumig  mit  Kachelofen;  großes  Fenster,  das  ich 
selbst  öffnen  kann.  Tisch.  Waschbecken,  sogar 
Teller  und  Messer,  außer  Gabel  und  Löffel.  Nur  eins 
fällt  vorläufig  schwer,  das  II  bis  \3  Stunden 
im  Bett  liegen.  Aber  ich  werde  es  lernen  und  mich 
so  daran  gewöhnen,  daß  Du  1920  Deine  Freude 
dran  haben  sollst.  Ich  bin  der  „Schuhfabrik"  zu- 
geteilt, arbeite  aber  in  meiner  Zelle  —  14  Tage  braucht 
nichts  produziert  zu  werden,  die  nächsten  zwei 
Wochen  ein  Drittel,  die  nächsten  —  zwei  Drittel; 
dann  nach  sechs  Wochen  Lehrzeit  volle  Leistung. 
Jetzt  bin  ich  also  Schuhmacherlehrling  im  Keim- 
zustand. In  der  Freizeit,  (Sonntags;  an  den  Werk- 
tagen in  den  Pausen)  darf  man  lesen  und  schreiben. 
Die  Anstaltsbibliothek  scheint  gute  Sachen  zu  haben, 
wohl  alle  Klassiker.  Das  erste,  was  mir  zulief,  war, 
neben  dem  sehr  beachtlichen  Jeremias  Gotthelf  (Uli, 
der  Pächter),  Hermann  und  Dorothea  —  mit  der 
Elegie,  aus  der  ich  Dir  vor  einigen  Monaten  schrieb: 

„Weise   denn    sei   das    Gespräch!     Uns    lehret 

Weisheit  am  Ende 

Das  Jahrhundert,  w^en  hat  das  Geschick  nicht 

geprüft." 
Ich  wies  auf  das  Felsgewicht,  das  hier  dem  „Jahr- 
hundert" gegeben   ist.     In  der  hiesigen  (Händeischen) 

4  49 


Ausgabe  steht  —  sicher  falsch  — :  „Das  Ende  des 
Jahrhunderts";  solcher  Härte  war  Goethe  nicht  fähig. 

Es  besteht  Aussicht,  daß  ich  bald  auch  an  meine 
eigenen  Bücher  kann  —  natürlich  nur  sukzessive. 
Auch  werde  ich  zum  Schreiben  eigenes  Papier  be- 
nutzen dürfen.  Vielleicht  schickst  Du  in  einiger  Zeit 
einiges,  etwa  so,  wie  das  letzte  Mal  in  die  Unter- 
suchungshaft. 

Der  Spazierhof  ist  sehr  groß;  jenseits  der 
Mauern  sieht  man  Bäume  und  andere  erfreuliche 
Dinge  (auch  eine  merkwürdige  backstein-gothische 
K.irche  mit  Riesenschiff) ;  auf  dem  Hof  ein  Birnbaum 
und  üarteiianlagen  (Gemüse  und  Blumen,  Stief- 
mütterchen, Primeln).  Natürlich  marschiere  ich  hier 
in  der  Kolonne. 

Ihr  dürft  mir  —  so  wie  ich  Euch  —  vierteljähr- 
lich nur  einmal  schreiben.  In  Ausnahmefällen  — 
bei  dringenden  Familiensachen  auch  außerdem. 
Auch  schreiben  dürfen  nur:  Frau,  Kinder  und 
Geschwister.  Aehnlich  ist's  mit  den  Besuchen. 
Hoffentlich  höre  ich  bald  und  Gutes  von  Dir  und  den 
Kindern.  Jedenfalls  keine  Sorge  um  mich.  Von 
1460  Tagen  sind  schon  bald  38  herum,  d.  h.  rund  ein 
Achtunddreißigstel,  d.  h.  etwa  die  „Wurzel"  von  1460. 

Hast  Du  die  zwei  Landtagsmappen  von  der 
Arrestanstalt  abgeholt?  Auf  sie  habe  besonders  Acht. 
Es  sind  darin  noch  mehrere  kleine  Fetzchen.  Der 
Unteroffizier  Becker  versprach  mir,  sie  zu  ver- 
schnüren. Das  mir  nur  nichts  verloren  geht.  Ich 
muß  schließen.  Ich  küsse  und  umarme  Dich,  mein 
Herz.  Die  Kinder  küsse  ich  vielmals,  ich  vertraue, 
daß  sie  brav  und  lieb  sein  werden  und  fleißig  und  daß 
sie  sich  um  mich  nicht  grämen  werden.  Viele  Grüße 
allen  Verwandten  und  Freunden. 

Dein  Karl. 


Vielleicht,  ich  hoffe  es  —  werde  ich  von  Zeit  zu 
Zeit  Zeitungen  haben  können,  vielleicht  die  Wochen- 
ausgaben des  Berliner  Tageblatts!  Schick  sie  doch 
für  alle  Fälle  her,  vom  9.  12.  an. 

Bald  auf  Wiedersehen. 
50 


Vom  Dezember  1916. 

Ihr  raubt  die  Erde  mir,  doch  nicht  den  Himmel, 

Und  ist's  ein  schmaler  Streif  nur,  den  mein  Auge 

Erreichen  kann  — 

Durch  Qittermaschen, 

Zwischen  Eisenstäben, 

Gedrückt  von  schweren  Mauern, 

Es  ist  genug. 

Das  selige,  verklärte  Blau  zu  schauen. 

Von  dem  das  Licht  gedämmert  zu  mir  dringt 

Und  auch  zuweilen 

Verlorenes  Vogelzwitschern  leicht  herniedertanzt. 

Es  ist  genug 

Mir  eine  munt're  Dohle,  schwarz  und  plappernd, 

O,  treue  Freunde  meiner  Festunestage, 

Im  freien  Flug  der  Kreatur  zu  zeigen 

Und  einer  Wolke  wechselnd  Wandelbild. 

Und  ist's  ein  schmaler  Streif  nur  —  jüngste  Nacht, 
Erschien  der  hellste  Stern  in  dieser  Enge. 
Der  hellste  Stern  des  Firmaments  erschien 
Und  strahlte  aus  des  Weltenraumes  Ferne, 
Die  Welt  beherrschend,  heller,  heißer. 
Urmächtiger  in  meiner  Zelle  Loch, 
Als  je  er  strahlt  euch  anderen  da  draußen. 
Und  eine  glühnde  Schnuppe  warf  er  nieder.  — 

Ihr  raubt  die  Erde  mir,  doch  nicht  den  Himmel, 
Und  ist's  ein  schmaler  Streif  nur.  eng. 
Durch  Qittermaschen,  zwischen  Eisenstäben, 
Er  macht  des  Leibes  Sinne  selbst 
Beschwingt  von  freier  Seele,  freier 
Als  ihr  je  wart,  die  ihr  m.ich  hier  im  Kerker 
In  Fesseln  zu  vernichten  v/ähnt. 


Luckau,  den  10.  Januar  1917. 

Meine  Liebste! 
Nun  seid  Ihr  wieder  zu  Haus,  mit  den  ersten  Ein- 
drücken von  meinem  hiesigen  Zustand.  Ihr  wart,  und 
Du  warst  am  meisten  so  erschrocken,  mich  hinter 
dem  Gitter  zu  sehen  .  .  ■  .  nun.  ich  hoffe,  Ihr  habt  Euch 

51 


beruhigt.  Ihr  müßt  Euch  beruhigen  —  Ihr  dürft, 
und  auch  Du,  mein  Herz,  darfst  Dich  über  solche 
äußerlichen  Dinge  niclit  mehr  erregen.  Was  ist  denn 
mit  dem  Gitter  —  was  will  es  bedeuten,  —  was  kann 
es  uns,  mir.  Dir,  den  Kindern  anhaben!  So  wenig 
wie  die  Anstaltskleidung,  so  wenig  wie  die  Haar- 
schur ....  Wir  sind  und  bleiben  wir,  trotz  alledem. 
Aequam  memento  rebus  in  a  r  d  u  i  s  servare 
mentem;  dieses  Horazische  Wort  ist,  wie  Du  weißt, 
nicht  nur  stoische,  sondern  auch  epikuräische  Lebens- 
weisheit. —  Ich  bin  überzeugt,  daß  bei  den  künftigen 
Besuchen  diese  Euch  peinigenden  Begleitumstände 
wegfallen  werden.  Ich  bitte  Euch,  ich  bitte  Dich, 
mein  armes  verlassenes  Vögelchen,  jagt  diese  Ein- 
drücke aus  Eurer  Erinnerung  und  vergegenwärtigt 
Euch  das  Gute  was  Ihr  hörtet  und  sähet.  Sehe  ich 
nicht  ganz  gut  aus?  Bin  ich  nicht  munter,  lebendig, 
voll  Interesse  nach  allen  Richtungen?  Und  beruhigt 
es  Euch  nicht,  daß  ich  heute  diesen  Extrabrief 
schreiben  darf?  Und  daß  ich  zwei  Schreibhefte, 
Bleistift  und  Gummi  erhielt!  Daß  ich  keine  Tages- 
zeitungen bekommen  kann,  darf  Dich  nicht  er- 
staunen. Froh  bin  ich  und  mußt  Du  sein,  daß  ich 
eine  Wochenzeituhg  lesen  darf  —  nicht  wahr!  .  .  . 
Habt  Ihr  Euch  nicht  Luckau  betrachtet?  Es  scheint 
doch  ein  ganz  freundliches  Städtchen  zu  sein.  Von 
der  großen  Kirche  khngt  der  Stunden-  und  Viertel- 
stundenschlag Tag  und  Nacht  zu  mir  und  regelt 
mein  Leben.  Ist  der  Spazierhof  nicht  wirklich  er- 
freulich groß  und  voll  bester  Luft  und  Ausblicke? 
Viel  besser  insofern,  als  der  Hof  der  Mihtärarrest- 
anstalt! 

Also  Kopf  hoch!  Ihr  habt  Euch  bisher  so  tapfer 
gehalten,  und  das  war  mein  Stolz  —  nun  fahrt  so 
fort.  Wenns  mal  schwer  fällt,  beißt  die  Zähne  auf- 
einander —  und  alles  geht,  geht  besser  und  rascher 
als  man  glaubt.  Heute  sind  seit  dem  4.  November 
68  Tage  „rum",  d.  h.  ein  V2i,4  der  vier  Jahre,  und 
fast  8H  Monat  sitze  ich  schon  im  ganzen.  Wie 
rasend  schnell  verging  diese  Zeit. 

Und  wir  sind  doch  nicht  völlig  getrennt.  In 
dringenden  Fällen  dürft  ihr  und  darf  ich  auch  außer 
der  Zeit  schreiben.  Und  in  ganz,  ganz  dringenden 
Fällen  darf  auch  außer  der  Zeit  ausnahmsweise  be- 

52 


sucht  werden.  Das  muß  euch  doch  auch  ein  starker 
Beruhigungsgrund  sein,  aber  natürhch:  nur  in  wirk- 
lich dringenden  Fällen.  —  Ich  freute  mich  so  von 
Helmi  zu  hören,  daß  Du  wieder  kunstgeschichtliche 
Vorträge  halten  willst.  Kind,  Kind,  mißachte  das 
nicht  so,  wie  Deine  Worte  am  iVlontag  andeuteten. 
Halte  die  Wissenschaft  fest,  als  Deine  Stütze,  als 
den  Gegenstand  Deiner  Liebe,  als  Ersatz  fiir  mich, 
bis  unsere  Zeit  wieder  beginnt,  unsere  Sonne  wieder 
aufgeht.  Welches  tiefe  Glück  kann  man  darin  finden. 
Lies,  ich  rate  sehr  wohl  überlegt,  lies  Lessings  Prosa- 
schriften (Dramaturgie,  Briefe  über  neuere  Literatur 
und  antiquarischen  Inhalts).  Die  Klarheit  dieses 
alles  durchleuchtenden  Geistes,  die  Kraft  seiner 
Dialektik,  die  Eleganz  seiner  Bewegungen,  die 
Knappheit  und  Eindringlichkeit  seines  Stils,  die 
souveräne  Beherrschung  der  Wissenschaft  und  Ge- 
lehrsamkeit —  all  dies  ist  heute  noch  faszinierend  — 
nicht  langweilig,  glaube  mir  .  .  .  Lies  mit  Helmi 
den  Laokon,  das  wird  auch  Dir  Genuß  geben  und 
Ihr  werdet  euch  nahe  kommen. 

Wenn  ich  am  Montag  ein  wenig  ärgerlich  war, 
weil  Du  die  beiden  letzt  zurückgelassenen  Mappen 
noch  nicht  durchgesehen  hast,  so  darfst  Du 
nicht  böse  sein,  es  hegt  darin  ein  besonderes 
Couvert  mjt  den  Notizen  aus  meiner  Lektüre  und 
einige  Zettel.  Ich  bitte  Dich,  nimms  in  Deine  Obhut 
—  laß  es  nicht  verloren  gehen.  Und  wenn  ich  wegen 
der  Rubrizierungsarbeit^)  etwas  ungehalten  war,  so 
verzeihe,  mein  Herz,  Verstehe,  daß  daran  meine  Ge- 
danken jetzt  unlöslich  hängen,  bis  ich  höre,  daß  sie 
fertig  ist.  Fertig!  Und  bald,  bald.  Denk,  was  steckt 
darin  für  Mühe,  für  Entbehrung!  Soll  das  umsonst 
gewesen  sein?  Es  kostet  schon  alle  Mühe  und  Du 
weißt,  daß  mir  die  Glossen  und  Noten  besonders 
wichtig  sind.  Ich  will  Dich  wirklich  nicht  quälen  — 
aber  das  v/ird  Dich  auch  beruhigen.  Laß  Dir  von 
keinem  anderen  dazwischen  reden,  dann  freilich 
gibts  Zerrerei  ohne  Ende,  denn  die  andern  verstehen 
es  nicht!  Du  nur  verstehst  es.  Dir  nur  vertraue 
ich.    Der  junge  Franz^)  höchstens  mag  Dir  beistehen. 


')  Druck  der  Prozeßakten  „Zuchthausurteil". 

-)   Franz  Piemfert. 


53 


er  ist  gewandt.  Also  nichts,  nichts  erbitte  ich  von 
Dir:  außer  der  Sorge  um  Dich  und  die  Kinder  und 
dieser  Arbeit,  die  mein  dauernder  Gedanke  ist.  Du 
liest  doch  meine  Briefe  genau!  Denn  wir  müssen 
jetzt  jedes  Wort  abmessen  und  berechnen,  wo  wir 
so  wenig  Worte  für  uns  haben  können  .  .  .  Meine 
Akten,  in  denen  alles  vollständig  ist,  hast  Du  ja 
Montag.mitgenommen.  Deponiere  sie  bei  einem  der 
Freunde,  —  bei  wem,  ist  egal  .  .  . 

Wie  sehr  ich  mich  über  Thedels  und  Lu's  Jungen 
gefreut  habe,  kannst  Du  Dir  denken.  Von  T.  kam 
ein  Brief  mit  Grüßen  von  Lu  und  Lotte.  Gib  ihnen 
den  anliegenden  Zettel. 

Und  nochmals  zu  Dir.  Was  ist  mit  Deiner  Er- 
holungsreise? Jetzt  ist  die  Zeit  nicht  sehr  günstig. 
Aber  sie  muß  kommen,  nicht  wahr?  Das  halten  wir 
fest  —  Du  darfst  uns  nicht  kaputt  gehen,  Liebchen; 
Du  weißt  doch,  Vv'ie  ich  an  Dir  hänge  und  um  Dich 
bange.  Könnte  ich  Dir  nur  mehr  helfen!  Morgen  in 
einer  Woche  ist  Dein  Geburtstag;  wie  so  oft 
wirst  Du  allein  —  ohne  mich  —  sein.  Ich  werde  an 
Dich  noch  m.ehr  denken  als  sonst  — ,  werde  durch 
die  Winterluft  Dir  Küsse  schicken  und  alle,  alle 
Wünsche,  die  Du  kennst;  Wünsche  auch  wegen 
Deiner  Mutter,  Adolfs  und  der  Schwestern  —  und 
Wünsche  der  Ruhe  und  des  Friedens,  der  glücklichen 
Einigkeit  zwischen  Dir  und  den  Kindern,  die  Dich 
lieb  haben  und  immer  lieber  gewinnen  werden. 
Helmi  wird  stark  sein  und  —  sag  ihm  das  —  mit 
der  Welt  fertig  werden,  das  ist  die  Art,  wie  man 
den  Pessimismus  ausrottet.  Kampf  —  und  Trotz 
und  Stolz  —  komme  was  kommen  mag!  Feiert 
immerhin  den  18.,  leider  kann  ich  nichts  schicken, 
als  diesen  Gruß,  diesen  Wunsch  und  tausend  Küsse 
dazu,  tausend  Küsse  und  Umarmungen  —  ich 
streichle  Deine  Stirn  —  sei  ruhig.  Liebste,  und  fest, 
—  „Nil  admirari";  und  „si  fractus  illabatur  orbis 
impavidum  ferient  ruinae  —  impavidum  et  impa- 
vidam  —  so  bleibst  Du  Siegerin  trotz  alledem. 

Alles,  alles  Beste  und  nochmals  viele,  viele 
Küsse  Dir  und  den  Kindern. 

Dein  treuer  Karl. 
54 


Luckau,  den  21.  Januar  1917. 

Meine  Liebste! 

Ich  antworte  erst  heute.  Briefe  außer  der 
Normalzeit  müssen  stets  —  von  dringendsten  Aus- 
nahmefällen abgesehen  —  Sonnabends  beantragt 
werden.  Und  dazu  muß  die  Meldung  am  Donners- 
tag oder  Freitag  erfolgen.  Ich  zweifelte,  ob  hier 
ein  Ausnahmefall  vorliege  und  meldete  mich  erst 
vorgestern  zur  „Rücksprache"  —  wobei  der  Herr 
Direktor  allerdings  zu  erkennen  gab,  daß  er  einen 
Ausnahmefall  angenommen  haben  würde.  Kurzum: 
entschuldige  die  Verzögerung  beim  Abgeordneten- 
Haus  aus  den  Umständen. 

Und  nun:  (folgt  die  Beschreibung  der  Mappen 
und  der  Regale  in  und  auf  welchen  sich  die  aus 
dem  Abgeordneten-Haus  entliehenen  Bücher  be- 
fanden.   F.  P.) 

Ich  hoffe,  diese  Fingerzeige  genügen,  um  Dir 
dies  Geschäft  leicht  zu  machen;  wie  ärgerlich,  daß 
Du  zu  alledem  auch  noch  solche  Querelen  am 
Halse  hast. 

Was  die  Ordnung  der  „Bibliothek"  betrifft, 

(verabredete  Bezeichnung  für  Pubhkation  der  Proz.- 
Akten ...  F.  P.),  so  nehme  ich  gerade  auch  auf 
Dich  Rücksicht.  Wenn  ich  Dir  energisch  sage:  Du 
machst  Dir  zu  viel  Kopfzerbrechen  und  Schwierig- 
keiten, legst  Dir  alles  selbst  in  den  Weg  und  ganz 
und  gar  ohne  praktischen  Sinn.  Und  läßt  Dir  von 
Leuten  helfen   und    raten,    die    absolut    nicht 

dazu   passen   und    Dir    Hemmschuhe   sind 

Warum  folgst  Du  meinem  Rat  und  meinen  Bitten 
hier  so  gar  nicht?  ....  Ich  erwarte  nun  bestimmt  und 
„kategorisch",  daß  Du  mir  in  Deinem  ordentlichen 
Februar-Brief  die  Vollendung  der  Arbeit  meldest  — 
der  Abschluß  ist  auch  für  Deinen  Zustand  absolut 
nötig  —  von  mir  ganz  abgesehen.  —  Gelingts  nicht, 
so  tragen  nur  die  guten  Freunde  Schuld. 

Ja,  Liebste,  ich  fühle,  wie  abgespannt  Du  bist. 
Ich  bin  ja  bei  Dir  und  bei  euch,  auch  wenn  ich  in 
der  Zelle  und  hinter  Eisenstäben  von  euch,  von 
Dir  getrennt  bin.  Wie  freue  ich  mich  Deiner 
Empfindung  für  die   Musik  —   weißt  Du,   wie   ich 

55 


Dich  immer  rief  —  zu  meinem  Spiel?  Wie  ich 
fühlte  —  obwohl  Du  Dich  unmusikalisch  nennst  — 
daß  das  „Dämonische",  das  tiefst  Mystische  der 
Musik  Dir  ins  Innerste  dringt?  Nur  triebhaft  er- 
faßt —  meinethalben  —  aber  in  der  musikalischen 
Wirkung  liegt  ganz  allgemein  auch  ein  mächtiges, 
fast    kann    man    sagen,    physiologisches    Element. 

Ich  möchte   eure  Aufmerksamkeit  auf  die 

Jugend  lenken,  deren  Versorgung  mit  guter  Lektüre 
von  Euch  nie  aus  dem  Auge  verloren  werden  darf, 
auch  heute  nicht  und  heute  am  wenigsten.  Denkt 
daran  mit  großem  Ernst.  —  Du  weißt,  ihr  alle  wißt, 
wie  sehr  mir  das  am  Herzen  hegt.  Gerade  daran 
knüpfen  sich  meine  Gedanken  gar  oft  —  jetzt  — 
w^o  ich  mich  —  wenn  auch  nur  viertelstundenweise 

—  den  Büchern  wieder  in  tieferer  Versenkung 
widmen  kann  —  (es  handelt  sich  um  die  Gründung 
einer  Jugendzeitschrift.  F.  P.)  Dein  Geburtstag  ist 
nun  vorüber  —  wie  ging  es  wohl?  Wie  viel 
Schweres  hast  Du  dieses  Jahr  ertragen  müssen.  Hätt 
ich  Dich  nur  ein  v/enig  leise  streicheln  können  über 
Dein  armes,  gepeinigtes  Köpfchen.  —  Und  schenken 
konnte  ich  Dir  nichts  —  und  auch  die  nächsten 
Jahre  wirds  nichts  werden.  — 

Nun  kommen  die  Kinder-Geburtstage  in  einer 
Reihe.  Ich  kann  ihnen  nur  eben  im  Voraus  alles, 
alles  wünschen  und  alle  Küsse  schicken,  die  einem 
Papa  in  solchen  Umständen  zu  Gebote  stehen. 
Wenn  es  sich  beim  Geschenk  um  ein  Buch  handeln 
sohte,  so  rate  ich  zu  einer  deutschen  Literatur- 
geschichte (Scherer?  Vilmar?  Mehring  wird 
raten).  Die  Kinder  werden,  wie  zu  Weihnachten, 
verständig  sein  und  sich  mit  Selbstbewußtsein  in  die 
Beschränkung  fügen.  Sie  werden  für  höhere  sitt- 
liche Einsichten  immer  größeres  Verständnis  ge- 
winnen und  die  Jungen  besitzen  es  schon  im  erfreu- 
lichen Grade,  zu  meiner  großen  Befriedigung.  Die 
Redensart  von  Bobbi,  die  Dich  so  freute,  ist  nur  auf 
diesem  Untergrunde,  als  Zeichen  einer  frisch  zu- 
fassenden Art  zu  begrüßen. 

Heute  Nacht  träumte  ich  von  meiner  Mutter 

—  und  sonderbar  —  obwohl  Du  sie  nicht  kanntest 

—  sie  war  mit  Dir  und  den  Kindern.  Wie  ich, 
wie   wir    alle    mit    unseren    Eltern,    mit    unserer 

56 


Mutter  waren,  kann  nicht  mit  Worten  beschrieben 
werden.  Es  erklärt  sich  aus  vielem,  auch  aus  der 
Fülle  gemeinsamer  Not  und  Verfolgung.  Und 
wirklich  —  es  gibt  einen  Grad  und  eine  Art  der 
Liebe,  die  stärker  ist  als  der  Tod,  der  der  Tod 
nichts  anhaben  kann  —  der  Gestorbene  lebt  lebendig 
in  der  Vorstellung  und  im  Gefühl  der  Hinterbliebenen 
fort.  So  gings  mir  mit  meinen  Eltern  —  sie  sind 
nur  eben  abwesend  und  nicht  mal  das.  So  geht 
es  Dir  gewiß  jetzt  mit  Deinem  Vater  und  Beba. 
Nur  noch  Einiges: 

1.  Anbei  ein  Schreiben  des  Landgerichts  II 
über  meine  Streichung  aus  der  Liste  der  Anwälte 
für  alle  drei  Berliner  Landgerichte.  Bring  es  zu 
meinen  Handakten.  Es  macht  sie  erst  ganz  voll- 
ständig: aus  Soldatenstand  —  aus  Parlamenten  — 
aus  Advokatur  —  Punktum.  — 

2.  Zeitungen  —  die  Wochenausgabe  des  Berl. 
Tagebl.  vom  26.^12.  schicktest  Du  nicht!  — 

3.  Schick  eine  Portion  Stahlfedern  für  mich 
an   die  Anstalt. 

4.  Schick  Zahnpulver,  aber  nicht  von  Dr.  Pierre 
—  sondern  Schlemmkreide  —  Dr.  Pierre  ist  zu 
weichUch.  — 

5.  Hast  Du  Geld  (10  Mark)  geschickt? 

6.  Schicke  doch  ein  Stück  Seife  —  vielleicht 
bekomme  ich  sie,  falls  sie  hier  ausgehen  sollte. 

Nun,  Liebste  —  Schluß.  —  Der  Brief  muß  fort. 
Mir  gehts  ganz  gut.  Keine  Sorgen!  Sorgt  nur  Ihr 
für  Eure  Ernährung  —  es  wird  noch  schlimmer 
werden.  —  Zucker  —  Zucker.  — 

Ich  habe  den  Kopf  voller  Gedanken  —  und  das 
Herz  zum  Zerspringen.  — 

Hätt  ich  Euch  nur  hier  —  was  könnten  wir 
lernen  und  schwärmen  —  was  könnte  ich  jetzt 
gerade  auch  den  Kindern  sein.  — 

Nun  —  par  distance  —  gehts  auch  —  wenn  der 
Wille  und  die  Kraft  nicht  fehlt  —  ui^d  die  dürfen 
nicht  fehlen.  — 

Ich  küsse  und  umarme  Euch  —  Dich  und  die 
Kinder. 

Dein  Karl  —  Euer  Papa.  — 

Grüße  allen  Verwandten  und  Freunden. 

Von  Wundt  schick  ev.  die  „Physiologische 
Psychologie",  doch  hat's  Zeit. 

57 


Luckau,  11.  Februar  17. 

Mein  liebstes,  liebstes  Kind! 

. . .  Dein  Brief  erregt  in  mir  Unruhe  und  Sorgen  — 
Unruhe  und  Sorgen  sprechen  aus  jedem  Wort.  Wie 
kannst  Du,  mein  Herz,  meinen,  ich  „drohte"  Dir, 
ich  hätte  Dir  „gedroht".^)  Fühlst  Du  nicht,  daß  das 
meinem  ganzen  Wesen,  meinem  Fühlen,  Denken  und 
allem,  was  in  mir  ist.  Dir  gegenüber  ganz  und  gar 
unmöglich  ist.  Du  mußt  doch  wissen,  wie  ich 
Dir  verbunden,  verschmolzen  bin.  .  .  .  Wie  man 
gegen  sich  selbst  wüten  kann,  gewiß,  so  könnte 
ich  auch,  so  kann  ich  auch  einen  Moment  des  Aus- 
bruchs gegen  Dich,  gegen  Dich  als  ein  Teil  meines 
Selbst  haben,  unter  dem  ich  leiden  würde,  als  der 
eigentlich  Gepeinigte,  Verletzte.  Und  Du  mußt 
drum  fühlen,  daß  jedes  Wort,  jedes  Zittern  des  Un- 
muts, das  gegen  Dich  gerichtet  scheint,  in  Wahrheit 
selbstquälerisch  mich  trifft.  Und  Du  darfst  Dich 
nicht    sorgen    und    von    mir    verletzt    fühlen.    Du 

bist  es  nicht Was  soll  das  heißen:  Du  willst  mich 

nicht  vor  Deiner  Abreise  besuchen?  Aus  Angst  vor 
meinem  Aerger  über  die  Nichtvollendung  der  Arbeit. 
Ja,  es  liegt  mir  ungeheuer  an  dieser  Arbeit;  niemand 
kann  ermessen,  was  darin  steckt,  jetzt  mehr  als  je, 
außer  Dir  und  mir.  Sie  ist  für  Dich  und  mich  ein 
ganzes  Stück  vergangenen  und  gegenwärtigen  und 
künftigen  Lebens.  Und  nur  darin  kannst  Du  mir 
jetzt  helfen.  Meine  „Drohung"  (ich  ahne  nicht,  was 
Du  so  verstandest)  ging  gegen  die  Besorgnis,  daß 
gutgemeinte  Ratschläge  bester  Freunde,  die  aber 
hier  gerade  anderer  Meinung  sind  als  ich  (und  auch 
Du  im  Grunde),  hemmend  und  hindernd  im  Wege 
ständen,  oder  daß  Du  gar  deren  Hilfe  abwarten 
könntest,  selbst  wenn  sie  eine  lange  Verzögerung 
bedeuten  würde.  Aber  davon  ist,  wenn  ich  Deinen 
Brief  verstehe,  keine  Rede  mehr.  Danach  handelt 
es  sich  nur  noch  um  die  handwerksmäßige  Hilfs- 
arbeiten   zum    Abschluß,    Deine   Arbeit    ist   fertig, 

*)  Verzögeruns:  des  Druckes  der  Prozeßakten. 

F.  P. 

58 


absolut  fertig.  Verstehe  ich  Dich  recht?  Die  Haupt- 
sache ist  —  verstehe  mein  Lieb,  daß  Deine  Arbeit 
beendet  ist  und  daß  die  fertige  Arbeit  wenigstens 
an  einer  gewissen  Zahl  von  Beispielen,  gewisser- 
maßen als  Modell  durchgeführt  wird.^)  Alles 
andere  hat  dann  im  Notfall  Zeit.  Das  bestimme  ich. 
Nun,  und  so  wirst  Du's  ja  noch  machen,  bevor  Du 
verreist.  Und  schon  darum  —  welcher  Gedanke, 
Liebste,  mich  nicht  besuchen  zu  wollen!  „Angst 
vor  meinem  Stirnrunzeln"  zu  haben,  als  sei  ich  ein 
brüllender  Hyrkanischer  Leu  —  Blut  und  Tod  im 
rollenden  Auge.  Unsinn,  nicht  wahr.  Du  kommst. 
Du  darfst  kommen  (möghchst  Sonnabends,  weil  ich 
dann  rasiert  bin).  Bitte  vorher  um  Erlaubnis  für 
den  Tag,  Du  bekommst  sie  sofort.  Du  mußt  kommen. 
Mußt,  Liebste,  mußt,  wegen  mir  und  wegen  Dir. 
Das  wäre  Zerfleischung  —  für  Dich,  für  mich.  Bis 
JuU  nicht  sehen!  Das  hieße  meine  Strafe  verdrei- 
fachen und  ich  weiß  es  —  Deine  Erholung  zunichte 
machen.  Du  mußt  also  kommen  —  diesmal  allein. 
So  daß  nur  wir  zwei  zusammen  sind.  Im  April 
dann  die  Kinder,  im.  dringenden  Falle  auch  sie  vor- 
her    Wegen  der  Kinder,  deren  Briefe  mich  sehr 

freuten  (Helmis  ist  sehr  charakteristisch  für  seinen 
Uebergangszustand,  den  Ihr  ernst  nehmen  müßt! 
Es  kommt  bei  ihm  jetzt  plötzlich  mit  ungeheurer 
Macht  —  der  Eisgang),  tue  ich  alles,  was  ich  kann. . . 

....  Mit  der  Nahrungsmittelnot  ists  gar  schhmm 
hier  und  die  Kälteperiode  war  bös,  wir  hatten  bis 
23  Qrad.  Um  mich  aber  macht  Euch  keine  Be- 
denken,  im   Notfall   retten   mich   die   Freiübungen. 

Meine  Arbeit  beider  Arten  geht  gut  vonstatten. 

. . .  Mich  interessieren  besonders  die  Bedingun- 
gen für  die  Entwickelung  der  sogenannten  Ideologien 
—  zum  Beispiel  der  Kunst,  darunter  natür- 
lich auch  der  Malerei.  Aus  der  Zeit  Deines 
Doktorexamens  ist  mir  —  dilettantisch  in  der 
Erinnerung  die  Entwicklung  der  dreidimensio- 
nalen Raum-  (Tiefen-)  Perspektive,  aus  der  zwei- 
dimensionalen Flächenperspektive  —  der  byzanti- 
nischen  (wohl    meist  Goldgrund)    Malerei;    meines 

^)  Gemeint  ist:  vorläufig  möge  eine  kleine  Auflage  gedruckt 
werden.  F.  P. 

S9 


Wissens  spielt  Cimabue  dabei  eine  große  Rolle.  Also 
davon  das  Thema,  das  ich  auf  besonderen  Zettel  für 
Dich  notiere.  Außerdem  habe  ich  für  Otto  und  für 
Kurt  anhegende  Themen,  bitte  übernimm  ihre  Ver- 
mittelung.  Ich  wäre  sehr  froh,  wenn  wir  so  zu 
einem  systematischen,  wissenschaftlichen  Zu- 
sammenarbeiten kämen. . . . 

