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Full text of "Jakob Burckhardt, Deutschland und Schweiz"

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Burckhardt, 
Deutschland 
und Schweiz 



Carl Neumann 



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B R Ü C K E N / I 



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Jakob Burckhardt 
Deutschland 
und die Schweiz 



Carl Neumann 

cid. Profeieor er, der Universität Heidelberg 




Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Gotha 1919 

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N0V181922 



Vorwort 

Die vorliegende Schrift bringt den durchgesehenen, 
mit einigen ZuBätzen vermehrten Neudruck zweier Auf- 
sätze, die in der Deutschen Rundschau von 1907 und 
1918 zuerst erschienen sind (Jahrgang 34 und 44). 

Die Ausgabe von Burckhardts Schilierrede von 1859 
betreffend, verweise ich auf meine Fußnote zu S. 76. 

Im Bildungsgang Burckhardts hat die Auseinander- 
setzung mit der Kultur der drei Nachbarn der Schweiz, 
mit der deutschen, französischen und italienischen, einen 
um so wichtigeren Platz, als sein Vaterland auf der 
Zusammenschichtung eben jener drei Elemente auf- 
gebaut ist. 

Burckhardts Jugendbegeisterung für Deutschland lieii 
merklich nach, seit die Beschäftigung mit der italienischen 
Renaissance ihm Glück und Trost ward. Doch war die 
Ursache jenes Wechsels in seinem Empfinden keine 
besondere persönliche Verstimmung. Vielmehr war die 
gesamte Europäische Lage seit der Mitte des neun- 
zehnten Jahrhunderts für ihn dauernd der Gegenstand 
groller Angst und Sorge. Demokratie und Imperialis- 
mus, kulturwidrige Massenanhäufung in den zunehmenden 



Großstädten, Kapitalismus und Staatsschuldenanwachsen 
schienen ihm fast Anzeichen lies jüngsten Tages. 
..Der allgemeine Weltlauf, schrieb er 1SS8, scheint 
mir mißfälliger zu werden von Jahr zu Jahr, und dies 
unabhängig von meiner eigenen Alterung". Er hat 
eine kommende Sündßut prophezeit. 

Den Druck der dunklen Wolken, die von allen Seiten 
heraufstiegen , hat Burckhardt deutlich verspürt. So 
würde er auch den Ausbruch des Wel tun gewittere als 
die längst befürchtete elementare Katastrophe empfunden 
haben, die, ohne menschlich nachrechenbare moralische 
Schuld- und Sündenzuteilung an die Einzelnen, als ein 
furchtbares Schicksal über die Welt gekommen ist. 



Heidelberg, Dezember 1918. 



Inhalt 



3<i.e 

I. Jakob Burckhardts politisches Vermächtnis 

i. Einleitend« . . , . , , . , , , , . , . i 

3. Da» Bich: Weltgeschichtlich« Betrachtungen ... o 

3. BnrckhardlunddiEdcmnkritisclicGltichhcitlidKCti.ii 
einem Exkurs über d«s Verhällnii Bnrcfch»rdU m 

4. Enrckhardt nnd die Maciitpolitik ....... aj 

5. Bnrckhirdt der Moralist , . . 3-) 

II. Die Jugend Burckhardts und die Entstehung 
seines RenaissancebeRtiffs 

i. Die Entdeckung der KenaiMancc ±2 

i. BBrckh»rdt3 romantische Zeil fii 

1. UarckbardlB Gedicht n» rede »gl Schiller 18 jt ) . . 74 



OigrlueO 0* Google 



I. Jakob Burckhardts politisches 
Vermächtnis 



i. Einleitendes 

Goethe sagte am 25. Februar 1824 im Gespräch zu 
Eckermann; „Ich habe den großen Vorteil, daß ich zu 
einer Zeit geboren wurde, wo die größten Wcltbegcbea- 
heiten an die Tagesordnung' kamen und sich durch mein 
langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Sieben- 
jährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von 
England, ferner von der Französischen Revolution und 
endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum 
Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen 
lebendiger Zeuge war. Hierdurch bin ich zn, ganz andern 
Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen 
möglich sein wird, die jetzt geboren werden, und die 
sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen 
müssen, die sie nicht verstehen." 

Die Resultate und Einsichten seiner politischen Weis- 
heit hat uns Goethe nicht in zusammenhängender Dar- 
stellung mitgeteilt. 

Groß war die Überraschung, als uns ein ähnliches 
Werk geschenkt wurde, in Goetheschem Geist empfunden 
und gedacht, historisch -politische Betrachtungen von 
Jakob Burckhardt, dem großen Historiker und Kunst- 
historiker '). Burckhardt ist 1818 geboren. Er stand 



'I J.ikob liiircklurdt, Wchsodi^Uliclie «etmctiW'iKfii. Heraus- 
gegeben Ton Jakob Oeri. Berlin nnil Stuttgart, W. Spemann. 1905. 
Seitdem in dritter Auflage. 

Keiimtm, >ltt>b BucUuudr. I 



zu Goethe, wie die deutsche Jugend vor dem Wehkrieg 
zu Bismarck stand. In einem seiner Studentenbriefe der 
Berliner Zeit liest man: „Morgen sind es zehn Jahre, 
seit Goethe gestorben ist, da geh ich zu Beitina" 
(21. März 1842), und diese Goethe- Atmosphäre blieb 
seine Lebensluft, da er sich später immer mehr in 
Kunstbetrachtung und das historische Studium großer 
Kunstcpnchcn einzuspinnen schien, so auch der Welt 
als Verfasser des „Cicerone" und der „Kultur der Re- 
naissance" bekannt geworden ist. Diese, wie es schien, 
festgelegte Physiognomie des Denkers und Schriftstellers 
ist in ungeahnter Weise bereichert worden, seit die 
Veröffentlichungen aus dem Nachlaß uns die Resultate 
seiner die ganze Welt- und Zeitgeschichte umspannen- 
den Beobachtungen mitgeteilt haben. Nun sehen wir 
nicht nur, wie tief die Wurzeln seines Wissens gegriffen 
haben, sondern auch, welche Nahrung ihm aus Anschau- 
ung und Miterleben der Gegenwart gekommen ist, da 
er denn als Jüngling in den hoffnungsreich -enthusiasti- 
schen vierziger Jahren gestanden, die 48er Revolution 
erlebt, das zweite Kaiserreich, Syllabus und Vatikanum, 
die Erfüllung der deutschen und italienischen Staatsein- 
heit gesehen hat. Auf diesem Punkt, da er eben sein 
fünfzigstes Lebensjahr erreichte, kam ihm der Wunsch, 
sich über seine weit- und zeitgeschichtlichen füfahrungen 
Rechenschaft zu geben, und so ist eine Niederschrift 
entstanden , die den Kern des aus dem Nachlaß ver- 
öffentlichten Buches bildet. Zweimal hat er sein Manu- 
skript zu Vorlesungen an der iiaselcr Universität benutzt, 
1E68 und wieder 1870/71 im Schlachtendonner des 
deutsch - französischen Krieges, und besonders diese 
Wiederholung war es, die der Vorlei-ung einen über 
das Maß eines Universitätserfolg es hinausgehenden Ruf 
verschafft und die Neugier nach Inhalt und Fassung des 
Vorgetragenen wach erhalten hat. Denn dem berühmten 
Dozenten saß damals eine «erdende Berühmtheit in der 
Person eines zuhörenden Kollegen gegenüber, der denn 
auch nicht verfehlt hat, über deu Eindiuck des Ge- 
hörten zu sprechen. Dieser Hörer war Friedrich Nietzsche, 
seit 1869 Professor der alten Philologie in Basel, ein 
Bewunderer des 26 Jahre älteren Burckhardt , und sein 



Urteil über das Kolleg lautete so: „Ich glaube der 
einzige seiner sechzig; Zuhörer zu sein, der die tiefen 
Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und 
Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift, 
begreift." Es war, wie er weiter schreibt, die erste Vor- 
lesung, an der er Vergnügen hatte. Seit diese Bricf- 
stcllc gedruckt ist, will es mit den Vermutungen nicht 
stille werden, wie es mit dem geistigen Zusammenhang 
Nietzsches und Burckhardts stehe, und ob nicht gar 
Burckhardt für einige der späteren Lieblingsgedanken 
Nietzsches verantwortlich zu denken sei, und dies ist, 
man könnte fast sagen: die pikante Zutat, die dem 
selbstverständlichen Interesse an Burckhardts „Welt- 
geschichtlichen Betrachtungen " den Augenblicksreiz 
einer „Aktualität" hinzufügt. 

Wenn man dieses Buch gelesen hat, bleibt zunächst 
das Gefühl, daß es niemanden geben könne, 'der es 
nicht zu seinem größten Nutzen lesen würde, Politiker 
und Professoren , Soldaten und Philosophen und jede 
Art Menschenkenner, Kaufleule und Geistliche. Freilich 
muß man es wiederholt lesen (es sind auch bloß 275 
Seiten). Denn beim erstenmal bemerkt man wohl die 
vielen „schönen Stellen" und Einzelheiten, aber Dicht 
sogleich die Grundgedanken, die alles zusammenhalten '). 
Das Buch bat nicht den Charakter gedruckter Vor- 
lesungen, nicht das Wortreiche, Zerfließende dieser Art, 
wo der Redner sich im Vorwärtsgehen zu formulieren 
sucht, aber auch Skizze, Entwurf ist es nicht. Denn die 
Fülle und Schärfe der Analyse ist oft sehr weit ge- 
bracht. Das ganze ist knai p und ohne überflüssige 
Worte. Die Erkenntnisse lagen klar fertig im Kopf 
und brauchten nur aufgezeichnet zu werden. Es ist der 
Meister der Kultur der Renaissance, der zehn Jahre 
später die Resultate seines geschichtlichen Nachdenkens, 
seine „Philosophie", zu Papier bringt Was dem Buch 
an manchen Orten fehlt, ist die verbindende Linie, der 
Übergang, die Ubersicht, die nochmalige Formung- und 



') „Ich habe ei dreimal gelesen", sagte 
GSltingen iu Piofessor Julius Wellhanstn. - 
wort, „ich habe ta fünfmal gclejen". 



Stimmung <ies Ganzen, Dinge, die sich ein aufmerksamer 
Leser leicht Gelbst ergänzen kann. Für diese mangelnde 
Ausfeilung entschädigt, was nun ein Hauptreiz des Buches 
in dieser halb improvisierten Gestalt geworden ist, daß 
die kostbaren drastischen Ausdrücke , Wendungen und 
Bilder, die in ihrer lebhaften Sinnlichkeit so stark an 
Gottfried Keller erinnern, von der ersten Eingebung her 
stehen geblieben sind und nicht literarischen Absichten 
und Rücksichten haben weichen müssen. 

Was ist nun aber der eigentümliche Charakter 
und die Methode des Buches: Hiervon soll zu- 
erst, von seinem Inhalt aber erst später gesprochen 

Jeden Versuch einer Philosophie der Geschichte, ja 
selbst die sogenannte Weltgeschichte, hat Burckhardt 
skeptisch betrachtet. Geschichtsphilosophic nennt er 
einen Zentauren, eine unmögliche Zusammensetzung, eine 
contradictio in adjecto, wobei er im einzelnen, mit Hin- 
blick auf Herder, gar nicht verkennt, daß sie ihre Dienste 
geleistet und „einzelne mächtige Ausblicke durch den 
Urwald" gehauen habe. Aber ihr Grundübel sieht er 
darin, daß sie dem geschichtlichen Stoff ein Programm 
oder einen Plan unterschiebe, dessen stufengemäße Durch- 
führung und Erfüllung im zeitlichen Ablauf nachzuweisen 
Hauptaufgabe werde. Durch diese vorgefaßte Meinung 
trübe sich dann jede Unbefangenheit der Beobachtung, 
und das Tatsächliche, auf dessen nüchterne Feststellung 
alies ankomme, werde der Konstruktion eingebildeter 
Entwicklungen geopfert. Dasselbe gilt für die religiöse 
Geschichtsbetrachtung. Niemand wird einem Werke 
wie Augustins „de civitate Dei" das Daseinsrccht 
bestreiten. Als religiöse Gcschichtsüb ersieht steht sie 
an der Spitze aller Theodizeen. „Uns geht aie hier 
nichts an." 

Diese schroffe Stellungnahme des Geschichtsempirikers 
gehört zu den frühest ausgebildeten Zügen von Hurck- 
hardts Natur. Aus den Berliner Briefen seiner Studenten- 
jahre weiß man, mit welchem Grauen et aus Schcllings 
Vorlesung gegangen war. Der Versuch Hegels war an 
ihm völlig abgeglitten. D;;:iti hat er das 1856 erschienene 
kleine Büchlein des Münchener Philologen Eruit von 

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Lasaulx, „neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit 
der Tütsachen gegründeten Philosophie der Geschichte", 
offenbar durch den Titelzusatz „auf die Wahrheit der 
Tatsachen gegründet" verliihrt, aufmerksam gelesen, und 
auf diese Schuft hat er sich in mehrfachen Zitaten be- 
rufen. Liest man heut dieses Büchlein, so ist wohl das 
Staunen über Breithardts Dankbarkeit die erste Empfin- 
dung. Man versteht die Sympathie für gewisse Grund- 
stimmungen, den starken Idealismus, die pessimistische 
Auffassung der Gegenwart, die Lasaulx wohl als Zeit 
des Antichrist bezeichnet hat 1 ), den Sinn für historische 
Größe, die Freiheit des katholischen Verfassers von kon- 
fessioneller Befangenheit (das kleine Buch ist sogar auf 
den Index gesetzt wurden) , und überhaupt ist es eine 
in ihrer Art ergreifende, auf tiefe Überzeugungen ge- 
gründete Arbeit. Aber die ganze Form und Einhüllung 
des Buches in philosophische, religiöse, biologische Spe- 
kulation ließ Burckhardt unberührt, der eben nicht Philo- 
sophie, sondern „Wahrheit der Tatsachen" suchte, und 
so bleibt nur festzustellen, daß die übrigens sehr geist- 
und kenntnisreiche Schrift von Lasaulx ihm eine Reibungs- 
fiaclie dargeboten hat, an der sich die eigenen Gedanken 
entzündeten. Wie gegen die geschictitsphilosophischen 
Versuche, so hegte er Mißtrauen gegen die „Welt- 
geschichte". Wie profan und wissenschaftlich sie sich 
gebe, sie arbeite im Bann von Zweckvorstellungen, ob sie 
diese nun als leitende Ideen oder Mach tv erst hiebungen 
oder nationale Tendenzen enthalte. Legt man Burck- 
hardts Betrachtungen neben Rankes „Weltgeschichte" 
oder des Grafen York „Weltgeschichte in Umrissen, 
Federzeichnungen eines Deutschen" oder neben ent- 
wicklungsgeschichtlichc Darstellungen, so springt schon 
am Inhaltsverzeichnis in die Augen, zu welch radikalem 
Mittel Burckhardt gegriffen hat, um jede Teleologie so- 
wohl wie die Vorstellung kausalkollektiver Kontinuität 
hinauszuwerfen. Was ihn von den andern von allem 
Anfang unterscheidet, ist. daß er den chronologischen 



'| In dtt 1904 erschienen tu Lusauiv - Riiigrapriic von [;cmh;ii_- 
Stötilc, S. 367. Der Artikel der „ Allgemeinen Deutiehen Biggrsphie" 
über Lasunli ist gua ungenttgend. 



Aufbau der Darstellung als das Hauptmitte! der Ver- 
führung, irgendeine Entwicklung aufzuspüren, verworfen 
hat. Es gab kein heftigeres Mittel, sich gegen über- 
einkömmliche Urteile, gegen jede fable convenue zu 
sichern. .Wenn er später einmal im Sehen Nietzsche 
vorschlug, Geschichte zu dozieren: „wie hübsch käme 
vieles im Gegensatz zum jetzigen consensus populorum 
auf den Kopf zu stehen", so lag wohl ein Anreiz dazu 
in seiner eigenen Natur. Seine Bücher haben vom Kon- 
stantin an bis zum letzten neue Werte geprägt. Es gab 
immer schon Menschen, die Burckhardts Eigenstes in 
dieser Ursprünglichkeit, Freiheit und Unbefangenheit des 
Urteils herausfühlten. In einem Brief Erwin Rohdes an 
Nietzsche vom Dezember 1870 — zwei Jahre, ehe Burck- 
hardt den Ruf zur Nachfolge Rankes nach Berlin er- 
hielt — liest man folgende, durch Nietzsches Teilnahme 
an Burckhardts Vorlesung hervorgerufene Äußerung: „Es 
gibt eine Art, die Dinge historisch zu sehen; damit 
meine ich nicht jene triviale Professorenart, das ge- 
heimnisvolle Tun des Weltwiliens in aufdringlich flacher 
Art, mit Approbierung hoher Behörden, auslegen zu 
wollen, als wäre die Mcnschengeschichte ein Kursus von 
Sexta bis Prima. Gerade die Kunst, keinen Grund- 
gedanken hineinzu dozieren, aber in Anschauungen 
denkend das Wesen und Tun vergangener Zeit so zu 
erkennen, wie nicht das aufgeklärte neunzehnte Jahr- 
hundert sie erkennt, sondern wie sie damals lebten und 
sich bewegten, das ist die hohe Kunst des Historikers . . . 
Wenn es einen ganz spezifisch historischen Geist gibt, 
so ist es Burckhardt." (Nietzsche- Briefe, Bd. II, S. 213 
und Otto Crusius, Erwin Rohde, S. 71.) 

Hören wir hier sein rein anschauendes, künstlerisches 
Verhalten zur Vergangenheit als seine So nderart rühmen, 
so klingt auch ein zweites mit, was in der Tat den tief- 
sten psychologischen Grund zu der Abneigung enthüllt, 
die Burckhardt gegen die übliche Teleologie oder Ent- 
wicklungsdoktrin empfand. Die Entfremdung zwischen 
ihm und der Zeit, in die er gestellt war, wurde großer 
und größer. Zuwider war ihm der Optimismus des Uber- 
legenhcitsgefühls der Gegenwart, ihr hochmütiges Mitleid 
mit der Vergangenheit, der sie gern und in allem und 



ledern den Prozeß machte, zuwider die „lächerliche" 
Vorstellung des erreichten Fortschritts und der Hochmut 
ihre» Schuldenmachens, als sei sie so vorzüglich wichtig 
und großartig, daß sie für ihre Leistungen luhig die 
Schulte in der Nachwelt belasten könne. Zu denken, 
daß in einer solchen Gegenwart die gesamte Vergangen- 
heit gipfle, daß alles Große früherer Tage nur eben Vor- 
spann und Frohn für die Jetztzeit gewesen sein solle, 
war für Burckhardts Stimmung unmöglich. Es war ihm 
unmöglich, die Weltgeschichte auf die Gegenwart zu 
orientieren; es hätte ihm das verletzende Gefühl einer 
ganz verkehrten Raum- und Zeitperspektive gegeben. 

Diese Stimmung schärfte seine Kritik zeitgenössischer 
und jeder Geschichtskonstruktion überhaupt. Den von 
verschiedenen Seiten und mit verschiedenen Mitteln unter- 
nommenen Versuchen, die Geschichte zum Rang einer 
Wissenschaft, zu einer Wissenschaft von Gesetzen zu er- 
heben, setzt er den gelassenen Ausspruch entgegen, die 
Geschichte sei die unwissenschaftlichste aller Wissen- 
schaften, und so ist, als gelte es, das zu beweisen, diesem 
Buch, wo man es gar nicht suchen sollte, ein erkenntnis- 
theoretisches Kapitel angefügt worden, das eine gute 
Anzahl der gewöhnlichsten Fehlerquellen in unseren ge- 
läufigen Geschichtsurteilen zusammenstellt. Dieses sehr 
kluge und zum Nachdenken anregende Kapitel steht 
ganz am Schluß (S. 253 fr.) und hat den Titel 1 „Über 
Glück und Unglück in der Weltgeschichte." Es handelt 
sich hier nicht um die Falle, wo der gewöhnliche Egois- 
mus die Unbefangenheit der Beobachtung und das Urteil 
stört, nicht um die groben Einseitigkeiten konfessioneller 
oder parteipolitischer Standpunkte oder die Trivialitäten 
des durchschnittlichen modernen Hochmuts. Von sol- 
chen wird mir eine gründlicher vorgenommen und ab- 
getan, die übliche Geringschätzung von Zeiten, denen, 
wie dem Mittelalter, die moderne „Sekurita't" fehlt, die 
Sicherheit von Leben und Gütern »). Die erfrischende 



') Dieser Lieblings ansdrncli HarckliardLs (Sekurilät) ist wohl von d 
ihm uent Geprägt worden. Sollte es eine Remiuisicni an die mittel-/ 
allcrliclie Knoilwclt Italiens sein? Die Lorenz «tischen Fresken im ; 
Ruha.ni von Siens teigen Uber dem Wohliland and der Sicherheit der, J 



Allgegenwart der Gefahr wird wie ein wohltatiger Kriegs- 
zustand gepriesen, und der friedliche Burckhardt kommt, 
merkwürdig, wie oft, auf dieses moderne Vorurteil der 
„Sekurität" mit all seiner Ironie zurück. In der Haupt- 
sache aber sind es die feineren Verzweigungen des Egois- 
mus, die als Fehlerquelle unsere Urteile hüben, und 
deren wechselnden Formen und Temperamentsgraden 
hier höchst eifrig und spannend nachgespürt wird. Sie 
äußern sich in der Wertung großer geschichtlicher Vor- 
gänge als glücklicher oder unglücklicher Ereignisse, und 
diese Bewertung nach Glück und Unglück ist es, die 
Burckhardt aufs Korn nimmt. Also z B. , man sagt: 
Es war ein Glück, daß die Griechen über die Perser, 
daß Rom über Karthago siegte . . . ein Unglück, daß 
Cäsar ermordet wurde, bevor er dem römischen Welt- 
reich eine angemessene Form sichern konnte . . . ein 
Glück, daß die Welt durch die Völkerwanderung er- 
frischt wurde durch gesunden neuen ViilkerstofF usw. 
All dem setzt sich der Skeptizismus entgegen, der echte, 
sagt Burckhardt, „von dem man nie genug haben kann". 
Vor allem, man müßte den Ausdruck „Glück ■' im Völker- 
leben ganz ausschalten. Wo er in Urteilen vorkommt, 
sind es befangene und wertlose Urteile. Das Phänomen 
ist alles, unsere Wertung unzureichend. „Völker haben 
bestimmte große Lebenszüge an den Tag zu bringen, 
ohne welche die Welt unvollständig wäre, und zwar 
völlig ohne Rücksicht auf die Beglückung der einzelnen, 
auf eine möglichst große Summe von Lebensglück." 
Wir können Glück nicht definieren, ja selbst unsere 
Phantasie hat kein Zutrauen , zu wissen , was Glück 
ist. Da sieht nun eine merkwürdige, melancholisch 
schöne Stelle: 

„Nur das Märchen nimmt einen sich gleich bleibenden 
Zustand Tur Glück. Die kindliche Auffassung, wie sie etwa 
hier lebt, mag das Bild eines dauernden, festlichen Wohl- 
befindens (zwischen Olymp und Schlaraffenland in der Mitte) 



Kluren eine gcüügdte weibliche ücslatt scliwcbcnd, die Sccurila;, i;iit 
einem Galgen »Ii Drohnng (Ur die Slürer des Hechtj in der einen Hand, 
einer Schrift in der andern: Sema paur» ogn'aomo franco esmini nsn-. 



fest in bannen suchen. Und auch damit ist es nicht einmal 
gründlicher Emst: wenn endlich die bösen Zauberer tot, die 
bösen Feen bestraft sind, dann regieren Abdallah und Fatime 
freilich als ein glückliches Königspaar bis in ihr hohes Altet 
weiter; aber die Phantasie gibt ihnen eigentlich gleich nach 
dem Ende ihrer Prüfungen den Abschied, um sich weitet 
nicht mehr für sie, sondern für Hassan und Suleika oder Leila 
oder ein anderes Paar zu interessieren. Und doch ist schon 
der Schluß der Odyssee so viel wahrer; die Prüfungen des 
Dulders werden fortdauern, und zunächst harrt seiner noch 
eine schwere Pilgerfahrt." 



2. Das Buch 

Die „Weltgeschichtlichen Betrach hingen" Burck- 
hardts sind alles eher als eine Sammlung loser Apho- 
rismen, wenn auch manches aphoristisch geblieben sein 
mag. Der Stoff ist mit der größten Sicherheit nach 
einer bestimmten, sehr besonderen Einteilung gegliedert. 
Eine Kunstkraft hat hier gewaltet, die auf dem Gebiet 
phaiitasievnllcr Auschauung genau .so klärend wirkt wie 
Logik auf dem Felde des Verstandes. Überhaupt kann 
man die Originalität eines Buches, das auch nur ent- 
fernt den Anspruch eihcbt, eine Kunstleistung zu sein, 
zu allererst aus seiner Disposition beurteilen. 1-lier siebt 
man mit einem Blick, ob ein ursprünglicher Kopf da- 
hinter steckt, da auf keinem Gebiet die gedankenlose 
Routine so bequem und allmachtig ist wie auf dem der 
Komposition. Unter Buickhardts Büchern hat wohl 
keines eine genialere Anordnung als die vierhändig- 
„Griechische Kulturgeschichte". Drei Bände lang Quer- 
schnitte durch alle Stockwerke des griechischen Lebens, 
Foliiik, Religion, Ethik, Literatur, Kunst, und dann der 
große Schlußband mit der chronologischen Gesamt- 
ansicht hellenischen Wesens in seiner Fülle, Tiefe und 
Weite. Viele, die diese „Griechische Kulturgeschichte" 
zu kritisieren meinten und sich dabei selbst kritisiert 
haben, waren von jedem Sinn und Organ verlassen, 
die große Kunst der Geschichtschreibung zu würdigen, 

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die last einzigartig in jenem Werk sich aussprach. Wer 
bloÜ auf Erudition sieht, dem geben auch die „Welt- 
geschichtlichen Betrachtungen" mannigfache Blößen. 
Nicht nur, daß ihre Veröffentlichung als Buch fünfund- 
dreißig Jahre später kam als ihre Entstehung; auch für 
die Zeit der Niederschrift ist wohl mancher Irrtum im 
Tatsächlichen mitgelaufen. Fehler dieser Art anzumerken, 
sollte aber — wir möchten fast hinzusetzen: anstands- 
halber niemand wagen, der nicht über ein Wissen von 
so großem Umfang und von solchen Horizonten verfügte 
wie Jakob Burckhardt selber. Wo leben beute die 
Menschen , die so gleichmäßig' die poetische wie die 
historische Literatur samt der Erfahrungs quelle der bil- 
denden Kunst beherrschen , die Homer und Firdusi, 
Rabelais und Ariost, die serbische Volkspoesie und 
Parzival kennen und Polybius so gut wie Gregor von 
Tours, Sebastian Franck und die Memoiren des Empire 
gelesen haben? Burckhardt kann vieles, was die meisten 
von uns nicht mehr können; er kann, wenn er z. B. 
den Charakter von Renaissancen in der Geschichte er- 
läutern und Analogien bringen will, in einem Atem die 
Herstellung der Juden durch Cyrus, das Königreich 
Jerusalem der Kreuzzüge, die Restauration des alt- 
persischen Despotismus durch die Sassanidcn, das Imperium 
Karls des Großen als eine Erneuerung der Schöpfungen 
eines Konstantin und Theodosius beschwören. Das alles 
ist ihm gegenwartig und vertraut. Julius Wellhausen 
sagte einmal, als auf diese Dinge die Sprache kam, zu 
mir: „Er schwebt über den Dingen, so hoch, in solcher 
Distanz, fast wie der liebe Gott." 

