Burckhardt,
Deutschland
und Schweiz
Carl Neumann
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B R Ü C K E N / I
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Jakob Burckhardt
Deutschland
und die Schweiz
Carl Neumann
cid. Profeieor er, der Universität Heidelberg
Verlag Friedrich Andreas Perthes A.-G. Gotha 1919
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260164
N0V181922
Vorwort
Die vorliegende Schrift bringt den durchgesehenen,
mit einigen ZuBätzen vermehrten Neudruck zweier Auf-
sätze, die in der Deutschen Rundschau von 1907 und
1918 zuerst erschienen sind (Jahrgang 34 und 44).
Die Ausgabe von Burckhardts Schilierrede von 1859
betreffend, verweise ich auf meine Fußnote zu S. 76.
Im Bildungsgang Burckhardts hat die Auseinander-
setzung mit der Kultur der drei Nachbarn der Schweiz,
mit der deutschen, französischen und italienischen, einen
um so wichtigeren Platz, als sein Vaterland auf der
Zusammenschichtung eben jener drei Elemente auf-
gebaut ist.
Burckhardts Jugendbegeisterung für Deutschland lieii
merklich nach, seit die Beschäftigung mit der italienischen
Renaissance ihm Glück und Trost ward. Doch war die
Ursache jenes Wechsels in seinem Empfinden keine
besondere persönliche Verstimmung. Vielmehr war die
gesamte Europäische Lage seit der Mitte des neun-
zehnten Jahrhunderts für ihn dauernd der Gegenstand
groller Angst und Sorge. Demokratie und Imperialis-
mus, kulturwidrige Massenanhäufung in den zunehmenden
Großstädten, Kapitalismus und Staatsschuldenanwachsen
schienen ihm fast Anzeichen lies jüngsten Tages.
..Der allgemeine Weltlauf, schrieb er 1SS8, scheint
mir mißfälliger zu werden von Jahr zu Jahr, und dies
unabhängig von meiner eigenen Alterung". Er hat
eine kommende Sündßut prophezeit.
Den Druck der dunklen Wolken, die von allen Seiten
heraufstiegen , hat Burckhardt deutlich verspürt. So
würde er auch den Ausbruch des Wel tun gewittere als
die längst befürchtete elementare Katastrophe empfunden
haben, die, ohne menschlich nachrechenbare moralische
Schuld- und Sündenzuteilung an die Einzelnen, als ein
furchtbares Schicksal über die Welt gekommen ist.
Heidelberg, Dezember 1918.
Inhalt
3<i.e
I. Jakob Burckhardts politisches Vermächtnis
i. Einleitend« . . , . , , . , , , , . , . i
3. Da» Bich: Weltgeschichtlich« Betrachtungen ... o
3. BnrckhardlunddiEdcmnkritisclicGltichhcitlidKCti.ii
einem Exkurs über d«s Verhällnii Bnrcfch»rdU m
4. Enrckhardt nnd die Maciitpolitik ....... aj
5. Bnrckhirdt der Moralist , . . 3-)
II. Die Jugend Burckhardts und die Entstehung
seines RenaissancebeRtiffs
i. Die Entdeckung der KenaiMancc ±2
i. BBrckh»rdt3 romantische Zeil fii
1. UarckbardlB Gedicht n» rede »gl Schiller 18 jt ) . . 74
OigrlueO 0* Google
I. Jakob Burckhardts politisches
Vermächtnis
i. Einleitendes
Goethe sagte am 25. Februar 1824 im Gespräch zu
Eckermann; „Ich habe den großen Vorteil, daß ich zu
einer Zeit geboren wurde, wo die größten Wcltbegcbea-
heiten an die Tagesordnung' kamen und sich durch mein
langes Leben fortsetzten, so daß ich vom Sieben-
jährigen Krieg, sodann von der Trennung Amerikas von
England, ferner von der Französischen Revolution und
endlich von der ganzen Napoleonischen Zeit bis zum
Untergange des Helden und den folgenden Ereignissen
lebendiger Zeuge war. Hierdurch bin ich zn, ganz andern
Resultaten und Einsichten gekommen, als allen denen
möglich sein wird, die jetzt geboren werden, und die
sich jene großen Begebenheiten durch Bücher aneignen
müssen, die sie nicht verstehen."
Die Resultate und Einsichten seiner politischen Weis-
heit hat uns Goethe nicht in zusammenhängender Dar-
stellung mitgeteilt.
Groß war die Überraschung, als uns ein ähnliches
Werk geschenkt wurde, in Goetheschem Geist empfunden
und gedacht, historisch -politische Betrachtungen von
Jakob Burckhardt, dem großen Historiker und Kunst-
historiker '). Burckhardt ist 1818 geboren. Er stand
'I J.ikob liiircklurdt, Wchsodi^Uliclie «etmctiW'iKfii. Heraus-
gegeben Ton Jakob Oeri. Berlin nnil Stuttgart, W. Spemann. 1905.
Seitdem in dritter Auflage.
Keiimtm, >ltt>b BucUuudr. I
zu Goethe, wie die deutsche Jugend vor dem Wehkrieg
zu Bismarck stand. In einem seiner Studentenbriefe der
Berliner Zeit liest man: „Morgen sind es zehn Jahre,
seit Goethe gestorben ist, da geh ich zu Beitina"
(21. März 1842), und diese Goethe- Atmosphäre blieb
seine Lebensluft, da er sich später immer mehr in
Kunstbetrachtung und das historische Studium großer
Kunstcpnchcn einzuspinnen schien, so auch der Welt
als Verfasser des „Cicerone" und der „Kultur der Re-
naissance" bekannt geworden ist. Diese, wie es schien,
festgelegte Physiognomie des Denkers und Schriftstellers
ist in ungeahnter Weise bereichert worden, seit die
Veröffentlichungen aus dem Nachlaß uns die Resultate
seiner die ganze Welt- und Zeitgeschichte umspannen-
den Beobachtungen mitgeteilt haben. Nun sehen wir
nicht nur, wie tief die Wurzeln seines Wissens gegriffen
haben, sondern auch, welche Nahrung ihm aus Anschau-
ung und Miterleben der Gegenwart gekommen ist, da
er denn als Jüngling in den hoffnungsreich -enthusiasti-
schen vierziger Jahren gestanden, die 48er Revolution
erlebt, das zweite Kaiserreich, Syllabus und Vatikanum,
die Erfüllung der deutschen und italienischen Staatsein-
heit gesehen hat. Auf diesem Punkt, da er eben sein
fünfzigstes Lebensjahr erreichte, kam ihm der Wunsch,
sich über seine weit- und zeitgeschichtlichen füfahrungen
Rechenschaft zu geben, und so ist eine Niederschrift
entstanden , die den Kern des aus dem Nachlaß ver-
öffentlichten Buches bildet. Zweimal hat er sein Manu-
skript zu Vorlesungen an der iiaselcr Universität benutzt,
1E68 und wieder 1870/71 im Schlachtendonner des
deutsch - französischen Krieges, und besonders diese
Wiederholung war es, die der Vorlei-ung einen über
das Maß eines Universitätserfolg es hinausgehenden Ruf
verschafft und die Neugier nach Inhalt und Fassung des
Vorgetragenen wach erhalten hat. Denn dem berühmten
Dozenten saß damals eine «erdende Berühmtheit in der
Person eines zuhörenden Kollegen gegenüber, der denn
auch nicht verfehlt hat, über deu Eindiuck des Ge-
hörten zu sprechen. Dieser Hörer war Friedrich Nietzsche,
seit 1869 Professor der alten Philologie in Basel, ein
Bewunderer des 26 Jahre älteren Burckhardt , und sein
Urteil über das Kolleg lautete so: „Ich glaube der
einzige seiner sechzig; Zuhörer zu sein, der die tiefen
Gedankengänge mit ihren seltsamen Brechungen und
Umbiegungen, wo die Sache an das Bedenkliche streift,
begreift." Es war, wie er weiter schreibt, die erste Vor-
lesung, an der er Vergnügen hatte. Seit diese Bricf-
stcllc gedruckt ist, will es mit den Vermutungen nicht
stille werden, wie es mit dem geistigen Zusammenhang
Nietzsches und Burckhardts stehe, und ob nicht gar
Burckhardt für einige der späteren Lieblingsgedanken
Nietzsches verantwortlich zu denken sei, und dies ist,
man könnte fast sagen: die pikante Zutat, die dem
selbstverständlichen Interesse an Burckhardts „Welt-
geschichtlichen Betrachtungen " den Augenblicksreiz
einer „Aktualität" hinzufügt.
Wenn man dieses Buch gelesen hat, bleibt zunächst
das Gefühl, daß es niemanden geben könne, 'der es
nicht zu seinem größten Nutzen lesen würde, Politiker
und Professoren , Soldaten und Philosophen und jede
Art Menschenkenner, Kaufleule und Geistliche. Freilich
muß man es wiederholt lesen (es sind auch bloß 275
Seiten). Denn beim erstenmal bemerkt man wohl die
vielen „schönen Stellen" und Einzelheiten, aber Dicht
sogleich die Grundgedanken, die alles zusammenhalten ').
Das Buch bat nicht den Charakter gedruckter Vor-
lesungen, nicht das Wortreiche, Zerfließende dieser Art,
wo der Redner sich im Vorwärtsgehen zu formulieren
sucht, aber auch Skizze, Entwurf ist es nicht. Denn die
Fülle und Schärfe der Analyse ist oft sehr weit ge-
bracht. Das ganze ist knai p und ohne überflüssige
Worte. Die Erkenntnisse lagen klar fertig im Kopf
und brauchten nur aufgezeichnet zu werden. Es ist der
Meister der Kultur der Renaissance, der zehn Jahre
später die Resultate seines geschichtlichen Nachdenkens,
seine „Philosophie", zu Papier bringt Was dem Buch
an manchen Orten fehlt, ist die verbindende Linie, der
Übergang, die Ubersicht, die nochmalige Formung- und
') „Ich habe ei dreimal gelesen", sagte
GSltingen iu Piofessor Julius Wellhanstn. -
wort, „ich habe ta fünfmal gclejen".
Stimmung <ies Ganzen, Dinge, die sich ein aufmerksamer
Leser leicht Gelbst ergänzen kann. Für diese mangelnde
Ausfeilung entschädigt, was nun ein Hauptreiz des Buches
in dieser halb improvisierten Gestalt geworden ist, daß
die kostbaren drastischen Ausdrücke , Wendungen und
Bilder, die in ihrer lebhaften Sinnlichkeit so stark an
Gottfried Keller erinnern, von der ersten Eingebung her
stehen geblieben sind und nicht literarischen Absichten
und Rücksichten haben weichen müssen.
Was ist nun aber der eigentümliche Charakter
und die Methode des Buches: Hiervon soll zu-
erst, von seinem Inhalt aber erst später gesprochen
Jeden Versuch einer Philosophie der Geschichte, ja
selbst die sogenannte Weltgeschichte, hat Burckhardt
skeptisch betrachtet. Geschichtsphilosophic nennt er
einen Zentauren, eine unmögliche Zusammensetzung, eine
contradictio in adjecto, wobei er im einzelnen, mit Hin-
blick auf Herder, gar nicht verkennt, daß sie ihre Dienste
geleistet und „einzelne mächtige Ausblicke durch den
Urwald" gehauen habe. Aber ihr Grundübel sieht er
darin, daß sie dem geschichtlichen Stoff ein Programm
oder einen Plan unterschiebe, dessen stufengemäße Durch-
führung und Erfüllung im zeitlichen Ablauf nachzuweisen
Hauptaufgabe werde. Durch diese vorgefaßte Meinung
trübe sich dann jede Unbefangenheit der Beobachtung,
und das Tatsächliche, auf dessen nüchterne Feststellung
alies ankomme, werde der Konstruktion eingebildeter
Entwicklungen geopfert. Dasselbe gilt für die religiöse
Geschichtsbetrachtung. Niemand wird einem Werke
wie Augustins „de civitate Dei" das Daseinsrccht
bestreiten. Als religiöse Gcschichtsüb ersieht steht sie
an der Spitze aller Theodizeen. „Uns geht aie hier
nichts an."
Diese schroffe Stellungnahme des Geschichtsempirikers
gehört zu den frühest ausgebildeten Zügen von Hurck-
hardts Natur. Aus den Berliner Briefen seiner Studenten-
jahre weiß man, mit welchem Grauen et aus Schcllings
Vorlesung gegangen war. Der Versuch Hegels war an
ihm völlig abgeglitten. D;;:iti hat er das 1856 erschienene
kleine Büchlein des Münchener Philologen Eruit von
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Lasaulx, „neuer Versuch einer alten, auf die Wahrheit
der Tütsachen gegründeten Philosophie der Geschichte",
offenbar durch den Titelzusatz „auf die Wahrheit der
Tatsachen gegründet" verliihrt, aufmerksam gelesen, und
auf diese Schuft hat er sich in mehrfachen Zitaten be-
rufen. Liest man heut dieses Büchlein, so ist wohl das
Staunen über Breithardts Dankbarkeit die erste Empfin-
dung. Man versteht die Sympathie für gewisse Grund-
stimmungen, den starken Idealismus, die pessimistische
Auffassung der Gegenwart, die Lasaulx wohl als Zeit
des Antichrist bezeichnet hat 1 ), den Sinn für historische
Größe, die Freiheit des katholischen Verfassers von kon-
fessioneller Befangenheit (das kleine Buch ist sogar auf
den Index gesetzt wurden) , und überhaupt ist es eine
in ihrer Art ergreifende, auf tiefe Überzeugungen ge-
gründete Arbeit. Aber die ganze Form und Einhüllung
des Buches in philosophische, religiöse, biologische Spe-
kulation ließ Burckhardt unberührt, der eben nicht Philo-
sophie, sondern „Wahrheit der Tatsachen" suchte, und
so bleibt nur festzustellen, daß die übrigens sehr geist-
und kenntnisreiche Schrift von Lasaulx ihm eine Reibungs-
fiaclie dargeboten hat, an der sich die eigenen Gedanken
entzündeten. Wie gegen die geschictitsphilosophischen
Versuche, so hegte er Mißtrauen gegen die „Welt-
geschichte". Wie profan und wissenschaftlich sie sich
gebe, sie arbeite im Bann von Zweckvorstellungen, ob sie
diese nun als leitende Ideen oder Mach tv erst hiebungen
oder nationale Tendenzen enthalte. Legt man Burck-
hardts Betrachtungen neben Rankes „Weltgeschichte"
oder des Grafen York „Weltgeschichte in Umrissen,
Federzeichnungen eines Deutschen" oder neben ent-
wicklungsgeschichtlichc Darstellungen, so springt schon
am Inhaltsverzeichnis in die Augen, zu welch radikalem
Mittel Burckhardt gegriffen hat, um jede Teleologie so-
wohl wie die Vorstellung kausalkollektiver Kontinuität
hinauszuwerfen. Was ihn von den andern von allem
Anfang unterscheidet, ist. daß er den chronologischen
'| In dtt 1904 erschienen tu Lusauiv - Riiigrapriic von [;cmh;ii_-
Stötilc, S. 367. Der Artikel der „ Allgemeinen Deutiehen Biggrsphie"
über Lasunli ist gua ungenttgend.
Aufbau der Darstellung als das Hauptmitte! der Ver-
führung, irgendeine Entwicklung aufzuspüren, verworfen
hat. Es gab kein heftigeres Mittel, sich gegen über-
einkömmliche Urteile, gegen jede fable convenue zu
sichern. .Wenn er später einmal im Sehen Nietzsche
vorschlug, Geschichte zu dozieren: „wie hübsch käme
vieles im Gegensatz zum jetzigen consensus populorum
auf den Kopf zu stehen", so lag wohl ein Anreiz dazu
in seiner eigenen Natur. Seine Bücher haben vom Kon-
stantin an bis zum letzten neue Werte geprägt. Es gab
immer schon Menschen, die Burckhardts Eigenstes in
dieser Ursprünglichkeit, Freiheit und Unbefangenheit des
Urteils herausfühlten. In einem Brief Erwin Rohdes an
Nietzsche vom Dezember 1870 — zwei Jahre, ehe Burck-
hardt den Ruf zur Nachfolge Rankes nach Berlin er-
hielt — liest man folgende, durch Nietzsches Teilnahme
an Burckhardts Vorlesung hervorgerufene Äußerung: „Es
gibt eine Art, die Dinge historisch zu sehen; damit
meine ich nicht jene triviale Professorenart, das ge-
heimnisvolle Tun des Weltwiliens in aufdringlich flacher
Art, mit Approbierung hoher Behörden, auslegen zu
wollen, als wäre die Mcnschengeschichte ein Kursus von
Sexta bis Prima. Gerade die Kunst, keinen Grund-
gedanken hineinzu dozieren, aber in Anschauungen
denkend das Wesen und Tun vergangener Zeit so zu
erkennen, wie nicht das aufgeklärte neunzehnte Jahr-
hundert sie erkennt, sondern wie sie damals lebten und
sich bewegten, das ist die hohe Kunst des Historikers . . .
Wenn es einen ganz spezifisch historischen Geist gibt,
so ist es Burckhardt." (Nietzsche- Briefe, Bd. II, S. 213
und Otto Crusius, Erwin Rohde, S. 71.)
Hören wir hier sein rein anschauendes, künstlerisches
Verhalten zur Vergangenheit als seine So nderart rühmen,
so klingt auch ein zweites mit, was in der Tat den tief-
sten psychologischen Grund zu der Abneigung enthüllt,
die Burckhardt gegen die übliche Teleologie oder Ent-
wicklungsdoktrin empfand. Die Entfremdung zwischen
ihm und der Zeit, in die er gestellt war, wurde großer
und größer. Zuwider war ihm der Optimismus des Uber-
legenhcitsgefühls der Gegenwart, ihr hochmütiges Mitleid
mit der Vergangenheit, der sie gern und in allem und
ledern den Prozeß machte, zuwider die „lächerliche"
Vorstellung des erreichten Fortschritts und der Hochmut
ihre» Schuldenmachens, als sei sie so vorzüglich wichtig
und großartig, daß sie für ihre Leistungen luhig die
Schulte in der Nachwelt belasten könne. Zu denken,
daß in einer solchen Gegenwart die gesamte Vergangen-
heit gipfle, daß alles Große früherer Tage nur eben Vor-
spann und Frohn für die Jetztzeit gewesen sein solle,
war für Burckhardts Stimmung unmöglich. Es war ihm
unmöglich, die Weltgeschichte auf die Gegenwart zu
orientieren; es hätte ihm das verletzende Gefühl einer
ganz verkehrten Raum- und Zeitperspektive gegeben.
Diese Stimmung schärfte seine Kritik zeitgenössischer
und jeder Geschichtskonstruktion überhaupt. Den von
verschiedenen Seiten und mit verschiedenen Mitteln unter-
nommenen Versuchen, die Geschichte zum Rang einer
Wissenschaft, zu einer Wissenschaft von Gesetzen zu er-
heben, setzt er den gelassenen Ausspruch entgegen, die
Geschichte sei die unwissenschaftlichste aller Wissen-
schaften, und so ist, als gelte es, das zu beweisen, diesem
Buch, wo man es gar nicht suchen sollte, ein erkenntnis-
theoretisches Kapitel angefügt worden, das eine gute
Anzahl der gewöhnlichsten Fehlerquellen in unseren ge-
läufigen Geschichtsurteilen zusammenstellt. Dieses sehr
kluge und zum Nachdenken anregende Kapitel steht
ganz am Schluß (S. 253 fr.) und hat den Titel 1 „Über
Glück und Unglück in der Weltgeschichte." Es handelt
sich hier nicht um die Falle, wo der gewöhnliche Egois-
mus die Unbefangenheit der Beobachtung und das Urteil
stört, nicht um die groben Einseitigkeiten konfessioneller
oder parteipolitischer Standpunkte oder die Trivialitäten
des durchschnittlichen modernen Hochmuts. Von sol-
chen wird mir eine gründlicher vorgenommen und ab-
getan, die übliche Geringschätzung von Zeiten, denen,
wie dem Mittelalter, die moderne „Sekurita't" fehlt, die
Sicherheit von Leben und Gütern »). Die erfrischende
') Dieser Lieblings ansdrncli HarckliardLs (Sekurilät) ist wohl von d
ihm uent Geprägt worden. Sollte es eine Remiuisicni an die mittel-/
allcrliclie Knoilwclt Italiens sein? Die Lorenz «tischen Fresken im ;
Ruha.ni von Siens teigen Uber dem Wohliland and der Sicherheit der, J
Allgegenwart der Gefahr wird wie ein wohltatiger Kriegs-
zustand gepriesen, und der friedliche Burckhardt kommt,
merkwürdig, wie oft, auf dieses moderne Vorurteil der
„Sekurität" mit all seiner Ironie zurück. In der Haupt-
sache aber sind es die feineren Verzweigungen des Egois-
mus, die als Fehlerquelle unsere Urteile hüben, und
deren wechselnden Formen und Temperamentsgraden
hier höchst eifrig und spannend nachgespürt wird. Sie
äußern sich in der Wertung großer geschichtlicher Vor-
gänge als glücklicher oder unglücklicher Ereignisse, und
diese Bewertung nach Glück und Unglück ist es, die
Burckhardt aufs Korn nimmt. Also z B. , man sagt:
Es war ein Glück, daß die Griechen über die Perser,
daß Rom über Karthago siegte . . . ein Unglück, daß
Cäsar ermordet wurde, bevor er dem römischen Welt-
reich eine angemessene Form sichern konnte . . . ein
Glück, daß die Welt durch die Völkerwanderung er-
frischt wurde durch gesunden neuen ViilkerstofF usw.
All dem setzt sich der Skeptizismus entgegen, der echte,
sagt Burckhardt, „von dem man nie genug haben kann".
Vor allem, man müßte den Ausdruck „Glück ■' im Völker-
leben ganz ausschalten. Wo er in Urteilen vorkommt,
sind es befangene und wertlose Urteile. Das Phänomen
ist alles, unsere Wertung unzureichend. „Völker haben
bestimmte große Lebenszüge an den Tag zu bringen,
ohne welche die Welt unvollständig wäre, und zwar
völlig ohne Rücksicht auf die Beglückung der einzelnen,
auf eine möglichst große Summe von Lebensglück."
Wir können Glück nicht definieren, ja selbst unsere
Phantasie hat kein Zutrauen , zu wissen , was Glück
ist. Da sieht nun eine merkwürdige, melancholisch
schöne Stelle:
„Nur das Märchen nimmt einen sich gleich bleibenden
Zustand Tur Glück. Die kindliche Auffassung, wie sie etwa
hier lebt, mag das Bild eines dauernden, festlichen Wohl-
befindens (zwischen Olymp und Schlaraffenland in der Mitte)
Kluren eine gcüügdte weibliche ücslatt scliwcbcnd, die Sccurila;, i;iit
einem Galgen »Ii Drohnng (Ur die Slürer des Hechtj in der einen Hand,
einer Schrift in der andern: Sema paur» ogn'aomo franco esmini nsn-.
fest in bannen suchen. Und auch damit ist es nicht einmal
gründlicher Emst: wenn endlich die bösen Zauberer tot, die
bösen Feen bestraft sind, dann regieren Abdallah und Fatime
freilich als ein glückliches Königspaar bis in ihr hohes Altet
weiter; aber die Phantasie gibt ihnen eigentlich gleich nach
dem Ende ihrer Prüfungen den Abschied, um sich weitet
nicht mehr für sie, sondern für Hassan und Suleika oder Leila
oder ein anderes Paar zu interessieren. Und doch ist schon
der Schluß der Odyssee so viel wahrer; die Prüfungen des
Dulders werden fortdauern, und zunächst harrt seiner noch
eine schwere Pilgerfahrt."
2. Das Buch
Die „Weltgeschichtlichen Betrach hingen" Burck-
hardts sind alles eher als eine Sammlung loser Apho-
rismen, wenn auch manches aphoristisch geblieben sein
mag. Der Stoff ist mit der größten Sicherheit nach
einer bestimmten, sehr besonderen Einteilung gegliedert.
Eine Kunstkraft hat hier gewaltet, die auf dem Gebiet
phaiitasievnllcr Auschauung genau .so klärend wirkt wie
Logik auf dem Felde des Verstandes. Überhaupt kann
man die Originalität eines Buches, das auch nur ent-
fernt den Anspruch eihcbt, eine Kunstleistung zu sein,
zu allererst aus seiner Disposition beurteilen. 1-lier siebt
man mit einem Blick, ob ein ursprünglicher Kopf da-
hinter steckt, da auf keinem Gebiet die gedankenlose
Routine so bequem und allmachtig ist wie auf dem der
Komposition. Unter Buickhardts Büchern hat wohl
keines eine genialere Anordnung als die vierhändig-
„Griechische Kulturgeschichte". Drei Bände lang Quer-
schnitte durch alle Stockwerke des griechischen Lebens,
Foliiik, Religion, Ethik, Literatur, Kunst, und dann der
große Schlußband mit der chronologischen Gesamt-
ansicht hellenischen Wesens in seiner Fülle, Tiefe und
Weite. Viele, die diese „Griechische Kulturgeschichte"
zu kritisieren meinten und sich dabei selbst kritisiert
haben, waren von jedem Sinn und Organ verlassen,
die große Kunst der Geschichtschreibung zu würdigen,
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die last einzigartig in jenem Werk sich aussprach. Wer
bloÜ auf Erudition sieht, dem geben auch die „Welt-
geschichtlichen Betrachtungen" mannigfache Blößen.