Meine  arme  gequälte,  arme  Geliebte!  Wärst 
Du  bei  mir,  wie  würde  ich  Dich  streicheln  und 
wärmen.  Und  Du  würdest  ruhig  werden  —  stark, 
über  alle  Not  zu  lächeln,  zu  triumphieren.  An  das 
Ganze,  an  das  Große,  an  das  Unendliche  denkend  — 
sub  specie  aeternitatis.  Denke:  heute  sind  100  Tage 
von  1460  herum  und  wie  schneU  vergings.  Und 
bald  wird  alles,  alles  anders.  Und  wie  werden  wir 
dann  jubeln.  Du  wirst  noch  glücklich  sein,  mein 
armes  Vögiein.  Du  wirst  glücklich  sein  —  glaube 
daran  und  es  wird  um  so  rascher  sein,  die  Zeit  be- 
kommt dann  Flügel  —  wie  freue  ich  mich  dem  Tag 
unser  Wiedervereinigung  entgegen.  Ruhig,  mein 
Kind  —  keine  Sorge  um  mich!  Ich  küsse  und  um- 
arme Dich  —  komm  bald,  bitte  bald,  zu  Deinem 
Karolus,  der  an  Dich  denkt,  von  Dir  träumt.  Viele 
Grüße  und  Küsse  allen  Verwandten. 


Luckau,  11.  2.   17. 
Mein  hebster  Helmi! 

Vielen  Dank  für  deinen  Brief,  den  ich  aus- 
führlich im  März  beantworten  werde.  Heute  darf 
ich  dir  schreiben:    wegen   der   Schule. 

Ich  höre  von  Sonja  und  von  dir,  daß  es  da 
schlecht  steht  und  am  Ende  gar  Versetzungs- 
schwierigkeiten eintreten.  Und  von  euch  beiden 
höre  ich,  daß  es  nicht  an  deinem  Können  liegt 
sondern  an  Deinem  unzureichendem  Arbeiten  und 
das  weiß  ich  selbst. 

. . .  Glaub  nicht,  daß  ich  dich  und  deinen  jetzigen 
Zustand  nicht  verstehe:  die  Knospen  brechen  auf  — 
alles  treibt  und  drängt  —  schäumt  über,  sucht  sich 
seine  Bahn  —  und  alles  wie  es  ahnungsvoll  be- 
glückt, zugleich  beklemmt,  quält,  weil  es  unfaßbar 
ist,  die  Kräfte  fühlen,  wie  sie  der  ungeheuren  Auf- 
gabe nicht  gewachsen  sind,  nicht  gewachsen  sein 

60 


können.  Man  fällt  aus  Finsternissen  zum  Lichte 
tappend  immer  tiefer  ins  Dunkel  —  bis  man  die 
Relativität    alles    menschlichen    Wissens    erkennt. 

Und  andere  Triebe  regen  sich  —  der  Trieb, 
die  Welt  oder  ein  Stück  von  ihr  nicht  nur  zu  ver- 
stehen, sondern  zu  bewältigen,  zu  erobern;  und  die 
ersten  Keime  der  geheimen  Sehnsucht  von  endloser, 
selbstvergeßner  Tiefe,  die  Liebe  genannt  wird. 

Und  in  all  dem  stehst  du,  kleines  Kerlchen, 
nun  ohne  miich  —  der  dir  die  Wege  aus  den  Irr- 
sälen zu  weisen,  dich  von  den  Irrlichtern  zu  behüten 
vermöchte.  Du  kleines  Kerlchen,  wie  ein  eben 
ausgekrochener     Schmetterhng     im    Wirbel     eines 

Taifun Bin  ich  ein  Philister?    Nicht  ein  Mensch 

vom  Süd-  zum  Nordpol  wagte  es  zu  behaupten. 
Nun,  vertraue  dich  mir;  mir,  der  dein  Vater  ist, 
voller  Hoffnung  auf  deine  Fähigkeiten,  deine  Zukunft 
und  dessen  Leben  vernichtet  w^re,  würden  diese 
Hoffnungen  zunichte. 

Niemand  fordert,  daß  du  Außergewöhnliches 
leistest.  Du  sollst  nur  —  und  das  ist  jedes  Menschen 
Pflicht  gegen  sich  und  die  anderen  —  Deine  Kräfte 
nach  Kräften  entfalten  7-  das  Pfund,  das  in  Dir 
hegt  —  beharrlich  und  klug  nutzen. 

Die  Schule  —  Du  täuschst  Dich,  wenn  Du  sie 
langweilig  nennst.  —  MögHch,  daß  dieser  oder  jener 
Lehrer  langweihg  ist  —  ganz  wie  auf  der  Univer- 
sität, vielleicht  nicht  mal  so  sehr.  —  Aber  das  ist 
nicht  die  Schule.  —  Die  Schule:  das  sind  die  Gegen- 
stände, die  Wissenschaften,  die  Ihr  dort  lernt.  Das 
ist  Geschichte,  Geographie;  das  ist  Mathematik. 
Das  ist  Französisch,  Englisch  —  evtl.  Hebräisch! 
Das  ist  der  deutsche  Unterricht,  der  Dir  die  fernsten 
Formen  unermeßlicher  Horizonte  öffnet  —  einen 
Goethe,  Schiller,  Lessing,  Herder,  Klopstock  usw. 
zum  Freunde  gibt. 

Und  dann  Griechisch.  Latein.  Ist  das  langweilig? 
Sprachen  sind  die  interessantesten  menschlichen 
Geistesprodukte.  —  Ihre  Erkenntnis,  ihre  Anatomie, 
ihre  Zergliederung  nach  ihrer  Struktur,  das  ist  ihre 
Grammatik  und  Syntax;  dasselbe  was  die  Anatomie 
beim  Tierkörper.  Hast  du  keine  Ahnung  von  der 
Wunderwelt  die  die  vergleichende  Sprachwissen- 
schaft auftut?     Ich  hatte  stets    ein    so    lebendiges 

61 


Interesse  dafür,  daß  ich  nicht  verstand,  wie  von 
langweilig  geredet  werden  konnte. 

Aber  vor  allem:  Herodot,  Xenophon,  Thuky- 
dides,  Demosthenes  und  der  göttliche  Plato!   Homer, 

—  das  waren  die  Griechen,  die  wir  lasen. 

Und  Cornelius  Nepos,  Caesar,  Livius,  Sallust, 
Tacitus,  Ovid,  Yirgil,  Catull,  Horaz  —  das  waren 
die  Römer,  die  wir  lasen. 

Nimm  eine  Geschichte  der  Kultur,  der  Wissen- 
schaft, der  Kunst,  der  Literatur  zur  Hand  —  diese 
Sterne  leuchten  darin.    Seit  Jahrtausenden  leuchten 

sie.  Und  sie  werden  noch  Jahrtausende  leuchten 

Lernst  du  sie  jetzt  nicht  kennen,  —  du  wirst  sie 
n  i  e  kennen  lernen.  Du  verherst  Unendliches  fürs 
ganze  Leben.  Wie  gern  hätte  ich  jetzt  meinen 
Virgil,  Horaz,  Homer,  Sophokles  Plato  hier.  Wie 
lebendig  sind  mir  viele  Horazische  Oden  wieder 
geworden,  sie  kommen  nachts  —  in  den  langen, 
langen  Nächten  und  leisten  mir  Gesellschaft  —  wie 
glücklich  wäre  ich,  wäre  mein  Schatz  an  solcher 
Kenntnis  zehnmal  größer,  lessingisch-groß ! 

Ist  die.  Art  des  Unterrichts  pedantisch  —  du 
hast's  in  der  Hand  —  ihn  frisch  und  voll  Würze  zu 
machen.  Ist  das  behandelte  Thema,  das  Stück  des 
Schriftstellers  klein,  eng,  zerfetzt,  du  kannst  es  er- 
weitern.   Ergreife  nur  das  Gebotene! 

DiePositiva,  an  Daten,  Zahlen,  Grammatik 

—  Worten,  der  Gedächtniskram,  so  trocken  er 
ist,  bildet  den  Stoff  aus  dem  sich  erst  alles  Wissen, 
alles  wissenschaftliche  Erkennen  formt  —  so  wie 
die  Peterskirche  in  Rom,  der  Dom  von  Reims  aus 
harten,  nichtssagenden  „trockenen"  Steinen  zu- 
sammengesetzt sind.   — 

iVlein  lieber  Helmi!  Denke,  was  alles  das  heißt! 
Nimms  in  dich  auf  und  handle  danach.  Aus  Ein- 
sicht in  die  innere  Richtigkeit  —  in  die  Notwendigkeit, 
diese  Ratschläge  deines  Vaters,  so  ernst  sie  ge- 
meint sind  —  so  ernst  zu  befolgen.  Und  dann: 
Ueberlege  dir,  was  es  heißt,  daß  ihr  jetzt  im  Gym- 
nasium sein  dürft.  Welche  ungeheure  Opfer  — 
anderer  als  eures  Vaters  —  kostet  es.  Soll  das  ver- 
schleudert werden? 

62 


Ueb  eventuell  ein  wenig  Singen  (Schubert- 
Lieder).    Deine  Handschrift  ist  wirklich  nicht  schön 

—  übrigens  meine  eben  auch  nicht  —  das  hegt  aber 
an  der  schlechten  Beleuchtung  und  Kühle 

Wegen  eurer  Ernährung  hab  i  c  h  Besorgnis 

—  um  mich  sorgt  euch  nicht. 

Nun,  beherzige  alles  —  ich  hoffe  auf  gute  Nach- 
richt. Keinen  Weltschmerz!  Je  drohender  und 
ernster  das  Geschick  —  um  so  mehr  gilts  zu  be- 
stehen. Und  stets  sei  dir  bewußt:  du  bist  nicht 
ohne  Vater,  auch  wenn  ich  im  Zuchthaus  bin. . . . 

Ich  küsse  dich,  mein  kleines,  großes  Kerlchen 

—  und   behüte   dich  an  meinem  Herzen,  —  trotz 
alledem  — 

Dein  Papa. 

Mit  Schlittschuhlaufen  bei  Tauwetter  auf  den 
Seen  höchste  Vorsicht!  Vorsicht!  Das  Eis  wird 
mürbe  —  nur,  wo  pohzeilich  erlaubt,  fahren  und 
nur  so  lange,  wie  erlaubt. 

Luckau,  den  18.  März  1917. 
An  Vera 

Mein  kleines  süßes  Mäuschen! 
Dein  Brief  vom  7.  Februar,  jetzt  schon  bald  sechs 
Wochen  alt,  war  sehr  fein.  Wenn  auch  die  Lehre- 
rinnen in  der  neuen  Schule  streng  sind,  so  paß  auf, 
bald  wirst  Du  Dich  gewöhnt  haben.  Nur  fleißig  und 
artig  sein,  dann  werden  Dich  die  Lehrerinnen  bald 
lieb  haben.  Nun,  zu  Ostern,  wenn  Ihr  mich  in  etwa 
drei  Wochen  besucht  —  werde  ich  Eure  Zeugnisse 
sehen  —  nicht  vergessen.  Also  Du  warst  in  Wilhelm 
Teil.  Ja,  man  muß  schon,  wenn  es  irgend  geht,  was 
man  im  Theater  sehen  will,  vorher  durchlesen.  Das 
machte  ich  im  November  1915  mit  den  Jungen  so,  im 
Lazarett,  als  sie  im  „Sturm"  von  Shakespeare  waren. 
Das  Schnellsprechen  wirst  Du  bald  verstehen  lernen, 
das  ist  nur  Uebung.  Du  bist  ja  noch  so  klein!  Am 
24.  April  wirst  Du  ja  erst  11  Jahre!  Ich  gratuliere 
Dir  schon  heute  im  Voraus  dazu.  Werde  ja  in- 
zwischen nicht  mehr  schreiben  können  und  schenke 
Dir  schon  jetzt  100  wohlabgezählte  Küsse.  —  Sonst 
habe  ich  leider  nichts.  Daß  Du  Zahnschmerzen  hast, 
beunruhigt  mich,  es  kommt  von  der  schlechten  Er- 

63 


nährung,  aber  auch  von  der  Pflege;  putze  sie  ordent- 
lich jeden  Tag  zweimal.  Und  iß  und  trink  nicht  zu 
heiß  und  nicht  zu  kalt.  Wegen  der  Eisbahn  jetzt 
Vorsicht  —  bei  dem  Tauwetter.  Lies,  was  ich  Bobbi 
schrieb.  Den  kleinen  neuen  Vetter  Karl-Otto  hast 
Du  nun  wohl  begrüßt  —  gefällt  er  Dir?  Die  Bücher 
lies  fleißig  —  Reinicke's  Märchen  kenne  ich,  „Klopf- 
stock" nicht,  auch  nicht  das  „Sonntagskind",  aber  die 
Schulbibliothek  wird  doch  nur  gute  Bücher  haben. 
Du  weißt  aber,  daß  wir  selbst  sehr  viele  gute  Bücher 
haben.  Ja.  das  Auskriechen  von  Schmetterhngen 
macht  viel  Freude. 

Auch  Du  wirst  Ostern  vielleicht  nach  Frankfurt 
fahren  —  ei  —  umso  besser,  Frankfurt  ist  sehr  schön. 
Aber  vielleicht  wartest  Du  diesmal  noch  und  bald 
nach  Ostern  kommt  Ihr  zu  mir.  —  Ich  freue  mich 
schon  so  ungeheuer  darauf.  Euch,  meine  kleinen 
Kerlchen,  wiederzusehen  und  zu  küssen.  Haltet 
Euch  nur  recht  gesund  und  bringt  gute  Zeugnisse 
mit.  Und  die  Nachricht,  daß  Ihr  allen  Freude  macht. 
Dann  wird  unser  kurzes  Wiedersehen  dreifach  schön 
sein. 

Lies  diesen  Brief  im  abgeschlossenen  „Eckchen", 
das  sicher  sehr  gemütlich  ist  und  in  dem  ich  Dich  gar 
zu  gern  einmal  hocken  sehe  und  von  dem  aus  ich  gar 
zu  gern  einmal  die  Poschingerstraße  hinuntergucken 
würde.  Die  ganze  Gegend  ist  mir  ja  noch  unbekannt. 
Ich  küsse  Dich  viel,  vielmals  mein  süßes  Nesthäk- 
chen.   Auf  Wiedersehn 

Dein  Papa. 


Luckau,  den  18.  März  1917. 

Mein  liebstes  Herz! 
Wie  gut  ist  es,  daß  ich  Dir  gleich  noch  einmal 
schreiben  kann!  V/ie  köstlich  war  Dein  Besuch  am 
Dienstag,  wie  haben  wir  uns,  wenn  auch  nur  so  kurze 
Spanne  Zeit,  ganz  für  uns  gehabt.  Es  war.  wie  bei 
einem  jener  Besuche  in  Heidelberg,  jene  köstlich  — 
glücklich-qualvollen  Stunden;  und  doch  wars  anders, 
stärker,  mächtiger.  —  Wie  hats  Dich  erfrischt  — 
ein  Zauberbrunnen  hatte  Dich  umspült.  Deine 
Augen    glänzten,   ja   — ,   meine    glänzten    auch   — 

64 


sie  glänzten,  weil  sie  Dich  widerspiegelten,  sie 
glänzten,  weil  sie  meiner  Liebe  leuchteten. 

Es  wird  öfter  erlaubt  werden,  daß  Du  mich  allein 
besuchst,  und  ich  vertraue,  daß  Du  dabei  künftig 
keine  peinlichen  Intermezzi  erleben  wirst. 

Du  wirst  dann  auch  wegen  meiner  Gesundheit 
wenigstens  in  einem  Punkte  noch  beruhigter  sein,  als 
bisher;  daß  mir  Milch  verschrieben  war,  hatte  Dich 
in  Zweifel  versetzt  —  infolge  eines  Mißverständ- 
nisses. Nun  —  die  Sorge  ist  seit  heute  vorbei;  sie 
hat  nur  14  Tage  gedauert;  heute  ist  mir  die  Milch 
—  ohne  daß  ich  den  Grund  wüßte  —  wieder 
entzogen. 

Ich  komme  zum  Geschäftlichen:  (Hier  folgt  eine 
trockene  Aufzählung  verschiedener  Wünsche.  F.  P.) 

Aber  jetzt  Schluß  mit  Aufträgen!    Und  nun 

an  Deine  Reise  gedacht.  Nicht  mehr  gezaudert. 
Bleibe  recht  lang  und  schreibe  mir  sofort,  sobald 
Du  untergebracht  bist,  damit  ich  Dir  schreiben  kann. 
Ich  hoffe.  Du  kam.st  Dienstag  gut  heirn.  Ich  be- 
rechnete hier  die  Zeit,  die  Du  noch  in  Luckau  warst 
und  glaubte  Dich  zu  fühlen,  und  glaubte  Dich  zu 
sehen,  als  Du  zum  Bahnhof  gingst.  V/ie  gern  wäre 
ich  mit  Dir  gezogen  und  wenn  nur  auf  ein  Viertei- 
stündchen.  Aber  Kind,  Liebstes,  denke:  heute  sind 
4V2  Monate  rum!  Hundertf ünfunddreißig  Tage!  Von 
1460!  Doch  schon  was!  Und  es  wird  immer 
schneller  laufen!  Und  plötzlich  ist  die  ganze  Zeit 
herum  und  wir  stehen  verblüfft  dabei  —  wie  hinter 
einem  vorbeigerasten  Courierzug.  Was  habe  ich 
hier  für  herrhche  Sachen  gelesen,  ich  bitte  Dich,  laß 
Dir  Wolfram  von  Eschenbach,  Gottfried  von  Straß- 
burg und  Walter  v.  d.  Vogelweide  nicht  entgehen. 
Der  letztere  wirkt  ganz  modern  und  ernstlich  groß- 
artig.   Unseren    größten   Lyrikern    und    politischen 

Dichtern  (Pathetiker  höchsten  Stils)  ebenbürtig 

Wir  werden  noch  viel,  viel  zusammen  lesen  —  so- 
bald wir  wieder  zusammen  sind.  Ich  kanns  kaum 
erwarten,  es  gibt  noch  viel  Glück  für  uns  alle. 

Sei  guten  Muts; ich  küsse  Dich  tausendmal 

und  umarme  Dich,  umarme  Dich  wie  nur  wir  zwei 
uns  umarmen  können,  grüß  alle  sehr. 

Dein  Karl. 

s  6i 


Luckau,  den  18.  März  1917. 

Mein  kleines  liebes  Böbbelchen! 

Das  ist  ein  verquerer  Briefbogen  —  aber  Du 
wirst  mir  nicht  bös  sein.  Ich  freue  mich  der  guten 
Nachricht  aus  der  Schule,  die  Du  am  8.  3.  schriebst. 
Ist  sie  auch  ganz  zuverlässig^  Wenn  Ihr  nach 
Ostern  kommt,  müßt  Ihr  die  Zeugnisse  mit- 
bringen ;  dann  werden  wir  prüfen  und  entschei- 
den. 

. . .  Daß  Du  Dich  der  Schmetterlingszucht  außer- 
dem widmest,  freut  mich  sehr;  aber  ich  erwarte: 
1.  daß  Du  dazu  nur  die  Mußestunden  benutzt,  so  daß 
die  Schule  nicht  leidet;  und  auch  nicht  Deine 
sonstige  geistige  Fortbildung;  2.  daß  Du  die 
Schmetterlinge  gut  behandelst,  sorgfältig  und 
kunstgerecht  präparierst  und  verwahrst;  3.  daß  Du 
zum  P  a  u  p  e  n  ziehen  übergehst,  sobald  die  Jahres- 
zeit v/eiter  ist.  So  kommst  Du  der  Natur  näher, 
siehst,  wie  sich  eins  ins  andere  fügt  —  Tiere,  Pflan- 
zen miteinander  leben,  —  sich  bekämpfend,  sich 
unterstützend  und  ergänzend;  wie  die  leblose  Natur, 
Wetter  und  Jahreszeiten,  der  lebendigen  Welt  gleich- 
falls bald  fördernd,  bald  feindlich  gegenüberstehen; 
wie  die  Begriffe  der  Schädhchkeit  oder  Nützlichkeit 
für  den  Menschen  gar  schwankend  und  willkürlich 
sind. 

Daß  Du  ein  Kapitalist  von  30  Mark  bist,  er- 
schreckt mich  fast.  Nun,  der  Wert  des  Geldes  ist 
ungemein  gesunken  und  wird  nie  wieder  so  hoch 
steigen  wie  vor  dem  Kriege.  Also  sei  doch  noch 
bescheiden  und  sieh  nicht  allzu  hochmütig  auf  uns 
arme  leere  Beutel  herab. 

Was  liest  Du  jetzt?  Hab  ich  euch  geschrieben, 
daß  ich  hier  mit  Jeremias  Gotthelf  (Pfarrer  Bitzius) 
„Uli,  der  Pächter"  bekannt  wurde?  Ein  wirklich 
gutes  Buch.  Wenn  ich  nicht  irre,  hast  Du  es  gelesen 
und  mir  davon  erzählt?  Nansen  und  Sven  liedin 
sind  gut  und  wichtig  für  Dich.  Wegen  des  Stils  be- 
denke aber,  daß  beide  übersetzt  sind. 

Vielleicht  wirst  Du  mit  Helmi  in  die  Matthäus- 
Passion  gehen  (mit  Tante  Alice  oder  Sonja),  dann 
müßt  Ihr  aber  vorher  den  Text  und  die  Musik  ge- 
nau ansehen,  damit  Ihr  möglichst  viel  versteht.    Ihr 

66 


bekommt  ein  Werk  zu  hören,  dem  keines  in  der 
ganzen  Welt  überlegen  ist,  und  in  einer  musterhaften 
Aufführung,  an  die  ihr  euer  ganzes  künftiges  Leben 
denken  werdet.  Also  nicht  leichtsinnig  drauf  los, 
sondern  gründlich  vorbereitet. 

Zu  Deiner  Reise  nach  Frankfurt  viel  Glück;  ver- 
giß nicht  Dir  dort  außer  dem  Römer  und  dem 
Goethe-Haus  an  •  Erinnerung  auch  die  Pauls- 
kirche anzusehen;  dort  tagte  1848  das  erste 
deutsche  Parlament.  DerVater  Eurer 
Großmutter  (Hof-  und  Gerichtsadvokat  Carl 
Reh,  dessen  Bild  Onkel  Thedel  im  Büro  hängen 
hat)  Vv^ar  dort  Abgeordneter,  und  sogar  Prä- 
sident.   Lass  Dir  seinen  Platz  zeigen. 

■  Für  die  Aufklärung  wegen  Vera's  Klopfstock 
danke  ich  Dir;  ich  hatte  wirklich  an  den  Dichter 
Friedrich  Gottlieb  Klopstock  (geboren  1714)  ge- 
dacht. 

Wegen  des  Schlittschuhlaufens  mahne 
ich  nochmals :  seid  vorsichtig!  Man  wird  noch 
auf  den  Seen  fahren;  das  Tauwetter  hat  ja  das 
Eis  noch  längst  nicht  zerstört,  Strom  und  Bäche 
sind  noch  längst  nicht  „unter  des  Frühhngs  holdem 
belebenden  Blick"  vom  Eise  befreit,  und  der  Mo- 
ment, in  dem  es  brüchig  und  gefährlich  wird,  ist 
schwer  zu  bemessen  und  die  Fischerlöcher  bilden 
eine  heimtückische  Gefahr! 

Nun  muß  ich  schHeßen,  —  ich  küsse  Dich  viel- 
mals, mein  Junge! 

Dein  Papa. 


Den  Osterluzeifalter  kenne  ich  sehr  wohl. 
Auch  die  anderen  Edelfalter.  Dein  Präparierver- 
such am  Kaninchenkiefer  macht  mir  Freude,  aber 
das  rechte  Präparieren  ist  doch  etwas  komplizierter. 

Euer  Besuch  hier  wird,  wenn  Du  nach  Frank- 
furt fährst,  erst  nach  Ostern  sein  können.  Onkel 
Willi  und  Otto  wollen  mitkommen,  ich  freue  mich! 
Besucht  auch  Tante  Hedwig!  Und  grüßt  auch  sie 
und  Lene  und  Grete,  sowie  I  s  y  und  Auguste 
allerbestens  von  mir. 

Schreibt  Onkel  C  u  r  t  !  Und  Willi  Paradies 
und  grüßt  auch  diese  von  mir  vielmals. 

i'  67 


Luckau,  18.  3.  17. 

Mein  liebster  Helmi! 

Vor  meinern  Fenster  schreit  der  Frühlingssturm 
und  rennt  stürmisch  durch  den  Engpaß  zwischen 
den  Mauern.  Warm  ists  nicht.  Märzluft.  So 
mags  in  Deinem  Herzchen,  Deinem  Köpfchen  aus- 
sehn. Da  heißts:  die  Lungen  \\^it  aufgespannt  — 
Bewegung  und  Entschlossenheit  in  die  Glieder! 
Kein  Stubenhocken!     Keine  Mutlosigkeit. 

Ich  bin  froh,  in  Deinem  letzten  Brief  zu  lesen, 
wie  allseitig  Deine  Interessen  sind.  Wenn  Du  aber 
bekennst,  daß  Du  in  der  Schule  in  manchen  Fächern 
schlecht  stehst,  weil  Du  zu  Hause  auf  anderem 
Gebiete  arbeitest,  so  bekennst  Du  damit  einen  Grund- 
irrtum über  das  Wesen  des  Wissens  und  Lernens. 
Non  multa  sed  multumJ  Nicht  in  oberflächlicher 
Expansion,  sondern  im  gründlichen,  tieferen  Ein- 
dringen, im  vollen  Beherrschen  eines,  wenn  auch 
engeren  Gebiets  liegt  auch  der  Umfang  des  Wissens, 
der  Bildung.  Denn  dieser  Umfang  ist  nicht  räumhch, 
sondern  vier  dimensional.  Die  Intensität  ist  seine 
wichtigste  Dimension.  Hast  Du  ein  Gebiet  fest  er- 
obert, so  kannst  Du,  von  dort  aus  sicher  orientiert, 
dort  fest  angesiedelt,  die  Welt  überblicken,  die 
Welt  beherrschen.  Was  hat  ein  Wissen,  das  kein 
Wissen  ist,  für  eine  andere  Wirkung,  als  zu  ver- 
wirren, statt  zu  klären,  zu  schwächen,  statt  zu 
kräftigen! 

Gerade  Latein  und  Mathematik  sind  ungemein 
wichtig.  Von  höchstem  Bildungswert  für  den  Ver- 
stand. Bedeutsamste  Gradmesser  für  die  Reife 
des  Verstands,  des  Scharfsinns,  des  Gedächtnisses. 
Ganz  ungeachtet  ihrer  Wichtigkeit  für  die  allgemein- 
v/issenschaftliche   Entfaltung   des   Geistes! 

Von  Sonja  erfuhr  ich,  daß  die  Versetzungs- 
arbeiten gut  ausgefallen  sind.  Wenn  Ihr  mich  in 
etwa  drei   Wochen   besucht,  bringt   die   Zeugnisse 

mit.     Ich  will  mich  genau  unterrichten 

Dein  Leben  soll  und  wird  Arbeit  und  Kampf  und 
Mühe  sein,  nicht  Sonnenschein  und  Behagen.  Aber 
gerade  darin  wird  Dein  Glück  liegen. 

Du  mußt  lernen,  daß  die  Menschen  nichts 
anderes  sind  als  eine  höhere  Art  von  Tieren.  Jeder 
voll  Schwächen  und  Kräfte,  voll  des  „Guten"  und 

68 


des  „Bösen";  daß  sie  naturgeschichtlich 
zu  betrachten  sind;  daß  die  Aufgabe  des  Menschen, 
der  sich  bewußt  ein  höheres  Ziel  setzt  und  der  von 
seinem  Inneren  vorangetrieben  wird,  das  Edle  zu 
fördern,  daß  dessen  Aufgabe  ist,  sich  mit  allen 
seinen  Fähigkeiten,  mit  seinem  ganzen  Wesen 
hineinzuwerfen  m  das  gew^altige  Ringen  um  die 
Höherentwickelung  der  Menschheit,  die  Befreiung, 
die  Wohlfahrt  aller. 

Der  Krieg  und  die  vielen  Mängel  der  Welt 
plagen  und  bekümmern  Dich.  Jawohl  —  sie  müssen 
jedes  Gemüt  umdüstern.  Aber  aus  der  Nacht 
gibts  Rettung,  nur  eine  Rettung  freüich:  den 
Entschluß,  die  Beseitigung  dieser  Uebel  sich  zum, 
Lebenszweck  zu  setzen.  Nur  das  Leben  ist  un- 
möglich, das  alles  laufen  lassen  wollte,  wie  es  läuft. 
Nur  das  ist  möglich,  das  sich  selbst  zu  opfern  bereit 
ist,  zu  opfern  für  die  Allgemeinheit. 

Mein  Leben  war  bisher,  trotz  allem,  glücklich, 
gerade  in  den  Zeiten,  in  denen  ich  am  heißesten  zu 
kämpfen  und  zu  „leiden"  hatte.  Und  so  wirds  Dir 
sein.    Das  ist  unser  Krieg. 

Du  sollst  nicht  über  Deine  Bedenken  hinweg- 
springen. —  Du  sollst  nicht  auf  meine  Worte  hören 
—  Du  mußt  alles  von  Grund  aus  durcharbeiten, 
selbst  für  Dich  —  durchfechten.  —  Könnt  ich  dauernd 
bei  Dir  sein.  —  Viel  könnt  ich  Dir  helfen.  —  So 
wirst  Du  mir  schreiben  —  stets  darfst  Du's,  wenn 
Du  mich  ernstlich  brauchst.    Nie  fehle  ich  Dir. 

In  drei  Wochen  werde  ich  Euch  hier  haben. 
Ich  erwarte  euch  —  gesund  und  voll  guter  Nach- 
richten. 

Um  mich  keine  Sorge.  Ich  hatte  sogar  ein 
paar  (zwei)  Wochen  täglich  V2  Liter  Milch.  Und 
wenn  man  friert,  macht  man  Freiübungen  und 
abends  gehts  früh  zu  Bett. 

Ich  muß  schließen  —  der  Brief  wird  geholt.  — 

Alle  Deine  Sorgen  möcht  ich  Dir  fortküssen  — 
fortscheuchen  —  mein  armer,  kleiner  Kämpfer.  — 
Nun,  in  dem  Kampf  siegen  wir! 

Viele  Küsse,  Küsse. 

Dein  Papa. 

Ihr  sollt  die  Matthäus-Passion  hören  —  in 
klassischer  Aufführung!     Das  wundervollste  Werk 

6> 


auf  dem  Gebiet  des  Oratoriums.  Die  Noten  hatte 
ich  im  Mihtärarrest.  Studiere  sie  vorher.  Nicht 
ganz  leicht  zu  verstehen  —  Kontrapunkt  und  Fuge. 
Gleich  der  erste  Satz:  achtstimmiger  Chor  nebst 
Cantus  firmus  — ;  durchblickt  man  das  Zauber- 
gewebe, ist  man  ganz  berauscht  vor  Seligkeit. 
Nichts  Süßeres,  Zarteres,  Rührerendes  und  in  den 
Volksszenen  —  nicht  Großartigeres 'kennt  die  Musik. 


(Frühjahr  1917.) 

Sturm,  mein  Geselle, 
Du  rufst  mich! 
Noch  kann  ich  nicht. 
Noch  bin  ich  gekettet! 
Ja,  auch  ich  bin  Sturm, 
Teil  von  dir; 

Und  der  Tag  kommt  wieder. 
Da  ich  Ketten  breche. 
Da  ich  wiedrum  brause. 
Brause  durch  die  Weiten, 
Stürme  um  die  Erde, 
Stürme  durch  die  Länder, 
Stürme  in  die  Menschen. 
Menschenhirn  und  -Herzen, 
Sturmwind,  wie  du! 


Heulen  des  Sturmes  ist  mir  liebliche  Melodie, 

Wenn  wild  er  herabstürzt  über  die  Mauern 

In  das  Gedränge  enger  Gänge, 

Wenn  er  mit  Gebrüll 

Sie  zu  zersprengen  sucht. 

Wenn  sein  flatternder  ?^antel 

Gegen  die  Steine  klatscht. 

Wenn  er  in  rasender  Wut 

Stäbe  und  Gitter  packt, 

Sie  zu  zerbrechen!    — 

Wenn  sein  kalt-heißer  Atem- 

Durch  Ritzen  und  Scheiben 

Die  Haut  mir  streift. 

Das  Blut  mir  siedet. 


70 


—  Gerne  wohl  hör  ich  dich. 
Urbild  gewalt'ger  Kraft.  — 
Lieber  doch  wüßt  ich  Dich, 
Hört  ich  Dich,  fütilt  ich  Dich, 
Wärst  du  ein  Bote  mir 
Anderer  Kraft,  Volives  Kraft. 
Heulender  Sturrn  der  ^'acht, 
Nimmer  befreist  du  mich! 
Anderer  Kraft.  Volkes  Kraft 
Harre  ich  seinisuchtsvoll. 
Lausch  ich  voll  Ungeduld, 
Wann  wirst  du  künden  sie? 
Friedens-  und  Freiheitsschlacht, 
Kampfgebraus  auch  für  mich! 


Luckau,  2L  4.  17 
An  Vera 

Mein  liebstes  Geburtstagskindlein! 

