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Full text of "Briefe über die wienerische Schaubühne"

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# N = 


SR ae ame! 
\ RN 8953 


ben die e 5 
wicneriſche Schaubühne * 
N aus dem Franzsſiſchen überſetzt. . 


* 


Me quoque quod monui, bene multa 
fideliter, odit, 


Ovidius. » 


bey Jo ſepho Kurtzboͤck, auf dem Hofe 1768. 


5 0 
* 


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LEHE RE NEE 


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* 


5 ab 


Briefe 


wiener! eh: Sbaeubüöhr 


Fk 
aus dem franzoͤſiſchen uͤberſetzt. 


* * 
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©. 4% 


Wien: den 24. Wintermonds 
5 1 76 2 


f Mein Herr! 
e 
in 


& Die Geſchaͤffte, die meine Reiſe EN 
M, anlaſſet haben, fangen endlich an, 
eine vortheilhafte Geſtalt zu gewinnen. 
Künftig, Freund! wollen wir uns nicht mehr 
uͤber die Unzugaͤnglichkeit, die ſteife und be⸗ 
leidigende Amtsmine, und die Verkaͤuflich⸗ 
keit der kleinen und kleineren Komiß in Pa⸗ 
ris beſchweren, die, da ſie ſonſt ſo wenig 
in der Welt zu bedeuten haben, ſich in den 
verworfenen Augenblicken ſehr wichtig zu 
machen wiſſen, in denen ein ehrlicher Mann 
sat. Dit ih⸗ 


70 


ihrer noͤthig zu haben ſcheinet. Wien gleicht, 
wenigſtens in dieſem Stucke, Paris vollkom⸗ 
men Sie finden hier in dem krzimmer eines 
jeden H. fr. .. fo ein Geſchoͤpf, das dür ch 
ſeinen Stolz, und einen magiſtrats maͤſſg i 
zuruͤckgebogenen Nacken den kleinen Komiß 
fpielt: und wehe demjenigen, der nicht ſo⸗ 
gleich das Laͤcherliche dieſes Maͤnnchens 
aufzudecken, und den Nebel der Wichtigkeit, 
in den es ſich einhuͤllt, zu zerſtreuen weis! 
es wird ihm den Zutritt zu dem Manne 
durch hundert Raͤnke und Vorſpieglungeg 
verſtellen, und ihn uber ſeine Geſchaͤffte aus⸗ | 
holen, und ſich wohl gerne das Anſehen 
eines Fuͤrſprechers und Beſchuͤtzers geben 
wollen. Sie kennen mich: ich bin gewohnt, 
ſolchen unnuͤtzen Geſchoͤpfen uͤber den Leib 
wegzuſpringen, wenn fie nicht freywillig bey 
Seite treten. Ich habe daher meine Ange⸗ 
legenbeiten geſchwinder in Gang gebracht, 
als man es ſonſt hier erwartet. 
| Und 


8 


Und nun bin ich ganz unbeſchafftiget. Die 
Sehenswuͤrdigkeiten dieſer Stadt find bald 
erſchoͤpfet. Das ſehenswuͤrdigſte derſelben 
iſt ein Hof, der ganz Schönheit, ganz 
Leutſeligkeit if, Ich habe die Fuͤrſtinn ges 
fehen, die das allgemeine Wehklagen rechtfer⸗ 
tiget, welches die Nation uͤber der Gefahr 
erhub, womit ihre Tage bedrohet wurden. 
Ich habe den Fuͤrſten geſehen, der den rich⸗ 
ligſten Weg zur Unſterblichkeit waͤhlet, da 


er ſeine Größe in ſich felbſt ſuchet. Ich 


habe die Grazien in einem Kreiſe mit zween 
Liebsgoͤttern gepaaret, geſehen. Ich moch⸗ 
te um diefer allein Willen meine Reiſe nach 
Wien unternommen haben. 

Die Bildergalerie kann Leuten, die aus 
Frankreich kommen, und die Galerie des 
Couvers, und im Pallaſte Luxemburg ges 
fehen haben, nicht außerordentlich ſcheinen. 
Der praͤchtige Buͤcherſaal, deſſen ſchoͤne 


| Malerey von dem berühmten deutſchen Al⸗ 


„ %ͤöÜO—ö Vene 


| 4 

terthumskenner, Hrn. Winkelmann einem epi⸗ 
ſchen Gedichte verglichen worden, iſt in et⸗ 
nem bedaurenswuͤrdigen Zuſtande, weil 
durch ein Verſehen, feine Grundfeſte, um ei⸗ 
nes kleinen Nebengebaͤudes wegen, untergra⸗ 
ben worden. Die Akademie, welche Wills 
Genie und Kunſt in dieſe Gegenden verpflan⸗ 
zen ſoll, iſt noch erſt in ihrer Kindheit; und 
die andere Akademie der bildenden Kuͤnſte 
erhält ſich kaum dem Namen nach. Sie 
finden zwar einzelne geſchickte Maͤnner, hie 
und dort Talente; aber man weis dieſe Fun⸗ 
ken noch nicht zuſammzuhalten, um Licht 
über die geſammte Nation zu verbreiten. 
Die Kuͤnſte ſtehen nicht in derjenigen Ach⸗ 
tung, die, mehr als Reichthuͤmer, den faͤhi⸗ 
gen Mann aneifern koͤnnen. Ein Maler, 
glich er auch einem Raphael, wuͤrde in dem 
Vorzimmer des ſtolzen Großen, mit der 
Schaar der gemeinen Handwerker vermengt, 
warten muͤſſen, bis die Reihe an ihn kaͤ⸗ 

me, 


0 


me, mit dem Haus hofmeiſter feine Rechnung 
abzuthun. Talente geben hier nicht, wie 
bey uns, eine beſondere Unterſcheidung; und 

weniger noch einen Zutritt in die Geſell ſchaft 
des hoͤhern Adels: und man wundert ſich, 
wenn die jungen Kuͤnſtler keine Vanloos, 
die Gelehrten keine Alemberts, die Dichter 
keine Chaulieus und Grekours werden? — 
Ich habe, wie ſie mich kennen, mich in 
allen Geſellſchaften nach den Gelehrten die⸗ 
ſer Stadt umgeſehen; ich fand keinen. Ich 
erkundigte mich darnach. Haben Sie denn 
nicht einige Maͤnner, die in dem Reiche 
der wiſſenſchaften berühmt find? — Wir ha⸗ 
ben derer welche — Ich vermuthete ſie alſo 
hier, oder in ſolchen Geſellſchaften anzu⸗ 
treffen — Sie haben geirret: unſre Ge⸗ 
lehrten kommen nicht unter uns — Und die 
Urſache / wenn ich bitten darf — iſt, weil 
unfte Kreiſe für fie ausſchluͤſſend find — Ich 

begreife das nicht wohl: die Kreiſe des 

A 3 Adels 


Adels wären für die Gelehrten aus hläß 
ſend — Ja — Sind denn die Gelehr⸗ 
ten zu fiolz , den Adel ihres Ungangs 
werth zu halten? —Man laͤchelt „und ſagte 
mir mit einer hoͤhnenden Verbeugung: nein 
aber wir, wir ſind ſo beſcheiden, uns der 
Ehre ihres Umgangs nicht wuͤrdig zu ſchaͤ⸗ 
tzen — Nun verſtand ich es. Alſo, fuhr 
ich fort, wurde der Thorſteher / Volcaͤ⸗ 
ren / im Fall er hieher käme, die Thuͤre 
verſagen — Un Vergebung, mein Herr! 
dieſe Ausſchluͤſſung ſchraͤnkt ſich nur auf die 
Gelehrten der Nation ein: wir haben einem 
Metaſtaſto nie unſre Thuͤre verſchloſſen — 
Das iſt aber, verfolgte ich, ein ſicheres 
Mittel / unter ihren Gelehrten nie einen 
Voltaͤr oder Metaftafio zu haben — Das 
mag ſeyn! verſetzte man mit vieler Gleich⸗ 
guͤltigkeit; aber um einen Voltaͤr unter uns 
zu erzielen, duͤrften wir uns ſchwerlich ent⸗ 
ſchluͤſen, den Bruͤdern und Oheimen unſcer 
Dienſt⸗ 


Dienſtleute in unſeren Kreiſe 
ſetzen zu laſſen. | 

Die wieneriſchen Tunderdentronks verur⸗ 
£heilen ſich alſo ſelbſt zudem Umgange mit 
bloß Hochgebohrnen .; und bannen die 
Gelehrten zugleich auf lebenslang an ihre 
Schreibpulte hin, da fie, aus dem natuͤr⸗ 
lichen Zuſammenhange der Urſachen und 
Wirkungen, die gewiſſe Ungelenkſamkeit, 
das geſchraubte Außenwerk, und den alt⸗ 
fraͤnkiſchen Bug annehmen muͤſſen, der be⸗ 
ſonders die Gelehrten Deutſchlandes unters 
ſcheidet, und ihre ſonſt liebenswuͤrdigen 
Talente für den Umgang und die Geſellſchaft 
unbrauchbar machet. 

So gar legen ſie es einem Manne, deſſen 
Berufsgeſchaͤffte die Wiſſenſchaften ſind, als 
ein Verbrechen aus, wenn ſein Kleid nach 
einem neueren Schnitte, feine Strümpfe und 
Stirne ohne Falten ſind. Man ſollte glau⸗ 
hen, die Gelehrten hier zu Lande waͤren be⸗ 
A 4 ſtimmt 


n einen Stuhl 


8 


ſtimmt, den verlegenen und aus der Mode 
gekommenen Waaren den Abzug zu verſi⸗ 
chern; ſo ſehr bleiben ſie in ihrem Anputze, 
wie in ihren Meynungen, bey den vorüber 
gehenden Jahrhunderte. Anathema dem 
Neuerer, der es wagte, von dem Duͤnkel ſei⸗ 
nes Uraͤltervaters abzugehen, und an der 
Unfehlbarkeit der ehrwuͤrdigen Vorfahren zu 
zweifeln! Ich habe ihn — der denken, nicht 
glauben wollte; der dafuͤr hielt, weil es ek⸗ 
laubt geweſen waͤre, die Zahl der Knoͤpfe 
an den Roͤcken zu vermindern, ſo moͤchte es 
wohl auch nicht unerlaubt ſeyn, die Vorur⸗ 
theile zu verringern, ich habe ihn, mit dem 
Banne aller Herren in us belaſtet, in einer 
ſittlichen Karikatur auf der hohen - 
ausſetzen geſehen. 

Mit einem Worte; die deutſchen Gelehr⸗ 
ten uͤberhaupt (denn es giebt doch eine, aber 
nicht ſtarke Ausnahme) uͤberhaupt aber ſind 
ſie ſonſt nichts als Gelehrte. Die Wiſſen⸗ 

ſchaf⸗ 


ſchaften und Grazie des Umgangs werden als 
Eigenſchaften, die miteinander unvertraͤglich 
ſind, betrachtet. Die ſchoͤnen Geiſter machen 
daher nicht, wie bey uns, die Zierde, und das 
Vergnuͤgen der artigſten Geſellſchaften aus, 
auf deren Freundſchaft Herzoge und Fuͤrſten 
ſtolz thun, deren Umgang fie durch wettei⸗ 
fernde Verbindlichkeiten ſich ſtreitig machen; 
und ein Fremder, der ſie beſucht, wird in ei⸗ 
ner unfruchtbaren Unterredung; die noch da⸗ 
zu auf Handwerksſachen hinauslaufen muß, 
wo der Auftritt nicht eine engliſche Scene 
werden ſoll; kaum wird er fuͤr ſeine Neugier⸗ 
de ſchadlos gehalten. 

Indeſſen erlauben mir meine Geſundheits⸗ 
umſtaͤnde bey dieſer Witterung nicht, von 
hier abzugehen; und ich ſaͤhe einen traurigen 
Winter vor mir, wenn nicht die Schaubuͤh⸗ 
ne mir wider die lange Weile eine Zuflucht 
anboͤte. 


A 3 | Die 


70 


Die Schaubuͤhne iſt von jeher meine Lieb⸗ 
lingsergöͤtzung geweſen: in Wien wird ſte einem 
Fremden, der nicht Luſt hat, ſich durch die 
Karte zu Grund zu richten, vollends unent⸗ 
behrlich. Meine Abende ſind alſo fuͤr die⸗ 
ſelbe beſtimmet; und ein guter Theil meiner 
Tage ſoll dann verwendet werden, Ihnen uͤ⸗ 
ber die Schauſpiele, und die Schauſpieler / 
das iſt: uͤber die Stücke, und ihre Auffaͤh⸗ 
tung meine Betrachtungen mitzutheilen. 

Dieſe Betrachtungen werden mich manch⸗ 
mal auf die Juſchauer / und auf das Gefühl / 
und den Geift der Nation ſelbſt leiten: denn 
nichts iſt ausgemachter, als daß man von dem 

Geſchmacke der oͤffentlichen Ergoͤtzungen auf 
den Geſchmack eines Volkes fuͤr die Wiſſen⸗ 
ſchaften und Kuͤnſte, und, bis auf einen ge⸗ 
wiſſen Grad, auch auf die Feinheit feiner 
Sitten, und des Umgangs folgern mag. 

Zur Zeit noch, wird mit ſcherzhaften 
waͤlſchen Sing pielen, und deutſchen Stücken 

40 ab⸗ 


abgewe hſelt. Man ſpricht noch von einer 
franzöſiſchen, und fo gar einer waͤlſchen 
Truppe. Der groͤßte Theil, wenigſtens der 
artigere Theil der Stadt hat ſich bis itzt fuͤr 
die erſtern erklaͤret. Ich hielt immer dafuͤr: 
man ſey der Nationalſchaubuͤhne die vorzuͤg⸗ 
lichere Aufmerkſamkeit, und Ermunterung 
ſchuldig. Da ich, nach der unter uns gluͤck⸗ 
lich eingefuͤhrten Gewohnheit, der deutſchen 
Sprache mächtig, und mit den beſſeren deut⸗ 
ſchen Schriftſtellern bekannt bin, ſo werde 
ich bey den Vorſtellungen der deutſchen 
Schaubuͤhne entweder die Rechtfertigung, 
oder die Verurtheilung der Wiener zu unter⸗ 
zeichnen fähig ſeyn. Es können die Stucke / 
es koͤnnen die Vorſtellenden die Schuld tra⸗ 
gen. Ich werde Gelegenheit haben, diejeni⸗ 
gen Schauſpieler bey uns voruͤber gehen zu 
laſſen, die es einiger maſſen verdienen, daß 
meine Aufmerkſamkeit ſich bey ihnen ver⸗ 
ſpeile. | 
Die 


Die waͤlſche Geſellſchaft der Sänger if} 
in der That eine fürchterliche Nebenbuhlerinn 
für die deutſchen Schauſpieler: fie beſteht, 
bis auf ein Paar Menſchengeſichter zum une 
terſtecken, aus den gewaͤhlteſten Per ſonen 
ihrer Art. Sie ſollen dieſelben nach und 
nach, genau kennen lernen, nach der Reihe, 
als fie in den Stuͤcken erſcheinen, wovon 
ich Sie unterhalten werde. 

Bey dem geringen Kenntniſſe der Tonkunſt 
werde ich unter vier Augen gleichwohl von 
der Compoſition der Mufik ein urtheil wa⸗ 
gen. Ader mein Urtheil wird vielleicht von 
dem Urtheile des muſikaliſchen Kunſtrichters 
abgehen: denn ich werde weniger die gemei⸗ 
nen Regeln der Kunſt, als die Empfindun⸗ 
gen meines Herzens zu Handleitern waͤhlen. 
Eine Muſik, nach allen Regeln des muſika⸗ 
liſchen Mechanismus, die mich kalt laͤgt, iſt 
ein Bild nach dem genaueſten Ebenmaſſe ge⸗ 
zeichnet, aber ohne Waͤrme und Wahrheit. 

Der 


Der hoͤchſte Preis der ſchoͤnen Kuͤnſte, wie 
der ſchoͤnen Wiſſenſchaften, iſt ein entriſſener 
Seufzer, eine entlockte Zaͤhre. 

Das Praͤchtigſte der Wiener Schaubuͤhne 
ſind ihre Ballete. Noverre / beynahe der 
Erſchaffer ſeiner Kunſt, ſetzet fuͤr dieſelbe, 
und unterrichtet die Tänzer in der Ausübung, 
pick / das Muſter einer in allen Theilen ſyme⸗ 
triſchen Geſtalt, ein bluͤhender Juͤngling, den 
Terpſichore ſelbſt erzogen hat — Lenzi ſonſt, 
itzt Mom Trankard, deren jede Stellung die 
ſanfte Grazie des Guido Reni beſchaͤmet — 
Burnonwille / deren Richtigkeit und ‚Ger 
ſchwindigkeit Bewunderung erregt; dieſe und 
noch mehrere vortrefflichen Zoͤglinge der Tanz⸗ 
kunſt, was muͤſſen ſie unter der Hand eines 
folgen Meiſters nicht im Stande ſeyn 2 
Noverre hat uns indeſſen das Geſetzbuch 
der Tanzkunſt entworfen: er mag ſichs ge⸗ 
fallen laſſen, daß ich ihn nach ſeinen eigenen 
Geſetzen beurtheile. 

Sg 


Sehen Sie, mein Freund! welch ergiebi⸗ 
gen Stoff zu unſerem Briefwechſel, ſelbſt noch, 
ehe die beiden erwarteten Truppen dazuſtoſ⸗ 
ſen Sie ſollen mit jedem Poſttage von mei⸗ 
nen Neuigkeiten erhalten, ohne daß ich Sie 
zu eben dieſer Genauheit im Antworten ver⸗ 
pflichten will. Ich bin u. ſ. w. 


An den Verleger. 

Mein Herr! 
2 kann ihrem Wunſche willfahren. Mein 

Freund erlaubt mir, von feinen Brie⸗ i 
fen jedesmal eine Abſchrift zu nehmen, und 
Ihnen mitzutheilen. Er läßt ihnen ungebun⸗ 
dene Hand, damit zu thun, was Ihnen b.⸗ 
liebt. Wollen Sie nach ihrem erſten Einfal⸗ 
le noch immer dieſelben drucken, fo erinnert 
er nur: daß Sie wiſſen muͤßten, wie weit⸗ 
Ihre Verhaͤltniſſe geſtatten wuͤrden, das, ge⸗ 
mein zu machen, was Freunde in einem ver⸗ 

kr au⸗ 


. . 


EN 15 | 
re 


traulichen Briefwechſel, ohne Zuruͤckhaltung 
und ohne jemanden zu ſchonen, einander gleich⸗ 
am ins Ohr ſagen. Die Namen koͤnnten 
Sie allenfalls mit Anfangs buchſtaben hin⸗ 


ſetzen, oder dafür die gewöhnlichen Doris, 


Alcindor, u. d. g. unterſchieben. Hier em⸗ 
pfangen Sie den erſten! wobey ich mir nur 
ein Bedingniß ausmache: fehen Sie zu, 
daß die Briefe meines Freundes wenigſtens 
einem ertraͤglichen Ueberſetzer in die Haͤnde 
fallen. Ich bin ER | 
PS Ihr dienſtwilliger K* * 
Joſeph Rurtzboͤck, Univerſitaͤtsbuchdru⸗ 
cker, macht ſich hiemit gegen das Pu⸗ 
blikum verbindlich, dieſe Briefe, welche 
eine Art von einer Dramaturgie vor 
ſtellen, auf gutem Schreibpappiere und 
mit beſonderer auf die Korrektur ver⸗ 
wendeten Sorgfalt herauszugeben. Dies 
ſer erſte Brief kann als ein Probeblatt 
ſowohl in Anſehen des Formats, Pap⸗ 
piers und aͤußerlichen Geſtalt, als des 
inneren Werths, und der Wahl, die er 
mit 


* 


16 
mit feinem Uberſetzer getroffen, gelten. 
Wochentlich wird nur ein Stuͤck, einen 
Bogen ſtark, erſcheinen, damit der Zu⸗ 
ſammenhang nicht zerſtuͤcket werden muͤſ⸗ 
ſe. Manchmal wird ein Blatt daruͤber, 

manchmal eines weniger ſeyn; weil man 
ſich nach dem Driginal halten muß. 
Mittwoche, den böten Jaͤner 1768. 
wird das erſte Stuck erſcheinen, und 
immer an dieſem Tage im kursboͤcki⸗ 
ſchen Gewölbe auf den Hof damit fort⸗ 
gefahren werden. Die Oraͤnumera⸗ 
tion iſt auf ein viertel jahr 1. fl 18. kr. 
Jedoch werden auch einzelne Stuͤcke, 
zu 6. kr. ausgegeben, weil das Stuck 
einen Bogen ſtark iſt. Der Verleger 
verſpricht mit feinen Blaͤttern puͤnktlich 
zuzuhalten, und erſucht: dieſes erſte 
Schreiben aufzubewahren, weil es in der 
Sammlung das erſte Stuck ausmachen 
wird. b 


2 


Erſtes Schreiben 
Wien: den 27. Wintermonds 
SR 1767. 
Mein Herr! 


Y Ich befinde mich in dem Lande der 
e Wunderwerke. Ein ernſthaftes 
Re a Singſpiel ohne Zaftraten] — 

eine Muſik ohne Solfezteren / oder wie ich 
es lieber nennen moͤchte, Gurgeley — ein 
waͤlſches Gedicht ohne Schroulſt und Flit⸗ 
terrritz mit dieſem dreyfachen Wunder⸗ 
derwerke iſt die Schaubuͤhne naͤchſt der Burg 

wieder eroͤffnet worden. Noch wohl ein vier⸗ 
tes habe ich Luſt hinzuzuſetzen, und es iſt 
vielleicht nicht eben das kleinſte: die erſte 
Saͤngerinn eine gebohrne Deutſche.“ 

CM B Weil 

* Der Ausländer ſieht in dieſer Stelle ſeht 

durch; denn wir — haben dieſes letzte Wunder⸗ 


un ſchon zu Öfteren Malen erlebt⸗ Der Weber 
ez er. * 


Weil gerade eine bequeme Gelegenheit dazu | 
ſich anbiet, fo ſende ich Ihnen das Stüe* aber 
ſo, wie es der Dichter anfangs erſcheinen 
ließ. Bey der Aufführung ward es abgekuͤrzet. 
Ich habe die weggebliebenen Stellen mit 
Roͤthelſtreifen angezeichnet; doch bin ich mit 
dem Abkuͤrzer nicht durchgehends zufrieden. 
Wer hieß zum B. den Mann die Anrede der 
Koͤniginn wegſtreichen, die in der Vorſtel⸗ 
lung gewiß ſehr ruͤhrend ausgefallen ſeyn, 
und auf die Zuſchauer nachdruͤcklich müßte 
gewirket haben. | 

2 Ewige ; unſterbliche Gottheit „wenn | 
„dein Blick, dem das Innerſte der Ge 
„danken unverholen iſt, in mir bis 
„ itzt ein reines Herz, keuſche Wuͤnſche, 
„ AUnſchuld und Menſchenliebe entdeckt 
„ hat; wenn all mein Schickſal ich von 
„ dir nur erfuhr; wenn ich nie deinen 


, Dienſt 


* Alceſte Tragedia, 


a Dienſt, dieſes dein Bild nie verab⸗ 
„ ſaͤumet habe, o fo werde auch nun 
„ mein Gebet und Opfer huldvoll von 
„dir aufgenommen! I. Aufs. II. Auftr.“ 
Des Zuſammenhangs wegen durfte dieſe 
Stelle ſogar durchaus nicht wegbleiben. Nur 
erſt zwoeen Auftritte vorher ſagte ja die Koͤ⸗ 
niginn : fie wollte bey dem Gebete felbſt zu⸗ 
gegen ſeyn; ſie wollte ihrem Volke ſelbſt 
das Beyſpiel der Ehrfurcht und Unterwuͤr⸗ 
figkeit werden: im dritten läßt der Ober: 
prieſter bey der Annaͤherung Alceſtens mit 
dem pfer innenhalten — und kaum if fie eins 
getreten, fo 2 Mi 
„ ſieht Apollo ihre Geſchenke mit nicht 
| 35 gewoͤhulicher Huld an — 
Wie ꝛ ſchon 2 und ehe noch das Opfer vollen⸗ 
det wird? — Ja! denn Alceſte iſt ſchoͤn; 
| 3 wenig⸗ 
* Ich habe mich der vöitfändiden von H. v. S. 
gemachten Ueberſetzung Aleeſtens bedienet. Der 
Ueber foren 


20 


wenigſtens verſichert uns der Dichter davon 
| einige hundert male, und Madam Bernaskoni 
ſtraft den Dichter nicht eben Luͤgen. Apollo 
war, wie es ſeine galante Geſchichte beweiſt, 
gegen ſchoͤnes Frauenzimmer immer ſehr ar⸗ 
tig; er kam alſo auch hier, als ein Gott, der 
zu leben weis, der Bitte reitzender Appen auf 
dem halben Wege entgegen. | 

Sie kennen die Alceſte des Euripides aus 
dem P. Brumoi. Ich habe ſeine griechiſche 
Schaubůhne nicht mit unter meiner Reiſe⸗ 
bibliothek; aber fie iſt unter ihren Vuͤchern. 
Halten Sie das Singſpiel mit dem Trauer⸗ 
ſpiele zuſamm, wenn Sie wiſſen wollen, was 


der waͤlſche Dichter dem Griechen ſchuldiz 
iſt; was man ihm zum eignen Verdienſte an⸗ 


zurechnen hat. Soviel ich ungefehr auswen⸗ 
dig behalten habe, gehoͤrt Erfindung, Plan, 
bis auf den Ausgang, und ſelbſt der groͤßte 
Theil der Ausdruͤcke dem Euripides an. Denn 
das ganze Dramma durch herrſchet der ruͤh⸗ 
rende 


? 


=“ 


21 


rei de und zaͤrtliche Ton, wodurch Euripides 
ſich von ſeinem Zeitgenoſſen und Nebenbuhler 
Sophokles unterſcheidet; obgleich im Waͤl⸗ 
ſchen das Spruchreiche vermieden iſt, wo⸗ 
durch ſich der Schüler des Anaxagoras in 
ſeinen Stuͤcken aller Orten verraͤth. 

Sein eignes und großes Verdienſt iſt oh⸗ 
ne Zweifel der Muth, mit welchem er den 
ſtrotzenden, und von taͤndelnden Spitzfindig⸗ 
keiten uͤberlaufenden Stil feiner National⸗ 
dichter verließ, und das Erhabene nicht in 
den Stelzen des Ausdruks, das Ruͤhrende 
nicht in dem Schnirkelwerke verſtandloſer 
Einfaͤlle ſuchte. Die Sprache des H. von 
Calſabigi iſt die ungekuͤnſtelte Sprache der 
Empfindung; eine Quelle, die keinen andern 
Lauf haͤlt, als nach dem ſanften Hange des 
Erdreichs, woruͤber ſie wegfluͤßt; die uͤber⸗ 
all ſich ins Gleichgewicht ſetzet; und nur da 
ein wenig aufſchaͤumt, wo ſie an einen in 
den Weg geſtuͤrzten Stein ſtoͤßt. 

B 3 Hie 


x . 


22 


Hie und dort — Nun ja! hie und dort noch 
ein Fleckchen von der Erbſuͤnde des Arioſtus 
und Taſſo, welches die Thraͤnenflut / womit die 
betrůbten Gegenden vonphera ůͤberſchwem⸗ 
met find, * leicht verwaſchen koͤnnte — Wenn 
dieſe Art Blümchen nicht etwan eigenthuͤm⸗ 
liche Schönheiten der waͤlſchen Sprache find; 
wozu man freylich, wie die Indianer zu den 
Naſengehaͤngen ihrer Geliebten, von Ju⸗ 
gend auf ſeine Augen gewoͤhnt haben muß; 
wenn ſie das nicht ſind; ſo hat der Verfaſ⸗ 
fer es vielleicht nothwendig gefunden ‚fie ſei⸗ 
nem Gedichte als einen Geleitsbrief mitzu⸗ 
geben, ohne welchen es ſchwerlich über die 
Alpen dürfte gelaſſen werden — Und wer 
weis „ koͤmmt es fo noch ohne Schwierig⸗ 
keit bey den kritiſchenpaßverwahrern vorbey. 
Die erſte Vorſtellung eines Stückes gilt 

in 


* Mai fine i] pianto avrà; 
Che queſte bagnera 
Spiagge funeſte! 


Man 45 
in meinen Augen nie fuͤr etwas anderes, als 


eine Hauptprobe. Heute Abends wird Alee⸗ 
ſte wiederholt. Kuͤnftig wollen wir von der 
Wirkung ſprechen, die ſie auf die Zuſchauer 
machet. Ich bin u. ſ. w. 


Zweytes Schreiben 
den 28. Wintermondes 1767. 


etlich, mein Freund! unausſteh⸗ 
ich iſt — Alceſte in der Auffuͤhrung? 

Rein! der Saufen der Zuſchauer; und dar 
her die Theatralunternehmung in Wien das 
undankbareſte Gefhäfft von der Welt. Was 
fuͤr eine Ermunterung fuͤr den Dichter, den 
955 B 4 Ton⸗ 

* Der ueberſetzer glaudt / daß man ihm gerne die 
Brieffoͤrmlichkeiten erlaſſen und vergeben 


wird / wenn das me in Herr! zum Anfange / 
und ich bin: am Ende kaͤnſtig hinweg bleibt. 


Sontünftier, für den Schauſpieler, Leuten 
ohne Ohren, ohne Geſchmack, ohne Seele, 
ohne das geringſte Gefuͤhl des Schoͤnen, zu 
ſchreiben, zu ſetzen, zu ſpielen? Leuten, die 
nur das grobe Vergnuͤgen zu lachen, nicht 
die feinere Wolluſt einer niedlichen Schwer⸗ 
muͤthigkeit, einer ſanften Thraͤne zu empfin⸗ 
den fähig find — Ich rede vom Haufen — 

Geroviß das iſt erbaulich! neun Tage oh⸗ 
ne Schauſpiele / und am zehnten eine See⸗ 
lenmeſſe — Wie: ich denke gar, hier iſts 
auf Thraͤnen angeſehen? es kann ſeyn, daß 
ich welche ver gieſſe — aus langer Weile — 
Nein! das heißt ſeine zween Gulden weg⸗ 
werfen] eine vortrefliche Ergoͤtzung / eine 
Haͤrrinn / die für ihren Mann ſtirbt Wo 
ungefaͤhr glauben Sie, daß ich ſie hinge⸗ 
bracht habe — auf den Paradis? * Sie haͤt⸗ 
ken recht, 9205 demGgeſpraͤche alſo zu denken; 

5 aber 


Wie hier der Zehnkreutzer Platz. 


25 


aber fie ſitzen mitten auf dem adelichenpar⸗ 
terre. Wohl denn, meine Damen und Ca⸗ 
valiers! Sie koͤnnen nach ihrem Geſchmacke 
bedient werden: kommen Sie! und Sie, 
mein Freund begleiten Sie uns! 

Geſetzt, auf der Meſſe von St. Germain 
zieht ein fremder Handels mann durch die 
Schoͤnheit ſeiner Waare die ganze Menge der 
Anweſenden an ſich — Irgend in einer Ecke 
ſteht ein Wurmdoctor / verlaſſen und ein⸗ 
ſam, und ſeiner Einſamkeit uͤberdruͤſſig: er 
legt ſeine Bretter auf, laͤßt einen Affen gau⸗ 
keln „eine Schlange ſich um den Arm win⸗ 
den, pfeift auf der Siebenflöͤtte: und nach und 
nach verſammelt auch er einen Haufen um 
ſich her — freylich iſt es nicht die gewaͤhlte⸗ 
fie Geſellſchaft, die ſich daherum draͤngt: a⸗ 
ber immer ein Gedraͤng, das der Quackſal⸗ 
ber, nach Würde und Standesgebübr ge: 
ehrtes / hochgeneigtes Auditorium nennet. 


B 3 Das 


Das ungefahr iſt die deutſche Schaubuͤh⸗ 
ne, auf welcher, indeſſen auf der einen Seite 
Alceſtens Schickſal dem geruͤhrten Zuſchauer 
Bewunderung und Thraͤnen abnoͤthigte, ein 
ſehr ſchiefer, erbaͤrmlicher Nachahmer, eines 
die deutſche Schaubuͤhne verunzierenden O⸗ 
riginals in einer Proberolle auftrat, und ver⸗ 
wegen genug war, in einer Hauptſtadt Deutſch⸗ 
landes einen Beyfall zu erwarten, der ihm 
bey uns, auf dem elendeſten Dorfe wuͤrde 
verſagt worden ſeyn — 

Dieſen Beyfall, worauf berſprach er fi 
denſelben? auf läppiſche Einfaͤlle; 5 ekelhaf⸗ 
te, ſchmutzige, ſittenloſe Zweydeutigkeiten, 
(die gewoͤhnliche Würze, womit die deutſchen 
Luſtigmacher ihren Geruͤchten den hohen Ge⸗ 
ſchmack zu geben ſuchen) auf Umkleidungen, 
die wider Bern ft und Wahrſcheinlichkeit 
eingedrungen wurden ; auf ein Geheul in No⸗ 
ten geſetzt, wozu er den ſchaͤndlichen Tertin 
elenden Knittelverſen abdrucken zu laſſen, die 
Un⸗ 


27 


Unverſchämtheit beſaß; und wovon die Poli⸗ 
zey des Schauſpiels, dem oͤffentlichen Aer⸗ 
gerniſſe vorzubauen, einige Strophen zu 
unterdruͤcken, für nothwendig hielt. Aber, 
was nicht gedruckt werden durfte, warum hat⸗ 
te der Poſſenreiſſer das oͤffentlich auf den 
Brettern geſungen? — 

Mich verdrießt die fichtbare Geringſchaͤ⸗ 
tzung, mit welcher ſolche elende Geſchoͤp fe 
einer ganzen, liebenswuͤrdigen Nation, bey 
welcher die Morgenroͤthe des Geſchmacks 
ſich wirklich ankuͤndiget, in den Augen ſo 
vieker Fremden begegnen; und was ich nicht 
begreife, iſt dieſes: wie man dieſelben, wann N 
fie erſcheinen, nicht mit einem Steinhagel 
empfaͤngt, und von der Buͤhne hinabwirft. 
In der That, ſagen dergleichen Auswürfe 
der gefunden Vernunft, fo oft ſie auftreten, 
den Inwohnern der Hauptſtadt nicht ? 
Meine Serren! wir halten euch für dumm 
genug daß man euch platte Winfaͤlle fůr 
| Witz 


win een 11 wir 1 a 
für genug poͤbels / daß ihr euch an 
unſerm Laſttraͤgerſcherze ergoͤtzen; für 
ungeſtttet genug / daß ihr lan un 
fen Unflaͤttigkciten ein Wohlgefallen 
tragen / und wohl gar für ſtirnlos genug / 
daß ihr dieſes Wohlgefallen durch laͤrmen⸗ 
den Beyfall an den Tag legen werdet! ſa⸗ 
gen fie nicht alles das? und wohl noch das 
darzu? ich halte die Wachſamkeit uber die 
offentlichen Sitten fuͤr ſo erloſchen / daß 
ich nichts dabey wage, wenn ich der Ehr⸗ 
barkeit und dem Anſtande unter ihren Au⸗ 
gen die toͤdlichſten Streiche verſetze? — 
Welche Erniedrigung für die Wiener? Und 
welche eine größere, wenn die Hoffnung die⸗ 
ſes Gaukelvolks ihren guten Grund hat! 
Dieſer Hiſtrio; dem ich den Namen 
Schauſpieler nicht beylegen kann, weil ſich 
ein geſchickter und geſitteter Mann ſonſt da⸗ 
durch wie fuͤr gebrandmarket halten müßte; 
f hat i 


W 


— ͤ — — . ——— —m—— nn 


hat den erſten und zweyten Tag in der Schau⸗ 
buͤhne naͤchſt dem Kaͤrthnerthore geſpaſſer: 
die Impreſa belohnte ihm die Tagwerke, 
und ließ ihn auf einen andern Markt ziehen. 

Wie man mir ſagt, hat er vor einiger 
Zeit in der Jahre auch feine Geſchicklichkeit 


im Tragiſchen bewieſen. Sie erachten es 


bon ſelbſt, daß er ſich den Orosman wird 
gewaͤhlet haben. Welcher Schtebiwandsicher, 
der etwan einmal einen Brief abzugeben, 


und dazu zu fügen hatte: ein Schreiben! 


hält fich nicht für einen Schauſpieler 2 und 
welcher Schauſpieler haͤlt ſich nicht fuͤr ge⸗ 
ſchickt, wenigſtens einen Orosman zu ſpie⸗ 


len? Jemand, ſo die Vorſtellung mit an⸗ 


geſehen hatte, verſichert mich: das waͤre 
ſein ganz eignes Talent — ein Trauerſpiel in 
eine Burleske zu verwandeln, und lautes 
Gelaͤchter zu entlocken, wo der Dichter Thraͤ⸗ 


nen fodert. Ich glaube nicht, daß ich das 
fo luſtig finden würde. 


Ich mag wohl uͤber 


ei⸗ 


einen Menſchen lachen, der ſich freywillig | 


karikirt: aber eine wahre Karikatur erweckt 
bey mir Mitleid, oder Ekel. 

Habe ich Ihnen den Namen dieſes Fra⸗ 
zenkraͤmers und des Stückes, welches von 
ſeiner eignen Mache, und ſeines Urhebers recht 
ſebr wuͤrdig iſt, ſchon genennet ? Nein 2 — 
ich will es alſo auch noch nicht thun die⸗ 
ſe Art Leute verlangen es ohnehin nicht beſ⸗ 
fer , als daß ihr Namen, es geſchehe nun 
mit Ehren oder Schande, in der Welt her⸗ 
umgegeben werde. Sie zinden den Tempel zu 
Epheſus an, damit ihr Andenken wenigſtens 
auf der Schandſaͤule, die auf der Brand⸗ 


ſtaͤtte errichtet wird, zur Nachwelt hinuͤber 


komme. Aber ein verſtandvoller Rathſchluß 

der Griechen verbiet, ihren Namen nur aus⸗ 
| zuſprechen. Er fen auch für uns, in e 
dieſer Heroſtraten des guten Geſchmacts ge 
geben „dieſer Rathſchluß! 


’ 
“ 


Da 


* 16 


31 


Da mir Papier und Poſttag uͤber dieſen 
Unrath der Schaubuͤhne einmal ſchon ver⸗ 
loren gegangen; ſo will ich Ihnen noch ei⸗ 
ne luſtige Anekdote mittheilen, die zugleich 
von der aͤußerſten Unverſchaͤmtheit „und der 
4 aͤußerſten Unwiſſenheit dieſer Gattung Leute 
ein neuer Beweis werden 0 Ich babe 
ſie aus einem Briefe, der der Seltenheit 
der Sache wegen von Hand zu Hand herum⸗ 
Läuft. Da dieſer Menſch, von dem ich gere⸗ 
det, ehemals hier die Rolle des Orosman 
gemis handelt, und damals einige von Nover⸗ 
res Balleten geſehen; kam er nach derjeni⸗ 
gen Stadt zuruͤcke, wo er als Principal eis 
5 ne irrende Truppe unterhält. Der Adel 
fragte ihm : wie er in Wien aufgenommen 
worden? und was wohl eigentlich an dem 
Wunderwerke der noverriſchen Ballete waͤ⸗ 
re? — Auf das erſte moͤgen Sie die Ant⸗ 
wort zum Theile errathen — Ich habe den 
größten Werfel erhalten: man verehret, 
man 


— ...... . —„— » 
man bewundert mich. Die Wienertrupp 
iſt ſonſt ganz erträglich / wenn fie ein we⸗ 
nig zugeſtutzt wuͤrde; und man iſt mit 
mir in Un terhandlung, die Aufſicht dar⸗ 
über zu übernehmen. Und Noverrs Bal, 4 
lete? — Er machte aus der Fabel des Pr. 
ramus und Thisbe ein Ballet; führte es 
mit den vortrefflichen Taͤnzern ſeiner Trupp 
auf — So / gnaͤdige Herren / gerade 

ſo find Noverrs Ballete 


13 


Drittes Schreiben 


Wien: den 5. Jaͤnner 
1768. 


a Die Mut in den Händen des Mans 
IR, ung 0 0 . die e rn 

bloß in einer ſtudirten Reihe 
von Accorden * und Auflöfungen beſtehen 
läßt, fondern die Accente der Leidenſchaf⸗ 
ten, und wenn ich mit Genehmhaltung der 
muſikaliſchen Likurge das Wort wagen 
darf, die Accente der Seele aufzufinden, 
und dadurch den Geſang ausdruckvoll, und 
redend zu machen weis; in den Haͤnden ei⸗ 
nes Mannes, der mit dem Geiſte des Dich⸗ 
ters ſetzet „ und da, wo dem mußſkaliſchen 
Handwerker von den gemeinen Regeln Faͤſſel 
angelegt find, dieſe Faͤſſel zerbricht, ſich uͤber 

u die 

* Der Ueber ſetzer hätte ganz leicht Wörter gefunden 


die accords, accents, Modulation „Harmonie . 
‚De g. zu berdeutſchen: allein er glaubte ſich vers 

bunden um der Deutlichkeit Willen dieſe mehr ge⸗ 
laͤufgen Kunf woͤrter beyzubehalten. 


die Regeln hinweg ſchwingt, und mit der 
Freyheit des Genies ſelbſt Regel und Muſter 
wird; in den Händen eines ſolchen Mannes 
muß die Muſik Wunderwerke thun. 

Die Alten waren davon uͤberzeugt. Sie 
hatten gewiſſe kriegeriſche Spielftüce , wo⸗ 
durch fie die auflodernde Hitze ihrer Streiter 
maͤſſigten: durch dieſe hielten fie ihre junge 
Mannſchaft in Reih und Gliedern zuruͤcke, 
wann ſie mit geſchloßner Stirne auf den 
Feind einen Eindruck machen ſollte. Sie 
hatten andere, welche bis zur Raſerey auf⸗ 
brachten, wodurch ſie imGGewuͤhle der Schlacht 
die Tapferkeit erhitzten, und e 
ken begeifterten. 

Aelianus wo ich mich nicht irre, er⸗ 
zaͤhlt von einem Tonkuͤnſtler, der durch ſeine 
Geſaͤnge die beſchrieenſten Zaͤrtlinge der Welt, | 
die Era, ſo ſehr erhitzte, daß ſie ge⸗ 

gen⸗ 


* Verſchiedener Geſchichte 35 ten Buchs 
43. Haupt- Der eber 


38 


geneinander die Waffen ergriffen. Aelian 
verdient im Grunde zwar nicht viel Glau⸗ 
ben; aber feine Märchen koͤnnen immer als 
ein Beweis von den Meynungen gelten, die 
zu ſeiner Zeit im Schwange waren. 

Der Harpenſchlaͤger David war mit den 
Geheimniſſen der Tonkunſt ſo vertraut, daß er 
dadurch die ſchwarze Unmuth von dem Haupte 
Sauls verſcheuchte: und er hatte vielleicht 
von der Allmacht ſeiner Kunſt zur Unzeit ei⸗ 
nen Verſuch machen wollen, und ſtatt der be⸗ 
fänftigenden Moltoͤne ſich zu lange unter 
den ſchaͤrferen Kreuzen verweilet, als der 
Fuͤrſt ſeinen Wurfſpies nach dem juͤdiſchen 
Arion warf. i 

Wenn wir zu unſeren Zeiten von den er⸗ 
ſtaunlichen Wirkungen der Tonkunſt nicht eben 
die Begriffe haben; ſo koͤmmt es daher, daß 
unſere Empfindungen, wie unſere Leiber zu 
Weichlingen ausgeartet; daß uns Waͤlſchland 
mit feinen entmannten Sängern auch feine 

| NE kraft⸗ 


26 5 
— ͤä ͤ——— - 


kraftloſe Muſik aufgedrungen, und daß wir, 
aufrichtig zu reden, nur eine Muſik für das 
Ohr, keine für das Herz haben, 

Ich moͤchte nicht gerne mit dem hitzigen 
St. Preux über dieſen Punkt in einen Streit 
gerathen. Wenn ich die waͤlſche Muſik nicht 
fo göttlich, fo unnachahmlich finde als er; 
ſo rede ich nur von meinem Geſchmacke, 
und von dem Eindrücke, den fie auf mich 
machet. Ich will auch darum fuͤr dit fran⸗ 
Zzöſiſche Muſik noch gewiß mit ihm keine 
Lanze brechen. Ich erlaube ihm von unſrer 
Eper alles moͤgliche Boͤſe zu ſagen, was ihm 
nur gefaͤllt; und ich will in meiner Offen⸗ 
herzigkeit gegen ihn ſo weit gehen, zu beken⸗ 


\ 


nen, daß ich mich mit den ſchneidenden und 


unmodulirten Tönen unſrer Muſik, auch 
durch die Fels und Jeliotte nicht aus ſoͤhnen 
kann. Aber ich waͤre begierig, recht eigent⸗ 
lich zu wiſſen, was der junge Menſch, der 


ſeit der Zeit ſehr alt geworden, und nur erſt 


itzt 


| 9 
itzt feinen Nichierfiuhl uber die Muſik mit 
aller Foͤrmlichkeit errichtet hat, was er an 


der Setzart des Ritters Gluck zu erinnern 
faͤnde. 


Dieſer iſt der muſtkaliſche Verfaſſer der 
Alceſte. Seine Einbildungskraft iſt unge⸗ 
heuer: daher ſind ihm die Schranken aller 
Nationalmuſiken zu enge: er hat aus der 
wälſchen, aus der franzoͤſiſchen, aus den 
Muſiken aller Voͤlker eine Muſik gemacht, 
die feine eigne iſt: oder vielmehr: er hat in 
der Natur alle Töne des wahren Ausdrucks 
aufgeſuchet, und ſich derſelben bemächtiget. 
Die Grundzuͤge ſeines Satzes ſind immer 
dem Gegenſtande angemeſſen, und gleichſam 
ein richtiger, freyer Umriß, durch ein ſchoͤnes 
Kolorit bearbeitet, worinnen das Licht mit 
der Haͤuslichkeit eines ſcharfen Beurtheilers 
bertheilet, die Abſtechung ſorgfaͤltig, aber 
mit Wahl angebracht, und uͤberhaupt die 
feinſte Symetrie beobachtet wird. Jeder 

C 3 Theil 


Theil feiner Mufik macht, für ſich ſelbſt bes 
trachtet, ein ſehr angenehmes Ganzes aus, 
das aber zu dem groͤßeren Ganzen in einem 
ſo ebenmaͤſſigen Verhaͤltniſſe ſteht, daß die 
gluckiſchen Saͤtze die wohlgeſtaltet ſten Koͤr⸗ 
per ſeyn wuͤrden, wöͤferne die Töne ih 
bar koͤnnten gemacht werden. I; 

Alceſte war für dieſen geſchickten Mann 
eine weitraͤumigte Bahn, die Fruchtbarkeit 
ſeiner Gedanken zu zeigen. Es war ſchwer 
bey einem Stoffe, uͤber den durchaus, Trau⸗ 
rigkeit und Schwermuth gleich verbreitet iſt, 
der Einfoͤrmigkeit, und Wiederholung zu ent⸗ 
kommen. Gluck hat dieſe Schwierigkeit 
mit vielen Ruhme uͤberwunden. Seine Choͤ⸗ 
re find immer weſentlich' unterſchieden: ſei⸗ 
ne Recıtative ſprechend, und das Akompa⸗ 
gnament nicht eine bloſſe Anſtimmung, 
oder eine muͤſſige Ausfuͤllung des Zwiſchen⸗ 
raums, ſondern ein weſentlicher Theil des 
Ausdrucks, und oft ſelbſt ſo ſehr Aus⸗ 

druck / 


Fed 
— ᷑ n ai sts SestnsereamBmentBEERBEETaEBCE ds. tsssrcäetsamessncenneesn 


druck, daß fie den ganzen Inhalt faßlich, 
und die Worte beynahe entbehrlich machen. 

Seine Arien ſind neu, von einer einfa⸗ 
chen, aber gefühlvollen Melodie, an denen 
mich beſonders der Schluß ganz außer mich 
ſelbſt geſetzt hat. Ich werde durch die Wir⸗ 
kung, welche die zierathloſen Schlugfälle 
der gluckiſchen Geſaͤnge auf mich gemacht 
haben, beherzt, mich kuͤnftig laut gegen die 
gekraͤuſelten Ausgaͤnge der waͤlſchen Arien zu 
erklaͤren, wogegen ich im Geheim ſchon lan⸗ 
de mich empoͤret hatte. 

Dieſe Formaten von einer unbegraͤnzten 
Länge find hoͤchſtens gut, ein Probeſtuͤck von 
der Gelaͤufigkeit der Kehle, und der unange⸗ 
griffenen Lunge des Saͤngers abzulegen. A⸗ 
ber konnte die geſunde Kritik der Tonkunſt je 
ungeahndet zuſehen, daß der Ausdruck die 
ſen mechaniſchen Geſchicklichkeiten, daß die 
edleren Reitzungen der Empfindung, der ſinn⸗ 
lichen Wolluſt des Gehoͤrs geſchlachtet wur⸗ 

den? 


* 


40 


den 2 — Oder iſt man vielleicht der Meinung, 


daß die Taͤuſchung dadurch wohl ſehr gewin⸗ 
ne, wenn da, wo die Geſetze des Gehoͤrs mich 
einen Schluß erwarten heiſſen, der Saͤnger 
feinen Schlauch mit neuer Luft anfuͤllt, um 
eine einzige Syllbe fünf bis ſechs Minuten 
lang auf der Leiter der Toͤne nach mancherley 
Fortſchreitungen auf und nieder zu ſchleppen, 


und zuletzt mit einem Triller zu enden, der 


mich für feinen Odem beſorgt macht? Was 
fuͤr ein abentheuerliches Verhaͤltniß hat eine 


einzige, ſo ſehr ausgedehnte Syllbe zu dem 


kleinen Ganzen eines Geſangs? und in wel⸗ 
che Verlegenheit wird der Sänger, als Schau⸗ 
ſpieler betrachtet, dadurch nicht verſetzet, da 
es unmöglich iſt, eine aus druckende Pantomime 
anzubringen, welche durch die Ewigkeit der 
Formate nicht in eine ſteife Stellung ausar⸗ 
ten ſollte? — Ich habe mich durch das Feuer 
der Handlung, welches dieGeſchicklichkeit des 
Tonkuͤnſtlers noch vermehrte, die Einſicht 
und 


41 


und richtige Ausiühruug der handelnden Per⸗ 
ſonen uuterſtuͤtzte, dahinreißen laſſen: ich fuͤh⸗ 
le Furcht, Mitleid, Schrecken; denn ich glau⸗ 
be, ein Zeuge der Begebenheit zu ſeyn. Auf 
einmal ſteht die Handlung, um einer Colora⸗ 
tur willen ſtille: der Schauſpieler erkaltet = 
und ich mit ihm: und alle Antheilnehmung 
iſt voruͤber. 

Bekuͤmmert ſich denn aber der Haufen von 
Compoſitoren, und Sängern ſehr darum, ei⸗ 
ne Oper zu einem ruͤhrenden Schauſpiele zu 
machen? — Freylich nicht! und ſie ſetzen da⸗ 
her ein Miſerere nach eben den Grundſatzen 
als ein Singſpiel; und jene ſingen beides e⸗ 
ben ſo _ Eben darum aber ſoll die Ton⸗ 
kunſt dem Manne groſſe Verbindlichkeit ha⸗ 
ben, der mit Gefahr ſeines Ruhmes ſie von 
einem Fehler befreyet, welcher ihre edelſten 
Endzwecke, den Ausdruck und die Rührung 
hereitelt. 


C 5- Wie 


42 
Wie ſagte ich? mit Gefahr ſeines Ruh⸗ 
mes / ich hatte da die muſtkaliſchen Pedanten 
im Geſichte / welche an dem Singſpiele des 
Ritters Gluck freylich manches auszuſetzen 
haben werden, denn der verwegne Mann hat 
ſich Dinge erlaubt — O hoͤren wir doch nicht 
auf ein Geſchwaͤtz, welches nicht weniger 
von dem Neide, als der Unwiſſenheit veran⸗ 
laſſet wird. Ich habe dieſem Manne zu ge⸗ 
fallen, große Luſt zu eitiren, und von ihm zu 
ſagen, was Horaz von dem Igeifchen Dichter 
ſagt : | 
„Ihm befahl die Muſe, die Götter zu 
„befingen, und die Helden und der Goͤt⸗ 
„ker Geſchlecht. — 
Der allgemeine Beyfall hat ihn auch wirk⸗ 
lich gekroͤnet; und dieſer Beyfall iſt deſto 
ee da er ſich durch die wieder⸗ 
hol⸗ 
* Anfuͤhren waͤre das Wort: aber ich habe eit! 


ren beybehalten / weil es eine Anſpielung auf das 
Gelehrtthun iſt. Der neberſ⸗ 


r 


holten Vorſtellungen Alceſtens immer mehr 
beftättiget. Man erwartet dieſes Singſpiel 
im Drucke; ſonſt wuͤrde ich mich umſtaͤndli⸗ 
cher auf die Schoͤnheit der einzelnen Theile 
einlaſſen. Sie werden dann ſelbſt nach ihrer 
feinen Einſicht daruͤber urtheilen: und ich 
bin begierig, ob Sie aus dem vortrefflichen 
Ganzen mit mir einerley Lieblingsſtůcke waͤh⸗ 
len werden. Hier ſind die meinigen! 

Im I. Aufs. III. Auftr. das Recitatis 
des hohen Prieſters, angefangen von] den 
Worten: von ihrer heiligen Wuth ergrif⸗ 
fen — Das Akompagnement des Orcheſters 
zeigt, alle die verſchiedenen Erſchein ungen, 
welche die [Gegenwart des Phaͤdus hervor⸗ 
bringt; und nun folget 

In eben dieſem Auftritte nach dem Orakel⸗ 
ſpruch, das große, unnachamliche Stuck, wo⸗ 
rinnen Gluck Dichter und Tonkuͤnſtler zu⸗ 
gleich geworden, und durch ſeinen Satz das⸗ 
jenige ergaͤntzet und verfloͤſſet hat, wozu der 


- Dich⸗ 


2 


Dichkkunſt ihre Worte wenn ich ſo ſagen Ve f 

keinen behandel baren Stoff gaben. Kaum er⸗ 

ſcholl unter dem ſchweigenden Volke der er⸗ 
ſchreckliche Goͤtterſpruch; fo laſſen die Baͤſſe 

in tiefen und einfoͤrmigen Toͤnen ſich hoͤren, 

das hole und furchtſame Gemurmel eines 

Volkes auszudruͤcken, dem Schrecken und Er⸗ 
ſtaunen „den Mund zu artikulirten Worten 
verſchloſſen Hält. Dieſes Hemurmel nimmt zu; 
und bricht endlich in Ausrufungen aus; die 
aber noch immer unterdruͤckt find, und nur 
durch die Vergeſellſchaftung mehrerer Stim⸗ 
men zu vernehmbarer Staͤrke anwachſen. Die 
Beſchaͤmung eines Volkes, das feig genug iſt, 
einen wuͤrdigen und verehrten Fuͤrſten un⸗ 
dankbar zu verlaſſen, ſucht gleichſam eine Friſt, 
die ſchon beſchloßne Flucht zu bemaͤnteln. End⸗ 
lich wird von ferne das verwirrte: Laßt uns 
fliehen! von nur wenigen angeſtimmet. Von 
ferne f welcher Meiſterzug! die Hoͤflinge, die⸗ 
ſer Haufen von Augendienern, die im Ange⸗ 

ſich⸗ 


— 


ſichte der Fuͤrſtinn ſtanden, die wollten nicht das 
Anſehen haben, als haͤtten ſie ihren Herren 
am erſten verrathen. Der unbekannte und ent; 
fernte Poͤbel, bis zu welchem die beſchaͤmenden 
Blicke Alceſtens nicht reichen konnten, wagte 
dabey am wenigſten, und konnte es alſo am 
erſten wagen. Sobald der Anſtoß gegeben 
war, brach die verraͤtheriſche Stimme aller 
Orten hervor, ward allgemein, und der Hau⸗ 
fen ſchuͤtzte die einzelnen Ungetreuen. Dieſer⸗ 
Auftritt war eines von den ſchoͤnſten Gemaͤl⸗ 
den, die vielleicht jemals auf der Bühne es 
ſchienen find. 

Das Alleingeſpraͤch Alceſtens in dem Hayn 
€ im II. Aufz. II. Auft.) iſt goͤttlich: und fo 
ausdruckvoll und angemeſſen das Akompag⸗ 
nament hier durchaus iſt; ſo uͤbertrift doch⸗ 
die allgemeine Pauſe, die bey den Worten: trau 
ernde Stille anfängt, und durch zween Tak⸗ 
te fortwaͤhret, nl was der Tonkuͤnſtler an 

deſ⸗ 


6 _ 


deſſen Stelle geſetzt hätte. Dieſes Schwei⸗ 
gen iſt das redenſte Stuͤck der ganzen Mono⸗ 
loge. 

Der Chor der unſichtbaren Gottheiten in 
eben dieſem Auftritte iſt ein Beweis von der 
tiefen und geläuterten Beurtheilung des Ver⸗ 
faſſers. Es wäre wider ſinnig, wenn die Schat⸗ 
ten ſehr modulirten: daher ſind die Sing⸗ 
ſtimmen auf einen tiefen Ton beſchraͤnketz die 
Modulation iſt aber den uͤbrigen Stimmen 
des Orcheſters aufgetragen. Bey den erſtern 
Auffuͤhrungen machte dieſer Chor eine bey⸗ 
nahe unangenehme Wirkung, weil das Or⸗ 
cheſter zu ſtill akompagnirte, und die Stim⸗ 
men zu tief in die Schaubuͤhne hinein ver⸗ 
leget waren. In der Folge wurden die Saͤn⸗ 
ger zwiſchen die vordern Schiebewaͤnde ge⸗ 
ordnet, und ſtaͤrker akompagnirt: nun fd 
ſo gar auch diejenigen bekehret, welche Arte 
fangs zwiſchen dieſem Chore, und dem ver⸗ 
s ſtim⸗ 


en Nöubench den eine Aehnlichkeit 
aufſuchten. 

Ich ſpreche von meinen 09 Lieb⸗ 
lingsſtuͤcken, unter welchen die letzte Arie des 
II. Aufzugs ihren Platz mit Würde behaup⸗ 
tet. Der Schluß iſt ein wahrhaft franzoͤſi⸗ 
ſcher, ſchneidender Ton; aber auch der wah⸗ 
re Accent der auf das hoͤchſte geſpannten 
muͤtterlichen Empfindung, wo die Stimme 
gleich ſam uͤberſpringt, und einen Mislaut giebt, 
welcher dem Ohre peinlich faͤllt, aber eben da⸗ 
durch das Herz des Zuſchauers verwundet, 
und den Stachel in der Wunde noch lange zu⸗ 
ruͤck laͤßt⸗ 

Die zweyſtimmigten Arien Alceſtens und 
Admets — auch dieſe, und fo manches an⸗ 
deres, und alles wuͤrde in dieſem vortreffli⸗ 
chen Singſpiele für mich Lieblingsſtuͤcke ſeyn, 
wo ich fortfuͤhre, das Vergnuͤgen bey mir zu⸗ 
ruͤckzurufen, ſo mir auch das kleinſte Stuͤck 
deſſelben verurſachet hat. Nach meiner Weiſe 

moͤch⸗ 


| 48 

moͤchte ich die Setzart Glucks, die charakte⸗ 
riſtiſche nennen, und wohl ſehr wünfchen, 
daß ſie unter den Tonkuͤnſtlern ſo viele Nach⸗ 
folger finde, als fie ſich unter den Liebhabern 
der Muſik, deren Gefühl durch die fobaritifche 
| „armonie der italiaͤniſchen Tonkunſt nicht 
verwoͤhnet iſt, Bewunderer erworben hat. 


Drittes Stück. 


Viertes Schreiben 


Wien: den 15. Jaͤnner 
1768. 


nz traͤgliche Schauſpieler waͤren, 

fo eine Seltenheit? — dieſe 
Frage fiel mir bey der ſechſten Vorſtellung 
Alceſtens ein, als Tibaldi / den ich ehmals 
als den froſtigſten Saͤnger von der Welt ge⸗ 
kannt hatte, ſich ſelbſt uͤbertraf, und mit wah⸗ 
rem Gefuͤhle, beſonders in dem Auftritte ſpiel⸗ 
te, wo ſein Zudringen Alceſten das Geſtaͤnd⸗ 
niß ihres großen Geluͤbds entreißt ? Wollen 
Sie die Betrachtungen mit anhoͤren, worauf 
mich dieſe Frage, und der Mann, uͤber den mir 
dieſe Frage aufſtieß, geleitet haben? 

Tibaldi war zu feiner Zeit eine der ſchoͤn⸗ 
ſten Tenorſtimmen Waͤlſchlands; und beſaß 
auch ſonſt alles Talent, daß einen Sänger 
ſchaͤtzbar mashet : aber auf der Schaubühne 
| D hatte 


wos —.— 
hatte er keine Seele. Itzt, da er einige von 
ſeinen hoͤheren Saiten verloren hat, und 
oͤfters ſeine Zuflucht zu einem unangenehmen 
Falſete zu nehmen gezwungen iſt, wird er be⸗ 
lebt. Seine Geberde iſt mehr als anftändig, 
ſie iſt frey, angemeſſen, angenehm; ſein Ge⸗ 
ſicht begleitet und unterſtuͤtzt die Geberde⸗ 
und ich habe ihn ſo gar einzelne Zuͤge eines 
ſtummen Spiels anbringen geſehen, welche 
Richtigkeit der Empfindung, oder Einſicht 
an ihm bewieſen. Wo war alſo damals, als 
noch feine Stimme ihm ganz zuGgebot ſtand, 
dieſer Ausdruck, auf deſſen Rechnung allein, 
Tibaldi den groſſen Beyfall zuſchieben hat, 
den er itzt in Wien findet, und verdienet? 
Bedenkt man, daß das Feuer, welches die 
Handlung des Schauſpielers beleben muß, 
eher durch die Jahre erliſcht, als angefacht 
wirdz daß auch nur die mechaniſche Geſchick⸗ 
lichkeit, den Koͤrper in ſeiner Gewalt zu ha⸗ 
ben, anhaltende Uebung vorausſetzet; ſo ge⸗ 
raͤth 


raͤth man ſehr natürlich auf den Argwohn, 
dieſer Saͤnger habe die Anlage welche ihm 
zu einen geſchickten Schauſpieler von der 
Natur gegeben worden, entweder vorſetzlich 
unterdruͤckt, oder doch geringgeſchaͤtzt; als 
etwas blos Beygaͤngiges, deſſen er bey der 
hoͤhern Gabe einer unbeſcholtenen Stimme 
gerne entrathen könnte: 

Das iſt die laͤcherliche Salbſtgenügſamkeit 
des großen Haufens der waͤlſchen Saͤnger 
und Sängerinnen: fie daͤchten der Wuͤrde der 
Kehle etwas zu vergeben, und ſich wohl 
gar veraͤchtlich zu machen, wenn ſie den Ge⸗ 
ſang mit der Pantomime begleiteten, gleich 
als haͤtte er, um unſere Bewunderung weg 
zu haben, noch einer fremden Huͤlfe noͤthig! 
— Beſtaͤttigen Sie ſich meine Beſchuldigung 
mit einem einzigen Blicke auf eine Nation, 
die mehr als irgend eine andere, Natio eo-⸗ 
mæda eft.* und im gemeinen Leben, jedes 
Wort mit einer Mine, mit einer Geberde 


D 2 ver⸗ 
die Nation iſt ganz Gauklerinn. Juven, der Ueberſ⸗ 


| EN En ki 
m —— —̃— 


vergeſellſchaftet; bey welcher alſo dieſe Stei⸗ 
fe auf der Schaubuͤhne, dieſer Froſt, dem 
Temperamente widerſpricht, und beynahe als 
erkünftelt und erzwungen muß angeſehen wer⸗ 
den. 8 . 

Vielleicht aber thut Sie beſſer daran, nicht 
nach einer Kunſt zu ſtreben, die wenigſten auf 
einem gewiſſen Punkte der Vollkommenheit 
ſehr ſchwer zu erreichen, und beynahe mit 
dem Talente des Geſangs unvertraͤglich zu 
ſeyn ſcheint. Und daraus moͤchte ſich wohl 
meine Frage hauptſaͤchlich beantworten laſ⸗ 
ſen. Der Ausdruck der MWuſik, und der 
Ausdruck der Aktion ſind, in einem gewiſſen 
Verſtande, einander gerade entgegen geſetzt. 
Jener, an das genauſte Maß in den allerklein⸗ 
ſten Abtheilungen der Zeit, und an die Ueber⸗ 
einſtimmung des mit verflochtenen Akom⸗ 
pagnemens gehaͤftet, fodert eine unnachgelaſ⸗ 
ſene Verſammlung, und Aufmerkſamkeit, um 
nicht uͤber die Graͤnzlinie zu ſchreiten, die der 

ſe⸗ 


53 
ſetzende Tonkuͤnſtler fuͤr ihn beſchrieben hat. 
Dieſer hingegen, durch die Hitze der Einbil⸗ 
dung in die Umſtaͤnde der Handlung, die der 
Dichter angeleget, wahrhaft verſetzet, ver⸗ 
gißt alles, was um ihn her iſt, Schaubuͤh' 
ne, Zuſchauer, ſich ſelbſtiz denkt nur feine 
Furcht, ſein Schrecken, ſeine Wuth; und wird 
von ihrer Heftigkeit uͤber alle Graͤnzen, oft 

bis an das Scheinbarunregelmaͤßige dahinge⸗ 
riſſen. Entweder alſo, daß der abgezirkelte 
Gang der Muſik die ungeſtuͤmmen, aber wah⸗ 
ren Ausbruͤche der Leidenſchaft hemmet; oder 
daß der zuͤgelloſe Lauf des empoͤrten Affekts 
alle Symmetrie des Geſangs um und uͤber 
kehrt, und, gleich einem ungebändigten Läufer 

(Courfier) über. alle Ziel und Schranken un: 
aufhaltbar mit ſich hinwegfuͤhret. 

Dieſes iſt an dem glukiſchen einfachen 
Stil ein neuer, und vielleicht noch unerkann⸗ 
ser Vorzug, daß er dem Talente des Scham 
wpielers weniger als jeder andre, Schwierig⸗ 
| D 3 Fan 


keiten in Weg leget, weil er ſich fo nahe, als 
es die Tonkunſt immer zugibt, an den Affekt 
ſelbſt ſchmieget: es iſt das leichte, fließende Ge⸗ 
wand des Le Bruns, welches die Koͤrper nicht 
verhuͤllet, ſondern ſich nach ihnen hinbeugt, 
und den natuͤrlichen Wuchs ganz durchſcheinen 
laßt. Seine Singfpiele werden auch immer 
in der Auffuͤhrung eine ſtaͤrkere, eine anhal⸗ 
tendere Wirkung machen; und ich moͤchte bey⸗ 
nahe fagen, fie werden der Opernbuͤhne Schau⸗ 
ſpieler zu bilden fähig ſeyn. a 
Wenn nicht zu bilden, wenigſtens die na⸗ 
tuͤrliche Gabe derſelben zu entwickeln, da, wo 
ſie die Natur ihren Guͤnſtlingen ertheilet, und 
die gewoͤhnliche, uͤberladene, und geſchminkte 
Oper nmuſik fie ſonſt unnuͤtz gemacht hat. So 
erklaͤre ich mir in dem Singſpiele Alceſte die 
kibaldiſche Erſcheinung“ und die eben ſo ſelt⸗ 
e 
*Im framöfifchen heißt es: Ceſt ainfi , que le phe- 
nomène de Tibaldi, u. ſ. w. Ich glaube dieſe Re⸗ 
densart / die etwas zweydeutig iſt / aus dem Zur 
Ä ammenhange des Vorhergehenden zu * 5 weil 


7 


35 


ne, von einer Saͤngerinn, die noch etwas 
mehr als Sängerinn gezeigt hat. 

Madam Bernaskoni, ſpielte Alceſten, mit 
einer Wahrheit, Empfindung, und Antheil⸗ 
nehmung die bewundert werden. Ich habe Ih⸗ 
nen ſchon bemerkt, daß dieſe Saͤngerinn eine 
Deutſche iſt; ich muß hinzuſetzen, eine Wiene⸗ 
rin:die Nation thut auf fie ein bißchen ſtolz/ und 
die Waͤlſchen beißen ſich uͤber die Lobſpruͤche, 
die man gegen ſie verſchwendet, und woran 
ganz leicht ein wenig Nationaleitelkeit mit Theil 
haben moͤchte, ſtillſchweigend in die Lippen. 