Nicht nur, daß ihre Veröffentlichung als Buch fünfund-
dreißig Jahre später kam als ihre Entstehung; auch für
die Zeit der Niederschrift ist wohl mancher Irrtum im
Tatsächlichen mitgelaufen. Fehler dieser Art anzumerken,
sollte aber — wir möchten fast hinzusetzen: anstands-
halber niemand wagen, der nicht über ein Wissen von
so großem Umfang und von solchen Horizonten verfügte
wie Jakob Burckhardt selber. Wo leben beute die
Menschen , die so gleichmäßig' die poetische wie die
historische Literatur samt der Erfahrungs quelle der bil-
denden Kunst beherrschen , die Homer und Firdusi,
Rabelais und Ariost, die serbische Volkspoesie und
Parzival kennen und Polybius so gut wie Gregor von
Tours, Sebastian Franck und die Memoiren des Empire
gelesen haben? Burckhardt kann vieles, was die meisten
von uns nicht mehr können; er kann, wenn er z. B.
den Charakter von Renaissancen in der Geschichte er-
läutern und Analogien bringen will, in einem Atem die
Herstellung der Juden durch Cyrus, das Königreich
Jerusalem der Kreuzzüge, die Restauration des alt-
persischen Despotismus durch die Sassanidcn, das Imperium
Karls des Großen als eine Erneuerung der Schöpfungen
eines Konstantin und Theodosius beschwören. Das alles
ist ihm gegenwartig und vertraut. Julius Wellhausen
sagte einmal, als auf diese Dinge die Sprache kam, zu
mir: „Er schwebt über den Dingen, so hoch, in solcher
Distanz, fast wie der liebe Gott."
Diesem ungeheueren Wissensstoff, den Burckhardt
aus Gründen, die wir besprochen haben, nicht chrono-
logisch aufreihen wollte, gab er eine eigene Anordnung
und Form. Er entwirft Querschnitte einzelner Gcschichta-
perioden der Menschheit unter dem Gesichtspunkt der
in ihnen vorwaltenden Lebensmächte. Diese Lebens-
mächte sind ihm der Hauptsache nach drei. Zwei stabile,
soziale Faktoren, deren einer sich auf dem politischen,
der andre sich auf dem metaphysischen Bedürfen der
Menschen aulbaut : Staat und Religion. Der dritte Faktor
ist andrer Art, beweglich, individualistisch, aus der
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Freiheit geboren: die Kultur. Bemerken wir gleich hier,
wie weit wir von jedem begrifflich theoretischen Rigoris-
miifl entfernt sind. Logische Systematik würde vielleicht
Kultur als Oberbegriff setzen und ihm unterordnen:
.staatliche Kultur, religiöse Kultur, sittliche, künstlerische
u. s. f. Burckhardt, der die praktisch fruchtbaren Unter-
scheidungen sucht, stellt den Z iva ngsgc bilden von Staat
und Religion die Kultur als freies, spontanes Erzeugnis
gegenüber und faßt darin Wissenschaft, Dichtung, Kunst,
Techniken, Geselligkeit zusammen. Die drei großen
Potenzen Staat, Religion, Kultur ergeben in den Mög-
lichkeiten ihrer wechselnden gegenseitigen Kausalitäts-
;ind Abhi.LiigiLrkcitsCTr.ido die vorwaltenden Formen und
Kategorien geschichtlicher Zustande, und die Betrachtung
der Varia'Uo n s moglichl: ei ten solclier Bedingtheiten bildet
den Körper des Burckbardtsclien Buches. Sechs Bedingt-
heiten werden unterschieden. Erstens, je nachdem der
Staat von der Kultur überwuchert wird oder als Theo-
kratie im Dienst der Religion festgehalten wird. Zweitens,
je nachdem die Religion vom politischen Staat beherrscht
wird oder sich durch überlegene Kultur modifiziert
findet. Drittens , je nachdem die Kultur sich in den
Staat fügen mtitl oder aber von der Religion kraft eines
heiligen Rechtes (wie in Ägypten) stillgelegt wird. In
diesen sechs Bedingtheiten können die Normalfälle des
gegenseitigen Verhältnisses von Staat, Religion und Kultur
r.te typische Erscheinungsformen geschichtlichen Lebens
untergebracht werden. Von der höchst lebendigen
Schilderung dieser Formen und Zustände bringen wir
hier keine Auszüge, da sich manches weiterhin der Be-
sprechung darbieten wird. Nur soviel ist als besonders
wichtig hervorzuheben, daß für BurckhardU historische
Betrachtung das Zuständliche Hauptaufgabe der ge-
schichtlichen Darstellung bildet und als 1 lauptansicht
geschichtlichen Lebens zu gelten hat. Ist somit die
Geschichte eine Abfolge verschieden gearteter Dauer-
zustände, deren charakteristische Merkmale zu fassen
die Aufgabe verallgemeinernder Beobachtung ist, so tritt
ergänzend eine weitere Aufgabe hinzu. Die noch so
konstanten Zustände lösen sich ab; es kann ein Zustand
den entgegengesetzten zur Folge haben. Das Zeitmaß
der Veränderung- kann ein allmähliches oder plötz-
lich einsetzendes sein , kurzum , es tritt neben die
Schilderung' der Zustände die Betrachtung 1 der Über-
gänge.
In beiden Fällen ist die Diagnose, wie sie aus dem
intuitiv anschaulichen Denken Burckhardts hervorgeht,
erstaunlich. Es war seine besonders glänzende Fähigkeit,
in der Gehäuftheit und im Strudel der Erscheinungen
die beherrschenden Zuge und einen gewissen Normal-
charaktcr herauszufinden. Was man etwa im „Cicerone"
bewunderte, in den berühmten Charakteristiken der
diottoschule oder des Barockstils, dieselbe künstlerische
Kraft, aus unendlichen Einzelbeobachtungen das Fazit
zu ziehen, und zwar ohne schulmeisterlich grammatik-
mäßige Gewaltsamkeit, sie waltet auch in den „Welt-
geschichtlichen Betrachtungen".
Als Lehre von den Übergängen sind die plötzlichen,
die Geschichte der Krisen, Revolutionen, Staatsstreiche
als die Form geschichtlichen Prozesses, wo das Wetter
in das Zeichen des Sturmes tritt, ein ungeheuer be-
schleunigtes Zeitmaß in die Bewegung aller Dinge
kommt, und die Luft durch Katastrophen gereinigt
werden muß, in einem besonderen Kapitel behandelt.
Es ist die Psychologie und Pathologie der Revolntions-
krisen.
Revolutionen pflegen in der historischen Überliefe-
rung das Schicksal zu erleiden, daß sie den stärksten
Gegensätzen der Beurteilung unterliegen. Die einen
sehen nur ein Phänomenales, Natu rg-ew altiges , Vulka-
nisches und stellen angesichts solcher Katastrophen ihr
persönliches Urleil still. Diese „Unfreiheit" der Revo-
lution konstatiert auch Burckhardt, er vergleicht sie
einem Waldbrand, was natürlich das Urteil über die
sittliche Verantwortlichkeit der Einzelbeteiligten zur Vor-
sicht stimmen und mäßigen muß. Den andern aber,
die entweder Revolutionen idealisieren, weil sie nur auf
die Zukunfts träume sehen , die solche Krisen verwirk-
lichen wollen, aber nicht können, oder die solche Zeiten
diskreditieren wollen, indem sie die Bestialität und Ge-
meinheit ausmalen , die fast selbstverständliche Begleit-
erscheinungen sind, ihnen allen wird Burckhardt gerecht.
Für alle Hofmungsfahigkeit menschlicher Natur, die er-
greifend in den Anfängen revolutionäre! Bewegungen
zutage tritt, fiir die Schönheit der Phantasiebilder (er
denkt an Athens sizilische Expedition, an den ersten
Kreuzzag, an die französischen cahiera) hat er ein volle«
Gefühl. Aber die Schönfärber warnt er, wenn sie die
ideale Gestalt einer Krisis mit ihrem spezifischen Geist
verwechsein , während jenes Ideal „nur der Hochzeits-
staat ist, auf den böse Werktage folgen werden", und
so zeichnet er gebührend die Habsucht der „Halte fest,
Kaube bald und Eilebeute", die mit der Revolution ihr
Geschäft machen. Auch häit er dem Optimismus der
Kcvolutions an fange seine „ schreckliche Unbilligkeit
gegen alles Bisherige" vor, gerade als wäre die eine
Hälfte der Dinge faul gewesen und die andere Hälfte
hätte nur gespannt auf eine allgemeine Änderung gewartet.
Trotzdem ist Burckhardt der Hauptsache nach in diesen
Dingen angstfrei.
„Aus der revolutionären Leidenschaft, die das Ab-
gestorbene verzehrt und mit toten Formen aufräumt, brechen
wie nach einem Fieber neue Kräfte der Gesundheit hervor.
Selbst der Himmel bekommt einen andern Ton. In ganz
ruhigen Zeiten umspinnt das Privatleben mit seinen Interessen
und Bequemlichkeiten den zum Scharfen angelegten Geist
und raubt ihm die Grolle ; vollends aber drängen sich die
bloßen Talente an die erste Stelle, daran kenntlich, daß
ihnen Kunst und Literatur als Spekulation zweige, als Mittel,
Aufsehen zu machen, gelten. Die große Originalität, hier
übertönt, libermault, muß auf Sturmzeiten warten, wo alle
Verlegerkontrakte samt den Paragraphen gegen den Nach-
druck von selber aufhören. Augustins ,dc civitate Dei' wäre
ohne den Einsturz des weströmischen Reiches kein so be-
deutendes und unabhängiges Bisch geworden , und Dante
dichtete die ,dhina commedia' im ExiL"
Von der Betrachtung der Krisen und Revolutionen
ist zur Beurteilung des Krieges als eines ähnlich be-
schleunigten Verfahrens im geschichtlichen Leben nur
ein Schritt. Über Frieden und Krieg stehen hier Sätze,
die den erstaunen machen, der Burckhardt für einen
weitabgewandten Ästheten gehalten hat. „Nur im Kampf
entwickelt sich das ganze Leben. Nur durch iha, und
zwar in allen Zeiten und Fragen der Weltgeschichte,
erfährt der Mensch, was er eigentlich will und was er
kann." Heinrich Leos Wort von dem frischen und
fröhlichen Krieg, der das skrophulöse Gesindel wegfegen
soll, wird beifällig zitiert. Drastisch werden die jammer-
lichen Notexistenzen geschildert, die im Frieden den
wahren Kräften den l'lali wegnehmen , die Luft ver-
dicken und das Geblüt der Nation verunedeln. Die sitt-
liche Überlegenheit des Krieges über den gewaltsamen
Egoismus des einzelnen wird anerkannt. Danach aber
folgen ein paar sehr skeptische FJnschränkungen, die
das Mißtrauen Burckhardts gegen jedes einseitig uber-
greifende Pathos deutlich bekunden: „Die Kriege von
heute", sagt er, und man meint ihn, wie es im Audi-
torium der Baseler Universität so oft zu beobachten war,
vorsichtig den Kopf vorschieben zu sehen, als wolle er
den Feinhörigen noch etwas vertraulich sagen :
„Die heutigen Kriege sind zwar Teile einer grollen all-
gemeinen Krisis , aber einzeln für sich ohne die Bedeutung
und Wirkung echter Krisen. Das bürgerliche Leben bleibt
dabei in seinen Gleisen, und gerade die jämmerlichen Not-
existenzen bleiben alle am Leben; diese Kriege hinterlassen
aber enorme Schulden, d. h. sie sparen die Hauptkrisis für
die Zukunft zusammen. Auch ihre kurze Dauer nimmt ihnen
den Wert als Krisen; die vollen Kräfte der Ver/.weiflun:;
werden nicht angespannt, und doch könnte nur durch sie
die wahre Erneuerung des Lebens erfolgen" (S. 162— 1 66) ').
Die Formen des geschichtlichen Lebens -— so haben
wir Burckhardts Auffassung erkannt - — gestalten pich
zu konstanten Zuständen, die ihre wechselnde Farbe von
dem bestimmten Grad der Durchdringung der großen
Weltpotenzen, Staat, Religion, Kultur erhalten. Ein Zu-
stand wird in einen andern hin üb ergeführt. Er kann
durch beschleunigte Prozesse und Krisen aus seiner Bc-
') Jeder Leser wird in dieser Stelle von selbst ergänien, ilaü
Burckhardt, hätte er den Weltkrieg erleben mttnen, ihn mit seinen Bn-
mittelbuco und mittelbaren Folgen alt eine „echte Krisis " ■nerkanntiätte.
'4
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harrung gedrängt werden. Aber daneben gibt ea eine
andre Form größter geschichtlicher Anstöße, die einen
bestehenden Zustand in Bewegung bringen und neue
Bahnen öffnen — die großen Männer des Schicksals.
Sie sind das Gefäß einer verdichteten, in ein höchstes
Individuelles konzentrierten Weltbewegung. Große
Männer sind zu unserm Leben notwendig, damit sich
die weltgeschichtliche Bewegung periodisch und ruck-
weise von abgestorbenen Lebensformen und reflektieren-
dem Geschwätz frei mache. Und nun kann man sich
denken , mit welcher Wonne sich Burckhardt in diese
andre Form der Revolution , in die Erscheinung des
Genius, in das „Mysterium der Größe" versenkt. Er
ist nicht von den kleinen Leuten, die aus hundert Ein-
flüssen einen Genius herau-rechnen, mechanisieren und
irgend kommensurabel machen zu können meinen. Viel-
mehr ist es ihm eine geheimnisvolle Verrechnung zwischen
Zeit und Mensch, wie das Leben auf einer gewissen
Stufe zur Offenbarung des mächtigen Individuums Anlaß
gibt, und wie ein Gesamtleben im großen Individuum
seinen gebietenden Ausdruck findet. Gar nicht hält er
sich bei der Zuteilung des Beinamens „ der Große "
auf, indem er diesen Zusatz für ein gänzlich unwesent-
lich es Merkmal erklärt, lediglich davon abhängig, ob es
noch andre gleichen Namens gegeben habe, von denen,
einer unterschieden werden müsse. Dagegen wird mit
immer neuen Wendungen das Verhältnis des einzelnen
zum Ganzen umschrieben: Magische Konzentration des
Volksgeistes, iegÖQ /d/ioc (heilige Ehe), nur in schreck-
lichen Zeiten vollziclihar. Sodann werden auf dem weiten
Verbreitungsgebiete der Künste und Wissenschaften, des
Mythus und des politischen Lebens die Inkarnationen
des Großen durchgenommen, die Kategorien der Größe
geordnet un<! die Merkmale der Größe psychologisch
analysiert. Durchgängig wird der abnorme Grad dieser
Begabungen und die Fähigkeit, gewisse Seelenspannungen
aushalten zu können (Friedrich der Große im Sieben-
jährigen Kriege), konstatiert. Hieran hängt das Schicksal
von Völkern und Staaten. Aber freilich ist die Folge
solchen Aus nähme Charakters der großen Individuen, daß
sie sittliche Vorb.lder nicht sein können, nicht zu sein
brauchen. Man kann es a priori nicht von ihnen ver-
langen, dieses Allerselteuste, Seelengröße und innere
Güte, ein Verzieh tenkönnen auf Vorteile zugunsten des
Sittlichen, „Ein Gran Güte" vermißt Burckhardt an
Napoleon. Aber das hindert ihn nicht , abschließend
xu sagen: Große Männer, und es ist wichtig, was er
hinzusetzt; „zumal in der Gestalt, wie sie idealisiert
fortleben", haben einen großen Wert für die Welt und
ihre Nationen. Sic halten einen hohen Maßstab der
Dinge aulrecht, sie helfen i,um Wiederaufraffen aus
zeitweiliger Erniedrigung. Napoleon, mit all dem Un-
heil, welches er über die Franzosen gebracht, ist
dennoch weit überwiegend ein unermeßlich wertvoller
Besitz für sie.
Burckhardt wäre kein Goethe -Jünger, wenn er an-
ders dächte.
Soviel also in Kürze über das Buch und den Inhalt
der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", wie sie der
treffliche Herausgeber, Profefsor Jakob Oeri, mit einem
Vejlegexiheitstitel getauft hat. Einen anspruchsvolleren
Titel wollte er nicht wählen, und gestehen wir, es ist
auch sehr schwer, den passenden Titel zu finden. Je
nachdem man mehr auf den körperlichen oder geistigen
Ablauf des geschichtlichen Prozesses merkt, könnte man
auf Titel geführt werden wie: Physiologie und Pathologie
oder Psychologie der Geschichte oder auch Ästhetik,
d. h, Formprhuipien der Geschichte. Burckhardt selbst
hat damals seine Vorlesungen (die aber nie in der Voll-
ständigkeit und Folge, die jetzt das Buch bietet, gehalten
worden sind; die Vorrede enthält über die Zusammen-
stellung- genaue Angaben) einfach: „Über Studium der
Geschichte" betitelt und sie für Menschen aller Berufe,
nicht für Fachhistoriker bestimmt, in der Meinung, daß
geschichtliches Verstehen ein wichtiges Element jedes
geistigen Lebens sei.
16
□Igiiized ö/ Google
3. Burckhardt und die demokratische
Gleichheitsidee
nebst einem Exkurs über das Verhältnis Barckhardts
zu Nietzsche
Hinter den bedruckten Blättern des Buches reckt
sich ein Unsichtbares, aber immer lebhafter als gegen-
wärtig Gefühltes in die Höhe, derart, daß der Leser
dieses Unsichtbare steigend als das sein Interesse Be-
herrschende empfindet: der Mensch, die Persönlichkeit
Jakob Burckhardt.
Von seiner Methode der geschichtlichen Erkenntnis,
und danach von dem, was er als „Methodik der Welt-
geschichte" beobachtet zu haben und zu verstehen ge-
glaubt hat, ist die Rede gewesen. So redlich wie
irgend möglich hat er, um die Linien des ungeheuer
rätselvollen Gewebes zu deuten, sich bemüht, ja eine
reichliche Dosis Skeptizismus hin zu genommen, alles den
Blick Trübende zu entfernen, sein Auge von allem Be-
langenden rein zu halten. Dabei verstand Burckhardt
nationale und patriotische Gefühle sehr wohl. Über
Patriotismus hat er sehr ausdrucksvolle Worie: Es seien
zwei Stufen, ein primitiver, da er unwillkürlich als Rassc-
tugend erscheine, teilweise vom Haß gegen die gespeist,
die nicht „Wir" sind; in abgeleiteten Kulturen aber in
den gebildeten Geistern als Bedürfnis der Hingebung
an ein Allgemeines, der Erhebung über die Selbstsucht
des einzelnen und der Familie, soweit dieses Bedürfnis
nicht von der Religion und von der Gesellschaft ab-
sorbiert werde. Die Beispiele von Karthago, Numantia,
Jerusalem zitiert er als Vorbilder der Menschheit in der
einen großen Sache, daß man an das Gemeinsame alles
setze, und daß das Einzelleben nicht der Güter Höchstes
sei. All dies gab er zu; der Historiker und Künstler
in ihm lehnte gleichwohl den Patriotismus ab. In
seinem Erleben war die nationale Leidenschaft eine
jugendliche Durchgangsphase gewesen, und die
Zeiten, da er als Bonner Student ein altdeutsches
Barett getragen und für Mutter Germania emp-
funden hatte, waren lang- überwunden '). Burckhardt
war Europäer geworden und nannte die national
empfundene Geschichte mit einem überharten Aus-
druck: Publizistik.
All dieser Ablehnungen und Reservationen un-
geachtet, wird man von einer so ausgesprochen künstle-
rischen Persönlichkeit, die sich am wenigsten darüber
lauschte, daß die Eikenntnis des Geschichtlichen auf
bloß wissenschaftlichem Weg unerreichbar sei, erwarten,
daß die Subjektivität an irgendeinem Punkt sich melden,
und daö — seien wir offen — der Zauber des Persön-
lichen trotz aller Versicherungen gegen „Erkenntnis-
fehler" seinen Glanz und sein höheres Leben aus-
strahlen werde.
Von vornherein wird man geneigt sein anzunehmen,
daß Burckhardt, der Kulturgcschichtschrciber, dem ganz
freien Bereich der Kultur seine besondere Neigung zu-
wende, und daß diese Vorliebe die Würdigung der
„stabilen" Potenzen Staat und Religion beeinträchtigen
möge. Alle Feinheit der Analyse politischer und reli-
gionsgeschichtlicher Probleme steigert sich, wo sich sein
Blick den freien Schöpfungen der Kultur, der Dichtung
und Kunst, zuwendet, und wo das Individuum, frei von
politischer oder metaphysischer Gebundenheit, seine be-
sonderen Aufschwünge wagt. Was Goethe und Schiller
als die „Freiheit des Partikiilters" über alles schätzten,
ist in Burckhardt lebendig geblieben, und wenn Treitschke
von Schiller sagt, er habe sehr wohl gewußt, daß die
Siege Kants und Goethes schwerer wogen als die Lor-
beeren von Marengo, so ist Burckhardt auf diesem
Boden des deutschen Idealismus stehen geblieben, und
hat den jähen Übergang zum Kult der Machtpolitik
') Auch hier die unmittelbar von Goethe kommende Linie. Man
Erinnere sich, was Goethe kart vor seinem Tode m Eckenninn über
Dichter und Patriotismus Iganz im Ende des zweiten Teils der Ge-
spräche} geäugt Int, vom freien Geist und der Kappe der Borniertheit
und des blinden Ilisiei. „ Uer Dichter i^l dem Adler gleich, der mit
freiem Blick Über Ländern ichwebt, und dem es gleichviel ist, ob der
Hui, auf den er herabichicllt, in PreoBen oder in Sachsen läuft."
und zur Materialisiert! ng unsrer Gefühle Dicht mitmachen
mögen ').
Der ungeheuere Abgrund, der sich zwischen der
Geisteskultur der eisten Hälfte des 19, Jahrhunderts und
dem wirlsch ältlichen Materialismus und der Machtkon-
kurrenz der Nationen seitdem aufgetan hat, und dessen
Überbrückung der Zukunft aufbehalten ist, behielt für
Burckhardt etwas Schreckhaftes. Es gibt Figuren
(Treitschke!), die mit kühnem Anlauf hinübersprangen.
Aber in einer Zeit vorwiegender Überzeugung«- und
Glaubenslosigkeit, wo das „Mitmachen" von allem und
jedem als sei bstverständlich und zeitgemäß erscheint,
bekommt die Zurückhaltung eines bedeutenden Geistes
einen ehrwürdigen Zug. Als hätte er, durch mannig-
fache Verfinsterung und Gleichgültigkeit hindurch, für
ein kommendes Geschlecht, ein heiliges Feuer zu hüten,
wenn denn einmal einer wann immer erscheinenden Zu-
kunft die Sehnsucht sich erneue, an diesem Feuer ihre
Fackeln zu entzünden! In den nächsten Jahren, nach-
dem Burckhardt seine Betrachtungen geformt hatte, gab
es bereits eine Anzahl erlauchter Unzufriedener, die in
engem Kreis mit ihrer Enttäuschung über die Fanfaren
des neuen Reichs nicht zurückhielten. Man muß deu
Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und Erwin
Rohde lesen oder Paul de Lagardes Schriften oder die
Stimmung Burclchardts, die sich in den 70er Jahren mit
steigender Antipathie gegen Deutschland erfüllte, kennen,
um die Verdichtung Didier Urteile zu verstehen, von
denen das große Publikum erst sehr viel später, 1890,
erfuhr, als der Rembrandt-Deutsche jene Oppositionen
und stillen Wünsche in den Satz zusammenschloß; Jena
habe Deutschland mehr genützt als Sedan I ») Es gibt
Besprechung der „Weltgeschichtlichen Betrachtung™" in der „Hirto-
iiselieri Z;ilsc[,rjft" s;i;;t l Yk-diidi J.U-^n^f- seilt pri.'.is: „Die Schuir,
des Kampfe* um Staat urj;l Knt.nn hat H-jrclharrll mein mit durchgemacht."
*) Man hat diesen „Itcmbrandt als Erzieher" abwechselnd geprieien
und beschimpft. Frans Overbeel: in Basel urteilte sofort treffend: „Ei
iit ein bedeatendes Buch. Es stehen gewifl 1000 Wahrheiten darin,
aher dann gewil) ebenso viele Dummheiten. " Seine Bedeutung als ge-
scfeicbtllchca Symptom habe ich in meiner RcmbrandUnographie (Zweite
19
Diflitizedb/ Google
Zeiten, deren erleuchtete Köpfe von fern ein gelobtes
Land sehen und aller Hoffnungen eich getrosten. Die
letzten Jahrzehnte sind nicht derart gewesen. Vielleicht
wird einmal die Geschichtschreibung von ihnen sagen,
daß die unerhörte Entfaltung von Verkehr, Presse, Öffent-
lichkeit jedes neugelegte Ei mit einem solchen Auf-
wand von Gegacker, Lärm , Reklame umgeben und
in bo viel Zeitlichkeit eingehüllt habe, daß mehr als
einmal die Besten den Ausblick und den Glauben, daß
vor lauter „Jetztzeit und Gegenwart" etwas Wertvolles
werden könne, verloren haben.
Burckhardt erschien seine Zeit als unmittelbare Fort-
setzung der Periode, die mit 1789 einsetzte, untrennbar
eins mit ihr, ein Zustand revolutionärer Zuckungen und
Krisen, deren vulkanische Ausbrüche ihn außerstand
setzten, abzuschätzen, wo etwa kostbares Neuland sich
bilden möge. Als grundlegende Elemente der „modernen
Kultur" betrachtet er zwei Autriebe, die Gleichheits-
bestrebungen und die Machtbestrebungen. Wir fassen
in diesem Abschnitt die erstgenannte Richtung ins Auge.
Die Gleichheitsbcstrebungen haben politische, wirt-
schaftliche, nationale Schranken niedergelegt; statt der
Burgerrechte haben sie Menschenrechte gefordert; sie
haben die moderne Demokratie hervorgebracht. Burck-
hardt beurteilt sie nach ihren nächst sichtbaren Früchten.
Die niedrigsten Formen des Begehrens, Erwerb und Ge-
winnsucht, sind obenaufgekommen. Für dieses „mise-
rable Terrain" von Besitz und Erwerb hat Burckhardt
eine ähnliche Verachtung wie sie Gottfried Kellers letztem
Roman Martin Salander die düstere Farbe gibt. In dieser
Gesinnung stellt er sich England gegenüber, und dies
ist die nun bereits historisch gewordene ältere Form der
Antipathie gegen England, die der Ideologen, die Ab-
neigung gegen das „Krämervolk", dessen Beispiel —
Antipathien sind manchmal gute Propheten — auch uns
zu Krämern machen werde Einer Gleichheitsbestrebung,
die alle niederen Instinkte entfessele, steht Burckhardt
Auflage, S. 13 — 19) tu di*r«kterisieren venncht. Der Rembrnndt-
Deuliche nur vielleicht eine Mediokrität. Aber die historijehe Be-
deutung sein« Buchet itt unverrückbar.