Wenn  Du's  auch  erst  nach  dem  Geburtstag 
bekommst,  —  Du  sollst  doch  das  Zeichen  haben,  daß 
ich  heut  schon  an  Dich  gedacht  hab  und  am  24. 
daran  denken  werde  —  aber  was  will  ich  —  bin  ich 
in  meinen  Gedanken  nicht  immer  bei  Euch  allen, 
also  auch  bei  meiner  Vera? 

Einen  Geburtstagskuß  kriegtest  Du  am  Mitt- 
woch schon,  jetzt  schicke  ich  noch  einige  Dutzend 
nach,  —  just  so  viel,  wie  das  kleine  spröde  Fräulein 
vom  Papa  irgend  ertragen  mag. 

Und  die  Wünsche  sind  so  gewichtig,  ernst  und 
zahlreich,  daß  sie  aufzuzählen  dieser  Bogen  und 
noch  mancher  dazu  nicht  ausreicht.  Die  Geschenke 
und  die  Feier  werden  dieses  Jahr  freilich  noch  be- 
scheidener sein  müssen,  als  die  letzten  zwei  Jahre. 
Das  versteht  aber  Vera  . . .  und  sie  wird  schon  da- 
für sorgen,  daß  trotz  alledem  und  alledem  an  Freud 
und  Lust  herausgeholt  wird,  was  menschenmöglich. 
11  Jahre  alt  —  Eintritt  ins  12.1  Und  in  zwei  Jahren 
ein  Backfisch  (Back-,  nicht  Bock-).  Und  bald  — 
aber  das  ist  alles  nicht  auszudenken.  Bleiben  wir 
in  der  Gegenwart. 

Leider  kam  es  am  Mittwoch  zu  keiner  ruhigen 
Mitteilung  und  Unterhaltung  mit  Euch  Kindern.  So 
gern  hätte  ich  mir  von  Dir  und  Bobb  näheres  von 

71 


eurer  Frankfurter  Reise  berichten  lassen  und  was 
ihr  jetzt  lest  und  sonst  treibt. 

Bald  kommt  ja  euer  Brief,  —  in  etwa  zwei 
Wochen.  Schreibt  mir  da  alles  recht  genau:  Ge- 
burtstag, Reise,  Schule  (Stundenplan,  Schulbücher! 
Und  wie  euch  die  Lehrer  gefallen  und  was  ihr 
leistet),  wies  zu  Hause  geht  —  auch  von  Hilma,  die 
ihr  von  mir  grüßen  sollt!  Freundinnen  und 
Freunde,  Verwandte,  Bücher  usw.    Nicht  wahr? 

Es  ist  Samstag  Abend;  ein  Hagelschauer 
peitschte  eben  nieder;  jetzt  scheint  die  Sonne  —  die 
Vögel  zwitschern  vor  meinem  Fenster  —  Buntfink 
und  Star,  Rotkehlchen  und  Goldammern  (zizideeh), 
Amsel,  Drossel  und  Grasmücklein,  Meise  und  sogar 
Pirol  (Vogel  Bülow);  dazu  die  wilde  Taube  und 
dann  und  wann  auch  ein  Eulenschrei;  und  die  lusti- 
gen schwätzenden  Dohlen,  zuweilen  von  der  gräm- 
lichen Krähe  zur  Ordnung  gerufen.  — 

Ein  Hund  bellt  in  der  Ferne,  Kindergeschrei  und 
Gejubel  flattert  durchs  Gitter.  Freihch  s  e  h  e  ich  we- 
der Vögel,  noch  Hund,  noch  Kind. 

Und  kühl  ists.  Es  wird  wieder  düster,  neuer 
Hagel  droht.  Nun  zum  Teufel,  —  wir  lassen  uns 
den  Humor  nicht  verderben  —  nicht  wahr,  mein 
Kerlchen?  Ich  küsse  Dich  nochmals  und  nochmals. 
—  Alles,  alles  Gute  allen,  allen  Verwandten  und 
Freunden. 

Dein  Papa. 


Luckau,  22.  4.  17. 
Mein  liebster  Helmi! 
Ich  verkünde   Dir  eine    große   Freude,    große 
Freude  für  mich  und  ich  weiß,  auch  für  Dich:  der 
Herr  Direktor  hat  erlaubt,  daß  Du  mich  im  Mai 
einmal  extra  besuchen  darfst  und  daß  wir  uns  allein 
aussprechen  dürfen.     Ich  habe  um  diese  Erlaubnis 
gebeten,  weil   es  absolut  nötig  ist,  daß  wir  zwei 
uns  wieder  ganz  und  fest  zusammenfinden,  daß  das 
Vertrauen  zu  einander  gesichert  wird,  das  gerade 
in  unserer    heutigen  Lage  und  in  Deinem    jetzigen 
Sonn-Wend-Zustand   Lebensnotwendigkeit  ist.     Ja, 
Du,    mein    Aeltester,    auf    den    ich    und    so    viele 
andere    so    große    Hoffnungen    setzen.    Du    darfst 

72 


mir  nicht  fremd  werden,  nicht  mit  einer  Faser. 
Und  Du  darfst  Dich  nicht  verirren  in  der  Wildnis 
als  die  Dir  jetzt  plötzlich,  fast  unvermittelt,  Welt 
und  Leben,  das  Aeußere  und  das  Innere,  Aus-  und 
Inweit  gegenübertreten.  Du  wirst  Dich  mir  ganz 
geben,  wie  Du  bist,  mit  allen  Deinen  Gedanken  und 
Gefühlen  —  mir  —  Deinem  Vater,  der  das  alles, 
alles,  mags  auch  verworren,  dumm,  schlecht  und 
wer  weiß  was  scheinen,  ganz,  ganz  versteht  und 
Dich  lieb  liat,  wie  ein  Vater  seinen  Sohn  nur  lieb- 
haben kann. 

Den  Tag  des  Besuches  kannst  Du  wählen  — 
Mitte  iMai  vielleicht;  Du  kannst  mir  dann  ja  gleich 
neuen  Vorrat  mitbringen,  wenn  auch  schon  vorher 
noch  einmal  geschickt  v/erden  mag,  falls  Entbehr- 
liches aufzutreiben  —  denn  es  ist  unsäglich,  wie 
rasend  -  schnell  scheinbar  große  Massen  ver- 
schwinden in  einem  Magen,  gegen  dessen  Hunger 
der  hungrigste  Soldatenmagen  wie  ein  Fingerhut 
ist  gegen  das  Heidelberger  Faß;  was  ihr  brachtet 
am  Mittwoch.,  ist  heut  schon  fast  vertilgt  und  ein 
Teil  des  Brots  dazu.  Mit  Kuchen,  Pudding  ists 
besonders  toll.  Wie  alles  geschmeckt  hat!  ich  kanns 
nicht  beschreiben.  Sagt  den  Spendern  und  Ver- 
fertigern, daß  ich  ihnen  intensivst  danke.  Im  übrigen 
ist  mir  mit  Fischwurst  und  dergleichen  keineswegs 
Scherz  gewesen.  Auf  Ouälität  kommts  mir  wahr- 
lich nicht  an.  Man  weiß  niclit,  vVie  lang  die  Ge- 
legenheit dauert  —  il  faut'  en  profiter. 

Noch  einiges:  Bald  ist  der  Jahrtag  des  BerJnns 
meiner  Muße  (l^er  1.  Mai.  F.  P.).  —  Ich  hoffe,  die 
Freunde  werden  ihn,  trotz  meiner  Abwes^-nheit, 
feiern  —  sag  ihnen  dies  —  und  sag  ihnen  —  ich 
rufe  I^^iducit!  und  wie  gerne  wäre  ich  dabei! 

Sorge  macht  mir  noch  die  Zeitun?rsfrage.  Vv'eißt 
Du  denn,  wie  und  wo  Du  die  zurückgesandt-^n 
Zeitungen,  während  Sonjas  Reise  zu  behandeln  hast, 
wo  aufriuhcben,  damit- nichts  verloren  geht  —  Du 
darfst  nie  vergessen,  wie  wichtig  mir  gerade  jetzt 
die  Zeituiir:?n  sind  —  für  jetzt  und  später,  nach  dem 

4.     11.     19?f:. 

Ich  küsse  Dich  und  Euch  alle. 

Dein  Papa. 

73 


Luckau,  22.  4.  17. 

Liebste  —  Liebste! 

Erst  heut  —  ich  wollte  den  Besuch  abwarten, 
der  Mittwoch  (18.)  stieg  .  .  .  Aber  umso  Tröst- 
licheres denke  ich  sagen  zu  können. 

Zuvörderst:  Dein  Brief  —  vom  6,  schon!  —  ist 
so  gut  und  hat  mir  so  ganz  innerlich  wohlgetan.  Du 
kannst  (gesegnet  sei's)  keine  „schönen"  Briefe 
künstlich  machen:  das  meint  Deine  Selbstkritik  in 
diesem  Punkte.  Aber  das  was  wahr  ist  und  wirklich, 
klar  und  warm  und  mit  dem  ganzen  Zauber  der 
Unmittelbarkeit  und  in's  unfaßbar  Primitive  ab- 
getönt auszudrücken,  das  gehört  zu  Deinen 
ganz  eigenen  Kräften,  die  umso  stärker  wirken,  je 
unbewußter,  je  von  Dir  selbst  bestrittener  sie  sind. 
Das  blaue  Lupinenfeld  bei  Heidelberg  und  meine 
Sonitschka  mit  ausgebreiteten  Armen,  überwältigt 
von  Entzücken,  Seele  und  Leib  eine  selige  Emp- 
findung —  das  ist  mir  das  Sinnbild  Deines  Wesens 
seit  jenem  Tag;  und  war  mir  das  Sinnbild,  schon  ehe 
sichs  ereignete. 

Ich  freue  mich  Deiner  günstigen  Nachricht  über 
das  Sanatorium,  und  bin  gewiß:  v/enn  Du's  tüchtig 
und  konsequent  ausnutzest,  wird  Deine  gesunde 
Natur  bald  mit  all  dem  Krankheitsgezücht  Kehraus 
machen;  und  beim  nächsten  Besuch  in  meiner  Stadt 
Luckau  wird  mir  ein  pausbäckiger  Backfisch  an  den 
Hals  springen.  —  Am  L3.  März  warst  Du  da  — 
übermorgen  sinds  sechs  Wochen!  So  stürmt  die 
Zeit  mit  verhängtem  Zügel!  Du  warst  so  jung,  so 
mädchenhaft  an  diesem  Tag,  so  wie  ich  Dich  früher 
immer  sah  —  so  glücklich  strahlend  im  Bück  — 
weggeblasen,  weggetaut  in  dieser  Sonne  der  Rauh- 
reif der  bösen  Falten.  Du  kannst  und  wirst 
1920  wieder  und  noch  immer  mein  Mädchen 
sein.      1920  .  —    am     3.     November     ist    Schluß. 

—  Heut  sind  170  Tage  der  Strafe  herum  — 
170  von  1460.    Noch  sind  7^2  mal  soviel  als  bisher 

—  und  wir  haben  uns  wieder.  Und  in  8  Tagen 
sitze  ich  ein  volles  Jahr!  Wie  rasch  ists  doch  ver- 
strichen! So  darfst  Du  Dich  nicht  bekümmern  — 
sondern  nur  hoffen  und  entschlossen  den  Kümmer- 
nissen, die  von  anderer  Seite   auf  Dich   geworfen 

74 


werden,  Trotz  bieten:  als  hättest  Du  Siegfrieds 
Schild. 

Du  hast  vieles  erledigt  —  Geschäftliches  meine 
ich  —  wovon  Du  schreibst.  Hast  Du  aber  auch  ge- 
sorgt, daß  Alice  oder  Helmi  Bescheid  wissen,  was 
sie  mit  den  Zeitungen  zu  tun  haben?  Damit  nichts 
verloren  geht  und  etwa  Aerger  erwächst?  Nun,  ich 
hoffe! 

Mit  StahP)  machst  Du  zu  viel  Wesen.  Er  ist  ein 
schmutzig  kleines  Lumpchen,  dessen  Rolle  so 
jammervoll  ist,  daß  er  einen  wahrlich  fast  dauern 
möchte.  Ueberbhck  einmal  sein  „Glück"  —  nie  war 
ein  Erfolg  vor  aller  Augen  so  brennend  gezeichnet. 
—  Was  Du  von  Rußland  schreibst  —  wie  Recht 
hast  Du!  —  kann  ich  ja  leider  nicht  beantworten; 
Du  weißt  ja  aber,  was  ich  sagen  möchte 

Ich  las  in  letzter  Zeit  sehr  viel  —  zum  Aus- 
arbeiten kam  ich  dagegen  fast  gar  nicht,  war  auch 
zu  kaputt  dazu.  Viel  von  Lessing,  daneben  Ge- 
schichte und  Philosophie.  Den  Bernheim  und  Wolt- 
mann  hab  ich  jetzt  auch.  Von  Hebbel:  Epigramm: 
ein  Erfahrungssatz:  „Leicht  ist  ein  Sumpf  zu  ver- 
hüten, doch  ist  er  einmal  entstanden,  so  verhütet  kein 
Gott  Schlangen  und  Molche  in  ihm".  Erinnere  bitte, 
Franz  und  Lene-)  gelegenthch  an  dieses  wichtige 
Distichon. 

Daß  Du  Klara  trafst,  freut  mich  sehr.  Grüße 
sie  herzlichst  von  mir. 

. . .  Habt  Ihr  im  Sanatorium  eine  gute  Bibliothek? 
Das  ist  so  wichtig.  Was  treibst  Du  den  ganzen 
Tag?  Schreib  mirs  bald  und  recht  genau!  Der 
Arzt  hat  mir  noch  nicht  geschrieben;  ich  erwarte 
seinen  Brief  und  recht  bald.  Die  Sehnsucht  nach 
Heiner  Mutter  peinigt  Dich  in  der  Ruhe  de«^ 
Sanatoriums  und  in  der  neuen  Situation  ihrer  Um- 
gebung gar  leicht  noch  mehr  als  sonst.  Ich  ver- 
stehe das  so  gut,  obwohl  Du  über  mein  „Ver- 
ständnis" spottest 


^)  Stahl  —  der  mehrheitssozialdemokratische  Nachfolger 
K.  L.'s  im  Reichstag. 
')  Leo  Jo^r'ches. 

F.  P. 

75 


Am  Mittwoch  waren  die  Kinder  mit  Alice  und 
Wims  bei  mir.  Das  Näliere  leliren  die  anliegenden 
Briefe  und  Zettel  —  Bobb  hat  den  ganzen  Plisch 
und  Plum  von  Busch  höchst  amüsant  nachgezeichnet 
und  mir  gebracht.  Ich  würde  ihn  Dir  schicken, 
hätte  ich  die  technische  Möglichkeit.  —  Nun  noch 
einiges  Persönliche:  Meine  Zähne  werden  mir  hier 
von  einem  als  tüchtig  anerkannten  Zahntechniker 
zurechtgemacht  —  was  mir  sehr  beruhigend  ist, 
denn  in  den  Backen  wirds  verflucht  knapp  bei  mir. 
Und  weiter,  was  Du  wohl  schon  von  AHce  weißt, 
die  ich  bat,  Dir  meinen  Brief  zu  schicken  —  Dein 
Wunsch  ist  verwirklicht  —  es  ist  seit  ganz  kurzem 
erlaubt,  Nahrungsmittel  aller  Art,  auch  Torten, 
Kuchen  und  sonstige  Süßigkeiten,  mögen  sie  Dir 
noch  so  schlecht  scheinen  —  auf  die  ich  ja  voll- 
kommen und  unersättlich  verrückt  bin,  zu  schicken 
—  unglaublich,  was  man  da  leisten  kann.  Am  Mitt- 
woch brachte  die  Gesellschaft  eine  ziemhche 
Masse  —  heute  schon  ists  fast  alles  hinüber,  hin- 
unter und  noch  kein  Loch  verstopft  —  vor  allem 
kein  Kuchen-Loch  —  das  klafft  noch  alles  uner- 
gründlich —  mehr  noch  als  je  bei  einer  Rückkehr 
vom  Felde.  Natürlich  wird  nach  und  nach  ein  Be- 
harrungszustand eintreten.  —  Ich  weiß  nicht,  ob  Du 
in  München  Gelegenheit  findest,  dergleichen  zu  be- 
sorgen. Wer  weiß,  wie  lang  die  Tür  offen  bleibt  — 
es  gilt  jetzt.  Jede  Woche  mag  geschickt  werden  — 
wenns  geht. 

Ich  schicke  dies  als  Eilbrief,  damit  Mausi  den 
Geburtstagsbrief  recht  rasch  kriegt.  Lies  Du  aber 
•die  anliegenden  Briefe  ruhig  und  genau  durch;  sie 
ergänzen   den  an  Dich  gerichteten  Brief. 

Der  Herr  Direktor  hat  Deinen  Brief  bekommen. 
Er  lüßt-fMr  sagen,  daß  Du  Dich  auf  sein  Wohlwollen 
verlassen  und  beruhigt  halten  kannst. 

Schreibe  bald  —  ich  bitte  —  über  alles  —  pfleg 
Dich  nach  allen  Regeln  der  Kunst  und  sorg  Dich 
niclit  um  Deinen  Karolus.  der  sich  schon  durchhauen 
wird  un.d  Dich  umarmt  und  küßt  und  seiner  Herz- 
liebsten alles  alles  Beste  wünscht. 

Wenn  Du  Deiner  Mutter  oder  Adolf  schreibst, 
grüße  sehr. 

76 


Ich  bin  wohler,  obwohl  es  noch  so  entsetzlich 
kühl  ist,  Hagel  und  Schnee  schauert.  Aber  die  Vögel 
sind  mobil  vor  meinem  Fenster  und  nie  in  meinem 
Leben  hatte  ich  dauernd  vor  morgens  —  „ehe  die 
Hähne  krähn"  (so  früh  stehe  ich  auf)  bis  abends  zur 
Dunkelheit  so  köstUche  und  bunte  Musik  wie  jetzt. 
Wärst  Du  bei  mir,  wie  würdest  Du  Dich  freuen, 
wenn  wir  auch  keinen  Baum  und  keinen  Vogel 
sehen  würden. 


Luckau.  iL  5,  17. 

Mein  liebstes  Liebstes! 

Mein  Brief  ist  wie  lang  schon  bei  Dir  —  und 
darin  die  Bitte  um  ein  rasches  Lebenszeichen.  Und 
der  8.  Mai  —  als  Stichtag  für  den  Dreimonatsbrief  — 
ist  herum  und  l^^ßine  Nachricht  von  Dir!  —  Ich  bin 
so  unruhig!  Einiges  über  Dich  hörte  ich  ja  bei  dem 
jüngsten  Massenbesuch  (18.  4.),  auch  etwas  aus  den 
Briefen  der  übrigen,  die  am  6.  in  meine  Hände  kamen. 
Einiges  wird  mir  ja  auch  Helmi  heute  sagen,  der  mich 
übrigens  nicht  aliein  (ohne  Aufsicht)  sprechen 
darf,  aber  in  Gegenwart  des  Herrn  Direktors  selbst, 
auf  seinem  Amtszimmer,  so  daß  wir  uns  ruhig  werden 
aussprechen  können.  Ich  hoffe  ihm  (Helmi)  dies  für 
Dich  mitgeben  zu  dürfen. 

Liebste,  Liebste,  warum  schreibst  Du  nicht?  Ich 
bin  so  ganz  in  allen  Gedanken  bei  Dir.  und  bei  allem 
in  dieser  köstlichen  Maizeit  knüpfen  sich  die  Fäden 
zu  Dir. . . .  Dieses  Konzert  jetzt  vor  meinem  Fenster 
jji'seits  der  Gitter,  der  Stäbe.  —  Wie  mag's  bei  Dir 
in  Ebenhausen  aussehen?  Wie  liegt's?  Bitte,  bitte 
schreib  sclinell,  schnell!  Du  mußt  noch  lange 
bleiben!  — 

Ein  Paket  von  Dir  mit  einem  Kuchen,  Früchten 
und  Lachs  traf  ein.  vortrefflich  alles.  Dank,  Dank! 
Der  A:\^-.tit  i^t  nicht  zu  schildern.  Es  ist  eben  ein 
großes  Mankoaus  langer  Zeit  zu 
decken.  Es  braucht  Monate.  —  v%'er  Soldat  war, 
versteht  das  —  es  geht  nicht  im  HandumdreiiL-n! 

77 


Refrain:  schreib,  schreib,  schreib.  —  Und  um 
mich  keine  Sorge:  Denk  an  Dich.  Hast  Du  Nachricht 
von  Deiner  Mutter?  Und  Adolf?  Schreiben  die 
Kinder  regehnäßig? 

Welche  Sehnsucht  ich  nach  Dir  habe!  Wann 
werde  ich  Dich  wiedersehen?  Schreib  bitte  sofort 
und  gut  und  lang,  bitte!  Hast  Du  Gesellschaft  ge- 
funden? Läufst  Du  viel?  Ueberhaupt,  wie  lebst 
Du?  Denkst  Du  an  mich  oder  hast  Du  mich  ver- 
gessen? Hast  Du  mich  noch  lieb?  Alles  mußt  Du 
schreiben.  —  Ich  küsse  Dich  tausendmal.  Du,  Meine! 
Und  umarme  Dich. 

Dein  Karlouscha. 


Luckau.  26.  5.  17.      ^ 
am  204.  Tag  der  Strafvollstreckung. 

Meine  Liebste!  , 

Heute  darf  ich  schon  extra  schreiben,  wegen  der 
Holland-Frage.  Die  Reise  erfordert  ja  viele  Vor- 
bereitungen, Korrespondenz,  Paß,  und  last  not  least 
Verständigung  mit  den  Kindern,  die,  wenigstens 
Bobb,  bereits  im  Begriff  sind,  andere  Dispositonen  ab- 
zuschließen (mit  Landesberger  und  einigen  anderen 
über  eine  lange  Wanderung,  gegen  die  ich  an  sich 
Bedenken  trage).  Ich  meine:  auf  alle  Fälle  „Ja!" 
Und  zwar  für  alle  drei.  Ich  rechne  doch  damit,  daß 
auch  Helmi,  für  den  es  mir  fast  am  wichtigsten  ist, 
einen  Paß  bekommt.  Er  ist  doch  erst  16.  Haupt- 
gründe für  das  „ja":  die  Ernährung  und  die  Erweite- 
rung des  Erfahrungskreises.  Das  letzte  besonders 
Vv^ichtig  für  Helmi,  der  noch  nie  im  Ausland  war. 
Zweifellos  heißt  Arnheim  (ein  nettes  Städtchen,  Du 
kennst  es  wohl  auch)  nicht  nur  Arnheim,  sondern 
auch  Amsterdam,  Rotterdam,"  Haag,  Utrecht  und 
noch  dies  und  das.  Ueberall  dort  sind  Freunde.  In 
Amsterdam  wird  Wibaut  sein  Haus  mit  Wonne 
öffnen,  und  es  ist  ein  reizendes,  behagliches  Haus. 
In  Hilverssum  —  Roland-Holst. 

Wenn  den  Jungen  die  Sache  recht  vorgestellt 
wild,  werden  sie  einsehen,  daß  alle  „niederen"  und 

78 


„höheren"  Interessen  das  Ja  kommandieren.  Und 
auch  Mäuschen's  nickelstahipanzerglatter  umgür- 
teter  Sinn  wird  mit  guten  Argumenten  sturmreif  ge- 
schossen werden  können.  Die  Sprache  werden  die 
Kinder  rasch  lernen  —  scheint  mir  — .  Also  auf  alle 
Fälle:  ja  —  ich  hoffe,  nous  sommes  d'accord  und  Du 
wirst  das  nötige  von  Ebenhausen  aus  veranlassen. 

Daß  Du  noch  bis  Mitte  Juni  bleibst,  ist  recht  — 
übrigens  heißt  das  ja  nur  noch  zwei  bis  drei  Wochen! 
Die  Frische  Deines  Briefes!  Er  war  und  ist  mir  ein 
Labsal,  eben  hab  ich  ihn  zum  sechsten  oder  siebenten 
Male  durchgelesen,  schon  kann  ich  ihn  fast  aus- 
wendig und  doch  les  ich  ihn  immer  wieder.  Mit  den 
Zügen  Deiner  Handschrift  geschrieben,  klingt  mir 
alles  viel  mehr  von  Dir  wie  im  Ton  Deiner  Stimme. 
Und  viel  lebendiger  noch  seh  ich  Dich  dann  vor  mir! 

Um  alles  in  der  Welt  —  so  viel  Wesen  um  die 
Tortenfrage!  Der  Kuchen,  von  dem  Du  mir 
erzähltest  und  von  dem  mir  im  April  ge- 
bracht wurde,  ist  mir  schon  wegen  seiner 
Konsistenz  mindestens  so  lieb,  denn:  auf 
Quantität  kommts  doch  in  erster  Linie  an, 
Qualität  tritt  ganz  zurück:  „Dreck  wird  er  fressen 
und  mit  Lust" ...  —  Otto  Bracke's  Idee  vom  Kochen, 
Wärmen  usw.  ist  natürlich  Illusion;  das  kannst  Du 
ihm  schreiben.  Dein  Paketchen  kam  und  erregte 
Entzücken.  Verzeih,  wenn  ich,  ganz  wider  Absicht, 
Dir,  Deiner  Freundin  und  Herrn  Dr.  Marcuse  nebst 
Gemahlin  Scherereien  gemacht  habe. . . .  Verzeih, 
wenn  ich  Dich  mit  diesen  elenden  Freß-Geschichten 
im  Geringsten  gestört  habe  —  für  einige  Zigarren 
täglich  gab  ich  all  das  Zeug  hin  —  und  für  andere 
Dinge  noch  hundertmal  mehreres  und  tausendmal 
lieber. 

Und  was  redest  Du  von  „Leiden"?  Woran  ich 
„leide",  das  weißt  Du  besser. . . .  Was  soll  mir  das 
Geschwätz  in  einem  fr<mzösischen  Roman,  was  über- 
haupt das  Gered  anderer  Leute!  Das  Gurren  der 
wilden  Taube  das  zu  uns  dringt,  das  ist  etwas! 
Kennst  Du  diesen  merkwürdigsten  aller  Waldtöne 
dieses  klage  d-sehnsüchiige  Guuur-  gu-  gu-  gu-  (etwa 
3  Noten  tiefer)  —  Guur-  gu-  gu-  gu  usw.,  das  die 
Weite  unter  seinen   Bann   zwingt   —   trotz  Pirol  und 

79 


Amsel  und  Drossel  —  und  trotz  des  munteren 
„Laubsängers",  der  mich  im  Bund  mit  dem  Buch- 
finken aus  nächster  Nähe  beglückt,  während 
die  Kling-Klirr-Schnalzmeisen,  die  Zizi  dä-Gold- 
ammern  und  die  Schwalben  sich  ferner  halten  und 
nur  zeitweise  Gastrollen  geben:  die  Schwalben  bei 
ihrem  abendlichen  Jagd-  und  Hasch-Wirbel-Rund 
flug  besonders.  Zuweilen  kommt  auch  ein  kleiner 
Freund  durch  mein  Gesichtsfeld  gehuscht  —  einen 
Augenblick  —  und  wenn  ich  mach  ganz  dicht  ans 
Gitter  drücke,  seh  ich  ein  Paar  Zweige.  Das 
Dohlengeplapper    hat    aufgehört,    sie    leben    jetzt 

en    famille,     zu    zweien —     In     den    Isar- 

wäldern  und  -Büschen  muß  es  doch  von  Vögeln 
wimmeln,  auch  von  wilden  Tauben.  —  Liebste  — 
achte  auf  sie,  laß  Dich  von  Kundigen  belehren,  ihr 

Ruf   wird    ein  Erlebnis    für  Dich  werden! Du 

schreibst  nichts  von  der  Farbe  des  Isarwassers,  die 
mich  so  berückte.  Ist  sie  Dir  nicht  nah?  Oder  bist 
Du  durch  die  Schweizer  Kalkgewässer  —  Reuß- 
Rhöne  —  so  verwöhnt? 

Von  München  bekam  ich  für  mein  Leben  ent- 
scheidende Fi?':fl''sse,  1889,  achtzehnjährig,  er- 
wachend, aufatiiirTid,  enthusiastisch,  die  ganze  Welt 
in  mich  einsS'ugCiid  und  durchglühend,  ein  Regen- 
bogen alles  Sein.  Die  Pinakotheken  waren  wochen- 
lang meine  Heinint Und  von  dort  zum 

ersten  Mal  nach  Oberbayern  über  Starnberg,  Kochel, 
Benediktenwand,  Walch^nsee,  Merzogstand,  Par- 
tenkircii  'I;,  Garinisch,  Mittenwald,  Eibsee  --  später 
(1890)  Zugspitze,  Eibsee,  Hohenschwangau,  Ammer- 
see. —  Du  mußt,  jed'nfails,  vor  der  Heimkehr,  einen 
Abstecher  ins  Oberland  machen. 

Wie  gut,  daß  Du  Dir  den  Kopf  so  über  die 

Ferien  der  Kinder  zerbrichst,  die  in  Deiner  Obhut  so 
sicher   up.d    treu  bewahrt  sind,    wie  in  Abrahams 

Schoß. 

« 

Rosa  grüß  herzlichst  und  danke  für  die  Be- 
lehrung'.^) 


^)  Rosa  Luxemhnr?:  schrieb  mir.  ich  möge  K.  L.  den  Namen 
des  Wendehals  mitteilen,  eines  Vogels,  den  wir  alle  drei  zu- 
sammen mal  schürt  haben  und  dessen  Name  iiir  erst  später  im 
Gefängnis  einfiel.  S.  L. 

80 


Alles  weitere  im  normalen  Brief  in  14  Tagen. 
Schreib  den  Berlinern,  daß  sie  erst  in  14  Tagen 
meinen  Brief  bekommen. 

...  Ja,  wie  selig  war  ich  mit  Dir  in  München  und 
im  Isartal,  ja,  wie  selig  war  ich  mit  Dir  ohne  München 
und  Isartal!  Im  Zuchthaus,  meinethalb  —  wann 
werd  ich  Dich  wiedersehn? 

Ich  küsse  und  umarme  Dich  und  drücke  Dich 
an  meine  Brust,  geüebte  Mulattin,  sei  mir  gut,  erhole 
Dich,  geh  spazieren,  bleib  tapfer.  Schreib  bald  wieder 

Deinem  Karolus. 


Luckau,  d.  10.  6.  17. 
(Am  219.  Tage  der  Strafzeit,      1      ist  rum!) 

6,666 
Meine  Liebste! 

Spät  schon  ists  heut  —  nach  6  Uhr ;  sonst  stehe 
ich  um  4^2  oder  4'Vi  auf;  vom  offenen  Fenster  eine 
frische  kraftgeschwängerte  Luft  und  ein  „Jubelchor 
von  Sängern",  dessen  Herrlichkeit  und  Süße  von 
keiner  Sprache  gefaßt  werden  kann.  Von  Sängern, 
die  ganz  dicht  bei  mir  und  doch  wiegeln  verdecktes 
Orchester,  oder  die  berühmten  Musici  hinter  den 
Kulissen  meinem  Blick  verborgen  sind,  —  sodaß  ich 
leider  gar  so  vieler  Töne  Künstler  nicht  namentlich 
bestin;men  kann.  Aber  gewiß:  sobald  ich  frei  bin, 
begebe  ich  mich  zu  einem  Waldvogelsangs-Kundi- 
digen  in  die  Lehre  und  streife  mit  Dir  und  ihm  — 
Frühjahr  1921  —  in  die  einsamsten  Wälder. 

Ich  beeile  diesen  Brief,  damit  er  Dich  jedenfalls 
noch  in  Ebeühausen  trifft,  ich  kann  nur  nochmals 
bitten,  daß  Du  die  Erltolung  länp.stmöglichst  aus- 
dehnst und  mit  einer  Qebirgsfahrt  umrankst.  Irgend 
ein  Lebenszeichen  hätte  ich  nach  meinem  Bri-ef  so 
gern  gehabt.  Ich  bin  unruhig  —  freilich,  ein  ordent- 
licher Schreibtermin  ist  jetzt  nicht  für  Dich,  und 
doch,  ich  bin  unruhig.  Es  geschielit  soviel  in  der 
Welt,  wovon  ich  nichts  weiß.  Wie  berührts  Dich? 
Wie  erträgst  Dus?  Ich  möchte  Dich  halten,  die 
Last  Deiner  stündlichen  Sorgen  und  Aengste  tragen 
helfen.  In  einem  Monat  werden  wir  uns  seh^n. 
Nochmals:  Du  weißt,  daß  in  ernstdringenden  Fällen 

6  81 


Du  außer  der  Zeit  schreiben,  auch  telegraphieren  und 
besuchen  kannst. 