Die Wiener ſchaubuͤhne iſt nur erſt die zwey⸗ 
te, auf der Bernaskoni ſinget; und Alceſte ih⸗ 
re erſte ernſthafte Rolle, da ſie ſonſt, auch ſelbſt 
noch hier, in der ſcherzhaften Oper ſang. Zeit, 
Nachdenken, und lebung haben alſo noch nichts 
zu ihrem Talente beytragen koͤnnen; ſie kam 
| D4 ſo, 

nämlich Tibaldi / der eher immer nur Sänger war / 

in der glukiſchen Oper ſo ploͤtzlich Sch auſpieler ger 
worden; ſo nennt er dieſes mit einem Ausdrucke 


der Naturlehre: das nbaldiſche Phenomenon. Der 
Heberiener. | 


56 


fo, wie fie iſt, aus den Händen der Natur: 
Die Lebhaftigkeit ihres Gefuͤhls vertritt zur 
Stunde noch die Stelle des Nachdenkens, und 
die Richtigkeit der Empfindung, die Stelle 
der Einſicht und Kunſt. 

Sie iſt außer der Schaubuͤhne t 
klein, aber auf den Brettern weiß ſte ſich ei⸗ 
ne Groͤße zu geben, die ſie anſehnlich machet, 
und unterſcheidet. Ihr untadelhafter Wuchs 
koͤmmt ihr dabey vortheilhaft zu ſtatten, und 
ſteht ihr bey ihren Stellungen bey, die alle 
richtig und edel gezeichnet find: dennoch her 
ben ſich darunter noch die Seitenwendungen 
ganz beſonders heraus, dergleichen ſie in den 
Auftritten mit Admeten einige Male anzu⸗ 
bringen Gelegenheit hatte: ſie waren eines 
e Pinſels wuͤrdig. 

Ihre Bildung iſt fuͤr die Schaubuͤhne an⸗ 
be ihr Auge beredt, und bey ihrem Aus⸗ 
drucke nicht muͤſſig. Ihre Arme ſind frey, und 
Haben „ohne in die gekuͤnſtelte Symmetrie zu 

1 fal⸗ 


fallen, eine verlaufende Schwingung. Sie er⸗ 
laubt ſich mit ſelben Bewegungen, die den 
geuͤbteſten Schauſpielerinnen oft mislingen; 
naͤmlich die vor dem Koͤrper gleichſeitige Er⸗ 
hoͤhung in geraden Linien. Ohne Zweifel ficht 
ſie die Schwierigkeit dieſer Bewegung nicht 
ein, und darum iſt es auch fuͤr ſie keine. 
Ihre Geberde folget nur den Bewegun⸗ 
gen des Herzens, und ihr Herz führer fie be⸗ 
ſtaͤndig auf den angemeſſenſten, und nicht 
ſelten auf den feinſten Ausdruck. Sie hat 
bey der dritten Wiederholung Alceſtens ei⸗ 
nen von dieſen gluͤcklichen Zůgen in der Schluß⸗ 


arie des zweyten Aufzugs bey den Worten: 


dieß iſt der Qualen größte Qual / fich von 
fo ſuͤſſen Rindern zu trennen, angebracht. 
Das erſte und zweyte Mal machte ſie bey dem 
Worte Trennen die Bewegung der gewaltſa⸗ 
men Entfernung! es war eine der malenden 
Geberden, die fuͤr das Aug eben ſo deutlich 


als die Worte fuͤr das Ohr find: aber auch 
Sn D 5 ein 


FF ˙²˙ 1 ̃¾— lt! ö]. 


ein allgemeiner Schauſpieler, oder allenfalls 
der Dichter, ſo der Schauſpielerinn einen Un⸗ 
terricht gaͤbe, wuͤrde auf ſo etwas verfallen 
ſehn. Das dritte Mal, ohne Zweifel, da ih⸗ 
re Einbildung von der bevorſtehenden ſchmerz⸗ 
lichen Trennung lebhafter geruͤhret, und ihre 
Empfindung heftiger angegriffen war, ſchoß 
fie ihren wilden, gefuͤhlvollen Blick auf Aſpa⸗ 
fien, ließ ihn eine Weile unbeweglich an ihr 
hangenz dann aber als der Begriff der Tren⸗ 
nung nahte, warf fie ſich dem Kinde ploͤtzlich 
an den Hals, umſchlang es mit beiden Armen, 
gleich als waͤre der Augenblick der Trennung 

wirklich vorhanden, und gleich als waͤre ſie 
dieſen grauſamen Augenblick durch ihre Wider⸗ 
ſetzung zu entfernen faͤhig. Nichts iſt wahr⸗ 
hafter als dieſer Ausdruck. So wuͤrde auf 
einem Gemälde des franzoͤſiſchen Raphaels 
Clytemneſtra ihre Tochter umfaſſen, wann 
ſie der grauſame Calchas an den Schlachttiſch 
Dianens zu ſchleppen bereit ſteht; ſo wuͤrde 
| der 


2 


der Bräutigam feine Braut umſchlingen, die 
ihm die wuͤtende Wolluſt bruͤnſtiger Soͤldner 
rauben will. 

Ich habe dieſen Zug nur das eine Mal ge⸗ 
ſehen, ob ich gleich bey den folgenden Vor⸗ 
ſtellungen begierig darauf Acht hatte. Ich 
bin verſichert, Hätte man die Bernaskom 
um eine Urſache angegangen, ſie wuͤrde ſich 
nicht lange bedacht haben, zu antworten: es 
war ein Trieb der Natur — Daß doch die 
Schauſpieler mehr auf dieſe Triebe merk⸗ 
ten, welche ſo richtige Wegweiſer ſind! ihre 
Kunſt beſteht ohnehin einzig darinnen, die 
Spuren der Natur aufzuſuchen, und Em 
mit Wahl zu folgen. 

Mein Pruͤfſtein der Schauſpieler und 
Schauſpielerinnen iſt immer der Zwiſchen⸗ 
raum, wenn ſie nichts zu ſprechen ha⸗ 
ben, entweder wo ein anderer Zwiſchenre⸗ 
dner ſpricht; oder wo in den Singſpielen die 
Miturnelle eingeſchaltet find. Es waͤre an 

dit 


| 60 f 
die Dichter und wohl mehr noch an die Mu⸗ 
ſikſetzer eine nicht uͤberfluͤſſige Erinnerung, 
bey ihren Arbeiten die Schaubuͤhne und alle 
darauf anweſenden Perſonen ein wenig mehr 
im Geſichte zu behalten, und die Geſpraͤche, 
die Arien und Stuͤcke der mitbegleitenden 
Muſik nicht laͤnger anzulegen, als ſich die 
muͤſſig gelaſſenen Perſonen mit dem ſtummen 
Spiele zu beſchaͤfftigen, im Stande ſind. Die⸗ 
fe Anmerkung, wenn fie weiters hinausge⸗ 
fuͤhret, und auf Beyſpiele angewendet wuͤr⸗ 
de, braͤche manchem witzigen Einfalle der 
Dichter, und mancher colorirten Einleitung 
der Arien den Stab: aber ich will ſie und 
mehrere Unſchicklichkeiten der Singſpiele, wenn 
es mir nicht ſonſt einmal an Stoff fehlen 
ſollte, in ein eigenes Schreiben zuſammwer⸗ 
fen, und itzt meine Beobachtungen uͤber die 
beurtheilte Saͤngerinn zu Ende bringen. 

Gemeiniglich alſo find die Saͤngerinnen, 
ſobald ihre Arie voruͤber iſt, ganz nicht mehr 
x in 


in der Scene: ihre Augen jagen entweder 
nach neuem Raube, oder beſprechen ſich mit 
denen, welche berits in ihrem Netze find. 
Wie froſtig muß dann ein Schauſpiel aus⸗ 
fallen, worinnen das Geſpraͤch oder der Ge⸗ 
ſang nicht einmal bey den handelnden Perſo⸗ 
nen eine Antheilnehmung bewirket? ſoll ich 
vielleicht ihrem Schmerzen, den ſie mir nur 
erſt in den ruͤhrendſten Toͤnen geklaget, mein 
Mitleid, meine Thraͤne ſchenken, da ich 
wahrnehme, daß fie, ſobald das Singſtuͤck 
voruͤber iſt, ihre Stirne aufheitern, und 
einem gluͤcklichen Guͤnſtlinge zulaͤcheln? In 
der That, Iris! — möchte ich ſagen, ihre Fo⸗ 
derungen find ſehr unbillig: warum ſoll ich 
mich über einen Unfall noch haͤrmen, wor⸗ 
uͤber Sie, ſich wirklich ſchon getroͤſtet haben? 
Dieſer Vorwurf kann Alceſten nicht gemacht 
werden: ſie iſt immer, auch wann ſie ſchwei⸗ 
get, auf der Schaubuͤhne gegenwartig, und 
unterſtuͤtzet durch ein wohlpaſſendes, ſtum⸗ 
mes Spiel, den Gang und die Hitze der 
Han⸗ 


a, $ f e if das ganze Stück Pe im⸗ 
mer die leidende, die von fo mancherley 
Affecten einer Mutter, einer Gattinn hin und 
her geworfene Ungluͤckliche, deren Empfin⸗ 
dung, auch wenn ſie ſtumm iſt, noch empor 
arbeitet, gleich der aufgebrachten See, die 
noch lange vom Grunde auf Wellen ſchlaͤgt, 
wenn ſchon der obere Sturm ſchweiget. 
Dieſe Gaben, die fie zu einer der vortreff⸗ 
lichſten Schauſpielerinnen erheben, werden 
von einer nach den kleinſten Verfloͤſſungen 
beuͤgſamen Stimme vergeſellſchaftet, mit 
welcher fie beynahe vier volle Oktaven ab» 
Läuft, ohne daß die Voͤlle der tiefen Toͤne 
der Reinigkeit der hoͤchſten nachtheilig iſt. Sie 
iſt alſo auch eine angenehme und ruͤhrende 
Saͤngerinn. Das was die waͤlſchen Ton⸗ 
kuͤnſtler Portamento di voce, und Aus⸗ 
druck nennen, wodurch eigentlich der Geſang 
beſeelet, und ohne welche er ſteif und ein⸗ 
foͤrmig wird, beſitzet fie fo ſehr, daß ihre 
Recitative eben fo melodiſch, eben fo anzie⸗ 
hend 


63 


hend (intereffant ) find, als ihre Arien, und 
ihre Arien dringen gerade an das Herz. Sie 
iſt vielleicht unter den bekannten Sängerinnen 
die einzige, die den Geiſt der gluckiſchen 
Muſik nicht toͤdtet. Doch es bieten ſich wohl 


noch andere Gelegenheiten an, mich mit Ih⸗ 


nen von einer Perſon zu beſprechen, die als 
ein aufbluͤhendes Talent, nach Ihrem erſten 
Auftritte beurtheilet, einſt ſich auf die ober⸗ 
ſte Stufe der Vollkommenheit ſchwingen, 
und in dem Ehrenfaale Thaliens und Euter⸗ 
pens Denkmaͤler erhalten wird, wenn fie 
von dem ſo ſehr verdienten Beyfalle, er⸗ 
muntert nicht geblaͤhet, die Eigenliebe ſchwei⸗ 
gen zu heißen, und gegen die beſſernde, wohl⸗ 
meynende Kritik gelehrig zu ſeyn, das Herz 
hat. Aber der Wettrenner, der ſich vor der 
Zeit am Ziele glaubt, läßt von feinem Laufe 
nach, und der Preis entgeht ihm Bernas⸗ 
Font iſt mit vielen Ruhme in ihren. erſten 
Probeſtuͤcke aufgetreten; fie hat die Cabale 
beſchaͤmt und zum ſchweigen genoͤthiget; fie 
iſt 


64 


iſt jung und nicht ohne Reizungen. Ohne 
Zweifel wird ſie ſich bald von wegelaurenden 
Schmeichlern umringt erblicken, die ſie bis 
an die Wolken erheben, die fie unverbeſſer⸗ 
lich, unnachahmlich, goͤttlich nennen, und 
mit dem Dampfe des eigennuͤtzig verſchwen⸗ 
deten Weyrauchs wirbelnd zu machen ſu⸗ 
chen. Welch ein Gluͤck dann fuͤr ſie, wenn 
ihr guͤnſtigeres Geſchick ihr einen unverdaͤch⸗ 
tigen Freund gewaͤhret, deſſen redlicher Hauch 
dieſen betaͤubenden Dampf verblaͤſt, und zu 
ihr im offenen, überzeugenden Tone der Wahr⸗ 
heit ſpricht * 


Bientöt votre talent tiendra du Prodige: 
N'entends. je point deià de nos illuſtres fous 
L’eflain tumultueux. fremir autour de vous 
Bourdonner en chorus, elle ef} ma fol Divine ! 
Et du Theatre enfin vous nomer I'heroine. 
Craignes ces vains transports, qu'inſpi- 
rent vos attraits! 
La veritè confeille & ne vante jamais. 


* Weil es verlorne Arbeit geweſen waͤre / dieſe Verſe 
in dentſche Reime zu überſetzen; ſo hat man ſie im 
Briefe bepbehalten. 
x 


ne Viertes Stück. 
Fuͤnftes Schreiben 


Wien: den 2 2. Jauer 
. 


N 


% 


5 Als um den Anfang des itzigen Jahr⸗ 
8. > hunderts Peter Cotta in Ve⸗ 


A nedig den Ariſtodemus des 
Dottori auf die Schaubuͤhne brachte, hat⸗ 
te er die Vorſichtigkeit, auf dem Anſchlage⸗ 
zettel zu verkuͤndigen, daß in dieſem Stüs 
cke Harlekin nicht erſcheinen, daß der In⸗ 
halt dieſes Trauerfpiels ſehr ruͤhrend, und 
die Vorſtellung den Zuſchauern Thraͤnen 
entreißen würde Aus den hierorts uͤbli⸗ 
chen Anſchlagezetteln zu urtheilen, wovon ich 
Ihnen um der Seltenheit wegen einen bey⸗ 
lege *ift der Zuſtand der deutſchen Wiener⸗ 
E | ſchau⸗ 

* Heute Dienſtags: den 29. December wird auf 
den kaiſerlichen privilegisten Theater naͤchſt dem 
Kärthnerthore aufgefuͤhret werden / eine wohl ins 
kriguirte/ überau luſtige und ſehenswuͤrdige Haupt⸗ 
Bowlesque betitelt: die groͤyte Thorhelt der 


Wall iſt eine un gegruͤndete Eiferjucht zwiſchen vers 
mnuͤuf⸗ 


66 


ſchaubuͤhne ungefaͤhr derſelbe, mit dem da⸗ 
maligen Zuſtande des italiaͤniſchen Theaters: 
und wenn ein deutſcher Cotta es waget, ein 
Stuͤck von ernſthaftem Inhalte erſcheinen zu 
laſſen: fo möchte er immer den großen Hau⸗ 
fen der Zuſchauer vorhinein dazu bereiten, daß 
in dieſem Stücke Hanswurſt nicht erſchei⸗ 
nen / daß der Inhalt des Trauerſpiels ſehr 
rührend, und die Vorſtellung den Zuſchau⸗ 
ern Throͤnen entreißen würde — und 
dann — ja und dann wird das Schauſpiel⸗ 
haus ſo wuͤſte und leer ſeyn, als es bey der 
zweyten Auffuͤhrung Hermanns und Thuß 
neldens war denn | 


Wer 


nüͤnftigen Eheleuten / mit Hansreurft einem Tas 
ſtigen Gaſtwirth / ciferfüchtigen Ehemann / lächers 
lichen Prokurator des Hausftie dens / neumodiſchen 
Frauenzimmers / kurioſen Hochzeitbitter / und bru⸗ 
talen Tracteur. | 


DE Der Ueberſetzer bat ſich die Frenheit genommen, 
ſtatt der franzöfifchen Pro fa dieſe Verſe Trug ers 
herzuſetzen / weil fie den Sinn des Fremdlings 
beynahe in ſich enthalten. Das Amt eines He 
derſetzers iſt ohnehin ruhmlos: man vergoͤnne ihm 
wenigſtens / daß er feinem Gedaͤchtniſſe hie und 
dort Ehre machen moͤge. 


67 


Wird Helden anzufehn, in zwo Minuten ſatt. 
Genug, daß ihn das Kleid des Helden eingenom⸗ 


men: 
Doch ſpricht der Held: fo heißts: wird nicht 
der Narr bald kommen? 
Der ihn durch einen Schritt / ein Wortſpiel an 
10 | ſich zieht: 
Man lebt gleich auf / ſo bald man feines gleichen 
ö lehnt > 
Der Narr iſt allemal das noͤthigſte der Bühnen : 
Der macht ſie angenehm / der muß das Geld ver⸗ 
dienen. 
Hätte die hieſtge Schaubuͤhne einen Dra⸗ 
maturgiſten, der ein getreues Tagebuch 
über die gegebenen Stuͤcke führte, der Mann 
moͤchte Ehre einlegen, wenn er bey einem 
Jakerl zu St. Mary: drey Sanswuͤrſten 
von Salzburg: Baſilisko di Bernagaſſo: 
Macht der Fey Galantine / galanten pilge⸗ 
rinn oder zwey Sans wurſten und allen den 
cederwuůrdigen Stůͤcken von ſinnreicher Des 
nennung und erbaulichem Inhalte, wenn er 
bey ſolchen Stuͤcken ohne Zahl, ſeine innigſte 
Vertraulichkeit mit den Geheimniſſen der 
8 i E 2 Schau⸗ 


68 


Schauſpielkunſt an Tag legen, und die Fein⸗ 
heit der witzigſten Wertſpiele, der niedlich⸗ 
ſten Zweydeutigkeiten, und den leiſen Gang 
der Handlung „ und die Ueberraſchung der 
Begebenheiten, und die Kunſt, das Fell der 

Schauſpieler zu gaͤrben und — 
a Rede ich noch immer von dieſem Wuſte 
mit Ihnen, der Sie ohne Zweifel von fer⸗ 
ne anſtinkt, und den Abſcheu rechtfertigen 
heißt, den die artigere Welt vor einem Schau⸗ 
ſpiele hat, welches nicht ſelten Anſtand und 
Sitten, faſt beſtaͤndig die geſunde Vernunft 
empoͤret? Sie ſollen kuͤnftig damit verſcho⸗ 
net werden. Indeſſen weis ich nicht zu ent⸗ 
ſcheiden: liegt der Fluch der Vernunft ſchwe⸗ 
rer auf denjenigen, die auf den Brettern gau⸗ 
keln, oder auf denjenigen „ die von unten 
hinauf den Gauklern Bravo zurufen: ich 
ſehe nur, daß ein feindſeliges Schick⸗ 
ſal über der deutſchen Schaubuͤhne waltet, 
und die Bezauberung noch immer fortdau⸗ 
ret; 


69 
ret; aber vielleicht iſt ſie ihrem Ende nahe. 
Hoͤren ſie, worauf ich meine Muthmaſſung 
gruͤnde, und wie ich vermuthe, daß die Ver⸗ 
nainft und der Geſchmack in ihre Rechte wer⸗ 
den eingeſetzt werden! 

Solange noch bey einem Stuͤcke, worin⸗ 
nen der Menſchenverſtand in jedem Auftritte 
verlaͤugnet, aber entweder ein ſchwarzleine⸗ 
ner Teufel mit einer Schafblaſe, oder ein 
papierner Drach an vier Leinen, oder ſo 
was Aehnliches zu ſehen war, ſo lange bey 
ſolchen Stuͤcken, wie man mich verſichert, 
die Zuſchauer vor Gedraͤnge zu erſticken dach⸗ 
ten, ſo lange war alle Hoffnung, jeder Ver⸗ 
ſuch, die Schaubuͤhne zu laͤutern, eitel. Das 
Publikum war ein Kranker in dem heftigſten 
Anfalle der Hitze: das geringſte Einreden 
wuͤrde ihn nur noch raſender gemacht haben. 

Ungluͤcklich fuͤr die neue Theatralunter⸗ 
nehtkung, die das Schlachto pfer des oͤffent⸗ 
lichen Vergnuͤgens werden muß; aber viel⸗ 

E 3 leicht 


leicht zum Gluͤcke für den Geſchmack, 
koͤmmt ein Menſch, der nicht eine Syllbe 
von der Landesſprache verſteht: er gewinnt 
das Vertrauen des Unternehmers, man 
Aberlaͤßt ihm die Beſorgung der deut ſchen 
Schaubuͤhne. Er laͤßt Hunde tanzen, und 
ruft: ſehen ſie meine Herren, das ſind 
neue Ballete! Er wuͤhlet in dem Packhauſe 
der abgenuͤtzteſten Frazenſtuͤcke das Unterſte 
herauf, bringt die Verlegenſten auf die Buͤh⸗ 
ne, und ſpricht: ſehen fie meine Herren, 
das ſind ſehenswuͤrdige Burlesken! mei⸗ 
ne Burlesten und meine Ballete werden 
das Haus vollfüllen, Aber das Haus 
wird micht voll; denn man hat, nur noch vor 
einigen Jahren in einer Markthuͤtte wahre 
Hunde weit artiger als die ſeinigen tanzen 
gefehen : und über dem hundertmal aufge⸗ 
waͤrmten Krame mußte zuletzt bey den Zu⸗ 
ſchauern wohl Ekel entſtehen. Satt von 
Poſſen und plattem Witze iſt dem Haufen, 
ſelbſt 


21 
ſelbſt der Namen dieſer ſonſt ohne Aufhoͤ⸗ 
ren beklatſchte Namen Burleske, ein Ab: 
ſcheu: ungefaͤhr, wie einem Menſchen, der 
ſich an irgend einer Speiſe uͤberladen hat, 
die kleinſte Erwähnung dieſer Speiſe zuwi⸗ 
der iſt. 

Das iſt der guͤnſtige Augenblick, deſſen 
man ſich bemaͤchtigen, und da nun einmal 
die Eichel unſchmackhaft geworden, nach 
und nach zu einer anſtaͤndigeren Nahrung 
leiten muß. Die Unternehmung wird ver⸗ 
nünftigere, geſittetere Stücke aufführen: der 
Adel, wenigſtens derjenige, der an der Na⸗ 
tionalehre einigen Antheil nimmt, wie ihm 
von der Nationalſchande der ſeinige ganz ge⸗ 
wis zugemeſſen worden, wird dieſe Stuͤcke, 
die den Geſchmack zu verbeſſern, und die 
Schmach der Nation hinwegzunehmen ge⸗ 
widmet ſind, durch ſeine zahlreiche Gegen⸗ 
wart gleichſam einweihen; der uͤbrige Theil 
wird ſeinem Beyſpiele folgen, und Schrift⸗ 

| E A4 ſtel⸗ 


72 
ſteller durch Beyfall ermuntern; das Schös 
ne wird durch ſeine Reizungen, auf die man 
nun zu merken, Gelegenheit haben wird, an⸗ 
ziehen; die Kritik, die den poͤbelmaͤſſigen 
Dichtern und Schauſpielern unerträglich 
ſcheint, weil ſte ihnen ewig ihre Ungeſtalt⸗ 
heit vorwerfen muß, wird ihr beſſernde 
Stimme ungehindert erheben, und gerne ge⸗ 
hoͤret werden, da fie nun nur Fleken abzu⸗ 
wiſchen hat, und ihre Erinnerungen mit ver⸗ 
dientem Lobe mildern kann: unbekannte Ge⸗ 
nies werden aufſtehen, und die Schaubuͤhne 
vecherrlichen; von ihr wird die Klarheit ſich 
uͤber den Umgang ausbreiten, und die Le⸗ 
hensart der ganzen Nation verfeineren — und 
alle dieſe gluͤcklichen Folgen werden dem Vor⸗ 
gange des Adels, und einer geringen Ge⸗ 
faͤlligkeit gegen Stuͤcke zu verdanken ſeyn, 
welche allenfalls nicht die vollkommenſten 
ſind, aber Anlage zur drammatiſchen Dichte 
kunſt, aber Funken der göttlichen Flamme 
offen⸗ 


73 


offenbaren, und in Zukunft Corncille oder 
Voltaͤre verheißen. 

Nun erſt werde ich gewahr, daß mich 
meine Einbildung aus dem Standorte eines 
bloßen beobachtenden Reiſenden weggehoben, 
und in die Stelle eines Mannes verſetzet 
hat, der von dieſer guͤnſtigen Veraͤnderung 
mit dem lebhaften Gefuͤhle der Antheilneh⸗ 
mung ſpricht. Ich muß, dieſe Hitze verflie⸗ 
gen zu laſſen, mein Schreiben fuͤr heute aus 
der Hand legen. 


Sechſtes Schreiben 

den 23. Jaͤner 1768, 
Se. dachte ich, wuͤrde der Adel einer 
| Nation, bey welcher Talente und Er⸗ 
munterungen nicht eben haͤufig find, fo wuͤr⸗ 
den ihre Großen, auf welche die Blicke der 
nachaͤffenden Kleineren unabgewendet gerich⸗ 
ket find, deren oͤftere Gegenwart ſchon als 
ein ſchmeichelhafter Beyfall gelten kann, ſo 

E 5 wuͤr⸗ 


wuͤrden fie ermannen und Thufnelden * 
aufnehmen; das zweyte Stuͤck eines Na⸗ 
tionaldichters, eines feinen Mannes, der 
ſein Blut und Leben dem Vaterlande, und aus 
einer eben fo patriotiſchen Abſicht ; feine er⸗ 
uͤbrigten Stunden den Wiſſenſchaften und Ge⸗ 
ſchmacke widmet, der ſchon nur dieſes ruhm⸗ 
wuͤrdigen Bemuͤhens wegen, ein Liebling ſeiner 
Landesleute, und Guͤnſtling derjenigen zu ſeyn 
verdienet, welchen Geburt und Wuͤrde den 
Schutz der Wiſſenſchaften und Kuͤnſte nicht 
vergebens aufgetragen haben ſollten. Ich 
habe geirret; und dieſes wirft die Hoffnung 
welche man von der annäherenden Laͤuterung 
des Theatralgeſchmack⸗ gefaßt haben konnte, 
um ein halbes Jahrhundert zuruͤcke. 

Die Schaubuͤhne war bey der erſten Vor⸗ 
ſtellung angefuͤllet; aus den Logen und vom 


Par⸗ 


* Hermann und Thusnelde ein Tram 
erſpiel in Berfen vom Verfaſſer des Aurelius. 
* Im Vorberſcht gegen das End. 


75 


Parterr ward dem Verfaſſer Beyfall zuge— 
rufen: und, welches den lauten Beyfall un⸗ 
endlich übertrifft, aufmerkſame Stille herrſch⸗ 
te in dem ganzen Raume des Schauſpiel⸗ 
hauſes. Warum verſagten ſie ihre Gegen⸗ 
wart der zweyten Vorſtellung? glauben fig, 
daß man Trauerſpiele fuͤr eine einzige Vor⸗ 
ſtellung ſchreibt? warum werden ſie nicht 
muͤde, ein waͤlſches poſſterliches Singſpiel 
zehnmal hintereinander zu ſehen? — das 
Vergnuͤgen des Ohrs iſt ein ſinnliches Ver⸗ 
gnuͤgen: die Ruͤhrung des Trauerſpiels iſt 
ein Vergnuͤgen des Geiſtes: ſollte darinnen 
die Urſache liegen; o fo mag der Geſchmack 
wohl auf ewig Urlaub nehmen! 

Das Trauerſpiel Hermann und Thus⸗ 
nelde iſt, im Ganzen betrachtet, nicht fehler⸗ 
frey: es iſt ſogar bey ſeinem Plane vieles 
zu erinnern: aber es hat eine Menge ruͤh⸗ 
render Auftritte, es hat anziehungsvolle 
Stellungen ( Situations ) es hat, unter eis 

ner 


. 86 


net Menge leichten, und vielen ziemlich pro⸗ 
ſaiſchen Verſen, auch ſehr viele von vortreffli⸗ 
cher Harmonie, viele recht glaͤnzende Stel⸗ | 
len, und manche, worinnen ſich die wahr: 
haft maͤnnliche, und (Franzoſe gegen Fran⸗ 
zoſen geſprochen) die große deutſche Den⸗ 
kungsart ſchildert. Beſonders ſind dem Ver⸗ 
faſſer diejenigen Stellen ganz ausnehmend 
gegluͤcket, wo der Soldat und Patriot 
ſpricht. Die Seele des tapferen, ſeines 
Vaterlands vollen Grenadiers wird darin⸗ 
nen gleichſam ſichtbar. 

Sie ſind begierig einige von dieſen Stel⸗ 
len zu hoͤren? ohne Zweifel? ich will das 
Buͤchelchen von ungefähr aufwerfen: denn 
Sie finden derer beynahe auf jeder Seite. 

Sejanus der Abgeſandte Roms. 
Der Ruhm des deutſchen Volks, den laͤngſt 
die Welt vernommen — 


ers 


104 N 


germann. 
Halt ein! wie? biſt du uns zu ſchmeicheln 


hergekommen? 

Hier haßt man bie! e Kunſt der roͤmſchen 
Artigkeit: 

Erſpare fie! — nnd ſag, was Caͤſar dir 
gebeut! 
Hermann gegen eben denſelben. 

Sprich wär’ es uns wohl ſchwer, die Urs 

e i fach zu ergruͤnden, 

Daß unſre Sitten nicht der Römer Beyfall 
finden? 

Sind ſte vielleicht zu ſtreng, zu einfach und 
zu rein? 

Sind fie zu kriegeriſch, um euch beliebt zu 
ſeyn? 

Wollt ihr, um Nag dereinſt Ka an 
uns zu rächen , 

Durch feiger Wolluſt Gift erſt unſre Koͤr⸗ 

per ſchwaͤchen? 
Durch dieſe Sitten ſelbſt, die Rom ſo we⸗ 
ii 9 


Hat Deutſchland euch den? Rhein zur Graͤn⸗ 
ze ſtets geſetzt: 
Ihr Römer — ſeyd zu ſchwach, uns Graͤnzen 


| auszuſtecken! 
Beſchuͤtzt die eurigen, wir werden unſre 
decken: 
Ihr uͤberſchrittet fie mit Waffen in der 
Hand — 


Katumer Hermans Vertrauter. 
Rom, das verwegne Rom, zu ſtolz auf jene 
Macht, 
Die in ihr eiſern Joch, die halbe Welt ge⸗ 
bracht 
Beſtimmte dazumal auch unſerm Vaterlande, 
Dem freyſten Volk der Welt, der Knecht: 
N ſchaft harte Bande: 
Fuͤr unſre Freyheit nur ergriffen wir das 
| Schwerdt; 
Mer nicht fie dieſe ſtirbt iſt nicht, zu leben, 
| | werth: 
Die Goͤtter und dein Muth verfochten unfre 
Rechte, 
Das 


Das freye Deutſchland ward zum Grabe 
roͤmſcher Knechte: 
Rom ward gebeugt, und wir ſind frey — auf 
ewig frey: 
Sprich nun was willſt du mehr — 
Hermann g 
Ich will die Tyranen 
In dem verhaßten Blut des letzten Roͤmers 
| | ſtrafen: 
Ich will der ganzen Welt, Recht, Gluͤck und 
Freyheit ſchaſſen. 


Dieſer Auftritt (der IV. im II. Aufzug) it 


beynahe durchaus ſo koͤrnicht; und der Mann, 
der ſo eifrig für den Krieg zu reden weis, 
iſt auch ſehr beredt, wann er den Schlangen⸗ 
ſtab in die Hand nimmt, um ein Herold des 
Friedens zu ſeyn. Eben dieſem Natumer 
hat er Worte in den Mund gelegt, die man 


jedem kriegeriſchen Volke, unaufhoͤrlich zuru⸗ 


fen, jedem Eroberer, als einen güldenen 
Denkſpruch, uͤber feinem Raſtbette, auf dem 
N. er⸗ 


a ET a 


80 i 
nn ——D— ——ñ—̃ͤ ——— = — 5 — = 


er feine Vergrößerung und die Verheerung 
der Welt beſchluͤßt, hinſetzen möchte — 

Sprich! was gewinnen wir, wenn Deutſch⸗ 
land ſich vergrößert? 

Wird feiner Bürger Stand in mindeften 
gebeſſert? 

Nur innre Ordnung kann der Staaten 
| Macht erhoͤhn: 

Ich habe kleine ſtark, und große ſchwach geſehn. 

Soll Deutſchland gluͤcklich ſeyn: ſo ſey es 
tugendhaft! 

Durch Sitten heb' es ſich, durch Kunſt und 
Wiſſenſchaft! 

Nicht durch Eroberung, die ihm nie Muſſe 
goͤnne, 

Den beſſeren Gebrauch der Menſchheit zu 

erkennen — 

Sonſt wird man müde elendes Zeug abzu⸗ 

ſchreiben: aber ich würde es hier werden, 

uber dem vielen Schoͤnen, welches ich onen 

noch alles herſetzen koͤnnte — 


2 


Funfſes s Stück. 2 


Siebentes Schreiben 


Wien: den 27. Jaͤner 
176 


9 


Kar Glaͤnzende Stellen im Hermann der 
S De Fuͤlle — aber auch unedle, 
| muͤſſige Verſe, das, was wir 
unkorrekte nennen; und ſogar hie und da 
Fli terwitz, wahre Concetti, die der geſet tere 
Deutfche, dem taͤndelnden Italiaͤner übers 
laſſen ſollte — 
Unedel, um von jedem r nur ein Beyſpiel 
zu geben, iſt der Ausdruck Segeſts * der ſei⸗ 
ne Verſoͤhnung mit Sermannen durch den 
Untergang Roms zu beſtegeln, mit kriegeri⸗ 
ſcher Hitze ſich vermaß: 
Ich will mit ihm vereint, auf Deutſchlands 


Feinde gehn: 
Und ſterben — oder mich an 75 e 


Ja! "die Rache werd' eh nicht it ge: 
nennet, 

; 0 Als 

g I, Außzug: 1. Auftritt. 


82 


Als bis das letzte Dach im Kapitole bren⸗ 
net — 


Wenigſtens (will Segeſt ja durchaus Feuer 
und Brunſt haben) haͤtte er ſprechen koͤn⸗ 
nen:⸗ 1 


Als bis das Kapitol in lichten Flammen 
brennet — 


Wiewohl mir auch dieſer Ausdruck nicht 
Genuͤge leiſtet, und es vielleicht am beſten 
gethan war, den Gedanken des Schlußver⸗ 
ſes von dieſer Scene — den Gedanken des 
Verſes, nicht den Vers — hinaufzuneh⸗ 


men 4 


Bis Nom das deutſche Volk fuͤr ſeinen 
Herrn erkennet: 


Das war die eigne Wiedervergeltung fuͤr 
den ſchaͤndlichen Triumph, den juͤngſt 
Thusnelde zierte — 

Ueberhaupt hoͤre ich Segeſten in dem 
Anftritte ““ worinnen Hermann Thusnel, 
den bey ihm findet mehr hadern als ſtrei⸗ 

ten, 


III. Auß II. Auſtr · 


ei Aber ich wollte ja von jedem nur ein 


Beyſpiel geben. > 
Muͤſſige Verſe find alle, die der Rein 


herbeygebracht; und dieſen boͤſen Streich | 


fpielte er dem Dichter ſehr oft, und führte 
ihn wohl auch manchmahl auf Unrichtigkei⸗ 


ten gegen die Sprachlehre, wie in der Stel · 


le“ 


Was As dir Verdacht für meine Worte ein? 
Ich ſchmeichelte mir ſonſt von dir geglaubt | 


zu ſeyn. 
| Verdacht gegen Worte iſt ſprachrichtig: 
und geglaubet leidend, kann nur unper⸗ 
ſoͤnlich gebraucht werden — 
Noch augenſcheinlicher * 


Geliebter Vater! ſag, 1 hätt’ Ahn wohl 


wegt? 


Der Groll, den er zum Schein, aus Trug 


nur abgelegt. N 
Bewegt wegen abgelegt; ſonſt ſollte es be⸗ 


wogen heißen: und: zum Schein: iſt offenbar 


4 F muͤſ⸗ 
7 Auf IV. Auftr. 
III. Aufzug J. Auftrit, 


* 


84 


muͤſſig, da es den Begriff: aus Trug, wo⸗ 
einnen es ſchon enthalten iſt, nicht erhoͤhet 
aber es war ein Fuͤllwort, zwo Syllben zu 
gewinnen. Hauptſaͤchlich lauerte ihm der Reim 
auf den Dienſt bey laͤngeren Reden und Er⸗ 
zaͤhlungen. Leſen ſie den dritten Auftritt 
des letzten Aufzugs, wo Natumer Thus⸗ 
nelden den unvermutheten Uebergang der ſe⸗ 
geſtiniſchen Truppen an Hermannen erzaͤhlt. 
Thusnelde. 


I Doch ſage Katumer? 
Mein Vater? mein Gemahl? 


Katumer. 


ah Fuͤr keinen ſorge mehr! 
Sie find nunmehr verſoͤhnt, ohn alles 


g | Blutvergieſſen 
Verſoͤhnet — Fenn 
B Thusnelde. 
Himmel wie? o laß mich alles wiſſen! 
Katumer. 


Vernimm es! kaum, als noch dein groffer 
Ehgemahl u. ſ. w. 


Wan 


85 
Man blaͤſt zur Schlacht! und ſieh: ein 
Ausbruch edler Hitze 
Stuͤrzt deinen Gatten ſchon an der Cherus⸗ 
ker Spitze: 
In jenen Theil des Feinds, der ihm 1 


Begluͤckter Falllerweg: als waͤr es abaeredte 
Wirft eine Schaar Segeſts ohn' alle Gegen⸗ 


wehre 
Zugleich die Waffen hin; und 1 zu 1 1 


eere 
Dem Beyſpiel folgt ſogleich die Shen ge⸗ 
ſtandne Schaar 


Die zweyte, dritte nach — ja eh nur moͤg⸗ 
ich war: u. ſ. w. 
Raſtolf und andre mehr, die von dem naͤch⸗ 
ſten Haufen 
. während dem Gefecht, aus Neugier 
Zugelaufen, 
| Begehren ſaͤmmtlich itzt, und 8 Segeſtens 
Blut — 
Die Leute, was haben die zu fordern? ſie 
find hier eben ſo uͤberfluͤſſig, als bey dem Ge⸗ 
fechte, dem ſie aus Neugier zugelaufen — 
x Ich weis nicht, was der Mann gegen eir 
nen gewiſſe proſaiſche, und wie ich mich zu 
erinnern glaube, gottſchediſche Redensart für 
F 3 ei⸗ 


86 


eine vorzuͤgliche Liebe hat, daß er davon ſo 
oft Gebrauch macht 2 
Und ſich auf jeder Stirn ſo Scham als Reue 


zeiget — 

Durch die du ſo Gemahl als Sohn zu neu⸗ 
em Schmerz — 

Der Himmel muͤßt 70 erſt, ſo Muth, als 
Kraͤfte rauben — 


Dieſe Verbindungsart giebt dem Verſe ein | 
gewiſſes ſchleppendes Anſehen, und iſt gleich 
wohl ſo leicht zu vermeiden. 


Und ſich auf jeder Stirn Reu und Beſchaͤ 
mung zeiget - 
Durch die du den Gemahl und Sohn zu 
neuem Schmerz — 
Der Himmel muͤßt euch erſt den Muth, die 
Kräfte rauben. 


Mich daͤucht, der Verfaſſer Zermanns habe 
uͤberhaupt den Mechaniſmus der Poeſie zu 
geringe geachtet; und die Muſe, die als ei⸗ 
ne Frauensperſon nicht gerne auch nur des 
zufaͤlligen Zieraths entbehren will, habe ſich 
an ihm deßwegen ein wenig geraͤchet. An un⸗ 
ſern Dichtern bin ich der proſaiſchen Spra⸗ 
| che 


L 


87 


—— 


che freylich ganz gewohnt: aber was kann 


ich dafür, daß mich die deutſchen Schriften 


an etwas fo Koͤrnichtes, und Wohltoͤnendes 
verwoͤhnet haben. 

So viel ein Fremdling in das Weſen einer 
Sprache, auf welche er nicht eben feine gan⸗ 
ze Lebenszeit verwendet hat, einzudringen ver⸗ 
mag, daͤucht mich, der poetiſche Wohlklang 
der deutſchen Gedichte muͤſſe in einer gewiſ⸗ 
ſen edleren Ordnung der Rede geſucht werden, 


die von der proſaiſchen dadurch abgeht, daß 


ſie die Begriffe, auf denen der Nachdruck 


ruhet, wie ein kluger Maler die Hauptper⸗ 


ſon ſeiner Handlung, ſtark ins Geſicht brin⸗ 
get, und ſich vollklingende Beywoͤrter, kuͤh⸗ 
nere Verſetzungen erlaubet. Die ungebundene 
Sprache ſen ein Maͤdchen, daß ſich durch ih⸗ 
re Reinlichkeit und untadelhaften Geſchmack 
empfihlt! die Sprache des Dichters, beſonders 
des tragiſchen, ſey ein Maͤdchen, das durch ih⸗ 
re Den die Augen aller Welt auf ſich zieht! 
5 4 Ei⸗ 


Eine prächtige, aber nicht eine WIEN 
die fich zieret — 


Freund! dieſe Thraͤnen hat der e nt 
5 eee 
Ich wuͤnſche, daß ſein Haß mit ih nen weg⸗ 
gefloſſen 
Thraͤnen— bier —durchſtoſſe e meine Bruſt 
Sieh, ob du Blut erhaͤltſt! und du erwar⸗ 
teſt Thraͤnen 


Thraͤnen, mit welchen der Haß wegfluͤßt — 
eine Bruſt, die durchſtoſſen, kein Blut 
giebt: das find Flitterzierathen — ungefähr, 
wie junge Mädchen, die noch keine achten 
Juwelen haben, ihre Haare mit falſchen 
Steinchen vollpropfen. 
Ich bin Ihnen noch unkorrekte Beyſpiele 
ſchuldig: eben habe ich eines vor mir, das 
ſehr in die Augen faͤllt 2 | 
Ein Herz das fein Gefühl, das Thaten uͤber⸗ 
herr ſich nicht durch den Glanz W 
Worte beugen — 
Ein 

Ha Auf IV. Auftr. IV. Aufzug II. Auftritt 

IV. Aufzug III. Auſtr. 


a 89 6 
Ein Herz beugen? bewegen ſazt man von 
Herzen: beugen iſt nur bey Sinn üßs 
lich, wegen des Beyworts ſteifer Sinn — 
eber es mag hingegen! doch ein Herz durch 
Clanz beugen? blenden allenfalls möchte 
der Glanz, wo das Herz Augen haͤtte — 
Die geſchminkten Worte will ich 0 
men laſſen. 
Noch eines von dieſer Art“ 


Er gleichet einer Flut, die, weil man ſie 
verdaͤmmet ! 
Aufſchwellend maͤcht'ger wied „je langer man 
| e hemmet 
Ein Streich noch, der ihn krankt, entbindet 
ſeine Wuth — 


Betrachtet man das Gleichniß nicht als 
ene Einſchiebung, die fir ſich ein abgeſoͤn⸗ 
dertes Ganzes machet — und in der Lage 
Tann man es ſchwerlich alſo betrachten — fo iſt 
es die ſonderbarſte und unzuſammenhangend⸗ 
ſte Allegorie von der Welt. Aber auch, 
dann noch, wann man der Stelle dieſe Nach⸗ 

85 ſicht 
. Aufl. IV. Auftr. N 


90 
ſicht wiederfahren laͤßt, wie kann man ſeine 
Wuth durch den Streich entbinden? 
Dieſe Unrichtigkeiten des poetiſchen ſowohl 
als proſaiſchen Ausdruks werden eigentlich 


— LE 7 


dadurch begangen, daß der Schriftſteller die 


angefangene Allegorie fahren laͤßt, und ſich 
unvermerkt in eine andre verlieret; wenn er 


einer Urſache Wirkungen zueignet, die ſich 


nicht davon ableiten laſſen; wenn er das Ge⸗ 
birg der; Schwierigkeiten hinanſteigt, um 
in den Hafen der Unſterblichkeit einzulaufenz 
oder mit Horatzen zu ſprechen: wenn er 
abentheuerlicher Weiſe Delphine in die Waͤl⸗ 
der, Eber in die Wellen verſetzt. Die 
Korrektion des Ausdrucks iſt alſo die Ein⸗ 
heit der Allegorie. Feurige Genies, ben 
denen die Bilder mit ſchneller Abwechslung 
folgen, und einander ſchon verdraͤngen, ehe 
fie noch ganz uͤberſchauet werden konnten; 
dieſe ſind der Unkorrektion mehr unterwor⸗ 
fen, als die kalten Schriftſteller, deren Ein⸗ 
hill 


91 


bildung uͤber einem einzigen Gleichniſſe ſchon 

auſſer Odem geſetzt iſt, wie ich ſelbſt mit einer 

kleinen Unrichtigkeit zu ſagen verſucht bin: fo 
ſchuͤſſen geile Auswuchſe weit eher auf gutem 
Grunde als einer Sandhaide auf. Das 

Mittel fie zu vermeiden, liegt in dem Gebo⸗ 
te des Britten: 

„Entwirf mit Feuer; aber arbeite mit 
35 Phlegma aus! N 8 

Von dem Ausdrucke des Dichters, das iſt 
von dem Volorit hätten Sie ungefähr mein 
Urtheil nun find Sie auch auf den Gang der | 
Handlung, der gleichfam der Umriß iſt, Des 
gierig — Ich will dieſe Materie nicht zer⸗ 6 
ſtuͤcken; und ich habe Sie für heute mit noch 
etwas anderm zu unterhalten. 

Wiſſen Sie, daß meine Briefe an Sie — 
gedruckt werden! — gedruckt mein Freund! 
und wann ich alſo wieder zu Hauſe komme, 
ſo kann ich Ihnen mit der demuͤthigen Ge⸗ 
behrde eines Schriftſtellers gegen ſeinen 

Goͤn⸗ 


92 


Goͤnner ein neues Buch darreichen, ſo Sie 
ſchon geleſen haben. Sehen Sie, vor langer 
Weile werde ich Autor: das iſt zwar nichts 
ſonderbares; wandelt doch der Schriftſtel⸗ 
lerberuf die meiſten vielleicht darum an, weil 
ſie kein Handwerk koͤnnen, und alſo nicht 
wiſſen, ſich womit zu beſchaͤfftigen — oder 
zu naͤhren. 5 

Die Geſchichte meiner Autorſchaft, werde 
ich Ihnen einſt vorleſen: nun hoͤren Sie ein 
kleines Autorabentheuer: denn in Wien zieht 
die Autorſchaft gemeiniglich kleine „ und oft 
auch wichtige Vorfälle zu. 

Ich war bey der vierten Vorſtellung des 
neuen Trauerſpiels zugegen: der Anblick ei⸗ 
nes ſo zahlreichen Adels war mir recht er⸗ 
freulich. Ich weiß nicht, welchen Antheil ich 
ſeit einiger Zeit an dem Geſchmacke und Ruh⸗ 
me einer Nation nehme, unter welcher ich, 
zwar nicht das gleißende Außenwerk der 
Höflichkeit unſrer Pariſer, aber viele Gruͤnd⸗ 


lich⸗ 


93 


lichkeit des Charakters, und eine einnehmen: 
de Offenherzigkeit wahrnehme. Ich enthielt 
mich alſo nicht, mein Vergnuͤgen einem, der 
mir zunaͤchſt ſaß, mitzutheilen. . 

Ich freue mich — hub ich gegen ihn an — 
uͤber dieſe Menge von Zuſchauern bey einem 
Stuͤcke, welches dem Gegenſtande nach, ge⸗ 
wiſſermaſſen auf Deutſchland das wirken ſoll⸗ 
te, was Bellois Belagerung von Calais 
auf Frankreich wirkte — 

Ich glaube nicht, verſetzte er mir, daß wir 
unſern Patriotismus nach der oͤftern oder 
ſeltneren Vorſtellung eines Schauſpiels bes 
rechnen werden. Vielleicht iſt nicht ein eini⸗ 
ger Zuſchauer aus einem ſo erhabnen Be⸗ 
weggrunde zugegen — 

Allein — fuhr ich fort — das Stuck an 
ſich ſelbſt verdient geſehen zu werden: waͤre 
es auch nur darum, um angehenden Dich⸗ 
tern durch einen Beyfall Ermunterung zu 

An 


a ER der Zee BER, als jede andre 


Belohnung ſeyn muß — 

Sie reden — fiel er ein — aus dem Frans 
zoſen, der ſich ungebeten und unverdankt mit 
unſrer Schaubuͤhne abgiebt, und in ſeinem 
heutigen Schreiben, den Adel zu dieſem neu⸗ 
en Trauerſpiele hereinſchimpfen will. 

Der Franzoſe war ich: und mir ſtieg ei⸗ 
ne Roͤthe auf, die mich verrathen haben folk 
te, hätten wir fo. einander im Gefichte ge⸗ 
ſtanden, als wir nur neben einander ſaſſen — 

Ja hereinſchimpfen; hub er nochmal an: 
der Müffiggänger, wie er ſelbſt von ſich ſagt, 
macht uns aus der Schaubuͤhne ein ernſthaftes 
Geſchaͤft: wir ſollten, wenn es nach ihm gieng, 
ein neues Stuͤck mit Gepraͤnge einweihen, 
und in der Schaubuͤhne fuͤr die Ehre der 
Ration gaͤhnen — 

Gaͤhnen? — ſollten Sie uͤber u. Stuͤ⸗ 
cke wohl gegaͤhnet haben? — Nicht uͤber 
dem Stucke, aber uͤber der Vorſtellung, wo⸗ 

durch 


. 


| EHE 95 . 
durch das Stuͤck, ſo viel es an ſich ſelbſt 
Anziehendes hat, ungemein verlor, und, 
ich ſage es noch einmal, gaͤhnen machte. 
Das moͤchte der Mann, der die Schuld un⸗ 
ſrer elenden Nationalbuͤhne dem Adel ſchlech⸗ 
terdingen aufbuͤrdet, ein wenig überdenken , 
ehe er ein fo voreiliges, ein fo kuͤhnes Urtheil 
von dem beſſern Theile einer ganzen Nation 
dahinſchreibt! das möchte er ein wenig über: 
denken: daß die guten Stuͤcke auf unſrer Buͤh⸗ 
ne ſelten erſcheinen; und dann, wann ſie er⸗ 
ſcheinen, daß fie von den Schauſpielern oft 
ganz unkennbar gemacht werden. Wann die 
deutſche Schaubuͤhne erſt mit ſolchen Per⸗ 
ſonen beſetzt ſeyn wird, welche der Aufmerk- 
ſamkeit der artigern Welt wuͤrdig ſind, dann 
komme er, und erneure ſeine Foderung, dem 
Nationalſchauſpiele den Vorzug vor einem 
poſſierlichen Singſpiele zu geben, wo we⸗ 
nigſtens unſer Ohr ergoͤtzet wird, da in jenem 
bis itzt Ohr und Auge nnr beleidiget werden! 
9 106 85 


66 


er wird ſehen, ob wir ein Vergnuͤgen von 
uns ſtoſſen, nach welchem wir uns ſo lange 
und vergebens ſehnen, und aus Mangel deſ⸗ 
ſen allein wir zu dem auslaͤndiſchen Zeitver⸗ 
treibe die Zuflucht nehmen. | 

Diefer ganze Verweis ward fo gerade zu 
an mich gerichtet, daß ich auf allerley Arg⸗ 
wohn gerieth; und um unangenehmen Erklaͤ⸗ 
rungen vorzubeugen, mich unter dem Haufen 


verlor. Beſorgen Sie darum nicht, daß ich, 


weil mir jemand uͤber die Schulter guckt, 
wann ich an Sie ſchreibe, in meinen Ur⸗ 
theilen aͤngſtlicher werde! ich mache es, wie 
es der Schauſpieler machen folb: er vergeſſe 


die Juſchauer, damit ſie vergeſſen, daß er 


Schauſpieler iſt — 


Sechſtes Stück. 
Achtes Schreiben 


Wien: den 20. Jaͤner 
1 76 8. ö 


W eine Armſeligkeit der andern auf 
Rus der deutſchen Schaubuͤhne 
Platz machet; ſo iſt es immer 
beſſer gethan ‚ftatt mich auf ein langweiliges 
Verzeichniß ekelhafter Poſſenſpiele einzulaſ⸗ 
ſen, ich ſpreche mit Ihnen weiter uͤber Her 
mannen und Thusnelden — Stücke, an 
denen plura nitent nur dieſe verdienen, 
daß man bey ihnen ſtehen bleibt, und die 
paucas maculas “ die fie allenfalls noch ver⸗ 
unzieren, verwiſcht wuͤnſchet. De 
Wie komme ich doch heute dazu, Sorazen 
anzufuͤhren ? es ſey darum! nun Soraz ein⸗ 
mal zugegen iſt; ſo laſſen Sie mich von ihm 
ein wenig Gebrauch machen! unſer Brief⸗ 
G wech⸗ 


Vieles vortrefflich iſt — 
Wenige Flecken — 


998 


wechſel bekoͤmmt dadurch ein gelehrtes An⸗ 
ſehen; und das iſt vielleicht doch auch zu ir⸗ 


gend etwas gut. | 


So oft ich eine Schrift, und beſonders 
ein theatraliſches Gedicht von einigem Wer⸗ 
the vor mir habe, worinnen ich Anlage und 
Talent entdecke ſo errichte ich mit dem Ver⸗ 
faſſer in meinem Gedanken genaue Freund⸗ 
ſchaft, und wuͤnſche dann meinem Freunde, 
den rechtſchaffenen und einſehenden Mann 
des Flakus * der den leeren Vers tadle / 
den harten ſchelte, den unedlen quer durch⸗ 
ſtreiche; der die üppigen Zierathen wege 
ſchneide; der ihn anhalte, den dunkeln 

Stel⸗ 


Vir bonus & prudens verſus reprehendet inertes, 
Culpabit duros, incomtis allinet atrum 
Trans verſo calamo ſignum, ambitiofa recidee 
Ornamenta, parum claris lucem dare coget, 
Arguet ambigue dictum, mutanda notabit, 
Fiet Ariſtarchus, nec dieet: cur ego amicum 
Offendam in nugis? hzf nuge feria ducune 

In mala, derifum femel, exceptumque ſiniſtre— 


„„ꝓꝑͥͥͤ Ü ⁰ ̃ em) wre mm | ⅛— 2 Besnenm ai ein 


Nullum ultra verbum aut operam ſumebas 
g njnanem 
Quin ſine rivali teque & tua ſolus amares- 


Stellen mehr Licht zu geben; der ihm 
die Zweydeutigkeiten anzeige, bemerke, was 
verſetzt werden ſoll; der fein Ariſt arch wer⸗ 
de, und nicht; etwan aus unzeitiger Kluge 
heit ſage: aber warum ſoll ich einen Freund, 
um einer Kleinigkeit wegen beleidigen? 
Rleinigkeiten ? was ſo verdrüßliche Folgen 
haben kann, daß man ausgelacht / daß die 
Arbeit übel aufgenommen wird? Belei⸗ 
diget? ja wenn ich das ſaͤhe, dann gaͤbe 
ich mir freylich nicht vergebliche Mühe / 
dann verlöre ich ferner nicht ein Wort: 
meinetwegen moͤchte dann der Autor ſich 
und ſein Werk allein und ohne Nebenbuh⸗ 
ler bewundern. 

Die Kunſtrichter! die Kunſtrichter! die 525 
ben in Deutſchland fi ich nie ernſthaft an die 

Schaubuͤhne, wenigſtens nicht an eine Local⸗ 
bühne gewagt — nicht wagen dürfen; ſo un⸗ 
umſchraͤnkt, fo tyranniſch ſonſt die Kritik fie 
ber andere Geburten des Witzes ihre Herr⸗ 

G 2 ſchaft 


100 

ſchaft ausgeuͤbet hat. Und ohne Kritik — 
vergebens hofft ohne ſie ſowohl der drama⸗ 
tiſche Schriftſteller als der Schauſpieler un⸗ 
tadelhaft zu werden. Die Maler und Bildhauer 
er zu Athen ſetzten ihre Werke oͤffentlich an 
der Straſſe aus: jeder, der voruͤber gieng 
hatte das Recht, ſeine Erinnerungen dabey zu 
machen; der Kuͤnſtler zog von denen Nutzen, 
die er gegründet fand: fo entſtanden die ewi⸗ 
gen Werke, bey denen die Nachkommenſchaft 
mit ehrerbietigem Entzuͤcken verweilet, den 
Werkmeiſter bewundert, und ihn zu erreichen 
verzweifelt. 

Aber der deutſche Theatraldichter dankt 
fuͤr die wohlmeinende Anmerkung gemeinig⸗ 
lich mit einem Strome Schimpfwoͤrter; der 
Schauſpieler haucht ſeine Galle oft erſt bey 
der Kanne, und dann ſtoͤßt er auf der Buͤh⸗ 
ne Grobheiten aus: crepat ignominioſa 
dicta; die Zuſchauer klatſthen in die Hände, 
als uͤber einen feinen Einfall, und der treu⸗ 


her⸗ 


herzige Kunſtrichter iſt froh, wenn er in ſei⸗ 
nen Mantel gehuͤllt, dem muthwilligen Poͤ⸗ 
bel unvermerkt entſchleichen kann. 

Wer einſt eine umſtaͤndliche Geſchichte der 
deutſchen Schaubuͤhne zuſammtruͤge, dem 
koͤnnte Wien manche anzuͤgliche Anekdote 
aus dieſem Fache mittheilen: ich habe mit 
Huͤlfe eines Freundes Urkunden hiezu ge⸗ 
ſammelt; ſie koͤnnen aus einer vollſtaͤndigen 
Sammlung der deutſchen Litteratur eben ſo 
wenig wegbleiben, als die Inſekten und Mis⸗ 
geburten aus einem vollſtaͤndigen Natura⸗ 
lienkabinet — 7 
Soͤndern ſie immer von dieſer allgemeinen 
Unbelehrigkeit den Verfaſſer des zroeyten 
Hermann aus: der brave Mann iſt ſelbſt 
eben fo unhartnaͤckig, als er feinen Hermann 
ſchilderte: er weiſt Erinnerungen nicht hoch⸗ 
muͤthig ab, er macht ſich dieſelben zu Nutz; 

G 3 Wa⸗ 


* Han ſehe des UU. Aufzugs N, Anſtr. S. 2 2 
Ich weis nicht / wohin der Ausländer yo 955 ce 


102 


Warum den zweyten Hermann? weil be⸗ 
reits ein * Trauerſpiel unter dieſem Namen 
vorhanden iſt. Sermann iſt der Held Deutſch⸗ 
landes, gewiſſermaſſen die Jeane d' Ark 
dieſer Nation, und er hatte zum Theil das⸗ 


ſelbe gelehrte Schickſal. Die ſchoͤnen Gei⸗ 


ſter unter derſelben wollten ihm ihre Auf⸗ 
Wartung machen, oder vielmehr, wie der a⸗ 
pentheuerliche Luftreiſer an den Schwelf des 
Greifvogels, ſich an dieſen unvergeßlichen 
Streiter feſthalten, und ſich von ihm hinu⸗ 
ver in die Unſterblichkeit ſchleppen laſſen. 
Schoͤnnaich war Hermanns Chapalin; nur 
daß der deutſche Chaplain ſeine Serman⸗ 
nias nicht nach Geding, aber eben ſo ſchlecht 
arbeitete. Ich habe den Namen des Ges 
ſchicht⸗ 
Stelle ziele: ob ihm von den Aenderungen wel⸗ 
che der Verfaſſer Hermanns mit ſeinem Au⸗ 


rel getroffen: ob ihm ſonſt eine literariſche An⸗ 
ekdote bekannt iſt? der Ueber ſetzer. 


Auch noch riehrere / von Schön aich / Möfer: 


aber natürlich find dieſe nicht bis zu dem Kenne‘ 
niſſe eines Auslaͤnders gelanget — Ueberſ. 


103 
ſchichtſchreibers nicht behalten, der dem An⸗ 
denken der Mamſel von Dom Remy in 
einigen Foliobaͤnden eben den Dienſt leiſte⸗ 
te, den Lohenſtein in ſeinem Arminius und 
Thusnelde dem Helden geleiſtet, durch den 


— — die hohe Staͤdtefuͤrſtinn 

„ Am ungetreuen Tagusſtrande 
„Vom Feuer des Styx i 

„In ihren Grundfeſten erſchuͤttert ward 


und wenn gleich keinen Deutſchen je der 
abentheuerliche Gedanken anwandelte, die 
tragiſche Geſchichte Sermanns in Aufzüge 
einzutheilen, wie Barnet von dem Maͤdchen 
von Orleans den ganz eigenen Einfall hatte“ 
ſo hat Deutſchland den fünf Trauerfpielen, 
die wir von dieſem tollkuͤhnen Mädchen auf- 
weiſen haben, nun wenigſtens zwey entge⸗ 
gen zu ſetzen. 
In einem Falle war es dem Helden beſſer 
0 10 G 4 | be⸗ 
„ Dythirambe: Hermann: der Ueberſetzer. 
Recherehes fur le theatre frane ois: ſecond age: 


„Jean Barnet: P hiſtoire tragique de la Pucelle de 
Dom Remy autrement d Orleans nouvellement 


de partie par a ctes &c. der Ueberſetz 2592 
3 A 


5 


$ 


192° 


berathen: die Wenardiere und Benſeraden 
waren mittelmaͤſſige Köpfe, und Aubignak 
bey aller Strenge der theatraliſchen Be 


geln, wie er ſeinen Trauerſpielen gemeinig⸗ 


lich vorzuſetzen pflegte, ein ſehr elender Thea⸗ 
traldichter. Schlegel hingegen, der Verfaſ⸗ 
fer des erfien Hermann, iſt noch itzt der beſte 
drammatiſche Dichter, den Deutſchland her⸗ 
vorgebracht hat, und fein Sermann viel⸗ 
leicht gerade das beſte feiner Stuͤcke. Und auch 
dem Grenadier dürfte, aus ſeinen erſten Ver⸗ 
fügen zu urtheilen, unter den Dichtern 
Deutſchlandes ein unterſcheidender Ehrenplatz 
angewieſen werden. | 5 

Die beiden Deutſchen ſind einander in dem 
Plane ihrer Stuͤcke nicht begegnet. Schlegels 


Hermann hat die Niederlage des Varus 


zum Augenpunkte: alſo, die Befregung 


Deutſchlandes von der roͤmiſchen Herrſchaftz 


einen für die Nation anziehungsvollen gluͤk⸗ 
lich gewahlten Stoff.— 1 
f | Die 


105 


Die Handlung des zweyten ſpitzt ſich , 
wenn ich fo ſagen darf, auf den Tod Her⸗ 


manns und gewiſſer maſſen auf die Bitte zu, 


die der ſterbende Herzog an die Deutſchen 
Fuͤrſten thut — Ihr Deutſchen! ſeyd einig 
unter euch! gleichfalls eine Handlung, wel⸗ 
che der Antheilneh mung der ganzen Nation 
vergewiſſert ſeyn kann. 


Der letztere fängt alſo da an, wo der er⸗ 


ſtere aufhoͤrt — Wie bey jenem, ein Hain, 
worinnen die Deutſchen gewoͤhnlicher Weiſe 
die offentlichen Angelegenheiten entſchieden: 
aher dieſer Hain it ſchon mit den Adlern 
— — die kin Schwert mit Varus Blut 
beſpritzet, gezieret — Hier erſcheint Segeſt 
und Katumer — ich verfolge die Anlage des 
Stuͤcks vön Auftritt zu Auftritte. 

Die Wiederkunft Segeſts iſt der Zeitpunkt, 
von dem wir ausgehen. Die Unterredung 
zwiſchen ihm und Ratumern kuͤndiget den Inn⸗ 
halt an. Wir erfahren: daß Rom Thus⸗ 

a G 5 nel⸗ 


106 

nelden, Hermanns Gattinn im Triumphe 
aufgefuͤhrt; daß ſie noch mit dem einzigen 
Sohne Hermanns in den Haͤnden der Mor 
mer iſt; wie fie in dieſelben gekommen: wir 
erfahren den Groll Segeſts gegen ſeinen Ei⸗ 
dam, feine nunmehrige Verſoͤhnung mit ihm: 
die großen Hoffnungen, welche Deutſchland 
auf Segeſts Wiederkehr gruͤndet; da die 
Deutſchen nur durch Deutſche bezwungen 
werden konnten — Wir wiſſen nun alles, 
was wir zu wiſſen brauchen. 

Eine kleine Frage: warum ſind Segeſt 
und Katumer allein da? ich wuͤnſchte, es 
möchte mir wenigſtens in ein paar Zeilen ein 
Grund dazu ſeyn angegeben worden, damit 
ich mir die Frage nicht beantworten muß: 

fie ſind der Expoſition wegen da. 
DOPiodr, waͤre es vielleicht nicht beſſer gewe⸗ 
ſen, den erſten Auftritt in den zweyten eins 
zuſchmelzen, und die Eroͤffnung durch die 
allgemeine Verſammlung der deutſchen Fuͤr⸗ 

| ſten 


107 


ſten zu machen: Segeſts Wiederkunft, ein 
wichtiger Vorfall fuͤr ganz Deutſchland, 
konnte fie veranlaßt haben. Hermann hät: 
te da den Vortheil, den Deutſchland hieraus 
ziehen ſollte, auseinander geſetzt: Segeſt 
haͤtte Roms hochmuͤthiges Verfahren vor 
den Augen Deutſchlands bekannt gemacht: 
die beiden Fuͤrſten haͤtten ſich vor ihrem 
Teut und Mann — denn, im Voruͤbergehen, 
Zevs und Olympus gehören nicht in ihre 
Eidformeln — bey Teut und Mann haͤtten 
ſie ihre Ausſoͤhnung beſchworen: eine ſolche 
Ankuͤndigung wurde auch in Anſehen der 
aͤußerlichen Pracht ungemein gewonnen ha⸗ 
ben. Die Gefangenſchaft Thusneldens und 
ihres Sohnes wuͤrden wir ſchon dann aus 
dem Munde Sejans erfahren, wann 
es nothwendig iſt, davon e zu 
ſeyn. 