20
hoffnungslos gegenüber; denn sie tötet das Beste, was,
unbeirrt durch Rechnung und Erfolg, aus dem Innern
kommt In einer Zeit, wo die besseren Köpfe ins Ge-
schäft gehen, seien alle höheren Antriebe gefährdet und
vergiftet; die künstlerische und geistige Produktion greife
zur Reklame. Geschäftsgeist und Ausstellungswesen hin-
dern uns, lassen verlernen, daß man auf die Stimme des
Inneren hört. Dennoch kann der Haupt entscheid der
Zukunft nur aus dem Inneren der Menschheit hervor-
gehen, „Irgendwo muß sich die menschliche Ungleich-
heit wieder melden" l ). . "Nicht nur, wo das moderne
Gle ichh ei tsbe dürfen Eich nackt materialistisch gibt und
seine Gewinnanteile sucht, auch wo es sich mit Populari-
sierung von Bildung und Kultur brüstet, erfährt es liurck-
hardts Ablehnung. Er halt nichts von Allerweltskultur,
und die modernen Großstädte, wo sich diese Allerwelts-
kultur zentralisiert, sind ihm verhaßt. Schon wenn man
seine Jugendbriefc aus Berlin und Paris liest, ist dieser
Widerwille da, die Reaktion des selbstherrlichen Indi-
viduums, das Großes und Ewiges sucht, gegen die-Vot
dringlkhkeit des Tages, des Neuesten und seinen kin-
dischen Lärm. Wenn man schwarz auf weiß bestätigt
haben wi!I7 warum Burckhardt den Ruf an die Berliner
Universität abgelehnt hat, und warum ihm diese so-
genannten Herde moderner Kultur zuwider waren, so
muß man seine Gegenüberstellung der modernen Groß-
stadt mit einem freien geistigen Tau schp latz, wie er sich
das alte Athen vorstellt, lesen (S. 135^128). Die Zeich-
nung mag nicht ganz richtig sein, aber die Gesinnung
') An tiner Stelle, wo 10m antiken und germanischen Polytheismus
gesprochen wird, nnd wie sieb neben die Nnlnmrgouerang der Trieb
der Koltorvergötterong derart Helle, daS sieb die Leichtigkeit des
Üötler5chnlfcns ebenso achr aul Naturmhchte nie an! kultarachliUende
Gestallen erstrecke, bringt Burclhaitll Beispiele >on Knlurgoiiern , die
die uwiuehlfcbtn Tätigkeiten verklären, und verfolgt die Liste b» zu
den Nolhellern dei Mittelalters, dem heiligen Georg, dem Soldaten-
heiligen, und den Schrjtipulronen der Ante, dem heiligen Kosmas und
Damian. Und dann schüret er mit der ironischen Frage : Wie würde \y
der Olymp der heuligen Erwerbenden aussehe», wenn sie noch Heiden
sein müßlcn?J Wenn man an die Mächte des Kursiettils und der
SUatsgläubigeT, des Wettbewerbes, des lantercn und unlauteren, denk',
kann man sieh im Sinne Bsirckhanll« AnUvurl stiller geben.'
Burckhardts ist überaus deutlich '}. Was seine Ab-
neigung begründet, ist die Künstlicbkeit der Großstadt,
die Unfreiheit ihrer abgegrenzten Einzelsphären ohne
freien Gesamtgeist, das Mitmachen anstandshalber, der
Ranggeist, die Geselligkeit ohne innerliche Zusammen-
gehörigkeit, ein Publikum, das in Wahrheit zu nichts
Zeit hat, das unfähig ist, zu urteilen und also keinen
Maßstab und keinen Stil erzeugen kann. Wo inmitten
dieses ZuStandes nun gar der Einzelne sich zur Ver-
zweiflung und Resignation des Spezialistentums flüchtet,
empfindet dies Burckhardt als eine Barbarei roher Ge-
sellen.
Wie diese Ansichten vorgetragen werden, bilden sie
eb historisches Dokument. Es ist die Stimme eines
Predigers in der Wüste. Er bleibt dabei, daß das Bcsser-
Icbenwollen Materialismus sei, und sein Mißtrauen gegen
den „Genius" modernen Erwerbs dranges und Wohl-
lebens läßt ihn einen Satz von vollendeter aristokratischer
Härte niederschreiben : „Bildung als Menschenrecht ist
ein verhülltes Begehren nach Wohlleben."
Hier sind wir an dem Punkt unserer Betrachtungen
angelangt, wo sich eine große Frage auftut, die Frage,
wie man sich die Berührun g von ^ Burckhardt und
Nietzsche zu denken habe! Wenn"~inan sich gegen
die Demokratie und ihre durchschnittlichen Kulturerzeug"
nissc , wie sie sich am sichtbarsten konzentriert und
zentralisiert in der modernen Großstadt zeigen, dermaßen
ablehnend verhält, so läuft man Gefahr, einein entgegen-
gesetzten Radikalismus, einem aristokratischen, kurzum
den Klippen derjenigen Gedanken bahnen zuzusteuern,
die am geläufigsten mit dem Namen Nietzsches bezeichnet
werden. Für unsere Geistesge schichte ist es wichtig,
diese Möglichkeit zu beachten und die tatsächlichen
Beziehungen zwischen Burckhardt und Nietzsche fest-
zustellen.
') Man sehe auch Kunde* Briuf an Piieltiche über Burckhardts lle-
rafiiOE nnd die Anadriicke darin über Berlin. Nie Iis che - Briefe, Bd. II,
S. 35a. Äufleruugen der gleichen Abneigung gegen London t. B.
lirief an Aliotti 6. Aug. 1870; Unter Business und keine „Mafle, die
Matter aller Kontemplation and des daher stammenden Aufschwunges".
„Die kolossale Vcrscheufllichung des Stadtbild«".
Vor laugen Jahren, als ich nach Burckhardts Tod in
der Deutschen Rundschau 1898, Bd. XCIV, S. 374 ff.,
über Burckhardt das Wort nahm, hatte ich als Resultat
längerer Überlegung: die Ansicht vertreten, daß Burck-
hardt ganz andere Wege als Nietzsche gegangen sei.
Doch aber lag mir am Herzen, nachträglich die Ansicht
eines Mannes zu erforschen, dem als gemeinsamem
Freund Burckhardts und Nietzsches die genaueste Kenntnis
dieser Beziehungen zuzutrauen war, des Professors Franz
Overbeck, des inzwischen verstorbenen Baseler Theo-
logen. Er antwortete mir am 19. April 1S98 und be-
kannte aus persönlicher Erfahrung „in Hinsicht auf das
S. 382 f. Ihres Aufsatzes berührte Verhältnis zwischen
Burckhardt und Nietzsche " sein „Einverständnis mit der
Auseinandcrbaltung der Wege beider Manner, zu
der Sie sich hier bewogen gesehen haben". Die in-
zwischen gedruckten Erinnerungen Overbecks an Nietzsche
— höchst eindrucksvoll und in jedem Wort grüblerisch
überlegt, wie sie sind — bestätigen im einzelnen dieses
Urteil mit einer fast übertriebenen Schärfe und berufen
sich auf unmittelbare mündliche Aussagen Burckhardts,
die „eindringlich waren und un miß versteh bar, wie Burck-
hardt redete, wenn er reden wollte". Auf dieses Doppel-
zeugnis hin könnte man also die Sache für erledigt
halten, und es wäre überflüssig, darauf hinzuweisen, daß
die Veröffentlichung der Nach! aß werke Burckhardts ganz
und gar im Sinn jener Zeugnisse entscheidet. Seit die
„Griechische Kulturgeschichte" mit ihrer schroffen Ab-
weisung des antiken Übermenschentums gedruckt ist, seit
die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen", die Nietzsche
als Vorlesung kennen gelernt hat, vorliegen, muß jeder
Streit verstummen. Es ist klar, daß die Wege der bei-
den Männer nicht dieselben waren.
Dennoch liegt, sobald man das Verhältnis nicht im
ganzen und nach seinem Ausgang, sondern in seinen
einzelnen Phasen betrachtet, die Frage weniger einfach,
und ich neige immermehr zu der Meinung, daß es bei
Nietzsche doch keine Täuschung gewesen ist, wenn er
an eine Gemeinsamkeit mit dem älteren Mann glaubte.
An ein ernstliches p ersönliches Engagement ist hier-
bei nicht zu denken; solche hat es bei dem älteren
33
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Burckhardt wohl überhaupt nicht gegeben, Aber aus
einer starken Erinnerung gemeinsamer Gesinnungen und
Anschauungen muß es doch erklärt werden, daß Nietzsche
bis zu allerletzt die Hoch Schätzung Burckliardts festhielt
und noch in seiner letzten Schrift, die er vor dem Aus-
bruch der Krankheit geschrieben hat, in der „Götzen-
dämmerung", in der er vor nichts und gar nichts Hall
macht, vor Jakob Burckhardt mit großem Respekt den
Hut abzog. Wenn man die Schwierigkeiten entwirren
will, muß man durchaus die ersten Baseler Jahre seit
1867 von den späteren scheiden. Das eigene Zeugnis
Burckhardts, auf das Overbeck sich beruft, gehört dem
Jahr 1889 an und ist in dem Augenblick abgelegt, wo
die Krankheit Nietzsches ausbrach, also zwanzig Jahre
nach dem Beginn der persönlichen Beziehungen. Von
hier aus fiel ein Schatten nach rückwärts, der Burckhardt
zweifellos die Erinnerung an den harmloseren Verkehr
mit Nietzsche in dessen ersten Baseler Jahren trüben
mußte. Die Briefe aber, die zwischen 1874 und 1886
gewechselt wurden, seit Nietzsche Basel verlassen hatte,
und deren Anlaß jedesmal gegeben war, wenn ein neues
Bach Nietssches als Geschenk zu Burckhardt kam, diese
Briefe (jetzt zusammengedruckt im dritten Band der
Nietzsche briefe) müssen aus unserer Untersuchung aus-
geschaltet werden. Burckhardt hat sie mit offensicht-
licher Überwindung geschrieben, die mit jeder neuen
Zusendung Nietzsches peinlicher und gezwungener wird.
Ganz anders wird die Ansicht des Verhältnisses , wenn
man von dieser späteren Phase zu den Anfängen hin-
über blickt. Gemeinsame Interessen zwischen dem neu-
berufenen, ungewöhnlich begabten Ordinarius der allen
Philologie und einem so erfahrenen Kenner und Lieb-
haber griechischer Literatur und Kunst gab es genug.
Burckhardt hörte sich die Antrittsvorlesung Nk't.oclurs
an; dieser ging zu jenem ins Kolleg. Bald berichtet
Nietzsche von einer „herzlichen Annäherung zwischen
Burckhardt und mir". Oft wiederholt worden ist die
Erzählung aus dem Mai 1871, da die Kommune in Paris
herrschte, und auf die falsche Nachricht von der Zer-
störung des Louvremiiseums die beiden Männer instinktiv
zueinander geführt wurden, um den unsäglichen Kultnr-
24
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veilust und alle tiefen Probleme menschlichen Geschicks
zu bereden. Gern würde man die Gelegenheit suchen,
in das Tägliche und Augenblickliche dieses Verkehrs
hineinzusehen , wovon die Nietzschebiographie ja nur
kürnm er liehe Bruchstücke bewahrt hat , und sn liegt
es nahe, anderweit Ausschau zu halten , um sich
Ar' und Grad dieser denkwürdigen Beziehungen klar
zu machen.
Ein solcher Versuch ist nicht vergeblich, und wenn
wir es an dieser Stelle unterlassen, eine systematische
Analyse der Werke mit Rücksicht auf etwaigen gemein-
samen Gedankengehalt zu geben, so »erden ein paar
Zitate aus dem späteren Hauptwerk Nietzsches, dem
„ Zarathustra", vollkommen deutlich zeigen, mit welchem
Erfolg in der angegebenen Richtung geschürft werden
mag. Ich fange mit Kleinigkeiten und Spuren äußer-
licher Entlehnung an und bringe danach auffälligere Be-
rührungen.
Im zweiten Teil des „Zarathustra" im Abschnitt von
den Erhabenen (den pessimistischen Erkennern): „Noch
lernte er das Lachen nicht und die Schönheit. Finster
kam dieser Jäger zurück aus dem Wald der Erkenntnis.
Vom Kampf kehrt er heim mit wilden Tieren : aber
aus seinem Ernste blickt auch noch ein wildes Tier —
ein unüberwundenes!... Den Arm über das Haupt ge-
legt: so sollte der Held ausruhen, so sollte er auch
noch sein Ausruhen überwinden." „Den Arm über das
Haupt gelegt ausruhen", das ist z. B. die Haltung des
Apollino in den Uffizicn von Florenz, eine als Aus-
druck der Ruhe uns fremde Geste. Wie oft habe ich
Burckhardt in der Vorlesung über griechische Plastik
das charakteristisch Griechische dieses Motivs betonen
hören!
Im dritten Teil das prachtvolle Kapitel: die Heim-
kehr. „Aber da unten, da redet alles, da wird alles
überhört. Man mag seine Weisheit mit Glocken ein-
läuten: die Krämer auf den Markt werden sie mit
Pfennigen überklingeln I Alles bei ihnen redet, niemand
weiß mehr zu verstellen. Alles fällt ins Wasser, nichts
lallt mehr in tiefe Brunnen... Alles bei ihnen redet,
alles wird zerredet. Und was gestern noch zu hart war
für die Zeit selber und ihren Zahn, heute hängt es zer-
schabt und zernagt aus den Mäulern der Heutigen.
Alles bei ihnen redet, alles wird verraten. Und was
einst Geheimnis hieß und Heimlichkeit tiefer Seelen,
heute gehört es den Gassentrompetern und andern
Schmetterlingen . . .". Alles das sind oft wiederholte
Lieblingsgedanken Burckhardts, und sogar die Prägung
der Worte stimmt. Das „ Zerschwatz.cn" des heimlich
Gewachsenen durch Reflexion, Räsonnement, Ästhetik,
durch Theorie und Kiitik ist eine seiner starken Anti-
pathien. Zumal von der griechischen Kunst Eat er
gern gesagt, es sei ihr Vorteil und eine der Ursachen
ihrer Langlebigkeit gewesen , daß sie nicht wie die
Literatur „zerschwatzt" worden sei.
Im zweiten Teil: von großen Ereignissen. „Freiheit
brüllt ihr alle am liebsten : aber ich verlernte den Glauben
an ,, große Ereignisse", sobald viel Gebrüll und Rauch
um sie herum ist. Und glaube mir nur, Freund Höllen-
lärm! Die größten Ereignisse - — das sind nicht unsre
lautesten, sondern unsre stillsten Stunden . . . Und gesteh
es nurl Wenig war immer nur geschchn, wenn dein
Lärm und Rauch, sich verzog. Was liegt daran, daß
eine Stadt zur Mumie wurde, und eine Bildsaule im
Schlamme liegt! ... Im Schlamme eurer Verachtung
lag die Bildsäule: aber das ist gerade ihr Gesetz, daß
ihr aus der Verachtung wieder Leben und lebende
Schönheit wächst! sie wird euch noch Dank sagen,
daß ihr sie umstürztet, ihr Umstürzler! Diesen Rat
aber rate ich Königen und Kirchen und Allem,
was alters- und tugendschwach ist — laßt euch nur
umstürzen!"
Im ersten Teil die Kapitel: von neuen Götzen und
von den Fliegen des Marktes. „Staat heißt das kälteste
aller kalten Ungeheuer . . . viel zu viele werden geboren :
Jür die Überflüssigen ward der Staat erfunden! . . . Seht
mir doch diese Uberflüssigen! Reichtümer erwerben
sie und werden ärmer damit. Macht wollen sie und
zuerst das Brecheisen der Macht, viel Geld — diese
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Unvermögenden! Seht sie klettern, diese geschwinden
Aßen... Wo der Markt beginnt, da beginnt auch der
Lärm ttcr großen Schauspieler und das Geschwirr der
giftigen Fliegen usw." Hier klingt einfach alles an und
tönt nach, was auch Burckhaidt über das Verhältnis
des Äufleren zum Inneren, was sein konservativer Sinn
über Krisen und Revolutionen, was er über Staat und
Erwerbsucht und Streberei, über Großstädte und Reklame
gedacht bat. Und nun muß man sich etwa eine Stelle
in Bnrckbardts Vorlesungen wie die über die Notwendig-
keit des Bosen und der Bösen in der Weltjergegeri-
wärtigen _ und sich vorstellen, wie Nietzsche dabei die
Öhren"" gespitzt hat;
„Es wäre ein unerträglicher Anblick, wenn infolge konse-
quenter Belohnung des Guten und Bestrafung des Bösen hie-
nieden die Bosen sich alle aus Zweckmässigkeit anfiugen,
gut aufzuführen ; denn unvermeidlich vorhanden und innerlich
böse wären sie ja doch. Man könnte in die Stimmung
kommen, den Himmel wieder um einige Straflosigkeit der
(lösen auf Erden in bitten, nur damit dieselben wenigstens
ihre wahren ZUge wieder an den Tag legten. Es ist schon
so Verstellung genug in der Welt."
Nietzsche mochte denken, es sei lediglich Alter und
Temperament, was Burckhardt zurückhielt, mehr zu
sagen, und so „biege er ab, wo die Sache an das
Bedenkliche streife". In der Tat war Burckhardt in
dem Wunsch, seine Kreise nicht gestört zu sehen, über-
ängstlich. Er wollte nicht vorgenommen , nicht beim
Wort genommen werden, und so war es eine Art Feig-
heit, die ihn in Fragen der Gegenwart, in sachlichen
wie Personenfragen, zurückhielt, Partei zu ergreifen
(Pusillanimilät ist das Wort, das Overbeck gebraucht).
Stellt man diese Faktoren in Rechnung, so hat man die
Erklärung, was bei aller Zurückhaltung dem Verkehr
der beiden Männer auf Jahre hinaus Wärme und gegen-
seitiges Wohlgefallen gab. Ein Boden gemeinsamer
Gedanken und Wünsche war vorhanden. Und damit
man nicht glaube, lediglich Burckhardt sei der Anregende
und Gebende gewesen, so sei hier mit einer Vermutung
nicht zurückgehalten, die ich bis zu besserer Belehrung
27
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t hege. Ich glaube, daß Nietzsche es war, der Burckhardt
dazu gebracht hat, sich mit Schopenhauer einzulassen.
' Von selbst hat Burckhardt sicher nicht zu den Werken
des Philosophen gegriffen. Da wird es Nietzsche, der
uro 1870 noch ganz auf dem Boden Schopenhauers
stand, gewesen sein, der Hurckhardt in diesen Interessen-
kreis hineinzog. Eine Bekanntschaft, die für Burckhardt
manches bedeutete. Irre ich nicht, eo haben sich einige
Grundgedanken der „Griechischen Kulturgeschichte",
1 die In den siebenziger Jahren zusammenwuchs, an dem
Verkehr mit Schopenh auerscher Philosophie irientiert
und formuliert ').
Es ist, wie gesagt, nicht unwichtig, Aufklärung über
diese Berührungen zu suchen , und man soll sich das
Verhältnis Burckhaidts zu Nietzsche unter dem Gesichts-
winkel seines Ausgangs nicht allzu klar und einheitlich
vorstellen. Aber soviel ist sicher: an einem gewissen
Punkt, wann dies nun war, stießen sie an die Grenze
der Gemeinsamkeit. Burckhardt stand anders zum
Christentum ; Burckhardt stand anders zur Moral *j) Man
kann es mit einem WorTzusammenschlieiien : Burckhardt
stand anders als Nietzsche zur Übe rliefer ung. Das
Glücksgefühl des ganz freien Atemholens , "w^enn man
Brücken hinter sich abgebrochen und Schiffe hinter eich
verbrannt hat, war ihm fremd. Er liebte weder die
Radikalen noch die radikalen Lösungen. Davon wird
nachher zu sprechen sein.
*) Man sehe meinen Aufsatz über BurckhurJIs „Griechische Knllui-
guebichte". „IlislorischeZeitschrift". NeneFolge. Bd. 40, S. 425. 1900.
*) Hier wäre doch auf den Brief BurcthardU vom 26. September
1886 in verweisen, worin er sieh bei Nietucbe für die Ztuend-ing ton.
„Jenseits von Gut und Bös" hedsnkt (Nietzsche-Briefe, Ild. III, S. 188 IT.).
In seinem Btjjk'itlintf li.iite NLclisdic B. lidii'lii-licn ui:d -duvcij'-
Esjncn" Gesinnungsgenossen in Anspruch genommen. BnrofclianU dhll
'int i>.-™e l.E«tt voii liticreiriütimnianficn und ünn „Verbindlichem" auf.
die Sprache war. Über du mpralische Hauptproblem, m Mictadie
sich ein Echo erwartet, schweigt Barclihardt.
28
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4- Burckhardt und die Machtpolitik
('Den Charakter der gegenwärtigen Zeit bestimmen
nach Burckhardt die Entfaltung und Vorherrschaft der
Gleichheitsbestrebungen und des Machtwillens der
Staaten nnd Nationen, Von diesen beiden Kräften hält
er" die Gleichhcitsbestrebungen der Demokratie für die
stärkere; daher sein Urteil, daß, historisch genommen,
Rousseaus „Contrat social" ein wichtigeres Ereignis ge-
wesen sei als der Siebenjährige Krieg} Für unsere Ge-
wöhnung und unsre Instinkte ist hier vielleicht Burckhardt
am meisten befremdend. Wenn wir die zeitgenössische
deutsche Geschichtschreibung auf den Bahnen Rankes
wie Treitschkes die Machtbestrebungen der Nationen als
zugestandenes Hanptobjekt des gesell ichtlichen Lebens
und der Gcschichtschreibung behandeln nnd ihr das
Pathos ihres Vortrags entnehmen sehen, so hat sich
Burckhardt dieses Pathos und jedes Pathos kühl vom
Leib gehalten. Im dritten Band semer „Griechischen
Kulturgeschichte", wo er von der Philosophie des
Epikur spricht, liest man: Den Luxus der Rhetorik
konnte er verschmähen, weil er im Unterschied von
den Stoikern, bei denen immer das Postulat
vordröhnt, kein Pathos hatte. Das ist sehr Burck-
liardtiscb gesagt. Die Abwesenheit dieses ,, vor-
dröhnenden Pathos" ist eine seiner charakteristischen
.Wohl findet man ihn auf Wegen der Überlegung
wie diese: Nur an einem durch Macht gesichelten Da-
sein entwickeln sich die wichtigsten materiellen und
geistigen Besitztümer der Nationen. Machl Verschiebungen
kann eine große Erneuerung des nationalen Lebens ent-
sprechen. Ja in Gestalt einer Hoffnung und Ahnung
begegnet der Ausspruch : Wer die Macht will und wer
die Kultur will, vielleicht sind beide blinde Werkzeuge
eines dritten, noch Unbekannten ..,! Dennoch bleibt
als Grundton, daß die Kultur von der Macht nichts zu
erwarten habe, und es wird eine Psychologie der Macht
gegeben, die zwar an Karikatur streift, aber voll tiefer
29
Digitized Dy Google
Beobachtung steckt Macht sei Gier, die sich und andre
nur unglücklich machen könne. Mächtige Regierungen
haben einen natürlichen Widerwillen gegen das Geniale;
denn alles müsse nach der „Brauchbarkeit" gehen.
(Wobei einem der Ausspruch eines ehemaligen süd-
deutschen Ministers einfallen kann, mit zunehmendem
Alter werde man immer dümmer und immer „brauch-
barer" für den Staatsdienst.) Vor allem aber wie ein
Refrain: Macht und Staatseinheit halten für Kultur kein
Interesse; nur „Pfiffici" meinten, sie könnten dem ge-
eintsten Staat ihr Kulturprogramm vorschreiben. Die
großen Dynastien schreiben sich, gestützt auf ihren
Militarismus und ihre Büreaukratie, selbst das Programm
und lassen es sich nicht von unten, von der Kultur
diktieren. Sie werden auch mit der Konkurrenz der
demokratischen Bewegung fertig, und in diesem Sinne
nenntßurckhardt den Krieg von 1866 eine ,, abgeschnittene
Krisis ersten Rangs", in der sich die nationale Frage
als die fraglos mächtigere gegenüber der konstitutionellen
erwiesen habe , wonach die Macht ganz systematisch
nach innen und außen van obe:) her organisiert, werden
konnte. Merkwürdig bleibt es ja, däß rJurckhardt , der
für alle gestaltende Form so fein mitschwingende Organe
besaß, der gegenüber dem gleichsam wild gewachsenen
mittelalterlichen Staat in einem bekannten Kapitel seiner
Kultur der Renaissance den „Staat als Kunstwerk"
analysierte, mit seinem Forminteresse angesichts des
staatlichen Formtriebs versagte. Es war die Angst vor
dem Mißbrauch staatlicher h.inheit und Macht, die ihn
auf dem Standpunkt Willielm von Humboldts beharren
hieß. Trocken wird der Staat als Notinstitut abgefertigt,
dem man nicht zuschieben solle, was der Freiheit und
was der Gesellschaft gehöre. Daß der Staat direkt das
Sittliche verwirklichen solle, wird als Ausartung und
philosophisch -büreankratische Überhebung bezeichnet.
Bei der Doppclantipathic Hurckhardls gegen demo-
kratische Gleichheit, wirtschaftlichen Materialismus und
gegen Staatsmacht drängt sich als unheimlichste Ahnung
die Anziehungskraft auf, die er zwischen den demo-
kratischen und den dynastischen Kräften herausspürt.