Diesem ungeheueren Wissensstoff, den Burckhardt 
aus Gründen, die wir besprochen haben, nicht chrono- 
logisch aufreihen wollte, gab er eine eigene Anordnung 
und Form. Er entwirft Querschnitte einzelner Gcschichta- 
perioden der Menschheit unter dem Gesichtspunkt der 
in ihnen vorwaltenden Lebensmächte. Diese Lebens- 
mächte sind ihm der Hauptsache nach drei. Zwei stabile, 
soziale Faktoren, deren einer sich auf dem politischen, 
der andre sich auf dem metaphysischen Bedürfen der 
Menschen aulbaut : Staat und Religion. Der dritte Faktor 
ist andrer Art, beweglich, individualistisch, aus der 

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Freiheit geboren: die Kultur. Bemerken wir gleich hier, 
wie weit wir von jedem begrifflich theoretischen Rigoris- 
miifl entfernt sind. Logische Systematik würde vielleicht 
Kultur als Oberbegriff setzen und ihm unterordnen: 
.staatliche Kultur, religiöse Kultur, sittliche, künstlerische 
u. s. f. Burckhardt, der die praktisch fruchtbaren Unter- 
scheidungen sucht, stellt den Z iva ngsgc bilden von Staat 
und Religion die Kultur als freies, spontanes Erzeugnis 
gegenüber und faßt darin Wissenschaft, Dichtung, Kunst, 
Techniken, Geselligkeit zusammen. Die drei großen 
Potenzen Staat, Religion, Kultur ergeben in den Mög- 
lichkeiten ihrer wechselnden gegenseitigen Kausalitäts- 
;ind Abhi.LiigiLrkcitsCTr.ido die vorwaltenden Formen und 
Kategorien geschichtlicher Zustande, und die Betrachtung 
der Varia'Uo n s moglichl: ei ten solclier Bedingtheiten bildet 
den Körper des Burckbardtsclien Buches. Sechs Bedingt- 
heiten werden unterschieden. Erstens, je nachdem der 
Staat von der Kultur überwuchert wird oder als Theo- 
kratie im Dienst der Religion festgehalten wird. Zweitens, 
je nachdem die Religion vom politischen Staat beherrscht 
wird oder sich durch überlegene Kultur modifiziert 
findet. Drittens , je nachdem die Kultur sich in den 
Staat fügen mtitl oder aber von der Religion kraft eines 
heiligen Rechtes (wie in Ägypten) stillgelegt wird. In 
diesen sechs Bedingtheiten können die Normalfälle des 
gegenseitigen Verhältnisses von Staat, Religion und Kultur 
r.te typische Erscheinungsformen geschichtlichen Lebens 
untergebracht werden. Von der höchst lebendigen 
Schilderung dieser Formen und Zustände bringen wir 
hier keine Auszüge, da sich manches weiterhin der Be- 
sprechung darbieten wird. Nur soviel ist als besonders 
wichtig hervorzuheben, daß für BurckhardU historische 
Betrachtung das Zuständliche Hauptaufgabe der ge- 
schichtlichen Darstellung bildet und als 1 lauptansicht 
geschichtlichen Lebens zu gelten hat. Ist somit die 
Geschichte eine Abfolge verschieden gearteter Dauer- 
zustände, deren charakteristische Merkmale zu fassen 
die Aufgabe verallgemeinernder Beobachtung ist, so tritt 
ergänzend eine weitere Aufgabe hinzu. Die noch so 
konstanten Zustände lösen sich ab; es kann ein Zustand 
den entgegengesetzten zur Folge haben. Das Zeitmaß 



der Veränderung- kann ein allmähliches oder plötz- 
lich einsetzendes sein , kurzum , es tritt neben die 
Schilderung' der Zustände die Betrachtung 1 der Über- 
gänge. 

In beiden Fällen ist die Diagnose, wie sie aus dem 
intuitiv anschaulichen Denken Burckhardts hervorgeht, 
erstaunlich. Es war seine besonders glänzende Fähigkeit, 
in der Gehäuftheit und im Strudel der Erscheinungen 
die beherrschenden Zuge und einen gewissen Normal- 
charaktcr herauszufinden. Was man etwa im „Cicerone" 
bewunderte, in den berühmten Charakteristiken der 
diottoschule oder des Barockstils, dieselbe künstlerische 
Kraft, aus unendlichen Einzelbeobachtungen das Fazit 
zu ziehen, und zwar ohne schulmeisterlich grammatik- 
mäßige Gewaltsamkeit, sie waltet auch in den „Welt- 
geschichtlichen Betrachtungen". 

Als Lehre von den Übergängen sind die plötzlichen, 
die Geschichte der Krisen, Revolutionen, Staatsstreiche 
als die Form geschichtlichen Prozesses, wo das Wetter 
in das Zeichen des Sturmes tritt, ein ungeheuer be- 
schleunigtes Zeitmaß in die Bewegung aller Dinge 
kommt, und die Luft durch Katastrophen gereinigt 
werden muß, in einem besonderen Kapitel behandelt. 
Es ist die Psychologie und Pathologie der Revolntions- 
krisen. 

Revolutionen pflegen in der historischen Überliefe- 
rung das Schicksal zu erleiden, daß sie den stärksten 
Gegensätzen der Beurteilung unterliegen. Die einen 
sehen nur ein Phänomenales, Natu rg-ew altiges , Vulka- 
nisches und stellen angesichts solcher Katastrophen ihr 
persönliches Urleil still. Diese „Unfreiheit" der Revo- 
lution konstatiert auch Burckhardt, er vergleicht sie 
einem Waldbrand, was natürlich das Urteil über die 
sittliche Verantwortlichkeit der Einzelbeteiligten zur Vor- 
sicht stimmen und mäßigen muß. Den andern aber, 
die entweder Revolutionen idealisieren, weil sie nur auf 
die Zukunfts träume sehen , die solche Krisen verwirk- 
lichen wollen, aber nicht können, oder die solche Zeiten 
diskreditieren wollen, indem sie die Bestialität und Ge- 
meinheit ausmalen , die fast selbstverständliche Begleit- 
erscheinungen sind, ihnen allen wird Burckhardt gerecht. 



Für alle Hofmungsfahigkeit menschlicher Natur, die er- 
greifend in den Anfängen revolutionäre! Bewegungen 
zutage tritt, fiir die Schönheit der Phantasiebilder (er 
denkt an Athens sizilische Expedition, an den ersten 
Kreuzzag, an die französischen cahiera) hat er ein volle« 
Gefühl. Aber die Schönfärber warnt er, wenn sie die 
ideale Gestalt einer Krisis mit ihrem spezifischen Geist 
verwechsein , während jenes Ideal „nur der Hochzeits- 
staat ist, auf den böse Werktage folgen werden", und 
so zeichnet er gebührend die Habsucht der „Halte fest, 
Kaube bald und Eilebeute", die mit der Revolution ihr 
Geschäft machen. Auch häit er dem Optimismus der 
Kcvolutions an fange seine „ schreckliche Unbilligkeit 
gegen alles Bisherige" vor, gerade als wäre die eine 
Hälfte der Dinge faul gewesen und die andere Hälfte 
hätte nur gespannt auf eine allgemeine Änderung gewartet. 
Trotzdem ist Burckhardt der Hauptsache nach in diesen 
Dingen angstfrei. 

„Aus der revolutionären Leidenschaft, die das Ab- 
gestorbene verzehrt und mit toten Formen aufräumt, brechen 
wie nach einem Fieber neue Kräfte der Gesundheit hervor. 
Selbst der Himmel bekommt einen andern Ton. In ganz 
ruhigen Zeiten umspinnt das Privatleben mit seinen Interessen 
und Bequemlichkeiten den zum Scharfen angelegten Geist 
und raubt ihm die Grolle ; vollends aber drängen sich die 
bloßen Talente an die erste Stelle, daran kenntlich, daß 
ihnen Kunst und Literatur als Spekulation zweige, als Mittel, 
Aufsehen zu machen, gelten. Die große Originalität, hier 
übertönt, libermault, muß auf Sturmzeiten warten, wo alle 
Verlegerkontrakte samt den Paragraphen gegen den Nach- 
druck von selber aufhören. Augustins ,dc civitate Dei' wäre 
ohne den Einsturz des weströmischen Reiches kein so be- 
deutendes und unabhängiges Bisch geworden , und Dante 
dichtete die ,dhina commedia' im ExiL" 

Von der Betrachtung der Krisen und Revolutionen 
ist zur Beurteilung des Krieges als eines ähnlich be- 
schleunigten Verfahrens im geschichtlichen Leben nur 
ein Schritt. Über Frieden und Krieg stehen hier Sätze, 
die den erstaunen machen, der Burckhardt für einen 
weitabgewandten Ästheten gehalten hat. „Nur im Kampf 



entwickelt sich das ganze Leben. Nur durch iha, und 
zwar in allen Zeiten und Fragen der Weltgeschichte, 
erfährt der Mensch, was er eigentlich will und was er 
kann." Heinrich Leos Wort von dem frischen und 
fröhlichen Krieg, der das skrophulöse Gesindel wegfegen 
soll, wird beifällig zitiert. Drastisch werden die jammer- 
lichen Notexistenzen geschildert, die im Frieden den 
wahren Kräften den l'lali wegnehmen , die Luft ver- 
dicken und das Geblüt der Nation verunedeln. Die sitt- 
liche Überlegenheit des Krieges über den gewaltsamen 
Egoismus des einzelnen wird anerkannt. Danach aber 
folgen ein paar sehr skeptische FJnschränkungen, die 
das Mißtrauen Burckhardts gegen jedes einseitig uber- 
greifende Pathos deutlich bekunden: „Die Kriege von 
heute", sagt er, und man meint ihn, wie es im Audi- 
torium der Baseler Universität so oft zu beobachten war, 
vorsichtig den Kopf vorschieben zu sehen, als wolle er 
den Feinhörigen noch etwas vertraulich sagen : 

„Die heutigen Kriege sind zwar Teile einer grollen all- 
gemeinen Krisis , aber einzeln für sich ohne die Bedeutung 
und Wirkung echter Krisen. Das bürgerliche Leben bleibt 
dabei in seinen Gleisen, und gerade die jämmerlichen Not- 
existenzen bleiben alle am Leben; diese Kriege hinterlassen 
aber enorme Schulden, d. h. sie sparen die Hauptkrisis für 
die Zukunft zusammen. Auch ihre kurze Dauer nimmt ihnen 
den Wert als Krisen; die vollen Kräfte der Ver/.weiflun:; 
werden nicht angespannt, und doch könnte nur durch sie 
die wahre Erneuerung des Lebens erfolgen" (S. 162— 1 66) '). 



Die Formen des geschichtlichen Lebens -— so haben 
wir Burckhardts Auffassung erkannt - — gestalten pich 
zu konstanten Zuständen, die ihre wechselnde Farbe von 
dem bestimmten Grad der Durchdringung der großen 
Weltpotenzen, Staat, Religion, Kultur erhalten. Ein Zu- 
stand wird in einen andern hin üb ergeführt. Er kann 
durch beschleunigte Prozesse und Krisen aus seiner Bc- 



') Jeder Leser wird in dieser Stelle von selbst ergänien, ilaü 
Burckhardt, hätte er den Weltkrieg erleben mttnen, ihn mit seinen Bn- 
mittelbuco und mittelbaren Folgen alt eine „echte Krisis " ■nerkanntiätte. 

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harrung gedrängt werden. Aber daneben gibt ea eine 
andre Form größter geschichtlicher Anstöße, die einen 
bestehenden Zustand in Bewegung bringen und neue 
Bahnen öffnen — die großen Männer des Schicksals. 
Sie sind das Gefäß einer verdichteten, in ein höchstes 
Individuelles konzentrierten Weltbewegung. Große 
Männer sind zu unserm Leben notwendig, damit sich 
die weltgeschichtliche Bewegung periodisch und ruck- 
weise von abgestorbenen Lebensformen und reflektieren- 
dem Geschwätz frei mache. Und nun kann man sich 
denken , mit welcher Wonne sich Burckhardt in diese 
andre Form der Revolution , in die Erscheinung des 
Genius, in das „Mysterium der Größe" versenkt. Er 
ist nicht von den kleinen Leuten, die aus hundert Ein- 
flüssen einen Genius herau-rechnen, mechanisieren und 
irgend kommensurabel machen zu können meinen. Viel- 
mehr ist es ihm eine geheimnisvolle Verrechnung zwischen 
Zeit und Mensch, wie das Leben auf einer gewissen 
Stufe zur Offenbarung des mächtigen Individuums Anlaß 
gibt, und wie ein Gesamtleben im großen Individuum 
seinen gebietenden Ausdruck findet. Gar nicht hält er 
sich bei der Zuteilung des Beinamens „ der Große " 
auf, indem er diesen Zusatz für ein gänzlich unwesent- 
lich es Merkmal erklärt, lediglich davon abhängig, ob es 
noch andre gleichen Namens gegeben habe, von denen, 
einer unterschieden werden müsse. Dagegen wird mit 
immer neuen Wendungen das Verhältnis des einzelnen 
zum Ganzen umschrieben: Magische Konzentration des 
Volksgeistes, iegÖQ /d/ioc (heilige Ehe), nur in schreck- 
lichen Zeiten vollziclihar. Sodann werden auf dem weiten 
Verbreitungsgebiete der Künste und Wissenschaften, des 
Mythus und des politischen Lebens die Inkarnationen 
des Großen durchgenommen, die Kategorien der Größe 
geordnet un<! die Merkmale der Größe psychologisch 
analysiert. Durchgängig wird der abnorme Grad dieser 
Begabungen und die Fähigkeit, gewisse Seelenspannungen 
aushalten zu können (Friedrich der Große im Sieben- 
jährigen Kriege), konstatiert. Hieran hängt das Schicksal 
von Völkern und Staaten. Aber freilich ist die Folge 
solchen Aus nähme Charakters der großen Individuen, daß 
sie sittliche Vorb.lder nicht sein können, nicht zu sein 



brauchen. Man kann es a priori nicht von ihnen ver- 
langen, dieses Allerselteuste, Seelengröße und innere 
Güte, ein Verzieh tenkönnen auf Vorteile zugunsten des 
Sittlichen, „Ein Gran Güte" vermißt Burckhardt an 
Napoleon. Aber das hindert ihn nicht , abschließend 
xu sagen: Große Männer, und es ist wichtig, was er 
hinzusetzt; „zumal in der Gestalt, wie sie idealisiert 
fortleben", haben einen großen Wert für die Welt und 
ihre Nationen. Sic halten einen hohen Maßstab der 
Dinge aulrecht, sie helfen i,um Wiederaufraffen aus 
zeitweiliger Erniedrigung. Napoleon, mit all dem Un- 
heil, welches er über die Franzosen gebracht, ist 
dennoch weit überwiegend ein unermeßlich wertvoller 
Besitz für sie. 

Burckhardt wäre kein Goethe -Jünger, wenn er an- 
ders dächte. 



Soviel also in Kürze über das Buch und den Inhalt 
der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", wie sie der 
treffliche Herausgeber, Profefsor Jakob Oeri, mit einem 
Vejlegexiheitstitel getauft hat. Einen anspruchsvolleren 
Titel wollte er nicht wählen, und gestehen wir, es ist 
auch sehr schwer, den passenden Titel zu finden. Je 
nachdem man mehr auf den körperlichen oder geistigen 
Ablauf des geschichtlichen Prozesses merkt, könnte man 
auf Titel geführt werden wie: Physiologie und Pathologie 
oder Psychologie der Geschichte oder auch Ästhetik, 
d. h, Formprhuipien der Geschichte. Burckhardt selbst 
hat damals seine Vorlesungen (die aber nie in der Voll- 
ständigkeit und Folge, die jetzt das Buch bietet, gehalten 
worden sind; die Vorrede enthält über die Zusammen- 
stellung- genaue Angaben) einfach: „Über Studium der 
Geschichte" betitelt und sie für Menschen aller Berufe, 
nicht für Fachhistoriker bestimmt, in der Meinung, daß 
geschichtliches Verstehen ein wichtiges Element jedes 
geistigen Lebens sei. 



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3. Burckhardt und die demokratische 

Gleichheitsidee 
nebst einem Exkurs über das Verhältnis Barckhardts 
zu Nietzsche 

Hinter den bedruckten Blättern des Buches reckt 
sich ein Unsichtbares, aber immer lebhafter als gegen- 
wärtig Gefühltes in die Höhe, derart, daß der Leser 
dieses Unsichtbare steigend als das sein Interesse Be- 
herrschende empfindet: der Mensch, die Persönlichkeit 
Jakob Burckhardt. 

Von seiner Methode der geschichtlichen Erkenntnis, 
und danach von dem, was er als „Methodik der Welt- 
geschichte" beobachtet zu haben und zu verstehen ge- 
glaubt hat, ist die Rede gewesen. So redlich wie 
irgend möglich hat er, um die Linien des ungeheuer 
rätselvollen Gewebes zu deuten, sich bemüht, ja eine 
reichliche Dosis Skeptizismus hin zu genommen, alles den 
Blick Trübende zu entfernen, sein Auge von allem Be- 
langenden rein zu halten. Dabei verstand Burckhardt 
nationale und patriotische Gefühle sehr wohl. Über 
Patriotismus hat er sehr ausdrucksvolle Worie: Es seien 
zwei Stufen, ein primitiver, da er unwillkürlich als Rassc- 
tugend erscheine, teilweise vom Haß gegen die gespeist, 
die nicht „Wir" sind; in abgeleiteten Kulturen aber in 
den gebildeten Geistern als Bedürfnis der Hingebung 
an ein Allgemeines, der Erhebung über die Selbstsucht 
des einzelnen und der Familie, soweit dieses Bedürfnis 
nicht von der Religion und von der Gesellschaft ab- 
sorbiert werde. Die Beispiele von Karthago, Numantia, 
Jerusalem zitiert er als Vorbilder der Menschheit in der 
einen großen Sache, daß man an das Gemeinsame alles 
setze, und daß das Einzelleben nicht der Güter Höchstes 
sei. All dies gab er zu; der Historiker und Künstler 
in ihm lehnte gleichwohl den Patriotismus ab. In 
seinem Erleben war die nationale Leidenschaft eine 
jugendliche Durchgangsphase gewesen, und die 
Zeiten, da er als Bonner Student ein altdeutsches 



Barett getragen und für Mutter Germania emp- 
funden hatte, waren lang- überwunden '). Burckhardt 
war Europäer geworden und nannte die national 
empfundene Geschichte mit einem überharten Aus- 
druck: Publizistik. 

All dieser Ablehnungen und Reservationen un- 
geachtet, wird man von einer so ausgesprochen künstle- 
rischen Persönlichkeit, die sich am wenigsten darüber 
lauschte, daß die Eikenntnis des Geschichtlichen auf 
bloß wissenschaftlichem Weg unerreichbar sei, erwarten, 
daß die Subjektivität an irgendeinem Punkt sich melden, 
und daö — seien wir offen — der Zauber des Persön- 
lichen trotz aller Versicherungen gegen „Erkenntnis- 
fehler" seinen Glanz und sein höheres Leben aus- 
strahlen werde. 

Von vornherein wird man geneigt sein anzunehmen, 
daß Burckhardt, der Kulturgcschichtschrciber, dem ganz 
freien Bereich der Kultur seine besondere Neigung zu- 
wende, und daß diese Vorliebe die Würdigung der 
„stabilen" Potenzen Staat und Religion beeinträchtigen 
möge. Alle Feinheit der Analyse politischer und reli- 
gionsgeschichtlicher Probleme steigert sich, wo sich sein 
Blick den freien Schöpfungen der Kultur, der Dichtung 
und Kunst, zuwendet, und wo das Individuum, frei von 
politischer oder metaphysischer Gebundenheit, seine be- 
sonderen Aufschwünge wagt. Was Goethe und Schiller 
als die „Freiheit des Partikiilters" über alles schätzten, 
ist in Burckhardt lebendig geblieben, und wenn Treitschke 
von Schiller sagt, er habe sehr wohl gewußt, daß die 
Siege Kants und Goethes schwerer wogen als die Lor- 
beeren von Marengo, so ist Burckhardt auf diesem 
Boden des deutschen Idealismus stehen geblieben, und 
hat den jähen Übergang zum Kult der Machtpolitik 



') Auch hier die unmittelbar von Goethe kommende Linie. Man 
Erinnere sich, was Goethe kart vor seinem Tode m Eckenninn über 
Dichter und Patriotismus Iganz im Ende des zweiten Teils der Ge- 
spräche} geäugt Int, vom freien Geist und der Kappe der Borniertheit 
und des blinden Ilisiei. „ Uer Dichter i^l dem Adler gleich, der mit 
freiem Blick Über Ländern ichwebt, und dem es gleichviel ist, ob der 
Hui, auf den er herabichicllt, in PreoBen oder in Sachsen läuft." 



und zur Materialisiert! ng unsrer Gefühle Dicht mitmachen 
mögen '). 

Der ungeheuere Abgrund, der sich zwischen der 
Geisteskultur der eisten Hälfte des 19, Jahrhunderts und 
dem wirlsch ältlichen Materialismus und der Machtkon- 
kurrenz der Nationen seitdem aufgetan hat, und dessen 
Überbrückung der Zukunft aufbehalten ist, behielt für 
Burckhardt etwas Schreckhaftes. Es gibt Figuren 
(Treitschke!), die mit kühnem Anlauf hinübersprangen. 
Aber in einer Zeit vorwiegender Überzeugung«- und 
Glaubenslosigkeit, wo das „Mitmachen" von allem und 
jedem als sei bstverständlich und zeitgemäß erscheint, 
bekommt die Zurückhaltung eines bedeutenden Geistes 
einen ehrwürdigen Zug. Als hätte er, durch mannig- 
fache Verfinsterung und Gleichgültigkeit hindurch, für 
ein kommendes Geschlecht, ein heiliges Feuer zu hüten, 
wenn denn einmal einer wann immer erscheinenden Zu- 
kunft die Sehnsucht sich erneue, an diesem Feuer ihre 
Fackeln zu entzünden! In den nächsten Jahren, nach- 
dem Burckhardt seine Betrachtungen geformt hatte, gab 
es bereits eine Anzahl erlauchter Unzufriedener, die in 
engem Kreis mit ihrer Enttäuschung über die Fanfaren 
des neuen Reichs nicht zurückhielten. Man muß deu 
Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und Erwin 
Rohde lesen oder Paul de Lagardes Schriften oder die 
Stimmung Burclchardts, die sich in den 70er Jahren mit 
steigender Antipathie gegen Deutschland erfüllte, kennen, 
um die Verdichtung Didier Urteile zu verstehen, von 
denen das große Publikum erst sehr viel später, 1890, 
erfuhr, als der Rembrandt-Deutsche jene Oppositionen 
und stillen Wünsche in den Satz zusammenschloß; Jena 
habe Deutschland mehr genützt als Sedan I ») Es gibt 



Besprechung der „Weltgeschichtlichen Betrachtung™" in der „Hirto- 
iiselieri Z;ilsc[,rjft" s;i;;t l Yk-diidi J.U-^n^f- seilt pri.'.is: „Die Schuir, 
des Kampfe* um Staat urj;l Knt.nn hat H-jrclharrll mein mit durchgemacht." 

*) Man hat diesen „Itcmbrandt als Erzieher" abwechselnd geprieien 
und beschimpft. Frans Overbeel: in Basel urteilte sofort treffend: „Ei 
iit ein bedeatendes Buch. Es stehen gewifl 1000 Wahrheiten darin, 
aher dann gewil) ebenso viele Dummheiten. " Seine Bedeutung als ge- 
scfeicbtllchca Symptom habe ich in meiner RcmbrandUnographie (Zweite 

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Zeiten, deren erleuchtete Köpfe von fern ein gelobtes 
Land sehen und aller Hoffnungen eich getrosten. Die 
letzten Jahrzehnte sind nicht derart gewesen. Vielleicht 
wird einmal die Geschichtschreibung von ihnen sagen, 
daß die unerhörte Entfaltung von Verkehr, Presse, Öffent- 
lichkeit jedes neugelegte Ei mit einem solchen Auf- 
wand von Gegacker, Lärm , Reklame umgeben und 
in bo viel Zeitlichkeit eingehüllt habe, daß mehr als 
einmal die Besten den Ausblick und den Glauben, daß 
vor lauter „Jetztzeit und Gegenwart" etwas Wertvolles 
werden könne, verloren haben. 

Burckhardt erschien seine Zeit als unmittelbare Fort- 
setzung der Periode, die mit 1789 einsetzte, untrennbar 
eins mit ihr, ein Zustand revolutionärer Zuckungen und 
Krisen, deren vulkanische Ausbrüche ihn außerstand 
setzten, abzuschätzen, wo etwa kostbares Neuland sich 
bilden möge. Als grundlegende Elemente der „modernen 
Kultur" betrachtet er zwei Autriebe, die Gleichheits- 
bestrebungen und die Machtbestrebungen. Wir fassen 
in diesem Abschnitt die erstgenannte Richtung ins Auge. 

Die Gleichheitsbcstrebungen haben politische, wirt- 
schaftliche, nationale Schranken niedergelegt; statt der 
Burgerrechte haben sie Menschenrechte gefordert; sie 
haben die moderne Demokratie hervorgebracht. Burck- 
hardt beurteilt sie nach ihren nächst sichtbaren Früchten. 
Die niedrigsten Formen des Begehrens, Erwerb und Ge- 
winnsucht, sind obenaufgekommen. Für dieses „mise- 
rable Terrain" von Besitz und Erwerb hat Burckhardt 
eine ähnliche Verachtung wie sie Gottfried Kellers letztem 
Roman Martin Salander die düstere Farbe gibt. In dieser 
Gesinnung stellt er sich England gegenüber, und dies 
ist die nun bereits historisch gewordene ältere Form der 
Antipathie gegen England, die der Ideologen, die Ab- 
neigung gegen das „Krämervolk", dessen Beispiel — 
Antipathien sind manchmal gute Propheten — auch uns 
zu Krämern machen werde Einer Gleichheitsbestrebung, 
die alle niederen Instinkte entfessele, steht Burckhardt 



Auflage, S. 13 — 19) tu di*r«kterisieren venncht. Der Rembrnndt- 
Deuliche nur vielleicht eine Mediokrität. Aber die historijehe Be- 
deutung sein« Buchet itt unverrückbar. 