Ich bin den Dichtern ſehr gewogen, die 
mit der Expoſition haushalten „ mich im⸗ 
mer 


108 


mer nicht mehr davon wiſſen laſſen, als 
zum Verſtande des folgenden Auftritts er⸗ 
fodert wird. Sie iſt freylich ſchwer, dieſe 
Art den Innhalt anzukuͤndigen; aber ſie er⸗ 
hoͤhet auch die Theilnehmung, weil ſie die 
Erwartung ſpannet; und hier war ſie in der 
That ſehr möglich — 

Man Hätte im II. Auftritte die Ankunft 
des Geſandten verkuͤndiget — und ihm Ge⸗ 
hoͤr ſogleich ertheilt — In denſelben Zeiten 
gieng es mit, das ſo ohne Umſchweife zu 
thun: das Gepraͤng war noch nicht ver⸗ 
wickelt; keine Beſuche und Gegenbeſuche — 

Man haͤtte zwar, weil man ſeinen Vor⸗ 
trag nicht gewußt, auch nicht uͤber die Ant⸗ 
wort, ſo man ihm geben wollte, zu Rath 
gehen koͤnnen. Deſto beſſer! man haͤtte 
Segeſten ſein nicht ſehr feuriges: Ich Ser⸗ 
mann bin mit dir, und den nachfolgenden 
III. ganz muͤſſigen Auftritt erſpart: 


uf 


109 


Muͤſſig mußte er fuͤr uns Zuſchauer ſeyn: 
denn wir wußten ja ſchon: daß man den 
Frieden nicht bewilligen wuͤrde — Indeſſen 
moͤchte ich eben uͤber dieſen Auftritt dem 
Verfaſſer meinen großen, großen Gluͤck⸗ 
wunſch machen. Ungeachtet Hermann den 
roͤmiſchen Abgeſandten nur das zu ſagen · hat⸗ 
te, was wir ſchon wußten; ſo iſt doch dieſe 
Unterredung gerade die anziehendſte. Der 
Schriftſteller hat ſtatt der Anziehung der 
Handlung die Anziehung des Geſpraͤchs 
und der Ausführung hineinzulegen gewußt: 
der Stolz des Roͤmers, gegen die Größe 
des Deutſchen, die beide ſich in allem Lichte 
zeigen, ſtechen vortreflich gegeneinander ab: 
waͤre es nur moͤglich, die wechſelweiſen 
Reden ſich mehr durchkreuzen zu laſſen! 
Hier lenke ich nun wieder auf den Weg 
des Verfaſſers ein. Der ſchlaue Roͤmer, 
da er die Deutſchen nicht bewegen kann, den 
Frieden als eine Gnade von Caͤſarn anzu⸗ 


neh⸗ 
1 


— , un nee 
nehmen, ſucht fie — und beſonders “er: 
mannen, durch ein Geſchenk zu beſtechen: und 
welch ein Geſchenk! Thusnelde und ihr 
Sohn! — | 

An dieſem Orte fängt der Knotten an, 
ſich zu ſchuͤrzen — Thusnelde, Hermanns 
Gemahlin! Segeſts Tochter! der Kampf 
iſt wichtig: Natur und Liebe auf der einen 
— Vaterland, pflicht auf der andern Sei⸗ 
te: wer wird ſiegen? — 

Segeſt giebt durch ein ſtummes Spiel 
ſeine Bewegung zu erkennen — Wie, wenn 
er ſeines nur erſt abgelegtem Eides eingedenk, 
den Römern die Unrechtmaͤſſigkeit ihres Be⸗ 
fies verwieſen, und uns hier belehret häf- 
te, wie man fie ihm mit Lift entriſſen u. f 
ww. 2 Ich ſehe es ein: der Autor wollte Sege⸗ 
Atem nicht handeln laſſen, um für feinen Hel⸗ 
den die ganze Groͤße, das ganze Verdienſt 
zu erhalten; ich laſſe mirs gefallen: Her⸗ 

8 / mann 


111 


— — 
—— —— — 


mann ſpricht als Gemahl, dem der Geſand⸗ 


te den Antrag macht: 
So eben trafen ſie hier in dem Lager ein: 
Sie koͤnnen, willſt du es, noch heute bey die 
| | ſeyn, 
Wenn ihre Thraͤnen ih — 
/ Schweig Grauſamer! — 
Aber als Herzog ſagt er: 
> — — — biſſe! 
Daß man hier nur das Wohl des Vaterlands 
| beſchließe! 
oder vielleicht richtiger: 


Daß man hier nur vom Wohl des Baterlands 


entſchließe! 
Das iſt die erſte Anwandlung einer pa⸗ 
triotiſchen Hitze: eine feine pſichologiſche Be⸗ 
merfung: daß dieſe bey einem Manne, der 
ſich im Rechtſchaffenhandeln eine Fertigkeit 
erworben hat, ſo gar die Ueberlegung uͤber⸗ 
hole: die Stuͤrme der Leidenſchaften thun 
ihre Anfaͤlle erſt nachher — 
| Schon 


112 


Schon wieder ein Wunſch! ſagte Ser⸗ 
mann nichts von ſeiner Privatrache da, wo 
nur von Vaterlandsangelegenheiten die Rede 
iſtz feine Antwort wuͤrde edler, er in Deutſch⸗ 
lands und auch den Augen des Zuſchauers 

größer ſeyn; weg alſo mit dem 3 
— — Ich will, ich wuß mich regen! 
Bey dieſer Abkürzung kaͤme dann auch 
das: richte dich nunmehr! gelegenheitlich 
beyſeite, welches eine offenbare Provinzigl⸗ 
kedensart iſt — | 

Mein Brief muß heute darum geſchloſſen 

werden, warum die Wochenblätter gemeinig⸗ 


lich ſchluͤſſen: weil ich mit der vierten Sei⸗ 
le am Ende bin — 


Siebentes S Stück. 


Neuntes Schreiben 4 


Wien: den 6. Hornung 
* 1 68, N 


5 N 
N ebene mit den uͤbrigen 
* Sn Fuͤrſten ab, und laͤßt Seja⸗ 
nen in dem Haine? Ich ſehe ſehr wohl das 
Warum des Dichters — damit Segeſt, der 
in folgendem IV, Auftritte Sejanen auf 
ſucht, ſich im Angeſichte der Zuſchauer mit 
ihm beſprechen koͤnne — Koͤnnen aber auch 
wir mit dieſer Urſache zufrieden ſeyn? Iſt 
es wahr ſcheinlich, daß man den Geſandten 
einer Macht, welcher man den Krieg erklaͤ⸗ 
ret, ohne Zeugen, in einem der Nation 
heiligen, den Berathſchlagungen der Nation 
gewidmeten Orte zuruck laſſe 2 — 

Die Einheit des Orts zwingt den Dich⸗ 
tern ſehr oft wider ihr beſſeres Wiſſen Un 
wahr ſcheinlichkeiten ab. Ich bin z. B. verre 

H ie 


174 Ar 
—:... nn: Re en one 


ſichert: der Verfaſſer habe es ganz wohl 
empfunden, daß die Privatunterredungen 
Katumers und Hermanns im I. Auftritte 
des II. Aufzugs nicht in den Hain gehören: 
die Fuͤrſten, wenn ſie ſich mit ihren eieb⸗ 
lingen oder Freunden beſprechen wollen, 
waͤhlen nicht den oͤffentlichen Gehoͤrſal da⸗ 
zu — daß es ſehr unbehutſam von einem 
ſchlauen Manne, wie Sejan geſchildert if, 
wäre gehandelt geweſen: die kurze Zuſam⸗ 
menkunft zwiſchen Segeſten und Thusnel⸗ 
den * an diefem öffentlichen Orte zu veran⸗ 
laſſen : beſonders, nachdem der Roͤmer feine 
Furcht vor Sermannen in dem vorherge⸗ 
henden Auftritte nicht undeutlich blicken 
ies -— | 

Im V. Auftritte wird nun der Faden der 
Schwierigkeiten angeſponnen — Schien Se⸗ 
geſt bewegt? nur der kleinſte Reſt des Haſ⸗ 
ſes gegen Hermannen! aus dieſem Funken 

hofft 


l. Aufing J. Aufer. 


hofft der Geſandte eine Brunſt aufzublaſen, 
die ganz Deutſchland ergreifen und feinem 
Helden den Untergang bringen ſoll. 

Segeſt koͤmmt im VI. Auftr. Wie gefagt: 
der Ort zu einer Unterredung dieſer Art iſt 
unvorſichtig gewählt; und die Unterredung? 
— Jemand kluͤgern ſollte der Geſandte 
nicht hintergangen haben; ſeine Liſt iſt zu 
Tennbar: Segeſt koͤmmt ihm auch wirklich 
auf die Spur: Sejan — ſuchſt du viel⸗ 
leicht mein Herze zu empoͤren? — G nein 
ſagt der Geſandte; und der gutherzige Alte 
laͤßt ſich mit dieſem Nein abfuͤhren; 
recht, wie es ſich auf einen guten, kurzſiche 
tigen Deutſchen gebuͤhrte. Mir Franzo⸗ 
ſen kann dieſer Ausdruck als eine kleine 
Rache gegen einem deutſchen Schriftſteller 
hingehen, fuͤr die Verſe; womit er ſich uͤbet 
uns nur kurz vorher luſtig gemacht 

Daß kit der 1 durch ſie ge⸗ 
taͤuſchet ward, 


H 2 Dank 


0 
Dantt feiner Flüchtigkeit, 


des eiteln 
Volkes Art! 2 

Uns, die wir nie ſo ſeicht, nie fo un⸗ 
männlich dachten u. f. w. 


Der erſte Aufzug ſchluͤßt ſich alſo mit 
der Verſicherung: daß Segeſt ſeine Tochter 
in einer Stunde hier erblicken ſoll. Das 

war gut, daß der Geſandte gleichſam 
nach der Uhr ſah, und in einer Stunde 
wieder zu kommen verſprach. Es iſt ſonſt 
freylich nicht wohl gethan, in den Sroiſchen⸗ 
raͤumen der Aufzuͤge eine ſolche Puͤnktlich⸗ 
keit zu beobachten. Dieſe Swiſchenraͤume 
ſind beſtimmt, der Handlung einen ſtarken 
Stoß vor ſich zu geben: in folgendem Auf⸗ 
zuge muß man ſogleich die Folgen wahr⸗ 
nehmen, wie der Dichter dieſe Zeit ſich 
zu Nutz gemacht: die Urſachen werden vor⸗ 
bereitet; die Wirkungen brechen aus — Nichts 
von allem dieſem geſchieht hier: die Hand⸗ 
lung iſt ganz nicht von der Stelle; und wenn 
| ſich 
Eben da S. 5. 


fich der Zuſchauer uͤber die kleine Unregel⸗ 
maͤſſigkeit, daß die Schaubuͤhne einen Au⸗ 
genblick leer geblieben, wegſetzt, und das 
Orcheſter ſchweigt; ſo kann er die beiden 
Aufzuͤge ohne alle Schwierigkeiten in einen 
vereinbaren — Aber nun! freylich was konn⸗ 
te man in einer Stunde auch wohl vor ſich 
bringen? 0 | 
Und dieſe Stunde war dazu ſehr 695 
verflo fen: denn nicht einmal Thusnelde war 
im I. Puftritte des folgenden Aufzugs ange⸗ 
langt. Sermann und Xatumer eroͤffnen 
ihn. Hermann iſt hier ein wenig wetterwen⸗ 
diſch, wie die jungen Weiber, die ihren Auf: 
wärtern zur Qual nicht wiſſen, was fie wol⸗ 
len und nicht wollen — Er iſt traurig und 
muthvoll, verliebt und Patriot; er will 
Krieg, und ſeine Gattinn, die ihm doch nur der 
Friede gewaͤhren kann. Ich tadle das nicht 
etwan : es iſt die Menſchenſtunde des 
Helden. Solche Gemaͤlde ſind anziehend 
H 3 aber 


8 


aber fie fodern in der Ausfuͤhrung viele 
Niedlichkeit, um nicht in das Sezierte und 
Tendelnde zu verfallen. Bäcine war in 
dieſem Stuͤcke ein großer Meiſter; er kann⸗ 
te die kleinſten Verfloͤßungen der Leidenſchaf⸗ 
ten, und wußte ſich derſelben mit Wahl und 
Beurtheilung zu bemeiftern , feine Helden 
ſind groß, und liebenswerth zugleich. 

ERatumer ſpielt in dieſem Auftritte eine 
ſeltſame Perſon: er raͤth Hermannen den 
Frieden an: Fuͤrſt Natumer — haͤtte ich 
Luſt ihm zuzurufen — warum ſagten Sie 
das nicht bey der Verſammlung? da, wo 
der Ort dazu, da, wo es Zeit war? ihre 
Frage: weißt du denn, ob Deutſchland 
das begehre? giebt mir keinen hohen Be⸗ 
griff von ihrem Gedachtniſſe: wie ſoll 
Hermann das nicht wiſſen, da der Krieg 
wirklich erklaͤrt iſt? haben Sie nicht ſelbſt, 
wiewohl ein wenig in allgemeinen Aus⸗ 
drucken, das ihrige dazu beygetragen? 

würs 


n 119 1 
wuͤrde ihr Freund nicht, wenigſtens einer 
Uebereilung, wegen ſeines vorhergehenden 
Entſchluſſes beſchuldiget werden? be⸗ 
denken Sie: mit Xriegserklaͤrungen ſpielt 
man nicht — und dann noch der feine 
Rath! 


1 Doch, koͤnnte De utſchland nicht die 
| Deinen itzt befreyen? 


„ Erſt dich begluͤcket ſehn, und dann 
den Krieg erneuen? 


Sie ſagen zwar: Sie wollten ihren Rath 
nicht auf ſchnoͤde Raͤnke gründen: aber 
das iſt, wie die Kechtsgelehrten ſagen: 
Proteſtatio facto contraria — Jedoch 
muß ich denn gerade bey t Auftritte et⸗ 
was zu erinnern haben? — 

Im II. thut Hermann dem Geſaudten 
das Anerbieten : Thusnelden und feinen 
Sohn mit Golde zu löfen: Sejanen ſcheint 

dieſes für ermannen ſchimpflich. Der Auf⸗ 

tritt hat ſchoͤne Stellen. Der Geſandte wird 

beurlaubt: er ſchůtzt Geſchaͤffte mit Sege⸗ 
94 ſtes 


236 


fies vor — Geſchaͤffte mit Segeſtes? und 
das machte Sermannen, machte Ratumern 
nicht unruhig? bewog ſie nicht, den Ge⸗ 
ſandten genauer zu beobachten? ſeine Schrit⸗ 
te zu beleuchten? — nein! ſie gehen ſorglos 
ihrer Wege — um Segeſten die Buͤhne zu 
raͤumen, der 
Im III. Auftritte koͤmmt, ſich von dem 
Roͤmer nach Willkuhr, und wie ein Kind be⸗ 
handeln, und zum vorigen Haſſe gegen ſei⸗ 
nen Eidam verleiten läßt — Im IV. Auf⸗ 
tritte wird Thusneldens Ankunft gemeldet: 
und in der Schlußſcene dieſes Aufzugs macht 
Sejan ſich uͤber den leichtglaubigen Deut⸗ g 
ſchen luſtig, wie auch billig iſt. 5 
Was geſchieht nun zwiſchen dem II. und 
III. Aufzuge? — abermal nichts, als das 
Segeſt ſeiner Tochter entgegen geht, und ſie 
im I. Auftritte in den Hain bringt. Warum 
nicht lieber gerade in dein Zelt, guter Alter? 
wie 


121 


toie du es dem vorangeſchickten Geſandten * 
verheißen hatteſt? wunderlich! vielleicht daß 
die Leute die ſreye Luft, und das Spazier⸗ 
gehen liebten? wenigſtens iſt ihre Unterre⸗ 
dung anfänglich mehr das Geſpraͤch mit 
ger, luſtoandelnder Leute: als eines Va⸗ 
ters, einer Tochter, die ſich nur auf wenige | 
Augenblicke fehen , die ſtat der froſtigen Frage: 


„ Thusnelde kennſt du noch die an⸗ 
muthsvollen Fluren u. ſ. w. 


und der Antwort 


„ Ich kenn, ich lieb ihn noch den reiz⸗ 
| erfuͤllten Hain — 


die ſtatt ſolchen Geſchwaͤtzes dieſe koſtba⸗ 
ren Augenblicke zu Umarmungen, zu Thräs 
nen genuͤtzt haben wuͤrden. Warum doch 
ſo wenige Theatraldichter das Herz haben, 
die Bewegungen der Natur nachzuſchildern ? 
das unzuſammenhangende Stammeln des Af⸗ 
fekts nachzuſchreiben? Segeſt feſt in den Ar. 
men der Tochter verſchlungen, an fangs 


| ein 
5 I. Auf: IV. Auftr. 


ein ſtummes Paar, dann wechſelweiſe aus⸗ 
kufend: o Tochter! — o Pater! — ich 
beſitze dich! — ich ſehe dich wieder — u⸗ 
fe w. ſolche Auftritte ſtuͤrmen auf die Zu⸗ 
ſchauer ein, entreißen ihnen Thraͤnen, die 
Merkmale der Mitempfindung: aber eine 
ſolche Sprache iſt niedrig in ihrem Gedan⸗ 
ken; ihre Zwiſchenredner muͤſſen ſich geſuch⸗ 
ter ausdruͤcken: fie ſchwaͤtzen, ws fie han⸗ 
deln, und ſind witzig, wo ſie 1 
ſollten. | 

Thusnelde erfährt von item Vater; daß 
ihr Gemahl ſie nicht befreyen will: ſie hofft 
ihn zu ruͤhren — Ein Ungefaͤhr fuͤhrt ihn. 
im II. Auftritte zu ihr her: er umarmet ſei⸗ 
ne Gemahlinn: ihre Gegenwart legt ihm die 
Gefahr naͤher, an ſeinem Vaterlande zum 
Perraͤther zu werden: Segeſt dringt auf 
ihn zu: der Held wankt: der Friede bes 
ruht nicht auf ihm allein — er ſoll alſo, 
fagt Segeſt, die Fuͤrſten, deren Spruch und 

Wi⸗ 


122 
. —.u.r..ñ̃̃ ——TfT—T—T.?!r:........... 


Widerſpruch ſtets in ſeiner Hand war, zum 
Frieden bewegen — Was ſoll Hermann 
thun? 

Das iſt der Innhalt des im III. Auftritte 
folgenden Selbſtgeſpraͤchs? Soll er feine Ge⸗ 
mahlinn in Banden ſterben laſſen? — ſoll 
er durch einen dem Vaterlande nachtheiligen 
Frieden ihre Freyheit erkaufen? — Ratu⸗ 
mer koͤmmt im IV. Auftritte, und wird aber⸗ 
mal ein Friedensmittler — ſpricht politiſch 
wie ein St. Keal, und beweget zuletzt Ser⸗ 
mannen und wirft ihn zugleich von ſeiner Hoͤ⸗ 
he herab. So viel an ihm liegt, hat er das 
Vaterland ſeinem Vortheile nachgeſetzt — 
aber die im V. Auftr. dazukommenden Fuͤrſten 
geben feiner Kuhmbegierde zur rechten Zeit 
einen neuen Ueberſchwung: er giebt Befeh le, 
Sejanen mit Gewalt wegzuſchaffen und 
eilt den letzten plan zur Schlacht ʒu faſ⸗ 
ſen. Dieſer Plan zur Schlacht, ſollte er 
nicht fuͤr dieſelben Zeiten, wo Vegetius und 

Fol⸗ 


124 


Follard noch nicht die Handbücher der deut- 
ſchen Feldherren waren, ein wenig zu mo⸗ 
dern ſeyn ? 

Sejan wird von Segeſten in Schutz ge 
nommen: er macht davon kein Geheimniß 
mehr: dieß erfahren wir im II. Auftritſe des 
IV. Aufzugs. Hermann befiehlt, den Ge⸗ 
ſandten herzubringen. Statt feiner koͤmmt 
im III. Auftritt Segeſt; und koͤmmt mit ſei⸗ | 
nem Gefolge; wie man ſteht, entſchloſſen, 
das Aeußerſte zu wagen — Es formt auch 
wirklich darauf an, man zankt: junger 
Glattkinn! ſagt Segeſt — eigenſinniger 
Alter! verſetzt Sermann u. ſ. w. Segeſt 
erlaubt ſich zuletzt gegen dem allgemeinen 
Herzogen Deutſchlandes Ausdrucke, die ihm 
nicht nachgeſehen werden koͤnnen. 


„Geh leg die Hoheit ab, der du dich 
angemaßt! f 

„„Die du Deutſchlandes Schmach zwoͤlf 

Jahr gemisbraucht haft — | 

Es nimmt 1 gar nicht Wunder, wenn 
Her⸗ 


Herinann ihn will faͤſſeln laſſen. Ich ſah 
es aber auch vor, daß dieſer, dem eine ſtar⸗ 
ke Leibwache zu Geboth ſteht, ſich nicht 
wird faͤſſeln laſſen wollen; daß es dann zu 
einem Streite kommen und 

Thusnelde im IV. Auftritte ſich zwiſchen 
Spieß und Schwerter werfen wird, weil 
die Leute ſonſt zu Schaden kommen dürften, 
Seit dem die geraubten Sabinerinnen fo 
gluͤcklich zwiſchen die Heere ihrer Väter und 
Maͤnner gelaufen und den Frieden hergeſtellt 
haben; bat ſo mancher Dichter im großen, 
und mancher nach dem verjuͤngten Maß ſtabe 
dieſen Streich gebraucht, daß derjenige der es 
nach dem Hundertenmale, das Hunderte und 
einmal thut, ganz kein Verdienſt dabey hat, 
geſetzt auch, er hätte ihn noch fo natürlich 
herbeygefuͤhrt: und dieſes iſt vielleicht ur 
eben der Fall nicht, 

Ich mache dem Dichter keinen Vorwurf 
aus dem Ehegterſiresche ; : dieſen Vorwurf 

| macht 


T 


macht ſich ein Mann, wie er, natuͤrlich 
ſelbſt, ſobald er ſeine Arbeit bey kalten Blu⸗ 
te in die Hand nimmt. Aber dieſer Theater⸗ 
ſtreich beſteht nicht darinnen, daß Thusnel⸗ 
de koͤmmt; ſondern daß ſie gerade erſt zum 
Streite koͤmmt. Kommen konne fies wenn 
Segeſt, in deſſen Zelte fie ſich befand, nicht 
etwan ſie jemanden zur Verwahrung uͤberge⸗ 
ben; welche Vorſicht einen alten Mann al⸗ 
lenfalls nicht uͤbel gekleidet haben ſollte, der 
nicht eben ein Wahrſager ſeyn darf, um 
vorherzuſehen, daß ſeine Tochter, welcher ſein 
Haß gegen Hermannen bekannt war, ihm 
nachfolgen wuͤrde, um allem Unheile vorzu⸗ 
bauen. | 

Weil nun aber Thusnelde koͤmmt: fo ſieht 
man, daß Segeſt auf ſeine Tochter dießmal 
nicht gedacht habe: alſo war nun ſchon an 
ders nichts zu thun; ſie mußte kommen: 
aber warum denn eben ſo ſpaͤt? — Daß ich 
doch fragen mag? wäre fie eher gekommen, 


ſo 


ſo hätte das Combattement, wie das thea⸗ 
traliſche Kunſtwort heißt, ausbleiben muͤſ⸗ 
fen; und ſo ein Ding nimmt ſich vortrefflich 
wohl aus, und iſt vermoͤgend in Wien einem 
ganzen Stuͤcke den Schwung zu geben. 

Unter uns geſprochen: der Verfaſſer ſcheint 
der Mann nicht zu ſeyn, der das Gellirr der hoͤl⸗ 
zernen Spieße, und alle das Pappengefecht, 
welches auf der Schaubuͤhne immer poſ⸗ 
ſterlich laſſen muß, fuͤr ſehr anzuͤglich hal⸗ 
ten ſollte. Ich habe ihn wirklich einer klei⸗ 
nen Bosheit wegen in Verdacht, und ich 
denke, ich irre nicht; er gab den Zuſchau⸗ 
ern ſo etwas, wie fie es verlangen; ein 
Zug aus einem Karitaͤtenkaften unters 
halt fie mehr, als die anziehungsvolleſte 
Situation. | 

Dieſe folgte im IV, Auftritte: Thusnel⸗ 
de zwiſchen ihren veruneinigten Gatten und 
Vater: gewiſſermaſſen ſind hier drey Situa⸗ 
tionen verflochten; jede Perſonen zwiſchen 

ö den 


138 4 


re 3 


den zwoen andern geſtellt — nur haͤtte der 
Dichter allen feinen Kräften aufbieten ſollen, 
um dieſen Auftritt auf das lebhafteſte, und 
mit Mahrkeit zu bearbeiten. Thusnelde 

iſt hier in ihrem Glanze: auf ihr beruht die 
| Eintracht zwoer fo wichtigen Perſonen, auf 
deren Eintracht gewiſſermaſſen das Schick“ 
ſal Deutſchlandes ankoͤmmt — Mit welchen 
Waffen faͤllt ſie das Vaterherz des unver⸗ 
ſoͤhnlichen Segeſtes an? — Mit Gruͤndene 
Thraͤnen? nicht doch! fie macht ſtatt deſſen eis 
ne Grimaſſe — denn, wie ſoll ich das an⸗ 
ders nennen, wann eine Tochter ihren Va⸗ 
ter, der ſie liebt, den Dolch in die Hand 
giebt, fie zu toͤden: — o! denkt der Zu⸗ 
ſchauer — Die Schlaue wußte es wohl, 
daß er es nicht thun wurde — Und U 
wie es auf eine Grimaſſe natuͤrlich folgen 
mußte, gieng auch Segeſtes feiner Wege, 
und nahm ſeinen Haß, nahm feine Rache 
mit ſich weg. 1955 


120 


— —ñ ̃ ͤ—ę—=3 ęꝝ:2e⁴2mnᷓ.- nn 


— — 


— — — 


Der V. Auftritt hat eine e Stelle, von der 
ich wuͤnſchte, daß ſte der Verfaſſer beſſer ge⸗ 
müßt, und, wa; hier nur Geſpraͤch iſt; 
in Handlung verändert haͤtte. Segeſt ſteht 
in dem Wahne — ſpricht Hermann, 

„Daß ich das Heer aus Stolz zu laͤn⸗ 
10 geren Krieg ermahne⸗ 
5 Er ng den Herzogſtab mich nieder⸗ 
legen ſehn: 
55 Eh ‚ich ſey bereit fein Fodern 
5 einzugehn 

Das Fodern eingehen: iſt zwar ſehr matt 
geſprochen, aber deſto großmuͤthiger gehan⸗ 
delt; nur am unrechten Orte. So eine That 
war wuͤrdig in den Augen des ganzen Deutſch⸗ 
landes verrichtet zu werden, woferne ſte der 
Hauptfigur, wenn ich nach Art der Maler res 
den darf, die Erhabenheit und Groͤße erthei⸗ 
len ſollte, die, wie man wohl ſieht, 


des Dichters Abſicht war — Das von. 
theilhafte richt, in welchem Hermann ges \ 


J eig 


) 


zeigt waͤre, würde von dem Schatten, wo⸗ 
rinnen der durch eine ſo großmuͤthige Hand⸗ 
lung noch nicht befriedigte Segefies erſchie⸗ 
ne, nur deſto mehr erhoͤht — Wie 
die Anlage itzt iſt, bleibt es bloß ein Win⸗ 
kelzug, der auf den Zuſchauer ganz keine 
Wirkung macht: und wenn Segeſten die Er⸗ 
zahlung davon in dem Munde eines verlieb⸗ 
ten Weibes verdaͤchtig, unwahrſcheinlich vor⸗ 
koͤmmt; ſo findet ſein Mistrauen, ſein Un⸗ 
glauben Entſchuldigung — Wäre er aber 
ſelbſt ein Augenzeuge geweſen; dann, wer 
wuͤrde ihn dann nicht gehaßt haben? — 
Dieſe Veranderung iſt möglich, ohne daß 
darum der Gang des Stuͤckes anderſt gelei⸗ 
tet wiirde. Das, was Thusnelde hier eig 
Abmahnungsgruͤnde anfuͤhrt — die Shoffnun⸗ 
gen Deutſchlandes — die Größe ſeiner 
Pflichten — den Dienſt des Vaterlandes 
— den eignen Ruhm — alles das, was in 
es, dem 


121 


dem Munde einer Frau ohnehin ein wenig 
zu ſtaatsmaͤnniſch lautet, koͤnnte ihm Raftolf, 
oder ſonſt jemand von den Fuͤrſten entgegen 
ſetzen. Thusnelde / welche der Dichter durch 
dieſe Scene wichtig machen ſollte, wird da⸗ 
rum nicht mehr eine Nebenrolle, die nirgend 
in dem Stuͤcke in derjenigen Geſchaͤfftigkeit 
erſcheinet, daß er das Stuͤck von ihrem 
Namen, mit Hätte uͤberſchreiben ſollen — 
Der lezte Auftritt dieſes Aufzugs zeigt 
nun den Ausbruch von Segeſtens Haſſe. 
Zwiſchen dem IV. und letzten Aufzuge geht 
eigentlich das vor, was Aatumer im III. 
Auftr, erzählt: der Abfall der Truppen Se⸗ 
geſtens; die großmuͤthige Handlung Her⸗ 
manns, der Segeſten nicht nur vergiebt, ſon⸗ 
dern ihn auch vor der Strafe ſchuͤtzt. Die 
beiden erſten Auftritte ſind alſo abermal ganz | 
Aberfluͤſſig: Man ſieht es, daß es dem Di: 
ler ſelbſt dazu an Stoff gemangelt; er muß 
J 2 Thus⸗ 


132 


Thuẽ nelden in dem ſchwermuth vollen ein; 
ſamen Hain ſpatzieren ſchicken. | 
Acrmann erfcheint im IV. Auftr. Die 
Hinderniſſe, welche Segeſtes in Weg gelegt, 
ſind bey Seite geſchafft; Segeſt iſt ohne 
Truppen; die Roͤmer haben ſich zuruͤckgezo⸗ 
gen; der Verraͤther Sejan wird mit Schan⸗ 
de zuruͤckgeſendet; Thusnelde kehrt freywil⸗ 
lig zu den Roͤmern, um das gegebene Wort 
ihres Vaters zu befreyen — Nun iſt die Hands 
lung am Ende, der Vorhang faͤllt — Ha⸗ 
ben Sie das nicht erwartet 2 ich eben⸗ 
falls. Aber wie, nach der Sage der Sol⸗ 
daten, eine Kanonenkugel, die bereits ihr 
Ziel erreicht, auf der Erde kraftlos dahin 
waͤlzet, und kaum mehr eine Bewegung hat; 
wann ſie in dieſer ſcheinbaren Ruhe, gegen 
ein Sandkoͤrnchen ſtoͤßt, wieder Kraͤfte ge⸗ 
winnt, von neuem auffaͤhrt, und oft die⸗ 
jenigen coͤdtet, die ſich, ihrer Entfernung 
we⸗ 


wegen, in Sicherheit glaubten; fo empfieng 
die Handlung, die ganz ſchon an ih⸗ 
rem Ziele war, von einem ſehr uners 
heblichen Umſtande eine neue Bewegung, 
und N 
Im VIII. Auftr, ſtirbt Hermann, für 
den Sie gewiß nichts mehr beſorgten — er 
ſtirbt, von den Haͤnden Segeſtens, nicht 
etwann aus Rache — nein! bloß darum, daß 
er den Alten, der ſeine Tochter dem Roͤmer 
wider das verpflichtete Wort abnehmen woll⸗ 

te, zuruͤckhielt — Das haͤtte ich nicht 
vermuthet, daß das Balgen dieſer zween 
Leute bis dahin gehen wuͤrde! haͤtte doch 
dießmal ein Gott den Arm des grauen 
Mingers mit Stärke beſelet, damit er ſich 
los geriſſen, und das Schauſpiel ein uns 
blutiges End genommen hätte! — 

Der Tod Sermanns und mithin auch der 
Tod Thusneldens, der davon nur eine 


33 e 


Folge iſt, find N dem Stücke ganz zu⸗ 
faͤllig; die vorhergehenden Begebenheiten 
haben darauf keine andere Beziehung als 
die Zeitreihung — und doch ſcheint er des 
Dichters Hauptzweck zu ſeyn: folglich ſoll⸗ 
fe jeder Umſtand entweder mittelbar oder 
unmittelbar dahin beytragen, und wie in 
einer Spitzſaͤule, jede von der Grundflaͤche 
aus gezogene Linie nach dem Spitzpunkte zu⸗ 
laufen. PR 

Der Anlaß, den Tod Hermanns recht 
mitte, wenn ich fo ſagen ſoll, aus der 
Verraͤtherey Segeſtes entſpringen zu laſ⸗ 
ſen, war nicht ſehr weit zu ſuchen. 

Alles koͤnnte auf eben die Weiſe vor ſich ge⸗ 
gangen ſeyn, als es Ratumer im III. Auftr. 
erzaͤhlt — allein der Zweykampf zwiſchen 
Sermannen und Segeſten waͤre nicht am 
Ende — Dieſes haͤtte Erwartung, Be⸗ 

wegung, Waͤrme in Thusneldens Geſpraͤch 
er. ge⸗ 


gebracht. Segeſt, der ſich von fer 
nem juͤngeren Gegner uͤberwältigt ſähe, 
woferne er Mann fuͤr Mann ſtritte, haͤtte die 
Liſt zu Hilfe gerufen. Das Gefecht geht 
nicht ferne von dem Haine vor, weil der 
Slang der Waffen auf Schilden von Thus⸗ 
nmelden konnte vernommen werden. — Wie 
alſo, wenn der verlaſſene Segeſt ſeinen Gegner 
durch verſtelltes Weichen hieher gezogen 
hätte? — wenn das, was Katumer erzaͤhlt, 
hier vor uns gehandelt wuͤrde? der Eidam 
ihn von Platz huͤbe, ſtuͤrzete, das Schwert 
enttiſſe, vor den ſchon gezuͤckten Schwer⸗ 
tern der uͤbrigen rettete und eben, da er ihn 
aufrichten, eben da er ihn auf das zaͤrtlich⸗ 
ſte umarmen will „von ſeiner meichelmoͤr⸗ 
deriſchen Fauſt den toͤdtlichen Stoß em⸗ 
pfienge? | 
Durch dieſe Berändernng wäre die un⸗ 
e un des letzten Aufzugs vew 
Din 


kuͤrzet, waͤre die Einheit der Handlung 
hergeſtellet, wäre — abermal und ohne 
Ende! werde ich mich etwan nicht aufs 
neue darein vertiefen, was geweſen, und 
nicht geweſen waͤre ? gleich als haͤt⸗ 
te ich nicht ohnehin mich ſchon zu lange bei 
einem einzigen Stuͤcke verweilet, da ſich 
mir der Stoff unter der Hand haͤufet, und 
ich Ihnen noch ſo vieles nachzutragen ha⸗ 
be — und gleich als wäre es nicht leichter zu 
jemanden zu ſprechen, ſetze zu! ſchneide ab! 
als ſelbſt etwas von allen Seiten untadel⸗ 
haftes zu liefern — | 


Achtes Stück. | 
Zehntes Schreiben 


Wien: den 19. Hornung 
1768. 


Qui partout n' auroit valu 
„ | rien, 
Ces pieces la font à leur place 
Sur le theatre italien 
Dieſer Gaſſenhauer paßt genau auf die 
ſogenannten Opere Buffe, in denen weder 
Witz, noch Menſchenverſtand, und nicht die 
geringſte Spur von dem Doctor finden, der 
für die waͤlſche Schaubuͤhne das, was Wo⸗ 
liere fir die franzoͤſiſche that; und fie von 
dem Wuſte der alten, unſinnigſten Poſſent 
ſpiele zu reinigen, und ihr eine regellaͤſſi⸗ 


gere Geſtalt zu geben, unternahm. SGol⸗ 


K do⸗ 


Dias war ein froſtig Stuck | 

Das nirgend was getäuget hätte — 

Doch dieſe Stuͤcke find auf ihrem Platze auf der 
waͤlſchen Bühne Aus dem Ambigu Comique; 
der Neberſ. g 


138 


doni, war ein ſehr fruchtbares Genie; ſei⸗ 
ne Stuͤcke koſteten ihn nicht eben ſonderbare 
Muͤhe; aber man ſieht ihnen die Eilfertigkeit 
auch recht ſehr an — Spaſſe, die dazu nir gend 
als in Waͤlſchland fuͤr das gelten konnten; 
langweiliges, innhaltleeres und meiſtens ce⸗ 
remonioſes (gepraͤngmaͤſſiges) Dialogiren; 
Verwirrungen ſtatt Verwickelungen, ſchiele 
Charaktere, und eine Sprache, die an vie⸗ 
len Orten unuͤberſetzlich wird, weil ſie voll 
von waͤlſchen Wortſpielen iſt, das iſt unge⸗ 
faͤhr ſo immer das Gewebe der goldoniſchen 
Schauspiele; und Sie ſollten Mühe ha⸗ 
ben, aus den ſechszig Stuͤcken des Goldoni 
eines, nur eines auszuloͤſen, das eine ſtren⸗ 
ge Kritik aushalten, oder dem Miſanthrope 
an die Seite geſetzt werden koͤnnte. 

Die deutſche Schaubuͤhne hat juͤngſt ei⸗ 
nes von ſeinen Luſtſpielen, den wahren 
Freund, aufgefuͤhret. Ich wuͤrde dieſes Stuͤck 
nicht eben auf das bloſſe Wort Diderots, 

| | ein 


139 


ein Poſſenſpiel nennen. Diderot iſt immer 
ein wenig ungebehrdig wann man ihn 
auf die Spur bringt, daß er von dem wah⸗ 
ren Freunde etwas zu dem netürlichen 
Sohne heruͤbernommen habe: und der En⸗ 
ciklopediſt hat unrecht. Es iſt zu offenbar, 
daß ihn der Italiaͤner gleichwohl auf die 
Spur gebracht habe; und fein Läugnen iſt 
die Grimaſſe eines Maͤdchens, dem ein Lieb⸗ 
haber einen Kuß geraubt „und das dann 
kindiſch ſpricht: nein! fie haben mir 
keinen Kuß gegeben — Mag doch der 
wahre Freund dem Diderot immer am er⸗ 
ſten auf den Einfall feines natůr lichen sohns 
getoieſen haben: das raubt ihm feinen Ruhm 
im geringſten nicht. Wenn Praxiteles ein 
Stuͤck Marmor, woraus ein elender Bild⸗ 
ner ſeiner Zeit eine Venus machen wollte, 
vornimmt, es ganz anderſt behandelt, Stel⸗ 
lung und Charakter aͤndert, und eine wahre 
K 2 De 
Bon der dramatiſchen Dichtkuuff, 


Venus daraus machet, die in dem Tempel 
zu Gnidus die Verehrung der Sterblichen 
verdienet , und die Wuͤnſche des Krieges⸗ 
gotts theilet; ſo gehoͤret dem Stuͤmper ge⸗ 
wiß nicht das geringſte von der Ehre des 
Kuͤnſtlers, dem fein Klotz zum Stoffe ge⸗ 
dienet. Soldoni fand den Gedanken, die 
erſte Idee des wahren Freundes: aber es 
war in ſeinen Haͤnden ein Stuͤck pariſcher 
Marmor, den er nicht zu bearbeiten wußte 
— Alle Charaktere find ihm verungluͤcket: 
ſein wahrer Freund, iſt kaum recht ein ehr, 
licher Mann, oft ein ſehr ungeſchmaker Kerl. 
das Maͤdchen iſt ein flatterhaftes Ding, das 
nicht, wie Boſalie des Diderot zwiſchen 
zween wuͤrdigen Freunden, die beide ihre 
Wahl rechtfertigen und erſchweren, innen 
ſchwebt, und wenn ich ſo ſagen ſoll, zerriſſen 
wird; es wirft ſich dem Freunde ihres Lieb⸗ 
habers ſo mit Gewalt an den Hals, daß ſich 
der Junge der Dirne nicht erwaͤhren kann — 

5 und 


14 Ya 


und Thereſie — Aber wie geſagt, ich halte 
einen grob behauenen Pflock, an dem man 
nur die Hervorragungen fuͤr Haͤnde und 
Fuͤſſe annehmen muß, um eine Geſtalt her⸗ 
auszubringen, fo einen truncum male do- 
latum halte ich mit dem Meiſterſtuͤcke des 
Meißels gegeneinander, und ſuche Aehnlich⸗ 
keiten auf. 

Die Ueberſetzung des waͤlſchen Stuͤckes 
war neben an recht erbaͤrmlich; und wenn 
es bey ſeiner Auffuͤhrung doch einiger maſſen 
erträglich ſchien; fo iſt das Verdienſt ganz 
auf Seite der Schauſpieler. Insbeſondere 
habe ich wahrgenommen, daß die Reden 
des Florindo bey der Vorſtellung nicht 
ſo unendlich ſchleppend und kraftlos waren, 
als ich fie erſt beym Durchleſen fand. Sollte 
die Art, mit der fie der Schauſpieler dekla⸗ 
mirte, dieſe Verwandlung zuwege gebracht 
haben? ich las ihm nach — da hatte der 
gute Mann, weggeſtrichen, verändert , hin⸗ 

„ een 


142 


eingekuͤnſtelt — Eh! dachte ich — guter 
Freund! daran hat er wahrlich wohl 
gethan! aber er hat übel gethan, daß er 
nicht das ganze Stuͤck auf dieſe Art vor⸗ 
genommen hat. 85 
Nun, der Verfaſſer des wahren Freun⸗ 
des hat drey ganz ſchoͤne Baͤndchen waͤlſche 
Doffenfp.cle in Muſtik zu ſetzen, verfertiget, 
und unter dem Titul Opere giocofe di Po- 
liffenno Fegejo, fra li Arcadi &c. herausge⸗ 
geben. Ihr Gang iſt immer einerley: bey⸗ 
nahe in einer jeden koͤmmt ein Zweykampf vor, 
wo ſich die Memmen voneinander auf eine 
halbe Stunde entfernen, um ſich kein Boͤſes, 
zuzufuͤgen — zu jeder koͤmmt eine Ohnmacht 
oder ſo was; und am allerrichtigſten die 
Stelle: il mio core poverello, fra I’ in- 
cudin’ e martello, tiche, tache, toche mi 
fa. Mir ſind die Spaſſe aller wegen ſehr 
froſtig, ſehr ekelhaft vorgekommen: aber un⸗ 
ter den froſtigen und ekelhaften Spaſſen ſind 


die 


die walſchen, die man noch dazu beſtaͤndig 
wiederkocht, die froſtigſten und efelhafteften. 

Ich hahe Luft, Ihnen, von fo einer Af⸗ 
tergeburt des Witzes und der Thorheit ei⸗ 
nen kleinen Umriß zu machen. Sie waren 
immer abweſend, wenn ſolch Zeug bey uns zu 
ſehen war; und Sie koͤnnten vielleicht denken, 
ich thaͤte den guten Stuͤcken mit unter wohl 
ſehr unrecht. Man gab dieſe Faßnacht durch: 
die Contadina in corte, il vechio geloſo, 


la notte critica, il marcheſe villano; man 
wiederholte den Viaggiatore ridicolo und 
die Schiava — das naͤchſte, das Beſte! 
II marchefe villano — Moliers bur- 
geois - gentilhome buͤrfte ungefähr den 
Grundgedanken zu fo einem Stuͤcke herleihend 
ein Bauer, der, durch ſeine Reichthuͤmer 
ſtolz gemacht, ſich marquiſiren laßt, der 
ſich in ſeinen neuen Stand nicht zu finden 
weis, und doch ſogerne damit aufgezogen 
koͤmmt, der mit einer Familie ſich zu ver⸗ 
K 4 bin⸗ 


144 


.. ̃ —. n !.. ñ — 
binden wuͤnſcht, aber einen Jungen hat, 
der con tuti i titoli ſuoĩ, con quel abito ri- 
cho à doſſo, nichts anders iſt, als ein 
Villano riveſtito, dem die hohen Gedan⸗ 
ken des Marcheſe Padre nicht zum Geſich⸗ 
te ſtehen, und dem ein Waͤſchermaͤdchen aus 
dem Dorfe mehr zu taugen ſcheint, als die 
Gräfin, welche ihm fein Vater beſtimmet - 
das waͤren Geſchoͤpfe, woraus ſich ganz 
ſaͤuberlich ein Stuͤck verfertigen ließ, uͤber 
dem auch der ernſte Mann ſich des Laͤcheln 
nicht erwaͤhrte, ohne daß die Vernunft bey 
jedem Schritte gemishandelt wuͤrde. Es 
liegt ſogar unendlicher Anlaß zu beſſerender 
Satire darinnen, auf die laͤcherliche Titelſucht 
auf ungleiche Heurathen, auf den Stolz 
des Adels ſelbſt. 

An alles das denkt der Waͤlſche nicht — 
Lehren? Satire? Ganzes? Poſſen! er will 
zu lachen machen; und weil vermuthlich dle 
Nation ein wenig hartklungigt iſt; ſo laͤßt 

er 


145 


er die feinen Züge fahren, zeichnet mit der 
unzugeſpitzten Kohle — nicht eine Karikatur 
— ſondern einen Wechſelbalg, malt ihn mit 
den Fingern ein wenig aus; haͤngt ihn an 
das Marktſchreyerquerholz; huy! da ſte⸗ 
hen Nobile, und Maulthiertreiber zuſamm⸗ 
gedraͤngt und lachen und lachen — ä 
Georg, der Sohn des Dorfmarquis iſt 
in veſpina verliebt; er bringt ihr ein Staͤnd⸗ 
chen; ſein Vater koͤmmt, und kuͤndiget ihm 
an: daß er die Graͤfinn Olympia von Sar⸗ 
Zana heurathen foll: das will dem Jungen 
nicht eingehen, dem das Waͤſchermaͤdchen im 
Kopfe ſteckt; ſein Vater erpruͤgelt ſeine Ein⸗ 
willigung, und laͤßt ihn bey ſeinem Adel 
ſchwoͤren — Aber ich bin nicht vom Adel! 
ich erinnere mich, da ich ſieben Jahr hat⸗ 
te, den Weinſtock behauen zu haben — 
Schlaͤge! — nun hat erjnichts mehr einzu⸗ 
wenden. Veſpina ſucht ihn auf, eben da 
ihn ſein Vater verlaͤßt; er entdeckt ihr ſein 
K 5 Un⸗ 


125 


Ungluͤck: wie iſt zu helfen? er bitt das Maͤd⸗ 
chen, ſie ſoll etwas ausfindig machen, und 
verſichert fie feiner Beſtaͤndigkeit, worauf 
ſie ihm zu helfen verheißt; dann ſagt ſie, 
das iſt ſo ſchroer nicht: ich habe nur mit 
zween Narren zu thun. Und ſie 15 die 
Wahrheit. 
Der Podeſta im Dorfe hat eine Sie 
die zu Genua erzogen worden, und eben an⸗ 
koͤmmt. Marquis Geoͤrge waͤre ein Mann 
fuͤr ſie: wer thut aber dem auf ſeine Titel 
vernarrten Tulipan den Antrag? dazu fin⸗ 
det ſich ein Schmarozer, der in beiden Haͤu⸗ 
fern den Zutritt hat; aber er wird abge⸗ 
wieſen: die Graͤfinn Olympia iſt Seoͤrgens 
Verlobte, und man erwartet ſie. Vortreff⸗ 
lich! die Tochter des Podeſta kann ſich ja 
vafuͤr ausgeben: der Vater geht hin, dem 
alten Dorfmarquiſen ihre Ankunft zu mel⸗ 
den, und ſich durch ſeine uͤbergebenen Briefe 
als ihren Bevollmächtigten zu rechtfertigen. 
Eben 


147 _- 


Eben darauf war auch Veſpina verfal⸗ 
len: und ſie koͤmmt dem Dorfrichter in der 
Ausuͤbung zuvor. Erſt in einem Reiſekleide 
als Abgeordnete und Sekretaͤirinn der Graͤ⸗ 
finn hat ſie dem jungen Marquis das Por⸗ 
trait ſeiner Braut zu überreichen; aber Ges 
oͤrge verlangt nichts davon zu wiſſen: er 
will ſogar die Abgeordnete nicht ſehen; legt 
das Portrait in den Hut! ſpricht er mit ab⸗ 
gewandtem Leibe — Sie koͤnnen es in mei⸗ 
nem Geſichte ſehen, welches der liebens⸗ 
würdigen Braut vollkommen ähnlich ſteht. 
Sie zieht nun den Jungen mit Gewalt her⸗ 
uͤber, der durch ſeine ungebaͤndigte Freude, 
da er Veſpinen erblicket, beynahe das gan⸗ 
ze Spiel verdorben hätte, 

Die Gans begreift nicht, wohin das hin⸗ 
auslaufen ſoll: bis endlich Veſpina in 
prächtigen Kleidern unter dem Namen der 
Graͤfinn aufgezogen koͤmmt. Vor ihrer Ankunft 
uͤbet der Vater ſeinen Dummkopf von einem 


Soh⸗ 


Tat 


Sohne in dem Empfangs komplimente; und 
bey ihren wirklichen Empfange ſagt er ihm 
daſſelbe aus einem Papiere ein; und da Ge⸗ 
aͤrge nicht weiter kann; fo nimmt der Vater 
das Wort, legt das Papier in den Hut, und 
lieſt es Wort fuͤr Wort heraus. Der dumme 
Junge iſt immer Spitzbube genug, ſeinem 
Vater einen Streich zu ſpielen, uud das Pa⸗ 
pier wegzuruͤcken; da denn die Verwirrung 
des Alten laͤcherlich ausfaͤllt. 

Nachdem das Waͤſchermaͤdchen abgetre⸗ 
ten, koͤmmt der Podeſta mit ſeiner Tochter: 
Noch eine Gräfinn? welche iſt die wahre? 
das macht den Knotten. Tulipan erklärt fi 
fuͤr die erſte: der Dorfmagiſtrat haͤlt uͤber 
ſein Wort: laͤßt den marquiſirten Bauern⸗ 
jungen einſperren; hält ein Verhoͤr, droht 
ihm die Saite“ da kommt veſpina mit vier 
bewaffneten Kerlen, und befreyet ihren Braͤu⸗ 
tigam: daruͤber koͤmmt — und fo immer eis 

ne 


La Corda. 


ne Narrheit auf die andere — denn ich bin 
wirklich muͤde, Ihnen ſolchen Unſinn 
auszuziehen — bis zuletzt durch einen Brief 
von dem Niemand weis, wo er herkoͤmmt, 
die Verkleidung Veſpinens entdeckt wird. 
Allein das feine Paar hatte es ſchon ſo weit 
kommen laſſen, daß nichts mehr daran zu 
aͤndern war, und der alte Marquis ſich da⸗ 
mit troͤſten muß; der tulipaniſche Stamm 
reiche zu, auch die Braut edel zu machen = 

So abentheuerlich, unzuſammenhangend, 
gegen Wahrſcheinlichkeit und Möglichkeit fine 
digend der ganze Gang der Stuͤcke iſt; ſo un⸗ 
natuͤrlich ſind auch die einzelnen Bearbeitun⸗ 
gen jedes Auftritts, die einzelnen Auszeichnun⸗ 
5 gen jedes Charakters; und iſt darinnen nur eine 
Uebereinſtimmung beobachtet, die Ueberein⸗ 
ſtimmung des Unſinns, und ein genaues 
Verhaͤltniß eben ſo abentheuerlicher T heile zu 
ſeinem abentheuerlichen Ganzen. 


Dis 


150 


Die Dichter dieſer Stuͤcke ſcheinen nicht 
nach Scherzen zu jagen; fie laufen nach 
dem Buffo, nach Frazen, nein! auch der 
Ausdruck iſt zu gelinde: ſie laufen nach der 
Farrheit, und ſuchen ihre Luſtigmacherey 
in den Kaͤmerchen des Tollhauſes auf — 
und oft in Orten, wo Schmutz und Dop⸗ 
pelſinnigkeiten die Hausſprache ſeyn moͤgen. 

Und dieſe Stucke herrſchen gleichwohl auf 
19 en Schaubuͤhnen Deutſchlandes, wie in 
wien, und verdrängen. die N ationalſtuͤcke, 
und entfuͤhren dem deutſchen Schauſpieler 
das Herz und den Veyfall der Nati⸗ 
on. Worinnen ſoll ich die Urſache dieſer 
ſonderbaren Erſcheinung finden? Auch 
wir erholen uns manchmal von en Thraͤ⸗ 
nen, die uns vor der ern ſthaften Buͤhne 
in die Augen traten , bey einer Opera 
Comique: — doch ich werde unge⸗ 
recht, da ich Paralelen aufſuche, unſer 
Theatre de la foire, ja, unſre Warionetten⸗ 
ſpie⸗ 


* 
* 


15T 


ſpiele ſogar würden ſich ſchaͤmen, ſolch ver⸗ 
ſtandloſes Zeug, als die 810 der Buffen 
iſt, aufzufuͤhren — 

Ich uͤberwinde mich nicht, den Geſchmack 
der Nation daruͤber anzuklagen, und aus der 
Aehnlichkeit, welche die wälfchen Frazenſpiele 
mit den deutſchen Burlesken haben, und 
aus der vorzuͤglichen Liebe, welche vielleicht 
gegen dieſe Spaſſereyen wahrgenommen 
wird, eine Urſache aufzufinden. Das Reich 
der Burlesken, wie ich bey ihren Vorſtellun⸗ 
gen angemerkt, iſt groͤßtentheils vor⸗ 
über: einmal vielleicht, ertraͤgt man fie, und 
lachet — mehr über den vortrefflichen Janno, 
den die Wiener Schaubuͤhne beſitzt, und 
der dieſen Stuͤcken einſt den Schwung ge⸗ 
geben hat, als über die Stuͤcke ſelbſt — Aber 
mehr als einmal wird die Verwaltung da⸗ 
bey ſchwerlich ihr Rechnung finden. 

Sollten vielleicht die Schauſpieler, oder 
wie fie lieber geheißen werden, die Sänger 
5 der 


152 


der wälfchen Bühne durch ihre Vortrefflich⸗ 
keit die Poſſen und Ungereimtheiten em⸗ 
pfehlen? — Sollte nicht hauptſaͤchlich 
die Tonkunſt ihnen Schutz ertheilen, und 
das Vergnuͤgen des Ohrs das Misfallen 
der Vernunft maͤſſigen, oder es gar nicht 
wahrnehmen laſſen? Eine Reihe Fragen, 
uͤber deren jede ich fie insbeſondere zu uns 
terhalten gedenke! 


| 


_Heuntes Stück. 
Eilftes Schreiben 


Wien: den 25. Hornung 
1768. 


Schreibe ich doch nur Briefe an 

Sie — nicht ein Buch: alſo 

mag es mir gleichgültig ſeyn: 

ob mich die Nation einſt unter ihre Lieb⸗ 
lingsſchriftſteller aufnehmen werde, oder 
nicht, Waͤre aber auch wirklich meine Ab⸗ 
ſicht, durch geſammelte Beobachtungen, 
mich zum Autor zu erheben; gerade da wuͤr⸗ 
de ich mirs zum Geſetze machen, ganz nicht 
zu heucheln. Wer ſich um den Geſchmack 
einer Nation wahrhaft Verdienſte erwerben 
will, muß Muth genug haben, unangeneh⸗ 
me Wahrheiten mit maͤnnlicher Standhaf⸗ 
L tig⸗ 

„ Diefer Anfang scheint eine Beziehung auf eine Ant⸗ 
wort des Freundes zu Paris zu haben / der viel⸗ 
leicht ſeinem hieſigen Freunde die als zu große 
Freymuͤthigkeit verwieſen haben duͤrſte / nachdem 


er erfahren: daß die Briefe gedruckt werden⸗ 
Der neberſ. 55 


EA 


tigkeit zu ſagen, und dann mit dem komi⸗ 
ſchen Alten zu ſprechen: 
Populus me fibilat: at ego mihi 
plaudo * 
Dieſer Populus, wann feine Leichtfertig⸗ 
keit berachtet wird, ermuͤdet und ſchweigt: 
aber die geſagten Wahrheiten beſtehen und 
wirken. Schriftſteller, die mit dem Publi⸗ 
kum buhlen, und um eines uͤberhingehenden 
Beyfalls wegen, ſich nach ſeinem verwoͤhnten 
Geſchmacke bequemen, ſind Liebhaber, die, 
um eine kleine Aͤgeley von ihrem Mädchen 
zu erhaſchen, feinen Eigenſinn erheben, und 
zuletzt Sklaven ſeines Muthwillens werden. 
Der redliche Mann getrauet ſich, an ſeiner 
Geliebten Unvollkommenheiten wahrzuneh⸗ 
men, und fie davon zu überführen: er ers 
wirbt ſich dadurch über fie eine Herrſchaft, 
deren Recht die Vernunft gruͤndet; und ihrs 
Hoch 


Der Haufen ziſcht mich aus; aber ich loſſe mir 
an meinem Selbſtbewußtſeyn genuͤgen — 


3 e e NM, 
Hochachtung iſt endlich der Lohn ſeiner wohl⸗ 
meynenden Offenherzigkeit. 

Von welcher Seite Sie mich alſo anſehen 
wollen; ich werde meine Sprache nie aͤndernz 
nie mein Mis fallen über Ungereimtheiten ge⸗ 
heim halten; nie — um dahin einzulenken, 
wo mein letztes Schreiben ſtehen blieb — 
dieſen allgemeinen Vorzug, den man uͤber⸗ 
ktriebenen Stazen vor einem geſitteten Schau⸗ 
ſpiele giebt, billigen. 

Vorzug? = woferne die Opera Buffa dieſes 
Vorzugs wegen uͤber das deutſche Schauſpiel 
Triumph! rufet; woferne die deutſche Schau⸗ 
buͤhne ſich daruͤber graͤmet; ich habe das 
Mittel zur Hand, den Stolz der einen zu 
demuͤthigen, und der andern Troſt zuzureden. 
Eben die Zuſeher, die das Nationalſchauſpiel 
um ihrer wegen ode ließen, liefen ſogleich auch 
von ihr weg, den Gauklern zu, ſobald nur auf ei⸗ 
ner endern Seite Gaukler erſchienen. Der Zu, 
lauf kann daher nicht von dem Werthe enk⸗ 

L 2 ſchei⸗ 


156 


ſcheiden: ſondern, der Haufen, ift aller Or⸗ 
ten, zu allen Zeiten derſelbe; immer in ſei⸗ 
nem Beyfalle wechſelnd; immer des Taͤglichen 
uͤberdruͤ ig; immer Haufen in feinem Ge⸗ 
ſchmacke — | | 
Das Volk — ſagt Terenz in dem Vorred⸗ 
ner der Hecyra — hieng ganz vernarrt 
an einem Seiltaͤnzer * und Secyra 
blieb darüber einſam und unvollendet. Unſre 
Franzoſen, die ſogerne uͤber den Geſchmack 
andrer Nationen das Haupt ſchuͤtteln, und 
an den Deutſchen beſonders, die Liebe zu Ma⸗ 
ſchinen und Flugwerken tadeln, moͤgen ſich 
ihrer eignen Sterblichkeit erinnern, und mit 
zerknirſchtem Herzen an ihre Bruſt klop⸗ 
fen, wenn fie auf folgende Stelle * ſtoſ⸗ 
fen, die ich, fo lange fie iſt, herzuſetzen ver⸗ 
ſucht bin, als ein kraͤftiges niederſchlagendes 
Mit⸗ 
E — Populus ſtudio ſtupidus in ſunambulo au 
mum Occuparat — 


Charm lettres fur les foires de St. Germain 
& Laurent, 


F MESYE area 
Mittel wider die aufivallende Nationaleitels 
keit — 

„ Das Publikum war ſogleich anfänglich 
, durch die Verheißung herbeygezogen: daß 
„ man einen Eſel werde fliegen ſe⸗ 
„ hen. Dieſer vorgegebene Flug beſtand 
„ darinnen, daß man das arme Thier auf 
einem uͤbergeſpannten Stricke von oben hin⸗ 
„ unter, und von einer Eke des Saals nach 
„der andern hingleiten ließ. Angelockt, 
= durch eine ſolche Armſeligkeit, die vielmehr 
„ beſonders dem vernuͤnftigen Manne 
„haͤtte Ekel erwecken ſollen, unterließ man 
„ nicht, dieſes Schauſpiel mit vieler Begier⸗ 
„ de zu beſuchen, nicht nur, ſo lange der 
„ Eſel erſchien — der eigentlich nur vier⸗ 
„zehn Tage flog — ſondern auch während 
„ des ganzen Marktes, und dieſes, weil man 
„ die Stuͤcke gleich unterhaltend und artig, 
„ und kurz, alles zuſammgenommen, fo 
5 durch die Mannigfaͤltigkeit und Neuheit, 

. an⸗ 


> 


anziehend fand; daß es unmöglich war, 
der Neugierde zu widerſtehen, und daſſelbe 
nicht oͤfters denn einmal zu befuchen. 

„ Gleich anfangs erſchien ein Seiltanz, 
der aus vier oder fuͤnf der vortrefflich⸗ 
ſten Taͤnzer und Taͤnzerinnen beſtand: uns 
ter dieſen war beſonders eine Italiaͤne⸗ 
rinn, welche auf dem Seile die Fahne 
ſchwang, mit mehrerer Geſchicklichkeit, 
als jeder Meiſter es auf der Erde nicht 
haͤtte verrichten koͤnnen. Weiters ward 
ein Stuͤck aufgefuͤhrt, wovon die Schau⸗ 
ſpieler keine andre als Springer waren, 
und darunter ein Deutſcher, welcher Stuͤ⸗ 
cke von einem eee Gleichge⸗ 
wichte zeigte — 

„Mit ſolchen Schauſpielern, ohne Bey⸗ 
ſtand der Ballete und des Geſangs, mit 
einem Worte, entbloͤßt von all demjeni⸗ 
„ gen, was ſonſt unentbehrlich ſcheint, ein 
a Schauſpiel dieſer Art unterhaltend zu ma⸗ 
chen, 


180 


„„ chen, fand der Verfaſſer der Stuͤcke, wel— 
che auf dieſer Buͤhne vorgeſtellt wurden — 
es war le Sage, von dem die Rede iſt — 
„ den Weg, ſeine Zuſchauer unendlich zu 
„„ ergoͤtzen — u. ſ. w. 

Ich erlaſſe Ihnen den Auszug des Stuͤ⸗ 
ckes, welches mit dem fliegenden Eſel die 
Ehre theilte, unſre aufgeklaͤrten Pariſer 
durch einige Wochen zu unterhalten, und 
will Sie nur an das Siegeslied dieſer Gauk⸗ 
lertruppe erinnern, womit Momus den Pro: 
log zu dem bezauberten Schloſſe endiget. 


Vous alles partager 1’ eſpece 
Avec vos rivaux, mes enfans! 
Vos ſauts, & vos tours de ſoupleſſe 
Valent leurs danſes & leurs chants — 


Verlegen Sie den Schauplatz vom Markte 
St. Germain nach Wien, und Sie ha⸗ 
ben das Schickſal der waͤlſchen Sinaſpiele 
vor ſich, welche, ſo beliebt ſie bey jedermann 
ſind, dennoch ſogleich verlaſſen wurden, 
ſobald auf der andern Seite einige Kerle auf⸗ 

0 | K 4 | tra⸗ g 


160 


traten, die gleichſam der Beſtimmung der 
Natur zum Hohne auf den Haͤnden gehen, 
die Fuͤſſe in der Luft tragen, und alle ihre 
Gliedmaſſen aus ihrer natuͤrlichen Lage ver⸗ 
ſetzen konnten — 

Noch einmal alſo! der Zulauf bey einem 
Schauſpiele beweiſt ſehr wenig: er beweiſt 
oft gerade das Gegentbeil: wenn ein Kleid 
einem Hoͤcker gerecht iſt; ſo kann es nicht eben 
einen eleganten Zuſchnitt haben. Ich moͤch⸗ 
te daher beynahe ſagen: ein Theatraldichter 
Hätte wichtige Urſache, fein Stuͤck zuruͤckzu⸗ 
nehmen, ſobald es mehr als vier Vorſtel⸗ 
lungen hintereinander aushaͤlt — denn, fage 
Deutſchlands geſitteterer La Fontaine 


Wenn eine Schrift des“ Lob erhaͤlt. 
So iſt es Zeit ſie auszuſtreichen — 


Den 26. Hornung. 
ch uͤberleſe mein Schreiben, und — da 
8 habe ich gerade nichts von allen dem 
gejagt, was Sie, nach dem Schluſſe meines 
letz⸗ 


161 


letzteren erwarten mußten. Einmal ſtehen fie 
nun da, dieſe allgemeinen Betrachtungen, und 
fie mögen bleiben! habe ich doch die Frey» 
heit, ein neues Blatt anzulegen — a 
Das elende Gewebe der waͤlſchen Buffa, 
das ſogar weit, weit unter den deutſchen 
Frazen ſteht, ſehe ich gewiſſer maſſen als 
das Holzgerippe einer Theatralverzierung 
an. Was verſchlaͤgt es mir, daß es der 
Zimmermann nur von unbehobelten Kloͤtzen 
befeſtiget hat: ich ſehe die Kloͤtze nicht; ich 
ſehe nur die Kunſt des Servandoni. Was 
liegt mir an der albernen Erdichtung des 
Buffaſchreibers! merke ich doch auf ſeine 
Worte gar nicht, ſondern bloß auf die Ge⸗ 
ſchicklichkeit des Tonkuͤnſtlers. Denn, hier 
iſt es nicht, wie bey dem ernſthaften Sing⸗ 
ſpiele, wo die Dichtkunſt und Muſik mitein⸗ 
ander in einem freundſchaftlichen Bunde ſte⸗ 
hen, mit vereinbarten Kraͤften nach dem 
Beyfalle ſtreben, und ſich dann auch in den⸗ 
Big ſel⸗ 


162 


felben gleich theilen. Der Frazendreher thut 
weiter nichts, als den Pult halten, wo ein 
Gualuppi, Piccini, oder Gasmann ihre 
Muſikalien auflegen: oder ohne Gleichniß, 
weniger witzig, aber von allen Seiten viel⸗ 
leicht richtiger geſprochen; der Dichter der 
Buffa, legt nur die verſchiedenen Anlaͤſſe an, 
nach welchen der Verfaſſer der Muſik unſe⸗ 
rem Gehoͤre Vergnuͤgen verſchaffen foll, 
Er, der Dichter, kann ſeiner Seite ſehr 
wenig zu dieſem Ver gnuͤgen des Ohrs bey⸗ 
tragen; aber er kann dem Muſikſetzer durch 
ſeine Unſchicklichkeit unendliche Hinderniſſe 
in Weg legen — durch die ermuͤdende Ein⸗ 
foͤrmigkeit des Innhalts — durch zu ſehr un⸗ 
terbrochene und innhaltleere Recitati⸗ 
ve — durch zu jaͤhling, zu oft, zur Unzeit 
wechſelnde Versmaſſe — durch uͤbel ange⸗ 
brachte Entgegenſetzungen (Contrapoſten) — 
durch gehaͤufte Duo und Tre und Tutti — 
Mey ſolchen Gebrechen, die der Tonkuͤnſt⸗ 
a ler 


162 


ler unterſuchen muß, ehe er Hand anleget, 
iſt das Buch unbrauchbar; ein unbehandel⸗ 
barer Klumpen, ohne die erfoderliche Hoͤhe 
und Breite; der Kuͤnſtler wirft ihn weg, 
weil er ſeine Kunſt, bey allem darauf ge⸗ 
wendeten Fleiße nur zu Schanden arbeiten 
wuͤrde. 

Finden ſich aber ſolche Schwierigkeiten 
nicht; hat der Schriftſteller dem Tonkuͤnſt⸗ 
ler wenigſtens im Groben vorgearbeitet, und 
uͤbrigens ſeinem Stoffe nur die Geſchmei⸗ 
digkeit nicht geraubet; ſo wird er ſich un⸗ 
ter der Hand des Meiſters folgſam ſchmie⸗ 
gen. Der Tonkuͤnſtler wird Dichter fuͤr das 
Ohr, und legt Schoͤnheiten hinein, von de⸗ 
nen ſein vorarbeitender Handlanger nie eine 
Ahndung gehabt; und oft, weis er ſelbſt 
die handgreiflichſten Ungereimtheiten des 
Schriftſtellers ſich zu Nutz zu machen, und 
in Schoͤnheiten zu verwandeln, ſo, daß man 
es der Unſchicklichkeit des Dichters einiger⸗ 

maſ⸗ 


164 


maſſen Dank weis, weil wir ohne dieſelbe 
dieſe Schoͤnheiten haͤtten entbehren muͤſſen. 
Ich entwerfe hier kein Ideal der ſcherz⸗ 
haften Singſpiele: denn man ſieht wohl 
mit leichter Muͤhe ein: daß das Vergnuͤgen 
des Gehoͤrs die Geſetze der Wahrſcheinlich⸗ 
keit in dem Gedichte nicht ausſchloͤße; und 
daß es ganz keine Unmoͤglichkeit waͤre, das 
Laͤcheln der Vernunft, mit dem Entzuͤcken, 
ſo die Harmonie gewaͤhret, zu vereinbaren. 
Vielleicht, daß einſt ein italiaͤniſcher Dichter 
aufſteht, der dieſe Misgeburten des vater⸗ 
ländiſchen Witzes, durch feine Carikaturen 
in der Manier eines Ghezzi, verdraͤngt, und 
den beleidigten Verſtand mit der ſcherzhaf⸗ 
ten Muſe Italiens verſoͤhnet. 
Bis dahin iſticher nur die Tonkunſt, die in 
Buffen in Exwegung gezogen wird — Und dar⸗ 
aus laͤßt ſich die Erſcheinung ſehr natuͤrlich 
erklaͤren: wie man eben daſſelbe Muſikſtuͤck 
wohl zwainzigmal mit immer gleichem, oder 
we⸗ 


165 
wenigſtens immer lebhaftem Ergößen anſe⸗ 
hen, oder eigentlich hoͤren koͤnne, da man 
des beſten Schauſpiels, wie es bloß dekla⸗ 
mirt wird, nach einigen Wiederholungen, 
wenigſtens muͤde wird. | 

Das finnliche Vergnügen des Ohrs be 
ſteht in dem angenehmen Gefühle, welches 
die auf eine eigene Art durch das Beben. 
der Toͤne bewegte Luft auf die Gehoͤrwerk⸗ 
zeuge machet, deſſen Eindruck aber mit der 
Urſache ſelbſt, oder doch bald darauf ver⸗ 
ſchwindet. Dieſes Gefuͤhl erneuert ſich, ſo 
oft die Luft auf die naͤmliche Art beweget 
wird: und ſo, wie es unmoͤglich iſt, den 
Duft einer Roſe nicht zuempfinden, wann 
die Blume dem Werkzeuge des Geruchs ge⸗ 
nähert wird; eben fo muß die ergoͤtzende Kuͤ⸗ 
tzelung des Ohres unumgänglich erfolgen, 
ſobald die Inſtrumente erſchallen. f 

Die Einbildungskraft aber, hat nicht das 
Vermoͤgen, dieſe finnlichen Empfindungen 

zu⸗ 


zuruͤck zu rufen, wenn fie abweſend find. 
Vergebens denke ich mir die Roſe mit allen 
ihren Schoͤnheiten; ich ſehe zwar, wenigſtens 
einigermaſſen, ihr Bild; aber alle meine Be⸗ 
muͤhungen koͤnnen mir den Geruch dieſer Blu⸗ 
me nicht wiederſchaffen, wo ſie es nicht ſelbſt 
thut. Eben fo verhält ſichs mit den Toͤnen. 
Ich arbeite vergebens, die ganze Reihe der 
Harmonie in dem innerſten meiner Seele zu 
ordnen, und dasjenige wieder zu empfinden, 
was ich bey der Ausuͤbung der Muſik ſelbſt 
empfand. Alles, was ich durch eine tiefe 
Selbſtverſammlung erhalte, iſt eine Art von 
dem Körper der Töne, der aus dem Zeitmaſ⸗ 
fe und einigermaſſen aus den numeriſchenFort⸗ 
ſchreitungen und Verbindungen derſelben be⸗ 
ſteht, und zuletzt bey mir in einen Geſang ſelbſt 
ausbricht, deſſen Gefuͤhl gleichwohl nach 
dem Verhaͤltniſſe weniger entzuͤckend iſt, als 
meine Kehle von der Kehle der Saͤngerinn 
abſteht, und das Ganze der mirbegleitens 
den 


. 8 3 

den Harmonie mangelt; das iſt: ſoweit, als 
die Luft durch meine Ausuͤbung, gegen die 
andere, auf eine merkwuͤrdig abſtehende Art 
beweget wird. | 

Und auf diefer Unmöglichkeit, durch mei⸗ 
ne Einbildung mir das Vergnuͤgen zu er⸗ 
ſetzen, wie ich es bey bloß deklamirten Stuͤ⸗ 
cken, wenigſtens in einem weit hoͤheren Gra⸗ 
de bewerkſtelligen kann, gruͤndet ſich die Be⸗ 
gierde, die Muſikſtuͤcke oͤfters wiederholen 
zu hoͤren, woferne ich anfangs davon angenehm 
geruͤhret ward: faſt, wie ich eine Speiſe wie⸗ 
derverlange, deren Geſchmack meinen Gaum 
auf eine angenehme Art gekuͤtzelt hatte — 

Wie denn? verwebe ich mich doch gar in 
Metaphifik, ohne es gewahr zu werden! Ges 
ſchwinde, laſſen Sie mich den Faden abreißen, 
ohe ich ihn verwirre. 