Er sieht diese Verbindung kommen, und hätte er es
30
Digitized Dy Google
erlebt, es würde ihn nicht verwundert haben, Monarchen
sich als Geschäftsführer der riesigen kommerziellen und
industriellen Expansion ihres Landes selber einstellen,
ja den Wunsch militärischer und maritimer Machtsteige-
rung als nationale Notwendigkeit durch das Motiv des
Schutzes des Wirtschaftslebens plausibel machen zu
sehen. Die amerikanische Demokratie, als Imperialismus
mobil gemacht, der in der Konsequenz der gleichen
Richtung liegt, hat Buickbardt nicht ahnen können ;
auch die Neu, Idealisierung" der Macht als Organisierung
der Kasse, den Erfolg dieser Theorien und Stimmungen
und ihren wahrscheinlichen Einfluß auf künftige Ge-
staltungen hat Burckhardt nicht mehr erlebt Das
aber, was er sah und voraussah, machte ihn hofinungs-
arm. Den hochmüiigen Optimismus des französischen
Revoluttonsieitalters findet er unüberwunden , ja ge- 1
steigert in den vereinigten Kräften des Erwerbs- und
Machtwillens lebendig. Die moderne „Kultur" wiegt
bei Burckhardt nicht als Kultur; daß sie sich das leichte
Gcldvcrdiencn als Fortschritt und gar als sittliche
Superiorität gutschreibe, erregt seinen Spott, und fragend
sieht er sich um. von wo der Umschlag und die Er-
neuerung des Lebens kommen könne.
Diese politischen Meinungen hangen aufs engste mit
Burckhardts historischen Erfahrungen und Urteilen zu-
sammen. Jeder Despotismus flößt ihm Grauen ein; er
nennt Ludwig XIV. ein mehr mongolisches als abend-
ländisches Ungetüm und kann die Kunst des grand
sicclc, als aus Unfreiheit erzeugt, nicht hoch bewerten.
Von Zwangsgewalt, Machtgebrauch und Machtmißbrauch
des Staates hat ihm die Geschichte die stärksten Ein-
drücke beigebracht, zumal wo es sich um erfolgreiches
Eingreifen in die religiösen Bereiche handelt. ,.Für
einc Religion", wird einmal angemerkt, „ist die geistige
Abwendung einzelner Kategorien der Btivolkeruiig (sei
es als Sekte, sei es als gebildete reflektierende SoüictäU
belanglos. Die gebildeten Stände, die durch Kuliur-
') Lasauti teilt sich in seinem rotnrcrwähnlen Bucht: von l8}6
mehrfach mit Gobineao auseinander. Burckhardt hat du ignorier).
31
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einflüsse der herrsch enden Religion entzogen sind,
kehren wohl wieder zu ihr zurück oder arrangieren sich
wieder mit ihr aus Klugheitsrücksichten". Dagegen vor
dem Eingreifender Staatsgewalt, wenn sie konse-
quent gehandhabt wird, unterliegen alle Religionen.
Ohne die Kaisergesetzgebung von Konstantin bis auf
Theodosius würde die römisch- griechische Religion noch
bis heute leben. Dieselbe furchtbare Macht des welt-
lichen Arms wird genugsam durch das Schicksal der
Reformation und die Gegenreformation erwiesen. Alles,
was Burckhardt vom Staat historisch erlebt hat und be-
argwöhnt, wird doppelt von Religion und Kirchen in
dem Fall befürchtet, wo sie versteinernd ein heiliges
Recht über die ganze Kultur breiten. Hierfür ist ihm
der Islam das eigentliche Paradigma, eine furchtbar kurze
und trostlos einfache Religion, die bei grenzenloser Be-
schränktheit ihren Hekenncrn einen ,, diabolischen" Hoch-
mut des Besserseins einzuflößen vermag. In dem ganzen
ungeheueren Bereich islamischer Welt findet sich außer
bei Derwisch und Sufi kein Raum für Freiheit gelassen.
Burckhardt war — und ich kann hier das Buch aus dem
persönlichen Eindruck seiner Vorlesungen ergänzen —
von den wenigen deutschen Professoren, denen man
gern ein Recht, so zu urteilen, zugestand. "Denn Uberall
hatte er die Quellen, wenn auch nur in Übersetzung,
gelesen und war selbst in der Geschichte von Byzanz
und dem Islam bis in die Einzelheiten der Sektengeschichte
und der Literatur hinein in einer Weise beschlagen,
wovon andere, profan- wie kirchengeschichtliche Vor-
lesungen, dergleichen man bei uns gewöhnt war, himmel-
weit abstachen. Kompendien Weisheit teilte Burckhardt
nicht aus. Alles war aus der unmittelbaren Überlieferung
geschöpft Über nichts habe ich ihn so wegwerfend
urteilen hören wie über den Koran; es sei ein elendes
und ganz und gar langweiliges Buch, in dem es un-
möglich sei, drei Seiten hintereinander zu lesen. (Ich
habe späier die Probe gemacht und muß sagen, die
Monotonie ist doch nicht der zulässige Maßstab. Was
wäre die Bibel, wenn sie nur aus den Propheten und
Episteln, also allein aus Predigten, bestünde, und wenn
die historischen Partien Alten und Neuen Testamentes
32
Digitizedby Google
weggeschnitten würden!) Dieses Urteil weist auf den
Punkt, an dem Burckhardts Empfinden aufs leidenschaft-
lichste reagierte. Am Grab aller individuellen Kultur
sah er nur die vollkommene Hoffnungslosigkeit. „Wer
die Moslemin nicht ausrotten kann oder will, läßt sie
am besten in Ruhe" ').
Solange Burckhardt eine legendarische Persönlichkeit
war — und das blieb er eigenüich bei seinen Leb-
zeiten — , konnte man als eine seiner Sonderbarkeiten
erzählen hören, daß er, obwohl Basler, dem Protestantis-
mus abgeneigt, dem Katholizismus aber als einer kunst-
freundlichen Religion wohlgesinnt gewesen, derart, daÜ
das ästhetische Verhalten in seinem Wesen den Aus-
schlag gegeben habe. Nun man Burckhardt immer deut-
licher kennen lernt, werden jene Aussagen auf ihr ge-
höriges Maß zurückgeführt, wenn nicht überhaupt als
völlige Irrtümer erwiesen. Man wundert sich fast, das
Staalskirchcntum der Reformation so unbefangen von ihm
gewürdigt zu sehen. Indem er in der Anlehnung an die
Staatsgewalt eine notwendige Defensive und Rüstung zur
Erhaltung eines sonst gefährdeten Kernes erblickt, be-
weist er genugsam realpoliiischen Sinn, um nicht mit so
manchen kläglichen Besserwissern Lulhern anzuklagen,
daß er seinen Protestantismus „verdorben" habe 5 ). Die
Urteile über den Katholizismus lauten verschieden, je
nachdem er Religion oder Kirche ins Auge faßt. Die
wechselnden Beziehungen zur Kultur werden fein und
fast liebevoll beobachtet. Die Hierarchie aber, die er
als solche fast „religionslos" nennt und die Kirche als
polnisches Macht- und Polizeiinstitut mit der fixen Idee
') Wir haben hier den Einielall einer sehr starken Diffcreni mit
Goethe, der, wie seine mannigfachen Zeugnisse erkennen lassen, eine
grolle Hocbachtnng vor dem Islam besaß
*) Außerhalb seines Gesichtsfeldes lagen die Mächte des pratestan-
j [hdivLil.uiliMr.us urA ihn: iicuirilin;^ in helles Licht gerückten
r'nLersjchuT^t-n «:):: Mai Weber, [lie protestantisch? Ethik um] de;
Geilt des Kapitilistons im 10. nnd II, Band des „Archivs für Sotiid-
(•iwnuctmft" nnd Ernst Tröltsch, Die Bedentang des Protestantis-
mus für die Entstehung der modernen Welt. München, Oldenbourg.
1906. Desselben Verfassers Soziellehren der christlichen Kirchen und
Gruppen. 19 11.
Digitized Dy Google
der Einheit, wertet er wie den staatlichen Despotismus,
ja wegen des offensichtlichen Wesenswiderspruchee noch
ungiinsiis>er. Kein Gregor VII., kein Innocenz III. und
Sankt Bernhard findet vor ihm Gnade. Hierin ist Burck-
hardt von Anfang an entschieden gewesen, wovon man
sich bereits in seinem ersten großen Buch, im Kon-
stantin (1853) bei der Beurteilung des Athanasius über-
zeugen kann (ebenda S. 243 das echt Burckhardtsclie
Urteil über Hierarchen), den sogar Gibbon in freierer
Bewunderung zu feiern über sich gewann. Das Vatika-
num von 1870 ist Burckhardt „un versländlich und
dunkel ", eine unermeßliche Erschwerung der ganzen.
Stellung des Katholizismus in der Welt. Seitdem sei
sowohl für den Staat wie für die Kirche nur noch ein
Ausweg: Trennung der Kirche vom Staat, eine Wohltat
für den Staat, wenn er die „Komplizität zweier Kon-
servatismen" auflöse, die dem Staat längst eine Ver-
legenheit geworden ist. Eine Wohltat für die Kirche,
wenn sie sich wieder mehr auf ihre inneren Kräfte
verlasse und, statt beim Staat vor Anker zu liegen,
schwimmen lerne, um wieder Element und Beleg der
Freiheit zu werden.
Man siebt, was so vielen unter uns die Gemüter er-
regt und die Phantasie erfüllt, der Machtnimbus, sei es
als nationale Größe, sei es als kirchenpolitische Kraft,
er hatte über Burckhardt keine Gewalt, er stritt wider
seine tiefsten Einsichten und Überzeugungen, er Stieß
auf sein unausrottbares Mißtrauen, und dieses Mißtrauen
verdichtet und erklärt sich mit dem Urteil: Die Macht
ist an sich böse.
5. Burckhardt der Moralist
Die konservative Moral Burckhardts, seine moralische
„Borniertheit" wird bei dem Verfasser der „Kultur der
Renaissance" vielen, wenn nicht allen etwas Überraschen-
des sein. Als radikaler Individualist galt er nicht nur
Nietzsche, sondern aller Welt. Im November 1879
schreibt Gottfried Keller in einem Briefe (Bächtold,
34
Gottfried Kellers Leben, Bd. III, S. 427): „Ich habe
neulich wieder Jakob Rurckhardts .Kultur der Renais-
sance' durchgelesen und aus seinem homogenen Geiste
ein Heimweh nach jener Welt davon getragen, die frei-
lich nicht die unselige ist." Dieser der Renaissance an-
geblich „homogene" Geist ist Burckhardt nicht gewesen;
ein „Prediger" der Renaissance ist er nicht gewesen;
er war im Herzen .ein Antimacchiavellist, genau wie
Christoph Friedrich Schlosser. Sein Buch" war rein
ästhetisch -historisch gemeint und enthielt sich, die Dinge
vom sittlichen Standpunkte zu bewerten. Aber aus
diesem Schweigen zu schließen, es sei eine Art Evan-
gelium bestimmter Inhalte nnd Vorbilder, wäre der größte
Irrtum 1 ). Der Unterschied zwischen der „Kultur der
Renaissance" von 1860 und der „Griechischen Kultur-
geschichte" von 1880 ist lediglich , daß später die
Zurückhaltung des Moralisten aufgegeben worden ist.
Über Burckhardts wahre Gesinnung ist kein Zweifel
möglich, seit die „ Griechische Kulturgeschichte "
und seit die „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" ge-
druckt sind.
Man kann eine Art Probe darauf machen, wenn man
die Würdigung des Mittelalters bei den Männern der
Renaissance und bei Burckhardt vergleicht. Dort die
schärfste Ablehnung und Verachtung, ein übertrieben
feindseliges Gefühl von Partei- und Epochengegensaiz;
bei ihm ist das offenste Verständnis für das „Individuelle"
und Freie im Mittelalter. Umrungen von allen Gefahren
ungesicherten Daseins (von der mangelnden „Sekurkät"
war schon zuerst die Rede), habe es der Nachwelt ein
wertvolles Eibe von Unabhängigkeit überliefeit; durch
die verschlungcnstcn Sonderbarkeiten des Lehenswesens,
durch alle M ach tz erst ückung- und Unbchil flieh keit des
mittelalterlichen Staates atme die Möglichkeit, Tugenden
und Untugenden und echte Freiheit zu entwickeln. In
') Soweit ich vreiü . hat tli» noch niemand augeiprochen. Auflo-
dern »entorbenen Carl Juli in Bonn, der in seinem Buche Uber
„Michelangelo" (S. 194), wo er sich mit den Auilssmnyen von Burck-
hirdti „Cicerone" auseinandersetzt , das Richtige Tellig deutlich ge-
sehen hat. (1907 geschrieben.)
3*
35
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der reichen und zusammengesetzten Persönlichkeit Burck-
hardts war ein gutes Stück mittelalterlichen Erbes. Er
war geborener und überzeugter Anhänger und Partei-
gänger des Kleinstaates; er besaß dessen Fanatismus,
und als Baseler widmete er dem Züricher einen Haß,
der kein anderer war als der mittelalterliche Kommunal-
haß italienischer Prägung, wie er in agonaler Neben-
buhlerschaft Mailand und Lodi, Florenz und Siena zerriß.
Kleinstaaterei ist Mittelalter, und Burckhardt war über-
zeugt, daß der Kleinstaat als Verwirklich er der Freiheit
ideell die Vorteile des Großstaates samt dessen Macht
aufwiege. Vielleicht würde man seinem Empfinden nahe
kommen, wenn man sein Interesse für Renaissance als
Neigung für dasjenige Mittelalter bezeichnen würde, das
aus der Scheu und Bevormundung der Hierarchie heraus-
gewachsen war. Dann würde sich die sonst verwunder-
liche Verteilung, daß er so ganz mittelalterliche Figuren
wie Dante und Bokkaz seiner Renaissance zurechnet, in
einen Streit um Worte auflösen. Für seine historische
Vorstellung gab es keine treffendere Analogie der Re-
naissance als die Epoche der antiken Welt, da die alten,
furchtbaren Zwangsmächte zusammenbrachen und den
individuellen Kräften Raum gaben. Nicht wie in unserm
Mittelalter war es dort die Religion und Kirche, deren
Macht im Wege stand: die heidnische Religion war eine
Laienrcligion, die geringen Widerstand leistete; sie hatte
keine Priester und Dogmen. Wohl aber war es die
staatliche Zwangs an stalt, die Polis, die zerbrechen mußte,
und nun muß man die Schilderung im dritten Band der
,, Griechischen Kulturgeschichte" oder in den „Welt-
geschichtlichen Betrachtungen" lesen, wie die Poesie als
Erzieherin den antiken Menschen entließ, damit ihn die
Philosophie in Empfang nehme und zu Monotheismus,
Atheismus, Pantheismus führe.
. Einen Punkt gab es aber, über den Burckhardt all
seine Neigung für die antike Blüte und für die italienische
\ Renaissance nicht hinausbrachte: Er hielt die aller-
starksten ethischen Vorbehalte aufrecht. Der „Heide"
, oder „Renaissancemensch" ist er nicht gewesen. Hier
; trennten sich seine Wege deutlich nicht nur von denen
.Nietzsches: so weit hätte er gar nicht zu gehen brauchen.
36
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Wenn er gewollt, hätte er den unbefangenen, gegenüber
der Moral laxen politischen Standpunkt in der zeitgenös-
sischen deutschen Geschichtschreibung finden können.
Die an Ranke anschließende Historie ist zum mindesten
nicht sittenrichterlich gestimmt, und in unserer historisch-
politischen Lehre ist die Unterscheidung von zwei Mo-
ralen und die Dispensation vom gewöhnlichen Sitten-
Gesetz im Staats- und Allgemein Interesse ein geläufiger
Grundsalz geworden. Sic ist es in jeder Politik der Welt,
wenn man sich durch die beliebten Bemäntelungen nicht
täuschen lassen will. Treitschke zitierte in seinen Vor-
lesungen über Politik mit Vorliebe und herzlicher Zu-
stimmung, wenn er auf die Doppelzüngigkeit des Grafen
Cavour zu sprechen kam , dessen Rede : „ Mag mein
Name, mag meine Ehre zugrunde gehen, wenn nur Italien
einig wird ! " Man. pflegt dieses Verhalten als einen
Fortschritt gegenüber Schlossers sittlicher Enge und
Moralpedanterie zu verzeichnen, und so könnte vermutet
werden, Burckhardt sei einfach auf dem Schlos-errchcn
Standpunkt stehen geblieben und habe als kleiner
Schweizer nicht mitkommen können, wo wir Deutsche
von den hochgehenden Wogen des modernen nationalen
Lebens in die Höhe getragen worden seien. Jener
energische Ausspruch Burckhardts: die Macht ist an sich
böse, ist ein Zitat aus Schlosser. Hier fand sich der
angebliche Parteigänger der italienischen Renaissance
mit dem Antimacchiavellismus Schlossers auf gemein-
samem Boden. Es sind solcher Berührungen noch mehr
als eine. Was Schlosser in seiner „Geschichte des
18. Jahrhunderts" vom Herzog von Marlborough sagt,
er habe das Verderben der neueren Zivilisation, den
Papierhandel, über Europa gebracht und die Geldmacht
gegründet, die mit den niedrigsten Triebfedern alles
Hohe bekämpfe und in Verbindung mit der rohen, be-
zahlten Gewalt die neuere Menschheit in unauflösliche
Fesseln schlage — das* ist auch ein Stück Burckhardt-
scher Abneigung und Kritik seiner Zeit geblieben. ... Aber
die Unterschiede gegen Sclilossei sind doch ebenso
groß. In Schlosser kaTTTuTe bürgerliche Opposition gegen
die'TJesinnung der Höfe und Fürsten nicht ohne einen
Beigeschmack von Rachsucht zum Wort, Das „viel-
gequälte Bürgertum", wie es einmal Erich Mareks be-
zeichnet hat, findet in ihm seinen Propheten. Daher
Beine Tadelsucht , die Beschränktheit eines noch un-
sicheren und daher zur Übertreibung geneigten Selbst-
gefühls, sein ethischer Hochmut. Wie sein Lieblin^s-
dichter Dante teilt er als strenger Moralist seine Zen-
suren aus. über die Unerbittlichkeit , mit der Dante
eigenmächtig die ganze Vor- und Mitwelt in die Behälter
seiner drei großen Räume einsperre, macht Burckhardt
irgendwo im „Cicerone" eine Hehr abfällige Bemerkung.
Er fand darin einen sträflichen Hochmut. Die Freude
am Mannigfaltigen war zu groß in ihm. Jede plebejische
Ranküne, die sich leicht in Tugendschwärm erci hüllt,
lag ihm fern; seine Abneigung gegen demokratische
Mittelmäßigkeit war die stärkste. Wenn er dennoch,
ein Schüler Rankes, aus dieser Schule hinauswuchs und
offenbar in gewissen Stücken zur Defensive älterer, über-
wunden geglaubter Standpunkte zurückkehrte , so liegt
in der Bewußtheit dieses Schrittes etwas hoch Auffälliges.
Er war nicht bei Schlosser stehen geblieben, sondern
er trat von Ranke wieder eine Wegeslänge zu Schlosser
zurück. „Die Macht ist an sich böse", dieses 1870
schroff auszusprechen , wo man bereits frei wie durch
ein offenes Portal in die neue Zeit der Machtkonkurrenzen
hineingehen konnte, klang wie ein Protest gegen alle
Gewohnheit unserer Vorstellungen. Burckhardt stellt
sich uns offensichtlich in den Weg. Was will er
und wie kommt er in diese Rolle einer fast nach
Märtyrer freu de schineckenden Überzeugung und Be-
kennerschaft?
Nirgends zeigt sich die Nichtigkeit und Unfruchtbar-
keit des geläufigen Rezeptes, jemanden aus seiner Zeit
und Umwelt zu erklären, erschreckender als wenn man
an die Psychologie großer Männer rührt. Mittelmäßig-
keiten gehen restlos in ihrer Zeit auf; denn sie sind
selbst nichts als Zeitlichkeit. Jene andern aber zeigen
ein fast chaotisches Durcheinandergreifen von Bildungs-
schichten mannigff achter Vergangenheit, die in einem
nie völlig zu enträtselnden Projeß der Bildung des
Individuums verarbeitet, zusammengeglüht und ge-
schmolzen worden sind.
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Digitizedby Google
Wenn eich Burckhardt angesichts einer rücksichts-
losen und von allgemeiner Zustimmung getragenen
Machtpolitik auf den moralischen (manche würden sagen:
philistermoralischen) Standpunkt zurückzog, bietet sich i
zur Erklärung als nächste Möglichkeit, ob vielleicht an
eine letzte Zuflucht christlich orientierter Moral zu /
denken sei.
Sein Verhältnis zum Christentum hielt Burckhardt
für völlig geklärt, und zwar fast vom Anfang seiner
schriftsiellcrischen Laufbahn an. Das Wesentliche am
Christentum sah er in der Askese und Außerweltlichkeit.
Schoo im „Konstantin" (1853), am Ende des 9. Ab-
schnitts, begegnet der Satz: „Es gibt überhaupt kein
Verhältnis zur äußeren Welt mehr, sobald man gewisse
Worte des Neuen Testaments ernstlich nimmt und sich
nicht mit Akkomodationen durchhilft." Da sich die
Neuzeit in der entgegensetzten Richtung bewegt, schien
es Burckhardt unmöglich, im Christentum die absolute
Religion zu sehen. Die Unvereinbarkeit moderner Ethik
und christlicher Moral war ihm eine ausgemachte Sache:
„Man liebt das demütige Sichwegwerfen und die Ge-
Bchichte von der linken und der rechten Backe nicht
mehr. Man will die gesellschaftliche Sphäre behaupten,
wo man (geboren ist." Auf die Widersprüche religiöser
Residua mit dem widerstandslos herrschenden modernen
Geist hinzuweisen, wird er nicht müde, und hierin konnte
er in Basel wohl seine besonderen Erfahrungen machen '}.
Glaubte er also in dem von ihm angenommenen spezifisch
christlichen Sinn kein Kind Gattes zu sein , so wies er
sich den Platz bei den Kindern der Welt an. Seine
Freude an Kultur, wie er sie als Geschichtschreiber
ausgedrückt hat, sein Sinn für die Kunst, das sind
Goethcsche Züge seines Wesens. Sein starker Empirismus,
dessen Methodik die Geschichte nicht viel anders be-
') Man lese die Sielte der Betrachtungen : „M«i muH arbeiten und
viel Geld verdienen, überhaupt der Welt alle mögliche Eimniichnng ge-
halten, lelbtt wenn man die Schönheit nnd den Gennfl haBt, in Summa:
man will bei aller Religiosität doch nicht aaf die Vorteile nnd Wohl-
taten der neueren Kultnr verzichten, nnd gibt damit wiederum eineu
Beweia von der Wandlung, in welcher lieh die Ansichten vom Jenseits
belinden."
39
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trachten kann, als man Natur zu betrachten sich ge-
wöhnt hat, sein Sensualismus, sein bestimmter Kunst-
geschmack, der sich auf der Winckclmannisch-Goethe-
schen Linie hält, man kann das olles Mitgift des
18. Jahrhunderts nennen. Aber es blieb ein ganz großer
Unterschied gegen das 18. Jahrhundert. Burckhardt
teilte nicht dessen Optimismus, ja er nahm an diesem
Optimismus den stärksten Anstoß, Es gibt kaum eine
schärfere Grenzscheide der Geister, als diese zu Beginn
des 19. Jahrhunderts gezogene. Goethe, der noch den
Blutreichtum und die Fülle des Jahrhunderts seiner
Geburt besaß, hat gelegentlich in seinen letzten Jahren
die Schwäche als den Charakterzug der neuen Zeit be-
zeichnet. Es war , als wenn mit den ungeheueren Er-
schütterungen der Rcvolutions- und Freiheitskriege ein
überstarker Aderlaß die Menschheit geschwächt und
hoffnungsärmer gemacht hätte.
Burckhardt hatte einen starken Eindruck von der
großen Hinfälligkeit und Vergänglichkeit aller Dinge
der Welt; in seinem selbstv erfaßten Nekrolog merkt er
diesen Zug schon für sein zwölftes Jahr, in dem ihm
die Mutter starb, mit den Worten an, jener Eindruck
habe seine Auffassung der Dinge bestimmt. Menschen,
die ihn einigermaßen gekannt haben, waren doch über
den enormen Pessimismus erstaunt, der in den „Welt-
geschichtlichen Betrachtungen" zutage tritt. Von einer
Ansteckung durch Schopenhauer dürfte man nicht
sprechen; denn dessen Erfolg (das Hauptwerk ist iSi8,
in Burckhardts Geburtsjahr, erschienen) gründete sich
eben auf das immer steigende Entgegenkommen im
herrschenden Empfinden.
Burckhardt gehörte zu den Naturen, die an der
Zeitlichkeit leiden. Er haßte Zeitungen , Geschäft,
Menschcnvolk. Mit immer neuem Staunen sieht er auf
die Wandelbarkeit der Dinge. Der"~Geist~,' sagt er, ist
ein Wühler. Er erbaut sich eine Wohnung in tausend-
fältiger Arbeit und Ausbreitung und Wert und Sicher-
heit, und dann zerstört er sein Haus und aulerbaut mit
demselben Emst und demselben Mut ein neues. Die
Geschichte mit ihren ungeheueren An strengu ngen und
Zerstörungen berührte ihn als ein Schauspiel des
40
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Wechsels und der Vergänglichkeit aufs tiefste; die „eis-
kalte" Objektivität angesichts solcher Eindrücke war
ihm unmöglich, und ein „Objcktivtun" schien ihm Pose,
Und nun im Vordergrund all dieser Verwandlung Gemein-
heit und Habsucht auf ihren Wegen, Jämmerlichkeit und
Elend. Soll man sagen: Burckhardt litt an dem Welt-
schmerz, der das Erbteil aller starken Idealisten ist?