20 



hoffnungslos gegenüber; denn sie tötet das Beste, was, 
unbeirrt durch Rechnung und Erfolg, aus dem Innern 
kommt In einer Zeit, wo die besseren Köpfe ins Ge- 
schäft gehen, seien alle höheren Antriebe gefährdet und 
vergiftet; die künstlerische und geistige Produktion greife 
zur Reklame. Geschäftsgeist und Ausstellungswesen hin- 
dern uns, lassen verlernen, daß man auf die Stimme des 
Inneren hört. Dennoch kann der Haupt entscheid der 
Zukunft nur aus dem Inneren der Menschheit hervor- 
gehen, „Irgendwo muß sich die menschliche Ungleich- 
heit wieder melden" l ). . "Nicht nur, wo das moderne 
Gle ichh ei tsbe dürfen Eich nackt materialistisch gibt und 
seine Gewinnanteile sucht, auch wo es sich mit Populari- 
sierung von Bildung und Kultur brüstet, erfährt es liurck- 
hardts Ablehnung. Er halt nichts von Allerweltskultur, 
und die modernen Großstädte, wo sich diese Allerwelts- 
kultur zentralisiert, sind ihm verhaßt. Schon wenn man 
seine Jugendbriefc aus Berlin und Paris liest, ist dieser 
Widerwille da, die Reaktion des selbstherrlichen Indi- 
viduums, das Großes und Ewiges sucht, gegen die-Vot 
dringlkhkeit des Tages, des Neuesten und seinen kin- 
dischen Lärm. Wenn man schwarz auf weiß bestätigt 
haben wi!I7 warum Burckhardt den Ruf an die Berliner 
Universität abgelehnt hat, und warum ihm diese so- 
genannten Herde moderner Kultur zuwider waren, so 
muß man seine Gegenüberstellung der modernen Groß- 
stadt mit einem freien geistigen Tau schp latz, wie er sich 
das alte Athen vorstellt, lesen (S. 135^128). Die Zeich- 
nung mag nicht ganz richtig sein, aber die Gesinnung 

') An tiner Stelle, wo 10m antiken und germanischen Polytheismus 
gesprochen wird, nnd wie sieb neben die Nnlnmrgouerang der Trieb 
der Koltorvergötterong derart Helle, daS sieb die Leichtigkeit des 
Üötler5chnlfcns ebenso achr aul Naturmhchte nie an! kultarachliUende 
Gestallen erstrecke, bringt Burclhaitll Beispiele >on Knlurgoiiern , die 
die uwiuehlfcbtn Tätigkeiten verklären, und verfolgt die Liste b» zu 
den Nolhellern dei Mittelalters, dem heiligen Georg, dem Soldaten- 
heiligen, und den Schrjtipulronen der Ante, dem heiligen Kosmas und 
Damian. Und dann schüret er mit der ironischen Frage : Wie würde \y 
der Olymp der heuligen Erwerbenden aussehe», wenn sie noch Heiden 
sein müßlcn?J Wenn man an die Mächte des Kursiettils und der 
SUatsgläubigeT, des Wettbewerbes, des lantercn und unlauteren, denk', 
kann man sieh im Sinne Bsirckhanll« AnUvurl stiller geben.' 



Burckhardts ist überaus deutlich '}. Was seine Ab- 
neigung begründet, ist die Künstlicbkeit der Großstadt, 
die Unfreiheit ihrer abgegrenzten Einzelsphären ohne 
freien Gesamtgeist, das Mitmachen anstandshalber, der 
Ranggeist, die Geselligkeit ohne innerliche Zusammen- 
gehörigkeit, ein Publikum, das in Wahrheit zu nichts 
Zeit hat, das unfähig ist, zu urteilen und also keinen 
Maßstab und keinen Stil erzeugen kann. Wo inmitten 
dieses ZuStandes nun gar der Einzelne sich zur Ver- 
zweiflung und Resignation des Spezialistentums flüchtet, 
empfindet dies Burckhardt als eine Barbarei roher Ge- 
sellen. 



Wie diese Ansichten vorgetragen werden, bilden sie 
eb historisches Dokument. Es ist die Stimme eines 
Predigers in der Wüste. Er bleibt dabei, daß das Bcsser- 
Icbenwollen Materialismus sei, und sein Mißtrauen gegen 
den „Genius" modernen Erwerbs dranges und Wohl- 
lebens läßt ihn einen Satz von vollendeter aristokratischer 
Härte niederschreiben : „Bildung als Menschenrecht ist 
ein verhülltes Begehren nach Wohlleben." 

Hier sind wir an dem Punkt unserer Betrachtungen 
angelangt, wo sich eine große Frage auftut, die Frage, 
wie man sich die Berührun g von ^ Burckhardt und 
Nietzsche zu denken habe! Wenn"~inan sich gegen 
die Demokratie und ihre durchschnittlichen Kulturerzeug" 
nissc , wie sie sich am sichtbarsten konzentriert und 
zentralisiert in der modernen Großstadt zeigen, dermaßen 
ablehnend verhält, so läuft man Gefahr, einein entgegen- 
gesetzten Radikalismus, einem aristokratischen, kurzum 
den Klippen derjenigen Gedanken bahnen zuzusteuern, 
die am geläufigsten mit dem Namen Nietzsches bezeichnet 
werden. Für unsere Geistesge schichte ist es wichtig, 
diese Möglichkeit zu beachten und die tatsächlichen 
Beziehungen zwischen Burckhardt und Nietzsche fest- 
zustellen. 



') Man sehe auch Kunde* Briuf an Piieltiche über Burckhardts lle- 
rafiiOE nnd die Anadriicke darin über Berlin. Nie Iis che - Briefe, Bd. II, 
S. 35a. Äufleruugen der gleichen Abneigung gegen London t. B. 
lirief an Aliotti 6. Aug. 1870; Unter Business und keine „Mafle, die 
Matter aller Kontemplation and des daher stammenden Aufschwunges". 
„Die kolossale Vcrscheufllichung des Stadtbild«". 




Vor laugen Jahren, als ich nach Burckhardts Tod in 
der Deutschen Rundschau 1898, Bd. XCIV, S. 374 ff., 
über Burckhardt das Wort nahm, hatte ich als Resultat 
längerer Überlegung: die Ansicht vertreten, daß Burck- 
hardt ganz andere Wege als Nietzsche gegangen sei. 
Doch aber lag mir am Herzen, nachträglich die Ansicht 
eines Mannes zu erforschen, dem als gemeinsamem 
Freund Burckhardts und Nietzsches die genaueste Kenntnis 
dieser Beziehungen zuzutrauen war, des Professors Franz 
Overbeck, des inzwischen verstorbenen Baseler Theo- 
logen. Er antwortete mir am 19. April 1S98 und be- 
kannte aus persönlicher Erfahrung „in Hinsicht auf das 
S. 382 f. Ihres Aufsatzes berührte Verhältnis zwischen 
Burckhardt und Nietzsche " sein „Einverständnis mit der 
Auseinandcrbaltung der Wege beider Manner, zu 
der Sie sich hier bewogen gesehen haben". Die in- 
zwischen gedruckten Erinnerungen Overbecks an Nietzsche 
— höchst eindrucksvoll und in jedem Wort grüblerisch 
überlegt, wie sie sind — bestätigen im einzelnen dieses 
Urteil mit einer fast übertriebenen Schärfe und berufen 
sich auf unmittelbare mündliche Aussagen Burckhardts, 
die „eindringlich waren und un miß versteh bar, wie Burck- 
hardt redete, wenn er reden wollte". Auf dieses Doppel- 
zeugnis hin könnte man also die Sache für erledigt 
halten, und es wäre überflüssig, darauf hinzuweisen, daß 
die Veröffentlichung der Nach! aß werke Burckhardts ganz 
und gar im Sinn jener Zeugnisse entscheidet. Seit die 
„Griechische Kulturgeschichte" mit ihrer schroffen Ab- 
weisung des antiken Übermenschentums gedruckt ist, seit 
die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", die Nietzsche 
als Vorlesung kennen gelernt hat, vorliegen, muß jeder 
Streit verstummen. Es ist klar, daß die Wege der bei- 
den Männer nicht dieselben waren. 

Dennoch liegt, sobald man das Verhältnis nicht im 
ganzen und nach seinem Ausgang, sondern in seinen 
einzelnen Phasen betrachtet, die Frage weniger einfach, 
und ich neige immermehr zu der Meinung, daß es bei 
Nietzsche doch keine Täuschung gewesen ist, wenn er 
an eine Gemeinsamkeit mit dem älteren Mann glaubte. 
An ein ernstliches p ersönliches Engagement ist hier- 
bei nicht zu denken; solche hat es bei dem älteren 

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Burckhardt wohl überhaupt nicht gegeben, Aber aus 
einer starken Erinnerung gemeinsamer Gesinnungen und 
Anschauungen muß es doch erklärt werden, daß Nietzsche 
bis zu allerletzt die Hoch Schätzung Burckliardts festhielt 
und noch in seiner letzten Schrift, die er vor dem Aus- 
bruch der Krankheit geschrieben hat, in der „Götzen- 
dämmerung", in der er vor nichts und gar nichts Hall 
macht, vor Jakob Burckhardt mit großem Respekt den 
Hut abzog. Wenn man die Schwierigkeiten entwirren 
will, muß man durchaus die ersten Baseler Jahre seit 
1867 von den späteren scheiden. Das eigene Zeugnis 
Burckhardts, auf das Overbeck sich beruft, gehört dem 
Jahr 1889 an und ist in dem Augenblick abgelegt, wo 
die Krankheit Nietzsches ausbrach, also zwanzig Jahre 
nach dem Beginn der persönlichen Beziehungen. Von 
hier aus fiel ein Schatten nach rückwärts, der Burckhardt 
zweifellos die Erinnerung an den harmloseren Verkehr 
mit Nietzsche in dessen ersten Baseler Jahren trüben 
mußte. Die Briefe aber, die zwischen 1874 und 1886 
gewechselt wurden, seit Nietzsche Basel verlassen hatte, 
und deren Anlaß jedesmal gegeben war, wenn ein neues 
Bach Nietssches als Geschenk zu Burckhardt kam, diese 
Briefe (jetzt zusammengedruckt im dritten Band der 
Nietzsche briefe) müssen aus unserer Untersuchung aus- 
geschaltet werden. Burckhardt hat sie mit offensicht- 
licher Überwindung geschrieben, die mit jeder neuen 
Zusendung Nietzsches peinlicher und gezwungener wird. 
Ganz anders wird die Ansicht des Verhältnisses , wenn 
man von dieser späteren Phase zu den Anfängen hin- 
über blickt. Gemeinsame Interessen zwischen dem neu- 
berufenen, ungewöhnlich begabten Ordinarius der allen 
Philologie und einem so erfahrenen Kenner und Lieb- 
haber griechischer Literatur und Kunst gab es genug. 
Burckhardt hörte sich die Antrittsvorlesung Nk't.oclurs 
an; dieser ging zu jenem ins Kolleg. Bald berichtet 
Nietzsche von einer „herzlichen Annäherung zwischen 
Burckhardt und mir". Oft wiederholt worden ist die 
Erzählung aus dem Mai 1871, da die Kommune in Paris 
herrschte, und auf die falsche Nachricht von der Zer- 
störung des Louvremiiseums die beiden Männer instinktiv 
zueinander geführt wurden, um den unsäglichen Kultnr- 

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veilust und alle tiefen Probleme menschlichen Geschicks 
zu bereden. Gern würde man die Gelegenheit suchen, 
in das Tägliche und Augenblickliche dieses Verkehrs 
hineinzusehen , wovon die Nietzschebiographie ja nur 
kürnm er liehe Bruchstücke bewahrt hat , und sn liegt 
es nahe, anderweit Ausschau zu halten , um sich 
Ar' und Grad dieser denkwürdigen Beziehungen klar 
zu machen. 

Ein solcher Versuch ist nicht vergeblich, und wenn 
wir es an dieser Stelle unterlassen, eine systematische 
Analyse der Werke mit Rücksicht auf etwaigen gemein- 
samen Gedankengehalt zu geben, so »erden ein paar 
Zitate aus dem späteren Hauptwerk Nietzsches, dem 
„ Zarathustra", vollkommen deutlich zeigen, mit welchem 
Erfolg in der angegebenen Richtung geschürft werden 
mag. Ich fange mit Kleinigkeiten und Spuren äußer- 
licher Entlehnung an und bringe danach auffälligere Be- 
rührungen. 



Im zweiten Teil des „Zarathustra" im Abschnitt von 
den Erhabenen (den pessimistischen Erkennern): „Noch 
lernte er das Lachen nicht und die Schönheit. Finster 
kam dieser Jäger zurück aus dem Wald der Erkenntnis. 
Vom Kampf kehrt er heim mit wilden Tieren : aber 
aus seinem Ernste blickt auch noch ein wildes Tier — 
ein unüberwundenes!... Den Arm über das Haupt ge- 
legt: so sollte der Held ausruhen, so sollte er auch 
noch sein Ausruhen überwinden." „Den Arm über das 
Haupt gelegt ausruhen", das ist z. B. die Haltung des 
Apollino in den Uffizicn von Florenz, eine als Aus- 
druck der Ruhe uns fremde Geste. Wie oft habe ich 
Burckhardt in der Vorlesung über griechische Plastik 
das charakteristisch Griechische dieses Motivs betonen 
hören! 

Im dritten Teil das prachtvolle Kapitel: die Heim- 
kehr. „Aber da unten, da redet alles, da wird alles 
überhört. Man mag seine Weisheit mit Glocken ein- 
läuten: die Krämer auf den Markt werden sie mit 
Pfennigen überklingeln I Alles bei ihnen redet, niemand 



weiß mehr zu verstellen. Alles fällt ins Wasser, nichts 
lallt mehr in tiefe Brunnen... Alles bei ihnen redet, 
alles wird zerredet. Und was gestern noch zu hart war 
für die Zeit selber und ihren Zahn, heute hängt es zer- 
schabt und zernagt aus den Mäulern der Heutigen. 
Alles bei ihnen redet, alles wird verraten. Und was 
einst Geheimnis hieß und Heimlichkeit tiefer Seelen, 
heute gehört es den Gassentrompetern und andern 
Schmetterlingen . . .". Alles das sind oft wiederholte 
Lieblingsgedanken Burckhardts, und sogar die Prägung 
der Worte stimmt. Das „ Zerschwatz.cn" des heimlich 
Gewachsenen durch Reflexion, Räsonnement, Ästhetik, 
durch Theorie und Kiitik ist eine seiner starken Anti- 
pathien. Zumal von der griechischen Kunst Eat er 
gern gesagt, es sei ihr Vorteil und eine der Ursachen 
ihrer Langlebigkeit gewesen , daß sie nicht wie die 
Literatur „zerschwatzt" worden sei. 

Im zweiten Teil: von großen Ereignissen. „Freiheit 
brüllt ihr alle am liebsten : aber ich verlernte den Glauben 
an ,, große Ereignisse", sobald viel Gebrüll und Rauch 
um sie herum ist. Und glaube mir nur, Freund Höllen- 
lärm! Die größten Ereignisse - — das sind nicht unsre 
lautesten, sondern unsre stillsten Stunden . . . Und gesteh 
es nurl Wenig war immer nur geschchn, wenn dein 
Lärm und Rauch, sich verzog. Was liegt daran, daß 
eine Stadt zur Mumie wurde, und eine Bildsaule im 
Schlamme liegt! ... Im Schlamme eurer Verachtung 
lag die Bildsäule: aber das ist gerade ihr Gesetz, daß 
ihr aus der Verachtung wieder Leben und lebende 
Schönheit wächst! sie wird euch noch Dank sagen, 
daß ihr sie umstürztet, ihr Umstürzler! Diesen Rat 
aber rate ich Königen und Kirchen und Allem, 
was alters- und tugendschwach ist — laßt euch nur 
umstürzen!" 

Im ersten Teil die Kapitel: von neuen Götzen und 
von den Fliegen des Marktes. „Staat heißt das kälteste 
aller kalten Ungeheuer . . . viel zu viele werden geboren : 
Jür die Überflüssigen ward der Staat erfunden! . . . Seht 
mir doch diese Uberflüssigen! Reichtümer erwerben 
sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und 
zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld — diese 

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Unvermögenden! Seht sie klettern, diese geschwinden 
Aßen... Wo der Markt beginnt, da beginnt auch der 
Lärm ttcr großen Schauspieler und das Geschwirr der 
giftigen Fliegen usw." Hier klingt einfach alles an und 
tönt nach, was auch Burckhaidt über das Verhältnis 
des Äufleren zum Inneren, was sein konservativer Sinn 
über Krisen und Revolutionen, was er über Staat und 
Erwerbsucht und Streberei, über Großstädte und Reklame 
gedacht bat. Und nun muß man sich etwa eine Stelle 
in Bnrckbardts Vorlesungen wie die über die Notwendig- 
keit des Bosen und der Bösen in der Weltjergegeri- 
wärtigen _ und sich vorstellen, wie Nietzsche dabei die 
Öhren"" gespitzt hat; 

„Es wäre ein unerträglicher Anblick, wenn infolge konse- 
quenter Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen hie- 
nieden die Bosen sich alle aus Zweckmässigkeit anfiugen, 
gut aufzuführen ; denn unvermeidlich vorhanden und innerlich 
böse wären sie ja doch. Man könnte in die Stimmung 
kommen, den Himmel wieder um einige Straflosigkeit der 
(lösen auf Erden in bitten, nur damit dieselben wenigstens 
ihre wahren ZUge wieder an den Tag legten. Es ist schon 
so Verstellung genug in der Welt." 

Nietzsche mochte denken, es sei lediglich Alter und 
Temperament, was Burckhardt zurückhielt, mehr zu 
sagen, und so „biege er ab, wo die Sache an das 
Bedenkliche streife". In der Tat war Burckhardt in 
dem Wunsch, seine Kreise nicht gestört zu sehen, über- 
ängstlich. Er wollte nicht vorgenommen , nicht beim 
Wort genommen werden, und so war es eine Art Feig- 
heit, die ihn in Fragen der Gegenwart, in sachlichen 
wie Personenfragen, zurückhielt, Partei zu ergreifen 
(Pusillanimilät ist das Wort, das Overbeck gebraucht). 
Stellt man diese Faktoren in Rechnung, so hat man die 
Erklärung, was bei aller Zurückhaltung dem Verkehr 
der beiden Männer auf Jahre hinaus Wärme und gegen- 
seitiges Wohlgefallen gab. Ein Boden gemeinsamer 
Gedanken und Wünsche war vorhanden. Und damit 
man nicht glaube, lediglich Burckhardt sei der Anregende 
und Gebende gewesen, so sei hier mit einer Vermutung 
nicht zurückgehalten, die ich bis zu besserer Belehrung 

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t hege. Ich glaube, daß Nietzsche es war, der Burckhardt 
dazu gebracht hat, sich mit Schopenhauer einzulassen. 

' Von selbst hat Burckhardt sicher nicht zu den Werken 
des Philosophen gegriffen. Da wird es Nietzsche, der 
uro 1870 noch ganz auf dem Boden Schopenhauers 
stand, gewesen sein, der Hurckhardt in diesen Interessen- 
kreis hineinzog. Eine Bekanntschaft, die für Burckhardt 
manches bedeutete. Irre ich nicht, eo haben sich einige 
Grundgedanken der „Griechischen Kulturgeschichte", 

1 die In den siebenziger Jahren zusammenwuchs, an dem 
Verkehr mit Schopenh auerscher Philosophie irientiert 
und formuliert '). 

Es ist, wie gesagt, nicht unwichtig, Aufklärung über 
diese Berührungen zu suchen , und man soll sich das 
Verhältnis Burckhaidts zu Nietzsche unter dem Gesichts- 
winkel seines Ausgangs nicht allzu klar und einheitlich 
vorstellen. Aber soviel ist sicher: an einem gewissen 
Punkt, wann dies nun war, stießen sie an die Grenze 
der Gemeinsamkeit. Burckhardt stand anders zum 
Christentum ; Burckhardt stand anders zur Moral *j) Man 
kann es mit einem WorTzusammenschlieiien : Burckhardt 
stand anders als Nietzsche zur Übe rliefer ung. Das 
Glücksgefühl des ganz freien Atemholens , "w^enn man 
Brücken hinter sich abgebrochen und Schiffe hinter eich 
verbrannt hat, war ihm fremd. Er liebte weder die 
Radikalen noch die radikalen Lösungen. Davon wird 
nachher zu sprechen sein. 



*) Man sehe meinen Aufsatz über BurckhurJIs „Griechische Knllui- 
guebichte". „IlislorischeZeitschrift". NeneFolge. Bd. 40, S. 425. 1900. 

*) Hier wäre doch auf den Brief BurcthardU vom 26. September 
1886 in verweisen, worin er sieh bei Nietucbe für die Ztuend-ing ton. 
„Jenseits von Gut und Bös" hedsnkt (Nietzsche-Briefe, Ild. III, S. 188 IT.). 
In seinem Btjjk'itlintf li.iite NLclisdic B. lidii'lii-licn ui:d -duvcij'- 
Esjncn" Gesinnungsgenossen in Anspruch genommen. BnrofclianU dhll 
'int i>.-™e l.E«tt voii liticreiriütimnianficn und ünn „Verbindlichem" auf. 

die Sprache war. Über du mpralische Hauptproblem, m Mictadie 
sich ein Echo erwartet, schweigt Barclihardt. 



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4- Burckhardt und die Machtpolitik 



('Den Charakter der gegenwärtigen Zeit bestimmen 
nach Burckhardt die Entfaltung und Vorherrschaft der 
Gleichheitsbestrebungen und des Machtwillens der 
Staaten nnd Nationen, Von diesen beiden Kräften hält 
er" die Gleichhcitsbestrebungen der Demokratie für die 
stärkere; daher sein Urteil, daß, historisch genommen, 
Rousseaus „Contrat social" ein wichtigeres Ereignis ge- 
wesen sei als der Siebenjährige Krieg} Für unsere Ge- 
wöhnung und unsre Instinkte ist hier vielleicht Burckhardt 
am meisten befremdend. Wenn wir die zeitgenössische 
deutsche Geschichtschreibung auf den Bahnen Rankes 
wie Treitschkes die Machtbestrebungen der Nationen als 
zugestandenes Hanptobjekt des gesell ichtlichen Lebens 
und der Gcschichtschreibung behandeln nnd ihr das 
Pathos ihres Vortrags entnehmen sehen, so hat sich 
Burckhardt dieses Pathos und jedes Pathos kühl vom 
Leib gehalten. Im dritten Band semer „Griechischen 
Kulturgeschichte", wo er von der Philosophie des 
Epikur spricht, liest man: Den Luxus der Rhetorik 
konnte er verschmähen, weil er im Unterschied von 
den Stoikern, bei denen immer das Postulat 
vordröhnt, kein Pathos hatte. Das ist sehr Burck- 
liardtiscb gesagt. Die Abwesenheit dieses ,, vor- 
dröhnenden Pathos" ist eine seiner charakteristischen 

.Wohl findet man ihn auf Wegen der Überlegung 
wie diese: Nur an einem durch Macht gesichelten Da- 
sein entwickeln sich die wichtigsten materiellen und 
geistigen Besitztümer der Nationen. Machl Verschiebungen 
kann eine große Erneuerung des nationalen Lebens ent- 
sprechen. Ja in Gestalt einer Hoffnung und Ahnung 
begegnet der Ausspruch : Wer die Macht will und wer 
die Kultur will, vielleicht sind beide blinde Werkzeuge 
eines dritten, noch Unbekannten ..,! Dennoch bleibt 
als Grundton, daß die Kultur von der Macht nichts zu 
erwarten habe, und es wird eine Psychologie der Macht 
gegeben, die zwar an Karikatur streift, aber voll tiefer 

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Beobachtung steckt Macht sei Gier, die sich und andre 
nur unglücklich machen könne. Mächtige Regierungen 
haben einen natürlichen Widerwillen gegen das Geniale; 
denn alles müsse nach der „Brauchbarkeit" gehen. 
(Wobei einem der Ausspruch eines ehemaligen süd- 
deutschen Ministers einfallen kann, mit zunehmendem 
Alter werde man immer dümmer und immer „brauch- 
barer" für den Staatsdienst.) Vor allem aber wie ein 
Refrain: Macht und Staatseinheit halten für Kultur kein 
Interesse; nur „Pfiffici" meinten, sie könnten dem ge- 
eintsten Staat ihr Kulturprogramm vorschreiben. Die 
großen Dynastien schreiben sich, gestützt auf ihren 
Militarismus und ihre Büreaukratie, selbst das Programm 
und lassen es sich nicht von unten, von der Kultur 
diktieren. Sie werden auch mit der Konkurrenz der 
demokratischen Bewegung fertig, und in diesem Sinne 
nenntßurckhardt den Krieg von 1866 eine ,, abgeschnittene 
Krisis ersten Rangs", in der sich die nationale Frage 
als die fraglos mächtigere gegenüber der konstitutionellen 
erwiesen habe , wonach die Macht ganz systematisch 
nach innen und außen van obe:) her organisiert, werden 
konnte. Merkwürdig bleibt es ja, däß rJurckhardt , der 
für alle gestaltende Form so fein mitschwingende Organe 
besaß, der gegenüber dem gleichsam wild gewachsenen 
mittelalterlichen Staat in einem bekannten Kapitel seiner 
Kultur der Renaissance den „Staat als Kunstwerk" 
analysierte, mit seinem Forminteresse angesichts des 
staatlichen Formtriebs versagte. Es war die Angst vor 
dem Mißbrauch staatlicher h.inheit und Macht, die ihn 
auf dem Standpunkt Willielm von Humboldts beharren 
hieß. Trocken wird der Staat als Notinstitut abgefertigt, 
dem man nicht zuschieben solle, was der Freiheit und 
was der Gesellschaft gehöre. Daß der Staat direkt das 
Sittliche verwirklichen solle, wird als Ausartung und 
philosophisch -büreankratische Überhebung bezeichnet. 
Bei der Doppclantipathic Hurckhardls gegen demo- 
kratische Gleichheit, wirtschaftlichen Materialismus und 
gegen Staatsmacht drängt sich als unheimlichste Ahnung 
die Anziehungskraft auf, die er zwischen den demo- 
kratischen und den dynastischen Kräften herausspürt. 
Er sieht diese Verbindung kommen, und hätte er es 

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erlebt, es würde ihn nicht verwundert haben, Monarchen 
sich als Geschäftsführer der riesigen kommerziellen und 
industriellen Expansion ihres Landes selber einstellen, 
ja den Wunsch militärischer und maritimer Machtsteige- 
rung als nationale Notwendigkeit durch das Motiv des 
Schutzes des Wirtschaftslebens plausibel machen zu 
sehen. Die amerikanische Demokratie, als Imperialismus 
mobil gemacht, der in der Konsequenz der gleichen 
Richtung liegt, hat Buickbardt nicht ahnen können ; 
auch die Neu, Idealisierung" der Macht als Organisierung 
der Kasse, den Erfolg dieser Theorien und Stimmungen 
und ihren wahrscheinlichen Einfluß auf künftige Ge- 
staltungen hat Burckhardt nicht mehr erlebt Das 
aber, was er sah und voraussah, machte ihn hofinungs- 
arm. Den hochmüiigen Optimismus des französischen 
Revoluttonsieitalters findet er unüberwunden , ja ge- 1 
steigert in den vereinigten Kräften des Erwerbs- und 
Machtwillens lebendig. Die moderne „Kultur" wiegt 
bei Burckhardt nicht als Kultur; daß sie sich das leichte 
Gcldvcrdiencn als Fortschritt und gar als sittliche 
Superiorität gutschreibe, erregt seinen Spott, und fragend 
sieht er sich um. von wo der Umschlag und die Er- 
neuerung des Lebens kommen könne. 