Von dem Verleger. 
| Ich habe die zwey Schreiben unter der 
Aufſchrift: an den Perfaſſer der Briefe 
über 


168 


über die Wienerſchaubuͤhne, ſogleich beſtel⸗ 
len laſſen. Derjenige, durch deſſen Vermitte⸗ 
lung ich die Briefe des Fremden erhalte, brach⸗ 
te ſie mir uneroͤffnet zuruͤcke, mit der Ver⸗ 
ſicherung: daß ſein Freund nie ein Schreiben 
annehmen werde, weil er ſich nicht das Anſe⸗ 
hen eines Schriftſtellers zu geben verlange. 
Man glaubt ſich alſo verbunden, dieſes be⸗ 
kannt zu machen, und zu erinnern: daß in 
BinEunft Feine Zuſchriften angenommen 
werden. 


| 


Zehntes Stück. 


Zwoͤlftes Schreiben 


Wien: ben = 76 


. 


Die vortrefflichſten Stuͤcke, wenn 
dug fie die Ausübung nicht unterſtuͤ⸗ 
— get, fallen: und darinnen, find 
die deklamirten und geſungenen Schau⸗ 
ſpiele einerley Schickſale unterworfen. Die 
Schauſpieler haben alſo mit Recht ihren Theil 
von dem Beyfalle zu fodern, den die Vor— 
ſtellungen erhalten. Die waͤlſchen Saͤnger ſind 
zu dieſer Foderung ſo ſehr, als je irgend eine 
Truppe in der Welt berechtiget. Sie beſtehen 
hauptſaͤchlich aus vier Männern, und drey 
Frauen, deren jede fuͤr ſich, in Waͤlſchland ei⸗ 
ne Buͤhne aufrecht zu erhalten, im Stande 
waͤre: die übrigen find Flickſtuͤcke. 


M Cara: 


170 


Caratoli ift wenig Sänger mehr, aber 
deſto mehr Schauſpieler; und er weis ge⸗ 
wiſſermaſſen, den Geſang entbehrlich zu 
machen. Seine Rollen ſind die Alten. Im 
Viaggiatore ridicolo, und amore artig- 
Slano zeigte er ſich eigentlich in ſeiner wah⸗ 
ren Staͤrke. Sogarth duͤrfte beſtaͤndig vor 
der Buͤhne ſtehen, um die Stellungen die⸗ 
ſes Schauſpielers abzuzeichnen : er wuͤrde 
in jedem Stuͤcke eine Reihe der vortrefflich⸗ 
ſten Karikaturen ſammeln koͤnnen. Sein 
Geſicht beſonders iſt ausdruckvoll, wahr, 
wie die Natur ſelbſt; fein Spiel manigfaͤl⸗ 
tig, und wechſelnd; ſeine Einſicht groß — 
aber er verlaͤugnet dieſe Einſicht zu oft, um 
eines leichten Gelächters wegen, das nicht 
ſowohl der Beyfall, als die Ungereimtheit 
dem Zuſchauer abnöthiget. Ich habe ihn in 
der Notte critica, wo der Schauplatz ein 
uͤber und uͤber gruͤnender Garten iſt, wo 
die Magd und Tochter vom Hauſe ihre 
Lieb⸗ 


177 


Liebhaber bey Nachtzeit darinnen erwarten, 
wo alſo die Jahreszeit ſehr deutlich beſtim⸗ 
met iſt, da habe ich ihn in einem ungewend⸗ 
ten Pelze erſcheinen geſehen — Ich ſah ihn 
in einem andern Stuͤcke, das Kleid mit 
Kreuzerſpiegelchen ſtatt der Knöpfe auszieren: 
und uͤber haupt ſuchet er in feinen Anklei⸗ 
dungen immer das aͤußerſt Unſchickliche; 
eine Veſte, die laͤnger iſt, als der Rock, 
oder ſo etwas — Das moͤchte der brave Mann 
einem Binetti üherlaffen, der, mehr an die 
Poſſen der Gauklerbuͤhne gewoͤhnet, ſeine Zu⸗ 
flucht zu einem großen Haarbeutel, oder ei⸗ 
nem Tiſchtuche ſtatt eines Schnupftuches neh⸗ 
men, und ſich an dem Gelaͤchter des Poͤbels 
muß genügen laſſen. Caratoli koͤnnte ſol⸗ 
cher Armſeligkeiten entbehren, da er die 
Quelle des Scherzhaften und Laͤcherlichen in 
ſich ſelbſt faͤnde, und nicht erſt den Beyfall 
auf Koſten feines Verſtandes ſuchen dürfte 


M 2 So 


172 


So oft ich dieſen Schauſpieler, feines 
eignen Werths uneingedenk, ſich ſelbſt durch 
unpaſſende Albernheiten verwerfen ſah, ſag⸗ 
te ich bey mir von ihm, was Boileau 
einſt von Molieren fprach: 

Peut etre de ſon art eut il remporte 
le prix, 

Si moins ami du peuple, en fes doc- 
tes peintures 


il n' eut point fait ſouvent grimacer fes 
Faures — 


Laſchi ſucht nie auf Koſten der Natur 
das Haͤndeklatſchen des Parterrs. Er iſt ein 
Schauſpieler von großer Einſicht: ſeine Scher⸗ 
ze find fein, anpaſſend, nie herbeygeſchleppt, 
ſondern immer aus der Sache ſelbſt gefchöpfte 
ſein Anſtand iſt frey; er iſt — wenn ſich die 
beide Worte ja einiger maſſen vergeſellſchaften 
laſſen — ein edler Buffo. Er ſpielt noch 
die Liebhaber; aber man bemitleidet ihn uͤber 
den Verluſt einiger Saiten an ſeiner Stim⸗ 
me, der ihm zuweilen Mistoͤne abzwingt⸗ 
Man ſieht es an der Anſtrengung ſeines Ge⸗ 

ſichts, 


173 


ſichts, und den Blinken feiner Augen, wie 
ſehr er ſelbſt dieſen Verluſt fuͤhlet, den er 
durch Verwechslung der Toͤne, und Colo⸗ 
raturen zu erſetzen ſuchet. Seine koͤrperliche 
Ausuͤbung, und feine tiefen Kenntniſſe, ſowohl 
in der Schauſpielkunſt, als der Muſik, verſi⸗ 
chern ihm indeſſen noch itzt einen Platz unter 
den vortrefflichſten Theatralperſonen Italiens: 
und was das Ohr hey ſeinen Arien zuweilen 
leidet, daruͤber entſchaͤdiget er durch ſeine 
Recitative, worein er alle Wahrheit und 
Ausdruck zu legen weis. | 
Poggi hat eine ſehr volle, und dennoch ſehr 
angenehme Baßſtimme, die ihm nirgend 
verſagt. Er vereinbaret mit einem angeneh⸗ 
men, und richtigen Geſange ein ergoͤtzendes 
Spiel. Poggi iſt ein Liebling der Kenner, 
weil er ihnen in beiden, als Saͤnger und 
Schauſpieler, genug thut. Er uͤbertreibt 
nichts z und fo ſehr ich auch auf ihn gelau⸗ 
ert, ich habe ihn nie uͤber einer Unrichtig⸗ 
M3 keit 


174 


keit feſthalten koͤnnen. Er iſt beſtaͤndig in 
ſeiner Faſſung; und ſeine ungezwungene, nie 
uͤberladene Gebehrde ſcheint immer feiner 
Empfindung nur zu folgen. Der Alte im Ve⸗ 
chio geloſo war zwar ſeine Sache nicht. Ein 
geſunder, raſcher Mann wird zu ſehr aus ſei⸗ 
ner Stelle verſetzet, wann er einen gelenk⸗ 
loſen Abgelebten vorſtellen ſoll. Seine 
Hauptrollen ſind Bauern, die Vaͤter von 
mittlerem Alter, und auch Bediente. 

In der Contadina in corte, wo er den 
ehmaligen Liebhaber des nach Hof verſetzten 
Bauernmaͤdchens ſpielte, und die verſchiede⸗ 
nen Auftritte ihm Gelegenheit anboten, alle 
das Verſchlagene und Nädifche, und wieder 
das Bloͤde und Einfaͤltige ſeines Standes 
anzubringen, ward er von Kennern beſon⸗ 
ders geruͤhmet. | 

Im Marchefe villano war er der einzi⸗ 
ge der aus den Schranken des Scherzhaften 
nicht in das Poſſenhafte uͤbertrat; und er 

g ge⸗ 


175 

gefiel darum nicht weniger in der Per ſon des 

Dorfmagiſtrats — | 
In der Notte critica, wo er den einen 
Liebhaber der Magd als Bedienter vorſtell⸗ 
te, fand ich an ihm beynahe einen franzoͤſi⸗ 
ſchen Bedienten; die Unverſchaͤmtheit dieſer 
Purſche ausgenommen, die mir, ſeit dem ich 
in Deutſchland bin, anfängt zu widerſtehen. 
Caribaldi iſt der Affe des Caratoli, aber 
ohne ſeine Geſchicklichkeit zu beſitzen, und 
ohne die noͤthige Beurtheilung, worinnen er 
ſein Muſter eigentlich nachzuahmen habe. Er 
erhaſcht alſo gerade das jenige, was er fah⸗ 
ren laſſen ſoll, und welches eben darum leicht 
nachgeahmt werden kann, weil es ſchlecht iſt. 
So kopiren unſre Schauſpielerinnen in den 
Provinzen das Schnarren der Dumenil, und 
glauben ſelbſt Dumenils zu ſeyn. Cari⸗ 
baldi hat ſeinem Vorgaͤnger nur die Ueber⸗ 
ladungen abgelernet, und giebt das, was er 
gelehen, als eine verungluͤckte Kopie, ſchlecht 

M 4 wie⸗ 


wieder. Sein Spiel iſt gezwungen, und 
einfoͤrmig: der Schreiner im amore artig - 
glano, wie Georgino im Dorf markiſen; und 
der Bediente in der notte critica , wie 
der Schreiner. | 

Aber, der mittelmaͤſſige Schauſpieler hat 
eine Kehle, die entzuͤckt; eine Tenorſtimme, 
die etwas gewiſſes Ruͤhrendes, und Suͤſſes an 
fich hat, und darüber er fo ziemlich Meiſter iſt, 
um ihr an ſeinem Orte die ſchickliche Nachlaſ⸗ 
fung und Anfpannung zu geben, die im Geſange 
das Helldunkle ausmachet, und fo die Seele 
des Ausdrucks iſt, wie in der Deklamation 
die Modulation. Seine Uebergaͤnge und Co⸗ 
loraturen ſind verbunden und flieſſend, aber 
ohne Kunſt, nur die Tonleiter ſtuffenweiſe 
ablaufend, und immer dieſelben. Der Mu⸗ 
ſikſetzer, welcher von der angenehmen Stim⸗ 
me dieſes Saͤn gers Vortheil ziehen will, wird 
ſich, wie ich dafuͤr halte, ſehr in acht nehmen, 
für ihn anders, als Andante zu ſchreiben. 
| Ueber 


| 177 

Ueber die Frauensperſonen ſind die Stim⸗ 
men getheilt: die Auffuͤhrung der Contadi- 
na in corte war ein merkwuͤrdiger Zeit⸗ 
punkt, der die eine Haͤlfte der Stadt gegen 
die andere empoͤrte. Ich will Ihnen dieſe 
fuͤr das Wienertheater unvergeßliche Epoche 
mit den Worten einer Handſchrift herſe⸗ 
tzen, aus der ich noch eigentlich nicht klug 
werden kann, ob ſie Satire oder Ernſt iſt; 
die aber wenigſtens einen ſehr freymuͤthigen 
Mann zum Verfaſſer haben muß — Er vers 
birgt ſich hinter die Perſon eines alten Man⸗ 
nes, ruͤhmet ſich ſeiner Unpartheylichkeit, 
weil unter dem Schnee ſeiner Haare 
fein Serz gegen den Brand ſicher ſeyn 
kann, den die Blicke einer jungen Schau⸗ 
ſpielerinn ſonſt darinnen anlegen düͤrf⸗ 
ten — und, um von ſeiner Unbeſtechlichkeit ei⸗ 
nen kleinen Beweis zu geben, erzaͤhlet er: 
„ In der letzten, denkwuͤrdigen Spaltung, 
„ da Galerie und Logen ſich in Gibellin⸗ 
MS nen 


175 


„ nen und Guelphen ſoͤnderten, und die 
„ ſtreitenden Theile ſogar das Laͤrmen der 
„ kleinen Galerie zu Huͤlfe ruften: damals 
„ als amore artiggiano und contadina in 
„corte ſich Bühne und Beyfall ſtreitig 
„ machten; da die Hand des Einen gegen 
„ alle, und aller Hände gegen Einen auf 
„gehoben waren, wenn das abgefoderte 
„Loſfungswort nicht Sandrina und Muͤn⸗ 
„chen lautete; damals war ich — weder 
„ Bibellinn noch Guelph — ſondern hielt, 
„fo ſchlau als Wielands Schiedrichter 
„ am Ida, den Apfel immer in meiner Hand, 
„Und itzt, wenn die redende Gebehrde, und 
„die naife Schalkheit der einen, Aug 
„ und Empfindung ergößte, neigte ich mich 
e, gegen fie, und vergab ihr gerne, wenn 
„ die Lebhaftigkeit der Handlung fie um ein 
5 Achttheil des Tones hoͤher oder niedriger 
„ ſtimmte, oder fie über! das Zeitmaß zu 
5 ſchnell fortriß — und itzt neigte ich mich 
ge⸗ 


179 


— 


„gegen die, ward nur Ohr, und druͤckte die 
„Augen feſt zu, um durch die nach dem 
„ Takte abgezirkelten Armſchwingungen der 
„einen — oder die ſchlaͤfrige Unbeugſamkeit, 
„ und das verdrußvolle Kopfwinden der an⸗ 
„dern mein Vergnuͤgen nicht ſtoͤhren zu 
„ laſſen — Der gute Alte hat wirklich 
das Geſicht nicht fo blöde * als er uns ans 
ſchwaͤrzen will! denn er bezeichnet die Saͤn⸗ 
gerinnen, daß man ſie nicht leicht verkennen 
wird. g | Sn 
Sandrina war die Rolle, in welcher 
Madam Bernas koni auf der hieſigen Schau⸗ 
bühne auftrat. Die Anhänger der beiden 
andern Saͤngerinnen machten gegen ſie eine 
Kabale. Die Schauſpielerinn gieng zitternd 
auf die Buͤhne. Aber das Publikum ergriff 
die Parthey einer Perſon, die nach der Hand 
die⸗ 

*Die Handſchrift / aus welcher der Ausländer hier 
ein Stück lanfuͤhrt / if mir unbekannt. Ich 
war verſucht? / die Stelle hinweg zu laſſen: "als 
lein es war nicht wohl moͤglich / ohne den ganzen 


Zuſammenhang des Schreibens zu verſtuͤmmeln 
Der Meberſetzer. | 


180 


dieſe voreilige Partheylichkeit rechtfertigte. 


Man gieng damit bis zur Ungezogenheit: man 
machte die aͤrmſte Sandrina beynahe jede Arie 
wiederholen, und ihre Gegner boͤrſten — 
Hoͤrte man die einen; ſo war Bernaskoni 

eine elende Anfaͤngerinn. Sprach man mit 
einem bernaskoniſchen Zeloten; ſo waren 
Eberardi und Clementina unausſtehlich — 
Aber ein Mann, der wie der Alte, mit 
kaltem Blute einen Zuſch auer abgab, ſah, 
daß man auf beiden Seiten mit der Verach⸗ 
tung, und Vergoͤtterung zu weit gieng. Iſt 
es denn eine ausſchluͤſſende Sache um das 
Talent? und iſt es unmoglich, drey 
Sängerinnen zu vereinbaren, deren jede Ei 
genſchaften beſitzt, die fie ſchaͤtzbar machen? 
Gewoͤhnlicher Weiſe ſind zwar drey Saͤn⸗ 
gerinnen von ſolchem Talente nicht in einer 
Truppe anzutreffen: aber die neue Unterneh⸗ 
mung thut in allen Stuͤcken das Ungewoͤhnli⸗ 


che, und ich möchte bald ſagen, das Unmoͤgliche. 


Ma⸗ 


BE Ä 

Madam Bernaskoni kennen Sie aus 
der Alceſte: ſie iſt, wie einige fodern, im 
Scherzhaften noch vortrefflicher. Ihr An⸗ 
ſtand aber ſcheint dem Niedrigen zu wi⸗ 
derſprechen: die Mittelcharaktere, die Naifen 
Rollen, und das, nicht Buffe, ſondern uͤber⸗ 
ladene Romiſche hoͤchſtens, find für fie. Ihre 
Bereitwilligkeit, das Publikum durch ihre 
Talente zu verbinden, haben ſie zur Guͤnſt⸗ 
linginn Wiens gemacht. 

Und vielleicht iſt das Gegentheil daran 
Schuld, daß man Madam Clementinen 
nicht nach ihrem Werthe ſchaͤtzet. Die 
Stimme dieſer Saͤngerinn iſt Silber⸗ 
klang, ſo gelaͤufig, als man es nur fodern 
kann, und ſchoͤn verflöffet: fie ſingt nicht 
verwegen, aber richtig. Ihre Gebehrde iſt 
anſtaͤndig, frey, edel. — Aber was nis 
tzen dieſe Gaben, wenn eine in die Augen 
fallende Verdroſſenheit davon keinen Ge⸗ 
brauch machet! fie ſpielte ſehr oft mit ſo 

we⸗ 


282 


— — — 


weniger Mühe, mit ſo ſichtbarer Vernachlaͤſ⸗ 
ſigung, als erwieſe ſie dem Publikum eine 
Gnade. Und ſo denkt das Publikum nicht. 
Eine Frauensperſon kann zwar gegen die 
Männer ſich ein wenig hoch tragen: aber 
das Publikum hat kein Geſchlecht: es 
ſieht in der Saͤngerinn nicht die Frauens⸗ 
perſon; es ſieht nur die Saͤngerinn, welche 
zu ſeinem Vergnügen gemiethet iſt. 

Mamſel Eberavdi hat einen angenehmen 
Contraalt, welche Stimme ſelten iſt. Als 
Saͤngerinn muß fie jedermann gefallen. 
Ihr Triller ſchlaͤgt zwar ein wenig 
in einen Sitterſchlag (Tremulanten) um; 
und wenn das Tempo ſehr geſchwinde ge⸗ 
nommen wird, faͤllt ihr das Folgen ſchwer: 
indeſſen hoͤret man fie immer mit Vergnuͤ⸗ 
gen — Aber, wie der Alte ſprach: ihrs 
Armſchwingungen ſind einfoͤrmig, und ge⸗ 
zirkelt: fie läßt die Natur über dem Ger 
kuͤnſtelten fahren; und wird ſteif und ge⸗ 

5 zwun⸗ 


183 


zwungen „indem ſie die regelmaͤſſige Gebehr⸗ 
de zu muͤhſam auffucht. 

Auch ſonſt eine Erinnerung wuͤrde dem 
guten Mädchen heilſam ſeyn: und die moͤch⸗ 
te ſie allenfalls mit Clementinen theilen! 
Sobald fie ihre Arie abgeſungen, oder ihre 
Worte hergeſagt hat, iſt ſie nicht mehr auf 
der Buͤhne. Das iſt ſehr der Fehler der 
waͤlſchen Saͤngerinnen und Taͤnzerinnenz und 
die Maͤdchen wiſſen nicht, wie viel ihnen 
dieſe Zerſtreuungen Schaden bringen. Es 
iſt nicht moͤglich, daß ihre Handlung jemal 
den Grad der Hitze und Lebhaftigkeit errei⸗ 
che, der ihr den kaͤuſchenden Schein der 
Wahrheit ertheilt, und dem Zuſchauer Be⸗ 
wunderung und Beyfall entreißt. Sie laſ⸗ 
fen einer Leidenſchaft, die fie alle Augenblicke 
unterbrechen, nie Zeit, zu reifen, und auf 
ihrem Geſichte, in ihren Gebehrden 
diejenigen Veraͤnderungen hervorzubringen, 
die, wie bey den wahrſagenden Prieſterin⸗ 

hen, 


184 i 
. 2 2 


nen, die ſichtbaren Merkmale der Begeiſte⸗ 
rung eines Gottes ſind: und ſie ſpielen 
daher immer nur, da ſie handeln, mit eigner 
Empfindung handeln ſollten. 

Ich moͤchte doch — dachte ich immer, 
wenn ich die Maͤdchen unter dem Schnupf⸗ 
tuche fliſtern und einander auf der Buͤhne, 
ohne Scheu vor dem Blicke des Zuſchauers 
Sachen erzaͤhlen ſah, die ihre Stirnen ent⸗ 
falteten, und auf ein Geſicht, das die Trau⸗ 
rigkeit umwoͤlken ſollte, das Laͤcheln der 
Schaͤckerey verpflanzten — ich möchte doch 
wiſſen, ob ſie ſich dieſe Dinge nicht eine 
Viertelſtunde vorher erzählen konnten? 


Eilftes Stück. 


Wien: den 13. d 
1768. 


Ich uͤberſehe meine vorhergehenden 
55 Briefe, und da finde ich noch viel 
nachzutragen, wenn meine Nach⸗ 

5 kichten ein wenig vollſtaͤndig ſeyn ſollen. 

In Destouchens Geſpenſte mit der 
Trommel ſpielten ein neuer Schauſpieler 
und Schauſpielerinn ihre Proberollen. Die 
Frau machte die vermeinte Wittib; und 
der Mann den Pedanten mit dreyen Urſa⸗ 


chen — 


„Ich finde die Gewohnheit mit den Pro» 


berollen aller Orten aͤußerſt ungereimt und 
widerſinnig. Eine Perſon, die fiir die Ver 
trauten, oder ſonſt die kleinen Rollen ange⸗ 
nommen iſt, hat an dieſem Tage das Recht, 
die Prinzeſſinn, die Hauptperſon des Stüs 
1 N ckes 


* 


186 


ckes zu ſpielen. Es ift kein Wunder, wenn 
ſie ſich in ihre Stelle ſo wenig zu finden 
weis, als Ninette bey Hof in den 
Reifrock. Die ganze Beſtimmung der 
Proberollen wird durch dieſen Misbrauch 
vereitelt. Die Unternehmung ſollte ſehen, wo⸗ 
zu ihr die neue Schauſpielerinn brauchbar 
ſeyn koͤnnte: das Publikum ſollte urtheilen⸗ 
ob es mit ihr zufrieden ſeyn wuͤrde — Sie 
ſpielt die Baroninn erbaͤrmlich: was folgt 
daraus? wann man eine Kuͤchemagd anneh⸗ 
men will; laͤßt man ſie verſuchen, ob ſie die 
Ehren des Hauſes mit Anſtand zu machen 
wiſſe? natuͤrlich weis ſie das nicht, und 
immer noch kann ſie eine recht vortreffliche 
Kuͤchemagd ſeyn — : 

Die Rolle des Verwalters ift auch 
keine Taͤndelrolle. Vielleicht haben die deut⸗ 
ſchen Pedanten einen ſo ſeltſamen Juſchnitt: 
ich weis es nicht: aber ich weis, daß ſie 
auf dieſem Fuſſe ſtatt des Gelaͤchters, Uns 

! wil⸗ 


187 


willen erweckten, und wie alle ekelhaften Ge⸗ 
genſtaͤnde, keine Originale zur Nachſchilderung 
waͤren. Anfangs zwang ſich der Mann ein 
wenig, ſeine Kniee unter ſich wanken zu laſ⸗ 
ſeu; aber er war der Verſtellung bald. müde, 
und trat ſteif und ruͤſtig auf ſeine Beine, 
wobey Frau Salome wenigſtens, ihre Rech⸗ 
nung beſſer finden wird — und was fragt er 
nach dem Author, der ſchon lange im Gra⸗ 
be modert! 

Die trunkenen Auftritte fallen auf den 
deutſchen Schaubuͤhnen immer am natuͤrlich⸗ 
ſten aus: und dem Schauſpieler, der Lie⸗ 
golden machte, ließ die Trommel recht fo 
als einem, der fuͤr ſie geſchaffen iſt — Die⸗ 
ſes Stuͤck, deſſen ganzer Gang auf eine 
alte Weiberſage gebaut, und auch noch in der 
franzoͤſiſchen Aufſtuͤtzung bis auf einige ein⸗ 
zelnen, mehr poflierlichen als ſcherzhaften Auf⸗ 
gritte froſtig iſt, möchte immer zur ewigen 
Ruhe beygelegt werden — | 

N 2 Die 


188 


Die ſtumme Schoͤnheit iſt ein deutſches 
Original in Reimen, von Schlegeln, die⸗ 
ſem nur aufbluͤhenden Theatralgenie, uͤber 
deſſen zu fruͤhen Tod die Deutſchen gerechte 
Klagen ausſtoſſen, ſo oft die Unvollkom⸗ 
menheit der Schaubuͤhne bey ihnen geruͤgt 
wird. Ich ſah es mit einigem Vergnuͤgen 
aufführen; aber in einer Hauptſtadt iſt alle 
Satire dieſes Stuͤcks verloren: die Sitten, 
die Perſonen find fo kleinſtaͤdtiſch, ſo buͤr⸗ 
gerlich, und noch dazu ſehr auslaͤndiſch; 
denn der Verfaſſer ſchrieb es für die daͤni⸗ 
ſche Bühne — Für die reiſenden Gefelk 
ſchaften, die oft unterwegs in offenen Land⸗ 
ſtaͤdtchen abtreten muͤſſen, möchte die ſtum⸗ 
me Schoͤnheit ein Schatz ſeyn : denn auf 
dieſen Plaͤtzen ſind das ſchoͤne Dratpuͤppchen, 
und eine Praatgern in ihren Kreiſen. 

Ein Dratpuppe muß Charlotte ſeyn! aber 
nicht nur eine Dratpuppe; auch ſonſt ein 
unbehuͤlflich Ding, das alles anſtaunt, was 

| | fe 


189 i 

—— —̃ ' ——.. — 

ſie ſieht, das, ſobald ſie eine fremde Per⸗ 
ſon ſieht, die Sprache verliert, und ganz 
aus ihrer Faſſung iſt — Der Verfaſſer hat 
auch ein ſtarke Doſis von Dummheit mit zu⸗ 
gemiſcht — ein Maͤdchen, das auf alle An⸗ 
trage ihres Braͤutigams weiter nichts als: 
ſo? — und auf die Frage: ob fie die 
Seinige werden wolle? — warum nicht? 
antwortet: die ihrem Vater, welchen ſie das 
erſtemal in ihrem Leben zu Geſichte be⸗ 
koͤmmt, und wie man daͤchte, ſchuͤchtern an⸗ 
ſtarren ſollte, mit einem Spiele Karten ent⸗ 
gegen koͤmmt — wirklich das Mädchen iſt 
noch duͤmmer als ſtumm. 

Gleichwohl ſcheint es, der Dichter habe 
den Charakter Charlottens hauptfaͤchlich 
nicht eben dumm anlegen wollen; und feine 
Abſicht waͤre nur geweſen, das Steife einer 
Erziehung durchzumuſtern, wo eine Praatgern 
alles glaubt gethan zu haben, wenn das 
Maͤdchen ſich ein wenig zu putzen, die Fuͤſ⸗ 

N 3, ſe 


190 


fe nach der Vorſchrift des Tanzmeiſters in 
die dritte Stellung zu ſetzen, und zum Ue⸗ 
berfluß, Quadrille zu ſpielen weis — Frey⸗ 
lich iſt das nicht alles; und Eleonore in 
der Abſtechung ſoll beweiſen: daß ein Maͤd⸗ 
chen, das Romanen lieſt, und ſogar Komoͤ⸗ 
dien ſteht, ohne dieſe Schraubereyen gerade 
am artigſten wird — Das glaubt man dem 
Dichter auf das erſte Wort: aber wo giebt 
es die Praatgernen mit ſolchen Grund⸗ 
ſaͤtzen? Wo? — wer weis, ob man in 
Deutſchland die Frage zweymal thun darf, 
ohne daß uns die Antwort von mehr denn 
einer Seite entgegen ſchallet: Hier! 

Wie ſoll ſich alſo eine Schauſpielerinn 
anlaſſen, um Charlotten nach der Abſicht 
des Dichters als ein Mittelding zu zeigen? 
Sie ſoll, daͤchte ich, wenn fie allein, oder 
mit ihrem Maͤdchen iſt, eine andre Praat⸗ 
gern ſeyn — denn das iſt doch das Mu⸗ 
ſter, das fie täglich vor ſich ſieht — fie ſoll 

ſchwaͤ⸗ 


191 
ſchwaͤtzen! ungezogen ſeyn! aber kaum 
koͤmmt ein Dritter dazu; da ſoll ſie ſich ge⸗ 
ſchwinde in ihre Falten ziehen! da ſoll in 
Verlegenheit gerathen — da ſoll fie die Worte 
nicht nur ſchleppen; ſondern gar keine zu 
finden ſcheinen! — 

Ein Auftritt, wo Eleonore ſich hinter 
Lottchens Stuhl ſtecken, und ihr die Un⸗ 
terredung mit ihrem Braͤutigam zufliſtern 
muß, iſt wirklich aus dem niedrigſten Fache 
des Komiſchen — Doch Schlegel hat khn 
gut genuͤtzt, und beynahe als nothwendig ver⸗ 
flochten: praatgern hatte ihre, Urſachen, 
Eleonoren immer weit hinweg zuſchaffen; 
das blieb alſo dem Dichter als das einzige 
Mittel uͤbrig, ſie dem Braͤutigam gleichwohl 
zu Geſichte zu bringen. Es geht gluͤcklich von 
ſtatten — und das Stuͤck endet ſich durch 
Huͤlfe eines epiſodiſchen Lakonius, der oh⸗ 
ne alle Urſache, als um dem Dichter zu 
Huͤlfe zu kommen, da iſt. Durch ihn wird 

N 4 die 


die Betruͤgerey Praatgerns mit Unterſchie⸗ 
bung ihrer Tochter, entdeckt — Das uͤbrige 
errathen Sie; denn das Stuͤck nimmt den 
Weg aller Stuͤcke — bis an ein gluͤckliches 
Ende: wo Eleonoren Charlottens Beſtimm⸗ 
ter zu Theil wird, und Frau Praatgerns 
Tochter mit unter zu einem Manne koͤmmt, 
der es ihr zum Verdienſte anrechnet: daß 
ſie nicht ſpricht. | 


Vierzehntes Schreiben. 


Wien den 13. Maͤrz 1768. 


Corfaires attaquant corſaĩres, 
Ne font par leurs affaires: 


ſagt Deſpreaux nach feinem Vorgaͤnger 
Kegnier. Vielleicht ſollte ich es nachſpre⸗ 
chen, und die Winna von Barnhelm oder 
das Soldatengluͤck nur obenhin mit einem 
kobſpruche abfertigen, damit der Verfaſſer 
dieſes Stuͤckes, einer der vortrefflichſten 
deutſchen Kunſtrichter, wenn ihm einſt mei⸗ 
ne Briefe zu Geſichte kommen, gegen mich 
glei⸗ 


103 


gleiche Gefaͤlligkeit ausuͤbe. Aber der Mann 
verdient ein wenig mehr als einen obenhin⸗ 
fahrenden Lobſpruch Die deutſchen Theatral⸗ 
dichter möchten immer lieber feine Minna, 
als unſre franzoͤſiſchen Stuͤcke ſtudieren! — 
Eeſſing hat in der Geſchichte der deutſchen 
Literatur von mehr als einer Seite einen 
berühmten Namen — beſondeks aber hat er 
die Schaubuͤhne mit feinen Kritiken“ und 
ſechs ſchoͤnen Luſtſpielen bereichert. So ei⸗ 
nem Manne mag ſeine Freymuͤthigkeit in 
Beurtheilung andrer gerne hingehen: denn 
Let fuch teach others, who themfel- 


N Ves excel, 
And cenfure freely, who have writ- 
ten well“ 
N 7 Die 


* eſſing ſchrieb eine theatraliſche Biblio- 
thek / und haͤlt gegenwaͤrtig uͤber die Hamburger 
Schaubuͤhne eine Dramaturgie / worauf der 

Franzoſe mit dem Eingange dieſes Schreibens 

15 anzuspielen ſcheint. Der Ueber ſetzer. 

Die moͤgen andere unterrichten / die ſelbſt) vor⸗ 
trefflich ſind! und die moͤgen freymuͤthig Bi 
beurtheilen / welche felbfi wohl zu ſchreiben wiſſen⸗ 
Pops — Der Ueberſetzer. 


194 
mn mes annanamLeL LEE emo menennSBretme nenn 


Die Veranlaſſung des Stuͤckes iſt die edel⸗ 
muͤthige Handlung eines menſchenfreundli⸗ 
chen Offiziers, welche ein eben fo edelgeſinn⸗ 
tes Maͤdchen durch ihr Herz und Hand zu 
belohnen, dem Vorſatz gefaßt hat. Man 
ſagt: die Begebenheit habe ſich wirklich er⸗ 
eignet: und dann war ſie wuͤrdig, durch ein 
glückliches Genie auf die Buͤhne gebracht, 
und durch alle Reize der Dichtkunſt zur 
Nachahmung empfohlen zu werden. 
Tellheim, ein Major in preußiſchen Dien⸗ 
ſten, hatte von den Ständen eines fächfichen 
Kreiſes, bey denen er die Kriegsſchaͤtzung 
eintreiben ſollte, in Betrachtung ihres Un⸗ 
vermoͤgens die kleinſte Summe, auf die er 
ſich, vermoͤg Befehl nur einlaſſen konnte, an⸗ 
genommen, und ihnen ſogar dieſe Summe 
aus dem Eigenen vorgeſchoſſen. Sie gaben 
ihm uͤber dieſen Vorſchuß einen Wechſel. 
Minna von Barnhelm, ein ſehr reiches 
Fraͤulein derſelben Gegend, von einer ſo groß⸗ 
muͤthi⸗ 


195 


muͤthigen That eingenommen, ſuchte den 
Major, wie ſie ſelbſt ſagt, auf, des Vorſa⸗ 
tzes, ihn zu lieben. Sie war ſeiner wuͤrdig, 
und ſie verſprachen ſich. Es ward Friede. 
Tellheim ließ ſeinen Wechſel unter die 
Schulden verzeichnen, welche bey dem Frie⸗ 
den ratihabirt werden ſollten. Feinde die⸗ 
ſes wakern Mannes ergriffen die Gelegenheit, 
ihn dadurch bey dem Koͤnige verdaͤchtig zu 
machen, und dieſen Schuldſchein fuͤr eine 
Beſtechung der Staͤnde anzugeben, welche 
er darum ſo leichten Kaufs haͤtte durchkom⸗ 
men laſſen. Die Unterſuchung hieng: und 
wie es gemeiniglich geſchieht, waͤhrend der⸗ 
ſelben geraͤth der Offizier in die elendſten 
Umſtaͤnde. 
Von dieſem Zeitpunkte hebt Leſſing fein 
Stuͤck an. Tellheim iſt in einem Gaſthau⸗ 
ſe, wo ihn der Wirth nicht gerne mehr be⸗ 
halten will, weil er ihn fuͤr geldlos haͤlt. 
Es koͤmmt eine Standsperſon, in eben dies 
ſem 


1096 
ſem Gaſthauſe zu wohnen: das giebt dem 
Wirthe eine willkommene Gelegenheit, den 
Major einſtweilig in ein Hinterzimmer zu 
ſchaffen. Dieſe Standsperſon iſt das Fraͤu⸗ 
lein Barnhelm, mit ihrem Maͤdchen Fran⸗ 
ziska. Der Schriftſteller laͤßt uns das durch 
den gluͤcklichſten Einfall von der Welt wif 
fen. Der Wirth bittet fie nämlich um ihren 
Namen, Verrichtung u. ſ. w., um dieſes, nach 
der Orts Gewohnheit, der Polizey einzuſen⸗ 
den, die alle Ankoͤmmlinge kennen will. 
Tellheim hatte ſich gendthiget geſehen, den 
Verloͤbnißring der Minna, als ſeinen letz⸗ 
ten Schatz, an den Wirth zu verpfaͤnden: 
darauf war Winnens Namen. Dieſer Ring, 
um deſſen Werth der mistrauiſche Mann 
ſich bey dem Fraulein erkundiget, giebt Ge⸗ 
legenheit, daß Minna ihren Tellheim findet, 
den ſte eigends, aufzuſuchen, gekommen war. 
Sie loͤſt den Ring heimlich an ſich — Tells 
heim will aus einer groſſen Niedlichkeit, wie 


ich fagen möchte , Winnen nicht ehlichen. 
Sie hatte einen blühenden Manne, einem 
Manne von Hoffnung und Ausſicht, einem 
gefunden Manne ihre Hand geboten: er ſey 
das nun nicht mehr: er habe ſeinen Rang, 
ſein Vermoͤgen verloren, ſey ein Kruͤppel, 
ein Bettler — Minna will ihn dennoch, die⸗ 
ſen lieben Bettler — Aber Tellheim iſt zu 
rechtſchaffen, ein verliebtes Maͤdchen in dem 
Anfalle ihrer Liebe eine Thorheit begehen zu 
laſſen, die ſie, nach der Wallung noth⸗ 
wendig gereuen muͤſſe. Minna, um dieſe 
Hartnaͤckigkeit zu uͤberwinden, verfällt auf die 
Lift; ſich gleichfalls erarmet zuſtellen: dieſes, 
giebt ſie vor, waͤre ſie um ſeiner Liebe wegen 
geworden, und ihr Oheim der fie enterbet hätte, 
waͤre ihr Verfolger — Nun ſind wir gleich — 
ruft Tellheim — und bitt fie um ihre Hand. 

An ſeiner Stelle ſpielt nun das Maͤdchen 
die Starrkoͤpfinn, giebt ihm alle feine Gruͤn⸗ 
de wieder zuruͤcke, und da eben ein Hand⸗ 

ſchrei⸗ 


198 


ſchreiben vom Koͤnige ſeine Unſchuld erklaͤrt, 
und ihm Befoͤrderung anbiet; ſo ergreift ſie 
Gelegenheit, ihn mehr noch zu necken. Der 
Bettler, ſagt fie, hatte die reiche Barnhelm 
nicht haben wollen: der Oberſte Tellheim 
muͤſſe ſich eben ſo wenig mit einem armen 
Maͤdchen beladen. Sie giebt ihm ſogar den 
Ring zuruͤcke — aher den, ſo ſie vom Wirthe 
an ſich geloͤſt hatte — Nun geraͤth er in Ver⸗ 
zweiflung: will das koͤnigliche Handſchreiben 
zerreißen — Aber mitten unter dieſem Zaͤnke⸗ 
reyen koͤmmt Graf Bruchſall, ihr Oheim, und, 
wie Tellheim dafuͤr haͤlt, ihr Verfolger. Nun 
vergißt der Liebhaber alle Zaͤnkerey, und 
denkt nur, feine Minna gegen Bruchſallen 
zu ſchuͤtzen — Sie erklaͤrt ihm ihre Erdich⸗ 
tung — der King? — er ſoll ihn anſehen! 
es iſt nicht, wie er glaubte, der, welchen 
er Minnen gegeben: es iſt der ihrige — 
Bruchſall vereiniget fie nun nach ihrem 
Wunſche — 
Das 


Das ift der Hauptgang des Stuͤckes, 
worein Werner, ehmaliger Wachtmeiſter 
Tellheime, der aber nun abgedankt hat, ein 
kleines Guͤtchen beſitzt, und des Majors red⸗ 
licher Freund iſt, auf eine unnachahmliche 
Art mit verwebet worden. Dieſer Mann hat 
kein Geld, als zu des Majors Dienſten: 
es ſchmerzet ihn, daß Tellheim ſich deſſelben 
nicht bedienen will: er ſucht es ihm, ſogar 
durch Luͤgen als fein eignes aufzudringen — 
und da ihm dieſes nicht gelingt; ſo weis er 
Gründe aufzuſuchen, die unwiderſtehlich find" 
„Man muß nicht reicher ſcheinen wollen, als 
man iſt — ſpricht Tellheim 

Werner. Aber warum Armer? wir haben 
ſo lange unſer Freund hat — 

Tellheim. Es ziemt ſich nicht, daß ich 
dein Schuldner bin! 

Werner. Siemtifich nicht? — Wenn an eis 
nem heißen Tage, den uns die Sonne und 
der Feind heiß machte, ſich ihr Reitknecht 

mit 


mit den Kantinen verloren hatte; und Sie zu mie 
kommen und ſagten: Werner! haſt du nichts 
zu trinken? und ich Ihnen meine Flaſche reich⸗ 
fe: nicht wahr; Sie nahmen und tranken? — 
Ziemte ſich das? — Ben meiner armen Seele / 
wenn ein Trunk faules Waſſer damals nicht oft mehr 
werth / war als alle der Quark (auf das Geld 
zeigend) Nehmen Sie lieber Major: bilden Sie 
ſich ein; es iſt Waſſer! auch das hat Gott für 
alle geſchaffen— N RE 

Dellheim. Du marterſt mich; du hoͤrſt ich will 
dein Schuldner nicht ſeyn. i 

Werner. Erſt ziemte ſichs nicht: nun mollen Sie 
nicht! ja das iſt was anders. Sie mollen mein 
Schuldner nicht ſeyn; wenn Sie es aber ſchon waͤren / 
Herr Major? oder find Sie dem Manne nichts 
ſchuldig / der einmal den Hieb auffeng, der Ihnen 
den Kopf ſpalten ſollte / und ein andermal den Arm 
vom Rumpfe hieb / der eben losdrͤcken / und Ihnen 
die Kugel durch die Bruſt jagen wollte? — Was 
konnen Sie dieſem Manne mehr ſchuldig werden? 
oder hat es mit meinem Halſe weniger zu ſagen als 
mit meinem Beutel? — Noch eührender aber / und 
ich muß geſtehen / daß mir dabey die Thraͤnen in 
die Augen traten — 2 

Werner. Wenn ich manchmal dachte: wie wird 
es mit dir aufs Alter wer den? wenn du zu Schanden 
gehauen biſt? wenn du nichts haben wirſt? wenn 
du wirſt betteln gehen müſſen? — fo dachte ich 
wieder; nein! du wirſt nicht betteln gehen / du wirft 
zum Major Tellheim gehen / der wird ſe nen letzten 
Pfenning mit dir theilenz der wird dich zu tode füttern; 
bey dem wirſt du als ein ehrlicher Kerl ſterben koͤnnen⸗ 

Tellheim. Und Kamerad das denkſt du nicht noch? 

Werner. Nein! das denke ich nicht mehr — 
Wer von mir nichts nehmen will / wann ers bedarf / 
und ichs habe / der wil mir auch nichts geben / 
wann ers hat / und ichs bedarf — 

Abſchreiben iſt immer eine undankbare Arbeit: bey 
elendem Zeuge wird man verdruͤßlich; und gute 
Stuͤcke verdienen ganz geleſen zu werden. Ich lege 
die Minna für itzt aus der Hand! mit dem Vor⸗ 
ſatze / fie im nuͤchſten Schreiben wieder vorzunehmen — 


Swölktes Stück. 


2 Funfzehn tes Schreiben. zZ 


Wien den 18. Maͤrz 1763. 


42 
100 Ohne Zweifel haben Sie Wernern 
9 558 ſchon ſehr lieb gewonnen; es 

1 wird Ihnen mit jedem Charak⸗ 
tere alſo ergehen, ſo rechtſchaffen hat ſie der 

Verfaſſer ſaͤmmtlich anzulegen gewußtz den eine 
zigen Wirth ausgenommen, dem er alle die 

gewinnſuͤchtige Geſchmeidigkeit ſeines Hand⸗ 

werkes beygelaſſen hat. 

Kechtſchaffen iſt jede der handelnden Per⸗ 
ſonen, ohne daß jedoch daraus eine lang⸗ 
weilige Einfoͤrmigkeit ihrer Handlungen ent⸗ 
ſpringt. Aber fo etwas iſt nur Genieen ers 
laubt. Der Troß von deutſchen Komoͤdien⸗ 
ſchreibern, weis den Gang feiner Stuͤcke nicht 
lebhaft, und ſeine Zuſchauer nicht wache zu 
erhalten, wenn er nicht dem Kechtſchaffenen 
einen Schurken, der Kokette eine Sproͤde, 

O den 


282 


dem Seheimnißvollen einen Glock“ entge⸗ 
gen ſtellet. Gemaͤchlicher iſt es freylich 
auf eine ſolche Art, und ihre Koͤpfe kommen 
uber dem Anſtrengen wenigſtens nicht zu 
Schaden: aber es iſt auch abgenuͤtzt, ein 
Alltags kunſtgriff und ruhmlos. 

Aefjing hat die Abſtechung feiner Perſo⸗ 
nen aus den Verfloͤſſungen ihrer Charaktere 
heraus zu holen gewaget. Der Kontraſt 
liegt in der Art, wie die Redlichkeit bey jer 
dem ausbricht; und dieſe Art wird durch die, 
wenn ich ſo ſagen darf, charakteriſchen Ne⸗ 
benfehler der Perſonen beſtimmet, welche 
der Verfaſſer jedem nicht nur beygelaſſen, 
ſondern ſtark ins Spiel gebracht, und da⸗ 
durch die Mannigfaͤltigkeit, den unentbehr⸗ 
lichen Kontrapoſt bewirket hat. 

Joſt iſt Bedienter; naif, auf eine grobe 
Art, der auch über dem dritten Glaͤßchen 


f Dan⸗ 

* Ich vermuthe / der Franzoſe habe hier nur die 

Antitheſe perfönlich geben / nicht den Ver⸗ 

faſſer des Geheimnißvollen zum Troſſe zahlen wol⸗ 
len. Der Ueber. 


203 


Danziger nicht heuchelt, und dem Manne, 
der feinem Herrn das Zimmer in feiner Abe 
wefenheit geraͤumet hat, immer ins Geſicht 
ſagt: er iſt doch ein Grobian, err Wirth! 
der, um ſeinen Herren, an dieſem groben 
Wirthe zu raͤchen, ihm ſein Tochter zur 
H. machen das Saus hber dem Kopfe 
anſtecken, oder mit einer Tracht Schlaͤge 
auflauren will. Werner ſagt ihm ſehr recht: 
Berl, man ſieht daß du packknecht gewe⸗ 
ſen! das ſteht man, en ſeiner Art ſich aus⸗ 
zudruͤcken, zu handeln, ſelbſt in feiner Red⸗ 
lichkeit und Treue gegen feinen Herren, fuͤr 
den er, wenn das ſchlimmſte zum Schlim⸗ 
men kommt, betteln und auch ſtehlen kann 
Aber dieſem ehrlichen, groben Joſt, wenn er 
Tellheimen die Rechnung, mit verweinten 
Augen übergiebt, und ſich der Thränen 
ſchaͤmt; wenn er nicht ſchlechter als fein pu⸗ 

g O 2 del 
* Dieſe Stelle iſt bey der Aufführung weggelaſſen 
worden. Sie iſt in dem Munde des Packkneſch⸗ 


tes rielleicht am rechten Orte / aber für Die 
Sch aubuͤhne zu raſch. Der neberſe tze, 


204 i 
del ſeyn will, wer iſt ihm bey aller ſeiner 
Grobheit nicht herzlich gut? 

Werners Geſinnungen, find etwas ge⸗ 
laͤuterter, die rechtſchaffenen Geſinnungen 
eines Soldaten. Aber ihm fehlt der Fir⸗ 
niß der aͤußerlichen Hoͤflichkeit; und dieſer 
Abgang wirkt das Steife, und Hoͤlzerne, zu⸗ 
gleich aber auch Eigene und Unterſcheiden⸗ 
de ſeines Betragens. Er liebt ſeinen Stand 
auf Koſten der ganzen Welt; und wuͤnſcht 
Krieg aus eben ſo redlichen Abſichten, als 
jener Arzt einem alle Krankheiten an den 
Hals wuͤnſchte, damit er an ihm ſeine Ge⸗ 
ſchicklichkeit zeigen koͤnnte. Mit dem Prin⸗ 
zen Heraklius zieht er ein wenig zu oft her⸗ 
an. Allein der Unwillen, mit dem er ſein 
Geld, das der Major gefodert hatte, und 
nun nicht nehmen will, hinwirft, macht, daß ich 
ihm wohl froftigere Tiraden uͤberſehen wuͤrde⸗ 
Tellheim, der Held des Stuͤckes, iſt viel⸗ 
leicht ſeiner gebildeten Denkungsart, ſeiner 


Phi⸗ 


208 


loſophie, und alle des Lichtes, das der Ver⸗ 
faſſer auf ihn fallen laͤßt, um ihn, als eine 
Hauptperſon der Schilderung herauszuheben, 
aller dieſer Vorzuͤge ungeachtet am wenig⸗ 
ſten anziehend. Ich meyne als eine einzelne 
Figur betrachtet — Denn im Ganzen des 
Stuͤckes iſt er ſo anziehend, daß ich nicht 
eben wußte, warum nicht ſowohl Tellhein 
als Minna von Barnhelm dem Stuͤcke den 
Namen geben koͤnnte. Und ich denke, Leſ⸗ 
ſing habe eben darum den zweyten, das 
Soldatengluͤck, beyzuſetzen fuͤr nothwen⸗ 
dig gehalten. 

Im Vorbeygehen ein Wort dieſes Namens 
wegen! Wenn die Hauptperſon die Ehre ha⸗ 
ben muß, ihn dem Stuͤcke zu ertheilen; fo 
ſollte das Stuͤck vielleicht Minna und Tell, 
heim geheißen haben. — Oder das Solda⸗ 
tenglůck — warum Soldatengluͤck? find 
die reichen Fraͤulein wie Minna, die gewoͤhn⸗ 
liche Belohnung wakerer Offiziere? Wäre 

23 viel⸗ 


S 

vielleicht das Soldatenglüc damit alle, daß 
fie nach langer Ungerechtigkeit in einem koͤ⸗ 
niglichen Handſchreiben verſichert werden : 
Sie ſeyn das nicht, wefür man fie angab? 
Die Wahl der Aufſchrift darf zwar den Ver⸗ 
faſſer nicht in Verlegenheit ſetzen; ſie iſt auch 
eine bloſſe Kleinigkeit — Nur — möchte ich 
Keffingen mit feinen eigenen Worten fagen — 
nur darf fie auch nicht irre führen — 
nicht etwas anderes erwarten laſſen — 

Tellheims Handlungen ſind die Hand⸗ 
lungen eines Mannes, der edel denkt, und 
noch mitten in ſeinem Ungluͤcke der Ehrfurcht 
gegen ſeinen Fuͤrſten nichts vergiebt — Die 
Epiſode mit der Wittib MWarloff iſt ein 
Schlaglicht, das ihn mit Gewalt hervor⸗ 
druͤckt. Seine Niedlichkeit, ein Maͤdchen 
das ihn liebt, nicht in ſeine verzweifelten 
Umſtaͤnde mit zu verwickeln, muß ihn in 
aller Augen erhoͤhen. Wie wenige ſind einer 
ſolchen Selbſtverlaͤugnung faͤhig! wie viel⸗ 

mehr 


207 


mehrere wuͤrden in ſeinen Umſtaͤnden es 
machen, wie die Erfäufenden: fie hängen 
ſich an einen Schwimmenden an, in Mey⸗ 
nung ſich dadurch uͤber dem Waſſer zu er⸗ 
halten, und ſie ziehen auch ihn mit ſich zum 
Grunde — Seine Niedlichkeit iſt uͤbertrieben: 
das gab Leſſingen den Knotten — 
Teliheim ſoll Ihnen von feiner Minna 
ſelbſt eine Schilderung machen! zwar ein 
Liebhaber, der von den Reizungen ſeiner 
Geliebten nicht eine Kleinigkeit vergeſſen 
wird, aber auch ein Mann, der ſich uͤber 
ihre Schoͤnflecken nicht ganz blendet — Sie 
ſind — ſagt er — das ſuͤſſeſte, lieblichſte, 
holdſeligſte, beſte Geſchoͤpf unter der Son; 
ne, ganz Güte und Großmuth, ganz 
Unſchuld und Freude — dann und wann 
ein kleiner MWuthwille; hier und da ein 
wenig Eigenſinn — er moͤchte immer hin⸗ 
zugeſetzt haben; manchmal ein wenig ge⸗ 
Zieret; und vielleicht auch manchmal am uns 


O04 rech⸗ 


208 
rechten Platze — Außer dieſem kleinen Feh⸗ 
ler, der zwar dem guten Tellheim am En⸗ 
de viel zu ſchaffen giebt, iſt Minna ein al 
lerliebſt Maͤdchen; von einer aus Offenher⸗ 
zigkeit und Lebhaftigkeit zuſammgeſetzten Lau⸗ 
ne, die ſie muthwillig ſcheinen, aber nie 
Pyn laͤßt, und allen ihren Handlungen, je⸗ 
dem ihrer Einfaͤlle, ihren Reden die Mun⸗ 
terkeit anhaͤftet, die an ihr fo ſehr einnimmt — 
ſo ein Maͤdchen, mit einem Worte, wie fie 
ſeyn muß, wenn dem Manne bey ihrer le⸗ 
benslaͤnglichen Geſellſchaft das ewig einfoͤr⸗ 
mige Gutſeyn nicht ungeſchmack werden ſoll. 
Die Freundinn Franziska iſt das Ungefaͤhr 
im Kleinen, was ihr Fraͤulein im Großen: 
ein Bißchen geſchwaͤtzig; ſonſt in der That 
das Maͤdchen, das man dem wackern Wer⸗ 
ner am liebſten goͤnnet. 
Aus dieſen Perſonen, deren Charaktere 
ſaͤmtlich mit Wahl und Geſchicklichkeit bes 
ſchaͤfftiget und bearbeitet ſind, iſt dieſes 
f Ori⸗ 


209 


OGriginalſtüͤck zuſammge ſetzt, worinnen ein 
Ueberfluß der kleinen, leinzelnen, ſtarcken 
Zuͤge herrſchet, die das Geſpraͤch unterhal— 
tend und lehrreich machen — Die Satire, 
welche nicht ſparſam darinnen angebracht iſt, 
verfehlt ihres Endzweckes deſto weniger, je 
weniger fie Satire zu ſeyn ſcheint, und ge⸗ 
meiniglich aus dem Munde derjenigen Per⸗ 
ſonen koͤmmt, denen man es am wenigſten 
zutrauet, daß ſie ſatiriſiren koͤnnten — 
Alſo ganz keine Erinnerung gegen dieſes 
Stuͤck? — Einige Kleinigkeiten, mein 
Freund! denn Sie wiſſen ja, was Pope 
ſagt: 
Whoever thinks a faultlefs Sa to 
ee, 


Tunes what ne’er was, nor is, nor 
e’er fchall be* 


Vielleicht aber ſcheinen auch dieſe Kleinig⸗ 


keiten nur meinem Auge Flecken. 
O 5 Leſ⸗ 


* Mer immer ein ganz untadelhaftes Stuck zu ſe⸗ 
hen glaubt / glaubt etwas das weder war / noch 
iſt / noch ſeyn wird. 


216 


Leſſing hat eine ſo magere Geſchichte zu 
feinem Vorwurfe gewählt, daß er Leſſing 
ſeyn mußte, um darinnen den Stoff zu fünf 
Aufzügen aufzufinden. Das Handſchrei⸗ 
ben des Koͤnigs hat ganz keine Aehnlichkeit 
mit dem Befehle des Könige im Tartufe, 
die jemand darinnen finden wollte: es macht 
nicht, wie dort, die Entwickelung des Stuͤcks, 
ohne alle Anlage und Zubereitung, ein 
Schwert, das, wie auf den Sinnbildern aus eis 
ner Wolke koͤmmt und den Knotten zerhaut — 
So wuͤrde freylich ein dramatiſcher Werkgeſelle 
zugefahren feyn: er würde den Knotten das 
rinnen haben beſtehen laſſen, daß der un⸗ 
gluͤckliche Major das Mädchen nicht ungluͤck⸗ 
lich machen will: nun kaͤme das Schreiben, 
die Schwierigkeit waͤre gehoben — nun wan⸗ 
derten ſie gewiß freudig dem Feldkaplane 
zu — Nicht ſo aber Leſſing: er will vom 
Zuſchauer nicht errathen ſeyn: der Brief, 
ben er gehörig vorbereitet hatte, macht 
ein 


ein Theil der Verwickelung mit aus: — aber 

er wirft den Liebhaber wider unſre Erwar⸗ 
kung aus dem Hafen wieder in die offene 
See. 

Im Ernfte : ich bin mit dem gezierten 
Weſen des ſaͤchſiſchen Fraͤuleins nicht zufrie⸗ 
den: eine kleine Straͤubung noch — allen⸗ 
falls zur Rache, allenfalls, wie ſie ſelbſt 
ſagt, um ſich den Anblick ſeines ganzen 
Herzens zu verſchaffen⸗ dafuͤr wuͤrde ich 
dem Verfaſſer gedankt haben“; aber die 
Sperrung geht zu weit, und ſchwaͤchet bey mir | 
das Wohl wollen gegen Minnen, der ich ſonſt 
vom Herzen gut war. Wo will, denke ich | 
bey mir, die Fantaſtinn damit hinaus? ich 
weiß ja doch, daß fie ſich nur ziert, und 
daß ſie den Augenblick ſchwer erwartet, ſich 
ihm an den Hals zu werfen — Fuͤr den 
Zuſchauer iſt alſo der Knotten immer ſchon 
entzwey: er ſieht an dem Maͤdchen nur noch 
eine kleine boshafte Kreatur, wie ſo vie⸗ 

| le 


„ 

le ihres Geſchlechts, der man es ſehr ger⸗ 
ne glaubet: daß ihr Semahl ihr nie ei⸗ 
nen Streich ſpielen ſoll, ohne daß ſie ihm 
nicht gleich wieder einen darauf ſpiele 
und am Ende, wuͤnſcht man dem Major ſo vie⸗ 
le Herrſchaft uͤber ſich ſelbſt, daß er das 
naͤckiſche Weſen wieder nach Sachſen moͤch⸗ 
te ziehen laſſen. 

Die Nebenliebe Werners und Franzis: 
rens, fo ſorgfaͤltig fie der Verfaſſer nur an 
der Hauptbegebenheit hergeſchmieget hat, 
ſchwaͤchet immer den Hauptantheil. Man 
hoͤrt nicht einen Augenblick auf, den gu⸗ 
ten Leuten recht gut zu ſeyn, und das 
Maͤdchen iſt wirklich kluͤger als ihr Fraͤu⸗ 
lein: denn fie zieht ſich bey dem erſten Auf⸗ 
fahren ihres lieben Wachtmeiſters zuruͤ⸗ 
cke. 

Rieaut de Narliniere, einen beurlaubten 
Offizier, dem der Verfaſſer alle Unbeſonnen⸗ 
heiten, Großſprechereyen und Taſchenkuͤnſte 

un⸗ 


/ 


213 


unſrer Cadedis beygelegt, der feine Spra⸗ 
che wie das Deutſche radebricht, haben die 
deutſchen Schauſpieler weggelaſſen: wie fie 
ſagen: weil ſie keinen unter ihnen haben, 
der das Franzoͤſiſche mit der nothwendigen 
Fertigkeit ſpraͤche — Man vermißt ihn bey 
der Auffuͤhrung im geringſten nicht. Eine 
Rolle, die nirgend in einem Stuͤcke 
die geringſte Luͤcke zurucklaͤßt, iſt gewiß eine 
muͤſſige Rolle. Was moͤchte wohl alſo die 
Abſicht des Verfaſſers geweſen ſeyn, als er 
ſie mit in ſein Stuͤck aufnahm? Vermuth⸗ 
lich die Riſade! — Die Wienerbuͤhne hat 
Ceſſingen gegen ſich ſelbſt Recht verſchafft: 
fein Stuͤck braucht ſolcher angeflickten Schel⸗ 
len nicht; es hat eigenthumliche und wahr⸗ 
haft ſcherzhafte Einfaͤlle genug, die es auf⸗ 
heitern — | 
Beſonders, wenn es von Schauſpielern 
nach dem Sinne des Verfaſſers vorgeſtellet 
wird. Unter hundert deutſchen Stuͤcken 
n wird 


1 


214 


wird vielleicht nicht eines ſo durchaus woh 
beſetzt ſeyn, als die Winna war. Sogar 
bis auf die Rolle des Wirths und Fran⸗ 
z iskens war jeder Schauspieler und Schau⸗ 
ſpielerinn auf ihrem Platze. Joſten ſpielte 
H. Stark, der, wie ich hoͤre, nun zur ham⸗ 
burger Buͤhne abgegangen. Er traff den 
ſchweren Mittelweg, dieſe Rolle luſtig zu ge⸗ 
ben, ohne das Spaßhafte zu ſuchen. Der 
Charakter iſt vielleicht der ſchwerſten einer? 
ein roher Knecht, der uns wehmuͤthige Em⸗ 
pfindungen erreget — und ſie durch das Un⸗ 
gehobelte ſeines Betragens ſogleich wieder 
zerſtoͤhret: uͤber den wir bey dem Aufſatze 
ſeiner Rechnung, und der Geſchichte des 
Pudels mit uͤberlaufenden Augen lachen — 
dazu gehörte die Einſicht dieſes Schaufpies 
lers — Der ihm nachſpielt, uͤbernimmt 
eine harte Rolle, weil man nun Vergleich⸗ 
ungen anſtellen kann. 


H. 74 


215 


H. Jaquet war — Werner ſelbſt: der 
ſteife Anſtand, die redliche und deutſche Mi⸗ 
ne, der Ton ſeiner Sprache, dieſe Ent 
pfindung — und zum Lohne, die Mitempfin⸗ 
dung der Zuſchauer und der allgemeine 
Beyfall. So einen Wachtmeiſter mußte 
ſich Leſſing bey ſeiner Minna gewuͤnſcht 
haben — bis etwan auf das tempomaͤſſige 
Rechts umkehrt euch bey dem Fraͤule ln 
Barnhelm, wozu Jaqueten, die Eitelkeit 
belacht zu werden, verleitet haben mag. 
Nicht doch, braver Mann! das braucht er 
nicht! die Wahrheit ſeines Spiels mache 
ohne dieſe Kniffe lachen, die ſeiner Einſicht 
wehe thun — 

Auch Winna — all das Launichte, all 
das Muntere und wieder, das Bange und 
Zaͤrtliche, wie es nur ein Verfaſſer zur gu⸗ 
ten Aufnahme ſeines Stuͤckes fodern kann, 
brachte M. Suberinn in ihr Spiel — 
Aber der Major war mir die beiden erſten 
Vor⸗ 


Vorſtellungen, zu wild, zu ſtuͤrmiſch „ge⸗ 
gen Minnen, gegen Wernern, gegen alle 
Es war nicht der artige Mann, der den 
Lobſpruch ſeiner Geliebten rechtfertigte, daß 
nicht alle Offiziere Tellheims wären: er 
war Major auf dem Paradeplatze. H. Ste⸗ 
phanie nahm den ganzen Charakter von eis 
ner falſchen Seite. Aber bey den folgenden 
Vorſtellungen uͤberzeugte er ſich ſelbſt, und 
ſpielte, wie man es von ihm erwarten konn⸗ 
de. s 


| 


* 


Dreyzehntes Stück. 


Sechszehntes Schreiben. 


Wien den 22, März: 1768 


a 10 * | | 
8 8 kennen Stephanien vielleicht aus 
S. keinem der kleinen, fliegenden 
r 
Boͤgen, die hie und dort uͤber 
die deutſchen Schauſpieler geſchrieben wur⸗ 


den, und ihn alle, ſogleich bey ſeinem erſten 


Auftritte, als einen Schauſpieler von Ber 
deutung ankuͤndigten. Der Schluß meines 
letzten Schreibens iſt alſo für. Sie eine 
Zweydeutigkeit, wo ich ihn nicht weiter aus⸗ 
fuͤhre. Ich bin dieſem Manne uͤber die 
freymuͤthige Beurtheilung ſeines Tellheims 
zu keiner geringeren Genugthuung verpflichtet. 

Stephanie entſchloß ſich zur Schaubuͤh⸗ 
ne aus keinem der kleinen, oder ſchandbaren 


Urſachen, welche den Widerſachern dieſer vers 


nuͤnftigen, und wo man es einzuleiten wuͤßte, 
P bei 


N 
beſſernden Ergoͤtzlichkeit zu ihren Philippiken 
ſo viele ſcheinbare Gruͤnde an die Hand ge⸗ 
ben, und auf die Theatralperſonen mehr als 
alles uͤbrige einen Schatten zuruͤckwerfen, 
den all das Licht der Philoſophie, welches 
dieſe Zeiten erleuchtet, nie ganz wird verſchwin⸗ 
den machen. Die Schaubuͤhne war weder 
ſeine Zuflucht gegen den Hunger, noch ein 
Vorwand, oder gar die Gelegenheit zu ei⸗ 
nem ungebundenen Leben: er betrat ſie aus 
Neigung und aus einem inneren Gefuͤhle, 
daß er fuͤr dieſelbe taugte. Er liebt alſo 
ſeinen Stand, und hat von demſelben hohe, 
manchmal enthuſtaſtiſche Begriffe. Aus 
dieſem fließt der Stolz, den ihm ſeine Fein⸗ 
de vorwerfen, und ſeine Freunde zum Ver⸗ 
dienſte anrechnen: der Stolz, ſeinem Stan⸗ 
de nichts zu vergeben, ſich nicht ſelbſt zum 
Troſſe des Poͤbels zu zaͤhlen, und auf den 
Umgang artigerer Geſellſchaften Anſpruch 
zu machen. 