Sein Idealismus rettete sich damit, daß er die Welt nicht
für ganz und gar glaubhaft und ernst nahm. Dies ist
der Grund, weshalb ihm der Erfolg im Grund wenig
imponierte. Inmitten einer Zeit, die sich gewöhnt hat,
den Erfolg anzubeten, den Erfolgreichen, den Mächtigen
und die Zahl ,, real politisch" einzuschätzen, konnte Bein /
Herz die Brutalis ierung der Gefühle nicht mitempfinden :. 1
er mag nicht ewig die Tuba dem Triumphator ertöneil
lassen. Denn er konnte, unüberläubt von Triumphoden
glücklicher Sieger, nicht darüber wegkommen, daß
Jammer der Überwundenen Jammer bleibe.
Wieder erhebt sich hier die Frage, warum bei dieser
Stellung zur „Welt" sich keine religiöse Losung und
Befriedigung im Christentum dargeboten habe. Burck-
hardt hatte ein sehr starkes religiöses Organ ; er glaubte
an etwas, das hinter dem Ablauf und der Flucht des
Zeitlichen als ein einzig Wahres siehe, und wenn er es
ablehnte, Christ zu heißen, so konnte er doch meinen
(diese Äußerung hörte ich von Professor Smend in
Güttingen): Wir „blinden Heiden" sehen besser, wie
hoch das Münster ist als die, die darinnen sitzen. Warum
wollte er, der Sie weltfliichtigen Anfänge des Christen-
tums mit unverhohlener Begeisterung verfolgte, der so
teilnehmend die Modifikationen, die Verwandlungs- und'
Erneuerungsfähigkeit des Christentums beobachtet hat,
warum wollte er ihm keine Möglichkeit zugestehen, sich
mit der neuen Kultur fruchtbar zu berühren? Warum
wollte er die Anerkennung des lex naturac neben der
lex Dei im Christentum nicht sehen? wie konnte er das
Wesen des Christentums auf Askese festlegen ? Es ist
nicht anders : auch die Großen halten Lieblingsirrtümer
mit eigener Zähigkeit fest. Die Richtung, die in Ludwig
Feuerbach dasWc-rt nahm, und deren Eindruck auf
Männer wie Richard Wagner und Gottfried Keller
der stärkste gewesen ist, behielt Burckhardt in ihrem
Bann »).
"So griff denn sein religiöses Bedürfen, dem angesichts
des Christentums und der modernen Welt der Mut ge-
brach, der zum Glauben gehört, zu einem Quietiv. Er
hat darin mehr Genossen, als man denkt : die Ermüdung
am Zeitlichen und Irdischen, die ihn nach Frieden und
nach Ewigem dürsten läßt , fuhrt ihn zur Dichtung und
zur Kunst. Was er bei den Griechen als den dunklen
Wurzclboden einer herrlichen Poesie und Kunst erkannte,
die pessimistische Grundstimmung des Lebens, dieses
Verhältnis hatte er an sich erfahren und erlebt. Nur
mit Ergriffenheit wird man die folgende Slelle aus
den „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" vernehmen.
Vielleicht ist sie die empfundenstc des ganzen
Bandes.
„Die Poesie hat ihre Höhepunkte, wenn sie aus dem
Strom des Lebens, des Zufälligen und Mittelmäßigen und
Gleichgültigen heraus, nachdem sie vorläufig in der Idylle an-
mutig darauf mag angespielt haben, das Allgemein- Menschliche
in seinen höchsten Äußerungen herausnimmt und zu idealen
Gebilden verdichtet und die menschliche Leidenschaft im
Kampf mit dem hohen Schicksal nicht von der Zufälligkeit
verschüttet, sondern rein und gewaltig darstellt, — wenn sie
dem Menschen Geheimnisse offenbart, die in ihm liegen,
und von welchen er ohne sie nur ein dumpfes Gefühl
hätte, — wenn sie mit ihm eine wundervolle Sprache redet,
wobei ihm zumute ist, als müßte dies einst in einem besseren
Dasein die seinige gewesen sein, wenn sie vergangene Leiden
und Freuden Einzelner aus allen Völkern und Zeiten zum
unvergänglichen Kunstwerk verklärt, damit es heiße: spirat
') Ich sette hier eine besonder! charatter istische Stelle aus Kellen
Sinngedicht her: „Warn sind wir denn Christen", sagte die Matter,
„wenn""wir das Wart des Herrn du erste Mal verachten »ollen, wo
rief Erwin, der mehr wnflte als die Mauer: „O Mutter, Christas der
Herr hat die Ehebrecherin tot dem Tode bcschllUl and Tor der Strafe,
aber er hat nicht gesagt, dafl er mit ihr lebeo würde, wenn er der
Erwin Alienauer wäre".
adhuc amor, vom wilden Jammer der Dido bis zum weh-
mütigen Volkslied der verlassenen Geliebten, damit das
Leiden des Spätgeborenen, der diese Gesänge hört, sich
daran läutere und sich in ein hohes Ganzes, in das Leiden
der Welt, aufgenommen fühle, was sie alles kann, weil im
Dichter selber schon nur das Leiden die hohen Eigenschaften
weckt, und vollends, wenn sie die Stimmungen wiedergibt,
welche über das Leiden und Freuen hinausgehen, wenn sie
das Gebiet desjenigen Religiösen betritt, welches den tiefsten
Grund jeder Religion und Erkenntnis ausmacht: die Über-
windung des Irdischen,"
Und nun zitiert Burckhardt Jcsaias 60 und Calderon
und in einigem Abstand Goethe: „Der du von dem
Himmel bist . . ."
Von hier erleuchtet sich nun die Bedeutung 1 , die
das Studium der Geschichte für Burckhardt gehabt hat.
Zum einen Teil war sie ein Quietiv wie Poesie und Kunst.
Sein Beruf war ihm nicht Beschäftigung- und Amt, sondern
tiefste persönliche Befriedigung und Glück. „ Das Offen-
halten des Geistes für jede Größe ist eine der wenigen
sicheren Bedingungen des höheren geistigen Glücks."
Anf allen Wegen Erhebung zu suchen, ungehemmt,
auch national nicht befangen, das Große zu empfinden,
war der Durst seines Cebens. „Im Reich des Gedankens
gehen alle Schlagbäume billig in die Höhe. Es ist des
Höchsten nicht so viel über die Erde zerstreut, daß
heute ein Volk sagen könnte, wir genügen uns voll-
ständig, oder auch nur, wir bevorzugen das Einheimische . . ,
Im geistigen Gebiet muß man einfach nach dem höheren
und höchsten greifen, das man erreichen kann." Dieses
Frcihcltsbedurfen atmete leicht in einer Atmosphäre, die
möglichst wenig Uberemkömmliches , Befangenes, Ge-
bundenes, Zwangs- und Machtanstalt mäßiges enthielt und
in der alles Geistige sich leicht entband. Zugleich
mußte diese Freiheit den Luftdruck einer gewissen
Kulinrrcifc und -schwere wünschen, die den Dingen
Maß und Stil gab. Wo dennoch Zeitliches nahe kam
und drückte, gab eH Flügel, Bich in das Geisterreich zu
erheben. So hatte schon Laaautx gesprochen: „einen
Vorteil wollen wir uns, die wir studieren gelernt haben,
43
nicht entreißen lassen, daß wenn uns die Gegenwart
nicht gefällt, wir unsre verstorbenen Freunde aücr Länder
und Zungen zu einem philosophischen Gastmahl einladen
und mit ihnen Gespräche pflegen, wie sie uns und ihnen
genehm siad."
Man würde eine solche Abkehr von der Gegenwart J .
und ein Schwelgen in idealisierten Vergangenheiten j.
egoistischen Genuß nennen und romantische Betäubung.
Aber Genuflmittel der Phantasie, Quietiv ist die Ge-
schichte für Burckhardt wohl streckenweise gewesen.
Darüber stand ihm selbstlos strenge Betrachtung,
und hier öffnet sich _ der Einblick in ganz andere
Bahnen als die des Ästheten und des gewissenlosen
Künstlers.
Burckhardt hatte ein Kredo. Wäre die Geschichte
ein bloßes Veränderliches, so wäre sie ein Spiel. Er
spürte zu deutlich , daß er als Einzelgcist teil habe an
einem großen Rätselhaften, das ihm Verehrung abgewann
und das ihm an Ewigung Anteil gönntet Uber aller
Verwandlung stand ihm ein dauerndes, ein Rest des Ge-
wesenen, der nicht unterging, vielleicht nicht untergehen
durfte. Die Kontinuität der Überlieferung, wie sie ihm
in den großen Erscheinungen des römischen Philhcllenis-
mus, der die griechische Kultur gerettet hat oder in der
mittelalterlichen Kirche, die die Literatur des Altertums
bewalut hat, entgegentrat, war ihm sichere Gewähr der
Dauer und Bedeutung des Menschengeistes. Theoretisch
und praktisch war ihm die Macht der Überlieferung un-
abweislich. Praktisch hielt sie ihn von allem Radikalis-
mus fern und machte ihn zum stärksten Hasser des
politischen Radikalismus. Zugleich aber schien ihm in
der Kontinuität ein metaphysischer Beweis für die Be-
deutung der Dauer des Menschendaseins zu liegen. „Das
Bewußtsein des Zusammenhangs muß in uns leben. Denn
wir wissen nicht, ob ohne unser Wissen davon ein Zu-
sammenhang des Geistigen vorhanden wäre." So konnte
er wörtlich und im Ernst von seiner Religion der
Überlieferung sprechen. Die Verehrung der Über-
lieferung war ihm Religion. Der Historismus des neun-
zehnten Jahrhunderts offenbart sich hier mit unbeschreib-
licher Klarheit. Neben den Naturwissenschaften und auf
44
gleichen Wurzeln mit ihnen sich erhebend, ist er die
stärkste geistige Großmacht der Zeit gewesen 1 ).
Ist nun der menschliche Geist so angelegt, daß selbst
die reinste Betrachtung einer Verankerung in dem Be-
dürfen und der Befriedigung unserer praktischen Ver-
nunft bedarf? Die Geschichte des Historismus kann
noch nicht geschrieben werden. Mit hinreichender Deut-
lichkeit zeigen sich indessen zweierlei Richtungen. Die
eine hatte das praktisch belebende Vorurteil von Macht-
gedanken, Machtformen, Ideen, die sich emporkämpfen,
Zwecken, die sich befriedigen wollen. Die andere halte
ein Mißtrauen gegen Machtgedanken, gegen bestimmte
Machtformen, gegen Zwecke oder Ideen, die sich, koste
es, was es wolle, durchsetzen müssen. Das praktisch
Gewisse schien ihr das Sittengesetz, das durch keinerlei
Teleologie ins Wanken gebracht werden dürfe.. Für
öurckhardt war sein Skeptizismus die eine Wurzel seines
Moralismus; er ergänzt ihn ganz wesentlich, indem ei
jede Zweckkonstruktion und Legitimierung der Immoralitat
als nichtig zurückweist.
Dieser felsenfeste Moralismus Burckhardts tritt in den
„Weltgeschichtlichen Betrachtungen" auf jeder Seite
hervor und gibt den unmißverstehbaren Kommentar für
die Weltanschauung des Verfassers der „Kultur der Re-
DaO aas Bösem Gutes, aus Unglück relatives Glück
geworden ist, folgt daraus, daß Böses und Unglück nicht
anfänglich waren, was sie waren? Jede gelungene Ge-
walttat war böse und ein Unglück und allermindestens
ein gefährliches Beispiel. Die Weltgeschichte kennt
Wirkungen des Bösen, die jeden Glauben an Recht und
menschliche Güte zerstört haben. Und weiter. Wenn
man politische Verbrecher und Verbrechen in der Über-
zeugung absolviert, daß der Vorteil einer Gesamtheit,
eines Staates oder Volkes, etwas so Unveräußerliches
sei, daß er durch nichts auf ewig beschädigt werden
dürfe . . . sind denn Nationen wirklich etwas so Un-
') Hier möchte ich an die Kapitel 3 End 3 meines Bnchel, „Kampf
am die neue Kumt", erinnern dOrfen.
45
Oigrtized by Google
bedingtes, a priori zu ewigem und mächtigem Dasein
Berechtigtes ?
Burckhardt sagt: sie sind ea nicht, und das Begün-
stigen des großen Verbrechers hat auch für" sie die
Schattenseitc, daß dessen Missetaten sich nicht auf das-
jenige beschränken, was die Gesamtheit groß macht, daß
die Abzirkelung des löblichen oder notwendigen Ver-
brechens in der Art des „Principe" ein Trugbild ist.
Zu dieser demoralisierenden Rückwirkung- auf den Ein-
zelnen kommt nun aber die Erschütterung der allgemeinen
Sittlichkeit, die Demoralisierung des Ganzen durch die
Macht des Beispiels. Eine Nation pflegt das Glück,
einen sehr großen Mann besessen zu haben, nicht billig
zu bezahlen, und wo ein großer Napoleon war, mcldcm
sich bald kleinere, die sich für jenen halten und nach
seinem Maßstab wirtschaften. Der Egoismus, der in ge-
fährlichen Augenblicken dem Ganzen und dem Großen
als berechtigt zugebilligt wird, läßt sich nicht bannen
und schiebt schließlich auch in privaten Grenzen jede
Zurückhaltung als Philistermoral zur Seite. Natürlich
trifft, was hier der pro fange schichtlichen Erfahrung ent-
nommen ist, ebenso die Geschichte der Religionen. Die
Männer „nach dem Herzen Gottes", von denen das
Alte Testament spricht, sind von Konstantin dorn Großen
und von Chlodwig nicht verschieden; um des religiösen
Verdienstes willen wird ihnen alle Ruchlosigkeit nach-
gesehen. Indem also die Religionsgeschichte dem
Verbrechen Absolution erteilt, bringt sie die Re-
ligion in den nämlichen Konflikt mit der Moral, wie
im anderen Fall die politische Raison sich über die Moral
hinwegsetzt.
Bedenken dieser Art wirken doppelt eindrücklich bei
einem Mann, der für alle Größe den offensten Sinn hat,
der in der Ökonomie des Weltganzen große Männer
für notwendig und erziehlich hält, und der sich vor dem
großen Geheimnis beugt, daß eine „Koinzidenz des Egois-
mus des Individuums mit dem, was man den gemeinen
Nutzen oder die Größe, den Ruhm der Gesamtheit nennt,
sich zeigt", Ahnungen oder Einsichten, wie sie ähnlich
gegen Ende des zweiten Teils von Goethes „Faust" be-
gegnen. Liegt nun darin eine Rechtfertigung oder eine
4 6
Digitized Dy Google
Art von R echt fertig un g des Bösen in der Welt, als sei
es ein providen tielies Werkzeug des Guten;
Burckhardt lehnt das deutlich ab und steht mit seinem
Glauben an das radikal Böse Kant näher als der Mei-
nung Goethes. Das Böse bleibt böse, unabhängig von
den Folgen. Dieser sein Werlmaßstab ist unverrückbar,
und um so mehr, als andere Weitmaßstäbe nicht an-
erkannt werden. Wer religiöse oder nationale Zwecke
und Ideen verficht, findet darin leicht die Indemnität für
böse Mittel. Burckhardt ist zu vorsichtig und skeptisch,
uro auf diesen Boden zu treten. Wenn er die Gründung
des Imperium Romanum sieht, das darin sich ausbreitende
Christentum und die Übermittlung all dieses Erbes an
die Germanen, so spricht er wohl von einem „uns recht
scheinbaren weltgeschichtlichen Zweck"; er gibt im
Lauf der Dinge der Zivilisation gegen die Barbarei recht;
er fühlt „höhere Notwendigkeiten"; er konstatiert das
Recht des Stärkeren, nicht nur in der Natur, sondern
auch ein großes Stück weit in die Menschen geschiente
hinein. Aber der Einwand bleibt, der Stärkere sei noch
lange nicht der Bessere; es bleibt der Einwand, wir''
wüßten nichts von Zwecken und dann : selbst wenn solche
existierten, könnten sie nicht auf andere Weise erreicht
werden? Teleologie ist Wunsch; unser Wünschen ist
blind, und wir halten für Torheit, was wir ein andermal
für Weisheit hielten. Unsere "Weltpläne und Programme
sind verkappte Wünsche. Wünschbarkeit als Maßstab '
ist trügerisch. Auch ist doch vielleicht nichts in der
Welt notwendig. Wie vieles ist Zufall, Gunst der Stunde,
entscheidendes Zugreifen der Persönlichkeit!
Telrologie und Optimismus, der Glaube, daß immer
höhere Zwecke gesetzt werden, immer mehr Fortschritt
sich geltend macht, sind keine selbstverständliche Ver-
bindung. Vom Buch Daniel der Bibel an (ja aus der
Heidenzeit herüber) zieht sich über Augustin durch das
ganze Mittelalter eine pessimistische Teleologie. So
sehr Burckhardt gegen den „wohlfeilen" Optimismus
der Fortschritts Seligkeit gestimmt ist, die pessimistische
Wendung macht ihm die Teleologie um nichts annehm-
barer. Sein Skeptizismus hält ihn dagegen gefeit, und
so bleibt dieser Skeptizismus, als welcher sich gegen
47
Zwecke als täuschende Illusionen und gegen gewissen-
lose Mittel als Dieser dieser Zwecke verschließt, der
untrennbare Gefährte seines Moralismus. Dieser Moralis-
mus ist aber der harte Kern von Burckhardts Persönlich-
keit, es ist der Felsen, auf den er gebaut ist. Wenn
man ihn für einen eigen sinn igen Individualisten gehalten
und seine Antipathien gegen politischen, kirchlichen,
demokratisch gleich pressenden Druck für etwas erfreu-
lich Unmodernes und Antisoziales begrüüt hat, so er-
kennen wir jetzt den Punkt, an dem er Halt machte.
Dieser Punkt lag dieseits von Gut und Bös, und sein
Moralismus war der Ausdruck eines starken sozialen
Empfindens. Man kann es auch anders und ohne ak-
tuelle Farbengebung aussprechen.
Von der Wurzel des deutschen Idealismus her blieb
das Vermächtnis Schillers in Burckhardt lebendig. Die
Freundschaft Goethes und Schillers ist seit der Mitte
des neunzehnten Jahrhunderts den meisten unverständ-
lich und gleichgültig geworden. Nicht so für Burck-
hardt. Sie war und blieb ihm ein starkes geistiges Er-
lebnis, und seine Seele behielt die Wärme, die von jener
verdoppelten Glut ausstrahlt. Daß er Goetheisch emp-
fand und zugleich Schillerisch blieb, hierin ragt er viel-
leicht am fühlbarsten über seine Zeit und die Zeitlich-
keit hinaus. Hierin liegt eine starke Gewähr für die
Fortwirkung seines Geistes.
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Digitized Dy Google
II. Die Jugend Burckhardts und die
Entstehung seines RenaissancebegrifFs
Zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages
am 25. Mai 1918
1. Die Entdeckung der Renaissance
Für die Geltung der Lebens- und Kunstanschauung,
die in der Vorstellung: Italienische Renaissance
enthalten ist, bedeutet es nicht wenig, daß eine so an-
ziehende und starke Persönlichkeit wie Jakob Burckhardt
ihr Dolmetscher und, wie viele ohne weiteres glauben,.. 1 ..." .
ihr Vertreter "gewesen ist. Von seinen Werken hat zur
Umbildung des Geschmacks weiter Kreise fraglos der
Cicerone das meiste beigetragen. Obwohl beim Er-
scheinen dieses Buches, 1855, ein so guter Kenner wie
Waagen, als er das Werk anzeigte, sozusagen vor lauter
Bäumen den Wald nicht gesehen und sich den neuen
Kura in der Richtung zur Renaissance nicht klar gemacht ,j: . ,,
hat, ist tatsachlich die Werbearbeit für die neuen
Wertungen bis heute vom Cicerone Burckhardts maß-
gebend gefördert worden. Kein Gebildeter, der neben
dem Bädekcr nicht den Cicerone mit in das Reisegepäck
nach Italien gesteckt hätte, so daß Carl Justi ihn ein-
mal ärgerlich als unseren Geschmacks vorm und bezeichnen
konnte. Die Theorie zu dieser langsamen, aber sicheren
Gängelung des Publikums (von der ersten bis zur zweiten
Auflage des Cicerone brauchte es vierzehn Jnhrej dann
wurde das Zeitmaß ein anderes) hat die „Kultur der
Renaissance in Italien" geliefert. Hier sind die Grund-
lagen für die neue kulturphilosophische Konstruktion
gelegt, dem Mittelalter kostbare Provinzen entrissen, aus
—Annexionen das Gebiet der italienischen Renaissance
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□ipzed öy Google
gebildet und gerecht fertigt worden. Die hier geprägten
Meinungen haben fast dogmatische Geltung gewonnen.
Der Glaube an die Renaissance ist allmählich ein Stück
der auf ihre angebliche Yorai!$sel;iiin»slosi!;keit stolzen
allgemeinen Bildung geworden. Burckhardts Kultur der
Renaissance ist kein leicht zu lesendes Buch. Sich da-
mit, in qnälciij ist für die meisten nicht nötig. Denn in
zahllosen Verdünnungen, Aufgüssen, Erweiterungen ist
der Stoff der italienischen Renaissance zugänglich ge-
macht worden. Wenigstens die Dialoge über die
Renaissance vom Grafen Gobineau (1877) hat jeder ge-
lesen; die Phantasie der Zeit war so in diese Gegen-
stände und Personen verliebt, daß das künstlerisch mehr
als unzulängliche des Gobincauschcn Buches mit Haut
und Haaren verschluckt wurde. Halte sich unser Gustav
Freytag mit guten Gründen gescheut, in seinen „Ahnen"
die großen weltgeschichtlichen Persönlichkeiten zu
Trägern der Handlung zu machen, um sie lieber bei
seltenen Anlässen aus der Kulisse blicken zu lassen, so
mußten wir nun die Halbgötter der Geschichte und
Kunst der Renaissance als Schauspieler die Rollen des
Gobineauschen Textes spielen und lange Reden halten
hören.
Um nicht Selbstverständliches unnütz zu wiederholen ■
hinter der Botschaft an die breiten Kreise und an die
Gedankenwelt der Tagesmeinung und Tageszeitung reckte
sich die Gestalt Nietzsches empor und die Predigt vom
Gewalt- und Übermenschen als des höheren Men sehen -
typus. Vorbilder und Beispiele in Überzahl bot keine
weilgeschichtliche Periode so treffend wie die italienische
Renaissance. Vom bequemen und verständlichen Schlag-
wort bis zu den süßgiftigen Prägungen eines in dünne
Luftschicht verstiegenen Gratwandlcrs ging allmählich
eine Saat auf, über die der Basier Gelehrte, der einst
die Samenkörner ausgestreut hatte, billig erschrecken
mußte. Das Schopenhauersche Lauern auf Ruhm und
Beifall war ihm ohnedies fremd. Es gab keinen be-
scheideneren Gelehrten als Jakob Burckhardt. Der Nach-
lebende besinnt sich, diese Stille zu stören, die vier
Wände zu durchbrechen, in die der große Basler sich
zurückgezogen, das Inkognito, in das er sich und seine
50
Digitized ö/ Google
Werke gern gehüllt hätte, taktlos der Maske zu berauben.
Aber es sind nun einmal Burckhardtische Gedanken, die
der Renaissancebewegung der zweiten Hälfte des neun-
zehnten Jahrhunderts das Bett gegraben haben. Einer
der Freunde , Schüler und Bewunderer Burckhardts ,
Heinrich von Geymüller, hat es so ausgedrückt: Ich
mochte noch so weit von Basel sein: das Zimmer Jakob
Burckhardts kam mir vor wie der Mittelpunkt der
Erde, von welchem wir Bürger und Diener der
Renaissance angezogen wurden 1 ).
Von einer gewissen Höhe gesehen, scheinen sich die
vielbcrufenen Gegensätze von Klassizismus und Roman-
tik einzuebnen. Wenn das Wesen der Romantik mit
Ungenügen an jedweder Gegenwart, mit Flucht aus der
Wirklichkeit bezeichnet wird — einerlei, welches die
psycho logischen Voraussetzungen des Auseinanderlebens
von Euizelanspruch , Ort und Zeit sein mögen — , so
macht es keinen Unterschied, ob die Zuflucht unter den
Säulen des Parthenon oder im Helldunkel romanischer
und gotischer Räume gesucht wird. Winckelmann, auf
den das bleierne Grau des Nordens und die theologischen,
seine Sinnlichkeit hemmenden Befangenheiten drückten,
war nicht minder Romantiker als Wackenroder, der
Nürnberg für uns entdeckte. Iii diesem Sinne ist ein
Stück Romantik und Sehnsucht im Blut aller edleren
Naturen.
In größerer Nähe gesehen, bezeichnen indessen die
berührten Gegensätze Pendelausschwingungen des all-
gemeinen Geistes, die mit einer gewissen Regelmäßig-
keit zu wechseln scheinen. Bei uns ist Nazarcncrtum
und Neigung zum Mittelalter um die Mitte des neun-
zehnten Jahrhunderts durch die Wendung zur italienischen
Renaissance abgelöst worden, die durch das Neuheiden-
tum des „jungen Deutschland" vorbereitet war a ).
') „Bnrdthardtl Briefwechsel mit Heinrich von GeymUUer", bemut-
gegeben von Carl Nemaunn. 1914. Einleiiune S. 6.
*) Hierüber mein Esiai aber Jaliob Bnrckhiir.l! von 189K, „DeuLsche
Kondschau ", 14. Jahrgang, HKit, S. 382.