Diese politischen Meinungen hangen aufs engste mit 
Burckhardts historischen Erfahrungen und Urteilen zu- 
sammen. Jeder Despotismus flößt ihm Grauen ein; er 
nennt Ludwig XIV. ein mehr mongolisches als abend- 
ländisches Ungetüm und kann die Kunst des grand 
sicclc, als aus Unfreiheit erzeugt, nicht hoch bewerten. 
Von Zwangsgewalt, Machtgebrauch und Machtmißbrauch 
des Staates hat ihm die Geschichte die stärksten Ein- 
drücke beigebracht, zumal wo es sich um erfolgreiches 
Eingreifen in die religiösen Bereiche handelt. ,.Für 
einc Religion", wird einmal angemerkt, „ist die geistige 
Abwendung einzelner Kategorien der Btivolkeruiig (sei 
es als Sekte, sei es als gebildete reflektierende SoüictäU 
belanglos. Die gebildeten Stände, die durch Kuliur- 



') Lasauti teilt sich in seinem rotnrcrwähnlen Bucht: von l8}6 
mehrfach mit Gobineao auseinander. Burckhardt hat du ignorier). 

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einflüsse der herrsch enden Religion entzogen sind, 
kehren wohl wieder zu ihr zurück oder arrangieren sich 
wieder mit ihr aus Klugheitsrücksichten". Dagegen vor 
dem Eingreifender Staatsgewalt, wenn sie konse- 
quent gehandhabt wird, unterliegen alle Religionen. 
Ohne die Kaisergesetzgebung von Konstantin bis auf 
Theodosius würde die römisch- griechische Religion noch 
bis heute leben. Dieselbe furchtbare Macht des welt- 
lichen Arms wird genugsam durch das Schicksal der 
Reformation und die Gegenreformation erwiesen. Alles, 
was Burckhardt vom Staat historisch erlebt hat und be- 
argwöhnt, wird doppelt von Religion und Kirchen in 
dem Fall befürchtet, wo sie versteinernd ein heiliges 
Recht über die ganze Kultur breiten. Hierfür ist ihm 
der Islam das eigentliche Paradigma, eine furchtbar kurze 
und trostlos einfache Religion, die bei grenzenloser Be- 
schränktheit ihren Hekenncrn einen ,, diabolischen" Hoch- 
mut des Besserseins einzuflößen vermag. In dem ganzen 
ungeheueren Bereich islamischer Welt findet sich außer 
bei Derwisch und Sufi kein Raum für Freiheit gelassen. 
Burckhardt war — und ich kann hier das Buch aus dem 
persönlichen Eindruck seiner Vorlesungen ergänzen — 
von den wenigen deutschen Professoren, denen man 
gern ein Recht, so zu urteilen, zugestand. "Denn Uberall 
hatte er die Quellen, wenn auch nur in Übersetzung, 
gelesen und war selbst in der Geschichte von Byzanz 
und dem Islam bis in die Einzelheiten der Sektengeschichte 
und der Literatur hinein in einer Weise beschlagen, 
wovon andere, profan- wie kirchengeschichtliche Vor- 
lesungen, dergleichen man bei uns gewöhnt war, himmel- 
weit abstachen. Kompendien Weisheit teilte Burckhardt 
nicht aus. Alles war aus der unmittelbaren Überlieferung 
geschöpft Über nichts habe ich ihn so wegwerfend 
urteilen hören wie über den Koran; es sei ein elendes 
und ganz und gar langweiliges Buch, in dem es un- 
möglich sei, drei Seiten hintereinander zu lesen. (Ich 
habe späier die Probe gemacht und muß sagen, die 
Monotonie ist doch nicht der zulässige Maßstab. Was 
wäre die Bibel, wenn sie nur aus den Propheten und 
Episteln, also allein aus Predigten, bestünde, und wenn 
die historischen Partien Alten und Neuen Testamentes 

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weggeschnitten würden!) Dieses Urteil weist auf den 
Punkt, an dem Burckhardts Empfinden aufs leidenschaft- 
lichste reagierte. Am Grab aller individuellen Kultur 
sah er nur die vollkommene Hoffnungslosigkeit. „Wer 
die Moslemin nicht ausrotten kann oder will, läßt sie 
am besten in Ruhe" '). 

Solange Burckhardt eine legendarische Persönlichkeit 
war — und das blieb er eigenüich bei seinen Leb- 
zeiten — , konnte man als eine seiner Sonderbarkeiten 
erzählen hören, daß er, obwohl Basler, dem Protestantis- 
mus abgeneigt, dem Katholizismus aber als einer kunst- 
freundlichen Religion wohlgesinnt gewesen, derart, daÜ 
das ästhetische Verhalten in seinem Wesen den Aus- 
schlag gegeben habe. Nun man Burckhardt immer deut- 
licher kennen lernt, werden jene Aussagen auf ihr ge- 
höriges Maß zurückgeführt, wenn nicht überhaupt als 
völlige Irrtümer erwiesen. Man wundert sich fast, das 
Staalskirchcntum der Reformation so unbefangen von ihm 
gewürdigt zu sehen. Indem er in der Anlehnung an die 
Staatsgewalt eine notwendige Defensive und Rüstung zur 
Erhaltung eines sonst gefährdeten Kernes erblickt, be- 
weist er genugsam realpoliiischen Sinn, um nicht mit so 
manchen kläglichen Besserwissern Lulhern anzuklagen, 
daß er seinen Protestantismus „verdorben" habe 5 ). Die 
Urteile über den Katholizismus lauten verschieden, je 
nachdem er Religion oder Kirche ins Auge faßt. Die 
wechselnden Beziehungen zur Kultur werden fein und 
fast liebevoll beobachtet. Die Hierarchie aber, die er 
als solche fast „religionslos" nennt und die Kirche als 
polnisches Macht- und Polizeiinstitut mit der fixen Idee 



') Wir haben hier den Einielall einer sehr starken Diffcreni mit 
Goethe, der, wie seine mannigfachen Zeugnisse erkennen lassen, eine 
grolle Hocbachtnng vor dem Islam besaß 

*) Außerhalb seines Gesichtsfeldes lagen die Mächte des pratestan- 
j [hdivLil.uiliMr.us urA ihn: iicuirilin;^ in helles Licht gerückten 

r'nLersjchuT^t-n «:):: Mai Weber, [lie protestantisch? Ethik um] de; 
Geilt des Kapitilistons im 10. nnd II, Band des „Archivs für Sotiid- 
(•iwnuctmft" nnd Ernst Tröltsch, Die Bedentang des Protestantis- 
mus für die Entstehung der modernen Welt. München, Oldenbourg. 
1906. Desselben Verfassers Soziellehren der christlichen Kirchen und 
Gruppen. 19 11. 



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der Einheit, wertet er wie den staatlichen Despotismus, 
ja wegen des offensichtlichen Wesenswiderspruchee noch 
ungiinsiis>er. Kein Gregor VII., kein Innocenz III. und 
Sankt Bernhard findet vor ihm Gnade. Hierin ist Burck- 
hardt von Anfang an entschieden gewesen, wovon man 
sich bereits in seinem ersten großen Buch, im Kon- 
stantin (1853) bei der Beurteilung des Athanasius über- 
zeugen kann (ebenda S. 243 das echt Burckhardtsclie 
Urteil über Hierarchen), den sogar Gibbon in freierer 
Bewunderung zu feiern über sich gewann. Das Vatika- 
num von 1870 ist Burckhardt „un versländlich und 
dunkel ", eine unermeßliche Erschwerung der ganzen. 
Stellung des Katholizismus in der Welt. Seitdem sei 
sowohl für den Staat wie für die Kirche nur noch ein 
Ausweg: Trennung der Kirche vom Staat, eine Wohltat 
für den Staat, wenn er die „Komplizität zweier Kon- 
servatismen" auflöse, die dem Staat längst eine Ver- 
legenheit geworden ist. Eine Wohltat für die Kirche, 
wenn sie sich wieder mehr auf ihre inneren Kräfte 
verlasse und, statt beim Staat vor Anker zu liegen, 
schwimmen lerne, um wieder Element und Beleg der 
Freiheit zu werden. 

Man siebt, was so vielen unter uns die Gemüter er- 
regt und die Phantasie erfüllt, der Machtnimbus, sei es 
als nationale Größe, sei es als kirchenpolitische Kraft, 
er hatte über Burckhardt keine Gewalt, er stritt wider 
seine tiefsten Einsichten und Überzeugungen, er Stieß 
auf sein unausrottbares Mißtrauen, und dieses Mißtrauen 
verdichtet und erklärt sich mit dem Urteil: Die Macht 
ist an sich böse. 



5. Burckhardt der Moralist 

Die konservative Moral Burckhardts, seine moralische 
„Borniertheit" wird bei dem Verfasser der „Kultur der 
Renaissance" vielen, wenn nicht allen etwas Überraschen- 
des sein. Als radikaler Individualist galt er nicht nur 
Nietzsche, sondern aller Welt. Im November 1879 
schreibt Gottfried Keller in einem Briefe (Bächtold, 



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Gottfried Kellers Leben, Bd. III, S. 427): „Ich habe 
neulich wieder Jakob Rurckhardts .Kultur der Renais- 
sance' durchgelesen und aus seinem homogenen Geiste 
ein Heimweh nach jener Welt davon getragen, die frei- 
lich nicht die unselige ist." Dieser der Renaissance an- 
geblich „homogene" Geist ist Burckhardt nicht gewesen; 
ein „Prediger" der Renaissance ist er nicht gewesen; 
er war im Herzen .ein Antimacchiavellist, genau wie 
Christoph Friedrich Schlosser. Sein Buch" war rein 
ästhetisch -historisch gemeint und enthielt sich, die Dinge 
vom sittlichen Standpunkte zu bewerten. Aber aus 
diesem Schweigen zu schließen, es sei eine Art Evan- 
gelium bestimmter Inhalte nnd Vorbilder, wäre der größte 
Irrtum 1 ). Der Unterschied zwischen der „Kultur der 
Renaissance" von 1860 und der „Griechischen Kultur- 
geschichte" von 1880 ist lediglich , daß später die 
Zurückhaltung des Moralisten aufgegeben worden ist. 
Über Burckhardts wahre Gesinnung ist kein Zweifel 
möglich, seit die „ Griechische Kulturgeschichte " 
und seit die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" ge- 
druckt sind. 

Man kann eine Art Probe darauf machen, wenn man 
die Würdigung des Mittelalters bei den Männern der 
Renaissance und bei Burckhardt vergleicht. Dort die 
schärfste Ablehnung und Verachtung, ein übertrieben 
feindseliges Gefühl von Partei- und Epochengegensaiz; 
bei ihm ist das offenste Verständnis für das „Individuelle" 
und Freie im Mittelalter. Umrungen von allen Gefahren 
ungesicherten Daseins (von der mangelnden „Sekurkät" 
war schon zuerst die Rede), habe es der Nachwelt ein 
wertvolles Eibe von Unabhängigkeit überliefeit; durch 
die verschlungcnstcn Sonderbarkeiten des Lehenswesens, 
durch alle M ach tz erst ückung- und Unbchil flieh keit des 
mittelalterlichen Staates atme die Möglichkeit, Tugenden 
und Untugenden und echte Freiheit zu entwickeln. In 



') Soweit ich vreiü . hat tli» noch niemand augeiprochen. Auflo- 
dern »entorbenen Carl Juli in Bonn, der in seinem Buche Uber 
„Michelangelo" (S. 194), wo er sich mit den Auilssmnyen von Burck- 
hirdti „Cicerone" auseinandersetzt , das Richtige Tellig deutlich ge- 
sehen hat. (1907 geschrieben.) 

3* 

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der reichen und zusammengesetzten Persönlichkeit Burck- 
hardts war ein gutes Stück mittelalterlichen Erbes. Er 
war geborener und überzeugter Anhänger und Partei- 
gänger des Kleinstaates; er besaß dessen Fanatismus, 
und als Baseler widmete er dem Züricher einen Haß, 
der kein anderer war als der mittelalterliche Kommunal- 
haß italienischer Prägung, wie er in agonaler Neben- 
buhlerschaft Mailand und Lodi, Florenz und Siena zerriß. 
Kleinstaaterei ist Mittelalter, und Burckhardt war über- 
zeugt, daß der Kleinstaat als Verwirklich er der Freiheit 
ideell die Vorteile des Großstaates samt dessen Macht 
aufwiege. Vielleicht würde man seinem Empfinden nahe 
kommen, wenn man sein Interesse für Renaissance als 
Neigung für dasjenige Mittelalter bezeichnen würde, das 
aus der Scheu und Bevormundung der Hierarchie heraus- 
gewachsen war. Dann würde sich die sonst verwunder- 
liche Verteilung, daß er so ganz mittelalterliche Figuren 
wie Dante und Bokkaz seiner Renaissance zurechnet, in 
einen Streit um Worte auflösen. Für seine historische 
Vorstellung gab es keine treffendere Analogie der Re- 
naissance als die Epoche der antiken Welt, da die alten, 
furchtbaren Zwangsmächte zusammenbrachen und den 
individuellen Kräften Raum gaben. Nicht wie in unserm 
Mittelalter war es dort die Religion und Kirche, deren 
Macht im Wege stand: die heidnische Religion war eine 
Laienrcligion, die geringen Widerstand leistete; sie hatte 
keine Priester und Dogmen. Wohl aber war es die 
staatliche Zwangs an stalt, die Polis, die zerbrechen mußte, 
und nun muß man die Schilderung im dritten Band der 
,, Griechischen Kulturgeschichte" oder in den „Welt- 
geschichtlichen Betrachtungen" lesen, wie die Poesie als 
Erzieherin den antiken Menschen entließ, damit ihn die 
Philosophie in Empfang nehme und zu Monotheismus, 
Atheismus, Pantheismus führe. 

. Einen Punkt gab es aber, über den Burckhardt all 

seine Neigung für die antike Blüte und für die italienische 
\ Renaissance nicht hinausbrachte: Er hielt die aller- 

starksten ethischen Vorbehalte aufrecht. Der „Heide" 
, oder „Renaissancemensch" ist er nicht gewesen. Hier 
; trennten sich seine Wege deutlich nicht nur von denen 

.Nietzsches: so weit hätte er gar nicht zu gehen brauchen. 

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Wenn er gewollt, hätte er den unbefangenen, gegenüber 
der Moral laxen politischen Standpunkt in der zeitgenös- 
sischen deutschen Geschichtschreibung finden können. 
Die an Ranke anschließende Historie ist zum mindesten 
nicht sittenrichterlich gestimmt, und in unserer historisch- 
politischen Lehre ist die Unterscheidung von zwei Mo- 
ralen und die Dispensation vom gewöhnlichen Sitten- 
Gesetz im Staats- und Allgemein Interesse ein geläufiger 
Grundsalz geworden. Sic ist es in jeder Politik der Welt, 
wenn man sich durch die beliebten Bemäntelungen nicht 
täuschen lassen will. Treitschke zitierte in seinen Vor- 
lesungen über Politik mit Vorliebe und herzlicher Zu- 
stimmung, wenn er auf die Doppelzüngigkeit des Grafen 
Cavour zu sprechen kam , dessen Rede : „ Mag mein 
Name, mag meine Ehre zugrunde gehen, wenn nur Italien 
einig wird ! " Man. pflegt dieses Verhalten als einen 
Fortschritt gegenüber Schlossers sittlicher Enge und 
Moralpedanterie zu verzeichnen, und so könnte vermutet 
werden, Burckhardt sei einfach auf dem Schlos-errchcn 
Standpunkt stehen geblieben und habe als kleiner 
Schweizer nicht mitkommen können, wo wir Deutsche 
von den hochgehenden Wogen des modernen nationalen 
Lebens in die Höhe getragen worden seien. Jener 
energische Ausspruch Burckhardts: die Macht ist an sich 
böse, ist ein Zitat aus Schlosser. Hier fand sich der 
angebliche Parteigänger der italienischen Renaissance 
mit dem Antimacchiavellismus Schlossers auf gemein- 
samem Boden. Es sind solcher Berührungen noch mehr 
als eine. Was Schlosser in seiner „Geschichte des 
18. Jahrhunderts" vom Herzog von Marlborough sagt, 
er habe das Verderben der neueren Zivilisation, den 
Papierhandel, über Europa gebracht und die Geldmacht 
gegründet, die mit den niedrigsten Triebfedern alles 
Hohe bekämpfe und in Verbindung mit der rohen, be- 
zahlten Gewalt die neuere Menschheit in unauflösliche 
Fesseln schlage — das* ist auch ein Stück Burckhardt- 
scher Abneigung und Kritik seiner Zeit geblieben. ... Aber 
die Unterschiede gegen Sclilossei sind doch ebenso 
groß. In Schlosser kaTTTuTe bürgerliche Opposition gegen 
die'TJesinnung der Höfe und Fürsten nicht ohne einen 
Beigeschmack von Rachsucht zum Wort, Das „viel- 



gequälte Bürgertum", wie es einmal Erich Mareks be- 
zeichnet hat, findet in ihm seinen Propheten. Daher 
Beine Tadelsucht , die Beschränktheit eines noch un- 
sicheren und daher zur Übertreibung geneigten Selbst- 
gefühls, sein ethischer Hochmut. Wie sein Lieblin^s- 
dichter Dante teilt er als strenger Moralist seine Zen- 
suren aus. über die Unerbittlichkeit , mit der Dante 
eigenmächtig die ganze Vor- und Mitwelt in die Behälter 
seiner drei großen Räume einsperre, macht Burckhardt 
irgendwo im „Cicerone" eine Hehr abfällige Bemerkung. 
Er fand darin einen sträflichen Hochmut. Die Freude 
am Mannigfaltigen war zu groß in ihm. Jede plebejische 
Ranküne, die sich leicht in Tugendschwärm erci hüllt, 
lag ihm fern; seine Abneigung gegen demokratische 
Mittelmäßigkeit war die stärkste. Wenn er dennoch, 
ein Schüler Rankes, aus dieser Schule hinauswuchs und 
offenbar in gewissen Stücken zur Defensive älterer, über- 
wunden geglaubter Standpunkte zurückkehrte , so liegt 
in der Bewußtheit dieses Schrittes etwas hoch Auffälliges. 
Er war nicht bei Schlosser stehen geblieben, sondern 
er trat von Ranke wieder eine Wegeslänge zu Schlosser 
zurück. „Die Macht ist an sich böse", dieses 1870 
schroff auszusprechen , wo man bereits frei wie durch 
ein offenes Portal in die neue Zeit der Machtkonkurrenzen 
hineingehen konnte, klang wie ein Protest gegen alle 
Gewohnheit unserer Vorstellungen. Burckhardt stellt 
sich uns offensichtlich in den Weg. Was will er 
und wie kommt er in diese Rolle einer fast nach 
Märtyrer freu de schineckenden Überzeugung und Be- 
kennerschaft? 

Nirgends zeigt sich die Nichtigkeit und Unfruchtbar- 
keit des geläufigen Rezeptes, jemanden aus seiner Zeit 
und Umwelt zu erklären, erschreckender als wenn man 
an die Psychologie großer Männer rührt. Mittelmäßig- 
keiten gehen restlos in ihrer Zeit auf; denn sie sind 
selbst nichts als Zeitlichkeit. Jene andern aber zeigen 
ein fast chaotisches Durcheinandergreifen von Bildungs- 
schichten mannigff achter Vergangenheit, die in einem 
nie völlig zu enträtselnden Projeß der Bildung des 
Individuums verarbeitet, zusammengeglüht und ge- 
schmolzen worden sind. 

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Wenn eich Burckhardt angesichts einer rücksichts- 
losen und von allgemeiner Zustimmung getragenen 
Machtpolitik auf den moralischen (manche würden sagen: 
philistermoralischen) Standpunkt zurückzog, bietet sich i 
zur Erklärung als nächste Möglichkeit, ob vielleicht an 
eine letzte Zuflucht christlich orientierter Moral zu / 
denken sei. 

Sein Verhältnis zum Christentum hielt Burckhardt 
für völlig geklärt, und zwar fast vom Anfang seiner 
schriftsiellcrischen Laufbahn an. Das Wesentliche am 
Christentum sah er in der Askese und Außerweltlichkeit. 
Schoo im „Konstantin" (1853), am Ende des 9. Ab- 
schnitts, begegnet der Satz: „Es gibt überhaupt kein 
Verhältnis zur äußeren Welt mehr, sobald man gewisse 
Worte des Neuen Testaments ernstlich nimmt und sich 
nicht mit Akkomodationen durchhilft." Da sich die 
Neuzeit in der entgegensetzten Richtung bewegt, schien 
es Burckhardt unmöglich, im Christentum die absolute 
Religion zu sehen. Die Unvereinbarkeit moderner Ethik 
und christlicher Moral war ihm eine ausgemachte Sache: 
„Man liebt das demütige Sichwegwerfen und die Ge- 
Bchichte von der linken und der rechten Backe nicht 
mehr. Man will die gesellschaftliche Sphäre behaupten, 
wo man (geboren ist." Auf die Widersprüche religiöser 
Residua mit dem widerstandslos herrschenden modernen 
Geist hinzuweisen, wird er nicht müde, und hierin konnte 
er in Basel wohl seine besonderen Erfahrungen machen '}. 
Glaubte er also in dem von ihm angenommenen spezifisch 
christlichen Sinn kein Kind Gattes zu sein , so wies er 
sich den Platz bei den Kindern der Welt an. Seine 
Freude an Kultur, wie er sie als Geschichtschreiber 
ausgedrückt hat, sein Sinn für die Kunst, das sind 
Goethcsche Züge seines Wesens. Sein starker Empirismus, 
dessen Methodik die Geschichte nicht viel anders be- 



') Man lese die Sielte der Betrachtungen : „M«i muH arbeiten und 
viel Geld verdienen, überhaupt der Welt alle mögliche Eimniichnng ge- 
halten, lelbtt wenn man die Schönheit nnd den Gennfl haBt, in Summa: 
man will bei aller Religiosität doch nicht aaf die Vorteile nnd Wohl- 
taten der neueren Kultnr verzichten, nnd gibt damit wiederum eineu 
Beweia von der Wandlung, in welcher lieh die Ansichten vom Jenseits 
belinden." 

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trachten kann, als man Natur zu betrachten sich ge- 
wöhnt hat, sein Sensualismus, sein bestimmter Kunst- 
geschmack, der sich auf der Winckclmannisch-Goethe- 
schen Linie hält, man kann das olles Mitgift des 
18. Jahrhunderts nennen. Aber es blieb ein ganz großer 
Unterschied gegen das 18. Jahrhundert. Burckhardt 
teilte nicht dessen Optimismus, ja er nahm an diesem 
Optimismus den stärksten Anstoß, Es gibt kaum eine 
schärfere Grenzscheide der Geister, als diese zu Beginn 
des 19. Jahrhunderts gezogene. Goethe, der noch den 
Blutreichtum und die Fülle des Jahrhunderts seiner 
Geburt besaß, hat gelegentlich in seinen letzten Jahren 
die Schwäche als den Charakterzug der neuen Zeit be- 
zeichnet. Es war , als wenn mit den ungeheueren Er- 
schütterungen der Rcvolutions- und Freiheitskriege ein 
überstarker Aderlaß die Menschheit geschwächt und 
hoffnungsärmer gemacht hätte. 

Burckhardt hatte einen starken Eindruck von der 
großen Hinfälligkeit und Vergänglichkeit aller Dinge 
der Welt; in seinem selbstv erfaßten Nekrolog merkt er 
diesen Zug schon für sein zwölftes Jahr, in dem ihm 
die Mutter starb, mit den Worten an, jener Eindruck 
habe seine Auffassung der Dinge bestimmt. Menschen, 
die ihn einigermaßen gekannt haben, waren doch über 
den enormen Pessimismus erstaunt, der in den „Welt- 
geschichtlichen Betrachtungen" zutage tritt. Von einer 
Ansteckung durch Schopenhauer dürfte man nicht 
sprechen; denn dessen Erfolg (das Hauptwerk ist iSi8, 
in Burckhardts Geburtsjahr, erschienen) gründete sich 
eben auf das immer steigende Entgegenkommen im 
herrschenden Empfinden. 

Burckhardt gehörte zu den Naturen, die an der 
Zeitlichkeit leiden. Er haßte Zeitungen , Geschäft, 
Menschcnvolk. Mit immer neuem Staunen sieht er auf 
die Wandelbarkeit der Dinge. Der"~Geist~,' sagt er, ist 
ein Wühler. Er erbaut sich eine Wohnung in tausend- 
fältiger Arbeit und Ausbreitung und Wert und Sicher- 
heit, und dann zerstört er sein Haus und aulerbaut mit 
demselben Emst und demselben Mut ein neues. Die 
Geschichte mit ihren ungeheueren An strengu ngen und 
Zerstörungen berührte ihn als ein Schauspiel des 

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Wechsels und der Vergänglichkeit aufs tiefste; die „eis- 
kalte" Objektivität angesichts solcher Eindrücke war 
ihm unmöglich, und ein „Objcktivtun" schien ihm Pose, 
Und nun im Vordergrund all dieser Verwandlung Gemein- 
heit und Habsucht auf ihren Wegen, Jämmerlichkeit und 
Elend. Soll man sagen: Burckhardt litt an dem Welt- 
schmerz, der das Erbteil aller starken Idealisten ist? 
Sein Idealismus rettete sich damit, daß er die Welt nicht 
für ganz und gar glaubhaft und ernst nahm. Dies ist 
der Grund, weshalb ihm der Erfolg im Grund wenig 
imponierte. Inmitten einer Zeit, die sich gewöhnt hat, 
den Erfolg anzubeten, den Erfolgreichen, den Mächtigen 
und die Zahl ,, real politisch" einzuschätzen, konnte Bein / 
Herz die Brutalis ierung der Gefühle nicht mitempfinden :. 1 
er mag nicht ewig die Tuba dem Triumphator ertöneil 
lassen. Denn er konnte, unüberläubt von Triumphoden 
glücklicher Sieger, nicht darüber wegkommen, daß 
Jammer der Überwundenen Jammer bleibe. 