90 


219 


: Ich komme Ihrer Verwunderung und 
Frage vor. Dem deutſchen Schauſpieler 
werden zwar in Wien auf ſeinem Sterbela⸗ 
ger die Sakramente nicht verſaget; aber es 
ſind auch nur wenige Haͤuſer, die ſich uͤber 
das Vorurtheil wegzuſetzen, und ihm den 
Eintritt zu goͤnnen, das Herz haben. Wo 
es ja geſchieht, da geſchieht es allenfalls 
auf den Fuß eines Luſtigmachers und Haus⸗ 
ſchalken, welche Rolle einem ehrlichen Manne 
ſehr ſauer werden muß. Die Geringſchaͤ⸗ 
tzung der Nationalſchauſpieler faͤllt deſto 
ſichtbarer in die Augen, weil man unſre 
Truppe mit aller Unterſcheidung empfaͤngt, 
und beynahe möchte ich ſagen, auf eine laͤppi⸗ 
ſche Art vergoͤttert. Da, wo der deutſche 
Schauſpieler in der Eke eines Vorgemachs 
mit der Livrey vermengt, in demuͤthiger 
Stellung erwartet, bis er das Gluͤck haben 
kann, den ihn uͤberſehenden Vornehmen im 
Vorbeygehen den Saum des Kleides zu kuͤſ⸗ 
| e fen, 


220 

kuͤſſen, da wird der Franzoſe unangemeldet 
eintreten, und mit einer Umarmung empfan⸗ 
gen werden. In den unbedeutendſten Stuͤ⸗ 
cken iſt dieſe demuͤthigende Unterſcheidung 
beobachtet: der fremde Schauſpieler z. B. 
kleidet ſich zum Schauſpiele bey einem Wachs⸗ 
lichte an: der deutſche mag mit einem 
uͤbelriechenden Talklichte (Unſchlitt) zufrie⸗ 
den ſeyn — eine Kleinigkeit, fuͤr ſich ſelbſt 
betrachtet! aber nicht mehr eine Kleinigkeit, 
ſobald es die Kennzeichen der Geringſchaͤ⸗ 

tzung gegen den Schauſpieler vermehret. 
Unlaͤugbar zwar kann ſich der Adel uͤber 
dieſes fein Verfahren nur zu ſehr rechtferti⸗ 
gen. Es iſt nicht moͤglich, einen Menſchen 
den Mittag an die Tafel des Herrn zu zie⸗ 
hen, der Abends in einem Bierhauſe mit dem 
Kutſcher eine Wette trinkt: und im Gros 
ßen genommen, iſt dieſes Beyſpiel nur zu 
allgemein auf die deutſchen Schauſpieler 
anpaſſend. Aber wenn niemals irgend ein 
An⸗ 


227 
22 ——————.r5ßv5rXrF——ñññññññññ K 


Anfang gemacht wird; ſo muß man die 
Hoffnung einer jemaligen Verbeſſerung fah⸗ 
ren laſſen — Vielleicht, laͤge eben in dieſer 
Allgemeinheit des luͤderlichen Betragens der 
eigentliche Beweggrund, diejenigen von dem 
Poͤbel der Schauſpieler zu unterſcheiden, die 
ſich ſelbſt durch ihre anſtaͤndigeren Sitten 
von ihren Berufsgefaͤhrten ſo ſehr auszeich⸗ 
nen! vielleicht wuͤrde eine ſolche Unterſchei⸗ 
dung das kraͤftige Mittel werden; wo nicht 
die eingealteten Taugenichts von ihren Sauf⸗ 
gelagen abzuziehen — wenigſtens den jungen 
Machwuchs davor zu warnen; wenigſtens 
Talente aufzufodern, daß fie ſich nicht ſelbſt 
verwerfen — Stolz und Talente ſind unab⸗ 
ſoͤnderlich, und man unterdruͤckt das letzte⸗ 
re, wenn man den erſten unterdruͤcken 
will. Man wiſſe ihn zu leiten, und auf 
gewiſſe Gegenſtaͤnde zu zlehen! ſo wird man 
in jeder Gattung von Beſchaͤfftigung eben 
die Wunderwerke thun, welche in dem Ka⸗ 
P3 bis 


222 


binete und Felde täglich durch eine Ele 
Baͤndchens gewirket werden. 

Vielleicht koͤmmt mir dieſe Betrachtung 
noch einmal unter die Feder, und ich fuͤhre 
ſie dann auf alle diejenigen Folgen hinaus, 
welche zum Vortheile und Nachtheile der 
deutſchen Bühne daraus gezogen werden 
koͤnnen. Stephanie verdiente wenigſtens 

durch ſein ſittliches Betragen nicht in dem 
Wirbelder allgemeinen Verachtung mit fort⸗ 
geriſſen zu werden. 

Seinen Handlungen fehlt das gewiſſe 
Freye und Ungezwungene, das nur durch 
den laͤngeren und vertrauten Umgang mit 
der groſſen Welt kann erworben werden. 
Dieſer Abgang iſt in der Verſchiedenheit ſei⸗ 
nes Spieles leicht wahrzunehmen. Alles, 
wo die Charaktere ideal ſind, Helden, ho⸗ 
he tragiſche Rollen, gluͤcket ihm mit Vor⸗ 
zug: geſellſchaftliches Betragen, der Mann 
von der Welt, und alle Rollen, die auf den 

Ton 


223 


Ton des Umgangs hinausgehen, laſſen ſtu⸗ 
dirt: die Natur iſt da nicht in feinem Spies 
le mit, und die Kunſt kann ſie nicht erſetzen. 
Ich habe Gelegenheit gehabt, dieſen 
Schauſpieler naͤher zu ſehen: was Nach⸗ 
ſinnen, Lektur, Anwendung und Uebung ge⸗ 
währen kann, iſt ihm eigen. Er hat feine 
Kunſt ſtudiret, bis auf die kleinſten Theile 
ſtudiret; und ſeine von Natur lebhafte Em⸗ 
| pfindung iſt nun ſicher und getreu. 
Dieſe Empfindung iſt die Seele der Hand⸗ 
lung, und die Vorſchrift, welche Horaz den 
Dichtern gegeben a 
„Si vis me flere, dolendum eft 
Primum ipſi tibi, tune tua me in- 
fortunia lædent * 
ſey auch den Schauſpielern geſagt! Trau⸗ 
rigkeit ohne eignes Gefühl;, iſt das grimaſ⸗ 
ſirte Gebehrden einer Wittwe, welche die 
N 4 Flor⸗ 
Slut da / daß ich Shraͤnen vergiefe/ fo weine 


Du zu af: dann wird denn Ungluͤck auch mich 
ruͤhren — 


224 


Flor kappe für das Geſicht zieht, um hinter 
derſelben deſto freyer bey dem Sarge ihres 
Mannes lachen zu koͤnnen. 0 

Die Natur muß einen Menſchen durch 
dieſes Geſchenk zum Schauſpieler vorher bes 
ſtimmet haben; aber er kann es durch Kunſt 
erhoͤhen; ſowohl, als er uͤber ſein Gefuͤhl 
eine Schwiele ziehen, und ſich bis zu einer 
ſtoiſchen Unfuͤhlbarkeit verhaͤrten kann. Es 
wuͤrde ſich alſo die Empfindung in eine 
natürliche und kuͤnſtliche unterſcheiden laſ⸗ 
ſen: oder beſſer die Empfindlichkeit; wo⸗ 
von die Empfindung die Wirkung, oder 
metaphiſiſcher geſprochen, das Keſultat iſt. 

Die natuͤrliche Empfindlichkeit, waͤre 
die Anlage zu dem ſchnellen Eindrucke ei⸗ 
nes erblickten, oder uͤberdachten Gegenſtan⸗ 
des; die Beweglichkeit der Faͤſerchen, wel⸗ 
che, wenn ich fo ſagen darf, die phiſikali⸗ 
ſche Vorſtelung bis zur Seele bringen. Je 
haͤufiger ihre Wirkungen, je zudringender fie 

ſind 


| 0 a 
| find, deſto gewaltſamer muß ihr Eindruck 
werden; je weniger ſie der Vernunft, dem 
Nachdenken Zeit laſſen, ihre Eindruͤcke zu 
verloͤſchen, deſto richtiger erfolgt die Bewe⸗ 
gung. Ein trauriger Fall, der nur oben⸗ 
hin erzählt wird, rührt uns nur ſchwach. 
Dichter, welche ihren Erzaͤhlungen die An⸗ 
ziehung zu geben wiſſen, ſind immer nach 
dieſem Grundſatze verfahren: fie haben alle 
einzelnen Umſtaͤnde der Begebenheit aufge⸗ 
ſucht, und ſie nach dem Verhaͤltniſſe der 
Wirkung, die ſie machen konnten, oder ſoll⸗ 
ten, geordnet. Durch dieſen Kunſtgriff 
macht die Erzaͤhlung Theramenens in der 
Phaͤdra immer eine ſo gewaltſame Wirkung auf 
den Zuſchauer: durch ihn erregt in den Troja⸗ 
nerinnen kuripids die wahrſageriſche Raſerey 
Caſſandrens waͤhrend der Ermordung Aga⸗ 
memnons dieſes Grauen und Schrecken, 
deſſen ſich Thomſon in ſeinem Agamemnon 
ſo meiſterhaft bemaͤchtigte. 

E Selbſt 


416 


Selbſt im gemeinen Leben, im täglichen 
| Umgange, braucht man, ohne daran zu den⸗ 
ken, dieſes Fach der natürlichen Beredtſam⸗ 
keit: der Bettler auf der Straſſe begnuͤget ſich 
nicht, uns feine Armuth überhaupt vorzu⸗ 
ſtellen: er ſtuͤrmt auf unſer Mitleid mit dem 
Bilde aller einzelnen Theile ſeiner Noth ein — 
ein Weib in Kindsnoͤthen — fünf Kinder, 
denen er keinen Mundvoll Brodts reichen 
kann, ſo ſehr ſie darnach rufen — ein grim⸗ 
miger Winter, gegen den ſie unverwahrt 
find — kein Holz, die erſtarrten Glieder 
vom Freſte zu entfaͤſſeln — er weis es, daß 
das Gedraͤng dieſer verſchiedenen Umſtaͤnde, 
mit Macht auf das Herz zugeht; er zerfleiſcht 
es mit wiederholten Wunden — die Empfinds 
lichkeit koͤmmt alſo auf ſchnelle, häufige, 
und anhaltende Vorſtellungen eines Uebels, 
oder eines Gutes an; und iſt nach dem Gra⸗ 
de ſtaͤrker oder lauer, nach dem die Behen⸗ 
| dig⸗ 


227 


digkeit, die Menge und die Dauer dieſer 
Vorſtellungen beſchaffen ſind. 
Mit einem kleinen Nachdenken uͤber dieſe 
Betrachtung wuͤrden die Schauſpieler auf die 
Wege der kuͤnſtlichen Empfindlichkeit ges 
langen koͤnnen. Wenn ſie ihre Einbildung 
daran gewöhnen, nicht nur das Ganze übers 
haupt zu uͤberſehen, ſondern jeden kleinen 
einzelnen Umſtand zu bemerken, dabey ſtehen 
zu bleiben, und die Beziehung auf das Gan⸗ 
ze, die Beziehung unter ſich wahrzunehmen; 
wenn fie ihren moraliſchen Blick, wie der 
Kuͤnſtler, ſein koͤrperliches Aug darinnen 
uͤben, ideale Vergleiche anzuſtellen, und das 
Bild, ſo ſie in ihrer Vorſtellung mit ſich her⸗ 
umtragen, mit dem vorkommenden Gegen⸗ 
ſtande zuſammzuhalten; ſo wird nach einer 
anhaltenden, vielleicht anfangs muͤhſamen, 
aber zu letzt ſehr belohnten Uebung die Vor⸗ 
ſtellungskraft ihren Willen uͤberholen; ihre 
Scharfſfinnigkeit wird auf einmal alle Merk 
ma⸗ 


328 


male auffinden, und ihr zu einer gewiſſen 
Weiche gebrachtes Herz die dardurch gemach⸗ 
ten Eindruͤcke nicht ſobald wieder fahren laſſen. 

Es iſt mit den Kraͤften des Geiſtes wie 
mit den koͤrperlichen: die Uebung kann es 
darinnen bis zum Mechanismus bringen. 
Manchem Kopfe iſt es ſo gelaͤufig ſchoͤne Ge⸗ 
danken hinzuſchreiben, als es dem geſchick⸗ 
ken Flautenblaͤſer iſt, aus feiner Flaute har: 
moniſche Töne zu bringen: 

Stephanie ſcheint ſeine Empfindlichkeit 
durch Nachſinnen und Uebung erhoͤht zu ha⸗ 
ben: ſie iſt auf das aͤußerſte lebhaft, und 
reißt ihn oft mit ſich uͤber die Graͤnzen hin⸗ 
weg. Es iſt ſchwer dem Sturme zu gebie⸗ 
ten, wo er feine Wuth brechen ſoll: es iſt 
ſchwer, daß der reißende Strom in dem or⸗ 
dentlichen Beete den Lauf halte. Eine Ueber⸗ 
ladung des Affekts iſt ein Fehler; aber haͤt⸗ 
ten doch die Deutſchen mehrere Schauſpieler, 
die dieſen Fehler zu begehen fähig wären — 

Dann 


| 229 2 
m m 
Dann aber ift es feine Ueberladung der 
Leidenſchaft, wenn die Traurigkeit in ſchwar⸗ 
ze Schwermuth, der Zorn in Raſerey, die 
Zaͤrtlichkeit in Kleinheit uͤbergeht: der Schau⸗ 
ſpieler, von dem ich Sie unterhalte, hat ſich 
immer fo ſehr in ſeiner Gewalt, daß er ſei⸗ 
ne Handlungen nicht ausarten laͤßt — Alles 
was man dießfalls von ihm ſagen kann, 
mag vielleicht dieſes ſeyn: er fpiele für ei⸗ 
nen deutſchen Schauſpieler mit zu vieler 
Waͤrme — 

Seine Gebehrde iſt offen, ſchoͤn verlau⸗ 
fen, etwas weit ausgeholt, beſonders im 
Komiſchen; aber immer, auch nach der 
ſtrengſten Unterſuchung regelmaͤſſig, ohne 
darum gezwungen zu ſeyn — Seine Stim⸗ 
me iſt voll, maͤnnlich, und abwechſelnd, 
ihm ſtehn die feinſten Verfloͤſſungen derſel⸗ 
ben zu Gebote, und er hat Einſicht genug, 
ſich derſelben an der rechten Stelle zu be⸗ 
dienen. Seine Rede iſt daher eine ſchoͤne 


Har⸗ 


- Harmonie, ausdruckvoll, auch da, wo ihr 
die Aktion nicht beyſteht. Er hat die Ga⸗ 
be, die uͤbellautendſten Verſe durch ſeine Re⸗ 


citation angenehm zu machen; und es iſt 


fuͤr angehende Dichter, deren Stuͤcke vor⸗ 
geſtellt werden, ein Gluͤck, wenn a 
nie ihr Freund iſt — 


0 


— 


geyſtes Stück. 


Siebenzehntes Schreiben. 


Wien den 1. April 1768. 


Wenn Bielefeld im Vorberichte zu ſei⸗ 
ZA of nem Progres des allemands 

Er mit vieler Ernſthaftigkeit verſt⸗ 
chert, qu' en elevant ce petit monument 


* 
NS 


au genie des allemands, fon but n’ etoit 
nullement d' effacer celui des autres peu- 
ples ſo iſt jeder Auslaͤnder bereit; ihm auf 
ſein freyherrliches Wort zu glauben. Dieſer 
Mann, der von den Werken des Witzes als 
ein Finanzverſtaͤndiger, und von Finanzſa⸗ 
chen als ein witziger Kopf geſchrieben, hat 
der Nation durch feine Gutherzigkeit einen 
ſchlechten Dienſt erwieſen. Wer den Geiſt 
der Deutſchen nicht anders als aus ſeinem 
8% di⸗ 

Dieſe Worte find nur aus dem Gedaͤchtniſſe ange 

führt: dann ſie heißen im Buche: en ele vant ce 

petit monument an genie des Germain, mon in- 


tention n' e% nullement de deprsmer celui des au- 
tres nations der Ueberſ⸗ 


222 


dicken Oktaobande kennet, der beurtheilet 
Vanloon nach einem augſpurger Kupferſti⸗ 
che. Fuͤr Schriften, die den allgemeinen 
Ruhm einer Nation angehen, ſollte, wie 
bey den engliſchen Waaren, die ſchaͤrfeſte 
Beſchau veranſtaltet werden, ehe man ſie 
über die Graͤnzen läßt — 

Bielefeld hat unter andern auch Leſſings 
Mis Sara Sampſon uͤberſetzt. Huͤten Sie 
ſich, den Verfaſſer darinn zu finden, den 
ich ben Deutſchen vor unſern dramatiſchen 
Schriftſtellern zum Muſter angeprieſen: die 
Schoͤnheiten dieſes Schriftſtellers ſind ge⸗ 
wiſſermaſſen unuͤberſetzlich; und was ihn 
ber alle Theatraldichter ſeiner Nation haupt⸗ 
ſaͤchlich hinwegſetzet, iſt der Dialog: dieſer 
iſt es, worinnen Minna noch alle vorher⸗ 
gehenden Stuͤcke uͤbertrifft, und der es ganz 
wohl werth iſt, daß ich einige Schritte zu⸗ 
ruͤckkehre, da mir die noch ungeoͤffneten 

Schau⸗ 
*Im NIV. Schreiben. 


233 


Schaubuͤhnen dazu den Raum bergön⸗ 
nen. 8 
Ich will aus dem ganzen Stuͤcke die 
Stelle heraus heben, die ein wenig in das 
Koſtbare umſchlaͤgt. So dacht ich — 
ſpricht Tellheim zu Winnen in 6. Auf⸗ 
tritte des V. Aufzugs — ſo ſprach ich, als 
ich nicht wußte, was ich dachte und 
ſprach. Aergerniß und verbiſſene Wuth 
hatten meine ganze Seele umnebelt. Die 
Liebe ſelbſt, in dem volleſten Glanze des 
Gluͤckes konnte ſich darinnen nicht Tag 
ſchaffen: aber ſie ſendet ihre Tochter, 
das Mitleid, die mit dem finſtern Schmer⸗ 
zen vertrauter, die Nebel zerſtreut, und 
alle Zugänge meiner Seele den Zindrüs 
cken meiner Zärtlichkeit öffnet — | 
Noch eine Zweyte waͤre ich gleichfalls vers 
ſucht unter die Taͤndelwerke des Witzes, 
oder vielmehr der Beleſenheit heruͤberzu⸗ 
nehmen. Sie ſollen ſelbſt daruͤber urthei⸗ 
| Da len! 


2 34 


len! Winna durch das tiefe Schweigen 
ihres Liebhabers beunruhiget, ſucht ihn 
durch die Geſchichte ihrer Liebe aufzuheitern: 
ſie ſagt in der Unſchuld ihres Herzens: ich 
kam in dem feſten Vorſatze, Sie zu lie⸗ 
ben — ich liebte Sie ſchon — in dem fe⸗ 
ſten Vorſatze, Sie zu beſitzen, wenn ich 
Sie auch ſo ſchroarz, ſo haͤßlich finden ſoll⸗ 
te, als den Mohr von Venedig; Sie 
ſind ſo ſchwarz und haͤßlich nicht, auch ſo 
eiferſüchtig werden Sie nicht ſeyn. Aber 
Tellheim! Tellheim! Sie haben noch 
viel Aehnliches mit ihm — Sieher ihr 
Auge, auf mich Tellheim! ( der indeß 
vertieft mit ſtarren Augen immer auf eine 
Stelle gefeben ) woran denken Sie? Sie 
hoͤren mich nicht? 

Tellheim. O ja! aber ſagen Sie mie 
doch, mein Fraͤulein! wie kam der Mohr 
in die Venetianiſchen Dienſte? hatte der 
Mohr kein Vaterland? warum vermiethe⸗ 

ö te 


te er feinen Arm und fein Blut einem 
fremden Staate? — Leſſing wollte das 
durch die aͤußerſte Schwermuth des Majors 
charakteriſiren, und laͤßt ihn Unſinn ſpre⸗ 
chen, das begreife ich — Aber ob der Un⸗ 
ſinn gerade ſſo Shakeſpeariſcher Unſinn 
ſeyn mußte? 

Nun aber, außer dieſen Kleinigkeiten, 
finden Sie in dem Stuͤcke durchaus, nicht 
etwan nur die molieriſche Manier im dia⸗ 
logiren, ſondern die große Manier der 
Alten, denen Moliere die ſeinige abgeſehen 
hat — die gluͤckliche Geſchicklichkeit, die 
Unterredung ungezwungen herbeyzuführen, 
die einſichtvolle Vertheilung des Stoffes 
zwiſchen den unterredenden Perſonen — die 
jeder Perſon, gemaͤß ihrer Denkungsart 
in den Mund gelegten Worte, woraus die 
Mannigfaͤltigkeit des Tones entſpringt, 
durch den die Unterredung Leben erhaͤlt, 
Natur im Ausdrucke, Adel der Geſinnun⸗ 

23 gen, 


236 


gen, ohne fpruchreich zu ſeyn, ohne zu 
ſchwellen, und wieder Einfalt ( fimplici- 
te ) ohne Niedrigkeit, und durchaus eine 
gelenkſame, man darf ſagen, von ihm ſelbſt 
geſchaffene Sprache — 

Obgleich Deutſchland bereits theatraliſche 
Schriftſteller aufzuweiſen hat, die ſich mit 
Ehre an das Drama gewaget haben; ſo 
mangelte es ihm bis itzt doch beſtaͤndig an ei⸗ 
ner theatraliſchen Sprache, wenigſtens an ei⸗ 
ner Sprache fuͤr das feinere Luſtſpiel. Die 
Urſache davon laͤßt ſich angeben. Die 
Zwiſchenredner des feineren Luſtſpiels, oder 
eigentlicher, des edeln Romiſchen find übers 
haupt Leute aus beſſeren Geſellſchaften ge⸗ 
nommen, Stands perſonen, Perſonen von 
Erziehung, Perſonen aus der großen Welt: 
ihr Ton; iſt eigentlich der Ton des Um⸗ 
gangs, der Ton der artigeren Welt, der 
ſich bis auf die Bediente und Mädchen 
hinab verbreitet, welche in unſeren franzoͤ⸗ 


ſi⸗ 


237 


ſiſchen Stücen ſogar oft unausſtehlich wi⸗ 

tzig ſprechen. Hat aber Deutſchland bis 
auf dieſe Stunde eine eigentliche Sprache 
der großen Geſellſchaft? iſt es ſogar moͤg⸗ 
lich, daß ſie jemals dazu gelange, da an 
allen Hoͤfen, in allen Hauptſtaͤdten, dem 
Sitze des ſogenannten artigern Umgangs, in 
allen Verſammlungen durchaus franzöfifch 
geſprochen wird? da die Dame, die einen 
jeden aus den Vierzigen * in ſeiner Mut⸗ 
kerſprache eintreiben wuͤrde, mit Muͤhe und 
Noth drey zuſammenhangende Woͤrter in ih⸗ 
rer eignen herzuſtammeln weis, und man 
darum in ganz Deutſchland auf den vortheil⸗ 
haften Einfall gerathen iſt, keine anderen 
als franzoͤſiſche Dienſtleute anzunehmen — 
Vergebens arbeiten die beſten Koͤpfe einer 
Nation dieſem Hinderniſſe entgegen! ein 
Schlegel, ein Chronegk, ein Gellert, ein 

94 Wei⸗ 
* Vierzigen namlich einen aus der Akademie / 


welche zur Verbeſſerung der franzoͤſiſchen Spra⸗ 
che errichtet worden. Der Ueber. 


3:8 


Weiße, ein Alodius geben ſich vergebens 
Muͤhe, dem deutſchen Witze auch in dem 
komiſchen Fache Ehre zu machen — Erfin⸗ 
dung, Plan, Situationen, Geſinnungen, 
Anziehung, werden ihren Stuͤcken nicht man⸗ 
geln: ihr Geiſt kann hier allein ſeine Groͤße 
zeigen: aber hundertmal werden ſie beym 
Ausdrucke ſtille ſtehen, hundertmal wird 
der Lebhaftigkeit ihrer Empfindung das Wort 
nicht zuſagen, hundertmal wird ſich die 
Sprache gegen ihre Gedanken ſtraͤuben, 
und ſie den Mangel eines bearbeitetern ge⸗ 
ſellſchaftlichen Jargons (wenn ich ſo ſagen 
ſoll) mit ihrem großen Unwillen empfinden 
laſſen. Der Mann auf der Studierſtube 
kann die redneriſche Sprache, die dichteri⸗ 
ſche Sprache, die gelehrte Sprache bear⸗ 
beiten, bereichern, verfeinern: er beſpricht 
ſich durch ſeine Schriften mit der Welt, und 
legt ihr feine Erweiterungen, oft als Geſetz⸗ 
geber, manchmal zur Genehmhaltung vor: 
aber 


239 


aber der Mann in der Welt, in der großen 
Welt, die Frau, die aus dem Mittelpunkte, 
einen rauſchenden Kreis durch ihre Reize 
beherrſchet, die von ihrem achtzehnten Jahre 
bis in das vier und zwainzigſte den Ton 
giebt, dieſe muͤſſen die Sprache des Um⸗ 
gangs bilden, dieſe muͤſſen ſie mit den feinen, 
oft eigenſinnigen, aber lebhaften, aber 
beißenden, ſchalkhaften, Redensarten berei⸗ 
chern, dieſe muͤſſen gewiſſen vielſagenden 
Ausdruͤcken den Schwung geben, dieſe muͤſ⸗ 
ſen, und zwar durch eigenen Gebrauch, die 
Sprache zurunden, ſie fuͤr das Theater 
geſchmeidig machen und fuͤr den komiſchen 
Dichter vorbereiten — Die franzoͤſiſche Spra⸗ 
che iſt den galanten Weibern vielleicht mehr 
ſchuldig als der Akademie. 

Eigentlich alſo hat der Deutſche keine 
Theaterſprache, weil er keine Sprache des 
Umgangs hat; oder wenigſtens ſeine Thea⸗ 
1 reichet nicht weiter, als ſeine ge⸗ 

2 5 ſell⸗ 


240 
—. ñ— u me 


ſellſchaftliche, und dieſe hat ſehr, ſehr 
enge Graͤnzen. Dieſe Betrachtung leitet 
mich auf eine andere, die den vorhergehen⸗ 
den zur Beſtaͤttigung dienen wird. 

Die Verbeſſerung der Schaubuͤhne unter 
uns, in ſo ferne ſie das Komiſche betraf, 
wer und wo hat man ſie unternommen? 
Moliere, ein Mann, der in allen guten Ge⸗ 
ſellſchaften nicht bloß wohl empfangen war, 
ſondern geſucht wurde — und in Paris im 
Angeſichte, unter dem Schutze, auf die 
ausdruͤckliche Ermunterung Ludwigs, und 
aller Großen. Daher herrſchet auch in ſeinen 
Stuͤcken durchaus, in den Stuͤcken wenig⸗ 
ſtens, die Woliere, wenn er ſich nun ſelbſt 
beurtheilen ſollte, nicht abſchwoͤren wuͤrde, 
in dieſen Stuͤcken herrſchet der freye und 
ungezwungene Ton, der Leuten, von denen 
er ihn entlehnte, fo eigen iſt — Und nebſt 
Wolicten, die Übrigen, Des Touches, Reg 
nard, Warivaux, Sontanelle, Greſſet, ia 

Chauſ⸗ 


241 


Chauſſee, Voltaͤre, u. a. viele, lauter 
Männer , die mitten in der großen Welt 
lebten, ihr Manieren, Umgang, Spra— 
che abgelernt hatten, und ſie in ihre Arbeiten 
uͤbertrugen. 

Halten Sie nun die Geſchichte des deut⸗ 
ſchen Theaters dagegen! eine lateiniſche 
Magnifizenz, Gottſched verjaͤhrten Gedaͤcht⸗ 
niſſes, der ſich mit diktatoriſchen Pedantismus 
uͤberhaupt zum Verbeſſerer ſeiner Mutter⸗ 
ſprache aufwarf, trat auch auf, die Buͤhne, 
im Vorbeygehen umzuformen — ein Mann, 
dem es, da er nun zu ſeinen Vaͤtern verſam⸗ 
melt iſt, der Himmel in ſeiner Gerechtigkeit 
nicht moͤge entgelten laſſen: daß er einen 
Kato gemacht, und Hallern getadelt hat — 
ſeine andere Haͤlfte, die ſelbſt unter der 
Hand eines ſolchen Mannes nicht ganz ver⸗ 
darb, leiſtete ihm darinnen Geſellſchaft, als 
ein getreues Eheweib, welches bey ihrem Man⸗ 
ne in Kreuz und Widerwaͤrtigkeit feſthalten 

wol⸗ 


242 


ee ern 


wollte — Dieſes Paar, ſo an einem deuts 
ſchen Hofe in den heißeſten Sommertagen 
in Sammt erſchien — um eine kleine Pro⸗ 
be von ihrem Weltgeſchmacke zu geben — warb 
einge Zunft ſchaaler Koͤpfe aus dem Hoͤr ſaa⸗ 
le feiner Magniftzenz an: und ſo ſollte die 
deutſche Buͤhne von Leuten ihre Reinigung 
erwarten, die auf einen Namen ſtolz tha⸗ 
ten, der in .. aner endiget. — Und dieſe 
merkwuͤrdige Veraͤnderung ſollte von Leipzig 
her ſich uͤber ganz Deutſchland verbreiten — 
von Leipzig, zwar einem ganz artigen 
Stoͤdtchen , aber nur einem Staͤdt⸗ 
chen, wo der Umgang eben ſo klein und 
alſo wenig Stoff für Nationalſchauſpiele 
vorhanden iſt — | 

Deutſchland ſah es zwar bald ein, daß 
Gottſched nur ein Ufurpator des kritiſchen 
Scepters war; aber es lebte in einer Anar⸗ 
chie, nachdem es ihn geſtuͤrzet — Einzelne 
Maͤnner traten auf, ſich um die Buͤhne ver⸗ 

dient 


243 


dient zu machen — aber von den meiſten 
konnte man ſagen: 

Wenn ein unbaͤrtiger Poet 

Der in dem Buch der Welt kaum an⸗ 

faͤngt zu ſtudiren 
Mit dreuſter Fauſt ans Dramma geht, 
Um Denkungsart und Sitten zu poli⸗ 
| ren“ 
ſo kommen da ſolche ſchoͤne Stuͤcke zum 
Vorſchein, im Geſchmacke Holbergs, die 
fuͤr Buͤrger und Rath eines offnen Land⸗ 
ſtaͤdtchens ganz vortreffliche, anziehungsvolle 
Stuͤcke ſeyn koͤnnen. Aber dieſe ehrlichen 
Leute nennen in der Aufrichtigkeit ihres Her⸗ 
zens auch den verguͤldeten Jagdwagen eines 
Staͤdters, eine Gallakutſche — Für die 
deutſchen Schauſpielertruppen zwar ſind die⸗ 
fe Art Stuͤcke gerade, wie fie ſeyn folen: 
die meiſten haben noch nicht ein viel glaͤnzen⸗ 
de⸗ 

Eine Einſchalt ung des Ueberſetzers aus den dia⸗ 


logiichen Fabeln: aus dem Maler und 
Dichter. 


244 


deres Schickſaal als den Karren des Thes⸗ 
pis, auf den ſie von Staͤdtchen zu Staͤdt⸗ 
chen fluͤchtig gehen — dann alſo fuͤr ſolche 
Zuhoͤrer folge: Stuͤcke! — Aber was muͤſ⸗ 
ſen ſolche Dingerchen, wenn ſie vor einer 
Hofſtadt aufgefuͤhrt werden, fuͤr eine maſu⸗ 
riſche Figur machen? 

Wie ich bereits geſagt habe: den beſſeren 
Genien auch, denen Deutſchland ohne 
Zweifel die Ehre guter komiſchen Stuͤcke zu 
verdanken haben wuͤrde, ihnen ſteht das Lo⸗ 
ral entgegen, weil es nicht wohl moͤglich iſt, 
eine Welt zu ſchildern, in der ſie fremd 
find — Daher find unter allen Stuͤcken 
Gellerts, Schlegels, Weißens, Kruͤgers, Ro⸗ 
manus und einiger andern wenigeren Thea⸗ 
tralſchriftſteller nur diejenigen fuͤr große 
Schaubuͤhnen, worinnen ganz auf keine La 
kalſitten mit angeſpielt wird — 

Unter allen dramatiſchen Dichtern Deutſch⸗ 
lands war AronegE in Umſtaͤnden, das 

ko⸗ 


1 . 
komiſche Fach mit Stuͤcken, die ſich auf die 
groͤßern Sitten beziehen, zu bereichern: aber 
er ſtarb zu fruͤhe fuͤr die Schaubuͤhne, und 
auſſer ihm hat nie ein Mann, der auf den 
Scchauplatze der Welt gelebt hätte, Hand an 
das Werk gelegt. | 
Leſſing iſt der einzige, der in einem wei⸗ 
tern Umkreiſe athmet, und ſeine Stuͤcke zei⸗ 
gen den maͤchtigen Einfluß dieſes Lokalvor⸗ 
theils hauptſaͤchlich in dem Eigenthumlichen 
ſeiner Sprache: es iſt die feine Sprache des 
Weltmanns, der in Wendungen und Ueber⸗ 
gängen ungezwungen, die Bindewoͤrter fah⸗ 
ren laßt, weil fie der Ton erſetzen kann 
der ſeinen Ausdruck nicht aͤſthetiſch zergliedert, 
ſondern zufrieden, den Gedanken halb gefagt 
zu haben, die andre Hälfte errathen laͤßt, 
aus Zuverſicht, daß er mit Leuten ſpricht, 
die ihn errathen werden — der eine Poli⸗ 
teſſe mit einem Worte und gleichſam nur 
auf ſeinem Wege mitnimmt, und dadurch 
den 


246 


—— — ñ́ — — ̊ 


den Firniß einer feinen Lebensart uͤber ſeine 
Geſpraͤche zieht, und dadurch das Gepränge 
maͤſſige, welches fo eigentlich die Klein⸗ 
ſtaͤdterey verraͤth, vermeldet — 

Beyſpiele von jeden? ja! wenn nicht das 
ganze Stuͤck ein Beyſpiel waͤre! Sie muͤſ⸗ 
ſen das alſo ganz leſen, und mit andern 
Stuͤcken der deutſchen Schaubuͤhne verglei⸗ 
chen, um meine Beurtheilung zu rechtferti⸗ 
gen! ich ſchluͤſſe Ihnen darum die Minna 
von Barnhelm einzeln hier mit an — 


| 


ee Zmeotes Stick. 


Achtzehntes Schreiben. 


Wien den 8. Abril 17683 


kenne muͤſſen freylich bey ei⸗ 
A ner Schaubuͤhne zu Huͤlf geru⸗ 

| fen werden, wo man die auf 
fuͤhrbaren Nationalſtuͤcke beylaͤufig an den 
Fingern herzaͤhlen kann: doch die Wahl iſt 
hier eine andre Schwierigkeit — Ueberſetzer 
mit dem Geiſte, mit welchem Bor neille und 
Moliere einen Jopez de Vega nuͤtzten — 
jedoch was ſchreibe ich! wer ſolche Ueberſe⸗ 
tzungen über ſich nehmen darf, iſt ſelbſt Ori⸗ 
ginal. Aber Ueberſetzungen, wie beſonders 
die deutſchen Schauſpielergeſellſchaften gez 
meiniglich auffuͤhren, ſind Provinzjunker, 
die in ihrem altfraͤnkiſchen Putze in Paris 
er ſcheinen, und als eine Art Wunderthiere mit 
Finger gezeiget werden. Was thun ver⸗ 
nuͤnftigere Reiſenden, die irgend in eine gro⸗ 


R ge 


248- 


ße Stadt kommen, um fich nicht durch ihre 
Kleidung vor dem ganzen Volke auszuzeich⸗ 
nen? ihren Kleidern geben ſie den landuͤbli⸗ 
chen Zuſchnitt, ihrem Betragen überhaupt die 
Wendung der Lokalgewohnheiten: fie natura⸗ 
liſtren ſich fo ſehr, als es ihnen wenigſtens 
äußerlich, möglich iſt — Da haͤtten die Ueber⸗ 
ſetzer ungefaͤhr einen kurzen Plan, nach dem 
fie mit ihren Stuͤcken verfahren ſollten: 
weg mit allem dem, was unbefchadet des 
Ganzen aus dem Stuͤcke wegbleiben kann, 
und den Ausländer verraͤth! 

Derjenige, fo Goldonis Krieg unter 
Haͤnden hatte, gab bey ſeinem Orginal ſich 
ziemlich dieſe Freyheit — Ich verſtehe den 
Krieg in der Ueberſetzung, womit die deutſche 
Schaubuͤhne eroͤffnet worden: denn in der 
gewoͤhnlichen Ueberſetzung * ift der Waͤlſche 
durchaus eben ſo Schwaͤtzer als in ſeiner 

ur⸗ 


* Die goldoniſchen Schauspiele ſind von Sahl 
1767 ſanitlich ins Deutliche uͤberſetzet worden — 
Der Ueberſetzer. 


Pa. 


urſpruͤnglichen Sprache: und ich tadle das 
nicht, in ſoferne es Ueberſetzung iſt, wo 
der Sprachenkuͤndige mit dem Verfaſſer einer 
andern Nation bekannt machen will, und 
wo ſogar Verſchöͤnerungen, weil ſie dieſer 
Abſicht verfehlen, keinen Dank verdienen. 
Aber, wenn das Stuͤck auf der Bühne ſelbſt 
erſcheinen fol , da laſſe ich, meiner Seite, 
dem Ueberſetzer freye Hand, wie er mit dem 
Stuͤcke nur haushalten will: ich fodre Wir⸗ 
kung, und es wird mir gleich viel gelten, 
ob ich meine Unterhaltung dem Verfaſſer, 
oder jemanden ſonſt ſchuldig werde. Die 
aufgefuͤhrte Ueberſetzung hat gleich anfangs 
alle Perſonen des Stuͤckes umgetauft. J 

billige dieſen Einfall ſehr: die Donna Flo⸗ 
rida und Don Ferdinando und Donna 
Aſpaſia, und Don Fauſtino und Don 5 
biou ſ. w. geben der ganzen Sprache ſo 
durchaus ein ſchleppendes Anſehen, das ei⸗ 
nem fremden Ohre eben fo unerträglich Fällt, 

. als 


250 


als die häufigen Luſtriſſimi, und Cellentiſſimi, 
welche das waͤlſche Gepraͤng im gemeinen 
Umgang eingefuͤhrt hat. Es waͤre denn, 
der bezeichnete Ort der Handlung foderte 
die Beybehaltung der urſpruͤnglichen Na⸗ 
men, ſonſt ſollte jeder Ueberſetzer ſeinen Ar⸗ 
beiten durch eine ſo geringe Verwandlung 
eine freye Mine zu geben ſuchen — 

Noch eine andre Kleinigkeit habe ich an⸗ 
gemerket, welche die deutſchen Ueberſetzer ſich 
wohl zur Nachahmung moͤchten empfehlen 
laſſen. So oft im Original eine Perſon 
von der andern ſpricht, die abweſend iſt; ſo 
geſchieht es immer mit Voranſchickung des 
Titels Don und Donna, und wäre es auch, 
daß Don Fabio, den Don Ferdinando ei⸗ 
nen .. nennen wollte. Ich lobe mir dies 
ſe waͤlſche Hoͤflichkeit, die ſo puͤnktlich da⸗ 
rauf ſieht, niemanden an feinem Ehrentitel 
etwas zu vergeben: wenigſtens aber in der Ue⸗ 
berſetzung ficht es ſehr der Sprache eines 

Be⸗ 


| | 257 5 
Bedienten ähnlich, der nie von feinem Ges 
bieter redet, ohne einen gnaͤdigen Herrn 
voranzuſchicken. 

Nicht aber immer nur eitel Kleinigkeiten: 
der Mann iſt oft auch mit ſcharfer Hand mit dem 
guten Dottore zugefahren — Ein paar Stel⸗ 
len einander gegenuͤber zum Beweiſe! Erſter 
Aufzug fuͤnfter Auftritt. Korb allein 

„Was iſt der Krieg für eine vortrefliche 
„Sache ich werde ihn immer loben, und 
„ nie ſoll ein Wunſch nach Frieden aus mei⸗ 
„nem Herzen gehen! Wer iſt auf der Welt 
„ der nicht vor allem auf ſeinen Nutzen be⸗ 
„ dacht wire? Der Advokat lebt vom Strei⸗ 
„ te, der Arzt von Krankheiten: wo iſt ein 
„ Arzt, der die Leute geſund, und ein Advo⸗ 
„ kat, der Familien einig wuͤnſchet? — Waͤ⸗ 
„ ke kein Krieg, fo wäre kein Kriegskomiſ⸗ 
„ für; und wo iſt wohl der ‚fo bey Kriegs⸗ 
„ zeiten hundert tauſend Thaler in wenig 
Jahren beyſeite legen könnte „ und aus 

3 „Lies 


252 


ebe zu feinem Naͤchſ en, den Frieden wuͤn⸗ 
5 en ſollte? Mögen doch diejenigen wider 
„ den Krieg ſchreyen, die er zu Grund rich⸗ 
s, fet! mir, der ich zum Unterhalte der Armee 
„ NGetraide und Wein theuer genug verkaufe, 
„und Geld zwainzig bis dreyfig vom Hun⸗ 
„ derte verdiene, der ich reich an Ehre, und 
„beladen mit Beute zurückkommen wer⸗ 
1 de; mir, bey dem alles im Ueberfluſſe iſt⸗ 
2 wenn es jedermann an dem Nothduͤrftig⸗ 
35 ſten fehltz der beym Einkaufe und Verkau⸗ 
> fe gewinnet; der das Gold und Silber 
„ einer ganzen Armee in feinen eigenen Beu⸗ 
> tel zu leiten weis, mir ſey der Reeg ge⸗ 
„ ſegnet! — 

Hören Sie nun Goldoni predigen“ 

Polidor allein. 

„ O was iſt der Krieg für eine vortreff⸗ 

„ liche Sache! ich werde ihn allemal loben, 


und 


1 Im Original ſtund hier der waͤlſche Tert: da aber 
nicht allen Leſern die waͤlſche Sprache ſo gelaͤu⸗ 
fig ſeyn duͤrfte / fo hat der Ueberſetzer dieſer Briefe 
den deutſchen Tert der aͤltern Ueberſezung eingeruͤckt⸗ 


253 
„und es iſt nicht zu beſorgen, daß jemals 
„ ein Wunſch nach Frieden aus meinem 
„ Herzen gehen ſoll! Wer mich hoͤrte, der 
>, koͤnnte vielleicht ſagen: du bitteſt nur fuͤr 
>, dein eigenes Gewerbe, wie die Frau jenes 
„ Scharfrichters, die den Himmel bat, daß 
„ er ihrem Manne mehr und mehr zu thun 
„ geben möchte — Doch, wer iſt wohl auf 
„ der Welt, der nicht vor allen andern 
„ Dingen auf feinen eigenen Nutzen bedacht 
„ Wäre? Der Advokat lebt vom Streite, 
5 der Arzt von Krankheiten: man zeige mir 
» einmal einen Arzt oder einen Advokaten, 
„ der da wuͤnſchte, daß alle Leute geſund, 
„ und alle Familien einig ſeyn moͤchten! 
5 wenn kein Krieg ware, fo gäbe es keine 
„Kriegskommiſſaͤrs: und wo iſt wohl der⸗ 
„ jenige, der bey Kriegszeiten hundert tau⸗ 
„ ſend Thaler, in vier oder fuͤnf Jahren 
„ bey Seite legen koͤnnte, und aus Liebe zu 
5 feinem Naͤchſten, den Frieden wuͤnſchen 
R 4 „folks 


— 


2 


284 


!... DU!!! — — — 


„ ſollte? Nur diejenigen ſchreyen wider den 
5, Krieg, denen das gehemmte Kom̃erz Scha⸗ 
„ den bringet, nicht aber diejenigen, die 
>» die Armee mit dem Nothwendigen verſor⸗ 
„ gen, und auf ihre Waare oder Geld 
2 zwainzig bis dreyßig vom Hunderte verdie⸗ 
2 nen. Ferner ſeufzen — 

Ohne Zweifel ſeufzen auch Sie Bu dem 
Ende — aber ohne Barmherzigkeit! Sie 
muͤſſen aushalten: der Schluß iſt gar zu 
ſinnreich — alſo 

„ Ferner ſeufzen diejenigen Familien über 
»s den Krieg, die ihren Vater, ihren Sohn, 
„oder ihre Anverwandten verloren haben; 
95 aber die nicht, die die ihrigen reich an 
» Ehre, und beladen mit Beute zuruͤckkom⸗ 
e men ſehen — Auch beſchweren ſich bis⸗ 
weilen die Soldaten, ja ſelbſt die Offi⸗ 
„ ziers über den Krieg , wenn ihnen das 
„nothwendige fehlt; niemals aber beklagt 
1 ſich ein Kommiſſaͤr, wie ich, darüber, 
| 920 


Ar? 


* 


x 


235 


— —ʒ4—w— — IE ar 


en 1 10 dem alles im Ueberfluſſe iſt, der beym 
2, Einkauf und Verkauf gewinnt, der aus 
„ dem Schmilztiegel feines Kopfes, alles 
, Gold und Silber einer ganzen Armee in 
„ feinen eigenen Beutel fließen laͤßt — 
Was ſagen Sie, zu dem Raufmann und den 
Scharfrichter und ſeiner Frau, und ganz be⸗ 
ſonders zu dem Schmilztiegel des Kopfes? 
Zweifeln Sie noch ob Boileau die Wahr⸗ 
heit geſchrieben: 
N on peut etre ala fois & pompeux 
| & plaifant ? 
So fauer, als Sie immer ſehen mögen : 
Sie muͤſſen noch einmal⸗daran! Tröften Sie 
ſich damit, daß mir das Abſchreiben wenig⸗ 
ſtens eben fo theuer zu ſtehen koͤmmt, als Ih⸗ 
nen das Leſen — | 
Nach der aufgeführten Ueberſetzung im 
zweyten Aufzug VII. Auftritt, als Euge⸗ 
nien die Freudigkeit ihres Liebhabers uͤber 
den Anſchein des Friedens unbegreiflich 
RS ſcheint, 


256 


ſcheint, da er nur erſt vor kurzem, nach der 
Schlacht eben ſo begierig zu verlangen ſchien, 
antwortet 
Werenhelm. 

„Fraͤulein! waͤre ich mehr Soldat als 
„ Schwaͤtzer; ſo wuͤrde ich ihnen beweiſen, 
„ daß aus zween verſchiedenen Gründen in 
„eben denſelben Gemuͤthe eine Freude auf 
„ die andre folgen koͤnne — Aber ohne Um⸗ 
„ſchweife! ein Mann von Ueberlegung uns 
„ terwirft ſich der Nothwendigkeit ohne 
„ Murren: er verfolgt feine Pflicht mit heis 
„ trer Stirne; fie fälle oft feinem Herzen 
„ ſchwer; fie kaͤmpft mit feinem liebſten 
„ Wunſche — aber es iſt Pflicht: dieſes iſt 
genug fuͤr ihn — Fuͤgt es ſich, daß ein 
ungehoffter Fall ihn dieſer traurigen Pflicht 
uͤberhebet, daß Ehre und Neigung ſich ver⸗ 
einbaren laſſen: dann breitet ſich die Freu⸗ 
„de ungehindert aus, dann (wirft ſich zu; 
„ihren Fuͤſſen) uͤberlaͤßt er ſich ſeiner Sehn⸗ 

ſucht⸗ 


29 


2 


\d 


7 


92 


an 


257 


„ ſucht, hängt an dem Auge feiner theuren 
„ Geliebten, wuͤnſcht darinnen Mitleid und 
„ Liebe zu leſen — wuͤnſcht ( ſieht fie ſtarr 
„ an) und hofft — 

Im Original — 

5. Wenn ich mehr Philoſoph, als Soldat 
„ Wäre; fo wollte ich ihnen beweiſen, wie 
„ es möglich ſey, daß aus zween verſchie⸗ 
„ denen Gruͤnden, in eben demſelben Ge— 
„ muͤthe, eine Freude auf die andere folgen 
„ könne. Einige Gruͤnde einer natürlichen 
„ Philoſophie aber hat ein jeder: deswegen 
„ erlauben fie mir ihnen zu ſagen ! ich den⸗ 
ke, daß Fraͤulein ſollte hier geantwortet 
haben: ich erlaube es nicht!) daß das Ver⸗ 
„ gnuͤgen, und das Misvergnuͤgen aus uns 
„ fern Begriffen entſtehe, und zwar nach 
„ der Beſchaffenheit unſers Gemuͤths, die 
„ theils aus dem Affekt, theils aus unſrer 
„Pflicht; oder auch aus der Nothwendig⸗ 
„ keit herzuleiten iſt: daher koͤmmt es, daß 

„ ein 


258 


„ ein Menſch, der ſich von Affekten beherr⸗ 
„ ſchen laͤßt, eine Begierde oder Verlangen 
„ nach einem Guten hat; wenn er uͤber ſei⸗ 
„ ne Pflicht nachdenket, ſo wuͤnſchet er ein 
„ anderes; und bisweilen bewirkt die Noth⸗ 
„ wendigkeit bey einem Gemuͤthe die voͤllige 
„ Entſchluͤſſung. Eine jede von dieſen Be⸗ 
„wegurſachen iſt im Stande, den ganzen 
„ Menſchen einzunehmen; und es iſt weit 
„ beſſer ſich einer einzigen Idee zu uͤberlaß⸗ 
, fen, als den innerlichen Streit unfrer un⸗ 
„ entſchluͤſſigen Leidenſchaften auszuſtehen. 
5 Nun werden fie verſtehen — 

Ganz gewiß, wenn Donna Florida an⸗ 
ders nicht eingeſchlafen iſt, ehe das metha⸗ 
phyſiſche Kollegium alle war! Koͤnnte ſich 
ein Pinceau, oder Stifelius pedantiſcher 
ausdruͤcken, als es dieſer feurige, zudringen⸗ 
gende Liebhaber gethan? und wuͤrden die 
Offiziere wohl dieſe ſiegenden, unwiderſtehlf⸗ 
chen Maͤnner bey dem ſchoͤnen Geſchlechte 

ſeyn, 


0 


* 


4 89 


ſeyn, wenn fie ſaͤmmtlich fo ekelhafte Schul⸗ 
fuͤchſe waͤren, wie die Don Ferdinande des 
Goldoni? 

Bemerken Sie: wie artig ſich dieſer 
Menſch, der mit feinem Kavalier bey jeder 
Gelegenheit um ſich wirft, und als ein wirk⸗ 
licher Faͤhndrich wegen feiner Heldenthaten 
das Zeugniß der ganzen Armee aufruft, wie 
ſich dieſer Held bey einer andern Gelegen⸗ 
heit auf eine ſo unnachahmliche Art anzu⸗ 
kuͤndigen weis — Unbemerkt trat er in das 
Zimmer, wor innen ſeine Geliebte uͤber die 
fehlgeſchlagene Hoffnung des Friedens ein 
langes Selbſtgeſpraͤch hielt — fie wuͤnſchte, 
es möchte jemand kommen, der fie bes 
nachrichtigte — hier erblickt fie ihren Lieb⸗ 
haber und ruft beſtuͤrzt aus: woer iſt da? — 
Wenn ſie einen Diener brauchen, Donna 
Florida — antwortet er — hier iſt einer 
zu Dero Befehl — Hat die Lebensart dieſes 

Ka⸗ 


260 


—— em 


Kavaliers nicht vollkommen die Wendung 
eines Miethlakeys? 

Ich bin daher noch nicht mit mir einig, 
ob es Voltaren, da er in dem bekannten 
Briefe an Goldoni, ihn einen Maler und 
Sohn der Natur gruͤßt, Ernſt geweſen, 
oder ob er vielleicht eine Satire auf die Na⸗ 
tion im Sinn hatte, indem er dem Schrift⸗ 
ſteller ein Kompliment zu machen ſcheint. 

Iſt Goldoni ein Maler der Natur, und 
ſoll ich Voltaͤrens Lobſpruch wahr finden. 

Aux critiques aux rivaux 

La nature a dit ſans feinte, 

Tout auteur a ſes defauts, 

Mals Goldoni m' a peinte. 
ſo muͤßte ich anfangen an demjenigen ſelbſt 
zu zweifeln, deſſen Schilderungen von den 
goldoniſchen ſo ſehr unterſchieden ſind. Zum 
mindeſten hat der Advocato nicht die edel⸗ 
ſten Gegenſtaͤnde zu feiner Nachahmung ges 
waͤhlet; und wenn man an ihm, wie an den 

Nie⸗ 


262 


niederlaͤndiſchen Malern Fleiß und Wahrheit 
bewundert; ſo wird man zugleich bedauren, 
daß er dieſen Fleiß an Wachſtuben und 
Kauchzimmer verſchwendet habe. 

Da Voltaͤre einmal dieſen Italiaͤner in 
Schutz genommen, und ſeine Komoͤdien das 
von den Sothen befreyte Italien genen: 
net; fo betete der Schwarm auf Berante 
wortung Voltaͤrs den Lobſpruch nach, ohne 
zu unterſuchen, wie weit er ihn verdiene — 
und das Haͤuflein auserwaͤhlter, ſelbſt 
urtheilender Leſer, wagte es nicht, einem 
Manne zu widerſprechen, deſſen Anſehen 
unerſchuͤtterlich befeſtiget ſchien — Alſo war 
nun Goldoni im ruhigen Beſitze feines Ruhms: 
hieß eing Woliere Italiens — fehlerfrey 
in der Anlage — da doch vielleicht ſeine 
Inamorati und Pamelen ausgenommen, 
alle Plane verwirrt, mit unverbundenen 
Zwiſchenfaͤllen vollgepropft und unnoͤthig ver⸗ 
laͤngert find — hieß gluͤcklich in Situatio⸗ 

nen — 


262 


nen — die doch, wo ihm einige gelungen, 
unter dem waͤſſerichten Geſchwaͤtze gleichſam 
verſchwinden — hieß unnachahmlich in 
Dialogiren — Sie haben an den angefuͤhr⸗ 
ten Stellen einen kleinen Beweis vor Augen, 
wie ferne dieſes Lob ſeine Nichtigkeit habe: 
und ich verbuͤrge mich: aus jedem ſeiner 
Stuͤcke ganze Seiten der froſtigſten, in⸗ 
haltleeren Geſpraͤche, der unnatuͤrlichſten, 
langweiligſten Selbſtgeſpraͤche, der taͤn⸗ 
delndſten Spitzfindigkeiten, und Concetti 
herauszuheben — 

Ich halte mir einen umſtaͤndlicheren Be⸗ 
weis bey feinem Cavaliere di bon guflo 
vor, womit die waͤlſche Schauſpielertruppe, 
die ſich drey Monate lang hier aufhalten 
ſoll, den Anfang gemacht hat. 


Drittes Stück. 


Neunzehntes Schreiben. 


Wien den 15 April 1768. 
©, Wenn Sie nicht wenigſtens eine Eh⸗ 
IR renſache daraus machenz fo neh⸗ 
S me ich mein Wort, Goldonis 
Cavaliere di bon guſto auseinander zu ſe⸗ 
gen, zuruͤcke. Ich habe ihn eben vor mir 
liegen, und mit jeder Seite, die ich umſchlage, 
ſage ich mir: aber warum will ich meinem 
Freunde mit einem Beweiſe verdruͤßlich fal⸗ 
len: daß Kieſelſteine auf der Straſſe keine 
Diamanten find? — Das ganze Stuͤck iſt 
ein Flickwerk von muͤſſigem, kalten Geſchwaͤ⸗ 
tze, ausgedehnt, um die fuͤr die Schauſpiele 
augeſetzten Stunden zu erſtrecken, ſonſt ohne 
Innhalt, ohne Sitten, ohne Anziehung — 
Die Karaktere find entweder ſchiel, oder 
monotoniſch, und unthaͤtig: die Sprache 

| S diurch⸗ 


264 


— 


durchaus dieſelbe, und durchaus die Sprache 
des Pöbels, wenn ich einige zur Unzeit groß⸗ 
toͤnende Stellen ausnehme, wo ſie auf Stel⸗ 
zen einhertritt; der Gang des Stuͤckes, 
wenn ich ſo ſagen darf, chronologiſch, der 
Tag eines Menſchen, der, ohne etwas 
Wichtiges zu thun, dennoch keine Stunde 
für ſich hat; der Anotten eine übel anſtaͤn⸗ 
dige Zweydeutigkeit, durch die kahle Spitze 
eines Eppigrams (Sinngedichts) aufge⸗ 
loͤßt; und oben darein, eine ſehr zwepdeuti⸗ 
ge Moral, wenn Moral bey einem dram⸗ 
matiſchen Stuͤcke nothwendig erfodert wird. 

Ich hielte das Ganze etwan fuͤr eine fei⸗ 
ne Spötteren auf die Neugeadelten, wel⸗ 
che, wenn das Stuͤck Pergament in ihren 
Haͤnden iſt, ihre Haͤuſer auf einen großen 
Fuß ſetzen wollen, ohne den Geſchmack zu 
haben, ihrem Aufwande Ehre zu machen — 
etwan für einen bourgeois Gentilhomme 
in destouſchiſcher Manier — a me non & 

le. 


265 


lecito invigilare ſulle minute cofe della 
famiglia * und gleich darauf ein umſtaͤndli⸗ 
ches Verzeichniß ſeiner Tafel machen — 
bm! ſollte man denken, der Mann zähle 
die Tafel wenigſtens nicht unter die kleinen 
Sachen ſeines Haus weſens — die Wahl des 
Haus hofmeiſters, die auf einen Livreybe— 
dienten faͤllt, weil er zwoͤlf Jahre im Hauſe 
iſt, die alſo auf den Kutſcher wuͤrde gefallen 
ſeyn, wenn er funfzehen Jahre des Okta⸗ 
vio Pferde zu verſehen, das Gluͤck genoſſen 
hätte — das oͤfters wiederholte la mia cara 
mezza etä gerade, wie ein duͤrrer Kopf, 
der, wenn ihm einmal ein witziger Einfall 
gelungen, denſelben nicht eher fahren laͤßt, 
als bis die kleine Spitze ſtumpf geworden — 
das waͤren ziemlich charakteriſtiſche Züge 
eines Jourdains — voila, ce que C' eft 


S 2 que 
* Erſten Aufzug V. Auftrittifür mich ziemt 
5 ſich nicht / auf die Kleinigkeiten im Hauſe zu 
ſehen. 
Pein liebes Mittelalter: ſagt DO Etavio im 
mer zu Eleonoren. 


266 


que de fe mettre en perfonne de quali- 
te Ä 

Nichts weniger, als dieß mein Freund! 
Oktavio iſt von unſerm Sohne und Maler 
der Natur ganz im Ernſte als ein Muſter 
des guten Geſchmacks aufgeſtellt worden: 
die Komoͤdie ſchluͤßt ſich wie ein Lebeereim 
um uns das zu ſagen, was wir vielleicht 
nicht errathen konnten; und noch umſtaͤndli⸗ 
cher ſagt man uns in der Vorrede — 

Ingegnato mi fono a renderlo di buon 
eufto nelle migliori cofe del mondo * 
Wir wollen den Mann nach feiner Anleitung 
ein wenig vornehmen! — 
Tavola! ich denke da auf den deutſchen 
Dichter: | 

Damit ich fagen kann, was gut und 
übel fi 


el ſchmecket 
Folgt es, daß ich ein Koch ſeyn muß? 
Um ſeiner Kuͤche Ehre zu machen, muß er 
denn den Kuchelzeddel ſelbſt zu ſchreiben wiſ⸗ 
„ 


Ich habe mirs angelegen ſeyn laſſen / ihn von Geſchma⸗ 
cke zu machen / in allem was auf der Welt gut IE —. 


267 \ 


fen ? er darf ja nur feine Leute mit Einſicht 
waͤhlen. Das weis er auch vortrefflich: 
ſervitu! er nimmt ſeinen Haus hofmeiſter nach 
der Jahrrechnung, und unterrichtet ſeinen 
Sekretaͤr in der Liebe, damit er einen arti⸗ 
gen Brief an Damen zu ſchreiben wiſſe * 

Trattamento, converſazioni, prote- 
zioni, corriſpondenze und immer fo eines 
nach dem andern in einem ziemlich langen 
Verzeichniſſe — Suchen Sie die Züge auf! 
welche, wie Goldoni ſpricht, vereinbart 
den Mann bewunderungswuͤrdig mA 
chen: wie trocken werden Sie Umriß und 
Farbe des Bildes finden, das er malen woll⸗ 
te! — Seine Liebe zu den Wiſſenſchaften be⸗ 
weiſt ein Band von Wartiniere. Der Beweis 
ſcheint wenigſtens dem Komoͤdienſchreiber 
ſehr wichtig, da er dieſen Umſtand, ohne 
Zweifel als einen ſtarken Zug, am Ende 
ſeiner Vorrede insbeſondere anfuͤhrt — 
u. Auf. II. Auftt, 


S3 Be⸗ 


268 


em 


Bewundern Sie nicht das artige Betra⸗ 
gen dieſes Mannes? — das ſollen Sie mir 
gewiß! oder faͤnden Sie es nicht artig, wenn 
der Herr Graf der Frau Graͤfinn uͤber das 
zehnte Wort ein oh diavolo ! unter die 
Naſe pflanzt, und das Heurathen auf eine 
recht edle Art una beftialita heißt! Ste⸗ 
hen Sie nur einen Augenblick an; ſo will 
ich Ihnen eine ganze Seite ſolcher Artigkei⸗ 
ten aus dem Munde der Damen anführen: 
Sie muͤßten kein Franzos ſeyn, wenn Sie 
dieſe Lebhaftigkeit in einem ſchoͤnen Munde 
nicht allerliebſt fanden — Nun alfo habe 
ich gewonnen; denn bis auf den neuver⸗ 
wandelten Haushofmeiſter Brighella , und 
auf den Koch Arlechino, alles fuͤhret in 
dem Haufe des Manns vom guten Geſchma⸗ 
cke einerley Sprache. 

Die aͤußere Artigkeit ( pulizia efterna ) 
ſtimmt mit der innern Kechtſchaffenheit (in- 
terna ſincerità) recht harmoniſch überein. 
Zwee⸗ 


TTT 
Zweenen Frauen vom Stande anſchwaͤrzen, 
daß man in ſie verliebt iſt, mit doppelſtim⸗ 
migen Worten ihnen die Ausſicht auf eine 
Vereinigung zeigen, und dann, ſobald ſie 
den Ruͤcken wenden — in ein Gelächter über 
ihre gemisbrauchte Leichtglaͤubigkeit ausbre⸗ 
chen * ift das nicht gerade das Betragen 
des Tomaſino aus den Amante di tre, 
fpofo di nefluna ? einem ſcherzhaften Sing⸗ 
ſpiele, das wie ein deutſches Frazenſpiel mit 
Schlaͤgen ſein Ende nimmt? = 

Ziehen Sie alles zuſamm, was Goldoni 
feinen artigen Mann handeln laͤßt! Klei⸗ 
nigkeiten! eine Tafel anordnen, ein Brief 
in die Feder ſagen, das iſt alles — doch da⸗ 
rinnen bleibt er wenigſtens noch ein recht⸗ 
ſchaffener Man. In der Geſellſchaft aber, 
iſt er grauſam, da er eine fuͤr das Gut ih⸗ 
res Sohnes mit Grunde ſorgfaͤltige Mutter 
nur einen Augenblick im Zweifel laſſen kann; 

S4 iſt 

si Erſter Aufzug XII. Auftr. io crepo de la rifa — 


270 


iſt er ein Betrůͤger, der zweyen Weibern 
eitle Hoffnungen macht, und ſie zuletzt der 
grauſamſten Verwirrung ausſetzet, die einer 
Perſon ihres Geſchlechts nur wieder fahren 
kann; iſt er eine ſchiefe Kopie unſrer Ge⸗ 
meinbuhler, und vielleicht fuͤr Italien ein 
verfuͤhreriſches, ſchaͤdliches Original — 
Der Knotten iſt eine Sweydeutigkeit, 
welche durch drey langweilige Aufzuͤge durch⸗ 
geſchleppet, in dem VI. Auftritte des drit⸗ 
ten Aufzugs endlich, wie geſagt, auf eine 
eppigrammatiſche Spitze zulaͤuft — Eleono⸗ 
ra und Clariſſe, beide machten auf das Herz 
des Grafen Rechnung: fein Betragen, ſeine 
Reden hatten ſie zu dieſem Irrthume verlei⸗ 
tet — Oktaoio beſtaͤttiget fie darinnen im 
II. Auftritte — | 
Oktavio: nun: meine Damen: ich will 
„Ihnen die Wahrheit entdecken. Ich ha⸗ 
„„ be bereits meine Braut gewaͤhlet: ich 
„ wer⸗ 


| 371 
„werde es oͤffentlich ſagen; jedermann wird 
„ mit meiner Wahl zufrieden ſeyn „ 

Beatrice. Sollten wir ſie kennen, Ihre 
Braut? 

Oktavio. Ohne Zweifel; fie iſt hier mit 
an der Tafel. 

Clariſſe. Wie ? 

Eleonora. An der Tafel? 

Oktavio. Ohne Zweifel — Die guten bei⸗ 
den Praͤtendentinnen gerathen daruͤber in 
Verlegenheit: jede fuͤrchtet, ihre Nebenbuh⸗ 
lerinn möchte die gluͤckliche Gewaͤhlte ſeyn: 
jede ſucht ſich aus dem Irrthume, dieſem 
peinigenden Irrthume zu reißen; jede fragt 
ihn in Geheim: ob nicht die Wahl auf jene 
falle? Nein, antwortet er: und die Fragen⸗ 
de konnte nun keinen Augenblick zweifeln, daß 
feine Wahl nur auf fie fallen würde — Nun, 
es verlangt mich in der That, wie er ſich da 
heraus wickeln wird — Hoͤren Sie! 
man umlagert ihn, man dringt in ihm, die 

S 5 Wei⸗ 


272 


Weiber erhitzen ſich, ſie fangen an, mit 
Grobheiten um ſich zu werfen: 

Oktavio. Gemach! ich will Ihnen ſaͤmmt⸗ 
„lich dieſes Vergnuͤgen verſchaffen. Herr 
5„ Pantalon! dieſe Damen verlangen meine 
>, Braut zu kennen: ich habe mich dazu an⸗ 
„, heiſchig gemacht: es iſt billig daß ich 
99 Wort halte — Meine Damen! die Braut 
„ die ich gewaͤhlet, die Braut die ich liebe, 
„die Braut, die ich ehlige, wiſſen Sie, 
„ wer fie iſt? — Eine — — Handlungs⸗ 
„ geſellſchaft mit Herren Pantalon Biſog⸗ 
„ noſt u. ſ. w. 