Meine  geistige  Beschäftigung  ist  diese  Tage 
recht  zerspUttert  —  ein  Zufall  trieb  mich  vor  ein 
paar  Wochen  bis  in  Auerbachs  Schwarzwald-Dorf- 
geschichten. Die  Fadheit  sitzt  mir  noch  auf  der 
Zunge.  Eine  interessante  Bekanntschaft  bildet  der 
enghsche  Moralist  Samuel  Smiles  (dessen  „Pflicht" 
ich  hier  fand):  ein  Zitaten-  und  Anekdotensack,  un- 
erschöpflich, wie  Fortunats  oder  Schlemihls  Säckel. 
Zitate  aus  dem  ganzen  weiten  Bereiche  der  eng- 
lischen Literatur,  Anekdoten  oft  bedeutenden  Sinnes, 
zuweilen  plutarchischen  Charakters,  zur  Nacheife- 
rung in  allen  erdenklichen  „Tugenden"  der  üblichen 
Art,  Anekdoten,  deren  historische  Beglaubigung 
mehr  als  halbdunkel  bleibt  und  durch  die  Tendenz 
noch  mehr  ins  Nebelhafte  gerückt  wird.  Aber  ein 
interessanter  Typ,  den  man  kennen  muß.  —  Und 
dann  Kleist  und  —  Tieck,  dessen  ich  endlich  habhaft 
wurde.  Hier  findest  Du  den  Stammvater  der  deut- 
schen Romantik  in  ihren  verschiedenen  Gestaltungen 
—  von  der  „mondbeglänzten  Zaubernacht"  und 
Genoveva,  ja  vom  noch  früheren  blonden 
Egbert,  getrejuen  Ekkard  und  den  satyrischen 
Stücken  —  '"ä  la  gestiefelter  Kater  (in  dem 
ich  ein  von  meiner  Mutter  oft  genanntes  geist- 
reich heiteres  Werkchen  endlich  selbst  kennen 
lernte),  bis  zu  den  Novellen  und  kritischen  Aufsätzen, 
die  voller  Anregung  —  auch  für  uns  noch,  sind 
(z.  B.  über  V/allenstein,  Prinz  von  Homburg  und 
Kätchen  von  Heilbronn,  vor  allem  „Charaktere  in 
Hamlet").  Wir  quälten  uns  einmal  mit  einer  bei  Re- 
klam  erschienenen  Novelle  (ich  glaube  „Gesellschaft 
auf  dem  Lande"),  sie  schien  uns  unmöglich  —  ent- 
sinnst Du  Dich?  Jetzt  fand  ich  sehr  reizvolle,  z.  B. 
„Die  Verlobung",  „Der  Abschied"  —  eine  kon- 
zentrierte Tragödie  —  fast  Stella  vergleich- 
bar. Den  „Aufruhr"  las  ich  vor  25  Jahren,  als 
ihn  mein  Vater  im  Vorwärts  abdruckte.  Ich  bin 
sicher.  Du  wirst  mit  Tieck  in  Kontakt  kommen,  je 

mehr  Du  mit  Hölderlin  vertraut  bist Denkst  Du 

noch  jener  Juninacht  im  Tiergarten,  Du  —  ein 
schwarzes  Eichkätzchen  auf  dem  Baum  —  „mond- 
beglänzte  Zaubernacht".  —  Mir  deucht,  die  Roman- 

82 


tik  wird  nach  dem  Kriege  iu  den  Mittelschichten 
und  der  idealistischen  Intelligenz  zur  Hypertrophie 
gedüngten  Boden  finden,  wie  vor  den  Märztagen  — 
wenn  nicht  alles  anders  kommt. 

....  Mein  Befinden  ist  in  Ordnung  —  den  ganzen 
Tag  am  offenen  Fenster  Freiübungen,  jeden  Morgen 
kaltes  Abreiben,  jeden  Abend  Frottieren  —  so  findet 
man  sich  mit  den  physischen  Schwierigkeiten  des 
Eingesperrtseins  am  ehesten  ab.  Mir  scheint  sogar 
meine  Hautfarbe  recht  gut,  Du  weißt  ja,  daß  ich  un- 
geheuer leicht  braun  werde.  Wenn  Du  mich  wieder- 
siehts,  sollst  Du  beruhigt  sein;  am  Ende  v/erde  ich 
mich  dann  bis  zum  normalen  Zustand  gepäppelt 
haben.  In  meiner  Hauptarbeit  („Bewegungs- 
gesetze") stocke  ich.  Die  Grundlagen  sind  im  ersten 
Entwurf  längst  fertig  —  aber  chaotisch.  Jetzt  gilts 
ordnen, '  gliedern,  ausbauen.  Das  reizt  mich  stets 
weniger  als  das  erste  Produzieren,  das  Herausspru- 
deln, das  eigentliche  Zeugen  und  Gebären  und  im 
Gegensatz  zu  jenem  Ordnen,  das  ich  als  ein  Er- 
ziehen   bezeichnen    möchte Wann    wirst    Du 

wieder  in  Berhn  sein?  Orientiere  micli,  wenn  auch 
mit  einem  Wort,  einer  flüchtigen  Karte Scheuß- 
lich —  ich  möchte  noch  so  viel  "schreiben  —  aber  der 
Brief  muß  fort,  —  ich  sehne  mich  sehr  nach  Dir, 
Liebste;  viel,  viel  mehr,  als  Du  Dich  nach  mir. 

....  Ich  küsse  Dich,  komm,  laß  mich  den  Kopf  in 
Deinen  Schoß  legen  und  lange,  lange  ruhen. 

Könnte  ich  jetzt  hinaus  und  arbeiten  —  Kreuz  — 
nun,  gehab  Dich  ruhig,  unruhiges  Herz. 

Noch  einmal  Liebling,  leb  wohl  —  leb  wohl. 
Denk  an  mich,  gerade  wenn  die  „bösen  Geister" 
über  Dich  fallen,  f^erade  dann  am.  meisten  —  und 
linde  Festigkeit,  Sicherheit  im  Gedanken  an  mich,  im 
Vertrauen  auf  mich  —  alles,  alles  Gute  und  meine 
Küsse  und  Zärtlichkeit  dazu. 

Dein  Karl. 


Ich  brauche  dringendst  etwas  Salz;  wir  be- 
kommen seit  Monaten  kein  Körnlein  mehr!  Ich  bat 
schon  neulich!    Du  oder  Alice,  bitte. 

*6  83 


Luckau,  10.  6.  17. 
(am  219.  Tage;  vorgestern  V2  Jahr  hier!) 
Liebster  Helmi! 

Nur  l\urz  heut  —  es  fehlt  die  Zeit. 

Holland!  Ich  weiß,  ihr,  besonders  auch  Du, 
werdet  mit  Begeisterung  einschlagen.  Vom  schon 
Geschriebenen  abgesehen:  ihr  kommt  durchs 
Industriegebiet  —  jedenfalls  muß  die  Bahnfahrt 
über  Dortmund — Essen  genommen  werden  und 
wenn  Ihr  nicht  aussteigt,  das  Umsehen  allein  schon 
gibt  kolossale  Eindrücke  (überhaupt  bei  der  Bahn- 
fahrt dauernd  zum  Fenster  hinausschauen  —  und 
zwar  nach  beiden  Seiten).  Auf  der  Rückfahrt 
eventuell  Cöln  mit  dem  Dom,  den  hochwichtigen, 
uralten  romanischen  und  vorromanischen  Kirchen 
—  und  eine  Rheinfahrt  —  und  wenn  nur  bis 
Bonn  —  der  Rhein  ist  der  schönste  Fluß  der  Welt, 
trotz  des  Hudson  — . 

Aber  nur  eventuell  —  kein  Bestehen  darauf  — 
wenns  Schwierigkeiten  macht  —  denn  die  Haupt- 
sache, bleibt  Holland,  wegen  der  Ernährung  und 
des  Landes  selbst.  —  Wenns  nur  mit  dem  Paß 
gelingt. 

Nun  zu  Deinem  Brief  vom  3.  5.:  Deine  Astro- 
nomiestudien scheinen  sich  nur  auf  Sternentopo- 
graphie zu  erstrecken.  Das  ist  auch  wundervoll, 
aber  nicht  genug:  es  wird  erst  lebendig,  wenn  man 
die  Bahnen,  die  Bewegungen,  die  Entfernungen,  die 
chemischen  Zusammensetzungen,  die  Spektral- 
analyse und  ihre  Leistungen,  die  physikalischen  Ge- 
setze kennt  —  soweit  wir  sie  bisher  kennen  — 
die  naturwissenschaftliche  Einsicht  steigert  auch 
den  ästhetischen  Genuß.  Kant  nennt  den  Sternen- 
himmel über  uns  und  das  moralische  Gesetz  in  uns 
die  beiden  erhabensten  Erscheinungen.  —  Betrachte 
mit  dem  Opernglas  (das  ich  in  Olatz  vortrefflich 
astronomisch  .  verwenden  konnte)  die  nördliche 
Krone  und  ihre  Umgebung  —  da  gibt  es  auch  Ueber- 
rasc;iUnL;ji],  wie  bei  den  Plejaücn.  Es  konmit  frei- 
lich iiiiiiier  ganz  auf  die  Klarheit  der  Luft  an  — 
von  der  der  Gianz  abhängt. 

Kopf  hoch!     Bald  sehen  wir  uns.  —  Denk  an 

mich  und  wie  heb  ich  Euch  habe.  —  Ich  küsse  Dich 

vielmals.  Dein  Papn.  dems  gut  geht  und 

dem  alle  Vögel  singen. 
84 


An  Vera  in  Sellin  (Ostsee) 

Luckau,  27.  7.  17. 

Mein  Mäuschen! 

Dank  für  Dein  Brieflein.  Da  gehts  ja  munter 
her  —  viel  lustiger  als  in  der  Weltgeschichte.  Und 
der  damals  schönste  Tag  wird  hoffentlich  inzwischen 
längst  übertroffen  sein. 

Nicht  nur  die  See  ist  dort  schön.  Auch  der  Wald 
und  die  Höhen  —  die  Granite,  die  herrlichen  Buchen! 
Putbus  —  mit  den  weißen  Hirschen  im  Park  des 
Schlosses.  Aber  die  See  ist  auch  gefährlich.  Und 
was  Du  von  der  einen  Stelle  schreibst,  macht  mich 
ängsthch.  Nimm  Dich  sehr  in  acht!  Bleib  ganz 
weit  von  der  Stelle.  Die  Strömung  ist  manchmal 
stärker  als  so  ein  kleines  Mädel.  Also  Vorsicht! 
Vorsicht!  Ißt  meine  Maus  derm  auch  gehörig?  See- 
luft macht  ja  sehr  hungrig. 

Ich  bin  wohl  und  denke  oft  an  Rügen  und  Sellin 
und  eine  kleine  Schelmin,  die  in  Busch  und  Wald 
und  Strand  und  Wellen  flattert  und  klabaudert,  wie 
ich  hoffe,  stets  bei  gutem  Wetter. 

Viele  Küsse 

Dein  Papa. 

Luckau,  2.  9.  17. 
(303.  Tag  der  Strafe.    V4,8is! 
morg3n  10.  Monat.) 
Meine  Liebste! 
Mein  normaler  Dreimonats-Brief.    Wo  heut  an- 
fangen, in  der  Fülle  des  Andringenden!     Gut,  mit 
meinem  Anfang,  meinem  Geburtstag.   Allerhand  De- 
peschen kamen,  Briefe  und  Karten  —  unter  anderem 
radikale     Gruppe     des     6.  Wahlkreises,    Vorstand 
Teltow-Beeskow,   Familie   Zetkin,   Adolf   Hoffmann 
und  Freunde,   Prof.Radbruchs,  Fräulein Kantorowicz- 
Levine's,     Oskar     Cohns,     Otto     Brake    —    Alice 
—   Gertrud   —  Theo  —  Lu  und  Kinder,  Otto  und 
Kinder,  Wims,  Kurt,  —  Ihr  —  außer  Böbchen,  auf 
dessen    angekündigten    Brief    ich    noch    vergeblich 
lauere.    Biite  allen  meinen  Dank  übermitteln,  keine 
Beteueruiicc  nötig,  daß  ich  mich  sclir  gefreut  habe; 
für  einip^e  Angehörige  liegen  Zettel  bei.     A.  H.  und 
ein    Anzahl    Gesinnungsgenossen     schickten     zwei 
Rosen   und   vorzügliche  Butter,   auch   dafür   vielen 

85 


Dank;  nicht  minder  bin  ich  gerührt  von  Paul  Hoff- 
mann und  der  von  Dir  ungenannten  Dedil^antin  des 
Kirschsafts  und  allen  anderen  Hilfeleistungen  für 
mein  Magenwohl.  Klaras  Depesche  war  mir  eine 
besondere  herzliche  Freude,  schreibe  ihr  dies, 
meinen  Dank  und  meine  Wünsche. 

. . .  Und  nun  zu  Euch,  zu  Dir.  Alles  was  Ihr  schick- 
tet, war  köstlich,  und  sei  gewiß,  es  schlägt  bei  mir  gut 
an;  vernünftig  lebe  ich  ja  wie  kein  Zweiter:  Fenster 
weit  offen  Tag  und  Nacht  (auch  jetzt  noch  in  der 
Kühle,  Freiübungen)  zwei  bis  dreimal  täglich  folgen- 
des Menü:    die  Arme    herumgewirbelt    je    60  mal 
nach  vorn  und  nach  hinten,  20  Kopfwendungen,  je 
20  Bewegungen  nach  vorn,  hinten  iind  nach  rechts, 
links,    60  mal    Schulterrcllen,    60  Rumpfbeugungen 
rechts    und   links,    250   oder  mehr    Auf-   und    Ab- 
wanderungen in  der  Zelle  —  auf  und  ab  zusammen 
jedesmal  16  kleine  Schritte,  250  mal  —  4000  Schritt!) 
Dazu  kommt,  daß  meine  Arbeit  im  Stehen  verrichtet 
v/ird.    Kurz,  ich  sorge  dafür,  daß  mein  Blut  in  Be- 
wegung bleibt,  daß  Nerven  und  Sehnen  nicht  ein- 
rosten, daß  jede  Calorie  der  Nährstoffe  ausgenutzt 
-  und  an  die  rechte  Stelle  befördert  wird.    So  werde 
ich  ausTialten,  mag  kommen  was  will.    Ihr  aber,  ihr 
denkt  an  euch  und  versorgt  euch  vor  allem,  vergeßt 
doch  nie,  wie  ihr  euch  um  mich  Gedanken  macht, 
so  ich  mich  um  euch.    Und  jeder  Zweifel'über  euer 
Wohlbefinden    beeinträchtigt    mein   Befinden    weit 
mehr  noch,  als  mangelhafte  Ernährung.    Also  Dank, 
Dank,     Dank    für     alles<    für     diese    Vereinigung 
von    „Was"   Ihr    wollt"    und    „Wie    es    euch    ge- 
fällt";   aber  denkt  von  nun  ab  zuerst  an  euch  und 
die  Kinder  und  die  Kinder  i\'  der  Verwandtschaft  und 
Rosa  und  Franciscus  und  Käthe,  Ernst.  Lene. 

Wohl  bin  ich  wie  ein  Zeisig  im  Käfig,  wie  ein 
Fisch  im  Goldfischglas,  wie  ein  angeketteter  Jagd- 
falk.  Der  freilich,  so  wohl  er  ist,  hinaus  möchte  auf 
die  Jagd,  in  den  Kampf.  Aber  mit  dem  „Sterben" 
hat  es  gute  Weile  und  jene  Alarmnachricht^)  heißt 
das  beste  Omen  für  ein  langes  Leben;  das  Tot- 
gesagtwerden wird  mir  allmähhch  zur  Gewohnheit. 


*)  Meldung:  im  B.  T   über  schwere  Erkrankung  K.  L.'s. 

F.  P. 


86 


„Und  stechen  mich  die  Dornen  und  wirds  mir  hier 
zu  kahl",  ]<ann  ich  zwar  nicht  ins  Necl<:arthal  reiten, 
aber  ich  greife  zum  göttlichen  William,  diesem  einen 
Menschen,  der  ausreicht,  die  ganze  Menschheit  zu 
adeln,  die  ganze  Menschheit  in  all  ihrem  Schmutz 
und  Stumpfsinn.    Denk,  Romeo  und  Julia  las  ich  seit 
mehr  als  25  Jahren  zum  erstenmal  wieder  — 
for  ever  is  no  story  of  more  woe 
than  this  of  Juliet  and  her  Romeo. 
Entsinnst  Du  Dich  der  Worte  Romeos  zum  Apotheker 
in  Mantua,  dem.  er  das  Gift  abkauft: 

There  is  thy  gold,  worse  poison   to  men's   souls, 
Doing  more  murders  in  this  loathsome  world 
Than  these  pour  Compounds  that  thou  mayst  notseil. 

V/ichtig  ist  mir  die  jetzt  erst  gewonnene  nähere 
Bekanntschaft  mit  Willibald  Alexis  und  Fontane, 
den  beiden  preußischsten,  ja  brandenburgischsten 
Dichten  des  19.  Jahrhundert,  beide  freilich  in 
edlerem  Sinn:  beide  keine  Brandenburger,  keine 
Preußen,  keine  Deutschen,  sondern  —  Franzosen  der 
„Kolonie",  südiranzösischen  Refugies-Farnilien  ent- 
stammend, eine  bittere  Pille  für  die  Nationalidioten 
und  Rassenfanatiker,  die  Fontane  in  seinem  Roman 
„Vor  dem  Sturm."  auch  unübertrefihch  zeichnet: 
nicht  nur  die  Fürstengeschlechter  sind  ja  aus  dem 
Blut  aller  europäischen  und  einiger  asiatischer 
Völker  zusammengemischt,  die  Bevölkerung  der 
Mark  Brandenburg,  des  „Herzstücks  von  Preußen", 
wie  ganz  Ost-Elbiens,  Sachsens  ist  fast  rein 
slavisch  (wendisch),  und  zwar  von  unten  bis  oben. 
Zum  höchsten  Adel.  Gewiß,  die  stärkste  Prädis- 
position zum  künftigen  deutsch-slavisch-magyarisch- 
türkisch-japanischen  Bund  gegen  den  germanischen 
und  romianischen  Westen.  Fontane  ist  etwas  breit, 
und  der  Kleinmalerei  sehr  zugetan.  Aber  aller  Enge 
abhold,  eine  „breite"  Natur  wie  wenige;  voller 
lebendiger  Erfahrung  auf  und  unter  der  Oberfläche 
vieler  Gesellschaftsschichten  und  nicht  nur  Deutsch- 
lands, sondern  auch  Ftankreichs,  wo  er  70/71  kriegs- 
gefangen war,  und  Englands,  wo  er  lange  lebte,  und 
voller  Natürlichkeit,  Ehrlichkeit  und  oft  Anmut 
und  Feinheit.  Seine  biographischen  „Kinderjahre" 
empfehle    ich    Dir    sehr     —     auch    Helmi     mag 

87 


sich  daran  machen.  Du  wirst  aus  diesen 
Sachen  zugleich  lernen  und  das  eigenartige  Leben  in 
der  „Kolonie"  wird  Dich  interessieren.  Ich  wäre 
froh  zu  hören,  daß  Du  meinen  gelegentlichen  literari- 
schen Anregungen  folgst. 

Was  draußen  vor  sich  geht,  ob's  oder  ob's  nicht 
wahrscheinlich  ist,  daß  es  bald  heißt  „bis  Michaelis" 
und  nicht  „von  Michaelis"  und  über  das  andere  viel 
Wichtigere  muß  ich  hier  schweigen.  Nun, 
Du  kennst  meine  Gedanken.  Zurück  zum  Idyll: 
zu  den  Vögeln!  Verzeih,  v/as  macht  das 
berufene  Vogelbuch?  (Stimmen,  aber  auch 
Abbildungen!  und  Beschreibung  der  Lebensweise, 
wenn  es  so  was  zusammen  gibt).  An  Bibliotheks- 
arbeit^)  wage  ich  nur  noch  in  Träumen  zu  denken  — 
aber  ein  anderes:  Le  Sage  —  Gil  Blas  und  Diable 
Boiteux  sind  zwei  Lücken,  die  ich  noch  peinlicher 
empfinde  als  Rouge  et  Noir.  Beide  haben  wir  im 
Bücherschrank  meines  Vaters  in  meinem  'Büro- 
zimmer. Besorge  sie  m.ir  bei  Gelgenheit,  bitte  nicht 
zu  vergessen.  ■  Im  nächsten  Monat  ist  wieder  Be- 
suchszeit! Sieben  Wochen  schon  seit  Deinem  letzten 
Besucl:!  Wie  ich  mich  freue,  aber  gib  rechtzeitig 
Nachricht  vorher. . .  Rosa  besuche,  so  oft  es  geht  und 
schreibe  ihr  und  sorgt  für  ihre  Gesundheit;  über  zwei 
Jahre  hat  sie  nun  während  des  Krieges  hinter  sich!! 
Sag  ihr,  wieviel  und  herzlich  icli  an  sie  denke,  daß 
ich  oft  die  Figaro-Ouvertüre  vor  niicli  Irlnsümme  und 
mir  dani]  ihr  Bild  so  lebhaft  vor  Au7,er>  steht,  als 
sei  Figaro  „ein  Stück  von  il 

Verzeih,  ich  bin  heut  stuivipf  und  schwerfällig 
und  muß  doch  schreiben.  Ich  möchte.  Du  wärst  hier 
und  liörtest  mit  mir  die  Grasmücke  und  das  ferne 
Kindergezwitscber  und  Hundegebell  und  wir  lesen 
Romeo  und  .lulia  „It  was  the  nightingale  and  not 
the  lark" 

Also  nochmals:  hau:  i_  iei--:-iü,  scrgt  liir  euch,  für 
euch,  für  euch,  nur  wenn  ich  sicher  bin,  daß  ihr 
mindestens  eb'^nsoviel  und  ebenso  Gutes  habt  v/ie 
ich,  nur  dann  kann  ich  m.ich  an  dem  Geschickten  er- 
bauen, nur  dann  bekommts  mir;  nur  dann   nehme 


^)  Das  Erscheinen  der  Prozeßakten.  V.  P 

88 


ichs  überhaupt  an,  sonst  lasse  ich  es  zurückschicken: 
das  ist  mein  Ernst!!  Ich  küsse  und  umarme  Dich, 
mein  Herz. 

Dein  Karl 


Luckau,  den  8.  10.  17. 

Mein  liebstes  Herz! 
Fort  seid  Ihr,  vorüber  der  Besuch,  auf  den  ich 
wartete,  wie  auf  die  Ausgießung  des  heihgen 
Geistes;  und  nun  —  im  neuen  .Jahr  erst  winkt  neuer 
Trost.  Aber  noch  seid  Ihr  in  Luckau.  Es  ist  erst 
1  und  V-i.  Meine  Hände  und  Lippen  sind  noch  warm 
von  Deiner  Berührung,  von  Deinen  Küssen  und  Zärt- 
lichkeit. Kommen  soviele  zusammen,  fällt  auf  den 
Einzelnen  so  wenig,  wenns  auch  wiederum  manches 
intimer  gestaltet,  falls  es  sich  nur  um  die  Aller- 
nächsten handelt.  Ich  werde  fühlen,  wenn  ihr  vor 
dem  Zuchthaus  vorbei  zur  Bahn  geht,  und  werde 
horchen,  ob  ich  den  Pfiff  der  abgehenden  Loko- 
motive höre.  Dir  wollte  ich  noch  so  viel  sagen  und 
Dich  ermahnen,  auf  Deine  Gesundheit  zu  achten  — 
der  Schnupfen  gefällt  mir  nicht  —  und  auf  Deine  Er- 
nährung —  übermäßig  wohlgenährt  siehst  Du  wirk- 
lich nicht  aus!  Denk  nicht  nur  an  die  Kinder,  son- 
dern ganz  gründlich  und  vorbehaltlos  auch  an  Dich, 
für  Dich  selbst,  für  mich,  für  die  Kinder,  für  Deine 
Mutter  und  Geschwister,  für  uns  alle.  Und  jetzt  ku- 
riere den  Schnupfen  rasch  aus,  die  kleinste  Erkäl- 
tung ist  in  der  Uebergangszeit  gefährlich.  Wäre  ich 
jetzt  im  „Goldenen  Ring"  —  bei  Herrn  Förster,  dem 
Bruder  des  Aufsehers,  der  gerad  eben  bei  mir 
Dienst  tut,  so  würde  ich  Dir  zwei  heiße  Glühweine 
in  die  Kehle  praktizieren.    Zu  Haus  hols  nach. 

Ich  sprach  mit  dem  Herrn  Direktor  über  die 
Helmi-Frage,  er  gab  mir  spontan  und  nach  seiner 
eigenen  Erziehungspraxis  an  seinen  Kindern  einen 
Rat,  der  aufs  haarkleinste  meine  Ansicht  traf.  Ich 
machte  den  Vorschlag,  Dir  noch  heute  schreiben  zu 
dürfen,  weil  ich  Dir  die  letzte  Entscheidung  über- 
lassen, jedenfalls  nicht  gegen  Deine  Aufassung  ver- 
stoßen möchte,  und  Dir  meine  Meinung  in  Gegen- 
wart der  Kinder  nicht  sagen  konnte,  ohne  präjudi- 
ziell zu  wirken.    Ich  denke  so:  Ich  glaube  gern,  daß 

89 


der  Schulunterricht  jetzt  wertlos,  wenn  nicht  ge- 
radezu verwahrlosend  ist,  also  das  Gegenteil  seines 
Zwecxks  sowohl  in  geistiger  wie  Charakterbildung^. 
Arbeitet  der  Junge  für  sich  selbst  systematisch,  — 
so  bringt  ihn  das  sicher  geistig  und  in  Selbstzucht 
tüchtig  voran:  der  Vorteil  schon  der  Verselbständi- 
gung ist  dann  offenbar  und  außerordentlich.  Fragt 
sich,  ob  die  Bedingung  erfüllt  werden  wird,  d.  h.  ob 
Helmi  systematisch  arbeiten  wird,  auch  seine  Ge- 
sundheit nicht  vernachlässigt.  Ich  glaube  das.  Denn 
Energie  hat  er  und  auch  den  Drang,  sein  Wort  zu 
halten,  seine  Vorsätze  auszuführen.  Diese  Erwar- 
tung noch  weiter  zu  garantieren,  lege  ich  noch  einen 
Brief  für  ihn  bei  und  dann:  es  handelt  sich  nicht  um 
ein  Definitivum,  sondern  um  ein  Interimistikum  von 
zwei  Monaten.  Also,  auch  im  ärgsten,  ärgsten  Fall 
nicht  ein  zu  gefährhches  Experiment,  das  aber,  wenn 
es  günstig  ausschlägt,  von  großem,  erziehlichem 
Werte  ist  und  dessen  günstige  Chancen  ich  recht 
hoch  taxiere.  JHelmi  bohrt  in  dieser  Sache  nun  seit 
iVlonaten.  Leicht  wird  ihm  die  Erreichung  seines 
Wunsches  wirklich  nicht  gemacht.  Allzu  schwer 
aber  darf  man  die  Erfüllung  eines  ernsthaften  tief- 
gewurzelteri  Verlangens  nicht  m.achen.  Das  letztere 
war  es,  was  der  Herr  Direktor  auf  Grund  seiner  Er- 
fahrung besonders  betonte  (er  hat  auch  Söhne).  Er 
bemerkte,  daß  er  bei  Nachgiebigkeit  in  derartigen 
Fällen  stets  gute  Erfahrung  gemacht  habe.  Dies 
meine  Ansicht.  —  Also,  entscheide  Du.  Ueberzeugt 
Dich  obiges,  so  sag  Helmi  ja  und  gib  ihm  den  bei- 
liegenden Brief.  Bleibst  Du  ablehnend,  so  sag  ihm 
nein  und  gib  den  Brief  nicht.  —  So.  — 

Und  nun  noch  ein  Wort  zu  den  Klößen  und  was 
dazu  gehört:  Sie  waren  noch  warm.!  Ich  aß  mit 
phänomenalem  Appetit  dVz.  Geschmack:  märchen- 
haft. Der  Rest  wird  bei  kalter  Temperatur,  aber 
heißem  Appetit  heut  abend  und  morgen  verspießen 
werden.  R.I.P.S.  (,,Rips",  d.  h.  requiscat  in  pace 
sancta)  den  Spendern  der  Rohstoffe  und  den  Köchen» 
wohl  Hilma  —  meinen  bestgekneteten  Dank.  Und 
nun  Schluß,  der  Brief  soll  ja  heute  noch  hinaus.  Und 
doch  noch  eins:  Was  ist  der  „König  Johann"  auch 
voll  größter  Partien!  Ich  kannte  ihn  noch  gar  nicht. 
Dieser  Bastard!     Und  die  Constance.  Mutter   des 

90  « 


Artur.  Ihre  Klage  nach  Arturs  Gefangennahme  ge- 
hört zum  Erschütterndsten  in  der  Welthteratur.  Ich 
weiß  nicht,  wie  es  übersetzt  ist,  aber  Du  hast  noch 
eine  kleine  englische  Ausgabe  da,  einen  ziemhch 
dünnen,  ganz  unscheinbaren  Band.  In  allerkleinster 
Liüiputschriit.  Stand  in  der  alten  Wohnung  nahe 
bei  der  Oxford-Edition  unter  der  fremdspachigen, 
englischen  und  französischen  Literatur.  Nimm  ihn 
doch  zur  Hand,  schreibe  Dein  Urteil  —  Akt  3, 
Scene  4! 

Grüß  alle  herzlichst,  beide  rranzen  und  Lene 
und  alle.  Lene  besonders.  Theo  dank  für  den  Brief. 
Von  Pochs  ritterlichem  Eintreten  für  ihren  Zucht- 
hausonkel habt  ihr  leider  nicht  erzählt.  Und  nun 
Küsse,  Küsse  und  sorgt  für  euch!  Nicht  frieren! 
Nicht  erkälten,  nrnährt  euch  gut  vor  allem..  Könnte 
ich  heute  mit  Dir  soupieren!  In  der  Mönchszelle! 
Wie  oft  hatte  ich  mich  gesehnt  im  Kloster  zu  leben! 
Fast  erschrecke  ich  über  die  Erfüllung  aller  meiner 
Wünsche  —  Polykrates  Nr.  2.  Nun  aber  wirklich 
Schluß  und  nochmals  viele  Küsse  von  Deinem  Mönch 

Polykrates. 

An  Vera 

Luckau,  9.  11.  17 

Mein  Mäuschen! 

Auch  du,  die  mir  einen  so  langen  schönen  Brief 
schrieb,  bekommst  nur  einen  kleinen  Zettel  —  und 
wenig  Zeilen.  Aber  viele  V/ünsche  und  gute  aller- 
beste Wünsche.  Wünsche  zu  Vv^eihnachten,  die  icli 
wieder  von  euch  getrennt  bin  (nun  aber  nur  noch 
zweimal!)  und  zu  Neujalir.  Und  zur  Reise  nach 
Frankfurt.  Du  freust  dich  gewiß  schon!  Und  bist 
in  Erwartung  alles  dessen,  was  da  kommen  wird, 
so  artig,  wie  ein  Turteltäubchci:. 

Könnt  ich  euch  was  schenken!  Weihnachten  — 
Neujahr  —  alles  kommt  jetzt  so  rasch.  Und  bald 
werden  die  Tage  wieder  jänger.  Hoffenthch  friert 
ihr  nicht!  Auch  für  die  Eisenbahnfahrt  sorgt,  daß 
es  keine  Erkältung  gibt,  Füße  vor  allem  stets  trocken 
und  warm. 

Ich  küsse  dich.  Kleinstes  —  und  küsse  dich 
nochmals  —  denk  auch  ein  bischen  an  deinen  Papa, 

91 


der  aber  sehr  gesund  ist.  Küsse  auch  Lotte  wie  den 
Poch  und  die  „Jungen"  aus  der  Thomasiusstraße. 

Dein  Papa. 


(Ohne  Datum;  wahrscheinlich  November  1917.) 

Liebste  Sonitschka! 

Ich  schreibe  dies  bei  volllvommener  Dunkelheit 
—  nur  nach  dem  Gefühl  —  und  bei  gehöriger  Kälte, 
im  übrigen  aber  bestem  Wohlbefinden.  —  Die 
Arbeitszeit  füllt  jetzt  die  Stunden  der  Helligkeit  fast 
bis  aufs  letzte  aus  —  von  einer  Laterne  draußen 
fällt  ein  schmaler  Lichtschein  schräg  durchs  Fenster, 
der  durch  das  dichte  Gittergeflecht  und  die  Stäbe 
noch  gehemmt  wird  —  so  bin  ich  jetzt  in  der 
Schreiberei  und  Leserei  sehr  gehemmt.  Die  wenigen 
Sonntagsstunden  wars  so  düster,  daß  ich  kaum  das 
zur  Orientierung  erforderliche  Zeitungslesen  er- 
ledigen konnte  —  mein  Schustermeister  hat  mir 
jüngst  eine  erheblich  raschere  Produktion  auf- 
gegeben, widrigenfalls  ich  die  Zuschneiderei  ver- 
liere, die  mir  in  vieler  Beziehung  doch  sehr  bequem 
und  angenehm  ist.  Auch  das  bindet  mich  noch 
mehr  als  sonst  . — 

Alles  andere  mündlich,  hoffe  ich.    Die  Zeit  fehlt. 

Grüße  allen  Freunden.  Dir  und  den  Kindern 
Küsse. 

Dein  Karl. 