Wieder erhebt sich hier die Frage, warum bei dieser 
Stellung zur „Welt" sich keine religiöse Losung und 
Befriedigung im Christentum dargeboten habe. Burck- 
hardt hatte ein sehr starkes religiöses Organ ; er glaubte 
an etwas, das hinter dem Ablauf und der Flucht des 
Zeitlichen als ein einzig Wahres siehe, und wenn er es 
ablehnte, Christ zu heißen, so konnte er doch meinen 
(diese Äußerung hörte ich von Professor Smend in 
Güttingen): Wir „blinden Heiden" sehen besser, wie 
hoch das Münster ist als die, die darinnen sitzen. Warum 
wollte er, der Sie weltfliichtigen Anfänge des Christen- 
tums mit unverhohlener Begeisterung verfolgte, der so 
teilnehmend die Modifikationen, die Verwandlungs- und' 
Erneuerungsfähigkeit des Christentums beobachtet hat, 
warum wollte er ihm keine Möglichkeit zugestehen, sich 
mit der neuen Kultur fruchtbar zu berühren? Warum 
wollte er die Anerkennung des lex naturac neben der 
lex Dei im Christentum nicht sehen? wie konnte er das 
Wesen des Christentums auf Askese festlegen ? Es ist 
nicht anders : auch die Großen halten Lieblingsirrtümer 
mit eigener Zähigkeit fest. Die Richtung, die in Ludwig 
Feuerbach dasWc-rt nahm, und deren Eindruck auf 
Männer wie Richard Wagner und Gottfried Keller 



der stärkste gewesen ist, behielt Burckhardt in ihrem 
Bann »). 

"So griff denn sein religiöses Bedürfen, dem angesichts 
des Christentums und der modernen Welt der Mut ge- 
brach, der zum Glauben gehört, zu einem Quietiv. Er 
hat darin mehr Genossen, als man denkt : die Ermüdung 
am Zeitlichen und Irdischen, die ihn nach Frieden und 
nach Ewigem dürsten läßt , fuhrt ihn zur Dichtung und 
zur Kunst. Was er bei den Griechen als den dunklen 
Wurzclboden einer herrlichen Poesie und Kunst erkannte, 
die pessimistische Grundstimmung des Lebens, dieses 
Verhältnis hatte er an sich erfahren und erlebt. Nur 
mit Ergriffenheit wird man die folgende Slelle aus 
den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" vernehmen. 
Vielleicht ist sie die empfundenstc des ganzen 
Bandes. 

„Die Poesie hat ihre Höhepunkte, wenn sie aus dem 
Strom des Lebens, des Zufälligen und Mittelmäßigen und 
Gleichgültigen heraus, nachdem sie vorläufig in der Idylle an- 
mutig darauf mag angespielt haben, das Allgemein- Menschliche 
in seinen höchsten Äußerungen herausnimmt und zu idealen 
Gebilden verdichtet und die menschliche Leidenschaft im 
Kampf mit dem hohen Schicksal nicht von der Zufälligkeit 
verschüttet, sondern rein und gewaltig darstellt, — wenn sie 
dem Menschen Geheimnisse offenbart, die in ihm liegen, 
und von welchen er ohne sie nur ein dumpfes Gefühl 
hätte, — wenn sie mit ihm eine wundervolle Sprache redet, 
wobei ihm zumute ist, als müßte dies einst in einem besseren 
Dasein die seinige gewesen sein, wenn sie vergangene Leiden 
und Freuden Einzelner aus allen Völkern und Zeiten zum 
unvergänglichen Kunstwerk verklärt, damit es heiße: spirat 



') Ich sette hier eine besonder! charatter istische Stelle aus Kellen 
Sinngedicht her: „Warn sind wir denn Christen", sagte die Matter, 
„wenn""wir das Wart des Herrn du erste Mal verachten »ollen, wo 

rief Erwin, der mehr wnflte als die Mauer: „O Mutter, Christas der 
Herr hat die Ehebrecherin tot dem Tode bcschllUl and Tor der Strafe, 
aber er hat nicht gesagt, dafl er mit ihr lebeo würde, wenn er der 
Erwin Alienauer wäre". 



adhuc amor, vom wilden Jammer der Dido bis zum weh- 
mütigen Volkslied der verlassenen Geliebten, damit das 
Leiden des Spätgeborenen, der diese Gesänge hört, sich 
daran läutere und sich in ein hohes Ganzes, in das Leiden 
der Welt, aufgenommen fühle, was sie alles kann, weil im 
Dichter selber schon nur das Leiden die hohen Eigenschaften 
weckt, und vollends, wenn sie die Stimmungen wiedergibt, 
welche über das Leiden und Freuen hinausgehen, wenn sie 
das Gebiet desjenigen Religiösen betritt, welches den tiefsten 
Grund jeder Religion und Erkenntnis ausmacht: die Über- 
windung des Irdischen," 

Und nun zitiert Burckhardt Jcsaias 60 und Calderon 
und in einigem Abstand Goethe: „Der du von dem 
Himmel bist . . ." 

Von hier erleuchtet sich nun die Bedeutung 1 , die 
das Studium der Geschichte für Burckhardt gehabt hat. 
Zum einen Teil war sie ein Quietiv wie Poesie und Kunst. 
Sein Beruf war ihm nicht Beschäftigung- und Amt, sondern 
tiefste persönliche Befriedigung und Glück. „ Das Offen- 
halten des Geistes für jede Größe ist eine der wenigen 
sicheren Bedingungen des höheren geistigen Glücks." 
Anf allen Wegen Erhebung zu suchen, ungehemmt, 
auch national nicht befangen, das Große zu empfinden, 
war der Durst seines Cebens. „Im Reich des Gedankens 
gehen alle Schlagbäume billig in die Höhe. Es ist des 
Höchsten nicht so viel über die Erde zerstreut, daß 
heute ein Volk sagen könnte, wir genügen uns voll- 
ständig, oder auch nur, wir bevorzugen das Einheimische . . , 
Im geistigen Gebiet muß man einfach nach dem höheren 
und höchsten greifen, das man erreichen kann." Dieses 
Frcihcltsbedurfen atmete leicht in einer Atmosphäre, die 
möglichst wenig Uberemkömmliches , Befangenes, Ge- 
bundenes, Zwangs- und Machtanstalt mäßiges enthielt und 
in der alles Geistige sich leicht entband. Zugleich 
mußte diese Freiheit den Luftdruck einer gewissen 
Kulinrrcifc und -schwere wünschen, die den Dingen 
Maß und Stil gab. Wo dennoch Zeitliches nahe kam 
und drückte, gab eH Flügel, Bich in das Geisterreich zu 
erheben. So hatte schon Laaautx gesprochen: „einen 
Vorteil wollen wir uns, die wir studieren gelernt haben, 



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nicht entreißen lassen, daß wenn uns die Gegenwart 
nicht gefällt, wir unsre verstorbenen Freunde aücr Länder 
und Zungen zu einem philosophischen Gastmahl einladen 
und mit ihnen Gespräche pflegen, wie sie uns und ihnen 
genehm siad." 

Man würde eine solche Abkehr von der Gegenwart J . 
und ein Schwelgen in idealisierten Vergangenheiten j. 
egoistischen Genuß nennen und romantische Betäubung. 
Aber Genuflmittel der Phantasie, Quietiv ist die Ge- 
schichte für Burckhardt wohl streckenweise gewesen. 
Darüber stand ihm selbstlos strenge Betrachtung, 
und hier öffnet sich _ der Einblick in ganz andere 
Bahnen als die des Ästheten und des gewissenlosen 
Künstlers. 

Burckhardt hatte ein Kredo. Wäre die Geschichte 
ein bloßes Veränderliches, so wäre sie ein Spiel. Er 
spürte zu deutlich , daß er als Einzelgcist teil habe an 
einem großen Rätselhaften, das ihm Verehrung abgewann 
und das ihm an Ewigung Anteil gönntet Uber aller 
Verwandlung stand ihm ein dauerndes, ein Rest des Ge- 
wesenen, der nicht unterging, vielleicht nicht untergehen 
durfte. Die Kontinuität der Überlieferung, wie sie ihm 
in den großen Erscheinungen des römischen Philhcllenis- 
mus, der die griechische Kultur gerettet hat oder in der 
mittelalterlichen Kirche, die die Literatur des Altertums 
bewalut hat, entgegentrat, war ihm sichere Gewähr der 
Dauer und Bedeutung des Menschengeistes. Theoretisch 
und praktisch war ihm die Macht der Überlieferung un- 
abweislich. Praktisch hielt sie ihn von allem Radikalis- 
mus fern und machte ihn zum stärksten Hasser des 
politischen Radikalismus. Zugleich aber schien ihm in 
der Kontinuität ein metaphysischer Beweis für die Be- 
deutung der Dauer des Menschendaseins zu liegen. „Das 
Bewußtsein des Zusammenhangs muß in uns leben. Denn 
wir wissen nicht, ob ohne unser Wissen davon ein Zu- 
sammenhang des Geistigen vorhanden wäre." So konnte 
er wörtlich und im Ernst von seiner Religion der 
Überlieferung sprechen. Die Verehrung der Über- 
lieferung war ihm Religion. Der Historismus des neun- 
zehnten Jahrhunderts offenbart sich hier mit unbeschreib- 
licher Klarheit. Neben den Naturwissenschaften und auf 



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gleichen Wurzeln mit ihnen sich erhebend, ist er die 
stärkste geistige Großmacht der Zeit gewesen 1 ). 

Ist nun der menschliche Geist so angelegt, daß selbst 
die reinste Betrachtung einer Verankerung in dem Be- 
dürfen und der Befriedigung unserer praktischen Ver- 
nunft bedarf? Die Geschichte des Historismus kann 
noch nicht geschrieben werden. Mit hinreichender Deut- 
lichkeit zeigen sich indessen zweierlei Richtungen. Die 
eine hatte das praktisch belebende Vorurteil von Macht- 
gedanken, Machtformen, Ideen, die sich emporkämpfen, 
Zwecken, die sich befriedigen wollen. Die andere halte 
ein Mißtrauen gegen Machtgedanken, gegen bestimmte 
Machtformen, gegen Zwecke oder Ideen, die sich, koste 
es, was es wolle, durchsetzen müssen. Das praktisch 
Gewisse schien ihr das Sittengesetz, das durch keinerlei 
Teleologie ins Wanken gebracht werden dürfe.. Für 
öurckhardt war sein Skeptizismus die eine Wurzel seines 
Moralismus; er ergänzt ihn ganz wesentlich, indem ei 
jede Zweckkonstruktion und Legitimierung der Immoralitat 
als nichtig zurückweist. 

Dieser felsenfeste Moralismus Burckhardts tritt in den 
„Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf jeder Seite 
hervor und gibt den unmißverstehbaren Kommentar für 
die Weltanschauung des Verfassers der „Kultur der Re- 

DaO aas Bösem Gutes, aus Unglück relatives Glück 
geworden ist, folgt daraus, daß Böses und Unglück nicht 
anfänglich waren, was sie waren? Jede gelungene Ge- 
walttat war böse und ein Unglück und allermindestens 
ein gefährliches Beispiel. Die Weltgeschichte kennt 
Wirkungen des Bösen, die jeden Glauben an Recht und 
menschliche Güte zerstört haben. Und weiter. Wenn 
man politische Verbrecher und Verbrechen in der Über- 
zeugung absolviert, daß der Vorteil einer Gesamtheit, 
eines Staates oder Volkes, etwas so Unveräußerliches 
sei, daß er durch nichts auf ewig beschädigt werden 
dürfe . . . sind denn Nationen wirklich etwas so Un- 



') Hier möchte ich an die Kapitel 3 End 3 meines Bnchel, „Kampf 
am die neue Kumt", erinnern dOrfen. 

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bedingtes, a priori zu ewigem und mächtigem Dasein 
Berechtigtes ? 

Burckhardt sagt: sie sind ea nicht, und das Begün- 
stigen des großen Verbrechers hat auch für" sie die 
Schattenseitc, daß dessen Missetaten sich nicht auf das- 
jenige beschränken, was die Gesamtheit groß macht, daß 
die Abzirkelung des löblichen oder notwendigen Ver- 
brechens in der Art des „Principe" ein Trugbild ist. 
Zu dieser demoralisierenden Rückwirkung- auf den Ein- 
zelnen kommt nun aber die Erschütterung der allgemeinen 
Sittlichkeit, die Demoralisierung des Ganzen durch die 
Macht des Beispiels. Eine Nation pflegt das Glück, 
einen sehr großen Mann besessen zu haben, nicht billig 
zu bezahlen, und wo ein großer Napoleon war, mcldcm 
sich bald kleinere, die sich für jenen halten und nach 
seinem Maßstab wirtschaften. Der Egoismus, der in ge- 
fährlichen Augenblicken dem Ganzen und dem Großen 
als berechtigt zugebilligt wird, läßt sich nicht bannen 
und schiebt schließlich auch in privaten Grenzen jede 
Zurückhaltung als Philistermoral zur Seite. Natürlich 
trifft, was hier der pro fange schichtlichen Erfahrung ent- 
nommen ist, ebenso die Geschichte der Religionen. Die 
Männer „nach dem Herzen Gottes", von denen das 
Alte Testament spricht, sind von Konstantin dorn Großen 
und von Chlodwig nicht verschieden; um des religiösen 
Verdienstes willen wird ihnen alle Ruchlosigkeit nach- 
gesehen. Indem also die Religionsgeschichte dem 
Verbrechen Absolution erteilt, bringt sie die Re- 
ligion in den nämlichen Konflikt mit der Moral, wie 
im anderen Fall die politische Raison sich über die Moral 
hinwegsetzt. 

Bedenken dieser Art wirken doppelt eindrücklich bei 
einem Mann, der für alle Größe den offensten Sinn hat, 
der in der Ökonomie des Weltganzen große Männer 
für notwendig und erziehlich hält, und der sich vor dem 
großen Geheimnis beugt, daß eine „Koinzidenz des Egois- 
mus des Individuums mit dem, was man den gemeinen 
Nutzen oder die Größe, den Ruhm der Gesamtheit nennt, 
sich zeigt", Ahnungen oder Einsichten, wie sie ähnlich 
gegen Ende des zweiten Teils von Goethes „Faust" be- 
gegnen. Liegt nun darin eine Rechtfertigung oder eine 

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Art von R echt fertig un g des Bösen in der Welt, als sei 
es ein providen tielies Werkzeug des Guten; 

Burckhardt lehnt das deutlich ab und steht mit seinem 
Glauben an das radikal Böse Kant näher als der Mei- 
nung Goethes. Das Böse bleibt böse, unabhängig von 
den Folgen. Dieser sein Werlmaßstab ist unverrückbar, 
und um so mehr, als andere Weitmaßstäbe nicht an- 
erkannt werden. Wer religiöse oder nationale Zwecke 
und Ideen verficht, findet darin leicht die Indemnität für 
böse Mittel. Burckhardt ist zu vorsichtig und skeptisch, 
uro auf diesen Boden zu treten. Wenn er die Gründung 
des Imperium Romanum sieht, das darin sich ausbreitende 
Christentum und die Übermittlung all dieses Erbes an 
die Germanen, so spricht er wohl von einem „uns recht 
scheinbaren weltgeschichtlichen Zweck"; er gibt im 
Lauf der Dinge der Zivilisation gegen die Barbarei recht; 
er fühlt „höhere Notwendigkeiten"; er konstatiert das 
Recht des Stärkeren, nicht nur in der Natur, sondern 
auch ein großes Stück weit in die Menschen geschiente 
hinein. Aber der Einwand bleibt, der Stärkere sei noch 
lange nicht der Bessere; es bleibt der Einwand, wir'' 
wüßten nichts von Zwecken und dann : selbst wenn solche 
existierten, könnten sie nicht auf andere Weise erreicht 
werden? Teleologie ist Wunsch; unser Wünschen ist 
blind, und wir halten für Torheit, was wir ein andermal 
für Weisheit hielten. Unsere "Weltpläne und Programme 
sind verkappte Wünsche. Wünschbarkeit als Maßstab ' 
ist trügerisch. Auch ist doch vielleicht nichts in der 
Welt notwendig. Wie vieles ist Zufall, Gunst der Stunde, 
entscheidendes Zugreifen der Persönlichkeit! 

Telrologie und Optimismus, der Glaube, daß immer 
höhere Zwecke gesetzt werden, immer mehr Fortschritt 
sich geltend macht, sind keine selbstverständliche Ver- 
bindung. Vom Buch Daniel der Bibel an (ja aus der 
Heidenzeit herüber) zieht sich über Augustin durch das 
ganze Mittelalter eine pessimistische Teleologie. So 
sehr Burckhardt gegen den „wohlfeilen" Optimismus 
der Fortschritts Seligkeit gestimmt ist, die pessimistische 
Wendung macht ihm die Teleologie um nichts annehm- 
barer. Sein Skeptizismus hält ihn dagegen gefeit, und 
so bleibt dieser Skeptizismus, als welcher sich gegen 



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Zwecke als täuschende Illusionen und gegen gewissen- 
lose Mittel als Dieser dieser Zwecke verschließt, der 
untrennbare Gefährte seines Moralismus. Dieser Moralis- 
mus ist aber der harte Kern von Burckhardts Persönlich- 
keit, es ist der Felsen, auf den er gebaut ist. Wenn 
man ihn für einen eigen sinn igen Individualisten gehalten 
und seine Antipathien gegen politischen, kirchlichen, 
demokratisch gleich pressenden Druck für etwas erfreu- 
lich Unmodernes und Antisoziales begrüüt hat, so er- 
kennen wir jetzt den Punkt, an dem er Halt machte. 
Dieser Punkt lag dieseits von Gut und Bös, und sein 
Moralismus war der Ausdruck eines starken sozialen 
Empfindens. Man kann es auch anders und ohne ak- 
tuelle Farbengebung aussprechen. 

Von der Wurzel des deutschen Idealismus her blieb 
das Vermächtnis Schillers in Burckhardt lebendig. Die 
Freundschaft Goethes und Schillers ist seit der Mitte 
des neunzehnten Jahrhunderts den meisten unverständ- 
lich und gleichgültig geworden. Nicht so für Burck- 
hardt. Sie war und blieb ihm ein starkes geistiges Er- 
lebnis, und seine Seele behielt die Wärme, die von jener 
verdoppelten Glut ausstrahlt. Daß er Goetheisch emp- 
fand und zugleich Schillerisch blieb, hierin ragt er viel- 
leicht am fühlbarsten über seine Zeit und die Zeitlich- 
keit hinaus. Hierin liegt eine starke Gewähr für die 
Fortwirkung seines Geistes. 



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II. Die Jugend Burckhardts und die 
Entstehung seines RenaissancebegrifFs 



Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages 
am 25. Mai 1918 



1. Die Entdeckung der Renaissance 

Für die Geltung der Lebens- und Kunstanschauung, 
die in der Vorstellung: Italienische Renaissance 
enthalten ist, bedeutet es nicht wenig, daß eine so an- 
ziehende und starke Persönlichkeit wie Jakob Burckhardt 
ihr Dolmetscher und, wie viele ohne weiteres glauben,.. 1 ..." . 
ihr Vertreter "gewesen ist. Von seinen Werken hat zur 
Umbildung des Geschmacks weiter Kreise fraglos der 
Cicerone das meiste beigetragen. Obwohl beim Er- 
scheinen dieses Buches, 1855, ein so guter Kenner wie 
Waagen, als er das Werk anzeigte, sozusagen vor lauter 
Bäumen den Wald nicht gesehen und sich den neuen 
Kura in der Richtung zur Renaissance nicht klar gemacht ,j: . ,, 
hat, ist tatsachlich die Werbearbeit für die neuen 
Wertungen bis heute vom Cicerone Burckhardts maß- 
gebend gefördert worden. Kein Gebildeter, der neben 
dem Bädekcr nicht den Cicerone mit in das Reisegepäck 
nach Italien gesteckt hätte, so daß Carl Justi ihn ein- 
mal ärgerlich als unseren Geschmacks vorm und bezeichnen 
konnte. Die Theorie zu dieser langsamen, aber sicheren 
Gängelung des Publikums (von der ersten bis zur zweiten 
Auflage des Cicerone brauchte es vierzehn Jnhrej dann 
wurde das Zeitmaß ein anderes) hat die „Kultur der 
Renaissance in Italien" geliefert. Hier sind die Grund- 
lagen für die neue kulturphilosophische Konstruktion 
gelegt, dem Mittelalter kostbare Provinzen entrissen, aus 
—Annexionen das Gebiet der italienischen Renaissance 

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gebildet und gerecht fertigt worden. Die hier geprägten 
Meinungen haben fast dogmatische Geltung gewonnen. 
Der Glaube an die Renaissance ist allmählich ein Stück 
der auf ihre angebliche Yorai!$sel;iiin»slosi!;keit stolzen 
allgemeinen Bildung geworden. Burckhardts Kultur der 
Renaissance ist kein leicht zu lesendes Buch. Sich da- 
mit, in qnälciij ist für die meisten nicht nötig. Denn in 
zahllosen Verdünnungen, Aufgüssen, Erweiterungen ist 
der Stoff der italienischen Renaissance zugänglich ge- 
macht worden. Wenigstens die Dialoge über die 
Renaissance vom Grafen Gobineau (1877) hat jeder ge- 
lesen; die Phantasie der Zeit war so in diese Gegen- 
stände und Personen verliebt, daß das künstlerisch mehr 
als unzulängliche des Gobincauschcn Buches mit Haut 
und Haaren verschluckt wurde. Halte sich unser Gustav 
Freytag mit guten Gründen gescheut, in seinen „Ahnen" 
die großen weltgeschichtlichen Persönlichkeiten zu 
Trägern der Handlung zu machen, um sie lieber bei 
seltenen Anlässen aus der Kulisse blicken zu lassen, so 
mußten wir nun die Halbgötter der Geschichte und 
Kunst der Renaissance als Schauspieler die Rollen des 
Gobineauschen Textes spielen und lange Reden halten 
hören. 

Um nicht Selbstverständliches unnütz zu wiederholen ■ 
hinter der Botschaft an die breiten Kreise und an die 
Gedankenwelt der Tagesmeinung und Tageszeitung reckte 
sich die Gestalt Nietzsches empor und die Predigt vom 
Gewalt- und Übermenschen als des höheren Men sehen - 
typus. Vorbilder und Beispiele in Überzahl bot keine 
weilgeschichtliche Periode so treffend wie die italienische 
Renaissance. Vom bequemen und verständlichen Schlag- 
wort bis zu den süßgiftigen Prägungen eines in dünne 
Luftschicht verstiegenen Gratwandlcrs ging allmählich 
eine Saat auf, über die der Basier Gelehrte, der einst 
die Samenkörner ausgestreut hatte, billig erschrecken 
mußte. Das Schopenhauersche Lauern auf Ruhm und 
Beifall war ihm ohnedies fremd. Es gab keinen be- 
scheideneren Gelehrten als Jakob Burckhardt. Der Nach- 
lebende besinnt sich, diese Stille zu stören, die vier 
Wände zu durchbrechen, in die der große Basler sich 
zurückgezogen, das Inkognito, in das er sich und seine 

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Werke gern gehüllt hätte, taktlos der Maske zu berauben. 
Aber es sind nun einmal Burckhardtische Gedanken, die 
der Renaissancebewegung der zweiten Hälfte des neun- 
zehnten Jahrhunderts das Bett gegraben haben. Einer 
der Freunde , Schüler und Bewunderer Burckhardts , 
Heinrich von Geymüller, hat es so ausgedrückt: Ich 
mochte noch so weit von Basel sein: das Zimmer Jakob 
Burckhardts kam mir vor wie der Mittelpunkt der 
Erde, von welchem wir Bürger und Diener der 
Renaissance angezogen wurden 1 ). 



Von einer gewissen Höhe gesehen, scheinen sich die 
vielbcrufenen Gegensätze von Klassizismus und Roman- 
tik einzuebnen. Wenn das Wesen der Romantik mit 
Ungenügen an jedweder Gegenwart, mit Flucht aus der 
Wirklichkeit bezeichnet wird — einerlei, welches die 
psycho logischen Voraussetzungen des Auseinanderlebens 
von Euizelanspruch , Ort und Zeit sein mögen — , so 
macht es keinen Unterschied, ob die Zuflucht unter den 
Säulen des Parthenon oder im Helldunkel romanischer 
und gotischer Räume gesucht wird. Winckelmann, auf 
den das bleierne Grau des Nordens und die theologischen, 
seine Sinnlichkeit hemmenden Befangenheiten drückten, 
war nicht minder Romantiker als Wackenroder, der 
Nürnberg für uns entdeckte. Iii diesem Sinne ist ein 
Stück Romantik und Sehnsucht im Blut aller edleren 
Naturen. 

In größerer Nähe gesehen, bezeichnen indessen die 
berührten Gegensätze Pendelausschwingungen des all- 
gemeinen Geistes, die mit einer gewissen Regelmäßig- 
keit zu wechseln scheinen. Bei uns ist Nazarcncrtum 
und Neigung zum Mittelalter um die Mitte des neun- 
zehnten Jahrhunderts durch die Wendung zur italienischen 
Renaissance abgelöst worden, die durch das Neuheiden- 
tum des „jungen Deutschland" vorbereitet war a ). 



') „Bnrdthardtl Briefwechsel mit Heinrich von GeymUUer", bemut- 
gegeben von Carl Nemaunn. 1914. Einleiiune S. 6. 

*) Hierüber mein Esiai aber Jaliob Bnrckhiir.l! von 189K, „DeuLsche 
Kondschau ", 14. Jahrgang, HKit, S. 382. 



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Diese unsere Renaissance der Renaissance war eine 
ceilgemäÜe Umformung des Klassizismus von Goethes 
mittlerer Lebensbahn, und sie teilte mit diesem den An- 
lernen, gegenüber mittelalterlichen, sogenannt romanti- 
schen Schöpfungen, ein Absolutes und Klassisches zu 
bringen ! ). Wenn Kunst allemal als Kronzeuge für Sinn 
und Wert der schöpferischen Leistungen eines Zeitalters 
angerufen wird, so hat CS auch für die italienische Re- 
naissance nicht daran gefehlt, ihre Hochblüte in der 
Kunst des sechzehnten Jahrhunderts als die „klassische 
Kunst" oder, wie Burckhardt zu sagen liebt, als goldene 
Zeit vorzustellen. Damit ist ein Vorurteil erneuert worden, 
das von der Altertumswissenschaft, wie man ihr zum 
Ruhm nachsagen muß, seit dem Abebben des Neu- 
iiumanismus abgelegt worden war. In der reinen Wissen- 
schaft war der pädagogische Gedanke des Normativen, 
Absoluten, des „klassischen" Altertums verschwunden; 
man überließ dieses Epitheton „ornans" der streitenden 
Schulpolitik, und das Wort: klassisch bekam überhaupt 
den verdächtigen Firnisglanz der Geschäftsrcklame. Auch 
hat der Kunsthandel die französische Malerei von der 
Romantik Delacroix' bis auf Mauel als „klassische fran- 
zösische Kunst" angepriesen. Für das Publikum mochte 
solcher Begleitschein seine alte Anziehungskraft be- 
währen. Die Auguren lächelten; denn sie wußten, daß 
der Begriff des Klassischen eine Entschuldigung und 
Abwehrmaßregel sinkender Kräfte bedeutet, alexan- 
drmischc liildungsformel , Eingeständnis eigener Un- 
lebend igkeit und des Nicht Vermögens. 