O des gluͤcklichen Einf alls! o des uner⸗ 
warteten, der Ueberraſchung! uͤberlegen Sie 
ſelbſt! die Braut iſt weiblichen Geſchlechts 
— die Sandlungsgeſellſchaft ingleichen; 
wie natuͤrlich laßt ſich die Erwartung anbrin⸗ 
gen — meine Braut iſt eine — Handlungs⸗ 
geſellſchaft — Wenn wenigſtens dießmal die 
Sprachlehre dem Komoͤdienſchreiber einen 

Streich 


273 


Streich geſpielt, und die Sand lungsgeſell⸗ 
ſchaft maͤnnlichen Geſchlechts gemacht haͤt⸗ 
te — Goldoni! wie haͤtteſt du deinem Schau⸗ 
ſpiele ein Ende finden koͤnnen? — 

Oftavio iſt der Hauptkarakter: es laͤßt 
ſich davon auf die uͤbrigen ſchluͤſſen. Die 
Weiber find alle einerley, mannſuͤchtig bis 
an die Graͤnzen der Unanſtaͤndigkeit, gemein 
im Ausdrucke, Clariſſe wie Eleonora, und 
dieſe wie jene, gleich Zwillingen, denen man, 
um ſie nicht zu vermengen, Merkzeichen an⸗ 
haͤften muß — Der Scrocco Zelio thut weis 
ter nichts, als die Geſellſchaft zahlreicher 
machen, ohne daß er ſonſt irgend bey was 
immer mitwirkte: Florinde iſt ein Menſch, 
der neuerlich aus dem Kollegium gekommen, 
und, wie es fuͤr einem bloͤden Jungen auch 
wohl gethan iſt, ſich in nichts menget, und 
ſich nicht verſpricht. Dieſes Stuͤck hat alſo 
auch die gewöhnlichen Triebwerke nicht, wel- 
che ſonſt den Mangel der Anziehung erſe⸗ 

tzen, 


274 


gen, und den Gang der Handlung beleben; 
Triebwerke, die in den aus der Abſtechung 
der Karaktere entſpringenden, naturlichen Vor⸗ 
faͤllen beſtehen, und der langweiligen Ein⸗ 
foͤrmigkeit ausbeugen, da ſie Verſchiedenheit 
der Geſinnungen, und Wechſel in den Ton 
des Geſpraͤchs bringen. Ich erwieſe dem 
Ganzen zu viel Ehre, wenn ich mich auf 
Kritik der Theile einlieſſe — 

Es war gleichwohl ſo leicht, die Hand⸗ 
lungen des Oktavio durch den Lelio, wenn 
er mit verflochten wuͤrde, contraſtiren zu 
laſſen: den Eigennutz, die Unwiſſenheit, den 
Stolz, den baroken Geſchmack des letzten, 
der edeln und wohl angelegten Freygebigkeit, 
den weitlaͤufigen, aber nicht pedantiſch aus⸗ 
gekraͤmten Kenntniſſen, der Herablaſſung oh⸗ 
ne Erniedrigung, der einſichtvollen Wahl 
feiner Vergnuͤgen, zu einem Schlagſchatten 
dienen zu laſſen: der ungebildete junge 
Menſch konnte von ſeinem Oheime, nicht 

bloß 


275 


bloß in Beyſpielen, er konnte auch durch 
Lehren unterrichtet werden, wenn man die 
Gelegenheiien herbeyzufuͤhren gewußt, wo 
dieſe Lehren am rechten Orte ſtuͤnden, um 
nicht in einen trocknen Moraliſtenton auszu⸗ 
arten — Es war moͤglich, und die Ehre da⸗ 
von iſt noch einem kuͤnftigen Dichter unbe⸗ 
ruͤhrt vorbehalten, aus dem Karaktere des 
Mannes vom Geſchmacke ein unterhalten⸗ 
des Karakterſtuͤck zu machen, welches fuͤr 
Juͤnglinge, die in die Welt eintreten, lehr⸗ 
reich ſeyn, und ihnen gewiſſermaſſen eine Art 
von Welterziehung geben koͤnnte; welches 
aber eben darum — nicht das Werk eines 
Goldoni, deſſen Stuͤcke bey dem Verdien⸗ 
fie, das man ihm nicht ganz abſprechen kann, 
dennoch, wie die Roͤmer zu ſagen pflegten, 
fæces redolent, nach dem Weinhaͤffen rie⸗ 
chen „auch nicht eines Mannes auf der 
Studierſtube, dem die große Welt, wenn er 
darein verſetzt wuͤrde, ein eben ſo neues 
i | Schau⸗ 


| 276 

Schauſpiel feyn wiirde, als dem erſt ein⸗ 
tretenden Juͤnglinge — ſondern das Werk 
eines Genies ſeyn muͤßte, das in dieſer Welt 
zu Hauſe iſt — der Wann vom Geſchma⸗ 
cke müßte ſich ſelbſt ſchildern — 

Die waͤlſche Schauſpielergeſellſchaft, gegen 
welche das Publikum die Gefaͤlligkeit hat, 
fie erträglich zu finden, hat dieſes Stuͤck 
durch einen kleinen Zufatz luſtiger zu machen 
gedacht. Wer mag doch dieſen Fremdlingen, 
den Geſchmack des Haufens verrathen ha⸗ 
ben ? fie ſuchten ſich darnach zu bequemen. 
Arlekin, der die Rolle des Kochs über fi 
hat, wird von Goldoni nur einmal auf die 
Buͤhne gebracht: aber vorher hatte Gktavio 
gegen Brighellen erwaͤhnet: er wollte den 
Koch ſprechen. Goldoni hat dieſen Anſtoß 
weiter nicht genuͤtzet: die Schauſpieler⸗ 
geſellſchaft bemaͤchtigte ſich deſſelben, um 
ihren Fanno in feiner ganzen Staͤrke zu zei⸗ i 
gen: er uͤberbringt feinem Herren einen Kuͤ⸗ 


chen⸗ 


277 


Kuͤchenzeddel, und da er Befehl erhält, ihn 
herzuſagen, ſtottert er, als ob er nicht le⸗ 
ſen koͤnnte, daher: | 

Il fiato per la prima fpurcada u. ſ. w. 
anſtatt il piato per la prima Portada — 
ich weis, Sie verlangen nicht weiter nach 
dieſem unfläftigen Witze, womit man gleich: 
wohl das Herz hatte, in Gegenwart etner Hof 
ſtadt ziemlich lange fortzufahren — Unmoͤg⸗ 
lich konnte ich mich enthalten, als ich jemanden 
neben mir, je groͤßer der Schmutz war, deſto 
ein groͤßeres Gelaͤchter aufſchlagen hoͤrte, 
zu ihm zu ſagen: Th, wenn man an ſol⸗ 
cher Waare Luſt findet, was iſt es nöͤ⸗ 
thig, fie aus Waͤlſchland zu verſchreiben: 
ich denke, ſie iſt von eben der Gattung im⸗ 
mer uͤberfluͤſſig im Lande zu haben ges 
weſen — j’ aime, ſetzte ich hinzu, um meine 
Niedlichkeit durch Anſehen zu rechtfertigen: 


j aime fur le theatre un agreable 
acteur, 


Qui 


| 278 b 
. ͤ — T— — 
Qui ſans ſe diffamer aux yeux du 
ſpectateur, 
Plait par la raiſon ſeule, & jamais 
ne la choque; 
Mais pour un faux plaiſant, à groß 


fiere equivoque, 

Qui pour me divertir, n' a que la 
| (alete, 

Qu’ il feu aille, s’il veut, fur deux 


tretteaux montè, 
Amufant le Pont neuf de ſes ſor- 


nettes fades 
Aux laquais aflembles jouer les 


Mafcardes * 
* Boileau art poetique Chaut III, am Ende. Der 


Verfaſſer des Briefs hat im erſten Verſe das Wort 


Acteur, für Auteur wie es bey dem Deſpreaux 
heibt / unter geſchoben Ueberſ. 


Viertes Stück. 


Zwainzigſtes Schreiben. 


Wien den 23. April 1768. 


n 

N oder der Kaufmann von 
08 London hat in Handelsſtaͤdten, 

5 wie Ste wiſſen, eine erſtaun⸗ 
liche Aufnahme gehabt. Die Urſache davon 

iſt ſehr naturlich: die Kaufleute ſchickten 
ihre Leute in dieſes Schauſpiel ſtatt einer 
Predigt. Der Eindruck davon iſt auf Leu⸗ 
te, auf die es einigermaſſen eine Stands⸗ 
beziehung hat, erſchrecklich. Milwood, die 
mit allen Reizen ihres Geſchlechts, mit al⸗ 
len Anziehungen der Wolluſt, einem jungen, 
unerfahrnen Menſchen die gefaͤhrlichſte 
Schlinge legt, die ſein neues Herz durch 
alle Kuͤnſte der Verſtellung anfaͤllt, und ſelbſt 
feine natürliche Güte zum Werkzeuge ſeines 
Verderbniſſes gebraucht, die ihn in einem 
reißenden daufe von Laſter zu Laſter fort treibt, 
D „ ei 


280 


und mit der Oberherrſchaft, derer ſich die 
einmal verkoſtete Wolluſt über ihre Leiheige⸗ 
ne anmaſſet, einen Vatermord an ſeinem 
Oheim, ſeinem Wohlthaͤter gebeut, welch 
ein graͤßlicher Charakter! und in einem ſol⸗ 
chen Lichte gezeigt, welche Warnung! Lillo 
hat nichts verabſaͤumet, der ſeichtſehenden 
Jugend das uͤbertuͤnchte Grab der Wolluſt⸗ 
dirne aufzudecken: 


Oportet intus oftendere mores mere - 
tricum * 


fagte der Knecht beym Plautus, da er den 
Sohn ſeines Herrn in den Schlupfwinckel 
zu einer feilen Buhlinn begleitet: der Ver⸗ 
faſſer Barnwelts zeigt Milwoods ganze 
Haushaltung: er macht den Zuſchauer zum 
Vertrauten ihrer geheimſten Gedanken; er 
deckt das Innere ihrer Seele auf; ſie ſelbſt 
kuͤndiget ihre erſchrecklichen Entwuͤrfe an: 
Gold iſt ihr Goͤtze, Tugend und das maͤnn⸗ 
li⸗ 


* Man muß Jüͤnglingen zu ihrer Warnung die Sit⸗ 
ten der Wolluſtdirne von innen ſehen laſſen — 


liche Geſchlecht das Opfer, das fie dieſem 
Goͤtzen ſchlachtet — 

Der Auftritt, wo Milwood den, von dem 
Morde ſeines Oheims wiederkehrenden Barn⸗ 
welt mit Raubbegierde anfällt: Laß ben, 
wie viel hat uns dieſe Frevelthat einge⸗ 
bracht? und dann, als fie uͤberzeigt iſt, daß 
ſein Verbrechen unfruchtbar, daß die Hand, 
die Entſchloſſenheit genug hatte, einen Dolch 
in die Bruſt des betenden Greiſen zu ſtoſſen, 
nicht auch kuͤhn genug war, den Leichnam 
durch einen Diebſtahl zu entheiligen, die 
augenblickliche Entſchluͤſſung, einen Mord, 
wovon ſie ſelbſt Urheberinn war, dem Ge⸗ 
richte zu bedeuten, und den Moͤrder zu Übers 
liefern, um nicht in die Unterſuchung mit 
verſchleift zu werden; dieſe beiden Zuͤge ſind 
in ihrer Art die einzigen. Wenn ſie dem 
menſchlicken Verſtande, der ſte erfunden, 
Ehre machen, ſo ſchimpfen fi ie das Herz, 

Bl es derſelben fähig iſt = 
. r So⸗ 


282 


Sobald die Furie entlarvet, und dem 
Wirgengel der Gerechtigkeit zum Ver ſoͤhnopfer 
der Tugend uͤbergeben worden; ſo iſt die 
theatraliſche Handlung an ihre Endperiode 
gelanget; und der Vorſchrift der Kunſt ge⸗ 
mäß, hätte hier der Vorhang fallen ſollen. 
Lillo zog weniger die Regeln der Kunſt, als 
ſeine Abſicht zu Rathe, und er hat an Pop⸗ 
pen einen Vertreter: | 
In ev ry Work regard the Writers. 

End! 
Since none can compafl more, than 
ö they intend : | 
And if the means be juft, the con- 
duct true 
Applauſe, in ſpight of trivial faults, 
Br: is due * 
er ſchrieb in England, er ſchrieb zur Warnung 
der Jugend: es war ihm nicht genug auf die 
ungluͤcklichen Folgen des Laſters einen Finger⸗ 
e zeig 
* In jedem Werke betrachte den Endzweck des 

Schriftſtellers: denn niemand iſt gehalten / mehr 

zu Stande zu richten / als er abzielt: und wofer⸗ 

ne feine Abſicht gut / und das Mꝛittel / fie zu ers 


reichen / wohl gewaͤhlt iſt; ſo gebuͤhrt ihm, Trotz 
gtringer Hebertreltungen / immer fein Ruhm = 


283 | 


zeig gegeben zu haben; er will die ganze Rei⸗ 
he derſelben bis an das ſchimpfliche End, in 
einem ſchaudervollem Gemaͤlde uͤberſchauen 
laſſen: er fuͤhrt alſo in den finſtern Aufent⸗ 
Halt der Laſterhaften: er zeigt den mehr be⸗ 
daurenswuͤrdigen, als ſtrafbaren Barnwelt 
unter der Laſt der fchmahligen Bande, von 
feinem Gewiſſen, von der Ausficht eines ent⸗ 
ehrenden Todes gefoltert; er zeigt ihn dann 
unter der heilenden Hand der Religion, die 
Oel in feine Wunde, Erquickung in ſeine Seelr 
gießt — er zeigt ihn unter dem demuͤthigen⸗ 
den Selbſtgefuͤhle des Laſterhaften, der ſein 
Aug gegen einen liebvollen Herrn, gegen ei⸗ 
nen tugendhaften Freund nicht empor zu ſchla⸗ 
gen waget, weil ihre zaͤrtlichen Blicke Ver⸗ 
weiſe, weil ſie ſeinem Herzen Stachel ſind, 
weil ſie ihn an die ehemalige Hochheit, in wel⸗ 
cher er ihnen gleich war, an die Hochheit der 
ſich ſelbſt bewußten Unſchuld erinnern, und 
ihn gleichſam auf einen Augenblick wieder auf 
| 23 den 


den Gipfel zurückführen, um ihn von da die 
unermeßliche Tiefe uͤberſehen zu laſſen, in wel⸗ 
che er fich geſtuͤrzt hat. Die Zerknir ſchung des 
Juͤnglings, der ſich der Umarmung ſeines tu⸗ 
gendhaften Freundes unwuͤrdig haͤlt, ſeine 
ernſte Wiederkehr in den Schooß der Tugend, le⸗ 
gen in den, auf das Ganze nur angeſtuͤckten Auf: 
zug eine Anziehung, die das Herz des Zufi chau⸗ 
ers auf das haͤftigſte preſſet, und ihn in Thraͤ⸗ 
nen des Mitleids auszubrechen noͤthiget — 
Dieſe Thraͤnen folgen, wenn Marie, die 
ſchoͤne und ſittſame Tochter feines Herrns ein- 
tritt: der duͤſtre Aufenthalt des Laſters und 
der Strafe, wird durch ihre Gegenwart gleich⸗ 
fon heiter — Bemitleidenswerther Jüngling! 
du haſt Unſchuld, guten Namen, die Hoffnung 
des Lebens verloren: doch, noch weißt du 
deinen Verluſt nicht ganz — Warie liebte 
dich — iu vieſen Augenblicken des Schmerzens 
koͤmmt ſie, es dir zu entdecken: ſie hatte ſchon 
ehe, von dir ungeſehen, gleich einem Schutz⸗ 
gei⸗ 


285 


geiſte, an deiner Rettung, obgleich vergeblich, 
gearbeitet; aber ſie hatte ihr Geheimniß, ihre 
Neigung gegen dich, wie den koſtbaren Ge⸗ 
ruch des Balſams in einem ungeoͤffneten Ge⸗ 
faͤſſe verſchloſſen gehalten: nun will ihre mit⸗ 
leidige Hand dir dieſe Stärkung darreichen: 
aber du biſt zu ſchwach, du erliegſt — die 
Groͤße deines itzigen Ungluͤcks zeiget dir, wie 
gluͤcklich du haͤtteſt werden können — 

Das war ohne Zweifel die Abſicht, in wel⸗ 
cher Lillo das ſittſame Maͤdchen in das Ge⸗ 
faͤngniß kommen laͤßt; er hat die Augenblicke 
mit Einſicht und Haushaltung der Kunſt ver⸗ 
theilet: er laͤßt ihn aus der Umarmung des 

zaͤrtlichſten Mädchens auf das Schandgeruͤſt 
rufen, um den ſcharfen Stachel des Todes em⸗ 
pfindlicher zu machen und zu verdoppeln. 
Von dieſer Seite betrachtet kann der letzte Auf⸗ 
zug nicht als uͤberfluͤſſig angeſehen werden: 

es iſt gleichſam der letzte Strich, das Bild 
| T 4 des 


286 


des durch eigne Schuld elend gewordenen Las 
ſters zu vollenden — 1 f 

Die Aufnahme dieſes Stuͤckes entſchied 
gewiſſermaſſen von dem Geſchmacke des Pu⸗ 
blikums in Wien, wenn dießfalls nur der 
geringſte Zweifel uͤbrig war: er iſt fuͤr das 
Fremde, und die Fraze. Barnwelt ward 
von den deutſchen Schauſpielern auf der 
Schaubuͤhne naͤchſt der Burg vorgeſtellet: 
der woͤlſchen Truppe ward die Bühne am 
Kaͤrnthnerthore zu einer der ungereimteſten 
Burles ken aus dem alten waͤlſchen Theater 
eingeraͤumt. Haͤtten die Deutſchen jemals 
zahlreiche Zuhoͤrer erwarten ſollen, fo war es 
dießmal. Was das Stuͤck an ſich nicht wirk⸗ 
te, das ſollte die Neugierde gethan haben, da 
die Rolle Mariens fuͤr Mamſel Jaket an⸗ 
gekuͤndiget war, die bis hieher nur Kin⸗ 
derrollen geſpielet, aber von dem Publikum 
immer mit vielem Beyfalle aufgenommen 
worden — 

Al⸗ 


297 

Alles vergebens: die Logen waren verlaſ⸗ 
ſen, und auf dem adelichen Parterr mußten 
ſich die Zuſchauer von ferne zurufen, wenn 
fie einander finden ſollten. Dieſe Gleichguͤl⸗ 
tigkeit gegen das Nationalſchauſpiel, dieſe we⸗ 
nige Ermunterung einer angehenden und hoff⸗ 
nungsvollen Schauſpielerinn iſt fuͤr einen 
Fremden ein unaufloͤsbares Raͤthſel: was 
man von Seite der Nation auch immer zur 
Entſchuldigung oder Ausflucht anfuͤhret, iſt 
durchkreuzender Widerſpruch — 
Aber, ſagt man, Barnwe lt iſt ein Stück 
das nur für einen gewiſſen Stand eine An⸗ 
ziehung hat — Uber, möchte ich wieder fagen, 
ſind die Verfuͤhrungen der Wolluſt nicht all⸗ 
gemeine Gemaͤlde 2 warnende Gemaͤlde fuͤr 
die ganze Menſchheit? wuͤrde der Gang des 
Stuͤckes ſehr verändert ſeyn muͤſſen, um ih⸗ 
nen ihren Sohn, ihren Bruder, Sie ſelbſt in 
den ſchluͤpfrichen Jahren ihres unbewahrten 
Juͤnglingsalters vorzuzeichnen ? aus irgend 

eis 


— 288 | 


einem Stande mußte ja der verfuͤhrte Juͤng⸗ 
ling gewaͤhlet werden: der Verfaſſer hat ihn 
aus dem Handelsſtande gewaͤhlet, weil er in 
England ſchrieb, wo dieſem Stande die Hoch⸗ 
achtung erwieſen wird, die bey uns, und bey 
ihnen der geadelte Muͤſſiggaͤnger widerrecht⸗ 
lich an ſich reißt: doch Barnwelt iſt hier 
nicht Handelsmann; er iſt ein junger 
Menſch, der von einer einzigen Ausſchwei⸗ 
fung bis auf die oberſte Stufe der Grau⸗ 
ſamkeit ſchnell hinaufglimmt: er iſt ſowohl 
Graf als Kaufmann: und Milwood iſt das 
Gemaͤlde der Verfuͤhrung, ſie moͤge nun in 
der Geſtalt einer Abentheurerinn, oder Taͤn⸗ 
zerinn auf die Unſchuld, Geſundheit, und das 
Vermoͤgen der Jugend im Hinterhalte lie⸗ 
gen — 

Und, mein Herr! es locket Sie alſo die An⸗ 
ziehung des Stuͤckes in die Schaubuͤhne ? ich 
wuͤnſche Ihnen zu ihrem Geſchmacke Gluͤck: 
er macht Ihnen in der That Ehre: ein waͤl⸗ 

ſcher 


289 


fcher Poſſenreiſſer, der das ganze Reich des 
Unſinns gebrandſchaͤtzet, um das widerſinnig⸗ 
ſte Zeug in ein Gemengſel zu bringen, Schmutz, 
Zweydeutigkeiten, Wortſpiele, Stockſchläge, 
gepappte Pferde, und wer mag das tolle Zeug 
alles hernennen, das hat fuͤr Sie Anziehung? 
mich nimmt es alſo ſehr Wunder, warum bey 
der deutſchen Buͤhne nicht wenigſtens taͤglich 
ein paar Zuſchauer erdruckt geworden; dann 
wirklich, es hat von undenklichen Zeiten her, 
wie man mich verſichert, nicht an dieſen be⸗ 
liebten Anziehungen gemangelt — Erklaͤ⸗ 
ren Sie ſich wenigſtens, moͤchte die deut⸗ 
ſche Schauſpielergeſellſchaft zu dieſen ekeln 
Herrn ſagen — womit wir Sie unterhal⸗ 
ten ſollen? Wollen Sie ernſthafte Stücke; 
Barnwelt war von der ernſthaften Gat⸗ 
tung: warum liefen ſie von ihm weg, die 
Spaſſe eines grimaſſirten Bergamaskers 
zu ſehen? — Oder wellen Sie Spaſſe? 
da iſt ja beynahe täglich bey uns für Sie 
auf: 


290 


22 21 SE BZ A 
aufgetiſchet; und doch verſchmaͤhen Sie 
unfre Gerüchte; und unfere luſtige perſon 
ifi wenigſtens mehr werth als alle Arle⸗ 
Pine in ganz Waͤlſchland, ſeit dem Zacca- 
gnino und Trufaldino nicht mehr ſind: 
und vielleicht eben ſo viel, als dieſe beiden 
Männer in ihren Zeiten werth waren. 
Ja! aber euch haben wir immer — ich 
ſchreibe Ihnen eine ganze Unterredung, die 
wenigſtens koͤnnte gehalten worden ſeyn — 
und dieſe Waͤlſchen ſind nur auf eine drey⸗ 
monatliche Erſcheinung hier — Nun, ich ha⸗ 
be nichts mehr einzuwenden: fie ſehen alſs 
das fremde Schauſpiel, ungefaͤhr, wie ein 
Wunderthier in einer Marktbude: es iſt ein 

haͤßliches Ding, dieſe Beſtie, aber fo was ſieht 
man nicht alle Tage 

Es wuͤrde mir gewiß unendlich RE 

werden, wenn ich etwan den Einwurf zu ber 

antworten haͤtte, daß man ſich von der Vor⸗ 

ſtellung der deutſchen Stuͤcke zum vorhinein 
nichts 


291 


nichts ſonderbares verheißen könne, da es der 
Truppe an den unentbehrlichſten Schauſpie⸗ 
lern fehlt. Die Wienerbuͤhne hatte an Weis⸗ 
kernen einen vortrefflichen Alten, im Komi⸗ 
ſchen ſowohl, als Tragiſchen: dieſer Mann, 
Werth der Neugierde eines Fremden, der zu 
ſeiner anſehnlichen Geſtalt und dem wohl⸗ 
klingenden Tone der Stimme, Nachſinnen, Ein⸗ 
ſicht, Wiſſenſchaft und eine lange Uebung der 
Schaubuͤhne geſellet, | ift durch eine ſchmerz⸗ 
liche Krankheit dem Vergnuͤgen der Zuſchauer 
entriſſen worden; und die Truppe haͤlt ſeinen 
Verluſt fuͤr unerſetzlich. H. Jaket hat Per⸗ 
ſon, Stimme, und die Gabe des Gefuͤhls; 
aber wie ferne iſt er noch von der Einſicht 
des Mannes, an deſſen Stelle er, wenn er 
beſcheiden iſt, nur mit beben treten kann, weil 
die Zuſchauer ihn unaufhoͤrlich mit Weisker⸗ 
nen vergleichen: und gewiß faͤllt dieſe Ver⸗ 
gleichung nicht zu ſeinem Vortheile aus, un⸗ 
geachtet er hoffen laͤßt, durch Anwendung in 
a ſei⸗ 


feine Wege zu treten. Die übrigen Schau: ; 
ſpieler, welche Odoarde und Anſelme fpies 
len, ſuchen das Drollichte in Karikaturen: 
wehe dem Schriftſteller, der den Ruhm 
ſeines Stuͤckes dieſen Leuten anvertrauen 
MUB re 

Gleichwohl, welches Luſt⸗ oder Trauer⸗ 
ſpiel kann ohne Vater oder Alten aufgefuͤhrt 
werden! — Und dann wie unentbehrlich iſt 
eine junge Perſon zu den Rollen der Liebha⸗ 
berinnen! Daran fehlt es der Truppe eben⸗ 
falls: freylich Weiber ohne Zahl, aber von 
welcher Gattung! — Waͤſchermaͤgde, Mar⸗ 
ketenderinnen, Troͤdlerinnen, da iſt die liebe 
Natur mit im Spiele: aber in einem Stuͤ⸗ 
cke von beſſeren Innhalte, wo die handeln⸗ 
den Perſonen aus einer hoͤheren Klaſſe vor⸗ 
geſtellt werden ſollen, wie koͤnnten ſich Wei⸗ 
ber dahinein finden, die vielleicht nie eine 
Standsperſon in ihrem Hauſe zu ſehen Ge⸗ 
eee gehabt! Milwood ſaß fo am Putzti⸗ 

fe, 


293 


ſche, daß man es ihr deutlich anmerkte, das 
waͤre nicht die Stelle, an die fie gehoͤrte; 
ihr Standort waͤre hinter dem Stuhle, um 
der Gebiete rinn zuzureichen. Ich fodre aber 
nicht nur Kunſt, Einſicht, Anſtand, ich fod⸗ 
re an einer ſolchen Perſon auch aͤußerliche 
Geſtalt: und da iſt mir oft der Wunſch enk⸗ 
fahren, daß gute Schauſpielerinnen nie Al 
tern ſollen, wie ſie gemeiniglich nicht aͤltern 
wollen. Nicht bloß die Taͤuſchung ver⸗ 
ſchwindet, wenn die Geſtalt der Geliebten 
nicht wenigſtens einigermaſſen die Leidenſchaft 
des Liebhabers rechtfertiget; ſondern das 
Ganze wird zu einer Parodie. In dem Au⸗ 
genblicke, da ich den Menſchen in der heftig⸗ 
ſten Hitze die jugendlichen Reize feiner. 
Schoͤnen erheben hoͤre, ſehe ich dem Gegen⸗ 
ſtande ſeiner Flammen unter das Geſicht, und 
denke: Junge du biſt blind, oder wahn⸗ 
witzig! Beynahe ſollte jede Truppe, mit einer 
Blonden und Brunetten zum abwechſeln, 
mit unter verſehen ſeyn: oder den Schrift 


294 


— — 
= 


ſtellern bey theatraliſchem Banne verbieten, 
die Geſtalt der Maͤdchen nicht zu beſtimmen: 
es iſt immer Spoͤttern eine Bloͤße gegeben, 
wenn man die blauen Augen eines Maͤdchens 
ruͤhmet, wo die Schauſpielerinn ſchwarze hat. 
Mamſel Jaket kann für die Truppe ein 
Kleinod werden: ſie hat ein niedlichen Wuchs, 
und reitzende Bildung, eine anziehungs volle 
Stimme, die beſonders im Traurigen zum 
Herzen dringt, Abwechslung im Tone, ein 
gluͤckliches und bedeutendes Augenſpiel, und 
eine offne Gebehrde, Lektur und anhaltende Be⸗ 
trachtung koͤnnen ihr Herz und Zefuͤhl Uebung, 
Freunde, und nicht verſchmaͤhte Kritik koͤnnen 
ihre theatraliſche Geſchicklichkeit ausbilden: 
aber den Anſtand, das freye Betragen, das 
die Seele des edlen Spieles iſt, die Welt, 
muß ſie von der Guͤte einer Dame erwarten, 
welche großmuͤthig genug ſeyn wuͤrde, eine 
junge, vielverſprechende Schauſpielerinn un⸗ 
ter ihren Schutz zu nehmen, und ihr, wenn 
ich fo ſagen darf, die Erziehung zu geben⸗ 


— — 


Fuͤnftes Stück. 


Ein und zwainzigſtes Schreiben. 


Wien den 30, April 1768. 
IN 


R war die Sprache eines Frem⸗ 
FR, 2 den der als ein Beobachter 
unſers Geſchmacks freymuͤ⸗ 

thig an ſeinen Freund, nicht als ein Ver⸗ 
beſſerer an Schriftſteller, Schauſpieler, 
oder Zuſchauer der Nation ſchrieb: er nenn⸗ 

U te 
An den Verleger. 

>> Mein Freund mard durch feine Angelegenheiten 

>, Und die guͤnſtige Witterung plotzlich abgerufen: er 
» bedauert es, daß er Sie in Verlegenheit zuſetzen 
5 gezwungen iſt: aber er kann mehr nicht / als Sie 
2 bedauren / und hoffen: daß Ste in einer Haupt⸗ 
> ſtadt Deutſchlands jemanden finden werden / der 


, ihn / in Abſicht auf ihre Verbindlichkeit mit 
„dem Publikum / erſetze. Ich bin u- ſ. w. 


Ich habe mich auf dieſen Fall bereits eorgeſehen / 
der ſich bey einem Fremden fruͤher oder ſpaͤter ereignen 
mußte. Wenn die Sprache des Ueberſetzers 
bis itzt einigen Beyfall gefunden / ſo duͤrfte in Hin⸗ 
kunft feine eigene Arbeit nicht weniger unglücklich 
tenn. Um der Gleichheit des Stils und der bequemen 
Abtheilung Willen hat er die Einkleidung der Briefe 
beybehalten. Der Verleger. 


te den großen Haufen das Publikum, und 
hielt die geringe Zahl derjenigen, welche ſich 
in einer Nation allemal durch ihre Einſicht 
vom Haufen unterſchieden, fuͤr eine Aus⸗ 
nahme, welche die allgemeine Benennung 
nicht ändern könnte. Einſame Pflanzen, die 
auf einer Haide aufſchuͤſſen, machen ſie noch 
zu keiner fruchtbaren Gegend. 

i Der Haufen ift indeſſen unter allen Him⸗ 
melsgegenden Haufen: ungeachtet das Ge⸗ 
nie der Corneille, Raeine, Crebilon und 
Voltaͤre ſeit fo langer Jahre auf Frankreich 
wirken konnte; ungeachtet die Nation auf 
die Namen dieſer Männer ſtolz thut, und 
beynahe jeder Franzoſe ſich fuͤr einen Cor⸗ 
neille haͤlt, weil er von Corneillens Lands⸗ 
leuten iſt; ungeachtet ſo vieler Meiſterſtuͤcke 
der tragiſchen und komiſchen Buͤhne, welche 
den Geſchmack der Nation aufklaͤren, ſicher 
machen, beſtimmen konnten; ungeachtet deſ⸗ 
fen kann Voltaͤr von den Einwohnern des 

auf⸗ 


297. 


aufgeklaͤrten Paris ſagen: das beſte Auſt⸗ 
fpiel, das beſte Trauerſpiel iſt nie ſo zahl⸗ 
reich N und ſo unablaͤßlich, von den naͤm⸗ 
lichen Zuſchauern beſucht, als eine mittel⸗ 
maͤſſige Opera: die regelmaͤſſigen, edeln 
und ernſthaften Schönheiten, werden von 
dem Saulen nicht am meiſten geſchaͤtzt. 
wenn Cinna ein oder zweymal vorge: 
ſtellet wird, fo giebt man die FeEtes ve- 
nitiennes * drey Monate hintereinander? 
ein epiſches Gedicht wird weniger geleſen, 
als ein zůgelloſes Sinngedicht: ein kleiner 
Roman wird mehr abgeſetzt, als die Ge⸗ 
ſchichte des Praͤſtdenten Thuans. Wenige 
Privatleute laſſen große Maler für ſich 
arbeiten: aber man uͤberbiet ſich bey ver⸗ 
N Ur Hhunz⸗ 
„Ein mittelmaͤſſiges Ballet / morinnen die Faß⸗ 
nacht / die Thorheit / Ziege uner / Ska⸗ 
ramouze und Pollichin elle untereinauder 
gemengt find : es ward 17 10 zum erſtenmal auf 
die Bühne gebracht / und nach verschiedenen Wie⸗ 
derholungen nahm es vom 10. December 


17 50. bis 11. Hornung 1751. in einem 
Stuͤcke den Schaupiaß ein. 


298 


hunzten chineſiſchen Maͤnnerchen und 
gebrechlichen Gefaͤſſen. Man übergülder, 
überfürnigt Kabinette, und vernachloͤſſiget 
die edlere Baukunſt: mit einem Worte: 
in jeder Gattung werden die kleinen Er⸗ 
göglichFeiten dem wahren Verdienſte vor⸗ 
gezogen. | / 

Ich bin nicht an die Stelle des Auslaͤn⸗ 
ders getreten, um mit meinen Landesleuten 
zu heucheln: dieſer Vorwurf paßt auf unſern 
Geſchmack noch mehr, als auf die Franzo⸗ 
ſen: beſonders in ſoferne er meinen eigentlichen 
Vorwurf, die Schaubühne angeht. Das 
Vergnuͤgen des Ohrs und des Geſichts, 
wird dem Vergnuͤgen des Geiſtes unendlich 
vorgezogen; das erſchuͤtternde Gelaͤchter hat 
einen groͤßeren Anhang als die ſtill verwein⸗ 
te Zaͤhre. Dieſe Beobachtung iſt unwider⸗ 
ſprechlich, aber eine andre, die ich machen 
werde, iſt es nicht weniger⸗ 


Der 


299 N 


Der Geſchmack für das Unedle, für das 
Niedere hat wenigſtens in einem gewiſſen 
Verhaͤltniſſe hier abgenommen: eine Bur⸗ 
leske — dieſe Anmerkung trifft das ge⸗ 
meine Parterre — wird weniger beſucht, 
als ein Trauerfpiel, oder rührendes Luſt⸗ 
ſpiel — die Scherze werden weniger als 
die edeln Geſinnungen beklatſchet — im⸗ 


mer ein Schritt naͤher zur merkwuͤrdigen 


Epoche der Geſchmacksveraͤnderung, welche 
eine aufklaͤrende Kritik, das Beyſpiel, und 
die Unterſtuͤtzung des Perikles unſrer Zeiten 
herbeyfoͤrdern koͤnnen. 

Eine aufklaͤrende Kritik, welche dem 
Schriftſteller, dem Schauſpieler, dem Zu: 
Hörer gleich nuͤtzlich iſt: vielleicht nicht jene 
ſtrenge, unerbittliche, welche nie die Stirne 
aufheitert, um einen jungen Genie zuzulaͤ⸗ 
cheln, und ſeine furchtſamen Schritte mit 
Liehe zu leiten: aber auch dieſe, da, wo 
Gelindigkeit den ſich verkennenden Stolz 

Aan naͤh⸗ 


"300 


naͤhren und Nachſicht für Beyfall kann ge⸗ 
nommen werden. 

Nationen, wo der Geſchmack, wenn ich 
ſo ſagen darf, nur erſt Knospen zu ſchlagen 
anfaͤngt, ſind gemeiniglich gegen die Kritik 
aufruͤhriſcher, als diejenigen, wo der Ges 
ſchmack bereits einen feſten Stand gewon⸗ 
nen hat. Jede Erinnerung heißt Tadel: 
der Beurtheiler einer Schrift wird als ein 
Feind des Schriftſtellers angeſehen, und 
Reid, oder ſonſt unruͤhmliche Abſichten muͤſ⸗ 
ſen ihm die Feder in die Hand gegeben ha⸗ 
ben. Gleichwohl ſind die Kuͤnſte und Wiſ⸗ 
ſenſchaften uͤberhaupt, und die Schaubühne 
insbeſondere der Kritik hauptſaͤchlich die 
Vollkommenheit ſchuldig, die wir an ihnen 
bewundern. Die Dichter des Alterthums 
laſen in den Kreiſen zuſammgebetener Freunde 
ihre Werke, und machten ſich ihre Erinne⸗ 
rungen zu Nutz: die Appelles und Liſippe 
ſetzten ihre Stuͤcke an die Straſſen, um aus 

den 


361 

den Anmerkungen der Voruͤbergehenden Un 
terricht zu ziehen; noch heute ſetzen die 
Maler und Bildner ihre Meiſterſtuͤcke 
in dem Louvre aus, und raͤumen dadurch 
jedermann das Recht ein, daruͤber ſeine 
Anmerkungen zu machen; und Sophokles 
Tragoͤdien konnte der Preis nicht zugeſpro⸗ 
chen werden, wenn ſie niemand haͤtte beur⸗ 
theilen ſollen. Wo die Kritik als beleidigend 
angeſehen wird, da verliert auch der Bey⸗ 
fall alles Schmeichelhafte. Rur dann kann 
das Lob unverdaͤchtig ſcheinen, wenn es fre 
ſtund, auch zu tadeln. 

Die Schaubuͤhne bedarf es mehr, als 
jeder andre Theil der ergoͤtzlichen Wiſſenſchaf⸗ 
sen, von der Kritik geleitet zu werden, und 
ſie bedarf es unter uns mehr als irgend wo. 
Wir haben bis itzt dieſen Theil bloß als ei⸗ 
ne Ausfuͤllung muͤſſiger Stunden, ohne 
Beziehung auf ihren Einfluß in die Sitten, 
und die Lebensart, ohne Beziehung auf den 

14 Ruhm 


une, u Me De 
Ruhm der Nation betrachtet: aber fie if 
von dieſen beiden Stuͤcken unzertrennlich; 
es kann nicht als eine gleichguͤltige Sache an⸗ 
geſehen werden: ob ein großer Theil des 
Tages dem Volke vor einem Schauplatze 
hingeht, wo es Beyſpiele der niedrigſten 
Ausgelaſſenheit und Raͤnke vor ſich ſieht, 
und ſich durch die Gewohnheit damit ver⸗ 
traut machet, oder vor einer Buͤhne, wo 
ihm die Geſinnungen durch edelmuͤthige Bey⸗ 
ſpiele erhoͤht werden. Der laute Ausbruch 
des Beyfalls koͤmmt von dem hohen Grade 
des Wohlgefallens, und das Wohlgefallen 
von der Uebereinſtimmung der Empfindung 
und Denkungsart her: ſo ſchimpft oder eh⸗ 
ret ſich alſo jedes Volk ſelbſt in den Augen 
eines Fremden, wenn es einer ſchmutzigen 
Zweydeutigkeit oder edeln Geſinnung zus 
klatſchet. 

Das iſt der moraliſche Theil des Schau⸗ 
ſpiels : der dichteriſche bedarf der Kritik nicht 

we⸗ 


303 


weniger. Es iſt wohl niemand, der mich 
hierüber zum Beweiſe auffodern wird. 
Deutſchland iſt, was die Schaubuͤhne betrifft, 
unendlich entfernet, andre Nationen zu er: 
reichen: Schlegel, Kronegk, Leſſing, Wei⸗ 
ße, Gellert, zu denen noch die Verfaſſer ei⸗ 
niger einzelnen Stücke gerechnet werden moͤ⸗ 
gen, wie klein iſt dieſes Verzeichniß deutſcher 
drammatiſcher Schriftſteller! aber unter die⸗ 
fe auch darf Wien vielleicht nur den Verfaſ⸗ 
ſer Aurelius und Hermanns, und den Ver⸗ 
faſſer Juliens einrechnen — nicht, als ob es 
nicht auch ſonſt einzelne Stuͤcke zu der Na⸗ 
tionalbuͤhne beygetragen haͤtte: aber — 

Ich will nichts uͤberholen: da ich es übers 
nommen habe, die Beobachtungen uͤber die 
Schaubuͤhne an der Stelle des Auslaͤnders 
fortzuſetzen; ſo werde ich von den verſchiede⸗ 
nen Stuͤcken nach der Reihe eigentlich zu ſpre⸗ 
chen haben. Jedoch der Ton meiner Brie⸗ 
fe wird von dem Tone des Auslaͤnders un⸗ 

Us ters 


304 
terſchieden ſeyn, wie meine Abſicht ſich von 
der ſeinigen unter ſcheidet. 

Wenn das Geſtaͤndniß nicht zu viele Ei⸗ 
genliebe verraͤth; fo erhebe ich meinen Wunſch 
bis zur Verbeſſerung der Nationalbuͤhne: 
und dieſem Wunſche gemaͤß ſollen die Mittel 
gewaͤhlet werden. Beyſpiele und eigene Er⸗ 
fahrung haben mich uͤberwieſen, daß die ſtren⸗ 
ge Kritik noch zur Zeit ein zu heftiges Mit⸗ 
tel iſt: ich will meinen Kranken nur die lin 
dernde Hand des Arzten empfinden laſſen. 
Spott, und beißender Witz ſollen aus mei⸗ 
nen Urtheilen verbannet ſeyn: meine Anmer⸗ 
kungen ſollen den Ruhm des Schriftſtellers 
zum Endzwecke haben, und dem Urtheile 
des Zuſchauers eine Richtung, oder Beyſpiel 
geben. Jede Gelegenheit, angehende Ta⸗ 
lente zu ermuntern, wird mir willkommen. 
ſeyn; und wenn ich mich in die umſtaͤndliche 
Zergliederung eines Stuͤckes einlaſſe; ſo ſe⸗ | 
he man es als den uͤberzeugendſten Beweis 

an, 


3. 305 


an, daß ich das Verdienſt des Verfaſſers 
hochſchaͤtze. Elende Arbeiten belohnen die Muͤ⸗ 
he nicht, daß man ſie ausbeſſere; ſie muͤſſen 
ſchlechterdings weggeworfen werden. 

Dieſe Wahrheit macht aber auch mein 
Schweigen vielbedeutend: es iſt der einzige 
Tadel, den verdienſtloſe Schauſpieler, den 
ſchlechte Schriftſteller von mir zu erwarten 
haben: vielleicht aber iſt dieſer empfindlich 
genug! Als Turenne nach einem Feldzuge, 
worinnen durch bie untergeordneten Befehls⸗ 
haber einige Fehler vorbeygegangen waren, 
Ludwigen Nechenſchaft ablegen ſollte, fragte 
ihn der Monarch, wer diejenigen geweſen, 
die ſich übel verhalten haͤtten: der Vicomte 
nennte eine Reihe Namen, und ſetzte dazu, 
dieſe, Sire! haben ſich wohl verhalten — 
Ein junger Oberſter von einer anſehnlichen 
Familie, deſſen Namen der Feldherr nicht ge⸗ 
nennet hatte, empfand den Schimpf dieſes 
Schweigens ſo hoch, daß er ſich ſelbſt ent⸗ 
leibte. Bey 


306 


Bey der Mannigfältigkeit der Schauſpie⸗ 
le, womit die neue Unternehmung Fremden 
den Aufenthalt dieſer Stadt angenehmer zu 
machen, und den Geſchmack der Zuſchauer 
zu befriedigen, bemuͤhet iſt, war der Plan 
des Fremden zu weitlaͤuftig angelegt: er blieb 
ſo manches ſchuldig, was er verheißen hat⸗ 
te, und woruͤber wir vielleicht ſeinem Urthei⸗ 
le am begierigſten entgegen ſahen: er hatte 
Anzeigen von Noverrs Balleten verheißen, 
und er wird ſeinem Freunde bey ſeiner An⸗ 
heimkunft davon nur muͤndlich Nachricht geben 
muͤſſen, weil feine Briefe den anhaͤufenden 
Materien nicht zureichten. Meine Betrach⸗ 
tungen haben engere Graͤnzen; ich beſchraͤn⸗ 
ke mich auf die Natienalbuͤhne, und behal⸗ 
te mir bloß die Freyheit vor, in das franzoͤ⸗ 
ſiſche Gebiet manchmal im vorbeygehen, und 
hauptſaͤchlich da uͤber zu treten, wo ich mit 
einigen nuͤtzbaren Anmerkungen fuͤr meine Lan⸗ 
desleute zuruͤckkehren kann. Ich laſſe auch 

die 


307 


die übrigen Theile der Schauſpiele nicht aus 
dem Geſichte, doch ſo, daß ſie meinem Haupt⸗ 
gegenſtande ſtets untergeordnet bleiben. 

Manchmal ſoll mir das aufgefuͤhrte Stuͤck 
zu nichts weiter, als zur Gelegenheit dienen, 
gewiſſe Materien auseinander zu ſetzen, die 
vielleicht beſonders auf dieſe Hauptſtadt, auf 
unfern Geſchmack, und Denkungsart eine 
Beziehung haben. Auf dieſe Art werde ich 
nicht ſelten auch ſehr mittelmaͤſſige Stuͤcke 
zu meinem Endzwwecke nuͤtzen, von denen ich 
ohne einen ſolchen Kunſtgriff, mich ſelbſt zu 
ſchweigen verurtheilet haͤtte. 

Als ein Eifrer des Nationalruhms, und 
literariſcher Patriot triumphire ich uͤber den 
groſſen Beyfall, womit Voltaͤrs Semira⸗ 
mis auf der deutſchen Schaubühne vorge⸗ 
ſtellet worden. Man ſehe da — ſagte ich bey 
mir ſelbſt, als das Parterre nicht muͤde ward, 
fein Wohlgefallen durch betaͤubendes Hände: 

klat⸗ 


308 


klatſchen an Tag zu legen — man ſehe da ein 
Volk, welches Poſſenſpiele lieben poll! — 

Alles, was man gegen dieſes Trauerſpiel 
Voltaͤrs aufbringen, alles womit Vol⸗ 
taͤr ſich und ſein Geſpenſt rechtfertigen konn⸗ 
te, iſt geſagt und geſchrieben worden. Der 
gegruͤndeten und ungegruͤndeten Urtheile un⸗ 
geachtet macht Semiramis auf die Zuſchauer 
immer eine ungemeine Wirkung. Der erſte 
und zweyte Aufzug iſt etwas froſtig, und ge⸗ 
dehnt; aber in den folgenden Auftritten wird 
die Handlung ſo ſchnell fortgetrieben, als die 
Rache des Gottes, der fie fichtbar leitet. 
Die unſchuldige Sorgfalt Azemens, welche 
unwiſſend die Wege der Vorſicht zu erfuͤllen 
dient, und dem Opferer das beſtimmte Opfer 
uͤberliefert, iſt ein Meiſterſtuͤck des menſchli⸗ 
chen Verſtandes: ich vergebe Voltaren die 
epiſodiſche Liebe der Prinzeſſinn, da er ſie an 
dieſer Stelle fo vortrefflich genuͤtzet — 


© 
0 


309 


Löwens Ueberſetzung erreicht natuͤrlich 
den Schwung des Originals nicht; aber wel⸗ 
che Ueberſetzung kann den jemals erreichen? 
Kür eine Menge ſchieler, und hartlaͤufiger 
Verſe halten uns eine Menge ſehr wohl⸗ 
klingende und ausdruckvolle ſchadlos. 

Madam Suberinn ſpielte die Rolle der 
Koͤniginn. Ihr Anſtand, ihre ſchoͤne Gebehr⸗ 
de, ihre wohlgezeichneten Stellungen erhoͤhten 
die Feyerlichkeit des Stuͤckes: ich wuͤnſchte, 
daß ihre Pantomime nicht durch zu haͤufige 
Gebehrden uͤberladen wuͤrde: die Majeſtaͤt 
einer Koͤniginn, und der Stolz einer Semi⸗ 
ramis erfodern gelaſſene Größe, 

In dem Auftritte, wo Arſazes von dem 
Muttermorde aus dem Grabe zuruͤckkehret, 
übertraf H. Stephanie ſich felbft : die ver» 
irrten Augen, der offene Mund, die unter⸗ 
druͤckte Stimme, das wahre Bild des Schre⸗ 
ckens — dieſer Auftritt, und die Sterbſcene 
der Koͤniginn haben den franzoͤſiſchen Schau⸗ 


ſpie⸗ 


210 


ſpielern, ungeachtet ſie der Sprache nicht 
kuͤndig ſind, Lobſpruͤche entriſſen — Haͤtten 
ſie noch vollends die Rolle Aſſurs von H. 
Weiskern dazu gefehen! 

Auf der franzoͤſiſchen Bühne endet das 
Stuͤck mit den Worten der ſterbenden Se⸗ 
miramis: C'en eſt fait - - Dieſe Abkuͤr⸗ 
zung iſt nachahmungswerth: die Rede des 
Oroes ſieht beynahe einer Standrede gleich, 
die gehalten wird, nachdem der Uebelthaͤter 
abgethan iſt: ſie ſchwaͤcht den Eindruck des 
Zuſchauers, an den fie eigentlich gerichtet 
feyn muß ‚ weil es doch nicht wahrſcheinlich 
iſt, daß in dieſem ſchreckenvollen Augenbli⸗ 
cke jemand von den handelnden Perſonen 
auf den guten Mann merken werde. 


Sechſtes Stück. 


Zwey und zwainzigſtes Schreiben. 


Wien den 7. May 1768. 
5 laͤugne es nicht: das Vergnuͤgen 
8 des erſten franzoͤſtſchen Schau⸗ 


ſpiels, wovon die Erwartung 


groß war, und welches dieſer großen Er⸗ 
wartung, leider! zuſagte, war durch die be⸗ 
truͤbte und nur zu ſehr uͤberzeugende Be⸗ 
trachtung um vieles gemindert: daß es um 
die Nationalbuͤhne vollkommen geſchehen 
ſey — Nun dann, rufte ich aus — man 
hat ſich die glůͤckliche Zeit entwiſchen laſſen, 
da die deutſche Buͤhne ohne Nebenbuhler 
war! den gluͤcklichen Zeitpunkt, wo Schau⸗ 


ſpieler und Schriftſteller ihr aͤußerſtes haͤt⸗ 


ten daran wenden ſollen, um den duſchauer 

anzuziehen; wo es Schauſpielern und 

Schrifiſtellern wenigſtens leichter war, ihn 
| * zu 


Kite 
zu befriedigen, weil er nicht gegeneinan⸗ 
der halten konnte! vielleicht daß ſie — 
Jedoch was ſtimme ich Ihnen * ein 
Klaglied an? laſſen Sie die deutſchen Schau⸗ 
ſpieler klug ſeyn; ſo werden ſie aus der 
Gegenwart der franzoͤſiſchen Truppe Vor⸗ 
theil ziehen, und ſich darnach bilden! laſſen 
Sie den Genius des Geſchmacks die Nati⸗ 
on, wenigſtens nicht mit ewiger Blindheit 
geſchlagen haben; ſo kann das Auge des 
deutſchen Zuſchauers durch den beſtaͤndigen 
Anblick regelmaͤſſiger Schoͤnheiten ſeines bis⸗ 
herigen unedeln Vergnuͤgens an oſtadiſchen 
Schilderungen entwoͤhnen, und das Reich 
der Poſſen die Endperiode erreicht haben. 
Von dieſer ſchmeichelnden Ausſicht einan⸗ 
dermal! 
Man 


Es iſt bereits erinnert worden / daß man die 
Briefgeſtalt beyzubehalten Willens iſt: viel⸗ 
leicht / daß man um der Mannigfaͤltigkeit wegen 
auch zu weilen die Perſonen / an die ſie geſchrie⸗ 
ben werden / verſchieden annimmt — 


Man eroͤffnete die Bühne mit Voltaͤrs 
Adelhaiden von Guesklin: in der Samm⸗ 
lung der voltaͤriſchen Werke heißt daſſelbe 
Stuͤck Le Duc de Foix — Daſſelbe Stuͤck? 
nicht doch! der Due de Foix iſt von der 
Adelaide um Vieles unterſchieden, um Vieles 
ſchwaͤcher, langweiliger, gedehnter 
quinteſſenzirter — Voltär hat die Geſchich⸗ 
te dieſes Stuͤckes an einen ſeiner Freunde 
uͤberſchrieben, und Le Kain, der die ver 
bannte Prinzeſſinn im Jahr 1765. wieder 
auf die Buͤhne brachte, ließ den Brief des 
Verfaſſers ſtatt einer Schutzrede vorne abs 
drucken — 

„„Es find, heißt es — mehr dann drey⸗ 
„ ßig Jahre, daß ich vor eben dieſem Pub⸗ 
„ likum, ern Adelhaid von Gueeklin wag⸗ 
te, welche von einem Herzoge von Ven⸗ 


„ dome und einem andern von Nemour 
* 2 E be⸗ 


* Z. B. im Due de Foix find aus dem erften ohne 
hin langweiligen Aufzuge zween geworden: man 
veraleiche die beiden Stuͤcke ſowohl im Ganzen / 
als nach dem einzelnen Ausdrucke. 


314 


„ begleitet war, die beide in der Geſchichte 
„nie geweſen find. Der Grund dieſes 
„Stuͤckes war aus den Jahrbuͤchern von 
„ Bretagne gezogen, und ich habe fie für 
„die Buͤhne unter erborgten Namen zurecht 
„gerichtet, wie ich gekonnt — Sie ward 
„ beym erſten Aufzuge ausgepfiffen — Das 
„ Auspfeifen nahm zu, als man im zweyten 
„ Anfzuge Femouren verwundet, und mit 
dem Arme in einer Binde auftreten ſah: 
75 noch aͤrger war es, als man im fuͤnften 
a Aufzuge den Kanonenſchuß hoͤrte, der 
an vendomen zum Zeichen diente, daß ſein 
„ Willen vollzogen ſey: und da zuletzt Ven⸗ 
5 dome ſagte: biſt du zufrieden Couci? 
„ ruften einige Spaßvoͤgel laut auf: couſſi, 
„ couſſi — 

Sie urtheilen leicht, daß ich 0 nicht 
5 ſche gegen dieſe vortreffliche Aufnahme 
„verhärtete. Ich gab einige Jahre darauf 
„eben dieſes Trauerſpiel nnter dem Namen 

des 


313 


— 


„ des Duc de Foix; aber ich ſchwaͤchte es 
„ ſehr aus Hochachtung gegen das Laͤcherli⸗ 
„che. Dieſes Stuͤck, um viel verſchlim⸗ 
„wmert, ward ziemlich aufgenommen, und 
„ich vergaß dasjenige ganz, fo wirklich 
„ beſſer war. 

„Eine Abſchrift von Adelhaiden befand 
„ ſich noch in den Händen eines Schauſpie⸗ 
„ lers von Paris: er hat, ohne mir etwas 
„ zu ſagen, dieſes verſtorbene Trauerſpiel 
„ wieder erweckt; es ward mit vielem Bey⸗ 
„ falle aufgenommen: die Stellen, die am 
„ meiſten ausgepfiffen worden, waren eben 
55 die, welche man am meiſten beklatſchte. 

Voltaͤr fährt nun fort, ſich über die Ver⸗ 
ſchiedenheit des Urtheils von einem und dem⸗ 
ſelben Publikum luſtig zu machen: und bey⸗ 
nahe moͤchte ich fprechen : er hat recht — 
Die Parifer muͤſſen auch ſehr niedlich ſeyn. 
Wo man in einem Zwiſchenakte einen gan⸗ 
zen Sturm ungeahndet konnte vor ſich gehen 

X 3 laſ⸗ 


316 


laſſen, da koͤmmt es, dachte ich, auf einen 
Kanonenſchuß mehr oder weniger nicht an — 

In der That ſind die Zuſchauer aller Na⸗ 
tionen ein unerklaͤrbares Raͤthſel; und Wehe 
den Ungluͤcklichen, welche ihre Dienſte ei⸗ 
nem fo eigenfinnigen und ſtolzen Gebieter 
gewidmet bahen ! Die Belagerung von 
Calais fand Gnade vor dem Angeſichte der 
Franzoſen, ungeachtet das ganze Verdienſt 
des Stuͤckes in einigen froſtig verſificirten, 
patriotiſchen Maximen beſteht: haͤtte, wenn 
anders beſtimmte Grundſaͤtze das Urtheil des 
pariſer Parterrs leiteten, haͤtte da ein Trau⸗ 
erſpiel nicht bis an die Wolken erhoben 
werden ſollen, worinnen der Schriftſteller 
alle Kniffe genuͤtzet, durch die ſich auch ein 
mittelmäffiges Stuͤck erhalten könnte, | 

Nos guerriers fur vos pas marchaient 

à la victoire, 
Et ſuivre les Bourbons, c' eſt voler 
a la gloire — 
— — = Qu’onaimela Patrie 


Que 


317 


Que le lang des Capets eſt Ben 
adore — 


Dieſe Stellen ſollten das patriotiſche, und 
dieſe: 
II n' eſt point de Francois, que l' a- 
mour zaviliſle, 
Amants aimes, heureux ils cherchöient 
le combats, 


Ils courent a la gloire &c. 
dieſe ſollte das galante Frankreich beſtochen 
haben! und da moͤchte der Kunſtrichter, der 
weder Natienaleiferer, noch galant iſt, im⸗ 
mer geſchrieen haben: aber öffnet wenig⸗ 
ſtens die Augen! hat man jemals einen 
langweiligeren, einen uͤberfluͤſſigeren erſten 
Aufzug geſehen, als dieſen, den man, 
wenn es nicht um die einzige Rede des 
Couci Schade waͤre, gerade zu wegwerfen 
möchte, ohne daß man, ſelbſt an der Ex⸗ 
poſition, das Geringſte vermißte? Kann 
man eine romaneskere Anlage eines 
Stüdes denken 1 als dieſe Gefangenneh⸗ 
mung des Nemours, der eben ſo zu recht 
her⸗ 


F | 
herkommen muß, damit Voltaoͤr aus der 
Verlegenheit geriſſen werde, wie gemei⸗ 
niglich die Ritter mit verhaͤngtem Zügel 
daher ſprengen, ihre Prinzeſſinnen aus 
den Haͤnden der Entfuͤhrer zu reißen ? iſt 
etwas unwahrſcheinlicheres, als daß Ven⸗ 
dome ſo blind waͤre, die Liebe ſeines Bru⸗ 
ders zu Adelhaiden erſt im dritten Auf⸗ 
tritte des dritten Aufzugs zu entdecken, 
da Nemour ſchon im zweyten Aufzuge, 
(bon, ſobald er auf der Bühne erfcheint, 
und Vendome ihm ſeine Eeidenſchaft er⸗ 
klaͤrt, mit der Hitze eines jungen Men ſchen, 
die ihn verrathen mußte, ausbrach: 


Ecoute! a ma douleur ne veux tu 
qu' infulter ? 
Mats connais tu? fcais tu, ce que 
jb oſe attenter? 
Dans ces funeſtes lieux (Gais tu ce qui 
m' amene 2 


immer moͤchte der Kunſtrichter ſo gerufen 
haben; Patriotismus und Galanterie, haͤt⸗ 


te man erwarten ſollen, würden Voltaͤren 
in 


in ihren Schutz nehmen, und der Kritik zum 
Trotze L auteur! L' auteur! rufen. 

Es geſchah nicht: ſo viel koͤmmt auf Zeit 
und Umſtaͤnde ſelbſt in den Werken des Wi⸗ 
tzes an: die ungeblendete Kritik verwarf 
ſpoͤttend ein Trauerſpiel, welches der Na⸗ 
tionolgeiſt nach dreyßig Jahren in Triumphe 
auf die Schaubuͤhne wieder einfuͤhrt. Bel⸗ 
lois hatte durch ſein Trauerſpiel, dem er ein 
Nationalintereſſe zur Grundlage gab, die 
Gemuͤther erhiget: die Franzoſen ſahen ſich 
durch die, Wahl ihrer Dichter, wie einſt die 
Griechen durch die Wahl der ihrigen, ge: 
ſchmeichelt: Le Kain hemaͤchtigte ſich des 
Enthuſiasmus, ein verungluͤcktes Stuͤck 
von ähnlichem Innhalte her vorzuziehen: der 
ſehr kleine Verfaſſer der Belagerung Kalais 
ſchaffte dem großen Verfaſſer Oedips und 
Meropens, ſicheres Geleit. 

Die einzelnen Schoͤnheiten Adelhaids er⸗ 
ſetzen indeſſen, wenigſtens in Abſicht auf die 
4 5 | Bor 


320° 


Vorſtellung, die Fehler des Plans: eine File 
vortrefflicher Geſinnungen, anziehungsvolle 
Situationen, edle und abſtechende Charakte⸗ 
re, Schoͤnheiten, die bey Auffuͤhrung eines 
Stuͤckes dahinreiſſen, weil der Zuſchauer 
das Ganze nicht mit einmal uͤberſehen und 
die Verhaͤltniſſe gegeneinander halten, ab⸗ 
meſſen kann; weil ſeine Einbildung nur mit 
den einzelnen Theilen, mit den vor ſich ſte⸗ 
henden Theilen, wie fie ruckweiſe vorkom⸗ 
men, beſchaͤfftiget iſt; ſolche Schoͤnheiten 
werden Adelhaiden bey einem Hoͤrſaale im⸗ 
mer Beyfall verſichern, wo die Polizey wa⸗ 
chet, daß Spaßmacher ihren platten Ein⸗ 
faͤllen nicht auf Koſten des allgemeinen Ver⸗ 

gnuͤgens Luft ſchaffen koͤnnen. Ich geſtehe | 
es: ich ſah an meinem Pulte, als ich das 
Stuͤck nur las, noch weit mehr, was der 
Kunſtrichter mit Grunde haͤtte tadeln koͤn⸗ 
nen; aber ich eilte folgenden Tages darum 
nicht weniger mit Begierde der Schaubuͤh⸗ 

ne 


321 


ne zu, und vergaß uͤber der Vorſtellung al⸗ 
le die Schauſpiele, wie Poppe ſpricht: 
Correctly Cold and regularly low, 
That Shunning faults, one quiet te- 
-nour Keep; 
We cannot blame indeed — but we 
| may sleep 
Couci iſt ein liebenswuͤrdiger Mann, ein 
Freund, wie ich ihn wuͤnſche, der ſich nicht 
ſeinem Freunde mit jeder Minute vorwirft, 
nicht über feine Dienſte ein Tagebuch hält; 
der eben foviel Vergnuͤgen, ein Freund zu 
ſeyn, als Vendome ihn zum Freunde zu haben, 
empfindet: ſein Charakter iſt in ſeinem eignen 
Munde auf das Vortrefflichſte bezeichnet 


Quand un ami ſe perd, il faut qu'on 
Lavertiſſe, 
II faut qu'on le retienne au bord du 
precipice : 
Je 
* Die mit Richtigkeit kalt und regelmaͤſſig niedrig, 


Zwar Fehler vermeiden / aber Hi 0 einerley Lauf 
halten 


Bey denen man in der That nichts tadeln / aber 
— einſchlaffen mag. 


322 


——ę— 


Je T'ai du, je Lai fait, malgre votre 
couroux — | 
Vous voules y tomber, je m’y jette 
avec vous — 


Ueber Touci den Krieger vergeffe ich Aufrin 
den Schauſpieler, der ihn geſpielt hat: aber 
man mußte auch uͤber der Wahrheit ſeines 
Spiels ihn vergeſſen: man ſah nur die⸗ 
fen edelmuͤthigen Freund, der Vendomen 
ganz verdunkelt, vor ſich. Warum hatte ich 
doch das ganze Schauſpiel durch nicht einen 
jungen Schauſpieler auf der einen, und eine 
junge Schauſpielerinn auf der andern Seite, 
um mit ihnen uͤber die Auffuͤhrung des Stuͤ⸗ 
ckes meine Beobachtungen zu machen. 
„Verlieren Sie, mein junger Freund — 
„ haͤtte ich zu dem einen geſprochen — kein 
„Wort, keinen Blick von Herrn Aufrins 
„ Spiele! Sie koͤnnen ſich in der Kecita⸗ 
„tion kein vortrefflicheres Muſter waͤhlen: 
„ da iſt Größe ohne Pralerey, Natur oh⸗ 
„ ne Miedrigkeit, Adel ohne Stolz! be 
„ wun⸗ 


323 


5 wundern Sie an ihm die Kunſt, die nach⸗ 
„„ druͤcklicheren Stellen herauszuheben, oh: 
„ ne zu dem Geſchrey feine Zuflucht zu neh⸗ 
„ men! die Kunſt der Uebergaͤnge und Ber: 
„ bindungen, die der Aufmerkſamkeit des 
„ Zuhoͤrers einen Ruhepunkt anweiſt, ohne 
95 fie zu unterbrechen. Bewundern Sie den 
„ Eifer, wenn er für feinen Freund, noch 
„ mehr, wenn er für fein Vaterland das 
„ Wort führer, die gelaſſene Größe mit 
5 der er von ſich ſpricht: 
Couci ni vertueux ni brave à demi 

„ welches in dem Munde eines andern fd 
„ leicht eine Rotomondade werden konnte, 
5 Und den Nachdruck dieſes Meiſterzugs: 

— Voules vous m'ecouter? 

„ wodurch er den falſchen Verdacht ſeines 
„ Freundes und Prinzen ſchon vorhinein 
„ mehr als durch die nachfolgende Erklaͤ⸗ 
„ tung widerlegt hat — Ich kann Ihnen 
2 fein Spiel nicht in die Beſtandtheile feiner 
f „ Schoͤn⸗ 


„„ Schönheit auflöfen : ich kann nur das 
„ Beyſpiel jenes athenienſiſchen Malers nach⸗ 
„ ahmen, der feinen Schüler vor das Ges 
„ maͤlde des Parrhaſtus führte und ſprach; 
„ ſo mußt du es machen: — ich kann Ihnen 
„ H. Aufrin eigen; Sie — muͤſſen fühlen. 
Meine junge Schauſpielerinn wuͤrde ohne 
Zweifel durch die Wuͤrde, mit welcher Ma⸗ 
dam Sainvil Adelhaiden vorgeſtellt, geruͤh⸗ 
ret worden ſeyn: „meine Freundinn! — wuͤr⸗ 
de ich mich nicht enthalten haben, ihr zuzu⸗ 
rufen — bemerken Sie es wohl: die ſanfte 
„Stimme dieſer angenehmen Schauſpielerinn 
„ ſchwaͤcht ihren Ausdruck nicht: dieſe Reden 
Je vous plains, vous pardonne, & 
Veux vous refpedter, 

Je vous ferai rougir de me perſecuter, 
Et je Conferverai malgre vötremenace 
Une ame fans corroux, ſains craint e, & 


fans audace — 
Imités fa grande ame, & penfes come 


| lu — 
Jai reſettè vos voeux, que je n’ai 


point braves, R 
4. aĩ · 


„ 
Jai voulu votre Eſtime — & vous me 
la deves — 
„ diefe Reden find darum nicht minder mit 
„ dem eigentlichen, mit dem nachdruͤcklichen 
„ Tone der, ihrer Groͤße ſich bewußten Tu⸗ 
>, gend geſprochen, weil die Stimme der 
„ Schauſpielerinn nicht bis zumlleberſchnap⸗ 
„ pen erhoben war! — Solche Stellen find 
„ der Pruͤfſtein von der Einſicht einer Thea⸗ 
„ ktralperſon — Vor allem aber druͤcken Sie 
„ ſich dem Adel ihrer Gebehrde, und jede ih⸗ 
„ ker reizvollen Zeichnungen ein! es find 
„ ſo viele Gemälde nach den ſtrengſten Re⸗ 
„geln der Kunſt, und des Geſchmacks — 
Nicht etwan als ob H. Aufrin und M. 
Sainvil allein des Beyfalls der Zuſchauer 
würdig gewefen : nicht als ob H. Neufvi! 
nicht gleichfalls einen Schauſpieler gezeigt, 
als ab er Vendomen nicht mit aller Ein⸗ 
ſicht geſpielt, nicht alle die Hitze hineinge⸗ 
legt haͤtte, welche den herrſchenden Ton 
ſei⸗ 


32 


—ññ xxx ̃ ̃ .. 
feines Charakters ausmachet: aber die her⸗ 
vorſtehendſten Rollen dieſes Stuͤcks — und 
dieß iſt vielleicht abermal ein Fehler, den 
man Voltaͤren vorwerfen kann — die beiden 
anziehungsvolleſten Rollen ſind Adelhaid 
und Couci: dießmal alſo nur von die 
ſen! bey Beurtheilung eines Gemaͤldes pflegt 
man ſeine Blicke hauptſaͤchlich auf die 
Heupeftue zu eg — 


E 


Siebentes Seück⸗ 


Drey und zwainzigſtes Schreiben. 


Wien den 14. May 1768. 


[N In allen menſchlichen Kenntniſſen iſt 
5 Lo der Anfang ein Ungefähr, oder 

ein Rothumſtand: immer aber 

ſehr unbetraͤchtlich. Die Fortſchreitung zur 
Vollkommenheit geſchieht, ſchneller oder 
langſaͤmer , je nach dem die Umſtaͤnde fie 
beguͤnſtigen: doch nie ſprungweiſe, nie fo, 
daß bie erſten Verſuche gleich an den Mei⸗ 
ſterſtuͤcken graͤnzen. Der am erſten vier 
Pfaͤle in die Erde trieb, und ſie mit Zwei⸗ 
gen verflochte, um ſich gegen Hitze und Froſt 
zu bewahren, dachte wohl nicht, daß er den 
Grund zu einer Kunſt lege, die ein Vatikan 
erſchaffen wuͤrde. Als die Schauſpieler ih⸗ 
re Geſichter noch mit Haͤffen beſudelten, 
hatten ſie wohl keine Vermuthung von ei⸗ 
nem kuͤnftigen ausvater, oder einer Alzire. 

N Von 


328 


Von Theſpis Buͤhne an, die auf einem 
Karren von Stadt zu Stadt gegaͤngelt ward, 
bis auf den Wettſtreit der tragiſchen Muſe, 
an welchem ganz Griechenland Theil nahm, 
ſind verſchiedene Stufen. Die Trubadors, 
und die Ohneſorge * welche die Geheim⸗ 
niſſe und Frazen zugleich auf einer geiſtli⸗ 
chen Schaubuͤhne auffuͤhrten, und an ihrer 
Spitze von einem ſogenannten Prince des 
ſots geleitet waren, ſind der Anfang der 
heutigen fo vervollkommten franzöfifchen 
Schauspieler: aber bis dahin zu kommen 
mußten ſie erſt Turlupins und Jodelets 
und andre Masken haben: und von dem 
Marrenfeſte an, bis zum gelaͤuterten Schau⸗ 
ſpiele unſrer Zeiten mußte der Uebergang 
durch das Gebiet der Poſſenſpiele geſchehen. 
Das Schickſal der deutſchen Buͤhne iſt alſo 
dem Schickſale der uͤbrigen Voͤlker gleich: 


von 
* Enfans fans ſouci nenuten ſich die Schauſpieler / 
welche ſich mit den Paſſtionsbrüdern ver⸗ 
einigten / und his an das 1547: in dem Thea- 
tre de la Trinitè ihre Stücke aufführen. 