Luckau,  den  11.  XI.  17 
(am  373.  Tage) 
Mein  Herz! 
O  Sonja,  my  fair  wife  —  my  life,  my  food,  my 
joy,  my  all  the  world  ....  my  prisons'  comfort  and 
my  sorrows  eure!     Daß  ich  diesen  ersten  Oktober 
versäumte!     Nachdem  ich    wie    eine    der  törichten 
Jungfrauen  an  so  vieles  nebenbei  gedacht  habe,  an 
so    manche  Quinquilierie    Glasperle    und    Imitation! 
Die     echte     Perle,      den      Rubin      verpaßt!       Ich 
bin    noch    heut    nach    über   sechs  Wochen    nicht 
wieder     normal     sedimentierr.       Morgen     werden     es 
fünf  Wochen  seit  Eurem  Besuch.     Am  Abend  des 

92 


Tags,  nachdem  der  Eilbrief  fort  war,  traf  mich  der 
Blitz.  Und  nun  wurde  mir  so  vieles  klar.  Deine  Ent- 
täuschung als  Du  meinen  Zettel  lasest  —  Du  hattest 
gehofft,  er  werde  vielleicht  doch  noch  ein  Zeichen 
vom.  1.  Oktober  sein.  Gib  mir  ein  Wort,  daß  Du 
mir  verzeihst,  ob  Du  mir  verzeihst,  daß  Du  Dich 
nicht  mehr  grämst,  daß  Du  verstanden  hast  und 
verstehst.  Die  Selbstbeobachtung  sagt's  ja,  wie 
gerade  stärkste  Besorgtheit  zuweilen  zur  Ver- 
säumnis führt.  Und  bitte.  Liebste,  besorg  Dir  eine 
gute  Ausgabe  von  Tieck  —  Alles  unmöglich,  aber 
eine  Auswahl:  Jedenfalls  mit  Vittoria  Accorombona, 
Aufruhr  in  den  Cevennen,  Dichterleben.  Ich  bitte 
Dich,  erfülle  diesen  Wunsch,  ich  kanns  ja  nicht 
selbst.  Und  nimm's  als  sei  es  von  mir;  und  schreib 
hinein:  1.  Oktober  1917. 

Ich  darf  Dir  heute  schreiben  aus  einem  beson- 
ders erfreulichen  Anlaß:  mir  ist  eigene  Beleuchtung 
erlaubt.  Das  heißt:  Montag  bis  Freitag  ist  jetzt  Ein- 
schluß mit  Qaslöschen  um  V2I  Uhr.  —  Aufschluß 
um  "U  Uhr.  Sonnabend:  Einschluß  um  6  Uhr  — 
Aufschluß  um  7  Uhr;  Sonntag:  Einschluß  um  V26  Uhr, 
Aufschluß  um.  '"\{1  Uhr.  Licht  bis  zirka  10  Uhr  heißt 
17^/^  plus  4  und  4^^  —  26  Stunden  pro  Woche. 

Du  regtest  neulich  an,  ich  möge  auf  eigene  Be- 
leuchtung antragen.  Folglich  hattest  Du  irgend 
welche  Beleuchtungsmittel  „in  petto",  welche?  Nur 
vvohlgemerkt,  auch  hier  Euch  nichts  entziehen!!  Nur 
das  ohne  große  Müh  und  Ausgabe  Mögliche.  Ich  wäre 
ia  gar  nicht  auf  diese  Anregung  gekommen,  wenn 
Du  neulich  nicht  den  Funken  in  das  Pulverfaß  meiner 
Lichtgedanken  geworfen  hättest.  Daß  mich  jetzt  die 
Hoffnung  beseligt  und  jeder  Tag  um  den  sie  früher 
erfüllt  wird,  mir  als  ein  kostbarer  Gewinnst  vor- 
leuchtet, male  Dir  aus.  Früher  wurde  Einzelnen  An- 
staltslicht bis  10  Uhr  gewährt,  dagegen  bestehen 
jetzt  Bedenken.  Wie  die  Chose  zu  machen,  über- 
sehe ich  nicht  ganz,  am  besten  versiehst  Du  mich 
mit  Vorrat  an  Brennstoffen,  Anzündern,  Ersatzteilen 
immer  auf  drei  Monate,  von  Besuch  zu  Besuch. 
Jetzt  bis  Mitte  Januar,  eurem  nächsten  Besuch. . . . 

Soeben  händigt  mir  der  Herr  Direktor  die  Zei- 
tungen aus  —  also  doch  diese  Woche  ein  Lebens- 
zeichen von  euch,  vielen  Dank,  Dank. 

93 


Hier  große  Umwälzung:  Aus  Licht-  und  Heiz- 
ersparnisrücksicht ist  unser  „Kloster"  geräumt.  Ich 
liege  seit  18  Tagen  in  Nr.  45  des  sogenannten  Flügels 
(Isolierflügel)  des  großen  Backsteinhauses,  gegen- 
über dem  Kloster  statt  nach  Süden,  jetzt  nach  Nor- 
den. Die  Zelle  etwas  enger  und  nur  die  üblichen 
Klappfenster  zum  Lüften  und  Hinaussehen  —  aber 
ich  sehe  den  Himmel  und  abends,  nachts,  die  Sterne: 
den  großen  Wagen,  den  Nordstern, 

„the  Northern-Star,  —  of  whose  true  —  fixed  and 

resting  quality  — 
There  is  no  fellow  in  the  firmament. 
The  skies  are  painted  with  unnumber'd  sparks, 
They  are  all  fire  and  everyone  doth  shine, 
But  there's  but  one  in  all  doth  hold  his  place." 
und  auch  Arcturus  blitzt  links  obenauf;  und  morgens, 
um    ^/^6   Uhr,   am  Platz   des   großen   Wagens    die 
schimmernde    Cassiopeia.     Und    nun    gibt's    Licht. 
Was  werde  ich  da  arbeiten  können.    Kaum  kann 
ich's  erwarten. 

Die  Zeitungen  konnte  ich  erst  ganz  ober- 
flächlich ansehen.  Der  ungeheure  Prozeß  der 
sozialen  und  wirtschaftlichen  Revolutionierung 
Rußlands  vom  Bodensatz  bis  zum  Schaum, 
dessen  Ausdruck  nur  die  politische  —  die  Ver- 
fassungs-  und  Verwaltungsrevolutionierung  ist,  steht 
nicht  am  Abschluß,  sondern  im  Beginn,  vor  unbe- 
grenzten Möglichkeiten  —  weit  größer,  als  die  große 
französische  .  Revolution;  die  Spannung  zwischen 
dem  Qev/esenen  und  dem  jetzt  Erstrebten  und  Mög- 
lichen ist  größer;  ebenso  die  Spannung  zwischen  dem 
Niveau,  den  Bedürfnissen  und  Möglichkeiten  in  den 
verschiedenen  kulturell  so  sehr  differierenden  Ge- 
bieten und  Volksteilen;  und  vor  allem  die  Spannung 
zwischen  der  Lage,  den  Bedürfnissen  und  Zielen  der 
verschiedenen  Schichten  und  Klassen  in  den  kul- 
turell und  wirtschaftlich  entwickeltsten  Gebieten  und 
Volksteilen.  Die  soziale  Revolution,  deren  Gefahr  in 
Deutschland  die  bürgerliche  Revolution  verkrüppelte, 
scheint  in  Rußland  schon  stärker  als  die  bürgerliche 
Revolution,  wenigstens  zeitweilig,  wenigstens  in  den 
konzentriertesten  Zentren  Rußlands.  Freihch  steht 
der  russische  Kapitalismus  nicht  allein,  der  englisch- 
französisch-amerikanische stützt  ihn.     Ein  Problem, 

94 


für  das  eine  provisorische  Teillösung  in  der  Kriegs- 
frage zu  gewinnen,  schon  Titanenarbeit  fordert. 
Was  ich  über  diese  Vorgänge  erfahre,  ist  so  spora- 
disch, so  zufällig,  so  äußerlich,  daß  ich  mich  mit  Kon- 
jekturen begnügen  muß.  Nirgends  empfinde  ich  die 
Abgeschnittenheit  meiner  heutigen  geistigen  Lage  so, 

wie  in  der  russischen  Frage 

Deinen  neulichen  Brief  an  den  Herrn  Direktor 
bekam  ich  zu  lesen.  Ja,  Kind,  ich  bekam  alle  Pakete 
—  und  gerade  eben,  Sonntag  mittag  2  Uhr  bringt  mir 
der  Herr  Hausvater  auch  das  neue,  das  wieder  voll 
erstaunlicher  Sachen  ist  —  von  denen  ich  nicht  v/eiß, 
wie  ich  für  sie  danken  soll  —  und  von  denen  ich 
wünschte,  ernsthch  wünschte,  daß  ihr  sie  zum  großen 
Teil  mindestens  für  euch  verbraucht  hättet.  Ich 
bitte  Dich,  bitte  Dich,  denk  an  Dich,  an  Euch,  ich  bin 
wirklich  jetzt  gesund  und  kräftig,  auf  alles  gerüstet, 
aber  ihr  —  immer  wieder  habe  ich  Sorge  —  und  das 
vergällt  mir  jeden  Bissen.  Und  ich  versichere,  daß 
mir  Kriegsmus  so  gut  schmeckt  wie  die  vornehmste 
Marmelade  und  daß  die  früher  übliche  Torte  mir  so 
lieb  war,  wie  die  Märchenkuchen,  mit  denen  Ihr  mich 
jetzt  bezaubert.  Solche  und  ähnliche  Delikatessen 
bitte  behalte  für  Dich.  Warum  tust  Du  mir  das  nicht 
zuliebe.  Was  machen  die  Freunde?  Allen  Gruß  und 
Glück  auf  —  trotz  allem  —  nicht  einen  Zoll  gewichen! 
Ist  denn  draußen  gar  nichts  los?  Das  österreichische 
Gegenstück  zu  Vv'ürzburg  war  auch  geldwert.  Zwei 
Hauptpfeiler  für  das  neue  Italienunternehmen,  dessen 
kriegspolitische  Erfolglosigkeit  die  bisherige  Wirkung 
in  Deutschland  leicht  in  ihr  Gegenstück  umschlagen 
wird.  Oui  vivra  —  verra.  Sind  die  Kinder  gesund? 
Denkt  Bob  an  Brentano's  Märchen?  Heimi  vor  allem 
soll  viel  ins  Freie.  Bewegung!  Und  nicht  so  spät 
aufbleibe.;.  Ihr  seid  doch  wohl?  Kommt  der  Brief 
bald?  Ich  muß  schließen,  meine  Liebste,  ich  umarme 
und  küsse  Dich  tausendmal. 

Dein  Karolus. 


Luckau,  den  9.  12.  17. 

am  401.  Straftag. 
Mein  Kind!    • 
Das  wird  heut  nicht  sehr  munter  werden.  Nebel 


95 


draußen,     Dicker   Nebel,   Nebeldunst   überall.     Es 
will  einem  in  alle  Glieder,  in  alle  Adern  und  Nerven 
hineinziehen.    Aber  ich  wehre  mich  und  werde  mich 
wehren,  und  der  Teufel  soll  mich  und  soll  jeden 
holen,  der  nachgibt.     Ja,  jetzt  draußen  sein,  jetzt 
rennt  man  sich  an  die  Wände.    Aber  ich  bin  oben- 
auf,   gesund    und    ahes.     Drei  Wochen   schon    mit 
Licht  —  abends  zwei  Stunden  über  Einschluß.    Ge- 
schichte, Philosophie,  dazu  öfter  etwas  Shakespeare 
—  zuletzt  Othello,    Lear,  Koriolan.     Verträgt    sich 
vorzüghch  mit  der  Schusterei.    Hast  Du  den  Tieck? 
Datum    hineingeschrieben?      Lies    nicht    wahllos, 
sonst  wirfst  Du's  -sofort  weg,  sondern,  was  ich  Dir 
vorschlug.       Deine     Theaterrevue     brachte     eine 
kulturelle    Gesamtcharakteristik.      Geduld    ist    eine 
Tugend  der  Sklaven.    Die  Sklaverei  zu  beseitigen, 
bedarfs    doppelter    Ungeduld;    um    dieser    Tugend 
Herr  zu  werden,  um  sie  wegzuschwemmen.    Diese 
„freiheitsquakenden"  Philister-Ochsenfrösche.  Wun- 
der, wunder,  daß  einem  die  Galle  nicht  platzt. . . . 
x'vlorgen     sind     es     drei     Wochen     seit     Gertruds 
und     der     Jungen     Besuch     und     neun     Wochen 
seit  Deinem  letzten  und  in  vierzehn  Tagen  ist  Weih- 
nachten.   Was  wird  nun?    Die  Kinder  nach  Frank- 
furt?    Du    zur  Erholung   nach    dem  Süden?      Ich 
kann  nichts  raten,  weil  mir  der  Ueberblick  der  Mög- 
lichkeiten fehlt.    Nur  dies  kann  ich  sagen,  tu  was 
erdenklich  für  Deine  Kräftigung,  Deine  Ablenkung 
und  noch  dies:  Laß  mich  nicht  zu  kurz  kommen  in 
der  Gewinnbeteiligung  an  Dir.    Wann  kommst  Du? 
Anfang  Januar  ist  euer  Normalbesuch  fällig.     Am 
8.    L   17  war  euer   erster  Besuch   hinterm   Gitter. 
Solltest  Du  dann  fort  sein,  so  wird  Dir  sicher  eine 
Vorverlegung  zwischen  Weihnachten  und  Neujahr 
erlaubt.    Vermutlich  wirst  Du  denn  allein  kommen, 
wie  am   13.  März,   bald  neun  Monate  her.    Meine 
Träume    knüpfen   sich  schon   an    das    ersehnte  Er- 
eignis, gib  ihnen  durch  bestimmtes  Datum  bald  den 
festen  Halt In  diesen  Wochen  ist  auch  Rosas  Ge- 
burtstag, bestell  ihr  von  mir  alles  Herzliche.     Das 
ist  jetzt  die  schwerste  Belastungsprobe,    auch    sie 
muß  und  wird  überstanden  werden.     Die  Freunde: 
die  arme  Berta  —  und  Westmeyer  —  das  ist  jammer, 
jammerschade.     Schreib  seiner  Frau  mein  Beileid, 

96 


Januar  16  traf  ich  ihn  zuletzt.  Erst  im  Krieg  hab  ich 
seinen  Wert  ganz  erkannt.  Der  Verlust  ist  größer,  als 
dem  ersten  Bhck  scheinbar.  Er  hat  einen  ver- 
teufelten Posten  jahrelang  mit  großer  Tapferkeit  ge- 
halten. Und  Artur^),  der  freilich  sehr  abgebraucht 
war  und  doch,  in  vielem  kaum  entbehrlich  und  eine 
ehrliche  opferfähige  Haut;  seine  Behebtheit  bei  den 
Massen  wohl  begründet  Sein  Kreis  wird  wohl 
den  Regierungs-Pudeln  burgfriedhch  zugeschanzt 
werden,  ä  la  Potsdam  —  jedenfalls  alle  Vorsicht 
am  Platz. 

Ist  jetzt  Nachricht  von  Deiner  Mutter  und  den 
andern  da?  Die  Vorstellung  von  ihnen  ist  so  ganz 
mit  der  Vorstellung  der  ungeheuren  politischen  und 
sozialen  Wirbel  verknüpft,  die  unsere  Hoffnungen 
bedrohen.  Meine  Auffassung  über  Rußland  kennst 
Du.  Noch  kann  ich  nicht  glauben,  daß  Lenin, 
Trotzky  keine  internationalen  prinzipiellen  Sozi- 
ahsten,  sondern  russische  Friedensopportunisten  und 
Demagogen  sind,  und  für  den  nur  russischen  Augen- 
blickserfolg einer  vorübergehenden  Erhaltung  ihres 
Regimes  ins  Lager  des  deutschen  ImperiaHsmus 
desertieren,  den  kämpfenden  deutschen  Sozialisten 
und  der  ganzen  Internationale  in  den  Rücken  fallend 
und  den  Scheidemann-,  David-Schuften  die 
Ernte  einbringen  helfen.  Das  jetzige  Sonder- 
vorgehen suche  ich  vorläufig  noch  so  zu  deuten: 
die  Entente  von  innen  heraus  revolutionär  zur  Ver- 
handlungsbereitschaft zu  peitschen,  die  Friedens- 
intrigue  des  deutschen  Imperialismus  zerfetzend  — 
die  Eroberungspläne  nicht  nur  Deutschlands,  son- 
dern auch  Oesterreichs  und  Bulgariens  (Balkan! 
Ganz  öffentlich  offiziell)  enthüllen  und  brandmarken. 
Dies  und  schon  der  Widerstand  Deutschlands  gegen 
allgemeine  Waffenruhe  (schon  wegen  U-B.krieg)  und 
Ausnützung  der  Entlastung  an  der  Ostfront  würde 
die  deutschen  Massen  erregen.  Wenn  also  die 
Entente  auf  revolutionären  Druck  ihre  imperi- 
ahstischen  Ziele  aufgibt,  so  kann  die  internationale 
revolutionäre  Wechselwirkung  mit  voller  Wucht 
einsetzen.  Der  Selbstbestimmungsrechtshumbug  in 
Bezug  auf  Polen,  Littauen,  Ostseeprovinzen  (jetzt 


*)  Artur  Stadthagen 

97 


zum  größten  Teil  evakuiert  —  gerade  von  den  nicht 
unterwürfigen  Elementen!)  zeigt  die  gerissene  Dema- 
gogie. —  Freilicli  ist  es  mindestens  ein  verwegenes 
Spiel,  das  Lenin  und  Trotzky  treiben.  Wenn  sie  der 
Scylla  baldigen  Sturzes  ä  tout  prix  entgehen  wollen, 
v/erden  sie  um  so  leichter  der  Charybde  zum  Opfer 
fallen:  als  Gefangene  ihrer  Friedenspolitik  in 
Konsequenz  ihrer  Wehrlosmachung  des  russischen 
Volkes,  noch  bevor  jene  internationale  Wirkung  ein- 
tritt, Sonderfrieden  müt  dem  deutschen  Imperialismus 
schheßen  zu  müssen.  Einen  Frieden,  den  man 
wahrlich  dem  Zarism.us  hätte  überlassen  können. 
Sie  werden  dann  keine  Regierung  der  russischen 
Großgrundbesitzer  und  Kapitalisten  sein,  aber  eine 
Regierung  des  deutschen  Kaisers  in  Rußland.  Un- 
erträglicher Gedanke,  daß  damit  das  revolutionäre 
Rußland,  das  russische  Proletariat,  die  russischen 
Sozialisten  belastet  werden  sollten!  Der  infamen 
Ausnutzung  der  russischen  Revolution  für  die 
Zwecke  der  Mittelmächte  muß  mit  allen,  aber  auch 
allen  Mitteln  entgegengewirkt  werden. 

Es  wird  zu  viel  —  ich  werde  nicht  rechtzeitig 
fertig.  Bald  sehen  wir  uns,  nicht  wahr.  Du  schreibst 
bald,  ihr  dürft  öfter  schreiben  ein  für 
allemal:  das  gilt  für  die  Angehörigen  aller  Ge- 
fangenen. Nur  ich  (der  Gefangene)  darf  nur  einmal 
vierteljährlich  schreiben.  Also,  verzeih  diesen  kalten, 
nüchternen  Brief  —  die  Begründung  der  Wahlrechts- 
vorlage ist  Brief  und  Siegel  zur  Schande  des 
deutschen  Proletariats,  zu  seiner  Kapitulation  vor 
den  herrschenden  Klassen,  wenn  auch  die  Vorlage 
ein  Produkt  der  Angst  vor  dem  Aufwachen  eben 
dieses  Proletariats  ist.  Gelingts,  die  Sache  bis  zum 
Frieden  zu  verschleppen,  dann  Ade  —  wenigstens 
bis  auf  Weiteres.  Zeit  gewonnen  —  alles  ge- 
wonnen —  für  die  herrschenden  Klassen.  (Fünf 
Monate  haben  sie  ja  schon  Vorschuß,  seit 
Juli);  —  Zeit  verloren,  alles  verloren  für 
die  Massen;  alles  verloren,  wenigstens  den 
ganzen  Vorteil  der  gegenwärtigen  Konstellation. 
Auch  geschickte  Verschleppungstaktik  ist  Haupt- 
augenmerk auch  der  Regierung,  dafür  ist  durch  die 
Mischung  Hertling  (der  jede  Reform  macht,  wenn 
er  muß,  jede  Reaktion,  wenn  er  kann),  Friedberg 

98 


(dem  nationalliberalen  Zedlitz)  Drews  gesorgt  und 
durch  militärische  Ablenkung  und  Entlastungs- 
offensiven Hindenburgs  —  Massen  heraus  —  Frauen 
heraus!  —  Ja,  meine  Liebste,  Ihr  spielt  jetzt  eine 
große  Rolle.  Aber  Schluß,  Schluß!  Endhch  die 
vielen  Küsse,  Küsse,  Küsse. 

Dein  Karl. 

Dostojewski^)  las  ich:  wieder  ganz  incommen- 
surabel.  In  der  titanischen  Gestaltung  der  ver- 
schlungensten,  mannigfaltigsten  Schicksale  und 
Charaktere  und  sozialer  Verhältnisse,  in  der  Zu- 
sammenballung  der  differentesten  Elemente  zu 
einem  ungeheuren  Ganzen  fast  gewaltiger  noch  als 
Raskolnikow  und  Brüder  Karamasow. 

Nächstens  kommt  Gogol  und  Puschkin  an 
die  Rehe.- 


Luckau,  14.  12.  1917. 

Liebste!  Wenn  auch  nur  dies  kleine  Zettelchen 
—  ganz  kann  ich  der  Versuchung,  die  Gelegenheit 
zu  nutzen,  nicht  widerstehen.  Zumal  Weihnachten 
vor  der  Tür  steht  und  ich  „weh  mir,  daß  ich  nichts 
besseres  weiß"  noch  einmal  bitte:  das  nächste  in 
Aussicht  genommene  Paket  verteilt  Ihr  als  mein 
„Weihnachtsgeschenk"  unter  euch.  Ich  bin  gut  ver- 
sorgt und  werde  das,  was  ich  verzehre,  mit  drei- 
fachem Genuß  und  Nutzen  in  mich  einsaugen,  wenn 
ich  weiß,  daß  jene  Verteilung  von  euch  unter  euch 
wirklich  vorgenommen  wird. 

Deine  Stimmung  ist  jetzt  fortwährend  bösen 
Attacken  ausgesetzt,  so  daß  das  Bedürfnis,  Dir  nahe 
zu  sein,  mich  mehr  erfüllt  als  jemals.  Ich  möchte 
Dich  m  die  Arme  nehmen  und  tragen  —  durch  diesen 
Strom,  dieses  wilde  Meer.  Weißt  Du  noch,  wie  ich 
Dich  in  Heidelberg  den  Steg  hinauftrug?  Heidel- 
berg! Um  alles  in  der  Welt!  Aber  es 
kommt  noch  einmal  —  auch  für  uns  wird 
Heidelberg     auferstehn     — ,     Liebste     —     heiliger 

*)  „Der  Idiot". 
7»  99 


noch  als  einst.  —  Wann  besuchst  Du  mich?  Wie 
wirst  Du  die  Feiertage  verbringen?  Wie  war's  vor 
drei  und  noch  vor  zwei  Jahren!  Den  Freunden  be- 
richte das  Wesentliche,  auch  dieses  Briefs.  — 
Lenin-Tr  0  tzlcy  können  doch  nichts 
anderes  wollen,  als  ich  skizzierte.  Je  mehr 
ich's  mir  überlege,  um  so  klarer  wird's  mir,  um  so 
beruhigter  werde  ich.  Um  so  aussichtsreicher  oder 
doch  minder  aussichtslos  erscheint  mir  ihre  wag- 
halsige Taktik,  die  in  dem  allgemeinen  Morast,  vor 
allem  hier,  befreiend,  die  Atmosphäre  reinigend, 
wirken  kann.  Freilich  muß  hier  alles,  aber  auch 
alles  geschehen!  Jeder  Soldat  sei  eingedenk,  daß 
jeder  Tropfen  Schweiß  und  Blut,  die  er  heute  auf 
Hindenburgs  Befehl  vergießt,  die  Ausbeuter.  Erobe- 
rungs-Realpohtiker  unterstützt,  Hindenburgs  Offen- 
siven gegen  das  Wahlrecht,  den  Frieden.!  Lenin- 
Trotzky  müssen  ihre  Herrschaft  außer  durch  Frie- 
denspolitik (die  aber  nur  eine  anständige,  inter- 
nationale und  sozialistische  sein  darf  oder  nicht 
sein  darf)  befestigen  durch  soziale  und  wirtschaft- 
liche Umgestaltungen  großen  Stils,  d.  h.  Durch- 
führung der  sozialen  (nach  der  politischen)  Revo- 
lution! 

Ich  küsse  Dich  tausendmal  und  umarme  Dich  — 
Liebste  —  und  küsse  die  Kinder. 

Dein  Karlouschenka. 

Rosa  allerherzlichst  gratulieren.     Viele  Qrüße 
allen  Freunden.    Besten  Gruß  auch  Hilma. 


Luckau.  l.  3.  18. 
Meine  Liebste! 
Endlich  der  Brief.  —  Kurz  kam  er,  doch  er  kam. 
—  Ich  beantworte  ihn  näher  am  10.  3.,  meinem  Nor- 
malbrieftag; im  April  ist  dann  Besuchstag  und  „da 
leuchtet  ein  Bildchen,  ein  göttliches,  vor"  —  wie  ich 
mich  freue  — .  Du  beruhigst  mich  über  die  Kinder  — 
von  Dir  schreibst  Du  kein  Wort  —  wie's  in  Dir  aus- 
sieht weiß  ich  und  empfinde  ich  mit,  wenn  Du  es 
auch  bestreitest  —  nur  ein  Beweis,  daß  Du  mich 

100 


schlechter  kennst  und  verstehst,  als  ich  Dich.  Aber 
das  Körperliche  hat  auch  seine  Bedeutung  —  warum 
darüber  kein  Wort?  Ich  will  Dich  gesund  wissen 
und  wenn  ich  herauskomme,  ein  frisches  junges  Weib 
in  die  Arme  schließen.  Dafür  sorg  —  das  ist  keine 
Bitte,  das  ist  eine  Forderung! 

Eben  beginnt  der  Gefangenenchor  auf  dem 
Korridor  das  seit  einigen  Wochen  übliche  Abendhed; 
vierstimmig  —  eine  respektable  Leistung,  die  mir 
Musikfreund  willkommen  ist. 

Die  Schatten  der  Nacht  sinken  herunter  —  ich 
erwarte  das  Licht,  um  weiterschreiben  zu  können. 
Mit  Bobbs  Reise  bin  ich  einverstanden  —  ich  schreib 
ihm  einen  Zettel  darüber  —  laß  ihn  Dir  geben  — .  Er 
muß  das  ISchulpensum  selbst  durcharbeiten.  Mir 
scheint  die  Sache  sehr  gut  .  .  .  Danke  auch  Paul 
Hoffmann  .  .  . 

Wie  geht's  Rosa?  Ihre  Grüße  erwidere  ich 
herzlichst.  — 

Wäre  ich  nicht  so  blöd  und  schwerfällig.  —  Das 
benimmt  mir  oft  für  mich  persönhch  nur,  nicht  für 
die  Sache!  —  den  frischen  Ausblick.  —  Aber  was 
den  Teufel!  Schon  fangen  die  Amseln  an  vor  meinem 
Fenster  zu  pfeifen  und  flöten  —  Schon  seit  einer 
Woche!  —  Und  die  Stare!  Aber  andere  Frühlings- 
zeichen erlustieren  mich  noch  ganz  anders.  — 

Bald  mehr  —  könnt  ich  bei  Dir  sein!  Oder  Du 
bei  mir! 

Alles  alles  Beste  und  Küsse,  viele,  schönste 

Dein  Karl. 


Luckau,  den  10.  III.  18. 
(Am  492.  Straftag,  674.  Hafttag  —  Rest  968.) 

Liebste! 
In  aller  Morgenfrische  am  offenen  „Fenster", 
auf  dem  Zuschneidetisch,  nach  einer  Nacht  voll 
guter,  starker  Träume  und  zahlreicher  Notizen  im 
Dunkeln  —  nach  meiner  Technik  und  Manier.  Vor- 
läufig nur  Spatzengezwitscher.  Wie  weht  so  scharf 
der  Märzenwind.  Es  riecht  nach  1871  —  Paris  — 
und  1848-49  allerwärts  und  1917  in  Rußland,  wo  es 
jetzt  wörtlich  gilt:  Oue  veut  cette  horde  d'esclaveSt 

101 


de  traitres,  de  rois  conjures,  das  mir  heute  durch 
Mark  und  Bein  summt  und  brennt.  Der  anliegende 
Brief  an  Willi  handelt  vom  Schicksal  Deines  Briefes, 
das  sich  aber  ganz  anders  enthüllte:  Er  war  vom 
Herrn  Direktor  zurückgehalten  —  wegen  politischer 
Bemerkungen,  die  ja  —  wie  Du  vergessen  zu  haben 
scheinst  —  unzulässig  sind;  nach  Ausschneidung  des 
Beanstandeten  kam  ich  in  den  Besitz  aller  Deiner 
persönlichen  Worte,  die  so  rührend,  so  warm  sind, 
so  unmittelbar,  daß  sie  Dich  mir  ganz  gegeben 
haben,  in  meine  Arme,  so  weit  wir  auch  getrennt 
sind  und  die  mich,  wenn  Eros  noch  der  Allmächtige 
ist,  unsterblich  machen  werden.  Was  aber  das  Aus- 
gemerzte betrifft,  so  v/eißt  Du  ja,  daß  mein  Urteil 
von  Deinem  nur  durch  die  größere  Schärfe  abweicht. 
Und  dadurch,  daß  ich  es  in  Handlung  umsetze,  und 
auch  in  individuell  —  innerlich  erlösende  Tat,  wo 
immer  und  solange  ich  kann.  Gedanklich  —  (durch 
Analyse  der  Ereignisse,  zwecks  Aufdeckung  der  Ur- 
sachen des  Vergangenen,  zwecks  Klarlegung  der 
Zusammenhänge,  des  Oegenvvärtigen,  zwecks  Ab- 
leitung der  Prognose  für  die  Zukunft  und  Fest- 
stellung der  Aufgaben  für  Gegenwart  und  Zukunft) 
—  die  Ereignisse  laufend  verarbeitend,  schon  diese 
Gedankenoperationen  des  Politikers,  die  dem  Han- 
deln vorangehen,  erheben  über  die  Ereignisse,  sie 
geistig  bewältigend.    Nicht  des  sub  specie  aeterni- 

tatis   bedarf's    hier wirf   einen   Blick 

über  die  Geschichte  —  und  Du  wirst  wunderbar  ge- 
stärkt sein.  Die  Zwischenspiele  dieser  Tage  werden 
Dich  nicht  mehr  verwirren,  alles  Gedröhn  nicht  be- 
täuben. Wie  klein  und  erbärmlich,  ja  scheint  mir 
auch  lächerlich,  sind  die  Menschen,  gerade  die,  die 
sich  am  größten  dünken.  Zwischenspiele,  Zv/ischen- 
spiele  und  inzwischen  heißts  für  jeden,  seine  Schul- 
digkeit zu  tun.  (Denk  an  Napoleons  Dutzend-Renu- 
bliken,  seine  Staatenfabrik.  Die  Kultivierungswir- 
kung ist  freilich  diesmal  mehr  als  problematisch. 
Nicht  revolutionäre  Errungenschaften  werden  ex- 
portiert, sondern  ihr  Gegenteil.  Und  nichts  ist 
sicherer  Episode,  als  was  den  Stempel  plumper 
Opposition  gegen  die  Naturgesetze  trägt.  Unheil 
genug  kanns  freihch  bringen.)  Das  persönhch  Pri- 
vate, das  Schicksal  Deiner  Mutter  und  Deiner  Ge- 

102 


schwister,  das  freilich  ist  damit  nicht  abgetan.  Daß 
ich  Dir  jetzt  nicht  zur  Seite  stehen  l<:ann,  in  diesen 
auffressenden  Aengsten,  greift  mir  so  in  die  Seele. 
Alles  bewegt  mich,  jede  Zeitungsnachricht,  die  auf 
ihre  Lage  Bezug  haben  kann.  Was  wird  sich  dem 
Auge  bieten,  wenn  sich  die  Sintflut  verläuft,  die 
chaotischen  Dünste  verziehen?  Noch  ist  nicht  ein- 
mal an  Nachricht  zu  denken.  Ich  möchte  Deine 
Hand  halten  und  Deine  Stirn  küssen  und  Dich  nicht 
von  mir  lassen. 

In  drei  Tagen  ists  ein  Jahr,  —  seit  Du 
vor  Deiner  Fahrt  nach  Ebenhausen  bei  mir  warst, 
zum  ersten  Mal  allein.  Und  schon  sinds  2V^  Monat 
seit  Deinem  letzten  Besuch.  Bald  hab  ich  Dich 
wieder  auf  eine  Stunde.  Rechtzeitige  Nachricht. 
Ich  hörte  von  Deinem  kranken  Fuß,  ich  möchte  ihn 
gesund  küssen.  Erinnerst  Du  Dich,  wie  wir  einst 
im  Grunewald  auf  der  schönen  Terrasse  saßen? 
Bei  einer  Bowle?  Wir  zwei  allein.  Da  hattest  Du 
dieselben  Schmerzen  und  zogst  den  Schuh  aus  — 
zu  meiner  Erlustierung!- 

Was  Du  von  den  Kindern  schreibst,  freut  mich. 
So  muß  es  bleiben.  Bobbi  und  Vera  waren  am 
2.  herzlich  und  munter  und  sahen  wohl  aus.  —  Auch 
Willi  und  Lottchen,  die  höchst  angenehme  Ueber- 
raschung.  Bobb  war  nicht  sehr  für  Holland.  —  Das 
gute  Kerlchen  trennt  sich  nicht  gern  von  euch,  er 
ist  ein  Familienmensch  und  weichen  Gemüts.  Vor 
allem  möchte  er  nicht  bis  Kriegsende  gebunden  sein, 
das  ist  ja  auch  nicht  nötig.  Zunächst  ein  halbes 
Jahr,  nicht  wahr?  Aber  entscheide  Du,  Du  triffst 
schon  das  Rechte.  Er  muß  natürlich  Bücher  mit- 
nehmen. Außer  den  Schulsachen  Geschichte,  Geo- 
graphie und  Naturgeschichte.  (Schillers  Abfall  der 
Niederlande,  Goethes  Egmont,  der  so  ganz  unhisto- 
risch edel,  und  doch  voll  wahren  Lebens,  soll  er 
lesen.) 