Wir haben diesen Anspruch der neuklassms tischen 
Renaissancebewegung des neunzehnten Jahrhunderts an 
den Anfang unserer Betrachtung gestellt, um klar zu 

■) Die Linie von Goethes Klassizismus ra Bnrckhsrdts Renaissance 
scheint mir eine wichtige Feststellung zu sein. Über die Entstehung 
dei „Rcnaisianciimm" im 19. Jahrhundert ist auf das gedankenreiche 
erste Kapitel in dem Üuch von Franz Ferdinand B au mgarleo , das 
Werk Cunrad Ferdinand Meyers, München 1917, zu verweisen. Der 
Verfasser konstruiert da einen Gegensatz iwischcn Klnssizisrans nnd 
Ke uaiss an c Ismus. Doch besinn! er sich und briilgt die richtige Selhst- 
korrekwr S. 14: „Der europäische Historismus setit allerdings schon 
mit dem Klaisiiismui ein". 

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machen, daß das Reich der Renaissance in Kampf- 
stellung auf den Plan trat. Burckhardt war darüber 
nicht in Zweifel. „Ärgert euch nicht, ihr Deut- 
schen," schrieb er 1860 an den gesinnungs verwandten 
jungen Paul Heyse, „wenn ich den Welschen einige 
Prioritäten vindiziere, die ihnen gehören", und er setzt 
Jliniu: „ich habe im Ausdruck einiges weggelassen und 
anderes in Baumwolle gewickelt." Die Problemstellung, 
von der Jakob Btirckhardt ausging, war deutsch. Ist 
die italienische Renaissance ein neues weltgeschichtliches 
Gebilde, ist sie Überwindung des Mittelalters, ist sie 
innerhalb Europas früheste Überwindung des Mittel- 
alters, so muß für ihre Darstellung der Gegensatz auf 
eine wirksame Formel gebracht, das Mittelalter die 
Dunkelfolie werden, von der sich glänzend das Neu- 
gebilde abhebt , so müssen die alten Aulklärungswaffen 
Voltairescher Zeit gegen die „infame", gegen das über- 
sinnlich tinsinnlichc und verstiegene Mittelalter, gegen 
sein universal Bindendes, gegen sein unfrei Unpersön- 
liches neu geschliffen werden. Je schroffer und ein- 
seitiger die Vorstellung vom Mittelalter belichtet und 
beschattet wird, um so klarer kommt auch das Wider- 
spiel der Renaissance heraus. 

Hier waren künstlerische, halb unbewußte Rechnungen, 
fast möchte man sagen: ein literarischer Zwang mäch- 
tiger als Burckhardts Seele und Temperament. In der 
jreflih Midien Einsamkeit der Schreibtischarheit geriet seinr: 
historische Erfahrung und Gewissenhaftigkeit, für i.Üe d;^ 
Mittelalter in Vorzügen und Schwachen klar offen lag, 
in Streit mit persönlichen Erlebnissen (worüber im näch- 
sten Abschnitt) und eigenwillig künstlerischen Forde- 
rungen und Herrsch gelüsten. Was er in seiner Kultur 
der Renaissance in Italien beschrieb, war keine italienische 
Kulturgeschichte vom dreizehnten bis zum sechszehnten 
Jahrhundert, sondern die bewußt einseitige Darstellung 
der Bestrebungen, Gedanken und Gefühle einer Minori- 
tät, die allmählich fast die gesamte Bildung gestaltete. 
Die konservativen Mächte, das Portleben der christlich- 
mittelalterlichen Welt in Italien wird mit Kunst und Ab- 
sicht beiseite gelassen. Schließlich wird das Mittelalter, 
wo es unleugbar Größe, Geist und Leben ist, umgedeutet. 



„Das Mittelalter wird", wie einmal Walter Götz es aus- 
. f drückte, „zur Renaissance gedeutet, wo sich lichte 
Stellen in der Art der Renaissance finden." 



Die „Kultur der Renaissance" ist nicht in einem 
„boshaften" Stil geschrieben, für dessen Vertreter übrigens 
Burckhardt manche Neigung besaß. Indem aber der 
Kampf, aus dem das Buch geboren war , als ein ganz 
persönliches Erlebnis nachzitterte, glaubte Burckhardt, 
manches Befangendc abgestreift zu haben, ohne zu 
bedenken , daß man im Leben eine Befangenheit 
für die andere einzutauschen pflegt. Sicher glaubte 
er sich verstanden, wenn einer seiner ersten Leser 
(HeyseJ die „hohe Ironie", die wie ein ätherisches 
Salz alle Poren durch wittert " , in diesem Buch 
genofl. 

Ich wünsche, an wenigen Beispielen zu zeigen, wie 
der Burckhardt von 1855— 1860 mit dem Inventar des 
Mittelalters verfuhr, um seiner Renaissance Relief zu 
geben. Es seien diese Beispiele dreierlei Gebieten ent- 
nommen, der politischen Geschichte, der Kunstgeschichte, 
der Literaturgeschichte. An Stichproben dieser Art kann 
man sich mindestens die Methode und den Sinn des 
Werkes deutlich machen. 

Daß die Renaissance hauptsächliche Grundlage mo- 
dernen Wesens sei, ist einer von Burckhardts Glaubens- 
sätzen; die rationalen Methoden und Ziele seien für 
Staat und Politik dort zuerst erkannt und angewendet 
worden, und wo derartige Überlegungen zutage treten, 
da sei renaissancemäßiges, das heißt modernes Denken 
festzustellen. In diesem Sinn heißt es von Venedig, es 
habe am frühesten amtliche Statistik getrieben und stelle 
durch derartige Berechnungen und deren praktische An- 
wendung eine große Seite des modernen Staatswesens 
am frühesten vollkommen dar. Was soll das nun an- 
gesichts der offenkundigen ..Verspätung" und Rück- 
sliiiidigkeit besagen, die dasselbe Venedig auf dem Ge- 
biet literarischer und künstlerischer Renaissance dar- 
bietet? Ein Handclsstaat wie Venedig hat seine welt- 
lichen Vorteile, und was sie fördern konnte, immer mit 

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angemessenem Verstand gewählt. Mitten in dem phan- 
tastischen Licht der Kreuzzugszeiten steht seine Erobe- 
rung von Konstantinopcl als höchst unhciliger Akt der 
Erpressung, die an kieuzgeweihlen Pilgern verübt wird, 
damit sie durch Waffen und Artillerie das abzahlen, was 
sie an Uberfahrtskosten übers Meer den venezianischen 
S chi ffalirtsges ellschaften schulden. Dieser Kreuzzug 
jjegen Kons tan tinopel, wobei der kontinentale „Degen" 
in den Dienst venezianischer Eroberungslust gestellt 
wird, ist ein Kapitel von unheimlicher Modernität, und 
er wird dadurch nicht verschönert, daß er ein Mißbrauch 
geistlicher Waffen und Indulgenzen zugunsten weltlicher 
Politik war. Dies geschah 1204. Ist das nun Renaissance 
oder Protorenaissance? Einfach betrachtet, ist es welt- 
liche Politik, die es im Mittelalter wie zu allen Zeiten 
gegeben hat, und es ist nicht einmal ein Widerspruch 
gegen den ,, irrationalen Charakter" des Mittelalters; es 
ist nur eine Warnung, daß man nicht irrational = Mittel- 
alter und rational = modern oder Renaissance setze. 
Unsere mittelalterliche Überlieferung ist durch Jahr- 
hunderte vorwiegend geistlich; die weltliche Überliefe- 
rung kommt darüber zu kurz. Es wäre der größte Fehler, 
die weltliche Seite des Mittelalters durch diesen zu- 
falligen Nachteil der Überlieferung beschatten zu lassen. 
Für die Laienseite des Mittelalters ist die Beschreibung 
der Eroberung von Konotan tinopel durch Villehardouin 
eines der glänzendsten und frühest geschriebenen, völlig 
unbefangenen Zeugnisse. Diese Laienkuttur und ihr Ge- 
menge von Rationalem und Irrationalem bestand immer 
schon, nur daß sie nicht über die Federkunst eines 
Villehardouin verfügte und somit für manche, die Re- 
alitäten nur greifen, wo sie Bücher lesen können, stumm 
blieb. Man soll also nicht übersehen oder, wenn man 
es sieht, soll man es nicht als erste, zweite, dritte (zum 
Beispiel karolingische , ottonische) Renaissance in An- 
spruch nehmen, was im Mittelalter als rational gerichtete 
Bemühung lebt. Ähnlich ist der Satz zu werten, der 
Staufer Friedrich der Zweite sei „der erste moderne 
Mensch auf dem -Throne" gewesen. Sicher ist es am 
wenigsten Burckhardts Art gewesen, sich für „Moderne" 
und angeblichen Fortschritt zu erwärmen. Hier aber hat 

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er in der Lust der Umwertung an die Leidenschaft für 
die Suche nach Vorläufern der „Moderne" seinen Tribut 
bezahlt »). 

Einer der Glaubensartikel der italienischen Renaissance 
ist es, daß die Gotik als ein nordischer Eindringling 
in Italien das natürliche italienische Kunstempfinden ge- 
stört, einen fremden Blutstropfen hereingebracht habe. 
In den Schimpfnamen „Gotik" hat sich mit dem Er- 
wachsen eines rassesto Izen Nationalge fühl s alles zusammen- 
gedrängt, was sich an Haß gegen die Barbaren der 
Völkerwanderung, gegen die germanischen Eroberer 
meldete. Die nordische Kunst, deren Denkmäler auf 
italienischem Boden von Como und Mailand über Ko- 
logna und Florenz, über Siena und Orvieto bis Süd- 
italien in Kathedralen und Bettel nrdensldrchcn ragten, 
erschien wie eine späte Welle von Völkerwanderung und 
Unterjochung. Indem Burckhardt für die Renaissance 
Partei ergriff, hatte sich der in der Nachbarschaft und 
fast im Schatten der Münster von Freiburg und Strafl- 
burg Aufgewachsene, der Kenner der damals noch 
„germanisch" genannten go tischen Kunst, mit jenen Auf- 
fassungen und Vorurteilen auseinanderzusetzen. So ist 
die Meinung des Cicerone, das Einmischen der Gotik in 
den Ablauf der südlichen Kunst habe die Doppel Wirkung 
gezeitigt: iür die italienische Kunst, daß sie vorüber- 
gehend aus ihrer Bahn gedrängt; für die nordische Kunst, 
daß sie verfälscht wurde. 

Gestehen wir, daß in heutigen Zeitläuften über Gotik 
zu sprechen, eine verfängliche Sache geworden ist. Das 
Publikum ist irre geführt, seit man ihm vorredet, Gotik 



') Über Friedrich den Zweiten siehe auch meine Bemerkung in: 
„Byiantiniscbe Kultur und Renaissaneekultnr", 1903, S. 7. Es kann 
übrigem angesichts der vielen Wiederholungen, die diu« Urteil Burek- 
hardts gefunden hat, gar nicht nachdrücklich genug gesagt werden, ilafl 
Borekbardl selber sein Urteil geändert h.il. Er ordnete spater 
Friedrich den Zweiten in die Überlieferung normannischer nnd moham- 
medanischer Tjrannenpraiis ein. „Man möge nar keine liberalen 
Sympathien mit diesem grollen Hohenstaufen haben I" Dagegen kommt 
WieJi-rliuluni; der Vcrj{lciclmr]<; ini; dem modernen rciitrslisierte-, 
Gewaltslaal nicht anf, der ihm als Reaklion nnd im Grande „unmodern '■ 
enebeint. „Weltgeschichtliche ltet rächt ungen », S. 01. 

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sei gegenüber Antike der Ausdruck eines dualistischen 
ewigen Grtindwescns und reiche von Prähtstoric und 
Ägypten bis zur Gegenwart. Wozu ein witziger Kopf 
bemerkte, dann könne man Gotik ebenso treffend Chinc- 
sik oder Botokutik nennen. Angesichts solcher wohl- 
berechneten I'aradoxten darf man feststellen, daß es sich 
bei der Gotik um eine historische Erscheinung des christ- 
lichen Mittelalters handelt, die als wunderhafter Sonder- 
chaxakter in der Weltkultur auftaucht und nicht ganz 
vier Jahrhunderte erfüllt (im deutschen Empfinden leben 
ihre Spuren länger fort). 

Nach dieser Zwischenäußerung folge eine weitere 
Randbemerkung. Wir wissen selber nicht mehr, wie 
tief sich klassizistische Vorstellungen in unserem Denke» 
und Vergleichen festgehakt haben. Daß im Ablauf 
eines Stils irgendwo seine beste, seine ..klassische" Zeit 
sein müsse, diesen Maßstäben ist auch die Gotik nicht 
entgangen. Nehmen wir zum Beispiel die Bewertungen 
in einem mit Recht hoch angesehenen Werk, in Dehio 
und Bezolds Kirchlicher Baukunst des Abendlandes, so 
wird hier mit der Vorstellung gearbeitet, daß eine be- 
stimmte gotische Architektur die kanonische, muster- 
gültige, kh'.sische sei; was davon abweiche, sei miß- 
verstanden, unecht, irgendwie, wie man heute sagen 
würde, Eisatzgotik. Nun hat Deutschland die Gotik 
verhältnismäßig spät aus dem Westen übernommen, sie 
in seinen westlichen Randländern, ungefähr längs des 
Rheins, übernommen, so wie sie gebracht wurde, im 
übrigen aber zweifellos längere Zeit diese Gotik als 
eine Störung, als einen Fremdkörper empfunden, bis — 
vorwiegend in der Hallenkirche gegenüber der Basilika — 
eine annehmbare Atisnlt'irlisfrirm gefunden war. Dieses 
Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Gotik in Deutsch- 
land wird in dem vorhin genannten Werk als Abfall, 
als minderwertige Mittelmäßigkeit gescholten. Jüngere 
Beurteiler, die das nicht gelten lassen wollten, haben 
das Gegenteil ausgesagt , einmal die spätere deutsche 
Gotik als fortschrittlich und fast im Sinn einer Vorweg- 
nahme där Renaissance gewertet, ein anderes Mal eine 
Sondergotik konstruiert, deren Wesen als Gegensatz zur 
französischen „klassischen" Form gedeutet wird. 

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In dem Augenblick , wo man den klassizistischen 
Anspruch einer Normalgotik aufgibt, entfallen alle diese 
gesuchten und befangenen und gezwungenen Konstruk- 
tionen. Denkt doch auch niemand mehr daran , es 
Wolframs Paizival kritisch anzuschreiben, was an seiner 
Erfindung von westlichen Vorbildern abhängig ist. Die 
Gotik hat von Land zu Land gegen Örtliche Wider- 
stände und Gewohnheiten ihre besonderen nationalen 
Prägungen gefunden. Wenn sich die deutsche Gotik 
vom französischen Muster freigemacht und selbständig 
ausgestaltet hat, so will mir dieses Verhalten als histo- 
rischer Fall nicht verschieden von dem italienischen 
erscheinen, da die Ergebnisse von der Andersartigkeit 
der Voraussetzungen abhängen. Läßt man also das 
Renaissance Vorurteil als eine allmählich hineingetragene 
Parteifeindseligkeit beiseite , so entfällt der Grund, 
italienische Gotik anders zu werten als deutsche Gotik. 
Die Unterschiede zwischen dem inneren Aufbau des 
Florentiner und des Mailänder Doms mögen ungefähr 
denen zwischen Straßburg und Landshut entsprechen; 
alle diese Fälle sind von der „klassischen" Form der 
französischen Kathedrale fern. 

Wir meinen also, wenn der Cicerone behauptet, Italien 
habe das ,, Lebens [irin zip der nordischen Gotik preis- 
gegeben", so sei dieses Urteil nicht anders zu bewerten, 
als wenn neuerdings von deutscher Seite über unsere 
Spätgotik ausgesagt worden ist, sie habe den Horizon- 
talismus an Stelle des Vertikalismus gesetzt. Falsche 
Maßstäbe, falsche Verallgemeinerungen sind hier im 
Spiel und führen zu einseitiger Konstruktion. 

Bemerken wir übrigens, daß der berühmte Jünger 
Jakob Burckhardts, Heinrich von Geymüller, die Gotik 
als ein wesentliches und unentbehrliches Stück und fast 
als character indelebilis der italienischen Renaissance 
beurteilte 1 ). Der Standpunkt Burckhardts, des „Un- 
fanatischen", war anders und schroffer, indem er der 
Meinung nachgab, das Gotische sei in Italien eine Übcr- 
gangsepochc; der gerade Weg wäre der von S. Miniato 



') Ich bitte, »nf meine Erörterung dieser wichtigen Frage in dem 
Briefwechsel Darckhurdl-GeymiUler, S. 19-3» »erweisen in dürfen. 

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zu Bmnellcschi gewesen. Indessen bat Burckhardt selber 
die Gotik in Italien als ein „Schicksal" bezeichnet, und 
dabei mag man sich beruhigen. Ist nicht auch in der 
deutschen Geschichte Christentum, Monarchie und so 
viel anderes ,, Schicksal" gewesen? Die Weltgeschichte 
geht nicht die logischen Geradlinigkeiten des Systematiken. 
Vielleicht kommt, wenn erst das Renaissance Vorurteil 
einmal gebrochen ist, die Zeit, da mau von Botticelli 
als einem Gotiker wird sprechen köneti, da man seine 
Neigung zu Dante und Savonarola nicht als Entsagung 
und Bankerott, sondern als natürliche Neigung begreifen 
tind vielleicht die „Frührenaissance" überhaupt um- 
taufen wird. 

Die Erwähnung Dantes gibt das Stichwort zu einer 
der erstaunlichsten Annexionen von Burckhardts „Kultur 
der Renaissance". Jeder, der das Buch kennt, erinnert 
sich , welche Stelle Dante , Petrarka , Bokkaz in dem 
Kapitel der Wiedererweckung des Altertums eingeräumt 
ist. Es bleibt der Eindruck, daß hiermit drei Edelsteine 
ans der Krone des Mittelalters ausgebrochen und der 
Renaissance, der unwiderstehlichen Verführerin, zugeeignet 
worden sind. Genau besehen, fehlt es auch Burckhardt 
nicht an Bedenken. Für Dante hat er im Schlußkapitc] ; 
Sitte und Religion, des gläubigen Dichters scharfe Ab- 
sage mittelalterlichen Abscheus gegen Epikitr und seine 
jünger eingeschaltet, und im Cicerone seiner eigenen 
Abneigung gegen den moralischen Hochmut Dantes und 
dessen Absperrungen von Schafen und Böcken einen 
sehr ren a is San ce mäßigen, über Moralbedenken erhabenen 
Ausdruck gegeben. Daß Dante von seinem Führer 
durch Hölle und Fegefeuer, Virgil, just da verlassen 
wird, wo es sich um Heilserkeuntnisse handelt, (Purga- 
torium, 30. Gesang), brauchte man Burckhardt nicht 
m sagen. Und so hat er dem Humanisten Petrarka den 
Röckfall ins Augustimsch-Mittclalterliche in derberühmlen 
Anekdote von der Besteigung des Mont Ventoux aufs 
Kerbholz geschrieben. Diese Grundfärbung mittelalter- 
lichen Geistes ist doch auch bei Bokkaz unverkennbar. 

Man fragt sich, welche Vorstellung denn die Vielen 
vom Mittelalter haben , daß sie jede kräftige Äußerung 
von Lebensfreude und -genuß als renaissancemäßig 



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werten. Die Laien gesinnung des Mittelalters spricht doch 
aus Walter von der Vogelweide, aus den Carmina burana 
deutlich genug, und will man wissen, wie derb die 
Leben sgefiihle in den geistlichen Ständen waren, so 
braucht man nur in den Fabliaux oder Miracles de 
Notre Dame Umschau zu halten. Nun hat aber Bokkaz 
reichlich aus den Quellen mittelalterlicher Minne- und 
Troubadourgedanken geschöpft. Es wird nicht viele so 
ergreifende Geschichten aus der hohen Minnewelt geben 
wie die Falkennovelle im Dekamerone (S- Tag, Nr. 9). 
Ein Ritter, durch übergroßen Aufwand für seine Dame 
arm geworden, zieht sich auf seine letzte dürftige Be- 
sitzung zurück. Als fast einzige Habe ist ihm ein treff- 
licher Jagdfalke geblieben. Das Söhnchen der Geliebten, 
die inzwischen verwitwet ist, wirft sein Auge auf diesen 
Falken, und da es schwer erkrankt, erbittet es von der 
Mutter just diesen Falken. Sie entschließt sich zu dem 
schweren Bittgang zu dem einst verschmähten Liebhaber, 
und dieser, um den angekündigten Besuch zu ehren, 
schlachtet („trovatolo grasso") seinen kostbaren Falken 
als Festbraten. Das Kind stirbt usw. Hcysc hielt dieses 
Stück für die Novelle der Novellen , und Goethe hat 
sieh in der Zeit seines Troubadour Verhältnisses zu Frau 
von Stein (1776) damit beschäftigt, die Geschichte von 
Federigo, Monna Giovanna und dem Falken zu drama- 
tisieren. Es ist nicht die einzige Verklärung mittelalter- 
licher Minne bei Bokkaz. 

Der Begeisterung für die Welt des zunehmend ent- 
deckten Altertums gehen bei Bokkaz wie bei Petrarka 
und Dante ausgesprochen mittelalterliche Charakterzüge 
zur Seite. Die Frage ist, was im Bild der Persönlich- 
keit vorherrscht, und diese Frage ist von unserer Auf- 
fassung, von der Entlastung des Mittelalters von fälschen- 
den Einseitigkeiten, abhängig. Kenntnis und Einstrom 
des Altertums durchzieht das ganze Mittelalter. Wo 
von den großen Stoffen mittelalterlicher Literatur ge- 
sprochen wird, findet man gern die Verse eines Fran- 
zosen des dreizehnten Jahrhunderts angeführt: 

Ne sont que trois matteres a nul nomine attendant: 
de France et de Bretagne et de Rons la grant. 

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Trojasage und Virgil, Eneit und Alexanderroman und 
so viel andere antikische Stoffe haben die Phantasie des 
Mittelalters erfüllt. Die Sicherheit und Größe des Mittel- 
alters war, daß es aus den alten Historien und Epen 
Abenteorenomane ritterlichen Stils machte , daß es den 
klassischen" Figuren Kettenhemd und Eisenrüstung 
anzog, statt des ruhiglinigen Helmkammes steilgotische 
Federbüsche auf ihre Köpfe gab, kurz, die ganze Summe 
der Überlieferung zeitgemäß mittelalterlich einkleidete. 
Diese Selbstverständlichkeit der Aneignung und Über- 
setzung in ein jeweils Mo dem- Zeitlich es hat sich die An- 
tike durch die sogenannte Frührenaissance gefallen lassen 
müssen. Pinturicchio und Dürer, später Shakespeares 
Troilus und Kressida, Rembrandts Ganymed haben es 
so gehalten. Völlig unterschieden von diesem natürlich- 
starken Ebenbürtigkeits-, ja Überlegenheitsgefühl 
gegen die Antike ist das Sichbeugen vor der Antike 
als einer höher stehenden Macht, daa Heraustreten der 
Antike als einer alten hohen Offenbarung aus dem Zu- 
sammenhang der Überlieferung und Hand in Hand da- 
mit: Wiederbelebung des reinert, von mittelalterlicher 
Trübung befreiten Altertums, Entstehung von Orthodoxie 
und Dogma des „klassischen" Altertums. 

Diese Wiederbelebung der reinen Flamme hat jakob 
Burckhardts Klassizismus gemeint, als er seine Kultur 
der italienischen Renaissance schrieb und den Strom der 
Antike als das lebenspendende Element der Renaissance 
entdeckte. Dann hat sich der Entdeckersinn mit dem 
Konquistadoren willen vereinigt, um das neu gegründete 
Reich mit Provinzen und Namen auszustatten, die minde- 
stens nicht restlos in der Renaissance aufgehen, und er 
hat Bereich und Bedeutung des Mittelalters gewaltsam 
autöckgeschoben , um seiner Renaissance die erhöhte 
Wichtigkeit zu geben. Er durfte meinen, „ein Zeitalter 
entdeckt" zu haben {der Ausdruck in einem Brief an 
einen. seiner Studenten, Salomon Vögelin, Basler Jahr- 
buch 1914), und für Italien, für die italienische Re- 
naissance trifft das auch zu, trotzdem alle unsere Vor- 
behalte in Kraft bleiben. Zugleich hat Burckhardt der 
italienischen Renaissance eine bis heute geltende Mo- 
dernität zugesprochen (da er 18ÖO noch nicht den hef- 



tigcn Abscheu gegen modern Foitschtittliches hegte oder 
in der Verankerung in die Antike vielleicht den not- 
wendigen Widerstand und die Versicherung gegen das 
zeitlich Moderae erblickte) und ihr im Schlußsatz des 
Buches die Empfehlung auf den Weg gegeben, sie sei 
die Führerin unseres Weltalters 

Es sind Wiederholungen dieser Tendenz und Seilten/., 
wenn Burckhardt an Italien als die magna parens glaubt, 
die Iialicncr als Erstgeborene der modernen Völker be- 
grüßt, und diesen wie den bekannten anderen Schlag- 
wörtern von der Entdeckung der Welt und des Menschen, 
der Befreiung des Individuums , dem Erwachen, der 
Persönlichkeit ihre heutige Gern ein plätzigkeit , Übcrein- 
kömmlichkeit und ihren Scheidemünzencharakter ermög- 
licht hat 

Unter den Wissenden ist heute wohl Einverständnis 
darüber, daß in diesen Prägungen wisse oschaftl ich un- 
zulässige Wertverschiebungen vorliegen Für den An- 
spruch der angeblichen Erstgeburt Italiens wird es ewig 
darauf ankommen, ob man für die Weltgeschichte das 
Rom Alexanders des Sechsten und Leos des Zehnten 
für wichtiger hält als die aus mittelalterlichen Seelen- 
kämpfen erwachsene deutsche Reformation. Zieht man 
schließlich von der italienischen Renaissance Burck- 
hardt ischer Meinung die Annexionen ab, so bleibt als 
großartiges Phänomen die Durchdringung des italieni- 
schen Geistes mit der Antike seiner Vorzeit übrig, und hier 
muß man, um gerecht zu sein, mit allem Nachdruck fest- 
stellen, daß Burckhardt unter Renaissance nur diese Wieder- 
belebung aus eigenen alten Wurzeln verstanden hat und 
nur von italienischer Renaissance hat wissen wollen. 