329 


von der Frage zu Poſſenſpiele, von Poſſen⸗ 
ſpielen zu den niedern Romiſchen: von nie 
dern Romiſchen — Nicht weiter! zur 
Stunde noch halten wir — ich rede von der 
hieſigen Buͤhne — wir halten noch erſt bey 
dem niedrigen Komiſchen, und vielleicht 
werden wir dieſen Standort nicht a 
verlafien. 

Die franzoͤſiſchen Zuſchauer, a dieſem 
Ueberfluſſe von feinen und gefuͤhlvollen Stuͤ⸗ 
cken, haben gleichwohl nicht ſelten Ruckkaͤlle, 
in denen ſie die Poſſenſpiele Regnards 
oder eine Schule der Männer und ähnliche 
Stuͤcke von Molieren nicht ungerne aufneh⸗ 
men. Criſpin, dieſer Spaßmacher mit ei⸗ 
nem handbreiten Degengehenke, und Hans⸗ 
wurſt mit ſeinem Bruſtlaze ſind Handwerks⸗ 
genoſſen: ihre Beſtimmung iſt Gelächter zu 
erregen: und Kegnard, deſſen Stuͤcke ſich 
unter den ſcherzhaften Dichtern der franzoͤſi⸗ 
ſchen Buͤhne, wegen ihres Salzes, und 

| N 2 flie⸗ 


32323 8 
fließenden Verſtfikation am laͤngſten erhal⸗ 
ten, hatte keinen andern Endzweck. 

Sie erwarten es wohl am wenigſten, daß 
ich uͤber die Verbeſſerung der Poſſenſpiele 
Betrachtungen anſtellen werde? — In der 
That ich werde es: man wuͤnſcht freylich 
daß ein Kind ſchon ſich vollkommen auf ſei⸗ 
nen Fuͤſſen halten moͤchte! aber es iſt noch 
zu ſchwach: uͤberlaͤßt man es darum feinem 
eignen Unvermoͤgen, und verſagt ihm unbarm⸗ 
herzig eine leitende Hand? da der Geſchmack 
an dem Laͤcherlichen noch ſo viele Anhaͤnger 
hat, laſſen Sie mich verſuchen, wie die 
Poſſe zum Scherze erhoben werden koͤnnte? 
Horaz ſelbſt hielt es nicht unter ſeiner Wuͤr⸗ 
de, den Dichtern daruͤber ſeine Vorſchrift 
zu hinterlaſſen. Die Faunen — ſpricht er, 
die nun eben aus den Waͤldern kommen, 
ſollen zwar nicht ſo ſprechen, als ob fie 
in der Stadt gebohren waͤren; nicht wie 
Redner, oder zarte Herrchen! aber fie 

| ſol⸗ 


331 


follen ſich eben ſowohl hüten, Unflaͤthe⸗ 
reyen, oder Grobheiten auszuſtoſſen! denn 
der Ritter und Edle, der vermoͤgende 
Mann werden dadurch beleidiget, und 
nehmen das, was der Pöbel beklatſchet, 
der Nuͤſſe und Erbſen kauft, nicht mit 
Beyfall auf | 

Horaz zeichnet dem Dichter den Mittelweg, 
zwiſchen den Fraze und dem feineren Scherze 
aus — die Reden] des Faunus, worunter 
der Roͤmer die luſtige Perſon ſeiner Zeit 
bezeichnet, ſollen eine ihrem Charakter an⸗ 
gemeſſene Sprache fuͤhren! nicht die Sprache 
eines Mannes von Erziehung — aber auch 
nicht die Sprache eines Pickel haͤrings, uͤber 
den zwar der ungeſittete Haufen laut auf⸗ 

93 ſchreit, 


* Sylvis deducti caveant me judice fauni, 


Ne velut innati triviis, ac pene forenſes, 
Aut teneris nimium juvenentur verfibus unquam, 


Aut immunda crepent ignominiofaque dicta ! 
Of 


332 


— . ß — 
ſchreit, aber der geſittete Mann die Naſe 
ruͤmpft — | 

Eine verborgene Erinnerung des roͤmiſchen 
Kunſtrichters auch an die Zuſchauer! Ich 
thue dabey weiter nichts als ſeine Worte 
einander naͤhern: Grobheiten und Unflaͤ⸗ 
thereyen beklatſcht der Pöbel, der Nuͤſſe 
und Erbſen kauft — der Ritter, Edle 
und vermoͤgende Mann aber werden da⸗ 
durch beleidiget. Es wird nach dieſer An⸗ 
merkung auf jeden ankommen, ſich durch 
ſeinen Beyfall oder Abſcheu ſelbſt ſeine 
Klaſſe anzuweiſen — 

Von den aͤlteſten Poſſenſpielen iſt uns 
außer dem Eyflops des Euripides keines 
uͤbrig, wo wir die Theorie Horatzens mit 
der Ausfuͤhrung zuſammenhalten koͤnnten. 
Ariſtophanes hat Stuͤcke, die zu eben der⸗ 

ſel⸗ 
Offenduntur enim quibus eſt equus & Pater, & res, 


Nec fi quid fricti eiceris probat & nucis emtor, 


quis accipiunt animis, donantve corona. 


333 


felben Gattung gehören : Terenzen wage 
ich nicht, mit dem plautus in eine Reihe zu 
verſetzen: der erſtere hat uͤ er feine Stuͤcke 
eine gewiſſe Farbe des Anſtands gezogen, 
welche ihn dem geſitteten neuern Luſtſpiele 
nähert: der letztere iſt voll Wortſpiele, 
Froſtigkeiten, Schmutz, oft wuͤrdig an der 
Spitze der elendeſten Frazenkraͤmer unfter 
Zeit zuſtehen, eben ſo thoͤricht als dieſe von 
ſeinen Zeitgenoſſen bewundert, die Grobhei⸗ 
ten von Scherze nicht zu unterſcheiden 
wußten 

Die Waͤlſchen, welche ſich die deutſchen 
Schauſpieler und Poſſenſchreiber ungluͤckli⸗ 
cher Weiſe zum Muſter gewaͤhlet, ſuchen 
das Saltz ihrer Poſſenſpiele in Zweydeutig⸗ 
. 9 A kei⸗ | 


= u os 2 
At noſtri Proavi Plautinos & numeros & 
Laudavere ſales, nimium patienter utrumque 
Ne dicam ſtulte mirati, fi modo ego & tu 


Seimus inurbanum lepido ſeponere dicto — 


334 


keiten und Wortſpielen: jeder Narr ( fast 
Corenzo bey Shakeſpearn zu einem ſolchen 
Witz ſchnapper) jeder Narr kann mit einem 
Worte ſpielen: Zünftig denke ich, wird 
die beſte Art des Witzes darinn beſtehen, 
daß man ſchweigt: und das Reden wird 

nur an Papagayen geſchaͤtzt werden — 
Gleichwohl laͤuft vielleicht niemand fo ſeht 
nach dieſer unſchicklichen Art des Witzes, 
als eben Shakeſpear, dieſes abentheuerliche 
Genie, welches ſehr oft in einem und dem⸗ 
ſelben Stuͤcke die zween aͤußerſten Ende der 
Empfindungen ohne Mittelband vereiniget, 
und den Leſer mit Thraͤnen in den Augen 
zum lauten Gelaͤchter noͤthiget. Shakeſpear 
in allen ſeinen Schauſpielen ſcheint ſich die 
alte Komoͤdie der Griechen hauptſaͤchlich zum 
Muſter hingeſtellt zu haben: er füchte die 
Empfindung des Trauerſpiels mit dem 
Belächter zu vereinbaren * Helden und 
Nar- 


& 4 . u = 2. 
TD incolumi gravitate jocum tentavit, 


335 


Narren treten auf: feine luſtige Perſonen 
find Spoͤtter, riſores, und beißend dica- 
ces, ſie koͤnnten es nicht mehr ſeyn: ſeine 
Helden ſind oft Luſtigmacher: der Narr, 
im Leben und Tode des Königs Lear * 
ſagt ſeinem Koͤnige in dem beißendſten Tone 
ſehr bittre Wahrheiten — und Koͤnig Lear 
macht Spaſſe — Seine Stuͤcke find alſo 
immer Ungeheuer, wo der Held, der nur 
itzt in Gold und purpur erſchien, mit 
pöbelhaften Reden der Schenke zuwan⸗ 
dert, worinnen wieder Wahrſcheinlichkeit, 
Sitten und Anſtand verſtoſſen wird; und 
die bey allen den Flammen des tragiſchen 
Genies mehr bewundert, als nachgeahmt 
zu werden verdienen. 

Ich komme alſo wieder auf das franzoͤſt⸗ 
ſche Bas - comique zuruͤcke, welches, in 
ſoferne man idieſe Straſſe nicht umgehen 
kann, wenn man in das Gebiet der feineren 
Y 5 Scher⸗ 


II, Auftr. I. Aufl, 


336 


Scherze einmal gelangen will, ich unferen 
ſcherzhaften Schauſpieldichtern zum Vorbil⸗ 
de aufſtellen moͤchte. Der Liebhaber des 
Lachens findet dabey ſeine Rechnung, und 
der Geiſt iſt nicht ganz unbeſchaͤfftigt: die 
Thorheit aus Liebe, welche auf der fran⸗ 
zoͤſiſchen Buͤhne gegeben worden, ſoll mir 
die kurzen Anmerkungen an die Hand geben, 
welche ich uͤber dieſen Gegenſtand zu machen 
Willens war. 

Albert ein haſtiger Alter, hat ſich uͤber 
Agathen, eine junge Perſon, ich weis nicht 
durch welche Wege, ein Recht erworben, 
deſſen er ſich bedienet, ſie zu einer Ehe zu 
zwingen. Er geht, um ſich ihres Herzens 
zu verſichern, die große Straſſe der Alten, 
welche aus innerm Gefuͤhle des eignen Un⸗ 
werths junge Maͤdchen unter genauer Auf⸗ 
ſicht halten. Agathe wird dadurch einem 
alten ekeln Manne nur noch graͤmer. Eraſt, 
der ſie ehe gekannt und geliebt hatte, koͤmmt 

mit 


337 


mit feinem Bedienten, dem Criſpin an, findet 
Mittel ſeine Geliebte zu ſehen — Das Maͤd⸗ 
chen, das die Liebe verſchlagen macht, ſtellet 
ſich naͤrriſch an, und bringt in der verſtell⸗ 
ten Thorheit ihrem Liebhaber unter dem 
Scheine eines muſikaliſchen Parts einen 
Brief bey, worinnen ſie mit ihm die Abrede 
zu ihrer Entfuͤhrung nimmt. Eraſt iſt ohne 
Geld: eine zweyte Anwandlung von Thor⸗ 
heit verſchafft ihr auch dieſes: endlich wird 
Criſpin fuͤr einen Arzten ausgegeben, der 
ihre Heilung durch Verbannung der Narr⸗ 
heit in einem andern Körper zu bewerkſtelli⸗ 
gen verheißt. Erſt thut er Alberten den 
Antrag, die Narrheit ſeiner Geliebten auf 
ſich zu nehmen: und auf feine wohlvorher⸗ 
geſehene Weigerung iſt Eraſt, der an Cri⸗ 
ſpinens Vorgeben zu zweifeln ſcheint, er⸗ 
bietig, an ſich den Verſuch machen zu laſ⸗ 
fen, Die Zauberworte werden ausgeſpro⸗ 
chen; ſogleich erfolgt ihre Wirkung: Eraſt 
raſt, 


338 


— 


raſt: und in dem Anfalle der Raſerey geht 
er auf Alberten los, der die Flucht ergreift, 
dadurch aber Agathen und Eraſten ihre 
Entkommung erleichtert. Da Albert wie⸗ 
der koͤmmt, ſieht er, daß er der Hinterfuͤhr⸗ 
te iſt. 

Die Moral dieſer Stuͤcke iſt nicht gerade 
ihr erbaulichſter Theil, iſt eben nicht das je⸗ 
nige, wodurch ſie ſich hauptſaͤchlich empfeh⸗ 
len: geſchraubte Vaͤter, Männer, verjährte 
eiferſuͤchtige Liebhaber, denen das Haͤlmchen 
durch den Mund gezogen wird, das ſind ſo 
immer die gewoͤhnlichen Innhalte dieſer 
Stuͤcke: allein, was fo gewoͤhnlich iſt, if 
nicht gerade auch nothwendig. Wenn die 
Griffe, durch welche hier der Betrug, oft 
das Laſter ſiegt, wider das letztere ange⸗ 
wendet werden — wenn der Dichter die ver⸗ 
wegen ſcheinenden Schritte eines Maͤdchens 
wenigſtens zu rechtfertigen und ihnen eine 

un⸗ 


339 


unfchnldige Abſicht zu geben weis — wenn 
eine laͤcherliche Seite der Gegenſtand der 
Anfaͤlle eines Bedienten, eines Liebhabers 
wird — wenn wenigſtens die Wendung ſo ge⸗ 
nommen wird, daß keine unmoraliſche Folge 
daraus abgeleitet werden kann; ſo darf man 
ſich von dieſer Seite beruhigen, da’ die Ber; 
beſſerung der Sitten fuͤr itzt nicht als eine 
Hauptabſicht der Schaubuͤhne betrachtet wird. 

Das Scherzhafte des Niedernkomiſchen 
liegt nun nicht eben in dem Charaktere des 
Betrogenen: fo ein Gegenſtand ſollte bey⸗ 
nahe Mitleid eher, als Gelaͤchter erwecken: 
es liegt in der Art, wie der Betrug ge 
ſchieht. Die Verwickelung eines niedrig 


komiſchen Stuͤckes muß alſo auf eine fuͤhl⸗ 


bare, plumpe Art geſchehen: die Einfalt des 
Geſchraubten, der bey hellem Mittage nicht 
ſieht, ſich die albernſten Dinge anſchwaͤrzen 
laͤßt, und immer das Spiel feiner eigenen 
Vor⸗ 


4 


340 


Vorkehrungen wird, dieſe macht mich laͤ⸗ 
cheln — daß Albert einem Bedienten auf ſein 
Wort zutraut, er koͤnne die Narrheit aus 
einem Koͤrper in den andern zaubern — daß 
er mit offenen Augen nicht ſieht, wie Aga⸗ 
the Eraſten ein Briefchen zuſchiebt — daß 
er ſich ſo gutwillig um einen Beutel Gelds 
ſchrauben laͤßt — eine ſo unglaubliche 
Dummheit unterhaͤlt uns; aber man wuͤrde 
ihrer bald ſatt werden, wenn ſie nicht durch 
witzige und paſſende Schlagreden, und noch 
mehr durch eine Satire, die ſtark und rich⸗ 
tig iſt, unterſtuͤtzet wuͤrde. Dieſe Satire 
iſt dreiſt genug, ſich immer gerade zu an 
denjenigen zu wenden, den ſie hauptſaͤchlich 
bezeichnet, und der es am wenigſten zu fuͤh⸗ 
len ſcheint, daß fie ihn bezeichnet; oder den 
der Dichter in eine ſolche Situation verſe⸗ 
tzet, daß er ſichs gefallen laſſen muß, feinen 
Rucken zu den Streichen geduldig herzulei⸗ 
| hen — 


341 


hen — Hier aus erſpringt das Laͤtheln, deſſen 
ſich auch der Weiſe nicht ſchaͤmet, und das 
bey einem Originale unter den Zuſchauern, 
manchmal eine Tiefe in ſich ſelbſt Hinabſtei⸗ 
gung veranlaſſet „ wo man, wie Strabon 
dem Demokrit, vergebens rufen möchte: 
Eh lachen Sie doch mein Herr! lachen 
Sie! ihm, um den herum alles ſich er⸗ 
ſchuͤttert, iſt gar nicht a „den er 
fuͤhlet fih — 

Hat der deutſche Zuſchauer jemals Hoffnung 
bey denen Schauſpielen, wozu nichts weiter, 
als das hagere Geripp der Auftritte an die 
Schiebewand aufgehangen wird uͤber den 
plumpen Gang des Stuͤckes durch dasjenige 
entſchaͤdigt zu werden, was der Schauſpie⸗ 
ler aus dem Stegreife herzuſagen fähig iſt? 
ſetzen Sie ſich an die Stelle dieſer Beute! was 
koͤnnen fie fo auf dem Stegreife aufbringen? 
wenn es hoch koͤmmt ein, oder ein Paar 

Ein⸗ 


| 342 
en v8 
Einfaͤlle: und follen dieſe genug ſeyn, uns 
trockne Geſpraͤche von dreyen Stunden er⸗ 
traͤglich zu machen, da wir uns bey einem 
regnardiſchen Poſſenſpiele am Ende nicht 
allemal des Gaͤhnens erwehren wuͤrden, 
wenn nicht die Schauſpieler durch die An⸗ 
ziehung ihres Spiels der Anziehung des 
Innhalts zu erſetzen wuͤßten — 


Achtes Stßck. 


Vier und zwainzigſtes Schreiben. 


Wien den 20. May 176 8. 
ER 


5 Wenn man ein haͤßliches Geſicht ficht, 
of ſo ſagt man: das iſt ein haͤß⸗ 
liches Geſicht, und wendet die 
Augen ab: es iſt eben kein beſonderes Vergnuͤ⸗ 
gen, zu unter ſuchen, wodurch es ſo haͤßlich ger 
worden iſt: verſteht ſich, wenn dieſes haͤß⸗ 
liche Geſicht ohne Foderung iſt, und ſich 
nicht etwan fuͤr wohlgebildet aufdringen 
will: denn eine ſolche Blindheit empoͤret 
uns, und wir finden, indem wir unſern 
Geſchmack rechtfertigen, ein Vergnuͤgen, 
den ſich verkennenden Stolz ein wenig zu 
rechte zu weiſen — | 
Hingegen ſteht unſre Aufmerkſamkeit bey 
den anziehenden Reizen einer Geſtalt lange 
ſtille: wir laſſen uns nicht genuͤgen, die 
3 Schoͤn⸗ 


Schönheit des Ganzen zu bewundern; wir 
ſuchen die Urſachen unſers Vergnuͤgens ſtuͤck⸗ 
weiſe auf, wir zerlegen die Schoͤnheit in ihre 
Beſtandtheile — welche Augen! welcher 
Mund! — die Uebereinſtimmung der Theile 
zu dem bezaubernden Ganzen legt unſter Be⸗ 
wunderung zu: wir fodern den Pinſel auf, 
ſie nachzuſchildern, den Meißel, ſie nachzu⸗ 
bilden — | 

So ungefähr würde ein Kunſtrichter zu 
Werke gehen, der nicht etwan nur des haͤ⸗ 
miſche Vergnuͤgen des Tadels kennte — er 
wuͤrde ſagen: das iſt ungeſtaltet! und uͤber⸗ 
lieſſe den Beweis dem Auge und Ge⸗ 
ſchmacke derjenigen, zu denen er ſpraͤche. 
Saͤhe er aber, daß man ungeſtaltete Din⸗ 
gerchen zu Modelen in der Kunſt erheben 
wollte: dann muͤßte er freylich hingehen, 
und ſie als eine Scheuſaͤule an die Straſſe 
ſtellen, dem voruͤbergehenden Kuͤnſtler und 
Beurtheiler zum Beyſpiele und Warnung⸗ 

An⸗ 


8. 


Anſtatt nun dem Manne, der ſo etwas vor 
hat, gram zu werden, fol man ihn bedau⸗ 
ren, daß er zu einer ſolchen undankbaren 
Arbeit verurtheilet iſt; ſoll man ihm Dank 
wiſſen, daß er ſeine Augen waget, um dem 
unſeren den Anblick eines misfaͤlligen Ge⸗ 
genſtandes zu erſparen — 

Dieſer Eingang macht Sie fuͤr irgend 
einen verungluͤckten Autor fuͤrchten! nicht 
wahr? — beruhigen Sie fi! für dießmal 
nicht! es iſt nur eine nothwendige Vorſich⸗ 
tigkeit, wenn ich einſt zu einer ſolchen Stren⸗ 
ge gezwungen wuͤrde: es iſt ein Hollah! 
an die Schrifftſteller, damit fie nicht etwan 
auf guten Glauben meiner Gelindigkeit ſich 
Foderungen erlauben, die man ihnen nicht 
vergeben koͤnnte — Ich habe fie ſonſt von 
einem Stuͤcke zu unterhalten, toben ich 
mich dem Vergnuͤgen zu loben, freudig uͤber⸗ 
laſſen kaun — Aber freylich gehoͤrt von demi 
Lobe, unſrer Nation weiter nichts, als 

33 . 


346 


der kleine Antheil des Ueberſetzers, nnd ab 
lenfalls desjenigen, der es zur 8 
gewaͤhlet hat — 

Ueberſetzer — wann werden einmal die 
Deutſchen, auf fremden Ruhm eiferſuͤchtig, 
mit feineren Stuͤcken von ihrem eigenen 
Gemache die Nationalbuͤhne bereichern 2 
wann ? — der Zeitpunckt iſt vielleicht nicht 
eben zu beſtimmen: aber die Frage laͤßt ſich 
doch beantworten — dann, moͤchte ich ſagen — 
wann der deutſche Schau ſpield ichter hof⸗ 
fen darf, daß er für diejenigen ſchreibt: 
quibus placuiſſe, maxima laus eſt: dann, 
wann man nicht mit dem Vorurtheile, 
feine Bemühungen zu verwerfen, ſondern 
zu prüfen, zu übertragen, wo er Anlage 
verraͤth, ihn zu ermuntern, vor die Schau⸗ 
bühne treten wird; wann das Schau⸗ 

0 ſpiel⸗ 
Principibus placuiſſe viris— 
we zu gefallen / der ſchmeichelhafteſte Ruhm 


347 | 
ſpielſchrelben nicht ein Gewerb, ſondern 
Beruf ſeyn; wann der artige Wann, 
der Mann von der Welt vielleicht ſelbſt 
die Feder ergreifen, oder wenigſtens dem 
Dichter ſeine Einſicht, ſeine Beurtheilung 
leihen; wann die Geſchicklichkeit nicht das 
Zeichen der Verwerfung ſeyn, wann man 
die Vollkommenheit einer fremden Bühne 
dem Nationalſchauſpieler zur Nacheiferung, 
nicht sur Verzweiflung erheben wird — 

Bis dahin wollen wir immer mit wohlge⸗ 
rathenen Ueberſetzungen vorliebnehmen, wie 
dieſe iſt, welche uns eine geſchickte Feder 
von Sedains Philoſophe ſans ſavoir ge⸗ 
liefert hat — Es ſoll von eben dem Stuͤcke 
noch ſonſt eine Ueberſetzung vorhanden feyn: 
welche die hamburger Bühne auffuͤhrt: aber 
ſie iſt mir nicht zu Geſichte gekommen. Der 
Ueberſetzer, den ich vor mir habe, hat den 
Namen des Stuͤckes, der woͤrtlich lauten 
ſollte: der Weiſe, ohne es zu wiſſen: durch 
| 3 3 der 


348 


der Weiſe in der That gegeben. Er mag 
vielleicht Marmontels Erzählung der Ken 
ner, vor Augen gehabt haben, worinnen 
Fintak beſtaͤndig Philoſophie ſpricht, und 
immer ſehr unphiloſophiſch handelt; da hin⸗ 
gegen Vanderk, ohne ſich mit ſeiner weiſen 
Gleichmuth zu zieren, in den doͤrnichtſten 
Auftritten ſeines Lebens alſo handelt, wie 
der Kenner hätte handeln ſollen. 

Das Stuͤck iſt in jedermanns Händen? 
es iſt von der ruͤhrenden Gattung, welche 
nun auf der Schaubuͤhne zu herrſchen ſcheint. 
Vergebens hat man dem ruͤhrenden Aufts 
ſpiele das Vermögen, den Zuſchauer zu uns 
terhalten, ſtreitig gemacht: vergebens, wo 
die Gruͤnde zu ſchwach ſchienen, die Spoͤt⸗ 
terey zu Huͤlfe gerufen: vergebens iſt ſelbſt 
Yoltäre auf die Seite eines Desfontaines 
getreten, um ſich gegen das Weinerliche 
a Luſt⸗ 


349 


Cuſtſpiel zu erklaͤren * er, der ſich, was er 
immer dagegen ſagen mag, durch ſeine Nanine 
und Schottlaͤnderinn am erſten widerlegt: die 
Rechtfertigung dieſer Gattung von Schau⸗ 
ſpielen muß man nicht in der Poetik des 
Ariſtoteles, man muß ſie in un ſerm Herzen 
finden. Wie ? weil ein Grieche keine Ab⸗ 
theilung für das ruͤhrende Luſtſpiel ger 
macht; ſo iſt es in ein paar tauſend Jahren 
darauf, dem Franzoſen oder Deutſchen 
nicht erlaubt, bey dem Ungluͤcke ſeines Ne⸗ 
benbuͤrgers zu empfinden? — Ohne Zwei⸗ 
fel iſt der Antheil an dem Ungluͤcke eines 
Vaters, einer Mutter aus meiner Klaſſe, 
3 4 uns 


* Tous les deux, nous fimes par moitiè 
Un dramme court & non verfifit 
Dansle grand Goüt du Iarmoyant comique 
Roman moral, Roman metaphifique 
Il eft bien Vrai, que je fais peu de cas 
De ce faux genre, & j’aime afles qu on rie, 
Souvent je baille au tragique bourgeois, 
Au vains efforts d'un auteur amphibie , 
Qui defigure, & qui braveä la fois, 
Dans fon jargon Melpomene & Thalie. 


Le pauvre Diable 


unendlich ſtaͤrker, als der Antheil, den ich 
an den Begebenheiten eines Helden, einer 
Aöniginn nehme. Wenn die Regierungs⸗ 
ſucht ſich durch Bruͤdermord, durch Gift 
den Weg zum Throne ebnet; wenn eine ver⸗ 
liebte Prinzeſſinn gegen die Straͤubung ihres 
Herzens, das Schlachtopfer der Staats⸗ 
ſucht wird; ſo ſehe ich das, wie einen Sturm 
am Geſtade, hoͤchſtens mit Mitleid an, und 
Schrecken? nein! mit Schrecken gewiß nicht, 
weil dieſe Empfindung nur da ſtatt findet, 
wo meine Stellung mich aͤhnliche Ungluͤcks⸗ 
fälle beſorgen laßt. Vielleicht danke ich in 
dieſem Augenblicke der Vorſicht, die mich 
durch die Niedrigkeit meines Standes vor 
ſolchen graͤulichen Leidenſchaften, wie den 
Schilf durch ſeine Beugſamkeit vor dem Wuͤ⸗ 
ten der Stürme, geborget hat. Mithridat, 
Werope, Gedip, Phedra haben auf der 
Buͤhne nicht mehr Wirkung, als in einem 
Gemälde; ich bin mehr mit der Kunſt des 
Pin⸗ 


351 


. ͤ — . — 
Pinſels, als mit der Wirklichkeit des Gegen⸗ 
ſtandes beſchaͤfftiget. Aber, wenn ich einen 
Sohn die Nachſicht ſeiner Mutter hinterge⸗ 
hen ſehe; wenn ich einen zaͤrtlichen Vater 
bemuͤht ſehe, ſeine Kinder mit Sanftmuth 
von ihren Verwirrungen abzuziehen: wenn 
ich einen weiſen Mann das Opfer eines 
Vorurtheils werden ſehe; wenn die Unſchuld 
der Raub der Verfuͤhrung wird, welche mit 
der Tugend Mummerey fpielt: wenn ich 
ſolche Begebenheiten erblicke: dann kehre ich 
mein Aug von der Buͤhne auf mich: ich 
habe einen Sohn, eine Tochter: ſie ſind 
eben dieſen Faͤllen ausgeſetzt — Hier, wo 
ich nicht ſelten eine Aehnlichkeit der Hand⸗ 
lung finde, wo mir die Folgen meiner Nach⸗ 
ſicht vor Augen ſtehen, hier kann Schre, 
cken mich befallen, wenn ich mich, wenn ich die 
Meinigen dem Sturze ſo nahe erblicke; wenn 
ich eben dieſelben Folgen zu befuͤrchten habe; 
vielleicht ein heilſames Schrecken, wo es noch 
35 Zeit 


„35° 


Zeit iſt, zuruͤck zu beben. In der hohen 
Tragödie liegt — wenn ja ein Antheil darin⸗ 
nen liegt, der Antheil eines Standes, 
der dazu nicht ſehr zahlreich iſt — in dem 
buͤrgerlichen Trauerſpiele, wie man es zu 
nennen pflegt, liegt der Antheil des ganzen 
menſchlichen Geſchlechts. 

Dieſe Allgemeinheit hat es zum Lieblings⸗ 
ſchauſpiele aller Nationen gemacht, und 
wahrſcheinlicher Weiſe wird es ſich lange in 
der Gunſt behaupten: der Stoff dazu iſt ſo 
unerſchoͤpflich, ſo unzaͤhlbar die Verbindun⸗ 
gen der haͤuslichen Begebenheiten find, de⸗ 
ren jede unter der Hand eines geſchickten 
Mannes ein anziehungs volles Gemälde wer⸗ 
den kann. Der Weiſe in der That verbin⸗ 
det mehr denn einerley Abſicht: er ſcheint be⸗ 
ſtimmt zu ſeyn, den Vorzug des Sandel⸗ 
ſtands darzuthun; darzuthun: daß er auch 
erlauchte Ahnen nicht beſchimpfe. Es iſt 
eine Schande fuͤr unſre Zeitgenoſſen; ein 

Der 


8 
Beweis wider die fo ſehr geruͤhmte Aufklaͤ⸗ 
rung unſers Jahrhunderts, wenn man ſo 
was noch zu beweiſen hat: man ſollte davon 
bereits Bberzeigt ſeyn! — und dennoch ſcheint 
es Sedain ſelbſt, nicht recht zu ſeyn, ſo 
furchtſam find feine Schritte. Vanderk, 
der rechtſchaffene Vanderk, ergreift dieſen 
Stand bloß als eine Zuflucht wider die Duͤrf⸗ 
tigkeit: dieß raͤumt er dem Sohne in der Un⸗ 
terredung des IV. Auftr. im II. Aufz. ſelbſt 
ein; er iſt in einem fremden Lande, er legt 
ſich einen fremden Namen bey; heißt das 
nicht geſtehen, daß er den Namen Warthelz 
durch ſeinen itzigen Stand beſchimpft haͤlt? 
Dieſer Mann, über den die Vorurtheile ihre 
Gewalt verloren zu haben ſcheinen, ſagt in 
eben dieſem Auftritte zu ſeinem Sohne: wenn 
du glaubſt, daß ich den Namen unſrer 
Vorfahren durch die Handlung entehret 
habe, ſo iſt es deine Sache, dieſe Scharte 
guszuwetzen — warum bedingnißweiſe? 


wenn 


354 


wenn es der junge Menſch glaubt, wie es noch 
ſehr das Anſehen hat; ſo ſollte ihn der kluͤgere 
Vater zu rechte weiſen. Ich ſehe wohl, wo 
der Verfaſſer hinausgewollt: es ſollte dem 
Sohne ein Sporn mehr ſeyn, rechtſchaffen 
zu handeln — Eh! ſoll man guten Hand⸗ 
lungen jemals uͤble Gruͤnde unterlegen? wenn 
es allenfalls bey einer einzigen That, allen⸗ 
falls zu Beſchleunigung eines ſchnellen Ent⸗ 
ſchluſſes hingehen koͤnnte; ſoll man auch ein 
ganzes Gebaͤude der Tugenden auf Sand auf⸗ 
fuͤhren? und iſt es nicht ſelbſt wider Van⸗ 
derks des Vaters, eigne Grundſatze: wel⸗ 
cher wollte, daß die Tugenden des Soh⸗ 
nes mehr aus ihm ſelbſt, als aus 
dem Stolze auf einen großen Namen 
entſpringen ſollten? An ſeiner Stelle 
wuͤrde ein Mann, der von dem Vorzuge des 
Handelſtandes wahrhaft uͤberzeugt geweſen, 
geſprochen haben: wenn die Welt glaubt, 


daß ich den Namen unſrer Vorfahren durch 
die 
u. Au fz. IV. Aufttr. am Ende. 


355 

die Handlung entehret; fo iſt es deine Sa⸗ 
che zu zeigen, daß dieſes dem Staate ſo vor⸗ 
theilhafte Geſchaͤfft die Geſinnungen nicht 
entadelt: daß Vanderks Sohn die Ehre 
der Wa tholze vermehret — 

Widerlegungen, wo die Vertheidiger ge⸗ 
gen das Vorurtheil ſich ſo gefaͤllig erweiſen, 
beſtaͤttigen es vielmehr, als daß ſie es aus⸗ 
rotten ſollten: man hält dafuͤr, die Sache 
konne nicht beſſer vertreten werden, weil fie 
nicht beſſer vertreten wird. Goldoni in ſei⸗ 
ner pamela Fanciula verfällt in eben den 
Fehler. Richardſon laͤßt das tugendhafte 
Maͤdchen durch ihre Tugend allein, zur Ehre 
einer Myladi gelangen: Goldoni legt feinen 
Roman zum Grunde: aber der gute Andrews, 
den der Englaͤnder durch ſeine einfaͤltige 
Tugend, und die Verachtung aller Vorthei⸗ 
le, welche der Kaufſchilling der Schande 
ſeyn ſollten, ſo wichtig zu machen wußte, 
der gute Alte bekoͤmmt von dem Wälfchen 


einen Adelsbrief: er muß Graf Auſping 
mer; 


256 


werden und der Schmeichler laͤßt Bonfiln 
nach dieſer Entdeckung ausrufen: ach! Pa⸗ 
melens Tugend ſollte mir zu erkennen ge⸗ 
geben haben, daß ihr Serkommen nicht 
niedrig ift ! * — Elender! möchte ihm das 
beleidigte menſchliche Geſchlecht zurufen: iſt 
die Tugend ausfchlüffend ein Erb des 
Adels 2 e 

Die zweyte Abſicht Sedains war die 
Bekaͤmpfung eines Vorurtheils, welches die 
Macht der Geſetzte trotzet, und der ſtraffer⸗ 
tigen Gerechtigkeit zum Hohne, dem Staate 
noch immer manchen tapfern Bürger raubet. 
Der fünfte und achte Auftritt des dritten 
Aufzugs koͤnnen als ein Supplement zu den 
Gruͤnden betrachtet werden, welche Rous⸗ 
ſeau von der Schuͤlerinn demMeiſter predigen 
läßt — Grauſamer Misbrauch der Ehre! 
du konnteſt nicht anders als bey einer 
ſtolzen, eiteln Nation, bey einem Volke 

dei⸗ 

Atto II Scena XI, am Ends 


357 


deinen Sitz aufſchlagen, von dem jedes 
Mitglied feine Perfon für alles, Vaterland 
und Familie aber für nichts rechnet — 
Und ihr, ihr weiſen Geſetze, was hat eure 
Sorgfalt der Ehre Schranken zu ſetzen, 
gefruchtet? fie hat das Schaffot in Ans 
ſehen gebracht? — eure Strenge hat zu 
nichts gedienet, als das Herz des ehrli⸗ 
chen Mannes zwiſchen der Schande und 
der Marter zu foltern — 

Wie dieſe wenigen Zeilen, eben ſo fluͤſſend, 
eben ſo ungezwungen, ſo nachdruͤcklich iſt 
die ganze Ueberſetzung. Die Ehre die ſich 
ein faͤhiger Mann durch ſolche Arbeiten er: 
wirbt, iſt nicht eben ſehr glänzend: aber er kann 
dieſelbe gegen den Nutzen, den er dadurch 
ſchafft, aufheben: eine wohlgerathene Ue⸗ 
berſetzung widerlegt wenigſtens den Vorwurf: 
daß die deutſche Sprache der feineren Wen⸗ 
dungen, der Niedlichkeit, welche der theatral⸗ 
dialog fodert, nicht faͤhig fey : er wider⸗ 

N legt 


legt ihn darum kraͤftiger, als ſelbſt die beſ⸗ 
‚feren deutſchen Orginale, weil dem Zweifler 
Gelegenheit gegeben wird, zu vergleichen. 
uf der Geſchmeidigkeit der Sprache, wol⸗ 
len wir wenigſtens die Schuld nicht liegen 
laſſen, wenn man uns Stuͤcke in dem unedel⸗ 
‘fein Ausdrucke aufdringen will. 
Am Ende des Stuͤckes hat der Ueberſetzer eine 
; Meine Abänderung getroffen / fuͤr wel che ich ihm ſehr 
(Danck weis. Der Verfaſſer ließ das Schickſaal Jul⸗ 
chens unentſchieden — Er kanute ohne Zweifel den 
. Antheil ſelbſt nicht / welchen der Zuſchauer an dem 
Schickſaale dieſes lieben Maͤdchens nehmen wurde 
‚er dachte alſo nach der geweinen Regel der Poetik 
er habe genug gethan, wenn er das Schickſaal der 
Hauptperſonen entſchiede / und Julchen ſchien ihn 
nur eine Nebenrolle — eine Nebenrolle da haͤtte er 
das Kind nicht fo reizend / nicht fo anziehungsvoll machen 
müſſen / wenn fie das hätte ſeyn folfen ! Außer Va n⸗ 
derken dem Vater und Sohne nehme ich ſonſt 
an niemanden einigen Antheil als an ihr / und ihre 
liebenswuͤrdige Unruhe verdiente eine Belohnung / 
& fo ſehr / als fie mein Herz für fie foderte/ wenn ich 
‚ nicht unzufrieden von der Schaubühne weggehen 
ſoll. Der Ueberſetzer hat es mit wenigen Worten 
gethan: die Freundinn Julchens / und der 
: Sohn vereinbaren ihre Wuͤnſche / aber die Gegen⸗ 
wart einer aufgeblafenen Muhme / erlaubt ihnen mehr 
nicht als: liehſter Vater zu ſeuͤtzen — Daß iſt 
dem Vater genug: dieſer Seüftzer / ſagt er dem 
Sohne / ließ mich in das Inuerſte deines Herzens. 
ſehen : ich verſtehe dich — Erwarte alles von mei⸗ 
ner Liebe — Ich ziehe dieſen niedlichen Schluß 
einem Eheverlobniſſe vor / welches gewohnlicher Weiſe 
am Ende der Komödien nach christlichen Gebrauche 
vor Notarius und Zeugen geſchloſſen wird / und 
darüber der aute Van derk mit feiner Schweſter 
ſich gewiß erſt hätte zanken muͤſſen. 


Neuntes Stück. 


Fuͤnf und zwainzigſtes Schreiben. 


Wien den 29. May 1768. 


PR NS * 

\ Manchmal wandelt ihren Freund, in 
ot Auſehen der Schaubuͤhne, eine 
| ähnliche Grille an, wie fie den 

Verfaſſer Utopiens und Oceana in Anſehen 
der Staaten angewandelt; da traͤume ich 
mir, wie ſie ihren Staat ohne Verwirrung, 
ohne veränderliche Geſetze, fo träume ich 
mir eine Schaubuͤhne ohne Fehler. Ich 
verfolge dieſen Traum oft ſehr weit, und | 
verirre mich zuletzt unvermerkt durch meine 
Einbildung aus dem Gebiete der bloſſen 
MöglichFeit in das Land der Wirklichkeit. 
Haben Sie Luft, fo einen Traum anzuhören? 
haben Sie Luft? wenigſtens ein Stuͤck dar 
von! — 5 | 
| Bey meiner Schaubuͤhne, der vollkom⸗ 
meuſten Schaubuͤhne in der Welt, wo alle 
A a Trau⸗ 


360 


Trauerfpiele in ihrer Art wenigſtens Gedi⸗ 
pe * alle Luſtſpiele Zausvaͤter, wo alle 
Schauſpieler Saͤrriks und Claͤrons und 
alle Zuſchauer K** ſeyn — denn auf⸗ 
merkſame, fuͤhlen de und einſichtvolle Zu⸗ 
ſchauer gehoͤren ganz unentbehrlich mit in 
den großen Entwurf meiner unverbeſſerlichen 
Schaubuͤhne — hier wird kein Stuͤck auf⸗ 
gefuͤhret, wovon nicht zuvor wenigſtens ſechs 
ganz ordentliche Proben, ſo genaue Proben 
gehalten werden, daß ihnen nichts, als die 
Zuſchauer abgehen, um wirkliche Vorſtellun⸗ 
gen zu ſeyn. Dadurch werden den Schauſpie⸗ 
lern die Auftritte und Abgaͤnge geläufiger : 
dadurch werden die Bilder, wo in einem 
Stuͤcke dergleichen vorkommen, ungleich 
richtiger in Ganzem geordnet, und jeder 
Gruppe nach ihrer Wirkung ein Platz ange⸗ 
wieſen; dadurch werden die ſtummen Spie⸗ 
le, die fo oft der Schönheit des Stuͤckes 
beyſetzen, die Ruͤhrung befoͤrderen, die Feh⸗ 
| | ler 
Der Griechiſche. 


361 


ler des Dichters, wo er von der Hitze feiner 
Einbildung fortgeriſſen, die Vorſtellung aus 
den Augen verlor, bemaͤnteln, dieſe werden 
anpaſſender, wechſelſeitiger, uͤbereinſtimmen⸗ 
der. Der junge Schauſpieler, deſſen ſich 
ſelbſt uͤberlaſſene Einſicht dieſe Luͤcken aus⸗ 
zufuͤllen, noch unvermoͤgend iſt, wird durch 
den faͤhigeren geleitet — Doch gemach! ehe 
ich noch es zur Probe kommen laſſe, habe 
ich noch ſo Vieles voranzuſchicken, | 

Ich laſſe allen Schauſpielern, nicht ihre 
einzelnen Rollen, ſondern immer das ganze 
Stuck im Zuſammenhange austheilen. 
Dieſer kleine Aufwand iſt unvermeidlich, 
wenn der Schauspieler und Schauſpielerinn 
ihre Charaktere vollkommen innen haben 
ſollen. Die Wahrheit des Spiels, ſein 
Angemeſſenes, ſein Wechſel ſind nicht aus 
einzelnen, verſtuͤmmelten Reden abzuneh⸗ 
men; der Zuſammenhang weiſt dazu an: 
der Zuſammenhang weiſt, wie, nach des 
. 5 Aas Dich⸗ 


362 


Dichters Abſicht, der Zwiſchenredner die 
Erinnerung, die Nachricht, den Vorwurf, 
die ihm gegeben, gemacht werden, aufzu⸗ 
nehmen hat; durch welche ſtumme Spiele 
er den Zuſammenhang nachhelfen, unterſtuͤ⸗ 
tzen ſoll. Der Dichter laͤßt hundertmal ei⸗ 
ne Erzaͤhlung in Mitte unterbrechen, weil 
dieſe Erzählung bey demjenigen, an dem | 
fie gerichtet iſt, eine Gemuͤthsveraͤnderung 
verurſacht, Schrecken, Verwirrung, Zorn, 
Traurigkeit erwecket, Thraͤnen entlocket — 
Wenn der mitſpielende Schauſpieler von die⸗ 
ſer langen Rede weiter nichts, als das 
Schlagwort innen hat; ſo iſt es moͤglich, 
daß die vortrefflichſte Stelle, der ruͤhrendſte 
Auftritt, in eine Parodie ausarte. Die 
Beyſpiele hiezu kommen zu haͤufig und all⸗ 
taͤglich vor, als daß ich lange darunter 
wählen follte: das naͤchſte, fo mir bey 
faͤllt! Olban ſpricht Naninen zu : fe 
tzen Sie ſich! ich erweiſe Ihnen, was 
ih⸗ 


363 


1 SE m ee m erst ntser rer <armnenmnnn 
ihre Reize, ihre Tugend verdienen: iſt 
ein Diamant, den man in der wuͤſte 
finder, weniger ſchoͤn, weniger koſtbar, 
weniger werth? — wie ihre ſchoͤnen Augen 
ſind in Thraͤnen? — wenn nun aber die 
Schauſpielerinn gerade nicht 1 aus 
ſaͤhe? — 

Die Einſicht des Schauſpielers kann zwar 
einigermaſſen ſolche Unſichicklichkeiten vers 
meiden, wenn ſie ihn in die Abſicht des 
Dichters, nach dem Zuſammenhange mit 
dem was vorgeht, und folget, eindringen, 
und aus ſeiner gegenwärtigen Stellung die 
ſtumme Gebehrde errathen laßt. Zum min⸗ 
deſten aber kann er bey der feinſten Einſicht, 
der Schauſpieler den Zeitpunkt nicht vor⸗ 
herſehen, da der Dichter, zum Beyſpiele die 
Leidenſchaft ſo ſtark angeſpannt zu ſeyn glau⸗ 
bet, daß ihre Wirkung ausbricht: ihr beid⸗ 
ſeitiges Gefuͤhl muͤßte die genaueſte Ueber⸗ 
einſtimmung haben, damit ſie durch denſel⸗ 

f Aa; ben 


364 


ben Trieb auf denſelben Grad erhöht wuͤrde: 
und wenn auch eine ſolche ungewoͤhnliche 
Harmonie vorau⸗geſetzt werden koͤnnte, wel⸗ 
che dazu von jedem aeͤußerlichen Umſtande 
zerſtoͤhret werden kann; ſo hat der Dichter 
gar oft dichteriſche Gruͤnde, welche ihn be⸗ 
muͤſſigen, die Wirkungen der natuͤrlichen 
Empfindung bis auf einen gewiſſen Punkt 
zuruͤckzuhalten, oder ſie zu uͤberholen — Die⸗ 
ſer einzelne Vortheil iſt nicht der einzige, 
den meine Schauſpieler aus der Ueberleſung 
des ganzen Stuͤckes ziehen ſollen: ich fodre 
mehr. a 

Jeder Schauſpieler muß aus dem Zu⸗ 
ſammenhange des Stuͤckes, das er in Haͤn⸗ 
den hat, den Charakter deſſelben feſt⸗ 
ſetzen: denn nicht nur jede einzelne Perſon 
eines Schauſpieles, ſondern auch jedes 
Schauſpiel hat ſeinen eignen Charakter, 
durch welchen es ſich von andern unterfcheis 
det — Nicht etwan darinnen beſtuͤnde der 
| | Cha⸗ 


365 


Charakter des Stückes , daß es von der 
| zührenden Gattung, von der ſcherzhaften, 

von hohen, von niedrigen Komiſchen iſt: 
das ſind Geſchlechter, oder wenn ſie ja 
wollen, die Arten: aber, wie der Weiße, 
| der Braune, der Neger zwar uͤberhaupt 
eigne Arten ausmachen, jedes einzelne Glied 
dieſer Arten aber, wenn ich ſo ſagen darf, 
ſeine individuelle Bildung hat, wodurch es 
ſich von den uͤbrigen auszeichnet; ſo gehoͤret 
zwar Melanide, die Mütterſchule, der 
Hausvater, Nanine, die Schottlaͤnderinn, 
der Weiſe in der That, Eugenie der recht⸗ 
ſchaffene Wiſſethaͤter, die zärtlichen 
Schweftern u. d. g. unter einerley Gattung; 
aber jedes derſelben wird durch einen eigenen 
Umriß, und nur ihm eigne Charakteriſticke 
von dem andern unterſchieden. Wenn Sie 
wollen, ſo nehmen Sie das, was ich den 
Charakter des Stuͤckes nenne, eine Ver⸗ 
floͤſſung, wie in den Farben, welche aus dem 

Aa⸗ Mehr 


366 


Mehr oder Weniger der Hauptfarbe, und 
aus der Beymiſchung andrer Farben, nach 
dem verſchiedenen Verhaͤltniſſe des Zuſatzes 
entſpringt: eben auf dieſe Weiſe wird der 
höhere oder gemaͤſſigtere Grad der Traurig⸗ 
keit, nach dem Beyſatze von ſanfteren oder 
heftigeren Leidenſchaften, nach der Verſchie⸗ 
denheit der Perſonen, unter welchen die 
Handlung vorgeht, nach dem Vorwurfe der 
Handlungen, und ſeiner groͤßeren oder un⸗ 
betraͤchtlicheren Anziehnng, nach dem Maſſe 
der Hitze, mit welcher alles verfolget, und 
daraus heftigere Uebergaͤnge der Empfindun⸗ 
gen, gewaltſamere Preſſungen unſers Her— 
zens, oder nur eine angenehme Schwer⸗ 
muth veranlaſſet werden; nach der Ver ſchie⸗ 
denheit dieſer unendlich mannigfaltigen 
Verlaufungen, wird jedes Stuͤck ſeine 
weſentlichen Unter ſcheidungsmerkmale haben: 
und eben ſo das Scherzhafte nach ſeinen 
Geſchlechtern. 

5 Der 


367 


Der feſtbeſtimmte Charakter des Stuͤckes 
beſtimmet, wenn ich mich ſo ausdruͤcken 
darf, die Einheit des Tons, der in dem 


Ganzen herrſchen muß Ich will eine 
kleine Anwendung auf den Weiſen in der 
That verſuchen, da dieſes Stuͤck nur erſt 
wiederhohlt worden, und noch ganz in ih: 
rem Gedaͤchtniſſe ſchwebet. Das ganze 
Stuͤck iſt das Gemälde eines rechtſchaffe⸗ 
nen, edeldenkenden Hauſes: aber der 
Stand, den Vanderk ergriffen, giebt ſeinen 
Handlungen eine ganz eigne Wendung, die 
mitten zwiſchen dem Stolze des Adels, und 
dem gemeinen Betragen des buͤrgerlichen 
Standes innen ſteht: nur dieſe Linie! dieſſeits 
und jenſeits wird es fehlerhaft. Jede Per⸗ 
ſon dieſes Hauſes muß nach derſelben Rich⸗ 
tung wandeln: der junge Vanderk, ſo ſehr 
er Offizier iſt, muß noch immer die Sitt⸗ 
ſamkeit ſeines Standes athmen; immer noch 
gegen die freyen Offiziere aus den hoͤheren 
Aa 8 Haͤu⸗ 


368 


Haͤuſern merklich abſtechen. Der Frau 
muß von ihrem Gemahle mit Achtung ohne 
Bedienung „von ihren Kindern mit derjeni⸗ 
gen Ausſchuͤttung des Herzens begegnet 
werden, die der füffefte Lohn der muͤtterlichen 
Sorgfalt iſt; ein eignes Vorrecht des gluͤck⸗ 
lichen Mittelſtandes, denen Muͤttern aus 
den hoͤheren Klaſſen unbekannt, welche ihre 
Kinder von Jugend an in einer großen Ent⸗ 
fernung halten, und von ihnen vielleicht ge⸗ 
ehrt, aber ſelten geliebt werden. Das 
Hausgeſind wird weder veraͤchtlich angelaſ⸗ 
fer, noch einer innigen Vertraulichkeit ger 
wuͤrdiget: man begegnet ihm als Gliedern 
einer Familie, welche die Liebe vereinbaret, 
worinnen die Erkenntlichkeit und Pflicht je⸗ 
dem feine Stufe und Abhängigkeit ans 
weiſt — Die zwo Perſonen, welche von 
außen herkommen, und in dieſes Familien⸗ 
ſtuͤck eingeflochten werden, Blankenfeld und 
die Haroneſſe von Frontheim machen den 
ſitt⸗ 


369 


3 
ſittſamen Familienton noch kennbarer. Der 
eine begegnet Vanderken mit der uͤberſe⸗ 
henden Mine, die den eingebildeten Stolz 
auch da nicht verläßt, wo er des Beyſtandes 
der Niedern noͤthig hat. Blankenfeld giebt 
Vanderken eine volle Lage beißender Wahr⸗ 
heiten, die man einem Manne erſparen 
wuͤrde, dem man eine Zuruͤckhaltung ſchul⸗ 
dig zu ſeyn glaubte. Der gelaffene Handels⸗ 
mann ſtichelt nicht entgegen: er widerlegt 
die Anſpielungen durch Thaten. Die Ba⸗ 
roneſſe, die doch von ihres Bruders Wohl⸗ 
thaten lebt, handelt mit einer ſo ſichtbaren 
Selbſterhoͤhung, ihr wird mit ſo vieler 
Ehrerbietung von jedermann begegnet — 
Die Situation des Hauſes iſt alſo aͤußerliche 
Ruhe und geheime Gaͤhrung — Was immer 
fuͤr Veraͤnderungen darinnen vorfallen mo: 
gen, alles muß nach dieſer ſtillen Groͤße 
ziehen. Es muß ein Gemaͤlde von einer 


Far; 


378 


Farbe ſeyn; die Erhöhungen und Vertie⸗ 
fungen find nur Verlaufungen derſelben — 
Vergeſſen Sie nicht daß meine Schauſpie⸗ 
ler Gaͤrriks, meine Schauſpielerinn Claͤ⸗ 
rons find: ich trage ihnen alſo nicht zu viel 
auf, wenn ich verlange, jeder ſoll ſich nun 
den beſondern Charakter der Rolle aus⸗ 
ziehen, die ihm zugetheilt iſt. Sie gehen 
daher das ganze Stuͤck abermal durch, um 
den Geſtchtspunkt auszufinden, von welchem 
der Dichter denſelben gezeigt haben will. 
Derjenige, dem die Rolle des alten Van⸗ 
derks zugefallen, findet: Sedain habe ei⸗ 
nen Mann von gepruͤfter Rechenſchaft, von 
einer Gelaſſenheit, die ſich auf Nachdenken 
gruͤndet, ſchildern wollen: er huͤtet ſich, 
ihn als einen Unempfindlichen zu zeigen, 
uͤber den die Begegnungen des menſchlichen 
Lebens nichts vermoͤgen: er iſt ein Menſch: 
das Ungluͤck ruͤhret ihn, die Freude iſt ihm 
willkommen: aber er laͤßt ſich von dem ei⸗ 
nen 


371 


nen nicht zu Boden druͤcken, von der an⸗ 
dern nicht uͤber die Wolken hinfuͤhren; er 
weis, beides zu ertragen: auch die Vorur⸗ 
theile der Welt verachtet er nicht ganz: er 
kennet ſie als ſolche; aber er weis, daß es 
nicht immer erlaubt iſt, ſich daruͤber weg⸗ 
zuſetzen — Nunmehr fragt er: wie wird ein 
ſolcher Mann ſich in den Auftritten des Le⸗ 
bens betragen, in welche ihn der Dichter 
ver ſetzt hat? an einem Tage, wo ſeine Toch⸗ 
ter getraut wird, wo das Gemuͤth eines 
Mannes, der in feiner Kinder Gluͤcke das 
feine ſuchet, mit Freude uͤberſchuͤttet ſeyn 
muß, an einem ſolchem Tage die graͤulichſte 
Verwirrung, die Furcht, ſeinen Sohn zu 
verlieren, wie wird er dieſe empfinden? wie, 
mit einer ſcheinbaren Zufriedenheit ſeine Un⸗ 
ruhe in ſich verſchluͤſſen, um die Freude der 
Feyer nicht zu ſtoͤhren? wie wird er die 
Mittel, dem Ungluͤcke vorzubeugen, ver⸗ 
anſtalten? mit ausbrechender Unruhe? oder 
mit 


372 


mit Gelaſſenheit? Wie die Nachricht aufı 
nehmen, daß ſein Sohn wider Gebot ent⸗ 
kommen? — wie wird er das Geſchwaͤtz ei⸗ 
ner adelſuͤchtigen Schweſter ablehnen? — 
wie wird er ſich in dem Geſpraͤche mit Blan⸗ 
kenfelden, das ihm nur zu deutlich den 
furchtbaren Gegner entdecket, betragen? — 
die drey ſchrecklichen Schlaͤge! wird er da⸗ 
bey ſich von Schmerzen ganz uͤberwaͤltigen 
laſſen? und der Uebergang zur Freude, da 
er ſeinen Sohn rechtſchaffen und unverletzt 
erblickt? Der Dichter legt ihm zwar die 
Worte in Mund; aber die Richtigkeit der 
Empfindung giebt erſt den vorgeſchriebenen 
Worten den zukommenden Ton giebt den Ge⸗ 
behrden, dem Geſichte, den Stellungen die 
Wahrheit — 

Der junge Vanderk hat etwas von dem 
freyen Aeußerlichen ſeines Standes : er er⸗ 
innert ſich mit Zwange ſeines geglaubten 
Herkommens: aber er trägt auch ſeine Ge⸗ 

dan⸗ 


373 


danken zu hoch, um Riedrigkeit damit zu 
verknuͤpfen. Gegen ſeinen Vater ehrerbie⸗ 
tig, von dem Vorurtheile einer falſchen Ehre 
hingeriſſen, fuͤhlet er es, daß er das Un⸗ 
glück einer ganzen Familie machen : und⸗ 
doch will er es machen: für Julchen einge: 
nommen, iſt ſeine Familie nicht das einzi⸗ 
ge Beſorgniß. Ein junger Mann mit dieſer 
Gemuͤthsbeſchaffenheit, in dieſem Zuſtande, 
wann ihm der Vater ungefaͤhr vom Trauer, 
ſpiel aufführen, wann Julchen von verwun⸗ 
det werden ſpricht, wie wird er ſich befras 
gen? wie ? mit welcher Beaͤngſtigung, und 
Nachdruck das: Keinem als mir, wiederholen: 
dieſes bedeutende Reinem als mir, das er 
verſtanden und auch nicht verſtanden haben 
wollte? wie wird er die Nachricht 
von ſeiner adelichen Herkunft aufnehmen? 
wie begierig den Umſtand von ſeines Vaters 
Schlaͤgereyen auffangen? wie ſeine Ehrer⸗ 
bietung gegen die Einrede ſeines Vaters mit 
dem 


374 


dem verkennten Rufe der Ehre vereinigen? 
wie die ungeſtuͤmmen Liebkoſungen ſeiner 
ſoldatentollen Tante ertragen? — 

Julchen, in dem franzoͤſtſchen Viktorine, 
wird ſich nicht ſelbſt zu einem Folgemaͤdchen 
herabſetzen: ſie wird ſagen: Julchen iſt die 
Freundinn, die Geſpielinn der Tochter vom 
Hauſe: aber auch die Tochter des Dieners. 
Wenn das erſte ihr bey des jungen Van⸗ 
derks Liebkoſungen Muth macht; ſo thut 
das Andenken des letzten ihr Einhalt: und 
doch kann ſie dem Ausbruche ihrer Neigung 
bey der Gefahr, die ihm droht, bey ſeinem 
vermeinten Tode nicht währen: wie hat ſich 
ein Maschen in ihre Stellung zu finden, 
damit fie nicht für eine Kinerte gehalten 
werde? — So find meine Schauſpieler zu. 
dieſem Stuͤcke zubereitet — die hieſigen mögen 
ſich darnach prüfen — und die Fuſchauer fie 
darnach beurtheilen — 


EEE Ä 
— — — — 


u Sehntes Stück. 


Sechs und zwainzigſtes Schreibe. 


Wien den 2. Junius 17688 


eben wir uns heute ein großes 
Schauſpiel! ein Schauſpiel, 
wie Griechenland oft ſah, 
wann es ſaß, und zwiſchen Sophoklen und 
Euripiden den Ausſpruch that — Wir 
wollen uͤber Nationen urtheilen! unſer Herz 
ſoll entſcheiden, wer von beiden, der Fran⸗ 
zoſe oder Britte den ſicherern Weg zu dem⸗ 
ſelben zu finden, und es mit Abſcheu gegen 
ein verderbliches Laſter zu erfuͤllen wußte 
Das war ohne Zweifel die Abſicht Rede 
nards, als er ſeinen Spieler arbeitete: Valer 
ſollte denjenigen, welche von einer fo tollen 
Leidenſchaft hingeriſſen werden, Beyſpiel 
und Warnung ſeyn! eben dieſen Eindruck 

füollte Beperleys bethraͤntes Schickſal ind 
b chen; 


= - TS 
. 
2 * 
a N & 
Y 
1 
x 
IN 


376 


chen: es ift ein lehrreiches Vergnügen, 
zween Maͤnnern die Kunſt abzuſehen, mit 
welcher ſie denſelben Gegenſtand behandeln, 
wie fie nach demſelben Zwecke auf verſchie⸗ 
denen Wegen eilen. | 

Kegnards Spieler erſchien gegen das En 
de 1696., ward mit großem Beyfalle aufge- 
nommen, und erhaͤlt ſich immer noch auf 
der Schaubuͤhne, ſelbſt zu einer Zeit, da 
man bey Moliers Geizhals ſich der langen 
Weile hart erwehret. Dufreny beſchuldigte 
Kegnarden: er hätte den Stoff zu dieſem 
Luſtſpiele ihm entriſſen : er wollte dieſe 
Beſchuldigung durch den Chevalier Joueur 
belegen, welchen er folgendes Jahr mit ei⸗ 
nem Prologue auf die Schaubuͤhne gab — 
Das Parterre war ein billiger Richter: es 
nahm ein froſtiges Stuͤck mit der Verachtung 
auf, die es verdiente: Kegnard ſchob von 
ſeiner Seite die Beſchuldigung auf den 

̃ Du⸗ 


377 


Dufreny nicht zuruͤcke: er überließ ihm ſei⸗ 
nen Chevalier ganz und eigen. 

Kickoboni der Vater, wagte am Ende 
1718. einen neuen Spieler in einem aus 
dem Stegreife geſpielten Stuͤcke: „ man iſt 
>, der Meynung — ſagt der nouveau mer- 
„, eure de france von dieſem Stuͤcke — es 
„ fen eine Verwegenheit, einen bereits ber 
„ kannten Stoff auf die Schaubuͤhne zu 
„bringen; beſonders, wenn er von einem 
„ Schriftſteller des erſten Rangs iſt behan⸗ 

„ delt worden. In der That, es ſey nun, 
„ daß man zum Beſten desjenigen einge⸗ 
„„ nommen iſt, der uns zu erſt das Vergnuͤ⸗ 
„ gen gab, oder, daß man dafür haͤlt, er 
„ könne nicht beffer bearbeitet werden; man 
s, muß bekennen, es habe zu unſrer Zeit je⸗ 
Ben Schriftſteller gereuet, der ſich Ver⸗ 
5 gleichungen ausgeſetzet. Aber, dieſe 
„ Schwierigkeit iſt am leichkeſten in den 
55 Karakteren des Geizhalſes, Tartufs, Lüg⸗ 

Sb: „ners 


„ners und andern ähnlichen darzuthun: 
„ von dieſen kann man behaupten, daß aus 
„ ßer den Zügen, durch welche fie geſchildert 
„werden, es vorzuͤglich auf die Wahl der 
„Farben ankoͤmmt. Iſt dieſe Wahl ein⸗ 
55 mal durch einen Mann von Geſchmacke 
5 getroffen; fo ſieht man dann die Sache 
„ faſt als unmoͤglich an, den naͤmlichen 
„ Karakter wiederzuzeichnen, ohne in die 
„Nachahmung oder Wiederholung zu 
3, verfallen — Der Auszug, der hierauf 
von dem Stuͤcke des Xickoboni gegeben 
wird, beſtaͤttiget dieſe Betrachtung ſehr, 
ungeachtet man dem neuen Spieler die 
Gunſt erweiſen wollte, ihn als ein Ausnahme 
anzufuͤhren. Der waͤlſche Spieler verliert, 
wie der Franzoſe durch ſeine ungemaͤſſigte 
Spielſucht ſeine Braut; die Glaͤubiger quaͤ⸗ 
len ihn eben ſo — wenn er nicht das Portrait 
feiner Geliebten an Madame Beſſource ver⸗ 
pfaͤndet; fo ſpielt er doch ein ſolches Stückchen 
mit 


379 


mit ihrer Uhr: die Karten, welche ihm in 
Gegenwart ſeines Maͤdchen zur Taſche her⸗ 
aus fallen, und wovon er ihr anſchwaͤrzt, 
daß die Gelehrten einen eigenen Gebrauch 
machen, gelten ungefaͤhr den Seneka bey 
Kegnarden. Es ſind nicht die naͤmlichen, 
aber es ſind aͤhnliche Zuͤge: ich wuͤßte nicht, 
wie Kickoboni genauer den Gang, die 
Verwirrung, die Entwickelung ſeines Vor⸗ 
gaͤngers haͤtte nachahmen koͤnnen, er haͤtte 
ihn denn — überſetzt. 

Der ungen annte Verfaſſer des engliſchen 
Spielers, der im Jahre 1753. in London 
die verdiente Aufnahme erhielt, iſt dem 
Franzoſen weder auf dem Wege, noch am 
Ende begegnet: er hat ſich einen ganz an⸗ 
dern Sehpunkt auserſehen. Nach der ſeiner 
Nation eignen Staͤrke, war es ihm nicht ge⸗ 
nug, das Herz zu rühren ; er wollte er⸗ 
ſchuͤttern: er wollte die Spielraſerey nicht 

Bb z ver⸗ 


2 | 
veraͤchtlich, er wollte fie furchtbar, er⸗ 
ſchrecklich machen — 

Die epiſodiſchen Auftritte einer laͤcherli⸗ 
chen, aͤlternden Kokette, und eines War⸗ 
keſen von gutem Gluͤcke bey Seite geſetzt, 
welche die Schriftſteller damaliger Zeiten dem 
Geſchmacke des Parterrs, wie die Nord— 
ſchiffer die Spieltonnen dem Wallfiſche, zur 
Unterhaltung Preisgeben mußten: wodurch 
hat Regnard bey feinen Landsleuten Ab⸗ 
ſcheu vor dem Spiele zu erwecken geſucht? 
er laͤßt den jungen Menſchen ſeine Geliebte 
vetlieren das iſt freylich ein betraͤchtliches 
Ungluͤck, bey einem ſo galanten Volke: aber 

dieſe Geliebte ſollte ſeine Frau werden! das 
| macht das Unglück wenigſtens ertraͤglicher 
bey eben dem Volke, das an die bitter⸗ 
ſten Sarkasme gegen eine lebenslaͤngliche 
Verbindung verwoͤhnt iſt. Er laͤßt ihn 
von dem Vater enterben und verfluchen — 
das: je te donne ma nialediction, iſt in dem 


ö Mun⸗ 


381 


Munde der Staatspächter ſchon zu gemein, 
zu abgenuͤtzt, zu entheiligt geworden; es 
verurſacht ſelbſt, wann es ein verehrungs⸗ 
wuͤrdiger d' Orbeſſon ausſpricht, nicht mehr 
die Erſchuͤtterung, welche auf ein ſolches 
Donnerwort erfolgen ſollte. Aber hier iſt 
es ernſtlich gemeynet — gut! iſt es, ſo ernſt⸗ 
haft es nun gemeint ſey, ein Mittel, den 
lockeren, ſich ſelbſt uͤberlaſſenen Purſchen 
zu rechte zu bringen? wird ſichs der Enterb⸗ 
te eben zum ſonderlichen Ungluͤcke anrech⸗ 
nen 2 aus der Schlußrede wenigſtens, mit 


der er abgeht, zu urtheilen, ſcheint es 


nicht — Kein Stachel alſo, der durch eine 
ſichere, unwiderſtehliche Gewalt, durch eine 
kurze, koͤrnichte Schlußrede, aus der vor; 
angeſchickten Begebenheit gezogen, in unſre 
Seele gedruckt, von der Buͤhne weggenom⸗ 
men, und lange noch mit ſich, auch wider 

Willen herumgetragen wird: 
— — qualis conjecta cerva ſa- 
gitta, | 


382 


Quam procul incautam memora inter 
creiia fixit 
Paftor agens telis, liquitque volatiæ 
| ferrum: 
= — illa fuga filvas faltusque pere- 
grat 
Dictæos, hæret lateri letalis arundo — 
Die Schwäche des Eindrucks, der mir 
am Ende uͤbrig bleibt, iſt eine natuͤrliche 
Folge der wenigen Antheilnehmung, wel⸗ 
che Kegnard in die Karaktere aller Perſo⸗ 
nen gelegt: lauter Mitteldinge von Geſchoͤ⸗ 
pfen, die, weder recht gut ſind, und beys 
nahe möchte ich ſagen, weder das Herz ha⸗ 
ben, recht laſterhaft zu ſeyn — zwar wie 
man fie im gemeinen Leben am meiſten fins 
det; aber die gemeinſten Karaktere ſind auch 
nicht die dichteriſchſten. Durch ſolche 
kalte Weſen konnte eben nicht viele Hitze in 
die Handlung gebracht werden: keine Abs 
ſte⸗ 


383 


ſtechung; keine Wirkung und Gegenwirkungz 
keine beſondere Bewegung; keine Situation 
wo keine Anhaͤnglichkeit iſt; keine Empfin⸗ 
dung; keine, auch nicht einmal ſpieleriſche 
hervorſtechende Geſinnung! — 

Das Maͤdchen iſt ein leichtſinniges Ges 
ſchoͤpf, das an einem Menſchen Geſchmack 
findet, der ſeine ihr nicht verhoͤlte, tolle 
Spielbegierde, durch keine einzige glaͤnzen⸗ 
de Eigenſchaft erkauft, und ihrem Eigen⸗ 
ſinne ihn zu lieben, nicht den geringſten Vor⸗ 
wand leiht. Um ſeinerwillen faͤhrt ſie einem 
rechtſchaffenen Manne kaltſinnig mit „der 
ihr feine Hand anbiet. Solch einem Maͤd⸗ 
chen goͤnnte man es gerne, daß ſie fuͤr ih⸗ 
re Blindheit durch eine Ehe mit Valeren ge⸗ 
zuͤchtiget wuͤrde: und man ſagt dem braven 
Manne, der ihre Hand e } gewiß 
nicht das reizendſte Schickſal vor. 