51
Diflitized by Google
Diese unsere Renaissance der Renaissance war eine
ceilgemäÜe Umformung des Klassizismus von Goethes
mittlerer Lebensbahn, und sie teilte mit diesem den An-
lernen, gegenüber mittelalterlichen, sogenannt romanti-
schen Schöpfungen, ein Absolutes und Klassisches zu
bringen ! ). Wenn Kunst allemal als Kronzeuge für Sinn
und Wert der schöpferischen Leistungen eines Zeitalters
angerufen wird, so hat CS auch für die italienische Re-
naissance nicht daran gefehlt, ihre Hochblüte in der
Kunst des sechzehnten Jahrhunderts als die „klassische
Kunst" oder, wie Burckhardt zu sagen liebt, als goldene
Zeit vorzustellen. Damit ist ein Vorurteil erneuert worden,
das von der Altertumswissenschaft, wie man ihr zum
Ruhm nachsagen muß, seit dem Abebben des Neu-
iiumanismus abgelegt worden war. In der reinen Wissen-
schaft war der pädagogische Gedanke des Normativen,
Absoluten, des „klassischen" Altertums verschwunden;
man überließ dieses Epitheton „ornans" der streitenden
Schulpolitik, und das Wort: klassisch bekam überhaupt
den verdächtigen Firnisglanz der Geschäftsrcklame. Auch
hat der Kunsthandel die französische Malerei von der
Romantik Delacroix' bis auf Mauel als „klassische fran-
zösische Kunst" angepriesen. Für das Publikum mochte
solcher Begleitschein seine alte Anziehungskraft be-
währen. Die Auguren lächelten; denn sie wußten, daß
der Begriff des Klassischen eine Entschuldigung und
Abwehrmaßregel sinkender Kräfte bedeutet, alexan-
drmischc liildungsformel , Eingeständnis eigener Un-
lebend igkeit und des Nicht Vermögens.
Wir haben diesen Anspruch der neuklassms tischen
Renaissancebewegung des neunzehnten Jahrhunderts an
den Anfang unserer Betrachtung gestellt, um klar zu
■) Die Linie von Goethes Klassizismus ra Bnrckhsrdts Renaissance
scheint mir eine wichtige Feststellung zu sein. Über die Entstehung
dei „Rcnaisianciimm" im 19. Jahrhundert ist auf das gedankenreiche
erste Kapitel in dem Üuch von Franz Ferdinand B au mgarleo , das
Werk Cunrad Ferdinand Meyers, München 1917, zu verweisen. Der
Verfasser konstruiert da einen Gegensatz iwischcn Klnssizisrans nnd
Ke uaiss an c Ismus. Doch besinn! er sich und briilgt die richtige Selhst-
korrekwr S. 14: „Der europäische Historismus setit allerdings schon
mit dem Klaisiiismui ein".
52
□Igiiized by Google
machen, daß das Reich der Renaissance in Kampf-
stellung auf den Plan trat. Burckhardt war darüber
nicht in Zweifel. „Ärgert euch nicht, ihr Deut-
schen," schrieb er 1860 an den gesinnungs verwandten
jungen Paul Heyse, „wenn ich den Welschen einige
Prioritäten vindiziere, die ihnen gehören", und er setzt
Jliniu: „ich habe im Ausdruck einiges weggelassen und
anderes in Baumwolle gewickelt." Die Problemstellung,
von der Jakob Btirckhardt ausging, war deutsch. Ist
die italienische Renaissance ein neues weltgeschichtliches
Gebilde, ist sie Überwindung des Mittelalters, ist sie
innerhalb Europas früheste Überwindung des Mittel-
alters, so muß für ihre Darstellung der Gegensatz auf
eine wirksame Formel gebracht, das Mittelalter die
Dunkelfolie werden, von der sich glänzend das Neu-
gebilde abhebt , so müssen die alten Aulklärungswaffen
Voltairescher Zeit gegen die „infame", gegen das über-
sinnlich tinsinnlichc und verstiegene Mittelalter, gegen
sein universal Bindendes, gegen sein unfrei Unpersön-
liches neu geschliffen werden. Je schroffer und ein-
seitiger die Vorstellung vom Mittelalter belichtet und
beschattet wird, um so klarer kommt auch das Wider-
spiel der Renaissance heraus.
Hier waren künstlerische, halb unbewußte Rechnungen,
fast möchte man sagen: ein literarischer Zwang mäch-
tiger als Burckhardts Seele und Temperament. In der
jreflih Midien Einsamkeit der Schreibtischarheit geriet seinr:
historische Erfahrung und Gewissenhaftigkeit, für i.Üe d;^
Mittelalter in Vorzügen und Schwachen klar offen lag,
in Streit mit persönlichen Erlebnissen (worüber im näch-
sten Abschnitt) und eigenwillig künstlerischen Forde-
rungen und Herrsch gelüsten. Was er in seiner Kultur
der Renaissance in Italien beschrieb, war keine italienische
Kulturgeschichte vom dreizehnten bis zum sechszehnten
Jahrhundert, sondern die bewußt einseitige Darstellung
der Bestrebungen, Gedanken und Gefühle einer Minori-
tät, die allmählich fast die gesamte Bildung gestaltete.
Die konservativen Mächte, das Portleben der christlich-
mittelalterlichen Welt in Italien wird mit Kunst und Ab-
sicht beiseite gelassen. Schließlich wird das Mittelalter,
wo es unleugbar Größe, Geist und Leben ist, umgedeutet.
„Das Mittelalter wird", wie einmal Walter Götz es aus-
. f drückte, „zur Renaissance gedeutet, wo sich lichte
Stellen in der Art der Renaissance finden."
Die „Kultur der Renaissance" ist nicht in einem
„boshaften" Stil geschrieben, für dessen Vertreter übrigens
Burckhardt manche Neigung besaß. Indem aber der
Kampf, aus dem das Buch geboren war , als ein ganz
persönliches Erlebnis nachzitterte, glaubte Burckhardt,
manches Befangendc abgestreift zu haben, ohne zu
bedenken , daß man im Leben eine Befangenheit
für die andere einzutauschen pflegt. Sicher glaubte
er sich verstanden, wenn einer seiner ersten Leser
(HeyseJ die „hohe Ironie", die wie ein ätherisches
Salz alle Poren durch wittert " , in diesem Buch
genofl.
Ich wünsche, an wenigen Beispielen zu zeigen, wie
der Burckhardt von 1855— 1860 mit dem Inventar des
Mittelalters verfuhr, um seiner Renaissance Relief zu
geben. Es seien diese Beispiele dreierlei Gebieten ent-
nommen, der politischen Geschichte, der Kunstgeschichte,
der Literaturgeschichte. An Stichproben dieser Art kann
man sich mindestens die Methode und den Sinn des
Werkes deutlich machen.
Daß die Renaissance hauptsächliche Grundlage mo-
dernen Wesens sei, ist einer von Burckhardts Glaubens-
sätzen; die rationalen Methoden und Ziele seien für
Staat und Politik dort zuerst erkannt und angewendet
worden, und wo derartige Überlegungen zutage treten,
da sei renaissancemäßiges, das heißt modernes Denken
festzustellen. In diesem Sinn heißt es von Venedig, es
habe am frühesten amtliche Statistik getrieben und stelle
durch derartige Berechnungen und deren praktische An-
wendung eine große Seite des modernen Staatswesens
am frühesten vollkommen dar. Was soll das nun an-
gesichts der offenkundigen ..Verspätung" und Rück-
sliiiidigkeit besagen, die dasselbe Venedig auf dem Ge-
biet literarischer und künstlerischer Renaissance dar-
bietet? Ein Handclsstaat wie Venedig hat seine welt-
lichen Vorteile, und was sie fördern konnte, immer mit
54
Digitized b/ Google
angemessenem Verstand gewählt. Mitten in dem phan-
tastischen Licht der Kreuzzugszeiten steht seine Erobe-
rung von Konstantinopcl als höchst unhciliger Akt der
Erpressung, die an kieuzgeweihlen Pilgern verübt wird,
damit sie durch Waffen und Artillerie das abzahlen, was
sie an Uberfahrtskosten übers Meer den venezianischen
S chi ffalirtsges ellschaften schulden. Dieser Kreuzzug
jjegen Kons tan tinopel, wobei der kontinentale „Degen"
in den Dienst venezianischer Eroberungslust gestellt
wird, ist ein Kapitel von unheimlicher Modernität, und
er wird dadurch nicht verschönert, daß er ein Mißbrauch
geistlicher Waffen und Indulgenzen zugunsten weltlicher
Politik war. Dies geschah 1204. Ist das nun Renaissance
oder Protorenaissance? Einfach betrachtet, ist es welt-
liche Politik, die es im Mittelalter wie zu allen Zeiten
gegeben hat, und es ist nicht einmal ein Widerspruch
gegen den ,, irrationalen Charakter" des Mittelalters; es
ist nur eine Warnung, daß man nicht irrational = Mittel-
alter und rational = modern oder Renaissance setze.
Unsere mittelalterliche Überlieferung ist durch Jahr-
hunderte vorwiegend geistlich; die weltliche Überliefe-
rung kommt darüber zu kurz. Es wäre der größte Fehler,
die weltliche Seite des Mittelalters durch diesen zu-
falligen Nachteil der Überlieferung beschatten zu lassen.
Für die Laienseite des Mittelalters ist die Beschreibung
der Eroberung von Konotan tinopel durch Villehardouin
eines der glänzendsten und frühest geschriebenen, völlig
unbefangenen Zeugnisse. Diese Laienkuttur und ihr Ge-
menge von Rationalem und Irrationalem bestand immer
schon, nur daß sie nicht über die Federkunst eines
Villehardouin verfügte und somit für manche, die Re-
alitäten nur greifen, wo sie Bücher lesen können, stumm
blieb. Man soll also nicht übersehen oder, wenn man
es sieht, soll man es nicht als erste, zweite, dritte (zum
Beispiel karolingische , ottonische) Renaissance in An-
spruch nehmen, was im Mittelalter als rational gerichtete
Bemühung lebt. Ähnlich ist der Satz zu werten, der
Staufer Friedrich der Zweite sei „der erste moderne
Mensch auf dem -Throne" gewesen. Sicher ist es am
wenigsten Burckhardts Art gewesen, sich für „Moderne"
und angeblichen Fortschritt zu erwärmen. Hier aber hat
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er in der Lust der Umwertung an die Leidenschaft für
die Suche nach Vorläufern der „Moderne" seinen Tribut
bezahlt »).
Einer der Glaubensartikel der italienischen Renaissance
ist es, daß die Gotik als ein nordischer Eindringling
in Italien das natürliche italienische Kunstempfinden ge-
stört, einen fremden Blutstropfen hereingebracht habe.
In den Schimpfnamen „Gotik" hat sich mit dem Er-
wachsen eines rassesto Izen Nationalge fühl s alles zusammen-
gedrängt, was sich an Haß gegen die Barbaren der
Völkerwanderung, gegen die germanischen Eroberer
meldete. Die nordische Kunst, deren Denkmäler auf
italienischem Boden von Como und Mailand über Ko-
logna und Florenz, über Siena und Orvieto bis Süd-
italien in Kathedralen und Bettel nrdensldrchcn ragten,
erschien wie eine späte Welle von Völkerwanderung und
Unterjochung. Indem Burckhardt für die Renaissance
Partei ergriff, hatte sich der in der Nachbarschaft und
fast im Schatten der Münster von Freiburg und Strafl-
burg Aufgewachsene, der Kenner der damals noch
„germanisch" genannten go tischen Kunst, mit jenen Auf-
fassungen und Vorurteilen auseinanderzusetzen. So ist
die Meinung des Cicerone, das Einmischen der Gotik in
den Ablauf der südlichen Kunst habe die Doppel Wirkung
gezeitigt: iür die italienische Kunst, daß sie vorüber-
gehend aus ihrer Bahn gedrängt; für die nordische Kunst,
daß sie verfälscht wurde.
Gestehen wir, daß in heutigen Zeitläuften über Gotik
zu sprechen, eine verfängliche Sache geworden ist. Das
Publikum ist irre geführt, seit man ihm vorredet, Gotik
') Über Friedrich den Zweiten siehe auch meine Bemerkung in:
„Byiantiniscbe Kultur und Renaissaneekultnr", 1903, S. 7. Es kann
übrigem angesichts der vielen Wiederholungen, die diu« Urteil Burek-
hardts gefunden hat, gar nicht nachdrücklich genug gesagt werden, ilafl
Borekbardl selber sein Urteil geändert h.il. Er ordnete spater
Friedrich den Zweiten in die Überlieferung normannischer nnd moham-
medanischer Tjrannenpraiis ein. „Man möge nar keine liberalen
Sympathien mit diesem grollen Hohenstaufen haben I" Dagegen kommt
WieJi-rliuluni; der Vcrj{lciclmr]<; ini; dem modernen rciitrslisierte-,
Gewaltslaal nicht anf, der ihm als Reaklion nnd im Grande „unmodern '■
enebeint. „Weltgeschichtliche ltet rächt ungen », S. 01.
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sei gegenüber Antike der Ausdruck eines dualistischen
ewigen Grtindwescns und reiche von Prähtstoric und
Ägypten bis zur Gegenwart. Wozu ein witziger Kopf
bemerkte, dann könne man Gotik ebenso treffend Chinc-
sik oder Botokutik nennen. Angesichts solcher wohl-
berechneten I'aradoxten darf man feststellen, daß es sich
bei der Gotik um eine historische Erscheinung des christ-
lichen Mittelalters handelt, die als wunderhafter Sonder-
chaxakter in der Weltkultur auftaucht und nicht ganz
vier Jahrhunderte erfüllt (im deutschen Empfinden leben
ihre Spuren länger fort).
Nach dieser Zwischenäußerung folge eine weitere
Randbemerkung. Wir wissen selber nicht mehr, wie
tief sich klassizistische Vorstellungen in unserem Denke»
und Vergleichen festgehakt haben. Daß im Ablauf
eines Stils irgendwo seine beste, seine ..klassische" Zeit
sein müsse, diesen Maßstäben ist auch die Gotik nicht
entgangen. Nehmen wir zum Beispiel die Bewertungen
in einem mit Recht hoch angesehenen Werk, in Dehio
und Bezolds Kirchlicher Baukunst des Abendlandes, so
wird hier mit der Vorstellung gearbeitet, daß eine be-
stimmte gotische Architektur die kanonische, muster-
gültige, kh'.sische sei; was davon abweiche, sei miß-
verstanden, unecht, irgendwie, wie man heute sagen
würde, Eisatzgotik. Nun hat Deutschland die Gotik
verhältnismäßig spät aus dem Westen übernommen, sie
in seinen westlichen Randländern, ungefähr längs des
Rheins, übernommen, so wie sie gebracht wurde, im
übrigen aber zweifellos längere Zeit diese Gotik als
eine Störung, als einen Fremdkörper empfunden, bis —
vorwiegend in der Hallenkirche gegenüber der Basilika —
eine annehmbare Atisnlt'irlisfrirm gefunden war. Dieses
Ergebnis der Auseinandersetzung mit der Gotik in Deutsch-
land wird in dem vorhin genannten Werk als Abfall,
als minderwertige Mittelmäßigkeit gescholten. Jüngere
Beurteiler, die das nicht gelten lassen wollten, haben
das Gegenteil ausgesagt , einmal die spätere deutsche
Gotik als fortschrittlich und fast im Sinn einer Vorweg-
nahme där Renaissance gewertet, ein anderes Mal eine
Sondergotik konstruiert, deren Wesen als Gegensatz zur
französischen „klassischen" Form gedeutet wird.
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In dem Augenblick , wo man den klassizistischen
Anspruch einer Normalgotik aufgibt, entfallen alle diese
gesuchten und befangenen und gezwungenen Konstruk-
tionen. Denkt doch auch niemand mehr daran , es
Wolframs Paizival kritisch anzuschreiben, was an seiner
Erfindung von westlichen Vorbildern abhängig ist. Die
Gotik hat von Land zu Land gegen Örtliche Wider-
stände und Gewohnheiten ihre besonderen nationalen
Prägungen gefunden. Wenn sich die deutsche Gotik
vom französischen Muster freigemacht und selbständig
ausgestaltet hat, so will mir dieses Verhalten als histo-
rischer Fall nicht verschieden von dem italienischen
erscheinen, da die Ergebnisse von der Andersartigkeit
der Voraussetzungen abhängen. Läßt man also das
Renaissance Vorurteil als eine allmählich hineingetragene
Parteifeindseligkeit beiseite , so entfällt der Grund,
italienische Gotik anders zu werten als deutsche Gotik.
Die Unterschiede zwischen dem inneren Aufbau des
Florentiner und des Mailänder Doms mögen ungefähr
denen zwischen Straßburg und Landshut entsprechen;
alle diese Fälle sind von der „klassischen" Form der
französischen Kathedrale fern.
Wir meinen also, wenn der Cicerone behauptet, Italien
habe das ,, Lebens [irin zip der nordischen Gotik preis-
gegeben", so sei dieses Urteil nicht anders zu bewerten,
als wenn neuerdings von deutscher Seite über unsere
Spätgotik ausgesagt worden ist, sie habe den Horizon-
talismus an Stelle des Vertikalismus gesetzt. Falsche
Maßstäbe, falsche Verallgemeinerungen sind hier im
Spiel und führen zu einseitiger Konstruktion.
Bemerken wir übrigens, daß der berühmte Jünger
Jakob Burckhardts, Heinrich von Geymüller, die Gotik
als ein wesentliches und unentbehrliches Stück und fast
als character indelebilis der italienischen Renaissance
beurteilte 1 ). Der Standpunkt Burckhardts, des „Un-
fanatischen", war anders und schroffer, indem er der
Meinung nachgab, das Gotische sei in Italien eine Übcr-
gangsepochc; der gerade Weg wäre der von S. Miniato
') Ich bitte, »nf meine Erörterung dieser wichtigen Frage in dem
Briefwechsel Darckhurdl-GeymiUler, S. 19-3» »erweisen in dürfen.
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zu Bmnellcschi gewesen. Indessen bat Burckhardt selber
die Gotik in Italien als ein „Schicksal" bezeichnet, und
dabei mag man sich beruhigen. Ist nicht auch in der
deutschen Geschichte Christentum, Monarchie und so
viel anderes ,, Schicksal" gewesen? Die Weltgeschichte
geht nicht die logischen Geradlinigkeiten des Systematiken.
Vielleicht kommt, wenn erst das Renaissance Vorurteil
einmal gebrochen ist, die Zeit, da mau von Botticelli
als einem Gotiker wird sprechen köneti, da man seine
Neigung zu Dante und Savonarola nicht als Entsagung
und Bankerott, sondern als natürliche Neigung begreifen
tind vielleicht die „Frührenaissance" überhaupt um-
taufen wird.
Die Erwähnung Dantes gibt das Stichwort zu einer
der erstaunlichsten Annexionen von Burckhardts „Kultur
der Renaissance". Jeder, der das Buch kennt, erinnert
sich , welche Stelle Dante , Petrarka , Bokkaz in dem
Kapitel der Wiedererweckung des Altertums eingeräumt
ist. Es bleibt der Eindruck, daß hiermit drei Edelsteine
ans der Krone des Mittelalters ausgebrochen und der
Renaissance, der unwiderstehlichen Verführerin, zugeeignet
worden sind. Genau besehen, fehlt es auch Burckhardt
nicht an Bedenken. Für Dante hat er im Schlußkapitc] ;
Sitte und Religion, des gläubigen Dichters scharfe Ab-
sage mittelalterlichen Abscheus gegen Epikitr und seine
jünger eingeschaltet, und im Cicerone seiner eigenen
Abneigung gegen den moralischen Hochmut Dantes und
dessen Absperrungen von Schafen und Böcken einen
sehr ren a is San ce mäßigen, über Moralbedenken erhabenen
Ausdruck gegeben. Daß Dante von seinem Führer
durch Hölle und Fegefeuer, Virgil, just da verlassen
wird, wo es sich um Heilserkeuntnisse handelt, (Purga-
torium, 30. Gesang), brauchte man Burckhardt nicht
m sagen. Und so hat er dem Humanisten Petrarka den
Röckfall ins Augustimsch-Mittclalterliche in derberühmlen
Anekdote von der Besteigung des Mont Ventoux aufs
Kerbholz geschrieben. Diese Grundfärbung mittelalter-
lichen Geistes ist doch auch bei Bokkaz unverkennbar.
Man fragt sich, welche Vorstellung denn die Vielen
vom Mittelalter haben , daß sie jede kräftige Äußerung
von Lebensfreude und -genuß als renaissancemäßig
59
werten. Die Laien gesinnung des Mittelalters spricht doch
aus Walter von der Vogelweide, aus den Carmina burana
deutlich genug, und will man wissen, wie derb die
Leben sgefiihle in den geistlichen Ständen waren, so
braucht man nur in den Fabliaux oder Miracles de
Notre Dame Umschau zu halten. Nun hat aber Bokkaz
reichlich aus den Quellen mittelalterlicher Minne- und
Troubadourgedanken geschöpft. Es wird nicht viele so
ergreifende Geschichten aus der hohen Minnewelt geben
wie die Falkennovelle im Dekamerone (S- Tag, Nr. 9).
Ein Ritter, durch übergroßen Aufwand für seine Dame
arm geworden, zieht sich auf seine letzte dürftige Be-
sitzung zurück. Als fast einzige Habe ist ihm ein treff-
licher Jagdfalke geblieben. Das Söhnchen der Geliebten,
die inzwischen verwitwet ist, wirft sein Auge auf diesen
Falken, und da es schwer erkrankt, erbittet es von der
Mutter just diesen Falken. Sie entschließt sich zu dem
schweren Bittgang zu dem einst verschmähten Liebhaber,
und dieser, um den angekündigten Besuch zu ehren,
schlachtet („trovatolo grasso") seinen kostbaren Falken
als Festbraten. Das Kind stirbt usw. Hcysc hielt dieses
Stück für die Novelle der Novellen , und Goethe hat
sieh in der Zeit seines Troubadour Verhältnisses zu Frau
von Stein (1776) damit beschäftigt, die Geschichte von
Federigo, Monna Giovanna und dem Falken zu drama-
tisieren. Es ist nicht die einzige Verklärung mittelalter-
licher Minne bei Bokkaz.
Der Begeisterung für die Welt des zunehmend ent-
deckten Altertums gehen bei Bokkaz wie bei Petrarka
und Dante ausgesprochen mittelalterliche Charakterzüge
zur Seite. Die Frage ist, was im Bild der Persönlich-
keit vorherrscht, und diese Frage ist von unserer Auf-
fassung, von der Entlastung des Mittelalters von fälschen-
den Einseitigkeiten, abhängig. Kenntnis und Einstrom
des Altertums durchzieht das ganze Mittelalter. Wo
von den großen Stoffen mittelalterlicher Literatur ge-
sprochen wird, findet man gern die Verse eines Fran-
zosen des dreizehnten Jahrhunderts angeführt:
Ne sont que trois matteres a nul nomine attendant:
de France et de Bretagne et de Rons la grant.
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Trojasage und Virgil, Eneit und Alexanderroman und
so viel andere antikische Stoffe haben die Phantasie des
Mittelalters erfüllt. Die Sicherheit und Größe des Mittel-
alters war, daß es aus den alten Historien und Epen
Abenteorenomane ritterlichen Stils machte , daß es den
klassischen" Figuren Kettenhemd und Eisenrüstung
anzog, statt des ruhiglinigen Helmkammes steilgotische
Federbüsche auf ihre Köpfe gab, kurz, die ganze Summe
der Überlieferung zeitgemäß mittelalterlich einkleidete.
Diese Selbstverständlichkeit der Aneignung und Über-
setzung in ein jeweils Mo dem- Zeitlich es hat sich die An-
tike durch die sogenannte Frührenaissance gefallen lassen
müssen. Pinturicchio und Dürer, später Shakespeares
Troilus und Kressida, Rembrandts Ganymed haben es
so gehalten. Völlig unterschieden von diesem natürlich-
starken Ebenbürtigkeits-, ja Überlegenheitsgefühl
gegen die Antike ist das Sichbeugen vor der Antike
als einer höher stehenden Macht, daa Heraustreten der
Antike als einer alten hohen Offenbarung aus dem Zu-
sammenhang der Überlieferung und Hand in Hand da-
mit: Wiederbelebung des reinert, von mittelalterlicher
Trübung befreiten Altertums, Entstehung von Orthodoxie
und Dogma des „klassischen" Altertums.
Diese Wiederbelebung der reinen Flamme hat jakob
Burckhardts Klassizismus gemeint, als er seine Kultur
der italienischen Renaissance schrieb und den Strom der
Antike als das lebenspendende Element der Renaissance
entdeckte. Dann hat sich der Entdeckersinn mit dem
Konquistadoren willen vereinigt, um das neu gegründete
Reich mit Provinzen und Namen auszustatten, die minde-
stens nicht restlos in der Renaissance aufgehen, und er
hat Bereich und Bedeutung des Mittelalters gewaltsam
autöckgeschoben , um seiner Renaissance die erhöhte
Wichtigkeit zu geben. Er durfte meinen, „ein Zeitalter
entdeckt" zu haben {der Ausdruck in einem Brief an
einen. seiner Studenten, Salomon Vögelin, Basler Jahr-
buch 1914), und für Italien, für die italienische Re-
naissance trifft das auch zu, trotzdem alle unsere Vor-
behalte in Kraft bleiben. Zugleich hat Burckhardt der
italienischen Renaissance eine bis heute geltende Mo-
dernität zugesprochen (da er 18ÖO noch nicht den hef-
tigcn Abscheu gegen modern Foitschtittliches hegte oder
in der Verankerung in die Antike vielleicht den not-
wendigen Widerstand und die Versicherung gegen das
zeitlich Moderae erblickte) und ihr im Schlußsatz des
Buches die Empfehlung auf den Weg gegeben, sie sei
die Führerin unseres Weltalters
Es sind Wiederholungen dieser Tendenz und Seilten/.,
wenn Burckhardt an Italien als die magna parens glaubt,
die Iialicncr als Erstgeborene der modernen Völker be-
grüßt, und diesen wie den bekannten anderen Schlag-
wörtern von der Entdeckung der Welt und des Menschen,
der Befreiung des Individuums , dem Erwachen, der
Persönlichkeit ihre heutige Gern ein plätzigkeit , Übcrein-
kömmlichkeit und ihren Scheidemünzencharakter ermög-
licht hat
Unter den Wissenden ist heute wohl Einverständnis
darüber, daß in diesen Prägungen wisse oschaftl ich un-
zulässige Wertverschiebungen vorliegen Für den An-
spruch der angeblichen Erstgeburt Italiens wird es ewig
darauf ankommen, ob man für die Weltgeschichte das
Rom Alexanders des Sechsten und Leos des Zehnten
für wichtiger hält als die aus mittelalterlichen Seelen-
kämpfen erwachsene deutsche Reformation. Zieht man
schließlich von der italienischen Renaissance Burck-
hardt ischer Meinung die Annexionen ab, so bleibt als
großartiges Phänomen die Durchdringung des italieni-
schen Geistes mit der Antike seiner Vorzeit übrig, und hier
muß man, um gerecht zu sein, mit allem Nachdruck fest-
stellen, daß Burckhardt unter Renaissance nur diese Wieder-
belebung aus eigenen alten Wurzeln verstanden hat und
nur von italienischer Renaissance hat wissen wollen.