Von anderer, nicht Burckhardtischer Seite ist die 
Meinung vertreten worden, den der öffentlichen Meinung 
wohlklingenden Namen Renaissance auch den zeitgenössi- 
schen Kulturen des Nordens zu sichern, also die Namen ; 
deutsche Renaissance usw. zu rechtfertigen. Da es sich 



'1 Es jei genug, «nf das Urteil dej Milncltcner RomMKten Kitt 
Voßler In der Zeilschrill „Logoi" Hl (1912), S. 103fr. hnu«wd»an: 
„Das Hncli Uurckhirdts ist aus der Kcilic der wisscnacluifllichcn Werk- 
zeuge in die der irissenichaltlicben Kmntnerl» getreten. 

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in diesen Fällen nicht um Wiederbelebung des eigenen 
Altertums, sondern eines fremden Altertums handle, so 
müsse der Begriff Renaissance in den einer allgemeinen 
Erneuerung und Wiedergeburt umgedeutet werden (so 
etwa Konrad Burdach). Schon wegen der Gefahr der 
starken Mißverständnisse, daß dann ein Wort und Be- 
griff ganz verschiedene Tatsachenreihen decken so!!, 
mochte ich. diese Namengebung nicht empfehlen. So 
viel ist gewiß: Burckhardt hat die angeblichen nordi- 
schen Renaissancen folgerichtig und klar abgelehnt; wie 
in seinem Frühwerk über die belgischen Städte (in dem 
Kapitel über Lüttich S. 8) hat er später noch schroffer 
diese Bereicherung der spätgotischen Kunshvelt des 
Nordens mit antiken Schmuckformen als „ Bastard kunst " 
von seiner Renaissance ausgeschlossen, Lübke wegen 
der Modernisierung der „deutschen Renaissance" ge- 
tadelt, die bald „weder Hund noch Katze mehr fressen 
wolle" (was sich dann rasch genug erfüllt hat), und Gey. 
müller, den Verfasser der ausgezeichneten „Baukunst 
der französischen Renaissance '-, um jede Stunde be- 
dauert, die er auf anderes als Italien wende. Es ist 
wirklich keine Frage, daß diese sogenannten Renaissancen 
des sechzehnten Jahrhunderts im Norden in das Kapitci 
Spätgotik gehören, und daü Burckhardt , der sonst ist 
Annexionen nicht Bedenkliche, diese Einverleibungen 
und Angliederungen bei seiner Anschauung von Re- 
naissance als einer wurzelmäßig antik gewachsenen Kultür 
für sinnwidrig und unmöglich hielt. Die Renaissance 
war für ihn etwas dem Wesen nach Italienisches. Wenn 
er sie auf zwei Voraussetzungen gegründet fand, die 
Wiederentdeckung des Altertums und die Art des italieni- 
schen Volksgeistes, so war die Meinung, daß Italien in 
einer Art atavistischer Bewegung sich selbst wieder ent- 
deckt und von Fremdlastendcm befreit habe. Das Alter- 
tum, als künstlerische Kultur in Literatur und Kunst 
sichtbar geworden, drängte sich den künstlerischen 
Sinnen des neuen Italiens auf und begegnete dem Ent- 
gegenkommen einer außerordentlichen ästhetischen 
Verführbarkeit, derengleichen kein nordischer Volks- 
sinn kennt. Die Italiener der Renaissance sind auch die 
Italiener d'Annunzios. 

6.1 



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Die Entdeckung der Renaissance war auch für Burck- 
hardt eine künstlerische Entdeckung, und die per- 
sönliche Leidenschaft, mit der sich Beine jugendliche 
Männlichkeit auf dieses Gebiet warf, verrät, daß seine 
Entdeckung zugleich — als Erlebnis — eine Erlösung 
war. Von was er erlöst zu werden verlangte, wird der 
nächste Abschnitt zu deuten versuchen. Die „Kultur 
der Renaissance in Italien" enthielt außer der künst- 
lerischen Darstellung eines historischen Weltzustandes 
eine persönliche Abrechnung. Burckhardt trat als eine 
Art Renegat auC die romanische Seite hinüber. Indem 
er aber seiner Renaissance das Zeugnis der Modernität 
mitgab, kam in seine Vorstellung des Modernen ein 
Zwiespalt. Fortan bestärkte er sich in Feindschaft und 
Ablehnung des modernen Weitwesens, soweit es in der 
Hauptsache Nordeuropa geprägt hat, Nietzsche hat das 
wiederholt, als er sich von Wagner lossagte und die 
Musik von Eizets Carmen pries. Die coriolanhafte Ab- 
neigung des Aristokraten gegen Masse und Demokrati- 
sierung teilten die beiden. Burckhardt halte Stunden, 
in denen er den Weltuntergang nahe glaubte. Zu den 
apokalyptischen Zeichen des Endzustandes rechnete er die 
Begehrlichkeit derMasscn, aber auch das Wagnertum. Ihre 
Erfolge bestärkten seine Gegnerschaft. „Die öffentliche 
Meinung" konnte er wohl sagen, „hat immer unrecht; 
schon deshalb, weil es die öffentliche Meinung iat" '). 
Seine Renaissance ist die Geschichte einer aristokrati- 
schen Minorität, und ebenso war es eine aristokratische 
Minorität des neunzehnten Jahrhunderts, der sein Re- 
naissancedogma Halt und Zuversicht geben sollte. Aus 
diesem bewußt oder unbewußt agitatorischen Zweck be- 
greift es sich, daß er seiner Renaissance als empfehlen- 
des Schlagwort die „ Modernität " zuerkannte, wodurch eine 
zweideutige Unklarheit gegenüber demjenigen modernen 
Wcltwesen entstand, dem seine tiefste Abneigung galt. 



') Über Barckhirdt! Stellnng H« der Gleichheit, wie über die 
Gesamtheit aeiner politbchen Meinnneen geben leine ..Weltgetchicht. 
lichen Betrachtungen", die ans dem NachlaG 1905 teröffenllicht wurden, 
Aufschloß, Vgl. datu den >onni1ehctid gedruckten enteil Anfsal,. der 
Kegcimärligcn Schrift und, Ion teilweise anderen Gesichtspunkten anl- 
achend, Karl Joel, Jakob Burckhardt all Gescbichtsphilosoph, 1910. 

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Indessen war Burckhardt viel zu sehr Künstler, als 
daß wir nicht gewarnt sein sollten, persönliche Bekennt- 
nisse und den Sinn seiner Werke Tür ein und dasselbe 
zn halten. Das subjektive Element ist da; aber seine 
Kunst war zu künstlerisch, als daß sie mit dem persön- 
lichen Erlebnis erklärt werden könnte. 



2. Burckhardts romantische Zeit 

Der Ausdruck stammt von Burckhardt selber. Als 
er 1877 auf dem Weg war, die Galerie in Dresden zu 
besuchen, schrieb er: „Auf der Fahrt zeigte man mir 
den Kyffhäuser, wo Kaiser Barbarossa schlafen soll, 
wenn es ihm nicht 1870/71 verleidet ist. Davon wurden 
Erinnerungen, muffig verschimmelte Erinne- 
rungen an meine romantische Zeit wach, daß 
ich lachen mußte." (An Alioth, S. 24.) 

Wenn der junge Goethe ein vollwertiger Teil in der 
üesamterscheinuug Goethes ist, und wenn der junge 
Goethe als Abschnitt seines Lebens diesseits von Weimar, 
oder besser diesseits von Italien, eine geschwinde und 
faßliche Vorstellung in jedem von uns aufweckt, so ließe 
sich von dem jungen Burckhardt nicht dasselbe 
aussagen. In jedem, auf dessen Pfad Goethe geleuchtet 
hat, lockt etwas zur Imitaüo, zur Nachfolge Goethes. 
Aber wie Burckhardt vor der Nachwelt steht und durch 
seine maßgebenden Werke zu uns spricht, ist er eben 
der Darsteller des Untergangs der Antike und der Wieder- 
erstehung der Antike. Darin scheint er reif geworden. 
Was er vorher war und wollte und leistete, sind Ansätze, 
Vorbereitungen, einerlei, ob die Äußerung dieser Vor- 
periode Übereinstimmung oder Gegensatz zu dem Kom- 
menden enthält. 

Dennoch lohnt es sich , bei dem jungen Burckhardt 
zu verweilen, die Sonderart dieser Jugend zu begreifen 
und die Umstände der schmerzlichen Krise kennen zu 
lernen, aus der heraus Burckhardt zur Reife seines Cha- 
rakters erwuchs, indes Goethe, In jedem Stuck seines 
Lebens ein Ganzer, immer nur ein anderer wurde. Bei 

NcuDftDD, Jakob BwckhlrdE. $ 

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Goethe wie bei Burckhardt trifft das, worin sie ähnlich 
sind, die Krise, in das vierte Lebensjahrzehnt, gegen 
Ende ihrer dreißiger Jahre. 

Die Romantik des jungen Burckhardt kam in eine 
Zeit, da Nazarcnertum und Bekehrung- zur katholischen 
Kirche überwunden war und~~3er "philosophische Hoch- 



war eben der belgische Realismus eines Callait im Be- 
griff, die Ideologien von Cornelius und Kaulbach vom 
Thron zu stoßen. Die Philosophie Ludwig Feuerbachs 
stieg empor, für die, die damals jung waren, für Gottfried 
Keller, Richard Wagner, maßgebend. Den Bruch mit 
dem Christentum und der Kirchlichkeit des neunzehnten 
Jahrhunderts hatte Burkhardt früh vollzogen ; als ein 
,,Kind der Wclllust" bezeichnete ihn der Lizentiat der 
Theologie Gottfried Kinkel, der damals den Ubergang 
von der theologischen in die philosophische Fakultät 
noch nicht gefunden hatle. „Die Kirche (schrieb Burck- 
hardt fünfiindzivanzigjähiig) hat über mich jegliche Ge- 
walt verloren, und das ist in einer Auflösungsperiode 
nicht mehr als recht und billig." Aber es halte von 
hier bis zum entfesselten Anarchismus der Renaissance 
noch weite Wege. Die „Auflösung" halte doch, seit 
durch die große Revolution glatte Bahn gemacht war, 
in Zeitmaß und Ausdehnung ein Unheimliches, Er- 
schreckendes. „Die furch t bar gesteigerte Berechtigung 
des Individuums besieht darin : cogito, ergo regno." 
Etwas von dem tiefen Mißtrauen, wie es Schnaase von 
der Schrankenlosigkeit und Überheblichkeit der Re- 
naissance fernhielt und im Glauben an das MilteSalu-r 
befestigte, spricht aus dieser Aussage des jungen Burck- 
hardt. So ist es denn kein Wunder, daß er in seinen 
Berliner Studienjahren die üotz Schinkel und Rauch in 
den Kreisen der Kunstfreunde und -forscher vorwaltende 
Neigung zum Mittelalter in sich aufnahm. Es war die 
geistige Luft, in der Schnaase, Franz Kugler, Hotho 
atmeten. Als Burckhardt im Sommer 1841 in die alte 
Pfaffengasse des Reiches geriet und ein Semester in Bonn 
verlebte, da umfing ihn vollends die mond beglänzte 
Zaubeinacht des „süßen Taumels", einerlei ob Kinkel, 
dem er Freund ward, weidlich auf die „Pfaffen" schimpfte. 




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Er wurde Mitglied der „Maikäfer", genoß ihr brüder- 
liches Du, machte mit ihnen Gedichte, war bei Wein 
und Gesang und Natur lust mit ihnen jung. Im folgenden 
Jahr kam König Friedrich Wilhelm der Vierte an den 
Rhein und vollzog im September die Grundsteinlegung 
des Weiterbaues am Kölner Dom. Damit mag wohl 
Burckhardts Büchlein über den Domgriinder des drei- 
zehnten Jahrhunderts, den Erzbischof Konrad von Hoch- 
staden , in Zusammenhang stehen (Trog, Burckhardt, 
S. 25). „Köln", schreibt er 1843, „hat wieder ein ganz 
Fuder Romantik auf mich ausgeschüttet", und dasselbe 
klingt aus seinen Versen: 

„In süßer Mondnacht stand ich oft, 
Wenn überm Rheine alles schwieg, 
Und aus den Gärten mild herauf 
Eiu Duft von tausend IilLlten stieg." 

Die holdseligen Marien der Altkölner Bilder haben 
es ihm angetan, und das Dombild fällt ihm ein, da er 
zum erstenmal vor dem Eyckschen Altar in Gent steht, 
und die „gemeine Lebenssphäre " dieser Kunst ihn 
zurückstößt. Den tiefen Ausdruck der Gottseligkeit, das 
Ideal, die himmlische Grazie der bescheidenen Gottes- 
magd, „wie Meister Stephau sie darzustellen vermochte", 
vermißt er bei dem Niederländer (Kunstwerke der belgi- 
schen Städte 1842, S. 134). Der traumhafte Sommer 
am Rhein wie der Sludienkreis , in den Berlin ihn fest- 
bannt, halten ihn verzaubert bei der mittelalterlichen 
Kunst fest. Die Germanen sind ihm das erste Kunst- 
volk der Welt (neben den Griechen). Als ihn später 
der junge freund aus dem Kuglcrscheu Haus , Paul 
Heyse , in Basel besucht und von da nach Straßburg 
wandert, holt Burckhardt die Abbildungen des Münsters 
hervor und entläßt ihn mit den Worten : hudie eris in 
paradiso. Den Freiburger Münsterturm hat Burckhardt 
nie aufgehört zu bewundern ') , und daß auch die kari- 
kierende Kehrseite seiner gotischen Romantik nicht fehle: 



'} Der „luylhiidir Eiiiilroi;»" des Miirjsletluimcs nie vor ilieiti,; 
j«hrcn lebendig. An Ribbeclr, 17. Oklpber 1BÖ5. 



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sein romantischer Haß gegen die Eisenbahn konnte wie 
bei dem Goliker Ruskin drastischen Ausdruck" finden. 

In all diesem Hingenommensein schwingt hörbar 
genug ein deutschbegeisterter Ton mit. Die Aufwallungen 
des: Sie aollen ihn nicht haben, den freien deutschen 
Rhein, machten an der Schweiler Grenze nicht Halt, 
und so wie Gottfried Keller empfand: 

Nun wallt der Hirtensohn hernieder 
/Hin in mein zweites Heimatland: 
/ O grllfl mir alle deutschen Brüder, 



! so war es auch dem jungen Iiurckhardt ums Herz. Er 
ging im altdeutschen Barett, mit langen Haaren nnd 
bloßem Hals; er war dabei, als bei Kinkels Hochzeit 
ein Ausflug ins Ahrtal gemacht und bei Fackelschein: 
Was ist des Deutschen Vaterland gesungen wurde. Die 
Mutterarme des gemeinsamen deutschen Vaterlandes, 
„ das ich anfangs verspottete und zurückstieß ", das 
warme Mutterherz pries er in der frohlockenden Gewiß- 
heit, daß auch er zu dem Stamm gehöre, „in dessen 
Hände die Vorsehung die goldenste reichste Zukunft, 
das Geschick und die Kultur einer Welt gelegt hat. . . . 
Daran will ich mein Leben setzen, den Schweizern zu 
zeigen, daß sie Deutsche sind." 

Unter den Kameraden galt er damals als der Teufels- 
kerl, der alles könne. Er zeichnet und malt; er sang 
Schubert und italienische Volkslieder, und sehr viel 
später bezeugt der enthusiastische Geymiiller: „er war 
weder, was man einen Klavierspieler noch einen Sänger 
nennt, und doch habe ich selten eigenartigere, feinere 
musikalische Freuden erlebt, als wenn Burckhardt eine 
der Opern Glucks, die Messen Mozarts und dergleichen 
alleredelste Kompositionen spielte und dazu sang." Un- 
gewöhnlich war seine dichterische Begabung. Es gab 
da Zeitliches genug an Balladen , Novellen , Opern- 
texten, Dramen; wir hören von den Stücken einer Faust- 
dichtung ■). Doch neigte er zum historischen Drama. 



■) Hierüber agtitihrlich in dem Briefwechsel mit Albert Brenner im 
„Basier Jahrbuch" 1901 (neuerdings als Sonderheft gedruckt). Die 




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In der Lyrik darf man nicht verwundert sein, gelegentlich 
lange romantische Sehnsuchtsseufzer durch, grell reali- 
stische Abschlüsse in Heines Art beendet zu finden. 
Eine Ähnlichkeit, die die nüchterne Kritik über Heine 
keineswegs ausschließt: er habe eine Zeitlang gern zu 
den interessanten, schmerzlich - skeptischen Wesen ä la 
Byron gehört, bis ei fand, das reine Schindluder stehe 
ihm besser zu Gesicht. Manchmal aber rührt Burckhardt 
an Mörikc (was auch Heyse fand), wie in der Elegie 
von 1853, dem Zwiegespräch mit den Gedichtbüchern, 
die er mit auf die Reise nach Italien nehmen will (bei 
Trog, S. 66). Von den Dialektgedichten, über die ein 
Baseler Landsmann wohl richtig urteilt (wenn ein Fremder 
seine Beistimmmung geltend machen darf), der Ausdruck 
erscheine manchmal wie aus dem Hochdeutschen ins 
Bascldcutschc übersetzt, soll nachher gesprochen werden. 

In der Fülle dieses hoch gestimmten, geselligen, poe- 
tischen, austausche und briefFchreibclustigcn Daseins lebt 
der in die Heimat nach Basel Zurückgekehrte weiter. 
Aus Musik und Dichtung, aus der gern gewährten Gast- 
freundschaft bei Pastete und Burgunderwein, aus dem 
Mondenschein, der als unentbehrlicher Stimmungswecker 
diese romantische Jugend begleitet, hebt sich als be- 
sonders starker Zug jener Frühzeit Burckhardts die Fähig- 
keit zur Freundsch aft heraus. Auch von den schwärme- 
rischen Zügen, die mehr gewissen Lebensjahren als dem 
Charakter eignen, abgesehen, bleibt ein überaus starker 
Gehalt an Hingebung, Opfeilähigkeit, Zutraulichkeit, be- 
tätigter Neigung und Menschenliebe, ein optimistischer 
Zug zum Helfen und Bessern , der sehr weit von dem 
Wesen des spateren Burckhardt ahsteht. Was er in der 
Stille und ohne mit Namen hervorzutreten, für Erleichte- 
rung der Notlage Arnold Böcküns damals getan hat, 
war Benährung einer enthusiastischen Freundschaft Dem 
Lehrer und Professor konnten solche Eigenschaften nicht 
anders als Vertrauen , Treue und Anhänglichkeit der 
Schüler und Studenten verschaffen. Mit väterlicher 



übrigen Quellen für die rorrantitclie Zeit sind die Briefe im Kinkel 
in der „Dentschen Rcvne" 1899, die Briefe an Bcyichlng im „Basier 
Jahrbuch" 1910, Icilwdsu die in Heyse. Die Briefe an Kugler sind auf 
Earckhardts Anweisung verbrannt norden. 

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Seelsorge und Geduld geht er auf ihre Note ein, rät ab 
von SclbsUcrstörung und Negation, mahnt zu allem 
schöpferisch Idealen, zu Hingebung, Herzensgute, Milde. 
„Wenn Sie die fürchterlichen Spalten und Klüfte kennen, 
welche unser Leben unterirdisch durchziehen, Sie würden 
heut lieber als morgen alle Schütze der Liebe und Hin- 
gebung auftun." Dieselbe Mahnung hat er in einem der 
Dialektgedichte von 1853 an sich selber gerichtet: das 
sei das einzige Glück, daß man die Menschen gern habe. 
Auch wenn es um Liebe und Freundschaft, Heimat, 
Poesie eine Täuschung wäre: ein geheimer Segen mag 
darauf ruhen. Später, als die bitteren Einsichten zu- 
nahmen und die Illusionen zergingen, herrscht bei Kurck- 
hardt, der sich in sein Schneckenhaus zurückzog, ein 
anderer Ton. In den Gesprächen, über die Carl Spitte- 
ier aus seineu Studentenjahren (1865 — 1870) berichtet 
hat, wird man vielleicht an den mephistophelischen Zug 
der Schülerszene im Faust erinnert. Die Temperatur 
ist kälter geworden: aus den schönen Zügen blitzt es 
manchmal mit voltairischer Schärfe. 

Wo wäre nun aber in dem jugendlichen Burckhardt 
die Summe von so viel Herzensgüte, gepaart mit Phan- 
tasie und Geisl, wenn sich die Fraiienliebe nicht meldete? 
In einem Gedicht von 1842 steht es geschrieben: 

Und Liebe stieg, ein leiser Dieb, 
Im Herzen wiederum empor. 

Zehn Jahre später kam in Basel die große Leiden- 
schaft. „Du weichst deinem Herzen nicht aus, und 
führest du mit zehn Rossen." Mau muß das „Hämpfeli 
Lieder" lesen, und es taugt nicht, ihre ergreifende Poesie 
in Prosa umzuformen. Da hat es in seinem Herzen 
, Sturm" geläutet; in einem Wechsel von Schüchtern- 
heit und eifersüchtig ivildcr Leidenschaft zieht das vom 
Herbst über Winterschnee bis zum Frühjahr vorüber, 
und es bleibt eine dumpfe Einsamkeit, die den Kopt 
in die Hände vergräbt, wo keine Arbeit mehr rückt und 
kein Buch tröstet. Diese Liebe blieb unerhört. 



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Bcruiliche Verstimmungen durch Entziehung der Lehr- 
stelle an der Schule in Basel kamen hinzu. Um Ge- 
selligkeiten abzubrechen, um mehr Bücher zu haben, 
als ihm die Basler Bibliothek für seine neuen Studien 
bot, nahm Burckhardt 1855 den Ruf in das ihm fremde 
Zürich an. Schon vorher waren aber die Würfel ge- 
fallen. Die lange Reise nach Italien 1S53 auf 1854, in 
der sich. Stoff und Bewertungen für den „Cicerone" 
ordneten, ist wohl das Jahr der Krise und Entscheidung, 
die Hedschra in Burckhardts Leben. 

Zwar war es anders als bei Goethe, es war keine 
erste italienische Reise. Seit seinen Studenten} .ihre 11 
war Burckhardt wiederholt, für kürzere und für lange 
Zeit, in das Kastanien- und Freskenland hinabgestiegen. 
Er kannte seine Kunst. Venedig, Florenz und Rom 
waren ihm geläufig. Ja immer schon, mitten in deut- 
scher Romantik, halten seine Gedichte von verfallenen 
Maimorlcmpcln unter blauem Himmel und von Palästen 
und Zypressen im Mondschein geträumt. Als diese 
Träume in die Wirklichkeit niederstiegen, wurde es auch 
noch nicht mehr als eine hinzukommende Bereicherung 
künstlerischer Erlebnisse. Ob die Akazien des Fincio 
durch die Nacht dufteten oder die Reben am Rhein- 
stroui: zwischen den Orangenhainen des Südens und dein 
deutschen Wald stand die Wage noch gleich. Jene 
sehnsüchtigen Schauungen der Gedichte waren gaukelnde 
Bilder, wie sie ungezählte andere ebenso umschwebten, 
StilUbungen, wie sie andere auch machten. Aber die 
große italienische Rciic 1853/54 n" 10 B 3112 anderes ge- 
weckt haben. Sie folgte ganz persönlichen und tief 
einschneidenden Erlebnissen. Von 1853 waren die Liebes- 
ycdichlc; sie trugen nicht die „wohlerzogenen" Manieren 
der Freunde Geibel und Heyse. Die Sehnsucht ver- 
langte nicht nach augenblicklicher Befriedigung. Ein 
heilender Schnitt war notig. 

„Der ich so vieles verlor, gern steig 1 ich hinab 

zu den Vätern, 
Wenn das Beste mir einst südliche Sonnen 

gereift." 



Burckbardt trat in die Jahre seiner Krise. Nie moch- 
ten ihm die Farben Italiens bo glühend geleuchtet haben, 
wie in diesem Jahr 1854, nie die Sinnen freiheit so er- 
lösend auf das nordische Gemüt und Geblüt gewirkt 
haben, nie die Stockungen und Bedrängnisse von tausend 
Verflechtungen einem so wohltätigen und erleichternden 
Fluß gewichen sein. 

Es war der Wendepunkt, in dem so vielen Deutschen 
Goethes Beschreibung seiner „Italienischen Reise" als 
ein angeblich normaler Lebens- und Gesundungsprozeß 
zu einer Art Evangelium wird, Rettung zum lUaSSUnsmns I 

Enttäuschung über das Weimarer Hofleben, das zu- 
erst zwischen den Grenzbereichen bürgerlicher Beengt- 
heit und titanenhaften Übermutes den wohltätigen Spiel- 
raum zu gewähren schien; Abarbeiten in der Verwaltung 
eines kleinen Staatswesens mit beschränkendem Format; 
die Leidenschaft für eine ältere Frau, deren zarte Kränk- 
lichkeit Rücksichten heischte, deren Gouvernantenton 
den Genius zu beherrschen sich vermaß , so daß Be- 
ziehung und Neigung an der gefahrlich langen Zeitdauer 
zugrunde gehen mußte — das sind die Voraussetzungen, 
die Goethe in die große italienische Revolution seines 
gesamten Innern und Äußeren gestürzt haben. 