Hier  gewaltiger  Umsturz:  Auf  Veranlassung 
des  Reichswirtschaftsamts  wird  die  Schusterei  in 
den  Strafanstalten  eingestellt;  obgleich  auf  Simons 
(Nürnber^^*  Wunsch,  wie  mir  scheint,  sinnlose 
Weise.  Meine  Zukunft  liegt  im  Düsteren.  Hof- 
fentlich  nicht   Korbflechterei. 

Vielleicht  einige  Wochen  Interregnum,  „Arbeits- 
los 


losigkeit",  die  für  mich  hieße:  Arbeiten  können,  was 
mein  Herz  begehrt  (cum  grano  sahs)  dann  würde 
ich  Bücher  brauchen  (vgl.  Zettel).  Jedenfalls  wird 
sich  mein  Zustand  umwälzen. 

Deine  „Befreiungshoffnung"  wäre  mir  wenig 
sympathisch;  und  wie  ich  alles  Amnestieartige  und 
gar  ein  Geplärre  darum  zum  Teufel  wünsche,  ist 
Dir  bekannt.  Entweder  —  oder.  Vorläufig  heißts 
noch:  in  die  Zuchthäuser!  Nicht:  aus  den  Zucht- 
häusern. 

Mehrings  Erkrankung  beunruhigt  mich  sehr,  ich 
hoffe,  die  Besserung  hat  angehalten.  Sage  ihm  das 
und  meine  besten  herzhchsten  Wünsche  und  meine 
Gratulation  zu  seiner  Landtagsrede,  die  ich  freihch 
nicht  gelesen  habe  (mangels  Zeitungsbericht),  deren 
—  übrigens  selbstverständliche  Vortrefflichkeit  sich 
aber  aus  einer  gehässigen  Bemerkung  der  Deutschen 
Tageszeitung  ergibt.  Wenn  er  freilich  auf  der 
Straße  so  stürmt,  daß  solche  Konfhkte  und  Karambo- 
lagen entstehen,  so  ists  an  der  Zeit,  Freund  Fran- 
ciscus  zu  erinnern,  daß  er  nicht  17,  sondern  12  Jahre 
alt  ist!  Grüße  beide  sehr,  d*esgleichen  alle  Freunde, 
lulek  und  die  Seinen,  Käthe,  Mathilde,  Frau  Rosen- 
baum, die  Hoffmiänner,  Hofer  und  Ströbel. 

.  .  .  Jüngst  nahm  ich  die  Odyssee  zur  Hand,  die 
Kunst  ist  unvergleichlich.  Diese  klare  Gegenständ- 
hchkeit,  diese  leuchtenden  Farben,  diese  reine  Na- 
türhchkeit,  und  dabei  doch  wie  edel  stilisiert.  Im 
Großen  und  im  Kleinen,  Alltäglichen  —  vgl.  den  An- 
fang des  20.  Gesangs,  Odysseus  in  der  Nacht  —  und 
dann  das  erwachende  Treiben  im  Hause  am  iVlorgen, 
welche  prägnante  Kürze  —  ein  vollendetes  Genre- 
bild ans  andere  gereiht  —  aber  alles  durchaus  in 
Handlung  aufgelöst.  Und  im  24.  Gesang  Agamem- 
nons  Schilderung  von  Achills  Tod  und  die  Trauer 
um  ihn  (zu  Achills  Schatten  in  der  Unterwelt): 

„Dich  umringten  die  Nymphen,  des  Nereus  Heb- 
liche Töchter, 

Um  Dir  schluchzend  den  Leib  in  ambrosische 
Kleider  zu  hüllen. 

Alle  die  Musen,  die  neun,  mit  silbernem  Ton  in- 
einander 

Stimmend,  klagten  um  Dich,  und  ringsum  weinten 
die  Krieger." 

104 


Die  Odyssee  ist  übrigens  eine  Epopöe,  ein  Hohe- 
lied der  Treue,  der  Treue  des  Gatten  (der  selbst  Ka- 
iypsos  Versucliung  und  Unsterblichkeitslocl^ung 
widerstellt!),  der  Gattin,  des  Sohnes  und  der 
Dienstmannen,  ja  selbst  der  Tiere  (Hund  Argos, 
17.  Gesang)  und  der  Treue  zur  Heimat  —  d.  h.  jener 
angeblich  spezifisch  deutschen  Tugenden,  die  im 
Nibelungenhed  und  Gudrun  nur  einseitig  in  der  Form 
der  Frauen-  und  Dienstmannentreue  ins  Großartig- 
Ungeheure  gesteigert  sind. 

Jahrzehnte  möchte  ich  studieren,  ohne  aufzu- 
sehn,  und  zugleich  frei  wirken  können,  ohne  zu 
rasten.  Ich  brauche  ein  verdoppeltes  Leben  um  ganz 
Ich  sein  zu  können. 

Es  ist  nachmittags,  gleich  muß  ich  schließen  und 
abhefern.  Mittags  kamen  die  Zeitungen  —  mille 
fois  merci.  Und  gestern  ein  Paket,  dafür^uch,  wie 
für  die  neuhch  gebrachten  Klöße  Dank,  Dank,  vielen 
Dank.  Zweimal  •  letzthin  Malheur:  eine  Flasche 
(Salat)  und  ein  Honigglas  zerbrachen.  Ihr  müßt 
Glas  möglichst  vermeiden  (lieber  Blech),  wenn  aber 
doch,  so  nie  unmittelbar  an  den  Rand  legen,  wo  di- 
rekter Stoß  und  Druckgefahr  —  und  gegen  alles 
Harte  gut  geschützt.  Das  „Aktionsbuch"  und  Ottos 
Geschenk  wurden  mir  nicht  ausgehändigt,  heb  sie 
und  die  anderen  zurückgegebenen  Bücher  gut  auf. 
Mir  liegt  die  Erhaltung  und  Verbesserung  meiner 
Bibiliothek  sehr  am  Herzen. 

Wann  seh  ich  Dich!  Sorg  für  Dich  —  ich  bin 
versorgt  —  könnt  ich  nur  heraus  —  es  reißt  mich 
heraus.  Leb  wohl!  Man  kommt  zum  Abholen  — 
ich  küsse  Dich,  streichle  Deine  Schläfen,  umiarme 
Dich  —  Liebste.  Denk  an  mich  und  halte  Dich  auf- 
recht, stark  und  stolz  —  und  wärens  zehnmal  mehr 
und  schlimmere  Feinde  als  heut  —  wir  stehen  zu- 
sammen —  Du  und  Dein  Karl. 

An  Helmi  schreibe  ich  wegen  der  Körperbewe- 
gungen, Freiübungen  usw.  Das  beachte  auch  Du! 
Du  turntest  ja  früher,  es  ist  rasend  wichtig  für  die 
ganze  Leistungsfähigkeit.  Wie  ists  mit  evtl.  Fecht- 
unterricht für  Helmi!  Er  darf  kein  Stubenhocker 
werden. 

Zu  Bob:  Bitte  schreibe  der  Scheveninger  Fa- 
milie, daß  sie  von  allem  Wichtigen,  besonders  von 

105 


jeder  Erkrankung,  stets  sofort  Mitteilung  machen, 
evtl.  auch  telegraphisch,  daß  sie  Bob  vor  schlechter 
Gesellschaft,  deren  Gefahr  in  einem  Badeort  be- 
sonders nahetritt,  hüten,  ein  regelmäßiges  Leben  mit 
Schlaf  und  Bewegung  im  Freien  und  tüchtiger  Arbeit, 
aber  auch  Bewegungsfreiheit  fördern.  Bob  muß  ganz 
regelmäßig  schreiben,  wöchentUch  zweimal,  und 
wenn  auch  ganz  kurz. 

An  Vera 

Liebstes  kleinstes  Mäuschen! 

22  Monat  sitze  ich  jetzt  eingesperrt  im  Käfig. 
Ist  das  nicht  schade?  Und  32  Monate  stehen  noch 
bevor  —  ein  Drittel  der  Strafe  ist  herum:  ist  das 
nicht  schon  ein  ganzer  Batzen?  Es  wird  rasch  zu 
Ende  sein!  Und  wir  werden  uns  wiederhaben  — 
nicht  bl(^  so  alle  Viertel-  oder  halben  Jahre. 
Drosseln  pfeifen  schon  vor  meinem  Fenster  —  und 
doch  gibts  heut  wieder  Schnee!  In  ein  paar  Stunden 
sehe  ich  Dich  und  küsse  Dich  und  höre  alles  von  Dir 
—  aber  D  e  i  n  B  r  i  e  f  fehlt  noch!  Er  wird  Dir  nicht 
geschenkt.  Schwarz  auf  weiß  will  ich  hier  bei  mir 
in  der  Zelle  haben,  was  Vera  mir  zu  berichten  hat. 
Schon  werde  ich  gerufen.  —  Gleich  kommen  die 
lebendigen  Küsse. 

Sei  artig!     Fleißig!     Brav! 

Dein  Papa. 

Zu  Deinem  Geburtstag  schreib  ich  noch.  — 
Gruß  und  Kuß  Lotte,  Poch  und  den  Herren  Vettern 
in  der  Thomasiusstraße.  —  Onkel  Thele  und  Tante 
Lu  natürlich  nicht  minder. 


(Im  Zuchthaus  geschrieben), 
(wahrscheinlich  April   1918) 

NACHTGEDANKEN 

Fang  ich  euch,  Träume,  Bilder,  die  ihr  mich 

Umflattert,  wie  ich  in  mein  Innres  sinne? 

Ich  greife  zu,  ihr  gleitet  durch  die  Hand  — 

Wie  Mondes  Silberlicht;  ihr  schlüpft  davon  — 

Scheu,  geisterhaft.  —  Ich  werfe  meine  Schlingen 

Euch,  Flüchtige,  zu  halten;  —  wehe,  wehe  — 

Ihr  schwindet  fort  —  versinkt,  entweicht  —  wohin? 

106 


Ihr  süßen  Träume,  elfenzarte  Schemen  — 

Wenn  ich  euch  habe,  hab  ich  Seligkeit!  — 

Mein  Herz  will  überfließen,  meine  Sinne 

Zurück  ins  Innere  gekehrt,  sie  fühlen 

Euch  nah,    — fast  hab  ich  euch,  ihr  Lieblichen!  — 

Doch  ihr  entflieht,  entflieht,  entfliehet  wieder  — 

Und  meine  Seele  sinkt  ermattet  hin  — 

Wie  faß  ich  euch,  wie  halt  ich  euch,  Gebilde? 

Werd  ich  euch  je  und  je  erreichen  können 

In  stillen,  fremden  Schauern  nur  geahnte 

Geschöpfe  aus  geheimen   Wundertiefen.  — 

Horch  ich  nach  Innen  —  leise  da  hör  ich  euch  — 
Blickend  in  mich  hinein,  dämmernd  da  schau   ich 

euch  — ; 
Schleich  ich  zu  euch  heran  —  immer  doch,  immer 

doch. 
Seid  ihr  verschwunden.  — 


Luckau.  den  11.  Mai  1918  (553.  Tag) 

(Rest  907). 
Liebste ! 

Bleistift,  da  Löschpapier.  Verzeih.  Zunächst 
zum  Fall  Bob.  Ganz  Deiner  Ansicht,  wenn  Du  sie 
auch  selbst  als  „kleinbürgerlich"  karikierst,  komme 
aber  doch  zu  anderemi  Ergebnis,  das  ich  Dir  unter- 
breite, ohne  Dir  vorzugreifen,  ganz  unmaßgeblich. 
Du  entscheidest  .  .  .  Also:  die  Jungen  befinden  sich 
jetzt  in  einem  Ausnahmeverhäfitnis,  gerade  wenn  sie 
die  Schule  besuchen.  Der  Unterricht,  die  Schulfeiern, 
alle  sonstigen  Einwirkungen  der  Schule  sind  heute 
für  sie  eine  fast  ununterbrochene  Kette  von  Wider- 
wärtigkeiten und  Demütigungen.  Das  ist  mir  nach 
den  Schilderungen  der  Briefe,  die  die  Wirklichkeit, 
wie  ich  weiß,  noch  bei  weitem  nicht  erreichen,  wieder 
so  lebendig  geworden,  daß  ich  es  aussprechen  muß. 
Auch  ich  habe  in  meiner  Jugend  eine  Fülle  politischer 
Anfechtungen  erfahren,  in  der  Schule  und  anderwärts, 
und  ich  habe  sie  mit  Stolz,  Verachtung  und  Mitleid 
getragen;  und  sie  haben  mich  gefestigt  und  erhoben. 
Ich  denke  nicht  daran,  meine  Kinder  verzärteln  zu 
wollen;  mögen  sie  sich  früh  Narben  holen,  so  werden 
sie  rechtzeitig  hart  sein.    Aber  in  der  Schule  handelt 

107 


es  sich  heute  um  keinen  Kampf,  der  stählt,  sondern 
um  passives  Erdulden,  um  stumpfe  Ergebung,  die  ent- 
nervt, und  noch  mehr:  um  häßliche  Kompromisse  von 
Tag  zu  Tag.  Du  entsinnst  Dich  der  Kaiserhoch- 
Affaire  Bobs.  Bob  war  vor  Gott  und  der  anständigen 
Welt  im  Rechten,  da  er  nur  als  aufrechter  ehrlicher 
Junge  sich  geweigert  hatte,  an  einem  Akt  teilzu- 
nehmen, der  seinem  ganzen  Empfinden  und  Denken 
widersprach.  Das  gab  selbst  Dr.  Prenzel  zu  und 
dennoch  wurde  das  Ultimatum  gestellt:  entweder 
künftig  alles  mitmachen  —  ohne  Rücksicht  auf  die 
Gesinnung,  oder  die  Schule  verlassen;  und  so  kam 
das  Kompromiß  zustande,  unter  dem  die  armen  Kerle 
jetzt  ,im  Krieg  dauernd  leiden.  Fortgesetzt  auf- 
gezwungene Unwahrhaftigkeit,  tiefste  Unsittlichkeit 
—  nun  Du  v/eißt  ja,  w^as  ich  meine.  Sie  müssen  sich  ja 
fügen,  wollen  sie  ihr  Leben  nicht  im  Keime  zerstören. 
Nicht  einmal  der  Weg  ins  Ausland  steht  ihnen  ja  heute 
offen,  wenn  sie  verwiesen  werden.  Kurz  und  gut: 
Kann  man  ihnen  diese  demoralisierenden  Erlebnisse 
abkürzen  —  so  soll  man  es  tun,  scheint  mir.  Genug  um 
ihnen  die  fürs  Leben  nötige  Fügsamkeit  beizubringen, 
bleibt  doch  noch  übrig.  Ich  rede  nicht  vom  Lernen. 
Handelte  es  sich  darum,  so  wäre  ich  unerbittlich 
und  ganz  Peitsche.  Sage  nicht,  daß  solche  Demüti- 
gungen heute  auch  Dir,  auch  jeden  außerhalb 
der  Schule  nicht  erspart  bleiben;  sicher,  aber  die 
Fälle  liegen  doch  verschieden  und  die  Erleichterung, 
die  möghch  ist,  sollte  man,  beiden  Jungen, 
auch  Bob,  zuteil  \yerden  lassen.  Sie  sind  m 
einer  Ausnahmelage  gegenüber  der  Schule;  indem 
man  sie  davon  befreit,  stellt  man  sie  in  die  Situation, 
in  der  sich  ihre  —  mit  dem  Strome  schwimmenden  — 
Kameraden  befinden.  Dies  meine  Ansicht.  Natür- 
lich kommt  ein  Dispens  nur  in  Frage,  wenn  er  mög- 
lich ist.  D.  h.,  wenn  er  bei  der  Schule  erzielt  werden 
kann  und  eine  Verwendung  des  Dispenses  zu  er- 
warten ist,  die  nicht  schlimmer  ist,  als  das  zu  ver- 
meidende Uebel.  Natürlich  darf  das  Schulziel  nicht 
gefährdet  werden.  Daran,  daß  Bobbi  auch  ohne 
Schule  fleißig  lernen  wird,  zweifle  ich  nicht,  natür- 
lich darf  er  nicht  ins  Bummeln  und  Lüderjahnen 
geraten;  Ordnung  tut  ihm  vielleicht  noch  mehr  not 
als  Helmi 


108 


.  .  .  Seit  einiger  Zeit  bin  ich  in  den  Stand  der 
Tütenkleber  getreten;  die  beschäftigungslose,  die 
köstliche  Zeit  hat  leider  nicht  lange  gewährt.  Vorläu- 
fig noch  Lehrling.  Das  Pensum  beträgt:  1000  pro 
Tag.  Durch  Zählen  (eins  —  zwei  —  drei  —  bei  jeder 
Tüte)  suche  ich  mich  zu  spornen  und  zu  unterhalten. 
Die  Arbeit  ist  reinlich  und  relativ  angenehm.  Für 
mein  Studium  bleibt  jetzt  nur  wenig  übrig:  von 
6  Uhr  früh  bis  ^'48  abends,  bleiben  außer  der  Mittags- 
und Abendpause  nur  ein  paar  Viertelstunden;  in 
denen  auch  zu  essen  und  der  „Haushalt"  zu  ordnen 
ist.  Aber  die  Abende  werden  länger,  ich  werde  sie 
nach  Kräften  ausnutzen,  ich  bin  so  durstig  und 
möchte  das  Meer  austrinken  .  .  . 

...  Ja,  mein  Kind,  der  „Friede  im  Osten"  ist 
geschlossen!  Du  wunderst  Dich,  auch  das 
Wort  „Frieden"  hat  heut  seine  Bedeutung  ver- 
ändert. In  der  Tat,  eine  neue  Sprache  tut 
not  ...  Du  wußtest  bisher  nicht,  daß  Du  eine 
Ukrainerin  bist.  Jetzt  wird  Dir's  eingepaukt.  Aber 
ruhig.  Liebste,  —  Episode  —  Episode  —  Episode  — 
Kartenhaus  —  Kartenhaus  —  Kartenhaus  —  Eintags- 
fliegen —  Eintagsfliegen  —  Eintagsfliegen.  Und  was 
ich  sonst  noch  sagen  möchte  und  nicht  sagen  darf, 
weißt  Du.  Du  unpohtischstes  Geschöpf  der  Erde 
empfandest  in  der  russischen  Botschaft  doch  rich- 
tiger als  die  Politiker,  von  denen  Du  erzählst.  Grüß 
Joffe  und  die  übrigen  von  mir.  Daß  Du  um  alles  in 
der  Welt  bei  ihnen  und  anderen  keinen  Firlefanz, 
keine  Wehleidigkeiten,  kein  Brimborium  irgend  wel- 
cher Sorte  um  mich  machst;  meine  jetzige  Lage 
ist  eine  Selbstverständlichkeit  und  Kleinigkeit,  nichts 
weiter.  So  fasse  ich's,  so  faßt  Du's,  so  fassen  es 
Fahne,  Maikommers,  Karl-Marx-Amnestien  —  Spie- 
lereien —  Spielereien  —  treiben  sie  die  rechte  Po- 
litik, darauf  allein  kommt  es  an.  Von  Dehors  und 
honneurs  mag  ich  heutzutage  nichts  hören.  Gern 
wäre  ich  draußen  —  um  kämpfen  zu  können,  möchte 
zugleich  hier  sitzen  und  draußen  wirken  und 
schaffen,  was  mein  Herz  begehrt.  Wäre  meine 
Kraft  so  groß  wie  mein  Wille.  Genug  davon. 
Die    wetterängstliche    Verzärtelung^    kann    einen 


*)  Es  handelt  sich  um  eine  verabredete  Bezeichnung  der 
Demonstrationen.  F.  P. 

109 


Hund  jammern.  Heraus  ins  Freie!  Abhärtung,  Soll 
ewig  jeder  Luftzug  einen  Schnupfen  bringen  und 
jeder  Schnupfen  zitterndes  Zimmerhüten,  so  mag  ein 
Frosch  Mensch  sein  .  .  . 

Es  wird  dunlcel  —  Leb  wohl.  Liebste,  die  ich  mit 
tausend  Fäden  meiner  Sehnsucht  zu  mir  ziehen 
möchte.  Ich  küsse  Dich,  Deine  Hände,  Deine  Augen 
und  Deinen  Mund.    Vergiß  mich  nicht. 

Deinen  Karolus 


Für  Pfemfert  zu  Diesterwegs  Sl^izze  von  Benn; 
Bei  aller  Abstrusität  der  Form  —  sie  imponiert  mir; 
—  ein  Stück  tiefsten  Expressionismus  —  alles  Sein 
und  Geschehen  ausschließlich  und  unbedingt  nur  in 
der  Spiegelung  erfaßt,  die  es  in  der  Seele  Diesterweg 
findet;  im  Schatten,  den  es  in  die  Höhle  seines 
Innern  wirft  —  nach  Piatos  großem  Bilde.  An 
Hamsuns  Auflösung  der  Welt  in  Stimmung  und  Emp- 
findung gemahnend,  auch  in  der  Eindringlichkeit  der 
Schilderung  ihm  verwandt  .  .  .  Bakunin  bekam  ich 
leider  nicht.    Danke  Pfemfert  und  grüße  beide. 

—  —  —  Versäume  doch  —  trotz  des  Stall- 
geruchs^)  —  den  Wüllnerschen  Manfred  nicht. 
Wüllner  ist  gewaltig  und  dem  Manfred  umso  kon- 
genialer, als  er  um  verwandter  Erlebnisse  willen 
Vergessenheit  sucht.  Es  ist  Unsinn,  Manfred  als 
Faust-  und  Hamlet-Pfropfreis  aufzufassen.  Er  ist 
das  persönhchste,  allereigenste  von  allen  Byronschen 
Werken,  ein  reines,  fast  zu  individuelles  Selbst- 
bekenntnis, eine  dramatische  Gestaltung  des  Seelen- 
zustands,  in  den  ihn  das  Verhältnis  zu  seiner 
Schwester  gebracht  hatte.  Aber  zu  solcher  Er- 
habenheit und  schließlich  doch  Allgemeingültigkeit 
gesteigert,  daß  es  ein  gleich  ergreifendes  mensch- 
liches Dokument  schwerlich  gibt.  Die  Schumann- 
sche  Musik  wird  Dich  auch  packen.  Ich  glaube, 
auch  Helmi  soll  es  versuchen.  — 

Sobald  Brief  an  Deine  Mutter  möglich,  gib  Nach- 
•richt.  Welche  Erleichterung,  daß  ihr  Brief  kam. 
Wie  glücklich  bin  ich  für  Dich.  — 


^)  Manfred  wurde  im  Circus  gespielt. 
110 


Luckau,  20.  5.  18. 
Mein  kleines  Böbbchen! 

Was  Du  mir  leid  tatst  —  und  wir  gern  ich  Dich 
zur  Pflege  mitgenommen  hätte  !^)  Aber  nur  keine 
Hypochondrie  —  diese  Anfälle  haben  nichts  zu  be- 
deuten —  wenn  das  Nötige  dagegen 
getan  wird!  Das  weiß  ich  aus  meiner  Jugend. 
—  Und  das  Nötige  ist:  gute  Pflege,  Schonung, 
nicht  Ueberanstrengung  —  weder  körperhch, 
noch  geistig.  Früh  zu  Bett.  Lang  und  gut  schlafen. 
Aber  keine  fünf  Minuten  wach  im  Bett  liegen. 
Kein  Einschließen.  Viel  in  frischer  Luft:  nimm 
Deine  Bücher  mit  hinaus  —  lerne  dort  im  Lagern 
beim  Vogelgesang  und  Schmetterlingsgeflatter  und 
Wolkenzug.  Aber  Augen  geschont  (nie  in  der 
Sonne  lesen). 

Kopf  hoch,  mein  Kerlchen.  S'ist  halt  eine  Sau- 
zeit, aber  gerade  für  euch,  wie  ich  weiß  auch  eine 
große  Zeit.  Nur  für  euch,  die  Jugend.  Und  darum 
Kraft  und  Stolz  gegen  alle  Bedrängnisse,  die  ich  euch 
wahrhaftig  gern  auf  ein  späteres  Alter  verschoben 
hätte.  Kopf  hoch  und  —  bei  Schonung!  —  fleißig 
für  Schule  arbeiten.  Das  Pensum  muß  erledigt 
werden. 

Wie  schade,  daß  ich  Deine  Zeichnungen  dies- 
mal nicht  sah.  Da  war  ich  Dir  richtig  böse.  Du 
weißt  doch,  wie  mich  das  interessiert.  Hast  Du 
Unterricht?     Ich  vergaß  ganz  zu  fragen.  — 

Ich  küsse  Dich  —  alles  wird  gut  sein!  — 

Dein  Papa,  der  allen  im  Juni  schreibt. 


Luckau,  16.  6.  18. 

An  Vera. 

Mein  Mäuschen! 

Also  nach  Holland  ausgerissen  —  ans  Meer.  Ei 
der  Teufel!  Und  nicht  mit  einer  Silbe  mir  Adieu 
gesagt.    Sünderin,  kleine. 

Wohl  fühlst  Du  Dich,  vergnügt  wie  eine  Schnee- 
königin oder  wie  der  Buchfink  vor  meinem  Fenster. 
So  schrieb  mir  Sonja.  Und  so  ists,  hoffe  ich,  wahr. 
Aber  Vorsicht  —  verstehst  Du?    Eure  Küste  ist  ge- 


*)  Bobbi  wurde  beim  Besuche  ohnmächtig:.          F.  P. 

in 


fährlich!  Da  kommen  Minen  angeschwommen  und 
törichte  Menschen  spielen  mit  ihnen  und  sie  explo- 
dieren und  alles  geht  in  Fetzen.  Daß  Du  mir  fern- 
bleibst von  solchen  Dingen,  nicht  wahr?  Und  auch 
sonst  vorsichtig.  Und  artig  —  und  freundhch  — 
und  dankbar  denen,  die  Dich  so  gut  aufgenommen 
haben,  so  vortrefflich  verpflegen  und  versorgen. 
Danke  ihnen  auch  von  mir  aufs  herzlichste  und  grüße 
sie.  Vergiß  auch  die  Schule  nicht  —  es  darf  kein 
Zurückbleiben  geben.    Nicht  wahr? 

Ich  bin  wohlauf  —  und  werde  noch  wohler  sein, 
wenn  ich  zuweilen  von  meinem  Mäuschen  ein 
Lebenszeichen  bekomme. 

Viele,  viele  Grüße  von 

Deinem  Papa. 


16.  6.  18. 
Lieber  Helmi! 
■Deine  Abfahrt  steht  bevor  —  noch  ein  paar 
kurze  Worte: 

Schicke  Dich'in  die  Leute,  auch  wenn  Dir  vieles 
fremd  und  unbehaglich  und  unerwünscht  scheinen 
mag:  es  wird  nur  der  erste  Eindruck  sein.  Was  Dir 
auch  gegen  den  Strich  gehen  mag:  verschlucke 
Deine  Bedenken  —  such  jeden  erst  aus  sich  selbst 
und  seinen  Verhältnissen  heraus  zu  verstehen  —  so 
wirst  Du  mit  ihm  leben  können.  Kritisiere  Dich 
selbst  mehr  als  andere,  so  wirst  Du  erkennen,  daß 
alle  Fehler  der  anderen  auch  in  Dir  stecken.  Wie- 
viele Erfahrungen  derart  mache  ich  jetzt  im  Zucht- 
haus! 

Schone  die  Leute  auch  in  Politicis  (natürlich 
unter  fester  Wahrung  Deines  Standpunktes),  wenn 
sie  so  harmlos  und  unpolitisch  sind  wie  ich  vermute. 
Kurz:  Takt,  Takt  —  äußeren  — ,  noch  mehr  aber 
inneren.  Alles  Kleine  und  Aeußerliche  aus  dem 
Sinn.  Frisch  die  frische,  strotzende  Natur  genossen, 
frisch  das  Landleben. 

Du  wirst  bald  fühlen,  ob  man  kleine  Gefällig- 
keiten, ein  Zur-Hand-gehen  in  diesem  und  jenem  von 
Dir  erwartet  —  sei  gefällig!  Eventuell  auch  in  die- 
ser oder  jener  landwirtschaftlichen  Verrichtung. 
Sieh   Dich  um.  in   der  Landwirtschaft, 

112 


suche  sie  zu  verstehen.  Das  ist  höchst  wertvoll. 
Natürlich  keinen  freiwilligen  „Hilfs- 
dienst", auch  keinen  Ansatz  dazu. 

Schule  nicht  vergessen!  Ich  will  kein  Zurück- 
bleiben, keinen  Durchfall.  Arbeite  systematisch. 
Ein  ruhiges  Plätzchen  drinnen  (und  seis  in  der 
Scheune  oder  im  Stall)  oder  draußen  wirds  immer 
geben.  So  hab  ich  mich  zu  allen  meinen  Examini 
auch  vorbereitet. 

Aber  immer  draußen  hegen  —  wenns  nicht 
Feldsteine  regnet.  Ausflüge.  Beim  Baden  und 
überhaupt  in  der  fr e m den  Natur  Vor- 
sicht. Der  bayerische  Wald  ist  doch  recht  weit 
ab.  Sieh  Dir  auch  die  Städte  an  und  Dörfer  und  ihre 
Eigenart  in  Bau  und  Leben.  Viel  kannst  Du  seelisch 
und  physisch  von  dieser  Reise  profitieren.  Ich  weiß 
nicht,  wie  lang  sie  dauern  soll,  aber  ich  hoffe  be- 
stimmt, daß  sie  nicht  vorzeitig  abgebrochen  wird. 

Mein  Pflanzenbuch  ist  bei  Delitzsch  (aus  Glatz!). 
Das  Vogelbuch  benutze  auf  der  Reise  gut  —  hebe 
die  Natur  —  dann  entbehre  ichs  gern.  Wir  müssen 
stets  wissen  wies  Dir  geht!  Gib  regelmäßig  Nach- 
richt nach  Hause  und  zuweilen  auch  an  mich. 

Dein  „Jäger"  (Neuere  Geschichte)  ist  zum  Teil 
nicht  schlecht;  echt  nationalliberal,  aber  mit  diesem 
Vorbehalt  meist  brauchbar;  sogar  mit  hchten  Inter- 
vallen. 

Nun  leb  wohl!  Halte  Dich  tanfer  und  nutze  die 
Zeit  systematisch.  Alles  Beste.  Sei  freundlich  zu 
allen  Menschen.    Ich  küsse  Dich. 

Dein  Papa. 


Luckau.  den  16.  VI.  18. 
Liebste! 

Nach  einer  Nacht,  in  der  mich  eine  fiedelnde  und 
stechende  Mücke  so  beharrlich  verfolgte,  daß  ich 
veritabel  von  ihr  träumte,  am  jungen  frischen  Morgen, 
während  ich  durchs  Fensterchen  hoch  in  den  Wolken 
zwei  Habichte  kreisen  sehe,  komme  ich  zu  Dir, 
zu    meiner    Sonitschka.    Deine    beiden    Maibriefe 

8  113 


liegen  vor  mir:  der  letzte  voller  Sorge  um  mich. 
Mager  soll  ich  geworden  sein.  Nun,  Kurts  Fach- 
urteil wird  diese  Nebelschwaden  zerblasen  haben, 
ich  bin  vollkommen  in  Ordnung  und  meine  Unruhe  um 
Euch,  speziell  um  Bob,  hält  sich  doch  in  den  Grenzen, 
die  einem  Gatten  und  Papa  nach  Natur-  und  Kunst- 
recht zustehen,  wahrlich  kein  Wechselwirkungs- 
unruhegrund für  Euch.  Und  Deine  iVlaßnahmen  für 
Bobs  Gesundheit  sind  so  glänzende  Zeugnisse  Deiner 
Umsicht,  daß  jedes  Wort  dazu  schattenhaft  bleibt. 
Ich  bin  beruhigt,  mein  Herz,  bis  auf  eins:  das  bist  Du. 
Die  Kinder  hast  Du  aufs  Herrlichste  untergebracht, 
mich  fütterst  Du,  wie  schwerlich  eine  andere  Frau 
in  der  Welt  ihren  Mann,  aber  was  tust  Du  für  Dich? 
Könnte  ich  dekretieren,  könnte  ich  um  Dich  sein, 
Dich  in  meine  Arme  nehmen  und  dahin  tragen,  wo  es 
am  schönsten  ist.  Könnte  ich  Dich  in  eine  Nachti- 
gall verwandeln,  oder  in  eine  glitzernde  Libelle  und 
Du  flögest  durch  die  Gitter  zu  mir,  und  niemand 
wüßte  davon.  „O  wäre  nur  ein  Zaubermantel  mein". 
Wo  bleibst  Du,  unmöglich,  daß  Du  etwa  längere  Zeit 
und  noch  gar  ohne  Hilma  allein  in  der  Wohnung 
sitzt  ...  Im  Juli,  in  drei  bis  vier  Wochen  höchstens 
ist  Termin  für  Deinen  Besuch.  Ueber  zwei  Monate 
schon  seit  dem  letzten!  Dann  wirst  Du  mir  über 
alles  Näheres  berichten,  auch  von  Deinen  Bezie- 
hungen zur  russischen  „Botschaft",  von  der  Du 
weißt,  wie  ich  zu  ihr  stehe.  Sehr  freute  mich  Helmis 
Mitteilung  von  der  neuen  Nachricht  aus  Rostow. 
Aber  ist  nun  regelmäßige  Verbindung  zu  erwarten 
und  beiderseitige?  Ich  lege  für  alle  Fälle  wieder  ein 
paar  Zeilen  bei,  sie  sind  nur  kurz  und  trocken,  aber 
es  darf  ja  nichts  geschrieben  werden,  —  auch  nicht 
nach  der  „verbündeten"  „Ukraine' . 