Von anderer, nicht Burckhardtischer Seite ist die
Meinung vertreten worden, den der öffentlichen Meinung
wohlklingenden Namen Renaissance auch den zeitgenössi-
schen Kulturen des Nordens zu sichern, also die Namen ;
deutsche Renaissance usw. zu rechtfertigen. Da es sich
'1 Es jei genug, «nf das Urteil dej Milncltcner RomMKten Kitt
Voßler In der Zeilschrill „Logoi" Hl (1912), S. 103fr. hnu«wd»an:
„Das Hncli Uurckhirdts ist aus der Kcilic der wisscnacluifllichcn Werk-
zeuge in die der irissenichaltlicben Kmntnerl» getreten.
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in diesen Fällen nicht um Wiederbelebung des eigenen
Altertums, sondern eines fremden Altertums handle, so
müsse der Begriff Renaissance in den einer allgemeinen
Erneuerung und Wiedergeburt umgedeutet werden (so
etwa Konrad Burdach). Schon wegen der Gefahr der
starken Mißverständnisse, daß dann ein Wort und Be-
griff ganz verschiedene Tatsachenreihen decken so!!,
mochte ich. diese Namengebung nicht empfehlen. So
viel ist gewiß: Burckhardt hat die angeblichen nordi-
schen Renaissancen folgerichtig und klar abgelehnt; wie
in seinem Frühwerk über die belgischen Städte (in dem
Kapitel über Lüttich S. 8) hat er später noch schroffer
diese Bereicherung der spätgotischen Kunshvelt des
Nordens mit antiken Schmuckformen als „ Bastard kunst "
von seiner Renaissance ausgeschlossen, Lübke wegen
der Modernisierung der „deutschen Renaissance" ge-
tadelt, die bald „weder Hund noch Katze mehr fressen
wolle" (was sich dann rasch genug erfüllt hat), und Gey.
müller, den Verfasser der ausgezeichneten „Baukunst
der französischen Renaissance '-, um jede Stunde be-
dauert, die er auf anderes als Italien wende. Es ist
wirklich keine Frage, daß diese sogenannten Renaissancen
des sechzehnten Jahrhunderts im Norden in das Kapitci
Spätgotik gehören, und daü Burckhardt , der sonst ist
Annexionen nicht Bedenkliche, diese Einverleibungen
und Angliederungen bei seiner Anschauung von Re-
naissance als einer wurzelmäßig antik gewachsenen Kultür
für sinnwidrig und unmöglich hielt. Die Renaissance
war für ihn etwas dem Wesen nach Italienisches. Wenn
er sie auf zwei Voraussetzungen gegründet fand, die
Wiederentdeckung des Altertums und die Art des italieni-
schen Volksgeistes, so war die Meinung, daß Italien in
einer Art atavistischer Bewegung sich selbst wieder ent-
deckt und von Fremdlastendcm befreit habe. Das Alter-
tum, als künstlerische Kultur in Literatur und Kunst
sichtbar geworden, drängte sich den künstlerischen
Sinnen des neuen Italiens auf und begegnete dem Ent-
gegenkommen einer außerordentlichen ästhetischen
Verführbarkeit, derengleichen kein nordischer Volks-
sinn kennt. Die Italiener der Renaissance sind auch die
Italiener d'Annunzios.
6.1
Digitizea Dy Google
Die Entdeckung der Renaissance war auch für Burck-
hardt eine künstlerische Entdeckung, und die per-
sönliche Leidenschaft, mit der sich Beine jugendliche
Männlichkeit auf dieses Gebiet warf, verrät, daß seine
Entdeckung zugleich — als Erlebnis — eine Erlösung
war. Von was er erlöst zu werden verlangte, wird der
nächste Abschnitt zu deuten versuchen. Die „Kultur
der Renaissance in Italien" enthielt außer der künst-
lerischen Darstellung eines historischen Weltzustandes
eine persönliche Abrechnung. Burckhardt trat als eine
Art Renegat auC die romanische Seite hinüber. Indem
er aber seiner Renaissance das Zeugnis der Modernität
mitgab, kam in seine Vorstellung des Modernen ein
Zwiespalt. Fortan bestärkte er sich in Feindschaft und
Ablehnung des modernen Weitwesens, soweit es in der
Hauptsache Nordeuropa geprägt hat, Nietzsche hat das
wiederholt, als er sich von Wagner lossagte und die
Musik von Eizets Carmen pries. Die coriolanhafte Ab-
neigung des Aristokraten gegen Masse und Demokrati-
sierung teilten die beiden. Burckhardt halte Stunden,
in denen er den Weltuntergang nahe glaubte. Zu den
apokalyptischen Zeichen des Endzustandes rechnete er die
Begehrlichkeit derMasscn, aber auch das Wagnertum. Ihre
Erfolge bestärkten seine Gegnerschaft. „Die öffentliche
Meinung" konnte er wohl sagen, „hat immer unrecht;
schon deshalb, weil es die öffentliche Meinung iat" ').
Seine Renaissance ist die Geschichte einer aristokrati-
schen Minorität, und ebenso war es eine aristokratische
Minorität des neunzehnten Jahrhunderts, der sein Re-
naissancedogma Halt und Zuversicht geben sollte. Aus
diesem bewußt oder unbewußt agitatorischen Zweck be-
greift es sich, daß er seiner Renaissance als empfehlen-
des Schlagwort die „ Modernität " zuerkannte, wodurch eine
zweideutige Unklarheit gegenüber demjenigen modernen
Wcltwesen entstand, dem seine tiefste Abneigung galt.
') Über Barckhirdt! Stellnng H« der Gleichheit, wie über die
Gesamtheit aeiner politbchen Meinnneen geben leine ..Weltgetchicht.
lichen Betrachtungen", die ans dem NachlaG 1905 teröffenllicht wurden,
Aufschloß, Vgl. datu den >onni1ehctid gedruckten enteil Anfsal,. der
Kegcimärligcn Schrift und, Ion teilweise anderen Gesichtspunkten anl-
achend, Karl Joel, Jakob Burckhardt all Gescbichtsphilosoph, 1910.
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Indessen war Burckhardt viel zu sehr Künstler, als
daß wir nicht gewarnt sein sollten, persönliche Bekennt-
nisse und den Sinn seiner Werke Tür ein und dasselbe
zn halten. Das subjektive Element ist da; aber seine
Kunst war zu künstlerisch, als daß sie mit dem persön-
lichen Erlebnis erklärt werden könnte.
2. Burckhardts romantische Zeit
Der Ausdruck stammt von Burckhardt selber. Als
er 1877 auf dem Weg war, die Galerie in Dresden zu
besuchen, schrieb er: „Auf der Fahrt zeigte man mir
den Kyffhäuser, wo Kaiser Barbarossa schlafen soll,
wenn es ihm nicht 1870/71 verleidet ist. Davon wurden
Erinnerungen, muffig verschimmelte Erinne-
rungen an meine romantische Zeit wach, daß
ich lachen mußte." (An Alioth, S. 24.)
Wenn der junge Goethe ein vollwertiger Teil in der
üesamterscheinuug Goethes ist, und wenn der junge
Goethe als Abschnitt seines Lebens diesseits von Weimar,
oder besser diesseits von Italien, eine geschwinde und
faßliche Vorstellung in jedem von uns aufweckt, so ließe
sich von dem jungen Burckhardt nicht dasselbe
aussagen. In jedem, auf dessen Pfad Goethe geleuchtet
hat, lockt etwas zur Imitaüo, zur Nachfolge Goethes.
Aber wie Burckhardt vor der Nachwelt steht und durch
seine maßgebenden Werke zu uns spricht, ist er eben
der Darsteller des Untergangs der Antike und der Wieder-
erstehung der Antike. Darin scheint er reif geworden.
Was er vorher war und wollte und leistete, sind Ansätze,
Vorbereitungen, einerlei, ob die Äußerung dieser Vor-
periode Übereinstimmung oder Gegensatz zu dem Kom-
menden enthält.
Dennoch lohnt es sich , bei dem jungen Burckhardt
zu verweilen, die Sonderart dieser Jugend zu begreifen
und die Umstände der schmerzlichen Krise kennen zu
lernen, aus der heraus Burckhardt zur Reife seines Cha-
rakters erwuchs, indes Goethe, In jedem Stuck seines
Lebens ein Ganzer, immer nur ein anderer wurde. Bei
NcuDftDD, Jakob BwckhlrdE. $
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Goethe wie bei Burckhardt trifft das, worin sie ähnlich
sind, die Krise, in das vierte Lebensjahrzehnt, gegen
Ende ihrer dreißiger Jahre.
Die Romantik des jungen Burckhardt kam in eine
Zeit, da Nazarcnertum und Bekehrung- zur katholischen
Kirche überwunden war und~~3er "philosophische Hoch-
war eben der belgische Realismus eines Callait im Be-
griff, die Ideologien von Cornelius und Kaulbach vom
Thron zu stoßen. Die Philosophie Ludwig Feuerbachs
stieg empor, für die, die damals jung waren, für Gottfried
Keller, Richard Wagner, maßgebend. Den Bruch mit
dem Christentum und der Kirchlichkeit des neunzehnten
Jahrhunderts hatte Burkhardt früh vollzogen ; als ein
,,Kind der Wclllust" bezeichnete ihn der Lizentiat der
Theologie Gottfried Kinkel, der damals den Ubergang
von der theologischen in die philosophische Fakultät
noch nicht gefunden hatle. „Die Kirche (schrieb Burck-
hardt fünfiindzivanzigjähiig) hat über mich jegliche Ge-
walt verloren, und das ist in einer Auflösungsperiode
nicht mehr als recht und billig." Aber es halte von
hier bis zum entfesselten Anarchismus der Renaissance
noch weite Wege. Die „Auflösung" halte doch, seit
durch die große Revolution glatte Bahn gemacht war,
in Zeitmaß und Ausdehnung ein Unheimliches, Er-
schreckendes. „Die furch t bar gesteigerte Berechtigung
des Individuums besieht darin : cogito, ergo regno."
Etwas von dem tiefen Mißtrauen, wie es Schnaase von
der Schrankenlosigkeit und Überheblichkeit der Re-
naissance fernhielt und im Glauben an das MilteSalu-r
befestigte, spricht aus dieser Aussage des jungen Burck-
hardt. So ist es denn kein Wunder, daß er in seinen
Berliner Studienjahren die üotz Schinkel und Rauch in
den Kreisen der Kunstfreunde und -forscher vorwaltende
Neigung zum Mittelalter in sich aufnahm. Es war die
geistige Luft, in der Schnaase, Franz Kugler, Hotho
atmeten. Als Burckhardt im Sommer 1841 in die alte
Pfaffengasse des Reiches geriet und ein Semester in Bonn
verlebte, da umfing ihn vollends die mond beglänzte
Zaubeinacht des „süßen Taumels", einerlei ob Kinkel,
dem er Freund ward, weidlich auf die „Pfaffen" schimpfte.
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Er wurde Mitglied der „Maikäfer", genoß ihr brüder-
liches Du, machte mit ihnen Gedichte, war bei Wein
und Gesang und Natur lust mit ihnen jung. Im folgenden
Jahr kam König Friedrich Wilhelm der Vierte an den
Rhein und vollzog im September die Grundsteinlegung
des Weiterbaues am Kölner Dom. Damit mag wohl
Burckhardts Büchlein über den Domgriinder des drei-
zehnten Jahrhunderts, den Erzbischof Konrad von Hoch-
staden , in Zusammenhang stehen (Trog, Burckhardt,
S. 25). „Köln", schreibt er 1843, „hat wieder ein ganz
Fuder Romantik auf mich ausgeschüttet", und dasselbe
klingt aus seinen Versen:
„In süßer Mondnacht stand ich oft,
Wenn überm Rheine alles schwieg,
Und aus den Gärten mild herauf
Eiu Duft von tausend IilLlten stieg."
Die holdseligen Marien der Altkölner Bilder haben
es ihm angetan, und das Dombild fällt ihm ein, da er
zum erstenmal vor dem Eyckschen Altar in Gent steht,
und die „gemeine Lebenssphäre " dieser Kunst ihn
zurückstößt. Den tiefen Ausdruck der Gottseligkeit, das
Ideal, die himmlische Grazie der bescheidenen Gottes-
magd, „wie Meister Stephau sie darzustellen vermochte",
vermißt er bei dem Niederländer (Kunstwerke der belgi-
schen Städte 1842, S. 134). Der traumhafte Sommer
am Rhein wie der Sludienkreis , in den Berlin ihn fest-
bannt, halten ihn verzaubert bei der mittelalterlichen
Kunst fest. Die Germanen sind ihm das erste Kunst-
volk der Welt (neben den Griechen). Als ihn später
der junge freund aus dem Kuglcrscheu Haus , Paul
Heyse , in Basel besucht und von da nach Straßburg
wandert, holt Burckhardt die Abbildungen des Münsters
hervor und entläßt ihn mit den Worten : hudie eris in
paradiso. Den Freiburger Münsterturm hat Burckhardt
nie aufgehört zu bewundern ') , und daß auch die kari-
kierende Kehrseite seiner gotischen Romantik nicht fehle:
'} Der „luylhiidir Eiiiilroi;»" des Miirjsletluimcs nie vor ilieiti,;
j«hrcn lebendig. An Ribbeclr, 17. Oklpber 1BÖ5.
Diflitized ay Google
sein romantischer Haß gegen die Eisenbahn konnte wie
bei dem Goliker Ruskin drastischen Ausdruck" finden.
In all diesem Hingenommensein schwingt hörbar
genug ein deutschbegeisterter Ton mit. Die Aufwallungen
des: Sie aollen ihn nicht haben, den freien deutschen
Rhein, machten an der Schweiler Grenze nicht Halt,
und so wie Gottfried Keller empfand:
Nun wallt der Hirtensohn hernieder
/Hin in mein zweites Heimatland:
/ O grllfl mir alle deutschen Brüder,
! so war es auch dem jungen Iiurckhardt ums Herz. Er
ging im altdeutschen Barett, mit langen Haaren nnd
bloßem Hals; er war dabei, als bei Kinkels Hochzeit
ein Ausflug ins Ahrtal gemacht und bei Fackelschein:
Was ist des Deutschen Vaterland gesungen wurde. Die
Mutterarme des gemeinsamen deutschen Vaterlandes,
„ das ich anfangs verspottete und zurückstieß ", das
warme Mutterherz pries er in der frohlockenden Gewiß-
heit, daß auch er zu dem Stamm gehöre, „in dessen
Hände die Vorsehung die goldenste reichste Zukunft,
das Geschick und die Kultur einer Welt gelegt hat. . . .
Daran will ich mein Leben setzen, den Schweizern zu
zeigen, daß sie Deutsche sind."
Unter den Kameraden galt er damals als der Teufels-
kerl, der alles könne. Er zeichnet und malt; er sang
Schubert und italienische Volkslieder, und sehr viel
später bezeugt der enthusiastische Geymiiller: „er war
weder, was man einen Klavierspieler noch einen Sänger
nennt, und doch habe ich selten eigenartigere, feinere
musikalische Freuden erlebt, als wenn Burckhardt eine
der Opern Glucks, die Messen Mozarts und dergleichen
alleredelste Kompositionen spielte und dazu sang." Un-
gewöhnlich war seine dichterische Begabung. Es gab
da Zeitliches genug an Balladen , Novellen , Opern-
texten, Dramen; wir hören von den Stücken einer Faust-
dichtung ■). Doch neigte er zum historischen Drama.
■) Hierüber agtitihrlich in dem Briefwechsel mit Albert Brenner im
„Basier Jahrbuch" 1901 (neuerdings als Sonderheft gedruckt). Die
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In der Lyrik darf man nicht verwundert sein, gelegentlich
lange romantische Sehnsuchtsseufzer durch, grell reali-
stische Abschlüsse in Heines Art beendet zu finden.
Eine Ähnlichkeit, die die nüchterne Kritik über Heine
keineswegs ausschließt: er habe eine Zeitlang gern zu
den interessanten, schmerzlich - skeptischen Wesen ä la
Byron gehört, bis ei fand, das reine Schindluder stehe
ihm besser zu Gesicht. Manchmal aber rührt Burckhardt
an Mörikc (was auch Heyse fand), wie in der Elegie
von 1853, dem Zwiegespräch mit den Gedichtbüchern,
die er mit auf die Reise nach Italien nehmen will (bei
Trog, S. 66). Von den Dialektgedichten, über die ein
Baseler Landsmann wohl richtig urteilt (wenn ein Fremder
seine Beistimmmung geltend machen darf), der Ausdruck
erscheine manchmal wie aus dem Hochdeutschen ins
Bascldcutschc übersetzt, soll nachher gesprochen werden.
In der Fülle dieses hoch gestimmten, geselligen, poe-
tischen, austausche und briefFchreibclustigcn Daseins lebt
der in die Heimat nach Basel Zurückgekehrte weiter.
Aus Musik und Dichtung, aus der gern gewährten Gast-
freundschaft bei Pastete und Burgunderwein, aus dem
Mondenschein, der als unentbehrlicher Stimmungswecker
diese romantische Jugend begleitet, hebt sich als be-
sonders starker Zug jener Frühzeit Burckhardts die Fähig-
keit zur Freundsch aft heraus. Auch von den schwärme-
rischen Zügen, die mehr gewissen Lebensjahren als dem
Charakter eignen, abgesehen, bleibt ein überaus starker
Gehalt an Hingebung, Opfeilähigkeit, Zutraulichkeit, be-
tätigter Neigung und Menschenliebe, ein optimistischer
Zug zum Helfen und Bessern , der sehr weit von dem
Wesen des spateren Burckhardt ahsteht. Was er in der
Stille und ohne mit Namen hervorzutreten, für Erleichte-
rung der Notlage Arnold Böcküns damals getan hat,
war Benährung einer enthusiastischen Freundschaft Dem
Lehrer und Professor konnten solche Eigenschaften nicht
anders als Vertrauen , Treue und Anhänglichkeit der
Schüler und Studenten verschaffen. Mit väterlicher
übrigen Quellen für die rorrantitclie Zeit sind die Briefe im Kinkel
in der „Dentschen Rcvne" 1899, die Briefe an Bcyichlng im „Basier
Jahrbuch" 1910, Icilwdsu die in Heyse. Die Briefe an Kugler sind auf
Earckhardts Anweisung verbrannt norden.
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Seelsorge und Geduld geht er auf ihre Note ein, rät ab
von SclbsUcrstörung und Negation, mahnt zu allem
schöpferisch Idealen, zu Hingebung, Herzensgute, Milde.
„Wenn Sie die fürchterlichen Spalten und Klüfte kennen,
welche unser Leben unterirdisch durchziehen, Sie würden
heut lieber als morgen alle Schütze der Liebe und Hin-
gebung auftun." Dieselbe Mahnung hat er in einem der
Dialektgedichte von 1853 an sich selber gerichtet: das
sei das einzige Glück, daß man die Menschen gern habe.
Auch wenn es um Liebe und Freundschaft, Heimat,
Poesie eine Täuschung wäre: ein geheimer Segen mag
darauf ruhen. Später, als die bitteren Einsichten zu-
nahmen und die Illusionen zergingen, herrscht bei Kurck-
hardt, der sich in sein Schneckenhaus zurückzog, ein
anderer Ton. In den Gesprächen, über die Carl Spitte-
ier aus seineu Studentenjahren (1865 — 1870) berichtet
hat, wird man vielleicht an den mephistophelischen Zug
der Schülerszene im Faust erinnert. Die Temperatur
ist kälter geworden: aus den schönen Zügen blitzt es
manchmal mit voltairischer Schärfe.
Wo wäre nun aber in dem jugendlichen Burckhardt
die Summe von so viel Herzensgüte, gepaart mit Phan-
tasie und Geisl, wenn sich die Fraiienliebe nicht meldete?
In einem Gedicht von 1842 steht es geschrieben:
Und Liebe stieg, ein leiser Dieb,
Im Herzen wiederum empor.
Zehn Jahre später kam in Basel die große Leiden-
schaft. „Du weichst deinem Herzen nicht aus, und
führest du mit zehn Rossen." Mau muß das „Hämpfeli
Lieder" lesen, und es taugt nicht, ihre ergreifende Poesie
in Prosa umzuformen. Da hat es in seinem Herzen
, Sturm" geläutet; in einem Wechsel von Schüchtern-
heit und eifersüchtig ivildcr Leidenschaft zieht das vom
Herbst über Winterschnee bis zum Frühjahr vorüber,
und es bleibt eine dumpfe Einsamkeit, die den Kopt
in die Hände vergräbt, wo keine Arbeit mehr rückt und
kein Buch tröstet. Diese Liebe blieb unerhört.
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Bcruiliche Verstimmungen durch Entziehung der Lehr-
stelle an der Schule in Basel kamen hinzu. Um Ge-
selligkeiten abzubrechen, um mehr Bücher zu haben,
als ihm die Basler Bibliothek für seine neuen Studien
bot, nahm Burckhardt 1855 den Ruf in das ihm fremde
Zürich an. Schon vorher waren aber die Würfel ge-
fallen. Die lange Reise nach Italien 1S53 auf 1854, in
der sich. Stoff und Bewertungen für den „Cicerone"
ordneten, ist wohl das Jahr der Krise und Entscheidung,
die Hedschra in Burckhardts Leben.
Zwar war es anders als bei Goethe, es war keine
erste italienische Reise. Seit seinen Studenten} .ihre 11
war Burckhardt wiederholt, für kürzere und für lange
Zeit, in das Kastanien- und Freskenland hinabgestiegen.
Er kannte seine Kunst. Venedig, Florenz und Rom
waren ihm geläufig. Ja immer schon, mitten in deut-
scher Romantik, halten seine Gedichte von verfallenen
Maimorlcmpcln unter blauem Himmel und von Palästen
und Zypressen im Mondschein geträumt. Als diese
Träume in die Wirklichkeit niederstiegen, wurde es auch
noch nicht mehr als eine hinzukommende Bereicherung
künstlerischer Erlebnisse. Ob die Akazien des Fincio
durch die Nacht dufteten oder die Reben am Rhein-
stroui: zwischen den Orangenhainen des Südens und dein
deutschen Wald stand die Wage noch gleich. Jene
sehnsüchtigen Schauungen der Gedichte waren gaukelnde
Bilder, wie sie ungezählte andere ebenso umschwebten,
StilUbungen, wie sie andere auch machten. Aber die
große italienische Rciic 1853/54 n" 10 B 3112 anderes ge-
weckt haben. Sie folgte ganz persönlichen und tief
einschneidenden Erlebnissen. Von 1853 waren die Liebes-
ycdichlc; sie trugen nicht die „wohlerzogenen" Manieren
der Freunde Geibel und Heyse. Die Sehnsucht ver-
langte nicht nach augenblicklicher Befriedigung. Ein
heilender Schnitt war notig.
„Der ich so vieles verlor, gern steig 1 ich hinab
zu den Vätern,
Wenn das Beste mir einst südliche Sonnen
gereift."
Burckbardt trat in die Jahre seiner Krise. Nie moch-
ten ihm die Farben Italiens bo glühend geleuchtet haben,
wie in diesem Jahr 1854, nie die Sinnen freiheit so er-
lösend auf das nordische Gemüt und Geblüt gewirkt
haben, nie die Stockungen und Bedrängnisse von tausend
Verflechtungen einem so wohltätigen und erleichternden
Fluß gewichen sein.
Es war der Wendepunkt, in dem so vielen Deutschen
Goethes Beschreibung seiner „Italienischen Reise" als
ein angeblich normaler Lebens- und Gesundungsprozeß
zu einer Art Evangelium wird, Rettung zum lUaSSUnsmns I
Enttäuschung über das Weimarer Hofleben, das zu-
erst zwischen den Grenzbereichen bürgerlicher Beengt-
heit und titanenhaften Übermutes den wohltätigen Spiel-
raum zu gewähren schien; Abarbeiten in der Verwaltung
eines kleinen Staatswesens mit beschränkendem Format;
die Leidenschaft für eine ältere Frau, deren zarte Kränk-
lichkeit Rücksichten heischte, deren Gouvernantenton
den Genius zu beherrschen sich vermaß , so daß Be-
ziehung und Neigung an der gefahrlich langen Zeitdauer
zugrunde gehen mußte — das sind die Voraussetzungen,
die Goethe in die große italienische Revolution seines
gesamten Innern und Äußeren gestürzt haben.