Aber, ob groß oder klein , Krisen dieser Art sind 
typische Fälle. Wie sich an den Faust in Italien nur 
die Hexenküche mit ihrem Spott gegen den Norden 
und den Spuk einer „formlosen" Phantasie angliedern 
wollte, und wie allmählich für Goethe, den ,,der Weg 
zur Klarheit aufgeführt", Zaubereien und „Barbareien" 
wurden, was sich seinem neuen klassizistischen Form- 
begriff nicht ohne weiteres fügte, so wich für Burckhai dt 
der Norden als Sammelbecken für alles, was er als Ver- 
worrenheit, Schwärmerei, Sehnsucht, Unfrieden und Qual 
empfand, zurück. Von dem Gedanken, eine Geschichte 
des Mittelalters zu schreiben, ist hinfort nicht mehr die 
Rede. Was davon blieb, war eine herrliche Vorlesung 
(die ich gehört habe), in der die Völkerwanderung leibte 
und lebte, Byzanz und Islam greifbare Gestalt gewannen, 
die aber im neunten Jahrhundert abbrach. Dafür brachte 
er aus Italien 1854 einen neuen „wissenschaftlichen 
Quälgeist" mit, die Idee eines Werkes, das die Über- 

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wundcnheit des Mittelalters, den hellen Vernunittag, die 
Wiederbelebung des Altertums, ein Zeitalter schildern 
sollte, das als solches eine Burckhardtsche Entdeckung 
war. Die „Kultur der Renaissance in Italien", in Burck- 
hardts Buch über Andreas von Krain noch ein Hinter- 
grund „welscher" Ferne (1852), schob sich von Jahr zu 
Jahr gebieterisch vor und fand in dem Ktmstkörper, den 
der Cicerone beschrieb und pries, ihre erste literarische 
Gestalt. Wie das neue Buch von Haus aus geplant war, 
weiQ ich nicht 7.11 sagen, jedenfalls viel jimfassender als 
der vorliegende „Versuch". Burckhardt, der in den 
Züricher Jahren für diese Studien den Grund legte, war 
seit seiner Rückbcrufung an die Rasier Universität und 
Schule überbelastet. Mitten hinein traf der Tod von Kug- 
ler und die dringende Bitte der Familie an Burckhardt, 
den wissenschaftlichen Nachlall zu verwalten und Ange- 
fangenes fertig zu machen. Wahrhafte Konflikte für den 
Freund und Schüler, bis er die Entschließung fand. 
Wir hören zum ersten Male aus dem Briefwechsel mit 
Paul Hey sc, wie Burckhardt sein Buch nur noch als 
Fragment betrachtet, daß es zu „ein paar Aufsätzen zu- 
sammenschrumpfe". Vielleicht wird einmal eine Unter- 
suchung des Nachlasses aufklären, wie sich die Aus- 
führung zum ursprünglichen Wunsch und Plan verhält '). 
Auf der anderen Seite stand fördernd die Leidenschaft 
des Verfassers für das Auftauchen dieser neuen Welt, 
weiter die allgemeine politische Stimmung dieser Jahre, 
in denen, den großdeutschen, Italien feindlichen Ge- 
sinnungen entgegen , in Preußen und Norddeutschland 
wie in der übrigen Welt alle Sympathien sich dem Un- 
abhängiglieitskam:;f Italiens zuwandten ; in München 
dachten Heyse, Sybel, ßluntschli genau wie Burckhardt 
und sein italienischer Kollege in Basel, der alte Car- 
bonaro Picchioni. Zu dieser begeisterten Überschätzung 
Italiens, da sich in Burckhardt politische Anteilnahme 
mit der Dankbarkeit für persönlich erlebte Kulttir- 
und Kunst wohltaten des Südens zusammenfanden, kam 



') Nach Trog, S. 103, las Durckliaitit an der Universität im Winter- 
semester 1858/59 Kulturgeschichte Italiens vom drei lehnten bis secti- 
lehnten Jahrhnndrtt. Vgl. da:n unsere Bemerkung oben S. 53. 

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als letzter Antrieb die erneuerte Neigung für die Alten 
hinzu, Auch hier die Wiederholung Goethescher Stim- 
mungen : „Also das wäre Verbrechen, daß einst Properz 
mich begeistert!" Auch Uurckhardt ließ sich von den 
römischen Elegikcrn aufs neue für das Künstlerische in 
der Kunst begeistern ; der Immoralismus der Renaissance 
wirkte mit, ihn in der Geringwertung nordischer Gemüts- 
rnitschwingungen zu bestärken. „Diese Nation" (die 
Deulschen), schrieb er, „nimmt in alle Ewigkeit Tendenz 
für Kunst." Man glaubt Goethe und Heinrich Meyer 
zu hören, als sie das Gewitter gegen die neudeutsche 
Kunst zusammenbrauten. 

So formte sich gegen 1860 Burckhardts neues Gluck. 
Es hatte die Goctlicsche Spätfarbc der Entsagung und 
des Glücks Verzichtes. „Es hat mir seit 4.7 zu oft auf 
den Hut geschneit", gestand er. An die Stelle der 
liebenswürdigen Illusionen der Goelheschen Pandora- 
büchse, an Stelle jugendlichen Überschwangs und freund- 
williger Hingebung trat allmählich die gewollte Einsam- 
keit und Weltabkehr, die Hescliiiili^ung mit Schopenhauer 
und Hartmann, das Studium der griechischen Kultur, 
das ihn im Pessimismus befestigte. Den Kopf aber ließ 
er nicht hängen. Es wurde der Zustand einer heiteren, 
kunstbelebten Geistigkeit. Die Sehnsucht seines Herzens 
kam zur Stille. Das romantische Herz schwieg. 



3. Burckhardts Gedächtnisrede 
auf Schiller 1859 

Hellsichtig für die Möglichkeiten, zu denen sich sein 
Leben gestalten würde (wofür das letzte der Dialekt- 
gedichte T1 Vorgesicht" eine merkwürdige Probe ist), hat 
Burckhardt seiner Freundschaft mit Picchioni die Beob- 
achtung abgewonnen: „Ein Germane, dessen Jugend- 
täuschungen zugrunde gegangen sind, wird leicht mürrisch 
und unleidlich; der Romane wird in solchem Falle erst 
recht liebenswürdig." Nimmt man das Wort liebens- 
würdig nicht nach dem Allerweltssprachgebrauch, sondern 

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nach seiner wahren Bedeutung 1 , so mag es die Normal- 
temperatur bezeichnen, zu der der abgekühlte Burckhardt 
der reifen Zeit (dem es „auf den Hut geschneit hatte") 
gekommen war, seit Antike und Renaissance den großen 
Plate in seinem Leben und Denken besetzt haben. Dieses 
reifen Burckhardt Psychologie darzustellen, ist nicht die 
Absiebt der gegenwärtigen Betrachtung. Soviel ist aber 
klar: zwischen dem Wcltpha'nomcn , das die Kultur der 
Renaissance schildert, und der Moral, die Burckhardt 
daraus etwa für sich oder andere gezogen hätte, muß 
streng geschieden werden. Der heitere Skeptizismus, zu 
dem er in den lhfen gelangt war, hat gelegentlich das 
Wort geprägt: irgendein Evangelium gibt es für mich 
überhaupt nicht. Auch für die, welche die Botschaft j 
der Renaissance für ein solches neues oder ewiges 1 .. 
Evangelium halten, gilt diese Warnung. Burckhardt war 
weit entfernt, sich der Renaissance mit Haut und Haaren 
;:u verschreiben. Der künstlerische Gestalter (in diesem 
Kalle der Geschichtschreiber] und der Mensch waren 
zweierlei. Die Grenze, die ihn von Nietzsche schied, 
wird an dieser Stelle überaus deutlich. Seit Burckhardts 
„Griechische Kulturgeschichte" gedruckt ist, gibt es kein 
Mißverstehen mehr in diesen Dingen. Das antike Gewalt- 
\.:i'.i Übcrmensi'ltenmm, die antike „UnbnIJfc-rligkcit" hat 
er nach streng unerbittlichen , ethischen Maßstäben ge- 
wertet und verurteilt und den Granitboden seiner eigenen 
Moral aufgedeckt, Tür die jede praktische Empfehlung 
der Schranken losigkeit und Frivolität antiker, roma- 
nischer, ren;iiäsanceiii;iCiger Denk- und Fonmirt ausge- 
schlossen war. 

Hier ist der Punkt, in dem die Einheit des jungen 
und des späteren Burckhardt gewahrt ist. liier ruht die 
Gewahr für Größe und Dauer seiner Persönlichkeit; hier 
ist das Uberzeitliche und Unsterbliche seiner Erscheinung 
. l: fassen. Sein Lebenswerk kann, so sehr sein litera- 
risches Denkmal dem Burckhardt der Renaissance gilt, nur 
;i!s Ganzes, als die polare Ausschl. in;;iing scheinbar gegen- 
fiüzlirher Gemüts- und Geisteskräfte bewertet werden. 

Aus dem Jahre 1859, da die Krise seines Lcbens- 
v.-erkch /nr I.Jisinig kn:u , besitzen wir ein wundervolles 
Zeugnis der Freiheit seines Geistes in der Rede, die der 

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der Vaterstadt Wiedergewonnene im Auftrage der Uni- 
versität zur Vorfeier von Schillers hundertstem Geburts- 
tag, am Abend des 9. November, in Basel gehalten hat. 
Diese Rede wird im folgenden nach einer Abschrift 
des handschriftlichen Entwurfes, der von Burck- 
hardt selber aufgezeichnet ist, mitgeteilt. Daß 
diese Handschrift streckenweise aphoristisch ist, mag 
heute manchem den Reiz erhöhen 

Für den Zusammenhang unserer Auffassung des 
Werdens von Burckhardts Persönlichkeit fiigen wir erläu- 
ternd hinzu: Die Rede auf Schiller ist der denk malmäßige 
Abschluß von Burckhardts erster Periode und als solcher 
von großer Bedeutung. Sic enthält drei Kernstücke ; 
eine Art Bekenntnis zum Deutschtum Schillers und zur 
Dichtung für das „Volk". Zweitens: gegenüber der 
Wertung der Formproblemc in der Kunst ein nachdrück- 
liches Anerkennen der menschlich bedeutenden Gegen- 



') leb verdanke die Handschrift dem verehrten verstorbenen Ge- 
heimen Komnieriieniul Wilhelm S|:eu;aini in Stulrj;ur;, de: sie als Ver- 
leger von Burckliardts ..Weltgeschichtlichen Betrachtungen" und der 
„Griediisclien Kullijnjescliichlc" von deren Herausgeber, Herrn Pio- 
fessor Jakob Oeri, IHiickhardts Neffe», überkommen hatte. D.e 

träge 1844-Sj, Basel irjiS, til:ern:»U gedreckt wurden. Sie befinde; 
siel, jet/i im MuelilaU Jak, Burckuardts in Basel, rmd meine Vermutung 
im ersten Abdruck des gegenwärtiger] Aufsatzes, sie sei von Speroinn 
dem Marhaeher Seliilli nüimenin irtdienlil worden, war ein Irrtum. Die; 
bat mir mimischen ein tlricf des Vorstand« da Marbacher Musen ins 
bestätigi. Die Abschritt, die mir Herr Spemaun zur VerSfleotlklmng 
üb er;; 11 b , ist liichjt tun i;:ir, nie der lleuusgdiui' der Vjrtiigc Irrige:- 
weite angibt, gemacht norden; diese Abschrift, die ich aus Spemanns 
Händen empfing, entstammt vielmehr der gleichen Qoelle wie die er- 
nannten Barckliardl-NachiaUwerte des Spema uns eher Vcilags. Indem mir 
Sipcraann die Erlaubnis rjr Veröfle-utSicti-jHu: gl.*', l'e-L]tl er zv^ieilo, <lie 
glriclie Anloi isaiion dafiir nie filr die anderen, die inn itim gedruckten 
Naclilall-.viri.e. Hiernach erwarte ieb, daÜ der Herr Herausgeber der 
Vorträge liiirckhardls seine tadelnde !lf iM-rkum; iil.cr meine Veriiileisr- 
lichung auf S. 439 van der nächsten Anllage an zurücknimmt. Einina! 
üt, mir icheint nach der nämlichen Vorlage, der Entwurf der ScfaiUer- 
rede bereits gedruckt worden, in der Sonntagsbeilage der „Basler 

Koti'.en". Ks hat lein allgemeines internste , den Giuhj f.ir diese 
irrige Angabe darzulegen. Die folgernd Ausgabe lililt sich strenger an 
die Fassung der I-landschrifl als der Abdruck der „Basier Nachrichten" J 
auch liibe icii einige dort lljiditi;; rugcdc.Uc; e Zitate au. n Sdiiller fe-t- 
geslclll und ergänzt. 

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stände und Iahalte für die Kunst. Drittens eine Neigung 
— soll man sagen: Parteinahme? — für das rationa- 
listische Element einer bewußten Kunst, zu deren 
näherem Verständnis eine Gespräch säußenmg Burck- 
hardts herangezogen sei: „Als Künstler steht Schiller 
höher als Goethe. Auf einen so nebensächlichen Um- 
stand die Krisis zu gründen, wie Goethe in seinem Tasso, 
hätte sich Schiller niemals erlaubt." Dies ist ein Stück 
vom Credo des späten Burckhardt. Schließlich: das 
Herausarbeiten des optimistischen Grundwesens Schillers. 



Zur Schillerfeicr. Vorabend. Auf 8./g. Nov. 59. 

Ausdehnung seines Rufes und seiner Feier über die Erde 
bis zu den Antipoden. [Zu diesen Merkwörtern gibt ein 
Beiblatt die wörtliche Ausführung '}.] 

Verehrte Mitbürger, Einwohner und Freunde ! 
Am Voiabend des Schillerfestes richtet die philosophische 
Fakultät unserer Universität durch mich ihren Gruß an Sie 
und heißt Sie hier festlich willkommen. Gehören doch die 
Abendstunden dieser Tage überall Seinem großen Ange- 
denken, und wo irgend Deutsche beisammen sind, werden 
sie jetzt seinen Namen feiern , und ein Häuflein Schweizer 
wird sich beigesellen, zu Melbourne in Australien wie zu 
Valparaiso am stillen Ozean. Freilich, was bei uns Abend 
ist, mag dort noch oder schon Morgen sein; auf den 
Schwingen der erdumwandelnden Abendstunde, nach dem 
wechselnden Meridian, zieht die Feier um die Welt. 

Denn sein Name ist unsterblich. 

Ob er diesen Ruhm ersehnt habe? 

Die Strophe aus dem Siegesfest 



') Seit Barrlchudt frei sprach, pflegte er wenigstens die Auffinge 
und Sdiliissc seinei Vnrtriijjc sdiriillidi fiM^ili^tu (über -leren Wicliliij- 
keit »gl. aneb Trog, S. 144 1. Filt du Answcndigwissen des Übrigen 
hatte er sich, wie mich der verstorbene verehrte Heidelberger Kollege 
KUlis versicherte, ein technisches System in der Art eines UrunttriUplanes 
von öitliolnjr Ariächanliclikiit iure; Ii irremacht. Über Burckhardt als Redner 
habe ich meine Erlehnisse in der „Historischen Zeitschrift", Neue 
Felge, 4,9. Band, S. 4460. geschildert. Ferner Heinrich G« lter, 
Ausgewählte kleine Schriften 1907, S. »95 (F.; Trog, S, r>7 ff. 

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„Dem Erzeuger, jetzt [dem Großen, 

Gießt Neoptolem des Webs: 

Unter allen hohen Losen, 

Hoher \ ater, preis' ich deins. 

Von des Lebens Gütern allen 

Ist der Ruhm das höchste doch; 

Wenn der Leib in Staub zerfallen, 

Lebt der grolie N'ame noch"]. 
Und dieser Ruhm, den er schon bei Lebzeiten genoß, 
wird ihm bleiben bis ans linde der deutscheu Nation, weil 
er nicht bloß auf ästhetischer ftew und erring beruht, sondern 
auf einem tiefen Einklang mit dem Seelenleben lange nicht 
bloß der deutschen, sondern aller Nationen. 

Er ist darin einzig unter den neueren Dichtern, ohne daß 
er der „Größte" zu sein braucht. 

Er würde mancher Überschweuglichkeiten lächeln, wenn 
er hören könnte, wie man ihn über Andere setzt; ihm und 
seiner hohen Art anzuschauen war es gewiß am allerklarsten, 
wie die großen Dichter aller Zeiten einander ergänzen, nicht 
weil Einer absolut größer ist als der Andere, sondern, weil 
jeder audeis. Aber jene Eigenschaft gehört doch zu den 
segens vollsten. Es ist die angeborene und ausgebildete Be- 
geisterung für das Gute und Rechte, beruhend auf einem 
völlig idealen Naturell; er will vor Allem dieser [Begeisterung] 

Doch das groPe liild der Welt, das er wie alle großen 
Dichter aus sich herauszufordern hat, enthält ja viele Einzel- 
teile, wo diese Eigenschaft sich nicht zeigen kann. Z. 15. 
Schilderung des äußeren Daseins, der Natur, Scherz und Ge- 
nuß. Aber sie zeigt sich doch; aus dem untergeordneten 
Bilde errät man den reinen Blick, der es schaute, die feste 
Hand, die es zeichnete, mit anderen Worten: den Menschen 
Schiller immer heraus. 

Und dann der negative Nunweis : es sind keine Gedichte 
aus seiner reifen Zeit da, welche jener früheren Jiegcisieruns; 
widersprachen. 

Seine Jugend fällt in die sogenannte Sturm- und Drang- 
periode mit ihrem unbändigen Sichroi drängen der Empfindung 
tale quäle, die bei größter Heftigkeit doch sehr arm an Ge- 
staltung sein kann und sich in Ermangelung wahren Ausdrucks 



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dem Ungeheuerlichen überließ. Und doch, schon in «einen 
frühesten lyrischen Gedichten und Dramen dringt jene wahre 
Begeisterung oft so siegreich durch. 



Mitten aus wilden ■{ ^Jv^^ \ Gesangen [Wellenschlägen 



zwischen Klopstock und Schubatt) erhebt sich stellenweise 
strahlend die ideale Natur und findet den echtesten Liedes- 
klang (Hektors Abschied) 

„Darum flichn, [wie ohne Widerstreben 
Sklaven an den Sieger sich ergeben, 
Meine Geister hin im Augenblicke, 
Stürmend über meines Lebens Brücke, 
Wenn ich dich erblicke". 

Das Geheimnis der Reminiscenz. An LaunJ. 

Seine Jugendliebe schmiegt sich an die höchsten, obwohl 
wunderlich gährenden Gedanken von Gott und Unsterblichkeit. 



„Weisheit [mit dem Sonuenblicli, 
Groue Göttin, tritt zurück], 
Weiche vor der Liebe ! 
Wer die steile Sternenbahn 
[Ging dir heldenkühn voran 
Zu der Gottheit Sitze? 
Lockte sie uns nicht hinein, 
Möchten wir unsterblich sein? 

Liebe, Liebe leitet nur 

Zu dem Vater der Natur, 

Liebe nur die Geister." DerTriumph der Liebe. | 



Er wird melancholisch, aber nie zerrissen- interessant ; miß- 
handelt und höhnt den Leser nie. 

Frühe Dramen: Räuber, Fiesko, Kabale — sie mußten 
sogen. Tendenzstücke sein, eben weil Schiller sein Ideal vom 
Guten und Rechten an die phantastisch gesteigerte Wirklich- 
keit hielt. 

Läuterung der Erfindung und des Stils in den drei Stücken. 

Dann, seit 1785, folgt auch sein Stil seiner Gesinnung. 
Das erste Drama des idealen Stils: Don Carlos. Mit voller, 
mächüger Absicht schafft er den Posa. „Seine Neigung war 




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die Welt mit allen kommenden Geschlechtern." (Alles un- 
historisch und a priori unmöglich und doch Posa in der Ent- 
wicklung der deutschen | g^ßjjj^t } UneotDenrl ' cn )- Dieser 
Kosmopolit die nationalste Figur. 

In der Lyrik: Das Lied von der Freude — { 

?* a ? sc l J 1 . . 1 — aber kerne Literatur der Welt 

logische Prüfung nicht aus ) 

besitzt wohl etwas Ähnliches. Die Götter Griechenlands, die 
man ja nicht zu dogmatisch nehmen darf, auch nicht das 
„Einen zu bereichern unter allen 
Mußte diese Götterwelt vergehn!" 
— vorher und nachher gibt es die deutlichsten Aussagen von 
Schillers Monotheismus. Dann: sein Programm über die Be- 
stimmung der Poesie auf Erden: die Künstler; das höchste, 
welches je aufgestellt worden. Neben seinen philosophischen 
Schriften und Briefen über Dou Carlos der höchste Beweis 
für seine Gewissenhaftigkeit im Fache. 

Fortan ist ei einzig unter allen lyrischen Dichtern, weil er mit 
stark em gelaute rtemWi Ilen de r Verewigung j c g;™^^ 0111 ™' 5 } 
wesentlich entsagte. (Hierin groß: Properz, Orid, Byron, 
V. Hugo, Goethe.) 

Er verewigt das Ganze einer Empfindung in der edelsten 
und gewaltigsten Stilform; fortan sammelt er alle Strahlen des 
Gefühls vollständig, so daß er trotz des Allgemeingültigen so 
ergreift, wie nur das Momentane irgend kann. 

Tausende haben schöne l.iebeslieder gedichtet, nur Er die 
„Würde der Frauen"; nur Er das Allgemeine der Sehnsucht: 
„Ach, aus dieses Tales Gründen, 
Die der kalte Nebel drückt. 
Könnt' ich doch den Ausgang finden . . ." ; 

[Sehnsucht] 

mir Er das Altgemeine der heiteren gesellschaftlichen Stimmung : 
Und so finden wir uns wieder 
[In dem heitern bunten Reihn, 
Und es soll der Kranz der Lieder 
Frisch und grün geflochten sein , . . 

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Zückt vom Himmel nicht der Funken, 
Der den Herd in Flammen setzt, 
Ist der Geist nicht feuertrunken. 
Und das Herz bleibt unergötzt. 

Die Gunst des Augenblicks. ' 

Nur Er die Erscheinung der Poesie im Leben: „Das'Mäd- 
chen aus der Fremde" und ihre Herrschaft: „Macht des 
Gesanges". Endlich hat nur Er sich zu jenen kurzen er- 
greifenden Programmen sammeln künnen : „Hoffnung", „Worte 
des Glaubens", „Worte des Wahns". 

Von dieser zentralen Eigenschaft ans wühlt er auch seine 
Halladen stotre und behandelt sie. Das Jahr 1.797. Er nimm: 
nicht die erste beste Soge, die einen poetisch -fremden Schimmer 
hat und in Prosa schöner ist als in Versen, sondern lauter 
Gegenstünde, wo ein großer, menschlich bedeutender Inhalt 
in der Erzählung schön aufging. „Kraniche des Ibykus" 
— - Rache der Gotter für den Mörder des Dichters. „Bürg- 
schaft" — die siegreiche Macht der Treue. „Kampf mit 
dem Drachen" — das gemeinsame Ideal von Heldenmut ui-.d 
Gehorsam. „Gang nach dem Eisenhammer" — göttlicher 
Schutz über die Unschuld. Endlich hat . er geistige Bilder 
des ganzen Lebens und seiner höchsten Ursachen und Zu- 
sammenhänge in großen künstlerischen Formen entworfen: 
Die Glocke — worin sich das Bürgertum erkennt. Der 
Spaziergang — {kunstreiche Verflechtung von Landschaft und 
Menschenleben). Das eleusische Fest — der Ursprung der 
Gesellschaft und Sitte unter dem Segen der Götter. 

Derselbe ideale Geist offenbart sich merkwürdig in den 
Dramen der reifsten Zeit: Maria Stuart, Jungfrau von Orleans, 
Braut von Messina, Wallenstein, Tel]. 

Unser Maßstab stammt heute wesentlich von Shakespeare 
her. Dieser schildert die leichte Oberfläche, die leiden- 
schaftliche Mitte und die Abgrundtiefe des menschlichen 
Wesens; er erkennt die Welt als eine gemischte zwischen 
Wahrheit und Lüge; Gutes und Böses ist bei ihm nur be- 
dingt vorhanden; über beiden stehen die geheimsten geistigen 
Lineamente, der besondere innere Kern jedes Karakters. 
Seine Personen handeln mit solcher Notwendigkeit nach 
ihrem Wesen, daß man die Menschen selber zu sehen 
glaubt. Da entsteht endlich auch der wunderbar gemischte, 

S..B..E, Jakob EluckhMflr. 6 



sich selber rätselhafte und dem Zuschauer durchsichtige 
Kataster : Hamlet. 

Bei Schiller sind gerade in der reiferen Zeit alle Karaktere 
ursprünglich gut. Sie haben nicht ein angeborenes fatalisti- 
sches Recht, nach ihrem Wesen zu handeln wie bei Shake- 
speare. Auch bei den Widersachern der idealen Karaktere 
erklärt Schiller, warum sie so geworden (die Teufel a priori, 
Franz Moor, Sekretär Wurm etc. kommen nur in seinen 
jugendwerken vor). Elisabeth kann noch immer neben Maria 
Stuart bestehen. Ottada Piccolomini neben seinem Sohn und 
neben Wallenstein Oberst Buttler. Selbst auf Geöler ruht noch 
ein letzter Abglanz dieser Art; sonst dürfte Harras ihm nicht 
Vorstellungen machen. 

Woher das ? Gewiß nicht aus Armut der Phantasie, auch 
nicht aus weichlichem Widerwillen gegen das Zeichnen von 
Schurken und Verbrechern, sondern Schiller hielt die mensch- 
liche Natur Itir gut. 

Alles Tun und Denken der Wichtigsten und Größtea in 
dieser Humanitätsperiode ging von dieser Voraussetzung aus, 
und die französische Revolution begann ausdrücklich damit. 
Sie konnten Großes, weil sie Großes hofften. 

Daher diese Dramen allerdings nicht das Vollkommenste 
in ihrer Gattung; aber die Menschheit wird um so lieber 
ewig ihr Bild darin erkennen, weil die Karaktere normal 
(nicht wie Byrons unverstandene böllentiefe Weltverächter und 
die unwahren Figuren Viktor Hugos) sind. Und die eigent- 
lich idealen sind dann mit einer solchen Glut der Begeiste- 
rung geschildert, daß sie auf immer das gehebte Eigentum 
des deutschen Geistes bilden müssen: die vom Unglück ver- 
klärte Königin Maria, das herbe wunderbare Mädchen von 
Orleans. Das Höchste wohl : Max Piccolomini. „Sein Leben 
liegt faltenlos und leuchtend ausgebreitet!" Ein solches Bild 
als Ideal ganzer jugendlicher Generationen ist ein wertvoller 
Besitz für das ganze Volk. 

Dramatisch das Meisterhafteste: Wilhelm Teil. Mit höch- 
ster künstlerischer Sicherheit verteilt der Dichter seine gleich- 
mäßig fortschreitende Handlung in drei Zweige, die sich ver- 
schlingen: Tel!, die Verbündeten, Rüdem und Bertha. Ein 
ganzes Volk, in reicher Abstufung von Karakteren, schreitet 
unwiderstehlich sicher dem Abschluß seiner Befreiung zu; der 
Eindruck der einer majestätischen Notwendigkeit, eines eviden- 

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ten Rechtes. Und dieses Drama zugleich das höchste Ge- 
schenk Deutschlands au die Schweiz. Günstige Vorurteile 
und Gefllhlc seitdem in regerem Austausch. Wer will die 
seitherigen Verzweigungen der Sympathie berechnen! Über- 
haupt wer kann den Segen ernsten künstlerischen Wollens 
eines großen Dichters berechnen, der seiner Nation das Beste 
gönnt! Er ahnte, wieviel in seinen Händen lag; nicht um- 
sonst redet er die Dichter an: 

Der Menschheit Würde ist in euere Hand' gegeben. 
Bewahret sie! 

Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben! 



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Druck i'on Friedrich Andrr.s Verth» A.-G. üolka 

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