Der Vater des Spielers verdient alles, 
was ihm wiederfaͤhrt: warum hat er nicht 

ö Be bs das 


384 


das Herz, Vater zu ſeyn: auch felbft feine 
Guͤte weis er nicht ins Spiel zu bringen; 
nicht ſeine Nachſicht zur Wiederbringung ſei⸗ 
nes Sohns geltend zu machen: er wird 
von Sohne und Bedienten durchgezogen: dem 
Schwaͤchling geſchieht nach ſeinem Willen — 
Valer — ein Spieler, das iſt alles: er 
macht Schulden, verpfaͤndet — die Alle⸗ 
tagsgeſchichte des Spielergeſchlechts, aus 
deren Klaſſe ihn nichts heraushebt — Hektor 
iſt beynahe die ſittlichwichtgſte Perſon: aber 
auch er hat nicht die Geſchaͤfftigkeit, die den 
Bedienten eines riſpiele karakteriſiren 
ſollte. — 

Alles zuſammgefaßt: Regnards Spieler 
warnet hoͤchſtens vor einem Laſter, vor 
dem der ſtarke Pinſel des Britten uns zu⸗ 
ruͤckbeben macht: ſo ſchrecklich find die 
Folgen an einander gereihet. 

Bey ihm iſt der Mann, welcher von der 
Leidenſchaft zum Spiele beherrſchet wird, 
die⸗ 


7 


335 


dieſen einzigen Fehler ausgenommen, tus 
gendhaft, ſchaͤtzbar, ein zaͤrtlicher Gatte, 
ein liebreicher Bruder „ein heißer Freund: 
durch dieſe Eigenſchaften hat er unſer Herz, 
und wir bemitleiden ihn: ſein Beyſpiel 
wird warnender, weil der Fall eines Zus 
gendhaften das Mistrauen der Schwache⸗ 
ren ſpannen muß. Jede ſeiner geſchaͤtzten 
Eigenſchaften wird eine traurige Quelle des 
Ungluͤcks: welche nachdruͤckliche Lehre! ſo ent⸗ 
zuͤndet ein einziger Tropfe Gift, der in un⸗ 
ſern Adern wallet, das ganze Gebluͤt, und 
verwandelt alle Saͤfte des Lebens durch ſeine 
Gaͤhrung in Tod — Er hat eine tugendhaf⸗ 
te Gattinn — um ſie ungluͤcklich zu machen. 
— Ihr Ungluͤck iſt nicht die Armuth allein: 
die Armuth ſetzet ſte auch den Angriffen der 
Wolluſt aus: ſie, welcher in den beſſeren, 
welcher auch in den mittelmaͤſſ geren Um⸗ 
ſtaͤnden, das Laſter und die Verſuchung na⸗ 
he zu kommen, ſich nicht erfrechen durfte, 


ſie 


386 9 9 0 
ſie ſieht ſich bis dahin erniedriget, daß ein 
Stukely ihr eine Liebeserklaͤrung machen 
darf — HE 
Ein Stukely! der Abſchaum aller Boͤße⸗ 
wichte, der ſtch durch das Spiel in die 
Freundſchaft Beverleys zu ſchleichen, das 
Geheimniß gefunden, und nun das Trieb⸗ 
werk aller traurigen Begebenheiten iſt, wo⸗ 
von wir vor der Buͤhne Zeugen werden. Er 
hat ſich durch eine der ſchwaͤrzeſten Verſchwoͤ⸗ 
rungen mit einer Bubenrotte, die ihn als ihr 
Haupt erkennet, in dem Vertrauen des recht⸗ 
ſchaffenen Mannes feſt geſetzt: und er hat 
ihn nun unter dem Joche. Beverley war 
ein Spieler — Von hier muß man ausge⸗ 
hen, um den Faden nicht zu verlieren, und 
den Englaͤnder gegen die zu verantworten, 
welche dem Stuͤcke ſeine Anziehungen zwar 
nicht ſtreitig machen, aber dabey einwen⸗ 
den: die Ungluͤcksfaͤlle des Mannes waͤren 
nicht die Folge des Spiels: fie koͤnnten al⸗ 

| ſo 


„ 


387 
fo auch nicht als abſchreckende Beyſpiele ger 
gen daſſelbe betrachtet werden. 

Nichts anders als Folgen des Spiels ſind 
die Armuth der Familie, die Verzweiflung 
Beverleys und ſein ungluͤckliches Ende. Er 
war ein Spieler: als ein ſolcher nur, konn⸗ 
te er in die Vertraulichkeit des Buben Stu⸗ 
Eely gerathen: als ein ſolcher fiel er in feis 
ne Schlingen, da er gegen die betruͤgeriſche 
Rotte verlor, die auf Rechnung Stu⸗ 
kelys ſpielte, und es dem Betruͤger leicht 
machte, einem redlichen, und unvorſichti⸗ 
gen Manne Geld zu leihen, und ihn ſo tief 
zu verſchulden, daß keine Rettung mehr 
übrig war — Nicht leihen, nein! er ſchien 
mit ihm gemeinſchaftliches Spiel zu halten, 
und ſich, in dem er den Freund zu retten 
ſuchte, ſelbſt zu Grund zu richten. Das 
heißt, einen rechtſchaffenen Mann unter die 
grauſamſte Verbindlichkeit beugen: Stukely 
wußte es: was konnte Beverley nun we⸗ 

niger 


388 


niger thun, als das Aeußerſte verſuchen, 
um einen Freund zu retten, der ſich ihm geo⸗ 
pfert zu haben ſchien — Die Schlinge iſt 
in einer großen Entfernung verborgen; aber 
darum nur deſto gewiſſer ihres Fanges. Al⸗ 
les Nachfolgende hat nun zwar das Anſe⸗ 
hen, als floͤſſe es felbft aus dem edeln Karak⸗ 
ter des Beverley: Und darinnen eben liegt 
die hohe Lehre daß das Spiel, wenn es 
auf einen gewiſſen Punkt koͤmmt, uns die 
Leitriemen unſrer Geſchaͤffte fahren zu laſ⸗ 
ſen, zwingt: man wird von unbaͤndigen 
Läufern hee dem Abſturze zuge⸗ 
riſſen. 
| Frau 
* Die der Schriftſteller dem LZewſon am Ende in 
den Mund gelegt: 
» Dem Sturze eines Stroms gleich / reißt uns 
5 das Laſter fort / wenn feinen erſten Lauf nichts 
„„ Einhalt thut: dann widerſteht nichts feiner 
» Gewalt: Verſtand iſt dann zu ſchwach / ums 
>. ſonſt Vernunft: Natur, Ehre alles weichet 
„„ ſeinem Grimme: Bedaurenswördige Opfer ei⸗ 
„ ner ungiucklichen Neigung / mir ſtuͤrzen von 


„„ Abgrund in Abgrund / bis wir e 
e lich verloren ſind — 


389 


Frau Beverley, Charlotte, alles wird 
der Freundſchaft gegen Stukely, der im⸗ 
mer von ferne gezeigten Hoffnung, ſich und 
ihn zu retten, geſchlachtet: alle Bemuͤhun⸗ 
gen des tugendhaften Lewſons, das ſanft⸗ 
muͤthige Leiden einer Gattinn, die ihre 
Thraͤnen verſchlingt, und den Gatten im⸗ 
mer mit heitrer Guͤte empfaͤngt; alles iſt 
gegen die Griffe Stukelps unkraͤftig. Er 
hat ſeine Klauen tief in ſeinen Raub ge⸗ 
ſchlagen: Beverley iſt dahin gebracht, wo 
es Stukely wuͤnſchte. Dieſer wagt nun ſeinen 
Anfall auf die Gattinn; aber er wird mit der 
Wuͤrde der Tugend abgewieſen — Bever⸗ 
ley ſoll dafuͤr ſeine Wuth erfahren! ein Ker⸗ 
ker wird ſein Haus — Hier wachen die 
Vorwürfe auf, da die Blendung aufhört. 
— Sie gieng ſoweit, dieſe Blendung, daß 
es ſelbſt dem Gluͤcke unmöglich gemacht 0 
ward, ihn zu retten: ein Onkel, deſſen Erb 
er ſeyn ſollte, ſtarb — nicht für ihn: er 

| hats 


5 


hatte auch die Hoffnung dieſer Erbſchaft 
verſpielet — 

Sie kennen die Kataſtrophe — Sie ha⸗ 
ben beide auch auf der Bühne gefehen : 
laſſen Sie ſich den Vorzug nicht blenden, 
mit dem Beverley auf der deutſchen Buͤh⸗ 
ne vorgeſtellet worden! Beurtheilen Sie 
nicht die Schauſpieler, ſondern die Schrift⸗ 
ſteller! des Britten Gewalt uͤber das Herz, 
die anziehenden Situationen, die aus den ſo⸗ 
wohl angelegten Karakteren natuͤrlich ent⸗ 
ſpringen, die edeln und unvergeßlichen Ge: 
ſinnungen, die unter feinen Kiele flieſſen = 
Sie erkennen ihm mit mir den Preis zu? 
nicht wahr? = 


| Kilftes Stud, 


Sieben und spainzigfles&chreib, 


Wien den 11. Junius 1768. 


. 


* 5 Die Franzoſen, die Englaͤnder 

g haben ihre Nationalſchaubuͤh⸗ 
hi; ne== aber wir? — aber was 
iſt denn das eine Nationalſchaubůhne? — 
Was eine Nationalſchaubuͤhne iſt? — y 
zum Senker , werde ich Ihnen denn 
nicht einmal ſagen koͤnnen, wie ſchwarz 
ausſieht! ich bin doch nun ſo alt auf der 
welt geworden, und habe noch nicht ge⸗ 
lernt, wie ſchwarz ausſieht — Unter hun⸗ 
derten, von denen dieſer an ſich wahre Vor⸗ 
wurf nachgebetet wird, werden neun und 
neunzigen fo verlegen, wie Rriſpin * ſeyn; 
aber nicht ſo offenherzig, ſich mit der Fauſt 

ei vor 

x Fung, Blinder Ehemann k Aufzus 


392 


vor die Stirne zu ſchlagen, und aus zurufen: 
daß ich doch ſo dumm bin! — 

Eine Nationalſchaubuͤhne? — wir wollen 
die Theatralkunſtrichter, da ſie gleichwohl 
fo häufig find, eine Weile herumrathen laſ⸗ 
fen — Eine Nationalſchaubuͤhne? wäre fie 
es nicht, wenn der Stoff der Stüde aus 
den Jahrbüchern der Nation geholet wor⸗ 
den? Laß ſehen! — Die Griechen haͤtten 
nach dieſer Bedeutung ihre Schaubuͤhne: der 
Zeitpunkt des zerſtoͤhrten Troja verſah ſie 
mit Helden, Verbrechern und Ungluͤcklichen; 
drey Gegenſtaͤnden, an denen die tragiſche 
Kunſt ſich hervorthun konnte: ihre Goͤtter— 
lehre, welche die Bewohner des Olympus 
menſchlichen Schwachheiten unterwarf, 
Goͤtter verbuhlt, Goͤttinnen eiferſuͤchtig und 
rachgierig machte, vermehrte dieſen Reich⸗ 
thum: Eſchil, Euripides, Sophokles 
hatten dieſen ganzen Schatz vor ſich. Selbſt 
die komiſchen Dichter hielten ſich an die 

Sr. 


1 5 393 
Geſchichte der Nation: die Kitter des Aris 
ſtophanes ſind das Gemaͤlde der Großen 
ſeiner Zeit: die Acharnenſer haben eine Be⸗ 
ziehung auf ein geheimes Liebes vverſtaͤndniß 
des Pericles und der Aſpaſie: der Friede — 
kurz alle Stuͤcke der griechiſchen Buͤhne 
find national — Nach dieſer Bedeutung häts 
ten auch die Engländer ihre Bühne : Sha⸗ 
keſpear hat die Geſchichte ganzer Regierun⸗ 
gen auf die Scene gebracht: viele ſeiner 
Stuͤcke, find wahre Broniken — Aber nach 
eben dieſer Bedeutung waͤren die Haͤlfte ſei⸗ 
ner Stuͤcke, Othello, der Raufmann von 
Venedig, die zween Edelleute von Vero⸗ 
na, ſein Coriolan, ſein Julius Caͤſar, ſein 
Antonius und Kleopatra, ſein Romeo und 
Juliet und mehrere noch, auf der engliſchen 
Buͤhne nur Fremdlinge: Thomſon gehoͤrte 
ihr durchaus nicht an — Ich zweifle, 
daß die brittiſchen Kunſtrichter mit dieſer 
Bedeutung zufrieden ſeyn werden, die von 
Ce 2 ih⸗ 


394 


ihren Davenant, Dryden, Johnfehn, Beau⸗ 
mont, Fletſcher, Otway, Rowe, Noung und 
andern Dichtern mehr, ihnen nur die Namen 
eigenthumlich uͤberlaſſen wuͤrde. 
Und weniger noch als die Englaͤnder, wer⸗ 
den die Franzoſen ſich zu einer Bedeutung 
verſtehen, die Ihnen die tragiſchen Genien 
Corneille, Racine, Crebillon, und Vol⸗ 
taͤre entreißt, und fie bis auf den ſehr bes 
klatſchten, aber nicht ſehr bewunderten Ver⸗ 
faſſer der Belagerung von Calais, und die 
Helden des Waͤdchen von Orleans herab⸗ 
ſetzet — Welcher Abfall! geſetzt, daß auch 
noch einige wenige Stuͤcke aus der Natio⸗ 
nalgeſchichte uͤbrig ſind; gerade ſolche Stuͤ⸗ 
cke von denen die galliſche Thalie vielleicht 
gerne wuͤnſchte, daß fie nicht übrig wären — 
Ueberhaupt zwingt dieſe Begraͤnzung 
die Dichter aller Nationen zu ſehr in die 
Enge: der Stoff zu Trauerſpielen iſt ſehr 
arm 
Bis auf den Duc de Foix — 


395 


arm in den eignen Jahrbuͤchern mancher 
Nation: die Begebenheiten, die gerade am 
ſchicklichſten waͤren, tragiſch behandelt zu 
werden, ſind es wegen hundert nothwendi— 
ger Beziehungen ganz und gar nicht: und 
die Quelle der merkwuͤrdigen Begebenheiten, 
das Alterthum, die griechiſche und roͤmiſche 
Geſchichte, waͤre dadurch auf ewig verſchuͤt⸗ 
tet — | 

Vielleicht wäre es uns Deutſchen am vor⸗ 
theilhafteſten, in dieſe Erklaͤrung der Natio— 
nalſchaubuͤhne zu verwilligen: wir haͤtten 
dann eben fo gut als die Franzoſen unfre 
Buͤhne: wir haͤtten einen Hermann von 
Schlegeln — einen andern von Airenho⸗ 
fern — und ſaͤhen dem dritten von Klop⸗ 
ſtocken mit Ungeduld entgegen. Aber — 
Sie ſollen weiter rathen! - 

Wäre eine Nationalſchaubuͤhne nicht efe 
wan diejenige, welche ſich nach den Sitten 
der Denkungsart, den Temperamente der 

ö Ce3 Na⸗ 


396 


Nation modelt? — das heißt; welche den 
Ajax und Achill zu einen galanten Oberſten 
machet — den Coriolan ſich kaltbluͤtig eine 
Kugel durch dem Kopf jagen, oder in die 
Themſe ſpringen — den Nato, wie einen 
deutſchen Profeſſor uͤber die Unſterblichkeit 
der Seele ein Kollegium halten läßt — In 
der Tragoͤdie — wird man dieſer Erklaͤrung 
das Korrektif nachtragen — in der Tra⸗ 
goͤdie nicht: das iſt eben der Vorwurf, den 
man den franzoͤſiſchen Dichtern ſo gerne 
machet, weil fie ihn nicht von ſich weiſen 
koͤnnen; daß fie überhaupt mit ihren Helden, 
wie Kegnard mit feinem Demokrit umge⸗ 
hen, und aus Griechen oder Roͤmern, arti⸗ 
ge heutige Pariſer machen — 

Alſo nicht in der Tragödie? wohl denn 
aber im Luſtſpiele? — Woliere, Regnard, 
Destouches, La Chauſee, Grafigny, Sagen, 
Boyſſy, und andre haben ſaͤmmtlich aus 
der Quelle des Nationallaͤcherlichen geſchoͤp⸗ 

fet? = 


397 


fet? — der Geiſt der Dichter ift alſo ſehr 
auf Unkoͤſten der Nationalſitten beruͤhmt 
geworden — Doch ſind ihre Stuͤcke wirklich 
nur nach franzoͤſiſchem Coſtume behandelt 2 
koͤnnen Karakterſtuͤcke nur auch ein Nario⸗ 
nalkoſtume haben? ihre Hauptzuͤge ſind Zuͤge 
aus dem Herzen der Menſchen, nicht von 
dem aͤußerlichen der Voͤlkerſitten genommen: 
alles, was hier National ſeyn kann, iſt der 
zufaͤllige Ausdruck — Wie aber? gehoͤren 
Fontenelle, Greſſet, St. Foix denn nicht 
auch der Nationalbuͤhne Frankreichs an? 
nach dieſer angenommenen Bedeutung wenig⸗ 
ſtens nicht — Sidney; das Orakel, 
die tuͤrkiſchen Wittwen, die Colonie, 
der Derwiſch — faſt in allen Stuͤcken, den 
Finanzpaͤchter, die doppelte Verkleidung, 
und Julie ausgenommen, hat St. Foix ſei⸗ 
ne feinen Scherze und Moral unter fremder 
Tracht erſcheinen laſſen — Fontanellnes 
Stuͤcke find meiſtens — fontanelliſch — 
Cc 4 den 


398 


Den einzigen Dienſt, den dieſer Verſtand der 
Nationalſchaubuͤhne Frankreichs leiſtete, waͤ⸗ 
re: daß er ihr den großen Vorneille zueig⸗ 
net, der ihr nunmehr wenigſtens durch feine 
Cůgner, Clitander, Wittwe und noch ein 
Paar andre Stuͤcke angehört — Der Dienſt 
iſt wichtig genug, um ſeinetwegen andre 
Unrichtigkeiten durchkommen zu laſſen — 
Warum aber haͤtten dann die Deutſchen 
nicht ſowohl ihre eigne Buͤhne als an⸗ 
dre Rationen? Gellerts Stucke, Schlegels 
Stöcke, Leſſings Stucke, feine Miß Sarah 
abgezogen, Weißens Luſtſpiele, Kruͤgers 
Kandidaten, Löwens, Romanus, Brandes, 
eines Ungenannten Hamburgers vier neue 
Stucke — noch mehr Gutes und Schlechtes; 
aber immer Stuͤcke, die nur Deutſchland 
gehoͤren — Und vielleicht wird mancher uͤber 
das Verzeichniß erſtaunen, der ſchon lange 
den deutſchen Luſtſpielen den Prozeß ge⸗ 
macht, ohne ſich jemals darum zu erkundigen, 
5 ob 


399 


ob derſelben viele find, und ob fie auch 
ſonders und faͤmmtlieh ſeine Ungnade ver⸗ 
dienen. 

Sogar einer Lokalbuͤhne koͤnnten wir 
uns ruͤhmen, da es unſern hieſigen Dich⸗ 
tern ſo oft beliebt, ihren Stuͤcken durch ei⸗ 
nen kleinen Kunſtgriff einen Schwung zu ge⸗ 
ben, und darunter ſetzen zu laſſen; auf die 
Sitten von Wien eingerichtet — Das waͤ⸗ 
ren alſo die Sitten von Wien, die ſie ſchil⸗ 
dern? eine demuͤthige Anfrage an die Ver⸗ 
faſſer iſt hier vielleicht an feinem Orte! und 
wäre fie es auch nicht, die Gelegenheit die⸗ 
ſelbe aufzuwer fen, dürfte ſich ſobald nicht wie⸗ 
der anbieten — Von welcher Gattung 
ihrer Mitbuͤrger haben ſie dieſe Sitten ent⸗ 
lehnet? — es wuͤrde ihnen ſchwer werden, 
eine beſtimmte Autwort zu geben — ein 
Haus — eine Familie — ſind kein Wien, 
ſind nicht der ganze Stand — Der vergeſſene 
Verfaſſer der bürgerlichen Dame machte 

| Ce 5 ei⸗ 


400 


eine Epoche von dieſem Misbrauche: die Auf⸗ 
ſchrift war gut gewaͤhlet: unter Haͤnden ei⸗ 
nes Menſchen, der ein verbreiteteres Kennt⸗ 
niß der Ge ſellſchaft, und des Umgangs ges 
habt haͤtte, als man in den kleinen Trink⸗ 
gelagen erwerben kann; der ſich dieſes Kennt⸗ 
niß zu Nutz zu machen, und gewußt haͤtte, 
die Stellungen herbeyzufuͤhren, wo ſich der 
laͤcherliche Stolz eines Weibes zeiget, das mit 
Damen im Aufwande wetteif ert, und ſich 
und Familie zu Grund richtet, das in ihrem 
Betragen, den hohen Adel kopirt, und in 
ihrer Kopie zu kurz fallt, ſchief wird; um 
ter den Haͤnden eines Mannes, der da⸗ 
bey die Hilfsmittel des guten Ausdrucks 
nicht zu gering geſchaͤtzt, der ſich, wie ſeine 
Thoͤrinn ſie reden mußte, eine gezierte Spra⸗ 
che erſchaffen haͤtte, unter ſolchen Haͤnden 
haͤtte dieſer Stoff; ergiebig an Satire, Ge⸗ 
ſinnungen „ Unterricht; ergoͤtzend und 
lehrreich werden koͤnnen: aber der Mann 

war 


401 


war ſeinem Unetrnehmen nicht gewachſen; er 


erreichte nicht einmal die molieriſche Fraze 


den bourgeois gentilkomme. Dennoch — 
ob er gleich die Karaktere ekelhaft, ſchmutzig 
bearbeitete; ob er gleich das Geſpraͤch von 
Poͤbelwitz vollpropfte, gleichwohl erhielt das 
Stuͤcke, vielleicht gerade von ſolchen Wei⸗ 
bern, welche ſich durch nichts als ihren 
Aufwand und Liverey uͤber andre Klaſſen 
wegzuſetzen wiſſen, auf welche die Aufſchrift 
umgewendet, genau paſſet, von aͤchten bir, 
gerlichen Damen empfieng dieſes Stuͤck ei⸗ 
nen Schwung; und die angehenden Dichter 
vermengten den Beyfall dieſer Art, mit dem 
ſchmeichelhaften Beyfalle des wahrern und ein⸗ 
ſehendern Adels — Um alſo kuͤnftig ein zwey⸗ 
deutiges Stuͤck durchkommen zu machen; um 
ihm Schutz, und Beyfall der Logen zu vers 
ſichern, machte jeder Theatraldichter — 
denn das duͤnken fie ſich wenigſtens zu ſeyn 
ſeine handelnden Perſonen zu Herren von, 
die 


402 
die Mädchen zu Fräulein — und alles der 
Ordnung nach, die Stubenmaͤgde zu Ram⸗ 
merjungfern: fie glaubten dem hohen Adel 
ihre Aufwartung dadurch zu machen, wenn 
fie den mitteren dem Geſpoͤtte ausſetzten — 
Glauben Sie es nicht — moͤchte man 
bey dieſer Gattung Frazenſpiele aufgerufen 
haben — glauben Sie es nicht meine Da⸗ 
men und Kavaliers! das iſt nicht das 
Innere der Haͤuſer, welche dieſe Leute ſchildern 
wollen, ohne hinein zu kom̃en: ihre Herren von, 
ſind vermummte Packtraͤger, ihre gnaͤdigen 
Frauen find Troͤdlerinnen; das verraͤth ih⸗ 
re Sprache, ihr Anand; und fie verrathen 
auch die Geſellſchaft, wo die Verfaſſer 
ſich dieſe Muſter holten — Wenn aber je⸗ 
der ehrenveſte Herr, ein von ſeyn will, 
wenn jede geſtrenge Frau ein Ihr Gna⸗ 
den, jede Jungfer ein Fraͤulein — iſt es 
erlaubt fortzufahren? — wenn jeder Wohl⸗ 
gebohrne ein Hochgebohrner, jeder 
Hoch⸗ 


403 


Hochgebohrne — koͤnnte man nicht bis an die 
oberſten Stufen der buͤrgerlichen Geſellſchaft 
hinanſteigen? aber was folgt daraus? nichts 
iſt der buͤrgerlichen Geſellſchaft gleichguͤl⸗ 
tiger, als die Erhoͤhung der Titel; wenn 
an einer Leiter die oberſte Sproſſe nach der 
Höhe gezogen wird, iſt es natuͤrlich, 
daß alle andern folgen: übrigens entſteht 
hieraus für das Ganze keine Verwirrung: 
wo alles zugleich erhoben wird, bleibt auch 
alles in vorigem Verhaͤltniſſe und Ab⸗ 
ſtande — Ich will nicht etwan der Apolo⸗ 
gift der lächerlichen Titelſucht werden: nein! 
ich beobachte nur: daß dieſes Laͤcherliche 
alle Klaſſen angefallen; und wenn ſich oft 
ein vermögender Bürger ſchaͤmet, Herr — 
gerade zu zuheißen, und ſich ſogerne ges 
gen Gebuͤhr, ſeinen Namen durch die 
verherrlichenden drey Buchſtaben verlaͤn⸗ 
gern läßt ; ſo thut er eben das, was mancher 
Kaͤmerer thut, der ſich nach dem Geheimen 
| | Rath 


404 


Rath ſehnet, und fich ſogerne auf Ab⸗ 
ſchlag Excellenz nennen hoͤrt. Kein Stand 
liefert der Schaubuͤhne die Urbilder aus⸗ 
ſchluͤſſend: alle Staͤnde haben die ihri⸗ 
gen — f 
Folglich? — Nicht weiter! ſollte ich über 
dieſen Punkt alles das ſagen, was ſich mit 
ſo vielem Grunde ſagen ließ; ſo muͤßte 
ich Anwendungen machen; und ich habe 
nicht mehr dazu Luſt, ſeitdem ich mich ſo 
gluͤcklich der undankbaren Muͤhe, Fehler 
aufzuſuchen, entzohen habe. Man wird 
mir indeſſen leicht abmerken, daß ich mich 
durch die Aufſchrift nicht verleiten laſſe , 
Wien eine Lokalbühne zuzugeſtehen, weil 
es vielleicht ein Paar Karikaturen aufwei⸗ 
ſet, welche uns ſo ziemlich das Queerfell 
erſchuͤttern, da uns der Nachbar mit ei⸗ 
ner geheimnißvollen Mine das Original in 
der Nähe zeigt, und in die Ohren ziſchelt 
— hie eſt — n 
5 | Zum 


405 


— 


Zum mindeſten eine gewiſſe Anzahl dram⸗ 
matiſcher Nationaldichter? — Hier waͤren 
wir endlich an etwas, woruͤber man ſich 
vereinigen koͤnnte, aber vorher noch erſt 
verſtehen muͤßte — Wer iſt ein National⸗ 
dichter? derjenige, der wie gewiſſe deutſche 
Kunſtrichter ſagen: mit Bleiſter und Schee⸗ 
re aus den Stuͤcken andrer Nationen etwas 
fuͤr die ſeinige zu recht flicket — ungefaͤhr 
wie Gottſched feinen Kato? — nicht doch — 
Derjenige, welcher nach dem Richtſcheide ei⸗ 
ner andern Nation, Raraktere, Verwicke⸗ 

lung, Auflöfung hinzieht — entweder wie 
ein Franzoſe feine Helden zärtlich girren , 
oder wie ein Engländer feine Weiber melan⸗ 
choliſchen Unſinn ſchwaͤtzen läßt 2 — nicht 
doch — Derjenige alſo, der das Tempera⸗ 
ment der Nation ſtudirt, der unterſuchet, 
durch welche Triebwerke er in ihrem Ge⸗ 
muͤthe die Erſcheinungen bewirken kann, 
die ſein Endzweck find; der nach einer ſol⸗ 
N i chen 


406 


chen wichtigen, aber ſchweren Entdeckung 


von dem unerſchoͤpflichen Vorrathe der Ge⸗ 


ſchichte; es moͤge eine Begebenheit von ans 
dern behandelt, oder noch nicht ſeyn beruͤh⸗ 
ret worden; oder aus dem graͤnzenloſen 
Gebiete der Erfindung und der Zuſammen⸗ 
ſetzung hervorlangt, damit als mit ſeinem 
Eigenthume waltet, ordnet, aͤndert, und 
mit ſchoͤpferiſcher Kunſt daraus ein Ganzes 
geſtaltet, welches ihm eigen iſt, und — 
Ich will hier den Faden noch nicht abrei⸗ 
ßen 


Sdwölftes Stud 


Acht und zwainzigſtes Schreiben, 


Wien den 1.9 Junius 1768. 


G 


s Ein 


Nationaldichter If alſo derjenige, 
welcher, was immer ſuͤr einen 
Stoff; eigenthůmlich zu lehan⸗ 
deln, und ohne ſich von der Wahrheit zu 
entfernen, ſeine Handlung nach der groͤßten, 
nach der unfehlbarſten Wirkung zu grup⸗ 
piren weis — Dieſe Bezeichnungen ſind zu 
ſchwankend: ich will fie naͤher beſtimmen — 

Eigenthůmlich behandeln — ſeinen Plan 
nicht irgend einem Griechen, Englaͤnder, 
oder Franzoſen abborgen: fur itzt, nur erſt 
darum nicht, weil man einem Maler nicht 
ſchon die Ehre eines Originals zugeſtehet, 
welcher Plan, Anordnung, Zeichnung einem an⸗ 
Fern ſchuldig iſt, und etwan nur das Kolo⸗ 
eit nach einer Veranderung bearbeitet — 
| D» Der 


2 408 

Der Ausdruck, ein Sittenſpruch, eine Ges 
finnung machen keinen Theatraldichter: ſie 
ſind dem Dichter unentbehrlich; aber wenn 
er ſeines Gegenſtandes voll iſt, wenn er den 
Karakter, den er eben ſchildert, beſchaulich 
vor ſich hat; wenn er fuͤr ihn fuͤhlt, denktz 
wie er fuͤhlt und denkt; ſo kann er um 
den Ausdruck nicht verlegen ſeyn: Geſinnun⸗ 
gen und Lehren entſtehen unter ſeinem Kiele, 
ohne daß er darnach ſinnet: wenn er dar⸗ 
nach ſinnen muß; wenn ihn ſeine erhitzte 
Dichteranwandlung nicht in ihrem Laufe eben 
ſo erhebt, wie der gedraͤngte Strom von 
ſelbſt Wellen ſchlaͤgt; ſo wird er ſie im Tone 
des trocknen Moraliſten vortragen, ſie wer⸗ 
den geſucht, geziert, froſtig ſeyn. 

Pope hat die Dichter an die Alten ange⸗ 
tiefen — Der junge Waro ſagt er, als er 
die Natur ſtudierte — 


Na- 


409 


Nature and Homer were ( he found) 
the fame * 


er raͤth ihnen daher, auf fie zurückzufehen? 


denn 

J0 copy nature, is to copy them ** 
Gut! dachte mancher Dichter; es iſt denn 
auch richtig: to copy them, is to copy 
nature: und fo kann ich mirs ſehr bequem 
machen — und er uͤberſetzte die Griechen, 
oder plinderte die Römer — und das nach 
folgende Geſchlecht ſprach in der Einfalt ſei⸗ 
nes Herzens: die Nachahmer der Alten find 
in Anſehen unſer, was Somer und Virgil 
und Sophokles, und Kuripides für fie wa⸗ 
ren, und ſie wurden Nachahmer der Nach⸗ 
ahmer: und auf eben die Art, wie es mit 
den Epopeen geſchah; da Virgil Someren 
vor ſich hatte, und die neuern den Virgil — 
da Wilton unferm KXlopſtock diente und 

Dd Rlop⸗ 


a Natur und Homer fand er — tbaren einerley. 
t Die Natur nachahmen / iſt fie nachahmen ⸗ 


416 


Mlopſtock fi) mußte gefallen laſſen, von 
allen Serametriſten Deutſchlandes berupft 
zu werden. 

Ich weis es nun zwar, daß die ſonſt unerbitt⸗ 
lichſten Kunſtrichter uͤber dieſen Punkt dem 
Schriftſteller nachſichtvoll die goldne Ruthe 
hinbeugen: die Alten find — Nun, moͤgen 
denn alſo die Alten fuͤr die Dichter das ſeyn, 
was die Antiken den ſchildernden Kuͤnſten 
ſind: aber wenigſtens ſeyn die Graͤnzen der 
Nachahmung feſtgeſetzt! — und es nenne ſich 
nicht jeder einen Zeichner, der auf einem 
durchſichtigen Blatte der untergelegten Zeich⸗ 
nung mechaniſch nachfährt. 

Ohne ſich von der Wahrheit zu entfer⸗ 
nen — nicht von der hiſtoriſchen Wahrheit, 
welche alles ſaget, was ſich ereignet, und 
nichts ſaget, was ich nicht ereignet hat? 
ſondern von der dichteriſchen, welche, nach 
angenommenen gewiſſen Karafteren , die 
durch vorausgeſetzte Umſtaͤnde zu handeln 

ver⸗ 


411 


veranlaſſet werden, ſie gerade aaf die Art 
handeln laͤßt, wie ſie handeln wuͤrden — 
oder auch koͤnnten. Die dichteriſche Wahr⸗ 
heit iſt die Wahl derjenigen Begebenheiten 
aus den möglichen , welche den bezeichneten 
Umſtaͤnden am gemaßeſten, und dem Ends 
zwecke des Dichters am zutraͤglichſten find — 
eigentlich alſo nur Wahrſcheinlichkeit, und 
zwar bedingte Wahrſcheinlichkeit — es 
doch, fodre ich ſie da wie auf ein aͤſthetiſches 
Bollegium: gleich als wäre Ihnen Baum⸗ 
Harten ſo wenig bekannt, als unſeren mei⸗ 
ſten Landeslenten, die es wohl wenig an⸗ 
fichtet, daß irgend auf einer deutſchen Aka⸗ 
demie ein trockner deutſcher Philoſoph den 
ſeltnen Einfall gehabt: eine artem pulere 
cogitandi zu entwerfen; und über die Schoͤn⸗ 
heit des ſinnlichen Ausdrucks eine ſyſtema⸗ 
tiſche Anleitung zu geben: der Profeſſor! 

haben nicht unſre Mufter, und Meiſter, 
und Alles, die Franzoſen, von ſo vielen Zei⸗ 

Ddz fen 


412 

ten her ſich artig, und wenn Ich ein wenig 
wortſpielen darf, ſinnlich artig auszudruͤcken 
gewußt: und dieſen unſern Landsleute ſelbſt, 
fehlt es ihnen an muntern Einfaͤllen, an 
Spitzen, an Schlagreden — ohne daß ſie 
ſich nach ſeinem: Das ſollſt du, und das 
ſollſt du nicht! im geringſten umgeſehen — 

Der eigenthumlich, nach der Wahrheit 
behandel e Stoff, alſo in ſeinen einzelnen Thei⸗ 
len geordnet, wie die Wirkung am ſicher⸗ 
ſten erfolgen wird — Beide erſteren Stuͤcke 
haben die Dichter aller Nationen gemein⸗ 
ſchaftlich; dieſer Dritte iſt das Unterſchei⸗ 
dungszeichen des Nationaldichters, wozu 
er ſich ſeinen eigenen Weg erwaͤhlen muß. 

Die Denkungsart einer Nation durch ihre 
Regierungsform, durch ihre Religion, durch 
ihre Sitten, durch ihre Vorurtheile gebildet, 
beſtimmet nicht nur den größern oder kleine⸗ 
ren Grad der Antheilnehmung, nach Ver⸗ 
ſchiedenheit des Gegenſtandes, ſondern be⸗ 

ſtim⸗ 


413 


gm Senn: won r nem 
ſtimmet überhaupt die Tauglichkeit oder Un⸗ 
tauglichkeit der Begebenheiten, an denen der 
Dichter ſeine Staͤrke verſuchen will; das 
Temperament eines Volkes menget ſich in 
feine Empfindungen, beſchleuniget oder halt 
die Antheilnehmung zuruͤcke: und, wie die 
verſchiedenen Gebräuche, nach der Verſchie⸗ 
denheit der Nationalgewohnheiten bald aus⸗ 
druͤckend, bald gleichguͤltig ſind: eben ſo 
wird eine und dieſelbe Begebenheit auf der 
Buͤhne, wie in der Wahrheit, dem einen 
Volke eine außerordentliche Ruͤhrung ver⸗ 
urſachen, welche bey einem anderen kaum 
eine geringe Empfindung erregen wird. 

Der Beweis, wenn Sie einen foderten, 
iſt in dem Herzen eines jeden Menſchen auf⸗ 
zufinden: dem einen erwecket der Anblick ei⸗ 
nes Gauklers, der auf dem Saile izt, izt 
zu ſtuͤrzen ſcheint, aber nicht ſtuͤrzt, ein 
Vergnuͤgen: ein andrer muß ſein Geſicht 
von einem Gegenſtande abwenden, der ihm 


Dd4 ab⸗ 


8 8 
abſcheulich iſt. Ein Mann 7 der das Elend 
zu kennen Gelegenheit gehabt, ſieht den 
Schweiß feines Nachbarn, und feine Mühe: 
er ſeufzet, indeß der Weichling, der in Fuͤl⸗ 
le und Muͤſſiggang fett geworden, wie der 
Levit bey dem Leidenden voruͤbergeht, und 
nicht einmal Oel des Mitleids in ſeine Wun⸗ 
den gießt. Die Schmerzen der Aeltern ſind 
Muͤttern vielleicht kennbar; und bey dem 
Beyſpiele eines Sohnes, der die Hoffnung 
der Aeltern unbarmherzig vereitelt, ſchmilzt 
ein Barer in Thraͤnen, da der Ehloſe, 
der ſeinen Stolz der Pflicht, dem Staa⸗ 
te Buͤrger zu geben, vorgezogen, da er 
uͤber den Thoren ſpottet, der ſich durch ſei⸗ 
ne Schwachheit ſein Ungluͤck ſelbſt geſchaf⸗ 
fen. Demokrit lachet, woruͤber Heraklit 
weinet — x | 
Ich wende mich von einzelnen Menſchen, 
von den Verfloͤſſungen einzelner Raraktere 
auf Nationalkaraktere; dann jede Nation 
| hat 


415 


— — 


hat den ihrigen, er ſey nun urſpruͤnglich, und 
einfach, oder erkuͤnſtelt, und zuſammgeſetzt, 
Ohne Zweifel gehört eine größere Kraft das 
zu, einen Hoͤrſal aus ſeiner naturlichen 
Stellung zu heben, der aus kriegeriſchen, 
abgehaͤrteten, ſtrengen Menſchen beſteht h 
als wenn Leute vor der Bühne ſtehen, der 
nen aus Weichlichkeit bey jeder zaͤrtlichen 
Stelle die Augen uͤberlaͤuft — Diderots 
Orbeſon wuͤrde Maͤnnern, wie Brutus war, 
ein ſteafbarer, uͤberſehender Alter ſcheinen: 
und Orbefon würde den Brutus einen Moͤr⸗ 
der ſchelten. Die Ungluͤcks falle des erſten 


wuͤrden den ſtrengen roͤmiſchen Vaͤtern den 


Vgter laͤcherlich; die Standhaftigkeit des 
Conſuls wird ihn Leuten, die von der Ver⸗ 
bindlichkeit gegen das Vaterland gemaͤchli⸗ 
chere Begriffe haben, abſcheulich machen. 
Wenn eine Mutter auf unſern Buͤhnen die 
Erzaͤhlung von dem Tode dreyer Soͤhne an⸗ 
hoͤrt; fo ſchreyt fie auf : die Unglückliche } 
Dd5 und 


416 


und die Spartanerinn, die zu ihrem Sohne 
ſprach: mit dieſem Schilde, oder auf dem⸗ 
ſelben! wuͤrde ihre Gluͤckſeligkeit beneiden. 
Melanide, an deren Schickſal unſre Maͤd⸗ 
chen ſo großen Antheil nehmen, weil es ſehr 
oft ihre eigne Geſchichte iſt, dieſe Melani⸗ 
de wuͤrde bey mehr als einem Volke, an⸗ 
ſtatt daß man ihre Schwachheit entſchuldi⸗ 

get, ihrer Vergehung wegen getadelt wer⸗ | 
den. Kato, der ſich ehender mit wuͤthender 
Fauſt das Eingeweide herausreißt, als ei⸗ 
nem Könige unterwirft, wird von dem Mes 
publikaner bewundert, und von dem Buͤr⸗ 
ger des monarchiſchen Staates, der in dem 
Schatten des Thrones ſeine Ruhe findet, 
fuͤr einen Menſchen angeſehen, der in das 
Tollhaus gehoͤrt. Dieſe Verſchiedenheit der 
Wirkung eben und derſelben Urſache muß 
von dem Dichter, wie von dem Geſetzgeber 
beobachtet werden, um ſeine Triebwerke 
darnach einzurichten, und unſre Bewegungen 

folg⸗ 


417 


folgſam und gelehrig nach feinem Endzweckt 
zu lenken. 

Es giebt, wenn ich ſo ſagen darf, ge⸗ 
meinſchaftliche Stellungen fuͤr alle geſitte⸗ 
ten Nationen: es giebt alſo auch gewiſſe ge⸗ 
meinſchaftliche Schauſpiele, deren Eindruck 
auf allen Bühnen untruͤglich iſt — die Ges 
maͤlde der Menſchheit und ihrer anerſchaffe⸗ 
nen Stände — Der Franzoſe, wie der Eng⸗ 
laͤnder, wie der Deutſche, iſt Vater, Gat⸗ 
te, Sohn — Aber ſelbſt noch in dieſen muß 
die Folge des Ungluͤcks, das, zum Beyſpie⸗ 
le den Engländer „ erſchuͤttern ſoll, weiter 
hinausgetrieben werden, als bey dem Fran⸗ 
zoſen, da ſeine Leidenſchaften, wenn ich ſo 
ſagen darf, nicht ſo ſehr, als bey dem letz⸗ 
tern auf der Oberflaͤche liegen. Erinnern Sie 
ſich einer Bemerkung, die wir bey der Ver⸗ 
gleichung des franzoͤſiſchen und engliſchen 
Spielers gemacht haben! das Aeußerſte, 
wohin den Franzoſen ſeine Spielſucht gefuͤh⸗ 

ret, 


Ma | 
ret, war der Verluſt feiner Geliebten — und 
uͤberhaupt kommen die franzoͤſiſchen Tho⸗ 
ren oder Laſterhaften gemeiniglich am Ende 
mit dieſer Strafe durch: vielleicht iſt es bey 
ihnen auch genug — aber die engliſche Ka⸗ 
taſtrophe zeigt Tod und unwiderbringlichen 
Untergang — uͤber die Kleinigkeit, ein Maͤd⸗ 
chen zu verlieren, wuͤrde der Britte nur ein 
Hohngelaͤchter aufgeſchlagen haben. 

Faſt hat Shakeſpear durch einen Zug 
ſeines Timons die Feſtigkeit des englaͤn⸗ 
diſchen Nationalkarakters bezeichnet: leiht 
mir eines Narren Herz, und die Augen 
eines Weibes, ſo will ich weinen! laͤßt 
er den Athenienſer aus feiner Höhle zu den 
Senatoren ſprechen, welche ihm in Namen 
der Republik Genugthuung fuͤr die angetha⸗ 
ne Beleidigung anzubieten kamen. Ueber⸗ 
haupt will der engliſche Zuſchauer ſeinen Em⸗ 
pfindungen nicht geliebkoſet haben: ſeine Be⸗ 
d we⸗ 
Timon von Athen V. Aufl 3° Sem: . 


N nn: Se 
wegungen muͤſſen Erdbeben, feine Strahlen 
Blitze ſeyn: die Umriſſe feiner Koͤrper muͤſ⸗ 
ſen ſtark, die Muskeln erhaben, nervicht 
ſeyn: das Große, nicht das Sanfte, das 
Schreckliche, nicht das Ruͤhrende, das ho⸗ 
he Melancholiſche, nicht das Schwermuͤthige 
iſt fuͤr ihn: die große Einfalt laͤßt ſeinen Geiſt 
zu muͤßig; er will Verwickelung, die ihn 
beſchaͤfftige; Begebenheiten, deren Erwar—⸗ 
kung ihn vor dem Schlummer bewahre, wo⸗ 
rein ihn der ruhige Gang der franzoͤſiſchen 
Trauerſpiele wiegen wuͤrde: groß bis in je⸗ 
der Kleinigkeit, muͤſſen ſeine Pikelhaͤringe 
raſen, und ſein Non ſenſe Bathos ſeyn. 

Vergleichen Sie Molierens und Sha⸗ 
keſpears Menſchenfeinde in ihren Beurlau⸗ 
bungsteden — Aleeſte bleibt neben Timon 
kaum ein unwilliger Meuſch: 

Trabi de toutes parts, accabl& d’injus- 

tices; 


je 


| 420 


Je vais ſortir d'un gouffre, ou trium- 
| pPhent les vices: 

Et chercher, für la terre, un endroit 
ecarte 
Ou d’etre homme d’honneur , on ait la 

libert, | 

Wenigſtens hofft der franzoͤſiſche Mens 
ſchenfeind irgend auf der Erde einen ſolchen 
Ort zu finden, wo man dieſer Freyh eit ges 
nieſſen moͤge: aber der engliſche — hören 
Sie ihn nach der wielandiſchen Ueber⸗ 
| ſetzung, da ich den engliſchen Shakeſpear 
nicht eigen beſitze ,, Laßt mich noch einmal 
„ nach euch zuruͤckſehen, o ihr Mauern, 
„ die dieſe Wölfe umzingeln! verſink in den 
„ Erdboden, Athen! ihr vermählten Frau⸗ 
„en, werdet unkeuſch! ihr Kinder em poͤrt 
euch wider eure Eltern! und Sklaven und 
Wahnwitzige mögen den ehrwuͤrdigen graue - 
„ en Senat von feinen Baͤnken reißen, und 
„ an ihrer Stelle den Staat regieren! gieh | 
„ dich 


35 


421 

3 dich der allgemeinen Unzucht Preis, uns 
„ keiffes Maͤdchen! thu es vor deiner El⸗ 
„ kern Augen! haltet feſt ihr Bankerotierer! 
„eh ihr den Ruͤcken kehret, die Meffer. 
„ heraus, und ſchneidet euren Gläubigern 
3, die Kehlen ab! ſtehlt, ihr Sklaven! eue⸗ 
„ ke ehrſamen Herren find nur Diebe mit 
3, laͤngern Haͤnden, und ſtehlen unter dem 
, Schutze der Geſetze. In deines Herrn 
„„ Bette Magd! deine Frau it im B.. 
3, Sechszehnjaͤhriger Sohn! reiß deinem 
„ alten hinkenden Vater die Kruͤcke aus der 
2, Hand, und ſchlag ihm damit das Hirn 
„aus! Furcht und Mitleiden, Scheu vor 
3 den Göttern, Friede, Gerechtigkeit, Wahre 
„ heit, haͤusliche Zucht, Nachtruhe, 
5 Nachbarſchaft, Unterricht, Sitten, Ne 
3 ligionsgebraͤuche, Unter ſchied der Stände, 
„ Herkommen, Gewohnheiten und Geſetze 
„ artet in euer zerruͤttendes Gegentheil aus, 
„ und nichts als die Zerruͤttung beſtehe! — 

„Ihr | 


432 


Ihr Plagen alle, deren der Menſch fahig 


iſt, haͤufet eure gaͤhrenden anfleefenden 
Fieber uͤber Athen zuſammen; es iſt reif 
zum Untergang! du kalte Gicht, mach unſ⸗ 


‚ ve Rathsherren zu Krippeln, damit ihre 
„Glieder fo lahm ſeyn mögen als ihre Auf⸗ 


fuͤhrung! Zaumloſe Ueppigkeit und wilde 
Frechheit kriech in die Herzen und in das 
Mark unſter Jugend, daß fie dem Strom 
der Tugend entgegen arbeiten, und ſich 


ſelbſt in Ruchloſigkeit ertraͤnken ! Kraͤtze 


und Eyterbeulen uͤberdecken jeden athenis 
enſiſchen Buſen, und ihr Kropf ſey lautet 
Ausſatzl ein Athem ſtecke den andern an, 
damit ihre Geſellſchaft (wie ihre Freund⸗ 
ſchaft ) durch und durch vergiftet ſeys 
Nichts will ich aus dir hinaustragen als 
Naktheit, du abſcheuliche Stadt! nimm 


noch, mit vervielfachten Fluͤchen, dieſe 


Verſicherung: Timon will in den Wald, 


wo er die wildeſten Thiere milder als den 
Meuſchen finden wird. 


Es hat ſeinen guten Grund, daß ich bey 


dem Karakter der Engländer einen langen 
Stillſtand gemacht habe: er führt mich auf 
den unſrigen — 


Dreyzehntes Stück. 


Neun und zwainzigſtes Schreiben. 


Wien den 26. Junius 1763. 


Ihe Sehr bekannte deutſche Kunſtrichter, 
Jan denen nun mancher gezuͤch⸗ 
tigte Autor, wie das Graue. 
thier an dem todten Löwen, feine Wunde 
raͤchet, haͤtten gewollt, daß ſich Gottſched 
nie mit der deutſchen Schaubuͤhne abgege⸗ 
ben haͤtte Die Maͤnner uͤberdachten nicht, 
daß bey Aufführung eines Gebaͤudes die Sand⸗ 
langer auch unentbehrlich find : aber frey⸗ 
lich Architekte muͤſſen ſie nicht abgeben wol⸗ 
len, ſondern ſich ſittſam an der Ehre genuͤ⸗ 
gen laſſen, die Materialien herbeyzuſchaffen. 
Das waͤre ſo das eigentliche Amt die⸗ 
ſes Mannes geweſen, einem andern Ropfe 
mit feinen arbeitſamen Haͤnden zuzulangen, 
Ee Aber 

* Briefe u. d. d. Lit. 3. Theil | 


424 


Aber er griff nach Zirkel und Bleymaß, 
und — nun haben die Berliner Recht. Ue⸗ 
berſetzen, und Ueberſetzen heißt freylich 
noch nicht einer Nation ein eigenes Theater 
ſchaffen: beſonders wo die Arbeit ſo ruͤſtig 
vor ſich geht, und die Wahl ſo ungluͤcklich 
„ausfällt. Der Srammatiker mit feinen 
belorberten und unbelorberten Schuͤlern fiel 
mit Gewalt uͤber die Franzoſen her: und 
die Franzoſen ſind gerade am wenigſten die 
Modelle, nach denen ſie ſich haͤtten uͤben 
ſollen: die ewige Einfoͤrmigkeit ihrer Lie⸗ 
besintriguen, welche ſie allen ihren Stuͤcken 
zum Grunde legen; der ſeufzende Ton ihrer 
Helden, und der galante Ton ihrer Tyran— 
nen koͤmmt uns, wenn wir ihn nach unſern 
inneren wahren Gefühle — nicht demjeni⸗ 
gen, welches die Gewohnheit erkünſtelt 
hat — unterſuchen, kahl und froſtig vor; 
ein Deutſcher hat nicht das Herz „in Anſe⸗ 
hen des Plans des ſi grands Evenemens 
f 4 


445 


à des ſi petites cauſes, und ſehr oft in An⸗ 
ſehen der Cataſtrophe des fi petits evene- 
mens à des fi grands Cauſes zuruͤckzufuͤh⸗ 
ren: ſein Nationalkarakter haͤlt das Mittel 
zwiſchen dem Waͤſſerichten des Franzoſen, 
und dem Feurigen des Englaͤnders. 
Beobachten Sie mit mir, daß die fran⸗ 
zoͤſiſchen Schriftſteller ſich feit einiger Zeit; 
ſeit der Zeit, da ſie ſich haben bewegen laſſen, 
bis zu den Sprachen andrer Nationen here 
abzuſteigen, und die auswaͤrtigen Schrift⸗ 
ſteller kennen zu lernen; daß fie ſich ſeit dies 
fer Zeit ſtillſchweigend über das Leichte ihres 
eignen Charakters Gerechtigkeit ſelbſt wieder⸗ 
fahren laſſen: fie wagen es nicht, ſobald irgend 
ein Charakter gründlich gezeichnet ſeyn ſoll⸗ 
ihn aus der Mitte ihrer Nation zu holen; 
Sie nehmen ihn daher, wo dieſe Gruͤndlich⸗ 
keit zu Hauſe iſt: ein Franzoſe mit ſtarken 
Geſinnungen ſcheint ihnen gleichſam die 
Wahr ſcheinlichkeit zu verletzen. 
Ees Aber 


426 


Aber dem Deutſchen ſchlaͤgt das Herz har⸗ 
moniſch in ſeinem Buſen, wie man es von 
zweyen gleichgeſtimmten Toninſtrumenten ſa⸗ 
get, wenn er den handelnden Britten erblickt. 
Gründlich, in ſoferne die tolle Nachahmung, 
und ein ungluͤcklicher Aufenthalt in Paris 
ſeine Denkungsart nicht gegen das Leichtſin⸗ 
nige hingezogen, tiefſinnig, heftig, lang⸗ 
ſam in feinen Entſchluͤſſungen, und uͤberle⸗ 
gend, aber beftändig, den angenommenen 
Plan zu verfolgen, wuͤrde er eben fo une 
beugſam ſeyn, eben ſo frey denken, und ſei⸗ 
nem Ausdrucke das Gepraͤg der Offenher 
zigkeit, die Ru hnheit eindruͤcken, wenn der 
Unter ſchied der Regierungsform ſeinen Ton, 
wie ich ſagen moͤchte, nicht in etwas herab⸗ 
geſtimmet hätte. Die Mittelkaraktere, we⸗ 
der ganz boͤſe, und laſterhaft, noch ganz 
tugendſam, ſind unter uns ſeltner: wir verein⸗ 
baren gar oft, in einem Herzen eine große 
und edle Eigenſchaft, mit der hoͤchſten Stu⸗ 

i fe 


427 


u — ——— 
fe der Ruchloſigkeit: gleich den Heigiiway. 
men „ welche die Straſſen nach Londen unſt⸗ 
cher machen, toͤdten wir den, welcher ſich 
weigert uns ſeinen Beutel auf die erſte An⸗ 
foderung hinzuſtrecken; und geben den ges 
raubten Beutel dem Nothleidenden hin, der 
uns darum anfleht — 

Gehen unſre Dichter dieſer Beobachtung 


nach ; fo werden fie die Mittelſtraſſe zwifchen 


der franzoͤſiſchen Politeſſe, und der englis 
ſchen Ruggedneſs wandern; ihre Anlagen 
werden nicht ſo abentheuerlich ſeyn, als die 
Plane Shakeſpears, der mich, wie einen 
Ballen von einer Ecke in die andre ſchleu⸗ 
dert, itzt mich zum Zeugen einer Zuruͤſtung 
in Frankreich nimmt, und den Augenblick 
mir die Gegenanſtalten an den Kuͤſten Al⸗ 
bions fehen laßt; itzt mich in dem Palaſſe 


des Theſeus zum Vertrauten der Geſpraͤche 


des Koͤnigs und ſeiner Braut machet, und 
gleich darauf mich zwinget, Peter Squen⸗ 
Eez3 zen 


— 


428 

zen hinter einem Zaune feine Proberolle ſpie⸗ 
len zu ſehen — aber auch nicht ſo unwahr⸗ 
ſcheinlich Korrekt als die korneliſchen, 
welcher der Einheit des Orts zu liebe, Cin⸗ 
nen feine Verabredung mit den Mitver⸗ 
ſchwornen in dem Vorſaale des Auguſtus 
halten laͤßt, wo er ſelbſt an den Mauren 
Ohren fuͤrchten ſollte: worinnen; weil der 
Dichter die Einheit fuͤr zu heilig hielt, um 
den Zuſchauer in den Kerker zu verſetzen; er 
die Gefälligkeit hat, den Gefangenen in ſei⸗ 
nen Banden im Vorgemache des Koͤnigs 
herumwandern zu laſſen, und oft ohne Be⸗ 
| gleitung herumwandern zu laſſen, weil das 
allein ſeyn zu den verliebten Zuſammkuͤnften 
doch bequemer iſt — Sie werden ihre Zwi⸗ 
ſchenredner weder ſo elegiſch noch ſo eppi⸗ 
gramatiſch ſich ausdruͤcken laſſen, als die 
Zwiſchenredner der frangöfifchen Buͤhne ges 
woͤhnlich fig aus druͤcken; wo die Liebeser⸗ 
klaͤrung faſt immer witzig, und das letzte 

1 | Wort 


429 


Wort des ſterbenden Helden eine Pointe iſt: 
aber auch nicht ſo rauh als die engliſchen, 
wo Koͤnige und Helden ſehr oft wie Lot⸗ 
terbuben ſchimpfen, oder wie Bramarbaͤs 
pralen; nicht ſo kuͤhn in ihren Troppen: 
um z. B. ein Maͤdchen zu ihrem Liebhaber 
ſagen zu laſſen: eine huͤbſche Salve von Wor⸗ 
ten und fertig losgebrannt: oder von eis 
nem witzigen Mädchen, wenn ich reden wollte, 
fie wurde mich mit Spöttereyen in die 
Luft ſprengenz fie wurde mich aus mir ſelbſt 
hinauslachen, und mich mit Witze zu Tode 
preſſen: aber auch nicht ſo niedrig, um die 
Leidenſchaft eines Liebhabers einem wachtel⸗ 
hund zu vergleichen, der ſich nur deſto 
ſchmeichelnder um die Füffe kruͤmme, je 
mehr er weggeſtoſſen wird: er wird, mit 
einem Worte, durch die Negelmäffigkeit der 
franzöſiſchen Bühne, die Ungebundenheit 
der engliſchen maͤſſigen, und von der einen 
die Vorrektion entlehnen, in ſoweit fie der 
Ee 4 Staͤr⸗ 


430 


Stärke unnachtheilig iſt, von der andern die 
Freyheit und Staͤrke ohne der Vorrektion 
welche ſich in den Regeln der Wahrſchein⸗ 
lichkeit gruͤndet, nahe zu treten. 

Ich zeichne den Umkreis unſrer Faͤhigkeit 
mit unpartheyiſcher Hand: ich traue es uns 
kaum zu, daß unſre Dichter die ſtolze Kuͤhn⸗ 
heit des Pinſels je erreichen würden, der es 
gewagt, die Zwietracht der Fuͤrſten zu ſchil⸗ 
dern: nun fůttert der Tod ſeine morſchen 
Ainnbacken mit Stahl, Schlachtſchwer⸗ | 
ter find feine Zähne und Griffe, und nun 
ſchmaußt er und frißt ſich, indeſſen Aö⸗ 
nige hadern, an menſchenfleiſche ſatt — 
daß ſie jemals die Wuͤrde dieſes Gemaͤldes 
erreichen werden: Schmerz iſt ſtolz, und 
macht ſeinen Beſitzer eigenſinnig: zu mir, 
zu dem Hofſtaat meines großen Aums 
mers moͤgen die Könige ſich verfammeln ! 
denn mein Kummer iſt ſo groß, daß nichts 
als die unbewegliche gigantiſche Erde ihn 

un⸗ 


431 


unterſtůtzen kann: — Hier ſitze ich, und 
me in Schmerz; hier iſt mein Thron: ſage 
den Roͤnigen daß fie kommen, und ſich 
vor ihm buͤcken! Eben ſo wenig aber halte 
ich ſelbſt unſre ausgearteſten Schrifterlinge 
faͤhig zu ſchreiben: ja, wenn die Stunden 
Eecher voll Sekt waͤren, die Winuten 
Capaunen die Glocken sungen von 
Aupplerinnen, die Uhren Schilde von 
%” häufen, die Sonne ſelbſt ein huͤb⸗ 
ſches roßiges WMenſch in ſeidenfarbnen 
Taft — oder im tragiſchen T Tone: ſo ent⸗ 
ludeſt du, du gemeiner Gaſſenhund! dei⸗ 
nen gefraͤßigen Buſen des koͤniglichen 
Richards, und itzt wollteſt du gerne wie⸗ 
der eſſen, was du geſpieen haſt, und heulſt 
es zu finden — Dieſe einander ſo entgegen 
geſetzten Stellen ſind beide „ nicht nur von 
Schriftſtellern einer Nation; ſie ſind von 
demſelben Schriftſteller, der noch heute von 
feinen Landesleuten weder in Erhabenen , 
. Ees5 noch 


432 


noch in dem Niedrigen iſt erreicht worden? 
und von Deutſchen? fie werden zwar nie 
ſo tief in dem Schlamm des Unſinns, und 
der Unanſtändigkeit verſinken; aber auch nie 
ſich in ſo hohe Gegenden aufſchwingen: wir 
ſind weder zu ſolchen Schoͤnheiten, noch zu 
ſolchen Fehlern groß genug — 

Immer aber noch groͤßer; wenn wir nicht 
ſelbſt den Keim des Genies durch knechtiſche 
Nachahmung erſtickten, als alle unſre Mit⸗ 
werber; fähig, von beiden die Fehler zu ver⸗ 
meiden, und vielleicht das Schauſpiel ſeiner 
idealen Vollkommenheit am naͤchſten zu brin⸗ 
gen, wenn irgend Aufmunterung und Um⸗ 
ſtaͤnde ein gluͤckliches Genie erwecken, auf 
dem eignen Wege des Nationalkarakters zu 
wandeln, und ein deutſcher Schauſpieldich 
ter zu ſeyn. 

Dieſem Dichter find dann auch National⸗ 
ſchauſpieler zu wuͤnſchen: denn dieſe gehoͤren 


nicht weniger zu einer Nationalbuͤhne; und 
viel⸗ 


— 


437 
I ̃—˖Ü . ... r...... 
vielleicht iſt nie einem Manne von der 
Kunſt ein Zweifel aufgeſtiegen, ob es eine 
Gattung von Nationalaktion gebe: Baron, 
Champmesle, La Couvreur, Gaͤrrik, Old⸗ 
fields, Cläron, Ze Kain, Dumenisl koͤnnen 
ſie allgemeine Muſter, Muſter fuͤr die Schau⸗ 
ſpieler aller Voͤlker ſeyn? Der Stolz, die 
Eigenliebe jeder Nation hat zwar den Aus⸗ 
ſpruch laͤngſt gethan: die einen rufen: zu 


uns ihr angehenden Talente! zu uns! um 


euch nach uns zu bilden! — nicht doch: 
rufen die andern: hier, hier iſt Ausdruck, 
Wahrheit, Staͤrke! dieſer von verſchiede⸗ 
nen Seiten ſchallende Zuruf ſelbſt aber be— 
weiſt, daß es mehr als eine Art des thea⸗ 
traliſchen Spieles geben koͤnne, deren jedes 
ſeinen Zuſchauern vortrefflich ſcheint, weil 
es mit ihrem Temperamente, mit ihrem 
Ge uͤhle gleichſam ſympathiſt ret: aber man 
verwechsle die Zuſchauer! wie? — ſpricht 
der Engländer, und der Deutſche ſpricht es 
nach — 


434 


m ̃ ——. 

nach — dieß waͤre der wunder wirkende 

Schauſpieler, dieſer Le Kain, der auf der 

Bühne herrſchet, mit dieſer Anwandlung 

von Kaſerey, mit dieſem Ungeſtuͤmme, 

der über Ziel und Graͤnzen hinausſtuͤrzet, 

und alle Wahrſcheinlichkeit beleidiget? — 
aber der Franzoſe vor der engliſchen Buͤhne 

ſucht den großen Gaͤrrik, und glaubt ihn 

nicht vor ſich zu haben, in dieſem ſcheinruhi⸗ 

gen Schauſpieler, an dem Stimme und 
Gebehrde ſchweigt, und nur das Geſicht und 

Muskeln empor arbeiten, und ſeinen Schmerz, 
ſeine Wuth reden; an dieſem Manne, den 

der tragiſche Seneka bezeichnet zu haben 
ſcheinet: quamvis ipſe ſileat, totus in vul- 
tu eſt dolor — Le Kain wird dem Eng⸗ 

laͤnder faſeln, und Gaͤrrik den Sana 
froftig ſpielen — 

Der Ausdruck der i Voͤlker 

koͤmmt von ihrem Temperamente her, von 
dem hoͤheren oder geringeren Grade der Hi⸗ 


tze; 


435 
EAA —..ĩðê̊ — — — — 
tze; die Laͤnder, welche ihre Lage dem her⸗ 
ßeren Himmels ſtrichen naͤhert, die Morgens 
länder, die Griechen, die Walfchen, find von 
der Natur Gebehrdenreich: die Nordlaͤnder; 
die Englaͤnder beſonders, behalten das Fleg⸗ 
ma auch in ihren Aeußerlichen: die Hand 
begleitet ſelten, oder nur in kleineren Be⸗ 
wegungen ihre Stimme: und dieſe Stimme f 
ſelbſt iſt geſetzter, als die Stimme des Fran⸗ 
zoſen, der einen großen Gedanken durch Ers 
hoͤhung des Tones herauszuheben ſucht, den 


der Englaͤnder ſeiner Groͤße uͤberlaͤßt und 


durch nichts aufzuſtuͤtzen fuͤr noͤthig achtet: 
der Deutfche ? abermal zwiſchen beiden ges 
ſtellet, wird er aus der Hitze des Franzoſen, 
und dem natürlichen Kalten des Englaͤnders, 
eine dritte Art heraus bringen, die ſeine 
eigne ſeyn wird. Die Stelle aus Airenho⸗ 
fers Hermannen: dieß Recht erwarten wir 
von Gott, und unfern Waffen! die Ste⸗ 
phanie ſo unverbeſſerlich zu ſagen wußte, 
mwmuͤr⸗ 


436 


wuͤrde in dem Munde eines Franzoſen, der 
vielleicht mehrere Hitze hineingelegt haͤtte, 
eine Groß ſprecherey geworden ſeyn; und der 
Englaͤnder wuͤrde den Gedanken mit einem 
kleineren Antheil von Waͤrme untergetaucht 


haben, daß er ganz verloren gegangen waͤ⸗ 


re — Faſt möchte ich ſagen, das Marchons! 
in Voltaͤrs Tankreden koͤnne nur ein guter 
deutſcher Schauſpieler nach des Dichters 
viel bedeutender Abſicht ſagen. Wie wir al⸗ 


ſo unſte eigenthuͤmliche Miſchung der Saͤf⸗ 


te, eben ſo koͤnnen wir, ſollen wir, ein ei⸗ 
genes Theatralſpiel haben, das weder von 
einem noch anderen alles annimmt, noch ver⸗ 


wirft. Nur diejenigen Stuͤcke unterwerfen 


den Schauſpieler auch in dem Gebehrden⸗ 


ausdrucke dem Cuſtume, wo die Begeben⸗ 


heit National, der Schauplatz Lokal iſt — 
Und das iſt ein Verdienſt, welches kaum 
unter hundert Zuſchauern einer an Stepha⸗ 
nien zu ſchaͤtzen weis, dieſe ſtrenge Beobach⸗ 
tung der Nationalkaraktere, mit wel⸗ 
cher er einen eiferſuͤchtigen Fulgentio von 
einem eiferſuͤchtigen Bon fil, einen deutſchen 
Helden, von allen übrigen zu unter ſcheiden, 
und ſelbſt in den Karakteren der Nation mit 
unerfchöpfter Mannigfaltigkeit, einen Wil⸗ 
kam Siward anderſt als Li ellefonten einen 
Beverley anders als einen Varnwelt zu 
verfloͤſſen weis. 


4