Aber, ob groß oder klein , Krisen dieser Art sind
typische Fälle. Wie sich an den Faust in Italien nur
die Hexenküche mit ihrem Spott gegen den Norden
und den Spuk einer „formlosen" Phantasie angliedern
wollte, und wie allmählich für Goethe, den ,,der Weg
zur Klarheit aufgeführt", Zaubereien und „Barbareien"
wurden, was sich seinem neuen klassizistischen Form-
begriff nicht ohne weiteres fügte, so wich für Burckhai dt
der Norden als Sammelbecken für alles, was er als Ver-
worrenheit, Schwärmerei, Sehnsucht, Unfrieden und Qual
empfand, zurück. Von dem Gedanken, eine Geschichte
des Mittelalters zu schreiben, ist hinfort nicht mehr die
Rede. Was davon blieb, war eine herrliche Vorlesung
(die ich gehört habe), in der die Völkerwanderung leibte
und lebte, Byzanz und Islam greifbare Gestalt gewannen,
die aber im neunten Jahrhundert abbrach. Dafür brachte
er aus Italien 1854 einen neuen „wissenschaftlichen
Quälgeist" mit, die Idee eines Werkes, das die Über-
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wundcnheit des Mittelalters, den hellen Vernunittag, die
Wiederbelebung des Altertums, ein Zeitalter schildern
sollte, das als solches eine Burckhardtsche Entdeckung
war. Die „Kultur der Renaissance in Italien", in Burck-
hardts Buch über Andreas von Krain noch ein Hinter-
grund „welscher" Ferne (1852), schob sich von Jahr zu
Jahr gebieterisch vor und fand in dem Ktmstkörper, den
der Cicerone beschrieb und pries, ihre erste literarische
Gestalt. Wie das neue Buch von Haus aus geplant war,
weiQ ich nicht 7.11 sagen, jedenfalls viel jimfassender als
der vorliegende „Versuch". Burckhardt, der in den
Züricher Jahren für diese Studien den Grund legte, war
seit seiner Rückbcrufung an die Rasier Universität und
Schule überbelastet. Mitten hinein traf der Tod von Kug-
ler und die dringende Bitte der Familie an Burckhardt,
den wissenschaftlichen Nachlall zu verwalten und Ange-
fangenes fertig zu machen. Wahrhafte Konflikte für den
Freund und Schüler, bis er die Entschließung fand.
Wir hören zum ersten Male aus dem Briefwechsel mit
Paul Hey sc, wie Burckhardt sein Buch nur noch als
Fragment betrachtet, daß es zu „ein paar Aufsätzen zu-
sammenschrumpfe". Vielleicht wird einmal eine Unter-
suchung des Nachlasses aufklären, wie sich die Aus-
führung zum ursprünglichen Wunsch und Plan verhält ').
Auf der anderen Seite stand fördernd die Leidenschaft
des Verfassers für das Auftauchen dieser neuen Welt,
weiter die allgemeine politische Stimmung dieser Jahre,
in denen, den großdeutschen, Italien feindlichen Ge-
sinnungen entgegen , in Preußen und Norddeutschland
wie in der übrigen Welt alle Sympathien sich dem Un-
abhängiglieitskam:;f Italiens zuwandten ; in München
dachten Heyse, Sybel, ßluntschli genau wie Burckhardt
und sein italienischer Kollege in Basel, der alte Car-
bonaro Picchioni. Zu dieser begeisterten Überschätzung
Italiens, da sich in Burckhardt politische Anteilnahme
mit der Dankbarkeit für persönlich erlebte Kulttir-
und Kunst wohltaten des Südens zusammenfanden, kam
') Nach Trog, S. 103, las Durckliaitit an der Universität im Winter-
semester 1858/59 Kulturgeschichte Italiens vom drei lehnten bis secti-
lehnten Jahrhnndrtt. Vgl. da:n unsere Bemerkung oben S. 53.
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als letzter Antrieb die erneuerte Neigung für die Alten
hinzu, Auch hier die Wiederholung Goethescher Stim-
mungen : „Also das wäre Verbrechen, daß einst Properz
mich begeistert!" Auch Uurckhardt ließ sich von den
römischen Elegikcrn aufs neue für das Künstlerische in
der Kunst begeistern ; der Immoralismus der Renaissance
wirkte mit, ihn in der Geringwertung nordischer Gemüts-
rnitschwingungen zu bestärken. „Diese Nation" (die
Deulschen), schrieb er, „nimmt in alle Ewigkeit Tendenz
für Kunst." Man glaubt Goethe und Heinrich Meyer
zu hören, als sie das Gewitter gegen die neudeutsche
Kunst zusammenbrauten.
So formte sich gegen 1860 Burckhardts neues Gluck.
Es hatte die Goctlicsche Spätfarbc der Entsagung und
des Glücks Verzichtes. „Es hat mir seit 4.7 zu oft auf
den Hut geschneit", gestand er. An die Stelle der
liebenswürdigen Illusionen der Goelheschen Pandora-
büchse, an Stelle jugendlichen Überschwangs und freund-
williger Hingebung trat allmählich die gewollte Einsam-
keit und Weltabkehr, die Hescliiiili^ung mit Schopenhauer
und Hartmann, das Studium der griechischen Kultur,
das ihn im Pessimismus befestigte. Den Kopf aber ließ
er nicht hängen. Es wurde der Zustand einer heiteren,
kunstbelebten Geistigkeit. Die Sehnsucht seines Herzens
kam zur Stille. Das romantische Herz schwieg.
3. Burckhardts Gedächtnisrede
auf Schiller 1859
Hellsichtig für die Möglichkeiten, zu denen sich sein
Leben gestalten würde (wofür das letzte der Dialekt-
gedichte T1 Vorgesicht" eine merkwürdige Probe ist), hat
Burckhardt seiner Freundschaft mit Picchioni die Beob-
achtung abgewonnen: „Ein Germane, dessen Jugend-
täuschungen zugrunde gegangen sind, wird leicht mürrisch
und unleidlich; der Romane wird in solchem Falle erst
recht liebenswürdig." Nimmt man das Wort liebens-
würdig nicht nach dem Allerweltssprachgebrauch, sondern
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nach seiner wahren Bedeutung 1 , so mag es die Normal-
temperatur bezeichnen, zu der der abgekühlte Burckhardt
der reifen Zeit (dem es „auf den Hut geschneit hatte")
gekommen war, seit Antike und Renaissance den großen
Plate in seinem Leben und Denken besetzt haben. Dieses
reifen Burckhardt Psychologie darzustellen, ist nicht die
Absiebt der gegenwärtigen Betrachtung. Soviel ist aber
klar: zwischen dem Wcltpha'nomcn , das die Kultur der
Renaissance schildert, und der Moral, die Burckhardt
daraus etwa für sich oder andere gezogen hätte, muß
streng geschieden werden. Der heitere Skeptizismus, zu
dem er in den lhfen gelangt war, hat gelegentlich das
Wort geprägt: irgendein Evangelium gibt es für mich
überhaupt nicht. Auch für die, welche die Botschaft j
der Renaissance für ein solches neues oder ewiges 1 ..
Evangelium halten, gilt diese Warnung. Burckhardt war
weit entfernt, sich der Renaissance mit Haut und Haaren
;:u verschreiben. Der künstlerische Gestalter (in diesem
Kalle der Geschichtschreiber] und der Mensch waren
zweierlei. Die Grenze, die ihn von Nietzsche schied,
wird an dieser Stelle überaus deutlich. Seit Burckhardts
„Griechische Kulturgeschichte" gedruckt ist, gibt es kein
Mißverstehen mehr in diesen Dingen. Das antike Gewalt-
\.:i'.i Übcrmensi'ltenmm, die antike „UnbnIJfc-rligkcit" hat
er nach streng unerbittlichen , ethischen Maßstäben ge-
wertet und verurteilt und den Granitboden seiner eigenen
Moral aufgedeckt, Tür die jede praktische Empfehlung
der Schranken losigkeit und Frivolität antiker, roma-
nischer, ren;iiäsanceiii;iCiger Denk- und Fonmirt ausge-
schlossen war.
Hier ist der Punkt, in dem die Einheit des jungen
und des späteren Burckhardt gewahrt ist. liier ruht die
Gewahr für Größe und Dauer seiner Persönlichkeit; hier
ist das Uberzeitliche und Unsterbliche seiner Erscheinung
. l: fassen. Sein Lebenswerk kann, so sehr sein litera-
risches Denkmal dem Burckhardt der Renaissance gilt, nur
;i!s Ganzes, als die polare Ausschl. in;;iing scheinbar gegen-
fiüzlirher Gemüts- und Geisteskräfte bewertet werden.
Aus dem Jahre 1859, da die Krise seines Lcbens-
v.-erkch /nr I.Jisinig kn:u , besitzen wir ein wundervolles
Zeugnis der Freiheit seines Geistes in der Rede, die der
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der Vaterstadt Wiedergewonnene im Auftrage der Uni-
versität zur Vorfeier von Schillers hundertstem Geburts-
tag, am Abend des 9. November, in Basel gehalten hat.
Diese Rede wird im folgenden nach einer Abschrift
des handschriftlichen Entwurfes, der von Burck-
hardt selber aufgezeichnet ist, mitgeteilt. Daß
diese Handschrift streckenweise aphoristisch ist, mag
heute manchem den Reiz erhöhen
Für den Zusammenhang unserer Auffassung des
Werdens von Burckhardts Persönlichkeit fiigen wir erläu-
ternd hinzu: Die Rede auf Schiller ist der denk malmäßige
Abschluß von Burckhardts erster Periode und als solcher
von großer Bedeutung. Sic enthält drei Kernstücke ;
eine Art Bekenntnis zum Deutschtum Schillers und zur
Dichtung für das „Volk". Zweitens: gegenüber der
Wertung der Formproblemc in der Kunst ein nachdrück-
liches Anerkennen der menschlich bedeutenden Gegen-
') leb verdanke die Handschrift dem verehrten verstorbenen Ge-
heimen Komnieriieniul Wilhelm S|:eu;aini in Stulrj;ur;, de: sie als Ver-
leger von Burckliardts ..Weltgeschichtlichen Betrachtungen" und der
„Griediisclien Kullijnjescliichlc" von deren Herausgeber, Herrn Pio-
fessor Jakob Oeri, IHiickhardts Neffe», überkommen hatte. D.e
träge 1844-Sj, Basel irjiS, til:ern:»U gedreckt wurden. Sie befinde;
siel, jet/i im MuelilaU Jak, Burckuardts in Basel, rmd meine Vermutung
im ersten Abdruck des gegenwärtiger] Aufsatzes, sie sei von Speroinn
dem Marhaeher Seliilli nüimenin irtdienlil worden, war ein Irrtum. Die;
bat mir mimischen ein tlricf des Vorstand« da Marbacher Musen ins
bestätigi. Die Abschritt, die mir Herr Spemaun zur VerSfleotlklmng
üb er;; 11 b , ist liichjt tun i;:ir, nie der lleuusgdiui' der Vjrtiigc Irrige:-
weite angibt, gemacht norden; diese Abschrift, die ich aus Spemanns
Händen empfing, entstammt vielmehr der gleichen Qoelle wie die er-
nannten Barckliardl-NachiaUwerte des Spema uns eher Vcilags. Indem mir
Sipcraann die Erlaubnis rjr Veröfle-utSicti-jHu: gl.*', l'e-L]tl er zv^ieilo, <lie
glriclie Anloi isaiion dafiir nie filr die anderen, die inn itim gedruckten
Naclilall-.viri.e. Hiernach erwarte ieb, daÜ der Herr Herausgeber der
Vorträge liiirckhardls seine tadelnde !lf iM-rkum; iil.cr meine Veriiileisr-
lichung auf S. 439 van der nächsten Anllage an zurücknimmt. Einina!
üt, mir icheint nach der nämlichen Vorlage, der Entwurf der ScfaiUer-
rede bereits gedruckt worden, in der Sonntagsbeilage der „Basler
Koti'.en". Ks hat lein allgemeines internste , den Giuhj f.ir diese
irrige Angabe darzulegen. Die folgernd Ausgabe lililt sich strenger an
die Fassung der I-landschrifl als der Abdruck der „Basier Nachrichten" J
auch liibe icii einige dort lljiditi;; rugcdc.Uc; e Zitate au. n Sdiiller fe-t-
geslclll und ergänzt.
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stände und Iahalte für die Kunst. Drittens eine Neigung
— soll man sagen: Parteinahme? — für das rationa-
listische Element einer bewußten Kunst, zu deren
näherem Verständnis eine Gespräch säußenmg Burck-
hardts herangezogen sei: „Als Künstler steht Schiller
höher als Goethe. Auf einen so nebensächlichen Um-
stand die Krisis zu gründen, wie Goethe in seinem Tasso,
hätte sich Schiller niemals erlaubt." Dies ist ein Stück
vom Credo des späten Burckhardt. Schließlich: das
Herausarbeiten des optimistischen Grundwesens Schillers.
Zur Schillerfeicr. Vorabend. Auf 8./g. Nov. 59.
Ausdehnung seines Rufes und seiner Feier über die Erde
bis zu den Antipoden. [Zu diesen Merkwörtern gibt ein
Beiblatt die wörtliche Ausführung '}.]
Verehrte Mitbürger, Einwohner und Freunde !
Am Voiabend des Schillerfestes richtet die philosophische
Fakultät unserer Universität durch mich ihren Gruß an Sie
und heißt Sie hier festlich willkommen. Gehören doch die
Abendstunden dieser Tage überall Seinem großen Ange-
denken, und wo irgend Deutsche beisammen sind, werden
sie jetzt seinen Namen feiern , und ein Häuflein Schweizer
wird sich beigesellen, zu Melbourne in Australien wie zu
Valparaiso am stillen Ozean. Freilich, was bei uns Abend
ist, mag dort noch oder schon Morgen sein; auf den
Schwingen der erdumwandelnden Abendstunde, nach dem
wechselnden Meridian, zieht die Feier um die Welt.
Denn sein Name ist unsterblich.
Ob er diesen Ruhm ersehnt habe?
Die Strophe aus dem Siegesfest
') Seit Barrlchudt frei sprach, pflegte er wenigstens die Auffinge
und Sdiliissc seinei Vnrtriijjc sdiriillidi fiM^ili^tu (über -leren Wicliliij-
keit »gl. aneb Trog, S. 144 1. Filt du Answcndigwissen des Übrigen
hatte er sich, wie mich der verstorbene verehrte Heidelberger Kollege
KUlis versicherte, ein technisches System in der Art eines UrunttriUplanes
von öitliolnjr Ariächanliclikiit iure; Ii irremacht. Über Burckhardt als Redner
habe ich meine Erlehnisse in der „Historischen Zeitschrift", Neue
Felge, 4,9. Band, S. 4460. geschildert. Ferner Heinrich G« lter,
Ausgewählte kleine Schriften 1907, S. »95 (F.; Trog, S, r>7 ff.
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„Dem Erzeuger, jetzt [dem Großen,
Gießt Neoptolem des Webs:
Unter allen hohen Losen,
Hoher \ ater, preis' ich deins.
Von des Lebens Gütern allen
Ist der Ruhm das höchste doch;
Wenn der Leib in Staub zerfallen,
Lebt der grolie N'ame noch"].
Und dieser Ruhm, den er schon bei Lebzeiten genoß,
wird ihm bleiben bis ans linde der deutscheu Nation, weil
er nicht bloß auf ästhetischer ftew und erring beruht, sondern
auf einem tiefen Einklang mit dem Seelenleben lange nicht
bloß der deutschen, sondern aller Nationen.
Er ist darin einzig unter den neueren Dichtern, ohne daß
er der „Größte" zu sein braucht.
Er würde mancher Überschweuglichkeiten lächeln, wenn
er hören könnte, wie man ihn über Andere setzt; ihm und
seiner hohen Art anzuschauen war es gewiß am allerklarsten,
wie die großen Dichter aller Zeiten einander ergänzen, nicht
weil Einer absolut größer ist als der Andere, sondern, weil
jeder audeis. Aber jene Eigenschaft gehört doch zu den
segens vollsten. Es ist die angeborene und ausgebildete Be-
geisterung für das Gute und Rechte, beruhend auf einem
völlig idealen Naturell; er will vor Allem dieser [Begeisterung]
Doch das groPe liild der Welt, das er wie alle großen
Dichter aus sich herauszufordern hat, enthält ja viele Einzel-
teile, wo diese Eigenschaft sich nicht zeigen kann. Z. 15.
Schilderung des äußeren Daseins, der Natur, Scherz und Ge-
nuß. Aber sie zeigt sich doch; aus dem untergeordneten
Bilde errät man den reinen Blick, der es schaute, die feste
Hand, die es zeichnete, mit anderen Worten: den Menschen
Schiller immer heraus.
Und dann der negative Nunweis : es sind keine Gedichte
aus seiner reifen Zeit da, welche jener früheren Jiegcisieruns;
widersprachen.
Seine Jugend fällt in die sogenannte Sturm- und Drang-
periode mit ihrem unbändigen Sichroi drängen der Empfindung
tale quäle, die bei größter Heftigkeit doch sehr arm an Ge-
staltung sein kann und sich in Ermangelung wahren Ausdrucks
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dem Ungeheuerlichen überließ. Und doch, schon in «einen
frühesten lyrischen Gedichten und Dramen dringt jene wahre
Begeisterung oft so siegreich durch.
Mitten aus wilden ■{ ^Jv^^ \ Gesangen [Wellenschlägen
zwischen Klopstock und Schubatt) erhebt sich stellenweise
strahlend die ideale Natur und findet den echtesten Liedes-
klang (Hektors Abschied)
„Darum flichn, [wie ohne Widerstreben
Sklaven an den Sieger sich ergeben,
Meine Geister hin im Augenblicke,
Stürmend über meines Lebens Brücke,
Wenn ich dich erblicke".
Das Geheimnis der Reminiscenz. An LaunJ.
Seine Jugendliebe schmiegt sich an die höchsten, obwohl
wunderlich gährenden Gedanken von Gott und Unsterblichkeit.
„Weisheit [mit dem Sonuenblicli,
Groue Göttin, tritt zurück],
Weiche vor der Liebe !
Wer die steile Sternenbahn
[Ging dir heldenkühn voran
Zu der Gottheit Sitze?
Lockte sie uns nicht hinein,
Möchten wir unsterblich sein?
Liebe, Liebe leitet nur
Zu dem Vater der Natur,
Liebe nur die Geister." DerTriumph der Liebe. |
Er wird melancholisch, aber nie zerrissen- interessant ; miß-
handelt und höhnt den Leser nie.
Frühe Dramen: Räuber, Fiesko, Kabale — sie mußten
sogen. Tendenzstücke sein, eben weil Schiller sein Ideal vom
Guten und Rechten an die phantastisch gesteigerte Wirklich-
keit hielt.
Läuterung der Erfindung und des Stils in den drei Stücken.
Dann, seit 1785, folgt auch sein Stil seiner Gesinnung.
Das erste Drama des idealen Stils: Don Carlos. Mit voller,
mächüger Absicht schafft er den Posa. „Seine Neigung war
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□igiüzed öy Google
die Welt mit allen kommenden Geschlechtern." (Alles un-
historisch und a priori unmöglich und doch Posa in der Ent-
wicklung der deutschen | g^ßjjj^t } UneotDenrl ' cn )- Dieser
Kosmopolit die nationalste Figur.
In der Lyrik: Das Lied von der Freude — {
?* a ? sc l J 1 . . 1 — aber kerne Literatur der Welt
logische Prüfung nicht aus )
besitzt wohl etwas Ähnliches. Die Götter Griechenlands, die
man ja nicht zu dogmatisch nehmen darf, auch nicht das
„Einen zu bereichern unter allen
Mußte diese Götterwelt vergehn!"
— vorher und nachher gibt es die deutlichsten Aussagen von
Schillers Monotheismus. Dann: sein Programm über die Be-
stimmung der Poesie auf Erden: die Künstler; das höchste,
welches je aufgestellt worden. Neben seinen philosophischen
Schriften und Briefen über Dou Carlos der höchste Beweis
für seine Gewissenhaftigkeit im Fache.
Fortan ist ei einzig unter allen lyrischen Dichtern, weil er mit
stark em gelaute rtemWi Ilen de r Verewigung j c g;™^^ 0111 ™' 5 }
wesentlich entsagte. (Hierin groß: Properz, Orid, Byron,
V. Hugo, Goethe.)
Er verewigt das Ganze einer Empfindung in der edelsten
und gewaltigsten Stilform; fortan sammelt er alle Strahlen des
Gefühls vollständig, so daß er trotz des Allgemeingültigen so
ergreift, wie nur das Momentane irgend kann.
Tausende haben schöne l.iebeslieder gedichtet, nur Er die
„Würde der Frauen"; nur Er das Allgemeine der Sehnsucht:
„Ach, aus dieses Tales Gründen,
Die der kalte Nebel drückt.
Könnt' ich doch den Ausgang finden . . ." ;
[Sehnsucht]
mir Er das Altgemeine der heiteren gesellschaftlichen Stimmung :
Und so finden wir uns wieder
[In dem heitern bunten Reihn,
Und es soll der Kranz der Lieder
Frisch und grün geflochten sein , . .
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Zückt vom Himmel nicht der Funken,
Der den Herd in Flammen setzt,
Ist der Geist nicht feuertrunken.
Und das Herz bleibt unergötzt.
Die Gunst des Augenblicks. '
Nur Er die Erscheinung der Poesie im Leben: „Das'Mäd-
chen aus der Fremde" und ihre Herrschaft: „Macht des
Gesanges". Endlich hat nur Er sich zu jenen kurzen er-
greifenden Programmen sammeln künnen : „Hoffnung", „Worte
des Glaubens", „Worte des Wahns".
Von dieser zentralen Eigenschaft ans wühlt er auch seine
Halladen stotre und behandelt sie. Das Jahr 1.797. Er nimm:
nicht die erste beste Soge, die einen poetisch -fremden Schimmer
hat und in Prosa schöner ist als in Versen, sondern lauter
Gegenstünde, wo ein großer, menschlich bedeutender Inhalt
in der Erzählung schön aufging. „Kraniche des Ibykus"
— - Rache der Gotter für den Mörder des Dichters. „Bürg-
schaft" — die siegreiche Macht der Treue. „Kampf mit
dem Drachen" — das gemeinsame Ideal von Heldenmut ui-.d
Gehorsam. „Gang nach dem Eisenhammer" — göttlicher
Schutz über die Unschuld. Endlich hat . er geistige Bilder
des ganzen Lebens und seiner höchsten Ursachen und Zu-
sammenhänge in großen künstlerischen Formen entworfen:
Die Glocke — worin sich das Bürgertum erkennt. Der
Spaziergang — {kunstreiche Verflechtung von Landschaft und
Menschenleben). Das eleusische Fest — der Ursprung der
Gesellschaft und Sitte unter dem Segen der Götter.
Derselbe ideale Geist offenbart sich merkwürdig in den
Dramen der reifsten Zeit: Maria Stuart, Jungfrau von Orleans,
Braut von Messina, Wallenstein, Tel].
Unser Maßstab stammt heute wesentlich von Shakespeare
her. Dieser schildert die leichte Oberfläche, die leiden-
schaftliche Mitte und die Abgrundtiefe des menschlichen
Wesens; er erkennt die Welt als eine gemischte zwischen
Wahrheit und Lüge; Gutes und Böses ist bei ihm nur be-
dingt vorhanden; über beiden stehen die geheimsten geistigen
Lineamente, der besondere innere Kern jedes Karakters.
Seine Personen handeln mit solcher Notwendigkeit nach
ihrem Wesen, daß man die Menschen selber zu sehen
glaubt. Da entsteht endlich auch der wunderbar gemischte,
S..B..E, Jakob EluckhMflr. 6
sich selber rätselhafte und dem Zuschauer durchsichtige
Kataster : Hamlet.
Bei Schiller sind gerade in der reiferen Zeit alle Karaktere
ursprünglich gut. Sie haben nicht ein angeborenes fatalisti-
sches Recht, nach ihrem Wesen zu handeln wie bei Shake-
speare. Auch bei den Widersachern der idealen Karaktere
erklärt Schiller, warum sie so geworden (die Teufel a priori,
Franz Moor, Sekretär Wurm etc. kommen nur in seinen
jugendwerken vor). Elisabeth kann noch immer neben Maria
Stuart bestehen. Ottada Piccolomini neben seinem Sohn und
neben Wallenstein Oberst Buttler. Selbst auf Geöler ruht noch
ein letzter Abglanz dieser Art; sonst dürfte Harras ihm nicht
Vorstellungen machen.
Woher das ? Gewiß nicht aus Armut der Phantasie, auch
nicht aus weichlichem Widerwillen gegen das Zeichnen von
Schurken und Verbrechern, sondern Schiller hielt die mensch-
liche Natur Itir gut.
Alles Tun und Denken der Wichtigsten und Größtea in
dieser Humanitätsperiode ging von dieser Voraussetzung aus,
und die französische Revolution begann ausdrücklich damit.
Sie konnten Großes, weil sie Großes hofften.
Daher diese Dramen allerdings nicht das Vollkommenste
in ihrer Gattung; aber die Menschheit wird um so lieber
ewig ihr Bild darin erkennen, weil die Karaktere normal
(nicht wie Byrons unverstandene böllentiefe Weltverächter und
die unwahren Figuren Viktor Hugos) sind. Und die eigent-
lich idealen sind dann mit einer solchen Glut der Begeiste-
rung geschildert, daß sie auf immer das gehebte Eigentum
des deutschen Geistes bilden müssen: die vom Unglück ver-
klärte Königin Maria, das herbe wunderbare Mädchen von
Orleans. Das Höchste wohl : Max Piccolomini. „Sein Leben
liegt faltenlos und leuchtend ausgebreitet!" Ein solches Bild
als Ideal ganzer jugendlicher Generationen ist ein wertvoller
Besitz für das ganze Volk.
Dramatisch das Meisterhafteste: Wilhelm Teil. Mit höch-
ster künstlerischer Sicherheit verteilt der Dichter seine gleich-
mäßig fortschreitende Handlung in drei Zweige, die sich ver-
schlingen: Tel!, die Verbündeten, Rüdem und Bertha. Ein
ganzes Volk, in reicher Abstufung von Karakteren, schreitet
unwiderstehlich sicher dem Abschluß seiner Befreiung zu; der
Eindruck der einer majestätischen Notwendigkeit, eines eviden-
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ten Rechtes. Und dieses Drama zugleich das höchste Ge-
schenk Deutschlands au die Schweiz. Günstige Vorurteile
und Gefllhlc seitdem in regerem Austausch. Wer will die
seitherigen Verzweigungen der Sympathie berechnen! Über-
haupt wer kann den Segen ernsten künstlerischen Wollens
eines großen Dichters berechnen, der seiner Nation das Beste
gönnt! Er ahnte, wieviel in seinen Händen lag; nicht um-
sonst redet er die Dichter an:
Der Menschheit Würde ist in euere Hand' gegeben.
Bewahret sie!
Sie sinkt mit euch! Mit euch wird sie sich heben!
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Druck i'on Friedrich Andrr.s Verth» A.-G. üolka
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