Was  die  Geld-  und  sonstige  Hilfsfrage  betrifft; 
Es  ist  natürlich  unerwünscht,  anderen,  außer  den 
allernächsten  verpflichtet  zu  werden.  Ich  will  und 
kann  künftig  nicht  an  allerhand  „moralischen"  Ketten 
hängen!  Und  nun?  —  —  —  Ja,  Du  behütest 
auch  meine  Papiere,  Manuskripte  und  alles. 
Glaub  nur  nicht,  daß  ich  das  Zeug  für  wert- 
voll halte,  gar  für  unersetzlich,  es  sind  viel- 
leicht nur  wenige  brauchbare  Ansätze  dar- 
unter, und  ich  möchte  noch  etwas  Rechtes  draus 

114 


machen.  Im  April  brachtest  Du  mir  ein  Manuskript 
mit  zur  Verifizierung,  Natürlich  sind  mir  so- 
fort allerhand  Erinnerungen  daran,  Ergän- 
zungen und  Korrekturen  eingefallen.  Ein  Ka- 
pitel ist  darin  vom  „Dilemma"^)  bitte  dort 
einzufügen:  „Der  Klassengegensatz  in  den  so- 
zialen Gegensätzen  ganzer  Länder  und  Völker,  der 
aber  hinter  dem  andauernden  Klassengegensatz  selbst 
weit  zurückbleibt,  oft  wechselseitig  ist,  dauernd  dem 
Niveau  —  ausgleichenden  Einfluß  —  kapitalistischer 
und  proletarischer  Wanderung  unterliegt  und  den 
internationalen  Charakter  von  Kapital  und  Arbeit 
nicht  aufhebt,  die  Tendenz  zu  seiner  Betätigung  eher 
stimuliert!"  Am  Schluß  heißt  es  etwa:  „Die  Expan- 
sion ergreift  den  Produktionsbereich  und  den  Absatz- 
bereich. Sie  erfolgt  in  einer  sich  ständig  erweitern- 
den Doppelspirale  usw."  Am  Ende  dieses  Absatzes 
und  wohl  des  ganzen  Kapitels  füge  bitte  ein:  „So 
führt  der  Imperialismus,  wenn  ihn  die  soziale  Ka- 
tastrophe nicht  vorher  ereilt,  automatisch  zur  wirt- 
schaftlichen Katastrophe,  Selbstvernichtung  durch 
Erzeugung  der  sozialen  Macht,  die  ihn  überwinden 
wird,  Selbstvernichtung  durch  Aufhebung  seiner 
eigenen  wirtschaftlichen  Voraussetzungen  —  das  ist 
sein  doppelt  besiegeltes  Schicksal". 

Und  noch  einiges  Geschäftliche:  Die  Zeitungen 
waren  bis  jetzt  hier  stets  so  pünktlich  eingetroffeUi 
die  beiden  letzten  Male  klappte  es  nicht,  so  daß  ich 
sie  drei  oder  vier  Tage  später  bekam.  Das  ist  aber 
wichtiger  „sogar"  als  die  Eßpakete,  zu  denen  ich 
gleich  übergehe:  Du  beklagst  Dich,  aus  keinem  Brief 
ZU  erfahren,  ob  die  Lebensmittel  ausreichen.  Aber 
Sonitschka!  Sie  reichen,  reichen,  reichen  —  absolut. 
Glaub  mir  doch!  Nur  wünschte  ich,  daß  Ihr.  daß  Du, 
das  Bessere  behältst.  Du  kannst  nicht  alles  vertragen 
wie  ich.  Was  liegt  mir  am  Geschmack  —  Dir  liegt 
daran  und  muß  daran  liegen.  Insofern  Du  mir  zu 
„feine"  Sachen  schickst,  bin  ich  nicht  zufrieden. 

Bücher.  Helmi  trug  ich  bereits  auf:  Müller- 
Lyer,  Band  2,  Volney  „Le  Ruines"  (in  meinem  köst- 
lichen kleinen  Lederbändchen  und  einiges  andere). 


*)  Dilemma  des  Imperialismus. 
&•  115 


.  .  .  Wie  geht  es  Rosa?  Sahst  Du  sie  in 
letzter  Zeit?  So  oft  Du  sie  siehst  oder  ihr  schreibst, 
grüß  herzlich  von  mir.    Sie  muß  sich  gesund  halten. 

Und  nun  zurück  zu  Dir.  Führst  Du  die  Frei- 
übungen durch?  Was  machen  die  Spaziergänge?^) 
Am  Stubenhocken  ist  Hopfen  und  Malz  verloren! 
Wäre  ich  draußen,  ich  jagte  Euch  raus.  Und  Deine 
Kunstgeschichte!  Hältst  Du  Vorträge?  .  .  .  Mir 
hegt  so  viel  an  der  Erhaltung  und  Pflege  der  Seele 
Deiner  Seele.  Die  Vorträge  schätze  ich  als  Antrieb 
für  Dich  und  als  nützliches  Werk. 

Als  ich  jüngst  das  dritte  Kapitel  des  „Ekklesiastis" 
suchte:  „Ein  jegliches  hat  seine  Zeit",  geriet  ich  an 

Kapitel  7  der  „Sprüche" diese  züngelnden 

wilden  Flammen  in  Schilderung  und  Diktion!  Gibt's 
etwas,  was  darüber  ginge! Die  Fülle  der  an- 
dringenden Gedanken  reizt  immer  wieder  zur  Zer- 
splitterung, erschwert  meine  Hauptarbeit  —  es  ist  ja 
auch  gar  zu  wenig  Zeit,  die  ich  für  mich  habe  —  da- 
bei sind  jetzt  die  längsten  Tage.     Aber  ich  lasse  nicht 

nach.  Kurt  sah  gut  aus.  Du  schriebst,  er  stecke  in 
einem  zwar  kleinen  Ort,  aber  außer  der  Front.  Das 
trifft  leider  nicht  zu.  Er  ist  so  weit  vorn,  wie  das  bei 
einem  Arzt  irgend  möglich  ist.  Du  mußt  wissen,  daß 
ich  von  Kindheit  an  ihm  besonders  nahe  stand,  in 
manchem  sein  Lehrer  war,  vor  allem  in  der 
Schmetterlingszucht,  die  ein  gutes  Stück  unseres 
Jugendglücks  ausmachte. 

Eben  kommen  die  Zeitungen  —  prompt  und  ein- 
schließlich Sonnabend  früh.  Tausend  Dank.  Ich 
nahm  schon  ein  kleines  Schmutzbad  —  brr!  Kind, 
ich  bin  oft  im  Zweifel,  ob  Du  die  nötige  Härte  besitzt, 
um  diesen  täglichen  Attacken  auf  alles  Große,  Edle, 
Heilige,  die  die  jetzige  Zeit  bringt,  Stand  halten,  diese 
täglichen  Triumphe  der  Feigheit,  Kleinheit,  Tierheit, 
Knechtigkeit,  alles  Niedrige  und  ErbärmHche  ertragen 
zu  können.  Das  ist  ja  heute  die  Hauptschwierigkeit. 
Aber  Du  wirst  auch  da  nicht  versagen.  Das  Bewußt- 
sein der  Ueberlegenheit  und  die  Zuversicht  künftigen 
Sieges  hilft  über  alles  hinweg.  Die  verstandesmäßige 
Zergliederung  des  Geschehenden,    seiner    Ursachen 


*)  Demonstrationen.  F.  P. 

116 


U¥th 


M 


J 


4 


ur'-^'^ 


i4    1  ^ 


5  ;!i 


CD 


und  seiner  Wirkungen  bietet  die  beste  Handhabe, 
schon  weil  sie  die  Anteilnahme  aus  der  Sturm- 
atmosphäre der  Leidenschaft  in  die  ruhigen  Gestade 
der  Vernunftbetrachtung  führt. 

Das  Tütenkleben  gibt  mir  mehr  Interesse  als  Du 
ahnst.  Ich  studiere  daran  systematisch  das  Wesen 
der  Technik,  die  Psychologie  des  Erfindens,  den  Be- 
griff der  Geschicklichkeit.  Du  magst  lächeln,  und 
sicherlich  sind  ähnliche  experimental  psychische 
Untersuchungen  schon  oft  gemacht  und  wohl  auch 
wissenschaftlich  verwertet.  Nur  genaue  Selbst- 
beobachtung kann  volle  Klarheit  geben.  Jede  kleinste 
Bewegung  des  ganzen  Körpers  und  der  einzelnen 
Glieder,  ihre  Haltung,  die  geringsten  Modifikationen 
in  der  Verwendung  der  Sinne,  besonders  der  Augen 
und  des  Gefühls,  die  Rolle  der  geistigen  Funktionen 
und  des  Stimmungszustandes,  der  Art  und  Ordnung 
des  Materials,  der  fortgesetzten  Repitition  gleich- 
artiger Bewegungen,  des  Tempos  und  Rhythmus  der 
Handgriffe  und  der  Beobachtung  anderer  und  der 
Belehrung  durch  sie  und  der  eigenen  praktischen  Er- 
fahrungen —  unzählige  Einzelheiten  und  Kleinig- 
keiten sind's,  aus  denen  sich  schließlich  eins  der  wich- 
tigsten Bewegungsgesetze  der  menschlichen  Ent- 
wickelung  ergibt,  das  im  Kleinsten  dasselbe  ist  wie 
im  Größten. 

Aber  bis  zum  Pensum  habe  ich's  trotz  aller 
Theorie  noch  nicht  gebracht.  Muß  immer  wieder  an 
Mephistos  Schülerbelehrungen  denken  —  kann  wohl 
beweisen,  daß  es  so  sein  muß  —  bin  aber  noch  kein 
Weber  geworden.  Erhoffe  es  aber  noch.  Gerade 
die  Einfachheit  der  Arbeit,  macht  sie  wie  der  Beob- 
achtung, so  der  praktischen  Erlernung  auch  durch 
Tolpatsche  ä  la  moi  zugänglich  und  anderwärts  als 
im  Zudhthaus  findet  man  nicht  leicht  die  Muße  dazu. 

Heut  ist  der  590.  Tag  der  Strafe,  Rest  870.  In 
Haft  775  Tage.  Bei  Deinem  Julibesuch  werden  noch 
zwei  bis  drei  Wochen  bis  zur  Hälfte  fehlen.  Das 
Wichtigste  was  ich  auf  dem  Herzen  hätte,  darf  ich 
Dir  nicht  schreiben  .  .  . 

Im  vergangenen  Jahr  plantest  Du  Dich  in  Luckau 
einzunisten,  hattest  schon  Wohnung  gesucht,  wie  mir 
die  Dohlen  ausschwätzten.  Und  bliebst  doch  aus. 
Wie  wär's  mit  diesem  Jahr?    Aber  in  Deine  Hände 

117 


lege  ich  die  Entscheidung.  Leb  wohl,  mein  Herz, 
mein  Liebstes,  denk  an  Dich  jetzt,  für  die  andern  hast 
Du  vorgesorgt  und  denk  an  mich.  Ich  küsse  und 
umarme  Didh 

Dein  Karolus. 

Grüß  Jascha  und  alle  Freunde,  besonders  die 
beiden  Franz,  Klara,  Käthe,  Lene  und  die  übrigen. 
Beste  Grüße  auch  Hilma,  die  ja  jetzt  auch  etwas  Ruhe 
haben  wird.  Vergiß  nicht,  Witebskis  und  Frau  Meyer 
meinen  herzlichsten  Dank  zu  sagen. 


(Ein  Zettel,  beim  Besuch  herausgegeben) 

Luckau,  7.  7.  18. 
Liebste, 

„Rostow  erinnert  durchaus  auch  in  seinem  leb- 
haften fröhlichen  Treiben,  mit  Lauten-  und  Mandolinen- 
klang  während  der  Nacht,  an  Mailand  und  Florenz"^). 

Ich  male  mir  Dich  aus  -  in  diesem  Milieu,  in 
Deiner  Kindheit  und  wenn  Du  heut  dort  wärst  und 
alles  anders  wäre.  Und  träume  davon,  nun  doch 
noch  einmal  nach  Rußland  zu  kommen  und  Rostow 
zu  sehen  und  durch  die  zauberische  Krim  mit  Dir  und 
den  anderen  zu  fahren  -  auf  flüchtigen  Tartaren- 
wäglein.  Und  mit  Dir  auf  dem  Don  zu  seegeln  und 
den  Kaukasus  zu  bezwingen. 

Und  Moskau  und  Petersburg  ~  und  Odessa  und 
Kiew  zu  erleben;    mit  Dir. 

Heut  bist  Du  wie  ein  Fisch,  der  an  Strand 
geworfen  ist.  Dann  werde  ich  Dich  in  Deinem 
Element,  Deinem  ureigensten  sehn.  In  Rußland  - 
und  in  Italien. 

Liebste,  v/ie  ich  Dich  zu  mir  wünsche  - 

Liebste  - 

Dein  Karl. 

Den  Plan  eines  sozialistischen  Forschungs-Instituts 
entwarf  ich  im  Herbst  1915  im  Felde-  in  den  Düna- 
wäldern.  Damals  dachte  ich  an  die  Schweiz  und 
leitete  die  Anregung  dahin  - 

Die  „wissenschaftliche  Arbeit",  die  Du  mir  neulich 


0  Professor  Albrecht  Wirth,  Deutsclie  Kriegswochenschau, 
herausgegeben  vom  Kriegspresseamt,  vom  2.  6   18. 

118 


herbrachtest,  ist  dieser  Entwurf  -  den  ich  teilweise  bis 
in's  kleinste  Detail  ausführte,  durch  viele  Ergänzungen 
und  die  Umstände  der  Entstehung  ist  die  Chose  zum 
Teil  verworren  und  umständlich,  ungleichmäßig,  oft 
überbreit.  Leider  bin  ich  auch  nie  zur  Durchsicht 
gekommen.  Sag  das  den  russischen  Freunden,  gib 
ihnen  Kenntnis  von  dem  Geschriebenen  -  mit  allen 
Vorbehalten  wegen  Unkorrigiertheit,  gib  ihnen  die 
obigen  Bemerkungen,  obig  in  Abschrift  - 


Anfang  August  18. 
Zu  Unruh's  „Geschlecht". 

Bei  allen  Vorzügen  dieses  Dramas,  die  stark  s:e- 
nug  sind,  —  es  ist  inhaltlich,  in  Gedanken  und  Ge- 
fühl noch  durchaus  Gährung,  nicht  Klärune.  stellt 
Rätsel  hin,  keine  Lösungen.  Man  mag  den  Dichter 
als  einen  Verwandten  jener  Weltweisen  gelten 
lassen,  von  welchen  Lessing  rühmt,  daß  sie  sich 
mehr  Mühe  geben,  Wolken  zu  machen  als  zu  zer- 
streuen. Aber  warten  wir,  was  die  anderen  Teile 
der  Trilogie  bringen.  Der  erste  Teil  sieht  die  Pro- 
bleme „allgemein  menschüch".  Diese  absolute  ele- 
mentare Seite  packt  Unruh  so  ernst  wie  möglich. 
Aber  doch  nur  als  ein  mit  dem  Geschicke  hadernder 
A.ngehöriger  der  bürgerlichen  Gesellschaft,  der  seine 
Faust  gegen  die  Sterne  ballt,  das  Weltall  anklagt 
und  sich  selbst  zerfleischt,  der  keinen  Ausweg  sieht, 
—  fliehen  möchte  und  nicht  kann  —  in  tatenloser 
Verzweiflung  zusammenstürzt,  statt  kämpfend  zu 
handeln,  um  eine  neue  Welt  zu  schaffen.  Sekundäre 
Probleme  verdecken  ihm  das  Primäre.  Ueber  den 
Folgen  erkennt  er  nicht  die  Ursachen,  erkennt  nicht 
die  sozialen  Wurzeln  des  Furchtbaren,  das  ihn  um- 
klammert, nicht  die  Kraft,  die  sie  ausrotten  kann. 
Dieses  Werk  ist  das  Drama  der  aus  dem  Wahne 
von  der  Göttlichkeit  ihrer  eigenen  Weltordnung  ge- 
rissenen Bourgeoisie.  Doch  durchbrodelt  revolu- 
tionär gährender  Geist  die  ungemein  konzentrier- 
te und  intensive  Gestaltung.  Warten  wir.  ob  dieser 
Dämmerung  der  Tag  folgt. 

110 


Luckau,  12.  8.  18. 
Liebste! 

Nur  zwei  Sätze:  ich  bekam  erst  heute  abend 
Nachricht  vom  m.orgigen  Besuch. 

Für  Deine  Briefe  und  Deine  Karte  aus  Würz- 
burg vielen  Dank  —  wie  gern  hätte  ich  Jascha  ein 
Wort  geschickt  —  wo  mag  er  jetzt  stecken!  Diese 
Reise  ist  ein  großes  Abenteuer! 

Würzburgs  entsinne  ich  mich  sehr  gut  —  ich 
habe  dort  nicht  studiert,  nur  promoviert  —  aber  auch 
getollt,  grad  genug!  Und  Tiepolos  Gemälde  sehe  ich 
deutlich  vor  Augen! Hast  Du  Milton  ge- 
lesen? Bitte  tu's.  Ich  schwöre  Dir,  Milton  hat  Dich 
gekannt  —  seine  Eva  —  das  bist  Du,  aber  bis  aufs 
kleinste!     Du  wirst's  nicht  leugnen  —  lies! 

Es  ist  stockfinster.  Ich  muß  schließen  — 
viele  tausend  Küsse  —  ich  umarme  Dich,  Liebste.  — 

Dein  Karl. 

Allen  Freunden  Grüße  und  Wünsche.  —  Rosa 
besonders  —  Mathilde  und  den  ihren. 


Luckau,  23.  VIII.  18. 

Liebste! 
Heut  früh  bekam  ich  Deine  Karte  aus  Saarow 
und  hörte  von  Deiner  Telephonanfrage  beim  Herrn 
Direktor.  Ich  bin  total  verblüfft  —  Dir  gehngt,  was 
so  leicht  noch  keinem  gelang.  Eva  —  Eva!  Alles 
hast  Du  in  meinem  Brief  verstanden  —  alles,  alles, 
aber  wie  ists  möglich,  daß  Du  gerade  diesen  Punkt 
nicht  verstandest!^)  Ich  habe  mich  doch  so  klar 
ausgedrückt.  Offenbar  hast  Du  ihn  gar  nicht  recht 
gelesen.  Deutlich  habe  ich  doch  geschrieben,  so 
deuthch  ich  irgend  kann.  Aber  ich  wiederhole, 
wenns  wohl  auch  schon  zu  spät  ist  —  nun 
also  nein!  Die  vielen  Gründe,  die  nicht 
nur     für     mich     zutreffen,     darf     ich     hier     nicht 


*)  Es  handelte  sich  um  einen  Vorschlag  der  russischen 
Botschaft  an  die  deutsche  Regierung,  die  politischen  Gefangenen 
gegen  einige  Mitglieder  der  Zarenfamilie  auszutauschen. 

120 


schreiben.  —  Obwohl  ich  sehr  gern  möchte,  da  das 
Entscheidende  für  mich  nicht  das  mündhch  Gesagte 
ist,  und  jedenfalls  nichts  Sentimentales.  Heute  nur 
dies  und  daß  meine  Liebe  zu  Dir  noch  viel  wärmer 
ist,  als  der  Brief  nach  Deinem  Urteil  war.  Und  daß 
ich  gewiß  bin,  Du  würdest  die  märkische  Landschaft 
in  Dein  Herz  sclüießen,  wenn  wir  zwei  sie  zusamimen 
durchwandern  würden.  Und  daß  ich  Deine  Photo- 
graphie dringend  und  sofort  will.  —  Warum  spannst 
Du  mich  auf  die  Folter?  . .  .  Daß  ich  die  Blocks  be- 
kommen habe  und  danke,  und  das  französische 
Lexikon  (nur  Reklam)  (nicht  größer!)  bald  erwarte, 
daß  der  Merlan^)  nicht  eben  sehr  tief  und  gründUch 
und  nur  auf  die  neuere  zivilisierte  Musik  beschränkt 
ist,  leider  auch  Technisches,  das  ich  suche,  nicht  bietet 
(ich  brauche  ihn  nämlich  für  meine  Arbeit),  daß 
er  aber  doch  viel  Anregung  gibt,  meist  von  klugen 
weiten  Gesichtspunkten  und  einer  selbständigen, 
sehr  fortgeschrittenen  Geschichtsauffassung  be- 
herrscht ist,  von  der  aus  er  gerade  mir  viel  Anregung 
bietet  —  wie  er  denn  auch  Rosas  Urteil  über 
Beethoven  und  Schubert,  in  dem  sie  so  ganz  daneben 
schießt,  zu  korrigieren  helfen  wird  —  wenn  noch 
einmal  Stunden  der  Kunst  für  uns  kommen  sollten. 
(Hast  Du  übrigens  Rosa  meinen  Gruß  und  Dank 
ausgerichtet?)  Und  daß  ich  die  Zeitungen  die  letzten 
Male  prachtvoll  pünktlich  erhielt  und  hoffe,  daß  es 
so  bleibt  und  alle  Freunde  grüße  und  Dich  tausend- 
mal umarme  und  küsse. 

Dein  Karl. 

Was  —  tausendmal!  „So  viel  Zweige,  so  viel 
Blätter,  so  viel  Blüten  —  so  viel  mal  hätt'  ich 
meinen  Schatz  geküßt",  war  er  hier. 

Noch  eins,  wenn  Bob  sehr  quälen  sollte,  länger 
als  bis  Oktober  bleiben  zu  dürfen,  ich  würde  nicht  viel 
einzuwenden  haben.  Gesundheitlich  hat  ers  nötiger 
als  Helmi  und  von  der  verunglückten  Hollandaffaire, 
die  ja  ins  Endlose  geplant  war,  meint  er  eine  erste 
Hypothek  zu  haben.  Aber  ich  überlasse  Dir  natür- 
lich alles  absolut. 


*)  „Geschichte  der  Musik". 

121 


Heut  Nacht  ein  Gewitter  von  seltener  Groß- 
artigkeit; nach  Berlin  zu  am  ungeheuersten  —  ich 
dachte  an  Dich,  arme  kleine  Maus  —  wohin  hast  Du 
Dich  verkrochen? 


Luckau.  den  8.  9.  18. 
Meine  Liebste! 
Jetzt  habe  ich  Dich;  in  den  Händen!  Und  laß 
Dich  nicht  wieder  los.  Ais  ob  ich  Dich  nicht  tausend- 
mal so  gesehen  und  umarmt  hätte.  Brauchst  Dich 
wirklich  nicht  zu  entschuldigen,  daß  Du  gerade  in 
diesem  Sommer  ein  paar  NÄ^ochen  so  ausgesehen 
hättest.  Nur  das  mit  dem  Haarwulst  über  der  Stirn 
gefällt  mir  nicht.  Ich  will  Deine  Stirn  frei  haben, 
sie  verdient  es  wirkhch.  Aber  kurz  und  bei  alledem: 
das  war  und  ist  eine  große,  große  Freude,  die  ich  Dir 
nur  mündlich  danken  kann. 

Um  sie  anzudeuten  und  wegen  des  L  Oktobers 
schreibe  ich  heute!  Ja,  verehrte  Gattin,  ein  halbes 
Dutzend  Jahre,  wovon  wir  freilich  knapp  die  Hälfte 
zusammen  waren.  Du  „reizendes  Gebrechen  der  Na- 
tur". Ist's  vorstellbar,  daß  wir  uns  jem.als  nicht  ge- 
liört  haben?  .  .  . 

„Mein  Schicksal  hab  ich  unauflöslich  fest 

An   Dich   geknüpft! 

Mit  Dir  soll  Tod  mir  Leben  sein! 

Ich  fühle  tief  im  Innern  meiner  Brust 

Von  der  Natur  zu  meinem  zweiten  Selbst 

Allmächtig  mich  gezogen.  — 

Verlor'  ich  Dich,  hätt'  ich  mich  selbst  verloren!" 

Wäre  ich  frei,  ich  schenkte  Dir  die  schönste  Milton- 
Ausgabe  und  wir  würden  uns  ganz  allein  zusammen 
auf  Dein  Sofa  setzen  und  den  vierten  Gesang  lesen. 
Und  am  Abend  wäre  ich  der  Satan  im  neunten  Ge- 
sang, aber  ein  vom  süßen  Taumel  gänzlich  Besiegter. 
So  müssen  aber  Phantasien  und  Hoffnungen  die 
V/irklichkeit  ersetzen.     Und  nun  folgendes: 

Herr  Direktor  geht  vom  10.  ab,  wohl  zwei  oder 
drei  Wochen  auf  Urlaub,  darum  schreibe  ich  schon 
heut  und  darum  nur  ganz  kurz.    Alles  sonst  hole  ich 

122 


nach  seiner  Rückkehr  nach.  Otto's  Besuch  kann  auch 
in  diesen  Wochen  steigen  —  er  wird  dann  vom  Herrn 
Inspektor  überwacht. 

Unterbrechung  —  Ankunft  der  Zeitungen  —  aber 
noch  nicht  gelesen.  Vielen  Dank !  für  Deine  Prompt- 
heit. 

Du  tadelst,  ich  wiederholte  oft  dasselbe.  Es  ist 
nicht  Qreisenschwäche!  Es  ist  Hämmern.  Bis  der 
Nagel  fest  sitzt.  Axtschlagen  —  bis  der  Baum  fällt. 
Pochen  —  bis  Schlafende  aufwachen.  Peitschen. 
Bis  Träge  und  Feige  aufstehen  und  handeln.^)  Und  so 
—  ja,  es  ist  streicheln,  bis  meine  Liebste  meine  Bitte 

erfüllt  und  mir  die  Lexika  schickt Ich 

möchte  helfen  unter  Opferung  von  tausend  eigenen 
Leben,  mithelfen  an  dem  Einzigen,  was  der  russischen 
Revolution  und  der  Welt  helfen  kann.  Verdammte 
Ohnmacht.    Ich  stoße  an  die  Wände. 

Am  Dienstag,  den  3.  9.  erhielt  ich  „Marx",^)  ich 
war  mehrere  Tage  tief  aufgewühlt.  Den  zweiten 
Teil,  den  ich  noch  nicht  kannte,  las  ich  schon  zwei- 
mal. Die  Darstellung  zeigt  wiederum  den  Qlanz  der 
unübertroffenen  Meisterschaft.  Mein  Urteil  über  den 
ersten  Teil  kann  ich  nur  auf  ihn  ausdehnen.  Leider 
darf  ich  ja  dieses  und  wie  gewaltig  meine  Freude 
war,  Freund  Mehring  nicht  schreiben,  aber  sage  es 
ihm  und  nochmals  meinen  herzlichsten  Dank  und  daß 
ich  mich  über  manches,  wo  ich  sachlich  etwas  ab- 
weiche, mit  ihm  —  wie  seit  langem  ersehnt  —  noch 
hoffe  aussprechen  zu  können  —  in  besserer  Zeit! 
Und  daß  ich  eine  Rettung  des  alten  Blanqui  wünschte, 
der  es  nicht  weniger  verdient  wie  Bakunin,  wenn 
er  auch  persönlich  nicht  so  mitgenommen  und  ver- 
schandelt wurde,  wie  dieser.  Und  grüße  bitte  beide 
Mehrings  und  alle,  die  keine  Schlafmützen  sind.  Dir 
meine  zärtlichsten  Küsse. 

Dein  Karl 


^)  Dieser  Brief,  zwei  Monate  vor  dem  Beginn  der  Revo- 
lution geschrieben,  ist  Karl  Liebknechts  letzter  Ruf  aus  dem 
Zuchthause:  ein  Ruf  zur  Revolution,  ein  Alarm,  der  russischen 
Revolution  beizustehen. 

a)  Franz  Mehrings  Marxbuch.  F.  P. 

123 


I 


A  N  H  AN  G 


„GEGEN  DIE  FREIHEITSSTRAFE" 

Ein  Entwurf 

Frühjahr  1918 

Man  müßte  die  Gefangenen  mit  den  Menschen, 
der  Gesellschaft  verknüpfen.  Statt  dessen  trennt 
man  sie  radil<:al  von  den  Menschen,  schneidet  sie 
vollends  von  der  Gesellschaft  ab  und  selbst  von 
ihrer  Familie  entfernt  man  sie.  Man  müßte  sie  mit 
den  allgemeinen  Interessen  verbinden,  verflechten 
—  statt  dessen  entfremdet  man  sie,  selbst  ihre 
Kenntnisse  immer  weiter  von  diesen  Interessen, 
durch  künstliche,  gewaltsame  Isolierung:  Keine 
Kunde  von  der  Außenwelt,  außer  dem  Persön- 
lichsten ;  keine  Zeitungen  (im  Krieg  Aus- 
nahme für  Kriegsnachrichten). 

Man  müßte  ihnen  die  idealen  Interessen  näher 
bringen,  sie  damit  tränken  —  injizieren  —  statt 
dessen  wird  die  geistige  Beschäftigung  —  Lektüre 
usw.  als  „Vergünstigung"  betrachtet  (statt  sie  als 
ßildungs-  und  Erziehungsmittel  zum^  System  zu  er- 
heben) und  als  lästig.  Die  Freizeit,  die  für  die 
„Zucht"  (Selbstzucht)  jedenfalls  nicht  minder 
wichtig  als  die  Arbeitszeit,  wird  so  knapp,  wie 
irgend  möglich   zugeschnitten. 

Man  müßte  sie  systematisch  an  Selbständigkeit 
gewöhnen  („Erregen"  der  Selbständigkeit,  vergl. 
Wilh.  Meisters  Lehrjahre  V.  16),  statt  dessen  zer- 
bricht man  dem,  was  an  Selbstständigkeit  in  ihnen 
steckt,  systematisch  alle  Knochen,  lenkt  sie,  drängt 
sie,  soweit  unzerstörbar,  ins  Unterirdische,  Heim- 
hche,  in  die  niedersten  Regionen,  die  guten  Keime 
mit  den  schlechten  korrumpierend,  pervertierend, 
vergiftend. 

Man  müßte  sie  an  („freien")  Verkehr  mit  edlen, 
pädagogisch  gewandten  Menschen  gew^öhnen  — 
ihnen  solchen  Verkehr  zum  Bedürfnis  machen,  statt 
dessen  werden  sie  nur  der  schädlichsten  gegen- 
seitigen Beeinflussung,  der  gegenseitigen  Verderbnis 
ausgesetzt  (Schiebungen  —  noch  das  Harm- 
loseste), im  übrigen  fast  stets  nur  als  Objekt  be- 
handelt; die  Beamten  treten  ihnen,  von  Ausnahmen 
abgesehen,  nicht  nahe,  sind  zumeist  auch  pädago- 
gisch ganz  unfähig    (ä  la   Militär).     Schematismus 

127 


und  Massendrill  statt  individueller  Behandlung, 
Mißtrauen  auf  Schritt  und  Tritt,  statt  Vertrauens. 

Man  müßte  sie  an  Offenheit  und  Vertrauen  ge- 
wöhnen und  so  alles  Gute  herauslocken  und  pflegen. 
Statt  dessen  werden  sie  zur  Heimlichkeit  — 
Heuchelei,  Verstocktheit,  zu  unterirdischem  Seelen- 
leben und  auch  zu  unterirdischer  Führung  des 
äußeren  Lebens,  zu  einer  höchst  giftigen  Heim- 
lichkeit dressiert,  gedrängt  durch  die  schematische 
Behandlung. 

Man  müßte  die  Rudimente  ihres  Selbst- 
vertrauens behüten  und  planmäßig  ausbauen,  statt 
dessen   wird   es  planmäßig   zerdrückt,   ausgerottet. 

Man  müßte  sie  individuell  behandeln  und  er- 
ziehen —  statt  dessen  werden  sie  schematisch  ge- 
preßt und  geschliffen. 

Man  müßte  sie  an  eine  Lebensführung  ge- 
wöhnen, wie  sie  exemplarisch  auch  für  das  Leben 
in  der  Freiheit  ist  —  statt  dessen  kommandiert 
man  eine  Tageseinteilung,  die  (abgesehen  von  der 
Arbeit)  ganz  anormal,  ja  unmöghch  ist  —  ein 
Hemmschuh  jedes  wertvollen  Tätigkeitsdranges, 
eine  Erstickung  aller  strebsamen  Regungen  und 
fördert  durch  frühes  und  langes  ins  Bett  zwingen, 
durch  lange  Dunkelheit  (im  Krieg  künstliches  Licht 
äußerst  gespart)  alle  erdenklichen  Lotterneigungen. 

Man  müßte  diese  an  sich  sozial  geschwächten 
Individuen  zum  freien  Kampf  ums  Dasein  stärken, 
kräftigen,  aufmuntern,  —  statt  dessen  werden  sie 
korrumpiert,  ihre  Kräfte  untergraben.  Man  müßte 
alle  Keime  von  Selbständigkeit  in  ihnen  pflegen  — 
statt  dessen  werden  sie  zertreten,  so  daß  sie  sich 
in  der  wiedergewährten  Freiheit  wie  unvernünftige 
Kinder  aufführen,  sie  zum  Austoben  benutzen. 

Selbst  ihre  Arbeit  ist  gar  oft  Pfuscharbeit  für 
Schmutzkonkurrenz  —  keine  ordentUche  Lehre.  • — 

Man  sollte  sie  eng  an  die  Familie  ketten  — 
statt  dessen  löst  man  sie  auch  von  ihr,  zum  schweren 
Schaden  meistens  auch  der  Familie. 

Man  sollte  sie  für  ihre  Familie  sorgen,  arbeiten 
lassen,  statt  dessen  verkommt  die  Familie. 

Man  sollte  ihre  sohdarischen,  sozialen  Neigun- 
gen locken  und  kräftigen,  statt  dessen  wird 
niedrigste,    kleinlichste     Selbstsucht    großgezogen, 

128 


0) 


selbst  ein  großzügiger  Egoismus  durch  Verkrüpne- 
lung  ins  Kleinste,  Qequetschteste  noch  tiefer  ver- 
schandelt. 

Man  sohte  ihnen  nach  der  Entlassung  alle 
Wege  ebnen,  alle  Tore  öffnen  —  zum  Empfang  des 
einprozentigen  reuigen  Sünders  (mehr  Freude  im 
Himmel  über  einen  davon,  als  über  99  Gerechte!!) 

—  statt  dessen  bleiben  sie  stigmatisiert,  finden  keine 
Arbeit,  die  Arbeiter  weigern  oft  Zusammenarbeit 
mit  ihnen  —  auch  die  „Fürsorge"  zeigt  die  ganze 
Hilflosigkeit  der  heutigen  Gesellschaft  im  Kampf 
gegen  das  Verbrechen,  fesselt  und  stigmatisiert 
und  ist  in  ihrer  heutigen  Form  ein  Krebsschaden, 
eine  Kette,  die  der  Entlassene  am  Fuß  schleppt 
(nicht  viel  besser  als  Polizeiaufsicht)  —  byzanti- 
nische, heuchlerische,  kriechende,  devote,  bigotte, 
scheinheiUge,  anschmiererische  Kreaturen  er- 
zeugend, fördernd  —  keine  Charaktere,  die  eben 
nur  durch  Stählung,  als  Produkt  eines  eignen 
Kampfes,  nicht  durch  süßliche  Qnädigkeit  und  Wohl- 
wohen,  nur  durch  Veredelung  des  Trotzes,  nicht 
durch  Knickung  aller  Rippen  und  Zerrung  aller 
Sehnen  entwickelt  werden  können,  nur  in  eigner 
Arbeit  des  Kriminellen,  nicht  von  oben  herab,  wie 
ein  Segen,  nur  aktiv,  nicht  passiv,  nur  sozusagen 
revolutionär  im  Kriminellen  selbst,  nicht  aufgeklärt 

—  despotisch  durch  obrigkeitliche  Beglückung.  In 
wie  weit  könnte  auch  hier  Selbsthilfe,  Organisation 
etc.  der  Entlassenen  selbst  auch  nützen?  Diesen 
durch  Kampf  gegen  die  Ursachen  des  Verbrechens 
zur  aktiven  Regeneration  verhelfen? 

Kurz:  die  soziale  Schwächung  der  Kriminellen 
^\  ird  statt  behoben  oder  gemildert,  vielmehr  mächtig 
verschlimmert  und  durch  die  soziale  Schwächung 
oder  gar  Zerstörung  der  hilflos  gebliebenen  Familie 
ins  Rettungslose  gesteigert  —  circulus  viciosus  der 
Freiheitsstrafe  —  am  meisten  gerade  der  von 
Krohne,  Finkelburg  u.  a.  sonst  oft  Einsichtsvollen  ge- 
rühmten, wenigstens  bevorzugten  —  langfristigen  — 
Einzelhaft.  (Außerdem:  Schmutz-  und  Schleuder- 
konkurrenz, Pfuscharbeit  etc.)  Keine  Rede  meist 
auch  nur  von  technischer  Schulung  für  einen  künf- 
tigen Beruf,  gar  vielfach  sogar  Zerstörung  vorhanden 
gewesener  und  vor  der  Strafe  praktizierter  Fertig- 

129 


keiten  —  durch  Entwöhnung  (mangelnde  Uebung) 
oder  Pfusch-Korruption  —  besonders  verderblich  für 
Jüngere,  beruflich  noch  nicht  konsolidierte,  die  so 
beruflich  oft  vöUig  wurzel-  und  haltlos  bleiben  oder 
werden  und  für  Aeltere  —  der  Ausgangs- 
schwelle sozialer  Verwertbarkeit 
nahestehende.  — 

Man  zwingt  sie  zur  Arbeit,  aber  in  einer  Weise, 
die  die  Arbeit  statt  zu  einer  Lust  zu  einer  Last 
machen  muß  —  Hausordnung:  der  geringe  Verdienst 
lohnt  diese  kaum!  Nur  Geschenk  —  kein  Recht  — 
erst  nach  drei  Jahren  Eigenverwendung  zulässig  und 
erst  bei  über  30  Mark  nur  1  Mark  pro  Monat.  Also 
ganz  wertlos  für  meiste  Fälle.  Disziplin- Strafen: 
Ketten,  Prügel  (noch  praktisch),  Simulationsriecherei. 
Arztversorgung:  Lazarettgehilfe!!  (Keine  Ahnung!!) 

Man  erzwingt  eine  gewisse  Regelmäßigkeit  des 
äußeren  Lebens,  aber  eine  unnatürliche  und  peinliche, 
die  in  der  Freiheit  nirgends  Gewohnheit,  Selbstver- 
ständhchkeit,  ja  nur  Möghchkeit  sein  oder  werden 
kann,  vielmehr  so,  daß  diese  „Ordnung"  nach  der 
Entlassung  schleunigst  wieder  abgelegt  werden  muß 
und  also  mit  Recht  nur  als  eine  lästige  Fessel  emp- 
funden   wird. 

Man  verhindert  gewisse  verwerfhche  Handlun- 
gen, aber  mit  Mitteln,  die  diese  Verhinderung  nicht 
zu  einer  Art  freier  Entschließung  entwickeln,  sondern 
das  Unterlassen  stets  nur  als  erzwungen,  als  pein- 
lichen, widerwillig  erduldeten  Zwang  empfinden 
lassen,  w^eit  davon  entfernt,  sie  zu  einem  Ausfluß 
freien,  selbständigen  Willens  oder  auch  nur  zu  einem 
Verhalten  der  Gewohnheit  werden  zu  lassen. 

Man  müßte  einem  Weiterfressen  des  Uebels  vor- 
beugen —  statt  dessen  wird  nur  allzu  leicht  (es  ist 
alles  darauf  angelegt)  dem  einen  Sünder  die  ganze 
Familie  in  den  Abgrund  nachgeworfen,  w^ährend  die 
Strafanstalt  selbst  einen  kriminellen  Seuchenherd 
(Ansteckungsherd)  erster  Klasse  bildet  und  alle 
Fehler  und  Laster  der  Schwachen,  der  Gedrückten, 
Getretenen,  Rechtlosen  wie  auf  einem  Mistbeete 
noch  hinzugezüchtet  werden  (Kriecherei,  Heimtücke, 
Angeberei,  Mißtrauen,  Neid,  Lügenhaftigkeit)  ahe 
Energie  nach  Kräften  ertötend  oder  doch  dämpfend, 
drückend,  stumpfend  —  statt  die  falsch  gerichtete 

130 


geschickt  nur  in  rechte  Bahn  zu  lenken!  Alle  Initia» 
tive  nach  Kräften  ausrottend,  ausbrennend,  die  Ge- 
fangenen nur  als  willenlose  Werkzeuge  in  der 
souveränen  Gewalt  anderer,  der  Beamten  ohne  jede 
Selbstbestimmung   behandelnd   und  so    gewöhnend. 

Und  auch  im  Uebrigen  alles  darauf  angelegt, 
diese  unseligen  Menschen  für  den  Kampf  ums  Dasein 
in  der  Freiheit  wehrlos,  statt  wehrhaft,  hilflos  statt 
kräftiger  zu  machen. 

So  bleiben  aller  Versuche  der  „Resozialisie- 
rung" des  Verbrechens  durch  die  Freiheitsstrafe 
nicht  nur  fruchtloses,  aussichtsloses  Bemühen,  ein 
verzweifelter  prädestiniert  vergeblicher  Kampf, 
echteste  Sisyphusarbeit  und  bestenfalls  ein  frommer 
Wunsch  „humaner"  Schwärmer,  sondern  das  Proto- 
typ eines  circulus  viciosus.  Sie  können  nicht  ver- 
hindern, daß  das  Uebel,  das  man  beseitigen  möchte, 
beseitigt  oder  auch  nur  verringert,  es  wird  ver- 
größert und  vom  Schuldigen  auf  Unschuldige  über- 
tragen, die  in  vermehrtes  Elend  und  Verachtung  ver- 
sinkend um.  so  leichtere  Beute  nicht  nur  der  körper- 
Uchen  Verderbnis  und  geistig-seehscher  Zerrüttung, 
sondern  auch  des  Verbrechens,  der  Prostitution 
werden. 

Das  Verbrechen  als  soziale  Erscheinung  kann 
nicht  isoliert,  sondern  nur  im  sozialen  Gesamtzu- 
sammenhang aus  dem  es  —  als  der  Eiter  aus  einer 
schwärenden  Wunde  der  Gesellschaftskonstitution 
—  geflossen  ist  und  dauernd  fließt  und  nur  mit  so- 
zialen Mitteln  bekämpft  werden  —  durch  Beseitigung 
seiner  Ursachen,  Verstopfung  seiner  Quellen,  durch 
Bekämpfung  des  Elends  in  allen  Gestalten,  der  Un- 
wissenheit, der  Verwahrlosung,  durch  Vermehrung 
der  Selbständigkeit,  der  freien  Energie  und  des 
offenen  Selbstgefühls. 

Dabei  kann  alle  „Erziehung"  und  psychisch- 
geistige Einwirkung  nur  dann  ein  ernstes,  bleibendes 
Resultat  zeitigen,  wenn  die  sozialen  Vorbedingungen 
dazu  geschaffen  werden. 


9»  131 


Karl  Liebknechts  letzter  Zettel. 

Berlin,  10.  1.  19. 

Liebste! 

.  Ich  hoffe  Ihr  seid  wohl  und  nicht  unruhig  um 
mich.  Ihr  werdet  mich  bald  sehen  und  täghch  Nach- 
richt haben.  Helmi  war  heut  früh  nicht  zu  Haus? 
Ich  küsse  Dich  vielmals  und  umarme  Dich,  Liebste. 

Dein  Karl. 

Küsse  den  Kindern.     Viele  Grüße  allen,  auch 
Hilma. 


I! 


132 


NACH 

•w 

ORT 

VON       FRANZ 

P    F 

E    M     F    E     R    T 

Als  gedungene  Hände  einer  vertierten  Soldateska 
Karl  Liebknecht  und  Rosa  Luxemburg  meuchlerisch  er- 
mordeten, wurde  die  deutsche  Revolution  katastrophal 
getroffen:  Karl  Liebknecht  und  Rosa  Luxemburg  waren 
nicht  nur  mächtigster  Wille,  waren  nicht  nur  unbeirr- 
bare, klarste,  entschiedenste  Kämpfer  des  revolutionären 
deutschen  Proletariats,  —  sie  waren  Glanz  und  Reich- 
tum, Gewissen  und  Gewißheit,  Hoffnung  und  Erfüllung, 
Geist  und  Tat  allen  Bedrückten  der  Erde. 

In  dem  Dokument  „Das  Zuchthausurteil"  lebt  der 
Karl  Liebknecht,  den  die  Massen  sahen,  den  sie  geliebt, 
wie  Führer  selten  geliebt  worden  sind;  lebt  der  un- 
beugsame Revolutionär,  der,  ganz  Schwert  und  Flamme, 
die  Sache  der  betrogenen,  ausgebeuteten  Menschheit 
zum  Siege  bringen  will. 

Das  vorliegende  Buch  hat  die  Aufgabe,  das  Bild 
Karl  Liebknechts  zu  ergänzen,  zu  verdeutlichen,  ihm 
jene  Züge  einzuzeichnen,  die  nur  Denen  vertraut  sind, 
die  das  hohe  Glück  hatten,  dem  leidenschaftlichen 
Kämpfer  persönlich  nahe  zu  stehen.  Der  Geschichte 
soll  das  Bild  vollkommen  übergeben  werden:  Das 
rechtfertigt  die  Herausgabe  dieses  Werkes  nicht  nur,  das 
läßt  alle  privaten  Gefühle  und  Hemmungen  zurücktreten 
und  macht  diese  Publikation  zwingend  notwendig.  Das 
Proletariat  hat  ein  heiliges  Recht,  Karl  Liebknecht  ganz 
zu  kennen,  wie  seine  Gestalt  in  der  Zukunft  leben 
wird.  Denn  er,  der  sich  im  Dienst  des  proleta- 
rischen Befreiungskampfes  rücksichtslos  verschwen- 
dete, der  mit  jedem  Tage  der  Revolution  als  Führer 
und  Mensch  über  sich  selbst  hinauswuchs,  er  wird  in 
diesem  Buch  recht  in  seiner  vollen  Größe  sichtbar.  — 

Erst  der  nahe  Umgang  mit  ».öffentlichen  Menschen" 
kann  uns  ihren  wahren  Wert  absolut  offenbaren.  Wer 
Karl  Liebknecht  persönlich  nahe  gewesen  ist,  der  wird, 

135 


ist  er  kein  seelischer  Krüppel,  jene  Stunden  als  das 
lichteste  Erlebnis  aufbewahren  durch  seine  restlichen 
Lebenstage  hindurch.  Liebknecht,  der  harte  Streiter, 
besaß  eine  geistige  und  künstlerische  Intensität,  eine 
Reinheit  und  Wärme  des  Gefühls,  die  die  Masse  nur 
ahnte.  Und  wenn  heute  „Intellektuelle",  denen  ihre 
bürgerliche  Bequemlichkeit  zu  kostbar  ist,  um 
aufzugehen  im  Dienste  für  die  Arbeiterklasse,  sich 
hinter  den  Deckmantel  des  „Geistes"  verkriechen,  wie 
wirken  sie  dann  armselig  neben  einer  Erscheinung  wie 
Karl  Liebknecht,  der  sein  ganzes  privates  Wohlbefinden 
freudig  opferte,  der  all  seine  vielartigen  tiefen  Neigungen 
zur  Literatur,  zur  Kunst,  zur  Musik,  zur  Natur  ohne 
Schwanken  preisgab  für  das  Eine:  Befreiungsarbeit  für 
Jene,  denen  eine  verbrecherischeGeselischaftsunordnung 
nur  Not  und  Elend  gibt. 

Der  Karl  Liebknecht,  der,  abgehetzt,  totmüde  um 
12,  um  1  Uhr  nachts  heim  kam,  sich  dann  ans  Klavier 
setzte,  um  noch  einige  Minuten  Chopin  oder  Beethoven 
zu  spielen  als  Abschluß  des  Kampftages:  das  ist  der 
Karl  Liebknecht,  der  aus  dem  vorliegenden  Buche  uns 
entgegentritt.  Diese  Briefe,  geschrieben  im  schmutzigen 
Kittel  des  Armierungssoldaten  und  in  der  Sträflings- 
kleidung des  Zuchthäuslers,  -  geschrieben  für  die 
nächsten,  liebsten  Menschen,  die  Karl  Liebknecht  hatte, 
geben  den  ganzen  Mann.  Neben  der  Lauterkeit,  Reinheit 
und  Zartheit  in  persönlichen  Angelegenheiten,  von  denen 
jedes  Wort  zeugt,  ist  es  immer  wieder  die  unermüdliche 
innere  Teilnahme  am  Kampfe,  die  hervorbricht,  selbst 
wo  sie,  wie  unter  der  Zensur  des  Zuchthauses,  unter- 
drückt werden  soll. 

Heroisch,  überwältigend  wirken  die  Lebensäuße- 
rungen, die  aus  der  Luckauer  Strafanstalt  kommen. 
Streng  abgeschlossen  von  der  Außenwelt,  angewiesen 
auf  die  dürftige  Lektüre,  die  die  „Hausordnung"  dem 
Sträfling  erlaubt,  nur  alle  drei  Monate  eine  rasend 
eilende  Besuchsstunde,  nur  alle  drei  Monate  die  Frei- 
heit zu  einem  Brief,  und  trotz  diesem  fast  völligen 
Begrabensein:  ein  stets  energisches  Reagieren  auf  jedes 
Ereignis  da  draußen,  ein  vulkanisches  Miterleben  des 
Lebens  da  draußen,  ein  unerschütterlicher  heiliger 
Glaube  an  die  Zukunft  trotz  alledem,  —  das  ist  Karl 
Liebknecht  hinter  Zuchthausmauern. 

Die  Briefe  konnten  natürlich  nicht  in  aller  Klar- 

136 


Karl    Liebknechts  Grab  in    Friedrichsfelde  (Juni    1919) 


heit  und  Deutlichkeit  Stellung  nehmen  zu  den  Er- 
scheinungen der  Zeit,  meist  mußte  es  ein  Zwischen- 
den-Zeilen-schreiben,  ein  Umschreiben,  ein  Andeuten 
bleiben.  Aber  in  engster  Schrift  bis  auf  das  letzte  weiße 
Fleckchen  vollgeschrieben,  sprühen  die  Seiten  von 
Feuer,  suchen  sie  vorwärtszustoßen,  sind  sie  Kampfes- 
mut und  Zuversicht. 

Für  diesen  Löwen  im  Käfig  waren  Widerstände 
nur  Antrieb  zu  gesteigertem  Kräfteanspannen.  Er  hat 
die  Zuchthauskieidung  nicht  deshalb  erhalten,  weil  er  am 
I.Mai  1916  auf  dem  Potsdamer  Platz  sein  „Nieder  mit 
der  Regierung",  „Nieder  mit  dem  Krieg!"  gerufen:  die 
Zuchthausjahre  sind  nicht  einem  Angeklagten 
als  Strafe,  sondern  dem  unerbittlichen  Ankläger 
als  Rache  auferlegt  worden  von  der  militärischen 
Mörderklique,  über  die  Karl  Liebknecht  zu  Gericht 
saß.  Karl  Liebknecht  hatte  den  Prozeß  durchgekämpft, 
hatte  vernichtendes  Material  wider  die  deutschen  Kriegs- 
macher zusammengetragen,  hatte  eine  Abrechnung  von 
welthistorischer  Bedeutung  vorgenommen,  um  dem 
deutschen  Volke  zu  zeigen,  wie  es  belogen  und  ver- 
raten ward.  Aber  die  Presse,  wie  stets  völlig  auf 
Lakaiendienste  dressiert,  unterschlug^  den  Prozeßbericht; 
kein  Wort  drang  an  die  Oeffentlichkeit.  Doch  Karl 
Liebknecht  hatte  auch  dies  vorausgesehen:  war  die 
Wahrheit  verhindert,  legal  zu  wirken,  dann  mußte  der 
illegale  Weg  ihr  gebahnt  werden.  Und  deshalb  kommt 
Karl  Liebknecht  immer  wieder  zurück  auf  das  „Ordnen 
der  Bibliothek"  -  auf  die  Herausgabe  des  Dokumentes 
„Das  Zuchthausurteil".  Die  Lüge  darf  nicht  weiter- 
wuchern, darf  nicht  triumphieren !  - 

Und  Karl  Liebknecht  erlebte  den  Tag,  da  die  Lüge 
jämmerlich  zusammenbrach. 

Die  Revolution,  die  er  ein  Leben  lang  mit  allen 
Fasern  seines  Herzens  herbeigesehnt,  die  er,  auf  dem 
gefährdetsten  Posten  stehend,  jahrelang  mitvorbereitet 
hatte,  die  Revolution  begann. 

Die  Wahrheit,  das  Menschenrecht  zum  Siege  zu 
bringen,  die  zusammenbrechende  morsche,  schuldige 
Gesellschaftsunordnung  zu  beseitigen,  den  Sozialismus 
in  die  Tat  umzusetzen,  das  war  das  Gebot  der  Stunde. 

Wie  immer  stand  Karl  Liebknecht  voran.  Haß 
und  Wut  und  Verleumdung  umbrandeten  ihn.  Die 
Bestie  wurde  auf  ihn  gehetzt.    Von  den  Litfaßsäulen 

137 


Berlins  peitschten  Plal^ate  auf,  ihn  zu  vernichten,  ihn  zu 
morden.  Alle  Gemeinheiten,  deren  eine  verfaulte  Ge- 
sellschaft fähig  ist,  wurden  gegen  Karl  Liebknecht  ver- 
sucht. Doch  er,  der  ja  während  seiner  Kämpferjahre 
und,  besonders,  während  der  Kriegszeit  der  Meute 
standgehalten  hatte,  trotzte  auch  diesen  Angriffen  mutig, 
jetzt,  da  es  den  letzten,  den  entscheidenden  Kampf  galt. 
Noch  am  Morgen  des  Tages,  an  dem  bezahlte 
Subjekte  seinen  Körper  töteten,  rief  Karl  Liebknecht 
siegesgewiß  den  Feinden  zu: 

„Unser  Schiff  zieht  seinen  geraden  Kurs  fest 
und  stolz  dahin  bis  zum  Ziel.  Und  ob  wir  dann 
noch  leben  werden  -  leben  wird  unser  Programm; 
es  wird  die  Welt  der  erlösten  Menschheit  beherrschen. 
Trotz  alledem!" 

Und  das  Programm  lebt!  Lebt  und  wirkt  allüber- 
all, wo  revolutionäre  Arbeiter  sich  zum  großen  End- 
kampf formieren.  Karl  Liebknecht!  Gehet  hin  auf 
welchen  Fleck  dieser  gemarterten  Erde  immer  und 
rufet  den  Unterdrückten  diesen  Namen  zu:  die  Pulse 
werden  lebendiger  pochen,  Augen,  von  langer  Arbeits- 
frohn  matt,  werden  hoffnungsfroh  aufleuchten:  Karl 
Liebknecht  gibt  ihnen  die  Gewißheit  des  Sieges  - 

Denn  er  fiel    unbesiegt.      Und  seine  Waffen 
sind  nicht  zerbrochen.  -  Nur  ein  Herz  zerbrach. 


138 


INHALT    DIESES    BUCHES 

BRIEFE  AUS   DEAI  FELDE 7 

BRIEFE  AUS  DER  UNTERSUCHUNGSHAFT    ....  39 

BRIEFE  AUS  DEM  ZUCHTHAUSE 47 

ANHANG: 

Entwurf  „Gegen  die  Freiheitsstrafe" 125 

Karl  Liebknechts  letzter  Zettel . 132 

NACHWORT  von  Franz  Pfemfert        133 

BILDBEIGABEN: 

Karl  Liebknechts  Porträt  aus  dem  Jahre  1913  ....  3 

Karl  Liebknecht  achtzehnjährig 5 

Karl  Liebknecht  als  Armierungssoldat  1915 7 

Karl  Liebknecht,  6  Jahre  alt 33 

Karl  Liebknecht,  13  Jahre  alt 34 

Das  Zuchthaustor  von  Luckau  (Mark) 49 

Facsimile  eines  Briefes  aus  dem  Zuchthause    ....  117 

Karl  Liebknecht  in  den  Revolutionstagen  Dezember  1918 

in  der  Berliner  Siegesallee  redend     .......  129 

Karl  Liebknecht,  ermordet,  auf  dem  Totenbett     .    .    .  136 

Das  Grab  in  Friedrichsfelde  im  Juni  1919     ....  137 

(Nach   einem   Gemälde   von  Max  Treitel) 


A       A       AI      E       R       K       U      N      G       E      N 

Die  Briefe  sijid  an  Sophie  Liebknecht,  Karl  Liebknechts 

szveite  Fran,  und  a7i  die  Kinder  erster  Ehe  geschrieben 

tuorden. 

In  der  Urschrift  haben  die  persönlichen  Eürxvörter  der 

Anrede  kleine  Anfangsbuchstaben. 

Kiirzunzen  sind  durch  vier  Punkte  angedeutet. 


POLITISCHE  AKTIONS -BIBLIOTHEK 
herausgegeben  von  Franz  Pfemfert 

Werk  1:  Alexander  Herzen:  Erinnerungen. 
Zwei  Bände  geh.  M.  10,—,   geb.  M.  15,— 

Werk  2:  Ludwig  Rubiner:  Der  Mensch  in  der 
Mitte.     Geh.  M.  3,—,  geb.  M.  5,00. 

Werk  3:  Theodor  Lessing:  Eurooa  und  Asien. 
Geh.  M.  3,—,  geb.  M.  5,00. 

Werk  4:  N.  Lenin:  Staat  und  Revolution.  Voll- 
ständige Ausg.    Geh.  M.  3,—  geb.  M.  5,— 

Werk  5:  Karl  Marx:  Das  Kommunistische 
Manifest.     40  Pf. 

Werk  6:  Karl  Marx:  Der  Bürgerkrieg.    M.  2, — 

Werk  7:  Karl  Liebknecht:  Zuchthausprozess.  M.  5,- 

Werk  8:  Marchand:  Aufzeichnungen  über 
Sowjetrußland  M.  3, — 

Die  Sammlung  wird  fortgesetzt. 

AKTIONSBÜCHER    DER    AETERNISTEN 
Band  1:  Ferdinand  Hardekopf:    Lesestücke 
Band  2:  Carl  Einstein:    Anmerkungen 
Band  3:  Franz  Jung:    Opferung.     Ein  Roman 
Band  4:  Franz  Jung:    Saul.     Ein  Drama 
Band  5:  Carl  Einstein:  Bebuquin.    Ein  Roman 
Band  6:  Charles  Peguy:    Aufsätze 
Band  7:  Franz  Jung:  SprungausderWelt.Roman 
Band  8:  Heinrich    Schaefer:     Gefangenschaft 
Band  9:  Gottfried  Benn:  Der  Vermessungsdirigent 

Die  Bände  1,  2,  4,  9  kosten  jeder  AI.  3,— 

Die  Bände  3,  5,  6,  7  jeder  M.  4,50 

Band  8  geb    M.  20,— 

D  I  E  AKTIONS  -LYRIK  ~~ 
Band  1:  1914—1916.  Eine  Antikriegs-Anthologie 
Band  2:  Jüngste  tschechische  Lyrik.EineAnthologie 
Band  3:  Gottfried  Benn:  Fleisch 
Band  4:  Wilhelm  Klemm:  Aufforderung 
Bane  5:  Der  Hahn:  Anthologie  französischer  Lyrik 
Band  6:  Maximilian    Rosenberg:    Umwelt 

Jeder  Band  kostet  in  Halbpergament  M.  5,— 

Verlag  DIE  AKTION,  Berlin-Wilmersdorf 


DER        ROTE        HAHN 
herausgegeben  von  Franz  Pfeniiert 

Buch  1:  Victor  Hugo:  Über  Voltaire 

Buch  2:  Hedwig  Dohm:  Mißbrauch  des  Todes 

Buch  3:  Leo  Tolstoi:  Der  Fremde  und  der  Bauer 

Buch  4:  Kar!  Otten:  Die  Erhebung  des  Herzens 

Buch  5:  Iwan  Goll:  Der  neue  Orpheus 

Buch  6/7:  Ferdinand  Lassalle:  Tagebuch 

Buch  8:  Gottfried  ßenn:  Diesterweg 

Buch  9/10:  FYanz  Mehring:  Kriegsartikel 

Buch  11:  „Scherz,  Satire  usw.":  Revolutionslyrik 

Buch  12:  Carl  Sternheim:  Prosa 

Buch  13:  Otto  Freundlich:  Aktive  Kunst 

Buch  14/15:  Franz  Pfemfert:  Bis  August  1914 

Buch  16:  Ludwig  Bäumer:  Das  jüngste  Gericht 

Buch  17:  Hilde  Stieler:  Der  Regenbogen 

Buch  18:  Heinrich  Schaefer:  Drei  Erzählungen 

Buch  19:  Jakob  van  Hoddis:  Weltende 

Buch  20:  Ciaire  Studer:  Mitwelt 

Buch  21/22:  Heinrich  Stadelmann:  im  Lande  Nein 

Buch  23:  Jules  Talbot  Keller:  Durchblutung 

Buch  24  25:  Josef  Capek:  Der  Sohn  des  Bösen 

Buch  26:  Alexander  Herzen:  Der  Geisteskranke 

Buch  27/28: -Kurd  Adler:  Wiederkehr 

Buch  2930:  Schmidt- Rottluff   und   Alfred    Brust: 

Spiel  vom  Schmerz 
Buch  31/32:  Karl  Jakob  Hirsch:  Revolutionäre  Kunst 
Buch  33:  Carl  Sternheim:  Die  deutsche  Revolution 
Buch  34/35:    N.  Lenin:   Aufgaben  der  Sowjet-Macht 
Buch  36:  A.  Lunatscharski :    Die  Kulturaufgaben  des 

Proletariats 
Buch  37:  N.  Lenin:  Kundgebungen 
Buch  38:  A  Bogdanow:  Die  Wissenschaft  u.  die  Arbeiter 
Buch  39:  Minna  Tobler-Christinger :  Die  Probleme 

des  Bolschewismus 
Buch  40.  Maximilian  Rosenberg:  Der  Soldat 
Buch  41/42/43:  Johannes  R.  Becher:  An  Alle! 
Buch  44:  Krapotkin:  Aufsätze 

Buch  45/46:  Hauptm.  Sadoul :  Es  lebe  Sowjet-Rußland 
Buch  47/48:  Karl  Liebknecht:  Politische  Aufsätze  (in 

Vorbereitung) 
Buch  49:  MaxTobler:  Der  revolutionäre  Syndikalismus 
Buch  50:  Gottfried  Benn:  Etappe 

In  Vorbereitung:   Bücher  von  Leo  Trotzki  u.  a- 
Das  Buch  kostet  M.l,—,  DoppelbändeM.  2,— . 

Verlag  DIE  AKTION,    Berlin-Wilmersdorf 


Im  zehnten  Jahrgang  (1920)  erscheint: 

DIE      AKTION 

Wochenschrift  für  revolutionären  Sozialismus 
HERAUSGEGEBEN  VON 

FRANZ      PFEMFERT 

DIE  AKTION  hat  vor  dem  Weltkriege  jahirelang  gegen 
den  von  der  blutbesudelten  internationalen  Dreieinig- 
keit Imperialismus  —  Militarismus  —  Kapitalismus  kühl 
vorbereiteten  Massenmord  aufgerufen  und  für  den  kriegs- 
feindlichen antinationalen  Sozialismus  gekämpft. 
DIE  AKTION  hat  auch  im  August  1914  nicht  , um- 
gelernt", hat  nicht  für  eine  Sekunde  mit  dem  weißen 
Terror  des  Kapitalismus  sich  vereinigt. 
DIE  AKTION  brachte  1918/1919  Beiträge  von:  Lenin, 
Karl  Liebknecht,  Rosa  Luxemburg,  Otto  Rühle,  Lunat- 
scharsk',  Sadoul,  Franz  Mehring,  Klara  Zetkin,  Bogdanow, 
Franz  Pfemfert  u.  a.;  sie  steht  auf  d^jm  Boden  der  anti- 
parlamentarischen  K.  P.  D.  und  kämpft  für  die  Diktatur 
des  Proletariats. 

Probeheft  50  Pf.    Quartalsabonnement  M.  6.50 
Für  Arbeiter  und  Organisationen  des  Proletariats  M.  4,50 


Außerhalb  der  Sammlungen  sind  erschienen: 

SAWATY:  Das  Buch  in  Saffian.  Ein  Roman.  Geh.  MS.— 

geb.  M.  7,50 
Die  Verfassung  der  russischen  Räterepublik.    50  Pf. 
Die  Wahrheit  über  die  Bolschewiki.    15  Pf. 
KARL   LIEBKNECHT:   Briefe  aus  dem  Felde  und  aus 

dem  Zuchthaus.  M.  5,—,  geb.  M.  8,— 
WILHELM  KLEMM:  Verse  und  Biider.  Luxusausgabe  in 
200  Exempl.  In  Halbpergament  gebunden.  Preis  M.  30, — 
FRANZ  JUNG:  Sophie.  EinRoman.  Geh. M  2.40,  geb.M.3,60 
FRANZ  JUNG :  Das  Trottelbuch  Geh.  M.  3,—,  geb.  M.  4,50 
Expressionistische  Kunst:  10  Sonderhefte  in  Halb- 
pergament M.  10,— 

Verlag  DIE  AKTION,   Berlin-Wilmersdorf 


Alle  diese  Werke,  sowie  alle  guten  Werke  anderer  Verlage 
sind  auch  durch  die  AKTIONS-BUCH-  UND  KUNST- 
HANDLUNG, Berlin  W  15,  Kaiserallee  222,  zu  beziehen. 


^ 


üniversity  of  Toronlc 
Library 


DO  NOT 
REMOVE 
THE 
CARD 


FROM 

THIS 

POCKET 


Acme  Library  Card  Pocket 
LOWE-MARTIN  CO.  Limited 


-d